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German Pages 417 [418] Year 2003
GÜNTER KRINGS
Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 931
Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche Die subjektiv-rechtliche Rekonstruktion der grundrechtlichen Schutzpflichten und ihre Auswirkung auf die verfassungsrechtliche Fundierung des Verbrauchervertragsrechts
Von Günter Klings
Duncker & Humblot • Berlin
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-11028-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706®
Meiner Mutter und dem Gedenken an meinen Vater
Vorwort Das Grundanliegen dieser Arbeit ist eine kohärente, auf dem subjektiven Charakter der Freiheitsrechte des Grundgesetzes aufbauende (Re-) Konstruktion der grundrechtlichen Schutzpflichten. Auf diesem Fundament werden - im Lichte der Verfassungsrechtsprechung, namentlich der Bürgschaftsentscheidung - die Grenzen der Schutzpflichten v.a. im Vertragsrecht und insbesondere im Verbrauchervertragsrecht aufgezeigt. Die Abhandlung soll damit zugleich dazu beitragen, den gelegentlich erhobenen Vorwurf zu entkräften, die Grundrechtsdogmatik betreibe einseitig die thematische Expansion ihres eigenen Untersuchungsgegenstandes. Als diese Untersuchung, welche die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln im Jahre 2002 als Dissertation angenommen hat und deren Text und Quellennachweise sich mit wenigen Ausnahmen auf dem Stand vom April 2002 befinden, entstand, lagen Arbeiten zur Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten bereits in stattlicher Anzahl und Qualität vor. Meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Winfried Kluth, inzwischen Ordinarius an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, danke ich daher, daß er mich zu dem Versuch ermutigt hat, diese Verfassungsrechtsfigur, die in einem Vierteljahrhundert der Schutzpflichtendogmatik stetig an Bedeutung gewonnen hat, einzugrenzen und neu zu fundieren. Für die kontinuierliche Betreuung der Arbeit und die rasche Anfertigung der Gutachten danke ich neben Herrn Professor Kluth ebenso meinem Zweitgutachter, Herrn Prof. Dr. Wolfram Höfling, M.A., in dessen Institut für Staatsrecht der Universität zu Köln diese Arbeit entstand. An seinem Institut genoß ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter die akademische Freiheit, mich nicht nur mit den für diese Abhandlung relevanten Fragen der Grundrechtsdogmatik zu beschäftigen, sondern auch mit anderen Themen des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts sowie des ausländischen öffentlichen Rechts; auch hierfür gilt ihm mein Dank. Zugleich waren für diese Arbeit und für mich persönlich eine Vielzahl von Gesprächen mit meinen Kollegen am Institut für Staatsrecht prägend. Stellvertretend für meine dortigen Kollegen und Freunde danke ich Herrn Privatdozent Dr. Heinrich Lang, Dipl.-Sozialpädagoge, Herrn Rechtsreferendar Christian Burkiczak und Frau Rechtsreferendarin Daniela Norba für viele Stunden der Diskussion und für die sorgfältigen Korrekturarbeiten an meiner Reinschrift. Herrn Dr. Jörg Geerlings danke ich für die Hilfe bei der Erstellung des Sachverzeichnisses.
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Vorwort
Dafür daß sie mein Interesse an wissenschaftlichem Arbeiten geweckt und mich insbesondere an die Beschäftigung mit grundsätzlicheren rechtsdogmatischen Fragen herangeführt haben, danke ich meinen früheren akademischen , Arbeitgebern 4 an der Universität zu Köln, Herrn Prof. Dr. Dres. h.c. Klaus Stern, Herrn Prof. Dr. Martin Henssler und Herrn Prof. Dr. Karl Heinrich Friauf, LL.M. Der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln und ihrem Dekan, Herrn Prof. Dr. Peter J. Tettinger, danke ich für die Auszeichnung meiner Arbeit mit dem CBH-Promotionspreis 2002; der Rechtsanwaltskanzlei Cornelius Bartenbach Haesemann & Partner gilt mein Dank für dessen großzügige Dotierung. Gleichfalls danke ich der Verwertungsgesellschaft Wort für die freundliche finanzielle Förderung der Drucklegung. Die Arbeit widme ich meiner Mutter und dem Andenken an meinen verstorbenen Vater. Mönchengladbach-Herrath, Ostern 2003
Günter Krings
Inhaltsverzeichnis Teil 1 Einführung
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A. Anlaß der Untersuchung
17
B. Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes
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C. Gang der Untersuchung
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Teil 2 Die Grundlagen der Schutzpflichtenlehre
26
A. Das Phänomen der Schutzpflicht: Vom Eingriff zum Übergriff
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B. Ideengeschichtliche Grundlagen I. Sicherheit als Grundlage von „Herrschaftsverträgen" 1. Die Vertragstheorien nach Hobbes und Locke 2. Zur Kritik des Vertragskonzepts a) Bedingungen des Entstehens moderner Staatlichkeit b) Zur Offenheit staatlicher Zwecksetzung II. Sicherheit als Staatszweck und Staatslegitimation
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C. Der Verfassungstextbefund I. Schutzpflichten im Grundgesetz 1. Grundrechtliche Pflichten zum Rechtsgüterschutz 2. Schutzaufgaben als Grundrechtsschranken 3. Schutzanordnungen außerhalb des Grundrechtsteils a) Kompetentielle Zuweisung von Schutzaufgaben b) Sonstige Schutzanordnungen II. Schutzpflichten in Landesverfassungen
49 49 50 51 52 52 55 56
10
Inhaltsverzeichnis
Teil 3 Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
60
A. Die Schutzpflichten in der Rechtsprechung 60 I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 60 1. Das Fristenregelungsurteil und seine Vorgeschichte 60 a) Das erste Fristenregelungsurteil 60 b) Die begrenzte Bedeutung der Vorgeschichte 62 2. Die Fortführung der Schutzpflichtenjudikatur 66 a) Schutz vor terroristischen Gewalttaten 66 b) Gesundheitsschutz und Technikgefahren 67 c) Das zweite Fristenregelungsurteil 70 3. Die Ausweitung der Schutzgüter und das Eindringen der Schutzpflichten in das Zivilrecht 73 II. Landesverfassungsgerichte 79 III. Fachgerichte 80 B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten I. Die grundrechtliche Verortung der Schutzpflichten II. Staatszweckorientierte Herleitung 1. Die „Wiederentdeckung" der Sicherheit im deutschen Staatsrecht . . 2. Die Verwirklichung des Staatszweckes Sicherheit in den Grundrechten? a) Die Nachrangigkeit des Schutzaspektes bei der Grundrechtskodifizierung aa) Nordamerika bb) Frankreich cc) Deutschland b) Der Vorrang der Abwehrfunktion aus strukturellen Gründen . . . . 3. Kompensationsargument III. Grundrechtsendogene Herleitung: Text und Dogmatik der Grundrechte 1. Grundrechtliche Schutzpflichten und Eingriffsabwehr a) Eingriffsbegriff und Handlungskriterium aa) Die Schutzpflicht als Unterfall der grundrechtlichen Abwehrfunktion bb) Die Kritik an der Einheitsthese cc) Bewertung: Die fehlende Garantenstellung des Staates (1) Der Staat als Überwachungsgarant (a) Keine generelle Überwachungspflicht (b) Staatliche Genehmigung privaten Handelns am Beispiel des Immissionsschutzrechts (c) Erteilung einer Befugnis zu quasi-hoheitlichem Handeln (d) Finanzielle Förderung privaten Handelns
82 83 85 85 86 87 88 90 92 98 100 102 103 104 104 105 107 108 108 111 116 118
Inhaltsverzeichnis
IV.
(e) Staatlich angeordnetes und kooperatives Handeln . . . (2) Der Staat als Beschützergarant (3) Die Konsequenzen der abwehrrechtlichen Lösung b) Abgrenzung der Abwehr- von der Schutzpflichtenfunktion aa) Staatliche Genehmigungen bb) Staatliche Förderung und Finanzierung (1) Abgrenzung zu verwandten Formen des Staatshandelns (2) Zuordnungskriterien (a) Subventionsquote (b) Vorhersehbarkeit und Finalität (c) Steuerungsebenen (3) Fazit cc) Herabsetzen des Schutzniveaus dd) Abwehr- und Schutzdimension bei schädlichen Einwirkungen im Gesundheitswesen c) Kollision der Grundrechtsfunktionen d) Die Unterstützung der Abwehrfunktion durch die Schutzpflichten 2. Verfassungstextliche Begründungsansätze grundrechtlicher Schutzpflichten a) Schutz der Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG b) Explizite Schutzpflichten in anderen Freiheitsrechten c) Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG d) Grundrechtsschranken e) Die Zweidimensionalität des grundrechtlichen Freiheitsbegriffs . . aa) Wortlaut und Systematik der Grundrechte bb) Die historische Auslegungsperspektive (1) Verfassungsfortbildung (2) Verfassungswandel cc) Teleologische Auslegung und das Konzept negativer Freiheit dd) Gefahr einer Nivellierung der Grundrechtsfunktionen? 3. Die objektive Wertentscheidung in den Grundrechten Fazit zur Begründung der Schutzpflichtenfunktion
120 121 124 124 126 128 129 131 132 132 133 134 135 136 139 141 142 142 146 147 147 150 151 154 156 158 160 164 164 170
Teil 4 Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten A. Schutzgüter I. Grundrecht auf Sicherheit? II. Natürliche und rechtserzeugte Schutzgüter 1. Natürliche Schutzgüter 2. Rechtserzeugte Schutzgüter 3. Bedeutung der Unterscheidung
171 172 172 174 174 177 180
12
Inhaltsverzeichnis
III. IV.
Integritäts- und Entfaltungsschutz Gleichheitsrechte
182 185
B. Schutzrichtungen und Gefahrenquellen I. Schutzpflicht des Staates als Garantie einer „Freiheit von Furcht"? . . . II. Schutz vor Privaten III. Schutz gegen die inländische Staatsgewalt IV. Schutzpflichten mit Auslandsbezug 1. Schutz von Ausländern in Deutschland 2. Grenzen der auslandsbezogenen Schutzpflichten 3. Übergriffe in die Freiheitssphäre von Inländern 4. Diplomatischer Auslandsschutz und Landesverteidigung 5. Asylgarantie 6. Tabellarische Übersicht V. Schutz gegen sich selbst 1. Die Rechtsprechung insbesondere des Bundesverfassungsgerichts . . 2. Freiverantwortliche Selbstschädigung und übernommenes Risiko . . VI. Körperimmanente Gesundheitsstörungen VII. Schutz vor anthropogenen Umweltgefahren VIII. Kein Schutz gegen Naturgewalten
188 188 190 191 194 194 195 199 199 201 203 203 204 208 210 214 217
C. Die Übergriffsschwelle I. Menschliches Tun und Unterlassen II. Grundrechtsbeeinträchtigung und Grundrechtsgefährdung 1. Grundrechtsgefährdung und Abwehrrecht 2. Grundrechtsgefährdung und Schutzpflicht III. Gefahr und Risiko IV. Objektives Individualrisiko V. Rechtswidrigkeit
221 223 225 225 227 228 232 233
Teil 5 Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten A. Das I. II. III.
234
subjektive Recht auf staatlichen Schutz 234 Die Identität von Schutzpflichten und Schutzansprüchen 235 Anerkennung der Subjektivierung in Rechtsprechung und Literatur .. . 236 Begründungsversuche einer Subjektivierung 237 1. Sozialstaatliche Begründung 237 2. Wirkkraftverstärkung von Grundrechtsprinzipien 238 3. Schutzpflichtverletzung als Grundrechtseingriff? 239 IV. Grundrechtliche Subjektivierung objektiven Gesetzesrechts? 241
Inhaltsverzeichnis
B. Adressaten der Schutzpflichten 242 I. Primäre und sekundäre Schutzpflichtenebene 243 1. Der Gesetzgeber als primärer Adressat der Schutzpflichten 245 2. Sekundäre Schutzpflichtenebene 246 II. Einstufige Schutzpflichtenkonstellationen 248 1. Nur-gesetzgeberischer Schutz 248 2. „Gesetzesfreier" Schutz 249 III. Die vertikale Verteilung der Schutzpflichtenverantwortung im Bundesstaat 251 C. Die I. II. III. IV.
inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten Unanwendbarkeit der Schrankenregelungen Anspruchsqualität: Kein Recht auf Grundrechtsvoraussetzungsschutz . . Anspruchsziel: Kein Recht auf optimalen Schutz Die Auswahl der Schutzinstrumente und -Strategien 1. Schutzinstrumente und Schutzstrategien a) Aktiver Schutz aa) Schutz durch Eingriff bb) Schutz ohne Eingriff b) Passiver Schutz c) Vierpolige Schutzstrategien 2. Schutzpflichtenkonkretisierung als Prognoseentscheidung und die staatliche Gestaltungsfreiheit 3. Auswahlkriterien a) Übergriffsintensität b) Wirkungsstadium der Schutzmaßnahmen c) Quantitatives Moment d) Schutzaufwand e) Subsidiarität staatlichen Schutzes V. Schutzpflichtenkollisionen 1. Eingriffe in Störergrundrechte a) Meinungsstand b) Keine generelle verfassungsunmittelbare Eingriffsbefugnis c) Verfassungsunmittelbare „Notbefugnis" d) Schutzpflichten als verfassungsimmanente Grundrechtsschranken 2. Kollision der Schutzpflicht mit der Schutzpflicht und anderen Grundrechtsfunktionen 3. Kollision mit objektivem Verfassungsrecht VI. Untermaß verbot und Übermaß verbot 1. Die Entwicklung des Untermaßverbotes in Literatur und Rechtsprechung 2. Kritik aus der Literatur 3. Die Struktur des Untermaßverbotes und sein Zusammenspiel mit dem Übermaß verbot
254 254 257 259 262 263 263 263 264 266 268 269 273 275 276 277 277 278 282 282 282 284 285 292 294 295 297 297 298 301
14
Inhaltsverzeichnis
Teil 6 Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht A. Grundlagen und Themen des Verbraucherschutzes I. Ökonomische Grundlagen und rechtspolitische Modelle des Verbraucherschutzes 1. Die Verbraucherinteressen 2. Staat und Markt: Verbraucherschutz in der Sozialen Marktwirtschaft 3. Modelle einer Verbraucherschutzpolitik a) Marktkomplementärer Verbraucherschutz b) Marktkompensatorischer Verbraucherschutz 4. Formelle versus materielle Vertragsfreiheit II. Der Rechtsbegriff des Verbraucherschutzes III. Gesetzgebung zum Verbraucherschutz
305 305 305 305 307 310 310 312 314 315 317
B. Grundrechtliche Schutzpflichten im Vertragsrecht I. Das bundesverfassungsgerichtliche Theorem struktureller Disparität . . II. Schutzpflichten und Drittwirkung der Grundrechte 1. Die Abwehrfunktion der Grundrechte im Privatrecht a) Zivilrechtsgesetzgebung b) Zivilrechtsprechung 2. Die Dritt Wirkung der Grundrechte im Privatrecht a) Die These von der unmittelbaren Dritt Wirkung b) Die mittelbare Dritt Wirkung 3. Die mittelbare Drittwirkung als Konkretisierungsvariante der Schutzpflichten III. Wirkungsgrenzen grundrechtlicher Schutzpflichten im Vertragsrecht . . 1. Die geschützte Freiheitsposition 2. Übergriff als Tatbestandsmerkmal der Schutzpflicht a) Vertragsgegenstand und Vorhersehbarkeit b) Deliktsähnlichkeit c) Vertragsfreiheit in Ungleichgewichtslagen 3. Konkretisierung der Schutzpflichten
318 319 321 322 323 323 326 327 331
C. Alternative verfassungsrechtliche Impulse für den Verbraucherschutz I. Das Sozialstaatsprinzip 1. Bedeutung des Sozialstaatsprinzips 2. Geltung und Inhalt des Sozialstaatsprinzips 3. Sozialstaatsprinzip und Verbraucherschutz II. Weitere Verfassungsprinzipien, Staatszielbestimmungen und Institutsgarantien 1. Rechtsstaatsprinzip 2. Demokratieprinzip
350 350 351 354 357
333 338 338 340 343 346 347 348
360 360 360
Inhaltsverzeichnis
3. Staatliche Infrastrukturverantwortungen aus Art. 87e Abs. 4, 87f Abs. 1 GG 361 4. Der Sonn- und Feiertagsschutz 362
Teil 7 Zusammenfassung und Ergebnisse
364
A. Ergebnisse und Thesen zu Teil 1 und Teil 2 (Grundlagen)
364
B. Ergebnisse und Thesen zu Teil 3 (Anerkennung und Begründung)
365
C. Ergebnisse und Thesen zu Teil 4 (Tatbestand und Reichweite)
368
D. Ergebnisse und Thesen zu Teil 5 (Rechtsfolgen)
370
E. Ergebnisse und Thesen zu Teil 6 (Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht) 373 Literaturverzeichnis
377
Sachverzeichnis
412
Teil 1
Einführung A. Anlaß der Untersuchung Was haben die Fristenregelungsentscheidungen 1 und die Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts 2 gemein? Die Verfassungsjudikatur zu den grundrechtlichen Schutzpflichten hat versucht, zwischen dem grundrechtlichen Schutz des werdenden menschlichen Lebens einerseits und dem Schutz des mittellosen Bürgen andererseits einen grundrechtsdogmatischen Bogen zu spannen. Die Beschaffenheit und das Bauprinzip dieses Bogens sollen in dieser Arbeit untersucht werden. Zugleich soll erörtert werden, ob und inwieweit dieser Bogen durch das Ausgreifen der Schutzpflichtendogmatik in das Vertragsrecht und insbesondere das Verbrauchervertragsrecht überspannt und damit in seiner Stabilität und Funktionstauglichkeit gefährdet wird. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch eine Arbeit zu den grundrechtlichen Schutzpflichten vorzulegen, ist schon für sich genommen ein Wagnis. Der Fülle der hierzu erschienen Arbeiten 3 kann man nicht mehr in jedem einzelnen Aspekt gerecht werden. Gleichwohl besteht die Gefahr, mit dem - bereits im Titel angezeigten - Vorhaben, sich der Schutzpflichtenlehre insgesamt zuzuwenden, zu große und im einzelnen nicht einzulösende Erwartungshaltungen zu schüren. Angesichts des mit der Figur der grundrechtlichen Schutzpflichten verbundenen Paradigmenwechsels in der Dogmatik der Freiheitsgrundrechte des Grundgesetzes scheint eine Bestandsaufnahme und kritische Würdigung dieser Lehre ein Vierteljahrhundert nach dem ersten Fristenregelungsurteil des Bundesverfassungsgerichts jedoch als eine ebenso spannende wie loh1
BVerfGE 39, 1 ff.; 88, 203 ff. BVerfGE 89, 214 ff. 3 Siehe nur die explizit zu den Schutzpflichten erschienen Monographien von Dietlein, Schutzpflichten; Hermes, Schutz; Houlubek, Gewährleistungspflichten; Isensee, Sicherheit; Murswiek, Staatliche Verantwortung; Robbers, Sicherheit; Schwabe, Drittwirkung; Unruh, Dogmatik. Vgl. ferner die neueren Habilitationsschriften mit einem grundrechtsdogmatischen Schwerpunkt auf der Schutzpflichtendiskussion: Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 177 ff.; Koch, Grundrechtsschutz, S. 366 ff.; Ruffert, Vorrang, S. 141 ff. 2
2 Krings
18
Teil 1: Einführung
nende Aufgabe. Aktuelle Antworten auf wissenschaftliche Spezialfragen verlangen immer wieder nach aktualisierten Vergewisserungen ihrer dogmatischen Grundlagen, wenn die Fragmentierung einer Wissenschaft verhindert werden soll. Ferner gewinnt die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten beständig an Gewicht. Eine wesentliche Ursache für ihre Bedeutungssteigerung ist der Rückzug des Staates aus verschiedenen Aufgabenfeldern. Die Privatisierung staatlicher Leistungen wie beispielsweise in der Telekommunikation oder auch im Postdienst oder Schienenverkehr, führt dazu, daß die Abwehrseite der Grundrechte mehr und mehr leerläuft. Verschwindet der Staat als grundrechtlicher Anspruchsgegner, beseitigt dies nicht zwangsläufig das grundrechtliche Schutzbedürfnis des Bürgers. Die grundrechtlichen Schutzpflichten können hier eine Lücke schließen, indem sie dem Staat eine Mitverantwortung für den Schutz der individuelle Freiheitssphäre zuweisen. 4 Nachdem die Verfassungsrechtsprechung dem v.a. verfassungspolitisch vorgetragenen Ansinnen, sog. „soziale Grundrechte", die 1949 im Text des Grundgesetzes keinen Platz fanden, im Wege der Verfassungsinterpretation Einlaß zu gewähren, bis heute ebenso widerstanden wie der verfassungsändernde Gesetzgeber entsprechende Vorschläge zu Verfassungsergänzungen stets zurückgewiesen hat, 5 hat die Verfassungsjudikatur zweieinhalb Jahrzehnte nach Inkrafttreten des Grundgesetzes mit den grundrechtlichen Schutzpflichten ein neues und in seiner Ausdehnung kaum absehbares Terrain betreten, in welchem der Staatsabwehrfunktion eine auf die Beziehungen der Grundrechtsträger untereinander ausgerichtete Grundrechtsfunktion zur Seite gestellt wird. Zwar ist auch der daraus erwachsende Grundrechtsanspruch staatsgerichtet. Auch zielt der Anspruchsinhalt auf die Abwehr störender Handlungen. Störer und Anspruchsgegner fallen bei diesem Abwehranspruch jedoch auseinander: Nicht der Staat soll eigene Maßnahmen unterlassen, sondern er soll Störungen Dritter unterbinden. Daß diese erhebliche Ausweitung des Inhalts der Freiheitsrechte des Grundgesetzes einer eingehenden Begründung bedarf, liegt ebenso auf der Hand, wie die Notwendigkeit einer klaren Ziehung von Grenzen für diese Ausweitung. Beide Postulate werden von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht überzeugend erfüllt. Das gleiche gilt für weite Teile des staatsrechtlichen Schrifttums. Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten droht sich zu verselbständigen. Bei immer mehr Themen greift die Literatur auf sie zurück, 4
Siehe hierzu Kämmerer, Privatisierung, S. 451 ff.; Groß, JZ 1999, 326 ff. Vgl. Stern, Staatsrecht I, S. 936 ff.; Sachs, in: Sachs, GG, vor Art. 1 Rz. 47; Hesse, HdbVerfR, § 5 Rz. 31 f. 5
B. Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes
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oftmals ohne ihre Grundlagen und Grenzen hinreichend zu reflektieren. 6 Dadurch erfolgende thematische „Landgewinne" wählen spätere Arbeiten als Ausgangspunkt für neue Vorstöße der Schutzpflichtenlehre. Es entsteht ein Schutzpflichtenraum, der kaum mehr überschaubar ist und seine dogmatische Klammer zu verlieren droht. Zwei Szenarien sind vorstellbar: Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten könnte einerseits das Wirkungsprinzip der grundgesetzlichen Freiheitsrechte auf den Kopf stellen. Ihre zentrale Bedeutung läge nicht mehr im Schutz der individuellen Freiheit vor staatlichen Zumutungen, sondern sie böten eine frei verfügbare Legitimationsbasis für staatliche Eingriffe zur permanenten Neuordnung der Beziehungen jedes Grundrechtsträger zu seiner sozialen und natürlichen Umwelt. Auf dem Spiel steht andererseits die Existenz der Schutzpflichtenlehre. Verzichtet sie auf klare dogmatische Grenzziehungen, so verblassen ihre Konturen zur Unkenntlichkeit. Sie würde zwar kein rasches Ende erleiden, ihre verfassungsdogmatische Relevanz würde aber stetig und unaufhaltsam abnehmen. Die grundrechtliche Schutzpflicht wäre universell anwendbar, ohne aber in einem konkreten Fall noch ein Entscheidungsergebnis zu beeinflussen.
B. Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes Vor dem Hintergrund der verbleibenden Unsicherheiten zum Grund und zu den Grenzen der grundrechtlichen Schutzpflichten und in Ansehung des beschriebenen doppelten Gefahrenszenarios für die Schutzpflichtenlehre widmet die Arbeit sich zunächst allgemein der Frage, inwieweit sich aus den Grundrechten eine staatliche Pflicht ergibt, ein durch diese geschütztes Rechtsgut vor rechtswidrigen Verletzungen und Gefährdungen durch andere - vor allem durch Private - zu bewahren. 7 „Schutz" ist im Anwendungsgebiet der Grundrechte die wohl am häufigsten verwandte Vokabel. Der Grundrechtsinterpret steckt grundrechtliche Schutzbereichen ab, spricht davon, daß der Staat den einzelnen mittels eines Grundrechts schützt und bestimmt das Schutzniveau eines Rechts. Bei wörtlicher Auslegung vermittelt jegliche Geltung der Grundrechte „Schutz"; überall dort, wo ein Grundrecht aktiviert wird, schützt der Staat. Der Schutz ist in diesem Sinne die eigentliche Realität und der eigentliche 6
Ein symptomatisches, jedoch keineswegs singulares Beispiel ist die grundrechtsdogmatische Begründung der Streupflicht und des Winterdienstes auf öffentlichen Straßen, siehe Koch, Die Verwaltung Bd. 30 (1997), S. 1 ff. 7 Vgl. zu dieser Definition der Schutzpflichten: Klein, NJW 1989, 1633; Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 350. 2*
20
Teil 1: Einführung
Zweck aller Grundrechte, jedenfalls soweit man ihnen normative, unmittelbar verpflichtende Bindungswirkungen entnimmt. 8 Eben diese Bindungswirkung ist die Rechtspflicht, die dem Staat aus den Grundrechten erwächst. Die notwendige Verknüpfung von den Rechten der Grundrechtsträger und den Pflichten der Grundrechtsadressaten läßt die Schutzpflicht des Staates als das exakte Gegenstück zu den Grundrechten des einzelnen erscheinen. Überall dort, wo ein Freiheitsrecht den Staat bindet, korrespondiert mit ihm eine Schutzpflicht des Staates, also eine Pflicht, dieses Grundrecht zu schützen. Daß man am Beginn einer Arbeit über grundrechtliche Schutzpflichten bei einer solchen, streng am Wortsinn orientierten Themenabgrenzung nicht stehen bleiben kann, wird einleuchten. Die Schutzpflicht wäre sodann eine wissenschaftlich kaum brauchbare Umschreibung der normativen Geltung der Grundrechte überhaupt, mit der einzigen Besonderheit, daß sie sich in ihrer Betrachtung des Blickwinkels nicht des berechtigten Bürgers, sondern des verpflichteten Staates bediente. Mitgedacht wird darum bei dem Begriff der Schutzpflicht stets das Attribut „positiv". Es geht um aktives Handeln des Staates zum Schutze von Rechtsgütern, Verhaltensweisen und „Zuständen" der Grundrechtsträger. „Grundrechtliche Schutzpflichten" sollen in dieser Arbeit daher - im Einklang mit der durchgängigen Bedeutung dieses Terminus in Literatur und Rechtsprechung - als die positiven Pflichten des Staates, zum Schutz der Grundrechtsberechtigten tätig zu werden, verstanden werden. Die Schutzpflicht kann somit bereits prinzipiell auf einer begrifflichen Ebene von den grundrechtlichen Pflichten abgegrenzt werden, die dem Staat nur eine Abstinenz, ein Unterlassen eines Eingriffs verordnen, wenn eine solche Abgrenzung im einzelnen auch noch der interpretatorischen Analyse bedarf. 9 Ebenfalls begrifflich auszuscheiden, ohne sich damit einer späteren dogmatischen Abgrenzung zu entheben, sind solche Rechtswirkungen der Grundrechte, die vom Staat die Herstellung oder Zurverfügungstellung von (Rechts-)Gütern oder tatsächlichen Verhaltensoptionen erwarten, soweit man solche Erwartungshaltungen überhaupt als durch die Grundrechte gestützt und v. a. zu Ansprüchen verdichtet sehen kann. Hier geht es nicht um den Schutz von etwas schon Existierendem, sondern um die Schaffung von etwas Neuem. Schwieriger abzugrenzen ist die Pflicht des Staates, innerhalb seiner Einrichtungen, Veranstaltungen und seines Verfahren auf die Interessen des einzelnen in prozeduraler Hinsicht Rücksicht zu nehmen. Bei dieser unter dem 8
Selbst für eine den Grundrechten entnommene objektive Wertordnung ließe sich der Zweck des Schutzes i.d.R. als der maßgebliche ausmachen. 9 Vgl. insbes. Teil 3 B.III.l.b).
B. Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes
21
Stichwort des „Grundrechtsschutzes durch Organisation und Verfahren" entwickelten Grundrechtsfunktion kann der Staat ähnlich wie bei grundrechtlichen Schutzpflichten sich nicht auf ein Unterlassen zurückziehen, sondern muß durch positives Tun bestehende, rechtlich relevante Interessen schützen. In vielen Fällen schützt er aber hier nicht vor nicht-staatlichen Gefahren, sondern - ebenso wie in der Abwehrfunktion der Grundrechte - vor sich selbst, vor durch ihn selbst erzeugten Zumutungen. 10 Ferner muß der Staat in der Leistungsverwaltung bei der Verteilung von Gütern ein gerechtes Bewertungs- und Zuteilungsverfahren schon von Grundrechts wegen einhalten; dies gilt beispielsweise für das Bildungswesen oder die staatliche Subventions vergäbe. 11 Darüber hinaus werden Organisations- und Verfahrensbestimmungen zur Effektuierung eines grundrechtlichen Schutzbereichs in Gestalt von Regeln, die das Verhältnis von Grundrechtsträgern untereinander ordnen, dem „Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren" zugewiesen. 12 Hier kann sich die Abgrenzung zu organisatorischen und prozeduralen Vorkehrungen des Staates, die er zur Erfüllung seiner grundrechtlichen Schutzpflicht bereitstellt, als im Einzelfall schwierig erweisen. Da der „Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren" vorwiegend im vertikalen Verhältnis Bürger-Staat wirkt und vor staatlichen Gefahren schützt, würde man die Grundrechtsfunktion aufspalten müssen, wollte man sie in dieser zweiten Variante zum Unterfall der Schutzpflichtenlehre deklarieren. Nur die Schutzpflichtenlehre und nicht der „Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren" ist daher einschlägig, wenn der zu Schützende Opfer einer Übergriffshandlung eines anderen Grundrechtsträgers wird. 1 3 Soweit es zwar um den Ausgleich unterschiedlicher Interessen von Privaten untereinander geht, es aber an einer solchen Ingerenz zwischen den Beteiligten fehlt, ist der „Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren" berührt. Ein Beispiel sind die Verfahren zur Genehmigung potentiell besonders gefährlicher Anlagen wie etwa Kernkraftwerke: Auch soweit eine konkrete Gefährdung der Rechtsgüter Dritter in einem solchen Verfahren nicht auszumachen ist, muß der Staat Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) durch eine Ausgestaltung und Anwendung des Genehmigungsverfahrens Rechnung tragen. 14 Die Abgrenzung zum „Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren" zeigt ein weiteres Definitionselement der grundrechtlichen Schutz10
Bethge, NJW 1982, 1 (3). Vgl. zum ersteren Sachs, Verfassungsrecht II, A 4 Rz. 64. 12 Bethge, NJW 1982, 1 (2 f.); Huber, Grundrechtsschutz, S. 4 ff.; Sachs, Verfassungsrecht II, A 4 Rz. 63. 13 Vgl. zur „Übergriffs-Konstellation" sogleich eingehend: Teil 2 A. 14 Sachs, Verfassungsrecht II, A 4 Rz. 63. 11
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Teil 1: Einführung
pflichten, wie sie gemeinhin und auch in dieser Arbeit verstanden werden: Es müssen jedenfalls außenstaatliche Gefahren für den Grundrechtsträger sein, vor denen der Staat schützt. Nur diese thematische Eingrenzung schafft nämlich einen vergleichsweise homogenen Untersuchungsgegenstand, denn daß der Staat selbst in seinem Tun durch die Grundrechte zur Rücksichtnahme auf das Individuum gehalten ist, ist eine bereits der klassischen Abwehrrichtung der Grundrechte zugrundeliegende Aussage. Das unter dem Blickwinkel dieses abwehrenden Grundrechtsverständnis des liberalen Rechtsstaates beinahe revolutionär Neue an der Anerkennung positiver grundrechtlicher Schutzpflichten ist gerade, daß dem Staat damit eine freiheitsrechtlich fundierte Pflicht auferlegt wird, sich mit externen, außerhalb seines Verantwortungsbereichs liegenden Verhaltensweisen steuernd auseinanderzusetzen. Ob der Staat sich um der Grundrechte willen mit sämtlichen externen Freiheitsgefahren auseinandersetzen muß oder sich auf anthropogene, von (anderen) Menschen ausgehende Gefahren beschränken kann, ist hingegen nicht mehr eine Frage des begrifflich-thematischen Zuschnitts der Arbeit, sondern der begrifflich-dogmatischen Abgrenzung des Konzepts der grundrechtlichen Schutzpflichten. 15 Eine weitere Einschränkung der Schutzpflichtenthematik wird schließlich ebenfalls vom Gedanken eines homogenen Untersuchungsgegenstandes nahegelegt, wenn auch nicht zwingend vorgegeben. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf die Freiheitsrechte des Grundgesetzes und die aus ihnen erwachsenden Schutzpflichten. Positive Handlungspflichten aus den Gleichheitsrechten, die einen vergleichsweise geschlossenen, jedoch nicht gänzlich unter das Stichwort der Schutzpflicht zu subsumierenden Themenkreis bilden, werden allenfalls am Rande behandelt. Die Frage nach einer staatlichen Pflicht zur Herstellung von Gleichheit unter Privaten, die ebenfalls enge Bezüge zum Sozialstaatsprinzip aufweisen, berührt Probleme, die weit über die Sicherung der grundrechtlichen Freiheiten durch aktives Staatshandeln hinausweisen und den Rahmen dieser Arbeit zu sprengen drohten. In diesem Zusammenhang ist noch darauf hinzuweisen, daß die staatliche Gleichheitsverwirklichung in Staat und Gesellschaft nicht notwendigerweise mit der staatlichen Förderung der Freiheit und Sicherheit seiner Bürger einhergeht, ja dieser tendenziell im Wege stehen kann. Schutzpflichten aus Freiheits- und Gleichheitsrechten lassen sich grundsätzlich auf unterschiedliche Handlungsimpulse des Staates zurückführen, was die Existenz einer „Pflichten-Schnittmenge" zwischen ihnen nicht ausschließt. Der vom Wörtsinn der Rechtsfigur der „grundrechtlichen Schutzpflicht" insinuierte thematische Zuschnitt der Untersuchung verlangt aber umge15
S.u. Teil 4 B., wo diese Frage im Sinne eines engeren Schutzpflichtenkonzepts entschieden wird.
B. Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes
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kehrt auch eine Erweiterung, die sich im Haupttitel der vorliegenden Arbeit im Begriff der „Schutzansprüche" manifestiert. Die in Rechtsprechung und Literatur vorherrschende begriffliche Fokussierung auf den Pflichtenaspekt und damit auf die Seite des Grundrechtsadressaten ist zum einen historisch zu erklären, da sich die frühe Schutzpflichtenjudikatur mit der Statuierung einer Pflicht des Staates begnügte. Zum anderen rechtfertigt sie sich daraus, daß hier vom Staat im Gegensatz zur Abwehrrichtung der Grundrechte nicht nur ein Nicht-Handeln, sondern ein positives Tun und folglich eine Entscheidung über die Instrumente seiner Pflichterfüllung gefordert wird, was den Staat ganz selbstverständlich in den Mittelpunkt der grundrechtlichen Rechtsfolgenbetrachtung rückt. Die Beschränkung auf eine bloß objektive Rechtspflicht zu positiven Schutzmaßnahmen ist aber eine in der Geschichte der Schutzpflichtendogmatik inzwischen weitgehende überwundene Entwicklungsstufe. Der subjektiv-rechtliche Charakter der Grundrechte läßt ausschließlich objektive Rechtswirkungen der Grundrechte ohne jeglichen komplementären Anspruch des Grundrechtsträgers als unbefriedigend erscheinen. Für ein grundrechtliches Schutzpflichtenkonzept, das - wie in dieser Arbeit vertreten 16 - eng mit dem Begriff der Freiheit verknüpft bzw. in diesen eingebettet ist, kann die subjektiv-rechtliche Seite der grundrechtlichen Schutzpflicht nicht ausgeblendet werden. Ausgeschlossen von der Untersuchung sind damit zum einen Verletzungen und Gefährdungen von Grundrechten, die von staatlichen Organen oder von dem Staat zurechenbarem Verhalten herrühren. Zum anderen werden diejenigen Grundrechtsbestimmungen, die staatliche Förderungs- und Schutzverpflichtungen im Bereich von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG), der Kindererziehung (Art. 6 Abs. 2 und - bezogen auf den Schutz der Mutter - Art. 6 Abs. 4 GG) und des Schulwesens (Art. 7 Abs. 4 GG) nicht komplementär neben der Abwehrfunktion, sondern explizit als eigentlichen Regelungsinhalt enthalten, 17 in der Darstellung allenfalls am Rande berührt. Ausgeklammert bleiben im wesentlichen die verfassungsprozeßrechtlichen Aspekte der Schutzpflichtendiskussion einschließlich der Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts gegenüber der Fachgerichtsbarkeit und hier v.a. den Zivilgerichten bei der Auslegung des Zivilrechts und der Inhaltskontrolle von Verträgen. Dieser Themenkomplex würde eine eigenständige monographische Untersuchung rechtfertigen. Angemerkt sei allerdings, daß ein verfassungsprozessuales Hauptproblem der grundrechtlichen Schutzpflichten, nämlich die Justitiabilität einer Schutzpflichtenverletzung vor dem Hintergrund der Erforderlichkeit eines subjektiven Rechts mit der hier
16 17
S.u. Teil 3 B.III.2.e). Zur diesbezüglichen Eingrenzung: Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 350 Fn. 6.
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Teil 1: Einführung
vertretenen subjektiv-rechtlichen (Re-)Konstruktion der Schutzpflichten 18 zumindest entschärft ist. Keine eigenständige Behandlung werden in der Untersuchung Schutzpflichten im internationalen und europäischen Recht erfahren können. Auch diese Ausklammerung ist in erster Linie ein Zugeständnis an die Länge und die argumentative Geschlossenheit der Arbeit. Mit ihr soll jedoch nicht die zunehmende Bedeutung von Schutzpflichten im inter- und supranationalen Recht verkannt werden. Zum einen finden sich als Ersatz oder Vorstufe eines noch weitgehend fehlenden materiellen Völkerstrafrechts in völkerrechtlichen Verträgen häufig Verpflichtungen zum Erlaß nationaler Strafbestimmungen für bestimmte Tatbestände - wie z.B. Kriegsverbrechen, Folter oder Luftpiraterie. 19 Zum anderen wird das Schutzpflichtenkonzept inzwischen auch im europäischen Recht fruchtbar gemacht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat seit den siebziger Jahren aus den Rechten der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), namentlich aus der Achtung des Familienlebens (Art. 8) und der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit (Art. 11), positive Handlungspflichten abgeleitet. 20 Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in jüngerer Zeit auch aus den Grundfreiheiten des EG-Vertrages Schutzpflichten abgeleitet. 21
C. Gang der Untersuchung Die Untersuchung beginnt nach einer kurzen definitorischen Klärung des Schutzpflichtenphänomens und seines Schlüsselbegriffs „Übergriff mit einer ideengeschichtlichen Betrachtung (Teil 2 B.). Hierin wird die ideengeschichtliche Bedeutung des Sicherheitsbegriffs in Bezug auf die Begründung staatlicher Gewalt herausgearbeitet, zugleich aber seine Relativität und Konkurrenz zu anderen Staatszwecken deutlich. Daran anschließend wird der Verfassungstext auf Schutzanordnungen inner- und außerhalb des Grundrechtsteils analysiert. 18
S.u. Teil 3 B.III.2.e). Fastenrath, JuS 1999, 632 (633) m.w.N.; vgl. hierzu Wiesbrock, Internationaler Schutz, S. 102 ff. 20 EuGHMR, EuGRZ 1979, 454 ff. („Mareks"); NJW 1982, 2717 ff. (§ 49) („Young, James, Webster"); Yearbook of the European Convention on Human Rights, 1985, 184 ff. („Abdulaziz, Cabales et Balkandali"); amtl. Entscheidungsslg. Bd. 91, S. 11 § 23 („X u. Y/Niederlande"); EuGRZ 1989, 522 ff. (524) („Plattform Ärzte für das Leben"). Vgl. zur Entwicklung der Rechtsprechung Holoubek, Gewährleistungspflichten, S. 54 ff.; Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 1 d. 1. ZP Rz. 42.; Jaeckel, Schutzpflichten, S. 117 ff. 21 EuGH v. 9.12.1997, Rs. C-265/95 (Kommission/Frankreich), DVB1. 1998, 228. Vgl. zur Herleitung von Schutzpflichten aus den Grundfreiheiten des EGV: Jaeckel Schutzpflichten, S. 222 ff.; Szczekalla, DVB1. 1998, 219 ff. 19
C. Gang der Untersuchung
25
Teil 3 der Arbeit zeichnet zunächst die Entwicklung der Schutzpflichtenjudikatur des Bundesverfassungsgerichts anhand ihrer einzelnen Entwicklungsstufen nach (Teil 3 A.I.) Die Rechtsprechungsanalyse wird ergänzt durch einen Blick auf ausgewählte Schutzpflichtenentscheidungen der Landesverfassungsgerichte und Fachgerichte (Teil 3 A.II. u. III.). Unter Teil 3 B. werden die verschiedenen Begründungsansätze der Schutzpflichtenlehre einer kritischen Überprüfung unterzogen. Im Zuge dieser Überprüfung wird untersucht, ob der ideengeschichtliche Befund zu einem Staatszweck Sicherheit für die Grundrechtsfunktion fruchtbar gemacht werden kann (Teil 3 B.II.). Ferner erfolgt eine Auseinandersetzung mit der These, daß die Schutzpflichten nur einen Unterfall der „klassischen" Abwehrfunktion der Grundrechte bilde (Teil 3 B.III. 1.). Schließlich wird ein eigener, der weiteren Bearbeitung zugrundegelegter Begründungsansatz für die Schutzpflichtenlehre entwickelt (Teil 3 B.III.2.e). Teil 4 untersucht den Tatbestand und die Reichweite der grundrechtlichen Schutzpflichten. Er stellt die in Betracht kommenden Schutzgüter dar und arbeitet insoweit auch Abstufungen hinsichtlich ihrer jeweiligen Schutzintensität heraus (Teil 4 A.). Ferner werden die unterschiedlichen Schutzrichtungen und Gefahrenquellen, welche eine Schutzpflicht auszulösen vermögen, eingegrenzt (Teil 4 B.). Abgeschlossen wird diese Analyse des Schutzpflichtentatbestandes durch die Erörterung der für eine Schutzpflichtenaktivierung erforderlichen Übergriffsschwelle und der damit zusammenhängenden Beurteilung einer Gefährdung bzw. eines bloßen Risikos für Schutzgüter (Teil 4 C.). Die Rechtswirkungen und Adressaten der Schutzpflicht werden in Teil 5 dargelegt. Zunächst widmet sich die Untersuchung dem - aufgrund des hier verfolgten Ansatzes zur Begründung der Schutzpflichten weitgehend entschärften - Problem der Subjektivität der Schutzpflicht (Teil 5 A.). Im Anschluß daran wird die horizontale und vertikale Verantwortungszuweisung zur staatlichen Umsetzung der Schutzpflicht erörtert (Teil 5 B.). Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten (Teil 5 C.) behandelt sodann u. a. die Frage nach einer ausschließlichen Gesetzesmediatisierung der Schutzpflicht und das Untermaßverbot. Der Schlußteil der Arbeit widmet sich den staatlichen Schutzpflichten im Vertragsrecht und insbesondere im Verbrauchervertragsrecht. Eingeleitet wird dieser Teil mit einer kurzen Diskussion insbesondere der ökonomischen Grundlagen des Verbraucherschutzes (Teil 6 A.I.). Vor dem Hintergrund der neueren Judikatur des Bundesverfassungsgerichts erscheint das Verbrauchervertragsrecht als in besonderem Maße geeignet, die Grenzen der grundrechtlichen Schutzpflichten deutlich zu machen (Teil 6 B.) und alternative verfassungsrechtliche Quellen des Verbraucherschutzes aufzuzeigen (Teil 6 C.).
Teil 2
Die Grundlagen der Schutzpflichtenlehre A. Das Phänomen der Schutzpflicht: Vom Eingriff zum Übergriff Der „klassische" dreistufige Aufbau der Grundrechtsprüfung, der die Maßstäblichkeit der Grundrechte für gesetzliches und untergesetzliches Handeln in den Argumentationsebenen des Schutzbereiches, des Grundrechtseingriffs und der verfassungsrechtlichen Eingriffsrechtfertigung entfaltet, versagt in Schutzpflichtenkonstellationen. Bei allen - in dieser Untersuchung zu Tage tretenden bzw. postulierten - Parallelen zwischen der Abwehrseite der Grundrechte und der grundrechtlichen Verpflichtung des Staates, positiv zum Schutz der Freiheitsrechte tätig zu werden, darf der axiomatische Leitgedanke nicht aus den Augen verloren werden, daß die Ableitung von Pflichten für Private unmittelbar aus den Grundrechten des Grundgesetzes - von wenigen Ausnahmen abgesehen - nicht in Betracht kommt. Um der Gefahr einer kurzschlüssigen Übertragung abwehrrechtlichen Denkens vorzubeugen und die Schaffung eines zweiten Eingriffsbegriffs mit einem gänzlich anderen Inhalt zu vermeiden, soll die Konstellation, in der grundrechtliche Schutzpflicht zum Tragen kommen können, nämlich die Störung eines Privaten durch das Verhalten eines anderen Privaten nicht als „Eingriff 4 bezeichnet werden. Der Eingriffsbegriff hat sein klassisches Verständnis eines unmittelbaren, normativen, imperativen und finalen Einwirkens auf den Schutzbereich eines Freiheitsrechts schrittweise geöffnet, so daß er auch nicht-normatives und nicht-imperatives und nur beeinflussendes Handeln wie staatliche Informationen und Warnungen sowie auch nur mittelbare Maßnahmen, die den Grundrechtsträger erst über zwischengeschaltete dritte Private erreichen, erfaßt. 1 Selbst das Kriterium der Finalität 2 wurde aufgeweicht und als notwendige Bedingung eines Eingriffs aufgegeben, auch wenn sein Vorliegen 1 Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 240; Enders, in: Berliner Kommentar, vor Art. 1 Rz. 106 (Grundw. Okt. 2000). 2 Siehe hierzu ausführlich: Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2, S. 140 ff.
A. Das Phänomen der Schutzpflicht
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die Komplexität eingriffsdogmatischer Erwägungen erheblich reduziert, zumal die fehlende Finalität i.d.R. nur durch eine schwere und unerträgliche Betroffenheit zu kompensieren ist. 3 Auch vor dem Hintergrund dieser Entwicklung hat die Figur des Grundrechtseingriffs einen spezifischen Bedeutungsgehalt bewahrt, in dessen Zentrum die staatliche Handlungszurechnung steht. In Schutzpflichten-Fällen greift der Staat dagegen nicht in ein Grundrecht des zu Schützenden ein. Anknüpfungspunkt der Grundrechtswirkung ist nicht ein staatliches, sondern ein privates Handeln. Da Private im Schutzbereich ihrer Freiheitsrechte eigenverantwortlich handeln und - wie noch zu zeigen sein wird 4 - ein Unterlassen des Staates mangels einer Garantenstellung die Schwelle des Eingriffs nicht erreicht, kann das Verhalten Privater im Regelfall, ohne daß besondere Umstände vorliegen, dem Staat nicht als Grundrechtseingriff zugerechnet werden. Zur Veranschaulichung ist es sinnvoll, die v. a. im Polizeirecht etablierte Nomenklatur heranzuziehen und die Schutzpflichtenkonstellationen in der Weise zu umschreiben, daß ein privater Dritter die Grundrechtssphäre eines privaten Opfers stört und der Staat auf diese Störung zu reagieren hat. Da auch der Störer prinzipiell Grundrechtsschutz für sich in Anspruch nehmen kann und sein störendes Verhalten i.d.R. dem sachlichen Schutzbereich eines Grundrechts unterfällt, soll für seine Störung oder auch nur drohende Störung (Gefährdung) der Freiheitssphäre des Opfers konsequent der 5 Begriff vom Grundrechtsübergriff verwandt werden: Grundrechtsträger A greift aus seiner Grundrechtssphäre in die des Grundrechtsträgers B über; sowohl Ursprung wie Destination des störenden Verhaltens liegen innerhalb freiheitsrechtlicher Schutzbereiche. Hierin liegt mehr als eine terminologische Stipulation, sondern die in dieser Untersuchung mehrfach aufgegriffene Konzeption von staatlicherseits zu schützenden Freiheitsräumen Priva-
3 Die (Grundrechts-)Finalität staatlichen Handelns ist danach keine notwendige, jedoch noch eine hinreichende Bedingung des Grundrechtseingriffs, die eine Abgrenzung des Grundrechtseingriffs von „grundrechtsneutralem" Verhalten jedenfalls praktisch erheblich erleichtert. 4 S.u. Teil 3 B.III.l.a). 5 Dieser Komplementärbegriff zum „Eingriff beginnt sich zur Beschreibung des die staatliche Schutzpflicht auslösenden Tuns Privater allmählich im Schrifttum durchzusetzen, vgl. nur aus der neueren Kommentarliteratur Dreier, in: Dreier, GG I, vor Art. 1 Rz. 62; Enders, in: Berliner Kommentar, vor Art. 1 Rz. 70 (Grundw. Okt. 2000); ferner: Heinrich, Formale Freiheit, S. 109; vgl. auch schon Isensee, Sicherheit, S. 41; ders., HdbStR V, § 111 Rz. 84; Stern, Staatsrecht III/1, S. 1560. Die Verfassungsjudikatur spricht - etwas umständlicher - i.d.R. von „Eingriffen von Seiten anderer", BVerfGE 39, 1 (42); 46, 160 (164); 53, 30 (57); 56, 54 (73); 88, 203 (251). BVerfGE 39, 1 (37) gebraucht den Terminus „Übergriff 4 gar im umgekehrten Sinne für staatliche Ingerenzen.
28
Teil 2: Die Grundlagen der Schutzpflichtenlehre
ter. Der Grundrechtsübergriff steht damit neben dem Grundrechtseingriff. Beide zusammen bleiben eng auf die Freiheitsgüter der Grundrechte bezogen. Abwehrrecht und Schutzpflicht heben sich damit gemeinsam von den übrigen Grundrechtsfunktionen ab, die objektiv-rechtlich begründet werden und eher auxiliären Charakter haben.
B. Ideengeschichtliche Grundlagen Die ideengeschichtliche Begründung eines „Menschenrechts auf Sicherheit", die Gegenstand ausführlicher Darstellungen gewesen ist, 6 bewegt sich innerhalb einer der Kernfragen der Allgemeinen Staatslehre, nämlich der Frage nach dem Zweck des Staates. Als Ausschnitt der Staatszwecktheorien scheint die Lehre vom Staats- bzw. Herrschaftsvertrag in besonderer Weise geeignet zu sein, eine staatsphilosophische Fundierung staatlicher Schutzpflichten zu leisten. Diese Vertragslehre soll hier im Überblick, ausgehend von den Schriften ihrer klassischen Vertreter aus dem England des 17. Jahrhunderts nachgezeichnet und einer kritischen Analyse unterzogen werden (I.). Die historischen Betrachtungen münden in eine Auseinandersetzung mit der legitimatorischen Kraft von Staatszwecken und ihrer Relevanz für eine Begründung verfassungsrechtlicher Schutzpflichten (II.).
I. Sicherheit als Grundlage von „Herrschaftsverträgen" Die oftmals unreflektierte Einbindung der grundrechtsdogmatischen Innovation der Schutzpflichten in den ideengeschichtlichen Kontext der Sicherheitsaufgabe des Staates, avanciert vielfach gar zu einem Hauptargument der Geltung von Schutzpflichten. 7 Dieser Stellenwert des Staatszweckes Sicherheit in der Schutzpflichtendiskussion läßt es sinnvoll erscheinen, im folgenden die Relevanz und Berechtigung des historisch-philosophischen Rekurses auf diesen Zweck im Zusammenhang mit der Entstehung moderner Staaten zu überprüfen 1. Die Vertragstheorien nach Hobbes und Locke Indem die politische Philosophie der Neuzeit sich auf das Fundament der Vertragstheorie stützte, führte sie in die Analyse des gesellschaftlichen Le6 Zu nennen sind v.a. das gleichnamige Werk Robbers' (siehe dort S. 27 ff.), aber auch die Darstellungen bei Isensee, Sicherheit, S. 3 ff.; Hermes, Schutz, S. 148 ff.; Unruh, Dogmatik, S. 37 ff. 7 Vgl. Ruffert, Vorrang, S. 154 ff. sowie unten Teil 3 B.II.
B. Ideengeschichtliche Grundlagen
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bens und seiner staatlichen Formen ein Rationalitätskonzept ein, das den älteren Politikbegriffen fremd war. 8 Ihre Kernaussage ist die Idee der Herrschaftslegitimation durch freiwillige Selbstbeschränkung aus eigenem Inter9
esse. Der einzelne begibt sich nach dieser insbesondere von Thomas Hobbes entwickelten Theorie in die Gewalt des Staates, weil dieser ihm die Gewährleistung seiner physischen Integrität vor inneren und äußeren Gefahren garantiert. Im vorstaatlichen oder Naturzustand ist der einzelne zwar frei, muß sich aber zugleich den Angriffen anderer, ebensowenig gebundener Individuen versehen. Seine Ungebundenheit bringt ihm keinen tatsächlichen Nutzen, „denn ein Mensch kann wenig Gebrauch von seinem Rechte machen ..., wenn ein anderer ... ein Recht auf dasselbe hat" 1 0 . Der Mensch wird durch die im (vorstaatlichen) Naturzustand herrschende Furcht vor der Gewalt der anderen zur Kooperation getrieben. 11 Die Aufgabe der natürlichen Freiheit erfolgt jedoch unter einer Wechselseitigkeitsbedingung, denn der Verzicht auf die eigene Gewaltausübung hat im Naturzustand nur Sinn, wenn auch die Konkurrenten und Feinde auf die Gewaltanwendung verzichten. 1 2 Um die allseitige Friedfertigkeit und Kooperationsbereitschaft nicht durch die mangelnde Disziplin einzelner zu gefährden, verlangt die Kooperation nach einer institutionellen Absicherung. 13 Der Inhalt des Gesellschaftsvertrages ist daher die Errichtung eines Staatswesens. Erst der Staat grenzt die Rechtssphären der Menschen voneinander ab und beendet damit den Kriegszustand aller gegen alle. 1 4 Eine effektive Befriedung des Naturzustandes erwartet Hobbes jedoch ausschließlich von einer mit absoluter Macht ausgestatteten obersten Zwangsgewalt. 15 Der Gesellschaftsvertrag muß daher zugleich einen absoluten Souverän autorisieren. 16
8
Siehe hierzu: Kersting, Gesellschaftsvertrag, S. 3 f., der auf erste Spuren vertragstheoretischen Denkens bereits in der Sozialsphilosophie der Sophisten und im politischen Denken des Mittelalters hinweist (a.a.O., S. 12 f.), jedoch betont, daß der Vertrag erst in der Neuzeit zu einem theoretischen Konzept erhoben wurde (a.a.O., S. 14). 9 Kersting, Gesellschaftsvertrag, S. 15. 10 Hobbes, Naturrecht und Allgemeines Staatsrecht, Buch I Kap. XIV (S. 99). Der Begriff des „Rechts" ist hier allerdings nur im Sinne eines natürlichen Merkmals des Menschen, nicht im Sinne einer menschenrechtlichen Freiheitsposition zu verstehen, vgl. Kersting, Gesellschaftsvertrag, S. 75. 11 Vgl. Hobbes, De Cive, Kap. V; Ryffel, Rechts- und Staatsphilosopie, S. 199. 12 Hobbes, Leviathan, Kap. 15 (S. 130 f.). 13 Vgl. Kersting, Gesellschaftsvertrag, S. 79 f. 14 Vgl. Hobbes, De Cive, Kap. I, Abs. X-XIV (S. 47 ff.). 15 Hobbes, Vom Bürger, Kap. 5.6 (S. 128). 16 Darin kann auch ein separater Herrschafts vertrag gesehen werden, vgl. Pieroth, Jura 1984, 568 (571).
Teil 2: Die Grundlagen der Schutzpflichtenlehre
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Auf der Grundlage dieser Staatsvertragstheorie wird die Garantie der Sicherheit heute ganz einhellig als die zentrale Legitimationsgrundlage staatlicher Gewalt verstanden. Hobbes selbst sah die Sicherheit als den einzigen Zweck des Staates an, aus dem alle anderen Aufgaben folgten. 17 Die von ihm entwickelten Konzepte und Argumentationsformen prägen das gesamte neuzeitliche politikphilosophische Denken und bilden den kategorialen Rahmen der Staatsphilosophie späterer Jahrhunderte. 18 Ihm wird daher auch die „philosophische Begründung des Menschenrechtes auf Sicherheit" zugeschrieben. 19 Im Rahmen seines Staatsvertragsmodells ergänzte John Ij)cke die Sicherheitsphilosophie Hobbes durch eine Freiheitsphilosophie. 20 Das primäre Ziel der Vereinigung von Menschen zu einem Staat sieht er ähnlich wie Hobbes in der Bewahrung von Leben, Freiheit und (Grund-)Eigentum. 21 Der Mensch gebe seine absolute Freiheit auf, weil ihr Genuß durch die gleiche absolute Freiheit aller anderen permanent gefährdet und damit unsicher sei. Die Furcht vor der seine Freiheitsgüter verletzenden Inanspruchnahme der Freiheit durch seine Mitmenschen bewege ihn, seinen bindungslosen Zustand aufzugeben und sich mit anderen zur gegenseitigen Bewahrung dieser Freiheitsgüter zu verbinden. 22 Anders als Hobbes geht Locke jedoch davon aus, daß die staatliche Herstellung von Sicherheit nicht die gänzliche Aufgabe der individuellen Freiheit bedingt. Die Unterordnung des einzelnen unter eine staatliche Autorität findet nach ihm ihre Grenze in ihrem Zweck, nämlich der Selbsterhaltung des Menschen, die er dem einzelnen nicht nur als Recht zugesteht, sondern unter der er eine - auch gegen sich selbst gerichtete - naturrechtliche Verpflichtung versteht. 23 Auch wenn er als Bürger seinen vorstaatlichen Freiheitsstatus verläßt, so ist die staatliche Gewalt, der er seine Gleichheit und Freiheit anvertraut, in ihrer Macht durch das „gemeine Wohl" begrenzt und verpflichtet, seine Freiheit und sein Eigentum zu sichern, denn „keiner vernünftigen Kreatur könne unterstellt werden, daß sie ihre Lebensbedingungen verschlechtern wolle". 2 4 Die mit der Staatsgründung regelmäßig zeitgleich entstehende Staatsgewalt25 entsteht zur Verfolgung eines bestimmten Zweckes und ist zugleich auf ihn 17
Vgl. Link, VVDStRL Bd. 48, S. 7 (27). Kersting, Gesellschaftsvertrag, S. 15. 19 Szczekalla, Der Staat Bd. 36 (1997), 237 (251); ebenso: Hermes, Schutz, S. 151. 20 Isensee, Sicherheit, S. 7. 21 Locke, Two Treatises of Government, Second Treatise, Kap. IX § 124. 22 Locke, Two Treatises of Government, Second Treatise, Kap. IX § 123. 23 Locke, Two Treatises of Government, Second Treatise, Kap. II § 6. 24 Locke, Two Treatises of Government, Second Treatise, Kap. IX § 131. 25 Der Begriff der Staatsgewalt entspricht insoweit dem englischen Terminus „government" am besten. 18
B. Ideengeschichtliche Grundlagen
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beschränkt. 26 Nicht nur der Staat als solcher und seine Gründung sind mit einem Sicherheitszweck verbunden, sondern Locke identifiziert v.a. die Staatsgewalt und damit das Handeln des Staates mit einer solchen Zwecksetzung.
2. Zur Kritik des Vertragskonzepts Die Staatsvertragstheorie entsprang dem Wunsch, den Widerspruch zwischen der Freiheit des Menschen und seinen Bindungen im Staat zu erklären. 2 7 Während die Vertragstheorien der frühen Neuzeit diesen Gegensatz letztlich auflösen wollen, 2 8 geht der liberale Rechtsstaat einen pragmatischeren Weg und akzeptiert den Widerspruch zwischen Freiheit und Bindung, bemüht sich jedoch, ihn abzumildern und in der Realität nicht zum Konflikt eskalieren zu lassen, indem er mittels der Grundrechte als Abwehrrechte die Freiheit des Individuums in den Staat hineinzieht und die vorstaatliche Freiheit in eine staatliche Selbstbeschränkung transformiert. Das Vertragskonzept läßt sich bei heutiger, kritischer Prüfung weniger als Beschreibung der Grundlagen moderner Staatlichkeit verstehen, denn als eine Lehrfabel zur Entstehung staatlicher Herrschaft, die in einer bestimmten historischen Epoche einen Erklärungswert für das Verhältnis zwischen Souverän und Untertanen besaß. Die Lehren vom Staats- und Gesellschaftsvertrag stehen in einem spezifischen philosophischen Kontext und sind nicht zuletzt auch als Stellungnahmen zu politischen Tagesfragen im England der Revolutions- und Bürgerkriegszeit zu weiten. Aus heutiger Sicht dienen die Ideen, welche die wesentliche Funktion des Staates im Schutz seiner Bürger sehen oder den Staat als Verein zu gegenseitigem Schutz definieren, primär als Fundamente für politische Forderungen, Vorschläge und Aktionen. 2 9 In einer demokratischen Staatsordnung ist die ursprüngliche und zentrale politische Funktion der Vertragstheorie, nämlich der Staatsgewalt Legitimation durch den einmaligen Akt eines Vertragsschlusses zu geben, weitgehend obsolet geworden. An die Stelle dieses einmaligen Legitimationsaktes tritt in der freiheitlichen Demokratie eine kontinuierliche, sich v.a. auf die
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Laslett, Introduction, S. 109. Ryffel, Rechts- und Staatsphilosopie, S. 198. 28 Das gilt jedenfalls für Hobbes, aber auch für Locke, der zwischen Freiheit und Sicherheit kein Spannungsverhältnis ausmacht, sondern von einer naturrechtlichen Beschränkung der Staatsmacht ebenso ausgeht wie von einem natürlichen, in der menschlichen Vernunft wurzelnden Impetus zur Aufgabe des freien Naturzustandes, vgl. Laslett, Introduction, S. 99. 29 Popper, Offene Gesellschaft, Bd. I, S. 134. 27
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Teil 2: Die Grundlagen der Schutzpflichtenlehre
Periodizität von Wahlen gründende Teilhabe aller. Das „genetische" wird durch ein „verstetigtes Inklusionsargument" abgelöst. 30 a) Bedingungen des Entstehens moderner Staatlichkeit Auch wenn die Gesellschafts- bzw. Staatsvertragstheorie nicht als historischer Deutungsversuch, sondern als eine „juristische Fiktion" 3 1 verstanden werden will, so ist es für die Brauchbarkeit einer solchen Fiktion doch nicht ohne Interesse festzustellen, ob und inwieweit ihre Grundannahmen mit historischen Fakten korrelieren. 32 Dabei ergibt sich, daß die Staatsvertragstheorie einer Überprüfung an historischen Maßstäben nicht standhalten könnte. Hobbes' Vertragstheorie fand wegen ihrer historisch-politischen Realitätsferne schon bei den zeitgenössischen englischen Juristen keine Resonanz. 33 Jacob Burckhardt hat die „Kontrakthypothese" zum Ursprung des Staates als „absurd" zurückgewiesen. 34 Er geht gar noch einen Schritt weiter, wenn er ein menschliches Bedürfnis nach Recht und Schutz als Gründungsimpuls für staatliche Ordnungen und die damit zusammenhängende These, der Staat und das Strafrecht seien letztlich identischen Ursprungs, ablehnt. Der Staat hat sich für ihn gerade nicht zum Schutze der Gesellschaft, „als ihre negative, abwehrende und verteidigende Seite" etabliert. 35 Nicht ein Bedürfnis nach Schutz, sondern „die Gewalt" ist für ihn „wohl immer das Prius" und der Staat stellt zunächst nur ihre „Systematisierung" dar. 3 6 Auch Kant, der in einem metaphorischen Sinne zwar von der Konstituierung des Volkes zu einem Staat im Wege eines ursprünglichen Kontraktes ausgeht, 37 räumt ein, daß tatsächlich alles „von der Gewalt anfängt". 38 30
Siehe zu diesen Varianten des Inklusionskonzeptes Di Fabio, Das Recht offener Staaten, S. 28 ff. 31 Süsterhenn, in: Maihofer, Naturrecht, S. 14; ähnlich: Isensee, JZ 1999, 265 (273); Szczekalla, Der Staat Bd. 36 (1997), 237 (242) spricht von „purer" im Gegensatz zur „historischen" Fiktion. 32 Vgl. für den Kontext der Genese moderner Staatlichkeit: Mayer, HZ Bd. 159 (1939), S. 457 (457 f.). 33 Hofmann, Herrschaftsvertrag, S. 257 (260); Kriele, Herausforderung, S. 8 f. u. passim; vgl. a. Laslett, Introduction, S. 90 ff., der nur eine indirekte politische Wirksamkeit seiner Herrschaftsvertragstheorie durch seinen Einfluß auf den - allerdings in wesentlichen Punkten von ihm abweichenden Locke - sieht (S. 92). 34 Burckhardt, Betrachtungen, S. 30. Ferner heißt es bei ihm, ebd.: „Noch kein Staat ist durch einen wahren, d.h. von allen Seiten freiwilligen Kontrakt (inter volentes) entstanden." 35 Burckhardt, Betrachtungen, S. 31. 36 Burckhardt, Betrachtungen, S. 32. 37 Kant, Metaphysik der Sitten, § 47 (S. 316). 38 Kant, Aus den Vorarbeiten zu „Zum Ewigen Frieden", zit. n. Hofmann, Herrschaftsvertrag, S. 257 (264).
B. Ideengeschichtliche Grundlagen
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Diese skeptische Bewertung der Vertragstheorie wird in der neueren Geschichtswissenschaft und Staatslehre durchweg geteilt. Die historische und ethnologische Forschung hat niemals das isolierte Individuum, vielmehr stets den gemeinschaftsgebundenen Menschen entdeckt. Die Wurzeln von Staatsgründungen liegen in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht in freiwilligen Vereinbarungen Einzelner, sondern in kriegerischen Ereignissen oder durch Blutsverwandtschaft konstituierten Geschlechtergemeinschaften. 3 9 Ferner ist die in der Staatsvertragstheorie implizierte Gleichzeitigkeit von Herrschaftsunterwerfung und Entstehung institutionalisierter Schutzrechte problematisch. Das Konzept der Herrschaft als Unterwerfung unter die Autorität eines Fürsten geht jedenfalls der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Staatenbildung historisch voraus. 40 Die Staatenbildung vollzog sich als allmählicher Selektionsprozeß auf der Grundlage bestehender Herrschaftsverhältnisse und nicht im Wege eines punktuellen Konsenses, eines wie auch immer gearteten Gründungs Vertrages. 41 Lange bevor der einzelne in den Genuß staatlicher Schutzleistungen kommen konnte, war er bereits einer obrigkeitlichen Herrschaft unterworfen. Kennzeichnend für die Fürstenherrschaft war zunächst nicht die Geltung und Durchsetzung einer Rechtsordnung und die damit verbundene Garantie eines von der Person des Herrschenden abstrahierten, staatlichen Schutzes, sondern die Fähigkeit des Fürsten, aus einem bestimmten Gebiet Einkünfte zu beziehen. 42 Es ist aus diesem Grunde auch nicht zufällig, daß der Begriff der securitas im ausgehenden Mittelalter sich in erster Linie auf die für den Warenaustausch wichtigen Verkehrswege bezog. Der in der Antike mit einer umfassenderen Bedeutung belegte Terminus erfuhr im unmittelbaren Vorfeld der modernen Staatenbildung somit eine konkretisierende Einengung auf die Sicherung der (Fern-)Straßensicherheit. 43 Sicherheit war Gegenstand von Rechtsansprüchen nur in unmittelbaren lehnsrechtlichen Beziehungen. Insoweit lag der mittelalterlichen Organisation von Herrschaft und Gewalt ein Vertragskonzept zugrunde. Abgeschlossen wurden indes nicht kollektive Staatsgründungsverträge, sondern solche
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Süsterhenn, in: Maihofer, Naturrecht, S. 15; zur Entwicklung staatlicher Organisation aus großfamiliären Strukturen: Fleiner-Gerster, Allgemeine Staatslehre, § 3 Rz. 12. 40 Brunner, Land und Herrschaft, S. 113; Böckenförde, Entstehung des Staates, S. 92 f.; für die deutsche Territorialstaatenbildung im Spätmittelalter: Schubert, Fürstliche Herrschaft, S. 81. 41 Fleiner-Gerster, Allgemeine Staatslehre, § 6 Rz. 16; Elias, Zivilisation, Bd. II, S. 143. 42 Schubert, Fürstliche Herrschaft, S. 23. 43 Conze, Geschichtliche Grundbegriffe V, S. 836; vgl. a. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 67. 3 Krings
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Teil 2: Die Grundlagen der Schutzpflichtenlehre
zwischen zwei Individuen, die aus heutiger Sicht eher privatrechtlichen Charakter aufwiesen. Otto Brunner hat darüber hinaus die These verfochten, daß auch die Masse der Herrschaftsbeziehungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit, die Rechtsverhältnisse der Grundherren zu ihren Holden, den abhängigen Bauern, von einem jedenfalls vertragsähnlichen, auf der Gegenseitigkeit von Pflichten beruhenden Konstrukt bestimmt wurde 4 4 und hat dabei in weiten Teilen der Historiographie Gefolgschaft gefunden. 45 Der Grundholde schuldete Hilfe, der Herr Schutz und Schirm. Die Reziprozität von Schutz und Schirm auf der einen und Hilfe auf der anderen Seite habe im Mittelpunkt des Denkens der Herren wie der Holden gestanden.46 Erfüllte der Herr seine Schutzpflicht nicht, so erlosch das Verhältnis. 47 Grundlage dieses Gegenseitigkeitsverhältnisses ist die Annahme einer prinzipiellen Gleichberechtigung des Landesherren mit der genossenschaftlich verstandenen Landesgemeinde. Gegen diese Deutung sind inzwischen jedoch grundlegende Einwände erhoben worden. 48 Die in der älteren Literatur für die Gegenseitigkeitsthese in Anspruch genommenen Quellen wie Weistümer, Pfandverträge, Testamente, protokollierte bäuerliche Beschwerden sowie Berichte über Bauernaufstände und ihre Ursachen weisen bei kritischer Analyse danach in eine ganz andere Richtung: Selbst im Kontext der bäuerlichen Beschwerden begegnet man keinem Hinweis auf eine Schirmpflicht des Herren gegen Dritte, wohl aber mannigfaltigen Klagen gegen die Gewalt des eigenen Herren. 49 „Schutz und Schirm" meint demnach nicht den Schutz gegen Dritte, die das Verhältnis zwischen Herren und Holden von außen stören, sondern das „Bestehenlassen" und die Wahrung der angestammten Rechte der Grundholden durch den Grundherren selbst. 50 Die Bauern suchen nicht Schutz bei ihrem Grundherren, sondern vor ihm. 5 1 Ebenso wird in der neueren Forschung die Gleichordnungsthese abgelehnt und stattdessen ein deutliches Übergewicht der herrschaftlichen Elemente 44 Siehe insbesondere die grundlegende Arbeit von Brunner, Land und Herrschaft, S. 263. 45 Vgl. die Nachw. bei Stercken, Königtum und Territorialgewalten, S. 30 Fn. 11. 46 Brunner, Land und Herrschaft, S. 344. 47 Brunner, Land und Herrschaft, S. 266 u. 327. 48 Siehe nur die quellenkritische Widerlegung von Brunners These durch Algazi, Herrengewalt, S. 40 ff. 49 Algazi, Herrengewalt, S. 64. 50 Algazi, Herrengewalt, S. 51 ff. 51 Algazi, Herrengewalt, S. 64. Schutz vor dem Grundherren oder Dritten wird allenfalls vom Landesherren oder vom Kaiser als dem Reichsoberhaupt erstrebt. Dieser und Reichsgerichte, Reichskammergericht und Reichshofrat, sollten in erster Linie nicht vor beliebiger privater Gewalt, sondern gerade vor despotischen Landesherrn schützen, Schmidt, Geschichte, S. 308.
B. Ideengeschichtliche Grundlagen
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herausgearbeitet. 52 Es ist darum zumindest äußerst zweifelhaft, ob sich auf der Grundlage der heutigen Mittelalterforschung noch annehmen läßt, daß die Herrschaft über Bauern im späten Mittelalter auf einem Gegenseitigkeitsverhältnis beruhte. Im Zuge der Konstituierung moderner Staatlichkeit kam dem Topos der Sicherheit somit zwar keine rechtshistorische Bedeutung im Sinne einer objektiven oder gar subjektiven Rechtsposition zugunsten der Untertanen zu. Die Gewährleistung von Sicherheit stellt aber eines unter mehreren Leistungsmerkmalen des Territorialstaates dar, mit denen er sich in einem Herrschaftswettbewerb gegen andere, konkurrierende Träger politischer Macht zu behaupten versucht. 53 Im hochmittelalterlichen Lehnswesen war Sicherheit ein nicht-öffentliches Gut, hinsichtlich dessen Bereitstellung weitgehende Vertragsfreiheit bestand. 54 Es existierte zumindest auf der Ebene des Lehnswesens55 ein politischer Markt für Schutz, auf dem unter den Anbietern und Nachfragern intensiver Wettbewerb herrschte. 56 Der Wettbewerb fand zum Teil mit Territorien statt, die den Entwicklungsstand des souveränen Flächenstaates bereits verwirklicht hatten. Ihre Wettbewerber waren jedoch ebenso andere politische Organisationen wie die selbständigen Stadtstaaten Italiens, das System der Hansestädte in Norddeutschland und v. a. die nicht primär territorial organisierten Machtzentren des Feudalismus. 57 Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation selbst war ein solches weniger durch Landesherrschaft denn durch Vasallität zusammengehaltenes nicht-territoriales Machtgebilde. 58 Das von dem Lehns- oder Landesherren bzw. dem Stadtrat auf diesem Markt bereitgestellte Gut „Sicherheit" war für ihn ebenso wie die von dem Vasallen geschuldete „Hilfe und Treue" nur Mittel zum Zweck
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Janssen, Der Staat Bd. 13 (1974), 415 (419 f.); Stercken, Königtum und Territorialgewalten, S. 170. 53 Zum Beispiel der königlichen Schutzgewährung: Mayer, HZ Bd. 159 (1939), S. 457 (471). 54 Volckart, Der Staat Bd. 45 (2000), S. 227 (240). 55 Vergleichbare Strukturen sind aber auch für die Masse der Bevölkerung, die Hintersassen eines Grundherren waren, zu ermitteln. Zwar besaßen sie prinzipiell nicht die Freiheit, sich von ihrem Grundherren loszusagen, jedoch bestand v.a. im Hochmittelalter noch vielfach die Auswanderung in Siedelland als faktische Option, vgl. Maurer, Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte Bd. 39 (1980), S. 30 (43); Volckart, Der Staat Bd. 45 (2000), S. 227 (237 f.) 56 Volckart, Der Staat Bd. 45 (2000), S. 227 (235); vgl. a. Elias, Zivilisation, Bd. II, S. 143; Spruyt, Sovereign State, passim. 57 Siehe hierzu Spruyt, Sovereign State, S. 130 ff. sowie S. 34 ff. (zu nicht-territorialen Machtorganisationen). 58 Schulze, Grundstrukturen, S. 63 ff. 3=
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der Erhaltung und Steigerung eines aus landwirtschaftlichen Erzeugnissen bestehenden Einkommens. 59 Der moderne Staat konsolidierte sich und setzte sich durch, indem er die konkurrierenden Anbieter aus diesem politischen Markt herausdrängte. Die Teilnehmer an diesem Machtwettbewerb strebten eine territoriale Monopolisierung legitimer Gewaltanwendung an. 6 0 Im Zentrum des Interesses stand für den (potentiellen) Landesherrn der Ausschluß äußerer militärischer Macht für das eigene Gebiet. 61 Diese wiederum war Voraussetzung für eine effektive Anwendung eigener polizeilicher Macht im Inneren; diese Machtausübung zur Sicherheit im Innern war wiederum eher Instrument der Herrschaftssicherung als der Zweck der Monopolisierungsbestrebungen. Zu den Faktoren, welche die Wettbewerbschancen einer Machteinheit bestimmten und an deren Optimierung dem jeweiligen Herren daher gelegen sein mußte, zählten neben Schutz und Sicherheit infrastrukturelle, agrarwirtschaftliche sowie andere ökonomische und politische Bedingungen. Die Gewährleistung von Schutz muß daher eher wie eine variable Größe in der Politik eines Landesherrn verstanden werden. Wenn sie auch nicht den Wert Null annehmen durfte, so konnte ein relatives Defizit an Sicherheit doch prinzipiell durch andere Wettbewerbsfaktoren ausgeglichen werden. Soweit Herrschaftsbeziehungen im ausgehenden Mittelalter noch auf Gegenseitigkeitsverhältnissen basierten, was insbesondere im Bereich des Lehnswesens, also zwischen den Freien und Adligen, der Fall war, schwanden sie in ihrer Bedeutung. Die Herrschaftspraxis des späten Mittelalters ist ab dem 14. Jahrhundert gekennzeichnet durch ein Zurücktreten persönlicher Bindungen und Verantwortlichkeiten, an deren Stelle ein „System sachlicher Ordnung" tritt. 6 2 Der Personenverbandsstaat entwickelt sich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts zu einem institutionalisierten Flächenstaat.63 Diese Entpersönlichung und Versachlichung der Rechtsbeziehungen erfaßte nach einhelliger Auffassung der Mediävisten sowohl den Bereich des Lehnswesens im engeren Sinne als auch die Stufe der bäuerlichen Existenz
59 Volckart, Der Staat Bd. 45 (2000), S. 227 (237). Wurde dieses Ziel nicht mehr angemessen erreicht, so war die Lösung aus der lehnsrechtlichen Verbindung möglich; auch seitens des Lehnsherren war der Ausschluß des Vasallen aus der lehnsrechtlichen Sicherheitsorganisation eine Handlungsoption, Spruyt, Sovereign State, S. 37. 60 Volckart, Der Staat Bd. 45 (2000), S. 227 (227 u. 240 ff.); zu der gesellschaftlichen Tendenz zur Monopolbildung vgl. Elias, Zivilisation, Bd. II, S. 143. 61 Vgl. Tilly, Coercion, S. 67 ff. 62 Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters, S. 424. 63 Diese ältere These hat prinzipiell auch im Lichte der neueren, geographisch differenzierenden Geschichtsforschung ihre Plausibilität nicht eingebüßt, siehe Hinrichs, Fürsten, S. 41 f.
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der Grundholden und ihre Rechtsbeziehungen zum Grundherrn. 64 Auch wenn Landesherrschaft z.T. auf lehnsrechtliche Instrumentarien in ihrer Entstehung oder zum Zwecke ihrer Sicherung zurückgriff, 65 so bestehen doch erhebliche Bedenken, die im Lehnswesen geprägten personalen Verpflichtungen zwischen Vasall und Feudalherr zum Anknüpfungspunkt für eine Sicherheitsgewährleistungspflicht des Staates der Neuzeit zu machen. Für den Gedanken einer allgemeinen, rechtlich verbürgten und organisierten Sicherheitsgewährleistung kann das lehnsrechtliche Schutzversprechen kaum fruchtbar gemacht werden. Eine mangelhafte Schutzleitung des spätmittelalterlichen Staates führte zu Wettbewerbsnachteilen. Sie war geeignet, die Loyalität der Untertanen zu schmälern, gefährdete die Fähigkeit der Abgabenerhebung aus dem Territorium und konnte im Extremfall - angesichts der Verschränkung von inneren und äußeren Gefahren für die Sicherheit 66 schließlich zu einer Schmälerung der territorialen Herrschaftsbasis führen oder gar das Ausscheiden aus dem Herrschaftswettbewerb erzwingen, welches sich in dieser Phase des deutschen Reiches typischerweise in einer Mediatisierung der Herrschaft vollzog. Rechtliche Folgen im Verhältnis zwischen Herrschaft und Untertanen löste ein solches Schutzdefizit indes nicht aus. Mit der spätmittelalterlichen bis frühneuzeitlichen Festigung der Staatlichkeit, die in Deutschland in erster Linie der Etablierung der Landesherrschaft entspricht, verwandelte sich das private Gut des Schutzes in ein öffentliches. Der Landesherr war nun für sein Territorium der einzige Anbieter militärischer Sicherheit und besaß daher jedenfalls die Möglichkeit, auch die polizeiliche Gewaltausübung im Inneren seines Territoriums zu monopolisieren. Auch in dieser Phase mußte der Landesherr aber danach trachten, daß die eigenen (ritterlichen) „Vasallen" sowie Dritte von dem Markt für Schutz und Sicherheit auch dauerhaft ferngehalten wurden. Nur als Monopolist konnte er den Preis für das Gut Sicherheit in Gestalt von Steuern und Abgaben für seine Untertanen heraufsetzen; er konnte sich auf diese Weise - in wirtschaftswissenschaftlicher Terminologie - „Monopolrenten" aneignen. 67 Sicherheit diente dem modernen Territorial Staat somit als Grundlage seiner Abgabenpolitik und sicherte seine Einnahmequellen. Es entstand der frühmoderne „Finanzstaat", der die Ressourcen möglichst
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Willoweit, Landesherrschaft, S. 66 (94). Vgl. Schulze, Grundstrukturen, S. 72 f.; Diestelkamp, Lehnrecht, S. 65 (80 ff.). 66 Die Unmöglichkeit einer scharfen Trennung zwischen äußeren und inneren Gefahren und damit zwischen den Begriffen der inneren und äußeren Sicherheit nach heutigem Sprachgebrauch, zeigt das Fehdewesen, welches bis in das Hochmittelalter noch eine bedeutende Rolle spielte, vgl. hierzu eingehend Brunner, Land und Herrschaft, S. 11 ff. 67 Volckart, Der Staat Bd. 45 (2000), S. 227 (241). 65
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vollständig zu erfassen suchte und aus Territorien institutionalisierte Flächenstaaten werden ließ. 6 8 Eine Aufwertung ihrer Rechtspositionen war für die Untertanen damit nicht verbunden. Vielmehr führten der zwar nicht stetige, aber doch allmähliche Bevölkerungsanstieg und die Bodenverknappung zu einer Verschlechterung ihrer Verhandlungsposition. Für die Etablierung eines Rechts auf Sicherheit fehlten unter diesen Umständen die Voraussetzungen. Die Polizeigesetzgebung des 17. und 18. Jahrhunderts 69 änderte daran nichts. Die Obrigkeit sah ihre Untertanen weiterhin in der primären Verantwortung, sich um ihre Sicherheit vor privaten Übergriffen selbst zu sorgen. Nahm der Staat sich dieser Aufgabe an, so lag darin eine „Sonderleistung" an die Untertanen, für die er regelmäßig auch besondere Gegenleistungen in Form von Steuern und Abgaben erhob. Der Schluß von dem faktischen Schützen-Können des Territorialstaates auf ein rechtliches Sollen kann nicht gelingen, unabhängig davon, ob man dieses Sollen einem fiktiven Gesellschaftsvertrag oder einer gewohnheitsrechtlich begründeten Verfassungsordnung entnehmen will. Die historische Unhaltbarkeit von Vertragskonzepten wird augenfällig in den öffentlichen Akten, mit welchen die Rechtsbeziehungen zwischen der landesherrlichen Gewalt und den von ihr Betroffenen bestätigt wurde. Keine vertragsartigen Symbole oder Zeremonien, die ein konsensuales Interagieren widerspiegelten, sondern Untertaneneide, die etwa bei einem Wechsel in der Person des Herrschers oder nach der Beilegung einer Revolte abverlangt und geleistet wurden, symbolisieren das Verhältnis zwischen Staatsgewalt und Rechtsunterworfenen. 70 b) Zur Offenheit
staatlicher Zwecksetzung
Die Unterwerfung des einzelnen unter die Autorität des Rechts umschreibt seit dem Zeitalter der Aufklärung das Wesen der Staatlichkeit. 71 Rechtsachtung und die damit verbundene Sicherung der Rechtsunterworfenen vor potentiellen Störern müssen damit aber nicht notwendigerweise der einzige oder primäre Zweck der Bildung und Aufrechterhaltung staatlicher Ordnung sein. Der Staat ist nicht auf die Verfolgung bestimmter Zwecke 68
Schmidt, Geschichte, S. 240. Siehe zu dieser Gesetzgebung, die noch von einem weiten, nahezu die gesamte innere Verwaltung umfassenden Polizeibegriff ausging, exemplarisch u. m.w.N.: Härter, in: Zehnder, Wechselspiel, S. 203 ff. 70 Schulze, MDG I, S. 211. 71 Vgl. etwa Kant, Metaphysik der Sitten, §§ 44 f. (S. 313 f.): „Ein Staat ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen." 69
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beschränkt. Er kann sich jenseits des Staatszweckes Sicherheit weiteren Zwecken verschreiben. 72 Zu nennen ist in diesem Zusammenhang insbesondere der Staatszweck der Wohlfahrt, der sich historisch in Ergänzung zum Sicherheitszweck entwickelt hat, mitunter aber auch in Konkurrenz oder gar in Widerspruch hierzu trat. 73 Die faktische Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols und die Festigung der inneren Sicherheit als Konsequenz eines Modernisierungsprozesses, der die Verwaltungs- und Herrschaftsstrukturen insbesondere der mitteleuropäischen Staaten erfaßte, 74 lassen die Sicherheitsaufgabe des Staates mehr und mehr zu einer Selbstverständlichkeit werden, was wiederum die legitimierende Funktion der Sicherheitsgewährleistung schwächt. Politik- und Sozialwissenschaft konstatieren in den west- und mitteleuropäischen Demokratien demgegenüber den hohen legitimatorischen Rang wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme. 75 Gerade in der Bundesrepublik hat sich eine radikale Verschiebung der Legitimation staatlicher Ordnung von einer normativen auf eine materialistische Grundlage vollzogen, so daß „eine Staatsverfassung und Staatsordnung als legitim gelten kann, nicht so sehr aus rechtsprinzipiellen Erwägungen heraus, sondern kraft unbestimmt befristeter Erwartungen ihrer sozialeudämonistischen Erfolge". 7 6 72 Sommermann, Staatsziele, S. 223 ff., nennt neben dem „rechtsstaatlichen Ziel" als weitere „Grundstaatsziele" die Sozialstaatlichkeit (a.a.O., S. 223 ff.), Kulturstaatlichkeit (a.a.O., S. 230 ff.), Friedensstaatlichkeit (a.a.O., S. 237 ff.) und Umweltstaatlichkeit (a.a.O., S. 247 ff.), welche allesamt jedoch „auf das rechtsstaatliche Koordinatensystem bezogen seien". 73 Vgl. Link, VVDStRL Bd. 48 (1990), S. 7 (34 ff.); Herzog, Staatslehre, S. 115 ff.; Sommermann, Staatsziele, S. 109, sowie Eschenburg, Staat und Gesellschaft, S. 99 mit dem Beispiel der US-amerikanischen Prohibitionspolitik 1919— 1935. In dem oftmals synonym verwandten, jedoch auf höherer Abstraktionsebene anzusiedelnden Begriff des „Gemeinwohls" bietet sich hingegen eine umfassende „Integrationsformel" (Brugger, NJW 1989, 2425 (2434)) für verschiedenste Staatskonzepte an, Sommermann, a.a.O., S. 201. Vgl. aus volkswirtschaftlicher Sicht ferner, Molitor, Wirtschaftspolitik, S. 7. Die Wohlfahrt des Volkes ist neben der Gewährleistung von Sicherheit als Aufgabe schon für frühe (vorstaatliche) Herrschaftsverbände auf deutschem Boden bezeugt: Bei den Franken war der König auch für die felicitas gentis, u. a. für gute Ernten und Gedeihen des Viehs verantwortlich, Ewig, Merowinger, S. 87. 74 Vgl. insoweit Knöbl, Polizei und Herrschaft, S. 205 ff. (zu Preußen) und S. 166 ff. (zu England). 75 Grebenhagen, Politische Legitimität, S. 171 ff. m.w.N. 76 Gehlen, Soziologische Voraussetzungen, S. 329; vgl. auch Böckenförde, Entstehung des Staates, S. 113; Krings, Osteuropa-Recht 1998, 340 (343). In jüngerer Vergangenheit ist jedoch das Thema der inneren Sicherheit - auch schon vor den Terroranschlägen des 11.9.2001 - wieder stärker in den Mittelpunkt der politischen Diskussion gerückt, was u.a. zu verstärkten Bemühungen um eine europäische Sicherheitspolitik und -gewährleistung geführt hat, vgl. Friauf, in: Schmidt-Aßmann,
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Staatlichkeit läßt sich alternativ zum Sicherheitszweck ferner als Reaktion auf die Entwicklung des menschlichen Zusammenlebens und die Überschreitung einer gewissen Größenstufe menschlicher Gemeinschaften begreifen. Die Ablösung überschaubarer Gemeinschaften durch komplexe 77 Gesellschaften verlangt Arrangements, um jene Eigenschaften des Zusammenhaltes und der Stabilität zu erhalten, welche sich in kleineren und homogenen Gemeinschaften unmittelbar aus der natürlichen Verpflichtung jedes Mitglieds auf Brauch und familiären Zusammenhalt ergeben. 78 Der Staat ist in diesem Sinne bereits von Johannes Althusius, einem deutschen Zeitgenossen Hobbes' und Lockes, nicht als ein gesellschaftsvertraglicher Zusammenschluß von Individuen, sondern als eine Kooperation kleinerer Einheiten wie Städte, Provinzen und Landschaften, beschrieben worden. 79 Hervorgehoben werden kann in diesem Zusammenhang die ökonomische und infrastrukturelle Bedeutung der staatlichen Organisation; sie schafft und sichert eine gesellschaftliche Infrastruktur, die den Wohlstand des Einzelnen mehrt, durch den einzelnen oder kleinere Gruppen aber nicht etabliert werden können, weil der individuelle Ertrag die Kosten dieser Strukturen nicht übersteigt. 80 Diese Arrangements sind dabei nicht auf Fragen der physischen Sicherheit beschränkt, sondern umfassen alle Bereiche der Daseinsvorsorge und des gedeihlichen Zusammenlebens.81 Solche infrastrukturellen Staatsaufgaben finden sich typischerweise beim Bau und Unterhalt von Verkehrswegen, bei der Schaffung oder Sicherstellung von technischen Kommunikationsvorkehrungen, bei der Sicherung der Energieversorgung, für den Bereich des Gesundheitswesens und der Bildungseinrichtungen.82 Sie sind Kennzeichen und Ausdruck einer arbeitsteiligen Gesellschaft. Die aus diesem Staatszweck herzuleitenden Machtpositionen und Herrschaftsrechte reichen nur soweit, wie eine tatsächliche Abhängigkeit der Menschen von der Gemeinschaft gegeben ist. 8 3 Bes. VerwR, 2. Abschn. Rz. 18a f. = S. 17 f.; Schreckenberger, VerwArch Bd. 88 (1997), S. 389 ff. 77 Unter Komplexität ist in diesem Zusammenhang ein Zustand zu verstehen, bei dem eine Interaktion zwischen allen Elementen eines Systems - hier also zwischen allen Gemeinschaftsmitgliedern - nicht mehr praktikabel ist und es insofern stets mehr Möglichkeiten gibt als aktualisiert werden können; Komplexität zwingt daher zur Selektion von Möglichkeiten, vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, S. 31. 78 Poggi, The State, S. 13. 79 Althusius, Politica, Kap. IX, Nr. 5; vgl. hierzu auch Winters, Althusius, S. 29 (40). 80 Molitor, Wirtschaftspolitik, S. 6 f. 81 Fleiner-Gerster, Allgemeine Staatslehre, § 6 Rz. 14. So ist für Hauriou, Principes, passim, der Staat dadurch gekennzeichnet, daß er sich einen Markt integrierte; der moderne Territorialstaat sei als Fortentwicklung von Stadtstaaten das Ergebnis einer Vergrößerung der Märkte. 82 Vgl. Molitor, Wirtschaftspolitik, S. 7.
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Im modernen Verfassungsstaat relativieren sich schließlich die klassischen Staatszwecke und insbesondere der Staatszweck Sicherheit, weil ihre - unter dem Regime des Naturrechts wesentliche - staatsbegrenzende Funktion in Konflikt geraten ist mit der Souveränität des modernen Staates.84 Der souveräne Staat läßt sich in seiner rechtlichen Existenz nicht mehr beschränken und sich nicht verbindlich auf bestimmte Zwecke festlegen. 85 Die Staatszwecklehre ist denn auch in der deutschen Staatsrechtswissenschaft im 19. Jahrhundert verlorengegangen. 86 Diese Entwicklung führte jedenfalls aus heutiger Sicht die bereits mit der Etablierung der Territorialstaaten erfolgte Überwindung heterogener und amorpher Herrschaftsstrukturen, bei denen Pflichten und Rechte von Herrscher und Untertanen korrespondierten, 87 konsequent fort. Die 1576 von dem französischen Juristen Jean Bodin entwickelte Formel der fürstlichen Souveränität, die auch in Deutschland aufgegriffen wurde, avancierte zur wissenschaftlichen Beschreibung einer realpolitisch bereits zuvor vorbereiteten Allkompetenz des Landesfürsten und des von ihm repräsentierten Staates.88 Die Lehre von natürlichen, dem Staat vorgegebenen Staatszwecken ließ sich als ein wesentliches Element des Naturrechtsdenkens mit dem sich durchsetzenden staatsrechtlichen Positivismus nicht vereinbaren. Dem Staat gestand dieser einen prinzipiell unbegrenzten Wirkungskreis zu; eine Analyse der Staatsaufgaben konnte demnach nurmehr aus der Beobachtung erwachsen und beschreibenden Charakter haben. 89 Diese Aufgabe wurde daher der Politik und nicht der Rechtswissenschaft zugeordnet. Die Staatszwecklehre wurde in ihrer Funktion als Begrenzung der Staatstätigkeit abgelöst von dem zeitgleich Raum gewinnenden Gedanken der Verfassungsstaatlichkeit und der Grundrechte als positiven Rechtsnormen. 90 Während naturrechtliche Freiheiten gerade in der deutschen Rechtstradition insbesondere „Freiheiten ... zum Staat" und mit einer sozialen Pflichten83
Fleiner-Gerster, Allgemeine Staatslehre, § 6 Rz. 5 f. Link, VVDStRL Bd. 48 (1990), S. 7 (11 f.); vgl. auch Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 761, sowie Nawiasky, Allgemeine Staatslehre III, 1956, S. 51, der u. a. von der „Omnikompetenz" des Staates spricht, von der er - nach größerer Zurückhaltung im Mittelalter - erst wieder seit der frühen Neuzeit Gebrauch gemacht habe. 85 Besonders strikt gegen eine solche Bindung an vorab zu bestimmende Zwecke wendet sich Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 196. 86 Link, VVDStRL Bd. 48 (1990), S. 7 (12); vgl. a. Sommermann, Staatsziele, S. 80 ff. 87 Schulze, MDG I, S. 204 f. 88 Schulze, MDG I, S. 209. 89 So etwa Meyer/Anschütz, Staatsrecht, § 4 (S. 16). 90 Skeptisch zur Begrenzung der Staatsgewalt durch die Staatszwecklehre etwa v. Gerber, Staatsrecht, § 10 (S. 30 f.). 84
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ethik verknüpft waren, 91 steht nunmehr die Freiheit vom Staat im Mittelpunkt. Der Fokus verschob sich damit von einer Begrenzung der Zwecke zu einer Begrenzung der Mittel staatlichen Handelns. Innerhalb des öffentlich-rechtlichen Organisationsrechts ist die Offenheit seiner Zwecksetzungen gerade zu einem bedeutsamen Kennzeichen geworden, das den Staat von unterstaatlichen Rechtsträgern, wie Anstalten und Körperschaften, die thematisch 92 auf bestimmte Zwecke begrenzt sind, unterscheidet. 93 Der Verfassungsstaat muß darum nicht als zweckfreie Veranstaltung verstanden werden. Er sucht sich seine Zwecke vielmehr selbst und ist „durch die Fähigkeit gekennzeichnet ... sich jeweils die Aufgaben und Zwecke stellen zu dürfen". 94 In einem existentiellen Sinne ist der Staat damit sich selbst Zweck: Er muß sich selbst erhalten, um seinen Auftrag, sich den im jeweiligen Augenblick stellenden Problemen und Aufgaben anzunehmen, erfüllen zu können. 95 Von dem herrschaftslegitimierenden und -begrenzenden Staatszweckverständnis des Naturrechts weichen die Zwecksetzungen im demokratischen Verfassungsstaat demnach hinsichtlich ihrer Veränderbarkeit und Situationsbedingtheit ab. Die Aufgaben und Einzelzwecke können ad hoc seitens der Regierung, in Gesetzen oder auch im Verfassungsrecht gesetzt sein. Der Kanon der Staatszwecke mag zwar einen verfassungs- oder - z.B. im Hinblick auf die Staatszielbestimmung des Sozialstaats - gar verfassungsänderungsfesten Kern aufweisen, er ist aber im Wege politischer Entscheidungen erweiterbar. 91
Schmidt, Geschichte, S. 240. Auch die Zuständigkeit der Kommunen für die „örtlichen Angelegenheiten" läßt sich im Sinne einer thematischen Abgrenzung verstehen, da sie nicht für alle Angelegenheiten innerhalb des Gemeindegebietes zuständig sind, sondern nur für solche Aufgaben, die auch in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf die örtliche Gemeinschaft einen spezifischen Bezug haben, BVerfGE 8, 122 (Leitsatz 3), vgl. zur GO NW Rehn/Cronauge, Gemeindeordnung NW, § 2 Anm. 3. 93 Umstritten ist allerdings, welche Rechtsfolgen diese Zwecksetzung zeitigt: Nach der sog. ultra-vires-Lehre oder Lehre von der Teilrechtsfähigkeit ist die rechtliche Existenz juristischer Personen, also die Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten zu sein, auf ihren jeweiligen Anstalts- oder Körperschaftszweck beschränkt, vgl. Bachof, AöR Bd. 83 (1958), S. 208 ff.; Eggert, Ultra-vires-Lehre, S. 20 ff. In der neuen Literatur wird diese Lehre z.T. zugunsten einer Vollrechtsfähigkeit auch aller juristischer Personen des öffentlichen Rechts aufgegeben und stattdessen von einer bloße Beschränkung des rechtlichen Dürfens ausgegangen, so jüngst: Ehlers, Teilrechtsfähigkeit, S. 62 ff. (insbes.: S. 76-78). 94 Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 196. In der Philosophie des deutschen Idealismus sah zunächt Schelling, Vorlesungen, S. 229 (329 ff.), den Staat als Selbstzweck an. Hegel, Grundlinien, § 258 (S. 387), spitzte diese Lehre zu, indem er im Staat das „an und für sich Vernünftige" erblickte. Vgl. hierzu Sommermann, Staatsziele, S. 56 ff. 95 Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 196; vgl. a. Ress, VVDStRL Bd. 48 (1990), S. 56 (64). 92
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I I . Sicherheit als Staatszweck und Staatslegitimation Um die Bedeutung des Staatszweckes Sicherheit für die Konkretisierung der Verfassung angemessen zu erfassen, ist auf einer zweiten Ebene von der Historizität der Herrschaftserrichtung und Staatengründung zu abstrahieren und die Legitimation heutiger Staatlichkeit in den Blick zu nehmen: Auch wenn das Bedürfnis nach physischer Sicherheit und dessen Befriedigung historisch betrachtet nicht unbedingt exklusiv im Mittelpunkt von Staatengründungen stand, so spricht dies nicht dagegen, daß es aus heutiger Sicht am „Anfang der Staatslegitimation" rangiert. 96 Daß sich Herrschaft in staatlichen Formen zu verfestigen und dauerhaft zu etablieren vermochte, konnte seine Ursache nicht ausschließlich in der historischen Faktizität von Herrschermacht und Gesellschaftsstrukturen haben. Der Entwicklung der modernen Staaten mußten zudem eine innere Folgerichtigkeit und eine Zweckhaftigkeit zugrundeliegen. Im Kontext einer staatsphilosophischen Betrachtung der Staatenbildung kann man im groben eine dreistufige Entfaltung des modernen Staates ausmachen, welche sich zumindest in den verschiedenen europäischen Staaten mehr oder weniger deutlich auch anhand historischer Ereignisse verifizieren lassen. 97 Aus dem Zustand des - in Europa vornehmlich mit dem Zeitalter der Reformation verbundenen - Bürgerkrieges und der permanenten Existenzbedrohung führt der Sicherheit gewährende Staat. 98 Um die Fortsetzung des Bürgerkrieges mit Polizeimitteln zu verhindern, 99 verdichtet dieser sich zu einem Schutz vor staatlicher Willkür bietenden Rechts- oder Verfassungsstaat 100 und mündet schließlich in den demokratischen und sozialen Rechtsstaat, der die Partizipation der Regierten an der Regierung garantiert und die materiellen Voraussetzungen für die Freiheitsausübung schafft. 101 Die jeweils späteren Stadien traten dabei zu den früheren Zwecken hinzu und verdrängten sie nicht. A m Beginn dieser Entwicklung steht in der Tat die staatliche Sicherheitsgewährung. 96
Isensee, JZ 1999, 265 (271). Diese Entwicklungsbeschreibung wird zugrundegelegt von Kriele, Staatslehre, passim, und artikuliert sich bei ihm zusammengefaßt in den Begriffen „Friede", „Freiheit" und „Gerechtigkeit"; vgl. a. Isensee, Sicherheit, S. 17 f.; ders., JZ 1999, 265 (271 f.). 98 Unter dem unmittelbaren Eindruck des englischen Bürgerkriegs und der Revolution des Jahres 1688 schrieb etwa Locke seine „Two Treatises of Government", vgl. Laslett, Cambridge Historical Journal, Bd. 12 (1956), Heft 1, S. 40 ff. Siehe auch ausführlich v. Humboldt, Wirksamkeit des Staates, passim, insbes. S. 59 ff. 99 Kriele, Staatslehre, S. 100. 100 Kriele, Staatslehre, S. 93 ff. 101 Kriele, Staatslehre, S. 206 ff. 97
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Der Staat legitimiert sich nicht ausschließlich, aber ganz wesentlich durch die Herstellung und Gewährleistung von Sicherheit, auf die der Freiheitsgebrauch aufbaut. 102 Mit dieser Feststellung ist allerdings noch nicht dargelegt, ob sich das Legitimationsmerkmal Sicherheit zu einer Pflicht zur Gewährleistung von Sicherheit oder gar einem subjektiven Anspruch auf Sicherheit verdichtet, sei es in Gestalt eines Rechtsanspruchs oder auch nur einer objektiv-rechtlichen Position. 103 Berücksichtigt werden muß bei der Verknüpfung von Staatszweck und positiver Schutzverpflichtung des Staates zunächst, daß der Feststellung von Staatszwecken jedenfalls im Kontext der vernunftrechtlichen Staatszwecklehren eine staatsbegrenzende Funktion zuk a m , 1 0 4 während es bei den grundrechtlichen und sozialstaatlichen Schutzpflichten des modernen Staates um eine Ausweitung von Staatsaufgaben geht. Hobbes' Ansatz der Staatslegitimation hat nur den Schutz des Menschen vor dem Menschen zum Inhalt. Der in seinem Staatsdenken zentrale Begriff der Souveränität bildet geradezu einen diametralen Gegensatz zum Konzept eines gegenüber dem Staat und seinen Organen bestehenden Rechts auf Gewährleistung von Schutz und Sicherheit. Für ihn bedeutet Souveränität eine absolute Herrschaftsgewalt, gegen die keinerlei Recht Bestand haben kann, die von keiner irdischen Norm begrenzt w i r d . 1 0 5 An dem die Souveränität begründenden Herrschaftsvertrag hat der zukünftige Herrscher keinen Anteil. Es ist ein Vertrag zugunsten Dritter. 1 0 6 Er ist durch ihn darum auch nicht gebunden oder zu einer bestimmten Gewährleistung rechtlich verpflichtet. Sicherungsmechanismen gegen den Herrschaftsmißbrauch haben keinen Platz im Schatten dieses Souveränitätsverständnisses. 107 Auch der Autorisierungsakt konstituiert kein unmittelbares Rechtsverhältnis zwischen den Individuen und dem Souverän. 108 Erst bei Locke entstehen natürliche Rechte auch gegenüber der Regierung. 109 Das Fruchtbarmachen ideengeschichtlicher Argumente für eine Herleitung oder gar für eine inhaltliche Bestimmung von verfassungsrechtlichen Schutzpflichten wird entscheidend durch die den Verfassungsstaat kennzeichnende Differenz von „pouvoir constituant" und „pouvoir constitué" ge102
Vgl. Popper, Offene Gesellschaft, Bd. I, S. 131 f. Vgl. Ress, VVDStRL Bd. 48 (1990), S. 56 (92); a.A. Isensee, Sicherheit, S. 33 f.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 13 ff. 104 Link, VVDStRL Bd. 48 (1990), S. 7 (11); Ress, VVDStRL Bd. 48 (1990), S. 56 (72). 105 Nierwetberg, JuS 1983, 496 (499). 106 Szczekalla, Der Staat Bd. 36 (1997), 237 (239). 107 Vgl. Szczekalla, Der Staat Bd. 36 (1997), 237 (246). 108 Kersting, Gesellschaftsvertrag, S. 91. 109 Hofmann, Herrschaftsvertrag, S. (257) 262. 103
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hemmt. Vertragstheoretische Ansätze suchen den Staatsgründungsakt sowie die Existenz einer staatlichen Gewalt zu begründen. Sie bewegen sich damit nicht im System des Rechts, sondern im politischen System. Die Gründung eines Staates und die Ausgestaltung einer Regierungsgewalt ist eine Frage der Verfassungsgebung, die Recht setzt, selbst aber regelmäßig nicht an Rechtssätze gebunden ist. Soweit man aus politisch-philosophischen Erwägungen heraus die Gewährleistung von Sicherheit als den einzigen oder vornehmlichen Zweck der Veranstaltung „Staat" begreift, muß die Konstituierung von Staatlichkeit im Ergebnis diesem Zweck gerecht werden. Zwischen der Allgemeinen Staatslehre und der diesen Erwägungen verpflichteten „pouvoir constituant" einerseits und dem positiven Staatsrecht verläuft jedoch ein Graben, der in der verfassungsrechtlichen Argumentation nicht ohne weiteres überwunden werden kann. Staatszwecke unterscheiden sich von Verfassungszwecken. 110 Der Verfassungsstaat hat grundsätzlich keine Anleihen beim Staat der Allgemeinen Staatslehre zu machen. 111 Wenn im Sinne der dreistufigen Genese heutiger Staatlichkeit die Staatsgründung den jedenfalls bürgerkriegsähnlichen Zustand weitgehender Unsicherheit beenden sollte, so erfüllt sich der Zweck des Staates bereits mit seiner Existenz, soweit und solange es sich um einen mächtigen Staat handelt, dessen Organe bereit und in der Lage sind, Staatsgewalt effektiv auszuüben. Bereits Bodin definierte daher inmitten des französischen Bürgerkrieges im 16. Jahrhundert den Staat als eine rechtmäßig geführte, mit souveräner Gewalt ausgestattete Herrschaft über eine Vielzahl von Haushaltungen. 1 1 2 Die Etablierung eines solchen mit nach innen und außen höchster und unabhängiger Gewalt versehenen modernen Staates vermittelt für die Untertanen jene Sicherheit, die der in Parteiungen zerfallene Feudalstaat des Mittelalters nicht zu bieten vermochte. Bodin und die sog. Gruppe der „Politiques" definieren einen formellen Begriff des inneren Friedens, der gegenüber den Schrecken des Bürgerkrieges ein in sich gerechtfertigtes Gut darstellt. 113 In dieser Tradition wollen die klassischen Staatszwecklehren denn auch nur den Staat als solchen legitimieren und gehen davon aus, daß jede politische Ordnung mit einer allgemeinen Entscheidungsgewalt besser sei als Chaos und Selbstjustiz. Bei dieser Sichtweise vermittelt der Eintritt in einen modernen, souveränen Staat weniger einen in die Zukunft gerichte110
Ress, VVDStRL Bd. 48 (1990), S. 56 (61). So: Häberle, AöR Bd. 111 (1986), S. 595 (600); Link, VVDStRL Bd. 48, S. 7 (47). Vgl. auch Gusy, JZ 1989, 505 (506), der im Zusammenhang der Naturrechtssysteme auf die prinzipielle Unmöglichkeit einer Geltungsbegründung von Rechtsnormen aus außerrechtlichen Werten hinweist. 112 Bodin, Sechs Bücher über den Staat, Band I, S. 98 (I. Buch 1. Kap.); vgl. hierzu Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 453; Fleiner-Gerster, Allgemeine Staatslehre S. 145. 113 Böckenförde, Entstehung des Staates, S. 102. 111
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ten Anspruch auf Sicherheit, sondern der Eintritt als solcher gewährt bereits die begehrte Sicherheit. Soweit man überhaupt noch von einem Anspruch ausgehen will, würde dieser jedenfalls mit der Gründung des Staates bzw. mit dem Eintritt des einzelnen in den Staat erfüllt und wäre damit untergegangen. Leistet der Staat die Sicherheit, um derentwillen er besteht, nicht mehr, so bedeutet dies im Kontext dieses Ansatzes nicht, daß die Staatsorgane eine rechtliche Pflicht zur Sicherheitsgewährleistung verletzen, sondern daß der Staat insgesamt seine politische Akzeptanz verliert. Nicht die durch ein judikatives Staatsorgan zu treffende Feststellung eines objektiven Rechtsverstoßes oder gar die Entstehung rechtlicher Ansprüche auf Sicherheitsgewährleistung, sondern das Wiederaufleben des natürlichen, vorstaatlichen Notwehrrechts 114 und im Extremfall der Untergangs des Staates sind die daraus resultierenden logischen Konsequenzen. So verstanden findet der Staatszweck Sicherheit im Widerstandsrecht gegen den pflichtvergessenen Herrscher das Instrument seiner Durchsetzung. 1 1 5 Wurde dieses Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit überwiegend als politisches Recht gedacht, das nicht dem einzelnen Bürger, sondern nur Repräsentanten zukommt, 1 1 6 so hat sich sein Verständnis unter dem Grundgesetz zu einem Individualrecht gewandelt. Der konsekutive Begründungsansatz bleibt jedoch der gleiche: Erfüllen der Staat und seine Organe ihre zentrale Sicherheitsaufgabe nicht mehr, so stellt das regelmäßig eine Mißachtung der in Art. 20 Abs. 3 GG statuierten Rechtsbindung der staatlichen Organe dar, woraus dem einzelnen Rechtsunterworfenen das „Recht" auf Gehorsamsverweigerung und auf Widerstand gegen den sich außerhalb der Verfassungsordnung stellenden Herrscher erwächst. Ziel dieses Widerstandes ist die Erhaltung der bestehenden bzw. die Wiederherstellung der beschädigten Ordnung. 1 1 7 Die Bedenken gegen den Rechtsstatus des Staatszweckes Sicherheit finden daher auch in zugespitzter Weise in der Diskussion um ein verfassungsrechtliches Widerstandsrecht ihre Parallele. Auch hier geht die überwiegende Lehre - in Ansehung von Art. 20 Abs. 4 GG nach wie vor davon aus, daß sich das Widerstandsrecht einer Positivierung wesensmäßig entzieht. 118 Es weist über ein rechtlich geordnetes Handeln durch Staatsorgane und damit letztlich über das staatliche Recht, dessen 114
Vgl. Hobbes, De Cive, Kap. VI, Abs. III (S. 93); Isensee, JZ 1999, 265 (271). Vgl. Link, Herrschaftsordnung, S. 194 f.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 34 unter Hinweis auf Althusius, Politica, Kap. XVIII Nr. 65 (S. 297); Kap. XXXVIII Nrn. 28 f. (S. 894); vgl. zum Widerstandrecht als Sanktion für den pflichtvergessenen Herrscher bei Althusius: Winters, Althusius, S. 29 (48 f.). 116 Dies gilt insbes. für Johannes Althusius, vgl. Winters, Althusius, S. 29 (49). 117 Dolzer, HdbStR V, § 171 Rz. 36. 118 Isensee, Widerstandsrecht, S. 97 ff.; Stern, Staatsrecht II, S. 1498; Dolzer, HdbStR VII, § 171 Rz. 4 m.w.N.; Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 760; Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 Rz. 167; kritisch auch: Klein, DÖV 1968, 865 ff. 115
B. Ideengeschichtliche Grundlagen
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Teil es doch zugleich sein will, hinaus 1 1 9 und auf einen (fiktiven) vorstaatlichen Zustand zurück. Noch weniger zu überzeugen vermag die Staatszwecklehre, wenn sie den Staatszweck Sicherheit einem bestimmten Teil der Rechtsordnung oder der Verfassung 120 normativ zuordnen will, denn die Entscheidung für eine rechtliche Positivierung des Staatszweckes Sicherheit gibt den Standort dieser Rechtspflicht des Staates noch nicht vor. Der überkommene Ort normierter staatlicher Schutzleistungen ist eher das einfache Gesetzesrecht. Dies ist zum einen rechtshistorisch bedingt, denn die Kodifizierung staatlicher Schutzleistungen und selbst von Ansprüchen auf staatlichen Schutz ging der Epoche der Verfassungsgebung im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert voraus, wie für Deutschland das Beispiel des § 76 Einleitung Preußisches Allgemeines Landrecht 121 zeigt. Aber auch in der späteren Rechtsentwicklung verdankte der Bürger den staatlichen Schutz einfachrechtlichen Bestimmungen. Der Staat stellt über die Normen des Prozeß- und Gerichtsverfassungsrechts eine funktionierende Gerichtsbarkeit bereit. Er verschafft sich Eingriffsmöglichkeiten gegenüber Störern im Polizei-, Ordnungs- und Sonderordnungsrecht. Er sucht potentielle Störer durch strafrechtliche Sanktionierungen abzuschrecken. Schließlich wirkt er durch Unterlassungs- und Schadensersatzanspruchsnormen sowie durch normative Vertragsinhaltskontrollen (z.B. §§ 134, 138 BGB) auch im Zivilrecht für den Schutz vor Übergriffen Dritter in die Freiheitssphäre des sozial Schwächeren. 122 Das einfache Gesetzesrecht erscheint als Anknüpfungspunkt für die rechtlichen Folgerungen aus dem Staatszweck Sicherheit grundsätzlich ebenso geeignet wie das Verfassungsrecht. 123 Dies bestätigt indirekt gar die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, wenn sie den Gesetzgeber in der primären Verantwortung für die Gewährleistung eines ausreichenden Schutzniveaus sieht. 1 2 4
119
Vgl. Dolzer, HdbStR VII, § 171 Rz. 4 Zur Begründung einer Zuordnung der Schutzpflichten speziell zu den Grundrechten vgl. a. u. Teil 3 B.I. 121 Die Vorschrift lautet: „Jeder Einwohner des Staats ist den Schutz desselben für seine Person und sein Vermögen zu fordern berechtigt." Vgl. hierzu unten Teil 3 B.II.2.a)cc). 122 Vgl. Dreier, Dimensionen, S. 32 f. (Fn. 112); Wahl/Masing, JZ 1990, 553 ff.; siehe hierzu bereits die entsprechende Zuordnung in der Paulskirchenverfassung, u. Teil 3 B.II.2.a)cc) und insbes. Fn. 193. 123 Erst der relativ junge Prozeß einer „Vereinheitlichung und Entdifferenzierung des Gesetzesrecht durch Grundrechte" hat zu einer Standortverschiebung hinsichtlich sachbereichsprägender Wertungen zum Zwecke der Sicherung von Individualrechtsgütern geführt, siehe Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 55 ff. 124 Siehe unten Teil 5 B.I.l. 120
Teil 2: Die Grundlagen der Schutzpflichtenlehre
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Für das Gesetzesrecht als Standort für die Staatsaufgabe Sicherheit und gegen das Verfassungsrecht spricht auch ein Konzept, welches das primäre Ziel der Verfassung in einer rechtlichen Eingrenzung der Staatsmacht erblickt. Der Gesetzgeber sucht sich seine Aufgaben danach weitgehend autonom und ist lediglich durch die Vorgaben der Verfassung begrenzt. Diese Sichtweise entspricht dem sich im 19. Jahrhundert herausbildenden - und noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ideengeschichtlich wirksamen liberalen Verfassungsmodell der konstitutionellen Monarchie, demzufolge es Aufgabe der Verfassung war, die prinzipiell allumfassende monarchische Staatsgewalt zu beschränken und dem Bürger so einen selbstverantworteten Freiheitsraum zu eröffnen. 125 Instrumente dieser Beschränkung sind neben den Grundrechten in erster Linie die verfassungsrechtlichen Regelungen über die Trennung und Hemmung der Gewalten, die auch das Grundgesetz in weiten Teilen durchziehen. 126 Diese Akzentuierung der Verfassung wird für den demokratischen Lenkungs- und Leistungsstaat unserer Tage jedoch abgelehnt 127 und die Beschränkung der Staatsmacht nurmehr als eine unter einer Vielzahl von Funktionen der Verfassung angesehen. 128 Ziel der Verfassung ist heute gerade die Konstituierung demokratisch legitimierter Gew a l t . 1 2 9 Die Beweislast für die Zulässigkeit des Staatshandelns hat sich damit umgekehrt: Die Staatsorgane müssen ihr Tätigkeit jedenfalls im Prinzipiellen positiv begründen können und dürfen sich nicht damit begnügen, die Abwesenheit entgegenstehenden (Verfassungs-)Rechts zu konstatieren. Dieser Begründungs- und Legitimationsbedarf kann zumindest in Bezug auf den Gesetzgeber nur im höherrangigen Recht, also im Verfassungsrecht erfolgen. Diese Akzentverschiebung hat auch vor dem Verständnis der Grundrechte nicht Halt gemacht; zu der auf die Ausgrenzung der Staatsgewalt gerichteten Abwehrfunktion der Grundrechte haben sich weitere Grundrechtsdimensionen gesellt, die sich auf ein positives Tätigwerden der Staatsgewalt richten. Diese Feststellung beschreibt allerdings nur die Entwicklung der Grundrechtsdogmatik, vermag aber keine Begründung für eine Verortung der staatlichen Schutzfunktion bei den Grundrechten zu ersetzen und kann insbesondere nicht erklären, warum der Grundrechtsteil des Grundgesetzes vor allen anderen Abschnitten der Verfassung die Staatsfunktion Sicherheit beinhalten soll, wenn sich der Funktionswandel doch auf die Verfassung insgesamt bezieht. 1 3 0 125
Hesse, HdbVerfR, § 1 Rz. 25; Maunz/Zippelius, Staatsrecht, S. 32. Vgl. Stern, Staatsrecht I, S. 93 f. 127 Hesse, HdbVerfR, § 1 Rz. 26. 128 Vgl. Stern, Staatsrecht I, S. 82 ff. 129 Hesse, HdbVerfR, § 1 Rz. 27; Badura, Staatsrecht, Rz. A 7; Grimm, Entstehungs- und Wirkungsbedingungen, S. 61 f.; Dreier, Dimensionen, S. 54. 126
C. Der Verfassungstextbefund
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Mit Blick auf die staatslegitimatorischen Zwecke der Verfassung erscheint das Sozialstaatsprinzip als mindestens ebenso tauglich zur Positivierung der Staatsaufgabe Sicherheit. So wird die Sozialstaatserklärung des Grundgesetzes im Sinne einer Ermächtigungs- und Auftragsnorm verstanden, die sich in erster Linie, aber nicht ausschließlich an den Gesetzgeber wendet und Befugnis, Auftrag und Legitimation zu sozialgestaltender, leistender und gewährender Tätigkeit des Staates gewährt. 131 Das Bundesverfassungsgericht hat hieraus bereits in einer frühen Entscheidung die Aufgabe des Staates zu „sozialer Aktivität", die „einen erträglichen Ausgleich ... widerstreitende[r] Interessen" herbeiführen soll, 1 3 2 abgeleitet. Hierunter lassen sich keineswegs nur staatliche Hilfen in persönlichen Notlagen und Krisen subsumieren. Vielmehr folgt aus dem Sozialstaatsprinzip 133 eine Aktionsvollmacht und -direktive auch zur Lösung gesellschaftlicher Konflikte. Genau auf die Vermeidung und Bereinigung solcher Konfliktlagen zielt aber auch die Staatsaufgabe Sicherheit. Die Gegenüberstellung von Grundrechten und Sozialstaatsziel als verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt wohlfahrtsstaatlicher Erwägungen zeigt, daß die Zuordnung der Schutz- und Sicherheitsaufgabe der Verfassung zwischen diesen Elementen des Grundgesetzes, die das Leitthema dieser Arbeit bildet, auf der Ebene der Staatszwecke und -funktionen nur als Problem beschrieben, nicht jedoch gelöst werden.
C. Der Verfassungstextbefund I. Schutzpflichten im Grundgesetz Auch wenn die Schutzpflichtenjudikatur 134 des Bundesverfassungsgerichts erst Mitte der siebziger Jahre einsetzte, so enthielt das Grundgesetz doch von Beginn an einige Textstellen mit expliziten Hinweisen auf positive Pflichten des Staates, zum Schutze bestimmter Rechtsgüter und Ziele tätig zu werden. Diese finden sich zum einen im Abschnitt über die Grundrechte, sowohl als primäre Pflichten wie als Definition von Befugnissen zur staatlichen Einschränkung des Grundrechtsgebrauchs. Zum anderen sind sie in den Kompetenztiteln der Art. 70 ff. enthalten. 135 Inwieweit andere Vorschriften des Grundgesetzes und insbesondere das Sozialstaatsprinzip als 130
Zu den Problemen einer Verknüpfung von Staatszwecklehre und Grundrechten siehe u. Teil 3 B.II.2. 131 Bachof, VVDStRL Bd. 12 (1954), S. 37 (43); Stern., Staatsrecht I, S. 887 (m.w.N. in Fn. 67); Schmitt Glaeser, AöR Bd. 107 (1982), S. 337 (353 f.). 132 BVerfGE 1, 97 (105). 133 Hierzu unten Teil 6 C.I. 134 Siehe u. Teil 3 A.I.l. 4 Krings
Teil 2: Die Grundlagen der Schutzpflichtenlehre
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Quelle von Schutzpflichten nutzbar gemacht werden können, 1 3 6 soll an dieser Stelle nicht thematisiert werden, da auf der Ebene eines normativen Textbefundes nur explizite Schutzverpflichtungen zu nennen sind.
1. Grundrechtliche Pflichten zum Rechtsgüterschutz Bereits in Art. 1 Abs. 1 GG findet sich ein staatlicher Schutzauftrag hinsichtlich der Würde des Menschen. Sie ist nach der Formulierung der Vorschrift nicht nur - negativ - unantastbar (S. 1) und seitens der staatlichen Gewalt zu achten (S. 2), sondern S. 2 verpflichtet die staatliche Gewalt auch - positiv - zu ihrem Schutz. Adressat dieser Schutzverpflichtung ist ausschließlich der Staat, nicht hingegen der grundrechtsberechtigte Private, auch wenn dessen die Menschenwürde antastendes Verhalten unmittelbar ein Verstoß gegen die Verfassungsnorm darstellen mag. 1 3 7 Die vom Verfassungsgeber an die Spitze der Verfassung gestellte Schutzverpflichtung ordnet nicht lediglich eine besondere Rechtsfolge für einen spezifischen grundrechtlichen Schutzbereich an, sondern nimmt sich zugleich als Programmsatz für die anderen Grundrechte 138 des ersten Abschnittes aus, und zwar unabhängig davon, wie man das Verhältnis von Art. 1 GG zu diesen anderen Grundrechten im übrigen bewertet. 139 135
Schutzverpflichtungen in den Landesverfassungen sollen hierbei nicht behandelt werden; die Landesverfassungsgerichte haben ihre jeweiligen Verfassungen als Quelle von (grundrechtlichen) Schutzpflichten bislang - soweit ersichtlich - noch nicht erschlossen. Eine Ausnahme stellt insoweit die Entscheidung des Berliner Verfassungsgerichtes zur Einstellung des Strafverfahrens gegen Erich Honecker dar, BerlVerfGH, NJW 1993, 515. Abgesehen davon, daß hierdurch staatliche Stellen an einem Verhalten, nämlich der Fortführung des Strafverfahrens gegen den ehemaligen Staatschef der „DDR", gehindert, nicht aber zu einer positiven Schutzmaßnahme verpflichtet wurden, konnte der Entscheidungsmaßstab der Menschenwürde gerade nicht der Berliner Verfassung entnommen werden, sondern mußte mühsam aus Art. 1 Abs. 1 GG als in die Landesverfassung hineinwirkendes Bundesverfassungsrecht hergeleitet werden, hierzu kritisch: Pestalozzi NVwZ 1993, 340 (341 f.). 136 Ygi hierzu unten Teil 6 C. 137
So: Stern, FS Scupin, S. 636; Dietlein, Schutzpflichten, S. 29. Zu der - von der wohl h.M. bejahten - Frage, ob es sich bei Art. 1 Abs. 1 GG um ein Grundrecht handelt, vgl. BVerfGE 15, 283 (286); 28, 151 (163); 61, 126 (137); Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 106 ff.; Häberle, HdbStR I, § 20, Rz. 74; ablehnend: Geddert-Steinacher, Menschenwürde, S. 164 ff.; Dreier, in: Dreier, GG I, Art. 1 Abs. 1 Rz. 96. 139 Vgl. hierzu etwa die These von Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Rz. 81, 85 (Stand: 1958), wonach allen Freiheitsgrundrechten ein Menschenwürdegehalt innewohnt; dagegen Dreier, in: Dreier, GG I, Art. 1 Rz. 97 m. w. N. Siehe ferner Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1 Rz. 57, der von einem Verhältnis der partiellen Spezialität und Subsidiarität zwischen Art. 1 und den übrigen Grundrechten ausgeht. 138
C. Der Verfassungstextbefund
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Ein weiterer Komplex von Schutzverpflichtungen findet sich in Art. 6 GG. Zunächst stellt Art. 6 Abs. 1 GG Ehe und Familie „unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung". Absatz 2 des gleichen Artikels weist die Pflege und Erziehung der Kinder zwar gerade nicht dem Staat, sondern den Eltern zu, statuiert jedoch ein staatliches „Wächteramt" 1 4 0 über die Erfüllung dieser elterlichen Pflicht. Art. 6 Abs. 4 GG schließlich verlangt vom Staat Schutz und Fürsorge der Mutter und gestaltet diese Pflicht ausdrücklich als „Anspruch" der Mutter aus. Sie markiert damit den einzigen Fall, in dem der Verfassungsgeber eine Schutzpflicht explizit subjektiviert hat. Art. 16a Abs. 1 GG (vormals Art. 16 Abs. 2 S. 2) gewährt politisch Verfolgten Asyl. Dieses Grundrecht trägt zwar abwehr- und leistungsrechtliche Züge, 1 4 1 beinhaltet im Schwerpunkt jedoch den Schutz vor politischer Verfolgung Dritter. Von den vorgenannten grundrechtlichen Bestimmungen unterscheidet es sich im Hinblick auf die Ursache der schutzauslösenden Gefahr. Es sind nicht private Dritte oder ein von Privaten geschaffenes „gesellschaftliches Klima", sondern regelmäßig dritte Staaten, von denen die Verfolgung ausgehen muß. 1 4 2 Die in Art. 16a Abs. 1 GG enthaltene Schutzpflicht ist durch die detaillierte Regelung der folgenden Absätze bezüglich ihrer Tatbestandsvoraussetzungen präzisiert und damit eingeschränkt. Ob und inwieweit sich die Rechtsfolgenseite auf einen bestimmten Anspruchsinhalt in Gestalt eines Zurückweisungs- bzw. Abschiebungsverbotes beschränkt, wird kontrovers diskutiert. 143
2. Schutzaufgaben als Grundrechtsschranken Neben den Vorschriften, die grundrechtliche Schutzbereiche mit Hilfe von Schutzpflichten sichern, ist dem ersten Abschnitt des Grundgesetzes eine zweite Gruppe von Regelungen zu entnehmen, die sich auf staatliche Schutzaufgaben beziehen. Diese erweitern nicht die Rechte des Einzelnen, 140
Siehe BVerfGE 24, 119 (138); vgl. dazu u. Teil 3 A.I.l.b). Die h.M. qualifiziert bereits den (aufenthaltsrechtlichen) Gehalt des Grundrechts als ein Leistungsrecht oder entnimmt dem Grundrecht zumindest sonstige leistungsrechtlichen Gehalte: BVerwGE 65, 244 (247); 78, 332 (345); Kimminich, in: Bonner Kommentar, Art. 16 (1984) Rz. 278; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 16 Abs. 2 S. 2 Rz. 19 (1985). Für einen ausschließlich eingriffsabwehrenden Charakter des Grundrechts hingegen Gusy, Asylrecht, S. 12; Lübbe-Wolff, in Dreier, GG I, Art. 16a Rz. 53; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 986. 142 Nur in Ausnahmefällen kann eine Verfolgung durch Private dem Staat als sog. mittelbar staatliche Verfolgung zugerechnet werden; insbesondere bei Schutzunfähigkeit oder -Willigkeit des Staates, vgl. Bonk, in: Sachs, GG, Art. 16a Rz. 32 f. m. w.N. 143 Siehe oben Fn. 141. 141
4*
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Teil 2: Die Grundlagen der Schutzpflichtenlehre
sondern die staatlichen Eingriffsbefugnisse, Schrankenregelungen definieren.
indem sie grundrechtliche
Art. 11 Abs. 2 GG ermächtigt in diesem Kontext zu Gesetzen, welche die Freizügigkeit zum Zwecke der Bekämpfung von Seuchengefahren, Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen sowie zur Vorbeugung strafbarer Handlungen einschränken. Art. 13 Abs. 3 GG läßt Einschränkungen der Unverletzlichkeit der Wohnung zur Abwehr von Gefahren für das Leben einzelner und dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu. Art. 5 Abs. 2, 11 Abs. 2 und 13 Abs. 2 GG ermächtigen den Staat zur Grundrechtsbeschränkung zum Schutze der Jugend, Art. 5 Abs. 2 GG zusätzlich zu Beschränkungen im Interesse des Ehrenschutzes. Keine Schrankenbestimmung, sondern eine positive Verpflichtung zum verantwortlichen Umgang mit einem Freiheitsgut, findet sich in der Verpflichtung des Eigentümers auch auf das Gemeinwohl gemäß Art. 14 Abs. 2 GG. Diese Norm, die sich in erster Linie, jedoch nicht ausschließlich an den Gesetzgeber wendet, 1 4 4 gehört trotz ihrer positiven VerpflichtungsWirkung nicht in den Kontext der verfassungstextlichen Pflichten zum Schutz von Freiheitsrechten, da sie die übermäßige oder rücksichtslose Inanspruchnahme des Schutzgutes Eigentum im Interesse anderer Schutzgüter eindämmen will.
3. Schutzanordnungen außerhalb des Grundrechtsteils Ausdrückliche Schutzanordnungen finden sich auch außerhalb des Grundrechtsteils des Grundgesetzes an einigen Stellen, die z.T. auch thematische Bezüge zu den Grundrechten aufweisen. a) Kompetentielle
Zuweisung von Schutzaufgaben
Einen weiteren Grad der Verdünnung des normativen Gehaltes von grundgesetzlichen Aussagen zu staatlichen Schutzaktivitäten stellen die im Gesetzgebungskatalog der Art. 73, 74 GG aufgezählten Kompetenztitel dar. Art. 73 Nr. 1 GG nennt die Verteidigung und den Schutz der Zivilbevölkerung vor äußeren Gefahren, Art. 74 Abs. 1 Nr. I I a GG den Schutz vor den Gefahren der Kernenergie, Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG die Krankheitsbekämpfung, Art. 74 Abs. 1 Nr. 20 GG die Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung und Art. 74 Abs. 1 Nr. 24 GG den Schutz beim Verkehr mit Lebensund Genußmitteln. Andere Kompetenztitel wie etwa Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG,
144
Siehe nur Bryde, unten Teil 4 C.I.
in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 14 Rz. 68 f., siehe auch
C. Der Verfassungstextbefund
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der die öffentliche Fürsorge enthält, ließen sich im unmittelbaren begrifflich-thematischen Umfeld ergänzen. Diese Erwähnungen des staatlichen Schutzes stellen anders als die Gruppe der Schrankenregelungen keine Bedingung für die Ermöglichung staatlichen Schutzes, sondern eine Zuweisung gesetzgeberischer Schutzaktivitäten innerhalb des Bundesstaates dar. Kompetenznormen des öffentlichen Rechts werden grundsätzlich nicht im Interesse eines Organs oder seiner Organwalter eingeräumt und begründen keine subjektiven Rechte. Sie werden im Interesse der Allgemeinheit der Wahrung der staatlichen Rechtsordnung zugewiesen. 145 Maßgeblicher Gesichtspunkt des Pflichtencharakters von Kompetenzen ist das Verbot ihrer (Weiter-)Übertragung. 146 Kompetenzen stehen nicht zur Disposition eines Organs, sondern verpflichten zur eigenen Wahrnehmung. Der Ausschluß der Übertragbarkeit bedeutet indes nicht, daß das kompetente Organ generell auch zu ihrer Wahrnehmung verpflichtet i s t . 1 4 7 Inwieweit Kompetenznormen über ihre formelle Zuständigkeitsverteilung hinaus überhaupt ein materieller Gehalt im Sinne einer inhaltlichen Grundentscheidung oder Präferenz der Verfassung für ein bestimmtes Handeln des Gesetzgebers innewohnt, ist umstritten 148 und wird vornehmlich in bezug auf die Tauglichkeit von Kompetenztiteln zur verfassungsimmanenten Beschränkung vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte diskutiert. 149 Generell 145
Stern, Staatsrecht II, S. 235. Für die Kompetenz eines Verfassungsorgans des Bundes: Friesenhahn, FS Leibholz, Bd. II, S. 679 (690 f. Fn. 21); Rein, JZ 1969, 573 (574 ff.); W. Scheel, in: 25 Jahre BVerfG 1951-1976, Festakt am 18.11.1976, S. 13 - zitiert nach Stern, Staatsrecht II, S. 235 Fn. 213; Stern, a.a.O., S. 235 u. 251. Für Kompetenzen zwischen Bund und Ländern: Degenhart, Staatsrecht I, Rz. 143. 147 Daß die Zuweisung einer Kompetenz nicht zu ihrer Wahrnehmung verpflichtet, wird insbesondere von der Figur der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes, Art. 72 GG, vorausgesetzt. Wäre der Bund in einer Materie des Art. 74 GG bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG zur Gesetzgebung verpflichtet, so würde die Relativität der Sperrwirkung (vgl. Kunig, in: v. Münch/ Kunig, GG III, Art. 72 Rz. 8; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 72 Rz. 18) zugunsten des Bundes gem. Art. 72 Abs. 1 GG weitgehend aufgehoben; die Restkompetenzen der Länder - „solange und soweit" der Bund nicht tätig wurde - würden bedeutungslos. 148 So leiteten BVerfGE 48, 127 (159 ff.) u. BVerfGE 69, 1 (21 ff.) eine „verfassungsrechtliche Grundentscheidung" für die Bundeswehr aus Art. 73 Nr. 1, 87a, und 115b GG ab; vgl. a. BVerfGE 53, 30 (56). Ablehnend: die abw. Meinungen der Richter Mahrenholz und Böckenförde, in BVerfGE 69, 1, 57 (59, 60). 149 Für die Tauglichkeit von bundesstaatlichen Kompetenzbestimmungen als Grundrechtsbegrenzungen (ohne nähere Begründung): BVerfGE 28, 243 (261); 32, 40 (46). Zustimmend: Ossenbühl, DÖV 1965, 649 (657); v. Pollern, JuS 1977, 644 (648). Generell ablehnend: Dreier, DVB1. 1980, 471 (473); Schlink, EuGRZ 1984, 457 (464); Lücke, Berufsfreiheit, S. 31 ff. m.w.N. 146
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Teil 2: Die Grundlagen der Schutzpflichtenlehre
ist hierbei größte Zurückhaltung zu üben. 1 5 0 Der Zweck der Art. 70 ff. GG ist eine Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern. Ob eine Rechtsmaterie im Grundgesetz genannt wird, ist letztlich das Produkt einer bundesstaatlichen und regelungstechnischen Dezision. Würde man das Regel-Ausnahme-Verhältnis der Art. 30, 70 ff., 83 ff. GG umkehren und die den Ländern verbleibenden Zuständigkeiten aufzählen, so würden jedenfalls bzgl. der ausschließlichen Gesetzgebungsmaterien gänzlich andere Kompetenzbezeichnungen Eingang in das Grundgesetz finden, ohne daß sich im Ergebnis etwas an der Kompetenzverteilung änderte. Nur im Wege der Auslegung kann einzelnen Bestimmungen über ihre Funktion als Kompetenzzuweisung hinaus ein Auftragsgehalt entnommen werden, der das grundrechtsbeschränkende Staatshandeln anordnet. 151 Für einen solchen materiellen Gehalt wird man verlangen müssen, daß die Formulierung über das sprachlich zur Abgrenzung und Umschreibung der übertragenen Kompetenz Notwendige hinausgeht. Bei der Normauslegung ist ferner sorgfältig herauszuarbeiten, worin exakt der Inhalt einer materiellen Grundentscheidung besteht. Wenn eine bestimmte Gesetzgebungsmaterie hinreichend konkret beschrieben wird - wie die friedliche Nutzung der Kernenergie, Art. 74 Nr. I I a GG - , so mag dies zwar dafür sprechen, daß die dergestalt umschriebene Aktivität nicht prinzipiell unvereinbar mit anderen Teilen der Verfassung sein kann. 1 5 2 Die Grundentscheidung für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines bestimmten Gesetzes, bedeutet aber nicht, daß ein solches Gesetz über die friedliche Nutzung der Kernkraft zugleich erlassen werden muß oder daß es in keinem Falle Grundrechte verletzen kann. 1 5 3 Auch die Aufnahme von Worten wie Schützen oder Bekämpfen in den Wortlaut einer Kompetenznorm vermittelt einen solchen Auftraggehalt noch nicht. Solche Begriffe sind als Mittel zur Präzisierung und Begrenzung der Bundeskompetenzen zu verstehen. Dort etwa, wo der Verfassungsgeber dem Bundesgesetzgeber ohne eine Bezugnahme auf den Begriff des Schützens eine Materie in ihrer Gänze überantwortet - wie etwa beim Luftverkehr (Art. 73 Nr. 6 GG), Strafrecht oder Straßenverkehr (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 bzw. Nr. 22 GG) - sieht er den Auftrag zum Erlaß schützender Vorschriften dadurch nicht als weniger vordringlich oder notwendig an. Die Erwäh150
Stettner, Kompetenzlehre, S. 330 f. Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2, S. 584 f.; Stettner, Kompetenzlehre, S. 330 152 So: BVerfGE 53, 30 (56), wonach Art. 74 Nr. IIa GG eine Grundentscheidung für die prinzipielle verfassungsrechtliche Zulässigkeit der friedlichen Nutzung der Kernenergie verkörpere. - Bei der Auslegung anderer Grundrechtsnormen, die der Kernenergie gegebenenfalls entgegenstehen könnten, ist Art. 74 Nr. IIa GG danach zu berücksichtigen. 153 Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2, S. 586 f. 151
C. Der Verfassungstextbefund
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nung des „Schutzes" in Schrankenregelungen und Kompetenzvorschriften kann allenfalls eine Indizwirkung im Rahmen einer historischen Verfassungsauslegung haben. Sie bringt zum Ausdruck, daß der Verfassungsgeber die Schutztätigkeit des Staates als eine wichtige Aufgabe und keineswegs als Fremdkörper im Verfassungssystem ansah und ansieht. Ferner besitzen solche Kompetenztitel eine gewisse Bedeutung in Ergänzung zu den zitierten Schrankenbestimmungen, da sie eine Reihe besonders eminenter Gefahrenlagen durch den Bundesgesetzgeber national einheitlich geregelt sehen möchten. Die Schlußfolgerung einer verfassungsrechtlichen Verpflichtung auf Schutztätigkeiten würde den Gehalt dieser Befugnis- und Kompetenznormen - für sich genommen - jedoch überdehnen. 154 b) Sonstige Schutzanordnungen Eine Anordnung des Grundrechtsschutzes wie sie Art. 45b GG hinsichtlich des Wehrbeauftragten statuiert, muß außer Betracht bleiben, da sie sich auf staatliches Handeln bezieht. Das Thema einer solchen Regelung ist eine Mäßigung der Staatsorgane und somit der abwehrrechtlichen Seite der Grundrechte zuzuordnen. Eine auch gegenüber dem schädigenden Verhalten Dritter bestehende Schutzpflicht stellt hingegen Art. 20a GG dar, der den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen fordert. Da das unmittelbare Schutzobjekt dieser Pflicht jedoch nicht der Mensch, sondern die Natur i s t , 1 5 5 muß auch diese Verfassungsbestimmung hier ausgeblendet bleiben. Eine explizite, materielle Verpflichtung zu gesetzlichem Schutz außerhalb des Grundrechtsteils enthält jedoch der über Art. 140 GG ins Grundgesetz übergeleitete Art. 139 WRV, der den Schutz der Sonn- und Feiertage um der seelischen Erhebung und der Arbeitsruhe willen anordnet. Sowohl der seelisch-kulturelle als auch der soziale Zweck des Schutzes, die beide ausdrücklich im Verfassungstext angegeben sind, zeigen, daß nicht der Sonntag seiner selbst wegen geschützt wird, sondern der kontemplations- und ruhebedürftige Mensch das Objekt dieses Schutzes sein soll; der kontemplative 154 Tendenziell anders sieht dies Dietlein, Schutzpflichten, S. 32, wenn er aus den genannten Bestimmungen ableitet, das Grundgesetz sehe die aufgeführten Schutztätigkeiten „nicht lediglich als freigestellte Möglichkeit" an. Daß - wie er weiter ausführt - die Verfassung davon „ausgeht", daß der Staat von den „eingeräumten Befugnissen im Bedarfsfalle Gebrauch macht" ist ihm hingegen zuzugeben. Nicht einzusehen ist aber - im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung - , daß der Bundesgesetzgeber dies tun muß. 155 Dabei wird nicht verkannt, daß die natürlichen Lebensgrundlagen „des Menschen" geschützt werden. In der Konsequenz einer von der überwiegenden Auffassung (vgl. nur Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 20a Rz. 22 ff. m. w. N.) zugrundegelegten anthropozentrischen Perspektive wird der Mensch zum Endzweck des Schutzes und folglich zum mittelbaren Schutzobjekt des Naturschutzes.
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Teil 2: Die Grundlagen der Schutzpflichtenlehre
bzw. seelische Aspekt weist dabei unverkennbare Bezüge zum Grundrecht der Religionsfreiheit auf. Anders als im Falle der Natur in Art. 20a GG, erfolgt der Schutz hier nicht über ein eigenständiges Schutzmedium, denn Sonn- und Feiertage sind durch menschliche Konvention begründete Einrichtungen und damit Phänomene innerhalb der Gesellschaftsordnung.
I I . Schutzpflichten in Landesverfassungen Verfassungsrechtliche Schutzpflichten finden sich auch in fast allen Landesverfassungen. Zum Teil sind sie ausdrücklich in Grundrechtskatalogen enthalten, in einigen Fällen sind sie etwa in Abschnitten zur Wirtschaftsund Sozialordnung angesiedelt. Obwohl die Titulierung der letzteren Abschnitte eher auf staatszielbestimmende Normen hindeutet, sind auch hier die Verpflichtungen des Staates zum Rechtsgüterschutz als Grundrechte ausgestaltet. 156 Eine Reihe von Landesverfassungen der neuen Bundesländer wiederholt zunächst die Regelung des Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG, die neben der auf die Abwehrfunktion zielenden Achtung auch den Schutz der Menschenwürde normiert. 1 5 7 In ähnlicher Weise umfassen verschiedene Verfassungen den in Art. 6 GG enthaltenen Schutz von Ehe und Familie. 1 5 8 Eine gegenüber den Art. 1 ff. GG eigenständige Bedeutung kommt Vorschriften zu, die im Kontext des Menschenwürdeschutzes ein Recht auf Schutz der Persönlichkeit 159 , der persönlichen Freiheit und Selbständigk e i t 1 6 0 oder der persönlichen Ehre 1 6 1 vorsehen. Die Hälfte der Länder gewährt der Jugend einen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz gegen leibliche, geistige oder sittliche Verwahrlosung 162 bzw. vor körperlicher, 156 Zum Teil finden sich fast wortgleiche Vorschriften, die in einem Bundesland Bestandteil des Grundrechtskataloges sind, in einem anderen Land in mit „Ordnung des sozialen Lebens" o.ä. überschriebenen Verfassungsabschnitten, vgl. etwa zum Jugendschutz Art. 25 Abs. 1 Verf. Saarland einerseits und Art. 25 Abs. 1 Verf. Bremen andererseits. 157 Art. 7 Abs. 1 S. 2 Verf. Brandenburg; Art. 5 Abs. 2 2. Hs. Verf. Mecklenburg-Vorpommern; Art. 4 Verf. Sachsen-Anhalt; Art. 1 Abs. 1 S. 2 Verf. Thüringen. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG wird indirekt auch aufgenommen von denjenigen Verfassung, welche pauschal auf den Grundrechtskatalog des GG verweisen, so etwa: Art. 3 Abs. 2 Verf. Niedersachsen, Art. 4 Abs. 1 Verf. Nordrhein-Westfalen; Art. 2 Abs. 1 Verf. Baden-Württemberg. 158 Art. 5 Abs. 1 Verf. Nordrhein-Westfalen; Art. 23 Abs. 1 Verf. RheinlandPfalz; Art. 22 Abs. 1 Verf. Saarland; Art. 17 Verf. Thüringen. 159 Art. 6 Abs. 1 Verf. Thüringen. 160 Art. 1 Abs. 2 Verf. Rheinland-Pfalz. 161 Art. 4 S. 1 Verf. Rheinland-Pfalz. 162 Art. 25 Abs. 1 Verf. Bremen; Art. 25 Abs. 1 Verf. Saarland.
C. Der Verfassungstextbefund
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seelischer Vernachlässigung, Mißhandlung, Ausbeutung, Gewalt oder Gefährdung, welche von dritter Seite ausgehen. 163 Als Besonderheit sieht Bremen zusätzlich eine Pflicht zum Schutz und zur Förderung von Jugendorganisationen v o r . 1 6 4 Hessen hingegen zitiert den Jugendschutz in der Landesverfassung nur als Schrankenregelung zum Zwecke der Rechtfertigung von Eingriffen in die garantierten Landesgrundrechte. 165 Sachsen-Anhalt, dessen Verfassung keine eigenständige Jugendschutzbestimmung enthält, gewährt einen besonderen staatlichen Schutz hingegen für „ältere Menschen und Menschen mit Behinderung". 166 Die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 167 aus Art. 1 und 2 GG gewonnene Schutzpflicht zugunsten des ungeborenen Lebens hat in der brandenburgischen Verfassung eine ausdrückliche Aufnahme gefunden, jedoch mit dem Zusatz, daß dieser Schutz „insbesondere durch umfassende Aufklärung, kostenlose Beratung und soziale Hilfe" zu gewährleisten i s t . 1 6 8 Ebenfalls relativ weit verbreitet sind Verfassungsbestimmungen, welche die menschliche Arbeitskraft unter den besonderen staatlichen Schutz stell e n 1 6 9 und sie dadurch vor von anderen Individuen ausgehender wirtschaftlicher Ausbeutung, gesundheitlichen Gefahren und Körperverletzungen schützt 170 . Berlin konzentriert diesen besonderen Schutz auf Arbeitsverhältnisse von Frauen, Jugendlichen und Körperbehinderten. 171 Ethnische und nationale Minderheiten werden in den Ländern Schleswig-Holstein - bedingt durch die dortige dänische Minderheit - sowie in Brandenburg und Sachsen - ausdrücklich bezogen auf die dort seit jeher lebenden Sorben geschützt; 172 Gegenstand des auch gegenüber gesellschaftlichen Dritteinwirkungen gedachten Schutzes ist die Bewahrung und Pflege ihrer jeweiligen kulturellen Identität.
163 Art. 13 S. 1 Verf. Baden-Württemberg; Art. 27 Abs. 5 Verf. Brandenburg; Art. 14 Verf. Mecklenburg-Vorpommern; Art. 6 Abs. 2 Verf. Nordrhein-Westfalen; Art. 25 Abs. 2 Verf. Rheinland-Pfalz; Art. 19 Verf. Thüringen. 164 Art. 36 Verf. Bremen. 165 Art. 18 Verf. Hessen. 166 Art. 38 Verf. Sachsen-Anhalt. 167 Siehe Teil 3 A.I.l.a) und Teil 3 A.I.2.c). 168 Art. 8 Abs. 2 Verf. Brandenburg. Da die Angabe dieser Schutzinstrumente keine abschließend Bedeutung beansprucht, kann die Vorschrift auch vor der bundesverfassungsrechtlichen Schutzpflichtendogmatik und den Art. 31, 142 GG standhalten, so: Sachs, Hdb. Verf. Brandenburg, § 5 Rz. 31 (S. 105). 169 Art. 167 Verf. Bayern; Art. 28 Abs. 1 Verf. Hessen; Art. 24 Abs. 1 Verf. Nordrhein-Westfalen; Art. 45 Verf. Saarland. 170 So ausdrücklich Art. 167 Verf. Bayern. 171 Art. 12 Abs. 2 Verf. Berlin. 172 Art. 5 Verf. Schleswig-Holstein; Art. 25 Abs. 1 Verf. Brandenburg; Art. 6 Abs. 1 Verf. Sachsen.
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Teil 2: Die Grundlagen der Schutzpflichtenlehre
Eine generelle, sich jeweils auf den gesamten Katalog der Freiheitsrechte beziehende Schutzpflicht statuieren die Verfassungen von Baden-Württemberg und Bayern. Die Verfassung von Baden-Württemberg verpflichtet den Staat wörtlich zur Gewährung von „Schutz und Förderung" für die Menschen, während die Verfassung von Bayern - im Abschnitt über „Grundrechten und Grundpflichten" - den „Schutz" und das „geistige und leibliche Wohl aller Einwohner" zum Zweck der Verfassung erhebt. 173 Einige Verfassungsbestimmungen lassen nicht eindeutig erkennen, ob es sich hierbei zumindest um grundrechtsähnliche Schutzpflichten oder aber ausschließlich um Staatszielbestimmungen bzw. rein institutionelle Garantien handelt, die primär als staatliche Handlungsmaximen fungieren sowie zur Einschränkung anderer Grundrechte geeignet sind. Hierzu zählt der in der bremischen Verfassung garantierte Schutz des Menschen vor den Gefahren der Technik, der im Wege einer „Kann-Formulierung" als Ermächtigung des Gesetzgebers zum Erlaß entsprechender Vorschriften ausgestaltet ist. Der Gesetzgeber wird jedoch zumindest gehalten sein, das ihm darin eröffnete Ermessen zum Erlaß von Schutznormen pflichtgemäß auszuüben. Nicht dem Wortlaut, jedoch der Sache nach wird der Staat in Berlin und Nordrhein-Westfalen auf den Schutz der Wirtschaftssubjekte vor ihrer Übervorteilung durch (private) Monopolorganisationen verpflichtet. 174 Schließlich findet der in Art. 139 WRV gewährleistete Schutz der Sonn- und Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung mit Ausnahme von Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg in allen Landesverfassungen eine Entsprechung. 175 Eine nennenswerte Rezeption haben diese landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen bislang weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur erfahren, obwohl ihre Schutzanordnungen an Ausdrücklichkeit und Bestimmtheit den normativen Anknüpfungspunkten bundesverfassungsrechtlicher Schutzpflichten zum Teil überlegen sind. Dies gilt für die spezifischen, bestimmten Lebensbereichen zugeordneten Schutzverpflichtungen ebenso wie für die prinzipiell für alle grundrechtlichen Schutzbereiche relevanten Querschnittspflichten der bayerischen und baden-württembergischen Verfassungen. 176 Letzteren werden trotz ihres ähnlichen Wortlautes in der 173
Art. 1 Abs. 2 S. 2 Verf. Baden-Württemberg; Art. 99 S. 1 Verf. Bayern. Art. 16 S. 2 Verf. Berlin; Art. 27 Verf. Nordrhein-Westfalen. 175 Art. 3 Abs. 1 Verf. Baden-Württemberg; Art. 147 Verf. Bayern; Art. 22 Verf. Berlin; Art. 14 Verf. Brandenburg; Art. 55 Verf. Bremen; Art. 53 Verf. Hessen; Art. 9 Verf. Mecklenburg-Vorpommern; Art. 25 Verf. Nordrhein-Westfalen; Art. 47, 57 Verf. Rheinland-Pfalz; Art. 41 Verf. Saarland; Art. 109 Abs. 4 Verf. Sachsen; Art. 32 Abs. 5 Verf. Sachsen-Anhalt; Art. 40 Verf. Thüringen. 176 S.o. Fn. 173. Lediglich Art. 99 Verf. Bayern wird in VGH München, NVwZ 1995, 793 (795) kurz aufgegriffen, s. hierzu u. Teil 3 A.II. 174
C. Der Verfassungstextbefund
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Literatur unterschiedliche Rechtsfolgen beigemessen: Während die Verpflichtung der bayerischen Verfassung auf den Schutz aller Einwohner im Sinne eines grundrechtlichen Anspruchs der Menschen auf Schutz durch Polizei und Gerichten gegen Angriffe Dritter verstanden w i r d , 1 7 7 wird Art. 1 Abs. 2 Verf. Baden-Württemberg der Charakter eines subjektiven Rechts abgesprochen und lediglich als „allgemeine Verpflichtung des Staates" verstanden, zumal der Staat hier nicht nur auf den „Schutz", sondern ebenso auf die - einer Subjektivierung noch weniger zugängliche - „Förderung" der Landeseinwohner verpflichtet werde. 1 7 8
177
Meder, Verfassung Bayern, Art. 99 Rz. 6 u. 2. Hollerbach, in: Feuchte, Verf. BW, Art. 1 Rz. 11; i. Erg. ebenso: Braun, Verf. BW, Art. 1 Rz. 7. 178
Teil 3
Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion A. Die Schutzpflichten in der Rechtsprechung I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Die Entwicklung der Schutzpflichtendogmatik wird wesentlich vorangetrieben und gesteuert durch das Bundesverfassungsgericht. Der Umstand, daß die Literatur den durch das Gericht geebneten Wegen gefolgt ist, belegt seine Vorreiterrolle. 1 Eine genauere Analyse seiner Judikatur erscheint daher zu einem besseren Verständnis des heutigen Standes und der Entwicklungstendenzen der Schutzpflichtenlehre angezeigt. Aus ihr wird ersichtlich, daß die für das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit entwickelte Schutzpflichtenlehre erst relativ spät ihren Weg in andere Grundrechte und Lebensbereiche gefunden hat. 1. Das Fristenregelungsurteil und seine Vorgeschichte a) Das erste Fristenregelungsurteil Die Herausbildung einer eigenständigen Schutzpflichtendogmatik begann in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit der ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch aus dem Jahre 1975,2 in dem die sog. Fristenregelung für verfassungswidrig erklärt wurde. Hier sprach das Gericht erstmalig von einer „Schutzverpflichtung" 3 bzw. einer „Schutzpflicht" 4 des Staates einem Grundrechtsträger gegenüber. Der erste Senat gebrauchte den Begriff der „Schutzpflicht" allerdings über dessen heutige 1
Vgl. Dietlein, Schutzpflichten, S. 17; Erichsen, Jura 1997, 85 (86); Unruh, Dogmatik, S. 29; vgl. insbesondere die frühen Rezeptionen der Schutzpflichtenjudikatur im Schrifttum: Klein, DÖV 1977, 704 ff.; Ossenbühl, DÖV 1981, 1 ff.; Isensee, Sicherheit, passim. 2 BVerfGE 39, 1 ff. 3 BVerfGE 39, 1 (42 u. 45). 4 BVerfGE 39, 1 (42 u. Leitsatz 1).
A. Die Schutzpflichten in der Rechtsprechung
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Beschränkung auf den Schutz vor nicht-staatlichem Verhalten hinaus, wenn er - bezogen auf das Rechtsgut Leben - von einer „umfassenden" Schutzpflicht sprach, die „nicht nur ... unmittelbare staatliche Eingriffe in das Leben" verbiete, sondern dem Staat auch gebiete, sich „schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen" 5 . In der Rückschau fällt vor dem Hintergrund einer zwischenzeitlich über zwei Jahrzehnte währenden Fortentwicklung der Schutzpflichtenlehre die weite Definition des Wortes „Schutzpflicht" durch das Bundesverfassungsgericht auf. Neben dem Schutz verlangt das Gericht vom Staat eine (aktive) Förderung des Rechtsgutes Leben. V.a. aber schließt der Wortgebrauch die „klassische" Abwehrfunktion der Grundrechte mit ein. Bereits das erste Abtreibungsurteil zeugt mithin von den Schwierigkeiten eindeutiger begrifflicher Abgrenzungen in diesem Rechtsbereich und läßt die in ihr angelegte Gefahr terminologischer Unschärfen erahnen. Der dargelegte Inhalt der Schutzpflicht unterstreicht aber auch, daß das Gericht den staatlichen Schutzauftrag und die Abwehrfunktion der Grundrechte nicht im Verhältnis einer Dichotomie sieht, sondern zwischen ihnen einen engen Zusammenhang annimmt. Das Gericht zeigt sich nicht angewiesen auf den ausdrücklichen Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG, denn bereits aus der Freiheitsgewährleistung des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG leitet es „unmittelbar" die Pflicht des Staates ab, jedes menschliche Leben zu schützen.6 Wenn die weitere Schutzpflichtenjudikatur sich in den nächsten Jahren auch auf eben dieses Recht auf Leben konzentrierte, so zeichnete das Bundesverfassungsgericht damit bereits den Weg vor, auf dem eine Ausweitung des Anwendungsbereiches der Schutzpflichten würde erfolgen können. Nicht nur aus der in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG explizit dem staatlichen Schutz befohlenen Menschenwürde, sondern ebenfalls aus einer speziellen Freiheitsgewährleistung schöpft es die Schutzpflicht. Die Schutzverpflichtung aus dem Recht auf Leben muß nach dem Bundesverfassungsgericht zwar besonders ernst genommen werden, weil das Leben den „Höchstwert" 7 der grundgesetzlichen Ordnung darstelle. Dennoch empfehlen sich von diesem Ansatz aus auch die anderen speziellen Grundrechte, die wie Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG einen bestimmten Freiheitsbereich schützen, als Kandidaten der Schutzpflichtenlehre. Bei der Erfüllung der Schutzpflicht billigte das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber, der in erster Linie Adressat der Pflicht sei, hinsichtlich der Zweckmäßigkeit und Gebotenheit der Schutzmaßnahmen einen Beurteilungsspielraum zu. 8 Der Spielraum sei allerdings überschritten, sofern die 5 6 7
BVerfGE 39, 1 (42). BVerfGE 39, 1 (41). BVerfGE 39, 1 (42).
Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
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Gesamtheit der Schutzmaßnahmen „einen der Bedeutung des zu sichernden Rechtsgutes entsprechenden tatsächlichen Schutz" 9 nicht mehr gewährleiste. Präventive Maßnahmen, die fürsorgerisch wirkten, genössen dabei zwar Vorrang vor repressiven Mitteln. Im äußersten Falle könne es auch erforderlich sein, Instrumente des Strafrechts zur Verwirklichung des Lebensschutzes einzusetzen. 10 Den Einwand der Richter Rupp-von Brünneck und Simon, die auf Abwehr staatlichen Handelns ausgerichtete Funktion der Freiheitsgrundrechte werde in ihr Gegenteil verkehrt, wenn man aus ihr das Gebot staatlichen Strafens ableite, 11 verwirft die Senatsmehrheit. Den kollidierenden Rechtsgütern der Schwangeren trägt sie Rechnung, indem sie das Kriterium der „Unzumutbarkeit" der Schwangerschaftsfortsetzung einführt. 1 2 In bestimmten Fällen, in denen etwa die Gesundheit der Schwangeren bedroht oder vergleichbare eugenische, ethisch/kriminologische oder soziale Notlagen gegeben seien, dürfe der Staat die Austragung der Schwangerschaft nicht mit den Mitteln des Strafrechts erzwingen. b) Die begrenzte Bedeutung der Vorgeschichte Eine staatliche Pflicht zum Schutz von Grundrechtsinhalten wurde bereits vor dem Urteil zur Fristenregelung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts thematisiert. Schon in den ersten Monaten seiner Tätigkeit konstatiert das Gericht, der Staat sei aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG zu dem positiven Tun des Schützens vor „Angriffen auf die Menschenwürde durch andere, wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw." 1 3 verpflichtet. Der Verfassungsbeschwerde, in der eine Soldatenwitwe eine höhere Hinterbliebenenfürsorge für sich und ihre Kinder zu erstreiten suchte, war jedoch kein Erfolg beschieden, denn das Gericht grenzt die im Grundsatz soeben anerkannte Pflicht sowohl im Hinblick auf ihre Rechtsfolge als auch auf ihre normative Verankerung ein. Zum einen lasse sich aus Art. 1 Abs. 1 GG kein Schutz vor materieller Not ableiten. Auf der anderen Seite verweigert sich das Gericht einer Heranziehung von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG als Quelle eines „Grundrechts auf angemessene Versorgung" mit der weitgehenden Begründung, diese Vorschrift statuiere nur „,negativ ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit". 14 Der Ausschluß eines grundrecht8
BVerfGE 39, 1 (44). BVerfGE 39, 1 (46). 10 BVerfGE 39, 1 (47). 11 Abw. Meinung, BVerfGE 39, 1 (73). 12 BVerfGE 39, 1 (48 ff.); siehe auch das zweite Fristenregelungsurteil, BVerfGE 88, 203 (254 ff.); kritisch hierzu Thomas, in: Thomas/Kluth, Das zumutbare Kind, S. 7 ff. 13 BVerfGE 1, 97 (104) - „Fürsorge". 9
A. Die Schutzpflichten in der Rechtsprechung
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lieh radizierten Anspruches auf Schutz vor materieller Not bzw. auf angemessene Versorgung ist für den Senat aber noch nicht das letzte Wort. Vielmehr bejaht er ein „verfassungsmäßiges Recht auf Fürsorge", abgeleitet aus dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 GG, dem bei der Auslegung des Grundgesetzes und des Gesetzesrechts entscheidende Bedeutung zukommen könne, sich allerdings primär nur an den Gesetzgeber wende und dem Einzelnen lediglich dann einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch gewähre, wenn der Gesetzgeber willkürlich seine Pflicht, sich um erträgliche Lebensbedingungen und den Ausgleich widerstreitender Interessen zu bemühen, versäume. 15 Wenn der Beschluß sich auch noch nicht auf eine klare grundrechtsdogmatische Unterscheidung zwischen Leistungsrechten und Schutzpflichten stützen konnte, so bleibt doch festzuhalten, daß bereits die erste Thematisierung einer staatlichen Pflicht, zum Schutz des Einzelnen tätig zu werden, sich der Abgrenzung zwischen dem Grundrechtsteil der Verfassung und der Sozialstaatsklausel als sedes materiae dieser Pflicht zu widmen hatte und der „Schutz" durch Fürsorgeleistungen dem letzteren Bereich zugeschrieben wurde. 16 In der Literatur wird z.T. der einige Jahre später ergangene HebammenBeschluß 17 als zweiter Fall einer Bezugnahme auf grundrechtliche Schutzpflichten genannt. 18 Die dem Gesetzgeber in dieser Entscheidung zugewiesene „Pflicht ..., umfassende und wirksame Vorsorge gegen Gefahren zu treffen", stützt das Gericht allerdings gerade nicht auf Verfassungsnormen, sondern auf die - nicht näher begründete und insbesondere nicht auf das Grundgesetz zurückgeführte - staatliche „Daseinsvorsorge für die Allgemeinheit" sowie auf einen erst in dem geprüften Gesetz enthaltenen „Benutzungszwang". 19 Die daraus abgeleitete Pflicht zur umfassenden und wirksamen Vorsorge gegen Gefahren wirkt hier nicht im Sinne eines affirmativen Handlungsauftrags an den Gesetzgeber, sondern zu dessen Gunsten im Sinne einer Schrankenziehung des ausschließlich in seiner Abwehrrichtung herangezogenen Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG. Eine grundrechtliche Verpflichtung des Staates griff die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung auch in der Gestalt des staatlichen Wächteramtes über die elterliche Pflege und Erziehung der Kinder, Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG, auf. 2 0 Das Kind, welches sich noch nicht selbst schützen könne, müsse vor 14
BVerfGE 1, 97 (104 f.), Hervorhebung nur hier. BVerfGE 1, 97 (105). 16 Vgl. auch Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Rz. 43 (Stand: 1958) und Art. 2 Abs. 2 Rz. 27 (Stand: Januar 1976); Stern, Staatsrecht III/2, S. 981 f. 17 BVerfGE 9, 338. 18 So etwa Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 130; Unruh, Dogmatik, S. 29. 19 BVerfGE 9, 338 (347). 15
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
dem Mißbrauch elterlicher Rechte und vor Vernachlässigung bewahrt werden. Wiewohl diese Schutzpflicht bereits die klassische Konstellation einer staatlichen Verteidigung eines Grundrechtsträgers gegenüber der Grundrechtsausübung anderer Grundrechtsträger (hier: der Eltern) aufweist, so ist auch diese Entscheidung für die Entwicklung einer allgemeinen grundrechtlichen Schutzpflichtendogmatik von sehr eingeschränkter Bedeutung. Die Verpflichtung stützt sich wiederum auf einen expliziten Handlungsauftrag in Gestalt des staatlichen Wächteramtes, das zu Recht als „Unikat im Grundrechtskatalog" bezeichnet wird und einer Verallgemeinerung nicht zugänglich ist. 2 1 Das im Jahre 1973 ergangene Hochschul-Urteil 22 des Bundesverfassungsgerichts verbindet den Gedanken einer staatlichen Pflicht zur Sicherung und Förderung eines Freiheitsgutes mit der durch die sog. Lüth-Entscheidung begründeten Entwicklungslinie in der Rechtsprechung, welche in den Grundrechten eine über ihre abwehrrechtliche Bedeutung hinausgehende „objektive Wertordnung" aufgerichtet sieht. 23 Der Staat soll „schützend und fördernd" einer „Aushöhlung" der Wissenschaftsfreiheit vorbeugen. Diese Entscheidung ist jedoch weniger der Schutzpflichtendogmatik zuzurechnen als dem Fragenkreis eines Teilhaberechts im Kontext von staatlichen Einrichtungen und Verfahren, für welche sie grundlegende Bedeutung erlangte. 24 Die Lehren weisen zwar ein auf dem Gedanken der „objektiven Wertordnung" basierendes Verwandtschaftsverhältnis auf, 25 sie überschneiden sich aber allenfalls insoweit, als der Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren Gefahren begegnen will, die von außerhalb der staatlichen Gewalt stehenden Dritten ausgehen. Soweit er sich hingegen gegen 20
BVerfGE 24, 119 (144). Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 78. 22 BVerfGE 35, 79 (114). 23 BVerfGE 7, 198 (205). In bezug auf Art. 6 Abs. 1 GG konstatierte schon BVerfGE 6, 386 (388) eine Wertentscheidung; ähnlich: BVerfGE 6, 55 (72); vgl. zu Art. 6 GG auch BVerfGE 10, 59 (81); BVerfG v. 25.7.1994, 2 BvR 807/94. Im Zusammenhang mit den Grundrechten des Art. 5 sprechen von einer in den Grundrechten statuierten objektiven Wertordnung bzw. von wertentscheidenden Grundsatznormen: BVerfGE 25, 256 (263) - zur Pressefreiheit; BVerfGE 30, 173 (188) - zur Kunstfreiheit; ähnlich zur Berufsfreiheit: BVerfGE 33, 303 (330 f.); vgl. ferner BVerfGE 21, 362 (372). 24 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 98; vgl. auch Bethge, NJW 1982, 1 (3 f.). 25 So etwa Ossenbühl, DÖV 1981, 1 (5), für den die „Schutzpflicht des Staates ... de[n] gedankliche[n] Ausgangspunkt für die verfahrensrechtlichen Vörwirkungen'" bildet. In Anbetracht des Bindegliedes der „objektiven Wertordnung" nimmt es auch nicht wunder, daß in BVerfGE 35, 79 z.T. die gleichen Wertungen (in einigen Punkten sogar wortgleich) wie im Fristenregelungsurteil auftauchen. Das rechtfertigt es noch nicht, in ihm eine bloße Prononcierung von Aussagen des Hochschul-Urteils zu sehen. So aber Unruh, Dogmatik, S. 29 f. 21
A. Die Schutzpflichten in der Rechtsprechung
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staatliches Verhalten richtet, sind beide Lehren angesichts ihrer unterschiedlichen Schutzrichtungen klar voneinander zu unterscheiden. Es geht im Hochschul-Urteil nicht um die Reaktion auf private Störungen, sondern um die Partizipation an staatlichen Verfahren bzw. Organisationsstrukturen. 26 Die Beschwerdeführer wandten sich in dem Verfahren mit teilweisem Erfolg gegen das Vörschaltgesetz zum Niedersächsischen Hochschulgesetz, weil sie u.a. ihre in Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG verbürgte Freiheit der Forschung und Lehre von Fremdbestimmung durch das Konzept der „Gruppenuniversität" verletzt sahen. Die vom Bundesverfassungsgericht festgestellte Relevanz des Mitentscheidungsrechtes nicht-wissenschaftlichen Personals für die Wissenschaftsfreiheit der einzelnen Professoren und Dozenten knüpft nicht etwa an ein zu erwartendes Abstimmungsverhalten der Nichtwissenschaftier an. In selbstverwalteten Einrichtungen wie den staatlichen Hochschulen ist die ggf. auch streitige Entscheidung hochschul- und damit auch wissenschaftsrelevanter Fragen in Gremien unabdingbar. Das Prinzip der Mehrheitsentscheidung birgt für jeden Einzelnen aber immer die Gefahr, daß sich Mehrheiten gegen die von ihm favorisierte Position bilden. Der sich zum Demokratieprinzip bekennende Staat kann ihn nicht vor dem Abstimmungsverhalten anderer schützen. 27 Die „zum Schutz der Wissenschaftsfreiheit erforderlichen Sicherungsvorkehrungen", die das Gericht vom Gesetzgeber einforderte, wenden sich jedenfalls nicht unmittelbar gegen das Handeln Privater, sondern sind Maßstab für die Gestaltung staatlicher Einrichtungen und Verfahren. 28 Es spricht damit die binnenorganisatorische Geltung von Grundrechtsprinzipien „bei der Organisation freiheitsstiftender sozialer Interdependenzsysteme" 29 an. Das Fristenregelungsurteil wurde nach alledem zu Recht als „juristischer Paukenschlag" 30 apostrophiert. Das Bundesverfassungsgericht widmete sich 26
Vgl. zum Schutz von grundrechtlichen und demokratiestaatlichen Partizipationsrechten: Kluth, Selbstverwaltung, S. 451 ff. 27 Der durch die Grundrechte gewährleistete Minderheitenschutz kann zwar die Reichweite von Mehrheitsentscheidungen begrenzen und auf diese Weise einem „Absolutismus des Mehrheitsentscheides" vorbeugen, Schuppert, EuGRZ 1985, 525 (526 f.); Kutscha, JuS 1998, 673 (675). „Die Mehrheit" als feststehende Gefahrenquelle der Grundrechte der Minderheit existiert jedoch nicht, da sich Mehrheiten nur jeweils in der getroffenen Entscheidung konstituieren, vgl. BVerfGE 2, 1 (12); Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 Rz. 15. Die minderheitenschützende Funktion der Grundrechte kann daher nicht durch den Meinungsbildungsprozeß oder das Abstimmungsverhalten Einzelner ausgelöst werden. 28 Siehe Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 98 ff.; vgl. zum Grundrechtsschutz durch Verfahren auch Rupp, AöR Bd. 101 (1976), 161 (172 ff.); Hesse, EuGRZ 1978, 427 (434 ff.); Bethge, NJW 1982, 1 ff.; Stern, Staatsrecht III/l, S. 953 ff. 29 Rupp, Fusionskontrolle, S. 112 Fn. 46; Bethge, NJW 1982, 1 (3). 30 So Isensee, Sicherheit, S. 27; ähnlich Ossenbühl, DÖV 1981, 1 (4). Hingegen ist das Urteil nach Ansicht Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 130, nur 5 Krings
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
hierin dem Schutz des Einzelnen vor dem - außerhalb des staatlichen Verantwortungsbereiches liegenden - Handeln anderer Grundrechtsträger, indem es erstmals ein spezielles, üblicherweise abwehrrechtlich fungierendes Grundrecht und nicht nur das ausdrückliche Schutzgebot des Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG oder das Sozialstaatsprinzip zur Begründung einer solchen staatlichen Schutzpflicht heranzog. Erst mit dieser Entscheidung fiel der Startschuß für eine im eigentlichen Sinne grundrechtliche Schutzpflichtenlehre.
2. Die Fortführung der Schutzpflichtenjudikatur a) Schutz vor terroristischen
Gewalttaten
In dem 1977 gefällten Schleyer-Urteil griff das Bundesverfassungsgericht die in der Fristenregelungsentscheidung herausgearbeitete Pflicht zum Schutz des menschlichen Lebens auf und stellte fest, daß sie dem Staat gebiete, das Leben „vor allem ... vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren". 31 Die auf die Erfüllung der Forderungen der Entführer des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer gerichtete Verfassungsbeschwerde wies das Gericht zwar als unbegründet zurück. Die Bejahung ihrer Zulässigkeit war jedoch ein erster Hinweis darauf, daß das Bundesverfassungsgericht der Schutzpflicht den Charakter eines subjektiven Rechts nicht grundsätzlich absprach, wenn es diese Frage aufgrund des summarischen Charakters des einstweiligen Anordnungsverfahrens auch nicht thematisierte. Das Gericht erklärte nunmehr ausdrücklich alle Staatsorgane zu Adressaten dieser Pflicht, ohne auf das im Fristenregelungsurteil betonte Primat des Gesetzgebers als Verantwortlichem für die Erfüllung von Schutzpflichten 32 zu rekurrieren. Zugleich räumte es ein, daß sich die Freiheit bei der Auswahl geeigneter und erforderlicher Maßnahmen in besonders gelagerten Fällen auch auf eine einzige zulässige Maßnahme reduzieren könne. In den knapp anderthalb Seiten der amtlichen Entscheidungssammlung füllenden Ausführungen zur Begründetheit der Verfassungsbeschwerde fügte der Senat der Schutzpflichtenlehre schließlich noch einen dritten Aspekt hinzu, indem er der gegenüber dem Einzelnen bestehenden Schutzpflicht eine der Gesamtheit der Bürger gegenüber bestehende Schutzpflicht - gleichsam als grundrechtsimmanente Schranke - entgegenstellte.33 Im Spannungsfeld dieser verschiedenen Schutzpflichten sah sich das Bundesverfassungsgericht außer„politisch spektakulär" und fügt sich ansonsten „in eine feststehende Rechtsprechungstradition ein". 31 BVerfGE 46, 160 (164). 32 BVerfGE 39, 1 (44, 51). 33 BVerfGE 46, 160 (165). Zur Frage, ob hier gegenüber der Allgemeinheit zu Recht eine Schutzpflicht angenommen wurde, siehe unten Teil 5 C.IV.l.a)bb).
A. Die Schutzpflichten in der Rechtsprechung
67
Stande, die Staatsorgane auf die Wahl eines bestimmten Mittels zu verpflichten. Die abwehrrechtsbeschränkende Funktion der Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG kam in der ein Jahr später, ebenfalls im Zusammenhang mit der Schleyer-Entführung ergangenen Entscheidung zum Kontaktsperregesetz erneut zum Tragen: Die Ermächtigung zur Unterbindung des Kontaktes von gefangenen Terroristen untereinander und zur Außenwelt rechtfertigte der Zweite Senat mit der Schutzpflicht des Staates gegenüber dem menschlichen Leben, dem Höchstwert der grundgesetzlichen Ordnung. 34
b) Gesundheitsschutz und Technikgefahren In den Kalkar- und Mülheim-Kärlich-Beschlüssen 35 , die das Genehmigungsverfahren für Kernkraftwerke zum Gegenstand hatten, wandte das Gericht die Schutzpflichtenlehre auf technische Risiken an. Die Kalkar-Entscheidung, in der sich erneut der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit den grundrechtlichen Schutzpflichten befaßte, ist zunächst relevant für die Entwicklung der dogmatischen Begründung der Schutzpflichten. Ohne daß hier - wie in der ersten Fristenregelungsentscheidung - das Vorhandensein eines Grundrechtsträgers als Subjekt staatlichen Schutzes zweifelhaft sein konnte, rekurrierte das Gericht wiederum auf objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte zur Herleitung der Schutzpflicht. 36 Ferner präzisierte es das für eine Aktivierung der staatlichen Schutzpflicht notwendige Gefährdungsniveau. Unsicherheiten, die jenseits der Schwelle praktischer Vernunft liegen, seien von allen Bürgern zu tragen, die somit ein Restrisiko künftiger Grundrechtsverletzungen in Kauf zu nehmen hätten. 3 7 Das Gericht erkannte, daß dem Gesetzgeber nicht die Herstellung einer absoluten Sicherheit abverlangt werden könne, ohne von ihm etwas tatsächlich Unmögliches zu fordern. 38 Schließlich gab der Senat Kriterien für 34
BVerfGE 49, 24 (53 ff.). BVerfGE 49, 89 ff.; 53, 30 ff. 36 BVerfGE 49, 89 (141 f.). 37 BVerfGE 49, 89 (141, 143). 38 Indem der Senat auf die - objektive - Gefährdungssituation unter Berücksichtigung der „Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens" abstellte (S. 143), verweigerte er sich zugleich einem an der - subjektiven - Empfindung von Furcht orientierten Prüfungsmaßstab. Hingegen wird die grundrechtliche Schutzpflicht teilweise als Ausdruck eines Menschenrechts der „Freiheit von Angst" gewertet: Hofmann, Atomare Entsorgung, S. 308 f.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 223 ff. sowie bezogen speziell auf die Schutzpflicht aus Art. 1 I GG: Roßnagel, Grundrechte und Kernkraftwerke, S. 44 f.; Hermes, Schutz, S. 143. Zu Recht ablehnend: Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 146 f. Vgl. hierzu unten Teil 4 B.I. 35
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
das Ob und Wann sowie für die inhaltliche Bestimmung grundrechtlich gebotener Schutzmaßnahmen an. Auf der Seite der möglichen Gefahren will er deren Art, ihre Nähe und potentielles Ausmaß berücksichtigen. Auf der anderen Seite stellt er ab auf die Art und den Rang des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgutes und schließlich auf den vorhandenen Bestand an schützenden (gesetzlichen) Regelungen. 39 Diese Judikatur wird bestätigt in der Mülheim-Kärlich-Entscheidung 40 des Ersten Senates, die zugleich ein Beispiel für ein Zusammenwirken von Schutzpflichtendogmatik und der Lehre vom Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren liefert. Mit der staatlichen Auferlegung einer Genehmigungspflicht für Kernkraftwerke erfülle der Staat seine Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG. Das Genehmigungsverfahren ermögliche es dem Staat, „einen Ausgleich zwischen den Grundrechtspositionen gefährdeter Bürger einerseits und der Betreiber andererseits herbeizuführen" 41 . Die Genehmigung von Kernkraftwerken trotz ihres außerordentlichen Gefährdungspotentials lege dem Staat eine Mitverantwortung für diese Gefährdungen auf, so daß bei der verfassungsgerichtlichen Prüfung des Schutzniveaus kein weniger strenger Maßstab anzulegen sei als bei der Prüfung von Eingriffsgesetzen. 42 Anders als im Hochschul-Urteil 43 diene die staatliche Einrichtung eines formalisierten Verfahrens nicht nur dem Schutz eines Grundrechtsträgers in einer bipolaren Beziehung zum Staat. Vielmehr betätige der Staat sich als „Koordinator der Freiheitssphären" 44 von Bürgern und Betreibern. 45 In dem 1981 ergangenen Fluglärm-Beschluß erstreckte das Bundesverfassungsgericht die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG auf „die Pflicht zur Bekämpfung von gesundheitsgefährdenden Auswirkungen des Fluglärms" 46 und betonte zugleich die zeitliche Kontinuität der Schutzpflicht, indem es den staatlichen Organen im Falle veränderter tatsächlicher Umstände eine 39
BVerfGE 49, 89 (142). Bei der Benennung dieser Kriterien konnte der Senat etwa bzgl. des Ranges des gefährdeten Rechtsgutes - Feststellungen der Fristenregelungsentscheidung aufnehmen, vgl. BVerfGE 39, 1 (42). 40 BVerfGE 53, 30 (57 ff.). 41 BVerfGE 53, 30 (57 f.). 42 BVerfGE 53, 30 (59). 43 BVerfGE 35, 79; vgl. dazu oben unter Teil 3 A.I.l. 44 Siehe Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 112. 45 Die Differenz zwischen den grundrechtlichen Schutzpflichten und dem Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren betonte auch der Brokdorf-Beschluß, indem der das Vorliegen einer - in bezug auf Art. 8 GG geltend gemachten Schutzpflicht ausdrücklich offenließ und darauf abstellte, daß die Grundrechte „Maßstäbe für eine den Grundrechtsschutz effektuierende Organisationsgestaltung ... setzen4', BVerfGE 69, 315 (355 f.). 46 BVerfGE 56, 54 (78).
A. Die Schutzpflichten in der Rechtsprechung
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Nachbesserungspflicht auferlegte. 47 Beachtung verdient die Entscheidung aber v.a. wegen ihrer zurückhaltenden Beurteilung der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde. Das Gericht macht einen klaren Unterschied zwischen den in der Verfassung explizit genannten Schutzpflichten, etwa aus Art. 6 Abs. 2 GG, und „solchen Handlungs- und Schutzpflichten ..., die erst im Wege der Verfassungsinterpretation aus den in den Grundrechten verkörperten Grundentscheidungen herleitbar s i n d " 4 8 Die Verletzung der letztgenannten Schutzpflichten könne der Bürger im Wege einer selbständigen, nicht gegen einen Vollzugsakt gerichteten Verfassungsbeschwerde grundsätzlich nur bei gänzlicher Untätigkeit des Gesetzgebers rügen. Dieser die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden determinierende Prüfungsmaßstab findet in der C-Waffen-Entscheidung 49 (1987), der Entscheidung zum atomaren Zwischenlager in Gorleben 50 (1988) sowie implizit in der Verkehrslärm-Entscheidung (1988) 51 eine Bestätigung, 52 was das Gericht allerdings nicht davon abhielt, in diesen, auf die Fluglärm-Entscheidung folgenden Judikaten das Tor der Verfassungsbeschwerde für das Geltendmachen von Schutzpflichtverletzungen nunmehr vollständig und unbedingt aufzustoßen. 53 Einen weiteren, außerhalb des Bereichs der Technikgefahren 54 liegenden Aspekt des Gesundheitsschutzes, nämlich den Arbeitsschutz, deduzierte das Gericht 1992 in zwei Entscheidungen aus der grundrechtlichen Schutzpflicht des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Auf der Grundlage dieser Schutzpflicht
47
BVerfGE 56, 54 (80 ff.). BVerfGE 56, 54 (71). 49 BVerfGE 77, 170 (214 f.) (Bechluß des Zweiten Senates). Stern, Staatsrecht III/1, S. 985, erkennt in diesem Beschluß eine „Tendenzwende" in der Rechtsprechung des BVerfG. 50 BVerfGE 77, 381 (402 f.). 51 BVerfGE 79, 174 (187 ff.). 52 Siehe aus jüngerer Zeit den Elektrosmog-Beschluß, BVerfG v. 17.2.1997, 1 BvR 1658/96, NJW 1997, 2509 f. sowie BVerfG (Kammerentscheidung), NJW 2002, 1638 f. Zweifel im Hinblick auf diesen Maßstabes einer bloßen „Evidenzkontrolle" äußert hingegen Mahrenholz, abw. Meinung, BVerfGE 77, 170 (236). 53 Vgl. BVerfGE 77, 170 (214 f.); 79, 174 (201 f.). 54 Zum Bereich der Technikgefahren kann auch der Nichtannahme-Beschluß zu den Gesundheitsgefahren durch Ozon gerechnet werden (1995). Für die entscheidende Kammer waren die getroffenen staatlichen Schutzmaßnahmen auch unter Anwendung des Untermaßverbotes (vgl. zu dessen Entwicklung in BVerfGE 88, 203 (254) unten Teil 3 A.I.2.c) nicht „evident unzureichend" bzw. „offensichtlich ungeeignet", BVerfG, NJW 1996, 651. Ähnlich zu einer geltendgemachten Pflicht auf Festsetzung niedrigerer Geschwindigkeitsbeschränkungen im Straßenverkehr, BVerfG (Kammerbeschluß, 1995), NJW 1996, 651 f., der jedoch nicht ausdrücklich auf grundrechtliche Schutzpflichten, sondern lediglich auf „die in den Grundrechten verkörperte Grundentscheidung" abstellt. 48
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
gab es dem Gesetzgeber auf, eine Neuregelung für das infolge eines Verstoßes gegen den Gleichheitssatz aufgehobene Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen zu erlassen, 55 und hielt das Nachtbackverbot aufrecht 56 . Schließlich sah der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts auch das staatliche Verbot von Cannabisprodukten als Ausdruck einer Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. 5 7 ' Der Erste Senat hat sich 1997 in einem Kammerbeschluß betreffend die Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde 58 zwar gegenüber einem verfassungsrechtlichen Anspruch gegen die Krankenkassen auf Bereitstellung einer bestimmten, vom Patienten gewählten Form der medizinischen Versorgung gesperrt. Die Kammer anerkennt allerdings die objektiv-rechtliche Pflicht des Staates zu Schutz und Förderung des Rechtsgutes aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und nimmt damit implizit die Anwendbarkeit der Schutzpflichtenlehre auf den allgemeinen staatlichen Gesundheitsschutz an, ohne nach dem Ursprung der schutzpflichtenaktivierenden Gesundheitsgefahren zu differenzieren. 59 c) Das zweite Fristenregelungsurteil Die zweite Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch 60 soll die Analyse der zu Art. 2 Abs. 2 GG ergangenen Judikate des Bundesverfassungsgerichts abschließen. Während die erste Abtreibungsentscheidung des Ersten Senats den Startpunkt der Schutzpflichtenrechtsprechung bildete, markierte das zweite, vom Zweiten Senat beinahe zwei Jahrzehnten später verfaßte Abtreibungsurteil im Jahre 1993 zwar keinen Schlußpunkt, jedoch zumindest eine instruktive Bestandsaufnahme der Lehre von den Schutzpflichten.
55
BVerfGE 85, 191 (212); vgl. hierzu Löwisch/Schwerdie, JZ 1992, 916 (918). BVerfGE 87, 363 (386). Zur Aufrechterhaltung des in dem Verfahren ebenfalls angegriffenen Backverbotes an Sonn- und Feiertagen war ein Rückgriff auf grundrechtliche Schutzpflichten (etwa aus Art. 4 GG) von vornherein entbehrlich, da insoweit der dem Gesetzgeber in Art. 139 WRV i.V.m. Art. 140 GG explizit zur Aufgabe gemachte Schutz von Sonn- und Feiertagen greift (vgl. a.a.O., S. 393). 57 BVerfGE 90, 145 (195). 58 BVerfG, MedR 1997, 318 (v. 5.3.1997, 1 BvR 1071/95). 59 BVerfG, MedR 1997, 318 (319). 60 BVerfGE 88, 203 ff., mit abweichender Meinung Mahrenholz und Sommer, S. 338 ff. sowie Böckenförde, S. 359 ff. Vgl. dazu die - vielfach kritischen - Stellungnahmen aus der Literatur: Belling, MedR 1995, 184 ff.; Dietlein, ZG 1995, 131 ff.; Jeand'Heur, RdJB 1994, 91 ff.; Tröndle, MedR1994, 356 ff., sowie die Beiträge von Lerche, Steiner, Graßhof und Friauf in: Thomas/Kluth, Das zumutbare Kind, 1993. 56
A. Die Schutzpflichten in der Rechtsprechung
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In der Herleitung des Rechts des ungeborenen Lebens auf staatlichen Schutz nimmt der Zweite Senat nunmehr eine gewisse Akzentverschiebung gegenüber dem ersten Fristenregelungsurteil vor, indem er nicht mehr alleine auf Art. 2 Abs. 2, 6 1 sondern auf die den ausdrücklichen Schutzauftrag beinhaltende Vorschrift des Art. 1 Abs. 1 GG abstellt: „Ihren Grund hat diese Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1 GG, der den Staat ausdrücklich zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet; ihr Gegenstand und - von ihm her - ihr Maß werden durch Art. 2 Abs. 2 GG näher bestimmt." 6 2 Isensee 63 hatte noch ein Jahr vor dem zweiten Fristenregelungsurteil der Rückkoppelung an die Norm des Art. 1 Abs. 1 GG lediglich Geburtshelferdienste bei der Herleitung der Schutzpflichtenlehre zugesprochen und hielt diese Anknüpfung inzwischen für überholt. Angesichts der ansonsten eng an die Ausführungen des ersten Fristenregelungsurteils anschließenden Entscheidungsgründe, wollte der Senat mit seinem Rückgriff auf Art. 1 GG schwerlich einen Paradigmenwechsel in der normativen Begründung der Schutzpflichten einleiten; das relevante Schutzgut ist auch für den Zweiten Senat nicht die Würde, sondern bleibt das menschliche Leben. 64 Näher liegt die Annahme, daß das Gericht lediglich bei grundrechtlichen Schutzbereichen, die eine besonders enge Verbindung zur Menschenwürde aufweisen - wie dies bei Art. 2 Abs. 2 GG der Fall ist - die (zusätzliche) Herleitung aus Art. 1 GG sucht. Angesichts der Sperrwirkung des Art. 79 Abs. 3 GG gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber ist die nach wie vor nicht ganz geklärte Verortung der Schutzpflicht allerdings keine gänzlich obsolete Frage. Den Konsequenzen einer Verortung bei der Menschenwürde für die Sperrwirkung des Art. 79 Abs. 3 GG entzieht sich die zweite Fristenregelungsentscheidung aber letztlich dadurch, daß sie zwar den „Grund", nicht aber das „Maß" des Schutzes der Menschenwürde zuordnet. 65 Die Entscheidung stellt ferner einen Bezug der aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 2 GG gewonnen Schutzpflichten zu den in Art. 6 Abs. 1 und Abs. 4 GG positivierten Schutzaufträgen her, insoweit allerdings ohne Art. 6 mit Art. 1 Abs. 1 GG zu verknüpfen. 66 61
Vgl. oben Fn. 6. BVerfGE 88, 203 (251). 63 HdbStR V, § 111 Rz. 80. 64 Ebenso Hermes/Walther, NJW 1993, 2337 (2339), welche den Senat im übrigen so verstehen, daß er Art. 1 Abs. 1 GG nur als „Auslegungshilfe für Art. 2 Abs. 2 GG" heranziehen wollte, wogegen jedoch der zitierte Wortlaut der Entscheidungsbegründung spricht. 65 Siehe Klein, DVB1. 1994, 489 (492). 66 BVerfGE 88, 203 (258). Der Senat mißt Art. 1 Abs. 1 GG mithin jedenfalls keine den gesamten Grundrechtskatalog durchziehende Bedeutung für die Konstituierung von Schutzpflichten bei. 62
72
Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
Das Gericht betont ebenso wie im ersten Fristenregelungsurteil die individuelle Ausrichtung der grundrechtlichen Schutzpflicht. Nicht nur das menschliche Leben im allgemeinen, sondern das einzelne Leben habe ein Recht auf Schutz. 67 Damit setzt es einen wesentlichen Maßstab für die zu treffenden Schutzmaßnahmen: Die Stärkung eines gesellschaftlichen Bewußtseins für den Wert des ungeborenen Lebens und die materielle Förderung der Familien im allgemeinen mögen zwar die Kernbestandteile eines staatlichen Schutzkonzepts sein. Seine Wirksamkeit und damit seine Zulässigkeit entscheidet sich jedoch daran, wie effektiv es das einzelne Leben zu schützen vermag. Dem Gesetzgeber ist es im Ergebnis nicht verwehrt, das auf repressivstrafrechtliche Maßnahmen fixierte Schutzkonzept auszutauschen und für den Schutz des ungeborenen Lebens in der Frühphase der Schwangerschaft primär auf Beratung und Appelle statt auf Strafe zu setzen. 68 Die Fürsorgepflicht der Gemeinschaft gegenüber der Mutter sowie gegenüber Ehe und Familie insgesamt 69 stellen die Entscheidungsgründe ebenso heraus wie die staatliche Pflicht, den „Schutzanspruch des ungeborenen Lebens im allgemeinen Bewußtsein zu erhalten und zu beleben" mittels öffentlicher Einrichtungen, Beratung und Aufklärung. 70 Jedoch erklärt das Gericht die gesetzliche Fristenregelung des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes für verfassungswidrig. Der Verzicht auf strafrechtliche Sanktionen in den ersten Monaten der Schwangerschaft kann der Prüfung am Maßstab des Art. 2 Abs. 2 GG nur standhalten, wenn das an die Stelle des Strafrechts tretenden Konzept der Beratung und Aufklärung in seiner inhaltlichen Ausgestaltung seinerseits den Anforderungen der Schutzpflicht genügt und die ohne festgestellte Indikation vorgenommene Abtreibung nicht mit dem Attribut der Rechtmäßigkeit ausgestattet wird. 7 1 Diese Voraussetzungen erfülle das Gesetz nicht. 7 2 Die zu diesem Ergebnis führende Anwendung des Untermaßverbotes 73 ist zugleich die bedeutende dogmatische Innovation des Urteils. Dieses an das Verhältnismäßigkeitsprinzip bzw. an das Übermaßverbot angelehnte Prinzip verlangt einen „unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter an67
BVerfGE 88, 203 (252). BVerfGE 88, 203 (264 ff.). 69 BVerfGE 88, 203 (259 ff.). 70 BVerfGE 88, 203 (261). 71 BVerfGE 88, 203 (273 ff.). 72 Siehe BVerfGE 88, 203 (270 ff. u. 281 ff.). Insbesondere stellt das Gericht die Erfordernisse einer ergebnisoffenen Beratung (a.a.O., S. 282 ff.) sowie einer staatlichen Überwachung der Beratungsleistungen (a.a.O., S. 286 ff.) auf, die das Gesetz nicht erfülle. 73 BVerfGE 88, 203 (254). Siehe hierzu unten Teil 5 C.VI. 68
A. Die Schutzpflichten in der Rechtsprechung
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gemessene[n] Schutz". Der Schutz muß wirksam sein, die getroffenen Vorkehrungen müssen ausreichen und „auf sorgfältigen Tatsachenermittlungen und vertretbaren Einschätzungen beruhen". 74 Indem sich das Gericht den Rechtsfolgen der grundrechtlichen Schutzpflicht nunmehr mit Hilfe des Untermaßverbotes systematisch annähert, zeigt es die Grenzen des staatlichen Einschätzungsspielraumes auf und korrigiert so Unklarheiten und mißverständliche Formulierungen vorhergehender Judikate: Der Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum gehe nämlich nicht so weit, daß nur gänzlich ungeeignete oder völlig unzulängliche Schutzmaßnahmen von Verfassungs wegen zu beanstanden seien. 75 Die im Rahmen des Untermaßverbotes vorzunehmende Abwägung sei im Falle des Schwangerschaftsabbruchs allerdings dadurch geprägt, daß ein „verhältnismäßiger Ausgleich" der miteinander kollidierenden Rechtsgüter der Schwangeren und des Nasciturus von vornherein ausscheide, denn hinsichtlich des letzteren stehe sein Leben selbst in Frage. 76 Im Rahmen der vom Untermaßverbot vorgegebenen Anforderungen an die inhaltliche Ausgestaltung des Schutzkonzepts stellt der Senat klar, daß der Appell an die Freiwilligkeit alleine weder bezogen auf die Schwangere selbst 77 noch bezogen auf das Verhalten Dritter, welches geeignet ist, die Bereitschaft der Schwangeren zur Austragung des Kindes zu verringern, ausreicht. 78 Mit der letztgenannten Schutzrichtung gegenüber den in der Gesellschaft anzutreffenden „Zumutungen" hat er die der Abtreibungsproblematik eigene Konstellation der Zweistufigkeit von Gefährdungslagen und Schutzbedürfnissen offengelegt. Der Nasciturus wird nicht nur durch die Schwangere selbst gefährdet, sondern ebenso durch Dritte, welche direkt oder indirekt auf die Schwangere einwirken. Daher muß der Staat sowohl die Schwangere gemeinsam mit dem ungeborenen Leben gegen das persönliche und gesellschaftliche Umfeld schützen, als auch den Schutz des ungeborenen Lebens gegenüber der Schwangeren sicherstellen.
3. Die Ausweitung der Schutzgüter und das Eindringen der Schutzpflichten in das Zivilrecht Eine über die Schutzbereiche der Art. 2 Abs. 2 und Art. 6 GG hinausgehende Anerkennung fand die im ersten Fristenregelungsurteil entwickelte Schutzpflichtenlehre in einer Reihe von Entscheidungen, 79 beginnend mit dem Beschluß zum Postzeitungsdienst aus dem Jahre 1989. 80 Eine Berechti74 75 76 77 78
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
88, 203 88, 203 88, 203 88, 203 88, 203
(254). (262 f.). (255 f.). (253). (296 ff.).
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
gung des Staates, die Zustellung von Presseerzeugnissen zu fördern, leitete das Gericht aus der Schutzpflicht aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG her. 81 Zur Begründung verwies es auf die bereits in seiner bisherigen Rechtsprechung anerkannte Auslegung dieser Vorschrift als eine die Freiheitlichkeit des Pressewesens garantierende „objektive Grundsatznorm". 82 Allerdings fanden sich bereits in der für die Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht bedeutenden „Blinkfüer"-Entscheidung 83 deutliche, wenn auch unreflektierte Anklänge an den Gedanken einer grundrechtlichen Schutzpflicht. 84 Gegenstand des Falles war ein an Zeitungshändler gerichteter Boykottaufruf, den der Springer-Verlag unmittelbar nach dem Berliner Mauerbau 1961 gegenüber der Zeitschrift „Blinkfüer" ausgesprochen hatte. Angesichts des auf die Händler ausgeübten wirtschaftlichen Drucks hatte das Bundesverfassungsgericht das die Schadensersatzklage der „Blinkfüer"-Herausgeber abweisende BGH-Urteil aufgehoben. Es hatte zur Begründung u. a. ausgeführt, die Pressefreiheit erfordere „den Schutz der Presse gegenüber Versuchen, den Wettbewerb der Meinungen durch wirtschaftliche Druckmittel auszuschalten". 85 Rückblickend fügten sich das gefundene Ergebnis sowie der zi-
79 Ob aus Art. 8 GG eine Schutzpflicht herzuleiten sei, ließ BVerfGE 69, 315 (355) offen, s.o. Fn. 45. Die Anerkennung einer „Schutzpflicht" gegenüber privaten Ersatzschulen in BVerfGE 75, 40 (66 ff.); 90, 107 (11) beruhte hingegen - auch ausweislich der Entscheidungsgründe - auf der positiven und spezifischen Garantie der Errichtung privater Schulen in Art. 7 Abs. 4 S. 1 GG und war für die Fortentwicklung der Schutzpflichtendogmatik von allenfalls untergeordneter Bedeutung. Dies gilt ebenso für die Entscheidung zur Volljährigenadoption, BVerfGE 80, 81 ff., da sie an die explizit in Art. 6 Abs. 1 GG statuierte Schutzpflicht anknüpfte (vgl. a.a.O., S. 93). In beiden Entscheidungen wird der Begriff der Schutzpflicht im Sinne von Einrichtungsgarantien, zum einen der Privatschulen zum anderen des Instituts der Familie gebraucht. 80 BVerfGE 80, 124 (133). 81 Die Brücke vom objektiv-rechtlichen Gehalt des Grundrechts zu einem subjektiven, verfassungsbeschwerdefähigen Recht schlug das Bundesverfassungsgericht hier jedoch in einer für die Pressesubventionierung spezifischen Weise, indem es Förderungen mit inhaltslenkender Wirkung auch gegenüber dem Geförderten selbst wie einen Grundrechtseingriff behandelt und so den Weg zur abwehrrechtlichen Grundrechtsprüfung frei machte, S. Hoffinann-Riem, JZ 1989, 842 (842), vgl. BVerfGE 80, 124 (133 ff.). 82 BVerfGE 80, 124 (133) unter Hinweis auf BVerfGE 20, 162 (175). Das sechste Rundfunkurteil nahm auch für den Bereich der Rundfunkfreiheit eine aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG folgende Schutzpflicht an, BVerfGE 83, 238 (296), die - in der entschiedenen Fragestellung - jedoch nur zu einer Verweisung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Schranken ihrer Anstaltsaufgaben führte (S. 312). Das Urteil hatte mithin - ähnlich der Hochschul-Entscheidung - einen (atypischen) Bereich staatlicher Leistungserbringung mit entsprechend erhöhter RegelungsVerantwortung des Gesetzgebers zum Gegenstand. 83 BVerfGE 25, 256 ff. 84 Hierauf weist zu Recht Canaris, Grundrechte, S. 57 f., hin.
A. Die Schutzpflichten in der Rechtsprechung
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tierte Teil der Entscheidungsbegründung nahtlos in die später entwickelte Schutzpflichtenlehre ein. Das Feld des Vertragsrechts betrat die Schutzpflichtenjudikatur des Gerichts mit der Handelsvertreter-Entscheidung 86 aus dem Jahre 1990. Die in § 90 Abs. 2 S. 2 HGB eingeräumte Möglichkeit eines generellen Ausschlusses der Karenzentschädigung für Handelsvertreter nach Beendigung des Vertragsverhältnisses verstieß nach Auffassung des Ersten Senats gegen Art. 12 Abs. 1 GG. Staatliche Regelungen müßten ausgleichend eingreifen, um den Grundrechtsschutz zu sichern, wo ein Kräfteungleichgewicht zwischen den Vertragsparteien bestehe. 87 Im Gegensatz zu den Entscheidungen, die den Lebens- oder Gesundheitsschutz zum Gegenstand hatten, zieht das Bundesverfassungsgericht hier neben den „objektiven Grundentscheidungen des Grundrechtsabschnittes" das „grundgesetzliche Sozialstaatsprinzip" heran. 88 Mit dieser nicht näher begründeten und in ihren jeweiligen Auswirkungen nicht differenzierten doppelten Fundierung der staatlichen Schutzpflicht geht eine besondere Akzentsetzung im Hinblick auf den Schutzpflichteninhalt einher. Zwar erklärt der Beschluß die zitierte Vorschrift des HGB für verfassungswidrig und benennt wiederum den Gesetzgeber als primären Adressaten der Schutzpflicht. Das Gericht räumt jedoch ein, daß die den Anknüpfungspunkt gesetzlicher Regelungen bildenden tatsächlichen Umstände sich nur typisierend erfassen lassen. Es deutet sich damit bereits in der Handelsvertreter-Entscheidung eine dem Schuld- und Vertragsrecht eigene Schwerpunktverlagerung des staatlichen Schutzauftrages auf den Richter an. 8 9 Noch deutlicher wird die Inpflichtnahme der Gerichte in der BürgschaftsEntscheidung 90 des Jahres 1993. Die auch grundrechtlich determinierte Pflicht zur Ausgestaltung der Privatrechtsordnung sieht das Bundesverfassungsgericht als ein Problem praktischer Konkordanz, da am Zivilrechtsverkehr gleichrangige Grundrechtsträger teilnehmen. 91 Das vom Gesetzgeber 85
BVerfGE 25, 256 (268). BVerfGE 81, 242 ff.; s. dazu Wiedemann, JZ 1990, 695 ff.; Schwabe, DVB1. 1990, All ff. Zur - bereits vorher in weiten Teilen erfolgten - Anerkennung der Schutzpflichtenfunktion für die Rechtsbeziehungen der Privatrechtssubjekte untereinander im Schrifttum: Canaris, AcP 184 (1984), 201 (225 ff.); Stern, Staatsrecht III/1, S. 1573 ff. m.w.N. 87 BVerfGE 81, 242 (255). 88 BVerfGE 81, 242 (255). 89 Vgl. BVerfGE 81, 242 (255 f.). In diesem Sinne auch Wiedemann, JZ 1990, 695 (696 f.); Höfling, Vertragsfreiheit, S. 58. 90 BVerfGE 89, 214 ff.; dazu (weitgehend zustimmend) Honseil, NJW 1994, 565 f.; Wiedemann, JZ 1994, 411 ff.; Kohte, ZBB 1994, 172 (175); Preis/Rolfs, DB 1994, 261 ff.; kritisch: Adomeit, NJW 1994, 2467 ff.; H.A. Hesse/Kaufmann, JZ 1994, 219 ff. 86
Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
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zur Verfügung gestellte Arsenal an Generalklauseln zur Inhaltskontrolle von zivilrechtlichen Verträgen bleibt seitens des Bundesverfassungsgerichts allerdings unbeanstandet, während es bei der Konkretisierung dieser Generalklauseln durch die Fachgerichte eine (stärkere) Berücksichtigung grundrechtlicher Gewährleistungen anmahnte. 92 Die gerichtliche Pflicht zur Korrektur struktureller Disparitäten, in der das Bundesverfassungsgericht gar eine „Hauptaufgabe" des heutigen Zivilrechts sieht, begründet das Gericht zum einen mit der aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleiteten Gewährleistung der Privatautonomie. Wie in der Handelsvertreter-Entscheidung greift das Gericht zusätzlich auf das Sozialstaatsprinzip zurück. 93 Das grundrechtliche Fundament vermag offenbar auch in den Augen des Gerichts den weiten Bereich staatlicher Ausgleichspflichten in der Zivilrechtsordnung kaum alleine zu tragen. Dieser bedarf daher einer ergänzenden Gründung in einem weiteren Verfassungsprinzip. Zwar verwendet das Bundesverfassungsgericht das Wort „Schutzpflicht" weder in der Handelsvertreter- noch in der Bürgschafts-Entscheidung. Dieser Umstand rechtfertigt es jedoch nicht, das in diesen Entscheidungen erfolgte Ausgreifen der Schutzpflichtenjudikatur in das Vertragsrecht zu ignorieren. 94 Die Handelsvertreter-Entscheidung spricht von einem aus den Grundrechten abgeleiteten „Schutzauftrag der Verfassung" 95 , womit sie sich auch ohne ausdrückliche Bezugnahme auf das Fristenregelungsurteil in den Kontext dieser Rechtsprechungslinie stellt. 96 Das gleiche gilt für die Bürgschafts-Entscheidung, in welcher sich die Schutzpflichtenlehre bis in die Wortwahl hinein zu erkennen gibt. 9 7 Die Ableitung einer grundrechtlichen Schutzpflicht aus der in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten Privatautonomie greift das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung auf, in der es aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 4 GG die Unwirksamkeit ehevertraglicher Absprachen folgert. In dem 91
BVerfGE 89, 214 (232). BVerfGE 89, 214 (229, 234). 93 BVerfGE 89, 214 (232). H. A. Hesse/Kauffmann, JZ 1994, 219 (222), halten diese Bezugnahme gegenüber derjenigen auf die Grundrechte hingegen für „wenig bedeutsam". 94 Dies geschieht allerdings in Teilen der Literatur, vgl. Unruh, Dogmatik, S. 29 ff., sowie in bezug auf die Bürgschaftsentscheidung auch Erichsen, Jura 1997, 85 (86). 95 Vgl. BVerfGE 81, 242 (256). 96 Vgl. Höfling, Vertragsfreiheit, S. 55 ff.; Singer, JZ 1995, 1133 (1136); Spieß, DVB1. 1994, 1222 (1225); Neumann, DVB1. 1997, 92 (98); a.A. Schwabe, DVB1. 1990, All (477); Isensee, HdbStR V, 1992, § 111, Rz. 131. 97 So: H. A. Hesse/Kauffmann, JZ 1994, 219 (222). Auch Preis/Rolfs, DB 1994, 261 (262) und Singer, JZ 1995, 1133 (1137) rechnen die Entscheidung ausdrücklich der Schutzpflichtenjudikatur zu. 92
A. Die Schutzpflichten in der Rechtsprechung
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entschiedenen Fall hatte eine Schwangere ehevertraglich für sich und ihr ungeborenes Kind auf Unterhaltsansprüche für den Fall einer Ehescheidung verzichtet. 98 Nunmehr sprechen die Entscheidungsgründe auch explizit von einer aus den genannten Vorschriften folgenden „Schutzpflicht". Wiederum aus der in Art. 12 Abs. 1 GG verbürgten Berufsfreiheit, jedoch inzwischen unter ausdrücklicher Verwendung des Begriffes leitet das Gericht in der Seeschiffahrtsregister-Entscheidung 99 sowie in der Entscheidung zum Recht der Sonderkündigung von Angehörigen des öffentlichen Dienstes der D D R 1 0 0 aus dem Jahre 1995 eine staatliche Schutzpflicht ab. Die Grundrechte schützten nicht nur vor staatlichen Eingriffen, sondern „verpflichten ... den Staat auch, diese Freiheitssphäre zu schützen und zu sichern". In der Schutzpflicht entfalte sich der „objektive Gehalt" des Grundrechts. 101 Auch wenn das Begründungsmuster der Schutzpflicht im wesentlichen mit denjenigen der vorgenannten Entscheidungen übereinstimmt und die in der Handelsvertreter-Entscheidung konstatierte Sachlage eines Kräfteungleichgewichts zwischen zwei Vertragspartnern geradezu typisch für das Arbeitsrecht ist, so unterließ das Bundesverfassungsgericht in den Entscheidungen eine Bezugnahme auf die älteren Beschlüsse. Auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand befanden sich in den zitierten Entscheidungen des Jahres 1995 nicht richterliche Interpretationen von Normen, sondern die gesetzlichen Vorschriften zum Schutz der Arbeitnehmer selbst. Den Terminus der Schutzpflicht behält das Gericht offenbar der unmittelbaren Prüfung von Gesetzesbestimmungen vor, in der Sache bringt es die Schutzpflichtenlehre jedoch auch bei der Überprüfung der verfassungsgemäßen Auslegung von Gesetzen zur Anwendung. Im Bereich des Arbeitsrechts machte das Bundesverfassungsgericht als Quelle von Schutzpflichten neben Art. 12 GG auch das Gebot der Gleichbehandlung von Frauen und Männern, Art. 3 Abs. 2 GG a.F., aus und hielt den Staat zur Durchsetzung der Gleichberechtigung der Frau in der - in weiten Bereichen durch Vertragsbeziehungen geformten - sozialen Wirklichkeit für verpflichtet. 102 Im Hinblick auf die Ausweitung des Kreises der für die Schutzpflichtenlehre nutzbar gemachten Freiheitsrechte verdient die zitierte Bürgschaftsent98
BVerfGE 103, 89 (105 f.); zum Sachverhalt vgl. a.a.O., S. 94 f. BVerfGE 92, 26 (46 f.). Gegenstand der Entscheidung waren gesetzliche Bestimmungen, welche auf deutschen Handelsschiffen fremder Flagge den Abschluß arbeitsrechtlicher Vereinbarungen nach Maßgabe ausländischen Rechts erleichtern. 100 BVerfGE 92, 140 (150). 101 BVerfGE 92, 26 (46 f.) 102 BVerfGE 89, 276 (285 f.) - § 611a BGB. Zur (eingeschränkten) Anwendbarkeit der Schutzpflichtenlehre auf die Gleichheitsrechte siehe unten Teil 4 A.IV. 99
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
Scheidung ebenfalls Aufmerksamkeit. Das Gericht nimmt hierin das Auffanggrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit 103 zum Anknüpfungspunkt einer objektiven Grundsatzentscheidung der Verfassung und eröffnet der Schutzpflichtenlehre damit einen potentiell grenzenlosen Anwendungsbereich. 104 Die zweite Teilgewährleistung des Art. 2 Abs. 1 GG, das i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geltende allgemeine Persönlichkeitsrecht, zog das Gericht bereits ein Jahr zuvor als Quelle einer Schutzpflicht des Staates heran, 105 indem es die telefonischen Fangschaltungen auch ohne gesetzliche Grundlage einstweilen gestattete, da ansonsten ein wirksamer Schutz nicht nur des Rechts auf körperliche Unversehrtheit, sondern auch des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht mehr gewährleistet sei. Anhand dieses Persönlichkeitsrechts setzt sich das Gericht in einer Entscheidung 106 zum Anspruch des nicht-ehelichen Kindes auf Vaterschaftsauskunft nochmals mit den Rechtsfolgen und den Adressaten der grundrechtlichen Schutzpflicht auseinander. Der Inhalt der Schutzpflicht umfaßt die „Gewährleistung der für die Persönlichkeitsentfaltung konstitutiven Bedingungen" 1 0 7 . Anders als die abwehrrechtliche Seite der Grundrechte, die jeweils ein bestimmtes staatliches Verhalten fordere, sei der Inhalt der Schutzpflicht „grundsätzlich unbestimmt" und belasse den staatlichen Organen einen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum, nicht nur hinsichtlich einer Mehrzahl zur Verfügung stehender Reaktionsmittel, sondern auch im Hinblick auf die Abwägung widerstreitender Grundrechtspositionen. Danach kann der Staat mithin im Einzelfall auch von weiteren konkreten Schutzmaßnahmen für eine gefährdete Grundrechtsposition absehen. Daß hierin nicht unbedingt eine Blanko-Völlmacht des Bundesverfassungsgerichts an die mit der Erfüllung der Schutzpflichten betraute Staatsmacht gesehen werden muß, zeigt eine Entscheidung zur Vaterschaftsauskunft. In 103
Zur Einordnung der Privatautonomie unter die allgemeine Handlungsfreiheit siehe BVerfGE 8, 274 (328); 12, 341 (347); 74, 129 (151f.), sowie Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2 Rz. 54. 104 Aus der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG folgert auch BVerfGE 91, 335 (339) [Punitive Damages] eine staatliche Schutzpflicht. Art. 2 Abs. 1 GG hatte das Gericht bereits in der C-Waffen-Entscheidung, BVerfGE 77, 170 (214), s.o. Fn. 49, indirekt herangezogen, um im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung der Verfassungsbeschwerde die Möglichkeit einer subjektiven Rechtsverletzung zu begründen: „Werden diese Schutzpflichten verletzt, so liegt darin zugleich eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 S. 1 GG, ....". Art. 2 Abs. 1 GG war hier allerdings nicht Quelle von Schutzpflichten, sondern nur ein Hilfsinstrument zu ihrer prozessualen Durchsetzung. 105 BVerfGE 85, 386 (400 f.). 106 BVerfGE 96, 56. 107 BVerfGE 96, 56 (64).
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dieser Entscheidung, welche die Frage betraf, ob die Mutter ihrem nichtehelichen volljährigen Kind Auskunft über seinen leiblichen Vater erteilen muß, kollidierte das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Mutter mit dem des Kindes. Das Gericht stellte eine Überschreitung des richterlichen Wertungsspielraums fest, da die aufgestellten Abwägungskriterien die Interessen des Kindes einseitig bevorzugt hätten. 108 Aus dem bei der Schutzpflichtenfunktion bestehenden Wertungsspielraum folgert das Bundesverfassungsgericht, daß die „Aufstellung und normative Umsetzung eines Schutzkonzepts Sache des Gesetzgebers" sei. 1 0 9 Wo dessen Entscheidung ausbleibt, seien allerdings die Gerichte aufgerufen, „im Wege der Rechtsfortbildung oder der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe die Schutzpflicht wahrnehmen". In einer Kammerentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht offengelassen, ob auch aus der Eigentumsfreiheit des Art. 14 GG eine Schutzpflicht folgt, welche den Gesetzgeber zur Kodifizierung bestimmter Entschädigungsansprüche zugunsten der Eigentümer von durch Emissionen geschädigter Waldbestände verpflichten könnte. 1 1 0 Für den Fall, daß ein Geschädigter nachweislich von unzumutbaren Einbußen betroffen sei, ließ die Kammer die Tür zu einer künftigen, erfolgreichen Verfassungsbeschwerde in seinem Nichtannahmebeschluß allerdings offen. 1 1 1 Sie deutete ferner bereits eine Grenzziehung bei der Ermittlung von Schutzpflichten aus Art. 14 GG an. Solche Eigentumsbeeinträchtigungen, die - in der Form staatlichen Eingriffshandelns - im Rahmen einer Inhaltsbestimmung hingenommen werden müßten, sollen schon auf der Tatbestandsseite eine Schutzpflichtenwirkung nicht auslösen können. Auswirkungen auf den „Kernbereich" des Eigentums (wie Privatnützigkeit und Substanzerhaltung) kämen zwar für gesetzgeberische Handlungspflichten in Betracht, stoßen auf der Rechtsfolgenseite jedoch auf seine - gleichfalls betonte - Gestaltungsfreiheit. 1 1 2
I I . Landesverfassungsgerichte In die Judikatur der Landesverfassungsgerichte hat die Schutzpflichtenjudikatur kaum Eingang gefunden. Eine Ausnahme bildet die zum Nichtraucherschutz ergangene Entscheidung des Bayrischen Verfassungsgerichtshof aus dem Jahre 1987, 1 1 3 wo aus den die Menschenwürde und die allgemeine 108
BVerfGE 96, 56 (65). BVerfGE 96, 56 (64). 110 BVerfG (Kammerbeschluß), NJW 1998, 3264 (3265). 111 BVerfG (Kammerbeschluß), NJW 1998, 3264 (3266); siehe auch von Hippel, NJW 1998, 3254 (3255). 112 BVerfG v. 26.5.1998, NJW 1998, 3264 (3265). 109
Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
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Handlungsfreiheit garantierenden Art. 100 f. der Verfassung des Freistaates Bayern die Pflicht der staatlichen Organe, „sich schützend und fördernd vor das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit der Bürger zu stellen und es vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren", hergeleitet wird. Aus dieser, mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts übereinstimmenden Pflicht 1 1 4 will der Gerichtshof jedoch keine Pflicht zum Erlaß eines allgemeinen Rauchverbotes für Warenhäuser ableiten, sondern aus Gründen der rechtsstaatlichen Bestimmtheit und Normenklarheit weist er dem Gesetzgeber bzw. einem von ihm ermächtigten Normgeber die Aufgabe zu, zwischen den kollidierenden Rechtsgütern von Rauchern und Nichtrauchern abzuwägen.
I I I . Fachgerichte In der Fachgerichtsbarkeit findet sich eine dogmatisch vertiefte Auseinandersetzung mit der Schutzpflichtenthematik nur in einer überschaubaren Zahl verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen. Oftmals legen die Spruchkörper keine Rechenschaft über die Relevanz grundrechtsdogmatischer Beurteilungsschemata in den zu entscheidenden Sachverhalten ab. Das Bundesverwaltungsgericht hat jedoch in einigen Judikaten ausdrücklich auf die Pflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG zum Schutz der Gesundheit abgestellt. Mit ihr hat es die Erhebung einer Luftsicherheitsgebühr im Flugverkehr 115 und die Warnung vor diethylenglykolhaltigen Weinen 1 1 6 legitimiert. Konkrete Ansprüche des Bürgers hat es aus dieser Schutzpflicht aber weder auf Zulassung eines bestimmten Arzneimittels 1 1 7 noch auf die Anordnung eines Rauchverbots auf Inlandsflügen 118 abgeleitet. Ferner ist das Urteil zur Warnung vor Jugendsekten mittels Zwischenschaltung eines privaten Vereins zu nennen. 119 Damit verfolge der Staat eine grundrechtliche Schutzpflicht zugunsten der „Opfer" von Jugendsekten. Diese bleibt eine Zuordnung der Schutzpflicht zu einem bestimmten grundrechtlichen Schutzbereich allerdings schuldig. 113
NJW 1987, 2921 (2922). Vgl. etwa nur die übereinstimmenden Formulierungen in BVerfGE 46, 160 (164); 88, 203 (251) m.w.N. sowie BVerfG, NJW 1996, 651. 115 BVerwG, NVwZ 1994, 1102 (1104). 1,6 BVerwGE 87, 37 (49). 117 BVerwG, NJW 1993, 3002 (3003), wobei das Gericht die grundsätzliche Geltung der Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG für das Arzneimittelrecht ausdrücklich bejahte. 118 BVerwG, NJW 1996, 1297. 1,9 BVerwGE 82, 76 ff.; siehe auch OVG Münster, DVB1. 1990, 999 (1000 f.). Dieser Fall stellt zugleich ein Beispiel für eine „vierpolige" Konstellation bei der Schutzpflichtenerfüllung dar, vgl. hierzu unten Teil 5 C.IV.l.c). 114
A. Die Schutzpflichten in der Rechtsprechung
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In einem Beschluß, der die drohende Lärmbelastung durch einen von ausländischen Streitkräften genutzten Militärflughafen zum Gegenstand hatte, nahm der VGH Kassel 1988 eine grundrechtliche Schutzpflicht auch aus Art. 14 GG an. Der Staat müsse jedoch nicht in jedem Falle einschreiten, sondern habe - in der Außen- und Verteidigungspolitik - ein weites Ermessen. Der grundrechtlichen Pflicht korrespondiere nur ein Anspruch auf eine fehlerfrei vorzunehmende Abwägung. 1 2 0 Dasselbe Gericht faßte ein Jahr später einen in der Literatur 1 2 1 heftig kritisierten Beschluß im Zusammenhang mit der Genehmigung einer Anlage zur gentechnischen Herstellung von Insulin. Es stellte fest, daß die - ausschließlich - aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG abgeleitete Pflicht des Gesetzgebers zum Schutz von Leben und Gesundheit eine nur vom Gesetzgeber zu treffende Grundentscheidung über die Zulässigkeit der Gentechnik erfordere. Bis zu dieser parlamentarischen Entscheidung scheide eine Genehmigung gentechnischer Anlagen aus. 1 2 2 Mit dieser aus der grundrechtlichen Schutzpflicht abgeleiteten Rechtsfolge stellt der Verwaltungsgerichtshof die Grundrechtsausübung unter den Vorbehalt des Gesetzes, 123 womit er die grundrechtseffektuierende Lehre vom Gesetzesvorbehalt nunmehr gegen die Grundrechtsausübung wendet. Das Gericht verengt das Blickfeld im übrigen einseitig auf den Gesetzgeber. Exekutive und Jurisdiktion sollen danach offenbar zwar die Schutzpflichten zur Anwendung bringen, aber nur im Sinne einer hinhaltenden Sperrung der möglicherweise gefährlichen Aktivitäten. Der Abwägungspflicht des Gesetzgebers stünde eine Alles-oderNichts-Betrachtung der anderen Gewalten gegenüber; ihre Aufgabe erschöpfte sich darin, die grundrechtlichen Anforderungen mit der geltenden Gesetzeslage zu vergleichen. 124 Das VG Frankfurt faßte in einem Urteil aus dem Jahre 1996 die Voraussetzungen einer grundrechtlichen Schutzpflicht, verglichen mit der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung, zu eng. Eine solche Schutzpflicht gegen die Beeinträchtigung eines Bürgers solle nur dann bestehen, „wenn diese Beeinträchtigung zugleich eine Verletzung der Menschenwürde darstellt 120 VGH Kassel, NJW 1989, 470 (475 f.). Der Fall weist aufgrund der ausländischen, der deutschen Hoheitsgewalt prinzipiell nicht unterstellten Streitkräfte als Lärmemittenten enge Bezüge zu der besonders gelagerten Thematik der Schutzgewährung der deutschen Staatsgewalt gegenüber fremden Staaten auf, siehe hierzu BVerfGE 40, 141 (177 f.). Die Verortung dieses Schutzanspruches ist im einzelnen umstritten, vgl. Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 123 m.w.N. 121 Deutsch, NJW 1990, 339; Hirsch, NJW 1990, 1445 ff.; Fluck, UPR 1990, 81 (82 ff.); Rose, DVB1. 1990, 279 ff.; vgl. auch die Nachw. bei Kloepfer, FS Lerche, S. 755 Fn. 1. 122 VGH Kassel, DVB1. 1990, 63 (65 f.) = NJW 1990, 336 (337 ff.). 123 Vgl. Kloepfer, FS Lerche, S. 763 ff. 124 Ähnliche Kritik von Fluck, UPR 1990, 81 (85); Kloepfer, FS Lerche, S. 766. 6 Krings
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
(Art. 1 I I I G G ) " . 1 2 5 Obwohl auch jüngere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts - wie gezeigt - die grundrechtlichen Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG herleiten, gibt die in der Entscheidung aufgegriffene Objektformel 126 die seitens des Bundesverfassungsgerichts an die Aktivierung der grundrechtlichen Schutzpflichten gestellten Anforderungen nicht angemessen wieder und ignoriert insbesondere die inzwischen erfolgte Verortung der Schutzpflichten zumindest auch bei speziellen Grundrechten. In der zivilgerichtlichen Rechtsprechung bleibt ein Rekurs auf grundrechtliche Schutzpflichten die seltene Ausnahme und verrät vielfache Unsicherheiten in der Konturierung und Konkretisierung der aus den Grundrechten abzuleitenden konkreten Handlungspflichten. 127 Landes verfassungsrechtliche Schutzpflichten 128 sind in der Rechtsprechung der Ländergerichte kaum aufgegriffen worden. Eine Ausnahme bildet eine Entscheidung des VGH München, 1 2 9 der im Zusammenhang mit der Verbreitung kritischer Äußerungen der bayerischen Landeszentrale für politische Bildung über eine „neureligiöse" Bewegung auf die Pflicht der Regierung aus Art. 99 S. 1 Verf. Bayern einging und sie als verfassungsrechtliche Verpflichtung zu schützendem Handeln wertete.
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten Im folgenden soll die Herleitung und Begründbarkeit einer aus den Grundrechten abgeleiteten staatlichen Pflicht, private Rechtsgüter gegen Angriffe Dritter zu schützen, untersucht werden. Die Frage nach der Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten hat sich angesichts der inzwischen gefestigten Akzeptanz grundrechtlicher Schutzpflichten in Rechtsprechung und Schrifttum keineswegs erledigt, sondern ist von Bedeutung für die tatbestandliche Reichweite und begründet Vorgaben für die auf einer Rechtsfolgenebene vorzunehmende Konkretisierung der Schutzpflichten. Insbeson125
VG Frankfurt, NVwZ-RR 1997, 92 (95). Diese Formel, wonach die Menschenwürde betroffen ist, „wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vetretbaren Größe herabgewürdigt wird", wurde entwickelt von Dürig, AöR Bd. 81 (1956), S. 117 (127) und wurde in der Geltungsgeschichte des Grundgesetzes zum beherrschenden Konkretisierungsansatz des Art. 1 Abs. 1 S. 1, vgl. Graf Vitzthum, JZ 1985, 201 (202 f.); Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1 Rz. 13. 127 So etwa: OLG München, NVwZ 1986, 691 (693) bezogen auf ein Unterlassen des Gesetzgebers in einer Entscheidung zur (abgelehnten) Amtshaftung für Waldschäden; so auch Murswiek, WiVerw 1986, 179 (181). 128 S. hierzu o. Teil 2 C.II. 129 VGH München, NVwZ 1995, 793 (795). 126
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
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dere aber determiniert die Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten und die Art und Weise ihrer Einfügung in die allgemeine Grundrechtsdogmatik die Antwort auf die - bislang nicht überzeugend gelöste - Frage nach der Subjektivierung grundrechtlicher Schutzpflichten. Ausgehend von der Prämisse, daß den grundrechtlichen Schutzpflichten ungeachtet der vielfältigen, an einzelnen Schutzbereichen und Gefährdungskonstellationen orientierten Erscheinungsformen - ein einheitliches Grundkonzept innerhalb der Grundrechtsdogmatik zugrunde liegt, kann die Begründung der objektiven Schutzverpflichtung nicht wesentlich von derjenigen eines individuellen Schutzanspruches abweichen. Bei der Herleitung der Schutzpflicht soll daher nicht nach einzelnen Schutzpflichtenwirkungen, mithin auch nicht zwischen einer objektiven Verpflichtung staatlicher Organe einerseits und einem subjektiven Recht des einzelnen auf Schutz differenziert werden. Vielmehr wird der Versuch unternommen, eine allgemeingültige Herleitung und Begründbarkeit grundrechtlicher Schutzpflichten aufzuzeigen.
I. Die grundrechtliche Verortung der Schutzpflichten Wenn die wissenschaftlichen Ansätze zur Herleitung, dogmatischen Einordnung und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten divergieren, so kann jedenfalls die Existenz einer Pflicht des Staates, zum Schutz der grundrechtlichen Schutzgüter tätig zu werden, sowie die Herleitung dieser Pflicht aus eben diesen Grundrechten als allgemein akzeptierter Kerngehalt der Lehre von den Schutzpflichten festgehalten werden. 1 3 0 Die Verortung staatlicher Schutzaufgaben bei den Grundrechten des Grundgesetzes stellt sich - vor dem Hintergrund der Entstehungs- und Anwendungsgeschichte des Grundrechtskataloges - jedoch keineswegs als zwingend dar. Die Aufgabe oder Pflicht des Staates, seine Bürger zu schützen, wird in der Entwicklung zum modernen Staat meist unmittelbar mit dem Zweck des Staates verbunden. Der Sinn und die Legitimation staatlicher Gewalt sei gerade die Sicherung des inneren und äußeren Friedens und somit der Schutz des Einzelnen vor Gefahren. 131 Starck erklärt das Bemühen der jüngeren Staatsrechtslehre um eine grundrechtliche Verankerung der Schutzpflichten zu Recht mit der überragenden Bedeutung der Grundrechte innerhalb des Grundgesetzes. 132 Die 130 Sachs, in: Sachs, GG, vor Art. 1, Rz. 35; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 122 m. zahlr. w. N.; Dreier, in: Dreier, GG I, vor Art. 1, Rz. 62; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, vor Art. 1 Rz. 8. 131 Vgl. nur Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 246; Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 80; Link, VVDStRL Bd. 48, S. 7 (27 ff.); Schachtschneider, Res publica, S. 546 f., sowie ausführlich Kriele, Staatslehre, S. 11-92. Siehe hierzu o. Teil 2 B.I.
6*
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
Verortung der Schutzpflichten bei den Grundrechten des Grundgesetzes ist im Kontext der „Konstitutionalisierung" - und dies bedeutet v. a. der grundrechtlichen Durchleuchtung - praktisch aller Rechtsgebiete zu sehen. Sie ist Teil einer Entwicklung, welche die Rechtsgeschichte der Bundesrepublik wie kein anderer rechtsdogmatischer Prozeß geprägt hat, so daß nach fünf Jahrzehnten Bundesrepublik und Grundgesetz zutreffend von einer „Grundrechtsrepublik Deutschland" 133 gesprochen werden kann. Ausgehend von der Prämisse, daß der staatliche Schutz der Rechtsgüter des einzelnen typischerweise mit einem Eingriff in die Grundrechte Dritter verbunden i s t , 1 3 4 sucht die staatliche Gewalt nach einer normativen Grundlage, die den Abwehrrechten der belasteten Grundrechtsträger normenhierarchisch ebenbürtig ist. Wenn auf der einen Seite die Grundrechte in ihrer Abwehrfunktion in die Waagschale geworfen werden, so ist sie zum Zwecke der Herstellung einer effektiven verfassungsrechtlichen Balance zwischen Abwehr und Schutz darauf angewiesen, die gleichen Grundrechte auch als Quelle ihrer Schutzpflichten nutzbar zu machen. Die „Grundrechtszentriertheit" 135 des deutschen Staatsrechts bringt es mit sich, daß in der Abwägung rechtlich geschützter Interessen "Grundrechte im wesentlichen nur durch Grundrechte aufzuwiegen sind. Auf der Grundlage einer grundrechtlichen Verortung der Schutzpflichten werden in der Literatur hauptsächlich zwei Begründungslinien verfolgt. Zum einen sucht man das Ergebnis einer Schutzpflichtenwirkung der Grundrechte „grundrechtsexogen" bzw. außergrundrechtlich durch allgemeine Erwägungen zum Zweck und zur Legitimation von Staatlichkeit zu begründen. Zum anderen wird die Schutzpflichtenwirkung „grundrechtsendogen" bzw. grundrechtsimmanent unmittelbar aus der Dogmatik der Grundrechte heraus begründet. Innerhalb des letzteren Ansatzes kommen einige Autoren zu einer Herleitung von Schutzpflichten, indem sie in ihnen keine selbständige Grundrechtsfunktion, sondern eine Unterfunktion der Abwehrdimension sehen. 136 132
Starck, Verfassungsauslegung, S. 47; ähnlich Schnur, DVP 1998, 443 (447), der darauf hinweist, andere Normtypen des GG hätten sich vergleichsweise als zu schwach erwiesen. 133 So Hufen, NJW 1999, 1504. 134 Auf der Grundlage des - hier vertretenen - sog. Wirkungsdreiecks der grundrechtlichen Schutzpflichten wird der Staat i.d.R. in Grundrechte Dritter eingreifen müssen, um ein Grundrecht zu schützen. Dies ist allerdings - etwa entgegen Unruh, Dogmatik, S. 23; Schnur, DVP 1998, 443 (447) - nicht notwendigerweise, sondern in Ansehung der Möglichkeit rein vorbeugender Maßnahmen bzw. der abschreckenden Wirkung einer bloßen Vorhaltung von Schutzinstrumentarien nur typischerweise der Fall. Siehe hierzu unten Teil 5 C.IV. 1. 135 Begriff nach Starck, Verfassungsauslegung, S. 47. 136 S.u. Teil 3 B.III.l.a)aa).
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
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I L Staatszweckorientierte Herleitung Bereits unmittelbar im Anschluß an das für die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten wegweisende erste Fristenregelungsurteil des Bundesverfassungsgerichts wurde in der Literatur der Weg einer am Staatszweck Sicherheit orientierten Herleitung der Schutzpflichten gewählt. 1 3 7 Ungeachtet der außergrundrechtlichen Provenienz der Staatszwecklehre verknüpft diese Argumentationslinie die Staatsaufgabe Sicherheit mit den Grundrechten. 138 Sie sucht eine grundrechtsimmanente Rechtswirkung grundrechtsexogen zu begründen.
1. Die „Wiederentdeckung" der Sicherheit im deutschen Staatsrecht Daß die Grundrechte des Grundgesetzes dem Staat nicht nur den ungerechtfertigten Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützten Güter der Grundrechtsberechtigten verbieten, sondern darüber hinaus ein positives Tun verlangen, wird in Verfassungsrechtsprechung wie Literatur inzwischen einhellig anerkannt. 139 Während die Abwehrfunktion als hauptsächlicher oder gar alleiniger Anwendungsfall des „subjektiven" Grundrechtsschutzes angesehen wird, wird die grundrechtliche Handlungspflicht überwiegend der „objektiven Dimension" der Grundrechte zugeordnet. Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten teilt sich diese Verortung auf der objektiven Seite mit anderen Grundrechtsfunktionen wie den Einrichtungsund Institutsgarantien und dem Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren. 140 Die beiden letztgenannten Funktionen sind älteren Ursprungs und können dementsprechend auf einen längeren Entwicklungszeitraum innerhalb der demokratischen Verfassungstradition in der Bundesrepublik Deutschland und z.T. schon in der Weimarer Republik zurückblicken als die Schutzpflichtendogmatik; die Schutzpflichtenlehre setzte erst in den siebziger Jahren e i n . 1 4 1 Allerdings steht hinter ihr die sehr viel ältere Idee einer staatlichen Verpflichtung zum Schutze individueller Rechtsgüter im 137
Isensee, Sicherheit, S. 3 ff.; später ebenso: Bleckmann, DVB1. 1988, 938 (941 f.); E. Klein, NJW 1989, 1633 (1635 f.); H. Klein, DVB1. 1994, 489 (492 f.); Ruffert, Vorrang, S. 154 ff. 138 Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 83. 139 Vgl. aus der Staatsrechtsliteratur nur: Stern, Staatsrecht III/1, S. 55; Isensee, Sicherheit, S. 27; Dietlein, Schutzpflichten, S. 51. 140 Siehe hierzu nur Stern, Staatsrecht III/1, S. 754 ff. (zu den Einrichtungsgarantien) und a.a.O., S. 953 ff. (zum Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren). 141 Zum Zeitpunkt des Beginns der „modernen" Lehre von den Schutzpflichten s.o. Teil 3 A.I.l.
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
allgemeinen und verfassungsrechtlich verbürgter Rechte im besonderen. Dieser historisch-philosophische, aber auch staatsrechtliche Hintergrund der heutigen Schutzpflichtendogmatik hat einige Autoren dazu bewogen, von einer „wiederentdeckten" Grundrechtsfunktion zu sprechen. 142 Die These von der Wiederentdeckung einer Grundrechtsfunktion will den Bogen von den in den Art. 1 ff. GG positivierten Grundrechten des Grundgesetzes zu der Idee der Sicherheit als legitimierender Kraft der Staatlichkeit spannen.
2. Die Verwirklichung des Staatszweckes Sicherheit in den Grundrechten? Die ideengeschichtliche und politische Identifikation der Sicherheitsgewährleistung als wesentlicher Entstehungs- oder jedenfalls Bestehensgrund moderner Staaten mögen dem Rechtsanwender in Zweifelsfragen eine bestimmte inhaltliche Auffüllung von Normen nahelegen. Es wundert daher nicht, daß bereits Isensee als einer der maßgeblichen Wegbereiter der Schutzpflichtendiskussion im staatsrechtlichen Schrifttum der staatsphilosophischen Grundlegung breiten Raum zumaß und die grundrechtlichen Schutzpflichten aus der Sicherheit als „telos" des Staates herzuleiten suchte. 143 Die Sicherheitsidee als Vorgabe für die Grundrechtsauslegung konkurriert jedoch mit anderen Grundsätzen, die ebenso ideengeschichtlich wie verfassungshistorisch und -genetisch begründbar sind: Insbesondere der Wert der Freiheit im Sinne einer Distanzierung des Staates von Individuum und Gesellschaft, 144 aber auch jüngere fürsorgerische, sich an den Sozialstaat wendende Ideen bieten sich als Instrumente zur Konkretisierung von Verfassungsnormen an. Schon die prinzipiellen Einwendungen gegen die Erklärungskraft der Staatsvertragstheorien und gegen den Erkenntniswert von Staatszwecklehren für die inhaltliche Auffüllung von Rechtsnormen innerhalb des staatlichen Rechtssystems, 145 lassen es als fraglich erscheinen, ob der Staatszweck Sicherheit eine tragfähige Begründung für die grundrechtlichen Schutzpflichten abzugeben vermag. Abgesehen von diesen grundsätzlichen Bedenken gegen eine Instrumentalisierung des Verfassungsrechts als Transformator von Aussagen der Allgemeinen Staatslehre in die geltende Rechtsordnung, ergeben sich besondere Probleme bei einer Kopplung der grundrechtlichen Auslegung an Staatszweckerwägungen. Selbst 142 Bleckmann, DVB1. 1988, 938 (941); vgl. ders., Staatsrecht II, S. 171 ff.; Isensee, Sicherheit, S. 27 u. 33; Stern, Staatsrecht III/1, S. 946. Siehe auch Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 53, der von einer „vergessenen" Grundrechtsfunktion spricht. 143 Isensee, Sicherheit, S. 3 ff. u. 17 ff.; ders., HdbStR V, § 111 Rz. 83 ff. 144 Di Fabio, Das Recht offener Staaten, S. 85. 145 Vgl. hierzu oben Teil 2 B.
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
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wenn ein Einfluß dieser Staatszweckerwägungen auf die Rechtsordnung als solche zu belegen wäre, ist es nicht einsichtig, warum sich der Staatszweckgedanke gerade in den Grundrechten normativ realisiert haben sollte. Zwar decken die in den Grundrechten geschützten Rechtsgüter in ihrer Summe thematisch alle wesentlichen Lebensbereiche ab. Dies bedeutet allerdings nicht, daß den Grundrechten auch der gesamte Ordnungsrahmen für diese Lebensbereiche einschließlich aller auf die geschützten Rechtsgüter bezogenen staatlichen Pflichten entnommen werden kann. Das einfache Recht ist nicht auf die Auslegung der Grundrechte beschränkt; vielmehr können auch in ihm staatliche Zwecksetzungen originär angelegt sein. Da es Aufgabe der Grundrechtsdogmatik ist, anhand des Verfassungstextes den Regelungsgehalt der Grundrechte zu ermitteln, kann das - ohnehin differenziert zu betrachtende - ideengeschichtliche Argument für die Begründung der Schutzpflichtenlehre nicht ausschlaggebend oder für sich genommen tragfähig zu sein. 1 4 6 Der oben dargelegte Aspekt der Grundrechtszentriertheit der Verfassung kann die Motive der Verfassungsdogmatik im Zusammenhang mit der Entwicklung grundrechtlicher Schutzpflichten erklären, nicht aber die Richtigkeit oder Schlüssigkeit dieser Dogmatik begründen. a) Die Nachrangigkeit des Schutzaspektes bei der Grundrechtskodifizierung In der Entwicklung der Grundrechtsidee und ihrer Positivierung in Verfassungstexten seit Ende des 18. Jahrhunderts stand die Abwehrfunktion der Grundrechte im Mittelpunkt. Unter dem Einfluß der Statuslehre Georg Jellineks 147 hat man diesen Aspekt in Deutschland als wichtigsten und klassischen Grundrechtsinhalt 148 bzw. als Grund- oder Urfunktion 1 4 9 der Grundrechte bezeichnet. Der gegen eine derartige Bewertung und insbesondere gegen die pointierte Formulierung von der grundrechtlichen Urfunktion gerichteten K r i t i k 1 5 0 ist zuzugeben, daß die Idee von Grundrechts Wirkungen, die über die Abwehrfunktion hinausgehen, sicherlich älter ist als die Veran146
Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1, S. 732 f.; Stern, Staatsrecht III/l, S. 946 f.; Unruh, Dogmatik, S. 40; Hillgruber, Schutz des Menschen, S. 145; Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 181. 147 Jellinek, System, S. 87 f. u. 94 ff. 148 So etwa Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1, S. 690. Brüning/Helios, Jura 2001, 155 (158) sprechen von der Abwehrfunktion als der „Systemmitte aller folgenden Weiterungen". 149 Vgl. Dietlein, Schutzpflichten, S. 34 u. 52. 150 Grimm, Grundrechtsverständnis, S. 221 (227); Huber, Verfassungsgeschichte IV, S. 817; Robbers, Sicherheit, S. 32; Unruh, Dogmatik, S. 40 f.; Wahl, Der Staat Bd. 18 (1979), S. 321 (330).
Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
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kerung von Grundrechten im Zeitalter des Konstitutionalismus. Jedoch hat die These von der Abwehrrichtung als klassischer Grundrechtsfunktion für die deutsche Verfassungsgeschichte und die in Deutschland relevant gewordene Entwicklung in anderen Staaten insofern ihre Berechtigung, als überall dort, wo subjektive Rechte, die unserem heutigen Verständnis von Grundrechten entsprechen, in Verfassungstexten positiviert wurden, dies primär mit dem Blick auf die Abwehrseite geschah, während objektive Grundrechtsgehalte bzw. positive Handlungspflichten dahinter regelmäßig zurücktraten. Ein Schutzgebot, dem ein subjektives Recht auf Sicherheit korrespondierte, blieb im Verlauf dieser Entwicklung gar eine seltene Ausnahmeerscheinung. Diese Grundrechtskataloge stellten Reaktionen auf historische Konfliktsituation zwischen Staatsmacht und Bürgern dar, 1 5 1 so daß die Abwehr staatlicher Maßnahmen fast zwangsläufig in diese Vorrangstellung einrücken mußte. Es fällt auf, daß die Vertreter einer Auffassung, wonach es sich bei den grundrechtlichen Schutzpflichten um eine alte Grundrechtsfunktion handelt, vornehmlich auf staatsphilosophische Aussagen zurückgreifen, 152 während sie für die Zeit der ersten Grundrechtskodifikationen im ausgehenden 18. und - für Deutschland - im 19. Jahrhundert nur ein Schwinden bzw. den Ausschluß des Rechts auf Sicherheit konstatieren können. 1 5 3 Ehe subjektive Grundrechtswirkungen im heutigen Sinne überhaupt entstehen konnten, hatte sich der Sicherheitsaspekt bereits wieder weitgehend aus der Menschen- und Grundrechtsdiskussion verabschiedet, ohne dabei allerdings seine Bedeutung für Staatslehre oder Politik eingebüßt zu haben. aa) Nordamerika A m deutlichsten wird das Primat der Abwehrrichtung der Grundrechte in der amerikanischen Verfassungsgebung. Der moderne Grundrechtsbegriff entstammt der amerikanischen Revolution. 1 5 4 Er war gekennzeichnet durch eine Umwandlung gesetzlicher Freiheitsrechte in Grundrechte auf der auch den Gesetzgeber bindenden Verfassungsebene 155 und zielte auf die Abschirmung einer freiheitlich-liberalen Sozialordnung gegen staatliche Ingerenzen. 151
Jellinek, System, S. 95; Seiwerth, Verfassungsbeschwerde, S. 19; Sachs, in: Stem, Staatsrecht III/l, S. 316 m.w.N. 152 Vgl. etwa Robbers, Sicherheit, S. 29 ff.; Hermes, Schutz, S. 168 ff. 153 So wiederum Robbers, Sicherheit, S. 97 ff.; Hermes, Schutz, S. 178 ff. 154 Grimm, Grundrechtsverständnis, S. 221 (224); ders., Die Grundrechte im Entstehungszusammenhang, S. 67 ff. 155 Grimm, Die Grundrechte im Entstehungszusammenhang, S. 80. Zur Herausbildung und Durchsetzung einer über dem Gesetzesrecht stehenden Verfassungsebene in Nordamerika um 1780: Wood, American Republic, S. 275 ff.
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
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Zwar nannten einige - vor der Bundesverfassung von 1789 entstandene Verfassungen der Einzelstaaten die Sicherheit des einzelnen in ihrem Grundrechtekatalog. Damit wurde i.d.R. jedoch keine selbständige Rechtsposition begründet, sondern verfassungsrechtlich geschützt wurden Freiheitsrechte, um dadurch den einzelnen in die Lage zu versetzen, selbst Sicherheit und Glück erstreben und erlangen zu können. 1 5 6 Kennzeichnend für diese Bestimmungen ist die Verknüpfung von Glück und Sicherheit. Dieser Kontext unterstreicht den Charakter der Sicherheit als Zwecksetzung der Grundrechte und kontrastiert die Werte Sicherheit und Glück von den normativen Garantien. In ähnlicher Weise nennen andere Verfassungsbestimmungen die Sicherheit als Staatszweck. 157 Auch sie verwenden den Begriff der Sicherheit mithin als Zwecksetzung, jedoch nicht bezogen auf die Ziele des einzelnen, sondern - vergleichbar einer Staatszielbestimmung auf den Zweck und die Rechtfertigung des Staatsganzen. Im Sinne einer Schutzpflicht können allenfalls Bestimmungen in einigen wenigen Verfassungstexten gelesen werden, welche das „Recht, im Genuß von Leben, Freiheit und Eigentum geschützt zu werden" verbürgen, 158 aber auch hier ist eine solche Interpretation nicht zwingend. Entscheidend für die Grundrechtsentwicklung in den USA und den Einfluß des amerikanischen Grundrechtsschutzes auf Europa sind die ersten zehn Zusatzartikel der Bundesverfassung, die sog. Bill of Rights aus dem Jahre 1791. In ihnen wie auch im ursprünglichen Verfassungstext selbst tauchen unmittelbare staatliche Schutzverpflichtungen nicht auf. 1 5 9 Da private Macht als nicht freiheitsgefährdend empfunden wurde, zogen die Verfassungsväter eine unmittelbare Wirkung verfassungsrechtlicher Grundrechte auch nicht in Erwägung. 1 6 0 Eine von James Madison vorgeschlagene Prä156 Vgl. Art. 1 Virginia Declaration of Rights (1776); Präambel und Art. 1 Verfassung von Massachusetts (1780) - jeweils zit. n. Jellinek, Erklärung, S. 16 f.; Art. 1 Pennsylvania Declaration of Rights (1776) - zit. n. Giegerich, Privatwirkung, S. 94. Die Rechteerklärung von Virginia hatte eine Vörbildfunktion für die meisten späteren Rechteerklärungen (vgl. die vorstehend sowie in Fn. 157 genannten Texte), Pieroth, Jura 1984, 568 (572). In gleicher Weise formulierte auch die Unabhängigkeitserklärung (Declaration of Independence) von 1776 in Art. 1, zit. n. Hermes, Schutz, S. 171. 157 Vgl. Art. 3 Verfassung von New Hampshire (1783); Art. 5 Pennsylvania Declaration of Rights (1776) - jeweils zit. n. Jellinek, Erklärung, S. 23. 158 Vgl. Art. 8 Pennsylvania Declaration of Rights (1776) - zit. n. Giegerich, Privatwirkung, S. 94. 159 So enthielt etwa die due process clause des Zusatzartikels V nur die Garantie von „life, liberty, or property" und verzichtete auf die Nennung von „safety" oder „security". 160 Giegerich, Privatwirkung, S. 47 ff., 63 ff. u. 72. Zu der Frage, inwieweit einzelnen Bestimmungen in der Rechtsprechung des Supreme Court eine Drittwirkung zuerkannt wurde, siehe a.a.O., S. 72 ff.
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ambel zur Bill of Rights, in der er - vergleichbar mit den gliedstaatlichen Verfassungen - ein Recht auf Streben nach Glück und Sicherheit verankern wollte, 1 6 1 wurde fallengelassen, weil man diese Formulierung als überflüssig ansah, ihr mithin keinen Regelungsgehalt beimaß. 1 6 2 „Sicherheit" („security") wird in der amerikanischen Bundesverfassung - im Einklang mit dem heutigen gemein-europäischen Verständnis des Begriffes 163 - ausdrücklich nur als Sicherheit vor staatlichen Gewalt- und Willkürmaßnahmen und insbesondere vor unberechtigten Durchsuchungen und Inhaftierungen gewährleistet. 164 Das Sicherheitskonzept der US-Verfassung und ihrer Autoren wich von demjenigen heutiger, in den Grundrechten verankerter Schutzpflichtenkonzepte wesentlich ab: Ganz im Sinne eines Abwehrrechtes sollten staatliche Stellen daran gehindert werden, dem einzelnen Sicherheit zu nehmen bzw. ihn von der Erlangung eines Status der Sicherheit abzuhalten. 165 In dieser Konsequenz steht auch die durch den Supreme Court der USA seit 1876 entwickelte „State action"-Doktrin, welche eine Privatwirkung der für die Gliedstaaten der Union i.d.R. aus dem 14. und 15. Zusatzartikel abgeleiteten Grundrechte ablehnte. 166 bb) Frankreich Nicht ganz so eindeutig verlief hingegen die französische Entwicklung. Montesquieu verstand unter Sicherheit auch die Abschirmung gegenüber privaten Störern, wenn er etwa den Schutz vor willkürlichen Anklagen oder 161
Siehe bei Schwartz, Roots, S. 1026. 162 Ygj Giegerich, Privatwirkung, S. 94.
163 Vgl. Art. 5 Abs. 1 EMRK; hierzu: Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRKKommentar, Art. 5 Rz. 7 m.w.N.; zum französischen Verständnis als Quelle dieser Begriffsauslegung: siehe a.a.O., Rz. 4 sowie unten Fn. 169. 164 So im Zusatzartikel IV. 165 Es ist versucht worden, die Beschränkung der Sicherheit auf eine abwehrrechtliche Bedeutung mit der für die Gründungsjahre des amerikanischen Bundesstaates spezifischen Situation einer nur geringen Präsens staatlicher Macht zu erklären (so Robbers, Sicherheit, S. 53). Die Sicherheitskonzeption des Bundesverfassung kann mit dem Hinweis auf die erst sukzessive Konsolidierung der Staatsmacht allerdings nicht in die Rolle eines verfassungsgeschichtlichen Sonderfalles abgedrängt werden, da die defizitäre Durchsetzung eines staatlichen Gewaltmonopols im 18. und 19. Jahrhundert zwar für die jeweilige, stetig nach Westen vorrückende „Frontier-Region" kennzeichnend gewesen sein mag, nicht jedoch für die bereits früh urbanisierte und im Hinblick auf ihre öffentlichen Institutionen in vieler Hinsicht den europäischen Staaten ebenbürtige Küstenregion, in der die überwiegende Mehrzahl der Bürger lebte. 166 Diese Judikatur beginnt mit dem Fall United States v. Cruikshank, U.S.-Reports Bd. 92, S. 542 ff. (1876). Vgl. zur „state action"-Doktrin Nowak/Rotunda, Constitutional Law, S. 470 ff.; Giegerich, Privatwirkung, S. 190 ff. u. zusammenfassend S. 214 f. m.w.N.
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
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vor Verbrechen eines anderen Bürgers dem Staat als Aufgabe überantwortete. 1 6 7 In der Folgezeit maßen die Physiokraten und die von ihnen beeinflußten Lehren der Sicherheit den Charakter eines subjektiven Rechts bei. Die Sicherheit war für sie neben der Freiheit und dem Eigentum ein Zentralbegriff der Rechte der Bürger. 1 6 8 Es ist aber nicht ohne weiteres ersichtlich, ob dieser Ansatz in der Verfassungsgebung der französischen Republik aufgegriffen wurde. Zwar wird in Art. 2 der Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 die Sicherheit („la sûreté") neben Freiheit, Eigentum sowie dem Widerstandsrecht gegen Unterdrückung zu den „natürlichen und unwandelbaren Menschenrechten" gezählt. Die Literatur legt den Begriff der Sicherheit in dieser Bestimmung jedoch ganz einhellig im Sinne eines bloßen Rechts auf Schutz vor willkürlicher Verfolgung und Verhaftung seitens staatlicher Organe aus und begründet dies überwiegend mit dem systematischen Zusammenhang zu den Art. 7-9, welche die in Art. 2 genannten Rechte entfalten und konkretisieren. 169 Mit dieser Orientierung an den habeas-corpus-Garantien wird ferner dem Umstand Rechnung getragen, daß die französische Menschenrechtserklärung eng an die amerikanischen Rechteerklärungen anknüpft und in weiten Teilen der Bill of Rights der Bundesverfassung nachgebildet i s t . 1 7 0 Ein etwas anderes Bild ergibt sich, wenn man auf den unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklungsstand in den USA und Frankreich am Ausgang des 18. Jahrhunderts und auf die unterschiedliche Rechtsqualität der „Grundrechte" abstellt. 171 Im Gegensatz zu den amerikanischen Staaten wies Frankreich noch keine freiheitliche Sozialordnung auf, so daß die Menschenrechte weniger einen faktisch bereits erreichten Freiheitsstand gegenüber staatlichen Eingriffen absichern sollten, sondern vornehmlich als Programmsätze zu einer liberalen Umgestaltung der Gesellschaft verstanden werden können. Instrument dieser Umgestaltung war das einfache Gesetzesrecht. Folglich waren die Menschenrechte in Frankreich auch nicht als subjektive Abwehrrechte gemeint und wurden erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingeschränkt justitiabel. Ob aus dem französischen Verständnis der Grundrechte als Programmsätze einer Umwälzung der Gesellschaft im Wege einer Umgestaltung der Rechtsordnung eine Parallele zur heutigen Herleitung grundrechtlicher Schutz167 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Buch XII Kap. 20 u. 4 (Band 1, S. 280 f. u. 260 ff.). 168 Ygi Robbers, Sicherheit, S. 57 ff. unter Hinweis auf Pierre Paul LeMercier de la Rivière und François Quesnay, a.a.O., S. 58 f. m. Nachw. 169 Rivero, Les libertés publiques II, S. 24; Robert, Libertés publiques, S. 220; vgl. a. Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 5 Rz. 4 m.w.N. sowie Samwer, Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 26 m.w.N.; a.A. Robbers, Sicherheit, S. 64. 170 Jellinek, Erklärung, S. 12. 171 Grimm, Grundrechtsverständnis, S. 221 (225 f.); Unruh, Dogmatik, S. 40 f.
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pflichten gezogen werden kann, ist damit allerdings nicht dargelegt. Der Stand der gesellschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland wies bei Beginn der Schutzpflichtendogmatik, aber auch schon bei der Entstehung des Grundgesetzes - trotz der nationalsozialistischen Gleichschaltung von Staat und Gesellschaft zwischen 1933 und 1945 1 7 2 - eine größere Affinität zu der freiheitlichen Sozialordnung der entstehenden amerikanischen Republik und ihrem Konzept einer Trennung von Staat und Gesellschaft auf als zu dem noch von einem absolutistischen Staats- und Gesellschaftsverständnis geprägten Frankreich der Revolutionszeit. Das Schutzpflichtenkonzept des gegenwärtigen deutschen Verfassungsrechts ist an der Bewahrung von Rechts- und Freiheitssphären orientiert und weicht damit ganz wesentlich von dem „revolutionierenden" Charakter grundrechtlicher Programmsätze ab. Diese wiederum haben nicht notwendigerweise den Schutz unter Privaten zu ihrem programmatischen Inhalt. Soweit man im bundesdeutschen Verfassungsrecht eine Entsprechung dieser Programmsätze der französischen Rechteerklärung sucht, dürfte man daher eher in den Staatszielbestimmungen und Staatsprinzipien sowie - innerhalb der Grundrechtsfunktionen - in den Aspekten eines Grundrechtsschutzes durch Teilhabe sowie durch Organisation und Verfahren fündig werden. cc) Deutschland Im deutschen Rechtsraum statuierte das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 (ALR) ein Recht ,,jede[s] Einwohner[s] des Staats ... den Schutz desselben für seine Person und sein Vermögen zu fordern" (Einleitung § 76). Wenn es sich hierbei auch nicht um eine Verfassungsnorm, sondern um eine einfachgesetzliche Regelung handelt, verdient sie dennoch Beachtung, denn sie beschränkt sich nicht auf eine objektive Verpflichtung des Staates, sondern gewährt ein individualisiertes, einklagbares Recht auf Schutz. 173 Es erscheint auf den ersten Blick nicht ausgeschlossen, dieser Vorschrift für die Herleitung einer staatlichen Schutzpflicht und eines Individualanspruchs auf Schutz eine Renaissance zuteil werden zu lassen wie sie die im ALR unmittelbar benachbarte Norm des § 75 Einleitung in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Begründung von Enteignungs- und Aufopferungsansprüchen zeitweilig erlebte. 174 172 Siehe hierzu Stern, Staatsrecht V, S. 784 ff.; Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 320 ff. 173 Kleinheyer, Geschichtliche Grundbegriffe II, S. 1062; Robbers, Sicherheit, S. 91 f. m.w.N. 174 Der BGH begründete den Aufopferungsanspruch mit „dem in § 75 Einl. ALR enthaltenen Rechtsgrundsatz", BGHZ 9, 83 (85 f.); 13, 88 (91). In der Literatur ebenso für eine gewohnheitsrechtliche Fortgeltung dieses Rechtsgedankens: Depenheuer, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 14 Rz. 493; Kunig, Jura 1992,
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Der Vergleich mit dieser BGH-Rechtsprechung zeigt, daß § 76 Einleitung ALR trotz seines nur einfach-gesetzlichen Ranges eine nicht unwesentliche Bedeutung für die Begründung eines Schutzanspruches erhalten könnte: Sein Inhalt könnte ebenso als gewohnheitsrechtlich weitergeltender Rechtsgedanke Judikatur und Exekutive binden und eine Lücke ausfüllen, deren Annahme im geschriebenen Verfassungsrecht jedenfalls vertretbar erscheint. Die Option einer solchen mittelbaren Fortgeltung, ist für § 76 Einleitung ALR angesichts seiner Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte indes verschlossen. Die Bedeutung der Vorschrift blieb sowohl in der Literatur 1 7 5 als auch in der Rechtsprechung 176 äußerst gering. Die Aufnahme eines Rechts auf Schutz in das Allgemeine Landrecht bildete nicht nur einen „kodifikatorischen Höhepunkt" 1 7 7 des Rechts auf Sicherheit in Deutschland, sondern auch einen - zumindest - vorläufigen Schlußpunkt einer Positivierung des Schutzgedankens. Das Rechtssystem hatte sich in der Epoche des Frühkonstitutionalismus vom gesellschaftsvertraglichen Denken gelöst und vermochte die Idee der Sicherheit nicht sinnvoll in das geschrieben Recht einzuordnen. 178 In den Verfassungen der deutschen Länder taucht ein entsprechendes Recht im 19. Jahrhundert nur vereinzelt auf und meint dann i.d.R. ausschließlich Sicherheit vor willkürlicher Verfolgung, Verhaftung sowie die übrigen justiziellen Grundrechte. 179 Zwischen der Schutzpflicht des § 76 Einleitung ALR und dem Grundgesetz wurden mögliche Verbindungslinien somit bereits im 19. Jahrhunderts gekappt. Leistungsansprüche der Lehnsnehmer und Untertanen auf Gewährung von Schutz existierten noch bis ins 19. Jahrhundert hinein als überkommene Elemente der spätmittelalterlichen Feudalverfassung. 180 Mitunter wur554 (555); Schmitt-Kammler, JuS 1995, 473; vgl. hierzu auch Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 124 ff. 175 § 76 Einl. ALR wurde in der Kommentarliteratur i.d.R. gänzlich übergangen, vgl. Robbers, Sicherheit, S. 93 f. Selbst im neueren Schrifttum wird § 76 - im Gegensatz zu den §§ 74 f. - offenbar als „Grundrechtsnorm" übersehen, vgl. Hucko, NJW 1994, 1449 (1451). 176 Eine Ausnahme bilden zwei Entscheidungen des Preußischen Obertribunals, Archiv für die Rechtsfälle des Ober-Tribunals Bd. 19, S. 100 (102 ff.) [1856]; Bd. 62, S. 100 (118) [1867], in denen § 76 Einl. ALR herangezogen wurde, um zum einen die Pflichten eines gerichtlich bestellten Kurators zum Schutz unbekannter Interessen an einem Nachlaß (Bd. 19) und zum anderen die Klagebefugnis bei Bestreiten eines dinglichen Rechts herzuleiten (Bd. 62). 177 Robbers, Sicherheit, S. 91. 178 Vgl. Robbers, Sicherheit, S. 94, der dies allerdings im Sinne eines Erinnerungsschwundes an ein ursprünglich anerkanntes Recht deutet, vgl. a.a.O., S. 106. 179 Robbers, Sicherheit, S. 99 f. Lediglich die Verfassungen Sachsens von 1831 (§ 24), des Kurfürstentums Hessen von 1831 (§ 19) und die „Neue Landschaftsordnung" Braunschweigs von 1832 (§ 28) enthalten noch staatliche Schutzverpflichtungen, die als subjektive Rechte interpretierbar sind, a.a.O., S. 100 (Fn. 119 f.).
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den diese Rechte auch als Anknüpfungspunkt für verfassungspolitische Forderungen fruchtbar gemacht. Die Anhänger des politischen Liberalismus erkannten in ihrer Mehrzahl jedoch, daß sich diese ständischen Privilegien fundamental von der prinzipiell unbegrenzten Freiheit des in der amerikanischen und französischen Revolution postulierten Verfassungsstaates unterschieden. 181 In der Dichotomie zwischen einer natürlichen und allgemeinen Freiheit und den gewährten, sachlich jeweils begrenzten Freiheiten spitzte sich der Gegensatz von Verfassungs- und Obrigkeitsstaat z u . 1 8 2 Die im Verfassungsstaat moderner Prägung anerkannte vorstaatliche Freiheit konnte darum auch nicht mehr unmittelbar an feudale oder ständische Schutzrechte anknüpfen. Die frühen Grundrechtskataloge insbesondere in den süddeutschen Territorien entstanden zu einem Zeitpunkt als die traditionelle Sozialordnung noch längst nicht überwunden war. Die Verfassungsgeber verstanden die Grundrechte dabei nicht als Handlungsaufträge an den Staat oder Postulate eines gesellschaftlichen Wandels, vielmehr sollten sie den Stand der sozialen Entwicklung nachzeichnen, indem sie etwa zwischen den - bereits erreichten - allgemeinen Rechten der Staatsbürger und den besonderen Rechten bevorrechtigter Klassen unterschieden. 183 Der Grundrechtskatalog der Frankfurter Reichsverfassung von 1848/49 (FRV) sicherte vor allem die individuellen Freiheitsrechte gegen willkürliche Staatseingriffe, 184 während sich soziale Grundrechte im Beratungsverfahren nicht durchsetzen konnten. Die Verfassung blieb damit ein „klassischer Ausdruck der Rechtsauffassung des bürgerlichen Liberalismus". 185 Ihre Grundrechte, die nach ihrer Vörabverkündung von einer ganzen Reihe - vorwiegend süddeutscher - Einzelstaaten als bindendes Recht anerkannt wurden, bildeten ein wichtiges Element der Sanktionierung und Stabilisie180
Nicht nur für die Lehnsverhältnisse freier Herren, sondern auch für die Rechtsbeziehung zwischen Grundherren und Hintersassen wird diese Wechselbezüglichkeit von Treue und Gehorsam des Grundholden einerseits und Schutz und Schirm des Grundherren andererseits angenommen, siehe hierzu Schulze, Grundstrukturen, S. 97 f.; vgl. aber auch die Kritik an der Reziprozität grundherrschaftlicher Beziehungen, oben Teil 2 B.I.2.a). 181 Dipper, Geschichtliche Grundbegriffe II, S. 488 ff.; für ein Freiheitsverständnis im letzteren Sinne entschied sich auch die Paulskirchenverfassung, vgl. G. Gervinus, Einleitung, S. 93. 182 Nicht übersehen werden darf hingegen, daß im 18. Jahrhundert z.T. auch aus althergebrachten Freiheitsrechten allgemeine Rechtsvermutungen zugunsten freiheitlicher Vorstellungen abgeleitet wurden und vereinzelt normative Bedeutung erlangten, Schmidt, Geschichte, S. 99. 183 Wahl, Der Staat Bd. 18 (1979), S. 321 (335 ff.) m.w.N. 184 Hermes, Schutz, S. 178. 185 Karl-Georg Faber, zit. n. Langewiesche, Liberalismus, S. 62.
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rung der revolutionären Errungenschaften. 186 Hatte man in der Bewertung dieser Grundrechte lange Zeit den Standpunkt vertreten, sie seien „ausschließlich als Freiheitsrechte gedacht", die „dem Individuum eine staatsfreie Sphäre schaffen" wollten, 1 8 7 so ist nunmehr nachgewiesen worden, daß die Grundrechte der Paulskirchenverfassung über eine rein individualistische und abwehrrechtliche Dimension hinausgreifen. 188 Insbesondere die Art. X - X I I I (§§ 174-188) FRV schützen keinen vorgefundenen gesellschaftlichen Bereich vor staatlichen Ingerenzen, sondern schaffen und eröffnen dem Grundrechtsträger erst ein Betätigungsfeld. 189 Mit der Regelung etwa des Justizwesens, der kommunalen Selbstverwaltung (Art. X f. FRV) sowie des Unterrichts- und Erziehungswesens (Art. V I §§ 153 ff. FRV) enthält die Paulskirchenverfassung Bestimmungen, welche seit Carl Schmitt unter dem Begriff der institutionellen Garantien firmieren. 1 9 0 Die Paulskirchenverfassung wird angesichts dieser Grundrechtsdimension, die teilhabegewährleistende und politische Inhalte miteinschließt (vgl. §§ 178, 184 f. sowie §§ 181, 186 f. FRV) zu Recht als staatszugewandt charakterisiert. 191 Der positive Gehalt der Frankfurter Grundrechte erschöpft sich allerdings in dieser institutionellen Garantiefunktion. Selbst da, wo der Verfassungstext Rechtsverhältnisse unter Privaten ins Visier nimmt, indem er „Untertänigkeitsverbände" auflöst oder die „Patrimonialgerichtsbarkeit" auflöst, trifft er staatsbezogene Regelungen: Er ersetzt im heutigen Sinne weder als staatlich noch als privat zu bezeichnende, Hoheitsgewalt ausübende Institutionen durch moderne staatliche Einrichtungen und Rechtsregime. Als Ausfluß des Gleichheitssatzes formiert erst dieser Abbau von Privilegien eine Gesellschaft gleichberechtigter Privater. Ein Recht auf Sicherheit oder eine Schutzpflicht unmittelbar gegen private Übergriffe - etwa des nur seiner Standesvorrechte, im wesentlichen jedoch nicht seiner wirtschaftlich überlegenen Stellung entkleideten Adels - findet sich im Verfassungstext jedoch nicht. Die wenigen Erwähnungen, welche die Idee einer staatlichen Schutzverpflichtung noch in den Beratungen der Nationalversammlung fand, 1 9 2 zeugen von der mangelnden Relevanz dieser Idee für die Paulskirchenverfassung. Das politische und juristische Denken dieser Zeit unterschied damit klar die Rolle der Verfassung und die des nunmehr demokratischen Gesetzgebers. Während erstere mit den Freiheitsrechten Schutz vor der Staats186
Mommsen, Revolution, S. 264. So Planitz, Ideengeschichte, S. 615. 188 Kühne, Reichsverfassung, S. 162 ff.; ihm folgend: Fiedler, AöR 114 (1989), S. 497 (499); Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1, S. 347. 189 Kühne, Reichs Verfassung, S. 163. 190 Schmitt, Verfassungslehre, S. 171, der die institutionellen Garantien jedoch von den Grundrechten abgrenzt, a.a.O., S. 170 f. 191 Kühne, Reichsverfassung, S. 172. 192 Vgl. hierzu Robbers, Sicherheit, S. 111 ff. 187
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gewalt zu gewähren hatte, wurde der Schutz gegen Übergriffe von Mitbürgern den (Straf-)Gesetzen zugeordnet. 193 In der zur Epoche des Spätkonstitutionalismus zu rechnenden Reichsverfassung von 1871 (RV) sowie in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 (WRV) fehlen auf die Garantie von Sicherheit gerichtete Grundrechtsbestimmungen. Der Sicherheitsgedanke wird ausschließlich objektiv verstanden und findet seinen Platz in der allgemeinen Zweckbestimmung des Staates. 1 9 4 Die Verfassung des Kaiserreichs verzichtete ganz auf Grundrechte. 195 Lediglich für den Sonderfall des Schutzes Deutscher im Ausland sah Art. 3 Abs. 6 RV einen Anspruch gegenüber dem Reich vor. Selbst dieses Recht wurde in der Literatur z.T. nur als Rechtsreflex angesehen und war in Ansehung der Systematik und der Entstehungsgeschichte des Verfassungstextes jedenfalls einer Verallgemeinerung als Anspruch auf Schutz auch im Inland nicht zugänglich. 196 Das Recht auf Auslandsschutz wurde zwar in der Weimarer Reichsverfassung aufgenommen (Art. 112 Abs. 2 WRV). Ein Recht auf Sicherheit wurde als Teil des Grundrechtskataloges in den Beratungen zur Weimarer Reichsverfassung jedoch nicht diskutiert. 197 Bestimmungen zum Schutze von Ehe, Familie und Mutterschaft (Art. 119 WRV), der Jugend (Art. 122 Abs. 1 WRV), der körperlichen und geistigen Arbeitskraft (Art. 157 Abs. 1, 158 Abs. 1 WRV), der Gesundheit (Art. 161 WRV) sowie des selbständigen Mittelstandes (Art. 164 WRV) wurden lediglich im Sinne objektiver Schutzpflichten des Staates gedacht 198 und stehen so in einer Linie mit Bestimmungen etwa zum Schutze der Kultur- und Naturdenkmäler (Art. 150 Abs. 1 WRV) oder der Ordnung des Wirtschaftslebens (Art. 151 WRV). Fast alle ihre Inhalte finden sich gegenwärtig entweder im Grundgesetz (Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft in Art. 6 GG) oder auch nur in Landesverfassungen wieder. Von ihrer unter dem Grundgesetz teilweise anerkannten Bedeutung auch als subjektive Rechte 1 9 9 kann jedoch nicht auf einen entsprechenden Status in der Weimarer Verfassung geschlossen wer193 Vgl. hierzu etwa die Ausführungen des Abgeordneten Hensel (Zittau) zum Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, zit. n. Robbers, Sicherheit, S. 112. 194 Robbers, Sicherheit, S. 114. 195 Laband, Staatsrecht I, S. 150 f.; Stern, Staatsrecht III/l, S. 118 ff. 196 Jellinek, System, S. 119 f., der damit auch Labands These, ein „Schutz im Auslande und Schutz im Inlande" sei zwar nicht als Grundrecht, jedoch als (subjektives) „Reichsbürgerrecht" garantiert (Laband, Staatsrecht I, S. 152), entgegentrat. 197 Robbers, Sicherheit, S. 116. 198 Robbers, Sicherheit, S. 117. 199 Vgl. zu Art. 6 Abs. 1 GG die Entscheidung BVerfGE 6, 55 (71), welche den Abwehrrechtscharakter mit den „Erfahrungen in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft" begründet; femer BVerfGE 6, 386 (388); 55, 114 (126 f.).
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den. Die Schutzrichtung der subjektiven Freiheitsrechte i.e.S. wie Meinungs- und Glaubensfreiheit, Freizügigkeit, Freiheit der Person und Gewerbefreiheit war eine rein negatorische. 200 Freiheit bedeutete „Freiheit vor dem Staat" 2 0 1 bzw. „Freiheit von ungesetzlicher Einschränkung eines Subjekts im Gebrauche seiner natürlichen Kräfte und seiner privaten Rechte von Seiten der öffentlichen Gewalt" 2 0 2 . Aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes schließlich verdient Aufmerksamkeit - nicht zuletzt im Hinblick auf den thematischen Ausgangspunkt der Schutzpflichtenlehre des Bundesverfassungsgerichts - die Debatte im Parlamentarischen Rat um die Einfügung eines expliziten Schutzes für das keimende Leben. 2 0 3 Daß der Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates gegen eine solche Ergänzung des Verfassungsentwurfs votierte, 2 0 4 kann nicht als entstehungsgeschichtliches Argument gegen einen Schutzpflichtenaspekt der Grundrechte gedeutet werden, da ein Großteil der Abgeordneten in ihrer ablehnenden Haltung davon ausging, daß das - im seinerzeit aktuellen Entwurf bereits enthaltene - „Recht auf Leben" das keimende Leben mitumfasse. 205 Ferner war zum Zeitpunkt der Ablehnung dieses Ergänzungsantrages noch eine - erst später gestrichene - Verbürgung eines ,,Recht[s] auf ... persönliche Freiheit und Sicherheit", die den heute geltenden Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ergänzen sollte, in der Diskussion. 206 Einen Unterschied zwischen einem „Recht" und einem Schutzauftrag sahen die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates dabei offenbar nicht. Die Äußerung des Abgeordneten und späteren Bundespräsidenten Theodor Heuß, daß man in die Verfassung nicht Dinge hineinnehmen möge, die im 200
Schwarz, JZ 2000, 126 (128). Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 114 Anm. 1. 202 Thoma, in: Anschütz/Thoma, HdbStR, § 102, S. 607 (619). 203 Antrag des Abg. Seebohm (DP) auf Ergänzung des Art. 2 u. a. um folgenden Satz: „Das keimende Leben wird geschützt.", DP-Antrag, Drs. 398 v. 16.12.1948. 204 Siehe hierzu Matz, in: von Doemming/Füßlein/Matz, JöR n.F. Bd. 1 (1951), S. 61. 205 So für die CDU-Fraktion die Abg. Weber (CDU) sowie der Abg. Heuß (FDP) im Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates, zit. n. Matz, in: von Doemming/ Füßlein/Matz, JöR n.F. Bd. 1 (1951), S. 61. Für die SPD vertrat der Abg. Greve in der gleichen Sitzung den gegenteiligen Standpunkt, vgl. Matz, a.a.O., S. 61. Der erstgenannten im Plenum von Weber wiederholten Position schloß sich auch Seebohm (DP) an, Stenogr. Ber. 218 u. 223 der 10. Plenumssitzung v. 8.5.1949, zit. n. Matz, a.a.O., S. 61 (Fn. 56). 206 Siehe Matz, in: von Doemming/Füßlein/Matz, JöR n.F. Bd. 1 (1951), S. 58 ff. Die persönliche Freiheit wurde in diesem Kontext im Gegensatz zur freien Persönlichkeitsentfaltung offenbar in dem Sinne verstanden, der heute Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG beigemessen wird, während das Recht auf Sicherheit der Person als „Ausfluß" dieser persönlichen Freiheit angesehen wurde; so der Allg. Redaktionsausschuß, zit. n. Matz, a.a.O., S. 59. 201
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Strafgesetzbuch geregelt seien, 207 deutet aber an, daß der Gedanke einer in der Verfassung bzw. in den Grundrechten verorteten Pflicht zum Schutz gegen privates Handeln den Abgeordneten neu war und sie einen solchen Schutz im Einklang mit der überkommenen Rechts- und Verfassungsordnung als eine Aufgabe v.a. des einfachen Gesetzesrechts ansahen. Daß das Grundgesetz aber durchaus Anknüpfungspunkte für ein modifiziertes, über eine rein negatorische Prägung hinausgehendes Freiheitsverständnis enthielt, 2 0 8 zeigt die in Art. 1 Abs. 1 S. 2 konstituierte Pflicht zu Achtung und Schutz der Menschenwürde, die als Prototyp der grundrechtlichen Schutzpflichten Bedeutung erlangen sollte. 2 0 9 b) Der Vorrang der Abwehrfunktion aus strukturellen Gründen Neben die rechtshistorische Betrachtung tritt notwendigerweise eine strukturelle Beobachtungsebene, wenn es um die Bestimmung der klassischen und originären Grundrechtsgehalte geht. Im Rahmen der „Drei-Stufen-Teleologie des Verfassungsstaates" 210 sind die Grundrechte nicht nur historisch, sondern auch systematisch dem Schutz vor staatlicher Willkür bietenden, liberalen Rechtsstaat zuzuordnen, denn die grundrechtliche Gewährleistung der Freiheitssphären der Menschen gegen staatliche Eingriffe verkörpert keinen Staatszweck, sondern sie begrenzen die der staatlichen Macht zur Verfügung stehenden Handlungsinstrumente, 211 sind folglich dazu geeignet, auch die Verfolgung eines Staatszwecks Sicherheit zu erschweren. Dies bedeutet weder eine Negation der Fortentwicklung des Staates zu einem auf demokratische Teilhabe ausgerichteten Sozialstaat noch eine Leugnung des Einflusses sozialstaatlicher Entwicklungen auf die Grundrechtsgehalte. Da der gleichbleibende Sinn der Grundrechte in der Sicherung personaler Freiheit besteht, müssen unter den neuen Rahmenbedingungen auch die Schutz- und Förderungskomponenten als integrale Bestandteile verfassungsrechtlicher Freiheitssicherung verstanden werden. 2 1 2 Die Idee der Grundrechte lebt jedoch vom negatorischen, reinen Freiheitsbegriff und die Grundrechte sichern primär die Distanz zwischen Staat und 207
Zit. n. Matz, in: von Doemming/Füßlein/Matz, JöR n.F. Bd. 1 (1951), S. 61. Hierzu im einzelnen Teil 3 B.III.2.e)bb). 209 Vgl. hierzu zum einen die ersten Judikate zur Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG, oben Teil 3 A.I.l.a) und 2. sowie zu Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG eingehend unten Teil 3 B.III.2.a). 210 Diese in der Verwendung des Wortes „Teleologie" etwas mißverständliche, aber prägnante Zusammenfassung der dreistufigen Entwicklung modemer Staatlichkeit (s.o. Teil 2 B.II., Nachw. in Fn. 100) stammt von Isensee, JZ 1999, 265 (271). 211 Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 105. 212 Dreier, Dimensionen, S. 54 f.; ähnlich: Lerche, HdbStR V, § 121 Rz. 6. 208
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
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Gesellschaft. 213 Sie sind Ausdruck der Bändigung staatlicher M a c h t 2 1 4 und von der strukturellen Besonderheit des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft auf der einen sowie Staatsgewalt auf der anderen Seite geprägt. Die Tendenz, aus den Grundrechten in immer größerem Ausmaß Teilhabeansprüche, Schutzpflichten und Drittwirkungen herauszulesen, darf die Abwehrfunktion nicht verdrängen. 215 „Wiederentdeckt" wurden unter dem Grundgesetz, in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht und der Staatsrechtsliteratur, demnach allenfalls eine Staatsaufgabe und ein Staatszweck, die aber in zentralen Rechtsgebieten wie dem Straf- und Polizeirecht stets präsent waren. Dieser Staatszweck weist ideengeschichtliche Bezüge zum Grundrechtsgedanken auf und wird nunmehr erstmalig innerhalb der Grundrechtsdogmatik nutzbar gemacht. Es handelt sich bei ihm hingegen nicht um eine „alte", normative Funktion der Grundrechte. Aufgrund dieser strukturellen Vorrangstellung der Abwehrrichtung bedarf die Herleitung einer Grundrechtsfunktion, die über diesen Abwehrcharakter hinausgeht, 216 ihm in der konkreten Rechtsanwendung sogar tendenziell zuwiderlaufen kann, einer gesonderten Begründung. 2 1 7 Es besteht auch keine Veranlassung dazu, die Verengung der Grundrechtsgehalte auf ihre Abwehrseite, welche auch von den Befürwortern eines Sicherheits- und Schutzpflichtenaspektes als ursprüngliche Grundrechtsfunktion in Deutschland jedenfalls für die zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konzediert wird, als einen „Tiefstand" der Grundrechtsbedeutung zu werten. 2 1 8 Es erscheint aus heutiger Sicht sehr fraglich, ob sich die Grundrechte als subjektive und v.a. einklagbare Rechte durchgesetzt hätten, wären sie in ihrer Entwicklungsgeschichte von vornherein mit der Multifunktionalität ausgestattet gewesen, die erst in jüngerer Zeit sukzessive entstanden ist und sich allmählich juristische und politische Akzeptanz verschaffen konnte. Die Beschränkung auf die für das liberale Denken der ersten politisch erfolgreichen Protagonisten der Grundrechtsidee zentrale Abwehrfunktion bildete das notwendige Fundament weiterer Grundrechtsaspekte. Daß 213
Di Fabio, Das Recht offener Staaten, S. 85; Schlink, EuGRZ 1984, 457 ff.; Seiwerth, Verfassungsbeschwerde, S. 19. 214 Isensee, Sicherheit, S. 27. 215 Vgl. Di Fabio, Das Recht offener Staaten, S. 89; Stern, Staatsrecht III/2, S. 1796 f.; siehe zum Primat der Abwehrfunktion auch BVerfGE 7, 198 (204 f.). 216 Zur These, daß es sich bei der Schutzpflichtenfunktion zwar nicht um einen mit der Abwehrfunktion gleichrangigen Aspekt, jedoch um einen Unterfall der Abwehrfunktion handelt, s.u. Teil 3 B.III.l.a). 217 Dietlein, Schutzpflichten, S. 52; Enders, in: Berliner Kommentar, vor Art. 1 Rz. 65 (Grundw. Okt. 2000). 218 So aber Leisner, Grundrechte, S. 224; Hermes, Schutz, S. 179, für den Konstitutionalismus ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 7*
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
v.a. objektive Inhalte interpretatorisch an die Grundrechte und nicht an andere Verfassungsbestimmungen geknüpft werden, liegt nicht zuletzt in der Erfolgsgeschichte der Grundrechte als Rechtsnormen, die ihren Status als bloße Programmsätze überwinden konnten, begründet.
3. Kompensationsargument Während Überlegungen zur Legitimation des Staates die Schutzpflichten aus der Existenz von Staatlichkeit an sich ableiten wollen, existiert daneben ein argumentativ enger geführter staatszweckbezogener Begründungsversuch der Schutzpflichten. Das sog. Kompensationsargument schließt nicht an die Staatlichkeit als solche an, sondern hat die Rechtsstellung des einzelnen im Blickpunkt. Es geht von dem Grundgedanken aus, daß wenn der Bürger durch den Eintritt in den Staat sein vorstaatliches Selbstbestimmungs- und Selbstverteidigungsrecht aufgibt, dieser Verlust mit einem Anspruch des Bürgers gegen den Staat auf effektiven Schutz kompensiert werden muß. 2 1 9 Anknüpfungspunkt dieser Argumentation ist das staatliche Gewaltmonopol. Auf den Rechtfertigungsgrund des Gewaltmonopols, auf den Staatszweck „Sicherheit", braucht dieser Ansatz nicht unmittelbar zurückzugreifen. Ein grundrechtlicher Bezug liegt dem Kompensationsargument näher als dem Staatszweck Sicherheit als solchem. Die Grundrechte ließen sich danach als genereller Schutz vor dem Mißbrauch des Gewaltmonopols deuten. Ihre Abwehrseite schützt vor einem „Zuviel" staatlichen Handelns in Gestalt übermäßiger Eingriffe in die private Freiheitssphäre. Die Schutzpflichtendimension übernähme hingegen den Schutz vor einem Mißbrauch des Gewaltmonopols durch Nichtgebrauch bzw. durch ein „Zuwenig" staatlichen Handelns. Mit der von Max Weber geprägten Kategorie des staatlichen Gewaltmonopols könnten wir demnach das - in der bisherigen Erörterung vermißte Bindeglied zwischen einem Staatszweck Sicherheit und den Grundrechten in Händen halten. 2 2 0 Indes ist es verfassungssystematisch auch nicht zwingend, jeglichen Schutz vor einem Mißbrauch des staatlichen Gewaltmonopols den Grundrechten zu überantworten. Ferner bedingen sich Gewaltmonopol und Staatlichkeit nicht denknotwendig gegenseitig. Heutige Staaten gründen sich zwar auf ein Gewaltmonopol, und jede Durchbrechung dieses Monopols 219 So etwa Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 104; Merten, Rechtsstaat, S. 60 ff.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 419; Höfling, Die liechtensteinische Grundrechtsordnung, S. 54; E. Klein, NJW 1989, 1633 (1635 f.); 220 So erkennt Isensee, FS Sendler, S. 55, eine Wandlung des deskriptiven Begriffs des Gewaltmonpols zu einem (Verfassungs-)Rechtsbegriff, der zur Begründung der grundrechtlichen Schutzpflicht herangezogen werden kann.
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
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wird als Schwäche der Staatsorgane gedeutet, jedoch ist es jedenfalls theoretisch denkbar, daß auch ein moderner Staat der Selbsthilfe zwischen seinen Mitgliedern größeren Raum gewährt. 221 Der Schluß von dem genuin sozialwissenschaftlichen Begriff des Gewaltmonopols auf ein Verfassungsprinzip müßte die Kluft zwischen Sein und Sollen überwinden und ist logisch daher nicht haltbar. 2 2 2 Kompensatorische Züge trägt ebenfalls der Versuch, die Schutzpflichtenfunktion als notwendige Konsequenz der Abwehrfunktion der Grundrechte darzustellen, indem man den Schutz vor dem Störer als Korrelat zu dem abwehrrechtlichen Schutz des Störers betrachtet. Ohne die Schutzpflicht würden die Grundrechte zum „Privileg des Rechtsbrechers 4 ' 223 . Beklagt wird eine Asymmetrie in einer einseitig auf Eingriffsabwehr fixierten Grundrechtsgewährleistung. 224 Diese Klage mag als rechtspolitisches Petitum, etwas für den Schutz der Opfer von Rechtsübergriffen zu tun, überzeugen. Als grundrechtsdogmatisches Argument setzt sie sich jedoch dem Einwand aus, daß eben diese Asymmetrie im Grundrechtsschutz zugunsten des Störers prinzipiell gewollt ist. Eine Verfassung, die dem Prinzip der Selbstbestimmung des einzelnen verpflichtet ist, kann diesen unmöglich gleichrangig mit dem Freiheitsprinzip für irgendeinen überindividuellen Zweck in die Pflicht nehmen; die Pflicht ist nach dem Grundgesetz daher ein „sekundärer ... und abgeleiteter, kein konstituierender Begriff'. 2 2 5 Die naturrechtliche Symmetrie von Rechten und Pflichten ist von einer rechtsstaatlichen Asymmetrie abgelöst worden. 2 2 6 Für Sicherheit und Schutz vor Übergriffen sorgt der Staat bereits um seiner eigenen Rechtfertigung willen. In der Demokratie tritt - unter der Prämisse, daß die Zahl der potentiellen Opfer von Übergriffen deutlich höher ist als die der „Störer" - hinzu, daß eine Regierung bereits aus politischem Kalkül zur Erhaltung ihrer Parlamentsmehrheit und zur Sicherung ihrer Wiederwahl Maßnahmen zur Erhaltung und Verbesserung der inneren Sicherheit ergreifen wird. Die Aufgabe der Grundrechte ist es hingegen, den Staat auch dort in seine Schranken zu verweisen, wo er zum Schutze der Menschen tätig wird und dabei die Freiheit einzelner (tatsächlicher oder vermeintlicher) Störer beschneidet. Soweit man von Kompensation reden möchte, sollen die Grundrechte auch den Umstand ausgleichen, daß der einzelne Adressat eines staatlichen Freiheitseingriffs vielfach keine politische 221 222
Brunner, Land und Herrschaft, S. 16; Bracher, Gefahrenabwehr, S. 111. So auch Schnur, DVP 1998, 443 (448) in Erwiderung auf Isensee (s. Fn.
220).
223 224 225 226
Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 85. Vgl. Hermes, Schutz, S. 205 f. Hofmann, GS Küchenhoff, S. 231 (241). Hermes, Schutz, S. 208.
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
Lobby besitzt. Nicht innerhalb der Grundrechtsdogmatik muß eine Asymmetrie verhindert werden, sondern die Grundrechte sind ihrerseits ein wesentliches Element, um eine staatliche Gesamtbalance zwischen Freiheit und Sicherheit herzustellen. Da für die Sache der Sicherheit aber bereits eine Reihe politischer sowie verfassungsrechtlicher Positionen außerhalb des Grundrechtskataloges streiten, müssen die Grundrechte zur Herstellung dieser Balance den Großteil ihres Gewichts zugunsten der Freiheit in die Waagschale werfen. Ähnlichen Bedenken begegnet der Versuch, aus der „Kontinuität des europäischen Staatsdenkens und der Verfassungsüberlieferung" dem in Art. 20 GG fixierten Rechtsstaatsprinzip die Funktion eines Fundamentes für die bürgerliche Friedenspflicht und das damit korrespondierende staatliche Gewaltmonopol und somit letztlich für die staatliche Schutzpflicht beizumessen. 2 2 7 Die staatstheoretische und sozialwissenschaftliche Bedeutung des „Schlüsselbegriffs" 228 Gewaltmonopol zieht nicht zwingend seine Zuordnung zum Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes nach sich. Das Gewaltmonopol kann ebenso als Inbegriff der in erster Linie einfachrechtlichen Eingriffsermächtigungen der Staatsgewalt und der straf- und zivilrechtlichen Schädigungsverbote der Bürger verstanden werden, ohne zum Verfassungsprinzip mit eigenständigem Regelungsgehalt 229 stilisiert zu werden. Ferner würde ein solcher - einmal unterstellter - Teilaspekt des Rechtsstaatsprinzips noch nicht für einen Bezug gerade zu den Grundrechten sprechen. Zwar ist eine besondere Verknüpfung zwischen dem Rechtsstaatsprinzip und der grundrechtlichen Sicherung des Individuums weithin anerkannt, 230 jedoch basiert diese auf dem Schutz „vor unangemessenen Einbrüchen des Staates in die Freiheit des Bürgers" 2 3 1 , bezieht sich also auf die klassische Abwehrfunktion der Grundrechte.
I I I . Grundrechtsendogene Herleitung: Text und Dogmatik der Grundrechte Da die Ideen- und Entstehungsgeschichte der Grundrechte sich ebensowenig wie Erwägungen aus der allgemeinen Staatslehre bzw. Staatszwecklehre 227
Götz, HdbStR III, § 79 Rz. 9; Dietlein, Schutzpflichten, S. 26. Isensee, FS Sendler, S. 46; siehe auch ders., FS Eichenberger, S. 28 ff. 229 Inwieweit das Gewaltmonopol allerdings im Verein mit einem „Selbstverteidigungsverbot" Privater ein Argument für eine Wertung staatlichen Schutzausfalls im Sinne eines hoheitlichen Eingriffs darstellen kann, dazu siehe u. Teil 3 B.III, l.a). 230 Stern, Staatsrecht I, S. 789 ff.; Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 20 VII Rz. 12 u. 23; Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 204; Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 Rz. 77. 231 Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 20 VII Rz. 12. 228
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
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als tauglich erweisen, die Schutzpflichtendimension der Grundrechte normativ zu tragen, ist die Herleitung dieser für die Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit mit bedeutenden Konsequenzen verbundenen Grundrechtsfunktion „Schutz" oder „Sicherheit" auf den Text und die Dogmatik der Grundrechte des Grundgesetzes verwiesen. 232
1. Grundrechtliche Schutzpflichten und Eingriffsabwehr Eine der grundlegenden Fragen innerhalb der Schutzpflichtendogmatik richtet sich auf das Verhältnis von Schutzpflicht und Abwehrrichtung der Grundrechte. Beide Funktionen weisen sowohl Parallelen als auch Gegensätze auf. Es geht ihnen gemeinsam um den Schutz des Individuums durch die Abwehr freiheitsgefährdenden oder -störenden Verhaltens. 233 Dieses entstammt einmal der staatlichen Sphäre in Form von (Grundrechts-)Eingriffen und das andere Mal der Rechtssphäre anderer Privatrechtsträger in Gestalt von störenden Übergriffen in die Rechtssphäre des Opfers. Andererseits stellt das i.d.R. positive Tun der Staatsorgane zum Schutz eines Bürgers vor seinen Mitbürgern zwar nicht notwendiger-, aber typischerweise einen Eingriff in die Freiheitsrechte des Störers dar; das der grundrechtlichen Schutzpflicht gehorchende Handeln des Staates aktiviert so die Abwehrfunktion der Grundrechte des Störers. Die Abwehrseite der Grundrechte kennzeichnet die klassische, als solche unbestrittene Funktion der Grundrechte. 234 Sollten sich die Parallelen zwischen Abwehr- und Schutzpflichtenfunktion ausreichend verdichten und die neuere Schutzpflichtfunktion auf die anerkannte Abwehrfunktion zurückführen lassen, so wäre damit eine kraftvolle und kaum angreifbare Begründung gelungen. 232 Für eine ausschließlich grundrechtsimmanente Herleitung der Schutzpflichten auch Hillg ruber, Schutz des Menschen, S. 147; Enders, in: Berliner Kommentar, vor Art. 1 Rz. 65 (Grundw. Okt. 2000). Die angesichts des in einigen Landesverfassungen ergiebigen Wortlauts (s.o. Teil 2 C.II) durchaus vielversprechende Option einer Herleitung aus Landesgrundrechten soll hier in Anbetracht des bundesverfassungsrechtlichen und bundesrechtlichen Untersuchungsschwerpunktes nicht weiter verfolgt werden. 233 Auf diese Parallele hat bereits Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rz. 3 (Stand: 1958), hingewiesen. Nicht überzeugend ist hingegen die von ihm ausgemachte weitere Parallele, der Abwehraspekt in beiden Konstellationen stehe im Gegensatz zu einer positiven Gestaltung wie der Staat sie bei den Leistungrechten zu erbringen habe; ein effektiver Grundrechtsschutz gegen Störungen Dritter verlangt in Wirklichkeit die Setzung von Vorgaben für Rechtsbeziehungen unter Privaten. Die entsprechenden staatlichen Gestaltungsmaßnahmen sind daher weder mit der von der Eingriffsabwehr postulierten staatlichen Passivität noch mit den auf eine staatliche Leistung gerichteten Ansprüchen vergleichbar. 234 S.o. Teil 3 B.II.2.
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
a) Eingriffsbegriff
und Handlungskriterium
Der folgende Abschnitt setzt sich mit der Frage auseinander, ob staatliches Unterlassen den Charakter eines Eingriffs annehmen kann, ob ein Eingriff mithin auch ohne ein staatliches Handeln vorliegen kann. Nach einer kurzen Darstellung der sog. „abwehrrechtlichen Lösung", die diese Frage bejaht, und der Wiedergabe der weitgehend kritischen Stellungnahmen in der Literatur, folgt eine Bewertung anhand der außerhalb des Verfassungsrechts entwickelten Elemente einer Unterlassenshaftung, insbesondere unter dem Gesichtspunkt einer notwendigen Garantenstellung des Staates. Die relative Ausführlichkeit dieser Bewertung rechtfertigt sich angesichts des Scheidepunktes, den die Bejahung oder Ablehnung der Abwehrdimension hinsichtlich der Schutzpflichtendiskussion markiert. aa) Die Schutzpflicht als Unterfall der grundrechtlichen Abwehrfunktion Die engste Verknüpfung von Schutzpflicht und Abwehrrecht läge in einem Aufgehen der Schutzpflichten- in der Abwehrdimension der Grundrechte. Die grundrechtlichen Schutzpflichten sind nach dieser sog. „abwehrrechtlichen Lösung" 2 3 5 Teil bzw. Unterfall der Abwehrseite der Grundrechte. Beide Grundrechtsfunktionen bilden danach eine dogmatisch gleich zu behandelnde Einheit. Der insbesondere im Zusammenhang mit Problemen des Umweltschutzes und den Gefahren der modernen Technik hervorgebrachte Begründungsansatz sucht die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten der Konstruktion und Pflege eines eigenen dogmatischen Systems zu entheben, indem er sie auf dem gut erschlossenen Terrain der Abwehrfunktion ansiedelt. Dazu wird dem Staat privates Handeln als eigenes Handeln zugerechnet und sein Untätigbleiben im Angesicht privater Störungen als eigener, hoheitlicher Eingriff in die Grundrechte des Opfers solcher Störungen gewertet. 236 Wenn der Staat sich nicht gegen störendes Handeln Privater wendet, für sich aber zugleich ein Gewaltmonopol in Anspruch nimmt, dessen logische Kehrseite das Verbot privater Gewalt sei, so konstituiere er eine Pflicht des Opfers, die Störungen seiner Mitbürger zu dulden. 2 3 7 Setze der Staat etwa verbindliche Grenzwerte für Immissionen 235
Der Begriff wird inzwischen üblicherweise als Sammelbegriff für die von Schwabe und Murswiek (dazu sogleich im einzelnen) entwickelten Ansätze verwandt, vgl. Dietlein, Schutzpflichten, S. 35; Unruh, Dogmatik, S. 44. 236 So der Ansatz von Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 213; ders., Drittwirkung, S. 65 f.; ders., AöR Bd. 100 (1975), S. 442 (462); Murswiek, WiVerw 1986, 179 (182); ders., Staatliche Verantwortung, S. 89 ff.; ähnlich: Lübbe-Wolff, Eingriff sab wehrrechte, S. 69 ff. 237 Murswiek, WiVerw 1986, 179 (182).
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fest, so spreche er damit nicht nur ein Verbot höherer Umweltbelastungen aus, sondern gestatte und ermögliche zugleich die beispielsweise zu Waldschäden führende private Luftverschmutzung unterhalb dieser Grenzwerte. 2 3 8 Dieser Befund müßte nach der „abwehrrechtlichen Lösung" nicht einmal korrigiert werden, wenn man die Existenz eines Bundesimmissionsschutzgesetzes hinwegdächte, denn in diesem Falle müßte beispielsweise der Waldeigentümer die Immissionen erst recht hinnehmen. Mit dem Hinweis auf das Gewaltmonopol des Staates und die Friedenspflicht des Bürgers weist die „abwehrrechtliche Lösung" einen engen Bezug zu dem oben 2 3 9 erörterten Kompensationsgedanken auf. Spezifisch für den hier skizzierten Ansatz ist allerdings, daß er von dieser Duldungspflicht ausgehend einen staatlichen Eingriff im Nicht-Handeln des Staates erkennt. Er setzt ein Absehen vom Untersagen eines privaten Handelns seiner expliziten Erlaubnis gleich. Murswiek bringt dies in dem Satz zum Ausdruck, „Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgüter, die der Staat nicht verbietet, hat er bereits erlaubt". 2 4 0 Nach Schwabe wird die Abwehrfunktion der Grundrechte ausgelöst, soweit der Staat durch rechtliche Regelungen, gerichtliche Entscheidungen und Vollstreckungsmaßnahmen involviert sei. 2 4 1 Er sieht in der Notwendigkeit einer solchen staatlichen Beteiligung allerdings keine Einschränkung der umfassenden staatlichen Verantwortung, sondern diese Beteiligung ist für ihn „notwendigerweise stets der Fall". Angesichts einer fast lückenlosen Durchdringung aller Lebensbereiche mit Rechtsregeln und Rechtschutzmöglichkeiten ist diese Schlußfolgerung konsequent. Wer in den Genuß grundrechtlicher Schutzpflichten kommen möchte, hat es nach dieser Sichtweise beispielsweise durch Anrufen der staatlichen Gerichte regelmäßig selbst in der Hand, die Bedingung einer staatlichen Beteiligung herbeizuführen. Dem Staat wird kraft seines Gewaltmonopols eine Garanten Stellung für alle (potentiellen und tatsächlichen) privaten Störer zugewiesen, die sich zumindest auf eine fehlerfreie Ermessensausübung richtet. bb) Die Kritik an der Einheitsthese Der insbesondere von Murswiek und Schwabe vertretene Begründungsansatz ist auf erhebliche Kritik gestoßen. 242 Ihm wird entgegengehalten, daß der prinzipielle strukturelle Unterschied zwischen der auf staatliches Nicht238
Murswiek, NVwZ 1986, 611 (611 f.). Teil 3 B.II.3. 240 Murswiek, WiVerw 1986, 179 (182). 241 Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 213. 242 Ehlers, FS Lukes, S. 337 (339 f. Fn. 14); Brüning/Helios, Jura 2001, 155 (161); Klein, NJW 1989, 1633 (1639); Schmidt-Aßmann, AöR Bd. 106 (1981), 239
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Handeln gerichteten Abwehrrichtung der Grundrechte und der den Schutzpflichten entnommenen positiven Handlungspflicht mißachtet werde, wenn dem Staat pauschal das Handeln Privater zugerechnet würde. Der Eingriffsbegriff verlöre dadurch Kontur und Handhabbarkeit. 243 Insbesondere aber ist der Schluß vom Nicht-Verbotensein einer Handlung auf eine Duldungspflicht Dritter alles andere als zwingend. 2 4 4 Daß der Staat den einzelnen kraft seines Gewaltmonopols zur Friedlichkeit verpflichtet und sein Selbstverteidigungsrecht auf wenige, im StGB und BGB als Rechtfertigungsgründe gegen Straftaten, verbotene Eigenmacht oder exzeptionelle Gefahrenlagen normierte Residuen zurückdrängt, stellt ihn nicht schutzlos gegenüber Störungen Dritter. Dem Opfer solcher Übergriffe bleiben eine Vielzahl von Abwehrmöglichkeiten direkter und indirekter Art. Wer das negiert, fokussiert den Blick einseitig auf die Gewalt als Mittel der Konfliktlösung. Das Nichtverbotensein einer störenden Aktivität darf nicht verwechselt werden mit der rechtlichen Schutzlosigkeit. Neben dem öffentlichrechtlichen Sanktionssystem kann sich das Opfer der zivilrechtlichen Ansprüchen bedienen, die v.a. in den §§ 823 Abs. 1 und 1004 BGB dank extensiv ausgelegter Tatbestände einen weitgehenden Schutz gewähren, woraus in der Literatur gar ein die bürgerliche Rechtsordnung durchdringendes „allgemeines Nichtschädigungsgebot" abgeleitet w i r d . 2 4 5 „Einfachrechtlich angeordnete Duldungspflichten gegenüber privat verursachten Rechtsgutsverletzungen" weisen demgegenüber „allenfalls Ausnahmecharakter" auf. 2 4 6 Ferner stehen in einer modernen Gesellschaft auch außerhalb des juristischen Schutzes Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung. Neben einem simplen Ausweichen vor dem Übergriff 2 4 7 sei zum einen die private Sanktionsmöglichkeit in Gestalt einer Schädigung des Störers - unterhalb der Schwelle einer Rechtsverletzung - genannt. Zum anderen mag das Opfer eine soziale Mißbilligung der störenden Aktivität initiieren, die bis hin zu einer gesellschaftlichen Ächtung des Störers vorstellbar ist. Vollends versagen muß die „abwehrrechtliche Lösung", wenn der Staat zwar auf einer primären Ebene Schutz gewährt, indem er einen privaten Übergriff verbietet, er dieses Verbot jedoch nicht wirksam durchsetzt und damit seine sekundäre Schutzpflicht auf Durchsetzung der Schutznorm verS. 205 (215); Bleckmann, DVB1. 1988, 938 (940). Vgl. im Überblick die Darstellung bei Dietlein, Schutzpflichten, S. 38 f. 243 Schmidt, ZRP 1987, 345 (347). 244 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 417 ff.; Hermes, Schutz, S. 96 f.; Robbers, Sicherheit, S. 128 f.; Sachs, in: Stem, Staatsrecht III/l, S. 730. 245 Dietlein, Schutzpflichten, S. 46. 246 Dietlein, Schutzpflichten, S. 47. 247 Sachs, in: Stem, Staatsrecht III/1, S. 730.
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nachlässigt. Da sich der einzelne gegen verbotenes Tun Dritter auch im Wege der Selbstverteidigung zur Wehr setzen darf, eine Duldungspflicht hier also grundsätzlich nicht einmal in Form eines Gewaltverbotes besteht, fehlt jeglicher Anknüpfungspunkt für die Zurechnung des Störerhandelns an die Adresse des Staates. 248 cc) Bewertung: Die fehlende Garantenstellung des Staates Der argumentative Dreh- und Angelpunkt der „abwehrrechtlichen Lösung" ist die Konstruktion eines Eingriffs durch Unterlassen. Im Zuge der Erweiterung des klassischen Eingriffsbegriffs auf nicht-finale, nicht-normative, faktische und mittelbare Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzbereiche 249 ist als dessen einzige Konstante das Erfordernis eines staatlichen Handelns verblieben. 250 Seine Verabschiedung oder Relativierung läge darum prima facie zwar in der Tendenz der Begriffsexpansion. 251 Im Gegensatz zu den vier genannten Attributen des klassischen Eingriffs ist das Handlungskriterium aber typischerweise nicht von einer Bewertung abhängig, sondern empirisch festzustellen. Gerade wegen des mit der Begriffserweiterung einhergehenden Konturverlustes erscheint dieses Definitionselement unverzichtbar. Jedenfalls bedürfte seine Aufgabe einer besonderen Begründung. Mit der Annahme eines Eingriffs durch Unterlassen und der dazu erforderlichen Gleichsetzung von Nicht-Handeln und Handeln bedient sich die „abwehrrechtliche Lösung" einer Argumentationsfigur, die deutliche Parallelen zu den unechten Unterlassungsdelikten des Strafrechts aufweist. In beiden Fällen geht es um die Haftung für einen Erfolg, der durch eigenes Nicht-Tätigwerden herbeigeführt wird und zu dessen Abwendung der passiv Bleibende verpflichtet sein soll. Wegen der parallelen Problemstellung lohnt der Versuch, die ausdifferenzierte strafrechtliche Dogmatik zur Unterlassenshaftung für eine Überprüfung der abwehrrechtlichen Begründung grundrechtlicher Schutzpflichten nutzbar zu machen. Diese Vorgehensweise findet zusätzlich eine Stütze in dem Gedanken einer - konzeptionellen und terminologischen - Einheit der Rechtsordnung. 252
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Hermes, Schutz, S. 95. Vgl. zu dieser bereits in den siebziger Jahren einsetzenden Ausweitung: Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, passim; Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, S. 24 ff.; Kirchhof, Verwalten, passim; Heintzen, VerwArch Bd. 81 (1990), S. 532 ff.; Horn, Grundrechtsunmittelbare Verwaltung, S. 152 f. (Fn. 250 m.w.N.). 250 Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 240; Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373 (376 ff.). 251 Eckhoff, Grundrechtseingriff, S. 278 f. 249
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Wesentliche Voraussetzung der strafrechtlichen Unterlassenshaftung und wichtigstes Abgrenzungskriterium zwischen strafrechtlich relevantem und irrelevantem Unterlassen ist die Garantenstellung des Unterlassenden. Dieser muß gemäß § 13 StGB „rechtlich dafür einzustehen" haben, daß der Erfolg nicht eintritt. In der neueren Strafrechtswissenschaft werden zwei Grundtypen von Garantenpflichten unterschieden. Beschützergaranten sind solche Personen, denen eine umfassende Obhutspflicht für ein bestimmtes, gefährdetes Rechtsgut obliegt, während Überwachungsgaranten eine Sicherungs- und Beherrschungspflicht in bezug auf eine bestimmte Gefahrenquelle zukommt. 2 5 3 Die Annahme einer Garantenstellung ist auch im Rahmen einer Gleichsetzung von Abwehr- und Schutzrichtung der Grundrechte eine unverzichtbare Voraussetzung; jede Gleichsetzung von Handeln und Unterlassen im Rahmen des Grundrechtseingriffs müßte in der Lage sein, eine generelle staatliche Pflicht zu begründen, Eingriffe Dritter zu unterbinden. 2 5 4 Der Ansatz stößt hier bereits auf eine bedeutende logische Hürde. Die Abwehrfunktion der Grundrechte selbst kann zur Begründung einer staatlichen Garantenstellung nicht herangezogen werden. Andernfalls würde das zu beweisende Ergebnis einer Identität von staatlichem Eingriffshandeln und dem Geschehenlassen privater Übergriffe bereits in der Beweisführung vorausgesetzt. Zur Vermeidung eines solchen zirkulären Schlusses ist das Auffinden anderweitig begründeter Beschützer- oder Überwachungspflichten des Staates unabdingbar. 255 W i l l man diese den Grundrechten entnehmen, so verlangt dies die Anerkennung und Benennung einer einschlägigen, neben der Abwehrdimension bestehenden Grundrechtswirkung. (1) Der Staat als Überwachungsgarant (a) Keine generelle Überwachungspflicht Eine allgemeine Garantenstellung aus einer Sicherungs- und Beherrschungspflicht gegenüber allen störenden Aktivitäten Privater ist abzulehnen. Sie widerspräche sowohl dem Staats- als auch dem Freiheitsverständnis des Grundgesetzes. Verfehlt wäre es, darauf abzustellen, daß der Staat 252
Vgl. Engisch, Einheit der Rechtsordnung, passim; zur Forderung nach einheitlicher Begrifflichkeit innerhalb der Gesamtrechtsordnung: Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 157 ff. 253 Vgl. hierzu Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, § 59 IV = S. 651; Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, § 13 Rz. 9 ff.; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rz. 716. 254 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 417. 255 Da die Vertreter der abwehrrechtlichen Lösung eine eigenständige Herleitung der Garantenpflicht des Staates schuldig bleiben, weisen Starck, Verfassungsauslegung, S. 74, und Stern, Staatsrecht III/1, S. 947 (m.w.N.), zu Recht auf die Zirkularität ihres Schlusses hin.
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kraft seiner überlegenen Rechtsmacht dem Bürger jegliches Tun verbieten kann, soweit er die Grundrechte in ihrer Eingriffsabwehrdimension beachtet. 2 5 6 Die auf der staatlichen Souveränität fußende rechtliche Gestaltungsmacht bedeutet keine generelle „Beherrschung" privaten Tuns und legt dem Staat daher keine generelle Überwachungspflicht der Aktivitäten seiner Bürger auf. Die Gegenposition ließe sich nur auf dem Boden eines etatistischen Freiheitsverständnisses einnehmen, demzufolge der Staat die Freiheit des einzelnen erst schafft, indem er ein bestimmtes Verhalten nicht verbietet. Der im Staat herrschende Normalzustand wäre nicht die Freiheit des einzelnen, sondern seine Unfreiheit. Ein solches Gemeinwesen entspräche dem Modell des im 19. und 20. Jahrhundert überwundenen Obrigkeitsstaates, der seine historischen Wurzeln im Feudalismus hatte. In ihm werden sachlich begrenzte Freiheiten als Privilegien gewährt. 257 Für die Ausnutzung dieser Gewährung läßt sich eine Verantwortlichkeit des Staates herleiten. Der Verfassungsstaat versteht sich jedoch als prinzipiell begrenzt in seinem Handeln. 2 5 8 Die individuelle und gesellschaftliche Freiheit ist für ihn „natürlich vorgegeben, grundsätzlich unbeschränkt und keiner Erklärung bedürftig". 2 5 9 Mit der Idee einer prinzipiellen Begrenzung der Staatsmacht und nicht der Freiheit(en) entscheidet sich der moderne Verfassungsstaat bewußt gegen einen absolutistischen Ansatz, der von einer im wesentlichen unbeschränkten Herrschaft des Souveräns und der Aufgabe der natürlichen Freiheit mit Eintritt in den Staatsverband ausging. Diese Grundentscheidung für das „Primat der Freiheit" 2 6 0 stellt eine Vermutung für die Freiheit des Individuums auf, so daß hinfort „ . . . nicht das Freisein von staatlichem Zwang, sondern die staatliche Beschränkung einer besonderen Legitimation" 2 6 1 bedarf. 2 6 2 Einen Vorbehalt des Gesetzes für Übergriffe Dritter gibt es daher nicht; 2 6 3 der Bürger bedarf auch dann keiner gesetzlichen Ermächtigung zu 256
Noch weitgehender ließe sich im Sinne dieser (abgelehnten) Position argumentieren, daß der Staat selbst vor Grundrechten nicht Halt machen muß, sondern in den Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG - auch die Rechtsmacht besitzt, diese zurückzunehmen. Dieses „argumentum ad horrendum" demonstriert die Unhaltbarkeit der Position. 257 Vgl. Dipper, Geschichtliche Grundbegriffe II, S. 488 ff.; siehe hierzu oben Teil 3 B.II.2.a)cc). 258 Herzog, Staatslehre, S. 181 f.; von Hippel, Staatslehre, S. 214; Enders, Menschenwürde, S. 274 ff. 259 Loschelder, HdbStR III, § 68 Rz. 12. Ebenso bereits Schmitt, Verfassungslehre, S. 126 (zur Begrenztheit staatlichen Handelns als Element des „rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips") u. S. 163 (zur Vorstaatlichkeit der Freiheit). Vgl. auch Ipsen, JZ 1997, 473 (476). 260 Schmitt Glaeser, Mißbrauch, S. 131. 261 Bachof, VVDStRL Bd. 12, S. 37 (73); ebenso: Schmitt Glaeser, Mißbrauch, S. 131.
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
seinem Handeln, wenn er dadurch die Freiheitssphäre seiner Mitbürger tangiert, solange er nicht versucht, sein Handeln zwangsweise durchzusetzen. Vorstaatlich sind in dieser Konzeption nicht die Grundrechte als Rechtspositionen, da sie eine durch den Staat errichtete Rechts- und Verfassungsordnung bereits voraussetzen, sondern die durch die normativen Grundrechte geschützten Freiheitssubstrate, also die auch außerhalb der juristischen Fachsprache mit „Freiheit" umschriebenen multiplen Verhaltensmöglichkeiten im Bereich der Religion, der Wissenschaft, des (öffentlichen) Meinungskampfes, der Kooperation mit anderen usw. Die Verortung der Freiheit in einer Mehrzahl von Freiheitsrechten trägt dabei der Verschiedenartigkeit staatlicher Ingerenzen der Freiheit Rechnung. Der Begriff der Freiheit ist von den Freiheitsrechten zu unterscheiden. 264 Zwar finden diese „Freiheiten" ihre rechtliche Gewährleistung in der Verfassung. Rechtlicher Freiheitsschutz setzt jedoch Kontingenz im faktischen Handeln voraus: Den Grundrechtsträgern müssen auch faktisch verschiedene Verhaltensvarianten, unter denen sie wählen können, eröffnet sein. Aus diesem Grunde fordert ein sozialstaatliches Grundrechtsverständnis auch die Herstellung dieser faktischen Freiheit durch den Staat, soweit das Individuum oder die Gesellschaft sie nicht aus sich heraus hervorzubringen vermögen. 265 Die Vorstellung einer erst vom Staat abgeleiteten Freiheit der Bürger als Grundlage einer generellen staatlichen Überwachungspflicht - würde zudem die Idee vorstaatlicher, universeller Menschenrechte negieren. Wenn die Freiheitssphäre erst von der Staatsgewalt konstituiert würde, so könnte der rechtliche Schutz dieser Freiheitssphären unmöglich dem Staat vorgelagert sein. Für einen Staat, welcher die Freiheitssphären nicht nur rechtlich beschirmt, sondern erst begründet, ist die Akzeptanz vorstaatlich gültiger 262 Der Gedanke der Vermutung persönlicher Freiheit findet sich in Deutschland bereits in vorkonstitutioneller Zeit, etwa im 18. Jahrhundert in der gerichtlichen Beweislastverteilung bei behaupteter bäuerlicher Leibeigenschaft, vgl. Schmidt, Geschichte, S. 241. 263 Preu, JZ 1991, 265 (268); Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2 Rz. 26. 264 Diese Differenzierung von Freiheit und Freiheitsrecht wird v.a. von der liberalen Grundrechtstheorie betont, siehe Schwarz, JZ 2000, 126 (127); Klein, Grundrechte im demokratischen Rechtsstaat, S. 61; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 155; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 14; vgl. hierzu ausführlich Enderlein, Freiheit, S. 98 ff. 265 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 458, für den „rechtliche Freiheit ... ohne faktische ... Freiheit, also die tatsächliche Möglichkeit, zwischen dem Erlaubten zu wählen, wertlos ist44. Mit der Betonung dieser Form der Wechselbeziehungen zwischen rechtlicher und „faktischer" bzw. „ökonomischer" Freiheit wird allerdings die Vorstaatlichkeit der faktischen Freiheit relativiert, vgl. Sachs, in: Stem, Staatsrecht III/l, S. 636.
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
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Menschenrechte daher eine logische Unmöglichkeit. Das Grundgesetz hat deren Existenz in Art. 1 Abs. 2 aber ausdrücklich anerkannt. Es versteht diese vorstaatlichen „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte" zwar nicht als unmittelbar geltende Normen des deutschen Staatsrechts. 266 Jedoch wenden sie sich als zwingende Direktiven an den Verfassungs(änderungs)gesetzgeber und stellen in Verbindung mit der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG die Rekonstitutionalisierung eines grundrechtlichen Mindeststandards sicher, sofern das positive Verfassungsrecht diesen im Einzelfall unterschreiten sollte. 2 6 7 Die Ablehnung einer generellen Überwachungspflicht des Staates hinsichtlich der Aktivitäten seiner Bürger läßt allerdings noch Raum für die Annahme partieller Garantenpflichten zur Überwachung bestimmter grundrechtsgefährdender Verhaltensweisen in besonderen Sachbereichen. Dort, wo der Staat bestimmte Aktivitäten und Verhaltensmodalitäten verbietet, könnte darin zugleich eine implizite Zulassung oder Billigung von sachlich vergleichbaren, jedoch außerhalb der Verbotsnorm liegenden Sachverhalten zu sehen sein. Im Sinne einer graduellen Stufenfolge einer staatlichen Verstrickung in private Störungen kann dabei unterschieden werden zwischen der bloßen Zulassung, der ermutigenden Billigung und der Beteiligung des Staates an privatem Handeln. (b) Staatliche Genehmigung privaten Handelns am Beispiel des Immissionsschutzrechts Fehlt es an einer generellen Überwachungspflicht des Staates, so läßt sich eine abwehrrechtliche Grundrechtshaftung nur konstruieren, wenn ein konkretes staatliches Handeln die Überwachungspflicht auslöst und somit einem Unterlassen Eingriffscharakter verleiht. Teile der Literatur gehen von einer solchen Überwachungspflicht aus, wenn sie aus der Genehmigung privaten Handelns eine staatliche Mitverantwortung für privates Tun ableiten. 2 6 8 Da der abwehrrechtliche Begründungsansatz insbesondere für die staatliche Grundrechtsverantwortung im Umweltschutz herangezogen worden ist, 266 Die Frage des rechtlichen Schutzes ist - abgesehen von Art. 1 Abs. 2 GG grundsätzlich in das politische Ermessen des Verfassungsgebers gestellt, der es der Zwecksetzung des Staates auf Herstellung von Sicherheit und Freiheit (s.o. Teil 2 B.II) aber schuldig ist, die von ihm vorgefundenen Freiheitssphären auch rechtlich zu schützen. 267 Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1 Rz. 63; Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 1 Rz. 114; Dreier, in Dreier, GG I, Art. 1 II Rz. 10. 268 Siehe aus dem neueren Schrifttum ausführlich: Koch, Grundrechtsschutz, S. 368 ff. m.w.N.
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
liegt es nahe, in dieser Rechtsmaterie nach solchen impliziten Zulassungen oder Erlaubnissen Ausschau zu halten. Nach Murswiek ist beispielsweise das Bundesimmissionsschutzgesetz zugleich ein „Immissions-Ermöglichungsgesetz" 269 . Nicht von einer generellen Überwachungspflicht, jedoch von einer im Einzelfall aktivierten „grundrechtlichen (Beachtens-)Pflicht des Gesetzgebers" geht Koch aus. 2 7 0 Habe der Staat sich in einem konkreten Fall für die Zulassung einer Anlage und damit gegen die Interessen der von ihr betroffenen Dritten entschieden, so könne damit ein Eingriffstatbestand verwirklicht worden sein. 2 7 1 Der pointierten Deutung Murswieks steht zunächst die gerichtliche Auslegung der immissionsschutzrechtlichen Grenzwerte entgegen. Die Technischen Anleitungen (insbes. TA Luft und TA Lärm), welche diese Grenzwerte gem. § 48 BImSchG festlegen, wurden ursprünglich lediglich als antizipierte Sachverständigengutachten betrachtet; 272 eine Außenwirkung kam ihnen daher nur faktisch im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens zu. Inzwischen tendiert die Rechtsprechung 273 jedoch zu einer Charakterisierung als „normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften", denen im Gegensatz zum Grundtypus der norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften Außenverbindlichkeit zugebilligt wird. Auch nach dem neueren Verständnis sind solche Grenzwertsetzungen aber nicht geeignet, die Rechtswidrigkeit einer schadenverursachenden Emission zu beseitigen. Sie stellen für den Emittenten lediglich eine - aufgrund atypischer Umstände widerlegliche - Entlastung vom Verschuldensvorwurf dar. 2 7 4 Die grenzwertunterschreitende Emission bleibt also prinzipiell rechtswidrig, sofern sie Rechtsgüter Dritter verletzt. Das Immissionsschutzrecht schränkt mit der Implementierung von Grenzwerten lediglich seinen Schutz von vornherein ein, ohne anderweitig bestehende Rechtspositionen anzutasten. Dem Bürger wird durch umweltrechtliche Grenzwertbestimmungen per Saldo kein Schutz genommen, sondern er erhält einen zusätzlichen, jedoch in quantitativer Hinsicht begrenzten Schutz. Würde man in dem durch Grenzwerte eingeschränkten fachgesetzlichen Schutz einen Eingriff sehen, so machte dies den Gesetzgeber zum Opfer seiner eigenen Schutzanstren269
Murswiek, NVwZ 1986, 611 (612). Koch, Grundrechtsschutz, S. 389. 271 Koch, Grundrechtsschutz, S. 388. 272 BVerwGE 55, 250 (256). 273 OVG Münster, DVB1. 1988, 152 (153); BGH, JZ 1984, 1106 (1108); für die mit den TA vergleichbare Richtlinie zu § 45 Strahlenschutzverordnung ebenso: BVerwGE 72, 300 (320 f.); vgl. a. BVerwG, DVB1. 1995, 516 (517). Kritisch hierzu u.a. unter Hinweis auf europarechtliche Vorgaben: Kloepfer, Umweltrecht, § 3 Rz. 71; vgl. a. EuGH, NVwZ 1991, 866 ff. 274 Vgl. BGH, JZ 1984, 1106 (1108). 270
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
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gungen; hätte er auf ein eigenes Immissionsschutzrecht verzichtet und die Problematik ausschließlich in der Verantwortung des Zivilrechts belassen, hätte er auch keine Grenzwerte bestimmen müssen, welche dann unter das Tatbestandsmerkmal des Grundrechtseingriff hätten subsumiert werden können. Die in der Rechtsfolge, verglichen mit der originären Schutzpflichtendogmatik, i.d.R. strengeren Konsequenzen der abwehrrechtlichen Lösung könnte den Gesetzgeber von der Kodifizierung eines besonderen, gefahrenspezifischen Schutzes - wie dies beispielsweise in den Gesetzen des medialen Umweltschutzes geschieht - abschrecken. Das starke staatliche Engagement im Umweltschutz und das daraus resultierende, immer dichter werdende Netz staatlicher Normen und Entscheidungen in diesem Bereich dürfen den Blick für die Zuordnung von (potentiell) gefährdendem und schützendem Handeln nicht verstellen. Die Gefahrenquelle bleibt der handelnde Private. 275 Aus der Grenzwertfestsetzung kann eine staatliche Zurechnung schädigender Luftverunreinigungen oder Lärmbelastungen demnach ebensowenig gefolgert werden 2 7 6 wie aus sonstigen (qualitativen) Zulassungsbeschränkungen für emittierende Anlagen. Aus der Setzung umweltrechtlicher Schutzstandards kann daher weder eine generelle Überwachungsgarantie noch eine Beachtenspflicht im Einzelfall abgeleitet werden. Dennoch bietet gerade das BImSchG einen normativen Anhaltspunkt, der eine Garantenpflicht nahelegen könnte. Die Vorschrift des § 14 BImSchG schließt privatrechtliche, nicht auf besonderem Titel beruhende Abwehransprüche gegen unanfechtbar genehmigte Anlagen insoweit aus, als ihr Anspruchsinhalt auf die Stillegung der Anlage gerichtet i s t . 2 7 7 Ähnliches gilt für die Bestimmung des § 906 BGB, die für unwesentliche Beeinträchtigungen durch unwägbare Stoffe einschließlich solcher Emissionen unterhalb der Grenzwerte der Technischen Anleitungen (§ 906 Abs. 1 S. 3 BGB) das Ausschließungsrecht des Eigentümers eliminiert. Es handelt sich hier nicht mehr um eine allgemeine Beschränkung des fachgesetzlichen Schutzes. Vielmehr legt die Aberkennung ansonsten bestehender zivilrechtlicher Positionen dem Dritten eine konkrete Pflicht zur Hinnahme des Anlagenbetriebes bzw. der Zuführung von Stoffen auf. Die Verkürzung einer einfachrechtlich konstituierten Rechtsposition für die von der Genehmigung 275 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 417; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 47. 276 Ebenso Dietlein, Schutzpflichten, S. 48 f. 277 Die Vorschrift gilt auch im Luftverkehrsrecht (§11 LuftVG) und im Atomrecht (§ 7 Abs. 6 AtomG). Die Vorschrift des § 10 Abs. 3 S. 3 BImSchG, die ebenfalls eine materielle Präklusion für nach Abschluß des Genehmigungsverfahrens erhobene Einwendungen anordnet, erlangt in diesem Kontext keine Relevanz, da sie sich nach überwiegender Ansicht nicht auf privatrechtliche Klagen bezieht, vgl. Jarass, BImSchG, § 10 Rz. 82 m.w.N. 8 Krings
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
betroffenen Dritten wird denn auch vereinzelt als Grundrechtseingriff geweitet. 2 7 8 Gegen diese Wertung der Beschneidung von Rechten bzw. Rechtsbehelfen läßt sich der Hinweis auf die Einheit der Rechtsordnung 279 ins Feld führen. Unmittelbar auf der Hand liegt die einheitliche Beurteilung innerhalb der Zivilrechtsordnung. Regelungstechnisch betrachtet nimmt § 906 BGB nicht eine Rechtsposition (teilweise) weg, die zuvor § 903 BGB gewährt hat. Vielmehr konstituieren beide Vorschriften gleichermaßen den Inhalt des Eigentums. § 906 BGB stellt sich als von vornherein existente Begrenzung des Eigentums dar und unterscheidet sich in der Sache nicht von einer Vorschrift wie § 905 BGB, welche das Eigentum räumlich eingrenzt und die schon in ihrem - nunmehr amtlichen - Titel explizit ihre Begrenzungsfunktion hervorhebt. Die Idee von der Einheit der Rechtsordnung gilt aber auch zwischen Zivilrecht und Verwaltungsrecht. 280 Auch wenn die Bestimmung des § 14 BImSchG jüngeren Datums ist als die Eigentumsvorschriften des BGB, so beseitigt auch sie nicht partiell eine Eigentumsposition, sondern bestimmt die Grenzen der Eigentümerbefugnisse. Der Regelungsstandort außerhalb des BGB vermag alleine keine andere Wertung zu rechtfertigen als die im Verhältnis der §§ 903 und 906 BGB angenommene. In der Nomenklatur des Art. 14 GG gestaltet § 14 BImSchG das Eigentum als „Inhaltsbestimmung" aus, „enteignet" hingegen nicht. 2 8 1 Inhalts- und Schrankenbestimmungen gem. Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG stellen regelmäßig keine Eigentumsbeeinträchtigung im eigentlichen Sinne dar, weil und soweit sie Eigentumspositionen erst konstituieren. 282 Vor diesem Hintergrund wird man einen die Abwehrfunktion des Art. 14 GG auslösenden Eingriff insbesondere bei übermäßigen Verkürzungen des Eigentums, die eine solche Intensität erlangen, daß sie i. d. R. zugleich die Vorgaben der Institutsgarantie unterschreiten, annehmen dürfen. Ob aber jegliche generell-abstrakte Verkürzungen des Eigentumsbegriffs einen Eingriff begründen, ist fraglich. 278
Lübbe-Wolff, Eingriffsabwehrrechte, S. 178 ff., insbes. 196 ff. S.o. Fn. 252. 280 Vgl f e i i X f Einheit der Rechtsordnung, S. 85 ff. (am Beispiel des Verhältnisses von öffentlichem und privatem Nachbarrecht). Vgl. zum Verhältnis von BImSchG und § 906 BGB femer BGH, DVB1. 1990, 772; BVerwGE 79, 254 (258). 279
281
Vgl. Wendt, in: Sachs, GG, Art. 14 Rz. 130; hinsichtlich gem. § 5 Nr. 1 BImSchG zumutbarer Immissionen: BVerwGE 68, 58 (61). 282 Wieland, in: Dreier, GG I, Art. 14 Rz. 66. Inwieweit sich die Inhalts- und Schrankenbestimmung überhaupt in den klassisch-dreigliedrigen Aufbau der Grundrechtsprüfung einordnen läßt und insbesondere, ob die Kategorie des Eingriffs beim rechtsgeprägten Grundrecht des Art. 14 GG überhaupt paßt, ist ungeklärt, vgl. Burgi, NVwZ 1994, 527 (530, Fn. 40). So sind die Inhalts- und Schrankenbestimmungen etwa für Böhmer, NJW 1988, 2563 (2572), von ausschließlich konstituierendem, nicht aber von eingreifendem Charakter.
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
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Sofern man die Frage bejaht, 2 8 3 würde dies zwar die Abwehrseite der Eigentumsgarantie aktivieren. Eine Verantwortung für die Ausnutzung dieser Grenzwerte durch private Emittenten wäre daraus aber nicht abzuleiten. Das Abwehrrecht richtete sich ausschließlich gegen die staatliche Maßnahme der Grenzweitfestsetzungen, nicht hingegen gegen die private Handlung einer Zuführung der unwägbaren Stoffe. 2 8 4 Im übrigen gilt auch hier, daß das Vorenthalten von rechtlichen Verteidigungsmitteln gegen störende Handlungen Dritter nicht gleichbedeutend ist mit einer Duldungspflicht. Mangels einer echten Duldungspflicht kann also nicht von einem die grundrechtliche Abwehrfunktion auslösenden Eingriff gesprochen werden. In die Richtung einer die Abwehrfunktion der Grundrechte auslösenden Überwachungspflicht des Staates scheint indes die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts in der Mülheim-Kärlich-Entscheidung zu weisen, wenn dort von einer staatlichen „Mitverantwortung" für die Gefährdungen durch Kernkraftwerke aufgrund der staatlichen Genehmigung die Rede i s t . 2 8 5 Diese Diktion sehen Teile der Literatur geradezu in der Rolle eines Kronzeugen für eine Wertung staatlicher Genehmigungen als Grundrechtseingriffe. Das Nebeneinanderstellen von „Schutzpflicht und Mitverantwortung" und ein sehr eng an Fälle der Eingriffsabwehr angelehnter Prüfungsaufbau mögen zwar zu einer dogmatischen Verdunkelung der Schutzpflichtenlehre beitragen. 286 Bei näherer Betrachtung fügt sich aber auch diese Entscheidungsbegründung in die dichotomische Ordnung der Grundrechtsfunktionen, welche die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kennzeichnet, ein. Auch in der Mülheim-Kärlich-Entscheidung wird klar zwischen der Abwehr- und der Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte unterschieden und der Schutz vor atomaren Gefahren in Gestalt von gesetzlich angeordneten Genehmigungsverfahren der letzteren zugeordnet. 287 Der Topos von der „staatlichen Mitverantwortung" dient ausschließlich zur Begründung einer höheren, der Eingriffsabwehr entsprechenden Prüfungsintensität, die aufgrund der besonderen Gefahren der Kernenergie ausnahmsweise angezeigt ist. Dem Gericht muß Ungenauigkeit in seiner Entscheidungsbegründung bescheinigt werden, weil nicht die Einrichtung des Genehmigungsverfahrens zu einer erhöhten Prüfungsstrenge führt, sondern der Umstand, daß trotz des verbleibenden Restrisikos nicht ein generelles Verbot der Kernenergie ausgesprochen w i r d . 2 8 8 Bleibt eine Genehmigung 283
So etwa Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 920. Ebenso Dietlein, Schutzpflichten, S. 49 f. 285 BVerfGE 53, 30 (58 f.); s.o. Teil 3 A.I.2.b). 286 Auf die Ambivalenz des Begriffes „Mitverantwortung", der nicht zwingend im Sinne einer Mitursächlichkeit für das die Genehmigung ausnutzende Geschehen verstanden werden muß, weist zu Recht Dietlein, Schutzpflichten, S. 93, hin. 287 BVerfGE 53, 30 (57). 284
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möglich, so erfüllt der Staat seine besondere Schutzpflicht nur mit einem erhöhten Anforderungen genügenden Verfahren, das beispielsweise eine umfassende Behördenbeteiligung, eine Beteiligung der gefährdeten Bürger sowie eine konzentrierte Erörterung der berührten Belange im Genehmigungsverfahren vorsieht. Die Komplexität des Verfahrens als solche löst keine neuen grundrechtlichen Pflichten aus. 2 8 9 Auch der Seitenblick auf die Nutzung der Kernenergie vermag eine staatliche Verantwortung i.S. einer Garantenpflicht nicht zu begründen. In bezug auf das Ausgangsbeispiel des Immissionsschutzes hat das Bundesverfassungsgericht inzwischen in einer Kammerentscheidung klargestellt, daß die staatliche Zulassung von Luftverunreinigungen Privater nicht deren Rechtskreis erweitert, sondern lediglich „die den grundrechtlichen Freiheiten ... gesetzte vorläufige Sperre entfallen" lasse. 290 Die Überlegungen zu Fragen des Immissionsschutzes sowie des Atomrechts lassen sich für das gesamte Feld der Erteilung staatlicher Genehmigungen verallgemeinern. Der Störer tangiert sein Opfer „nicht auf der Grundlage eines staatlich verliehenen Privilegs, sondern in Verwirklichung der ihm kraft seines Personseins zukommenden Handlungsfreiheit und in eigener Willensbetätigung". 291 Entsprechendes gilt für Unternehmen, die ihr störendes Verhalten i.d.R. in Ausübung ihrer Gewerbefreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG verwirklichen. Jede andere Bewertung überhöht die Rolle des Staates und achtet die in den Freiheitsrechten aufgegriffene und geschützte natürliche Freiheit zu gering. (c) Erteilung einer Befugnis zu quasi-hoheitlichem Handeln Die Hinnahme privater Störungen ist zu unterscheiden von den Fällen, in denen der Staat ein Recht eines Privaten, in die Rechtssphäre Dritter einzugreifen, schafft, mit der Zielsetzung, daß von diesem Recht im Bedarfsfalle möglichst auch Gebrauch gemacht wird. Der Übergriff in die Rechte Dritter ist von der Rechtsordnung hier durchaus erwünscht und kommt dem Staat und seinen Strafverfolgungsbehörden unmittelbar zugute. Dem Bürger wird 288
An einem solchen Verbot könnte der Bundesgesetzgeber ebenfalls aus grundrechtlichen Erwägungen (Art. 12, 14 GG der Kraftwerksbetreiber) gehindert sein. Dies gilt jedenfalls für ein nachträgliches Nutzungsverbot, also einen „Ausstieg" aus der Kernenergienutzung, vgl. Ossenbühl, AöR Bd. 124 (1999), S. 1 (5 ff., 51 f.). 289 Koch, Grundrechtsschutz, S. 367, erwägt indes, aus der Ausgestaltung des atomrechtlichen Genehmigungsverfahrens zu folgern, der Staat gebe mit der Genehmigung eine „Garantieerklärung" für die größtmögliche Sicherheit ab; wie hier: Hermes, Schutz, S. 88. 290 BVerfG (Kammerbeschluß), NJW 1998, 3264 (3265). 291 Preu, Grundlagen, S. 70; vgl. auch Hermes, Schutz, S. 86 f.
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dabei gegebenenfalls gar eine öffentliche Aufgabe übertragen. 292 Folglich ist dem Staat nicht nur die gesetzliche Begründung einer solchen Übergriffsbefugnis als Grundrechtseingriff zuzuordnen, sondern ebenso die Ausübung dieser Befugnis durch Private. 293 Ein Beispiel für die Einräumung einer solchen Befugnis ist das Festnahmerecht Privater nach § 127 Abs. 1 StPO gegenüber den auf frischer Tat Betroffenen oder Verfolgten. Der Staat gestattet hier den Übergriff von Privatpersonen in das Recht präsumtiver Straftäter auf körperliche Bewegungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG. Er räumt dem Bürger damit eine zusätzliche, nicht schon in seiner Freiheitssphäre wurzelnde Rechtsmacht im Sinne einer quasi-hoheitlichen Befugnis ein. Mit der Einräumung dieser Befugnis schafft und beherrscht der Staat eine Gefahrenquelle. Kraft seiner daraus resultierenden Stellung als Überwachungsgarant muß er sich die private Festnahme als Grundrechtseingriff zurechnen lassen. Ob der Einräumung von Nothilfe- oder Notwehrrechten die gleiche Qualität wie dem privaten Festnahmerecht zukommt, 2 9 4 ist hingegen problematischer. Im Falle der Notwehr spricht dafür, daß die Verteidigung nicht nur dem angegriffenen Rechtsgut, sondern ebenso der Bewährung der Rechtsordnung dient. 2 9 5 Auf einer höheren Abstraktionsebene kann man mit Rudolf von Jhering darauf hinweisen, daß sich die Geltungskraft der objektiven Rechtsordnung nur im Kampf des einzelnen um sein subjektives Recht verwirklichen kann und die Behauptung des Rechts somit eine „Pflicht gegen das Gemeinwesen" i s t . 2 9 6 Dieser Argumentation fehlt aber die nötige Tragfähigkeit zur Begründung einer staatlichen Garantenstellung für die Ausübung der straf- und zivilrechtlichen Rechtfertigungsgründe. In der Einräumung dieser Verteidigungsrechte ist eine Ermutigung zu ihrer Ausübung nicht zu erblicken, da die für den Rechtsstaat wesentliche Idee des staatliche Gewaltmonopols von einer Unterbindung rechtswidriger Angriffe durch Ordnungskräfte des Staates ausgeht. Schließlich streitet im Hinblick auf das Notwehrrecht seine vorstaatliche und übergesetzliche Wurzel 2 9 7 gegen eine staatliche Garantenpflicht aufgrund seiner Schaffung und Beherrschung durch den Staat.
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So zu § 127 StPO: RGSt 17, 127 (128); Kleinknecht/Meyer, StPO, § 127 Rz. 1; Boujong, in: Karlsruher Kommentar, StPO, § 127 Rz. 6. 293 So wohl auch Dietlein, Schutzpflichten, S. 42. 294 Dafür offenbar Dietlein, Schutzpflichten, S. 42 f. 295 BGHSt 24, 356 ff.; BGH, MDR 1972, 791 f.; Tröndle/Fischer, StGB, § 32 Rz. 2. 296 von Jhering, Der Kampf um's Recht, S. 105 ff. 297 Krey, JZ 1979, 703 (713); Wacke, Jura 1991, 166; Dreher/Tröndle, StGB, § 32 Rz. 2.
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
(d) Finanzielle Förderung privaten Handelns Eine dritte Kategorie der staatlichen Verstrickung in privates, die Grundrechte Dritter tangierendes Verhalten ist eine Beteiligung in Gestalt einer finanziellen Förderung privaten Verhaltens. Ein Beispiel ist die staatliche Förderung der Kernenergie, deren Ausbau in Deutschland ohne eine massive staatliche Hilfe nicht möglich gewesen wäre. 2 9 8 Innerhalb des Energiesektors gilt entsprechendes für eine Aufrechterhaltung der Steinkohleförderung, die von erheblichen staatlichen Subventionen abhängig ist. Der Staat schafft nicht nur eine rechtliche Befugnis, deren Gebrauch ihm erwünscht ist, sondern er fördert das private Handeln auch materiell v. a. durch finanzielle Hilfen. Im Gegensatz zur bloßen Genehmigung privaten Handelns kann sich der Staat in dieser Fallgruppe auch nicht auf die Rolle eines neutralen Schiedsrichters, der über die Einhaltung des noch erträglichen Maßes an Emissionen wacht, zurückziehen. Während das staatliche System der Genehmigungen im ganzen betrachtet ein Mehr an Schutz bedeutet als dies bei einer „laissez-fair"-Politik der Fall wäre, gilt dies für die staatliche Subventionierung und Förderung gerade nicht. 2 9 9 Die Konsequenz, alle staatlich geförderten privaten Aktivitäten mit nachteiligen Auswirkungen für Grundrechte Dritter als staatliche Grundrechtseingriffe zu werten, weil man dem Staat eine Garantenstellung aufgrund seiner Förderleistungen zuweist, erscheint allerdings als wenig überzeugend. Eine derart umfassende Garantenpflicht würde im Ergebnis dem oben 3 0 0 skizzierten Staats- und Freiheitsverständnis des Grundgesetzes widersprechen, indem es die Betätigung der Individualfreiheit zwar nicht von einer staatlichen Konzession abhängig machte, aber den Bürger als einen abhängigen Kostgänger des Staates verstehen würde. Der einzelne würde letztlich zu einem Exekutionsorgan sozialstaatlicher Lenkungsentscheidungen degradiert. Die Subventionierung privaten Verhaltens will den Freiheitsgebrauch des Bürgers primär unterstützen und in Einzelfällen die faktischen Voraussetzungen dieses Freiheitsgebrauches sichern. Der einzelne behält die Herrschaft über seine Handlungen. 301 Vor dem Hintergrund dieser Handlungsherrschaft muß der staatliche Förderbeitrag zurücktreten. Das geför298
Siehe hierzu Dietlein, Schutzpflichten, S. 98 f. und 101. Das BVerfG spricht in seiner Mülheim-Kärlich-Entscheidung zwar von einer staatlichen „Mitverantwortung" für die Gefährdungen durch Kernkraftwerke (BVerfGE 53, 30 [58]); es macht diese allerdings am staatlichen Genehmigungsverfahren fest, während es die staatliche Subventionierung der Kernkraft nicht thematisiert. 299 Das Bundesverfassungsgericht hat sich im Gegensatz hierzu bislang auf die Beurteilung des staatlichen Genehmigungsaktes kapriziert und in seinen atomrechtlichen Entscheidungen die Frage der öffentlichen Subventionierung der Kernenergie nicht berührt. Hierauf weist zu Recht Dietlein, Schutzpflichten, S. 101, hin. 300 Teil 3 B.III.l.a)cc)(l)(a).
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derte Verhalten kommt dem Staat regelmäßig auch nicht direkt zugute, sondern nur mittelbar über seine erwünschten gesellschaftlichen oder volkswirtschaftlichen Wirkungen; der Subventionierte handelt nicht zum Wohle des Staates, sondern privatnützig. Gefördert werden dabei i.d.R. schon existente Handlungsoptionen. Angelegt werden darf in diesem Zusammenhang nicht ein schematischer Kausalitätsmaßstab im Sinne der Äquivalenztheorie. Der Respekt vor der Privatautonomie gebietet es, dem Privaten die alleinige Verantwortung für seine Handlungen - unabhängig von staatlicher Förderung - zu belassen, solange er Herr seiner Entscheidungen bleibt. Ob eine konkrete Investitionsentscheidung ohne die staatliche Hilfe nicht oder anders ausgefallen wäre, ist ohnehin im Einzelfall schwer zu ermitteln. Die berechtigte Skepsis gegenüber einer hypothetischen Betrachtung hinsichtlich eines Wegdenkens der staatlichen Subventionen 302 kann weder für noch gegen eine staatlichen Garantenstellung für das private Tun streiten, da sowohl die Annahme, der Private hätte ohne Subvention anders gehandelt, als auch die gegenteilige Annahme, die Subvention habe keinen maßgeblichen Einfluß auf seine Entscheidung gehabt, 303 von Hypothesen ausgehen. Es scheint auch systematisch widersinnig, die staatliche Förderung des Privaten als solche unbeanstandet zu lassen, aus dieser dann aber eine Einstehenspflicht des Staates gegenüber dem Handeln des Privaten ableiten zu wollen. Der Staat müßte also erst gegen die bestimmungsgemäße Verwendung der von ihm selbst überwiesenen Mittel vorgehen. Zu einer staatlichen Verantwortung für die private Mittelverwendung kann man daher in den Fällen gelangen, in denen die staatliche Förderung derart dominierend ist, daß der Private sich in der Rolle eines Erfüllungsgehilfen des Staates befindet. 304 Das Handeln des Privaten müßte dazu ganz überwiegend staatlich finanziert sein und die Aktivitäten müßten sich als Ausführung eines staatlichen Planes ausnehmen. 305 301 Es drängt sich hier wiederum eine Parallele zum strafrechtlichen Begriff der Tatherrschaft auf. Nicht von ungefähr hat die Strafrechtswissenschaft erhebliche Probleme, eine Mehrheit von Tatbeteiligten dogmatisch richtig einzuordnen, wenn Handelnde und Unterlassende zusammentreffen, vgl. hierzu nur Roxin, Täterschaft und Teilnahme, S. 476 ff.; Gössel, ZStW Bd. 96 (1984), S. 321 (333); Sowada, Jura 1986, 399 ff. 302 Vgl. Dietlein, Schutzpflichten, S. 101. 303 Vgl. Hermes, Schutz, S. 90. 304 So gestaltete sich der Sachverhalt etwa in BVerwGE 82, 76 ff., betreffend die staatliche Finanzierung eines privaten Vereins, mit dessen Hilfe Jugendsekten bekämpft werden sollten. 305 Das bloße Vorhandensein einer Abstimmung der Aktivitäten zwischen Staat und Privaten - wie sie v. a. in den siebziger Jahren zwischen Bund, Ländern, Kraftwerksbetreibern und Kerntechnologieherstellern erfolgte - dürfte v.a. dann nicht
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In diesen Fällen wird aber der Umweg über eine staatliche Verantwortung für das Handeln Privater, i.d.R. zum Zwecke eines angemessenen Grundrechtsschutzes, gar nicht erforderlich sein. Die staatliche Subventionierung Privater ist auch ohne eine Angleichung von staatlichem Tun und Unterlassen und auch außerhalb der Schutzpflichtenlehre keineswegs vom Prüfstand der Grundrechte entlassen. Neben dem grundrechtlichen Schutz der Konkurrenten, 306 kann die Abwehrfunktion der Grundrechte auch den von der subventionierten Tätigkeit nachteilig Betroffenen zugute kommen, indem die staatliche Subventionierung selbst den Tatbestand eines mittelbaren bzw. faktischen Grundrechtseingriffs erfüllt. 3 0 7 Dem Bedürfnis nach einer grundrechtlichen Erfassung der staatlichen Subventionierung kann prinzipiell besser über eine Anpassung des Eingriffsbegriffs in bezug auf die Attribute „hoheitlich" und „unmittelbar" Rechnung getragen als durch eine Auflösung des Maßnahmebegriffs. Da der Schwerpunkt der staatlichen Beteiligung in einem aktiven Tun, nämlich der Ausschüttung von Geld oder ähnlichen Leistungen besteht, ist für die Konstruktion eines pflichtwidrigen staatlichen Unterlassens kein Raum mehr. (e) Staatlich angeordnetes und kooperatives Handeln Ist der Staat nicht nur durch eine (finanzielle) Unterstützung, sondern durch eigene Maßnahmen an einem grundrechtsbeeinträchtigenden Handeln beteiligt, so handelt es sich - hinsichtlich des staatlichen Handlungsbeitrages - um eine Maßnahme, die als Grundrechtseingriff des Staates die Abwehrdimension der Grundrechte aktiviert, ohne daß es eines Abstellens auf ein Unterlassen des Staates ankäme. Das gemeinsame Handeln des Staates mit einem privaten Störer kann diesbezüglich nicht anders beurteilt werden als ein Alleinhandeln des Staates. Zugleich kann der Staat dadurch in eine Garantenstellung mit Blick auf die Handlungsbeiträge seines privaten Partners einrücken, wenn und soweit diese einen Bezug zu dem gemeinsamen Handeln aufweisen und ohne die staatliche Beteiligung unterblieben wären.
ausreichen, wenn die staatlichen Hilfen dadurch für einen Übergangszeitraum eine Katalysatorenfunktion einnehmen, die Investitionen aber prinzipiell rentabel sind und der staatliche Einfluß mittelfristig wieder abklingt, vgl. zu Umfang und Entwicklung der staatlichen Einflußnahme: Jarass, Der Staat Bd. 17 (1978), S. 507 (515 f.). Ein Gegenbeispiel, bei dem ein Rückzug des Staates die private Aktivität beenden würde, stellen die Steinkohlesubventionen dar. 306 Hierzu: Manssen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 12 Rz. 95; Wieland, in: Dreier, GG I, Art. 12 Rz. 82; Breuer, HdbStR VI, § 148 Rz. 77 ff.; vgl. a. BVerfGE 82, 209 (224 f.). 307 Siehe hierzu unten Teil 3 B.III. 1 .b). Vgl. hierzu wiederum den o.g. Fall (Fn. 304) BVerwGE 82, 76 ff.
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(2) Der Staat als Beschützergarant Ebensowenig wie die Rolle eines universellen Überwachungsgaranten kommt dem Staat eine universelle Beschützergarantenstellung zu. Durch den Eintritt in den Staatsverband als solchen erwächst dem Staat nicht die Rolle eines umfassenden Beschützergaranten. 308 Geht das Grundgesetz und die auf seinem Boden stehende Rechtsordnung von einem dem Staat vorgelagerten Freiheitsbegriff aus, so impliziert dies ein Grundvertrauen in die Selbständigkeit und Mündigkeit des Bürgers. Bereits die Entwicklungsgeschichte der Grundrechte und ihre systematische Stellung im Grundgesetz unterstreichen, daß der Staat seine Aufgabe nicht darin sieht, seine Bürger rundum zu umhegen und sie auf vertikale Rechtsbeziehungen zu ihm zu fokussieren. 309 Dem Bürger wird ein grundsätzlich frei gewählter und verantworteter Kontakt zum Mitbürger, bei dem immer auch die jeweiligen Freiheitssphären gegeneinander abzugrenzen sind, zugetraut. Dieses horizontale Interagieren wird als Regelfall der menschlichen Betätigung insbesondere in der grundrechtlich geschützten Vertragsfreiheit und ihren spezifischen Ausprägungen vorausgesetzt, vgl. Art. 2 Abs. 1, 9 Abs. 1, 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG. Die Indienstnahme der Grundrechte selbst als Quelle einer Garantenpflicht wäre zwar denkbar, brächte aber für die Argumentation keinen Vorteil. Die Schutzpflichtenfunktion selbst soll mit der Garantenpflicht erst begründet werden, kann diese - bei Vermeidung eines Zirkelschlusses - mithin nicht ihrerseits beweisen. Benötigt würde demnach eine andere, dritte Grundrechtsfunktion, jenseits von Eingriffsabwehr und Schutzpflicht, um eine Garantenstellung zu begründen. 310 Eine solche Funktion könnte zwar auch in der offeneren, objektiven Seite der Grundrechte gesucht werden, ist aber in der erforderlichen Allgemeingültigkeit hier nicht auszumachen. Letztlich führt die Suche nach einer aus anderen Grundrechtsfunktionen abgeleiteten Garantenpflicht lediglich zu einer Verlagerung des Herleitungsproblems. Auch das Sozialstaatsprinzip vermag eine Rechtspflicht zu einem umfassenden staatlichen Schutz jedenfalls nicht in der Weise zu begründen, daß der Staat daraus zum Garanten für den Freiheitsgebrauch des einzel308 Vgl. zu den grundsätzlichen Erwägungen der Staatslehre und Staatszwecklehre oben Teil 2 B. 309 Dieser Gedanke einer umfassenden Fürsorge steht verfassungshistorisch nicht in der Tradition des liberalen Rechtsstaates, sondern in derjenigen des aufgeklärten Absolutismus mit seiner „Verstaatung" der Gesellschaft und der Sozialdisziplinierung der Untertanen, vgl. zur Rolle von Staat und Gesellschaft in dieser Verfassungsepoche Boldt, Verfassungsgeschicht I, S. 226 ff. 310 S.o. bei Fn. 255 (S. 108).
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nen w i r d . 3 1 1 Dies hat seinen Grund nicht nur in der inhaltlichen Weite und Unbestimmtheit des Prinzips, 3 1 2 sondern insbesondere in der Fokussierung des Sozialstaatsprinzips auf den „Schutz des Schwachen". 313 Diesem selektiven Schutzansatz würde eine undifferenzierte, universelle Handlungspflicht widersprechen. Soweit man dem Sozialstaatsprinzip einen Schutzauftrag entnehmen kann, 3 1 4 steht dieser selbständig neben den Grundrechten, beschränkt sich also nicht auf die Etablierung der Hilfsfunktion „Garantenpflicht", sondern enthält bereits selbst die Rechtsfolgen einer Schutzpflicht. Ebenso wie in bezug auf den „Überwachungsaspekt" partielle Rechtspflichten des Staates vorstellbar sind, kann auch im Rahmen einer möglichen Beschützergarantenstellung die Ablehnung einer allgemeinen Handlungspflicht nicht von vornherein die Annahme sektoraler oder punktueller Beschützerpflichten des Staates ausschließen, deren Verletzung Grundrechtsrelevanz erlangen könnte. Solche spezifischen Pflichten lassen sich etwa dort ausmachen, wo der Staat in eine besonders enge Beziehung zu einzelnen Gruppen von Rechtssubjekten tritt. Es sind dies vornehmlich die Fälle sog. Sonderstatus- oder Sonderrechtsverhältnisse. Hier gestaltet der Gesetzgeber eine besondere staatliche Schutz- und Fürsorgepflicht regelmäßig einfachrechtlich aus. Beispiele sind beamtenrechtliche 315 und schulrechtliche 316 Fürsorgepflichten, aber auch entsprechende Vorschriften im Wehrrecht 317 oder im Recht des Strafvollzugs 318 . Generell können Anstaltsund Benutzungsverhältnisse solche besonderen Rechtsbindungen und Hand311 Für das Sozialstaatsprinzip als Quelle einer grundrechtsschützenden Garantenstellung votieren: Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 Rz. 26 (Stand: 1958); Lang-Hinrichsen, FamRZ 1974, 497 (504) - für eine Verpflichtung zum Strafrechtsschutz; vgl. a. Hermes, Schutz, S. 129 f. 312 Vgl. Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 Rz. 46; Zacher y FS Ipsen, S. 207 ff.; Schnapp, JuS 1998, 873 ff.; Hermes, Schutz, S. 131 f. 313 BVerfGE 26, 16 (37); 45, 376 (387 f.); Benda, HdbVerfR, § 17 Rz. 88. Der Begriff des „Schwachen" ist im Hinblick auf eine besondere sozialstaatliche Schutzpflicht treffender als der vielfach benutzte komparative Terminus, „Schutz des Schwächeren", weil letzterem eher ein Konzept der Gleichheit denn eines der sozialen Fürsorge und Hilfe zugrundeliegt. 314 Siehe hierzu unten Teil 6 C.I 315 Siehe die - vornehmlich leistungsrechtlich zu verstehenden - Fürsorgepflichten des Dienstherren gem. §§48 ff. BBG und die entsprechenden landesrechtlichen Vorschriften (z.B. §§ 85 ff. LBG NW). 316 Hervorzuheben sind hier Pflichten in bezug auf die Gesundheit der Schüler, vgl. etwa § 29 Schulverwaltungsgesetz NW. 317 § 10 Abs. 4 SoldatenG formuliert als Pflicht des Vorgesetzten prägnant: „Er hat für seine Untergebenen zu sorgen." 318 Gem. § 3 Abs. 2 StVöllzG ist „schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges ... entgegenzuwirken"; gem. § 56 Abs. 1 StVöllzG ist „für die körperliche und geistige Gesundheit der Gefangenen ... zu sorgen".
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lungspflichten begründen. 319 Da selbst für die vormals als „besondere Gewaltverhältnisse" apostrophierten Sonderstatusverhältnisse eine Grundrechtsgeltung anerkannt i s t , 3 2 0 kann eine Mißachtung dieser Schutz- und Fürsorgepflichten - in bezug auf Störungen seitens Dritter - einen die Abwehrdimension der Grundrechte aktivierenden Grundrechtseingriff darstellen. Unverzichtbar ist das Kriterium einer besonderen Nähe zu dem schutzsuchenden Bürger, das ihn - situativ begrenzt - aus der Masse der Grundrechtsträger heraushebt. Indem der Staat einzelne Bürger in ein derartiges Rechtsverhältnis zwingt oder ein solches Verhältnis jedenfalls absichtlich zur Erreichung eines bestimmten öffentlichen Zwecks begründet, übernimmt er auch eine besondere Verantwortung, insoweit der Bürger in diesen Beziehungen Gefahren ausgesetzt ist, denen er außerhalb dieses Rechtsverhältnisses ausweichen oder aber wirksamer begegnen könnte. Auch in diesen besonderen Näheverhältnissen schützt die Beschützergarantenpflicht nicht allumfassend vor Störungen Dritter, sondern ihre Reichweite wird beschränkt durch das allgemeine Lebensrisiko. So sind etwa die Belästigungen, die von Tabakqualm ausgehen, kein Spezifikum von Sonderstatusverhältnissen oder anderen besonderen Nähebeziehungen zwischen Staat und Bürger, sondern ein allgemeines gesellschaftliches Phänomen. 321 Die sozial üblichen Möglichkeiten, durch einen Appell an die Rücksichtnahme der Raucher oder durch eine Nutzung zur Verfügung stehender Ausweichmöglichkeiten einer Störung zu entgehen, stehen in aller Regel innerhalb und außerhalb von Sonderstatusverhältnissen gleichermaßen zur Verfügung. Der Mensch steht auch außerhalb von Schule, Bundeswehr und Beamtenverhältnis in vielfältiger Interaktion mit seinem Umfeld. In der Familie, am (nichtstaatlichen) Arbeitsplatz oder im Freizeitbereich läßt sich für die meisten eine Strategie der gesellschaftlichen Abschottung ebensowenig durchhalten wie in den eben genannten staatlich organisierten Lebensbereichen. Innerhalb der verschiedenen Sonderstatusverhältnisse bzw. staatlich geordneten Rechtsverhältnisse gibt es allerdings Raum und Anlaß für Differenzierungen. So dürfte angesichts der aufgrund von Art. 7 GG dichteren staatlichen Verantwortung im Schulbereich die Hinnahme des Rauchens von Schülern jedenfalls im Betrieb staatlicher Schulen eine Verletzung einer durch das 319
Vgl. etwa zu den Verkehrssicherungspflichten des Staates gegenüber den Benutzem öffentlicher Sachen: Bartlsperger, Verkehrssicherungspflicht, S. 49 ff. 320 BVerfGE 33, 1 (10 f.); Battis/Gusy, Staatsrecht, Rz. 382; Merten, in: Merten, Gewaltverhältnis, S. 53 (63 f.); Stern, Staatsrecht, III/l, S. 1383 ff. 321 Insoweit ist einer sehr weitgehenden Entscheidung des VG Schleswig (NJW 1975, 275), die gar bei einer privaten Fortbildungsveranstaltung, wegen des staatlichen Teilnahmezwanges von einem Grundrechtseingriff aufgrund des Tabakrauchens anderer Veranstaltungsteilnehmer ausging, schon unter diesem Aspekt entgegenzutreten; dem VG jedoch zustimmend Hermes, Schutz, S. 83; kritisch und i. Erg. ablehnend: Dietlein, Schutzpflichten, S. 100.
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
Schulverhältnis auferlegten Pflicht zum Einschreiten und mithin einen Grundrechtseingriff darstellen. (3) Die Konsequenzen der abwehrrechtlichen
Lösung
Die in weiten Teilen der Literatur geteilte und anhand des fehlenden Kriteriums der Garantenstellung untermauerte Ablehnung der sog. abwehrrechtlichen Lösung wird mit einem Blick auf die Konsequenzen einer Gleichsetzung von staatlichem Unterlassen und Eingreifen für den Privatrechtsverkehr bestätigt. Grundrechte enthalten typischerweise keine Rechtszuweisungen für das Verhältnis der Grundrechtsträger untereinander. 322 Dieser - im Rahmen der Privatrechtswirkung der Grundrechte noch genauer zu diskutierende 323 - Befund gegen eine generelle und direkte Horizontalgeltung der Grundrechte droht überspielt zu werden, wenn man den Staat als Adressaten von Schutzpflichten in der Argumentation nur formal zwischenschaltet. Wenn auf der Grundlage einer Gleichsetzung von staatlichem Handeln und Unterlassen Abwehr- und Schutzpflichtenseite der Grundrechte als gleichermaßen konstituierend angesehen würden, so gäbe man dem Gesetzgeber letztlich von Verfassungs wegen eine „maßstabsgetreue" Umsetzung des abwehrrechtlichen Programms der Grundrechte in ein gegen private Störer gerichtetes Regelungsnetz auf. Im Ergebnis wirkten die Grundrechte im Privatrechtsverkehr nicht mehr anders als im Staat-Bürger-Verhältnis. b) Abgrenzung der Abwehr- von der Schutzpflichtenfunktion Die Frage nach dem Verhältnis von Abwehr- und Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte wird mit der Ablehnung der abwehrrechtlichen Lösung nur negativ beantwortet: Die Schutzpflichten sind kein bloßer Unterfall der Abwehrdimension der Grundrechte. Systematisch unbefriedigend wäre aber auch ein Ergebnis, wonach sie sich von Fall zu Fall als Eingriff oder als eine eigenständige Kategorie auffassen ließen; dadurch würden sie sich gegen eine in sich schlüssige dogmatische Behandlung sperren. Für die Rechtsfigur der grundrechtlichen Schutzpflicht besteht nur dort ein Bedürfnis, wo der - in seiner Herleitung wie in seinen Rechtsfolgen vergleichsweise klarer konturierte - Eingriffsbegriff an seine Grenzen stößt. Es folgt „aus dem komplementären Verhältnis von staatlicher Schutz- und Achtungspflicht ..., daß beide Rechtspflichten im konkreten Einzelfall nur alternativ, niemals aber kumulativ angesprochen sein können." 3 2 4 322
Siehe Dietlein, Schutzpflichten, S. 43 m.w.N. Siehe unten Teil 6 B.II. 324 Dietlein, Schutzpflichten, S. 87 f. Eine Ausnahme hiervon kommt in Betracht, wenn der Staat einen mit Hoheitsgewalt Beliehenen einschaltet; hier beziehen sich 323
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Dennoch kann ein und derselbe Lebenssachverhalt sowohl die Eingriffsabwehr- als auch die Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte auf den Plan rufen. Entscheidend ist, welches seiner Elemente Gegenstand der Grundrechtsprüfung ist. Begrifflich zu trennen ist zwischen einer staatlichen Verantwortung für ein privates Tun einerseits und einem mittelbaren oder faktischen Grundrechtseingriff durch staatliche Organe andererseits. Während im ersteren Fall Anknüpfungspunkt der Grundrechtsprüfung das Handeln eines Privaten ist, das dem Staat lediglich kraft einer - nur im Ausnahmefall bestehenden - Garantenstellung zugerechnet werden kann, ist der Prüfungsgegenstand beim mittelbaren Grundrechtseingriff das staatliche Handeln selbst, ohne daß es auf eine staatliche Verantwortung für die privaten Handlungen im einzelnen ankäme. Eine solche sorgfältige Unterscheidung ist unabdingbar für eine Entwirrung staatlicher und privater Verantwortungen als Voraussetzung einer schlüssigen Argumentation. Diese begriffliche Unterscheidung fehlt in Stellungnahmen der Rechtsprechung und der Literatur leider oftmals, 3 2 5 da zwischen den beiden Fallgruppen in der Rechtspraxis keine scharfe Trennlinie verläuft. Die als Anknüpfungspunkt für eine Garantenpflicht des Staates in Betracht kommende Handlung kann regelmäßig auch einen zumindest mittelbaren Eingriff darstellen. Das praktische Zusammenfallen macht eine theoretische Entscheidung keineswegs überflüssig, allerdings ergibt sich hieraus - für eine ergebnisorientierte Betrachtung - die weitgehende Entbehrlichkeit der Zurechnung privaten Handelns: Die Konstruktion eines Eingriffs durch Unterlassen bedeutet ein Mehr an staatlicher Grundrechtsbindung nur insoweit, als bestimmte Auswirkungen insbesondere legislativer staatlicher Maßnahmen vom Gesetzgeber im einzelnen nicht vorausgesehen werden konnten und daher der erforderliche Zurechnungszusammenhang zwischen einer (legislativen) Maßnahme, die eine Garantenstellung begründet, und einer Grundrechtsverkürzung nicht mehr herzustellen ist. In solchen Fällen - wie etwa dem Festnahmerecht gem. § 127 StPO - ist die Anknüpfung an den staatlichen Normsetzungsakt zwar theoretisch möglich, jedoch für die Überprüfung eines konkreten Falles der Normanwendung durch einen Privaten nicht mehr ausreichend zur Annahme eines mittelbaren staatlichen Eingriffs. Der Staat haftet hier abwehrrechtlich nicht aufgrund eigenen Handelns in Gestalt des Erlasses von § 127 StPO, sondern lediglich als Überwachungsgarant für den Festnehmenden wegen seiner in dieser Norm statuierten (ausnahmsweisen) Garantenstellung. 326 Schutzpflicht und Abwehrrecht aber auf zwei unterschiedliche Hoheitssubjekte, siehe unten Teil 5 C.IV.l.c). 325 Ein positives Gegenbeispiel ist die Darstellung bei Dietlein, Schutzpflichten, S. 101 f. 326 Siehe oben Teil 3 B.III.l.a)cc)(l)(c).
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Von diesen Fallkonstellationen abgesehen aber ist die i.d.R. etwas umständliche und dogmatisch nach wie vor schwer zu bewältigende Konstruktion eines Grundrechtseingriffs durch Unterlassen verzichtbar. Die Abwehrfunktion ist dank des heute allgemein anerkannten weiten Eingriffsbegriffs in der Lage, den Bedürfnissen nach einem Grundrechtsschutz bei staatlich induziertem Handeln Privater Rechnung zu tragen, indem sie an den Veranlassungsakt anknüpft. 327 Sind beide Grundrechtsfunktionen berührt, so ist i.d.R. nur die abwehrrechtliche Seite von Belang. 3 2 8 Eines Rückgriffs auf grundrechtliche Schutzpflichten bedarf es insoweit nicht. Daß jedoch auch dieser Veranlassungsakt nicht pauschal als Einbruchsteile der Grundrechtsgeltung genutzt werden kann, sondern es auf dessen Qualität und Finalität im Einzelfall ankommt, zeigen die im folgenden angesprochenen Fallgruppen der staatlichen Genehmigung und der staatlichen Förderung privater Aktivitäten. aa) Staatliche Genehmigungen Wenn die staatliche Genehmigung dem Staat schon nicht die Verantwortung für das die Genehmigung ausnutzende Verhalten überbürdet, 329 so bleibt die Frage, ob der Genehmigung nicht als solcher die Qualität eines staatlichen Eingriffshandelns beizumessen ist. In diese Richtung schien insbesondere die frühere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum baurechtlichen Drittschutz zu weisen. Ein von den nachteiligen Auswirkungen eines Bauvorhabens betroffener Nachbar erleidet danach einen mittelbaren Grundrechtseingriff durch die Baugenehmigung, wenn die vorgegebene Grundstückssituation nachhaltig verändert und er dadurch „schwer und unerträglich" 330 i.S. einer „enteignungsrechtlich beachtlichen Unzumutbark e i t " 3 3 1 getroffen w i r d . 3 3 2 Gegen die Deutung der (rechtswidrigen) Baugenehmigung als Eingriff in die Grundrechte des Nachbarn ist aber überzeugend eingewandt worden, 327
Vgl. BVerfGE 66, 39 (60); 85, 386 (399); Enders, in: Berliner Kommentar, vor Art. 1 Rz. 110 f. (Grundw. Okt. 2000); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 1 Rz. 231. 328 Vgl. Manssen, Staatsrecht I, Rz. 58. 329 S.o. Teil 3 B.III.l.a)cc)(l)(b). 330 BVerwGE 32, 173 (Ls.); BVerwG, DVB1. 1970, 60 (61 f.); BVerwGE 36, 248 (249). 331 BVerwG, DVB1. 1978, 614 (617). 332 In der Literatur zustimmend: Kimminich, in: Bonner Kommentar, Art. 14 Rz. 249; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rz. 85 (1994). Noch weiter ging das BVerwG in einer Entscheidung aus dem Jahre 1979, als es einen schweren und unerträglichen Eingriff nicht mehr als Voraussetzung einer Aktivierung von Art. 14 GG verlangte, BVerwGE 50, 252 (257).
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daß es „nicht der Staat [ist], sondern der private Bauherr, welcher in das Eigentum des Dritten eingreift". 3 3 3 Der Staat, der sich entscheidet, einen Genehmigungsvorbehalt für bauliche Anlagen vorzusehen, schützt damit auch - die Grundrechte der Nachbarn von Bauvorhaben. Weist man die gesetzliche Statuierung dieses Vorbehalts der Schutzdimension der Grundrechte zu, so kann für die Genehmigungserteilung selbst nichts anderes gelten. Durch sie „öffnet" der Staat lediglich den errichteten „Schutzgürtel" für den Einzelfall. 3 3 4 Die Nachbarklage auf Aufhebung der Baugenehmigung wehrt demnach keinen staatlichen Eingriff ab, sondern ist auf die Gewährung eines stärkeren Schutzes durch Schließung der durch die Genehmigung entstandenen Schutzlücke gerichtet. 335 Im Falle der begründeten Anfechtungsklage würde der Staat mit der Aufhebung der Baugenehmigung den ursprünglichen Rechtszustand des präventiven Bau Verbotes wiederherstellen und damit seine Schutzpflicht einlösen. Das Bundesverwaltungsgericht ist von seiner Rechtsprechung denn auch in einer späteren Entscheidung wieder abgerückt und zeigt sich nunmehr prinzipiell skeptisch gegenüber Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG „als Anspruchsgrundlage für einen Abwehranspruch" des Nachbarn. 336 Der Nachbarschutz wird vielmehr den drittschützenden Regelungen des einfachen Rechts überantwortet. Damit konzentriert sich Art. 14 GG auf seine Rolle als Maßstab der Gesetzgebung. Er entfaltet seine Wirkung gegenüber dem Gesetzgeber im Zusammenspiel von Institutsgarantie und Schutzpflicht zugunsten der von Bauvorhaben betroffenen Nachbarn; die von vornherein nicht überzeugende Konstruktion der Baugenehmigung als abwehrrechtsaktivierender Eingriff wird somit entbehrlich. Für den Bereich des Umwelt- und Anlagenbetriebsrechts sind staatliche Eingriffe in Grundrechtspositionen zum einen bei faktischen Beeinträchtigungen durch hoheitliche Staatsaktivitäten sowie in den seltenen Fällen expliziter Duldungsgebote gegenüber umweltbelastendem Verhalten von Staatsorganen auszumachen. Zum anderen stellt die Beschränkung der privaten Emittenten im Wege umweltrechtlicher Standards und Genehmigungsverfahren einen Grundrechtseinriff dar. 3 3 7 Hingegen steht der Schutz von belasteten Nachbarn ebenso wie im Baurecht außerhalb der Abwehrfunk333
Schwerdtfeger, NVwZ 1982, 5 (7), welcher der Judikatur allerdings im Ergebnis beipflichtet; vgl. a. Dietlein, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 92 ff. 334 Dietlein, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 94. 335 Vgl. Dietlein, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 95; Hermes, Schutz, S. 275 Fn. 487; a.A. Schwabe, NVwZ 1983, 523 (524): 336 BVerwGE 89, 69 (78); in der Literatur wird die Entscheidung als Zeichen für eine „dauerhafte Abkehr von den vormals verfochtenen Grundsätzen" gewertet, Bönker, DVB1. 1994, 506 (508); ebenso: Wahl, FS Redeker, S. 245 (266 f.). 337 Kloepfer, Umweltrecht, § 3 Rz. 5 f.
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tion der Grundrechte. 338 Der vom Bundesverfassungsgericht in seiner Mülheim-Kärlich-Entscheidung 339 verwandte Begriff der Mitverantwortung, dessen dogmatische Unergiebigkeit für die staatliche Zurechnung privaten Verhaltens bereits dargelegt wurde, 3 4 0 kann auch nicht im Sinne einer Eingriffswirkung der Anlagengenehmigungen gedeutet werden. Den gegenteiligen Standpunkt einzunehmen hieße, Ursache und Wirkung im Verhältnis zwischen staatlicher Schutzverpflichtung und Genehmigungsrecht zu verkennen. Der Erlaubnis- oder Genehmigungsvorbehalt in seinen verschiedenen Spielarten muß als Rechtsfolge einer grundrechtlichen Schutzverpflichtung gewertet werden. Er ist hingegen nicht selbst Grundrechtseingriff und kann somit nicht Auslöser eines Abwehranspruches sein. 3 4 1 bb) Staatliche Förderung und Finanzierung Eine sehr viel komplexere Frage als die der staatlichen Genehmigung ist die nach der Eingriffsrelevanz staatlicher Förder- und Finanzierungsmaßnahmen. Daß der Staat durch seine Förderung oder Finanzierung nicht zum Teilnehmer an störenden Maßnahmen privater Dritter wird, folgt bereits aus der auch verfassungsrechtlich verankerten Privatautonomie und dem Gedanken der Eigenverantwortlichkeit in einem rechts staatlichen Gefüge mit einer prinzipiell begrenzten Staatsmacht und einem prinzipiell unbegrenzten und dem Staat logisch vorausliegenden Freiheitsraum der Bürger. 3 4 2 Der Respekt vor der Selbstverantwortung des Bürgers schließt hingegen nicht die Prüfung aus, ob das Finanzierungs- und Förderverhalten des Staates bereits als solches einen Eingriff in die Grundrechte Dritter darstellt. In diesem Kontext stellt sich zum einen die Frage, ob staatliche Finanzierung Grundrechte des - beispielsweise bei einer Subventionierung - nicht berücksichtigten Wettbewerbers verletzen kann. 3 4 3 Aber auch für andere, von der Mittelverwendung ausgehende Störungen der Rechtssphäre privater 338
Vgl. Kloepfer, Umweltrecht, § 3 Rz. 9. BVerfGE 53, 30 (58 f.). 340 S.o. Teil 3 B.III.l.a)cc)(l)(b). 341 Dies wäre anders nach der Konzeption des VGH Kassel, DVB1. 1990, 63 = NJW 1990, 336 (vgl. o. Teil 3 A.II.), welche die Bereitstellung und Durchführung eines Genehmigungsverfahrens zur Voraussetzung des Betriebs einer gentechnischen Anlage erhebt. Denn die Einführung eines gesetzlichen Genehmigungsverfahrens würde bei dieser Sichtweise die betroffenen Nachbarn gegenüber dem (angenommenen) status quo ante eines präventiven, verfassungsunmittelbaren Verbots schlechter stellen. Die ausgesprochene Genehmigung belastete sie somit unmittelbar. Bei einer solchermaßen direkten Belastung aufgrund der staatlichen Genehmigung eines ansonsten unzulässigen Verhaltens käme man kaum um die Qualifizierung der Genehmigung als Grundrechtseingriff umhin. 342 S.o. Teil 3 B.III.l.a)cc)(l)(d). 339
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Dritter kann sich die Frage einer staatlichen „Mitverantwortung" 3 4 4 aufgrund der finanziellen Unterstützung des Störers stellen. Das störende Verhalten wird dem Geförderten zwar nicht im Sinne des klassischen, auf Imperativität abstellenden grundrechtlichen Eingriffsbegriffs zwingend vorgegeben. Zwischen Finanzierung und dem störenden Resultat besteht allerdings ein Kausalzusammenhang, dessen abwehrrechtliche Relevanz im Wege einer wertenden Betrachtung unter Berücksichtigung der strukturellen Eigenart des jeweiligen Schutzgegenstandes zu ermitteln i s t . 3 4 5 Zu prüfen ist jeweils, ob die staatliche Förderung selbst bereits die Eingriffsschwelle überschreitet. Nicht-imperative und nur motivierende bzw. beeinflussende Einwirkungen scheiden nicht per se als Eingriff aus. Die Verschaffung finanzieller Handlungsmöglichkeiten fällt auch bei bereits vorhandener Handlungsbereitschaft als sog. Drittbeeinträchtigung prinzipiell in den Anwendungsbereich der grundrechtlichen Abwehrrechte. 346 Aber auch die entgegengesetzte Extremposition kann nicht bezogen werden, denn nicht jede finanzielle Förderung des Staates darf dem betroffenen Dritten gegenüber als Eingriff gelten. Ansonsten entfaltete fast das gesamte faktische Handeln des Staates - weit über den Bereich des Subventionierens hinaus - abwehrrechtliche Wirkungen, die sich allein wegen ihres unübersehbaren Umfanges einer rechtlichen Aufbereitung entzögen. 347 (1) Abgrenzung zu verwandten
Formen des Staatshandelns
Die Finanzierung und Förderung privater Dritter ist hinsichtlich ihrer abwehrrechtlichen Bedeutung von benachbarten Formen staatlichen Verwaltens und Wirtschaftens abzugrenzen. Einen Grundrechtseingriff bejaht man zu Recht dort, wo der Staat selbst Einrichtungen schafft, deren bestimmungsgemäßer Gebrauch durch Private Beeinträchtigungen herbeiführt. 348 Der Staat tritt hier als „Zweckveranlasser" auf. 3 4 9 So ist im Verkehrswegebau durch die Linienführung und Di343 Vgl. Jarass, NVwZ 1984, 473 (477); ders., Wirtschaftsverwaltungsrecht und Wirtschaftsverfassungsrecht, § 10 II Rz. 72 f.; Maurer, Allg. VerwR, § 6 Rz. 14; Bauer, DÖV 1983, 53 ff.; Huber, Konkurrenzschutz, S. 135 f.; siehe aus der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung die - den Grundrechtsschutz des Konkurrenten bejahende - Leitentscheidung BVerwGE 30, 191 (198). 344 BVerfGE 53, 30 (59). 345 Stern, Staatsrecht III/2, S. 174 ff. 346 BVerwGE 90, 112 (118 ff.); Stern, Staatsrecht III/2, S. 172. 347 Jarass, NVwZ 1984, 473 (476). 348 Dietlein, Schutzpflichten, S. 99; Hermes, Schutz, S. 84. 349 Rauschning, VVDStRL Bd. 38 (1980), S. 167 (182); Hermes, Schutz, S. 84. 9 Krings
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
mensionierung einer Straße oder künstlichen Wasserstraße Richtung und Ausmaß ihrer privaten Nutzung bereits vorgegeben. 350 Der staatliche Bau der Verkehrswege und nicht erst ihre private Benutzung berühren den grundrechtlichen Schutzbereich; 351 zumal der Staat sich angesichts chronisch knapper Finanzen für einen Verkehrswegebau „auf Vorrat" nicht hergeben würde. Auf der anderen Seite gilt es, die staatliche Teilnahme am allgemeinen Wirtschaftsverkehr von der Subventionierung abzugrenzen. Hier beteiligt sich der Staat am Wirtschaftsverkehr, ohne daß er mit seinem Handeln unmittelbar einen öffentlichen Zweck verfolgt. Er verschafft sich hier lediglich die Mittel, die er zur Verfolgung seiner öffentlichen Zwecke benötigt (privatrechtliche Hilfsgeschäfte zur Bedarfsdeckung), oder er erschließt sich gar nur eine zusätzliche Einnahmequelle (insbes. erwerbswirtschaftliche Wettbewerbstätigkeit). Die Frage des Grundrechtsschutzes wird in diesem Bereich der Staatstätigkeit üblicherweise unter dem Stichwort der Fiskalgeltung der Grundrechte erörtert. Es stellt sich wiederum die Frage, ob die Teilnahme am Wirtschaftsverkehr Grundrechte von Wettbewerbern, sofern sie etwa bei einem Vertragsabschluß nicht zum Zuge gekommen sind, verletzen kann. Dagegen spricht, daß der strukturelle Unterschied zwischen Staat und Bürger als Grundmotiv des Grundrechtsschutzes dort nicht zum Tragen kommt, wo der Staat wie ein privates Wirtschaftssubjekt am Marktgeschehen teilnimmt. Die Stellung des Staates relativiert sich heute zudem vor dem Hintergrund international tätiger Großunternehmen, die sich in ihrer Wirtschaftskraft auch mit souveränen Staaten messen und sich überdies dem Zugriff einzelner Rechtsregime mittels grenzüberschreitender Konzernstrukturen jedenfalls partiell entziehen können. In weiten Teilen der Literatur wird jedenfalls eine unmittelbare Grundrechtsgeltung sowohl für die Bedarfsdeckungsgeschäfte einschließlich der Auftragsvergabe 352 wie auch für die erwerbswirtschaftliche Wettbewerbstätigkeit 353 abgelehnt. 350 y o n Verkehrslärm und Abgasen (unzumutbar) betroffenen Anwohnern steht daher nach richtiger Ansicht ein Abwehranspruch aus Art. 2 Abs. 2 GG zu, Schmidt-Aßmann, Lärmschutz, S. 25 ff.; Hermes, Schutz, S. 84. Das wird auch für Eisenbahntrassen gelten, wenn nurmehr der Schienenweg in staatlicher Trägerschaft verbleiben sollte, der Zugverkehr selbst jedoch privatisiert würde, vgl. Art. 87e Abs. 3 GG. 351 Kann bei der Trassierung dem Lärmschutz nicht ausreichend Rechnung getragen werden, müssen die erforderlichen Lärmschutzmaßnahmen getroffen werden, siehe: BGHZ 64, 220 (227). 352 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Rz. 135 (Stand: 1958); Wertenbruch, JuS 1961, 105 (108 ff.); Leisner, BB 1970, 405 (406). A.A. etwa Huber, JZ 2000, 877 (878). 353 Hier ist das Meinungsbild besonders eindeutig, denn bei der erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit geht es auch nicht mehr mittelbar um die Verfolgung öffentlicher Zwecke, sondern lediglich um die Erschließung einer zusätzlichen Einnahme-
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Jegliche Bemühungen, die staatliche Teilnahme am allgemeinen Wirtschaftsverkehr aus der Grundrechtsbindung herauszulösen, müssen indes an der zu Recht umfassend verstandenen Norm des Art. 1 Abs. 3 GG scheitern. 3 5 4 Die Anwendbarkeit des Art. 1 Abs. 3 GG ist aber von der Problematik zu unterscheiden, ob und in Bezug auf wen staatlichem Tätigwerden in diesem „Fiskalbereich" der Charakter eines Grundrechtseingriffs beigemessen werden kann. Aufgrund der nicht-öffentlichen Zwecksetzung ist bei der Annahme einer Eingriffswirkung Zurückhaltung angezeigt. Wo diese gegenüber dem übergangenen Antragsteller bzw. Bewerber noch angenommen werden kann, wird sie in bezug auf Dritte, welche die negativen tatsächlichen Folgen des staatlich subventionierten oder finanzierten Handelns spüren, i.d.R. nicht gegeben sein. 3 5 5 Es ginge beispielsweise zu weit, dem Staat die Verantwortung für die Fernwirkungen des durch seine Vergabe indizierten Handelns privater Auftragsnehmer zu überbürden, indem man ihm etwa bei dem vielfach zitierten Schulfall des „Bleistiftkaufes für die Verwaltung" grundrechtlich für die - ökologisch vermittelten - gesundheitlichen Folgen der zum Zwecke der Bleistiftproduktion erfolgenden Abholzung zur Rechenschaft zieht. Der Kreis der (grundrechtsexemten) staatlichen Teilnahme am Wirtschaftsverkehr ist andererseits eng zu ziehen. Soweit eine staatliche Auftragsvergabe zugleich auch öffentliche Zwecke verfolgt, z.B. auch wirtschafts- oder strukturpolitisch motiviert ist, treten die Parallelen zum Verwaltungsprivatrecht in den Vordergrund. Wie im Verwaltungsprivatrecht ist von der Grundrechtsgeltung dann ohne weiteres auszugehen. Die Frage des Grundrechtseingriffs wird sich nur hier ähnlich wie bei der staatlichen Finanzierung und Subventionierung stellen. (2) Zuordnungskriterien Für den Bereich der unmittelbaren finanziellen Unterstützung Dritter, die im Hinblick auf ihre Eingriffsrelevanz gleichsam zwischen den staatlich geschaffenen Einrichtungen und der staatlichen Teilnahme am Wirtschaftsverquelle in Gestalt von Gewinnen. Hier würde eine Grundrechtsbindung daher in erhöhtem Maße problematisch sein, zumal die erwerbswirtschaftliche Tätigkeit oftmals in Form von gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen erfolgt. Vgl. Emmerich, Wirtschaftsrecht, S. 128 ff.; ders., JuS 1970, 332 (334); Badura, Staatsrecht, I Rz. 115. 354 Zeidler, VVDStRL Bd. 19 (1961), S. 208 (230); Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 348; Stern, Staatsrecht III/l, S. 1411 ff. m.w.N. 355 Bei der staatlichen Auftragsvergabe indiziert nach der Gegensansicht insbesondere eine Monopolstellung der öffentlichen Hand einen Eingriff in die Grundrechte (i.d.R. Art. 12 Abs. 1 GG) des übergangenen Bieters/Bewerbers, Huber, JZ 2000, 877 (880). *
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
kehr anzusiedeln ist, können lediglich einige Orientierungsmarken zur Unterscheidung von abwehrrechtsrelevanten und -irrelevanten Finanzierungen für die Einzelfallabwägung gegeben werden. (a) Subventionsquote Als wichtiger Indikator ist für den grundrechtlichen Konkurrentenschutz die relative Höhe der Subvention im Verhältnis zum gesamten Investitionsvolumen bzw. zu den aufgebrachten Eigenmittel angeführt worden. 3 5 6 In der Tat ist die staatliche Lenkungswirkung um so stärker, und drängt sich die Relevanz des Finanzierungsaktes für die Grundrechte Dritter um so eher in den Vordergrund, als der Staat die finanzielle Hauptlast der störenden Handlung des Subventionierten trägt. Dies gilt für den nicht berücksichtigten Mitbewerber, für den ein hoher Förderanteil praktisch eine Entwertung seines aufgebauten Bestandes (Art. 14 Abs. 1 GG) bzw. einen faktischen Ausschluß vom Wettbewerb bewirken kann, 3 5 7 aber ebenso aus der Sicht des Geförderten: Hat die Unterstützung ein derartiges Ausmaß, daß v.a. dem ökonomisch rational handelnden Unternehmer angesichts der gleichfalls in den Genuß des Subventionsangebotes kommenden Wettbewerber keine Wahl bleibt, als sein Verhalten an den Subventionskriterien auszurichten, 358 bleibt ihm praktisch keine echte Entscheidungsfreiheit. Die wirtschaftliche Entscheidungsebene wird hier in Wahrheit auf den Staat verlagert; das Handeln des Privaten ist durch die staatliche Subventionierungsentscheidung determiniert. Die relative Förderhöhe kann daher als Indikator für das Vorliegen eines Eingriffs auch über den Konkurrentenschutz hinaus auf andere Fälle von Drittbeeinträchtigungen erstreckt werden. (b) Vörhersehbarkeit und Finalität Ein zusätzliches Kriterium ist die Vörhersehbarkeit der drittschädigenden Auswirkungen. Nur wenn die subventionierende staatliche Stelle Kenntnis von den negativen Auswirkungen auf Dritte hatte oder zumindest ohne unvertretbaren Aufwand hätte erlangen können, ist ein hinreichend enger Zusammenhang, der über eine bloß äquivalente und damit schier uferlose Kausalität hinausgeht, gegeben. Diese Vorhersehbarkeit ist dann ohne weiteres gegeben, wenn die Art der staatlichen Unterstützungsmaßnahme bereits Inhalt und Umfang der Belastung dritter Grundrechtsträger vorgibt. Ausrei356
Jarass, NVwZ 1984, 473 (477). Schmidt, JuS 1999, 1107 (1111). 358 y o n d e r hier interessierenden Verantwortung des Staates gegenüber Dritten ist die Frage abzugrenzen, ob angesichts einer solchen, durch die Subventionierung geschaffenen Lage, auch ein Eingriff in die Grundrechte der Subventionierten vorliegt. 357
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
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chend ist das sichere Wissen um die negativen Folgen im Sinne eines (strafrechtlichen) dolus directus zweiten Grades. In diesen Fällen wird eine staatliche Maßnahme i.d.R. zugleich final auf ein Ergebnis gerichtet sein, das den Dritten zwangsläufig belastet. Die Finalität des staatlichen Handelns wird zwar in der Literatur nicht als unabdingbare Voraussetzung eines Eingriffs angesehen, 359 in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung wird allerdings zu Recht betont, daß die Zielrichtung des Verwaltungshandelns ein „tragendes Kriterium für die Annahme eines Grundrechtseingriffs" sein soll. 3 6 0 Soweit das Bundesverfassungsgericht in bestimmten Fällen ausdrücklich auf die Finalität des Handelns verzichtet, ersetzt es diese zum Teil durch ähnliche, schutzbereichsspezifische Kriterien wie etwa die „berufsregelnde Tendenz" bei Art. 12 Abs. 1 G G . 3 6 1 Dies bedeutet keine Forschung nach den Motiven des Gesetzgebers; Gegenstand der Untersuchung ist der verobjektivierte Gesetzeszweck und damit ein der Finalität jedenfalls funktionell sehr ähnliches Kriterium, das man verallgemeinernd etwa als „objektive Finalität" charakterisieren kann. Eine solche Finalität bzw. ein dolus directus des staatlichen Handelns sind indiziert, wenn das Handeln des privaten „Störers" sich nurmehr als Vollzug eines mit der staatlichen Subvention verbundenen Handlungsprogramms darstellt.
(c) Steuerungsebenen Mit dem Gedanken der Vorhersehbarkeit und der Finalität verbunden ist die Berücksichtigung der Steuerungsebene des Finanzierungszwecks. Subventioniert der Staat im Sinne einer Globalsteuerung nur pauschal einen Wirtschaftssektor oder eine Gruppe von Unternehmen nach allgemeinen Kriterien, etwa durch die Vergabe zinsbegünstigter Darlehen in der Phase der Existenzgründung oder zur Abwendung krisenhafter Entwicklungen, so mangelt es an einem ausreichend engen Bezug zwischen dem staatlichen Mitteleinsatz und den Unternehmensaktivitäten (etwa der Industrieproduktion und den damit verbundenen Luft- oder Lärmemissionen). Einen Eingriff kann man in solchen Fällen allenfalls gegenüber dem nicht geförderten Konkurrenten annehmen. 362 359
Friauf, BB 1967, 1345 (1347); Kloepfer, Vorwirkung, S. 234; Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2, S. 179 ff. (§ 78 III.3.b). 360 BVerwGE 90, 112 (120); vgl. auch BVerwGE 71, 183 (193 f.); 75, 109 (115); 82, 76 (79); 87, 37 (42 f.); Huber, Konkurrenzschutz, S. 233 f.; Heintzen, VerwArch. Bd. 81 (1990), S. 532 (545 f.). 361 BVerfGE 47, 1 (21). 362 In Betracht kommt nicht der Eigentumsschutz (Art. 14 GG) des einzelnen Unternehmers vor der Konkurrenz eines Mitbewerbers, sondern vor der einseitig ho-
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Handelt es sich um eine konkrete Projektförderung, etwa einer emittierenden Produktionsstätte, liegt die Annahme eines staatlichen Eingriffs in Nachbarrechte näher. Erforderlich dürfte wiederum sein, daß der Staat die negativen Folgen für Dritte bei der Subventionierung bereits voraussehen konnte und er nicht davon ausgehen durfte, daß die geförderte Aktivität ohne schädigende Umweltauswirkungen erfolgen würde. Nur wenn die Subvention so ausgestaltet ist, daß sich die vergebende Stelle mit den tatsächlichen Einzelheiten der geförderten Aktivität auch auseinandersetzen mußte, kann von einer solchen Vörhersehbarkeit ausgegangen werden.
(3) Fazit Die Abgrenzung und Zuordnung staatlicher Finanzierung wird durch vielfältige thematische Überschneidungen und die Tatsache, daß ein und dieselbe Maßnahme eine Mehrheit von Zwecken verfolgen kann, erschwert. So kann etwa mit der Vergabe eines Auftrages auch die Förderung des Auftragnehmers beabsichtigt sein, mit dessen Stärkung wiederum ein wirtschaftlicher Steuerungszweck verfolgt wird, obwohl sich die Erfüllung des Auftrages im Rahmen eines staatlichen Auftretens als Wettbewerber im Wirtschaftsverkehr darstellt. Abgestellt werden muß auf den schwerpunktmäßigen Zweck der jeweiligen Einzelentscheidung. Jedoch kann in der verfassungsrechtlichen Bewertung des Einzelfalls auch eine Aufspaltung der Wirtschaftsbetätigung in grundrechtsrelevante und -irrelevante Elemente in Betracht kommen. Trotz der nicht zu vernachlässigenden Rolle, welche die grundrechtliche Abwehrfunktion für den Bereich staatlicher Förderung und Subventionierung privaten Verhaltens spielt, bleibt festzuhalten, daß auch für diesen Bereich die Abwehrfunktion keine durchgängige Grundlage staatlicher Schutzpflichten zu bieten vermag.
heitlichen Begünstigung von Mitkonkurrenten, vgl. hierzu Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rz. 229 f. (1994); Wendt, in: Sachs, GG, Art. 14 Rz. 51; BVerfGE 68, 193 (222); 74, 129 (148); Büsch, JuS 1992, 563 (565); Schmidt, JuS 1999, 1107 (1111); a.A. BVerwGE 65, 167 (173). Hinsichtlich der „Unternehmelfreiheit" aus Art. 12, 2 Abs. 1 GG wird als Bedingung für einen Grundrechtseingriff regelmäßig gar ein faktischer Ausschluß vom Wettbewerb verlangt, vgl. BVerfGE 32, 311 (317); 46, 120 (137 f.); 82, 209 (223 f.); 86, 28 (37); BVerwGE 71, 183 (191); Breuer, HdbStR VI, § 146 Rz. 77.
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cc) Herabsetzen des Schutzniveaus Fraglich ist, wie das Unterschreiten eines einmal erreichten Schutzniveaus zu beurteilen ist. Dieses könnte zum einen als eine Maßnahme gewertet werden, die grundrechtsdogmatisch prinzipiell ohne Belang ist und erst bei völligem Fehlen von Schutz oder dem Unterschreiten des grundrechtlich gebotenen Mindestmaßes in eine Schutzpflichtverletzung umschlägt. 363 Andererseits könnte hierin auch ein Eingriff in eine einmal erlangte Freiheitsposition liegen. Die Abgrenzung zwischen Schutzpflicht und Eingriffsabwehr hat hier wiederum vom Vorrang des Abwehrrechts auszugehen. Ein staatlicher Eingriff, der nicht erst am Maßstab der grundrechtlichen Schutzpflichten zu messen ist, liegt danach vor, wenn der Staat dem Bürger eine rechtlich verfestigte Position zugewiesen hat, mit der dieser sich im Wege der Privatklage unmittelbar gegen Übergriffe Dritter schützen kann, und er diese nunmehr beseitigt oder schmälert. 364 Das Antasten der einfachrechtlichen Position stellt dann i.d.R. einen Eingriff in Art. 14 GG oder in ein anderes, sachlich spezielleres Freiheitsrecht mit einem rechtserzeugten Schutzgut dar. Eine Frage der Schutzpflicht und kein Thema eines Grundrechtseingriffes ist es daher, wenn der Staat eine konkrete Schutzleistung einstellt. Sinkt das Schutzniveau damit - auch unter Berücksichtigung etwaiger kompensatorischer Schutzmaßnahmen - unter das grundrechtlich gebotene Maß, so liegt eine Schutzpflichtverletzung vor. Daraus folgt nicht, daß jede Normänderung zum Nachteil des zu schützenden Grundrechtsträgers einen Grundrechtseingriff darstellt. Wird das Schutzniveau im Wege der Änderung einer Norm abgesenkt, die keine verfestigte, individualschützende und drittgerichtete Rechtsposition des Grundrechtsträgers konstituiert, sondern nur die (Mindest-)Schutzvorgaben eines Freiheitsgrundrechts in das einfache Recht überführt, so ist lediglich die Schutzpflicht berührt. Die verfassungsrechtlichen Schutzvorgaben verpflichten alle Staatsgewalten unmittelbar; die grundrechtliche Schutzpflicht zwingt den Gesetzgeber deshalb nicht durchgängig zu ihrer Duplizierung 363
Hierfür: Wollenteit/Wenzel, NuR 1997, 60 (61). Ob auch subjektive Rechte des öffentlichen Rechts, die nicht unmittelbar gegen Dritte, sondern gegen den Staat gerichtet sind, unter die mit dem grundrechtlichen Abwehranspruch geschützten Rechtspositionen fallen, ist im Kontext des Art. 14 GG diskutiert worden. Abgestellt wird hier zumeist darauf, ob diese Rechte auf eigener Leistung beruhen bzw. einen „besonderen Zuweisungsgehalt" aufweisen, vgl. BVerfGE 45, 142 (170); 69, 272 (300 f.); Depenheuer, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG I, Art. 14 Rz. 74 ff.; Wendt, in: Sachs, GG, Art. 14 Rz. 28 ff.; kritisch zur Leistungsabhängigkeit und für eine stärkere Öffnung des Schutzbereichs: Wieland, in: Dreier, GG I, Art. 14 Rz. 55. Diese Erwägungen sind auf die anderen Freiheitsrechte zu übertragen. 364
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
auf der Ebene des Gesetzesrechts. 365 Die Beseitigung oder Schmälerung solcher objektiver Normen vermag keinen Abwehranspruch des zu schützenden Bürgers auslösen. Eine Handlungspflicht besteht in diesem Kontext für den Gesetzgeber in den - quantitativ allerdings häufigen - Fällen, in welchen ein ausreichender Schutz die unmittelbare Verpflichtung des störenden Privaten oder die Vorhaltung einer gesetzlichen Eingriffsermächtigung verlangt. Mißachtet der Gesetzgeber in diesen Fällen seine Handlungspflicht oder annulliert er eine erforderliche Eingriffsermächtigung wieder, bedeutet dies für sich genommen noch keinen Grundrechtseingriff, sondern die Verletzung einer Schutzpflicht. Festzuhalten ist demnach: Steht das Herabsetzen des Schutzniveaus durch Beseitigung von Schutzinstrumenten in Frage, so liegt darin nur dann ein Grundrechtseingriff, wenn der Grundrechtsträger hinsichtlich einer subjektiven Rechtsposition „enteignet" wird oder diese Position auf andere Weise beseitigt bzw. geschmälert wird. Die (nachteilige) Änderung objektiven Rechts oder die Beseitigung einer tatsächlichen Schutzmaßnahme sind hingegen am Maßstab der Schutzpflicht zu messen. dd) Abwehr- und Schutzdimension bei schädlichen Einwirkungen im Gesundheitswesen Der Gesundheitsschutz ist eines der Paradebeispiele der heutigen Schutzpflichtendiskussion, aber auch der Grenzen der Schutzpflichtendogmatik. 366 Richtig ist, daß das öffentliche Gesundheitswesen 367 in Gestalt der staatlichen bzw. staatlich organisierten Vorhaltung von Einrichtungen des Gesundheitsschutzes sowie der staatlichen Regulierung von privater Gesundheitsfürsorge jedenfalls auch Ausdruck grundrechtlicher Schutzpflichten ist. Dabei wird allerdings übersehen, daß die Anwendbarkeit der Schutzpflichtenlehre hier von zwei Seiten eine erhebliche Einschränkung erfährt. Eine Aktivierung der Schutzpflicht scheitert im Bereich des Gesundheitswesens i.d.R. daran, daß Leistungen der Kassen in Frage stehen. Im Leistungsbereich fehlt es an einer sowohl für die Abwehr- als auch für die 365
Hierzu näher unten Teil 5 A.IV. Vgl. nur Hermes, Schutz, S. 43 ff., der allerdings auf die vielfältigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts, die außerhalb der staatsunmittelbaren Verwaltung stehend im Gesundheitswesen tätig werden, nicht näher eingeht. 367 Der Bereich „Gesundheitswesen" ist auch bei denkbar weiter Begriffsauslegung selbstverständlich nicht deckungsgleich mit dem „Gesundheitsschutz". Letzterer hebt auf mögliche Gefährdungen der Gesundheit, die vom Straßenverkehr über das Tabakrauchen und Schadstoffimmissionen bis hin zu Gewaltverbrechen in einer modernen Gesellschaft allgegenwärtig sind, ab. 366
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Schutzpflichtendimension erforderlichen Ingerenz in Gestalt eines staatlichen Ein- oder eines privaten Übergriffs. Auf verfassungsrechtlicher Ebene bleiben hier allenfalls in besonderen Konstellationen derivative Leistungsansprüche. Außerhalb des Leistungsbereiches kommen die Schutzpflichten deswegen regelmäßig nicht zum Zuge, weil der Patient oftmals in Rechtsbeziehungen nicht mit Privatrechtssubjekten, sondern mit öffentlich-rechtlich organisierten Rechtspersonen eintritt, denn nicht grundrechtliche Schutzpflichten, sondern das Instrument der Eingriffsabwehr muß herangezogen werden, wo eine juristische Person des öffentlichen Rechts mit nachteiliger Wirkung für den Patienten handelt. Das Rechtsverhältnis zwischen dem pflichtversicherten Patienten (Kassenpatienten) und seiner Krankenkasse ist öffentlichrechtlich geprägt. 368 Ferner schließt der Patient, der sich zu einer stationären Behandlung in ein Krankenhaus in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft begibt, regelmäßig einen umfassenden Behandlungsvertrag mit dem Träger a b ; 3 6 9 da die Gesundheitsfürsorge etwa für die Kommunen eine öffentliche Aufgabe und nicht eine bloße erwerbswirtschaftliche Betätigung darstellt, greift prinzipiell die Eingriffsabwehrfunktion der Grundrechte. 370 Bei der nicht-stationären Versorgung folgt das Verhältnis zwischen Kassenarzt und Kassenpatient zwar dem bürgerlichen Recht (vgl. § 76 Abs. 4 SGB V), es bleibt aber eingebettet in ein „subtil organisiertes öffentlichrechtliches System" 3 7 1 von Rechten und Pflichten nach dem SGB V. Das im Kern privatrechtliche Arzt-Patient-Verhältnis wird für den Kassenpatienten überlagert von einem für den Laien wenig transparenten, multipolaren, öffentlich-rechtlichen Vertragsgeflecht zwischen den Krankenkassen und ihren Bundesverbänden einerseits und zwischen den regionalen Kassenärztlichen Vereinigungen und deren Bundesvereinigung andererseits. 372 Das öffentliche Recht regiert nicht nur die - als vertikal beschreibbaren Rechtsverhältnisse zwischen Patient bzw. Arzt und den ihnen jeweils zugeordneten Rechtsträgern (Kassen bzw. Vereinigungen), sondern wirkt auch in das horizontale Arzt-Patient-Verhältnis hinein. 3 7 3 Zumindest dessen Zustandekommen muß dem öffentlichen Recht zugeordnet werden. 3 7 4 368
Dies folgt - mangels Anhaltspunkte für einen gegenteiligen Willen des Gesetzgebers - bereits aus der Versicherungspflicht des § 5 SGB V i.V.m. mit dem Status der Krankenkassen als rechtsfähigen Körperschaften des öffentlichen Rechts (§ 4 Abs. 1 SGB V). 369 Laufs, Arztrecht, Rz. 89. 370 Innerhalb eines gültigen Vertrages, bleibt für die Annahme eines Grundrechtseingriffs allerdings kaum Raum, vgl. für den insoweit nicht wesensverschiedenen öffentlich-rechtlichen Vertrag: Höfling/Krings, JuS 2000, 625 (630). 371 BVerfGE 11, 30 (40). Vgl. z.B. §§ 27 Nm. 1 u. 2, 11 Abs. 1 Nr. 4 SGB V. 372 Laufs, Arztrecht, Rz. 40; vgl. a. Uhlenbruck, in: Laufs/Uhlenbruck, Arztrecht, §40 Rz. 31.
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
Nicht nur die institutionelle Ausgestaltung des Gesundheitswesens, sondern auch gesetzgeberische Maßnahmen mit Eingriffscharakter verdrängen die Schutzpflichtenlehre. Daß kein Anlaß für eine „Schutzpflichten-Euphorie" im Gesundheitswesen besteht und die Grundrechte keineswegs nurmehr als Schutzpflicht Eingang in die legislatorischen Aktivitäten im Gesundheitswesen finden, verdeutlicht das Beispiel des Transplantationsgesetzes und seine Bewertung durch das Bundesverfassungsgericht. Das staatliche System der Allokation von Spenderorganen kann nicht als solches eine grundrechtliche Schutzpflicht auslösen, 375 sondern allenfalls einen - wenn auch möglicherweise unzulänglichen - Versuch zur Einlösung einer aus anderen Gründen bestehenden Schutzpflicht darstellen. 376 Wenn § 8 Abs. 1 S. 2 Transplantationsgesetz (TPG) 3 7 7 für die Entnahme eines sich nicht reproduzierenden Organs von einem lebenden Spender ein enges persönliches Verhältnis zwischen Spender und Empfänger (Verwandte ersten oder zweiten Grades, Ehegatten, Verlobte oder Personen, die eine besondere persönliche Verbundenheit aufweisen) voraussetzt und im übrigen Lebendspenden untersagt, so löst dies das grundrechtliche Abwehrrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG aus. 3 7 8 Zwar wendet sich das Gesetz nicht unmittelbar an den auf ein Spenderorgan wartenden Patienten. Da das grundsätzliche Verbot von Organspenden Lebender aber die Therapiemöglichkeiten der Patienten, die auf eine Organtransplantation angewiesen sind, „kausal zurechenbar nachhaltig beeinträchtigt", wird dieses Verbot seitens des Bundesverfassungsgerichts zutreffend als mittelbarer staatlicher Grundrechtseingriff qualifiziert. 379 373
Zu weitgehend dürfte es allerdings sein, im Wege einer extensiven Auslegung des § 2 SGB V, der die Krankenkasse selbst zu Heilleistungen verpflichtet, die Rechtsbeziehung des Patienten zu seinem Arzt gänzlich auszublenden und den Arzt als bloßen Erfüllungsgehilfen oder Verwaltungshelfer der öffentlichen Krankenkassen zu betrachten, was für den Patienten bedeutete, daß er es nur noch mit einer einzigen (öffentlich-rechtlichen) Beziehung zu seiner Kasse zu tun hätte. Das ArztPatient-Verhältnis steht angesichts seines Vertrauenscharakters schon rein faktisch für den Patienten im Mittelpunkt - vgl. zur herausgehobenen Bedeutung dieser Beziehung auch BVerfG NJW 1979, 1925 (1930). Die Möglichkeit, in diesem Verhältnis seine Interessen auch rechtlich unmittelbar dem Arzt gegenüber verteidigen zu können, darf ihm nicht durch einen rechtsdogmatischen Kunstgriff genommen werden, ebenso BGHZ 76, 259 (261); 97, 273 (276); 100, 363 (367); Uhlenbruch in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 40 Rz. 31 m.w.Nachw. in Fn. 81. 374 Krauskopf, in: Laufs/Uhlenbruck, Arztrecht, § 25 Rz. 7; vgl. a. §§ 2 Abs. 2 und § 70 Abs. 1 SGB V. 375 Dies verkennt Conrads, Organallokation, S. 103 f. 376 Hierzu siehe unten Teil 4 B.VI. 377 Gesetz v. 5.11.1997, BGBl. I S. 2631. 378 Für die Organspende als Grundrechtsausübung siehe auch: Kluth/Sander, DVB1. 1996, 1285 (1285 f.).
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Das gleiche muß für das Verbot des Organhandels gem. § 17 Abs. 1 S. 1 TPG und die damit im Zusammenhang stehende Monopolisierung der Entnahme, Vermittlung und Übertragung bestimmter Organe bei den dafür zugelassenen Transplantationszentren gem. §§ 9 ff. TPG gelten. Auch diese Reglementierungen, welche die Organentnahmen bei lebenden und toten Organspendern erfassen, können einem Patienten eine erfolgversprechende Therapie versagen, indem sie die Möglichkeit eines freien, schnelleren Erwerbs eines Organs im Inland ausschließen und ihn auf die Wartelisten der Transplantationszentren verweisen. Hierin liegt wohl gar ein unmittelbarer Eingriff in das Recht des Patienten aus Art. 2 Abs. 2 GG, da § 17 Abs. 2 TPG auch untersagt, ein Organ „sich übertragen zu lassen". Die Vorhaltung eines adäquaten Systems für die Allokation von Transplantationsorganen ist vor diesem Hintergrund keine Frage einer grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates, sondern der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs. Verhältnismäßig im engeren Sinne können die genannten Verbote nur sein, wenn dem Ausschluß der freien Organbeschaffung kompensatorisch ein Verteilungssystem gegenübersteht, das eine willkürfreie und sachgerechte Zuteilung von Organen gewährleistet. Angesichts des Eingriffscharakters der zitierten TPG-Vorschriften verbleibt für die Annahme einer Schutzpflicht für die Gesundheit des Patienten kein Raum mehr. 3 8 0 Das Verbot des Organhandels kann allenfalls bezogen auf das Selbstbestimmungsrecht von Spender und Empfänger den Versuch darstellen, Schutzpflichten im Rahmen zivilrechtlicher Beziehungen zu realisie381
ren. Noch stärker wird die Bedeutung der Schutzpflichtenkonzeption im Gesundheitswesen im Hinblick auf das Erfordernis der Drittverursachung in Frage gestellt. Die nicht von Dritten verursachten Gesundheitsschäden sind - nach der hier vertretenen Ansicht 3 8 2 - als Anknüpfungspunkt für Abwehr- und Schutzansprüche strukturell ungeeignet. Verfassungsrechtlich einschlägig ist hier primär das Sozialstaatsprinzip. c) Kollision der Grundrechtsfunktionen Gegen die Heranziehung der Abwehrfunktion der Grundrechte für die Begründung der Schutzpflichtenlehre läßt sich schließlich ein systematisches Argument ins Feld führen. Die größte praktische und v. a. augenfällig379
BVerfG, DVB1. 1999, 1647. Sachs, Stellungnahme TPG, S. 2 (4), sub I. 3. a.; im Erg. ebenso Isensee, Grundrechtsschutz, in: Fimkom, Himtod, S. 69 (74). 381 Siehe hierzu unten Teil 6 B. 382 Siehe unten Teil 4 B, zur Frage der Schutzpflichten im Gesundheitsschutz: Teil 4 B.VI. 380
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ste Bedeutung erlangen grundrechtliche Schutzpflichten bei der Legitimation von Grundrechtseingriffen. Sie geben der staatlichen Gewalt einen Handlungsauftrag, die Grundrechte eines durch private Dritte gestörten Opfers zu schützen und zu sichern. Der Schutz des Opfers ist aber typischerweise nicht ohne eine nachteilige Wirkung gegenüber dem Störer zu bewerkstelligen. Die Kehrseite des Schutzes ist darum regelmäßig ein Grundrechtseingriff. 383 Die Abwehrfunktion und die Schutzpflichtenfunktion der Freiheitsrechte wirken gegenläufig, sie stehen in einem strukturellen Kollisionsverhältnis. 384 Die staatliche Schutzpflicht aktualisiert sich typischerweise in einer Beschränkung der Grundrechte als Abwehrrechte. 385 Es ist deshalb verständlich, wenn die von der Abwehrrichtung ausgehende Grundrechtsdogmatik die Entwicklung der Schutzpflicht mit großer Skepsis betrachtet hat und die Gefahr sah, daß mit der Schutzpflicht das ursprüngliche und fundamentale Freiheitsanliegen der Staatsabwehr in ihr Gegenteil verkehrt werden könne. 3 8 6 Diese Bedenken verdienen, ernst genommen zu werden. Solange die Grenzen beim staatlichen Ermessen bzgl. der Konkretisierung der Schutzpflicht nicht klarer gezogen werden, 387 behalten der Gesetzgeber und die anderen Staatsgewalten einen derart weit dimensionierten Beurteilungsspielraum, daß sie nur selten spezielle Maßnahmen zum Schutze eines Grundrechtsträgers ergreifen müssen, da sie i.d.R. auf die Existenz allgemeiner gesetzlicher Regelungen oder die Vorhaltung von administrativen Schutzinstrumenten verweisen können, wodurch sie ihre Schutzpflicht bereits erfüllen. Umgekehrt eröffnet ihnen die Lehre von den Schutzpflichten ein weites Arsenal von Schutzmaßnahmen, aus dem sie dank ihres Gestaltungsspielraums wählen dürfen. Dies spiegelt sich in der Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts darin wider, daß nur in wenigen Entscheidungen, namentlich in den Abtreibungsentscheidungen sowie in der Handelsvertreter- und der Bürgschaftsentscheidung, das Unterschreiten eines Mindestschutzniveaus verfassungsgerichtlich moniert wurde. Die dominierende Wirkung der Schutzpflicht besteht daher in einer Legitimation zur Beschränkung der Ein383 Dies bedeutet allerdings nicht, daß die grundrechtliche Schutzpflicht den Grundrechtseingriff bereits i.S. einer hinreichenden Bedingung rechtfertigt. Sie statuiert - wie die Wörtwahl schon besagt - nur eine Pflicht, beinhaltet hingegen noch keine (Eingriffs-)Befugnis. Siehe hierzu unten Teil 5 C.V.l. 384 Vgl. Jeand'Heur, JZ 1995, 161 (163 f.). 385 Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2, S. 311, bezeichnet daher zu Recht die Abwehr störender Grundrechtsausübung - oder anders gewendet: den Schutz vor störenden Grundrechtsübergriffen - als die „Grundsituation der Grundrechtsbegrenzung". 386 Rupp-v. Brünneck/Simon, abw. Meinung, BVerfGE 39, 68 (73) - erste Fristenregelungsentscheidung. 387 Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 91.
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griffsabwehrfunktion der Grundrechte. Die Schutzpflichtenfunktion droht damit zur verfassungsimmanenten Universalschranke der Grundrechte zu werden. Vor dem Hintergrund dieses Kollisionskurses zwischen Abwehr- und Schutzpflichtenfunktion ist die Ableitung der positiven Schutzpflicht aus dem negatorischen Abwehrrecht ein argumentativer Kurzschluß, mit welchem man sich zugleich möglicher Erkenntnisgewinne für eine auch in der Rechtspraxis überzeugende Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten begibt. d) Die Unterstützung der Abwehrfunktion
durch die Schutzpflichten
Das Verhältnis zwischen Abwehr- und Schutzpflichtenfunktion ist nicht ausschließlich durch ihre Kollisionsstellung im Einzelfall bestimmt. Soweit es um den einzelnen Grundrechtsträger geht, stehen beide Funktionen im Verhältnis der Alternativität zueinander, da ein Bedarf für die Schutzpflichtenwirkung nur entsteht, soweit der status negativus nicht greift. 3 8 8 Diese Alternativität bedeutet indes keine Beziehungslosigkeit zwischen Abwehr und Schutz, sondern läßt sich als Komplementärverhältnis präzisieren: Die erstere schirmt staatliche Gefahren, die letztere solche gesellschaftlicher Provenienz ab. Beide zusammen formieren einen „geschlossenen Schutzgürtel um die grundrechtliche Gewährleistung". 389 Dieser Schutzgürtel umschließt das Schutzgut der Freiheit. Sie verlangt nach Verteidigung sowohl gegenüber dem Staat als auch gegenüber privaten Störern. Der Schutz des Staates gegen Übergriffe Dritter stellt sicher, daß nicht Private das Substrat der staatlichen Abwehrrechte schmälern oder gar vernichten. Abwehr- und Schutzrichtung stehen darum zwar als Grundrechtsfunktionen nebeneinander, sind aber dem gleichen Schutzgut verpflichtet. Die Harmonisierung der verschiedenen Grundrechtsfunktionen gelingt mithin nur über die Kategorie der Freiheit. 3 9 0 Der „angebliche Widerstreit zwischen Freiheit und Sicherheit", den Popper als „Chimäre" 3 9 1 bezeichnet hat, löst sich in ein hierarchisches Verhältnis auf: Der Zweck der Sicherheit gegenüber Dritten ist Teil des Freiheitszweckes und in seiner Umsetzung diesem übergreifenden Zweck verpflichtet. 388
Dietlein, Schutzpflichten, S. 87 f. Dietlein, Schutzpflichten, S. 87. 390 Zur Abwehr- und Schutzfunktion treten - unter dem Dach des Schutzgutes „Freiheit" - noch Organisations- und Verfahrensgarantien, die (übrigen) Leistungsfunktionen sowie Teilhaberechte hinzu. Für die Freiheit als das verbindende Element zwischen den verschiedenen Grundrechtsfunktionen auf Abwehr, Leistung, Teilhabe auch: Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 69. 391 Popper, Offene Gesellschaft, Bd. I, S. 134. 389
142
Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
Ohne die unterschiedliche Wirkrichtung von Schutz- und Abwehrfunktion zu nivellieren, kann von einer Unterstützung der originären und primären Abwehrfunktion durch die Schutzpflichten gesprochen werden. Diese Unterstützung wird in dem Maße immer unverzichtbarer, wie der Staat sich vormals hoheitlicher Aufgaben im Wege der formellen und materiellen Privatisierung entledigt. Wo einst die Abwehrfunktion die Freiheit sicherte, bedarf es nunmehr eines Einwirkens des Staates auf seinen privaten Nachfolger in der Aufgabenerfüllung, um - im Sinne einer grundrechtlichen Schutzpflicht - die Freiheit des Bürgers weiterhin zu sichern. 392
2. Verfassungstextliche Begründungsansätze grundrechtlicher Schutzpflichten Die Suche nach einem Begründungsansatz für die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten kann sich einer grammatischen Auslegung der Verfassung nicht entziehen. Auch wenn die Schutzpflicht nicht als Unterfall der Staatsabwehrfunktion der Grundrechte verstanden werden kann, ist der Verfassungstext für die Herleitung der Schutzpflichten keineswegs unergieb i g . 3 9 3 W i l l man die terminologische und dogmatische Plattform der „grundrechtlichen Schutzpflichten" nicht verlassen, so sind ausschließlich die Bestimmungen des Grundrechtsteils des GG, die Art. 1-19 GG, auf ihre Tauglichkeit für eine normative Begründung der Schutzpflichten hin zu untersuchen. a) Schutz der Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG verlangt von aller staatlichen Gewalt die unmittelbar zuvor in Satz 1 für unantastbar erklärte Menschenwürde „zu achten und zu schützen". In dieser Formulierung eingangs des Grundrechtskatalogs wird mit den Worten Achten und Schützen das duale Wirkungsprogramm der Grundrechte bestehend aus Unterlassungspflicht bzw. Abwehrrecht einerseits sowie aus Handlungsgebot bzw. Schutzpflicht andererseits vorgegeben. Die Verpflichtung des Schützens, geht über einen negatorischen Anspruch hinaus und verlangt vom Staat, aktiv zu werden. 3 9 4 Zugleich wurde schon in frühen Stellungnahmen des Schrifttums erkannt, daß mit der 392
Vgl. Groß, JZ 1999, 326 ff. Siehe etwa Scherzberg, Eingriffsintensität, S. 194 ff.; Bleckmann, DVB1. 1988, 938 (941). Teilweise wird die Ergiebigkeit des Grundrechtstextes hingegen skeptisch bewertet, Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 13; Unruh, Dogmatik, S. 42. 394 Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 86 f.; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1 Rz. 38 ff.; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 1 Rz. 29; Stern, Staatsrecht III/l, S. 29; Canaris, AcP Bd. 181 (1981), S. 201 (226), sowie Hermes, 393
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
143
Pflicht des „Schützens" in ihrer Kontrastierung zum Gebot, die Menschenwürde zu „achten", „sinngemäß nur der Schutz vor nichtstaatlichen Mächten verstanden werden" kann. 3 9 5 Weitgehend anerkannt ist inzwischen auch, daß diese Pflicht nicht rein objektiv zu verstehen ist, sondern zugleich einen subjektives Recht auf aktiven Würdeschutz des Staates vermittelt, 3 9 6 worin sich der Grundrechtscharakter des Art. 1 Abs. 1 GG bestätigt. 397 Die dergestalt in einer Grundrechtsnorm ausgesprochene Schutzpflicht läßt sich aber als solche nicht einfach auf die übrigen Grundrechte übertragen. 398 Anders als Art. 1 Abs. 3 GG, der ausdrücklich die „nachfolgenden Grundrechte" anspricht, ist Abs. 1 nicht als eine allgemeine, sich auf den gesamten Grundrechtskatalog beziehende Vorschrift zu lesen. 3 9 9 Teile der Literatur erkennen jedenfalls in den weitaus meisten Grundrechten einen Menschenwürdekern 400 oder gehen gar soweit, daß für sie die Grundrechte der Art. 2 ff. GG im Dienste der Menschenwürde stehen. 401 Daraus wird vereinzelt wiederum gefolgert, der jeweilige Würdekern des Schutz, S. 138, unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte. Vom Wortsinn her zweifelnd: Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 13. 395 Hamel, Bedeutung der Grundrechte, S. 20; ders., DVB1. 1957, 618; vgl. auch Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rz. 131 (Stand: 1958); Krüger, RdA 1954, 365 (368 ff.); Nipperdey, RdA 1950, 121 (125). 396 Zippelius, in: Bonner Kommentar, Art. 1 Abs. 1 u. 2 Rz. 22 (Stand: Dezember 1989); Hermes, Schutz, S. 139; a.A. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rz. 16 (Stand: 1958). 397 Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 1 Rz. 29. Für eine Qualifizierung des Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht auch Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalten, S. 95 f.; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1 Rz. 3 ff.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG I, Art. 1 Rz. 26 f. (m.w.N. zum Streitstand Rz. 24 ff.); Häberle, HdbStR I, § 20 Rz. 74. Vgl. a. BVerfGE 15, 283 (286); 28, 151 (163); 28, 243 (263); 61, 126 (137). A.A. neben Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rz. 4 ff. (Stand: 1958), aus neuerer Zeit v.a. Dreier, in: Dreier, GG I, Art. 1 Abs. 1 Rz. 71 f.; Geddert-Steinacher, Menschenwürde, S. 164 ff. 398 Vgl. auch Ruffert, Vorrang, S. 153. Wollte man sich unmittelbar auf Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG stützen, bliebe nur eine Schutzpflicht hinsichtlich des „Menschenwürdekerns" der einzelnen Grundrechte, in diesem Sinne konsequent, jedoch im Ergebnis zu eng: Starck, Verfassungsauslegung, S. 70 u. 74 ff.; vgl. auch Neuner, Privatrecht, S. 158. 399 A.A. Canaris, AcP Bd. 181 (1981), S. 201 (226). Daß - wie Dietlein, Schutzpflichten, S. 54, bemerkt - Art. 1 Abs. 2 und Abs. 3 GG in einer „inhaltlichen Beziehung" stehen, ändert an diesem Befund nichts, denn inhaltliche Beziehungen gibt es zwischen einer Reihe von Grundrechten - auch über Artikelzäsuren hinaus. Dennoch werden z.T. sogar innerhalb des gleichen Artikels unterschiedliche Sachverhalte und Regelungsgehalte angesprochen, vgl. etwa Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 GG. 400 Vgl. nur Sachs, Verfassungsrecht II, B 1 Rz. 37. 401 Häberle, HdbStR I, 1987, § 20 Rz. 57; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 1 Rz. 68.
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
einzelnen Grundrechts biete die Grundlage für die grundrechtlichen Schutzpflichten. 4 0 2 Zutreffend ist, daß sich die Freiheitsrechte mit Art. 1 Abs. 1 GG partiell den Schutzbereich teilen. Die schwere Beeinträchtigung eines speziell geschützten Grundrechtsgutes kann zugleich eine Verletzung der Menschenwürde bedeuten. 403 Die Abgrenzung zwischen einem „bloßen" Verstoß gegen ein Grundrecht der Art. 2 ff. GG und einem Verstoß zugleich gegen Art. 1 Abs. 1 GG erfolgt dabei in erster Linie anhand des Schweregrades der Beeinträchtigung. Art. 1 Abs. 1 GG dient dem absoluten Schutz vor schweren, „tabuverletzenden" Eingriffen, die dem Menschen seine elementaren Existenz- und Entfaltungsbedingungen verwehren. 404 Die übrigen, nachfolgenden Grundrechte sind demnach - entgegen Bleckmann 405 - nicht bloßer „Ausfluß der Menschenwürde", sondern gehen in ihrem Gewährleistungsgehalt über die Menschenwürdegarantie hinaus. Auch das Bekenntnis zu den Menschenrechten in Art. 1 Abs. 2 GG sichert - im Verbund mit Art. 79 Abs. 3 GG - nur die Aufrechterhaltung eines menschenrechtlichen Mindeststandards 406 und vermag die Schutzpflicht des Abs. 1 nicht auf die in Abs. 3 in Bezug genommenen Rechte überzuleiten. Jede andere Auslegung des Art. 1 GG liefe Gefahr, den komplexen Grundrechtskanon mit seiner differenzierten Schrankensystematik zu nivellieren 4 0 7 und insbesondere der Unantastbarkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG einen inflatorischen Bestand an Schutzgegenständen zuzuweisen. 408 Sie würde die Unterscheidung von Menschen- und Bürgerrechten in Frage stellen. Aus dem Verhältnis zwischen Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 ff. GG folgt hinsichtlich der Schutzpflichtengewährleistung zunächst lediglich, daß bei 402 Ygi Starck, Verfassungsauslegung, S. 70 ff. 403 Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1 Rz. 57. Ein prominentes Beispiel ist der Schutz des ungeborenen Lebens, den das Bundesverfassungsgericht zum einen über Art. 2 Abs. 2 GG herleitet, ihn allerdings daneben auf Art. 1 Abs. 1 GG stützt, mit der Folge, daß es dadurch die explizite Schutzpflicht des Staates in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG ohne weiteren Begründungsaufwand annehmen kann, vgl. BVerfGE 88, 203 (251); im ersten Fristenregelungsurteil hatte Art. 1 Abs. 1 GG indes noch keine tragende Rolle gespielt, siehe BVerfGE 39, 1 (41). 404 Siehe Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1 Rz. 57. 405 Bleckmann, DVB1. 1988, 938 (942). Von einem Ausfluß der Menschenwürdegarantie in die folgenden Grundrechte läßt sich hingegen in einem ideen- und entwicklungsgeschichtlichen Sinne sprechen, vgl. Häberle, HdbStR I, 1987, § 20 Rz. 58. 406 Denninger, AK-GG, Art. 1 Abs. 2 u. 3 Rz. 10 (Stand: 2001); Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1 Rz. 64; Stern, JuS 1985, 329 (336 f.); vgl. auch Stern, JuS 1985, 329 (336 f.). 407 Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 1 Rz. 68. 408 Vgl. bzgl. des Verhältnisse von Art. 1 Abs. 1 GG zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht: Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 2 Rz. 54.
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
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schwerwiegenden Übergriffen privater Dritter, die nicht nur den Schutzbereich eines Freiheitsrechts, sondern zugleich den in Art. 1 GG garantierten menschenrechtlichen Mindeststandard berühren, der Staat aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG zur Schutzgewährung verpflichtet i s t . 4 0 9 Diese Quelle der Schutzpflicht reichte in den anfangs entschiedenen Fällen aufgrund der Menschenwürderelevanz des dort berührten Lebensschutzes, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, noch aus. 4 1 0 Um eine Schutzpflicht aber auch bei anderen Schutzgütern und unterhalb der „Tabuschwelle" des Art. 1 Abs. 1 GG zu aktivieren, ist eine Herleitung aus dem Text der Art. 2 ff. GG erforderlich. 411 Art. 1 Abs. 1 S. 2 ist nur die am deutlichsten artikulierte Schutzpflichtennorm. 412 Aus dem Schweigen der nachfolgenden Grundrechte - mit Ausnahme von Art. 6 Abs. 1 GG - kann aber auch nicht im Sinne eines argumentum e contrario auf eine Absage des Verfassungsgebers an Schutzpflichten bei diesen Grundrechten geschlossen werden. Mit gleichem Recht könnte man ansonsten auch die Abwehrrichtung der Freiheitsrechte bestreiten, da auch das in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG für diese Grundrechtsfunktion stehende Wort „achten" in den folgenden Grundrechten keine Wiederholung findet. Aus der ausdrücklichen Nennung von „achten und schützen" in Art 1 Abs. 1 GG läßt sich am ehesten ein argumentum e simile bilden: Wenn das Grundgesetz an derart prominenter Stelle mit „achten" und „schützen" zwei Grundrechtsfunktionen ausdrücklich benennt, von denen eine, nämlich die Eingriffsabwehr, unbestritten die primäre Stoßrichtung aller Freiheitsrechte bildet, so spricht vieles dafür, daß auch die andere, nämlich die Schutzpflicht, eine prinzipielle Geltung jedenfalls bei den Freiheitsrechten finden soll. 4 1 3 Die Bedeutung von Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG liegt daher in der grundsätzlichen Entscheidung der Verfassung für die Anerkennung grundrechtli-
409
Vgl. Düng, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Rz. 16, 102, 131 (Stand: 1958); Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 125; Dietlein, Schutzpflichten, S. 28; a.A. Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 211 ff., insbes. S. 229. 410 S.o. Teil 3 A.I.l.a) und Teil 3 A.I.2.a). 411 Gegen eine Herleitung der Schutzpflichten aus 1 Abs. 1 S. 2 GG für Sachverhalte außerhalb der Menschenwürdegarantie auch Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Rz. 6 u. 79 (Stand: 1958); eingehend: Schnur DVP 1998, 443 (445 f.). 412 Stern, Staatsrecht III/1, S. 943; Robbers, Sicherheit, S. 188; Dietlein, Schutzpflichten, S. 66; a.A. Bleckmann, DVB1. 1988, 938 (942). 413 Eine Beschränkung der Schutzpflicht auf das besonders hochwertige Gut der Menschenwürde ist zwar eine grammatisch noch zulässige Deutungsmöglichkeit. Jedoch würde sie den Umstand außer Acht lassen, daß gerade bei Menschenwürdeverletzungen die stärkste Gefahr von staatlicher Seite ausgeht. Diese Erkenntnis mußte auch den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates aufgrund der zeitnahen Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktator noch unmittelbar präsent sein. Ein Zugriff Privater auf Würde und Eigenwert des Menschen, der zu einer Menschenwürdeverletzung führt, ist nur im Ausnahmefall gegeben. 10 Krings
146
Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
eher Schutzpflichten, deren eigentliche normative Quelle allerdings in dem jeweiligen Grundrecht zu suchen ist. b) Explizite Schutzpflichten
in anderen Freiheitsrechten
Bereits in einem einführenden Verfassungstextbefund wurde das Vokabular des Schützens insbesondere in Art. 6 GG ausgemacht. 414 Gegenstand des (besonderen) staatlichen Schutzes sind danach Ehe und Familie (Abs. 1), die elterliche Pflege und Erziehung der Kinder - in Gestalt eines staatlichen „Wächteramtes" - (Abs. 2) und die Mutter (Abs. 4). Hierin liegt wiederum eine explizite Anerkennung des auf aktives Handeln des Staates ausgerichteten grundrechtlichen Schutzaspekts, die beweist, daß sich die Bedeutung der Grundrechte für den Verfassungsgeber nicht durchgängig in ihrer Staatsabwehrfunktion erschöpfte. Anders als in Art. 1 Abs. 1 S. 2, wo „schützen" und „achten" als zwei sich ergänzende Grundrechtsfunktionen zu verstehen sind und die Schutzverpflichtung lediglich auf die Abwehr privater Störungen weist, läßt der für sich stehende Begriff „Schutz" in Art. 6 Abs. 1 GG eine solche enge Auslegung nicht zu, wenn man nicht auf die Abwehrdimension dieses Grundrechts verzichten will. Der in Art. 6 angesprochene Schutz weist zwar auf einen über die Abwehr staatlicher Eingriffe hinausgehenden Grundrechtsgehalt hin, versteht sich aber in einem umfassenderen Sinne und nimmt Bezug auf die im Kontext dieses Schutzbereiches eine besondere Rolle spielende Bereitstellung staatlicher Rechtsinstitute und anderer Leistungen 4 1 5 Auch Art. 6 eignet sich nicht als Anknüpfungspunkt für einen Umkehrschluß, der aus dem Schweigen der anderen Freiheitsrechte zum Thema Schutz folgert, daß eine grundrechtliche Schutzpflicht außerhalb von Art. 6 und 1 GG nicht besteht. Aufgrund des besonderen, gemeinschaftsbildenden Charakters seiner Gewährleistungen 416 hebt der Verfassungstext den Aspekt des Schutzes in den Vordergrund. Dennoch entfaltet sich die Vorschrift auch in ihrer Abwehrfunktion sowie mit ihrem zentralen Ordnungsauftrag als Institutsgarantie. 417 Nicht wegen seines Wortlauts, wohl aber wegen seiner Normstruktur muß schließlich Art. 16a Abs. 1 GG genannt werden, der von einer ausländischen Macht Verfolgten Asyl gewährt und daher notwendigerweise eine 414
S.o. Teil 2 C.I.l. Siehe hierzu Krings, ZRP 2000, 409 (411); dersFPR 2001, 7 (8). 416 Vgl. Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 6 Rz. 13. 417 Schmitt-Kammler, in: Sachs, GG, Art. 6 Rz. 20 ff.; Robbers, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG I, Art. 6, Rz. 8 ff. 415
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
147
Dreieckskonstellation aus verfolgender Macht, Verfolgungsopfer und dem schützenden Staat des Grundgesetzes zum Gegenstand hat. Trotz seiner abwehr- und leistungsrechtlichen Z ü g e 4 1 8 und der besonderen, auf Auslandsgefahren zugeschnittenen Konstruktion der Gewährleistung stellt es noch keine unzulässige Abstrahierung dar, auch diese Norm als Beleg für die grundsätzliche Offenheit und Akzeptanz des staatlichen Grundrechtsschutzes gegen Übergriffe Dritter heranzuziehen. c) Wesensgehaltsgarantie
des Art. 19 Abs. 2 GG
Keinen Beitrag für die Begründung grundrechtlicher Schutzpflichten vermag die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG zu leisten. Ihr kommt gegenüber Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG ohnehin nur insoweit eine weiterreichende Bedeutung zu, als der Wesensgehalt eines Grundrechts über den Menschenwürdekern hinausgreift, bzw. ein Grundrecht einen solchen Menschenwürdegehalt gar nicht aufweist. 419 Die Wesensgehaltsgarantie ist jedenfalls keine selbständige Garantie, sondern lediglich eine sog. SchrankeSchranke, die der Einschränkbarkeit der Grundrechte Grenzen zieht. 4 2 0 Ihr kann daher kein über die einzelnen Grundrechte hinausgehender normativer Gehalt oder eine zusätzliche Schutzrichtung entnommen werden. Die Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte könnte sie nur insoweit absichern als diese bereits in den Grundrechten enthalten ist. d) Grundrechtsschranken Zum Schutze der Jugend (Art. 5 Abs. 2, 13 Abs. 2 GG) und der Ehre (Art. 5 Abs. 2 GG), zum Schutz vor Gefahren für das Leben einzelner und die öffentliche Sicherheit und Ordnung (Art. 13 Abs. 3 GG), vor Seuchengefahren, Naturkatastrophen, besonders schweren Unglücksfällen und strafbaren Handlungen (Art. 11 Abs. 2 GG) kann der Gesetzgeber Gesetze erlassen, die bestimmte Grundrechte einschränken dürfen. 421 Diese Form von 418
S.o. Teil 1 Fn. 141. Vgl. Stern, Staatsrecht III/2, S. 1132 f., für das Asylgrundrecht. In der Literatur wird z.T. gar allen Grundrechten ein Menschenwürdegehalt zugesprochen und davon ausgehend Menschenwürde- und Wesensgehalt in eins gesetzt, Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 19 Rz. 125 ff. Die für diese Ansicht in Anspruch genommenen Entscheidungen BVerfGE 32, 373 (378 f.) und 80, 367 (373 f.) haben aber jeweils nur einen konkreten Sachverhalt sowohl unter Art. 19 Abs. 2 GG als auch unter Art. 1 Abs. 1 GG subsumiert, die Vorschriften aber gerade getrennt angewandt und keine Aussagen zu einer evtl. Deckungsgleichheit gemacht. Gegen eine Gleichsetzung: Geddert-Steinacher, Menschenwürde, S. 182; Jäckel, Grundrechtsgeltung, S. 56. 420 Siehe nur Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 278 u. 298 ff. 419
10*
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
Schutzaufgaben auf der Schrankenseite der Grundrechte, die vergleichsweise häufig im Grundgesetz Erwähnung findet, bestätigt den prinzipiellen Kollisionskurs zwischen Staatsabwehr und Schutzpflicht. 422 Ihre systematische Stellung spricht dagegen, aus ihnen eine Schutzverpflichtung des Staates abzuleiten, geschweige denn einen entsprechenden Anspruch der durch die verfassungsrechtlich antizipierten oder bestätigten Schutzgesetze begünstigten Personen. 423 Grundrechtsschranken beziehen sich systematisch als unselbständige Rechtssätze auf den grundrechtlichen Schutzbereich des jeweiligen Freiheitsrechts, dem sie zugeordnet sind. Ihnen können positive Rechtswirkungen außerhalb ihrer spezifischen Schrankenfunktion nicht entnommen werden. Im Gegensatz dazu hat Seewalcf 24 ein Verfassungsrecht auf Gesundheit gerade aus den qualifizierten Gesetzesvorbehalten herzuleiten versucht. Er zieht die Parallele zur polizeirechtlichen Generalklausel, die von ihrer Konzeption her nur als eine Ermächtigung des Staates zur Gefahrenabwehr angelegt ist, aus der aber mittlerweile auch subjektive Ansprüche auf polizeiliches Einschreiten abgeleitet werden. 425 Mit einer in ihrer Tragweite begrenzten, aber in ihrer Zielrichtung vergleichbaren Begründung, gewinnt Starck aus den Grundrechtsschranken der Art. 11 Abs. 2 und 13 Abs. 3 GG ein argumentum a fortiori: 426 Wenn schon Grundrechte eingeschränkt werden dürften, um etwa eine Seuchengefahr zu bekämpfen, müsse erst recht eine Verpflichtung des Staates bestehen, gesundheitsschützende Maßnahme zu ergreifen, soweit er dadurch keine Grundrechte einschränkt. Die nicht von der Hand zu weisende Parallele zur polizeirechtlichen Rechtsentwicklung und der Erst-Recht-Schluß aus bestimmten Grundrechtsschranken läßt es angezeigt erscheinen, das systematische Argument gegen eine Schutzpflicht aus Gesetzesvorbehalten einer eingehenderen Prüfung zu unterziehen. Wenn Grundrechte bisweilen als negative Kompetenznormen 427 bezeichnet werden, so liegt es nahe, die den Grundrechtsschutz begrenzenden Gesetzesvorbehalte wie positive Kompetenztitel zu betrachten, welche die 421
Vgl. o. Teil 2 C.I.2. Im weiteren Sinne ließe sich zusätzlich das Schutzgut des „Sittengesetzes" aus Art. 2 Abs. 1 GG anführen. 422 S.o. Teil 3 B.III.l.c). 423 Gegen eine Ableitung subjektiver Rechte aus grundrechtlichen Gesetzes vorbehalten auch Stern, Staatsrecht III/1, S. 546; Hermes, Schutz, S. 125 ff.; Ruffert, Vorrang, S. 164. 424 Seewald, Verfassungsrecht auf Gesundheit, S. 80, 141 ff. 425 Seewald, Verfassungsrecht auf Gesundheit, S. 150; vgl. zum Rechtsanspruch auf polizeiliches Handeln bereits Martens, JuS 1962, 245 ff. m.w.N. 426 Starck, in: v. Mangoldt/Klein, GG I, Art. 2 Rz. 212. 427 Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, S. 30, Hofmann, HdbStR V, § 114 Rz. 49; Stern, HdbStR V, § 109 Rz. 66. Zur Kritik an diesem Begriff s.u. Fn. 489.
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
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Sphären von Staat und Gesellschaft bzw. individueller Freiheit gegeneinander abgrenzen. Die gleiche Zurückhaltung, die gegenüber einem Verständnis von Kompetenzbestimmungen als Schutzaufträgen angebracht i s t , 4 2 8 muß auch für die o. g. qualifizierten Gesetzesvorbehalte gelten. Die Schlußfolgerung von der prinzipiellen Zulässigkeit der hierin enthaltenen Schutzaktivitäten auf eine Handlungspflicht wäre auch hier verkürzt und unzulässig. Wollte man diese Gesetzesvorbehalte zugleich als sedes materiae verfassungsrechtlicher Schutzpflichten ansehen, so würde dies fernerhin die ausdifferenzierte Schrankensystematik des Grundrechtskanons aus den Angeln heben: Mit einem materiellen Aussagehalt versehen und in den Stand von Schutzpflichten erhoben, wäre der Schritt zu ihrer Anerkennung als verfassungsimmanenten Schranken nur noch ein sehr kleiner. Schutzbestimmungen mit einem selbständigen, materiellen Aussagegehalt innerhalb des Grundrechtsteils der Verfassung wären geradezu prädestiniert, auch an sich vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte einzuschränken. Eine solche Entwicklung mag nicht zwingend sein, jedoch ist die Gefahr, daß die genannten Gesetzeszwecke wie Ehren- und Jugendschutz, Schutz vor Seuchen usw. das ohnehin umfangreiche Arsenal verfassungsimmanenter Schranken noch ergänzen würden, nicht von der Hand zu weisen. 4 2 9 Sie könnten damit aus dem Kontext des jeweiligen Grundrechts, dem sie zugeordnet sind, herausgelöst werden. Dies liefe im Ergebnis auf eine Schrankenübertragung hinaus, die aber in Literatur und Rechtsprechung zu Recht abgelehnt wird430 Gewisse Parallelen zwischen dem grundrechtlichen und dem kompetentiellen Ordnungsgefüge der Verfassung in ihrer Wirkung dürfen nicht den Blick für den strukturellen Unterschied zwischen beiden verstellen. Während die Kompetenzordnung des Grundgesetzes nur Zuweisungen innerhalb der staatlichen Sphäre vornimmt, haben Normen, deren Inhalt eben jene staatliche Sphäre überschreitet, eine qualitativ andere Bedeutung. Spielen bei Zuständigkeitsverteilungen im Staat und zwischen Bund und Ländern in erster Linie Zweckmäßigkeits- sowie rechtsstaatliche Überlegungen eine Rolle, so geht es bei den Grundrechten um die einen Zweck an und für sich bildende Freiheit der Bürger und deren Begrenzung. Die genannten Schranken begründen keine Schutzverpflichtung des Staates, geschweige denn einen entsprechenden Anspruch der durch die verfassungsrechtlich antizipierten oder bestätigten Schutzgesetze begünstigten 428
Siehe ausführlich oben Teil 2 C.I.3.a). Diese zentrale Bedeutung der Schutzpflichten und die Schutzpflichtendogmatik läuft Gefahr, zu einer „verfassungsimmanenten Universalschranke der Grundrechte" zu avancieren, s.o. Teil 3 B.III.l.c). 430 BVerfGE 30, 173 (192); 32, 98 (107); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 317; Dreier, DVB1. 1980, 471 (473). 429
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
Personen. Sie ermöglichen es dem Gesetzgeber jedoch trotz grundrechtlicher Abwehrrechte, von sich aus Schutz zu gewähren und damit anderweitig herzuleitenden oder unterhalb des Verfassungsrechts - i.d.R. vom Gesetzgeber - selbst gesetzten Schutzaufgaben nachzukommen. e) Die Zweidimensionalität
des grundrechtlichen
Freiheitsbegriffs
Nachdem sich die expliziten Erwähnungen von Schutz im Grundrechtsteil des Grundgesetzes mit den vorstehenden Untersuchungen erschöpft haben, bleibt der Versuch einer Herleitung des Schutzgebotes aus den grundrechtlichen Verbürgungen, auch soweit sie diesen Begriff nicht ausdrücklich verwenden. Grundlage der Herleitung ist die räumliche Konstruktion des grundrechtlichen Freiheitsschutzes. Die Literatur betont weithin ein räumliches Verständnis des Güterschutzes oder legt ein solches ihren dogmatischen Überlegungen jedenfalls zugrunde. 431 Die Freiheitsrechte definieren einen Ausschnitt der sozialen Wirklichkeit als Schutz- oder Normbereich und weisen dem Individuum ein „Recht zu eigener Freiheitsausübung" 432 in diesem Raum zu, ohne selbst zu entscheiden, wie und gegen wen dessen Schutz zu erfolgen hat. Nur auf der Grundlage eines solchen mehrdimensionalen Verständnisses können sie ihre Wirkungen in der gesamten Rechtsordnung entfalten, ohne sich dabei zu konturlosen Programmaussagen zu verflüchtigen. Dieser mehr- oder zweidimensionale Freiheitsbegriff der Grundrechte liegt nicht nur der gegenwärtigen Grundrechtsdogmatik und v. a. ihrem Schutzbereichskonzept zugrunde, sondern ist schon in ihrem Wortlaut angelegt 4 3 3 Wenn dieser Bedeutungsaspekt bei der Entstehung des Grundgesetzes jedenfalls nicht voll erfaßt oder gar ausgeblendet wurde, so hat er sich in einem halben Jahrhundert Auslegungs- und Anwendungspraxis im Wege eines allmählichen Verfassungswandels durchgesetzt. 434 431 Oftmals wird ein „dem Individuum durch die Verfassung zuerkannter Freiheitsraum" apostrophiert, Schwarz, JZ 2000, 126 (128); ähnlich Rüfher, HdbStR V, § 117, Rz. 65; siehe auch Hofmann, GS Küchenhoff, S. 231 (239); Dietlein, Schutzpflichten, S. 104; in ähnlichem Sinne etwa die Verwendung des Begriffes „Sphäre" bei Lerche, HdbStR V, § 121 Rz. 13 f. u. 39 („Übergangszone"); Stern, HdbStR V, §109 Rz. 89, spricht von „Schutzzonen" des Bürgers. Jedenfalls terminologisch verwandt ist die Bezugnahme auf einen „Ausschnitt" der Wirklichkeit bei Müller u.a., siehe sogleich Fn. 452; ähnlich Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1, S. 565 („Freiheiten ... in ihrem gegenständlichen Bezug"); Koch, Grundrechtsschutz, S. 72. Das verräumlichende Denken kritisieren Scherzberg, DVB1. 1989, 1128 (1135), und Ipsen, JZ 1997, 473 (475). 432 So Scherzberg, DVB1. 1989, 1128 (1135), auch wenn er die räumliche Schutzbereichskonzeption ablehnt. Vgl. auch Schneider, Wesensgehalt, S. 208; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 58 f. 433 Siehe sogleich Teil 3 B.III.2.e)aa).
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
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aa) Wortlaut und Systematik der Grundrechte Orientiert man sich am Wortlaut der Freiheitsrechte, so ergeben sich verschiedene Gruppen von Gewährleistungen. Die Mehrzahl der Grundrechte konstituiert ein ,Recht": Art. 2 Abs. 1 (allgemeine Handlungsfreiheit und allgemeines Persönlichkeitsrecht), Art. 2 Abs. 2 S. 1 (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit), Art. 8 Abs. 1 (Recht, sich friedlich zu versammeln), Art. 9 Abs. 1 u. 3 (Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden), Art. 12 Abs. 1 (Recht auf freie Wahl von Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte), Art. 17 GG (Petitionsrecht). Eine weitere Gruppe garantiert die Unverletzlichkeit bestimmter „.Freiheiten" oder Lebensbereiche: Art. 2 Abs. 2 S. 2 (Freiheit der Person), Art. 4 Abs. 1 (Freiheit des Glaubens und des Gewissens), Art. 10 Abs. 1 (Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis), Art. 13 Abs. 1 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung). In ähnlicher Weise werden andere Freiheiten und Tätigkeiten „,gewährleisteArt. 5 Abs. 1 S. 2 (Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit), Art. 4 Abs. 2 (die ungestörte Religionsausübung), Art. 14 Abs. 1 GG (Eigentum und Erbrecht), oder werden andere Lebensbereiche einfach als „frei" bezeichnet, Art. 5 Abs. 3 GG (Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre). Art. 11 GG läßt den Bürger Freizügigkeit genießen und Art. 16a GG den politisch Verfolgten das Asylrecht. Schließlich verbieten Art. 16 Abs. 1 GG den Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit und Art. 4 Abs. 3 GG den Zwang zum Kriegsdienst. Keine dieser Formulierungen beschränkt die Grundrechte auf eine Abwehr staatlicher Eingriffe oder schließt ihre Wirkung i.S.e. staatlichen Schutzhandelns aus. 4 3 5 Umschrieben werden lediglich sachliche Schutzbereiche, denen in unterschiedlicher Wortwahl der Status eines Rechts gegeben bzw. Unverletzlichkeit garantiert wird. Daß damit nur das Unterlassen staatlicher Eingriffe in den konturierten Schutzbereich angeordnet sein soll, legt eine am Wortlaut orientierte Auslegung nicht nahe. So hat Scherzberg in der Kontrastierung zur überkommenen Status-Lehre Jellineks 436 dargelegt, daß ausweislich ihres Wortlauts Inhalt der Grundrechte die Zuweisung von Rechten zur eigenen Freiheitsausübung sei. 4 3 7 434
Siehe unten Teil 3 B.III.2.e)bb)(2). Ebenso Dietlein, Schutzpflichten, S. 53 f.; Robbers, Sicherheit, S. 186; Bleckmann, DVB1. 1988, 938 (941); Enderlein, Freiheit, S. 167; Jaeckel, Schutzpflichten, S. 33. 436 Jellinek, System, S. 87 (94 ff.). 437 Scherzberg, Eingriffsintensität, S. 214 ff., der daraus jedoch die Schlußfolgerung einer Ausweitung der Abwehrdimension zieht (a.a.O., S. 218). 435
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
Auch eine von der Wortwahl abstrahierende, am Bedeutungskontext orientierte Analyse der Vorschriften vermag nicht zu begründen, warum der jeweilige Schutzbereich nur vor staatlicher Machtausübung schützen sollte. Selbst bei den durch den Gesetzgeber erst maßgeblich ausgestalteten Schutzbereichen wird sich niemand ernsthaft auf die Position zurückziehen können, sie seien gegenüber faktischen Verletzungen unempfindlich und schützten dementsprechend niemals vor (tatsächlichem) privaten Tun, sondern nur gegen hoheitliches Handeln: Der Dieb kann zwar die rechtliche Stellung des Eigentümers nicht antasten, aber sein Recht wertlos machen; man spricht darum zu Recht vom Diebstahl als einem Eigentumsdelikt. Eine ausnahmsweise Beschränkung der Schutzrichtung auf die Abwehr staatlicher Eingriffe nimmt Robbers einzig für das Verbot der Entziehung der Staatsangehörigkeit in Art. 16 Abs. 1 GG an, denn nur der deutsche Staat könne die deutsche Staatsangehörigkeit entziehen oder deren Verlust anordnen (S. 2 ) . 4 3 8 Dieser Vorschrift zur Seite stellen kann man das Recht der Kriegsdienstverweigerung, Art. 4 Abs. 3 GG. Diese Rechte sind die einzigen Freiheitsrechte, deren Wortlaut („Entziehung" bzw. Verbot des „Zwingens") die Umschreibung staatlicher Eingriffe enthält und sie dadurch auf eine bestimmte Schutzrichtung festlegt. Demgegenüber beschreibt zwar auch Art. 14 Abs. 3 GG mit dem Begriff der Enteignung einen bestimmten staatlichen Eingriff. Diese Schutzrichtungsanzeige steht jedoch nicht alleine, sondern wird ergänzt durch den weiten Terminus der Inhalts- und Schrankenbestimmung in Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG. Die ausdrückliche Erwähnung bestimmter Eingriffsweisen in den genannten Vorschriften läßt sich wiederum als argumentum e contrario für eine grundsätzlich unbeschränkte Schutzrichtung der Freiheitsrechte anführen. Aber selbst die an sich überzeugende Beschränkung der Schutzrichtung in Art. 16 Abs. 1 GG ist nicht zwingend. Ausgehend von der Problematik der faktisch Staatenlosen 439 , deren Schutz sich ihr Heimatstaat nicht gebührend annimmt, obwohl er ihren Bürgerstatus unangetastet läßt, ist es nurmehr ein kurzer Schritt, die faktischen Handlungen privater Dritter, die es dem deutschen Staatsbürger unmöglich machen, in den Genuß seiner Rechte zu kommen, zum Gegenstand eines staatlichen Schutzauftrages aus Art. 16 Abs. 1 GG zu machen. Art. 4 Abs. 3 GG schließlich gilt nach der - bestrittenen Auffassung des Bundesgerichtshofes selbst für den Wehrdienst Nichtdeut438
Robbers, Sicherheit, S. 187. Vgl. Becker, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 16 Rz. 45; Kokott, in: Sachs, GG, Art. 16 Rz. 19; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 16 Abs. 1 Rz. 57 (1983); Hailbronner/Renner, Staatsangehörigkeitsrecht, Art. 16 Rz. 49 f. Gleichfalls vorstellbar ist, daß die Inanspruchnahme der staatsbürgerlichen Rechte eines Deutschen durch einen fremden Staat verhindert wird, vgl. zu ausländischen Staaten als schutzpflichtenrelevante Gefahrenquelle: Teil 4 B.IV. 439
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
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scher in ausländischen Streitkräften. 440 Zumindest verbietet er aber deutschen Staatsorganen, dazu beizutragen, daß Deutsche, die Inhaber einer doppelten Staatsbürgerschaft sind, zum Waffendienst in ihrem zweiten Heimatstaat gezwungen werden. 441 In solchen Konstellationen sind staatliche Schutzpflichten jedenfalls denkbar. Der Begriff des Zwanges kann durchaus auch i.S.e. intensiven gesellschaftlichen Drucks, der für den Betroffenen eine nötigungsähnliche Zwangswirkung besitzt, gedeutet werden. Sähe man die Schutzpflichten als vom Wortlaut der Freiheitsrechte nicht gedeckt, so stieße man zwangsläufig auf den Umstand, daß sich die Funktion der (Eingriffs-)Abwehr ebenfalls nicht am Wortlaut des Art. 1 ff. GG festmachen läßt. Fixpunkt der Auslegung der Freiheitsrechte ist daher, daß sie einen Schutzbereich umschreiben, und sei er - wie im Falle der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG - auch noch so weit. Art. 1 Abs. 3 GG konkretisiert die Normbefehle der Grundrechte in personeller Hinsicht, indem er die Staatsgewalt in ihren drei horizontalen Ausprägungen zu ihren Adressaten bestimmt. Auch diese Vorschrift weist nicht in Richtung einer Konzentration der Freiheitsrechte auf ihre staatsabwehrende Funktion. Wenn „Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung" gebunden sind, so folgt daraus zwar, daß sich die Grundrechte nicht unmittelbar an Private i.S.v. Grundpflichten wenden. Art. 1 Abs. 3 GG trifft aber noch keine Aussage über das „Wie" einer Bindung. Auch soweit der Staat verpflichtet sein sollte, aktiv zum Schutz der in den Art. 1 ff. GG benannten Güter zu handeln, bleibt er alleiniger Adressat. Im Gegensatz zu den Schutzbereichen der Freiheitsrechte bezieht sich eine Reihe von Schrankenregelungen ausdrücklich auf Grundrechtseingriffe. Explizit lassen Art. 2 Abs. 2 S. 3 und Art. 13 Abs. 3 GG einen Grundrechtseingriff auf gesetzlicher Grundlage (unter bestimmten Voraussetzungen) zu. Aber auch Grundrechte, die von der Rechtfertigung einer Einschränkung (Art. 11 Abs. 1 GG), einer Beschränkung (Art. 8 Abs. 2 GG), einer Regelung (Art. 12 Abs. 1 GG) oder einer Enteignung (Art. 14 Abs. 3 GG) sprechen, gehen dabei offenbar von einem staatlichen Handeln und mithin von der Eingriffsabwehrfunktion der Grundrechte aus. Rückschlüsse auf die Schutzrichtung des Grundrechts können hieraus indessen nicht gezogen werden. Die Gesetzesvorbehalte haben ihre Bedeutung in der Rechtfertigung eines für den Grundrechtsträger nachteiligen Handelns. Selbst bei den prinzipiell einschränkbaren Grundrechten soll der Mensch nicht ohne gesetzliche Grundlage, bei einigen Grundrechten sogar nur unter den Bedin440 BGHSt 27, 191 (194); a.A. BVerwGE 62, 123 (124); VGH München, DÖV 1980, 50 (51); Stein, NJW 1978, 2426 (2428); Starck, in: von Mangoldt/Klein/ Starck, GG I, Art. 4 Rz. 154. 441 Stein, NJW 1978, 2426 (2428).
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
gungen eines qualifizierten Gesetzesvorbehaltes das Opfer belastender staatlicher Maßnahmen werden können. Die Schutzpflichtenfunktion bezieht sich aber gerade nicht auf Opfer staatlicher Maßnahmen. Die Schutzgewährung des Staates als solcher bedarf keiner Schranke „nach oben" gegen ein Zuviel des Schutzes. 442 Der in Teilen der Literatur erhobenen Forderung nach einer Schrankenziehung der Schutzpflichten „nach unten" im Wege der Fruchtbarmachung der grundgesetzlichen Schrankenregelungen gegen ein Zuwenig an Schutz 4 4 3 ist nicht beizutreten. Die Struktur der Schutzpflichten mit ihrer im Unterschied zur Abwehrfunktion offenen Rechtsfolge widerstrebt einer tatbestandlichen Abwägung des Schutzniveaus und weist diese Aufgabe auf der Rechtsfolgenseite insbesondere dem Untermaßverbot z u . 4 4 4 Ist eine Beschränkung der Eingriffsbefugnisse sinnvoll, eine Beschränkung der Schutzpflicht aber überflüssig, kann aus den sich auf die Staatsabwehr konzentrierenden Schrankenregelungen kein Schluß gegen die textliche Anerkennung der Schutzpflichten gezogen werden. 445 Maßgeblich bleibt allein die Schutzbereichsumschreibung. bb) Die historische Auslegungsperspektive Der dem Verfassungstext entnommene duale Einwirkungsschutz steht tendenziell in Widerspruch zu der historischen Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes. In der Entwicklungsgeschichte der Grund- und Menschenrechte war der Gedanke der Staatsabwehr beherrschend. 446 Bis in die Beratungen des Parlamentarischen Rates hinein wird deutlich, daß eine grundrechtliche Pflicht zu aktivem staatlichen Schutz keineswegs zum gesicherten Bestand der Rechtswirkungen der Grundrechte zählte. 4 4 7 Legt man den Schwerpunkt einseitig auf eine Interpretation im Lichte der Entwicklungsund Entstehungsgeschichte der Grundrechte, so ließe sich die verfassungstextliche Offenheit für verschiedene Grundrechtsfunktionen als unbeabsichtigte Folge der Formulierungstechnik des Verfassungsgebers bagatellisieren. Dem historisch-genetischen Ansatz ist zwar zuzugeben, daß das Grundgesetz in einem verfassungsgeschichtlichen Kontext steht, der in der Verfassungsauslegung auch Berücksichtigung finden soll. Der Verfassungstext verdient jedoch, für sich selbst betrachtet und analysiert zu werden. Innovative 442 Soweit der Schutz des einen zugleich Eingriff in die Rechte des anderen ist, greifen insoweit natürlich wiederum die genannten Gesetzesvorbehalte. 443 Hermes, Schutz, S. 241 f.; Dietlein, Schutzpflichten, S. 116. 444 Siehe unten Teil 5 C.VI. 445 Ebenso: Scherzberg, DVB1. 1989, 1128 (1135); a.A. Schlink, EuGRZ 1984, 457 (459); Dietlein, Schutzpflichten, S. 158. 446 S.o. Teil 3 B.II.2.a). 447 S.o. Teil 3 B.II.2.a)cc).
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
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Inhalte, die über die Aussagen früherer deutscher Verfassungen hinausgehen, können ihm auch im Grundrechtsteil nicht per se abgesprochen werden. Immerhin wird auch seinem unmittelbaren Vörgängerdokument, der Weimarer Reichsverfassung, zugestanden, daß es seinerseits mit der Entwicklung der Institutsgarantien grundrechtsdogmatisch weitgehend Neuland beschritt. 448 Auch wenn die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes in vieler Hinsicht auf eine Kontinuität des Freiheitsbegriffes weist, so wurde mit der Einfügung der Sozialstaatsklausel der Grundstein für den modernen Leistungsstaat gelegt, der auch mit einem modifizierten Grundrechtsverständnis einhergeht. 449 Der erste Schritt von einem negatorischen Freiheitsverständnis zum Schutz eines Freiheitsraums war damit getan. 4 5 0 Für einen Bruch oder jedenfalls eine Relativierung der primär abwehrrechtlichen Konzeption der Grundrechte spricht innerhalb des Grundrechtsteils der Verfassung insbesondere die Formulierung des Art. 1 Abs. 1 S. 2 G G . 4 5 1 Dem steht nicht entgegen, daß die Tragweite dieser Formulierung des Art. 1 Abs. 1 GG und der anderen Freiheitsrechte den Müttern und Vätern des Grundgesetzes noch gar nicht bewußt gewesen sein mag. Maßgeblich ist die Aufgeschlossenheit des Verfassungstextes für die Schutzpflichtenfunktion. Im Grundgesetz wurde damit der Grundstein für das erst nach einer gewissen zeitlichen Verzögerung von Rechtsprechung und Lehre errichtete Gebäude der Schutzpflichtendogmatik gelegt. Die Anwendung der grundrechtlichen Schutzpflichten stützt sich in der gegenwärtigen Verfassungspraxis weniger unmittelbar auf den Verfassungstext, sondern mehr im Sinne eines Fallrechts auf die einschlägigen „Präzedenzfälle" der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts und die darin zum Ausdruck kommende Verfassungskonkretisierung. 452 Beginnend mit dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung und ergänzt durch fast durchweg positive Stellungnahmen in der Literatur hat sich die grundrechtliche Schutzpflicht über einen Zeitraum von mehr als einem Vierteljahrhundert als Bestandteil des Arsenals grundrechtlicher Normwirkungen durchgesetzt. 453 Die Frage nach ihrer dogmatischen Herleitung vermag ihre Existenz nicht 448 Auch hier war der insoweit offene Wortlaut Wegbereiter ihrer Herausarbeitung in der Lehre, Schmitt, in: Anschütz/Thoma, HdbStR, § 101 S. 596 m.w.N.; Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 1 Rz. 174. 449 Schwarz, JZ 2000, 126 (128). 450 Vgl. Schwarz, JZ 2000, 126 (128); zum räumlichen FreiheitsVerständnis: oben Fn. 431. 451 Teil 3 B.III.2.a). 452 Zum Begriff der Konkretisierung von Rechtsnormen siehe Müller, Juristische Methodik, Rz. 275 ff. 453 Gerechnet seit dem ersten Fristenregelungsurteil, BVerfGE 39, 1 ff. (1975).
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
mehr ernsthaft in Frage zu stellen. Der Weg ihrer Herleitung kann jedoch Konsequenzen für ihre Wirkungsweise und v.a. ihre Wirkungsgrenzen haben. In der Auseinandersetzung mit den in bezug auf das Schutzpflichtenkonzept zurückhaltenden historisch-genetischen Auslegungsbefunden läßt sich diese Verfassungs- und v.a. Verfassungsgerichtspraxis möglicherweise als Fall der Verfassungsfortbildung oder des Verfassungswandels begreifen. (1) Verfassungsfortbildung Die Verfassungsanwendung ist keinen prinzipiell anderen Problemen ausgesetzt als die Anwendung von Rechtsnormen im allgemeinen. Wenn im einfachen Gesetzesrecht offene oder verdeckte Gesetzeslücken im Wege der Analogiebildung geschlossen werden, 4 5 4 läge es nahe, in ähnlicher Weise eine lückenergänzende Verfassungsfortbildung durch Analogieschlüsse, welche die Auslegung im engeren Sinne überschreiten, zuzulassen. 455 Art. 79 Abs. 1 GG, der ein Textänderungsgebot für das Grundgesetz vorsieht, entfaltet insoweit keine Sperrwirkung gegen eine Rechtsfortbildung, die den Normbestand der geschriebenen Verfassung unberührt läßt, da er nur die Änderungen, nicht aber eine Fortbildung des Grundgesetzes in den Blick nimmt und der Bildung materiellen Verfassungsrechts außerhalb des Grundgesetzes nicht entgegensteht. 456 Die Vorschrift ist aber über ihre unmittelbare Aussage als Grundentscheidung der Verfassung für eine Eindämmung extratextualen Verfassungsrechts zu werten. 4 5 7 Diese Grundentscheidung berührt zwar nicht den sich innerhalb der Wortlautgrenze im Wege der Auslegung vollziehenden Verfassungswandel, wohl aber die Rechtsfortbildung in Ergänzung des geschriebenen Verfassungsrechts. Im Unterschied zu weiten Teilen des einfachen Gesetzesrechts, insbesondere zum Zivilrecht ist das Bedürfnis nach einer Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht weniger drängend. Planwidrige Gesetzeslücken 458 wird man hier seltener ausmachen können. Zum einen ist der Verfassungstext offener und reichhaltiger an relativ unbestimmten Prinzipien. 459 Vor allem aber hat Verfassungsrecht innerhalb des Rechtssystems gegenüber dem einfachen 454
Hierzu ausführlich: Larenz, Methodenlehre, S. 366 ff. Göldner, FS Larenz, S. 206 ff. 456 Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht, S. 88 m.w.N., 91; Krüger, DÖV 1961, 721 (723); Göldner, FS Larenz, S. 209. 457 Vgl. Göldner, FS Larenz, S. 209; Dreier, in: Dreier, GG, Art. 79 I Rz. 38, welche die Bestimmung als Hemmnis für eine Verfassungsfortbildung bzw. als Argument für eine Begrenzung des Verfassungswandels werten. 458 Siehe zu dieser Voraussetzung der Rechtsfortbildung Larenz, Methodenlehre, S. 370 ff. 459 Lücke, in: Sachs, GG, Art. 79 Rz. 8. 455
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
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Recht eine Beobachtungs- und Kontrollfunktion; Verfassungsrecht vermittelt dem Recht einen durch Selbstexemtion gesicherten Mechanismus, sich selbst für rechtswidrig zu erklären. 460 Der Zivilrichter, der eine Entscheidung zwischen zwei streitenden Privatparteien nicht verweigern darf, wird bei seiner Suche nach einem tauglichen Entscheidungsmaßstab eher auf eine offene oder verdeckte Lücke stoßen als derjenige, der die Verfassung als Kontrollmaßstab des einfachen Rechts heranzieht. Soweit dem Grundgesetz kein Kontrollmaßstab im Einzelfall zu entnehmen ist, muß dieser nicht durch Rechtsfortbildung erzeugt werden, sondern ist die Verfassungsprüfung als „bestanden" anzusehen. Trotz der breiten Zustimmung im Schrifttum wurde schon seinerzeit in Betracht gezogen, daß das erste Fristenregelungsurteil die Grenzen einer Grundrechtsinterpretation im Sinne einer Durchführung von im Verfassungstext artikulierten Prinzipien überschritten habe und als Fall der verfassungsgerichtlichen Verfassungsfortbildung zu werten sei. 4 6 1 Die Frage, ob die angeführten Argumente die Verfassungsfortbildung prinzipiell ausschließen, kann für die grundrechtlichen Schutzpflichten im Ergebnis indes auf sich beruhen. Die Annahme grundrechtlicher Schutzpflichten übersteigt keineswegs die für die Verfassungsauslegung (im engeren Sinne) zu beachtende Wortlautgrenze. Da die Schutzpflicht des Staates sich unter den Tatbestand der Grundrechte subsumieren läßt, 4 6 2 weist das Grundgesetz insoweit keine offene Lücke auf. Allenfalls kann man die ursprüngliche Beschränkung der Grundrechte auf ihre Abwehrdimension bis zur Akzeptanz der Schutzpflichtendimension als implizite Annahme einer verdeckten Lücke werten. Von einer verdeckten Lücke wird gesprochen, wenn eine vorhandene Regelung einen Sachverhalt erfaßt, allerdings nach ihrem Sinn und Zweck auf ihn nicht paßt, mithin einer Einschränkung bedarf. 463 Die Beschränkung der Grundrechte auf die Funktion der Staatsabwehr, die vom Text des Grundgesetzes nicht vorgegeben wird, hätte man nach dieser Sichtweise im Wege einer teleologischen Reduktion 4 6 4 vorgenommen. Begründungsbedürftig wäre dann allerdings die Annahme und Schließung einer verdeckten Lücke in den Wirkungen der Freiheitsrechte, nicht hin-
460
Luhmann, Recht der Gesellschaft, S. 475. Fiedler, JZ 1979, 417 (419), in Anlehnung an die Unterscheidung von Scheuner, Diskussionsbeitrag (in: P. Häberle, Verfassungsrechtsprechung, S. 283), zwischen in der Verfassung klar ausgesprochenen Prinzipien und einer „allmählichen Ergänzung und Fortentwicklung" der Verfassung. 462 S.o. Teil 3 B.III.2.e). 463 Larenz, Methodenlehre, S. 377; Göldner, FS Larenz, S. 205. 464 Siehe zur Ausfüllung verdeckter Lücken durch teleologische Reduktion: Larenz, Methodenlehre, S. 391 ff. Speziell zum Verfassungsrecht: Göldner, FS Larenz, S. 205 f. 461
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
gegen die Aufgabe dieser Reduktion mit der Durchsetzung des Schutzpflichtenkonzepts. (2) Verfassungswandel Der Begriff des Verfassungswandels wird nicht einheitlich verstanden und oftmals nicht klar von der Fortbildung des Verfassungsrechts abgegrenzt. 465 Soweit der Verfassungswandel nicht aus politischer oder soziologischer Beobachtungsperspektive eine Entwicklung innerhalb des Rechtssystems bezeichnen, sondern ihm ein juristischer Bedeutungsgehalt zukommen soll, wird man nur insoweit eine verbindliche Abgrenzung vornehmen können, als daß Fälle der Textänderung keine Form des Verfassungswandels darstellen. 466 In der Abgrenzung zur Verfassungstextänderung hatten um die Wende zum 20. Jahrhundert Paul Laband und Georg Jellinek den Begriff des Verfassungswandels eingeführt. 467 Sie hielten weitgehende Veränderungen des Verfassungrechtszustandes durch die Staatspraxis ohne explizite Änderung des Verfassungstextes für zulässig, um den sich wandelnden Anschauungen und Bedürfnissen eines modernen und sich allmählich demokratisierenden Nationalstaates Rechnung zu tragen. Eine solche Auffassung entfaltete sich allerdings vor dem Hintergrund der Reichsverfassung von 1871, für die weder ein Geltungsvorrang vor dem einfachen Gesetzesrecht noch ein Schutz durch eine richterliche Kontrollinstanz existierte 4 6 8 Dennoch sah bereits Jellinek den Gesetzgeber, der den Verfassungswandel betrieb, in der Rolle eines Verfassungsinterpreten. 469 Im demokratischen Rechtsstaat, der den Vorrang der Verfassung für alle Staatsgewalt anerkennt (Art. 20 Abs. 3 GG) ist die Grundlage für den Verfassungswandel als ein eigenständiges Phänomen zwischen Verfassungsauslegung und Textänderung weggefallen. 470 Verfassungswandel als Rechtsbegriff kann demnach nurmehr eine besondere Art der interpretativen 465
Vgl. etwa Lücke, in: Sachs, GG, Art. 79 Rz. 7; Dreier, in: Dreier, GG, Art. 79 I Rz. 37 f. 466 Fiedler, Sozialer Wandel, S. 24; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 186. 467 Jellinek, Verfassungsänderung, S. 9, 21 ff.; Laband, Wandlungen, passim; vgl. a. Smend, Verfassungsrecht, S. 241 f. 468 Badura, HdbStR VII, § 160 Rz. 14; Roßnagel, Der Staat Bd. 22 (1983), S. 551 ff. 469 Jellinek, Verfassungsänderung, S. 9. 470 Häberle, Zeitschrift für Politik 21 (1974), S. 111 (129 f.); Roßnagel, Der Staat Bd. 22 (1983), S. 554. Dagegen betont Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 188, die phänomenologische Eigenständigkeit des Verfassungswandels, sieht aber gleichfalls die Grenzlinie des zulässigen Verfassungswandels dort erreicht, wo die Interpretationsmöglichkeiten ausgeschöpft sind (a.a.O., S. 190).
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Bedeutungsänderung und -erweiterung geltender Verfassungsnormen meinen. Ungeachtet der Frage nach der Zulässigkeit einer Verfassungsfortbildung schließt der Verfassungswandel nicht nur eine Wendung gegen das geschriebene Verfassungsrecht, sondern auch eine Wandlung neben dem geschriebenen Verfassungsrecht aus. Der Inhalt der Verfassungsnormen kann sich nur innerhalb des durch den Text gezogenen Rahmens wandeln. 471 Daß Verfassungswandel allenthalben stattfindet, ergibt sich bereits daraus, daß eine Rechtsnorm mehr ist als ihr bloßer Normtext. 4 7 2 Friedrich Müller hat die normativen und faktischen Elemente einer Rechtsnorm in Normprogramm und Normbereich geschieden; der Normbereich bezeichnet dabei den Ausschnitt der sozialen Wirklichkeit in seiner Grundstruktur, den das Normprogramm aus dem allgemeinen Regelungsbereich der Rechtsnorm auswählend zu bestimmen erlaubt. 473 Verändert sich die Struktur eines normierten Wirklichkeitsausschnitts, so führt dies zwangsläufig zu einer Veränderung des Norminhalts. 4 7 4 Dies gilt für das einfache Gesetzesrecht ebenso wie für das Verfassungsrecht. 475 Das Verfassungsrecht ist aufgrund seines größeren Zeithorizonts solchen Normbereichsänderungen oftmals sogar in erhöhtem Maße ausgesetzt. Es ist auf sie aber auch in höherem Maße angewiesen, um seine Flexibilität zu erhalten und seine Ordnungsaufgabe erfüllen zu können. Die Verfassungsnormen dürfen von der gesellschaftlichen Dynamik nicht isoliert werden; die Verfassung muß eine „lebende Verfassung" 476 sein. Ohne an dieser Stelle den sozialen Wandel als Bedingung des Verfassungswandels in bezug auf die den Grundrechten entnommenen Schutzpflichten vertieft behandeln zu müssen, läßt sich für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland jedenfalls festhalten, daß der Staat - anders als seine obrigkeitsstaatlich geprägten Rechtsvorgänger und v.a. in schar471 Hesse, FS Scheuner, S. 139; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 188 ff.; Depenheuer, Wortlaut, S. 11 ff. In diese Richtung weist auch eine (beiläufige) Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts: BVerfGE 50, 290 (338). 472 Müllen Juristische Methodik, Rz. 230. 473 Müller, Juristische Methodik, Rz. 232, 235 ff.; ders., Normbereiche, S. 9. 474 Hesse, FS Scheuner, S. 138. 475 Müller y Juristische Methodik, Rz. 35; Hesse, FS Scheuner, S. 138. 476 Dieser Terminus ist dem Begriff von der „living Constitution" der US-amerikanischen Staatsrechtswissenschaft entliehen. Dort wird mit ihm allerdings vielfach auch ein „aktivistischen", politischen und ethischen Vorstellungen verpflichteter Umgang mit der Verfassung, der die Grenzen der Interpretationsmethodik mitunter verläßt, bezeichnet. Siehe zu dieser Kritik aus dem Blickwinkel eines ganz den Intentionen der Verfassungsgeber verpflichteten „Originalism": Rehnquist, Texas Law Review, Bd. (1976), S. 693 ff.; vgl. dazu Krings, ZaöRV Bd. 58 (1998), S. 147 (162 f.). Vgl. zum Gedanken der entwicklungsoffenen Verfassung in den USA bereits den U.S. Supreme Court (Entscheidungsbegründung des Gerichtspräsidenten Marshall) in McCulloch vs. Maryland, Wheat Bd. 4, S. 316 (407 u. 413).
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fem Kontrast zum nationalsozialistischen Regime - immer weniger als primäre Gefahrenquelle für die Freiheit der Bürger betrachtet wurde. Je mehr das in historischer Erfahrung gebildete und verifizierte Bild vom freiheitsbeschränkenden Charakter der Staatsgewalt im demokratischen Rechtsstaat der Bundesrepublik verblaßte, desto wahrnehmbarer wurden andere, nichtstaatliche Quellen der Freiheitsgefährdung. Der Erwartungshorizont der Bürger verschob sich allmählich stärker in Richtung eines leistungsstaatlichen Verständnisses. Neben die Freiheitssicherung gegen den Staat mußte daher die Freiheitssicherung durch den Staat zunehmend in das Blickfeld rücken und den Normbereich der Grundrechte verändern. Einzuräumen ist, daß ein solcher sozialer bzw. politischer Wandel zwar in seiner Tendenz auszumachen ist, kaum jedoch in seinen Inhalten exakt zu beschreiben ist. Der aus ihm abgeleitete Verfassungswandel gibt dem Verfassungsinterpreten keine präzise Neubeschreibung der Normbedeutung an die Hand. Dies ist auch schon deswegen schwerlich möglich, weil sich ein Verfassungswandel i.d.R. nicht sprunghaft, sondern in einem zeitlichen Kontinuum vollzieht. Die Feststellung eines Verfassungswandels kann und soll hier aber lediglich die grammatikalische und teleologische Begründung der grundrechtlichen Schutzpflichten gegen die - für sich genommen berechtigten - Einwände aufgrund ihrer Ideen- und Entstehungsgeschichte abstützen. Daß die Grundrechte in ihrer Entwicklung und auch noch im Parlamentarischen Rat primär als Staatsabwehrrechte verstanden wurden und leistungsrechtliche bzw. sicherheitsgewährende Komponenten in diesem Verständnis eine allenfalls marginale Rolle spielten, steht der Herausarbeitung neuer Komponenten v.a. seitens des Bundesverfassungsgerichts nicht im Wege, solange hierdurch einem Normbereichswandel Rechnung getragen wird und die durch den Wortlaut der Verfassung vorgegebenen Grenzen nicht überschritten werden. cc) Teleologische Auslegung und das Konzept negativer Freiheit Entscheidend für ein umfassendes Wirkungsverständnis der Grundrechte als subjektive Rechte spricht eine teleologische Betrachtungsweise. Wie das Bundesverfassungsgericht in anderem Kontext ausgeführt hat, erfüllt „der umfassende Schutz menschlicher Handlungsfreiheit ... eine wertvolle Funktion in der Freiheitssicherung" 477 . Dies gilt nicht nur bezogen auf die Weite der Schutzbereichsauslegung, sondern ebenso bezogen auf die Weite der Wirkungsrichtung der Grundrechte.
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GG.
BVerfGE 80, 137 (154) - zur allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
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Betrachtet man zum einen den Umstand, daß die Freiheitsrechte einen räumlich vorstellbaren Schutzbereich sichern, und zum anderen die Bedeutung des Freiheitsschutzes als zentralem Inhalt ihrer Rechtsgarantie 478 , so läßt sich dem Wortlaut der Grundrechte i. V.m. Art. 1 Abs. 3 GG ein Gebot an die Staatsgewalt entnehmen, die in den Art. 1 ff. GG umschriebenen Freiheitssphären vor Ingerenzen von außen zu schützen. Als Urheber solcher Einwirkungen bzw. Eingriffe und Übergriffe kommt aber nicht nur der Staat selbst, sondern ebenso jeder private Dritte in Betracht. Die Pflicht des Staates, den Grundrechtsträger vor Übergriffen Dritter zu schützen, läßt sich mithin ohne weiteres unter den Wortlaut der subjektiven Freiheitsrechte des Grundgesetzes subsumieren. 479 Eingriffsabwehr und Schutz vor privaten Übergriffen sind zwei komplementäre Aspekte des in diesen Grundrechten angeordneten Freiheitsschutzes. 480 Verpflichtet zum Freiheitsschutz bleibt indes einzig die Staatsgewalt. Es findet keine unmittelbare, sondern nur eine mittelbare Drittwirkung der Grundrechte - über das Tätigwerden des Gesetzgebers - statt 4 8 1 ; die Adressatenbestimmung des Art. 1 Abs. 3 GG wird daher nicht unterlaufen. Daß diese Vorschrift nicht lediglich mit Hilfe eines dogmatisch-spitzfindigen Kunstgriffs eingehalten wird, wird deutlich, wenn man beachtet, daß zur Verpflichtung eines Privaten in jedem Fall eine Norm zwischengeschaltet werden muß. Dies kann eine eigens in Erfüllung der Schutzpflicht erlassene Norm sein oder eine solche, die eine im Lichte der grundrechtlichen Schutzpflicht erfolgende Auslegung zum Zwecke der Störungsabwehr jedenfalls zuläßt. Soweit einem Privaten in Erfüllung der Schutzpflicht eine Pflicht auferlegt werden muß, der Staat mithin in dessen Grundrechte eingreift, kann nicht ein (staatsgerichtetes) Grundrecht, sondern nur ein Gesetz, das den Störer zum Adressaten hat, dem Gesetzesvorbehalt Genüge t u n . 4 8 2 Das Verständnis verfassungsrechtlich umhegter Freiheitsräume entwickelt das klassische, auf Staatsabwehr gerichtete Konzept der Freiheitsrechte fort. Schon Jellinek hatte für die amerikanischen und die französische Menschenrechtserklärungen nachgewiesen, daß diese die „gesetzliche Abgrenzung von Gebieten ..., die der Staat nicht betreten soll" vornahmen und gerade darin ihr bleibender, allgemeiner Wert für die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte lag. 4 8 3 Die Zurückhaltung des Staates sichert danach bereits Freiheitsräume, wenn diese zunächst auch nur gegen den Staat 478
S.o. Teil 3 B.III.l.d). So bereits Bleckmann, DVB1. 1988, 938 (941 f.), allerdings mit abweichender Begründung, da er von einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte ausgeht. 480 S.o. Teil 3 B.III.l.d). 481 A.A. Bleckmann, DVB1. 1988, 938 (942). 482 Siehe hierzu unten Teil 5 C.V. 483 Jellinek, Erklärung, S. 26. 479
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
abgegrenzt und geschützt werden sollten. Die Begründung der Schutzpflichten aus dem grundrechtlichen Freiheitsbegriff gibt zwar die Beschränkung auf die Abwehr des Staatshandelns auf, optimiert aber zugleich den Schutz dieser Freiheitsräume. Die räumliche Konstituierung einzelner Freiheitsrechte widerspricht dem negativen Konzept „politischer Freiheit" nicht, sondern entspricht ihm gerade, insofern dieses Konzept ein Gebiet absteckt, in dem der einzelne von Zwangsmaßnahmen anderer ungestört handeln kann. 4 8 4 Je weiter dieses Gebiet reicht, welches der bewußten Einmischung anderer entzogen ist, umso größer ist die Freiheit des einzelnen. 485 Dennoch haben bereits Locke und später Autoren wie Mill oder Tocqueville erkannt, daß dieses Gebiet nicht unbeschränkt weit gefaßt werden darf, wenn nicht eine Freiheit zur Zwangsausübung gegen jedermann mitumfaßt sein soll, daß aber andererseits ein bestimmter Mindestraum persönlicher Freiheit existieren müsse. 486 Es bedarf daher einer Grenzziehung zwischen persönlicher Freiheitssphäre und öffentlicher Gewalt. 4 8 7 Die Definition der Tatbestände von Freiheitsrechten kann vielfach überhaupt nur im Wege der Negation von Beschränkungen der Freiheit gelingen. 488 Die These von der Grundentscheidung des Grundgesetzes für einen umfassenden Schutzgürtel sowohl gegen staatliche Ein- als auch gegen private Übergriffe gewinnt an zusätzlicher Überzeugungskraft vor dem Hintergrund alternativer grundrechtlicher Garantien. Insbesondere macht der Text der US-amerikanischen Verfassung die Kontingenz und damit auch die Bedeutung des grundgesetzlichen Freiheitsrechtskonzepts deutlich. Die Grundrechte der zentralen Zusatzartikel I und X I V der US-Verfassung verdienen - anders als die Grundrechte des Grundgesetzes 489 - zu Recht die Bezeichnung „negative Kompetenznormen". 490 Wenn sie dem Kongreß bzw. den Gliedstaaten verbieten, ein bestimmtes Gesetz zu erlassen, das die freie Religionsausübung, die Rede- und Pressefreiheit, das Versammlungsrecht oder das Petitionsrecht beschränkt, 491 so läßt sich aus dieser Formulierung ausschließlich ein status negativus der Grundrechtsträger gegenüber dem Staat 484
Zu diesem Konzept „negativer Freiheit": Berlin, Two Concepts, S. 122 ff. Berlin, Two Concepts, S. 123. 486 Berlin, Two Concepts, S. 123 f.; vgl. Mill, On Liberty, Kap. V (S. 89 ff.). 487 Berlin, Two Concepts, S. 124. 488 Vgl. hierzu bereits Jellinek, Antwort, S. 127. 489 Kompetenznormen und Grundrechte weisen zwar gewisse Parallelen auf. Die Begriffsbildung „negative Kompetenznormen" verwirrt allerdings eher, da sie den entscheidenden strukturellen Unterschied zwischen binnenstaatlicher Machtverteilung und der Grenzziehung zwischen Staat und Gesellschaft ausblendet. Vgl. bereits oben Teil 3 B.III.2.d). 490 Hierauf weisen - jedoch mit abweichender Schlußfolgerung - auch Ehmke, VVDStRL Bd. 20 (1963), S. 53 (94), und Ossenbühl, DÖV 1965, 649 (657) hin. 485
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
163
herleiten. Als organ- bzw. verbandsspezifische Handlungsverbote finden sie ihre Entsprechung in den ebenfalls einem bestimmten Organ zugewiesenen (Gesetzgebungs-)Zuständigkeiten.492 Auch die übrigen Grundrechte der Bill of Rights, insbesondere die Zusatzartikel I I I - V I I I , gewährleisten Rechte explizit nur als Schutz vor staatlichen Maßnahmen. 493 Übergriffe Dritter bleiben jedenfalls nach dem Wortlaut der Bestimmungen unberücksichtigt. 494 Die Kontrastierung mit einer explizit abwehrrechtlichen Diktion, wie sie sich in der US-Verfassung findet, unterstreicht, daß Wortlaut und Systematik der Grundrechte des Grundgesetzes einer Ableitung von Schutzpflichten nicht entgegenstehen. Sie streiten vielmehr für einen umfassenden Schutz 491 Der 1791 ratifizierte Zusatzartikel I lautet: „Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peacably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances." („Dem Kongreß wird untersagt, ein Gesetz zu erlassen, daß sich auf die Etablierung einer Religion bezieht oder ihre freie Ausübung verbietet, oder die Redefreiheit, die Pressefreiheit, das Recht des Volkes, sich friedlich zu versammeln und eine Petition an die Staatsgewalt zu richten, verkürzt." - Übersetzung des Verf.) Der 1791 ratifizierte Zusatzartikel XIV lautet in der entsprechenden Passage: „... No State shall make or enforce any law which shall abridge the privileges and immunities of citizens of the United States; nor shall any State deprive any person of life, liberty, or property without due process of law, nor deny to any person within its jurisdiction the equal protection of the laws." („Kein Staat darf ein Gesetz erlassen oder durchsetzen, das die Privilegien und Rechte der Bürger der Vereinigten Staaten verkürzt, noch darf ein Staat ohne rechtsstaatliches Verfahren einer Person Leben, Freiheit oder Eigentum nehmen, noch einer Person in seinem Hoheitsgebiet den gleichmäßigen Schutz seiner Gesetze verweigern. - Übersetzung des Verf.). 492 Vgl. hierzu Krings, ZaöRV Bd. 58 (1998), S. 147 (171). In bezug auf die Normadressaten haben die Grundrechte inzwischen jedoch nach einhelliger Auffassung eine Ausweitung erfahren; sie binden alle drei Staatsgewalten in Bund und Staaten, vgl. die Entscheidungen des Supreme Court, Gitlow v. New York, U.S.-Reports Bd. 268, S. 552 ff.; Lovell v. Griffin U.S.-Reports Bd. 303, S. 444 ff.; New York Times v. U.S., U.S.-Reports Bd. 403, S. 713 ff. 493 Bei einer wortlautorientierten Auslegung kann man daher nur von Schutzgegenständen sprechen; die mit dem Begriff des „Schutzbereichs" verbundene mehrdimensionale Vorstellung greift für die amerikanische Bundesverfassung nicht. 494 Im US-amerikanischen Verfassungsrecht wird denn auch - durchgängig bei allen Grundrechten - eine staatliche Handlung (state action) gefordert, vgl. oben Teil 3 B.II.2.a)aa) u. Fn. 166. Die state action Doktrin wird nur in eng umgrenzten Ausnahmekonstellationen zugunsten einer Privatwirkung der Grundrechte gelockert, vgl. Giegerich, Privatwirkung, passim (bzgl. Religions- und Kommunikationsfreiheit: S. 328 ff., 375 ff.). Die Ableitung einer positiven Schutzpflicht aus der grundrechtlichen „Generalklausel" (due process clause) des Zusatzartikels XIV der Bundesverfassung hat das oberste Bundesgericht noch 1989 aufgrund des eindeutig nur die Staatsmacht beschränkenden Wortlauts ausdrücklich abgelehnt, U.S. Supreme Court, DeShaney v. Winnebago County Social Services Department, U.S. Reports Bd. 489, S. 189 (194 ff.). Vgl. zur Kritik an dieser restriktiven Auslegung nur Fisher, Washington and Lee Law Review, Bd. 56 (1999), S. 461 (510 ff.).
Ii*
164
Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
der Freiheitsausübung im Normbereich der Grundrechte gegen Zwangseinwirkungen des Staates und Privater. Diese Wortlautbegründung der Schutzpflichten läßt sich in der Kurzformel eines dualen Einwirkungsschutzes bzw. eines mehrdimensionalen Freiheitsschutzes fassen. Dies bedeutet, daß grundrechtlicher Freiheitsschutz und Schutzpflicht keine getrennten Grundrechtsfunktionen beschreiben. Die Schutzpflicht ist ebenso wie die Abwehrfunktion ein Fall der Freiheitssicherung. Während die Abwehr- oder genauer Staatsabwehrfunktion der Grundrechte gegen Ingerenzen des Staates schützt, wendet die Schutzpflicht sich thematisch gegen Übergriffe Privater. Mit einer solchen Verortung der Schutzpflicht innerhalb der subjektiven Freiheitsdimension der Grundrechte wird der „verfassungsimmanent-anspruchsfreundlichen Tendenz des Grundgesetzes" 495 in adäquater Weise Rechnung getragen. dd) Gefahr einer Nivellierung der Grundrechtsfunktionen? Die Mehrdimensionalität des Freiheitsbegriffes muß keinesfalls zu einer Nivellierung der Grundrechtsfunktionen in ihrer Wertigkeit führen. Der Vorrang der Abwehr staatlicher Eingriffe ist mit diesem grundrechtlichen Freiheitskonzept durchaus vereinbar. Auch ein in sich geschlossener Freiheitsraum kann in der Art und Intensität seines Schutzes der unterschiedlichen Qualität von Freiheitsgefahren Rechnung tragen. Der Tatbestand der Freiheit determiniert nicht die rechtliche Ausgestaltung des Schutzes. Bei dieser Ausgestaltung ist vielmehr zu berücksichtigen, daß das Rechtsetzungs- und Gewaltmonopol des Staates nach einer stärkeren und effektiveren Abwehr verlangt als die Störungen Privater. Für die Vorkehrungen gegen letztere muß dem Staat - auch angesichts der Grundrechte des Störers - ein Entscheidungs- und Handlungsspielraum gegeben werden, der ihm hinsichtlich der Beschränkung seines eigenen Handelns so nicht zukommt. 4 9 6
3. Die objektive Wertentscheidung in den Grundrechten Ein weiterer Versuch zur Begründung der Schutzpflicht beruft sich auf die den Grundrechten innewohnenden objektiv-rechtlichen Gehalte. Dieser Ansatz ist insbesondere in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelt worden, wird aber auch in der Literatur verfolgt. 4 9 7 495 Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2 Rz. 5; vgl. auch Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1 Rz. 51; siehe in der Sache ausführlich: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 414 f., 432 ff. u. 447 ff. 496 Zur Ausgestaltung der Schutzpflicht im einzelnen unten Teil 5 C.
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
165
Daß die Grundrechte neben ihrer subjektiv-rechtlichen Komponente auch eine objektiv-rechtliche enthalten, erschließt sich zwanglos aus der Natur des subjektiven Rechts. Dieses kann nur dann wirksam werden, wenn mit ihm eine objektive Pflicht auf Erfüllung des subjektiv Versprochenen korrespondiert. Dem Freiheitsrecht des einzelnen entspricht die Pflicht des Staates, sich freiheitsbeschränkender Handlungen zu enthalten bzw. solche Handlungen Dritter zu unterbinden. Diese Ausgangshypothese zum Verhältnis von subjektivem und objektivem Recht ist rechtslogisch zwingend. Zu weitgehend dürften hingegen die Annahmen sein, das subjektive Recht habe seinen Grund im objektiven Recht 4 9 8 oder die Grundrechte seien weniger selber Normen, als daß sie auf (objektiven) Normen des öffentlichen Rechts beruhten. 499 Sie stellt die Entstehungs- und Ideengeschichte der Grundrechte auf den Kopf: Der primäre Zweck der Grundrechte bleibt der Schutz des einzelnen; 500 die objektiven Pflichten der Staatsorgane ergeben sich als notwendige Konsequenzen daraus. Durch den Hinweis auf einen dem subjektiven Gehalt korrespondierenden objektiven Gehalt der Freiheitsrechte wird für die Begründung der Schutzpflicht indes nichts gewonnen. Die objektiv-rechtliche Seite der Grundrechte ist zunächst der Rechtssatz, welcher nach der Subtraktion der Anspruchsseite des Grundrechts verbleibt. 501 Seine Reichweite kann weder tatbestandlich noch von der Rechtsfolge her thematisch über den subjektivrechtlichen Gehalt hinausgehen. Die Grundrechte enthalten danach nur dann eine objektiv-rechtliche Schutzpflicht, wenn sie auch subjektiv-rechtlich einen Schutzanspruch beinhalten. W i l l man aus einem objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte die Schutzpflichtenfunktion ableiten, so kann dies nicht im Wege einer simplen Ausblendung der subjektiv-rechtlichen Seite geschehen. 502 Die Berufung auf den objektiv-rechtlichen Gehalt zur Begründung der Existenz grundrechtlicher Schutzpflichten setzt sich daher nachvollziehbarerweise dem Vorwurf einer petitio principii aus. 5 0 3 Das Bundesverfassungsgericht verfolgt denn auch einen subtileren Ansatz und beschreitet einen verschlungeneren Begründungsweg, indem es aus den Aussagen der einzelnen Grundrechte Wertentscheidungen abstrahiert, 504 die 497
Vgl. zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Nachw. unten Fn. 504 ff. Wertordnungsorientierte Begründungsansätze verfolgen im neueren Schrifttum etwa Böckenförde, Der Staat Bd. 29 (1990), S. 1 (12 f.); Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 196 ff.; Rujfert, Vorrang, S. 158 f. 498 So aber Jellinek, System, S. 9; Stern, Staatsrecht III/1, S. 908. 499 Vgl. Friesenhahn, 50. DJT (1974) Bd. II, S. G 1 (G 4). 500 Eingehend: Robbers, Sicherheit, S. 148 ff. 501 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 478; Dietlein, Schutzpflichten, S. 56. 502 Dietlein, Schutzpflichten, S. 56. 503 Hillgruber, Schutz des Menschen, S. 144.
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
sich zu einem Ordnungssystem zusammenfügen. Diese Argumentation hat sich allmählich in den Vordergrund seiner Judikatur geschoben. In der Auftaktentscheidung zur Lehre von grundrechtlichen Schutzpflichten, dem ersten Fristenregelungsurteil, wurde die Quelle der Schutzpflicht noch unmittelbar in einem speziellen Freiheitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) lokalisiert. 5 0 5 Zwar zog das Gericht darüber hinaus den Argumentationstopos der objektiven Wertordnung heran, 5 0 6 jedoch wohl lediglich, weil es so die Frage, ob der nasciturus selbst bereits Grundrechtsträger sei, meinte, unbeantwortet lassen zu können. 5 0 7 Die zweite originäre Schutzpflichtenentscheidung, das Schleyer-Urteil, kam gänzlich ohne einen Rekurs auf die objektive Wertordnung aus, und bezog die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 G G , 5 0 8 da hier die Grundrechtsträger-Qualität des Inhabers eines möglichen Schutzanspruches nicht in Frage stehen konnte. Erst die folgenden Judikate 509 leiten die grundrechtlichen Schutzpflichten aus den in den Grundrechtsbestimmungen statuierten „objektivrechtlichen Wertentscheidungen" bzw. aus „objektiv-rechtlichen Gehalten" der Grundrechte her. Diese gemeinhin unter dem Schlagwort der „objektiven Wertordnung" zusammengefaßte 510 Begründung hat sich inzwischen als kennzeichnend für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts herausgebildet. 511 Die verfassungsgerichtlichen Stellungnahmen zu einer dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes immanenten Wertordnung beschränken sich nicht auf die Schutzpflichtenjudikatur, sondern durchziehen weite Teile der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 512 Diese Wertetheorie läßt sich zurückführen auf die Integrationslehre Smends, die den
504
Zu dieser Judikatur des Bundesverfassungsgerichts siehe Jarass, AöR Bd. 110 (1985), S. 363 ff. 505 BVerfGE 39, 1 (41). Auch die Menschenwürdegarantie wird hier zwar zitiert, die Pflicht des Staates, jedes menschliche Leben zu schützen, leitet das Gericht aber „unmittelbar" und primär aus der Freiheitsgewährleistung des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ab; siehe oben: Teil 3 A.I.l.a). 506 BVerfGE 39, 1 (41 f.). 507 Hierauf weist Hillgruber, Schutz des Menschen, S. 143, hin. 508 BVerfGE 46, 160 (164). Die Kombination dieser beiden Grundrechte kehrt noch einmal zurück in der zweiten Fristenregelungsentscheidung, wo der Grund der Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG, ihr Gegenstand und ihr Maß jedoch aus Art. 2 Abs. 2 GG abgeleitet werden, vgl. o. Teil 3 A.I.2.c). 509 Beginnend mit dem „Kalkar"-Beschluß, BVerfGE 49, 89 (141 f.), s.o. Teil 3 A.I.2. 510 In Anlehnung an die Wortwahl im ersten Fristenregelungsurteil, BVerfGE 39, 1 (41); vgl. Dietlein, Schutzpflichten, S. 57; Hillgruber, Schutz des Menschen, S. 143. 511 Siehe hierzu Stern, Staatsrecht III/1, S. 933 ff. (m. Nachw. zur Rspr. des BVerfG) sowie zusammenfassend S. 947. 512 Vgl. BVerfGE 7, 198 (215); 10, 302 (322); 21, 362 (372).
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
167
Staat als stetigen Integrationsprozeß zu einer Erfahrungs-, Kultur- und Wertegemeinschaft charakterisiert. 513 Die Grundrechte normieren als prägende Faktoren innerhalb dieses Integrationsprozesses ein „Kultur-" oder „Wertsystem". 514 Neben der Wertetheorie werden eine Reihe weiterer Grundrechtstheorien angeboten. 515 Mit der Wertetheorie haben sie gemeinsam, daß sie über den Weg der Abstraktion weitere Wirkungsdimensionen der Grundrechte erschließen wollen. Dies wird zum einen - anknüpfend an eine Erweiterung des Grundrechtsverständnis aus der Zeit der Weimarer Reichsverfassung 516 - über ein institutionelles Verständnis der Grundrechte versucht. 517 Zum anderen werden die Grundrechte demokratisch funktionalisiert, indem in ihnen eine staatliche Gewährung nicht ausschließlich im Individualinteresse der Berechtigten gesehen w i r d . 5 1 8 Schließlich werden die Grundrechte sozialstaatlich gedeutet, so daß der Staat die notwendigen Voraussetzungen für ihre Wahrnehmung zu schaffen habe. 5 1 9 Jede dieser Theorien beinhaltet diskutable Gedanken zur Erklärung und Systematisierung der einzelnen Grundrechtsbestimmungen. Das exklusive Abstellen auf eine bestimmte Grundrechtstheorie als Schlüssel zum „richtigen" Verständnis kann der Vielschichtigkeit der einzelnen Grundrechte allerdings nicht gerecht werden und droht letztlich die Besonderheiten der einzelnen Grundrechte zu nivellieren. 520 Die Grundrechtstheorien bergen überdies die Gefahr ihrer Verselbständigung und Emanzipierung vom Text der Grundrechte in sich. Mit der Anerkennung der Grundrechte als unmittelbar geltendem Recht gem. Art. 1 Abs. 3 GG gelang dem Grundgesetz der entscheidende Durchbruch in der deutschen Grundrechtsgeschichte. Die erkämpfte Normativität der Grundrechte würde in letzter Konsequenz gefährdet, wenn man die Grundrechte ausschließlich aus dem Blickwinkel einer Grundrechtstheorie betrachtete. Grundrechtstheorien sind zwangsläufig 513
Smend, Verfassungsrecht, S. 189 ff. Smend, Verfassungsrecht, S. 264 f. 515 Vgl. zu den Grundrechtstheorien (einschließlich der vorstehend skizzierten) ausführlich, Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1534 ff.); Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 50 ff.; Stern, Staatsrecht III/2, S. 1679 fl. 516 Siehe Schmitt, in: Anschütz/Thoma, HdbStR § 101 S. 596 m.w.N. 517 Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 104 ff.; vgl. Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1532). Diese Theorie wurde auch teilweise vom Bundesverfassungsgericht übernommen, vgl. BVerfGE 10, 118 (121); 20, 162 (175); 57, 295 (319 f.); 74, 297 (323). 518 Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 542; vgl. Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1534 f.). 519 Vgl. Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1534 ff.); Scherzberg, DVB1. 1989, 1128 (1131). 520 Stern, Staatsrecht III/2, S. 1680; vgl. Häberle, JZ 1989, 913 (918). 514
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Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
auch immer Staatstheorien und tendieren daher dazu, die Grenze zur Allgemeinen Staatslehre zu überschreiten. Staatstheorien wollen v.a. erklären, Grundrechte aber sollen anordnen. Die Entfernung von einem interpretatorischen Ansatz und die Hinwendung zu einer Deduktion grundrechtlicher Inhalte aus Grundrechtstheorien macht die Verfassungsanwendung in einem höheren als dem unvermeidbaren Maße zur politischen Entscheidung, wodurch ihr minderheitenschützender Wesenszug überspielt zu werden droht. 5 2 1 Politische und philosophische Weltbilder können den Grundrechten auf diese Weise leicht untergeschoben werden; im Extremfall kann sich der freiheitliche Rechtsstaat in eine „Tyrannei der Werte" (C. Schmitt) 522 verwandeln. Mit Blick auf die Wertetheorie des Bundesverfassungsgerichts wird richtigerweise die Wesensverschiedenheit von Werten und Normen betont. 5 2 3 Im Gegensatz zu Werten, die nur eine spezielle Vorzugswürdigkeit für sich beanspruchen können, besitzen Normen aufgrund ihres deontologischen Geltungssinnes allgemeine Verbindlichkeit. 524 Neben der generellen Skepsis gegenüber komprehensiven Grundrechtstheorien 525 treten erhebliche Zweifel hinsichtlich ihrer Tauglichkeit zur Begründung der Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte. 526 Wenn die objektiven Elemente des einzelnen Grundrechts eine eigene Begründungsleistung nicht zu erbringen vermögen, sondern dieser aus abstrahierten Prinzipien bzw. einer Wertordnung folgen soll, so stellt sich die schwierige Frage nach dem Inhalt einer derartig fundierten Schutzpflicht. Das gegen Dritte gewen521
Vgl. Ossenbühl, NJW 1976, 2100 (2106). Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 37 ff. 523 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 309 ff. 524 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 315. Die prinzipielle Differenz von Werten und Normen ist eine entscheidende argumentative Hürde der grundrechtlichen Wertordnungslehre, welche auch neuere Begründungsansätze dieser Theorie nicht überzeugend zu überwinden vermögen, vgl. nur Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 155 ff. Kritisch zur Wertordnungsjudikatur des Bundesverfassungsgericht Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1533 ff.), siehe aus jüngerer Zeit nur Depenheuer, ThürVBl. 1996, 270 (271). 525 Die Auseinandersetzung über den Wert von Grundrechtstheorien wird mit besonderer Schärfe in den Vereinigten Staaten geführt. Verfechter einer prinzipiengeleiteten Bildung von Entscheidungsregeln (aus rechtsphilosophischer Perspektive: Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 131 ff.) stehen Vertretern einer grundrechtsund fallindividuellen Auslegung (siehe aus jüngerer Zeit etwa den „minimalistischen" Ansatz Sunsteins, One Case, passim) gegenüber. 526 Begriffliche Verwirrung geht von Vorschlägen aus, die Grundrechtstheorien mit den Grundrechtsfunktionen gleichzusetzen (vgl. Stern, Staatsrecht III/2, S. 1692). Die Funktionen sind die - zumindest im Sinne einer objektiven Gesetzesinterpretation - als intendiert vorausgesetzten Wirkweisen der Grundrechte. Sie ergeben sich bereits aus einer Auslegung des Grundgesetzes. Die Grundrechtstheorien hingegen wollen den Inhalt der Grundrechte determinieren; sie sind keine Grundrechtsfunktionen, sondern suchen - wie die Interpretation - solche zu begründen. 522
B. Die Anerkennung und Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten
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dete Spiegelbild der Abwehrseite des einzelnen Grundrechts kann sie schwerlich sein. Zweifelhaft ist schon, ob sie überhaupt den einzelnen Grundrechten zugeordnet werden kann oder ob nicht aus einer in sich zusammenhängenden grundrechtlichen Wertordnung eine einheitliche und allgemeine Pflicht des Staates, vor Übergriffen Dritter zu schützen, hervorgeht. Die Schutzpflicht bliebe von den Feinheiten der Grundrechtstatbestände dispensiert und würde zum Gegenstück der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG. Da die meisten Grundrechtsschranken sich jedenfalls primär auf die Abwehrrichtung der Grundrechte beziehen und auf sie abgestimmt sind, ließe sich diese Konsequenz noch hinnehmen, zumal sich die Konkretisierung der Schutzpflicht und ihre Abwägung mit gegenläufigen Verfassungsdirektiven ohnehin auf der Rechtsfolgenseite vornehmlich unter dem Stichwort des Untermaßverbotes abspielt. Schwerer wiegt hingegen, daß sich die Unbestimmtheit auch auf die Qualität der Schutzpflichtenbindung des Staates und der Berechtigung der Bürger erstreckte. Dietlein 527 hat zu Recht darauf hingewiesen, daß es in sich widersprüchlich ist, wenn die herrschende Auffassung in Rechtsprechung und Literatur sich einerseits einer weiten, die Schutzpflichtenfunktion einschließenden Interpretation der einzelnen Freiheitsrechte aus Art. 1 ff. GG verschließt, um dann in apodiktisch behaupteten „Leitprinzipien", „Fundamentalnormen" oder „Grundsatznormen" eine neue Geltungsdimension der Grundrechte zu behaupten. Wenn die Abstrahierung von Werten und Prinzipien aus einem Rechtssatz auch rechtslogisch möglich ist, so muß der Rechtsinterpret sich doch der Abstraktheit und mithin der Unbestimmtheit der gewonnenen Werte bewußt bleiben. 5 2 8 Wäre die Begründung der Schutzpflichten auf den unsicheren Grund der objektiven Wertordnung angewiesen, so wäre größte Zurückhaltung bei der Herausarbeitung ihres Inhalts geboten. Sie bliebe in enger Verbindung mit dem staatstheoretisch beheimateten Staatszweck Sicherheit - auf den Status einer objektiven Zielsetzung, vergleichbar einer Staatszielbestimmung beschränkt. Die Ableitung individueller Ansprüche wäre höchst problematisch. 529 Auf Grundrechtstheorien im allgemeinen und die Wertordnungstheorie des Bundesverfassungsgerichts ist die Herleitung der Schutzpflichten glücklicherweise nicht angewiesen. Die Ausschöpfung des Textes der Freiheitsrechte und die Anerkennung eines mehrdimensionalen Freiheitsbegriffs bildet eine solide dogmatische Grundlage für grundrechtliche Schutzpflichten. Sie macht die mühsame Destillierung von Werten und ihre anschließende Kondensation zu neuen subjektiven 530 Rechtswirkungen obsolet. 527
Dietlein,, Schutzpflichten, S. 57. Dietlein, Schutzpflichten, S. 60 f.; vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 125 ff. 529 Siehe hierzu Teil 5 A. 528
170
Teil 3: Schutzpflichten als Grundrechtsfunktion
IV. Fazit zur Begründung der Schutzpflichtenfunktion Die rechtsdogmatische Begründung grundrechtlicher Schutzpflichten muß sich auf eine grundrechtsendogene Herleitung stützen. Ein „Staatszweck Sicherheit" kann allenfalls in eingeschränktem Maße positiv-verfassungsrechtliche Geltung für sich beanspruchen und findet jedenfalls nicht in den Grundrechten seinen Niederschlag. Innerhalb einer grundrechtsendogenen Begründung überzeugt weder die in Teilen der Literatur vertretene „Einheitsthese" oder „abwehrrechtliche Lösung", derzufolge die grundrechtlichen Schutzpflichten nur ein Unterfall der grundrechtlichen Abwehrdimension sind, noch die vielfach bemühte Herleitung der Schutzpflichten aus einer in den Grundrechten manifestierten objektiven Werteordnung. Die umständliche, z.T. apodiktische und rechtsdogmatisch schwierige Beweisführung zur Stützung dieses Wertordnungsansatzes wird obsolet bei einer eng am Text und an der Systematik der Freiheitsrechte des Grundgesetzes orientierten Analyse. Schon die explizite Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1 GG zeigt, daß dem Verfassungstext die Dimension des Drittschutzes keineswegs fremd ist. Zwar läßt sich die Schutzpflichtenfunktion nicht auf eine historische oder genetische Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes stützen. Der Freiheitsbegriff der Art. 2 ff. GG ist jedoch hinreichend offen konzipiert, so daß er als Anknüpfungspunkt für Abwehr- und Schutzansprüche gleichermaßen dienen kann und - bei einer teleologischen Betrachtung - dienen muß. Wortlaut und Systematik der Freiheitsrechte sind nicht auf die Abwehr staatlicher Eingriffe fixiert. Der Freiheitsbegriff des Grundgesetzes ist ein zweidimensionaler, der auf Schutz gegen und durch den Staat angelegt ist. Diese zweite Dimension des grundrechtlichen Freiheitsschutzes hat sich im Wege eines interpretatorischen Verfassungswandels aktualisiert und zur Herausbildung der Schutzpflichten als einer eigenständigen Grundrechtsfunktion geführt.
530
A.IV.
Zur Subjektivität als Argument gegen eine Herleitung aus Werten siehe Teil 5
Teil 4
Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten Bei dem dualen Einwirkungsschutz, basierend auf einem mehrdimensionalen Freiheitsbegriff, handelt es sich nicht nur um eine konsequente und überzeugende, sondern um die leistungsfähigste Begründung der grundrechtlichen Schutzpflichten, da auch die Verfassungsrechtsfortbildung nur schwer aus sich heraus wirken kann und den Wortlaut als Anknüpfungspunkt benötigt. Die Konzeption des dualen Einwirkungsschutzes muß daher auch die Reichweite und den Inhalt der Schutzpflichten bestimmen. Der Umfang der Schutzpflicht kann daher prinzipiell nicht weitergehen als der der negatorischen Grundrechtsseite. 1 Ausgehend vom Schutz einer grundrechtlichen Freiheitssphäre vor privaten Einwirkungen durch staatliches Handeln sollen zunächst die einzelnen Grundrechtstypen des Grundgesetzes betrachtet werden. Die auf dem Grundrechtswortlaut basierende Begründung muß die Schutzpflichtentauglichkeit der einzelnen Freiheitsrechte bestimmen. 2 In einem zweiten Schritt sind die Schutzrichtungen und Gefahrenquellen, bei denen die grundrechtliche Schutzpflicht zu Anwendung kommt, zu analysieren. Die hier zu erörternden Fallgruppen sind grundsätzlich unabhängig von dem jeweils betroffenen Schutzgut zu behandeln, was eine geschlossene Behandlung im Anschluß an die Schutzgüter rechtfertigt. 3 Diese Überlegungen leiten über in die Frage nach dem schutzpflichtenaktivierenden Gefahrenniveau, bei der geprüft werden soll, ob jede Berührung privater Interessen durch Private eine schutzrechtliche Pflicht des Staates auslöst.4
1
Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 109. Siehe Teil 4 A. Zur Notwendigkeit schutzbereichsspezifischer Begründungen vgl. a. Dietlein, Schutzpflichten, S. 87. 3 Siehe Teil 4 B. 4 Siehe Teil 4 C. 2
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Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
A. Schutzgüter Die Genese der grundrechtlichen Schutzpflichten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nahm ihren Anfang bei dem Recht auf Leben des Art. 2 Abs. 2 GG und der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG. 5 Seit 1989 hat das Bundesverfassungsgericht aber auch eine Reihe von anderen Grundrechten für die Schutzpflichtendogmatik - teils ausdrücklich, teils der Sache nach - fruchtbar gemacht.6 Dies waren zunächst die Grundrechte der Meinungs- und Berufsfreiheit und schließlich in der Bürgschaftsentscheidung - das Auffangfreiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung der (verfassungsrechtlich geschützten) Vertragsfreiheit. Ausgehend von einem im Schutzbereich klar umrissenen, jeder staatlichen Ordnung zumindest im Kern vorgegebenen Recht auf Leben, über die definitorisch bereits weniger klar konturierten Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 und 12 Abs. 1 GG hat sich die Schutzpflichtenlehre des Bundesverfassungsgerichts zu dem „Prototyp einer offenen Grundrechtsbestimmung" 7 vorgearbeitet. Zurecht stellt auch die Literatur inzwischen fest, daß jedes Schutzgut8 eines Freiheitsgrundrechts als Gegenstand einer staatlichen Schutzpflicht in Betracht kommt und die Schutzpflicht dem Abwehrrecht hinsichtlich ihrer thematischen Reichweite entspricht. 9 Insbesondere bezieht die Schutzpflicht sich nicht lediglich auf „sacherzeugte" Schutzgüter, die als physische oder ideelle Substanzen der Rechtsordnung vorgegeben sind. 10 Ebenfalls geschützt sind die rechtserzeugten Schutzgüter wie das Eigentum oder die Ehe. 11
I. Grundrecht auf Sicherheit? Die kontinuierliche Ausdehnung der Schutzgüter grundrechtlicher Schutzpflichten könnte Anlaß sein, von einem einheitlichen Grundrecht auf Si5
S.o. Teil 3 A.I.l.a). Vgl. o. Teil 3 A.I.3. 7 Höfling, in: Berliner Kommentar, Art. 2 Rz. 22 (Grundw. Okt. 2000). 8 Der Begriff Schutzgut wird hier im Sinne einer gegenständlichen Beschreibung des dem grundrechtlichen Schutzbereich unterfallenden Wirklichkeitsausschnitts gebraucht. Schutzgut der Grundrechte im eigentlichen Sinne ist stets ein von einer Person ausgeübtes Verhalten bzw. ein von ihr angenommener Zustand, so zu Recht: Koch, Grundrechtsschutz S. 77. 9 Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 93; Robbers, Sicherheit, S. 186 ff.; Groß, JZ 1999, 326 (330); Stern, Staatsrecht III/1, S. 944; Unruh, Dogmatik, S. 75; Ruffert, Vorrang, S. 159 u. 168. 10 Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 94. 11 Zur Unterscheidung von sach- und normgeprägten Grundrechtsgütem im Kontext der Schutzpflichten eingehend auch: Ruffert, Vorrang, S. 185 ff. 6
A. Schutzgüter
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cherheit zu sprechen. Eine solche Begrifflichkeit würde die Unterschiede zwischen den verschiedenen, im Schutzbereich der Grundrechte benannten Verfassungsgütern bezogen auf das Ziel der Sicherheit geringer bewerten und damit zugleich die Differenz zwischen dem Freiheits- und Sicherheitszweck der Grundrechte betonen. Sie würde die Frage der Herleitung der Schutzpflichten verschärfen, weil ein eigenständiges, mehr oder weniger homogenes Grundrecht auf Sicherheit nach einer entsprechenden Begründung verlangt. Ein generelles, umfassendes Sicherheitsgrundrecht müßte ferner in seinem Schutzbereich konturenlos bleiben und stünde in der Gefahr, zu einem nurmehr subjektiv zu definierenden Recht auf „Freiheit von Angst" zu mutieren. 12 Im Parlamentarischen Rat wurde ein solches Recht diskutiert, aber letztlich nicht in das Grundgesetz aufgenommen. 13 Bereits Isensee, der seiner Monographie zu den grundrechtlichen Schutzpflichten den Titel „Grundrecht auf Sicherheit" gab, betonte hierin den untrennbaren Zusammenhang zwischen Sicherheit und Freiheit. 14 Diese Verknüpfung gilt nicht nur auf einer abstrakten, staatsphilosophischen, sondern - ausgehend von der Prämisse der Mehrdimensionalität des verfassungsrechtlichen Freiheitsbegriffes - für jedes Freiheitsrecht des Grundgesetzes. Jedem Abwehrrecht auf Freiheit vor (ungerechtfertigten) Eingriffen des Staates korrespondiert prinzipiell ein Recht auf Schutz bzw. Sicherheit vor Übergriffen. Diese mehrfunktionalen Freiheitsrechte können nach der Art ihrer Schutzgüter und der Art der dahinter stehenden Freiheitsinteressen geordnet werden, um daraus Differenzierungen im Hinblick auf die jeweiligen Rechtswirkungen der Schutzpflichtendimension abzuleiten. Von einem „Grundrecht auf Sicherheit" kann daher nur im Sinne einer Addition der einzelnen, schutzbereichsspezifischen Schutzpflichten und -ansprüche des Bürgers gesprochen werden. 15
12
Siehe Teil 4 B.I. Vgl. Matz, in: von Doemming/Füßlein/Matz, JöR n.F. Bd. 1 (1951), S. 59 ff.; Hillgruber, Schutz des Menschen, S. 144. 14 Isensee, Sicherheit, S. 21. 15 Die Bedeutung der allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG als Auffangfreiheitsrecht gilt zwar im Prinzip auch für dessen Schutzpflichtenseite. Gerade wegen seiner Subsidiarität bzw. Generalität läßt sich hieraus aber kein monolithisches „Grundrecht auf Sicherheit" entwickeln. Wegen der Zugehörigkeit dieses Rechts zum grundrechtlichen Entfaltungsschutz muß man bei der Bejahung von privaten Übergriffen in die allgemeine Handlungsfreiheit ohnehin zurückhaltend bleiben und ist der Spielraum des Staates in bezug auf die zu erbringenden Schutzleistungen besonders groß, siehe Teil 4 A.III. 13
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Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
II. Natürliche und rechtserzeugte Schutzgüter 1. Natürliche Schutzgüter Die natürlichen oder sachgeprägten, von der Rechtsordnung und dem Grundgesetz ihrer Substanz nach vorgefundenen und von ihm aufgegriffenen und mit einer verfassungsrechtlichen Gewährleistung versehenen Freiheiten unterteilen sich zunächst in physische und ideell-kommunikative Schutzgüter. Zur erstgenannten Gruppe zählen die Rechte auf Leben, Gesundheit 16 und körperliche Bewegungsfreiheit (Art. 2 Abs. 2 GG), das Recht auf Freizügigkeit im Bundesgebiet (Art. 11 Abs. 1 GG) sowie das Grundrecht des Art. 13 GG, das den räumlich-gegenständlichen Bereich der Wohnung schützt. Natürliche Schutzgüter ideeller Prägung sind die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Art. 4 GG, die Kommunikationsfreiheiten, die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 GG, ferner auch die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit der Art. 8 Abs. 1, 9 Abs. 1 GG, die Brief- und Fernmeldefreiheit des Art. 10 Abs. 1 GG sowie das Petitionsrecht des Art. 17 GG, weil auch bei ihnen der kommunikative Schutzzweck im Vordergrund steht. 17 Schwierig einzuordnen sind die auf wirtschaftliche Betätigung ausgerichteten Grundrechte. Sieht man das in der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Wirtschaften als einen Vorgang mit dem finalen Zweck der physischen Existenzerhaltung an, so fallen sie in die erste Kategorie. Unter den Bedingungen des modernen Wirtschaftslebens liegt aber die Betonung des kommunikativen Charakters des Wirtschaftens näher und mithin eine Zuordnung zu den ideell-kommunikativen Schutzgütern. Die Zuordnung innerhalb der Gruppe der natürlichen Schutzgüter ist zwar ohne Relevanz für die Schutzpflichtendogmatik. Stellt man darauf ab, daß berufliche Tätigkeit unter den Bedingungen der modernen Dienstleistungsgesellschaft sich kaum mehr außerhalb vertraglicher Beziehungen, die wiederum auf rechtlichen Normen basieren, organisieren läßt, so kommt auch eine Wertung als rechtserzeugter Grundrechtstatbestand in Betracht. Ferner wird der Schutzbereich der Berufsfreiheit von den jeweiligen Berufsbildern bestimmt, 18 welche wiederum maßgeblich durch gesetzliche Regelungen konstituiert werden. Dennoch wird man den Schutzbereich der Berufsfreiheit wenigstens im Schwerpunkt als Beschreibung der natürlichen Freiheit, sich durch 16
Hinsichtlich der in Art. 2 Abs. 2 GG genannten „körperlichen Unversehrtheit" tendiert BVerfGE 56, 54 (74 ff.) zu einem weiten Begriffsverständnis, der zumindest auch schwerwiegende Beeinträchtigungen des psychischen Wohlbefindens umfaßt, ohne die Frage aber letztlich zu entscheiden. 17 Vgl. zu Art. 9 Abs. 1 GG: Bauer, in: Dreier, GG I, Art. 9 Rz. 18. 18 Siehe Manssen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 12 Rz. 42.
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eine andauernde Tätigkeit seinen Lebensunterhalt zu sichern, sehen müssen. 19 Eine so umschriebene Freiheit liegt der Rechtsordnung logisch voraus, wenn sie auch heute de facto ohne diese nicht mehr vorstellbar ist. Für die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG muß die Wertung hingegen anders ausfallen. Die hierin geschützten Rahmenbedingungen wirtschaftlicher Betätigung knüpfen schon ausweislich des Grundrechtstextes an „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen", die vor dem Hintergrund der Ideen- und Entstehungsgeschichte der N o r m 2 0 notwendig von einer rechtlich geordneten Arbeits- und Wirtschaftswelt ausgehen, an. Die Einordnung als (überwiegend) rechtserzeugtes Schutzgut wird bestätigt durch die zentrale Bedeutung des Tarifvertrages als Instrument koalitionären Handelns. Art. 6 Abs. 1 GG in der Variante des Familienschutzes muß auf der Schnittstelle zwischen ideeller und physischer Prägung angesiedelt werden. Anders als die Ehe ist die Familie zunächst ein soziales Phänomen, das sich in relativer Unabhängigkeit von rechtlichen Konstruktionen in der Gesellschaft herausgebildet hat, 2 1 im Gegensatz zur Ehe aber auch mannigfaltigere Erscheinungsformen aufweist. Kennzeichnend ist aber, daß die Ehe durch eine gewillkürte Entscheidung der Partner entsteht, während die Familienzugehörigkeit regelmäßig durch Geburt vermittelt wird. Die in Art. 6 Abs. 1 GG genannte Pflicht des Staates zu „besonderem Schutze" von Ehe und Familie ist indes kein Ausdruck der allgemeinen grundrechtlichen Schutzpflicht. 22 Gleiches gilt für die Verwendung des Wortes „Schutz" in Art. 6 Abs. 4 GG. Während in Art. 1 Abs. 1 S. 2 „schützen" und „achten" als zwei sich ergänzende Grundrechtswirkungen zu verstehen sind und die Schutzverpflichtung hier lediglich auf die Abwehr privater Störungen weist, widersetzt sich der allein stehende Begriff „Schutz" in Art. 6 Abs. 1 GG einer solchen engen Auslegung, wenn man nicht auf die Abwehrdimension dieses Grundrechts verzichten will. Dennoch folgt auch aus dieser Bestimmung - komplementär zum Abwehrrecht - eine grundrechtliche Schutzpflicht für Ehe und Familie im allgemeinen Sinne. Die Charakterisierung von Art. 2 Abs. 1 GG bringt besondere Probleme aufgrund der Offenheit des Tatbestandes und der Heterogenität der hierunter subsumierten Fallgruppen mit sich. Für das allgemeine Persönlichkeitsrecht und seine in Rechtsprechung und Literatur entwickelten Fallgruppen läßt sich jedenfalls eine Zuordnung zu dem Typus der natürlichen Schutz19
Ebenso für die Gewerbefreiheit: Leisner, Grundrechte, S. 327 f. Vgl. hierzu Höfling, in: Sachs, GG, Art. 9 Rz. 48 ff.; Bauer, in: Dreier, GG I, Art. 9 Rz. 6 ff. 21 Krings, FPR 2001, 7 (8); vgl. a. Kingreen, Jura 1997, 401 (402). 22 Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 136; vgl. a. Kingreen, Lebensgemeinschaft, S. 119; Krings, ZRP 2000, 409 (411). 20
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Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
güter annehmen. Die allgemeine Handlungsfreiheit unterfällt diesem Typus indes nicht in allen ihren Teilgehalten (sog. unbenannte oder InnominatFreiheitsrechte). 23 Zumindest die Vertragsfreiheit 24 schützt eine Institution des Privatrechts, welche die Existenz einer Rechtsordnung nicht nur voraussetzt, sondern von dieser erzeugt wird. Vertragsfreiheit schützt nicht das beliebige (gegenseitige) Versprechen der Beteiligten, sondern das Versprechen in seiner Verbindlichkeit. 25 Das gleiche gilt für die Privatautonomie, 26 welche ein eigenständiges, über die Vertragsfreiheit hinausgehendes und diese zugleich umfassendes Innominat-Freiheitsrecht ist, 2 7 da auch jenseits des Vertragsrecht die von der Privatautonomie angesprochenen Beziehungen unter Privaten Konstrukte der Rechtsordnung sind. Diese Bewertung wird in Teilen der Literatur bestritten. So sieht Stern den Vertrag als eine „der Rechtserfahrung vorausgehende Kategorie" 28 , nimmt das Gleiche aber für das Eigentum an, was auf eine Ablehnung der hier skizzierten Einteilung der Freiheitsgrundrechte in natürliche und rechtserzeugte Freiheiten hinausläuft. Im Zivilrecht wird vielfach betont, daß nicht eine Rechtsnorm, sondern der Versprechensakt als solcher der Grund der Bindung sei und die Rechtsordnung diesen Akt nur übernehme und mit Rechtszwang ausstatte.29 Zwar ist der dem Vertrag zugrundeliegende Gedanke des Versprechens keine originär rechtliche Kategorie. Daß der grundrechtliche Schutz der Vertragsfreiheit an einen realen, der Rechtsordnung vorgelagerten Akt anknüpft, besagt indes noch nicht, daß die Vertragsfreiheit eine natürliche Freiheit ist. Rechtserhebliches Handeln ist dem Menschen nicht schon von Natur aus möglich. Die Ausstattung des realen Versprechens mit Rechtsverbindlichkeit ist das entscheidende Moment, das den Charakter der Freiheit prägt und über seine natürliche Dimension erhebt.
23
Vgl. zu den Innominat-Freiheitsrechten: Dreier, in: Dreier, GG I, Art. 2 Abs. 1 Rz. 24; Höfling, in: Berliner Kommentar, Art. 2 Rz. 38 ff. (Grundw. Okt. 2000). 24 Zur Vertragsfreiheit als Gehalt der allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG: BVerfGE 8, 274 (328); 12, 341 (347); 73, 261 (270); 89, 48 (61); BVerfG NJW 1984, 476; NJW 1993, 2093. Gegen eine Grundrechtsqualität der Vertragsfreiheit: Struck, DuR 1988, 39 (42 ff.). 25 Höfling, Vertragsfreiheit, S. 22 f.; Roth, Eingriffe, S. 163 f.; ähnlich bereits Jellinek, System, S. 48. 26 Zur Privatautonomie siehe Erichsen, HdbStR VI, § 152 Rz. 56 ff.; vgl. a. BVerfGE 81, 242 (254 f.); BVerfGE 103, 89 (100 f.). 27 In diesem Sinne etwa: Höfling, Vertragsfreiheit, S. 30; ders., in: Berliner Kommentar, Art. 2 Rz. 40 (Grundw. Okt. 2000); vgl. auch Adomeit, Gestaltungsrechte, S. 19 ff. 28 Stern, VerwArch Bd. 49 (1958), S. 106 (123). 29 Lorenz, Allgemeiner Teil, S. 41; Conans, AcP Bd. 184 (1984), S. 201 (218); vgl. hierzu: Koch, Grundrechtsschutz, S. 465.
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2. Rechtserzeugte Schutzgüter Neben den natürlichen Freiheiten enthält das Grundgesetz eine Reihe rechtserzeugter oder kompetentieller 30 Freiheiten. Zu diesen zählen insbesondere die justiziellen Rechte der Art. 101 ff. GG, die politischen Mitwirkungsrechte (v.a. Art. 38 Abs. 1 GG) und die auf die Gründung öffentlichrechtlicher Einrichtungen gerichteten Garantien in Art. 7 GG (Schulwesen), aber wohl auch Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG (Rundfunkfreiheit) und Art. 5 Abs. 3 GG (Wissenschaftsfreiheit). Diese den staatlichen Bereich gestaltenden Rechte und Institutionsgarantien des öffentlichen Rechts sollen hier außer Betracht bleiben, und die Darstellung auf diejenigen Grundrechtstatbestände konzentriert werden, die primär abwehrrechtlich fungieren und für die Schutzpflichtendogmatik thematisch von größerer Bedeutung sind. Der klassische rechtserzeugte Schutzbereich unter den Freiheitsrechten ist der Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 GG. Auch der schon unter der Geltung des Art. 153 WRV entwickelte weite Eigentumsbegriff, 31 der zumindest alle Vermögenswerten Rechte des Privatrechts erfaßt, vermag die Grenzen der rechtlichen Herrschaft nicht zu überschreiten. Daraus wird in weiten Teilen der Literatur gefolgert, grundrechtlich geschütztes Eigentum ende da, „wo es an einer Umschreibung konkreter Rechtspositionen durch das unterverfassungsrechtliche Recht fehlt". 3 2 Ein bloßer Eigentumsschutz nach Maßgabe der einfachen Gesetzgebung vermag indes nicht zu überzeugen. 33 Die Grundrechtsbindung des Gesetzgebers aus Art. 1 Abs. 3 GG muß sich im Grundsatz auch bei rechtserzeugten Schutzgütern entfalten. Das in der Rechtsordnung entwickelte Leitbild des (privatnützigen) bürgerlichen Eigentums wird in der Verfassung aufgenommen und gibt dem Gesetzgeber bindende Strukturen vor. 3 4 Die Feststellung, daß es sich bei Eigentum um ein in der Rechtsordnung erzeugtes Freiheitsgut handelt, schließt die Existenz spezifisch-verfassungsrechtlicher Schutzwirkungen, die auch auf die Gesetzgebung zurückwirken, nicht aus. 35 Die normative
30
Hierzu: Höfling, Vertragsfreiheit, S. 20 ff. Siehe hierzu ausführlich: Wendt, Eigentum, S. 17 ff. 32 Wendt, Eigentum, S. 63, s.a. S. 34 ff.; ebenso etwa: Wieland, in: Dreier, GG I, Art. 14 Rz. 30; Sieckmann, in: Berliner Kommentar, Art. 14 Rz. 5 (Grundw. Okt. 31
2000). 33
Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 14 Rz. 34; Leisner, Sozialbindung, S. 45; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rz. 301 (1994). 34 Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 14 Rz. 34. 35 Ansätze hierzu bietet etwa das Verständnis der Selbständigkeit (einmal entstandener) subjektiver Eigentumsrechte gegenüber Änderungen des objektiven Eigentumsrechts oder der konstitutionelle Schutz von Eigentumsprinzipien, vgl. hierzu Sieckmann, in: Berliner Kommentar, Art. 14 Rz. 16 ff. (Grundw. Okt. 2000). 12 Klings
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Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
Erzeugung und Gestaltung von Freiheitspositionen kann nicht nur auf der Ebene des einfachen, sondern auch auf der des Verfassungsrechts erfolgen. Neben dem Eigentum sind es die oben 3 6 bereits aus der Gruppe der natürlichen Schutzgüter ausgeschiedenen Teilgehalte der allgemeinen Handlungsfreiheit, Vertragsfreiheit 37 und Privatautonomie, die als rechtserzeugte Schutzgüter gemeinsam die marktwirtschaftliche Grundausrichtung des Grundgesetzes determinieren, sowie die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG. Eine Differenzierung ist im Hinblick auf die Vertragsfreiheit lediglich notwendig, soweit ein Vertragsschluß zugleich unter ein Grundrecht mit natürlichem Schutzgut fällt, da die Vertragsfreiheit nicht ausschließlich über Art. 2 Abs. 1 GG geschützt wird. Das GeneralitätsVerhältnis der allgemeinen Handlungsfreiheit gilt auch für das Thema des Vertrages. Die Vertragsfreiheit im weiteren Sinne ist daher eine terminologische Addition von Vertragsgewährleistungen der einzelnen Grundrechte. 38 Als thematisch einschlägige speziellere Grundrechte mit rechtserzeugtem Schutzgut kommen insbesondere Art. 9 Abs. 3 GG bezogen auf Tarifverträge und Art. 14 Abs. 1 GG in Betracht; letzterer greift für Verträge, die unmittelbar auf die Veränderung oder Übertragung eines der in Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Rechte gerichtet ist. Die ein Recht erst begründenden schuldrechtlichen Verträge fallen hingegen nicht unter den Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG, da nur bestehende Rechte verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz genießen 39 und gerade im Vergleich mit den anderen Freiheitsrechten nicht angenommen werden kann, daß auch die Begründung einer schuldrechtlichen Vertragsposition - etwa im Sinne eines vorwirkenden Grundrechtsschutzes gewährleistet ist. Der schuldrechtliche Veräußerungsvertrag wird schließlich nicht über ein bestehendes Recht abgeschlossen, sondern dieser erzeugt ein neues Recht. Die zivilrechtliche Dichotomie von Verpflichtungs- und Verfügungsgeschäften muß zwar vom Verfassungsrecht nicht unbesehen übernommen werden, ihr liegt aber eine überzeugende sachlogische Unterscheidung zugrunde, die in den Schutzbereichen der Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG reflektiert wird. Aus der Sphäre normativ konstituierter Freiheitsrechte tritt die Vertragsfreiheit insbesondere heraus, soweit es sich um Verträge handelt, die ein Arbeitsverhältnis begründen, beenden oder ge-
36
Teil 4 A.II.2. Zur grundrechtlichen Anerkennung der Vertragsfreiheit ausführlich: Heinrich, Formale Freiheit, S. 70 ff. 38 Vgl. a. Höfling, Vertragsfreiheit, S. 20. 39 Vgl. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Rz. 53 (Stand: 1958). Anders hingegen eine verbreitete Literaturansicht, die dem Schutzbereich eine umfassende Garantie für den Abschluß obligatorischer und dinglicher Veräußerungs-, Nutzungs- und Belastungsverträge über Eigentumsobjekte entnimmt; Höfling, Vertragsfreiheit, S. 15; Papier, in: Hdb. d. VerfR, § 18, S. 799 ff. 37
A. Schutzgüter
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stalten und mithin unter Art. 12 Abs. 1 GG fallen. 40 Ob darüber hinaus auch die Freiheit, Verträge im Rahmen der gewerblichen Tätigkeit abzuschließen, dem Schutzbereich der unternehmerischen Berufsfreiheit unterfällt, ist umstritten. Während das Bundesverfassungsgericht das vertragliche Handeln auch im gewerblichen Verkehr der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG zuordnet, 41 gehen Teile der Literatur von einer Betroffenheit und damit von einem Vorrang des Art. 12 Abs. 1 GG aus. Die faktisch große Bedeutung der Vertragsfreiheit für die berufliche Betätigung reicht jedoch nicht aus, um sie in den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG fallen zu lassen. 43 Aus der Perspektive des Grundrechtseingriffes ist Art. 12 Abs. 1 GG daher zwar auch insoweit berührt als staatliche Maßnahmen, welche die Berufsausübung beschränken, zugleich auf die Zulässigkeit oder den Inhalt von Vertragsabschlüssen rückwirken. Jedoch tangieren Maßnahmen, welche die Verwendungsmöglichkeiten des juristischen Instruments „Vertrag" beschränken, auch insoweit den Schutzbereich der Berufsfreiheit nicht, als sie Vertragsschlüsse im Rahmen der Berufstätigkeit mit erfassen. 44 Ebenfalls zu den rechtserzeugten Schutzgütern gehört die Ehe. 45 Der Ehebegriff des Art. 6 Abs. 1 GG knüpft an eine spezifische christlichabendländische Tradition an. 4 6 Innerhalb dieser Tradition hat sich die Ehe als Zivilehe herausgebildet, 47 die vor staatlichen Stellen oder doch wenigstens auf der Grundlage eines gesetzlichen Verfahrens zu schließen ist. Die Abhängigkeit der Ehe von ihrer rechtlichen Ordnung wird veranschaulicht durch die dem verfassungsrechtlichen Ehebegriff immanenten Kriterien ihrer Ausschließlichkeit und prinzipiellen Unauflösbarkeit.
40 Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 12 Rz. 49; Zöllner, 52. DJT, Bd. I, Teil D, S. 98 f. 41 Vgl. BVerfGE 8, 274 (328); 12, 341 (347). 42 So Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 12 Rz. 131; in der Tendenz auch Tettinger, in: Sachs, GG, Art. 12 Rz. 162. 43 Manssen, in: v. Mangoldt/Klein, GG I, Art. 12 Rz. 66; ders., Privatrechtsgestaltung, S. 134 f. 44 Diese Abgrenzung läßt sich auch als Ausprägung des - inzwischen allerdings nicht unumstrittenen - Erfordernisses der „berufsregelnden Tendenz" von Eingriffen in Art. 12 GG ansehen, vgl. Tettinger, in: Sachs, GG, Art. 12 Rz. 73; kritisch zu diesem Kriterium Manssen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 12 Rz. 71 ff. 45 Kingreen, Jura 1997, 401 (401 f.); Krings, FPR 2001, 7 (8). 46 Vgl. Oppermann, VVDStRL Bd. 45, 105 (107); Merten, FS Leisner, S. 615
(622). 47
BVerfGE 31, 58 (82 f.); 53, 224 (245); Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 6 Rz. 31. 12*
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Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
3. Bedeutung der Unterscheidung Die Unterscheidung von natürlichen und rechtserzeugten Schutzgütern der Freiheitsrechte darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß einerseits auch natürliche Schutzgüter in vielfältiger Weise eine rechtliche Prägung erfahren. Andererseits sind Kategorien wie Eigentum, Vertrag oder Ehe zwar Gebilde des Rechts, entspringen aber aus natürlichen Zuständen und Bedürfnissen, die noch bei der Auslegung der entsprechenden Grundrechtsbestimmung hervorscheinen können. Dennoch ist einsichtig, daß - auf der Grundlage einer typisierenden Betrachtung - Umfang und Inhalt des grundrechtlichen Schutzes bei einem natürlichen bzw. sachgeprägten Grundrecht jedenfalls einfacher zu ermitteln ist als bei den rechtserzeugten Freiheitsrechten. 48 Die primäre Differenz zwischen den natürlichen und den rechtserzeugten Schutzgütern ist, daß letztere nicht nur Gegenstand abwehrrechtlicher, sondern auch institutioneller Gewährleistungen sind. Mit den Grundrechten auf Eigentum, Vertragsfreiheit, Eheschutz und Koalitionsfreiheit 49 sind zugleich die im Grundrechtsteil des Grundgesetzes enthaltenen Institutsgarantien umschrieben. Die unter der Weimarer Reichsverfassung entwickelte Lehre von den Einrichtungs- bzw. Institutgarantien, die maßgeblich von Carl Schmitt geprägt wurde, 50 wurde für das Grundgesetz zunächst von Ulrich Scheuner 51 rezipiert. Herausgebildet hat sich - bei vielfältigen Variationen im einzelnen - ein Grundkonsens über die Schutzwirkung der verfassungsrechtlichen Garantie privatrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Institute: Sie dürfen durch den Gesetzgeber weder abgeschafft werden, noch dürfen ihre typusbestimmenden Gehalte ausgehöhlt werden. 52 Die grundrechtlichen Schutzpflichten und die Institutsgarantien haben gemeinsam, daß sie ein existierendes Schutzgut voraussetzen und auf alle drei Staatsgewalten, in besonderer Weise aber auf den Gesetzgeber einwirken. Zentraler Unterschied ist zunächst, daß die Einrichtungsgarantien des Grundgesetzes ein Institut um seiner selbst willen schützen, während die Schutzpflichten einen Freiheitsraum gegen Störungen Dritter abschirmen. Indem Einrichtungsgarantien den Fortbestand rechtlicher Institute sicherstellen, gestalten sie aber den grundrechtlichen Freiheitsraum substantiellinhaltlich. Im Gegensatz dazu schirmen die Schutzpflichten diesen Raum 48
Ruffert, Vorrang, S. 185. Zu Art. 9 Abs. 3 GG als Institutsgarantie: Kemper, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG I, Art. 9 Rz. 227. 50 Schmitt, Verfassungslehre, S. 170 ff. (mit allerdings noch etwas unscharfer terminologischer Abgrenzung); vgl. zu den Ursprüngen der Lehre eingehend Stern, Staatsrecht III/l, S. 756 ff. 51 Scheuner, Recht, Staat, Wirtschaft, Bd. IV, S. 88 ff. 52 Stern, Staatsrecht III/l, S. 855. 49
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lediglich nach außen gegenüber Dritten ab. „Ihr Thema ist also nicht der Inhalt des Schutzgutes, sondern seine Unversehrtheit." 53 Aus der normativen Prägung der Eigentumsfreiheit des Art. 14 Abs. 1 GG wird gefolgert, daß es eine Schutzpflicht des Gesetzgebers dahingehend, Übergriffe Privater in das Eigentum als solches zu unterlassen, nicht geben könne 54 und eine eigentumsrechtliche Schutzpflicht nur nach Maßgabe des einfachen Gesetzesrecht existiere. Entsprechendes wird für die übrigen rechtserzeugten Schutzgüter bzw. institutionellen Garantien des Grundgesetzes vertreten: Auch in diesen Bereichen können Private danach nicht ein verfassungsrechtlich vorgegebenes Schutzgut beeinträchtigen. 55 Andererseits wird für die grundrechtliche Einwirkung in Vertragsbeziehungen zum Schutze der Vertragsfreiheit gerade das Konzept der grundrechtlichen Schutzpflichten als „adäquater Problemlösungsansatz" genannt. 56 Nach diesem Ansatz muß die konstitutionelle Vertragsfreiheit einen eigenen substantiellen Regelungsgehalt aufweisen. Damit stellt sich die Frage nach der Anwendbarkeit und der Anwendung staatlicher Schutzpflichten auf diejenigen Freiheitsrechte, deren Schutzbereich rechtlich konstituiert ist. 5 7 Deren Beantwortung hat sich zwischen zwei radikalen Positionen zu bewegen. Die Wertung dieser Grundrechte als „rechtserzeugt" spräche dafür, die Existenz eines Freiheitsraumes, den der Gesetzgeber gegenüber privaten Dritten normativ bewehren muß, zu verneinen. Da die grundrechtlichen Schutzpflichten nicht ausschließlich, aber in erster Linie den Gesetzgeber binden und zuallererst von ihm ein positives Tun verlangen, wäre das Schutzpflichtenthema für die genannten rechtserzeugten Schutzbereiche - einschließlich der Vertragsfreiheit in der Mehrheit ihrer Anwendungsfälle - bedeutungslos. Andererseits folgt aus den mit diesen Schutzbereichen verknüpften Institutsgarantien die Anerkennung einer Bindungswirkung auch für den Gesetzgeber. Zumindest soweit die jeweilige Institutsgarantie reicht, ergibt sich daher auch eine grundrechtliche Pflicht des Gesetzgebers, den Freiheitsraum, in dem Umfange, wie ihn die Institutsgarantie vorgibt, auch gegenüber Störungen Dritter zu schützen. 58 53
Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 94. So Dietlein, Schutzpflichten, S. 79; gegen eine Schutzpflicht aus Art. 14 Abs. 1 GG auch: Erichsen, Jura 1997, 85 (86); Steinberg, NJW 1984, 457 (459); offengelassen in BVerfG (Vorprüfungsausschuß), NJW 1983, 2931 (2932). 55 Dietlein, Schutzpflichten, S. 80 f. 56 Höfling, Vertragsfreiheit, S. 52. 57 Für eine Erstreckung der Schutzpflichten auch auf rechtserzeugte oder -geprägte Grundrechtstatbestände etwa: Dietlein, Schutzpflichten, S. 74 ff.; Dirnberger, Naturgenuß, S. 154 ff.; Heinrich, Formale Freiheit, S. 109. Kritisch gegenüber einer solchen Erstreckung hingegen Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 240. 58 Vgl. Ruffert, Vorrang, S. 186 ff. 54
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Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
Die Intensität dieser Schutzpflicht des Gesetzgebers ist daher geringer als diejenige von Grundrechten mit „natürlichen" Schutzgütern. 59 Zwar wenden sich die Institutsgarantien an alle drei Staatsgewalten, jedoch ist ihr primärer Adressat die rechtsetzende Gewalt. 6 0 Das Dilemma, daß der an die Grundrechte gebundene Gesetzgeber diese zugleich ausgestalten bzw. „zu Ende" definieren muß, trifft Judikatur und Exekutive daher nicht. Der vom Gesetzgeber in Erfüllung der Institutsgarantie ausgestaltete Schutzbereich gibt der zweiten und dritten Gewalt einen geschlossenen grundrechtlichen Prüfungsmaßstab vor. Wenn aber die dem Gesetzgeber auferlegte Schutzpflicht bezogen auf rechtserzeugte Schutzgüter von geringerer Intensität ist, so muß sich dies auch auf die richterliche oder administrative Auslegung des Gesetzesrechts auswirken. Im Bereich der rechtserzeugten grundrechtlichen Schutzgüter sind die gesetzesvollziehenden Gewalten an den Prüfmaßstab gebunden, der sich aus dem jeweiligen Grundrecht in Verbindung mit dessen gesetzgeberischer Ausgestaltung ergibt. Allenfalls dort, wo der Gesetzgeber eklatant hinter der Institutsgarantie zurückbleibt, mag die Bildung von Richterrecht von Verfassungs wegen an die Stelle legislatorischen Handelns zu treten haben. 61 Außerhalb solcher Fälle muß sich auch der richterlich vermittelte Schutz vor privaten Grundrechtsübergriffen an dem Schutzinstrumentarium und der Schutzintensität des Gesetzes orientieren.
III. Integritäts- und Entfaltungsschutz Fließender als die Unterteilung nach natürlichen bzw. sacherzeugten und rechtserzeugten Schutzgütern ist eine Differenzierung zwischen einem Verhaltens- oder Entfaltungsschutz einerseits und einem Integritäts- oder Sphärenschutz andererseits. Auch diese Differenzierung nach „dynamischen" und „statischen" Freiheitsinteressen läßt Rückschlüsse auf die Normativität der grundrechtlichen Schutzpflichten zu. Sie liegt quer zu der Einteilung der Freiheitsrechte nach Schutzgütern mit natürlichem und normativem Ursprung. Da scharfe Grenzziehungen zwischen diesen beiden Charakteristika hier noch ungleich schwerer sind, hat man sie sich als ein Kontinuum vorzustellen. 59
Vgl. auch Ruffert,, Vorrang, S. 336, der einräumt, daß normgeprägte Schutzgüter als Gegenstand grundrechtlicher Schutzpflichten „schwieriger zu erfassen sind". 60 Siehe hierzu m.w.N. Stern, Staatsrecht III/l, S. 872. 61 Hiervon zu unterscheiden ist die jedenfalls nicht prinzipiell ausgeschlossene Möglichkeit, daß die Rechtsprechung weitere, nicht verfassungsrechtliche Institute des Privatrechts schafft, so etwa das jedenfalls im Entstehen befindliche, maßgeblich richterrechtlich geprägte Institut der nichtehelichen Lebensgemeinschaft, vgl. Krings, ZRP 2000, 409 (412).
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Eine Differenzierung der Freiheitsrechte in Sphären- und verhaltensbezogene Rechte ist jüngst auch von Kocht 52 vorgenommen worden. Er unterteilt die Grundrechte danach, ob sie „in erster Linie auf den Schutz der Person und persönlichen Sphäre des Grundrechtsträgers oder die Bildung und Betätigung eines Willens" zielen. 63 Abgrenzungsschwierigkeiten sind in diesen Beschreibungen von vornherein angelegt, denn die persönliche Sphäre wird - nach dem Menschenbild einer freiheitlichen Grundordnung - maßgeblich durch Willensentscheidungen und -betätigungen des einzelnen gestaltet. Andererseits bietet die persönliche Sphäre des Grundrechtsträgers die notwendige materielle und ideelle Basis seiner verhaltensbezogenen Entscheidungen. Sinnvoll erscheint es daher, den Akzent von der Dichotomie zwischen persönlicher Sphäre einerseits und Willensbildung und -betätigung andererseits zu verschieben und darauf abzustellen, ob die - immer zumindest auch - verhaltensbezogene und auf Entfaltung angelegte Freiheit sich in einem Schutzbereich bzw. einem Teil eines Schutzbereiches über das Momenthafte hinaus zu einem Persönlichkeits- oder Charakterzug oder einem Element der Lebensgestaltung verfestigt hat. Der situativ-dynamische Freiheitsgebrauch verdichtet sich dann zu einem Zustand, dessen Konturen einer räumlich-gegenständlichen Umschreibung einfacher zugänglich sind und dessen Integrität zu schützen ist. Damit einher geht eine tendenziell defensive Ausrichtung des grundrechtlichen Schutzes. Der Entfaltungsschutz ist auf eine Beeinflussung der Umwelt ausgerichtet und beinhaltet eine kompetentielle Freiheit 64 , die der einzelne durch sein aktives Tun ausfüllt. Dagegen soll der Grundrechtsträger im Bereich des Integritätsschutzes v.a. vor Zumutungen, die von außen an ihn heran getragen werden, gesichert werden. Folgt man diesem Abgrenzungsgedanken, so würde etwa die Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG im Schwerpunkt nicht mehr den auf Entfaltung gerichteten Schutzgütern zuzuordnen sein, 65 sondern die Sicherung der Integrität einer religiösen Haltung stünde im Mittelpunkt, da religiöse Überzeugungen die „sinnhafte Selbstidentifikation des einzelnen" 66 maßgeblich mitbestimmen und einer „hinreichend konsistenten ... Gesamthaltung zur Welt entspringen". 67 62
Koch, Grundrechtsschutz, S. 72 ff. Koch, Grundrechtsschutz, S. 73. 64 Vgl. zum Verständnis des Freiheitsrechts der Vertragsfreiheit als Kompetenznorm: Conans, AcP Bd. 184 (1984), S. 201 (218). 65 Für eine solche Zuordnung: Koch, Grundrechtsschutz, S. 73. 66 Morlok, in: Dreier, GG I, Art. 4 Rz. 20. 67 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 4 Rz. 31. Ob diese Zuordnung auch für die Gewissensfreiheit gilt, ist fraglich, da die Gewissensentscheidung 63
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Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
Auch diese Abgrenzung kann nicht verhindern, daß unterschiedliche Teilbereiche und Ausprägungen ein- und desselben Grundrechtsschutzbereiches oftmals in beide Gruppen einzuordnen sind. So ist das gegenstandsbezogene Eigentumsrecht des Art. 14 Abs. 1 GG z.B. insoweit als Entfaltungsrecht zu verstehen als die Eigentumserwerbsfreiheit in Rede steht. 68 Letztlich können Grundrechte nur im Schwerpunkt ihrer Anwendungsmöglichkeiten einer dieser Gruppen zugerechnet werden. Abzugrenzen anhand der skizzierten Kriterien ist jedes Verhalten bzw. jede Freiheitsposition im Einzelfall. Die Zuordnung eines Grundrechts insgesamt kann daher immer nur typisierend gemeint sein. Die idealtypische Aufspaltung der Freiheitsrechte in einen Entfaltungsund einen Integritätsschutz bedeutet nicht, daß sich das räumliche Verständnis der Schutzbereiche auf die letztgenannte Kategorie beschränkt. Auch das Agieren im Bereich der Vertragsfreiheit oder anderen Ausprägungen der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG, der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG), der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG), der Brief- und Fernmeldefreiheit (Art. 10 Abs. 1 GG) und der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG), die allesamt dem Entfaltungsschutz zuzuordnen sind, kann als von einem grundrechtlichen Schutzgürtel umschlossen betrachtet werden. Im Unterschied zu den auf die Integrität verdichteter, statischer Freiheitspositionen ausgerichteten Rechten, wie dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG, 6 9 der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG), der Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG), der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) und den meisten Aspekten des Eigentumsschutzes (Art. 14 Abs. 1 GG), 7 0 sind auch situativ-einzelfallbezogen erfolgen kann und ihr kein sittlicher Gesamtentwurf zugrunde liegen muß. Andererseits will die Gewissensfreiheit dem Bürger gerade dann die Möglichkeit geben, sich seinem Gewissen gemäß zu verhalten (einen Gewissenskonflikt also zu vermeiden), wenn er in eine konfliktträchtige Situation hineingerät, ohne sie selbst herbeigeführt zu haben, Muckel, in: Berliner Kommentar, Art. 4 Rz. 58 (Grundw. Okt. 2000). 68 Auch Koch, Grundrechtsschutz, S. 73, ordnet diesen Aspekt den verhaltensbezogenen Rechten zu. 69 Zur ausschließlichen Herleitung des allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG siehe Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1 Rz. 59 (mit Nachw. zur gegenteiligen Ansicht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und weiten Teilen der Judikatur, Rz. 58). Der Sache nach sieht aber auch das Bundesverfassungsgericht den Art. 1 GG eher als Interpretationsrichtlinie denn als Rechtsquelle für das allgemeine Persönlichkeitsrecht, vgl. Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2 Rz. 63; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2 Rz. 2; Kunig, Jura 1993, 595 (597). 70 Die Zuordnung des Art. 9 Abs. 1 GG ist in diesem Schema schwer möglich, da er zwar gerade das Verhalten des Zusammenschließens und der Bildung einer Vereinigung schützt. Der so geschaffene Zusammenschluß hat jedoch einen statischen Charakter, insoweit er als organisatorische Plattform für weitere (unternehmerische, kulturelle, politische oder sonstige private) Aktivitäten dient.
A. Schutzgüter
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die Ausdehnung und Grenzziehung dieser Schutzbereiche allerdings schwerer zu bestimmen. Für die Abwehrrichtung der Grundrechte stellt diese wenig kompakte Struktur der Grundrechte mit entfaltungsbezogenen Schutzgütern noch kein Problem dar. Die negatorische staatliche Pflicht, sich Einwirkungen auf diese Schutzbereiche zu enthalten bzw. die Rechtfertigungslast zu tragen, kann ohne weiteres auch im Hinblick auf aktive Verhaltensweisen der Grundrechtsträger hinreichend klar konkretisiert werden. Schwieriger wird die Ermittlung und Konkretisierung einer staatlichen Pflicht indes, wenn es um den positiven Schutz dieser dynamischen Schutzgüter gegen Übergriffe Dritter geht, da sich hier die Freiheitssphären der Privaten naturgemäß gegenseitig durchdringen. Der Austausch von Meinungsäußerungen, die gewerblichen Aktivitäten konkurrierender Anbieter auf einem Markt, die gleichzeitige Veranstaltung zweier Versammlungen am gleichen Ort oder die Inanspruchnahme von Vertragsfreiheit durch beide Partner eines Vertrages schaffen Gemengelagen grundrechtlicher Schutzbereiche, bei denen kaum eindeutig zwischen Störer und Opfer abgegrenzt werden kann und somit die unteren Eckpunkte des Schutzpflichtendreiecks - bestehend aus Staat, Störer und Opfer eines Grundrechtsübergriffes - nur schwer zugewiesen werden können. Diese Schwierigkeit führt nicht zur Unanwendbarkeit grundrechtlicher Schutzpflichten. Sie legt aber besondere Zurückhaltung bei der Ableitung konkreter staatlicher Handlungspflichten auf. Die Entfaltung der o.g. „dynamischen" Schutzgüter kann der Staat gegenüber den kollidierenden Aktivitäten Dritter nur über eine weit gefaßte Rahmenordnung schützen. 71
IV. Gleichheitsrechte Schutzpflichten aus Gleichheitsrechten bilden nicht den Gegenstand dieser Untersuchung. 72 Es soll an dieser Stelle im Kontext der in Betracht kommenden grundrechtlichen Schutzgüter lediglich ein kurzer Seitenblick auf die Möglichkeiten und Grenzen gleichheitsinduzierter Schutzpflichten erfolgen. Nach der hier vertretenen Begründung der Schutzpflichten aus der Mehrdimensionalität der grundrechtlichen Freiheitsräume, erscheint es bereits zweifelhaft, ob auch aus solchen Grundrechtsbestimmungen, die keinen Freiheitsraum schützen, sondern dem Ziel der Gleichbehandlung verpflichtet sind, überhaupt ein positiver Schutzauftrag des Staates abgeleitet werden 71
Darüber hinaus sind kollidierende Schutzpflichten des Staates auch in Bezug auf verschiedene integritätsschützende Rechte oder zwischen integritätsschützenden und entfaltungsschützenden Rechten möglich, ohne indes in gleicher Intensität Abgrenzungs- und Konkretisierungsprobleme zu schaffen. 72 Siehe Teil 1 B.
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Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
kann. Der allgemeine Gleichheitssatz statuiert in Art. 3 Abs. 1 GG die prinzipielle Rechtsgleichheit aller Menschen. Der Zusatz „vor dem Gesetz" unterstreicht, daß er nicht vor unsachgemäßer Differenzierung Privater schützen kann, denen die Handlungsform des Gesetzes versperrt ist. Der Rechtsetzungs- und Rechtsanwendungsgleichheit des Art. 3 Abs. 1 GG, die ausschließlich staatsbezogene Pflichten darstellen, kann keine Schutzpflicht gegen privates Tun entnommen werden. 73 So muß der Zivilrechtsgesetzgeber zwar die formale Gleichheit der Teilnehmer am Privatrechtsverkehr im Rahmen seiner Gesetzgebung und Rechtsprechung gewährleisten. 74 Ihn trifft aber keine Schutzpflicht, aufgrund derer er die Privatrechtssubjekte ihrerseits zur gegenseitigen Gleichbehandlung anhalten muß. Aspekte der Gleichbehandlung unter Privaten berühren die faktische Gleichheit, deren Herstellung gerade nicht als Pflicht aus Art. 3 Abs. 1 GG folgt, sondern dem Sozialstaatsprinzip zuzuordnen ist. 7 5 Den Absätzen 2 und 3 des Art. 3 GG werden objektive Wertentscheidungen entnommen, 76 weil dieser bestimmte Differenzierungsverbote statuiert und sie aus der Masse der denkbaren Anwendungsfälle des allgemeinen Gleichheitssatzes heraushebt. Daß die in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Differenzierungsverbote hinreichend faßbare Schutzgegenstände mit materiellem Gehalt darstellen, welche den Grundrechtsinterpreten prinzipiell in die Lage versetzen, daraus konkrete Schutzpflichten zu entwickeln, belegt aber noch nicht die Geltung solcher Schutzpflichten. Die Vorschrift verbietet die Benachteiligung oder Bevorzugung wegen bestimmter im einzelnen aufgeführter Differenzierungsmerkmale. In Verbindung mit Art. 1 Abs. 3 GG wird nur die staatliche Gewalt zum Verzicht auf diese Differenzierungsmerkmale verpflichtet. Ob die Vorschrift so verstanden werden kann, daß die Staatsgewalt auch verpflichtet ist, den Verzicht auf diese Differenzierungsmerkmale bei Privaten sicherzustellen, erscheint hingegen fraglich. Der spezielle Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 3 GG stellt eine Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG dar. 77 Dieser systematische Zusammenhang streitet für eine ausschließliche Staatsgerichtetheit auch des 73 Dietlein, Schutzpflichten, S. 84; Erichsen, Jura 1997, 85 (87). A.A. Ruffert, Vorrang, S. 174 ff., der die Schutzpflicht über Schutzgüter konstruiert, die er im Wege der Subtraktion von der grundrechtlichen Abwehrfunktion (i.w.S.) gewinnt; im Hinblick auf das Privatrecht verneint aber auch er die Existenz von Schutzpflichten aus Art. 3 Abs. 1 GG, a.a.O., S. 175 f. 74 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 3 Rz. 265; die Bezeichnung dieser (originären) Pflicht des Art. 3 Abs. 1 GG als „Schutzpflicht" (ebd.) ist indes wenigstens mißverständlich. 75 Siehe ausführlich Neumann, DVB1. 1997, 92 (93 f.) m.w.Nachw. 76 Dietlein, Schutzpflichten, S. 84 f.; Erichsen, Jura 1997, 85 (87); vgl. auch Ruffert, Vorrang, S. 177 ff. 77 Lepa, Inhalt, Art. 3 Rz. 59.
A. Schutzgüter
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Art. 3 Abs. 3 GG. Der Staat kann zwar von seinen Bürgern verlangen, daß sie die Rechtskreise ihrer Mitbürger respektieren und sie nicht über ein bestimmtes Maß stören. Zu einer Gleichbehandlung ihrer Mitbürger kann er sie aber nur in Ausnahmefällen verpflichten. Die Wahl eines bestimmten Vertragspartners oder die persönliche Bevorzugung des Umgangs mit bestimmten Menschen sind Entscheidungen, die fest im Persönlichkeitsrecht der Bürger verankert sind. Daß der Grundgesetzgeber für den - in der Summe - relativ breiten Bereich der in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Kriterien das Auswahlbelieben des einzelnen durch gesetzgeberische Regulierung eingeschränkt oder gar aufgehoben wissen wollte, legt der Wortlaut der Vorschrift nicht nahe. Das muß auch für juristische Personen als Träger von Grundrechten gelten. Das ihnen nur eingeschränkt zur Verfügung stehende allgemeine Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG wird ergänzt durch die Rechte aus Art. 12 Abs. 1 GG und 14 Abs. 1 GG. 7 8 Dem Gesetzgeber ist es zwar im Rahmen der zulässigen Beschränkung von Freiheitsrechten nicht genommen, die Kriterien des Art. 3 Abs. 3 GG zum Inhalt von Diskriminierungsverboten zu erheben, er ist hierzu aber nicht von Verfassungs wegen gehalten. Dies bestätigt auch die Bestimmung des Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG, die im Zuge der Verfassungsreform des Jahres 1994 eingefügt wurde 7 9 und den Staat explizit zu positivem Tun im Hinblick auf die Gleichberechtigung von Männern und Frauen verpflichtet und „die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung" zur Staatsaufgabe erhebt. Eine tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung kann aber nur erreicht werden, wenn sie alle gesellschaftlichen Bereiche erfaßt und sich nicht auf den Bereich der Staatstätigkeit beschränkt. Somit muß der Staat etwa auf dem Gebiet des Arbeitsrechts auch Private auf die Gleichbehandlung von Männern und Frauen festlegen. Ob man diese Pflicht wegen ihrer thematischen Verwandtschaft mit den grundrechtlichen Schutzpflichten dieser Grundrechtsfunktion zuordnet 80 oder eine Pflicht eigener Art annimmt, ist für Inhalt und Reichweite der staatlichen Durchsetzungspflicht tatsächlicher Gleichberechtigung von untergeordneter Bedeutung. 81 Für Art. 3 Abs. 3 GG läßt sich dieser 78
Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2 Rz. 39. Änderungsgesetz v. 17.10.1994, BGBl. I 1994, S. 3146. 80 Für eine Schutzpflicht: Heun, in: Dreier, GG I, Art. 3 Rz. 101; vgl. auch BVerfGE 88, 203 (266). Skeptisch zur Behandlung als Schutzpflicht Sacksofsky, Gleichberechtigung, S. 201. 81 Ruffert, Vorrang, S. 180 f., differenziert zwischen dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG und der s. E. für die Schutzpflichten nicht anschlußfähigen Staatszielbestimmung des Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG. Die Aufspaltung des Art. 3 Abs. 2 GG in eine subjektiv-rechtliche und nicht privatrechtsbezogene Bestimmung (S. 1) und eine privatrechtsbezogene, aber nicht subjektiv-rechtliche Bestimmung (S. 2), ohne diesen ein Zusammenwirken zuzugestehen, und das dadurch erforderliche Aus79
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Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
Spezialfall im Sinne eines argumentum e contrario fruchtbar machen: Mangels einer entsprechenden, auf tatsächliche Gleichberechtigung gerichteten Formulierung in Art. 3 Abs. 3 GG muß diese Vorschrift dem Anwendungsbereich grundrechtlicher Schutzpflichten verschlossen bleiben.
B. Schutzrichtungen und Gefahrenquellen Eine der zentralen Fragen der Schutzpflichtendogmatik ist die nach der Bestimmung der Schutzrichtungen der grundrechtlichen Schutzpflichten. Als Kehrseite dieser Ermittlung ergeben sich die relevanten Gefahrenquellen, vor denen die Schutzpflichten den Bürger bewahren sollen: Nur jenen Quellen tatsächlicher Gefahren für grundrechtliche Schutzbereiche muß der Staat begegnen, die aus einer Richtung drohen, welche der verfassungsrechtliche Freiheitsschutz abschirmt. Drohen solche Gefahren oder bereits realisierte Störungen aus der staatlichen Sphäre, so greift die Abwehrfunktion der Grundrechte. Drohen sie von privaten Urhebern, so ist die Schutzpflichtendimension einschlägig. Deren Schutzrichtungen und Grenzen sollen im folgenden herausgearbeitet werden. Anhand der untersuchten Gruppen von Gefahrenquellen sollen zugleich die Konturen der grundrechtlichen Schutzpflicht schrittweise und problemorientiert geschärft werden.
I. Schutzpflicht des Staates als Garantie einer „Freiheit von Furcht"? Die grundrechtliche Schutzpflicht wird in Teilen des Schrifttums als Ausdruck eines Menschenrechts der „Freiheit von Furcht" gewertet. 82 Diese Freiheit hat als „freedom from fear" 1948 Eingang in die Präambel der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" der Vereinten Nationen gefunden (Abs. 2). 8 3 Abgesehen davon, daß mit dieser Formulierung in der Präambel kein Recht statuiert wurde, handelt es sich bei der Erklärung der Menschenrechte insgesamt um einen bloßen Beschluß der UN-Generalversammlung, von dem eine völkerrechtliche Bindungswirkung nicht ausgehen kann. Allenfalls kann ihr eine Indizwirkung für die (gewohnheitsrechtliche) weichen auf das Diskriminierungsverbot des Abs. 3 ist indes als zu formal abzulehnen. 82 Hofmann, Atomare Entsorgung, S. 308 f.; Robbers, Sicherheit, S. 223 ff. sowie bezogen speziell auf die Schutzpflicht aus Art. 1 I GG: Roßnagel, Grundrechte und Kernkraftwerke, S. 44 f.; Hermes, Schutz, S. 143. 83 Die Erwähnung dieser Freiheit geht unmittelbar auf die Formel „frei von Furcht und Not" in der Atlantik-Charta Franklin D. Roosevelts zurück, vgl. hierzu Benningen VVDStRL Bd. 37 (1979), S. 7 (27 Fn. 80); Isensee, Sicherheit, S. 25 (Fn. 56).
B. Schutzrichtungen und Gefahrenquellen
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internationale Anerkennung der in ihr niedergelegten Rechte zukommen. 84 Für die Erwägungsgründe der Präambel kann indes auch eine solche indirekte rechtliche Relevanz nicht angenommen werden. Die hierin beschworene „Freiheit von Furcht" gibt ein Urbedürfnis des Menschen wieder, das sowohl hinter der Etablierung souveräner Staatlichkeit als auch hinter der Idee der Menschenrechte steht und im Sinne eines Verlangens nach innerem und äußerem Frieden in der Mitte des 20. Jahrhunderts unter dem unmittelbaren Eindruck zweier Weltkriege eine besondere Aktualität annahm. Das Bundesverfassungsgericht hat im Hinblick auf die Sicherung der Privatsphäre vor heimlichen Tonbandaufnahmen darauf abgestellt, daß private Gespräche „ohne den Argwohn und die Befürchtung" einer Verwertung ihrer heimlichen Aufzeichnung geführt werden können müssen. 85 In der Literatur ist insbesondere ein Recht auf Freiheit von der Furcht vor technischen Katastrophen angenommen worden; damit sind all jenen Technikgefahren gemeint, für die keine individuellen Vörsorgemöglichkeiten in Betracht kommen. 86 Ferner wird eine Freiheit von Angst vor staatlicher Überwachung als Grundrecht postuliert. 87 Es ist daher nur ein kleiner Schritt, diese einzelnen Freiheiten der „Furchtlosigkeit" zu einem allgemeinen Grundrecht auf „Freiheit von Furcht" zu hypostasieren. 88 Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts hat von Rotteck nur solche Bedrohungen als Auslöser staatlicher Schutzpflichten anerkannt, „welche nach dem Urteil der Verständigen für wirkliche Bedrohungen gelten können". Die persönliche „Furchtsamkeit" sei hingegen nicht geeignet, „die Verengung der natürlichen Freiheitssphäre des Anderen" zu rechtfertigen. 89 Isensee hat den Topos der „Freiheit von Furcht" zu Recht als „unbegrenzt manipulationsfähig" abgelehnt. 90 Ein Recht auf Freiheit von Ängsten und erst recht von einer nicht näher spezifizierten Furcht stellt zu einseitig auf das zu schützende Individuum ab und blendet die Art und Intensität der ihm drohenden Gefahren aus. Das Ergebnis ist ein rein subjektiver Maßstab. Letztlich bestimmen so persönliche Empfindlichkeiten das Maß des Grundrechtsschutzes. 91 Der Konflikt mit dem zentralen rechtsstaatlichen wie grundrechtlichen Erfordernis der prinzipiellen Rechtsgleichheit ist daher vorprogram84
Vgl. Tomuschat, United Nations: Law, Policies and Practice, Art. 54 Rz. 17. BVerfGE 34, 238 (247). Vgl. auch BVerfGE 65, 1 (4) zur Furcht „vor einer unkontrollierbaren Persönlichkeitserfassung", selbst wenn in Wirklichkeit nur „erforderlich[e] und zumutbar[e]" Angaben verlangt würden. 86 Hofman, Atomare Entsorgung, S. 308 f.; vgl. auch Roßnagel, Grundrechte und Kernkraftwerke, S. 44 f. 87 Denninger, VVDStRL Bd. 37 (1979), S. 7 (28 u. 30 f.). 88 Robbers, Sicherheit, S. 223 ff. 89 von Rotteck, Vernunftrecht, Bd. 1, S. 136. 90 Isensee, Sicherheit, S. 26. 85
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Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
miert. Zugleich würde ein dergestalt psychogen verstandenes Recht die Grenzen staatlichen Reaktionsvermögens sprengen. Angst ist ein psychologischer Zustand des Menschen, bei dessen Beseitigung das staatliche Handlungsinstrumentarium versagen muß. Die grundrechtlichen Schutzpflichten vermögen nur in der äußeren Lebenswelt feststellbaren Gefahren oder Störungen zu begegnen, nicht aber eingebildeten Gefahren. Objektive Handlungspflichten, die an psychische Befindlichkeiten anknüpfen, können sich zwar aus dem Sozialstaatsprinzip ableiten lassen. Doch auch insoweit gilt, daß der Staat nur bestimmte Ursachen von Angst und Furcht eindämmen kann, aus Respekt vor dem Persönlichkeitsrecht des einzelnen nicht aber die Psyche als solche zu seinem Handlungsziel wählen soll.
I I . Schutz vor Privaten Unumstrittener Kernbestand der grundrechtlichen Schutzpflicht ist der Schutz gegen Beeinträchtigungen Privater durch Private. 92 Terminologisch erfaßt werden kann diese Konstellation am ehesten mit den Begriffen des Polizeirechts. Hierbei greift der nicht-staatliche Störer aus seiner Freiheitssphäre über in die Freiheitssphäre des gleichfalls nicht-staatlichen Opfers. Zwischen Staat, privatem Störer und privatem Opfer entsteht ein Schutzpflichten-Dreieck. Der Staat betätigt sich als Koordinator der Freiheitssphären der Grundrechtsträger, 93 indem er einerseits den Freiheitsraum des Opfers vor den Übergriffen des Störers zu schützen hat und andererseits bei seinem schützenden Tätigwerden den Freiheitsraum des Störers nicht übermäßig einschränken darf. Ebenso wie der Grundrechtseingriff hängt auch der Grundrechtsübergriff nicht von der Finalität des Störerhandelns ab. Nicht nur gezielte Übergriffe, sondern auch unbeabsichtigte und vom Störer nicht vorhergesehene (potentielle) Schäden können die Schutzpflicht auslösen. 94 Die Schutzpflicht ist nicht auf eine Pönalisierung des Störers durch den Staat ausgelegt. Nicht um seine Verfehlung geht es, sondern um die Sicherung der Freiheitssphäre des Opfers ihm gegenüber. Zu beachten ist indes, daß die Schutzpflicht eine Komplementärrolle zu der abwehrrechtlichen Urfunktion der Freiheitsrechte einnimmt. 95 Dies be91
Dies bestätigt etwa Robbers, Sicherheit, S. 226, wenn er - unter Hinweis auf BVerfGE 65, 1 (4) - explizit auch die unbegründete Furcht als Gegenstand der Schutzpflicht ansieht, wobei er als Inhalt dieser Schutzpflicht nur die Pflicht zu „sachorientierter Aufklärung" ausmacht. 92 Unruh, Dogmatik, S. 25 f.; Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 62; Dreier, in: ders., GG I, Vorb. Rz. 62. 93 Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 112. 94 Vgl. Murswiek, WiVerw 1986, 179 (186).
B. Schutzrichtungen und Gefahrenquellen
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deutet, daß sich gegen diejenigen Privaten, die ausnahmsweise unmittelbar an die Grundrechte gebunden sind, weil sie beispielsweise mit hoheitlicher Gewalt beliehen sind, ein grundrechtlicher Abwehranspruch richtet, der die Schutzpflicht verdrängt. Jenes private Handeln, für das dem Staat eine Garantenstellung zukommt, wie die Erteilung einer Befugnis zu quasi-hoheitlichem Handeln 96 oder die staatliche Förderung bzw. Finanzierung privaten Handelns, wenn sie von einer Intensität ist, bei welcher der Staat faktisch die (wirtschaftliche) Entscheidungsmacht übernimmt, 97 scheidet ebenfalls aus dem Schutzpflichtenzusammenhang aus. Stört solches private Handeln andere Private, so liegt darin ein dem Staat aufgrund seiner Garantenstellung zuzuordnender Eingriff durch Unterlassen. Dieser löst einen grundrechtlichen Abwehranspruch des Opfers gegen den Staat aus. Da der Eingriff hier ausnahmsweise im Unterlassen liegt, kann der Staat diesen Eingriff nur durch aktives Tun beseitigen. Die Pflicht zur Einwirkung auf den - subventionierten oder mit quasi-hoheitlichen Befugnissen ausgestattetem - Störer folgt hier schon aus der Abwehrrichtung der Freiheitsrechte. Die Verdrängung der Schutzpflicht durch den Abwehranspruch gegen den Staat reicht dabei stets nur für die konkreten von der Garantenstellung des Staates erfaßten Verhaltensweisen des Privaten.
I I I . Schutz gegen die inländische Staatsgewalt Der Schutz vor staatlichen Maßnahmen fällt aus dem Anwendungsbereich der grundrechtlichen Schutzpflichten heraus, weil es dem BürgerStaat-Verhältnis bereits an der erforderlichen Tripolarität fehlt. Da hier die Abwehrfunktion der Grundrechte Platz greift, besteht kein Bedarf für die komplementäre Schutzpflicht. Ein Schutzpflichten-Dreieck ließe sich allenfalls konstruieren, sofern man die Staatsgewalt nicht als dem Bürger gegenüber als eine monolithische Einheit auftretend verstünde, sondern auf die Verschiedenheit der horizontal und vertikal getrennten Staatsgewalten abstellte. Die Bundesorgane könnte so die Pflicht treffen, vor Grundrechtseingriffen der Landesstaatsgewalt zu schützen und insbesondere die Rechtsprechung könnte gehalten sein, vor Eingriffen von Exekutive und Legislative zu schützen. Diese Konstruktion ist aber bereits deshalb zum Scheitern verurteilt, weil sie die Kompetenzverteilung im Bundesstaat und zwischen Exekutive, Legislative und Jurisdiktion auszuhebein geeignet wäre. Die Grundrechte stehen dem Bürger ge95 96 97
Vgl. Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 116. Siehe oben Teil 3 B.III.l.a)cc)(l)(c). Siehe oben Teil 3 B.III.l.a)cc)(l)(d) und Teil 3 B.III.l.b)bb).
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Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
geniiber der Staatsgewalt als solcher zu. Während ihre Abwehrseite das jeweils tätige Staatsorgan bindet und das Ziel des Abwehranspruchs bei zuständigem wie unzuständigem Handeln das Unterlassen des Grundrechtseingriffs ist, setzt die Schutzpflicht, die auf ein positives Tun gerichtet ist, die Kompetenz des aktiv schützenden Organs voraus. 98 Sowenig wie sich aus Zuständigkeitsnormen des Grundgesetzes subjektive Schutzansprüche ableiten lassen, sowenig vermag die grundrechtliche Schutzpflicht die Zuständigkeit eines Staatsorgans zu begründen. Die Staatsorgane scheiden als Störer im Schutzpflichten-Dreieck damit generell aus. Thematisch begrenzt ist der Ausschluß hingegen für andere Personen und Organe, die - z.B. als Beliehene - nur für bestimmte Handlungen einer unmittelbaren Grundrechtsbindung unterliegen. Handeln sie außerhalb des ihnen übertragenen hoheitlichen Wirkungskreises, findet auf dieses Verhalten die Schutzpflichtenlehre Anwendung. Ähnliches gilt für Religionsgemeinschaften, welche gem. Art. 137 Abs. 5 WRV i.V.m. Art. 140 GG den Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts besitzen. Nicht schon generell aufgrund dieses Körperschaftsstatus, sondern lediglich soweit ihnen - aufgrund dieser Sonderstellung - Hoheitsbefugnisse eigens übertragen werden und sie hier öffentlich-rechtlich wirksame Maßnahmen vornehmen, unterliegen sie der direkten Grundrechtsbindung aus Art. 1 Abs. 3 G G . 9 9 Die Grundrechtsbindung der Kirchen scheitert allerdings ebensowenig wie ihre allgemeine Bindung an Recht, Gesetz und Verfassung aus Art. 20 Abs. 3 GG daran, daß sie die ihnen übertragenen Hoheitsbefugnisse nicht zur Erfüllung staatlicher, sondern zu eigenen Zwecken ausüben; abzustellen ist auf die Ausübung von Hoheitsgewalt, nicht auf die damit verfolgten Zwecke. 1 0 0 Außerhalb dieses übertragenen hoheitlichen Wirkungsbereiches sind auch die öffentlich-rechtlich korporierten Religionsgemeinschaften grundrechtsberechtigt. Folglich greifen insoweit auch die grundrechtlichen Schutzpflichten für und gegen sie. Die Schutzpflicht aus Art. 4 Abs. 1 GG hält den Staat insbesondere dazu an, Religionsgemeinschaften oder private Dritte vor den Angriffen und Behinderungen durch andere Religionsgemeinschaften zu schützen. 101 Dies gilt auch, sofern diese als Körperschaften öffentlich-rechtlich organisiert sind. Der Körperschaftsstatus ist indessen nicht geeignet, die Schutzpflichtenbindung des 98
Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 148 u. 150; hierzu im einzelnen Teil 1. Dreier, in: Dreier, GG I, Art. 1 Rz. 53 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 1 Rz. 27; Stern, Staatsrecht III/l, S. 1220. Etwas weitergehend für eine Grundrechtsbindung: Weber, HdbStKR I, § 19, S. 573 (585 f.), der allerdings zutreffend darauf hinweist, daß bei der Auslegung der Grundrechtsbindung das kirchliche Selbstbestimmungsrecht aus Art. 137 Abs. 3 1 WRV und Art. 4 GG berücksichtigt werden muß. 100 So explizit bezogen auf die Bindung des Art. 20 Abs. 3 GG: BVerfG, NJW 2001, 429 (431). 99
B. Schutzrichtungen und Gefahrenquellen
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Staates (argumentativ) zu verstärken; Übergriffe von Kirchen und Religionsgemeinschaften muß er gänzlich unabhängig von ihrer Rechtsform unterbinden. 102 Soweit staatliche Grundrechtsgefährdungen nicht durch ein bloßes Nichthandeln des Staates in Erfüllung der Abwehrseite der Freiheitsrechte beseitigt werden können, kommt neben den Einrichtungsgarantien 103 insbesondere der Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren in Betracht. 1 0 4 Diese Grundrechtswirkung, die neben der Abwehrseite und den Schutzpflichten steht, garantiert nicht nur eine grundrechtskonforme Anwendung des (einfach-rechtlichen) Verfahrensrechts, sondern bestimmt auch die Gestaltung von Verfahren und Organisation 105 im Sinne eines „status activus processualis" 106 . Die grundrechtskonforme Anwendung von Verfahrensrecht, die den Prozeßgrundrechten wesenseigen ist, wird inzwischen auch als Rechtswirkung grundsätzlich aller materiellen Grundrechte anerkannt, 1 0 7 einschließlich der hier im Mittelpunkt der Betrachtung stehenden Freiheitsrechte. Positive Anforderungen an die Ausgestaltung von staatlichen Organisationseinheiten und Verfahrensabläufen ergeben sich zumindest bei denjenigen materiellen Grundrechten, die - wie das Recht auf Kriegsdienstverweigerung, das Petitionsrecht oder das Asylrecht - notwendigerweise zu ihrer Ausübung ein bestimmtes Verfahren oder Organisationsgefüge voraussetzen. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Gestaltungswirkung aber auch auf die Rechte aus Art. 2 Abs. 2 S. I , 1 0 8 Art. 8 1 0 9 sowie Art. 12 Abs. I 1 1 0 GG erstreckt und breite Gefolgschaft in der Literatur gefunden. 111 Darüber hinaus hat es grundrechtliche Pflichten zur Verfahrensgestaltung und Beteiligung der Grundrechtsträger im Kontext der Rundf u n k - 1 1 2 und Wissenschaftsfreiheit 113 ausgemacht, wenngleich im Hinblick 101 BVerfG (Kammerbeschluß), 2 BvR 943/99 v. 26.3.2001, Abs.-Nr. 4, http:// www.bverfg.de/. Bezogen auf Angriffe von „Anhängern anderer Glaubensrichtungen oder konkurrierender Religionsgemeinschaften" bereits BVerfGE 93, 1 (16). 102 Im Ergebnis richtig, jedoch in der Begründung mißverständlich daher BVerfG (Kammerbeschluß), 2 BvR 943/99 v. 26.3.2001, Abs.-Nr. 4, http://www.bverfg.de/, da die Kammer die Schutzpflicht hier „gerade auch im Hinblick auf das Verhalten der als Körperschaften des öffentlichen Rechts verfaßten Religionsgemeinschaften" annimmt. 103 S. hierzu oben Teil 4 A.II.3. 104 Grundlegend: Bethge, NJW 1982, 1 ff. 105 Stern, Staatsrecht III/l, S. 967. 106 Häberle, VVDStRL Bd. 30 (1973), S. 43 (86). 107 Hesse, EuGRZ 1978, 427 (435); Lorenz, NJW 1977, 865 (867 ff.). 108 Vgl. BVerfGE 51, 324 (346 ff.); 52, 214 (220). 109 Vgl. BVerfGE 69, 315 (355). 110 Vgl. BVerfGE 33, 303 (345 ff.); 37, 104 (113 ff.); 39, 258 (269 ff.) - zur Verteilung von Studienplätzen; ferner BVerfGE 73, 280 (296) - zur Notarzulassung. 111 Vgl. die Nachw. bei Stern, Staatsrecht III/l, S. 966 ff. 13 Klings
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Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
auf diese Grundrechtstatbestände das Echo in der Literatur geteilt blieb. 1 1 4 Insbesondere für die oben behandelten staatlichen Genehmigungen für privates Handeln können sich aus der Grundrechtssicherung durch Organisation und Verfahren staatliche Pflichten zugunsten des Drittbetroffenen ergeben, 1 1 5 die über die Sicherung vor Störungen des privaten Genehmigungsempfängers hinausgehen. Soweit vom Staat nicht nur verlangt wird, das genehmigungsbedürftige private Handeln in seine Schranken zu verweisen, sondern eigene zusätzliche Sicherungen bereitzustellen, ist nicht die Abwehrseite, sondern der Aspekt der Organisations- und Verfahrensgestaltung der Grundrechte angesprochen. 116
I V . Schutzpflichten mit Auslandsbezug Der Auslandsbezug grundrechtlicher Schutzpflichten wirft eine Reihe besonderer Probleme auf, die eine nähere Betrachtung rechtfertigen.
1. Schutz von Ausländern in Deutschland Diese dogmatischen Anomalien beziehen sich ausschließlich auf den Schutz vor Maßnahmen ausländischen Ursprungs. Der grundrechtliche Schutz von Ausländern im Inland gegenüber inländischen Grundrechtsübergriffen folgt hingegen der gängigen Grundrechtssystematik, wonach die Jedermann-Grundrechte auch Ausländer schützen, während die DeutschenGrundrechte den Staatsbürgern vorbehalten sind. Im Anwendungsbereich eines Deutschen-Grundrechts steht einem Ausländer jedoch ein Abwehranspruch ebenso wie ein Schutzanspruch gegen die deutsche Staatsgewalt aus dem Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG z u . 1 1 7
112 Vgl. BVerfGE 12, 205 (261 ff.); 31, 314 (325 ff.); 60, 53 (65); 73, 118 (153 f. u. 162 f.); 74, 297 (324 f.); 83 238 (322 ff.); siehe auch Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG I, Art. 5 I Rz. 198 ff. 113 Vgl. BVerfGE 35, 79 (120 ff. u. 128 ff.); 43, 242 (270 ff.); 47, 327 (388 ff.); 61, 210 (240 f.). 114 Vgl. die Nachw. bei Stern, Staatsrecht III/l, S. 969 f. mit Fn. 379. 115 Vgl. BVerfGE 53, 30 (65); Bethge, NJW 1982, 1 (7). 116 Zu unterscheiden ist diese Funktion des Grundrechtsschutzes durch Organisation und Verfahren von organisatorischen und prozeduralen Vorkehrungen des Staates, die er zur Erfüllung seiner grundrechtlichen Schutzpflicht bereitstellt. Diese bilden einen Anwendungsfall (bzw. eine Einlösungsform) der Schutzpflichten und sind daher dieser Grundrechtsfunktion - auf der Rechtfolgenseite - zuzuordnen. 117 Zur abwehrrechtlichen Seite BVerfGE 78, 179 (196 f.); siehe auch Isensee, VVDStRL Bd. 32 (1974), S. 49 (80); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 2 Rz. 44. Für die Schutzpflicht explizit: Dietlein, Schutzpflichten, S. 118.
B. Schutzrichtungen und Gefahrenquellen
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2. Grenzen der auslandsbezogenen Schutzpflichten Zu beurteilen sind daher zunächst die Fälle, in denen ausländische Staaten, ausländische Private oder auch deutsche Private, die sich im Ausland aufhalten, in die von Grundrechten des Grundgesetzes geschützten Freiheitssphären übergreifen. Im Zusammenhang damit stellt sich die Frage, für welche Personen und Sachverhalte diese Grundrechte ihren Schutz bereitstellen. Auf der personalen Ebene ist hier wiederum eine Unterscheidung zwischen Deutschen und Ausländern und auf der räumlichen Ebene zwischen dem inländischen oder ausländischen Aufenthaltsort der zu Schützenden vorzunehmen. Die damit entstehenden zwölf Fallkonstellationen sind zu ergänzen um Fälle, in denen ein deutscher Privater in die Freiheitssphären von Deutschen oder Ausländern im Ausland übergreift; in der rechtlichen Beurteilung lassen sich einige Konstellationen wieder zusammenfassen. Schließlich ließe sich nochmals danach differenzieren, ob es sich um ausländische EU-Bürger oder um Staatsbürger von Nicht-EU-Staaten handelt; da eine etwaige abweichende Behandlung der ersteren Gruppe jedoch normativ im europäischen Recht wurzelt, soll dieser Aspekt im folgenden nicht erörtert werden. Das Grundproblem der grundrechtlichen Schutzpflichten im Kontext auslandsbezogener Sachverhalte ist die prinzipielle Beschränkung der Staatsmacht an den Außengrenzen des Staates. Außerhalb des Staatsgebietes der Bundesrepublik vermag der Staat keine Freiheitssphären zu koordinieren. Hierzu ist vielmehr der jeweilige Territorialstaat aufgefordert. Auf der anderen Seite ist dem Konzept der grundrechtlichen Schutzpflichten eine geographische Beschränkung nicht immanent. Den Ausgangspunkt der Betrachtung bildet wiederum die - aus der Begründung der Schutzpflicht resultierende - Prämisse einer prinzipiellen Identität der Anwendungsbereiche von Schutzpflichten- und Abwehrfunktion der Freiheitsrechte. Die Abwehrrichtung der Grundrechte blendet auslandsbezogene Wirkungen schon von ihrer Struktur her weitgehend aus. Zwar unterliegt die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik einer umfassend Verfassungs- und Grundrechtsbindung. 118 Die Abwehrrechte können jedoch keine Eingriffe fremder Staatsgewalt untersagen. 119 Für die Schutzpflicht ist das Handeln der Staatsgewalt indes nicht der tatbestandliche Auslöser, sondern die Rechtsfolge der grundrechtlichen Schutzwirkung. Eine Pflicht und ein individueller Anspruch auf posi118
Hierzu eingehend: Kluth, FS Friauf, S. 197 (201 ff.). Selbst innerhalb der Europäischen Union als einer supranationalen Organisation, auf welche deutsche Hoheitsrechte übertragen wurden, kommt lediglich das Handeln der deutschen Vertreter in ihren Organen als Anknüpfungspunkt einer Grundrechtsbindung in Betracht; die Organe als solche unterliegen dieser Bindung nicht, Kluth, FS Friauf, S. 197 (203). 119
1 *
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Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
tive Schutzhandlungen der deutschen Staatsgewalt wären daher von der Konzeption der Schutzpflicht weltweit und zugunsten jedermanns denkbar. 1 2 0 Vorstellbar wäre es, eine Schutzpflicht in dieser Weite anzuerkennen und das Korrektiv auf der Rechtsfolgenseite im Hinblick auf die Anwendung der Schutzmittel anzusetzen. Im Bereich der auswärtigen Gewalt müßte die Bundesrepublik dann lediglich versuchen, den Schutz der Individuen vor ausländischen Staatsgewalten und ausländischen Privaten durch politische Appelle oder völkerrechtliche Verträge einschließlich ihrer Mitgliedschaft und Mitwirkung in internationalen Organisationen zu fördern. Auch eine solche, in der Rechtsfolge verflachte Schutzpflicht würde allerdings eine beachtliche Einengung des außenpolitischen Handlungs- und Gestaltungsspielraums der Bundesrepublik bedeuten. Ferner wäre das Ergebnis insoweit unbefriedigend, als die deutsche Staatsgewalt als Adressatin der Schutzpflichten Schutzleistungen schulden würde, deren wirksame Erfüllung ihr in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle faktisch und rechtlich unmöglich wären. Eine solche eklatante Diskrepanz zwischen den grundrechtlichen Pflichten und ihrer Erfüllbarkeit wäre geeignet, daß Vertrauen in das Grundrechtssystem des Grundgesetzes und damit in die Rechtsstaatlichkeit insgesamt in Frage zu stellen. Vörzugswürdig erscheint daher eine Lösung, welche die Auslandswirkungen einerseits der Abwehrfunktion und andererseits der Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte unterschiedlich betrachtet, 121 indem sie die Bundesrepublik nicht im Hinblick auf alle denkbaren Sachverhaltskonstellationen einer Schutzpflicht unterwirft, sondern sich auf solche Sachverhalte beschränkt, die einen besonderen, engeren Bezug zum deutschen Staat aufweisen. 122 Als Abgrenzungskriterien bieten sich zunächst die Begriffe des Staatsgebietes und des Staatsvolkes an, da sie nach der klassischen DreiElemente-Lehre Georg Jellineks 123 gemeinsam mit dem Begriff der Staatsgewalt den Staat konstituieren. Fällt das Element der Staatsgewalt auf der 120 Hierauf und auf die mit dieser weltweiten Protektorenstellung der Bundesrepublik für Leben, Gesundheit, Freiheit und Eigentum verbundenen Konsequenzen weist zutreffend Merten, FS Schiedermair, 331 (343 f.), hin. Im Recht des diplomatischen Schutzes ist ein solch weitgreifendes (objektives) staatliches Schutzrecht im Interesse der eigenen Staatsbürger auch völkerrechtlich anerkannt, vgl. Art. 3 Abs. 1 lit. b Wiener Diplomatenrechtskonvention, Art. 5 lit. a, e Wiener Konsularrechtsübereinkommen; siehe hierzu Hailbronner, in: Bothe, Völkerrecht, 3. Abschn. Rz. 92 f. 121 So auch: Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 1 Rz. 26. 122 In diesem Sinne Quaritsch, HdbStR V, § 120 Rz. 76; Merten, FS Schiedermair, 331 (344); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 1 Rz. 26. Für eine Einschränkung der Schutzpflicht auf den deutschen Rechtsbereich und ihre nur mittelbare Bedeutung für das Feld der internationalen Beziehungen: Maurer, JZ 1999, 689 (694).
B. Schutzrichtungen und Gefahrenquellen
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Tatbestandsseite der Schutzpflichten aus, weil es ihren Inhalt ausmacht, mithin auf der „Rechtsfolgenseite' 4 angesiedelt ist, so muß die Abgrenzungsleistung von den verbleibenden Elementen erbracht werden. Da im Zentrum der Schutzpflichtenkonstruktion der Schutzanspruch des Grundrechtsberechtigten steht, ist primär auf seine Zuordnung zu diesen beiden Elementen des Staatsbegriffs abzustellen. Ausscheiden müssen Schutzpflichten daher in allen Fällen, die weder einen Bezug zum deutschen Staatsgebiet noch zum Staatsvolk aufweisen. Ferner scheidet die Schutzpflicht aus, wenn der einzige Anknüpfungspunkt an das deutsche Staatsvolk oder das deutsche Staatsgebiet auf der Störerseite zu finden ist. Zugunsten eines grundrechtlichen Schutzes läßt sich jedenfalls derzeit noch nicht das Bekenntnis des Grundgesetzes zu den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten" in Art. 1 Abs. 2 GG anführen. 124 Der hiermit zum Ausdruck gebrachten Einbindung des grundgesetzlichen Grundrechtekataloges in einen universellen und der naturrechtlichen Tradition verpflichteten Rechtekanon, 1 2 5 kann kein schutzpflichtenbezogener Aussagegehalt entnommen werden. Art. 1 Abs. 2 GG sichert - im Verbund mit Art. 79 Abs. 3 GG - die Aufrechterhaltung eines menschenrechtlichen Mindeststandards. 126 Die Idee einer den Freiheitsrechten immanenten Verpflichtung der Staaten zu affirmativen Schutzmaßnahmen kann bislang indes noch nicht als Kernbestand eines universellen Menschenrechtsstandards angesehen werden. Soweit nationale Gerichte aus europäischem und internationalem Recht Schutzpflichten des Staates ableiten, werden i.d.R. nur Fälle diskutiert, in denen das nationale Recht keinen ausreichenden Schutzstandard für Staats- oder Gebietszugehörige des eigenen Staates gewährleistet. 127 Der Schutz von Ausländern in fremden Staaten wird bislang - soweit erkennbar - nicht thematisiert. Eine Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, Übergriffe ihrer Staats- und Gebietszugehörigen auf die Freiheitssphären ausländischer Privater zu unterbinden, ergibt sich aus Art. 25 GG i.V.m. der allgemeinen Völkerrechtsregel, daß kein Staat auf seinem Gebiet Aktivitäten dulden darf, die auf dem Gebiet eines Nachbarstaates nicht unerheblichen Schaden verursachen. 128 In Ergänzung dazu bezieht sich auch Art. 26 Abs. 1 GG, der schon die Vorbereitung eines Angriffskrieges verbietet, auf private 123 Jellinek, Staatslehre, S. 144. Die Drei-Elemente-Lehre hat zwar vielfältige Kritik erfahren (vgl. etwa Stein, Staatsrecht, S. 8 ff.), die in ihr verbundenen Elemente gelten im nationalen wie im Völkerrecht aber auch heute noch als grundlegend für die Definition von Staatlichkeit, vgl. Stern, Staatsrecht I, S. 231. 124 A.A. Dietlein, Schutzpflichten, S. 121 f.; Robbers, Sicherheit, S. 215. 125 Vgl. hierzu nur Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1 Rz. 107 ff. 126 S.o. Teil 3 B.III.2.a) und die Nachw. oben Fn. 406. 127 Vgl. Wiesbrock, Internationaler Schutz, S. 70 ff. 128 Siehe hierzu Randelzhof er/Simma, FS Berber, S. 389 (408) m.w.N.; Robbers, Sicherheit, S. 214 f.
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Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
Kriegspropaganda und Kriegsvorbereitungshandlungen; er verpflichtet die Bundesrepublik zur Bekämpfung solcher Aktivitäten u.a. mit den Mitteln des Strafrechts. 129 Diese Schutzpflicht wird noch einmal in Abs. 2 der gleichen Bestimmung konkretisiert, wenn dort die Herstellung, Beförderung und das Inverkehrbringen von Kriegswaffen an eine staatliche Genehmigung gebunden und mithin grundsätzlich verboten w i r d . 1 3 0 Die (subjektivrechtliche) Qualität einer grundrechtlichen Schutzpflicht ergibt sich aus den Art. 25, 26 GG hingegen nicht. Da sich die Garantie der Menschenrechte durch internationale Pakte indes allmählich auch dem staatlichen Schutz gegen private Beeinträchtigungen zuwendet, 131 mag dieser Befund in Zukunft zu korrigieren sein. Reicht der dem deutschen Staatsgebiet oder Staatsvolk zuzuordnende Störer nicht zur Begründung einer grundrechtlichen Schutzpflicht gegenüber Personen außerhalb des deutschen Staatsgebietes aus, so kann es auf die Eigenschaft des Störers allenfalls zum Zweck der Beschränkung einer - anderweitig begründeten - Schutzpflicht oder jedenfalls eines Schutzpflichteninhalts ankommen. Eine Einschränkung der Schutzpflichtenfälle mit Auslandsbezug kann sich hier aufgrund der Art der Störungsquelle ergeben. Versteht man die Aussage, daß der Staat sich im Anwendungsfeld der grundrechtlichen Schutzpflichten als Koordinator der Freiheitssphären der Bürger betätigt, in der Weise, daß er die Sphäre beider Beteiligter, des Opfers und des Störers (grund-)rechtlich konstituiert bzw. absichert und gegeneinander abgrenzt, so müßten all jene Fälle, bei welchen sich einer der Beteiligten im Machtbereich eines anderen Staates befindet, gänzlich aus der Schutzpflichtenlehre ausscheiden. Davon wäre nicht nur der diplomatische Schutz gegen ausländische Staaten und ausländische Private im Machtbereich eines fremden Staates betroffen, sondern auch der militärische Schutz gegen fremde Staaten. Als Koordinator kann sich der deutsche Staat jedoch auch betätigen, wenn er nicht die Rechtsmacht über alle aufeinander abzustimmenden Faktoren besitzt und er einen von ihnen nur mittelbar durch politische oder völkerrechtliche Instrumente zu beeinflussen versuchen kann. Die Determinante für das Entstehen einer Schutzpflicht ist eben nicht die Rechtsmacht des deutschen Staates, sondern der grundrechtliche Schutzanspruch des Staats- oder Gebietszugehörigen der Bundesrepublik Deutsch129 Fink, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 26 Rz. 8; Hernekamp, in: v. Münch/Kunig, GG II, Art. 26 Rz. 1. 130 So Fink, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 26 Rz. 73; Pernice, in: Dreier, GG II, Art. 26 Rz. 20; Streinz, in: Sachs, GG, Art. 26 Rz. 45, welche die Bestimmung - u.a. unter Hinweis auf ihre Entstehungsgeschichte - als repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt auslegen. A.A. Pottmeyer, Kriegswaffenkontrollgesetz, S. 66 ff., der hierin nur ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt sieht. 131 Vgl Wiesbrock, Internationaler Schutz, passim, und zur Entwicklungsoffenheit der Menschenrechte für Schutzpflichtenaspekte: S. 254.
B. Schutzrichtungen und Gefahrenquellen
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land. Die Beschränktheit dieser Rechtsmacht ist daher lediglich als Korrektiv heranzuziehen, um die Erwartungshaltung an den Staat des Grundgesetzes und seine Grundrechte nicht ins Unermeßliche und damit schlechthin Unerfüllbare steigen zu lassen.
3. Übergriffe in die Freiheitssphäre von Inländern Ist das deutsche Staatsgebiet von einem Grundrechtsübergriff eines inländischen privaten Dritten betroffen, so stellt dies den Grundfall der grundrechtlichen Schutzpflicht dar. Sofern der Störer im Ausland ansässig ist, reichen die Auswirkungen der Störung im Inland für die Begründung der Schutzpflicht wegen der Betrachtung aus dem Blickwinkel des Grundrechtsberechtigten ebenfalls aus. Lediglich in der Rechtsfolge ist die Schutzpflicht dann insoweit abgemildert, als sich die deutsche Staatsgewalt primär auf defensive Sicherungsmaßnahmen im Inland konzentrieren muß. Die Einwirkung auf den im Ausland befindlichen Störer kann nur mit den Mitteln des Völkerrechts mittelbar über den Staat seines Aufenthaltsortes erfolgen (indirekter diplomatischer Schutz). Eine intensivere Einwirkung auf die ausländische Quelle der sich im Inland auswirkenden Störung ist allerdings möglich, wenn es sich um einen deutschen Staatsbürger handelt. Als ultima ratio kann - im Rahmen der Bestimmungen der Satzung der Vereinten Nationen - schließlich der Einsatz militärischer Mittel in Betracht kommen. Soweit das Element des Staatsgebietes greift, also ein Opfer auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland von einem Übergriff betroffen ist, spielt die Zugehörigkeit zum Staatsvolk ähnlich wie bei einer inländischen Störungsquelle nur eine untergeordnete Rolle. Zu differenzieren ist nur nach Deutschen- und Jedermann-Grundrechten. Innerhalb der letzteren genießt der in Deutschland lebende oder sich hier nur aufhaltende Ausländer den gleichen Schutz wie der Deutsche. Dies gilt prinzipiell auch für den Heimatstaat des hiesigen Ausländers.
4. Diplomatischer Auslandsschutz und Landesverteidigung Die in der Literatur meistdiskutierten Fälle auslandsbezogener Schutzpflichten führen die Thematik aus dem Bereich privater Übergriffe heraus und befassen sich mit staatlichen Einwirkungen auf die Freiheitssphäre der Opfer. Es ist dies der militärische Schutz der Inländer und der diplomatische Schutz Deutscher im Ausland gegen die Organe fremder Staaten. 132 Im System des deutschen Verfassungsrechts würden die Gefahren, vor denen hier zu schützen ist, nicht Grundrechtsübergriffe zwischen Grundrechts132
Siehe hierzu eingehend Heintzen, Auswärtige Beziehungen, S. 133 ff.
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Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
berechtigten darstellen, sondern Grundrechtseingriffe eines grundrechtsverpflichteten Staates. Obschon eine objektive Schutzverpflichtung des deutschen Staates in diesen beiden Fallgruppen allgemein anerkannt wird, ist ihre Herleitung aus den allgemeinen grundrechtlichen Schutzpflichten umstritten. 133 Das Bundesverfassungsgericht leitet eine staatliche Pflicht zu Gewährleistung von diplomatischem Schutz aus der institutionellen Garantie der deutschen Staatsangehörigkeit in Art. 16 Abs. 1 GG a b . 1 3 4 In der frühen, der Entfaltung der Schutzpflichtenlehre vorangehenden Judikatur findet sich aber auch eine Bezugnahmen auf ein Einzelgrundrecht (Art. 14 G G ) . 1 3 5 Für den militärischen Schutz der Staatsbürger hat das Gericht hingegen eine grundrechtliche Schutzpflicht des Staates konstatiert, 136 der es gar ausdrücklich einen individuellen Schutzanspruch zur Seite gestellt hat. 1 3 7 Die letztere Judikatur erschiene inkonsequent, wenn das Gericht generell Anstoß daran nehmen wollte, daß die Freiheitsgefahr in diesen Fällen nicht von einem Privaten ausginge. Aus der Betrachtungsebene des deutschen Verfassungsrechts ist es von sekundärer Bedeutung, ob private oder staatliche Stellen in die Freiheitssphäre von Inländern oder Auslandsdeutschen übergreifen. Entscheidendes Abgrenzungsmerkmal der Schutzpflicht zur Abwehrrichtung der Grundrechte ist das Fehlen eines Grundrechtseingriffs der deutschen Staatsgewalt. Wenn ausländische Private den Eckpunkt des Störers im grundrechtlichen Schutzpflichtendreieck einnehmen können, so ist es nicht einsichtig, warum ein grundrechtlicher Schutz gegen ausländische Staatsgewalt nicht gewährt werden sollte. Ausländische Staatshandlungen dürfen nicht zwischen Abwehr- und Schutzpflichtenfunktion der Freiheitsrechte hindurchfallen, denn sie sind ebenso wie die Handlungen Privater auf menschliches Verhalten zurückzuführen. Abgesehen von der Spezialität der Abwehrfunktion verläuft die entscheidende Grenzlinie der Schutzpflicht zwischen anthropogenen Ingerenzen und solchen Gefahren, die auf Naturereignisse zurückzuführen sind. 1 3 8
133
Bezogen auf den diplomatischen Schutz sprechen sich etwa Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 123; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 16 Abs. 1 Rz. 60 ff. (1983) gegen eine Herleitung aus der Schutzpflichtenlehre aus. Für die grundrechtlichen Schutzpflichten als Quelle eines Anspruchs auf diplomatischen Schutzes: Klein, Auslandsschutz, S. 29 f., sowie Heintzen, Auswärtige Beziehungen, S. 138 f., der die Schutzpflichten allerdings nur über den „Adapter" des Art. 1 Abs. 3 GG für anwendbar hält. 134 BVerfGE 37, 217 (241); 40, 141 (177); ebenso: Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 123; Treviranus, DÖV 1979, 35 (37). 135 BVerfGE 6, 290 (299). 136 BVerfGE 66, 39 (61). 137 BVerfGE 48, 127 (161). 138 Siehe hierzu unten Teil 4 B.VIII.
B. Schutzrichtungen und Gefahrenquellen
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Zwar ist die Geltung der Schutzpflichtenlehre für den Bereich der Landesverteidigung einfacher zu begründen, weil es hier nicht nur um die Verteidigung von deutschen Staatsbürgern, sondern auch des deutschen Staatsgebietes geht. Für den Auslandsschutz stellt die deutsche Staatsbürgerschaft indes einen hinreichenden Bezugspunkt zur deutschen Staatlichkeit dar, 1 3 9 der zur Auslösung der freiheitsrechtlicheji Schutzpflichtenfunktion ausreicht. Den größeren Schwierigkeiten bei der Einlösung dieser Pflicht kann auf Inhalts- bzw. Rechtsfolgenseite der Schutzpflicht Rechnung getragen werden, indem den zuständigen Bundesorganen ein weiter Ermessenspielraum eingeräumt wird, wie ihn ein diplomatisches Handeln erfordert. 140 Der Auslandsschutz von Angehörigen des deutschen Staatsvolkes wird demnach nicht nur von Art. 16 Abs. 1 GG, sondern auch von den Freiheitsrechten garantiert. 141
5. Asylgarantie Eine besondere Spielart des Auslandsschutzes vor staatlichen Maßnahmen stellt die Asylgarantie des Art. 16a GG dar. Im Unterschied zum diplomatischen Auslandsschutz bezieht sich dieses Grundrecht gerade auf Nichtdeutsche und ist mithin eine Ausnahme vom Verzicht des Grundgesetzes auf einen grundrechtlichen Schutz von Ausländern im Ausland. In Art. 16a GG hat der Verfassungsgeber zugleich eine abschließende Regelung für diese Fallkonstellation getroffen: Ausländer genießen das Asylrecht, aber solange sie sich außerhalb der Bundesrepublik Deutschland aufhalten keine Schutzansprüche aus anderen Freiheitsrechten der Verfassung. 142 Das Ziel des Schutzes von Ausländern sollte nicht im Wege einer expansionistischen, globalen Geltung der deutschen Grundrechte erreicht werden, sondern der deutsche Staat beschränkt sich auf die Aufnahme von Verfolgten; diese Form des Schutzes von Ausländern im Ausland ist - ungeachtet der nach wie vor nicht befriedigend gelösten Frage der Praktikabilität seiner
139 Die Pflicht der deutschen Staatsgewalt kann gar noch über den Schutz des eigenen Staatsvolkes hinausgehen: Gemäß Art. 20 EGV gewährt jeder Mitgliedstaat der EU auch jenen Unionsbürgern diplomatischen und konsularischen Schutz, deren Heimastaat in dem jeweiligen Aufenthaltsstaat nicht vertreten ist. Bei dieser Bestimmung handelt es sich jedoch nicht um eine selbständige Schutzpflicht, siehe Kluth, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV-Kommentar, Art. 20 EGV Rz. 1. 140 Dietlein, Schutzpflichten, S. 123. 141 Klein, DÖV 1977, 704 (710); Robbers, Sicherheit, S. 205 f.; Dietlein, Schutzpflichten, S. 122 f. 142 Besonders relevant ist dies für die Frage des Zuzugs ins Bundesgebiet. Die h.M. schließt diesbezüglich eine Berufung auf andere Vorschriften als Art. 16a GG aus, vgl. Rüfner, HdbStR V, § 116, Rz. 15; Merten, FS Schiedermair, 331 (343 f.); a.A.: Zuleeg, DÖV 1973, 361 (366).
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Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
Gewährleistung - sowohl die wirtschaftlich großzügigste als auch diejenige, welche das Potential eines Konflikts mit der „verfolgenden" ausländischen Staatsgewalt minimiert. Im Rahmen des Asylrechts kann schließlich in besonders gelagerten Fällen auch ein Schutz von Privaten im Ausland vor privater Verfolgung in Betracht kommen. Unter den Begriff der politischen Verfolgung des Art. 16a Abs. 1 GG fallen auch private Verfolgungsmaßnahmen, wenn diese dem Staat zuzurechnen sind. 1 4 3 Die Zurechnung setzt voraus, daß der Staat nicht willens oder nicht in der Lage ist, die Bevölkerung vor Übergriffen Privater zu schützen. 144 Zugerechnet werden kann dem Staat privates Handeln aber nicht schon dann, wenn er keinen lückenlosen Freiheitsschutz gewährleistet. Um den Tatbestand einer politischen Verfolgung zu erfüllen, ist entweder eine aktive Unterstützung oder eine bewußte Duldung privater Übergriffe durch die Staatsorgane erforderlich. 145
143
BVerfGE 54, 341 (358); 71, 143 (169); 80, 315 (336); Becker, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 16a Rz. 60; Lübbe-Wolff, in: Dreier, GG I, Art. 16a Rz. 42. 144 BVerwGE 62, 123; Becker, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 16a Rz. 61. 145 Becker, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 16a Rz. 61; vgl. a. Randelzhof er, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 16 Abs. 2 Rz. 62 (1985).
B. Schutzrichtungen und Gefahrenquellen
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6. Tabellarische Übersicht Behandlung von grundrechtlichen Schutzpflichten mit Auslandsbezug N.,Störer"
Deutscher im Inland
Ausländer im Inland
Privater im Inland
deutscher Privater im Ausland
Grundfall der Reaktionsmöglichkeiten einSchutzpflicht geschränkt auf defensiven inländischen und ggf. indirekten** diplomatischen Schutz; keine Besonder-zusätzlich ggf. heiten bei unmittelbare JedermannEinwirkungsGrundrechten - möglichkeiten bei Deutschen- auf Störer* Grundrechten Schutz nur über Art 2 IGG
Deutscher grds. voller im Ausland Schutz
indirekter** Schutz
ausländischer Privater im Ausland
ausländischer Staat
Reaktionsmöglichkeiten eingeschränkt auf defensiven inländischen und ggf. indirekten** diplomatischen Schutz*
militärischer Schutz (Landesverteidigung) und ggf. diplomatischer Schutz
diplomatischer
Ausländer keine Schutzpflicht, im Ausland es sei denn mittelbare staatliche Verfolgung *
militärischer und ggf. diplomatischer Schutz sowie Asylrecht bzgl. drohender Verfolgung im Heimatstaat* diplomatischer Schutz nur Asylrecht
Auch in diesen Fällen greift die Differenzierung nach Deutschen- und Jedermann-Grundrechten.
** Dieser Schutz ist „indirekt", weil die deutsche Staatsgewalt nur auf einen ausländischen Staat einwirken kann, mit dem Ziel, daß dieser seinerseits auf den seiner Rechtsmacht unterworfenen Störer einwirkt.
V. Schutz gegen sich selbst Der Schutz des Grundrechtsträgers vor bzw. gegen sich selbst ist von einer doppelten Frontstellung zwischen Bürger und Staat geprägt. Das staatliche Organ, das gegen den Willen des Grundrechtsberechtigten Schutzhandlungen vornimmt, will damit zu seinem (objektiven) Vorteil wirken. Unstreitig ist aber auch, daß solche Schutzmaßnahmen zugleich einen Eingriff in Freiheitsrechte des Betroffenen darstellen.
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Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
1. Die Rechtsprechung insbesondere des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat sich in einer Reihe von Judikaten mit der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von staatlichen Schutzmaßnahmen beschäftigt, welche eigenverantwortlichen Selbstgefährdungen oder -Schädigungen des Betroffenen begegnen sollten. Das Gericht geht von der zutreffenden Prämisse aus, „auch selbstgefährdendes Verhalten ist Ausübung grundrechtlicher Freiheit", so daß der „Schutz des Menschen vor sich selbst ... grundsätzlich seinerseits einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung" bedarf. 146 Aus dem strukturellen Verhältnis von Abwehrrecht und Schutzpflicht folgt dabei, daß die abwehrrechtliche Zulässigkeit solcher Eingriffe die äußerste Grenze einer etwaigen staatlichen Schutzpflicht markiert. Für zulässig erachtet hat das Bundesverfassungsgericht Eingriffe fürsorgerischen Charakters, die dem Schutz des Betroffenen und seiner Bewahrung vor selbstschädigenden Handlungen dienen. 1 4 7 Solchermaßen gerechtfertigte Eingriffe in Art. 2 Abs. 2 GG konstatierte das Gericht bei der zwangsweise Unterbringung eines wegen Geistesschwäche Entmündigten, um ihn vor Selbstschädigungen zu bewahren, 148 sowie bei der Einweisung einer manisch-depressiven Person in eine geschlossene Anstalt. 1 4 9 Diese Rechtsprechung differenziert zwischen staatlichem Handeln zum Schutz der körperlichen Integrität des Betroffenen und solchen Maßnahmen, denen ein Erziehungszweck zugrundeliegt. 150 Letztere rechtfertigen keine Einschränkung des allgemeinen Persönlichkeitsrecht oder der körperlichen Bewegungsfreiheit, da sie nicht eine vorgefundene Persönlichkeit schützen, sondern diese formen wollen. Aber auch soweit es um die körperliche Integrität geht, respektiert das Bundesverfassungsgericht ein Recht, „objektiv" unvernünftig gegen sich selbst zu handeln und eine „Freiheit zur Krankh e i t " 1 5 1 . Der Staat muß solches Verhalten hinnehmen, weil und soweit es Ausdruck der in Art. 2 Abs. 1 GG geschützten persönlichen Selbstbestimmung i s t . 1 5 2 Eine staatliche Befugnis, zum Schutz des Menschen vor sich selbst zu handeln, kann also erst einsetzen, wenn sein Verhalten bzw. seine Ablehnung staatlicher Fürsorge nicht mehr als Äußerung seiner freien 146
So jüngst: BVerfG (Nichtannahmebeschluß der 1. Kammer des Ersten Senats) DVB1. 1999, 1647 (1648). 147 BVerfGE 22, 180 (219); 58, 208 (224 ff.). 148 BVerfGE 22, 180 (219). 149 BVerfGE 58, 208 (224 ff.); vgl. a. BVerwG NJW 1989, 2960 f. 150 Ygi Hillgruber, Schutz des Menschen, S. 65, der allerdings auch darauf hinweist, daß BVerfGE 74, 102 (124 f.) die Erziehungsaufgabe Jugendlicher mit den grundrechtlichen Schutzpflichten in Verbindung bringt (ebd. Fn. 12). 151 152
BVerfGE 58, 208 (226). Vgl. Hillgruber, Schutz des Menschen, S. 71.
B. Schutzrichtungen und Gefahrenquellen
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Selbstbestimmung gewertet werden kann. Bei dieser Beurteilung müssen sich die staatlichen Stellen auf ein schwieriges Terrain begeben, da eine Unterscheidung zwischen der authentischen Persönlichkeit und deren krankhafter Deformationen gefordert ist. Die Gefahr, daß nicht nur medizinische, sondern auch gesellschaftliche und moralische Vorstellungen diese Unterscheidung leiten und die Werthaftigkeit der Lebensäußerungen des Grundrechtsträger einer grundlegenden Kritik unterzogen wird, ist nicht gering. Zu weitgehend dürfte es in diesem Kontext insbesondere sein, dem einzelnen jegliche Verfügungsgewalt über sein Leben abzusprechen, 153 weil man für den Suizid per se die Möglichkeit ausschließt, eine autonome und freiverantwortliche Lebensäußerung zu sein. 1 5 4 Wenn das Bundesverwaltungsgericht in einer Entscheidung konstatiert, daß aus dem Konflikt zwischen der staatlichen Schutzverpflichtung aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und dem aus Art. 2 Abs. 1 GG abzuleitenden Selbstbestimmungsrechts folge, daß unterhalb der Schwelle einer Selbstmordgefahr keine staatliche Befugnis zum Schutz des Gefährdeten zu begründen sei, 1 5 5 so wäre die Umkehrung dieser Aussage, so daß eine Selbstmordgefahr per se eine Eingriffsbefugnis auslöst, jedenfalls zu schematisch. In den weiteren Judikaten des Bundesverfassungsgerichts zum Schutz des Menschen vor sich selbst übersteigt der Sachverhalt oder zumindest die Entscheidungsbegründung die Bipolarität des Verhältnisses zwischen Staat und dem zu Schützenden. Das Gericht hat einen mit einer Freiheitsentziehung einhergehenden Arbeitszwang insoweit verfassungsrechtlich gebilligt, als dadurch die Unterhaltsansprüche gegen den Betroffenen erfüllt würden. 1 5 6 Im Kern geht es mithin nicht um seinen Schutz vor der eigenen „Arbeitsscheu", sondern um die Sicherung von Rechten Dritter. In einer Entscheidung zur Frage der verfassungskonformen Auslegung der Strafnorm der unterlassenen Hilfeleistung kommt das Gericht zu dem Ergebnis, einem Ehegatten, der aus religiöser Überzeugung eine Bluttransfusion ablehnt, könne aus Gründen der Religionsfreiheit nicht die Pflicht auferlegt werden, auf seine Ehefrau, welche diese Überzeugung teilt, dahingehend einzuwirken, daß sie einer lebenserhaltenden Blutübertragung zustimmt. 1 5 7 153
So aber VG Karlsruhe, JZ 1988, 208 (209), das von einer umfassenden staatlichen Pflicht zur Verhinderung des Freitodes ausgeht. Ebenso gegen eine Verfügungsgewalt über das eigene Leben: Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2 Rz. 12 (Stand: 1958). 154 Für den prinzipiellen Schutz des Freitodes durch Art. 2 Abs. 1 GG mit überzeugenden Argumenten: Hillgruber, Schutz des Menschen, S. 83 f. 155 BVerwG, NJW 1989, 2960 (2961); kritisch: Hillgruber, Schutz des Menschen, S. 74. 156 BVerfGE 30, 47 (53 f.). 157 BVerfGE 32, 98 (109 f.). Vgl. hierzu Hillgruber, Schutz des Menschen, S. 91 ff.
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Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
Der hier nicht durchdringende Schutzzweck des Staates gilt dem „Opfer" der nicht unternommenen Hilfeleistung, bedient sich zu seiner Verwirklichung in § 323c StGB aber eines Dritten. Lediglich in einem jüngeren Beschluß zum Schutz vor der irreversiblen Entscheidung für eine Geschlechtsumwandlung, werden keine externen Schutzzwecke angeführt. 158 Allerdings geht es hier lediglich um einen zeitlichen Aufschub der freien Entscheidung bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres zum Schutze jüngerer Transsexueller und mithin nicht um ein generelles staatliches Verbot. 1 5 9 Die berechtigte Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts, den Schutz vor sich selbst als alleinigen Zweck belastender, staatlicher Maßnahmen zu akzeptieren, unterstreichen zwei Entscheidungen aus den achtziger und neunziger Jahren. Die Begründung des Beschlusses zur Helmpflicht bei Motorradfahrern 160 verweist zum einen auf die sozialen Folgekosten schwerer Kopfverletzungen und zum anderen darauf, daß ein Unfallbeteiligter, der durch einen Schutzhelm bei Bewußtsein bleibt, die Möglichkeit habe, anderen Beteiligten erste Hilfe zu leisten. 161 Wenn beide Argumente auch widerlegbar oder jedenfalls angreifbar sind, da es eine - über die in § 323c StGB vorausgesetzte Hilfeleistungspflicht hinausgehende - allgemeine Rechtspflicht, sich für künftige Unglücksfällen vorsorglich bereitzuhalten, nicht gibt und die Tragung der Behandlungs- und Folgekosten von mitverschuldeten Verletzungen in erster Linie eine Frage des Haftungsrechts i s t , 1 6 2 so ist an dieser Begründung jedenfalls interessant, daß sich das Gericht bemüht, Interessen Dritter zu definieren, deren Wahrung die Helmpflicht rechtfertigt. In vergleichbarer Weise suchte das Gericht in einer jüngeren Entscheidung die Verfassungsgemäßheit der Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes gegenüber einem aus der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG abgeleiteten Recht auf Rausch durch den Genuß von Cannabis-Produkten zu begründen. Es anerkannte, daß Eingriffe zum Schutz vor sich selbst „ i m allgemeinen nur zulässig [sind], wenn der Schutz anderer oder der Allgemeinheit dies unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfordert." 163 Die Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes würden diese Voraussetzung erfüllen, da „der Ge158
BVerfGE 60, 123 (132). Dennoch ablehnend: Hillgruber, Schutz des Menschen, S. 77. 160 Eine parallele Fallkonstellation, die Pflicht, im Kraftfahrzeug einen Sicherheitsgurt anzulegen, war Gegenstand fachgerichtlicher Entscheidungen und wurde vom OLG Stuttgart für vereinbar mit Art. 2 Abs. 1 GG gehalten, OLG Stuttgart, NJW 1985, 3085 (3086); vgl. für die Gegenauffassung unter Verweis auf eine Entscheidung des AG Albstadt Lisken, NJW 1985, 3053 ff. 161 BVerfGE 59, 275 (278 f.). 162 Siehe hierzu eingehend: Hillgruber, Schutz des Menschen, S. 98 ff.; kritisch ebenso: Lisken, NJW 1985, 3053 (3055). 163 BVerfGE 90, 145 (172). 159
B. Schutzrichtungen und Gefahrenquellen
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setzgeber nicht nur Verhaltensweisen unter Strafe [stellt], die unmittelbar für die Gesundheit einzelner gefährlich sind. Vielmehr geht es um die Gestaltung des sozialen Zusammenlebens in einer Weise, die es von sozialschädlichen Wirkungen des Umgangs mit Drogen freihält, wie sie auch von der sogenannten weichen Droge Cannabis ausgehen: Durch sie werden insbesondere Jugendliche an Rauschmittel herangeführt; ihre Gewöhnung an berauschende Mittel wird gefördert. Die Festigung der Persönlichkeit von Jugendlichen und Heranwachsenden kann behindert werden." 1 6 4 Nicht der Schutz des Cannabis-Konsumenten, sondern der Schutz jugendlicher Dritter im Umfeld des Konsums bildet danach die verfassungskonforme Zwecksetzung der Strafnormen. In den Kontext der Judikatur zum Schutz des Menschen vor sich selbst gehört schließlich die sog. „Peep-Show"-Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts. 165 Das Gericht verweigerte die Genehmigung zum Betrieb einer „Peep-Show", da das gewerbsmäßige Zurschaustellen nackter Frauen die Garantie der Menschenwürde verletze und daher sittenwidrig sei. 1 6 6 Die freiwillig, aufgrund eines Arbeitsvertrages sich zur Schau stellenden Frauen sollen damit in ihrer Menschenwürde auch gegen ihren Willen geschützt werden. Die Menschenwürde der Darstellerinnen wird somit nicht in der Gestalt geschützt wie sie sich in ihrer Individualität selbst begreifen, 167 sondern das Gericht verteidigt seine „objektive" Wertvorstellung gegenüber abweichenden subjektiven Vorstellungen. 168 Die Entscheidung ist auf z.T. massive Kritik gestoßen. 169 Zwar ist die Würde des Menschen „ein objektiver, unverfügbarer Wert". 1 7 0 Daraus folgt indes nicht die Unbeachtlichkeit der eigenen, freiwilligen Entscheidung der Darstellerinnen, in einer „PeepShow" mitzuwirken. Der Menschenwürdebegriff ist objektiv zu definieren, sein Substrat erhält er jedoch aus der autonomen Selbstdarstellung des jeweiligen Menschen. 171 Nur so kann letztlich verhindert werden, daß - in der Diktion der zu Art. 1 GG entwickelten „Objektformel" - der Mensch zum „bloßen Objekt des Staates" 172 und einer abstrakten Wertordnung wird. Festzuhalten ist, daß auch die Rechtsprechung nur in wenigen Fällen den Eingriff des Staates gegen den Willen des Geschützten für verfassungs164
BVerfGE 90, 145 (174). BVerwGE 64, 274 ff. 166 BVerwGE 64, 274 (277 f.). 167 So aber der Ansatz in BVerfGE 49, 286 (298). 168 BVerwGE 64, 274 (279 f.). 169 Siehe nur v. Olshausen, NJW 1982, 2221 ff.; Gusy, DVB1. 1982, 984 ff.; Höfling, NJW 1983, 1582 ff. 170 BVerfGE 45, 187 (229); BVerwGE 64, 277 (279). 171 Vgl. Höfling, NJW 1983, 1582 (1583). 172 BVerfGE 9, 167 (171); 87, 209 (228). 165
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Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
rechtlich gerechtfertigt hält. In diesen Fällen geht es entweder um eine Koinzidenz außergewöhnlich schutzbedürftiger Personen und einer besonders schweren Gefahr (i.d.R. Lebensgefahr) oder - nach dem „Peep-Show"-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts - um den Schutzbereich der singulären Grundrechtsnorm des Art. 1 Abs. 1 GG. In weiteren Fällen ist die Rechtsprechung zumindest bemüht, Interessen Dritter als Grundlage des staatlichen Einschreitens gegen Selbstgefährdung auszumachen. Angesichts dieses Befundes auf der abwehrrechtlichen Seite deutet sich für die Begründung grundrechtlicher Schutzpflichten bereits eine zurückhaltende Lösung an.
2. Freiverantwortliche Selbstschädigung und übernommenes Risiko In der Literatur wird dennoch verschiedentlich die Ansicht vertreten, aus der Sicht des Grundrechts sei der Schutz vor der Selbstgefährdung oder -Schädigung grundsätzlich dem Schutz vor anderen, externen Gefahrenquellen gleichzusetzen. 173 Von anderer Seite wird die Inanspruchnahme der grundrechtlichen Schutzpflichten für den Schutz des Menschen gegen sich selbst abgelehnt. 174 Gemeint ist hiermit ein Schutz vor sich selbst, der zugleich gegen den Willen des Beschützten erfolgt. Die Ausdehnung der Schutzpflicht auf den Schutz des Menschen vor bzw. gegen sich selbst mißachtet die Struktur der Schutzpflicht, die auf einem Dreiecksverhältnis zwischen Störer, Opfer und Staat basiert. 175 Dieses Schutzpflichtendreieck stellt kein geometrisches L'art pour Vart dar, sondern findet seine zwingende Begründung in der Natur der Grundrechte als subjektive Rechte des Bürgers. Die verschiedenen Funktionen der Freiheitsrechte müssen sich daher auf subjektive Rechte zurückführen lassen oder jedenfalls subjektiven Freiheitsinteressen dienen. Auch die Schutzpflicht und der ihr korrespondierende Schutzanspruch des Bürgers hat Teil an dem übergreifenden Schutzzweck der Grundrechte, der Sicherung der grundrechtlich garantierten Rechts- und Freiheitssphäre des einzelnen. 176 So wurzelt die Schutzpflicht des Staates nicht in der staatlichen Befugnis, dem Störer eine Unterlassung seines Handelns aufzuerlegen, sondern in dem Recht des Opfers auf eine wirksame (staatliche) Sicherung seiner Freiheitssphäre; die staatliche Einwirkung auf den Störer ist lediglich die Folge dieses subjektiven Opferrechts. An einem subjektiven Recht oder einem indivi173
Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/l, S. 736; Robbers, Sicherheit, S. 220 ff.; Dietlein, Schutzpflichten, S. 103. 174 Hillgruber, Schutz des Menschen, S. 147; Hermes, Schutz, S. 199 u. 228 ff.; Faber, DVB1. 1998, 745 (747); Fischer, Aufgedrängter Schutz, S. 199. 175 Vgl. Faber, DVB1. 1998, 745 (747). 176 Hermes, Schutz, S. 229; Hillgruber, Schutz des Menschen, S. 147.
B. Schutzrichtungen und Gefahrenquellen
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duellen Freiheitsinteresse des Bürgers fehlt es beim staatlichen Schutz vor ihm selbst jedoch. Die Verbürgung der Freiheitsrechte mutiert hier zu einer Ge- und Verbotsnorm. Aus dem Grundrecht wird eine Grundpflicht; Bürger und Staat wechseln die Rollen von Grundrechtsberechtigten und -verpflichteten. 1 7 7 Schließt man sich der subjektiv-rechtlichen Herleitung der Schutzpflicht auf der Grundlage eines mehrdimensionalen Freiheitsbegriffes nicht an, sondern stellt mit der Mehrzahl der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und weiten Teilen der Literatur auf einen objektiven Wertgehalt der Grundrechte ab, wächst die Gefahr der Umkehrung von Rechten und Pflichten im Grundrechtsverhältnis. 178 Eine solche Umkehrung wird dadurch aber nicht zwangsläufig vorgegeben. Der objektive Wertgehalt der Grundrechte muß nicht so verstanden werden, daß er die Grundrechtsberechtigten in die Pflicht nimmt. 1 7 9 Auch ein objektiver Grundrechtswert bleibt dem Schutz der individuellen Freiheit als dem übergreifenden Normzweck der Grundrechte verpflichtet. Das konkrete Freiheitsinteresse des Individuums bildet die Grenze und das Korrektiv seiner Rechts Wirkungen. Die Ablehnung des Grundrechtsschutzes bei Selbstschädigung bezieht sich zunächst auf Grundrechtsschutz gegen den Willen des Geschützten, auf aufgedrängten Grundrechtsschutz. Die Schutzpflicht zwingt den Staat aber ebensowenig in den Fällen einzuschreiten, in welchen der einzelne zwar die selbstgefährdende Handlung, aber nicht ihren möglichen, schädigenden Erfolg will. Diesbezügliche Beispiele sind etwa gefährliche Sportarten, Abenteuerreisen oder Nikotinkonsum durch Rauchen. 180 Solche Handlungen führen nicht notwendigerweise zu einer (erheblichen) Schädigung, steigern aber die Wahrscheinlichkeit von Gesundheitsschäden. Aber auch hier gilt, daß die Selbstgefährdung auf einem freien Entschluß des einzelnen beruht. Eine Pflicht des Staates, durch Aufklärung, Information oder Warnung dem einzelnen die Konsequenzen seines Tuns klar zu machen, kann sich lediglich aus dem Sozialstaatsprinzip ergeben. Die bloße Bipolarität des Verhältnisses von Staat und risikofreudigem Bürger schließt auch hier das Schutzpflichtenkonzept aus. Eine grundrechtliche Schutzpflicht kommt allenfalls in Bezug auf störende Dritte in Betracht, die beispielsweise als Vertreiber von Tabakwaren, als Reise- oder als Sportveranstalter für ihre Produkte werben, ohne deren Risikoträchtigkeit ausreichend offenzulegen. Diese Sachverhaltskonstellationen betreffen zumindest typischerweise vertraglich 177
Vgl. die Bewertungen einer entsprechenden, in BVerwGE 64, 274 ff. konstatierten Pflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG von Höfling, NJW 1983, 1582 (1584). Zu Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG: Hermes, Schutz, S. 229. 178 Hermes, Schutz, S. 229. 179 Hillgruber, Schutz des Menschen, S. 134 u. 176. 180 Vgl. hierzu Hermes, Schutz, S. 231. 14 Krings
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Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
gestaltete Rechtsverhältnisse und liegen auf der Grenze von Fremd- und Selbstschädigung. 181
VI. Körperimmanente Gesundheitsstörungen Ebenfalls aus der persönlichen, ja gar aus der körperlichen Sphäre des staatlichen Schutzzieles „Mensch" entstammen Störungen der menschlichen Gesundheit. Deren schutzpflichtendogmatische Behandlung ist insofern problematischer, weil staatliche Schutzhandlungen hier i.d.R. nicht gegen den Willen des Grundrechtsberechtigten erfolgen, weil dieser an der Wiederherstellung seiner Gesundheit interessiert ist. Andererseits fehlt es auch beim menschlichen Körper als Gefahrenquelle an einem externen Störer und mithin an einem Schutzpflichtendreieck. Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung das Gebot statuiert, Leben bzw. Gesundheit seien „vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren". 182 Fehlt es an einem Dritten, der durch eine willentliche Entscheidung zumindest eine Ursache für eine Gesundheitsgefahr gesetzt hat, so muß das Schutzpflichtenkonzept auch in bezug auf die Schutzgüter Leben und Gesundheit notwendigerweise versagen. 183 Die staatliche Schutzpflicht erfaßt daher insbesondere solche Gesundheitsstörungen und -gefahren nicht, die auf Erbanlagen oder einem natürlichen Alterungsprozeß beruhen oder die Folge einer besonderen eigenen Beanspruchung des Körpers sind. Nicht unproblematisch sind vor diesem Hintergrund zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. In einem Nichtannahmebeschluß hat die 2. Kammer des Ersten Senats 184 ein Recht auf staatliche Gesundheitsvorsorge grundsätzlich bejaht. Die Entscheidung aus dem Jahre 1987, mit der eine auf die Einleitung von Gesetzgebungsmaßnahmen zur AIDS-Bekämpfung gerichtete Verfassungsbeschwerde die Annahme verweigert wurde, 1 8 5 läßt sich allerdings noch insoweit in das dreipolige Schutzpflichtenkonzept einordnen als es sich bei HIV um einen übertragbaren Virus handelt. Die von der Kammer angenommene Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG zur Bekämpfung von AIDS kann daher durchaus als eine Pflicht zur Aufklärung vor den Übertragungsgefahren dieser Krankheit und mithin als eine Pflicht, der Virenübertrag durch Dritte entgegenzuwirken, verstanden werden. 181
Sie werden hier in einem eigenständigen Abschnitt behandelt, siehe Teil 6
B.III.
182
BVerfGE 39, 1 (42); 46, 160 (164); 49, 24 (53); 53, 30 (57); 56, 54 (73). Vgl. auch Hermes, Schutz, S. 264 sowie S. 47, 227. Anders für psychische Erkrankungen: Robbers, Sicherheit, S. 192. 184 BVerfG (Kammerbeschluß), MedR 1997, 318 f. 185 BVerfG (Kammerbeschluß), NJW 1987, 2287. 183
B. Schutzrichtungen und Gefahrenquellen
211
Eine andere Qualität besaß hingegen ein Jahrzehnt später die Begründung der Nichtannahme einer Beschwerde, mit welcher ein Anspruch gegen eine gesetzliche Krankenkasse auf Bereitstellung eines bestimmten Medikamentes geltend gemacht wurde. Die Nichtannahme ließ die Zurückweisung dieses Anspruches zwar im Ergebnis verfassungsrechtlich unbeanstandet, weil die zuständigen Stellen über eine weite Gestaltungsfreiheit verfügen würden. Eine Schutzpflicht, wonach der Staat sich - auch bei der Auslegung des Krankenversicherungsrechts - „schützend und fördernd vor das Rechtsgut des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zu stellen" hat, erkannte die Kammer dem Grunde nach aber ebenso an wie einen damit verbundenen grundrechtlichen Anspruch. 1 8 6 Diese Entscheidung kann für sich in Anspruch nehmen, daß der Erste Senat mehrfach festgestellt hat, daß die Schutzpflicht nur „vor allem" oder „insbesondere" durch drittverursachte (potentielle) Störungen ausgelöst w i r d . 1 8 7 Ferner hat das Gericht seit Beginn seiner Rechtsprechung stets wiederholt, die Schutzpflicht „gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd v o r " 1 8 8 die Grundrechte zu stellen. Der Begriff des „Förderns" ist schillernder als der des Schützens und läßt sich sprachlich als eine Pflicht verstehen, welche über antropogene Störungen oder Gefährdungen Dritter hinausgeht. In Teilen der Literatur wird eine Geltung der Schutzpflicht für den Anwendungsbereich der Transplantationsmedizin folglich angenom189
men. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat sich mit ihren offenen Formulierungen auf eine schiefe Ebene in der Schutzpflichtendogmatik gebracht und droht den Staat dazu anzuhalten, seine schützende Rolle als Koordinator grundrechtlicher Schutzbereiche zu verlassen und sich aktiv um die Förderung von Grundrechtssubstraten zu bemühen. Hervorzuheben ist allerdings, daß sie es bislang bei verbalen Andeutungen und Annahmen belassen hat und auch in Fällen wie dem der Bereitstellung eines bestimmten Medikamentes im Ergebnis vor einer Bejahung einer staatlichen Schutzpflicht außerhalb von Fällen einer Drittbeeinträchtigung zurückgewichen ist. Diese wohl eher „intuitive" Zurückhaltung ist zu begrüßen, da die in Teilen des Schrifttums geforderte Erweiterung des Schutzpflichtenkonzepts auf durchgreifende Bedenken stößt und den Weg für die subjektiv-rechtliche Begründung der Schutzpflicht kaum noch passierbar macht, wenn nicht gar versperren würde. Die Schutzpflichten basieren gemeinsam mit der abwehr186 187 188 189
14*
BVerfG (Kammerbeschluß), MedR 1997, 318 (319). BVerfGE 39, 1 (42); 53, 30 (57). BVerfGE 39, 1 (42); 53, 30 (57); 56, 54 (73); 88, 203 (251); 90, 145 (195). Holznagel, DVB1. 1997, 393 (396).
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Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
rechtlichen Dimension auf einem „Angriff 4 auf die Freiheitssphäre. Dieser kann nur von außen erfolgen. Die Grundrechte garantieren nach überwiegender Auffassung den Bestand existierender Rechts- bzw. Freiheitspositionen, nicht jedoch das Entstehen neuer Freiheitssubstrate. 190 Dies verbietet eine rein ergebnis- oder schutzgutorientierte Betrachtung, die darauf abstellt, daß der tatsächliche Gebrauch der Grundrechte in jeder Lebenslage staatlicherseits zu ermöglichen sei. 1 9 1 Der Staat sähe sich mit einer Erwartungshaltung konfrontiert, der er aus finanziellen, aber auch tatsächlichen Gründen niemals auch nur entfernt gerecht werden könnte. Mittels eines immensen Resourceneinsatzes mag er zwar individuelle Freiheitspositionen theoretisch noch herstellen können. Sobald aber eine gemeinschaftsbezogene Grundrechtsausübung in Rede steht, müssen seine Bemühungen, Freiheitspositionen entstehen zu lassen, vollends scheitern. 192 Soweit ein Körper nicht von außen geschädigt wird, versagen daher die (subjektiv) begründeten grundrechtlichen Schutzpflichten. Die gegenteilige Ansicht, die auf die Ermöglichung des effektiven Grundrechtsgebrauchs abstellt, kann letztlich auch vor dem grundrechtlichen Schutz vor Naturgewalten als Anwendungsfall der Schutzpflichten nicht mehr halt machen. 193 Abzugrenzen sind die körperimmanenten Gesundheitsgefahren und -Störungen von Beeinträchtigungen der Gesundheit durch Dritte. Hierzu gehören neben den Infektionskrankheiten vorsätzliche und fahrlässige Körperverletzungen ebenso wie - unterhalb dieser Schwelle - einseitiges gefährliches Tun Dritter, das sich unmittelbar auf den Grundrechtsberechtigten ausw i r k t . 1 9 4 Unter die letzte Kategorie können auch Umweltgefahren fallen, wenn sie nach Ursache und Wirkung hinreichend klar bestimmten Personen zugeordnet werden können. 1 9 5 Sog. „Zivilisationskrankheiten" wie Herzerkrankungen und Karzinome, die i.d.R. nicht auf eine isoliert darstellbare Emission zurückzuführen sind, sondern deren Verbreitung mit dem Lebensrhythmus und der menschlichen Lebensdauer in einer modernen Industrie190
Anders jedoch der Ansatz von Kloepfer, Entstehenssicherung, passim (siehe insbes. S. 24). 191 So aber Holznagel DVB1. 1997, 393 (396). 192 Der Staat kann beispielsweise demjenigen, der die gemeinschaftliche Ausübung einer von ihm selbst kreierten Religion wünscht, keine Glaubensgenossen zuordnen. Er kann der Heiratswilligen keinen Partner zuweisen, der ihr die Wahrnehmung des Ehegrundrechts erst ermöglicht. 193 Insoweit konsequent: Holznagel, DVB1. 1997, 393 (396). Zum Problemkreis der Naturgewalten sogleich Teil 4 B.VIII. 194 Ausreichend kann bereits die alkoholisierte Teilnahme am Straßenverkehr sein, auch wenn dadurch kein bestimmter Personenkreis gefährdet ist. Vgl. den Nichtannahmebeschluß BVerfG (Kammerbeschluß) NJW 1995, 2343, zur Festsetzung eines Alkoholgrenzwertes. 195 Hierzu sogleich Teil 4 B.VII.
B. Schutzrichtungen und Gefahrenquellen
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gesellschaft zusammenhängen, lassen eine Zurechnung zu einem konkreten Störer oder einer bestimmten Ursache nicht zu. Im Themenspektrum der medizinischen Versorgung haben die grundrechtlichen Schutzpflichten nur dort ihren Platz, wo die Gesundheit von externen privaten Verursachern gefährdet w i r d . 1 9 6 Die Gefährdung muß bestimmten Personen oder jedenfalls einer nach abstrakten Kriterien klar abgrenzbaren, homogenen Personengruppe zugeordnet werden können. Der Staat muß den Patienten vor gefährlichen bzw. nicht erprobten Medikamenten und Heilmitteln ebenso wie vor mangelhaft ausgebildetem medizinischen Personal schützen, aber auch vor Ärzten, die ihr Behandeln nicht in ausreichendem Maße am Wohl des Patienten ausrichten. 197 Die staatliche Reglementierung der Organtransplantation ist aus dem Blickwinkel des auf ein Spenderorgan angewiesenen Patienten zumindest insoweit kein Anwendungsfall grundrechtlicher Schutzpflichten als es hier im Regelfall um die Wiederherstellung seiner Gesundheit geht 1 9 8 und nicht um die Heilung von durch Dritte beigebrachten Verletzungen. 199 Soweit der Gesetzgeber bestimmte Wege der Zurverfügungstellung und Beschaffung von Spenderorganen untersagt, handelt es sich um einen Eingriff in Art. 2 Abs. 2 GG, der die Anwendung grundrechtlicher Schutzpflichten im Interesse der Patientengesundheit bereits ausschließt. 200 Der Gesetzgeber will mittels dieser Verbote eine Kommerzialisierung von Organen Lebender verhindern. Daher kann hierin die Realisierung einer Schutzpflicht für das in Art. 2 Abs. 1 GG zu verortende Selbstbestimmungsrecht des Organspenders, gegebenenfalls auch des Organempfängers gesehen werden. Auf den ersteren soll kein unzumutbarer Druck ausgeübt werden, um ihn zur Organspende zu bewegen. Der potentielle Empfänger wiederum soll mit der Aussicht auf ein Spenderorgan nicht finanziell unter Druck gesetzt werden können. Ob die dahinter stehende gesetzgeberische Wertung, der von einer Verwandtschaftsbeziehung evtl. ausgehende psychische Druck sei weniger 196
Kluth/Sander, DVB1. 1996, 1285 (1289). Hiervon gehen offenbar auch alle diejenigen Autoren aus, die den Schutz vor Naturgewalten aus dem Anwendungsbereich der grundrechtlichen Schutzpflicht ausklammem, siehe die Nachw. u. Teil 4 B.VIII. 197 Vgl. zum letzteren etwa die Diskussion zur „Sterbehilfe", Höfling, JuS 2000, 111 (114 ff.) m.w.N. 198 Kluth/Sander, DVB1. 1996, 1285 (1289). 199 Ist im Einzelfall eine Organtransplantation hingegen aufgrund einer Körperverletzung indiziert, greift der grundrechtliche Schutzanspruch. Er greift ebenso in bezug auf unbefugte Organentnahmen zugunsten des „virtuellen Spender", siehe: Isensee, Grundrechtsschutz, in: Firnkom, Himtod, S. 69 (74). Diese Fälle müssen bei der Organisation eines staatlichen System der Organverteilung berücksichtigt werden, ohne daß diese atypischen Fälle sein Bauprinzip zu bestimmen haben. 200 Dazu siehe oben Teil 3 B.III.l.b)dd).
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Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
gefährlich als der von Dritten geschaffene pekuniäre Anreiz, wirklich zutrifft, ist indes in der Sache fraglich. Der in dem Spendeverbot liegende Eingriff in Art. 2 Abs. 2 GG ist - jedenfalls soweit es um das Schutzgut „Leben" geht - schwerlich auf der Grundlage dieser problematischen Wertung zu rechtfertigen. Ohnehin wird die Schutzpflicht im Kontext medizinischer Sachverhalte überall dort abgeschwächt, überlagert oder gar ausgeschlossen, wo der Patient mit dem ihn behandelnden Arzt, mit sonstigen Erbringern einer Gesundheitsleistung oder - wie im hypothetischen Fall einer Transplantation im „Freiverkehr" - mit dem privaten Spender in ein Vertragsverhältnis eintritt. 2 0 1 Das Bundesverfassungsgericht geht in einem Nichtannahmebeschluß 202 jedenfalls von der Verfassungsgemäßheit dieser Regelung aus, ohne sie als Erfüllung einer grundrechtlichen Schutzpflicht zu verstehen. Generell gilt für das Themenfeld der medizinischen Versorgung, daß außerhalb des engen Anwendungsbereich der grundrechtlichen Schutzpflichten nur ein Ausweichen auf sozialstaatliche Grundsätze 203 oder auf grundrechtlich fundierte Teilhabe- und Leistungsrechte (im engeren Sinne) bleibt; bei der Annahme verfassungsunmittelbarer Ansprüche ist hier Zurückhaltung geboten. 204
V I I . Schutz vor anthropogenen Umweltgefahren Umweltgefahren haben in der Entwicklung der Schutzpflichtenlehre eine zentrale Rolle gespielt. Das Bundesverfassungsgericht hat seine Rechtsprechung zu den grundrechtlichen Schutzpflichten über weite Strecken anhand von umweltrelevanten Sachverhalten entfaltet. 205 Auch in der Literatur wurde der Umweltschutz als Anwendungsfeld der grundrechtlichen Schutzpflichten bereits früh erkannt. 206 Die Bandbreite solcher umweltbezogener Gefahren reicht vom Betrieb von Kraftfahrzeugen über gewerbliche und in201
Zum Verhältnis von Schutzpflichten und Vertragsrecht siehe unten Teil 6 B. BVerfG, DVB1. 1999, 1647 (1648 f.). 203 Ygj z u r Abgrenzung zwischen grundrechtlichen und sozialstaatlichen (Schutz-)Pflichten im Hinblick auf den Schutz des ungeborenen Lebens: Kluth, in: Thomas/Kluth, Das zumutbare Kind, S. 93 (109). 204 Vgl. BVerfGE 33, 303 (330 f.) - Numerus Clausus; das Gericht tendierte hier grundsätzlich dazu, die Schaffung von Teilhaberechten dem gesetzgeberischen Ermessen zu überantworten, leitete jedoch im entschiedenen Fall ein Zutrittsrecht aus dem Sozialstaatsprinzip i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG her, siehe hierzu v. Münch, in: v. Münch/Kunig, GG I, vor Art. 1 Rz. 19. 205 Vgl. BVerfGE 49, 89 (Kalkar); 53, 30 (Mülheim-Kärlich); 56, 54 (Fluglärm); siehe zu dieser Feststellung Murswiek, WiVerw 1986, 179 (180). 206 Siehe nur Rauschning, VVDStRL Bd. 38 (1980), S. 167 (182 f.); vgl. auch Kloepfer, Umweltschutz, S. 29. Noch vor Beginn der Schutzpflichtenjudikatur i.S. 202
B. Schutzrichtungen und Gefahrenquellen
215
dustrielle Emissionen bis hin zu den von Kernkraftwerken ausgehenden Gefahren. Dem Grundrechtsberechtigten drohen nicht nur Störungen und Gefahren, die, von „technischen" Quellen verursacht, über die Umweltmedien Luft, Wasser und Boden vermittelt werden, sondern Umwelt im hier verstandenen Sinne ist auch das persönliche, kleinräumige Umfeld, in dem z.B. in der Gegenwart Dritter Lärmbelästigungen entstehen oder Tabak konsumiert 207 wird. Das Hauptproblem bei der grundrechtsdogmatischen Behandlung von Immissionsschäden ist die Vielzahl der Emittenten, die zu einem solchen Schaden beitragen können. Ihre Emissionen erreichen - in quantitativer Hinsicht - oftmals erst kumulativ eine kritische Größenordnung. In qualitativer Hinsicht führt teilweise erst die chemische Verbindung verschiedener Emissionen zu einer gefährlichen Umwelteinwirkung. Diese Phänomene kombinierter und sich kumulierender Emissionen führen zur Frage der Zurechnung von Immissionen zu Emissionen. Zu klären ist, ob eine Kombination von für sich genommen unschädlichen Immissionsbeiträgen, die in der Summierung bzw. Verbindung eine schädliche Immissionskonzentration ergeben, geeignet ist, grundrechtliche Schutzpflichten auszulösen. Diese Frage scheint man auf den ersten Blick bejahen zu müssen, da primärer Anknüpfungspunkt der Schutzpflicht der subjektiv-rechtliche Freiheitsschutz des einzelnen ist. Der dem - hier vertretenen - Schutzpflichtenkonzept zugrundeliegende Freiheitsbegriff ist zwar ein mehrdimensionaler, der den Blick auch auf private Beeinträchtigen richtet; er ist aber kein absoluter. Die Feststellung eines Freiheitsverlustes durch Umweltimmissionen reicht also nicht aus, um eine Schutzpflicht zu aktivieren. Hinzutreten muß vielmehr eine private Handlung von der Qualität eines Grundrechtsübergriffs. Freiheitseinbuße des Opfers und Verhalten des potentiellen Störers müssen dabei in der Weise korrelieren, daß sie dem Störer zurechenbar ist. Sein Verhalten muß daher conditio sine qua non für den entstanden Schaden sein. 2 0 8 Läßt sich eine thematisch an sich grundrechtsrelevante Immission daher nur auf eine Vielzahl von Kleinemittenten zurückführen, deren Verursachungsbeitrag jeder für sich genommen so gering ist, daß er hinweggedacht werden kann, ohne daß der Immissionserfolg entfiele bzw. unterhalb des schutzpflichtenaktivierenden Gefahrenniveaus 209 sinken würde, so ist diese Zurechnung nicht möglich. 2 1 0 Es fehlen die für die Annahme einer Schutzpflicht erforderlichen isolierbaren Grundrechtsübergriffe. 211 einer „grundrechtlichen Pflicht der staatlichen Gemeinschaft" bereits Rupp, JZ 1971, 401 (403). 207 Siehe zu den grundrechtlichen Schutzpflichten im Kontext des Tabakrauchens: Faber, DVB1. 1998, 745 ff. 208 Murswiek, WiVerw 1986, 179 (195). 209 Siehe hierzu Teil 4 C.
216
Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
Der strafrechtliche Kausalitätsgrundsatz, wonach mehrere Bedingungen, die zwar nicht kumulativ, aber alternativ entfallen können, ohne daß dies Konsequenzen für den tatbestandlichen Erfolg hat, sämtlich kausal sind, 2 1 2 vermag hier nicht weiterzuhelfen. Im Gegensatz zur strafrechtlichen Kausalität, die mit dem objektiven Zurechnungszusammenhang und dem Verschuldenskriterium wichtige Korrektive erfährt, bildet für die Schutzpflichtenlehre nicht der tatbestandliche Erfolg, sondern der Grundrechtsübergriff den Ausgangspunkt der dogmatischen Betrachtung. Der schutzpflichtenbezogene Kausalitätsbegriff lehnt sich darum enger an die polizei- und ordnungsrechtlichen Verursachungserfordernisse an. Im Ordnungsrecht übernimmt i.d.R. das Unmittelbarkeitskriterium eine Filterfunktion; auch danach sind prinzipiell nur solche Störungen zurechenbar, die für sich genommen die Gefahrenschwelle überschreiten. 213 Zwar läßt es der polizeirechtliche Verursachungsbegriff zu, daß die Gefahr oder Störung erst durch das Verhalten einer Mehrzahl von Beteiligten herbeigeführt w i r d . 2 1 4 Zu fordern ist aber zumindest ein gewisser räumlich-zeitlicher Bezug dieser Handlungen zur Gefahrensituation, wenn sie für sich genommen die Gefahrenschwelle noch nicht überschreiten. Noch deutlicher wird die Bedeutung der „Übergriffshandlung" mit Blick auf das Kriterium der Pflichtwidrigkeit, welches als weitere Voraussetzung einer ordnungsrechtlichen Verantwortlichkeit nach einer neueren Literaturansicht zum Unmittelbarkeitserfordernis hinzutreten soll. 2 1 5 Zieht man die ordnungsrechtlichen Kausalitätsüberlegungen für die Schutzpflichtenlehre heran, wird man daher zwar eine regionale Kumulation einer Reihe von Kleinemittenten noch mit der Schutzpflichtenfunktion angemessen erfassen können. Handelt es sich aber um Tausende oder gar Millionen von Klein- und Kleinstemittenten, die über den gesamten Geltungsbereich des Grundgesetzes und darüber hinaus verteilt sind, ist eine für die Annahme eines Grundrechtsübergriffs erforderliche Zurechnung von Immissionsschäden zu Emissionsverhalten 210 Diese Zurechnungsfragen werden im Zusammenhang von Umweltgefahren regelmäßig außer acht gelassen, vgl. etwa Wollenteit/Wenzel, NuR 1997, 60 (61 u. 63). 211 Im Erg. ebenso gegen die Annahme einer Schutzpflicht Murswiek, WiVerw 1986, 179 (195 f.). Für die Anwendung der Schutzpflicht votiert hingegen Hermes, Schutz, S. 232, indem er auf die (gefährliche oder störende) Wirkung der summierten Ursachen abstellt. 212 Vgl. nur Welzel, Strafrecht, S. 45. 213 Vgl. zum Unmittelbarkeitskriterium: OVG Hamburg, DÖV 1983, 1016 (1017 f.); OVG Münster, NVwZ 1985, 355 (356); VGH Kassel, DÖV 1986, 441 (441 f.); Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 313; Friauf, in: SchmidtAßmann, Bes. VerwR, 2. Abschn. Rz. 76 = S. 147. 214 Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 313. 215 Vgl. Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, Rz. E 63.
B. Schutzrichtungen und Gefahrenquellen
217
nicht mehr möglich. Dies gilt z.B. für die von dem Kfz-Verkehr verursachten Immissionen, aber auch für die Mehrzahl der eher geringfügigen gewerblichen und industriellen Emissionen. Soweit nicht eine bestimmte Schädigung auf einen Emittenten oder eine räumlich abgrenzbare Gruppe von Emittenten zurückgeführt werden kann, fehlt es mangels unmittelbaren Überschreitens der Gefahrenschwelle an einem Grundrechtsübergriff. Das überregionale Phänomen des „Waldsterbens" etwa ist daher verfassungsrechtlich nicht mit der Schutzpflichtendogmatik zu erfassen. 216 In der Fluglärmentscheidung 217 hatte sich das Bundesverfassungsgericht hingegen mit dem von einer Anlage, dem Flughafen Düsseldorf-Lohausen, ausgehenden Geräuschemissionen zu befassen. Nicht die einzelne Flugbewegung, sondern der privatrechtlich betriebene Flughafen als Ganzes war die Geräuschquelle, hinsichtlich derer das Gericht eine Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG bejahte. 218 Entsprechendes gilt für die gegen einzelne Kernkraftwerke gerichteten Verfassungsbeschwerden. 219 Der (potentielle) Störer ist hier eine einzelne Person, der die Gefahr bzw. Störung ohne weiteres zuzurechnen ist. Das Zurechenbarkeitserfordernis stellt wesentliche Bereiche des Immissionsschutzes außerhalb einer grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates. Die somit bestehende grundrechtliche Schutzlücke 220 hat der verfassungsändernde Gesetzgeber inzwischen objektiv-rechtlich teilweise mit der Einfügung des Art. 20a GG geschlossen, ohne daß diese Vorschrift allerdings einen Individualanspruch gewährt.
V I I I . Kein Schutz gegen Naturgewalten Die letzte Gruppe von Gefahrenquellen, welche auf ihre Relevanz für die grundrechtlichen Schutzpflichten zu untersuchen sind, sind die natürlichen Schadenspotentiale für freiheitsrechtliche Schutzgüter. Dieser Untersuchungsschritt bildet den Schlußpunkt der Bestimmung und Eingrenzung der Gefahrenquellen, weil mit ihr der Bereich der anthropogenen Gefahrenquellen überschritten wird. Die natürlichen Gefahren - wie Naturkatastrophen, aber auch Einwirkungen der Naturgewalten von geringerer Intensität wie 216
In einem Nichtannahmebeschluß zu einer auf die Entschädigung für durch Luftverschmutzung entstandene Waldschäden hat das BVerfG (Kammerbeschluß), NJW 1998, 3264 (3265), die Existenz einer auf diesen Sachverhalt bezogenen Schutzpflicht aus Art 14 GG immerhin offengelassen. 217 BVerfGE 56, 54 ff. 218 BVerfGE 56, 54 (78). 219 BVerfGE 49, 89 ff.; 53, 30 ff. 220 Zur Existenz dieser grundrechtlichen Schutzlücke vgl. Soell, NuR 1985, 205 (208 f.).
218
Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
Regen, Sturm, Blitzschlag usw. - sind daher auch sorgfältig von den menschenverursachten Umweltgefahren abzugrenzen. „Naturkatastrophen", die durch menschliches Verhalten ausgelöst oder wesentlich beschleunigt werden, sind im eigentlichen Sinne keine natürlichen Gefahren mehr. So ist z.B. der von einem Grundstück ausgehende Steinschlag anders zu bewerten, wenn er auf eine von Menschenhand vorgenommene Veränderung des Grundstücks zurückzuführen ist. 2 2 1 Soweit sich die Erwärmung der Erdatmosphäre auf menschliche Emissionen zurückführen läßt, haben wir es mit einer anthropogenen Umweltgefahr zu tun, die grundrechtlich entsprechend zu bewerten i s t . 2 2 2 Die grundrechtliche Behandlung von Naturgewalten und den aus ihnen resultierenden Gefahren ist im Schrifttum umstritten. Eine Reihe von Autoren will den Staat aus den grundrechtlichen Schutzpflichten heraus verpflichten, den Bürger auch gegen schädigende Naturereignisse zu schützen. 2 2 3 Sie weisen auf die sprachliche Offenheit der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen zu den Schutzpflichten hin, die Raum lasse für deren Geltungsausdehnung auf nicht von Dritten verursachte Gefahren. 224 Die Schutzgutorientierung der grundrechtlichen Schutzpflichten lasse eine Differenzierung nach dem Ursprung der Gefahr nicht z u . 2 2 5 Ebenso wie im Polizeirecht seien auch grundrechtlich alle natürlichen Gefahrenquellen von Belang. 2 2 6 Herausgestellt werden zudem die Bezugnahmen des Grundgesetzes auf „Naturkatastrophen", die in Art. 35 Abs. 2 und 3 GG die Durchbrechung des föderalen Zuständigkeitsgefüges gestatteten und in den Art. 11 Abs. 2 und Art. 13 Abs. 3 GG in der Spielart der „Seuchengefahr" Grundrechtsschranken bilden. 2 2 7 Von anderer Seite werden Naturereignisse als Auslöser grundrechtlicher Schutzpflichten ausgeschlossen.228 Gefordert wird ein „Eingriff 4 eines Pri221 Vgl. zur privatrechtlichen Bewertung einer solchen Fallkonstellation BGH, MDR 1996, 580; hierzu: Stickelbrock, AcP Bd. 197 (1997), S. 456 (489 ff.). 222 Siehe oben Teil 4 B.VII. Wegen der Vielzahl der Verursacher, deren Zusammenwirken erst derartige globale Schädigungen hervorbringt, muß nach der hier vertretenen Ansicht die Anwendung des Schutzpflichten aber ebenso scheitern. 223 Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1, S. 734 f.; Dietlein, Schutzpflichten, S. 103; Unruh, Dogmatik, S. 76; Hain, ZG 1996, 75 (82); Koch, Die Verwaltung 30 (1997), S. 1 (13); Holznagel, DVB1. 1997, 393 (396); Robbers, Sicherheit, S. 124, 127 u. 192; Sass, Entschädigungserfordernis, S. 403 ff.; Jaeckel, Schutzpflichten, S. 80 f. 224 Koch, Die Verwaltung 30 (1997), S. 1 (13); Holznagel, DVB1. 1997, 393 (396). Siehe zu dieser Frage oben Teil 4 B.VI. 225 Dietlein, Schutzpflichten, S. 103; Unruh, Dogmatik, S. 76. 226 Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1, S. 735. 227 Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1, S. 735. 228 Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 112; Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 231; Langner, Geltung der Grundrechte, S. 111; vgl. auch Murswiek, in: Sachs, GG,
B. Schutzrichtungen und Gefahrenquellen
219
vaten, der dem staatlichen Eingriff auf der Abwehrseite der Grundrechte entspricht. 229 Da bei Naturgefahren der Gefahrenursprung nicht im Verantwortungsbereich eines Grundrechtsträgers liege, sei der Verfassungsstaat nicht in seiner Rolle als „Koordinator der Freiheitssphären" angesprochen. 2 3 0 Die Bekämpfung natürlicher Gefahren überantwortet diese Ansicht daher der „allgemeinen sozialstaatlichen Hilfe aus Notlagen" 2 3 1 oder der „Grundrechtsfürsorge" 232 . Auch in einer technisierten Welt bleiben nicht-anthropogene Umwelteinwirkungen auf die Freiheitssphäre der Menschen ein ernstes Problem. Thomas Hobbes' metaphorische Redewendung „homo homini lupus", die den Kampf aller gegen alle beschreibt, könnte somit auf ein naturalistisches „lupus homini lupus" (M. Sachs) zurückzuführen sein, das die Bedrohung des Menschen auch durch die Naturkräfte (repräsentiert durch den Wolf) anzeigt. Versteht man die grundrechtliche Schutzpflicht als Kompensation des Verbots privater Gewaltanwendung, so ist der Ausschluß natürlicher Gefahren ohne weiteres einsichtig. Da der Staat es dem Bürger aber - jedenfalls prinzipiell - nicht verbietet, diese zu bekämpfen oder gegen sie Vorkehrungen zu treffen, trifft ihn auch keine korrespondierende Schutzpflicht. Die mangelnde Tragfähigkeit einer Begründung der grundrechtlichen Schutzpflichten aus diesem Kompensationsgedanken bzw. aus der allgemeinen Staatsaufgabe Sicherheit heraus, wurde bereits dargelegt. 233 Der Hinweis auf die Rolle des Staates als Koordinator der Freiheitssphären ist berechtigt, und eine rein schutzgutorientierte Betrachtung ist abzulehnen. Abgesehen von dem Argument der faktischen Überforderung des Staates und der damit notwendigerweise verbundenen Enttäuschung von Erwartungshaltungen ist auch in rechtlich-systematischer Hinsicht die mangelnde Beherrschbarkeit natürlicher Gefahren ein zentrales Argument gegen eine Ausweitung der Schutzpflichtenlehre. Zwar geht die Freiheit dem Staat und seiner Rechtsordnung voraus. Der Staat vermag aber auf den Gebrauch dieser Freiheit mittels Rechtsnormen einzuwirken. Seine Rechtsmacht ist gegenüber Naturgewalten hingegen machtlos. Die Staatsgewalt muß hier in ihren Reaktionen das Rechtssystem verlassen, weil es an einem zurechenba-
Art. 2 Rz. 24 ff., sowie die einen Schutz gegen Naturgewalten ausschließenden Schutzpflichten-Definitionen bei Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 410, und Stern, Staatsrecht III/1, S. 945 f. 229 Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 232. 230 Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 112. 231 Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 231. 232 Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 115. 233 Siehe oben Teil 3 B.II.3.
220
Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
ren menschlichen Verhalten, das einer normativen Regulierung zugänglich ist, fehlt. Systemtheoretisch gewendet kann das Rechtssystem als Subsystem der Gesellschaft zwar auf Sachverhalte in der Umwelt der Gesellschaft nach Maßgabe seiner eigenen Kommunikationsregeln reagieren. 234 Die Grundrechte des Grundgesetzes wollen indes von ihrer objektiven, aber auch historischen Zwecksetzung her nur gesellschaftsimmanenten Gefahren begegnen. Selbst da, wo die Verfassung sich ökologischen Themen zuwendet, kann sie lediglich menschliches Verhalten in Bezug auf die Natur regeln. Daß sich die grundrechtlichen Schutzpflichten und die ihnen verwandte Drittwirkungsthematik heute einer stetig größer werdenden Aktualität und Bedeutung erfreuen, hat auch mit der funktionalen Angleichung von staatlicher und privater Macht einerseits und mit der Übernahme einstmals staatlicher Handlungsfelder durch Private andererseits zu tun. Eine solchermaßen soziologisch zu beobachtende Aufgaben- und Machtverschiebung kann zwischen Staatsgewalt und Naturgewalten indes nicht stattfinden. Mit der Statuierung von Freiheitsrechten übernimmt der Staat keine Garantie für den faktischen Bestand der Freiheitsgüter. Er verspricht damit in erster Linie seine eigene Achtung vor ihnen und verpflichtet sich zudem in seiner gesamten Rechtsordnung diesen Freiheitsschutz zu effektuieren. Zu einem Eingreifen in natürliche Kausalverläufe halten die Grundrechte den Staat nicht an. Auch die Heranziehung der Grundrechtsschranken zur Begründung von Schutzpflichten gegenüber Gefahren natürlichen Ursprungs kann wegen des prinzipiellen Unterschiedes zwischen dem grundgesetzlich positivierten Schutzbereich der Freiheitsrechte und den Schrankenregelungen 235 nicht überzeugen. Die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte begründen Befugnisse, jedoch keine (Schutz-)Pflichten. Doppelt problematisch ist der Hinweis auf die Schranke der „Seuchengefahr" in den Art. 11 Abs. 2, Art. 13 Abs. 3 GG. Seuchengefahren sind nicht notwendigerweise ausschließlich natürlichen Ursprungs. Sie sind als anthropogene Gefahren zu behandeln, wenn und soweit die Gefahr für das Gut der Gesundheit bzw. - bezogen auf Tierseuchen - des Eigentums an der von Menschen zumindest mitgesteuerten Übertragung festgemacht werden kann. Das Schutzpflichten-Dreieck aus Störer, Opfer und Staat behauptet auch gegenüber Naturereignissen seine Geltung und schließt diese mithin aus der Schutzpflichtenlehre aus.
234 235
Vgl. Luhmann, Ökologische Kommunikation, S. 124 ff. Siehe oben Teil 3 B.III.2.d).
C. Die Übergriffsschwelle
221
C. Die Übergriffsschwelle Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten steht angesichts der Mannigfaltigkeit relevanter Gefahrenquellen vor einem Dilemma: Einerseits tendiert sie dazu, den Schutz der Freiheitssphären der Bürger zu optimieren und dabei auch in bezug auf die Anwendungsfelder und die Intensität des Schutzes nicht bei dem einfachgesetzlichen Standard stehen zu bleiben. Andererseits brächte das Streben nach totaler Sicherheit eine totale Reglementierung mit sich und führte in den totalen Staat. 236 Selbst um diesen hohen Preis wäre das Ziel einer vollständigen Sicherheit vor Übergriffen Dritter niemals zu erkaufen, 237 wie die (ungeschönten) Kriminalstatistiken totalitärer Regime beweisen. 238 Da das Risiko die Kehrseite der Freiheit ist, ist Sicherheit nur realisierbar auf Kosten der Freiheit. 2 3 9 Zwar sind Freiheit und Sicherheit keine logischen Gegenbegriffe, 240 denn ohne Sicherheit gibt es auch keine Freiheit. 241 Sicherheit ist eine Bedingung der Freiheit. Sicherheit und Freiheit stehen aber nicht im Verhältnis mathematischer Proportionalität zueinander. Eine Steigerung der Sicherheit erhöht nur bis zu einem gewissen Punkt die Freiheit der Bürger. Ist dieser überschritten, ist ein Mehr an Sicherheit nur unter Inkaufnahme eines teilweisen oder gänzlichen Verlustes von Freiheit möglich. Um die Freiheit des einzelnen nicht durch ihren lückenlosen Schutz gegen alle anderen ad absurdum zu führen, bedarf es des Einbaus von Regulatoren und Filtern in die Schutzpflichtenlehre. Diese sollen im Sinne einer praktischen Konkordanz sicherstellen, daß Freiheit und Sicherheit in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen und beide Ziele in einem möglichst hohen Maße verwirklicht werden. Zu beachten ist dabei, daß im Rahmen des grundrechtlichen Schutzes die Freiheit im Vordergrund steht und der Sicherheit vor Übergriffen eine dienende Funktion als Bedingung der Freiheit des Grundrechtsträgers zukommt. Ein wichtiger Regulator der Schutzpflichtenlehre ist auf der Rechtsfolgenseite angesiedelt. Der Staat schuldet nicht den perfekten oder optimalen Schutz der Freiheitspositionen des einzelnen vor Störungen und Gefahren, sondern ihm kommt ein breites Ermessen bei der Erfüllung und Konkretisierung der Schutzpflichten z u . 2 4 2 Hier findet insbesondere eine Abwägung 236
Isensee, Sicherheit, S. 41; Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 117. Ebenso: Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 111. 238 Siehe zum Anstieg der Straftaten während des Dritten Reiches: Hepp, ZRP 1999, 253 (254 ff.). 239 Dietlein, Schutzpflichten, S. 105. 240 Vgl. Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 18 Rz. 13 (Stand: November 1997). 241 Vgl. Isensee, Die politische Meinung, Heft 337 (1997), S. 31 ff. 237
222
Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
der widerstreitenden Grundrechtspositionen des Übergriff-Opfers und des Störers, in dessen Grundrechte das staatliche Schutzhandeln typischerweise eingreift, statt. Die Instrumente zum Ausgleich von Freiheit und Sicherheit auf der Rechtsfolgenseite setzen eine Schutzpflichtenkonstellation jedoch bereits voraus. Die Mannigfaltigkeit sozialer Interaktionen in einer modernen Gesellschaft bedingt indes, daß nicht jedes menschliche Verhalten, das Auswirkungen auf die Grundrechtssphäre anderer hat, einen Übergriff 2 4 3 darstellt und den Tatbestand grundrechtlicher Schutzpflichten erfüllt. Der Staat muß um der Freiheitsrechte des Grundgesetzes willen erst handeln, wenn ein „schutzpflichtenaktivierendes Gefahrenniveau" 244 erreicht ist. Während auf der Rechtsfolgenseite die Pflichtigkeit in bezug auf konkrete Schutzmaßnahmen und unter Abwägung der durch solche Maßnahmen tangierten Störer-Abwehrrechte zu erfolgen hat, geht es bei der Ermittlung des schutzpflichtenaktivierenden Gefahrenniveaus bzw. der Übergriffsschwelle um eine abstrakte Analyse des möglicherweise störenden Verhaltens. Herauszufiltern sind auf dieser Ebene Handlungen, die schon per se und unabhängig von den berührten Grundrechtspositionen des vermeintlichen Störers nicht geeignet sind, die staatliche Schutzpflicht auszulösen. 245 Auf der Tatbestandsebene verbietet sich daher in bezug auf die Intensität des grundrechtsbeeinträchtigenden Handelns noch jede Differenzierung nach dem Adressaten der staatlichen Schutzpflicht. 246 Festzustellen ist zunächst, ob ein Übergriff vorliegt. Welche Staatsorgane ihm wie zu begegnen haben, ist auf der Rechtsfolgenseite im Rahmen der Konkretisierung der Schutzpflicht zu klären. Der Gedanke, daß der Ausgleich zwischen Freiheit und Sicherheit es erfordert, erst ab einem bestimmten Intensitätsgrad der Kommunikation zwischen zwei Grundrechtssphären, also erst sobald eine bestimmte Übergriffsschwelle überstiegen wird, einen staatlichen Schutzauftrag zu konstatieren, ist keineswegs neu. Wilhelm von Humboldt hat ihn bereits Ende des 18. Jahrhunderts sehr klar formuliert, wenn er in seinen „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen" die Frage stellte, „ . . . ob jede Handlung eingeschränkt werden darf, bei welcher 242
Siehe unten Teil 5 C. Zur Notwendigkeit eines rechtskreisüberschreitenden Übergriffs siehe Heinrich, Formale Freiheit, S. 111 f. 244 Dietlein, Schutzpflichten, S. 105. 245 A.A. Brüning/Helios, Jura 2001, 155 (158), die in der Fixierung einer Übergriffsschwelle eine „Verdopplung des Problems" und die „heimliche Lösung" eines Konfliktes sehen, dessen Aufarbeitung erst in der Interessenabwägung auf der Rechtsfolgenseite stattzufinden habe. 246 Einen abweichenden Ansatz verfolgt Dietlein, Schutzpflichten, S. 109 ff., der unter dem Punkt des schutzpflichtenaktivierenden Gefahrenniveaus zwischen Exekutive und Legislative differenziert. 243
C. Die Übergriffsschwelle
223
nur die Möglichkeit einer solchen Folge [d.i.: der Gefährdung der Sicherheit] vorauszusehen ist, oder nur solche, mit welchen dieselbe Folge notwendig verbunden ist. In dem ersteren Fall geriete die Freiheit, in dem letzteren die Sicherheit in Gefahr zu leiden. Es ist daher freilich soviel ersichtlich, daß ein Mittelweg getroffen werden m u ß . " 2 4 7 Humboldt bemüht sich im folgenden um die Benennung detaillierter Kriterien zur Bestimmung einer die staatliche Handlungspflicht auslösenden Eingriffs- bzw. Gefahrenschwelle. Der Staat solle sich nur der Handlungen widmen, welche „die Rechte anderer kränken, d.i. ohne oder gegen die Einwilligung derselben ihre Freiheit oder ihren Besitz schmälern, oder von denen dies wahrscheinlich zu besorgen i s t " . 2 4 8 Bei der Bewertung der Wahrscheinlichkeit sei auf „die Größe des zu besorgenden Schadens und die Wichtigkeit der durch ein Prohibitivgesetz entstehenden Freiheitseinschränkung zugleich Rücksicht" zu nehmen. Humboldt stößt damit zur Kernfrage des schutzpflichtenaktivierenden Gefahrenniveaus vor, der Frage nach dem Grad der erforderlichen Wahrscheinlichkeit einer Freiheitsstörung. Bevor hierauf einzugehen ist, ist allerdings eine terminologische und zugleich inhaltliche Klärung des Verhältnisses zwischen Opfer und Störer, das die Grundlage des zu ermittelnden Gefahren- und Wahrscheinlichkeitsniveaus bildet, in Erinnerung zu rufen. Bereits eingangs dieser Untersuchung wurde festgestellt, daß die Schutzpflicht nicht wie die klassische Abwehrfunktion Eingriffe des Staates, sondern Übergriffe dritter Privater in die Freiheitssphäre des Opfers abwehren will. Der Terminus des „Übergriffs" macht einerseits deutlich, daß Störer und Opfer Grundrechtsträger sind und die störende Handlung sowohl in ihrem Ursprung als auch in ihrem Ziel in einer grundrechtlich geschützten Freiheitssphäre verortet ist. Das Begriffspaar Eingriff und Übergriff unterstreicht andererseits die Parallelität dieser den Grundrechtsschutz auslösenden Handlungen. Die Bestimmung der schutzpflichtenrelevanten Gefahrenquellen hat gezeigt, daß die Auslegung des Übergriffs sich an der des Eingriffs zu orientieren hat.
I. Menschliches Tun und Unterlassen Aus der Abgrenzung der Gefahrenquellen und Schutzrichtungen der Schutzpflichten 249 ergibt sich bereits, daß nur menschliches Verhalten einen Übergriff darstellen kann. Es muß regelmäßig ein aktives Tun vorliegen. Ein menschliches Unterlassen kann nur in besonderen Konstellationen eine Schutzpflicht auslösen. Voraussetzung ist, daß im konkreten Fall eine in der 247 248 249
v. Humboldt, Wirksamkeit des Staates, S. 126. v. Humboldt, Wirksamkeit des Staates, S. 128. S.o. Teil 4 B.
224
Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
Verfassung angelegte Rechtspflicht des Grundrechtsträgers besteht, die Freiheitssphäre eines anderen Grundrechtsträgers aktiv zu schützen. Eine solche Pflicht besteht grundsätzlich nicht. Wenn die Grundrechte wegen der klaren Beschränkung des Art. 1 Abs. 3 GG auf die staatliche Gewalt keine unmittelbar bindende Pflicht Privater, Übergriffe in andere Grundrechtssphären zu unterlassen, begründen, so kann ihnen erst recht kein Rechtsbefehl zu aktiven Schutzmaßnahmen für die Freiheit Dritter entnommen werden. Eine private „Schutzhandlungspflicht" kann sich aus dem Grundgesetz kraft ausdrücklicher Anordnung ergeben. Eine solche Anordnung findet sich in Art. 14 Abs. 2 GG, der den Eigentümer auch an das Wohl der Allgemeinheit bindet. Nach - nicht unbestrittener - Ansicht wendet sich diese Bestimmung auch unmittelbar an den privaten Eigentümer, für den sie eine Grundpflicht der Verfassung konstituiert. 250 Aber auch nach dieser Ansicht ist die in ihr enthaltene Verpflichtung nicht unmittelbar gegenüber dem Grundrechtsträger erzwingbar, sie ist eine lex imperfecta. 251 Aus dem Blickwinkel der staatlichen Schutzpflichten kann sie aber das ansonsten unbeachtliche Untätigbleiben des Grundrechtsträgers zu einem schutzpflichtenauslösenden Grundrechtsübergriff qualifizieren. Eine Pflicht zu aktivem Tun zugunsten von Müttern läßt sich aus Art. 6 Abs. 4 GG ableiten, der im Gegensatz zu Art. 6 Abs. 1 GG - nicht nur den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung, sondern „den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft" garantiert. Aus dieser Bestimmung kann sich für den Gesetzgeber prinzipiell auch die Pflicht ergeben, positive Hilfeleistungspflichten zu sta252
tuieren. Ferner können die Freiheitsrechte des Grundgesetzes zwei Personen dergestalt einander zuordnen, daß die eine notwendigerweise für die andere Verantwortung zu übernehmen hat. Eine solche Zuordnung verbunden mit einer expliziten Verpflichtung enthält das Grundgesetz in Art. 6 GG in bezug auf die Familie. Die Pflege und Erziehung ihrer Kinder wird den Eltern in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG als Pflicht auferlegt, auch wenn die Durchsetzung dieser Pflicht nur nach Maßgabe des einfachen Rechts möglich ist. Da diese Elternpflicht bereits während der Schwangerschaft besteht, 253 qualifiziert sie das Unterlassen lebens- oder gesundheitserhaltender Maßnahmen 250
Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 14 Rz. 69; Götz, VVDStRL Bd. 41 (1983), S. 7 (30 ff.); Wieland, in: Dreier, GG I, Art. 14 Rz. 82; Kimminich, in: Bonner Kommentar, Art. 14 Rz. 154 (Stand: August 1992). A.A. Papier, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 14 Rz. 299 (1994); Wendt, Eigentum, S. 295. 251 Götz, VVDStRL Bd. 41 (1983), S. 7 (32); Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 14 Rz. 69. 252 Vgl. BVerfGE 88, 203 (253), wo der Schutz gegenüber Einwirkungen aus dem wirtschaftlichen Umfeld auf die Schwangere auch die Verweigerung „geschuldete[r] Hilfe" umfassen soll; Art. 6 Abs. 4 GG wird ausdrücklich allerdings erst an einer späteren Stelle der Entscheidung (a.a.O., S. 258) in Bezug genommen.
C. Die Übergriffsschwelle
225
zugunsten des Ungeborenen als Übergriff im Sinne der Schutzpflichtenlehre. 2 5 4
I I . Grundrechtsbeeinträchtigung und Grundrechtsgefährdung Die erste Frage, die sich im Zusammenhang mit der Bestimmung einer schutzpflichtenaktivierenden Übergriffsschwelle stellt, ist, ob nur eine eingetretene Grundrechtsbeeinträchtigung (in polizeirechtlicher Terminologie: eine Störung) oder schon die bloße Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts einen Übergriff i.S.d. der Schutzpflichtenlehre darstellt.
1. Grundrechtsgefährdung und Ab wehr recht Sucht man zur Beantwortung dieser Frage bei der zur Abwehrfunktion der Freiheitsrechte entwickelten Eingriffsdogmatik eine Wegweisung, so steht man in der Rechtsprechung zur Relevanz von Grundrechtsgefährdungen einem eher diffusen Bild gegenüber. 255 Im allgemeinen ordnet das Bundesverfassungsgericht Grundrechtsgefährdungen noch dem Vorfeld verfassungsrechtlich relevanter Grundrechtsbeeinträchtigungen zu, anerkennt jedoch, daß sie „unter besonderen Voraussetzungen Grundrechtsverletzungen gleichzuachten" sind. 2 5 6 Begründet wird dies mit der den Grundrechten zu entnehmenden objektiven Wertentscheidung, die den Staat auch dazu anhalten könne, die Gefahr von Grundrechtsverletzungen einzudämmen. 2 5 7 Die besonderen Voraussetzungen, welche aus einer Grundrechtsgefährdung - in der eingriffsdogmatischen Bewertung - eine Grundrechtsbeeinträchtigung machen, bleiben im Dunkeln. Das Bundesverfassungsgericht 253 Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 6 Rz. 155. Selbst wenn man die Pflicht aus Art. 6 Abs. 2 GG - anders als das Lebensrecht des Art. 2 Abs. 2 GG und die Menschenwürde - noch nicht auf den Zeitraum vor der Geburt erstrekken wollte, änderte dies nichts an der in Art. 6 GG aufgenommenen natürlichen Zuordnung von Mutter und nasciturus; sie begründet die verfassungsrechtlich vorausgesetzte Handlungspflicht der Mutter zum Erhalt des Embryos. 254 Zu kurz greift daher die Kritik Denningers, FS Mahrenholz, S. 561 (569), der in dem Verbot des Schwangerschaftsabbruchs eine „Gebährpflicht" sieht, die „den Rahmen einer bloßen Schädigungs-Unterlassungspflicht" s.E. „sprengt". Abgesehen von dem Handlungscharakter einer Abtreibung ignoriert diese Kritik die natürliche und in Art. 6 GG aufgegriffene Verknüpfung zwischen Mutter und (ungeborenem) Kind. 255 So die Bewertung von Sachs, in: Stem, Staatsrecht III/2, S. 211. 256 BVerfGE 51, 324 (346 f.); ähnlich: BVerfGE 52, 214 (220); 66, 39 (58); 77, 170 (220); vgl. auch Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 127 f. 257 Vgl. BVerfGE 49, 89 (141 f.); 53, 30 (57); 56, 54 (78). Kritisch zu dieser Begründung: Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 134. 15 Krings
226
Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
stellt zum einen auf den Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts a b . 2 5 8 Zum anderen berücksichtigt es die Schwere der betroffenen Schutzgüter. 2 5 9 Ein genereller Einbezug der „Freiheit von Risiken" in den Schutzbereich der einzelnen Freiheitsrechte ist nicht berechtigt. 260 Die Freiheitsrechte garantieren tatbestandlich die Abwesenheit von Beeinträchtigungen ihrer Schutzgüter. Inwieweit Gefährdungen dieser Güter einen Anspruch auslösen, ist eine Frage der Schutzwirkung des jeweiligen Rechtssatzes. Die Bestimmung der Schutzwirkung kann nicht umgangen werden, indem man die Schutzgüter der Glaubensfreiheit, der Meinungsfreiheit, der Versammlungsfreiheit etc. kurzerhand mit der Freiheit vor „Glaubensfreiheitsgefährdungen", vor „Meinungsfreiheitsgefährdungen" oder vor „Versammlungsfreiheitsgefährdungen" anreichert. Dort wo der Verfassungsgeber die Notwendigkeit gesehen hat, schon Gefährdungen tradierter Freiheitsgüter in den Tatbestand subjektiver Rechte hineinzuziehen, hat er dies ausdrücklich angeordnet, wie etwa in Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 3 S. 1 WRV, der den einzelnen davor bewahrt, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren, um ihn auf diese Weise vor der Gefahr einer Benachteiligung aus Gründen der Religionszugehörigkeit zu bewahren. 261 Auch die dogmatische Weiterentwicklung des Grundrechtseingriffs und die Aufgabe des Finalitätskriteriums als notwendige Voraussetzung der Bejahung eines Eingriffs vermögen das Problem der Relevanz von Grundrechtsgefährdungen nicht zu lösen. Daß auch nicht-finale Grundrechtsbeeinträchtigungen einen rechtfertigungsbedürftigen Grundrechtseingriff darstellen können, zwingt nicht zu der Annahme, daß schon die bloße Gefährdung als Eingriff gelten kann. 2 6 2 Die Finalität beschreibt die Zielrichtung der staatlichen Maßnahme, die Gefährdung den (momentanen) Status ihrer tatsächlichen Einwirkung auf das Schutzgut. So sind Maßnahmen, die final auf eine Grundrechtseinwirkung ausgerichtet sind, jedoch im Gefährdungsstadium verharren, ebenso denkbar wie nicht-finale Grundrechtseingriffe, die über eine Gefährdung hinausgehen. 258
BVerfGE 77, 170 (225) spricht vom (fehlenden) „Steigerungsgrad der Ge-
fahr".
259
BVerfGE 66, 39 (59) will erst eine Grundrechtsbeeinträchtigung annehmen, wenn „ernsthaft zu befürchten ist", daß der Grundrechtsträger „sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen würde". 260 Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2, S. 212, entgegen Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 13, der im Ergebnis die grundrechtlich begründete Pflicht zur Risikovorsorge indes wieder (zutreffend) auf Fälle einer Gefahr im polizeirechtlichen Sinne einschränkt, a.a.O., S. 127 ff. 261 Vgl. Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2, S. 213, der weitere Beispiele verselbständigten Schutzes vor Gefährdungen ausmacht (a.a.O., S. 213 f.). 262 Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2, S. 212 f.
C. Die Übergriffsschwelle
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2. Grundrechtsgefährdung und Schutzpflicht Daß die Behandlung von Grundrechtsgefährdungen auf der Abwehrseite der Grundrechte keine klaren Vorgaben für die Beurteilung von Grundrechtsgefährdungen im Rahmen der Schutzpflichtenlehre machen kann, verwundert nicht weiter, wenn man in Rechnung stellt, daß das Thema der Grundrechtsgefährdungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zunächst im Kontext der grundrechtlichen Schutzpflichten auftauchte 263 und erst anschließend in abwehrrechtlichen Konstellationen aufgegriffen wurde. 2 6 4 Aber auch unabhängig von der Fassung des Eingriffsbegriffs lassen sich aus der Abwehrrichtung der Grundrechte Konsequenzen für die Bestimmung der Übergriffsschwelle ziehen. Die Grundrechtsbindung aus Art. 1 Abs. 3 GG will sicherstellen, daß ein staatliches Organ Grundrechtsverletzungen von vornherein unterläßt. Nicht die Beseitigung eingetretener Störungen der Freiheitssphäre, sondern die Vermeidung ihrer Beeinträchtigung ist die ratio des Abwehrrechts. Um dieses Ziel zu erreichen, hat der Verantwortliche die grundrechtlichen Auswirkungen der geplanten Maßnahme bereits vor ihrer Durchführung zu prüfen und zu entscheiden, ob er sie gegebenenfalls modifizieren bzw. auf sie verzichten muß. Den Staat trifft insoweit nicht nur eine objektive Prüfungs- und Vermeidungspflicht; dem grundrechtlichen Abwehrrecht steht subjektiv-rechtlich ein Unterlassungsanspruch als negatorisches Hilfsrecht zur Seite, dessen Anspruchsziel die Verhinderung eines noch nicht eingetretenen Beeinträchtigungserfolges i s t . 2 6 5 Ebenso ist die primäre Zielrichtung der Schutzpflicht, daß sich die nachgewiesenen Ursachenzusammenhänge gar nicht erst realisieren, daß folglich künftige Verletzungen verhindert werden. 2 6 6 Dieses Vermeidungsziel kann indes anders als auf der abwehrrechtlichen Seite nicht durch eine präventive Selbstkontrolle des potentiellen Störers erreicht werden. Von einem Privaten kann die grundrechtliche Prüfung im Vorfeld seines Handelns schon deshalb nicht verlangt werden, weil er nicht unmittelbar an die Grundrechte gebunden ist. Zwar verpflichten gesetzliche Bestimmungen wie etwa Strafgesetze, welche ihrerseits in Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten ergehen, den Bürger unmittelbar. Diese Bindung ist aber zumindest in ihrer tatsächlichen Wirksamkeit nicht mit der Bindung der staatlichen Gewalt an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) und allgemein an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) vergleichbar. Überdies gibt die gesetzlich mediatisierte Schutzpflicht keine Antwort auf drohende Grundrechtsverletzungen, soweit 263 264 265 266
15*
BVerfGE 49, 89 (142). BVerfGE 51, 324 (346 f.). Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2, S. 211. Jaeckel, Schutzpflichten, S. 86.
228
Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
es einer gesetzlichen Umsetzung der Schutzpflicht nicht bedarf oder solange es - bei neuartigen Gefährdungen - an einer solchen fehlt. Begnügte man sich bei der Schutzpflichtenfunktion daher mit einer nachträglichen Reaktion des Staates auf bereits eingetretene Störungen, wäre ihr Schutz wenig effektiv. Ferner würde eine solche Beschränkung der Parallele zwischen Eingriff und-Übergriff nicht ausreichend Rechnung tragen; wenn der nicht gerechtfertigte und damit verfassungswidrige Eingriff des Staates möglichst vermieden werden soll, so muß dies prinzipiell auch für den privaten Übergriff gelten. In der Konsequenz kann nicht ausgeschlossen werden, daß auch Gefährdungen grundrechtlicher Schutzgüter im Vorfeld einer Störung bereits die Übergriffsschwelle erreichen und damit grundrechtliche Schutzpflichten auslösen. 267
I I I . Gefahr und Risiko Die Folgefrage, welche sich stellt, sofern man Gefährdungen im Vorfeld tatsächlicher Grundrechtsbeeinträchtigungen als Übergriffe i.S.d. Schutzpflichtendogmatik anerkennt, ist diejenige nach der Bestimmung des schutzpflichtenaktivierenden Gefährdungsniveaus. Reicht also jedes Risiko einer Verletzung von Schutzgütern oder verlangt man eine qualifizierte Möglichkeit des Verletzungseintritts? Wenn die Risikovorsorge bzw. die Bekämpfung von Risiken für die grundrechtlichen Schutzgüter als möglicher Anwendungsfall grundrechtlicher Schutzpflichten angesehen w i r d , 2 6 8 so ist dies nicht zwangsläufig als eine Absage an den Gefahrenbegriff als Aktivierungsvoraussetzung der Schutzpflichten zu verstehen. Gefahr und Risiko bilden keine sich ausschließenden Gegenbegriffe. Die Gefahr bildet vielmehr einen Ausschnitt des umfassenderen Risikobegriffes. Nur bestimmte Risiken konkretisieren sich zu einer Gefahr; 2 6 9 Gefahren sind Risiken ab einer bestimmten Größe. 2 7 0 Einigkeit besteht darin, daß die bloße Möglichkeit einer nicht ausreicht, um eine Schutzpflicht zu aktivieren. 271 Wenn ein Minimalstandard an Sicherheit bzw. ein Existenzminimum leistet angesehen w i r d , 2 7 2 so könnte dies auf das Erfordernis
Schädigung zum Teil nur als gewähreines beson-
267 Im Ergebnis ebenso: Baumann, JZ 1982, 749 (754); Dietlein, Schutzpflichten, S. 105 ff.; Hermes, Schutz, S. 236; Kloepfer, DVB1. 1988, 305 (311); Meyer-Tasch, ZRP 1979, 59 (60 f.); Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 138. 268 Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 133. 269 Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, Rz. E 3. 270 Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 149. 271 Vgl. Dietlein, Schutzpflichten, S. 107; Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/l, S. 740.
C. Die Übergriffsschwelle
229
ders hohen Grades der Wahrscheinlichkeit einer Störung hindeuten. Solche Begrenzungen, die sich auf das resultierende Schutzniveau beziehen, haben aber erst bei der Abwägung der Grundrechtspositionen auf der Rechtsfolgenseite ihren Platz und markieren dort die äußerste Grenze eines Zurückweichens der Schutzinteressen vor den Abwehrrechten der (potentiellen) Störer und dem Gestaltungsspielraum der Staatsgewalten. Die überwiegende Literatur sucht die Differenzierung zwischen erlaubtem und unerlaubtem Risiko anhand bzw. auf der Basis einer analogen Anwendung des polizeirechtlichen Gefahrenbegriffs vorzunehmen. 273 Der Gefahrenbegriff, wie er im Polizei- und allgemeinen Ordnungsrecht entwickelt und für den Bereich des technischen Sicherheitsrechts verfeinert wurde, muß den Ausgangspunkt für die Bestimmung der Anforderungen an das verfassungsrechtliche Kriterium des Übergriffs bilden. 2 7 4 Unterhalb der polizeirechtlichen Gefahrenschwelle ist eine staatliche Risikovorsorge aufgrund der grundrechtlichen Schutzpflichten nicht geboten. 275 Diese Beschränkung des schutzpflichtenrelevanten Risikos im Rückgriff auf Kategorien des Polizeirechts ist teilweise auf Widerspruch gestoßen. 276 Kritisiert wird, daß die grundrechtlichen Schutzpflichten einem einfachrechtlichen Maßstab unterworfen würden, welcher der Autonomie und dem Vorrang des Verfassungsrechts nicht gerecht wird, und das Verfassungsrecht zu einer überflüssigen Wiederholung des Gesetzesrechts degradiert. 277 Ein weitgehender Gleichklang der Grundrechtswirkungen mit dem Gesetzesrecht ist aber nicht prinzipiell problematisch, sondern aus verfassungsrechtlicher Sicht erwünscht und notwendig. Dies gilt insbesondere für das staatliche Gefahrenabwehrrecht. Das Polizei- und Ordnungsrechts einschließlich der spezialisierten Rechtssätze des technischen Sicherheits- und Umweltrechts verwirklichen die grundrechtliche Schutzpflicht. Der Staat setzt mit diesen gesetzlichen Instrumenten seine grundrechtliche Schutzverpflichtung in Verpflichtungen für die privaten Gefahrverursacher um. Der grundrechtliche Gesetzesvorbehalt zwingt zu einer solchen Transformation grundrechtlicher Vorgaben in polizei- und ordnungsrechtliche Verhaltens272 Vgl. Kloepfer, DVB1. 1988, 305 (311); Lübbe-Woljf, Eingriffsabwehrrechte, S. 180; Breuer, FG BVerwG, S. 102. 273 Classen, Jura 1997, 542 (546); Erichsen, Jura 1997, 85 (87); Hermes, Schutz, S. 236; Kloepfer, DVB1. 1988, 305 (311); Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 143. 274 Hermes, Schutz, S. 236. 275 Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 281; vgl. auch Hermes, Schutz, S. 237. 276 Siehe insbesondere Benda, ET 1981, 868 (868 f.); Dietlein, Schutzpflichten, S. 107; Brüning/Helios, Jura 2001, 155 (158). Für eine Schutzpflicht unabhängig von der konkreten Gefährlichkeit des privaten Tuns tritt auch die - vielfach kritisierte - Entscheidung des VGH Kassel, JZ 1990, 87 (89), ein. 277 Dietlein, Schutzpflichten, S. 108.
230
Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
pflichten und Eingriffsbefugnisse. Zwar kann das Gesetzesrecht strengere Maßstäbe zur Aktivierung seiner Pflichten und Befugnisse vorsehen, würde es hingegen mit seinem Gefahrenbegriff eine höhere Aktivierungsschwelle anlegen als die grundrechtlichen Schutzpflichten, so wäre eine Umsetzungslücke in bezug auf das schutzpflichtenaktivierende Gefährdungsniveau zu konstatieren. Diese Erwägung beweist nicht die Maßgeblichkeit des Gefahrbegriffes für die Schutzpflichten, sie zeigt aber, daß eine Parallelität grundrechtlicher und polizeirechtlicher Maßstäbe auch Ausdruck einer angemessenen Umsetzung verfassungsrechtlicher Staatspflichten in gesetzliche Bürgerpflichten sein kann. Angesichts der historischen Priorität des Polizeirechts gegenüber den Grundrechten des Grundgesetzes im allgemeinen und der Schutzpflichtenlehre im besonderen haben wir es hier mit einem Fall der verfassungsrechtlichen Rationalisierung einfachrechtlicher Entwicklungen ex post, im Sinne einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Rechtfertigung und Absicherung zu tun. Die Deutung des „Grundrechtsübergriffs" vom Begriff der Gefahr her sorgt bei allen Subsumtionsschwierigkeiten im Einzelfall für klarere Konturen als ein wertungsgebundenes Korrektiv wie das der Sozialadäquanz von Gefährdungslagen 278 oder die Postulierung einer allgemeinen Bagatellgrenze. Das im einfachen Gesetzesrecht gefundene Regulativ zwischen Freiheit und Schutz kann zwar den grundrechtlichen Schutzstandard nicht determinieren. Wenn sich der Begriff der Gefahr in der deutschen Rechtsstaatstradition aber als Zuordnungs- und Ausgleichskriterium zwischen (staatlich unbeeinflußter) Freiheit und staatlichem Schutzhandeln fest etabliert und bewährt hat, 2 7 9 kann das Verfassungsrecht hieran nicht ohne weiteres vorbeigehen, wenn es seinerseits einen Ausgleich zwischen den nämlichen Interessen sucht. Es bedürfte besonderer Argumente, um die Übergriffsschwelle unterhalb der dem Polizeirecht entlehnten Gefahrenschwelle anzusiedeln. Diese können allenfalls in objektiv-rechtlichen Grundrechtsfunktionen zu finden sein, 2 8 0 da diese Funktionen im Verwaltungsrecht und insbesondere im Polizei- und Ordnungsrecht keine Entsprechung finden. Problematisch wäre bei solchermaßen begründeten Risikovorsorgepflichten indes nicht nur, ob und inwieweit sich daraus subjektive Rechte ableiten lassen. Sie bedürften ferner für jedes Grundrecht einer besonderen Begründung, die darlegen müßte, inwieweit eine in ihm liegende Weitentscheidung auch bereits Risikoschutz anordnet. 278 Mit diesem Kriterium will Schmidt-Aßmann, AöR 106 (1981), S. 205 (214), die schutzpflichtenrelevanten von den irrelevanten Risiken scheiden. 279 Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 140 f. 280 Vgl. Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2, S. 214.
C. Die Übergriffsschwelle
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Für die grundrechtlichen Schutzpflichten gilt daher regelmäßig, daß die Übergriffsschwelle erst überschritten ist, sofern bereits eine Beeinträchtigung (Störung) eines grundrechtlichen Freiheitsgutes eingetreten ist oder bei einem Sachverhalt die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, daß bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens in absehbarer Zeit ein Schaden für ein solches Gut eintreten w i r d . 2 8 1 Wenn das zweite Fristenregelungsurteil des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf die Gefahr des Schwangerschaftsabbruchs demgegenüber offenbar auch mittelbare Einwirkungen auf den nasciturus aus dem familiären und sozialen Umfeld als schutzpflichtenaktivierend ansieht, 282 so ist dies mit der besonderen grundrechtlichen Verantwortung des Staates zum Schutz der Familie im allgemeinen und der Schwangeren im besonderen (Art. 6 Abs. 1 u. 4 GG), welche die Schutzgebotsfunktion des Art. 2 Abs. 2 GG ergänzt, zu erklären. 283 Parallel zu den Weitungen des Polizeirechts 284 ist bei der Bestimmung des „Hinreichens" der Schadenswahrscheinlichkeit eine relationale Betrachtung der Elemente der Eintrittswahrscheinlichkeit und des Schadensausmaßes vorzunehmen. Der dem Fall innewohnende Gefährdungsgrad bestimmt sich danach aus dem Produkt von Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß. 285 Je größer der zu besorgende Schaden für das grundrechtlich geschützte Gut ist, desto geringer muß der Grad der Wahrscheinlichkeit sein, um eine schutzpflichtenrelevante Gefahr und mithin einen Grundrechtsübergriff anzunehmen. Von der Bestimmung des Wahrscheinlichkeitsgrades der Realisierung erkannter Gefahrenursachen sind die Fälle eines lediglich vermuteten Kausalzusammenhangs zwischen einer Ursache und einer (möglichen) Störung zu unterscheiden. Die bloße Vermutung eines kausalen Grundrechtsübergriffs ist keinesfalls ausreichend, um eine grundrechtliche Schutzpflicht zu aktivieren. Die mangelnde Gewißheit der Kausalität ist auch nicht durch die Schwere des möglicherweise betroffenen Schutzgutes ausgleichbar. 286 281
Vgl. zum polizeilichen Gefahrenbegriff die Begriffsbestimmug in § 2 Nr. la niedersächs. GefahrenabwehrG, § 2 Nr. 3 a brem. PolizeiG, § 3 Nr. 3 a sächs.-anhalt. SOG, die Definition in BVerwGE 45, 51 (57) sowie Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 220. 282 BVerfGE 88, 203 (253). 283 Zur Verknüpfung der Schutzpflicht aus Art. 1, 2 Abs. 2 GG mit dem staatlichen Schutzauftrag aus Art. 6 Abs. 1 u. 4 GG: BVerfGE 88, 203 (258); vgl. auch Jeand'Heur, RdJB 1994, 91 (93); siehe auch oben Teil 4 C.I. 284 Vgl. Friauf, in: Schmidt-Aßmann, Bes. VerwR, 2. Abschn. Rz. 51 = S. 133. 285 Hermes, Schutz, S. 236; Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 85; ders., WiVerw 1986, 179 (187); Sachs, in: Stem, Staatsrecht III/1, S. 740; i. Erg. ebenso: Diedein, Schutzpflichten, S. 107. Mißverständlich ist es indes, davon zu sprechen, die „Gefahr" bestimme sich aus diesem Produkt; sie ist vielmehr der Prüfungsmaßstab, vor dem das Produkt bestehen muß.
232
Teil 4: Tatbestand und Reichweite grundrechtlicher Schutzpflichten
IV.
Objektives Individualrisiko
Bei der Ermittlung des potentiellen Schadensniveaus im Kontext der Prüfung des schutzpflichtenaktivierenden Gefahrenniveaus stellen „Kollektivrisiken"287 ein besonderes Problem dar. Mit diesem von Murswiek in die Schutzpflichtendiskussion eingeführten Begriffs sind Risiken gemeint, von denen eine Vielzahl von Grundrechtsträgern betroffen ist. Das Niveau der Eintrittswahrscheinlichkeit wird in diesen Fällen nicht dadurch gemindert, daß unklar oder offen bleibt, welche konkrete Person aus einer Gruppe potentieller Opfer betroffen sein wird. Andererseits ist keine Summierung der Eintrittswahrscheinlichkeit statthaft: Ist für jeden einzelnen die Wahrscheinlichkeit gering, kann die Vielzahl der potentiell Betroffenen das grundrechtlich relevante Risiko nicht heraufsetzen, so daß es das schutzpflichtenaktivierende Gefahrenniveau überschreitet. Die Ablehnung der Summierung von Individualrisiken zu einem erhöhten Kollektivrisiko erscheint deswegen gerechtfertigt, weil bei den grundrechtlichen Schutzpflichten - wie bei den Grundrechten an sich - der Individualschutz im Mittelpunkt steht. Derjenige Grundrechtsträger, der sich (z.B. als einsamer Hallig- oder Almbewohner) in einer singulären oder atypischen, gefährlichen Situation befindet, hat staatlichen Schutz ebenso verdient wie derjenige, der seine Gefährdungslage mit einer Vielzahl von Schicksalsgenossen teilt. Geht es um die Feststellung der objektiven staatlichen Schutzpflicht, so ist bei der Ermittlung des Risikos mithin nicht auf ein summiertes „Kollektivrisiko", aber auch nicht auf ein „subjektives Individualrisiko", also die Wahrscheinlichkeit, daß ein bestimmter Mensch geschädigt wird, abzustellen, sondern auf ein „objektives Individualrisiko", also auf die Schadensgefahr für irgendeinen Menschen. 288 Macht hingegen ein einzelner seinen Schutzanspruch geltend, so ist sein Anspruch nur begründet, wenn sein subjektives Risiko das schutzpflichtenaktivierende Gefahrenniveau überschrei-
286
Hermes, Schutz, S. 235. Zu dem Begriff: Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 151 ff.; ders., WiVerw 1986, 179 (188). 288 Vgl. zu diesen Begriffen wiederum Murswiek, WiVerw 1986, 179 (188). 289 Abweichend Murswiek, WiVerw 1986, 179 (188 f.), der die Relevanz der Kollektivrisiken grundsätzlich bejaht, jedoch eine Schutzabstufung gegenüber dem subjektiven Individualrisiko annimmt. 287
C. Die Übergriffsschwelle
233
V. Rechtswidrigkeit Wenn das Bundesverfassungsgericht dem Staat die Aufgabe zuweist, die grundrechtlichen Schutzgüter vor „rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren", 290 so erweist sich das damit angesprochene Kriterium der Rechtswidrigkeit als wenig hilfreich. Die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, zum Schutz grundrechtlicher Freiheitsgüter tätig zu werden, darf schon in Ansehung der Normenhierarchie nicht an die Rechtswidrigkeit privater Handlungen geknüpft werden. Die grundrechtliche Pflicht mag umgekehrt gerade dazu führen, daß ein bestimmtes privates Handeln mit dem Verdikt der Rechtswidrigkeit zu versehen i s t ; 2 9 1 „Rechtswidrigkeit" kann allenfalls die Rechtsfolge der Schutzpflicht, nicht eines ihrer Tatbestandsmerkmale sein.
290
BVerfGE 39, 1 (42). Ebenso: BVerfGE 46, 160 (164); 49, 24 (53); 53, 30 (57); 56, 54 (73). 291 Hermes, Schutz, S. 226 f.; Dietlein, Schutzpflichten, S. 106; Ruffert, Vorrang, S. 196; vgl. auch Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 107.
Teil 5
Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten Auf der Rechtsfolgenseite der Schutzpflichten ist zunächst die Begründung ihres durchgängigen Anspruchscharakters darzulegen. 1 Ferner läßt sich der Rechtsfolgenseite die Bestimmung der Adressaten der grundrechtlichen Schutzpflicht zuordnen. 2 Die pauschale Inpflichtnahme des Staates soll hier horizontal nach den Staatsgewalten, aber auch vertikal nach den Ebenen des Bundesstaates aufgelöst werden, was eine Reihe von Problemen bei der Handhabung der Schutzpflichten zu Tage fördert. Schließlich sind die Schutzpflichten inhaltlich nach Anspruchsqualität, Anspruchsziel, Schutzinstrumentarien, -Strategien und -maß sowie im Hinblick auf Kollisionen v.a. mit der grundrechtlichen Abwehrfunktion zu konkretisieren. 3
A. Das subjektive Recht auf staatlichen Schutz Die Sackgasse, in welche sich das Bundesverfassungsgericht mit der Deduktion der Schutzpflicht aus der objektiven Wertordnung begeben hat, wird deutlich im Zusammenhang der Subjektivierung der Schutzpflichten. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht ließ schon früh erkennen, daß sie im Ergebnis zu einem individuellen Anspruch auf Schutz gelangen will. In diese Richtung weist schon das anfängliche Hinwegsehen über das Problem der individuellen Beschwer im Rahmen von Verfassungsbeschwerden. Inzwischen ist die Rechtsprechung in eine apodiktische Annahme der prozessualen Zulässigkeit gemündet. Auch in der Literatur wird eingestanden, daß die (Re-)Subjektivierung der Schutzpflichten noch nicht überzeugend begründet worden ist und „der dogmatischen Klärung" nach wie vor „harrt" 4 .
1 2 3 4
Sogleich unten Teil 5 A. Siehe unten Teil 5 B. Teil 5 C. Ruffert, Vorrang, S. 237; siehe auch a.a.O., S. 240.
A. Das subjektive Recht auf staatlichen Schutz
235
I. Die Identität von Schutzpflichten und Schutzansprüchen Das Dilemma einer Begründung subjektiver Schutzrechte stellt sich allerdings nicht, wenn man die grundrechtlichen Schutzpflichten gar nicht erst objektiv herleitet, sondern sogleich als eine subjektive Dimension der Grundrechte versteht. 5 So ist mit der hier vertretenen Herleitung der grundrechtlichen Schutzpflichten aus dem Wortlaut der Freiheitsrechte und der Mehrdimensionalität des grundrechtlichen Freiheitsbegriffs die Frage nach dem subjektiven Recht von vornherein entschieden. Schutzpflichten- und Eingriffsabwehrwirkung folgen gleichermaßen als subjektive Ansprüche aus den Grundrechten des Grundgesetzes; in ihrem subjektiven Charakter weisen sie keine prinzipiellen Unterschiede zueinander auf. Statt von Abwehrrecht und Schutzpflicht kann daher ebenso von grundrechtlichen Abwehransprüchen und Schutzansprüchen bzw. Abwehr- und Schutzrechten gesprochen werden. 6 Der Umweg von an sich subjektiven Grundrechtsnormen zu einer aus der grundrechtlichen Wertordnung abgeleiteten objektiven Grundrechtsfunktion und schließlich zurück zu einer Versubjektivierung dieser Grundrechtsfunktion wird vermieden. Daß der subjektiven Herleitung der Schutzpflichten der Vorzug vor einer nachträglichen Subjektivierung zunächst objektiv konstruierter Gebote gebührt, unterstreicht die neuere Strömung in der Literatur, die als entscheidendes Kriterium für die Anerkennung eines subjektiven Rechts auf Schutz die individuelle Schutzzielrichtung der grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates erachtet. 7 Ihr Verdienst liegt darin, die subjektive Zielrichtung der Grundrechte auch im Kontext der Schutzpflichtendiskussion offengelegt zu haben. Der von ihr bemühten Schutznormlehre 8 bedarf es hier allerdings gar nicht, da es nicht um die Deduktion einer subjektiven Wirkung aus objektiven Rechtssätzen geht, sondern der zumindest primär subjektive Charakter der Grundrechte außer Frage steht. Die Schutznormlehre öffnet somit den Blick für das Wesentliche, die Existenz der Grundrechte um des Individuums willen und ihre daraus folgende Subjektivität. Hat man dies erkannt, kann man getrost auf sie als „Sehhilfe" verzichten. 5
Vgl. Höfling, Grundrechtsordnung, S. 56. Da der Terminus der Schutzpflicht in Literatur und Rechtsprechung jedoch anerkannt und allgemein gebräuchlich ist, wird er auch - um Mißverständnisse zu vermeiden - in dieser Darstellung beibehalten. „Schutzpflicht" und „Schutzrechte" bzw. „Schutzansprüche" sind nach der hier vertretenen Ansicht allerdings ohne weiteres austauschbare Begriffe, soweit es um die Rechtsposition des Individuums geht. 7 Stern, Staatsrecht III/l, S. 987; Bleckmann, Staatsrecht II, S. 284 f.; Dietlein, Schutzpflichten, S. 168 ff. 8 Vgl. hierzu nur BVerwGE 66, 307 (308 ff.); 72, 300 (306 ff.); Schmidt-Aßmann, DVB1. 1987, 216 (220). 6
236
Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
Die folgende Darstellung kann sich daher auf eine kurze Kritik dieser „Umwegbegründungen", die Beleuchtung eines alternativen Begründungsansatzes aus der Eingriffsabwehr heraus sowie auf die - bereits die Subjektivierung der Schutzpflichten voraussetzende - Frage einer grundrechtlichen Subjektivierung objektiven Gesetzesrechts beschränken.
I I . Anerkennung der Subjektivierung in Rechtsprechung und Literatur Das für die Schutzpflichtenjudikatur grundlegende erste Fristenregelungsurteil ließ die Frage nach der Grundrechtsträgerschaft des ungeborenen Kindes zwar ausdrücklich offen, 9 führte bei der Abwägung aber bereits das „Recht des Ungeborenen" ins Feld. 1 0 Auch die nachfolgenden Entscheidungen sind geprägt von objektiv-rechtlichen Konstruktionen. 11 Dennoch war die Verwendung dieser objektiven Konstruktionen von Beginn der Rechtsprechungsentwicklung an eng verbunden mit einer Subjektivierung der Schutzpflichten. Schon im Schleyer-Urteil deutete die unter dem Blickwinkel der Beschwerdebefugnis nicht in Frage gestellte Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde auf eine Anerkennung subjektiver, individualschützender Rechtswirkungen. 12 Diese Tendenz wurde bis zum Ende der achtziger Jahre mit der vollständigen Anerkennung der Rüge von Schutzpflichtverletzungen im Wege der Verfassungsbeschwerde 13 verfestigt. 14 Die überwiegende Ansicht in der Literatur läßt ein berechtigtes Unbehagen an der Beschränkung einer wesentlichen Funktion der an sich subjektiven Grundrechte auf die objektive Dimension erkennen. Sie geht daher 9
BVerfGE 39, 1 (41). BVerfGE 39, 1 (50). 11 So das Schleyer-Urteil, BVerfGE 46, 160 (164 f.), in dem lediglich die Pflichten des Staates thematisiert werden. Auch die Kalkar- und Mülheim-Kärlich-Beschlüsse messen den aus der Grundrechtsordnung herzuleitenden Schutzpflichten nur einen „objektivrechtlichen" Gehalt zu, BVerfGE 49, 89 (140); 53, 30 (57). 12 BVerfGE 46, 160 (163 f.). Ferner läßt sich die in dem Urteil auf S. 165 erfolgenden Abwägung zwischen einer Schutzpflicht „gegenüber dem einzelnen" und einer solchen „gegenüber der Gesamtheit aller Bürger" als Unterscheidung objektiver und subjektiver Gehalte der Schutzpflicht deuten, so Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 412. 13 Vgl. BVerfGE 77, 170 (214 f.); 79, 174 (201 f.). 14 Angesichts der grundlegenden Weichenstellung, die mit der Subjektivierung der Schutzpflicht verbunden ist, kann man die inzwischen durchgängig erfolgende Annahme der prinzipiellen Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden, die sich auf grundrechtliche Schutzpflichten berufen, auch nicht mehr als bloßen Ausdruck von Verfahrenseffizienz ansehen: Man müßte dem Gericht andernfalls unterstellen, das Kriterium der Beschwerdebefugnis in einem ganz wesentlichen Bereich der Verfassungsbeschwerde praktisch aufgegeben zu haben. 10
A. Das subjektive Recht auf staatlichen Schutz
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ebenfalls von einem subjektiven Recht auf Schutz auch gegenüber dem Gesetzgeber aus. 15 Zurückhaltung oder gar Ablehnung begegnet der Subjektivierung der Grundrechte nur selten. 16 Bedenken existieren insoweit in erster Linie aufgrund des Gestaltungsfreiraums des Gesetzgebers. Demgegenüber melden nur einzelne Stimmen unter Verweis auf die politische Verantwortung des Gesetzgebers Bedenken an. 1 7 Diesen Bedenken trägt die herrschende Meinung aber - in unterschiedlichem Maße - Rechnung, indem sie das nicht gerichtlich überprüfbare Ermessen der Staatsorgane betont und die Konkretisierung auf eine bestimmte Maßnahme im Regelfall ausschließt.18
I I I . Begründungsversuche einer Subjektivierung Diesem Bild einer fast einhelligen Annahme eines subjektiven, verfassungsrechtlichen Rechts auf Schutz stehen auffallende Defizite bei der Begründung dieser subjektiven Wirkung gegenüber. Daß subjektiven Rechten stets Pflichten entsprechen, aber nicht auch den objektiven Pflichten immer subjektive Rechte, bedarf als Gemeingut der allgemeinen Rechtslehre keiner näheren Erörterung. 19 Umso unerläßlicher erscheint es aber, den Schluß von der objektiven Pflicht zum subjektiven Recht auf dogmatisch festen Grund zu stellen.
1. Sozialstaatliche Begründung Teile des Schrifttums tendieren generell zur Subjektivierung objektivrechtlicher Grundrechtsgehalte 20 und argumentieren dabei nicht selten vom Ergebnis her, wenn etwa festgestellt wird, „in einer hochkomplexen Industriegesellschaft sind Grundrechte Teilhaberechte oder sie sind nicht". 2 1 15 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 410 ff.; Graßhoff, in: Klein, Duty to protect, S. 33 (51); Hesse, HdbVerfR, § 5 Rz. 52; Höfling, Grundrechtsordnung, S. 53 f.; Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 183 f.; Klein, NJW 1989, 1633 (1638 ff.); Schmidt-Aßmann, AöR Bd. 106 (1981), S. 205 (217); Robbers, Sicherheit, S. 186 ff.; Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1, S. 741 ff.; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 213 ff.; Stern, Staatsrecht, S. 934 ff. 16 So etwa Steinberg, NJW 1984, 457 (461); Schmidt/Müller, Umweltrecht, § 2 Rz. 9 (= S. 31); ferner die prinzipielle Kritik an der Subjektivierung objektiver Grundrechtsgehalte von H.H. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, S. 65, wonach die Grundrechte nicht zugleich „Ansprüche auf staatliche Aktion und auf deren Negation" sein können. 17 Schmidt/Müller, Umweltrecht, § 2 Rz. 9 (= S. 31). 18 Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 183. 19 Stern, Staatsrecht III/l, S. 979 m.w.N. (Fn. 413). 20 Vgl. hierzu ausführlich: Stern, Staatsrecht III/l, S. 980 ff.
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
Einen Ansatz zur Begründung dieses Ergebnisses sucht man z.T. in einer vom Sozialstaatsprinzip bestimmten Grundrechtsauslegung. 22 Die Annahme subjektiver, originärer Leistungsansprüche gegen den Staat wurde nicht zuletzt angestoßen durch das erste Numerus-Clausus-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das diese Frage lediglich aufgeworfen hatte. 23 Der Sozialstaat, dem die Rolle zugewiesen wird, die notwendigen Rahmenbedingungen für die Herstellung realer Freiheit zu gewährleisten, schließt somit eine Flanke, welche die negatorische Grundrechtsfunktion offen läßt. Ohne auf die Tragfähigkeit und die Struktur der sozialstaatlichen Begründung einer staatlichen Schutzaufgabe an dieser Stelle näher einzugehen, 24 ist ein Rekurs auf das Sozialstaatsprinzip ungeeignet zur Subjektivierung einer solchen Schutzaufgabe. Es ist selbst ein nur objektivrechtliches Prinzip und bedarf der Konkretisierung im Einzelfall. 25 Objektivrechtliche Handlungsgebote können sich nicht zu subjektiven Rechten verdichten. 26 Gerade umgekehrt bedient sich die Staatsrechtswissenschaft der Grundrechte, um aus objektiven Staatsprinzipien subjektive Rechte abzuleiten. 27 Die Verbindung aus einer objektiven Grundrechtsfunktion und einem objektiven Staatsprinzip kann für sich genommen hingegen kein subjektives Recht ergeben.
2. Wirkkraftverstärkung von Grundrechtsprinzipien Gangbarer scheint demgegenüber der namentlich von Alexy vertretene Begründungsweg, für den die Subjektivierung eine Wirkkraftverstärkung der Grundrechte bedeutet. Er behandelt die Schutzpflichtendimension der Grundrechte als ein Prinzip, welches verlange, „daß es relativ auf die tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten in möglichst hohem Maße realisiert wird". 2 8 Da die Zuerkennung subjektiver Rechte ein höheres Maß an Realisierung zur Folge habe als die Beschränkung auf nur objektive Gebote, lasse sich die Subjektivierung der Schutzpflichten mit dem Prinzipiencharakter der Grundrechte 29 begründen. Dieser Prinzipiencharakter vermag aber nicht nur die Subjektivierung der Schutzpflichten, sondern auch die 21 Willke, Grundrechtstheorie, S. 216; siehe auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 410 ff. u. 432 ff.; Roßnagel, Grundrechte und Kernkraftwerke, S. 51 ff.; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 207 ff.; Schwerdtfeger, NVwZ 1982, 5 (8). 22 Vgl. nur Breuer, FG BVerwG, S. 89 ff.; Hesse, EuGRZ 1978, 427 (429 f.); Kloepfer, Entstehenssicherung, passim; Riifner, FS Wannagat, S. 379. 23 BVerfGE 33, 303 (333). 24 Vgl. hierzu ausführlich unten Teil 6 C.I. 25 Breuer, FG BVerwG, S. 89 (94); Dietlein, Schutzpflichten, S. 161. 26 Scherzberg, DVB1. 1989, 1128 (1133). 27 Vgl. Robbers, Sicherheit, S. 193 ff. 28 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 414. 29 Hierzu: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 125 ff.
A. Das subjektive Recht auf staatlichen Schutz
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Schutzpflichten als solche zu begründen. Setzt man auf einer höheren Abstraktionsstufe die „Freiheit" als das entscheidende Rechtsprinzip der Freiheitsrechte an, so läßt sich fragen, welche Grundrechtsfunktionen zur Verwirklichung dieses Prinzips beitragen. Neben den Normen, die den Staat auf Distanz halten, sind dies sicher solche, welche die Individualfreiheit unter Indienstnahme des Staates gegen andere Private abschirmen. Die Schutzpflicht verwirklicht somit das Freiheitsprinzip der Grundrechte. Diese Schlußfolgerung erhärtet die oben 3 0 vorgenommene Wortauslegung der Grundrechte und unterstreicht die herausgehobene Bedeutung von Staatsabwehr und Schutzpflicht für die Freiheitssicherung gegenüber den übrigen Funktionen der Grundrechte. Die Prinzipientheorie scheint an dieser Stelle, bei der Begründung der Schutzpflicht als solcher, auch angebrachter. Nutzt man sie erst für die Subjektivierung der Schutzpflicht, so setzt sie das Prinzip des Schützens als Inhalt der Freiheitsrechte bereits voraus. Das Prinzip Freiheit hingegen leuchtet als Prinzip der Grundrechte unmittelbar ein und ergibt ein sicheres Fundament für die Deduktion einer Schutzpflicht samt eines dazugehörigen subjektiven Rechts. Dennoch vermag die Stipulierung objektiver Prinzipien, deren optimale Entfaltung wiederum auf eine Subjektivierung angewiesen ist, nicht restlos zu überzeugen. 31 Man hat dem Gedanken der Optimierung objektiver Grundrechtsweite denn auch die Betrachtung des Telos der Grundrechte zur Seite gestellt. Dieses Argument rückt den Schutz des einzelnen als Zweck und Grund der Grundrechte in den Mittelpunkt. Aus ihm folge jedenfalls eine Vermutung für die Subjektivität ihrer Norminhalte. 32
3. Schutzpflichtverletzung als Grundrechtseingriff? Der einzige am Wortlaut der Grundrechte anknüpfende Begründungsansatz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für eine Subjektivierung der Schutzpflicht wird in der C-Waffen-Entscheidung gesehen, wo das Gericht hinsichtlich des Rechts auf Leben und Gesundheit, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, zunächst wiederum zwischen subjektivem Abwehrrecht und objektiv-rechtlicher Wertentscheidung der Verfassung, welche die verfassungsrechtlichen Schutzpflichten begründe, differenzierte, um sodann festzustellen: „Werden die Schutzpflichten verletzt, so liegt darin zugleich eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 G G . " 3 3 Diese Aussage hat man vielfach in der Weise verstanden, daß die Verletzung der Schutzpflicht 30 31 32 33
Teil 3 B.III.2.e). Vgl. zur Kritik an diesem Begründungsansatz: Unruh, Dogmatik, S. 63. Robbers, Sicherheit, S. 135 ff.; Unruh, Dogmatik, S. 64. BVerfGE 77, 170 (214).
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zugleich einen die Abwehrdimension der Grundrechte auslösenden staatlichen Eingriff darstellt. Alternativ zu einem speziellen Freiheitsrecht kommt insoweit auch die Heranziehung des Auffanggrundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG in Betracht. In Anknüpfung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht, welche in objektiven Verfassungsverstößen regelmäßig einen Verstoß gegen die allgemeine Handlungsfreiheit sieht und sie dadurch verfassungsbeschwerdefähig macht, 34 wird teilweise auch in der Verletzung der (objektiv-grundrechtlichen) Schutzaufgabe ein solcher Verstoß jedenfalls gegen Art. 2 Abs. 1 GG gesehen.35 Die Position, eine Mißachtung objektiver Schutzpflichten als Grundrechtseingriff - sei es in das thematisch einschlägige Grundrecht oder in die allgemeine Handlungsfreiheit - zu werten, würde die Schutzpflicht doch noch als Unterfall der Abwehrfunktion einordnen und drohte letztlich die Unterscheidung von Schutzpflicht und Eingriffsabwehr aufzuheben. Ein solcher Begründungsansatz kann v.a. deshalb nicht überzeugen, weil er die Kluft zwischen staatlichem Tun und Unterlassen nicht zu schließen vermag. Zwar schmälert die staatliche Untätigkeit unter Umständen die realen Verhaltensmöglichkeiten des Schutzbedürftigen. Der freiheitsreduzierende Erfolg ist aber trotz aller Ausweitung des Eingriffsbegriffs noch nicht hinreichend, sondern bedarf auch bei der allgemeinen Handlungsfreiheit des Hinzutretens einer - bei staatlicher Indifferenz i.d.R. fehlenden - Handlungskomponente. 36 Nur wenn ein staatlicher Eingriff bereits vorliegt, kann ein Verstoß gegen ein objektives Rechtsprinzip relevant werden. Eben aus diesen Gründen kann der Aussage des Gerichts ein solcher Bedeutungsgehalt denn auch gar nicht untergeschoben werden. Das Gericht hat - abstrahiert man die Aussage von der im Fall zu Anwendung kommenden Norm des Art. 2 Abs. 2 GG - nicht mehr gesagt, als daß die Verletzung einer Schutzpflicht zugleich das Grundrecht, aus dem sie zunächst als „objektive Wertentscheidung" entwickelt wurde, verletzt. Es hat genau genommen keinen Beitrag zur Begründung der Subjektivierung geleistet, sondern diese nur apodiktisch festgestellt und darüber hinaus lediglich ihre Genese skizziert: von der objektiven Wertentscheidung zur subjektiven Grundrechtsverletzung.
34 35 36
Vgl. Schiaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rz. 211 ff. u. 275 f. Vgl. Robbers, Sicherheit, S. 193. Vgl. o. Teil 3 B.III.l.a).
A. Das subjektive Recht auf staatlichen Schutz
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IV. Grundrechtliche Subjektivierung objektiven Gesetzesrechts? Die durchgängige Komplementarität grundrechtlicher Schutzpflichten des Staates zu den grundrechtlichen Schutzansprüchen des Individuums hat Anlaß zu der Besorgnis gegeben, daß die subjektiven Schutzrechte zu einer Subjektivierung der gesamten Rechtsordnung führen könnten, indem auch rein objektive Rechtssätze des einfachen Gesetzesrechts subjektiv überformt werden. 37 In ähnlicher Weise wie der denkbar weite Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit jegliches belastende Handeln des Staates rechtfertigungsbedürftig macht und die Nichteinhaltung des objektiven Rechts zumindest potentiell zum Verfassungsverstoß werden läßt, könnte ein grundrechtlicher Anspruch auf Schutz jegliches Defizit beim Vollzug objektiver Rechtsnormen zum Verfassungsbruch stilisieren. Festzuhalten ist allerdings, daß solche Rechtsnormen, die nicht dem Schutz einzelner dienen, auch nicht Ausdruck grundrechtlicher Schutzpflichten sein können. Ferner stehen diejenigen objektiven Normen, die reflexartig - jedenfalls auch den einzelnen schützen, dennoch nicht im Zusammenhang mit den Grundrechten, wenn sie thematisch nicht den von den Grundrechten in Bezug genommenen, sondern anderen Gefahren Rechnung tragen wollen. 3 8 Dennoch bleibt eine Fülle objektiver Normen übrig, die sich aus der Perspektive des Verfassungsrechts als Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten und -ansprüche darstellen. Dies kann im Einzelfall im Wege einer verfassungskonformen Auslegung auch durchaus zu einer Anreicherung einer nur objektiven Norm um einen Individualanspruch führen, 39 wenn dem Bürger ansonsten das grundrechtlich garantierte Mindestmaß an Schutz versagt bliebe. Die Alternative zur Subjektivierung einer an sich nur objektiven Gesetzesbestimmung müßte die Schaffung eines neuen subjektiven Rechtssatzes von Verfassungs wegen sein. Vor dem Hintergrund dieser Alternative stellt die Erweiterung der bestehenden, vom dazu berufenen Gesetzgeber erlassenen Norm sich als der schonendere Einbruch der Verfassung in das einfache Gesetzesrecht dar. Teile der Literatur nehmen denn auch den drittschützenden Charakter einfach-gesetzlicher Normen immer dann an, wenn diese zwar nur eine tatsächliche Begünstigung gewähren, dies aber aufgrund grundrechtlicher Bestimmungen tun müssen. 40 Diese Ansicht dürfte indes zu weit gehen. Die Subjektivierung objektiver einfachrechtlicher Normen wird im Regelfall 37 38 39
Vgl. Dietlein, Schutzpflichten, S. 136, sowie ausführlich S. 193 ff. Vgl. hierzu Teil 4 B. Vgl. Dietlein, Schutzpflichten, S. 184 ff.
16 Krings
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
nicht die Konsequenz des grundrechtlichen Schutzanspruchs sein. Wie noch zu zeigen ist und in Rechtsprechung und Literatur allgemein anerkannt wird, verfügt der Gesetzgeber über einen weiten Gestaltungsspielraum bei der Einlösung seiner Schutzpflicht. Soweit er einfach-gesetzliche Bestimmungen schafft, wird er daher in vielen Fällen zwischen ihrer bloß objektiven oder subjektiven Ausgestaltung wählen können. Die grundrechtliche Position läßt dies unberührt: Der einzelne behält seinen grundrechtlichen Schutzanspruch gegen den Staat, mit dem er ein Unterschreiten des Schutzminimums gegebenenfalls auch auf dem Rechtsweg verhindern kann. Einer automatischen Subjektivierung einfachen Gesetzesrechts bedarf es dazu nicht. Der Individualanspruch folgt aus dem Grundrecht, während es für seine Einlösung durch die Exekutive ausreicht, wenn diese sich auf rein objektives Gesetzesrecht stützen kann, um dem grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt Rechnung zu tragen. Soll eine Subjektivierung objektiven Gesetzesrechts aus den grundrechtlichen Schutzpflichten heraus begründet werden, so muß dargelegt werden können, daß der allgemeine Anspruch unmittelbar aus dem einschlägigen Grundrecht kein ausreichendes Schutzniveau gewährleistet und in Ansehung der Bedeutung des Schutzgutes und seiner Gefährdung eine Wiederholung und Konkretisierung des Individualanspruches auf der Ebene des Gesetzesrechts unerläßlich ist.
B. Adressaten der Schutzpflichten Die Grundrechte binden gem. Art. 1 Abs. 3 GG Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung. Diese Bindung gilt für die Bundes- und Länderebene einschließlich der ihnen zugeordneten juristischen Personen des öffentlichen Rechts und sonstigen Hoheitsträgern. Da Art. 1 Abs. 3 GG nicht nach den Grundrechtsfunktionen differenziert, gilt diese Bindung aller drei Staatsgewalten auch für die grundrechtlichen Schutzpflichten. 41 Im Unterschied zur Abwehrseite der Grundrechte, bei welcher der Adressat der Grundrechtsbindung mit dem handelnden Staatsorgan identisch ist, steht die Schutzpflichtenlehre vor der Aufgabe, den oder die richtigen Adressaten für das staatliche Schutzhandeln innerhalb des Gefüges der horizontalen und vertikalen Gewaltenteilung zu ermitteln.
40 Hermes, Schutz, S. 275 f.; siehe bereits Scholz, Wirtschaftsaufsicht, S. 125; Rupp, DVB1. 1982, 144 (147 f.); anders aber Steinberg,, NJW 1984, 457 (459). 41 Siehe nur Bleckmann, DVB1. 1988, 940 (942); Hager, JZ 1994, 373 (379 f.); Singer, JZ 1995, 1133 (1136 f.). Eine Beschränkung des Adressatenkreises auf den Gesetzgeber wird nurmehr vereinzelt vertreten, vgl. Heinrich, Formale Freiheit, S. 111.
B. Adressaten der Schutzpflichten
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I. Primäre und sekundäre Schutzpflichtenebene Für den Bürger ist das tatsächliche Maß des Schutzes seiner Freiheitssphäre vor Eingriffen des Staates und Übergriffen Dritter von entscheidender Bedeutung. Die von ihm erwünschte Sicherheit wird aus seiner Sicht weniger von Gesetzen denn von sinnlich wahrnehmbaren und tatsächlich handlungsfähigen Einrichtungen wie Polizeikräften oder Gerichten repräsentiert. 4 2 Diese Fokussierung auf das administrative und judikative Handeln des Staates findet seine verfassungsprozessuale Bestätigung im Erfordernis einer Antragsbefugnis der Verfassungsbeschwerde. Hierdurch sind sowohl Klagen unmittelbar gegen ein Gesetz aus der Abwehrseite der Grundrechte als auch Klagen auf gesetzgeberisches Handeln unzulässig, soweit sie lediglich die Basis für ein Verwaltungshandeln bilden bzw. die Verwaltung aufgrund bestehender Normen schützend tätig werden kann. 43 Die Gesetzeslage berührt in diesen Fällen die Rechts- und damit auch Freiheitssphäre des Grundrechtsträgers noch nicht unmittelbar; weder beschneidet sie seinen tatsächlichen Freiheitsraum noch sichert sie ihn wirksam gegen Dritte. Die Wirksamkeit der grundrechtlichen Schutzpflicht erweist sich erst auf der Ebene ihrer Umsetzung durch Exekutive und Jurisdiktion. In der realen, vom Grundgesetz vorgefundenen Gesellschaft garantieren die Gesetze nämlich i.d.R. alleine noch keinen effektiven Schutz der Freiheitssphären. Demgegenüber bedürfte es in einer idealen Gesellschaft gar keiner gesetzlichen Schutzbestimmungen, da Übergriffe in fremde Freiheitssphären schon aus ethischen Erwägungen und aufgrund der grundrechtlichen Beschreibungen dieser Freiheitssphären vermieden werden würden. Eine einseitige Betonung der gesetzgeberischen Aktivitäten zur Umsetzung und Konkretisierung der Schutzpflichten ist daher nicht angebracht. Gesetzliche Bestimmungen erfüllen im Rahmen der grundrechtlichen Schutzpflichten vor diesem Hintergrund drei Funktionen: Sie transformieren (1.) die nur den Staat bindende Pflicht aus den Grundrechten in eine den privaten Störer bindende Gesetzespflicht, sie schaffen (2.) - insbesondere der Exekutive - die durch den Gesetzesvorbehalt geforderte Ermächtigung zum Eingriff in die Abwehrrechte des Störers, und sie konkretisieren (3.) 42 Rechtsvergleichende Beachtung verdient in diesem Zusammenhang Art. 35 Abs. 3 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom April 1999, der den „Behörden" (womit nach schweizerischer Rechtsterminologie die Gesamtheit der Staatsorgane gemeint ist, vgl. die Bezeichnung des 5. Titels der Bundesverfassung) aufgibt, dafür Sorge zu tragen, „dass die Grundrechte, soweit sie sich dazu eignen, auch unter Privaten wirksam werden". Der ursprüngliche Verfassungsentwurf hatte die gleiche Aufgabe noch auf „Gesetzgebung und Rechtsprechung" beschränkt, zit. nach Hermes, Schutz, S. 107. 43 Vgl. nur Maunz, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, BVerfGG, § 90 Rz. 99 ff. (Stand: Januar 1979); Fleury, Verfassungsprozeßrecht, Rz. 317. 16*
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
den Aussagegehalt der Grundrechtsbestimmungen in thematisch und inhaltlich spezifischeren Gesetzesbestimmungen44. Diese drei Wirkungen der gesetzgeberischen Realisierung der grundrechtlichen Schutzpflichten bilden die Voraussetzungen für den gubernativen, administrativen und judikativen Schutz. Aus diesem Grunde kann man von einer - faktischen, jedoch nicht rechtslogischen - „Gesetzesmediatisierung der Schutzpflicht" 45 sprechen. Dieses rechtslogische Prioritätsverhältnis zwischen materiellem Gesetz und gesetzesakzessorischem Staatshandeln läßt es sachgerecht erscheinen, zwischen der primären Schutzpflicht des Gesetzgebers und der sekundären Schutzpflicht von Exekutive und Rechtsprechung zu unterscheiden. 46 Das Begriffspaar der primären und sekundären Schutzpflichten muß allerdings in dem Bewußtsein verwandt werden, daß es sich dabei um eine sprachliche Verkürzung handelt, denn aus jedem Freiheitsrecht folgt eine einheitliche, nicht nach Adressaten differenzierte Schutzpflicht. Die Schutzpflichten von Exekutive und Jurisdiktion sind zu denjenigen des Gesetzgebers nicht subsidiär, 47 sondern komplementär. Eine Unterscheidung des verfassungsrechtlichen Auftrags zum Freiheitsschutz nach Adressaten ergibt sich erst bei der Frage der Einlösung der Schutzpflichten. Die Thematik der Adressaten grundrechtlicher Schutzpflichten schließt damit systematisch unmittelbar an den Tatbestand der Schutzpflichten an und eröffnet ihre Konkretisierung auf der Rechtsfolgenseite. Ebenfalls verkürzend ist es, von primären und sekundären Adressaten der Schutzpflichten zu sprechen. Zwar beziehen sich die primären Schutzpflichten in erster Linie auf den Gesetzgeber. Ihr entscheidendes Merkmal ist indes, daß sie materielles Recht setzen. Dies kann neben dem Gesetzgeber auf der Grundlage entsprechender Ermächtigungen auch die Exekutive als Verordnungs- oder (im Bereich der Selbstverwaltung) als Satzungsgeber. Die Durchsetzung der materiellen Schutznormen obliegt ausschließlich der Exekutive und Judikative. Um diese Durchsetzungsleistung erbringen zu können, sind diese Gewalten aber auf parlamentsgesetzliche Regelungen angewiesen, die ihnen Instrumente und Befugnisse zu ihrem Schutzhandeln zur Verfügung stellen und gegebenenfalls eine Konkretisierung und (Vor-) Auswahl der Schutzstrategien vornehmen. Die Errichtung von staatlichen Institutionen und die Bestimmung des bei ihrem Schutzhandeln zu beach44
Zur Konkretisierungsfunktion: Stern, Staatsrecht III/l, S. 950. Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 161; Ruffert, Vorrang, S. 228 ff. Kritisch hierzu: Horn, Grundrechtsunmittelbare Verwaltung, S. 157 ff. 46 Zu den Begriffen „primäre" und „sekundäre" Schutzpflicht siehe eingehend: Murswiek, WiVerw 1986, 179 (180 ff.); ders, Staatliche Verantwortung, S. 108. Kritisch gegenüber dieser Systematisierung: Dietlein, Schutzpflichten, S. 130 ff. 47 So aber - in bezug auf die Rechtsprechung - Ruffert, Vorrang, S. 234. 45
B. Adressaten der Schutzpflichten
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tenden Verfahrens unterliegt für die Judikative durchgehend, aber über weite Strecken auch für die Exekutive, einem Gesetzesvorbehalt, der jedenfalls in seinen Grundzügen vom Parlamentsgesetzgeber auszufüllen ist. Die primäre Schutzpflicht bezieht sich daher auf materielles Gesetzesrecht, während die sekundäre Schutzpflicht die Mittel zur Durchsetzung der primären Schutzpflicht zum Gegenstand hat.
1. Der Gesetzgeber als primärer Adressat der Schutzpflichten Bereits beim Auftakt der Schutzpflichtenjudikatur im ersten Fristenregelungsurteil hat das Bundesverfassungsgericht in erster Linie den Gesetzgeber in die grundrechtliche Pflicht genommen. 48 In der Literatur wurde anfänglich gar bestritten, daß grundrechtliche Schutzpflichten überhaupt „unmittelbare Rechtswirkungen zugunsten oder zu Lasten des Bürgers" zeitigen, weil sie „der Umsetzung durch das Gesetz" bedürfen. 49 Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber indes nur die Pflicht auferlegt zu entscheiden, „wie der Staat seine Verpflichtung ... erfüllt". 5 0 Bei der normativen Ausgestaltung seines Schutzkonzepts kann der Gesetzgeber nach der neueren Rechtsprechung des zweiten Fristenregelungsurteils schon von Verfassungs wegen bestimmten Bindungen unterliegen. 51 Die Umsetzung dieser konzeptionellen Vorgaben in konkrete, operable Schutzmaßnahmen ist den anderen Gewalten überantwortet. Das Handeln des Gesetzgebers ist - außerhalb der Fälle einstufigen Schutzpflichtenkonstellationen 5 2 - notwendige, jedoch nicht hinreichende Voraussetzung zur Erfüllung der Schutzpflicht. Soweit es aber notwendige Voraussetzung des Schutzes ist, muß eine konsequent subjektiv-rechtliche Begründung der Schutzpflichten auch einen Anspruch des Grundrechtsträgers auf legislatives Handeln akzeptieren. 53 In der Praxis staatlicher Schutzpflichtenerfüllung tritt die legislative Schutzpflicht hinter die sekundären Schutzpflichten zurück. Nahezu alle Felder der grundrechtlichen Freiheitsbereiche haben eine z.T. recht detaillierte gesetzliche Normierung erfahren. 54 Dabei wurde seitens des deutschen Gesetzgebers dem Schutzgedanken mehr aus politischen Überzeugungen, denn aus grundrechtlichen Erwägungen auf vielfältige Weise Rechnung 48
BVerfGE 39, 1 (44); vgl. dazu etwa: Dreier, Dimensionen, S. 47 f. Isensee, Sicherheit, S. 42. 50 BVerfGE 39, 1 (44). 51 BVerfGE 88, 203 (281 ff.). 52 Dazu sogleich unten Teil 5 B.II. 53 Vgl. allgemein Dietlein, Schutzpflichten, S. 175 f.; Möstl, DVB1. 1998, 1029 ff. 54 Für den Bereich des Lebens- und Gesundheitsschutzes: Hermes, Schutz, S. 273. 49
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
getragen. 55 Die grundrechtlichen Schutzpflichten vermögen dem Gesetzesrecht daher nur noch an wenigen Stellen Impulse zu geben. Die normative Wirkung der Schutzpflichten des Grundgesetzes entfaltet sich daher immer stärker im Wege der Auslegung und Anwendung von Eingriffsermächtigungsnormen und durch ihre Ausstrahlung in Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe des Gesetzesrechts. 56
2. Sekundäre Schutzpflichtenebene Die sekundäre Schutzpflicht bezieht sich auf die Rechtsprechung und die Exekutive, soweit sie nicht - in der Rolle des Verordnungs- oder Satzungsgebers - legislative bzw. normsetzende Funktionen wahrnimmt. Der Schwerpunkt der sicherheitsgewährleistenden Tätigkeit von Exekutive und Judikative erfolgt unter dem Aspekt der Wahrung und Durchsetzung des Rechts; in diesem Sinne nehmen sie eine zur Legislative sekundäre Funktion wahr. 5 7 Aus der sekundären Schutzpflicht folgen zunächst Vorgaben für institutionelle Schutzinstrumente. Der Staat ist zur Schaffung von Einrichtungen verpflichtet, die den grundrechtlich zugesagten und materiell-rechtlich konkretisierten Schutz in der Lebenswirklichkeit durchsetzen. Der Staat muß daher Verwaltungsstellen, insbesondere Ordnungs- und Polizeibehörden vorhalten. 5 8 Er muß ferner Gerichte einschließlich Organen der Zwangsvollstrekkung und Strafvollzugsanstalten unterhalten. 59 Diese Einrichtungen muß er auch personell und sachlich angemessen ausstatten,60 so daß sie die ihnen beim Vollzug des materiellen Schutzrechts zugedachten Aufgaben erfüllen können. Zum zweiten - und diese Pflicht richtet sich wiederum v. a. an den Gesetzgeber - muß diesen Einrichtungen ein Verfahrensrecht zur Verfügung gestellt werden, das ihnen eine effektive Arbeit im Interesse des Schutzes von Grundrechtsträgern ermöglicht. Zum dritten müssen die genannten Einrichtungen auch ihre Kompetenzen und Ressourcen ausschöpfen, soweit der Schutz der Freiheitssphären dies gebietet. Sie müssen tatsächlich effektiven Grundrechtsschutz gewährleisten. Aufgabe der Gerichte ist die Auslegung und Anwendung des Gesetzesrechts im Lichte der grundrechtlichen Schutzpflichten. Insbesondere in 55
Vgl. als Referenzgebiet nur den Überblick über die verbraucherschützende Gesetzgebung im Vertragsrecht, unten Teil 6 A.III. 56 Vgl. Hermes, Schutz, S. 273 u. 276. 57 Möstl, in: Demel, Funktionen, S. 53 (63 f.). 58 Robbers, Sicherheit, S. 233. 59 Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 112. 60 Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 114.
B. Adressaten der Schutzpflichten
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Rechtsbereichen, welche primär die Rechtsbeziehungen unter privaten Rechtssubjekten ordnen, die nicht auf eine gesetzliche Ermächtigung angewiesen sind, sondern kraft autonomer Entschließung handeln, 61 kann ein wirkungsvoller, affirmativer Schutz der Grundrechte jedenfalls nicht alleine mittels abstrakt-genereller Gesetzesbestimmungen bewerkstelligt werden. Innerhalb der Exekutive spielen die Ordnungs- und Polizeibehörden eine zentrale Rolle bei der Umsetzung der staatlichen Schutzpflichten. Sie haben auf der Grundlage des Ordnungsrechts Gefahren wirksam abzuwehren. Der ordnungsbehördliche Schutz der öffentlichen Sicherheit, welcher u.a. die Unverbrüchlichkeit der Gesamtheit des objektiven Rechts sowie der subjektiven Rechte des einzelnen zu ihrem Schutzgut hat, ist unverzichtbar, weil für das Opfer eines Übergriffes gerichtlicher Schutz vielfach zu spät kommt und pekuniärer Ersatz den entstandenen Schaden nicht immer und v.a. nicht hinsichtlich aller Rechtsgüter vollständig zu kompensieren vermag. 62 Die grundrechtlichen Schutzpflichten sind nicht nur bei der Auslegung des in ihrer Umsetzung erlassenen materiellen Gesetzesrechts heranzuziehen, sondern darüber hinaus bei der Ausübung des der Verwaltung eröffneten Ermessens. Auch wenn ein schutzpflichtenaktivierender Übergriff erst ab Überschreiten der - dem Polizeirecht entlehnten - Gefahrenschwelle gegeben ist, 6 3 kann sich der Staat im Interesse eines möglichst effektiven Freiheitsschutzes gegen private Übergriffe für Überwachungsmaßnahmen entscheiden. Die grundrechtlichen Schutzpflichten können ihn dazu zwar nicht verpflichten, sie hindern ihn daran aber auch nicht. Im Gegenteil: Sorgt der Staat durch Überwachungsmaßnahmen 64 dafür, daß Gefahren erst gar nicht eintreten, so enthebt er sich damit gegebenenfalls der Notwendigkeit zur Bereitstellung zusätzlicher Mittel zur Gefahrenabwehr, vermeidet also das eventuelle Entstehen eines Defizits bei der Schutzpflichtenerfüllung. Insgesamt lassen sich für die Organe der Exekutive und Judikative über ihre bloße Existenz hinausgehend vier Typen von Schutzhandeln - unabhängig von ihrer Einstufung als sekundäre oder primäre Schutzpflichten ausmachen: Erstens haben sie die schützenden Gesetze konsequent anzuwenden. Zweitens sind die Schutzpflichten bei der Auslegung von Normen und bei der Ausfüllung der gegebenen Ermessensspielräume heranzuziehen. 65 Drittens können unabhängig vom Gesetzgeber selbständige Schutzmaßnahmen ersonnen und durchgeführt werden, soweit diese nicht Störer61 62 63 64 65
Stern, Staatsrecht III/l, S. 1551. Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 113. Siehe oben Teil 4 C.III. Vgl. hierzu Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 117 f. Vgl. Möstl, DVB1. 1998, 1029 (1036).
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
grundrechte verletzen. Schließlich muß viertens eine Notbefugnis von Exekutive und Judikative auch zum Grundrechtseingriff ohne Gesetz in Fällen eklatanter und unerträglicher gesetzlicher Schutzlücken akzeptiert werden. 66
I I . Einstufige Schutzpflichtenkonstellationen Nicht verkannt werden darf aber, daß eine Zweistufigkeit von primären und sekundären grundrechtlichen Schutzpflichten nicht zwingend besteht. Es sind zum einen Fälle denkbar, in denen der Staat seiner Schutzpflicht mit dem Erlaß von Normen Genüge tut. Zum anderen gibt es Bereiche, in denen die Verwaltung und in Ausnahmefällen auch die Rechtsprechung außerhalb von Gesetzesrecht agiert.
1. Nur-gesetzgeberischer Schutz Die erste und dritte der o.g. Funktionen gesetzgeberischer Schutzpflichten, die Transformation der Grundrechtsbindung in eine einfachrechtliche Bindung des privaten Störers und die Konkretisierung der Freiheitssphäre des Opfers, können bereits für sich ein effektives und ausreichendes Schutzniveau gewährleisten. Das gilt zunächst für Normen, die nicht als Eingriffsbefugnisse für die Verwaltung, sondern durch ihre bloße Existenz schützen, indem sie dem (potentiellen) Störer verbindliche Handlungsgrenzen aufzeigen. In bestimmten Konstellationen gebietet die Wahrung der Interessen des Störers oder Dritter, daß der Staat sich auf die Setzung einer Rechtsnorm beschränkt, mit der er unvollkommene Verbindlichkeiten und Forderungen schafft, die zwar freiwillig erfüllt werden können, für die er aber gerade keine Instrumentarien zur Durchsetzung bereitstellt. 67 Das Recht soll hier v. a. appellativ wirken. Hiervon zu unterscheiden sind die Fälle, in denen das Gesetz anordnet, daß keinerlei rechtliche Verbindlichkeit entsteht, jedoch das ohne Rechtspflicht Geleistete nicht zurückgefordert werden darf. 68 Der Schutz des Leistungsempfängers erschöpft sich hier im Ausschluß dieses Rückforderungsrechts. Auch solche Normen, die nicht im eigentlichen Sinne „self-executing" sind, sondern die Grundlage staatlicher Einzelakte bilden, können ihre 66
Siehe hierzu unten Teil 5 C.V.l.c). Das wichtigste Beispiel sind die verjährten Forderungen, sobald der Schuldner die Einrede der Verjährung erhebt, § 214 BGB n.F. Eine solche „naturalis obligatio" kann femer durch Vertrag begründet werden. 68 Beispiele sind der geleistete Ehemaklerlohn (§ 656 Abs. 1 S. 2 BGB) und die beglichenen Spiel- und Wettschulden (§ 762 Abs. 1 S. 2 BGB). 67
B. Adressaten der Schutzpflichten
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Schutzwirkung teilweise schon aus sich heraus leisten. Das gilt beispielsweise für strafrechtliche Bestimmungen. Diese wirken nicht erst über die Urteile der Strafjustiz, sondern überzeugen und beeinflussen die große Mehrheit der Bevölkerung durch ihre Existenz. 69
2. „Gesetzesfreier" Schutz In anderen Konstellationen ist ein Handeln des Gesetzgebers verzichtbar. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Verwaltung einen wirksamen Opferschutz auch ohne einen Eingriff in die Rechtssphäre des Störers gewährleisten kann. Schutzmaßnahmen ohne gesetzliche Grundlage sind v.a. dort möglich, wo der Staat nicht den Übergriff an seiner Quelle bekämpft, sondern das Ziel des Übergriffs, die Freiheitssphäre des Übergriffsadressaten umhegt und mit passiven Abwehrinstrumenten versieht. 70 So ist es jedenfalls denkbar, daß der Staat den Schutz vor privaten Emissionen nicht durch Reglementierungen des Emittenten, sondern durch Maßnahmen des Immissionsschutzes bei den betroffenen Nachbarn sichert. Alternativ kann der Staat die freiwillige Bereitschaft zu emissionsmindernden Maßnahmen beim Emittenten herstellen und einen Grundrechtseingriff vermeiden, indem er die Kosten der Emissionsminderung übernimmt. In all diesen Fällen schützt der Staat durch positive Leistungen statt durch Zwang. 71 Der Staat kann solche Leistungen nur im gesetzesfreien Raum erbringen oder um ein über das Gesetz hinausgehendes Schutzniveau zu erreichen. Es ist zumindest der Gubernative unbenommen und Ausdruck ihres politischen Gestaltungsspielraums, wenn sie gesetzlich untersagtes Störer-Verhalten nicht durch die zwangsweise Anwendung des Verbotsgesetzes, sondern durch positive Anreize verhindert. 72 Daneben mögen bisweilen schon die bloße Vorhaltung staatlicher Einrichtungen wie Ordnungs- und Polizeibehörden, ihre Präsenz im Alltagsleben sowie die allgemeine, nicht konkrete Störergrundrechte betreffende Überwachungstätigkeit des Staates hinreichend sein, um die Opfer-Freiheitssphären zu schützen. 73
69 Die konkrete Furcht vor Strafverfolgung ist hingegen eher der sekundären Schutzpflicht zuzuordnen, da sie die Existenz wirksamer Strafverfolgungsbehörden voraussetzt. 70 Siehe unten Teil 5 C.IV.l.b). 71 Siehe unten Teil 5 C.IV.l.a)bb). 72 Anders: Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 121 f. Grundrechtliche Probleme können sich hier allenfalls im Kontext des Gleichheitssatzes stellen, wenn bspw. Mitbewerber des Störers diese Leistungen angreifen. 73 Vgl. Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 117 f.; Robbers, Sicherheit, S. 231.
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
Innerhalb der Exekutive ist nicht nur die Administrative, sondern auch die Gubernative - einschließlich ihrer internationalen und supranationalen 74 Betätigungsfelder - aus den Schutzpflichten heraus verpflichtet. Ihr Handeln kommt vielfach ohne Grundrechtseingriffe aus und muß im Interesse ihres politischen Gestaltungsfreiraums über den Vollzug von Parlamentsgesetzen hinausgehen. Für das „präzeptorale" Regierungs- und Verwaltungshandeln durch Informationen, Ermahnungen und Warnungen, das die grundrechtlichen Schutzpflichten einlöst, 75 gilt wiederum eine Differenzierung nach der Zielrichtung der Information. Sollen durch staatliche Informationen (potentielle) Opfer von Übergriffen in die Lage versetzt werden, sich besser gegen Störer zu schützen, so benötigt die Exekutive keine gesetzliche Grundlage für ihr informierendes oder erzieherisches Handeln. 76 Bezieht sich die Information hingegen final gegen eine konkrete Gefahrenquelle bzw. auf ein konkretes Produkt und hat sie dadurch die Qualität eines Warnhinweises, so liegt regelmäßig ein Eingriff in die Grundrechte des potentiellen Störers vor, der einer gesetzlichen Grundlage bedarf. 77 Staatliche Warnhinweise sind demgemäß dem zweistufigen Schutzpflichtenhandeln zuzuordnen. Zugunsten der Rechtsprechung wird im Kontext der grundrechtlichen Schutzpflichten z.T. für eine eng begrenzte „Notkompetenz" zur Gewährung von Schutz unabhängig von gesetzlichen Vorgaben, also durch gesetzesvertretendes Richterrecht plädiert. 78 Eine ähnliche „Notkompetenz" wird auch der Exekutive zugestanden.79 Eine solche Befugnis gerät zwangsläufig in Konflikt mit dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes; der Eingriff in die Grundrechte des Störers wäre in diesen Fällen dann nicht mehr an eine gesetzliche Ermächtigung gebunden. Diese Ansicht stößt daher auf K r i t i k 8 0 74
Zur Bindung des deutschen Vertreters im Rat der Europäischen Gemeinschaften an die Schutzpflichten: Dederer, Jura 1998, 98 (102). 75 Siehe hierzu: Di Fabio, JZ 1993, 689 ff.; Stern, Staatsrecht III/1, S. 1186 ff. 76 Ein Beispiel für dergestalt informierendes Staatshandeln zum Zwecke der Verbesserung des (passiven) Selbstschutzes sind die persönlichen und medialen Beratungsleistungen der Kriminalpolizei im Rahmen der Kriminalprävention. Erzieherisch handelt der Staat etwa bei der Verkehrserziehung in Schulen und Kindergärten, siehe Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 121. 77 Vgl. BVerwG NJW 1989, 2272 (2273); LG Göttingen, NVwZ 1992, 98 ff.; Di Fabio, JZ 1993, 689 (691 f.); Stern Staatsrecht III/1, S. 1187 f. 78 Ossenbühl, HdbStR III, § 61 Rz. 41; Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 161; Stern, Staatsrecht III/1, S. 1556; ablehnend: Köthel, JuS 2001, 424 (428). Siehe dazu unten Teil 5 C.V.l.c) mit weiteren Nachw. in Fn. 216. 79 Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 161 unter Verweis auf BVerfGE 46, 160 (164 f.); Hermes, Schutz, S. 272. 80 Vgl. die Autoren, welche eine verfassungsunmittelbare Einschränkung der Abwehrrechte durch die Schutzpflichten ablehnen: Denninger, JZ 1975, 545 (547); Suhr, Entfaltung, S. 146; Haberle, VVDStRL Bd. 30 (1972), S. 43 (103); Wahl/
B. Adressaten der Schutzpflichten
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und soll im Kontext des Verhältnisses von Abwehrrecht und Schutzpflicht näher dargestellt werden. 81 Nicht der Vorbehalt, sondern der Vorrang des Gesetzes ist betroffen, wenn die Umsetzung einer Schutzpflicht - ohne die Qualität eines Grundrechtseingriffes zu besitzen - gegen Gesetzesrecht oder objektives Verfassungsrecht verstößt. Judikative und Exekutive dürfen auch hier grundsätzlich nicht in Erfüllung der Schutzpflichten gegen das Gesetz handeln. Gesetzeskonkurrierendes Richterrecht kann seitens der Fachgerichte lediglich bei vorkonstitutionellen Gesetzen und untergesetzlichen Normen sowie im übrigen nur unter den Voraussetzungen des Art. 100 Abs. 1 GG durch das Bundesverfassungsgericht entstehen.82
I I I . Die vertikale Verteilung der Schutzpflichtenverantwortung im Bundesstaat Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich auf die Schutzpflichten, welche den Freiheitsrechten des Grundgesetzes zu entnehmen sind und blendet landesgrundrechtliche Schutzpflichten weitgehend aus. Die Bindung der staatlichen Gewalt an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) erfaßt jedoch Bundes- und Landesstaatsgewalt einschließlich der mittelbaren Staatsverwaltung gleichermaßen. 83 Da nach der Konzeption des Grundgesetzes die Rechtswirkungen der Grundrechte keine Kompetenzen innerhalb des Bundesstaatsgefüges zuweisen, 84 besitzt der Bund auch nicht die Befugnis zu einem umfassenden Handeln in Erfüllung der bundesverfassungsrechtlichen Schutzpflichten. Folgerichtig kann ihm auch keine „Allein- und Komplettverantwortung" für die Schutzpflichten überbürdet werden. 85 Die Kompetenz und mit ihr die Umsetzungspflicht verteilt sich zwischen Bund und Land nach den Zuständigkeitsregeln der Art. 70 ff. GG für das gesetzgeberische Schutzhandeln, nach den Art. 83 ff. und 3 0 8 6 GG für die Masing, JZ 1990, 553 (560); Starck, Verfassungsauslegung, S. 80; Bethge, VVDStRL Bd. 57 (1998), S. 7 (50); Jeand'Heur/Cremer, JuS 2000, 991 (995); Bamberger, Der Staat Bd. 45 (2000), S. 355 (371); lbler, FS Maurer, S. 145 (158); Rupp-von Brünneck/Simon, abw. Meinung, BVerfGE 39, 1 (73). 81 Siehe unten Teil 5 C.V.l. 82 Siehe hierzu näher Teil 5 C.V.3. 83 Siehe nur Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 1 Rz. 189; Stern, Staatsrecht III/l, S. 1201 ff. 84 Vgl. Krings, ZaöRV Bd. 58 (1998), S. 147 (175). 85 Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 148; vgl. auch Wahl/Masing, JZ 1990, 553 (559). 86 Auf Art. 30 GG ist hier zurückzugreifen, soweit die Länder bereits die Gesetzgebungskompetenz besitzen.
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
Verwaltung und den Art. 92 ff. GG für die Rechtsprechung. 87 Insbesondere im Bereich der sekundären Schutzpflichten können Bund und Land ihre Kompetenzen und die ihnen entsprechenden Schutzaufgaben auch aufgrund gesetzlicher Entscheidungen auf die mittelbare Staatsverwaltung übertragen. Die Länder sind zu einer solchen Aufgabenübertragung durch Art. 28 Abs. 2 GG auf die Kommunen für „alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft" grundsätzlich sogar verpflichtet. Nehmen Bund und Land solche Übertragungen aus eigenem Antrieb oder in Erfüllung einer besonderen Verfassungspflicht vor, so dürfen sie darauf vertrauen, daß die juristische Person des öffentlichen Rechts oder auch ein beliehener Privater die Schutzpflichten ausreichend erfüllen. Mit der Aufgabe übernimmt der nichtstaatliche Aufgabenträger auch die grundrechtliche Schutzpflicht. Fraglich kann alleine sein, inwieweit die Schutzpflichten des Grundgesetzes eine Reserveverantwortung des Bundes gegenüber den Ländern oder der staatlichen Ebene gegenüber der mittelbaren Staatsverwaltung begründen. Wegen der abschließenden Regelung der Kompetenz Verteilung im Bundesstaat könnte eine solche Reserveverantwortung allenfalls im Sinne von Beobachtungs- und Hinwirkungspflichten gegenüber den Ländern bzw. nicht-staatlichen Aufgabenträgern bestehen. Lediglich im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen (Art. 72, 74 GG), in deren Anwendungsbereich der Bundesgesetzgeber eine gewisse Gestaltungsfreiheit genießt, indem er entscheiden kann, ob er die Gesetzgebungszuständigkeiten für die darunter fallenden Materien an sich zieht, wäre eine durch die grundrechtliche Schutzpflicht konstituierte Pflicht zur Inanspruchnahme seiner konkurrierenden Kompetenz denkbar. Einer solchen Reserveverantwortung ist im Verhältnis Bund und Länder eine klare Absage zu erteilen. 88 Das einzige Bundesorgan, dem kraft seiner verfassungsrechtlichen Stellung eine herausgehobene Verantwortung für die Sicherung der Grundrechte des Grundgesetzes zukommt, ist das Bundesver87
Vgl. hierzu Huber, Grundrechtsschutz, S. 301 ff. In rechtshistorischer Perspektive könnte eine herausgehobene Schutzpflicht des Bundes allenfalls an den Gedanken des Untertanenschutzes durch den Kaiser und die Reichsgerichte zur Zeit des „alten" deutschen Reiches (bis 1806) anknüpfen, siehe hierzu nur Schmidt, Geschichte, S. 308 u. 332. Abgesehen davon, daß dieser Schutz sich vornehmlich nicht gegen „Private" richtete, sondern gegen die untere staatliche Ebene der Landesherren, wurde die Tradition eines auf der Reichsebene verankerten besonderen Untertanenschutzes bereits bei der Wiederbegründung des deutschen Staates 1871 nicht mehr aufgegriffen und hat auch in den demokratischen Verfassungen von Weimar und Bonn keinen Eingang gefunden. - Für eine „hilfsweise" Pflicht der Bundesregierung im Rahmen ihrer Kompetenzen Schutzlücken, die andere Adressaten offen gelassen haben, zu schließen tritt - bezogen auf den insoweit vergleichbaren Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren - hingegen Huber, Grundrechtsschutz, S. 323 f., ein. 88
B. Adressaten der Schutzpflichten
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fassungsgericht. Im übrigen sind Bund und Länder gleichermaßen aus den Grundrechten verpflichtet und gleichermaßen zum Schutzhandeln berufen. Das Grundgesetz kennt kein Mißtrauen gegen die Grundrechtstreue der Länder. Auch das Argument, daß der Bund über die quantitativ umfangreicheren finanziellen Ressourcen verfügt, vermag kein anderes Ergebnis zu begründen. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Sicherung ausreichender Steuer- oder anderer Einnahmequellen der Länder haben im Finanzverfassungsrecht der Art. 104a ff. GG ihre sedes materiae. Eine allgemeine Pflicht des Bundes zur Sicherstellung ausreichender Einnahmen der Länder sieht das Grundgesetz nicht vor. Anerkannt ist lediglich das Prinzip der föderalen Solidarität unter den Ländern und zwischen Ländern und Bund, das primär in einem teilweisen Ausgleich der Länderfinanzen untereinander (Art. 107 Abs. 2 S. 1 u. 2 GG) und nur in zweiter Linie in den - hilfsweise erfolgenden - Ergänzungsweisungen des Bundes (Art. 107 Abs. 2 S. 3 GG) seine Ausprägungen findet. 89 Dieses Prinzip geht weit über den Bereich der grundrechtlichen Schutzpflicht hinaus und gilt für die Gesamtheit der Staatsaufgaben. Eine besondere Schutzpflichtenverantwortung des Bundes kann die Finanzverfassung nicht begründen. Ebensowenig kann der Bundesregierung im Hinblick auf Warnungen und sonstiges informatorisches Staatshandeln eine besondere Schutzpflichtenverantwortung zugewiesen werden. Soweit die Rechtsprechung eine diesbezügliche Kompetenz aus einer „Staatsleitungsbefugnis" bzw. einer „gesamtstaatlichen Verantwortung" der Bundesregierung folgert, welche sie wiederum Art. 62 ff. GG entnimmt, 9 0 ist sie damit zu Recht auf massiven Widerspruch in der Literatur gestoßen.91 Art. 65 GG und die anderen Bestimmungen im VI. Abschnitt des GG verteilen keine Kompetenzen zwischen Bund und Ländern, sondern lediglich innerhalb der Bundesregierung bzw. der Bundesebene.92 Die etwaige Anerkennung einer besonderen bundesstaatlichen Verantwortung der Bundesregierung - aus sonstigen staatsorganisationsrechtlichen Normen oder Prinzipien der Verfassung - könnte im übrigen aus systematischen Gründen keine grundrechtlichen Pflichten nach sich ziehen. Im Verhältnis der unmittelbaren Staatsverwaltung zur mittelbaren Staatsverwaltung ist bei der Annahme einer Reserveverantwortung des Staates im 89
Fischer-Menshausen, in: v. Münch/Kunig, GG III, vor Art. 104a-109 Rz. 5b; Wendt, in: HdbStR IV, § 104 Rz. 72. 90 BVerfG (Kammerentscheidung), NJW 1989, 3269 (3270); BVerwGE 82, 76 (80 f.); BVerwG, NJW 1991, 1770 (1772). Siehe jetzt insbesondere die (wenig überzeugenden) Ausführungen in den Beschlüssen des Ersten Senats vom 26.6.2002 zur Warnung vor Jugendsekten und vor Glykolwein: BVerfG, NJW 2002, 2626 (2630); NJW 2002, 2621 (2623 f.). 91 Bethge, VVDStRL Bd. 57 (1998), S. 7 (48); Jeand'Heur/Cremer, JuS 2000, 991 (995); lbler, FS Maurer, S. 156 f. m.w.N.; Schoch, DVB1. 1991, 667 (670 ff.). 92 lbler, FS Maurer, S. 160; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 65 Rz. 1 f.
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
Sinne einer Beobachtungs- und Einwirkungspflicht Zurückhaltung angezeigt. Wird eine juristische Person des öffentlichen Rechts selbst Trägerin einer öffentlichen Aufgabe, so ist von ihrer Beachtung der Grundrechte in ihren verschiedenen Funktionen auszugehen. Die Einhaltung der Schutzpflichten ist allerdings im Rahmen der Rechtsaufsicht des Staates zu berücksichtigen. Dies gilt ebenso für mit Hoheitsgewalt beliehene Private.
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten Die Rechtsfolgenermittlung der Schutzpflichten bedeutet, daß die in den Grundrechten abstrakt angelegten Schutzpflichten in ihrer Bedeutung für den jeweiligen Fall aktualisiert und konkretisiert werden müssen. Aus den Schutzpflichten schuldet der Staat regelmäßig keine spezifische Handlung, sondern ein Resultat. Sie bedürfen daher der Ausgestaltung und inhaltlichen Konkretisierung. 93 Erst hier entscheidet sich, welche Schutzmittel, -konzepte und -Strategien angewandt werden können und dürfen. Nachdem der Tatbestand der grundrechtlichen Schutzpflichten bestimmt wurde, stellt sich die Frage nach der Art und der Auswahl der Maßnahmen, welche die Adressaten der Schutzpflichten ergreifen müssen, um ihre verfassungsrechtliche Pflicht zu erfüllen. Es geht dabei um die Mittelauswahl, die der Rechtsfolgenseite der Schutzpflichten zuzuordnen ist. Die Auswahl und Anwendung eines Schutzmittels konkretisiert die Schutzpflicht und aktualisiert sie: 9 4 bei legislativem Handeln für eine bestimmte Fallgruppe, bei administrativem und justiziellem Handeln für einen bestimmten Fall.
I. Unanwendbarkeit der Schrankenregelungen Die Konkretisierung der Schutzpflicht auf der Rechtsfolgenseite ist v.a. deswegen von außerordentlicher Bedeutung, weil die Schutzpflichten ohne die Analyse- und Argumentationsebene verfassungstextlicher Grundrechtsschranken auf der Tatbestandsseite auskommen müssen. Die Schrankenbestimmungen des Grundrechtskataloges beziehen sich ausschließlich auf die Abwehrfunktion der Freiheitsrechte. 95 Dagegen wird in Teilen der Literatur 93
Wahl/Masing, JZ 1990, 553 (558); Brüning/Helios, Jura 2001, 155 (162). Zwischen den Begriffen „Konkretisierung" und „Aktualisierung" soll hier keine definitorische Differenzierung vorgenommen werden; sie werden semantisch verwandt. 95 Gegen eine Anwendung der Grundrechts schranken jedenfalls im Sinne eines Gesetzesvorbehalts auch: Hanning/Schmieder, DB 1977, Beilage Nr. 14, S. 8. Vgl. auch die Ablehnung der Notwendigkeit eines Gesetzes im Zusammenhang mit 94
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten
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eine Relevanz der Schrankenregelungen für die Schutzpflichten als Konsequenz ihrer Ableitung aus den jeweiligen Grundrechtsartikeln angenommen. 9 6 Die Entscheidung über die Versagung grundrechtlichen Schutzes bedarf ihnen zufolge der Legitimation durch einen entsprechenden Schrankenvorbehalt und habe dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu entsprechen. 97 Diese Ansicht ist abzulehnen, weil sie letztlich doch wieder auf eine Einordnung der Schutzpflicht unter die Abwehrfunktion hinausliefe. Eine Reihe von Schrankenbestimmungen begrenzen ihre Anwendung entweder ausdrücklich auf den „Eingriff 4 in das Grundrecht (Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG) oder sind von den beschriebenen Einschränkungsmodalitäten oder vom Einschränkungszweck her nur in Gestalt eines staatlichen Eingriffs vorstellbar. Eine ausschließlich durch staatliche Maßnahmen realisierbare Einschränkungsmodalität weisen zumindest das Verbot von Vereinigungen (Art. 9 Abs. 2 GG), die richterlich angeordneten Wohnungsdurchsuchungen (Art. 13 Abs. 2 GG), das staatliche Abhören von Wohnungen (Art. 13 Abs. 3 GG) und der Verlust der Staatsangehörigkeit (Art. 16 Abs. 1 S. 2 GG) auf. Bei Beschränkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses zum Schutze der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (Art. 10 Abs. 2 GG) und der Enteignung von Eigentum zum Wohle der Allgemeinheit (Art. 14 Abs. 3 S. 1 GG) ergibt sich eine Einengung auf staatliches Handeln aus dem im Grundrecht genannten Einschränkungszweck. Um diese Schrankenregelungen für die grundrechtlichen Schutzpflichten fruchtbar zu machen, müßte man das Handeln des Privaten dem Staat zurechnen können, ein Ansatz der bereits bei der Herleitung der Schutzpflichten abgelehnt wurde. 98 Sähe man in den Schrankenbestimmungen der Freiheitsrechte den einzigen Ausweg, um einen weniger als optimalen Schutz zu rechtfertigen, würde sich nicht die Frage stellen, inwieweit bei den soeben genannten Grundrechten überhaupt ein solches Zurückbleiben hinter einem Schutzoptimum zu begründen wäre. Unlösbar wäre auch das Problem des Auftretens neuartiger Gefahrentypen. Mit der Annahme eines für die Schutzpflichten einschlägigen Gesetzesvorbehalts wäre nämlich noch nichts gewonnen. Der grundrechtliche Vorbehalt müßte durch Gesetzgebung auch ausgefüllt sein. Solange der Gesetzgeber dies für bestimmte Gefahrenquellen oder -typen
grundrechtlichen Drittwirkungskonstellationen im Zivilrecht, Jarass, NJW 1989, 857 (862); v. Zezschwitz, NJW 1983, 1873 (1879); Canaris AcP Bd. 184 (1984), S. 201 (204); Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VI Rz. 100 (Stand: September 1980). 96 Dietlein, Schutzpflichten, S. 115 f.; Hermes, Schutz, S. 258 f.; Schwerdtfeger, NVwZ 1982, 5 (9). 97 Dietlein, Schutzpflichten, S. 116; Hermes, Schutz, S. 253 ff. 98 Siehe oben Teil 3 B.III.l.a).
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
nicht getan hätte, müßte an sich maximaler Schutz gewährt werden. Wegen der mit der Schutzgewährung regelmäßig verbundenen Eingriffe in Störergrundrechte geriete diese Gewährung aber in Widerspruch zum abwehrrechtlichen Gesetzesvorbehalt, der mangels gesetzlicher Eingriffsermächtigungen das Untätigbleiben von Exekutive und Rechtsprechung verlangt. Insbesondere die Exekutive drohte zwischen den Mühlsteinen zweier Gesetzesvorbehalte zerrieben zu werden. Dieses Dilemma führt zu dem Schluß, die Schrankenbestimmungen, welche eine Einengung auf staatliche Maßnahmen in ihrem Wortlaut erkennen lassen, als Ausdruck eines durchgängig geltenden Grundsatzes zu nehmen, demzufolge die Schrankenbestimmungen des Grundgesetzes ihrer Struktur nach nur auf staatliche Eingriffe bezogen sind." Das Charakteristikum der Grundrechtsschranken, die Notwendigkeit gesetzgeberischer Ermächtigung zu Eingriffen, bietet keinen adäquaten Problemlösungsansatz für schützendes Staatshandeln. Vollends überdehnt wäre die Schrankendogmatik des Grundgesetzes, wollte man auch die SchrankenSchranken des Art. 19 GG und in Sonderheit das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG auf die Schutzpflichten übertragen, was durchaus in der Konsequenz der Anwendung der Schrankenbestimmungen läge. 1 0 0 Vom Gesetzgeber wäre dann zu fordern, daß er jedes Gesetz, das auch nur entfernt den Schutz von Grundrechtsträgern vor privaten Beeinträchtigungen zum Gegenstand hat, was wiederum auf alle Normen zutrifft, die unmittelbar oder mittelbar Beziehungen unter Privaten regeln, mit einer salvatorischen Klausel versieht, in der er die grundrechtlichen Freiheitsrechte als möglicherweise „beschränkt" zitiert. Die Warnfunktion des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG stößt mithin ins Leere, wenn es um das Verhindern vorgefundener Aktivitäten Dritter geht. 1 0 1 Die Rechtfertigung von weniger als optimalem Schutz ist etwas grundlegend anderes als die Rechtfertigung von prinzipiell verbotenem Eingriffshandeln des Staates und hätte daher eigenständiger und offenerer Regelungen bedurft, um dieses Problem auf der Schrankenebene angemessen aufzufangen. Das Fehlen solcher schutzpflichtenspezifischer Schrankenbestimmungen läßt sich historisch mit der erst späteren Entwicklung dieser Grundrechtsfunktion und ihrer mangelnden Thematisierung durch den Verfassungsgeber begründen. Die daraus zu ziehende Konsequenz kann nicht das Überstülpen einer ungeeigneten abwehrrechtsspezifischen Schrankenkonstruktion sein. Ein Bedarf für eine Schrankenziehung der Schutzpflicht durch die Gesetzesvorbehalte der Grundrechte besteht schon deshalb nicht, weil die zuständigen Staatsorgane die Verfolgung eines grundrechtlich vorgegebenen Schutz99
Vgl. Hanning/Schmieder, DB 1977, Beilage Nr. 14, S. 8. Diese Konsequenz betont Dietlein, Schutzpflichten, S. 116. Auf das Zitiergebot stellt BVerfGE 49, 89 (140 f.) ab. 101 Hermes, Schutz, S. 260. 100
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten
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ziels gegen private Übergriffe praktisch niemals gänzlich ablehnen werden. 1 0 2 Schutzsuchender und Staat können lediglich über die Intensität und Qualität des Schutzes und damit insbesondere über die Auswahl der Schutzinstrumente uneins sein. Sachgerecht kann die auch im Einzelfall oft kaum übersehbare Vielfalt möglicher Schutzmaßnahmen nur auf der Rechtsfolgenseite über einen Gestaltungsspielraum des Staates, dem jedoch wiederum verfassungsrechtliche Grenzen durch eine Konkretisierung der Schutzpflicht zu ziehen sind, erfaßt werden. Wenn die Schrankenebene als die - nach dem Stand der heutigen Grundrechtsdogmatik - zentrale Stufe der abwehrrechtlichen Argumentation für die grundrechtlichen Schutzpflichten wegfällt, muß die Aufgabe der Abwägung widerstreitender Interessen und des Herstellens von praktischer Konkordanz zwischen verschiedenen Grundrechten von der Konkretisierung der Schutzpflichten auf der Rechtsfolgenseite übernommen werden.
I I . Anspruchsqualität: Kein Recht auf Grundrechtsvoraussetzungsschutz Ungeklärt ist bislang die Frage, ob die den Schutzpflichten korrespondierenden Schutzansprüche unter die grundrechtlichen Leistungsrechte zu subsumieren sind. Faßt man den Begriff des Leistungsrechts weit, so daß darunter „jedes Recht auf eine positive Handlung, also ein Tun des Staates" 103 fällt, so sind die grundrechtlichen Schutzrechte mit umfaßt. 1 0 4 Der Begriff des Leistungsrechts ist so verstanden das exakte Pendant zum Abwehrrecht. Ein dergestalt weiter Leistungsrechtsbegriff kann im Interesse der Systematisierung der Grundrechtsfunktionen unter dem Blickwinkel ihrer Anspruchsziele eine gewisse Berechtigung haben. Unter der Prämisse der subjektiv-rechtlichen Herleitung der Schutzpflichten und -ansprüche aus dem Freiheitsbegriff der Grundrechte überwiegen indes die strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen dieser Funktion und der Abwehrfunktion gegenüber den Gemeinsamkeiten zwischen den Schutzpflichten und den Leistungsrechten im engeren Sinne. 1 0 5 Bei letzteren handelt es sich der Sache 102
Auch hierin zeigt sich wiederum der prinzipielle Unterschied zwischen der Abwehrfunktion der Grundrechte, die dem Staat Handlungsmittel aus der Hand nimmt, und der Schutzpflicht, die ihm Handlungsziele vorgibt. 103 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 402. 104 Neben Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 403, sehen dies bspw. auch Scholz, JuS 1976, 232 (234) und Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/l, S. 728 ff., so. 105 Daher zu Recht kritisch zu einer vordergründigen Einordnung der Schutzpflichten in die Diskussion um die grundrechtlichen Leistungspflichten: Dreier, in: Dreier, GG I, vor Art. 1 Rz. 62 (Fn. 264); Hermes, Schutz, S. 113 ff.; Klein, NJW 1989, 1633 (1639); Robbers, Sicherheit, S. 126 f. 17 Klings
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
nach um „soziale Grundrechte", die etwa auf Fürsorge, Arbeit, Wohnung oder Bildung gerichtet sind. 1 0 6 Sie entsprechen im Gegensatz zu den Schutzpflichten dem zivilrechtlichen Leistungsbegriff, der eine bewußte und zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens voraussetzt. 107 Übertragen auf die Freiheitsrechte des Grundgesetzes muß eine Leistung danach zusätzliche einfach-rechtliche Positionen oder faktische Handlungsoptionen eröffnen. Mit der Schutzpflicht soll ebenso wie mit dem Abwehrrecht hingegen nur ein bestehender Rechtskreis gegen Ingerenzen gesichert werden. Beseitigt der Gesetzgeber eine bestehende Rechtsposition oder Handlungsoption oder hindert er Dritte daran, dem Begünstigten eine Handlungsoption einzuräumen, so kann die abwehrrechtliche Seite der Grundrechte betroffen sein. Gewährt der Gesetzgeber von sich aus eine bestimmte Position oder Option erst gar nicht, so ist dies i.d.R. hinzunehmen. Derivative und erst recht originäre Leistungsrechte sind auf eng umgrenzte Ausnahmekonstellationen beschränkt. 108 Wegen ihrer Beschränkung auf den Schutz vor Übergriffen Dritter, beinhaltet die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten keine sozialen Leistungsrechte. Letztere bleiben auf die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte verwiesen. Da Schutzansprüche nicht zu staatlichen Leistungen im engeren Sinne berechtigen, vermitteln sie auch keinen allgemeinen Grundrechtsvoraussetzungsschutz. 109 Als Grundrechtsvoraussetzungen wird „die Gesamtheit derjenigen Umstände, welche die grundrechtliche Tatbestandsmäßigkeit eines Lebenssachverhalts erst ermöglichen" bezeichnet. 110 Diese Definition stellt klar, daß sie kein Gewährleistungsgegenstand der Abwehrrechte sein können, weil sie ansonsten nicht mehr einen Grundrechtstatbestand faktisch ermöglichen würden, sondern Teil dieses Tatbestandes würden und dann ihrerseits wiederum auf weiteren Voraussetzungen fußen würden. 1 1 1 Die grundrechtlichen Schutzpflichten statuieren daher keine Rechtspflicht, kraft derer der Staat den einzelnen erst in die Lage versetzen muß, seine Freiheitsrechte wahrzunehmen, indem er Dritte anhält, etwa die ökonomischen Grundlagen seines Freiheitsgebrauchs nicht zu gefährden oder gar zu si106
Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 454. Siehe BGHZ 58, 184 (188), wo diese Definition im Kontext der Leistungskondiktion gem. § 812 Abs. 1 S. 1 Var. 1 BGB als „nunmehr gefestigte Rechtsprechung" festgehalten wird. 108 Vgl. Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1, S. 697 ff. 109 Einen Grundrechtsvoraussetzungsschutz für existentiell wichtige „derivative Gemeinschaftsgüter" bejaht indes Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 228 f. 110 Kloepfer, Entstehenssicherung, S. 16; Sachs, in: Stem, Staatsrecht III/1, S. 670; vgl. auch Isensee, HdbStR V, §115 Rz. 4; Stern, Staatsrecht III/2, S. 1777 f. 111 Kloepfer, Entstehenssicherung, S. 17; ähnlich: Stern, Staatsrecht III/2, S. 1784. 107
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten
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ehern. Der Staat muß den einzelnen Marktteilnehmer also beispielsweise nicht vor wirtschaftlichem Wettbewerb schützen oder dem besitzlosen Bürger nicht auf Kosten Dritter Gegenstände eigentumsrechtlich zuordnen. Er muß weder den privaten Vereinen noch den Kirchen und Religionsgemeinschaften Mitglieder zuführen. Nur im Rahmen einer - an Sinn und Zweck orientierten - Auslegung jedes einzelnen Freiheitsrechtes kann sich ergeben, daß ein Grundrechtstatbestand neben den im Verfassungstext benannten Gütern bestimmte Bedingungen ihres Gebrauchs im Sinne einer Entstehenssicherung des Grundrechts mit schützt. 112 Zur deutlichen Abgrenzung von den faktischen Voraussetzungen des Schutzes kann man hier von einem vorwirkenden Grundrechtsschutz 113 sprechen. Diese rechtlichen Vorwirkungen der Freiheitsrechte beschränken sich im wesentlichen auf prozedurale und institutionelle Inhalte. 1 1 4 Schützt der Staat die Ehe, so muß er beispielsweise auch die Eheschließung ermöglichen. 115 Z.T. haben sich prozedurale Bedingungen und faktische Voraussetzungen des Freiheitsgebrauchs auch im Tatbestand der Freiheitsrechte verselbständigt. So garantiert Art. 5 Abs. 1 GG explizit die Informationsfreiheit, auch weil sie Bedingung für die Bildung einer Meinung i s t . 1 1 6 Im übrigen kann sich eine reale Vorsorge als Rechtspflicht nur aus anderen, objektiven Grundrechtswirkungen ergeben, nicht jedoch aus den Schutzpflichten. 117
I I I . Anspruchsziel: Kein Recht auf optimalen Schutz Rechte auf Schutz sind verfassungsmäßige Rechte darauf, daß der Staat die Rechtsordnung in bezug auf das Verhältnis gleichgeordneter Rechtssubjekte untereinander auf eine bestimmte Weise ausgestaltet und handhabt. 118 Die Ablehnung der Schrankenbestimmungen des Grundgesetzes für die 112 Vgl. Kloepfer, Entstehenssicherung, S. 21 u. 24. Zur Untersuchung der einzelnen Freiheitsrechte auf solche Gehalte einer Entstehenssicherung siehe a.a.O., S. 35 ff. 113 Siehe Stern, Staatsrecht III/1, S. 977; vgl. auch Kloepfer, Vorwirkung, S. 221. 114 Vgl. Stern, Staatsrecht III/1, S. 977. 115 Dies kann vor staatlichen Stellen oder vor privaten Stellen in einem staatlich festgelegten Verfahren geschehen, Coester-Waltjen, in: v. Münch/Kunig, GG I, Art. 6 Rz. 6; Krings, FPR 2001, 7 (9); für ein staatliches Eheschließungsmonopol: Schmitt-Kammler, in: Sachs, GG, Art. 6 Rz. 14. 116 Vgl. Badura, Staatsrecht, Rz. C 63; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 5 Rz. 39. 117 Siehe Murswiek, WiVerw 1986, 179 (186). 118 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 411. 1 *
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
Schutzpflichten zwingt nicht zur Annahme, daß die Staatsgewalt nunmehr maximalen oder optimalen Schutz schuldet. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner ersten „Kalkar"-Entscheidung zwar mehrfach von einer „bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge" 1 1 9 gesprochen. Damit hat das Gericht indes nur die einfachgesetzliche Lage des Atomgesetzes beschrieben und ausgelegt; es hat festgestellt, daß die offene Fassung des § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG einen solchen bestmöglichen Schutz und damit einen dynamischen, für naturwissenschaftliche Erkenntnisse und technische Entwicklungen hinreichend aufgeschlossenen Grundrechtsschutz vorsieht. Der Senat hat einen solchen strengen Gesetzesmaßstab als ausreichende Realisierung der grundrechtlichen Schutzpflichten erachtet, jedoch keine Aussage dahingehend gemacht, daß aus den Schutzpflichten selbst ein solcher Anspruch auf optimalen Schutz folgt. Auf einen optimalen Schutz deuten schon eher Aussagen in der „Mülheim-Kärlich"Entscheidung, in denen das Bundesverfassungsgericht für den Umfang des gebotenen Schutzes nicht weniger strenge Maßstäbe anlegen will als bei der Prüfung staatlicher Eingriffsgesetze. 120 Bei der heutigen Würdigung ist zu berücksichtigen, daß dem Gericht in dieser frühen Stellungnahme zu den grundrechtlichen Schutzpflichten angesichts der außerordentlichen Qualität atomarer Gefahren und der politischen Brisanz der Kernkraft eine konsequente Entfaltung der Schutzpflichtendogmatik kaum gelang und es seine Ausführungen zu den Schutzpflichten mit abwehrrechtlicher Diktion verschränkte. Erheblich relativiert wurde dieser ursprünglich streng erscheinende materielle Maßstab aber durch den prozessualen Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts, den es gerade für Technikgefahren entwickelt hat. Es will sich auf die Frage beschränken, ob der Staat die Schutzpflicht „evident verletzt hat". 1 2 1 Eine solche Verlagerung des Problems auf prozessuale Aspekte, kann nicht befriedigen, da sie den Eindruck erweckt, es bestünde keine inhaltliche Übereinstimmung zwischen dem materiellen Inhalt der Schutzpflicht einerseits und dem Gegenstand des prozessualen Schutzanspruchs andererseits. 122 Der materiell-verfassungsrechtliche Maßstab und der Prüfungsmaßstab sollten im Interesse der Rechtsklarheit und des Vertrauens auf den staatlichen Grundrechtsschutz möglichst gleichlaufen. 123 119
BVerfGE 49, 89 (139 u. 143), ähnlich a.a.O., S. 137. Das Erfordernis „bestmöglichen" Schutzes findet sich femer im Sondervotum von Heußner und Simon zur Mülheim-Kärlich-Entscheidung, BVerfGE 53, 30 (88). 120 BVerfGE 43, 30 (58); vgl. hierzu auch Hermes, Schutz, S. 49 f. Für ein Optimum an Schutz auch Suhr, Entfaltung, S. 215; ablehnend hingegen: Breuer, Umweltschutzrecht, Rz. 24; ähnlich: Ossenbühl, DÖV 1981, 1 (4). 121 BVerfGE 56, 54 (80). 122 Vgl. Klein, DVB1. 1994, 489 (495); Brüning/Helios, Jura 2001, 155 (162).
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten
261
Bereits auf der Ebene des Anspruchsziels bzw. des Anspruchsumfangs der Schutzpflicht sollten daher die Unterschiede zwischen Schutzpflicht und Abwehrrecht angemessen einbezogen werden. Daß die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht von einem optimalen Schutz ausgeht, zeigt ferner das Untermaßverbot. Indem der Zweite Senat dieses Prinzip in die Schutzpflichtenjudikatur eingeführt hat, 1 2 4 hat er zu erkennen gegeben, daß das Mindestmaß bzw. die Untergrenze des Schutzes durch eine weitende Betrachtung des Einzelfalles zu ermitteln ist und sich das Maß des Schutzes nicht gleichsam von selbst aus der Beachtung der abwehrrechtlichen und rechtsstaatlichen Grenzen des staatlichen Handelns ergibt. Das Abwehrrecht ist von seiner Konstruktion her prinzipiell auf das vollständige Unterlassen von grundrechtsbelastenden Maßnahmen gerichtet. 1 2 5 Erst die Grundrechtsschranken eröffnen die Möglichkeit, in den Schutzbereich eines Freiheitsrechts einzugreifen, sofern das ermächtigende Gesetz und der eingreifende Einzelakt ihrerseits der Bedeutung des Grundrechts ausreichend Rechnung tragen und insbesondere das Verhältnismäßigkeitsprinzip beachten. Die vom Gesetzgeber ausgefüllte Schranke relativiert das ideale Recht auf Freiheit von Grundrechtseingriffen und wird ihrerseits durch Schranken-Schranken relativiert. Der Zustand eines vollständigen staatlichen Verzichts auf Eingriffe kann deshalb zum Ausgangspunkt der Abwehrrechtsdogmatik gewählt werden, weil der freiheitliche Rechtsstaat sich mit Ingerenzen in die Freiheitssphären seiner Bürger möglichst zurückhalten soll und der Verzicht auf Eingriffe in weiten Lebensbereichen auch eine reale Option für den Staat ist. Die Schutzpflicht muß hingegen konstruktiv ohne ein solches ideales Recht auskommen. Sie knüpft an staatliches Nicht-Handeln an, solches Nicht-Handeln hat keinen exakten Gegenstand. 126 Daß der Staat einen Freiheitsbereich absolut oder auch nur optimal schützt, ist angesichts der Mannigfaltigkeit der drohenden Gefahren und der praktischen Unbegrenztheit vorstellbarer Schutzmaßnahmen schlechthin unmöglich, denn anders als beim Abwehrrecht geht es hier nicht um den Verzicht auf eine einzelne, isoliert darstellbare Handlung, den staatlichen Grundrechtseingriff, sondern um die Herstellung eines Zustandes, die Freiheitssicherung gegen Dritte. 123
Vgl. Becker, DZWiR 1994, 397 (402). Für eine Trennung von Handlungspflicht und Kontrolldichte hingegen: Denninger, FS Mahrenholz, S. 561 (568). 124 BVerfGE 88, 203 (254 ff.), das den Begriff des Untermaßverbotes wohl primär i.S. einer Eingrenzung der Schutzpflichten gebraucht, vgl. Hain, DVB1. 1993, 982 (984). Zum Untermaßverbot siehe unten Teil 5 C.VI. 125 Vgl. Wahl/Masing, JZ 1990, 553 (558) m. w. Nachw.; kritisch hierzu: Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 118 ff. 126 Wahl/Masing, JZ 1990, 553 (558).
262
Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
Schon der optimale Schutz führte daher im Ergebnis zu einer Überbetonung des staatlichen Schutzhandelns und einer Selbstlähmung gestaltender Staatstätigkeit, weil der Forderung nach Schutz nurmehr Grundrechte Dritter oder andere Verfassungspositionen, schwerlich aber das Argument eines effektiven Einsatzes staatlicher Ressourcen entgegengehalten werden könnte. Ein Recht auf optimalen Schutz würde einen Gestaltungsspielraum des Staates bei der Ausgestaltung seines Schutzes weitestgehend beseitigen. Denn selbst wenn im Einzelfall als „optimal schützend" noch eine Mehrzahl von Schutzinstrumenten in Betracht käme, so würde das Übermaßverbot fordern, daß unter allen diesen Maßnahmen, soweit sie mit einem Grundrechtseingriff beim Störer verbunden sind, die am wenigsten belastende gewählt wird. Angesichts des Zusammenspiels von Schutzpflicht und Verhältnismäßigkeitsgebot könnte von einer echten Auswahlentscheidung des Gesetzgebers bei der Festlegung des Schutzkonzepts kaum noch die Rede sein. Nicht der optimale Schutz, sondern ein hinreichender und angemessener Schutz 1 2 7 wird daher vom Staat geschuldet. 128 Er bestimmt sich in erster Linie durch das Untermaß verbot. 1 2 9 Versteht man die Formulierungen eines „bestmöglichen" oder „optimalen" Schutzes indes in der Weise, daß sie den besten Schutz unter dem Vorbehalt des vertretbaren und effektiven Mitteleinsatzes als Anspruchsziel statuieren, so wird der „optimale" i.d.R. mit dem „hinreichenden" Schutz zusammenfallen. In diesem Sinne kann auch von den Schutzpflichten als „Optimierungsgeboten" 130 gesprochen werden.
IV. Die Auswahl der Schutzinstrumente und -Strategien Das Problem einer Auswahl von Schutzinstrumenten und -Strategien stellt sich bei der Abwehrfunktion der Grundrechte nicht, da dort eine konkrete Handlung des Staates auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand steht und danach gefragt ist, ob diese Handlung unterlassen oder in ihren Folgen für die Betroffenen abgemildert werden muß. Die Abwehrfunktion kennt als Rechtsfolge nur die gänzliche oder partielle staatliche Enthaltsamkeit. Im 127 So auch die Ausführungen in der zweiten Fristenregelungsentscheidung, BVerfGE 88, 203 (254). 128 Starck, Verfassungsauslegung, S. 80; vgl. auch Böckenförde, Der Staat Bd. 29 (1990), S. 1 (13 u. 29). Z.T. wird jedenfalls in der subjektiv-rechtlichen Ausprägung der Schutzpflicht gar nur eine „Minimalposition an Schutz" für verpflichtend gehalten, so etwa Wahl/Masing, JZ 1990, 553 (563). 129 Dazu sogleich Teil 5 C.VI. 130 Siehe hierzu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 71 ff.; Wahl/Masing, JZ 1990, 553 (556); Stern, Staatsrecht III/2, S. 1770.
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten
263
Gegensatz dazu fragen die Schutzpflichten nach einer positiven Handlung. Die Rechtsfolge besteht hier in einer - mitunter kaum eingrenzbaren oder überschaubaren - Vielzahl von möglichen Handlungsoptionen des Staates. 1 3 1 Der grundlegende Unterschied dieser im Freiheitsbegriff verknüpften Grundrechtsfunktionen läßt sich mit den Stichworten einer Konditionalund einer Finalprogrammierung umschreiben. 132 Die Rechtsfolge, daß der Staat auf eine bestimmte Handlung oder Handlungsintensität verpflichtet wird, wird bei der Abwehrfunktion schon mit dem Vorliegen des Tatbestandes vorgegeben. Es handelt sich um einen konditionalen „Wenn-DannSchluß". Die Handlung des Staates, welche eine grundrechtliche Schutzpflicht erfüllt, läßt sich hingegen nicht der Grundrechtsnorm entnehmen; diese gibt nur die Finalität der Handlung vor. Mit dem Ziel wird dem Staat das „Ob", nicht aber das „Wieviel" und das „Wie" des Schützens vorgegeben.
1. Schutzinstrumente und Schutzstrategien a) Aktiver Schutz Leitbild der Rechtsfolge der Schutzpflichten ist das aktive Schutzhandeln des Staates. Wird die Freiheitssphäre des Bürgers gefährdet oder gestört, ruft das Polizei, Ordnungsbehörden, die Staatsanwaltschaft oder andere staatliche Stellen auf den Plan, um die Quelle der Gefahr zu beseitigen bzw. einzudämmen. aa) Schutz durch Eingriff Geht der Staat gegen eine Gefahrenquelle vor, so muß er sich regelmäßig den Instrumenten der Eingriffsverwaltung bzw. - außerhalb der Exekutive gesetzgeberischer oder judikativer Eingriffe bedienen. Er kann den Störer mit einem Verbot oder Unterlassensgebot, das unter Umständen zu vollstrecken ist, belegen. Gegebenenfalls kann dem Störer auch eine Handlungspflicht auferlegt werden. Diese muß entweder im Zusammenhang mit einem vorhergehenden gefährdenden Tun stehen oder die Handlungspflicht muß - im Sinne des Übermaßverbotes - weniger belastend sein als ein gleichfalls in Betracht kommendes Verbot. So kann der Staat an die Stelle eines Verbotes etwa eine Meldepflicht gegenüber staatlichen Stellen, eine Informationspflicht gegenüber den Betroffenen oder eine Aufklärungspflicht gegenüber der Öffentlichkeit anordnen. Der Störer ist grundsätzlich nur ver131 132
Vgl. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 160. Scherzberg, DVB1. 1989, 1128 (1134); Dietlein, Schutzpflichten, S. 112.
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
pflichtet, fremde Rechtssphären unangetastet zu lassen, muß diese jedoch nicht von sich aus aktiv schützen. 133 Ebenfalls Eingriffsqualität besitzen i.d.R. auch staatliche Warnungen, die sich zwar nicht unmittelbar, aber final gegen den Störer richten. 1 3 4 Schließlich können auch die Überwachung von Störungsquellen und die Ermittlung der Art und Intensität der Gefahr (Gefahrerforschung) mit Grundrechtseingriffen verbunden sein. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit wird die zuständige staatliche Stelle gar die Pflicht treffen, sich zunächst um eine weitere Aufklärung der Ursachenzusammenhänge 135 oder der Spezifika der Gefahr zu bemühen, ehe sie das schärfere Schwert der Ver- oder Gebote zieht. bb) Schutz ohne Eingriff Die bloße Untersuchung von Gefahren oder Störungen an ihren (potentiellen) Quellen, trägt zwar i.d.R. Eingriffscharakter, wird aber im Einzelfall auch ohne Eingriff - im Wege einer „Fernaufklärung" - möglich sein. Schutzhandeln unter Verzicht auf einen Eingriff in die Grundrechte des Störers kann ferner erfolgen, indem der Staat ihn zur freiwilligen Aufgabe seines störenden Tuns bewegt. Die Schutzpflicht verlangt keine staatlicherseits manifestierte „Mißbilligung" der Störung, sondern kann auch im einvernehmlichen Zusammenwirken mit dem Störer erfüllt werden. 1 3 6 Wenn dieser kooperative Weg eine vorübergehende oder partielle Hinnahme der Gefährdung oder Störung bedeutet, so läßt sich dies rechtfertigen mit einer erhöhten Wirksamkeit des freiwilligen Störungsverzichtes oder unter dem Gesichtspunkt des aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip folgenden Gebotes, die Abwehrrechte des Störers schonend zu behandeln und nicht unnötig in sie einzugreifen. Ein probates Mittel bilden wirtschaftliche Anreize: Dem Störer werden Geld- oder Sachleistungen unter der Bedingung gewährt, daß er auf sein Dritte störendes Tun verzichtet oder es so verändert, daß es die 133
Kritisch zu solchen positiven Handlungspflichten bereits v. Humboldt, Wirksamkeit des Staates, S. 130 („... halte ich es auch nicht für gut, wenn der Staat einen Bürger zwingt, zum Besten des anderen irgend etwas gegen seinen Willen zu tun ..."). 134 Vgl. hierzu aus dem neueren Schrifttum: Ibler, FS Maurer, S. 145 (150 ff.) m. w.N. 135 Hermes, Schutz, S. 234. 136 Bereits BVerfGE 39, 1 (44) betonte daher, daß es Aufgabe des Staates sei, „in erster Linie sozialpolitische und fürsorgerische Mittel zur Sicherung des werdenden Lebens" einzusetzen. Eine Pflicht zur Pönalisierung des Schwangerschaftsabbruchs bejahte das Gericht i. Erg. nur aufgrund der besonderen Bedeutung des Rechtsgutes Leben, vgl. a.a.O., S. 46 ff.
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten
Übergriffsschwelle nicht überschreitet. 137 gleichsam sein störendes Verhalten ab.
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Der Staat kauft dem Störer
Ein Sonderfall eingriffsloser staatlicher Schutzmaßnahmen an der Störungsquelle kann sich ergeben, wenn es dem Störer gerade darum geht, mit seinem Verhalten den Staat zu einem bestimmten, ihn begünstigenden Handeln zu bewegen. In dieser Konstellation nimmt der Störer das private Opfer seiner Handlung praktisch zur „Geisel" für eine gegen den Staat gerichtete Forderung. Eine solche Geiselnahme im wirklichen Wortsinne lag der in der Anfangsphase der Schutzpflichtenjudikatur angesiedelten Schleyer1 IC 1^Q Entscheidung zugrunde. Hätte der Staat den Forderungen der Entführer des damaligen Arbeitgeberpräsidenten Schleyer entsprochen und elf verurteilte bzw. in Untersuchungshaft befindliche Terroristen freigelassen, so hätte er dadurch nicht in Abwehrrechte Dritter eingegriffen. Bei der Behandlung solcher Fälle der versuchten Erpressung staatlicher Entscheidungsträger ist dennoch besondere Vorsicht und Zurückhaltung geboten. Zwar bleibt ein lapidares Credo, der Staat dürfe sich nicht erpressen lassen, zu sehr an der Oberfläche. Auch kollidiert seine Schutzpflicht gegenüber der Geisel i.d.R. nicht mit Schutzpflichten gegenüber anderen Teilen der Bevölkerung, die Opfer von Tätern werden könnten, welche sich durch die Hoffnung auf die Wiederholung einer erfolgreichen Erpressung des Staates ermutigt fühlen könnten, denn bezogen auf diese denkbaren künftigen Opfer mangelt es an einer konkreten Gefährdungslage und damit an einem schutzpflichtenauslösenden Grundrechtsübergriff. Die Schutzpflicht zugunsten der Geisel kollidiert jedoch mit dem Rechtsstaatsprinzip, das auch den Vorrang des Gesetzes, also die Bindung der Exekutive an das Gesetzesrecht beinhaltet. 140 Flankiert wird das Rechtsstaatsprinzip insoweit durch den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Aus ihnen folgt, daß gesetzlich normierte Verfahren nicht im Einzelfall willkürlich auf Druck Privater durchbrochen werden dürfen, 141 zumal wenn sich diese Privaten dabei illegaler 137
Vgl. Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 121. BVerfGE 46, 160 ff. 139 Solche Fallkonstellationen sind jedoch nicht nur in echten Fällen krimineller Geiselnahme, sondern ebenso in weniger dramatischen Sachverhalten vorstellbar: So könnte beispielsweise ein Gewerbetreibender, der seinen Betrieb aus einem innerstädtischen in einen Außenbereich verlegen möchte, seinem Bauantrag dadurch Nachdruck verleihen, daß er an seinem jetzigen Standort notwendige und zumutbare Emissionsschutzanstrengungen unterläßt, um sich der (politischen) Unterstützung der Anwohner seines Betriebes für sein Verlagerungsvorhaben zu vergewissern. 140 Siehe hierzu Sobotta, Rechtsstaat, S. 479 f.; Sommermann, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG II, Art. 20 Rz. 261 f. 141 Zum Willkürverbot und seiner Verortung in Art. 3 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip vgl. Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, Art. 20 Rz. 295 f. 138
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
oder gar pönalisierter Mittel bedienen. Sedes materiae für den Schutz der Bevölkerung vor künftigen Erpressungsversuchen des Staates ist darüber hinaus das Sozialstaatsprinzip, das den Staat auch unterhalb der grundrechtlichen Übergriffsschwelle zu fürsorgerischen und schützenden Maßnahmen anhält. Nicht um aktiven Schutz im eigentlichen Sinne, jedoch auch um ein schützendes Verhalten, das sich an der Störungsquelle auswirkt, handelt es sich, wenn der Staat auf eine Handlung verzichtet, die den Störer erst in die Lage versetzen würde, in das Grundrecht eines Dritten überzugreifen, ohne daß die staatliche Handlung ihrerseits bereits die Voraussetzungen eines Grundrechtseingriffs erfüllt hätte. Der Staat schützt das potentielle Opfer hier ausnahmsweise durch seine Untätigkeit. 1 4 2 Er verzichtet auf eine Handlung, die er ohne die Betroffenheit der Freiheitssphäre des Opfers vorgenommen hätte. Als Beispiel mag das informierende Staatshandeln dienen, soweit es nicht in Gestalt von direkten Warnungen und Empfehlungen in die Grundrechte von Bürgern eingreift, sondern unspezifischer Natur ist. Ermöglichen solche Informationen nunmehr etwa Presseorganen, in die Privatsphäre von Dritten überzugreifen, so kann - im Rahmen der erforderlichen Abwägung - der Staat im Einzelfall gehalten sein, seine allgemeine Informationspolitik zu deren Schutz einzuschränken. 143 b) Passiver Schutz Statt sich der Störung bzw. ihrer Quelle zuzuwenden kann der Staat auch den passiven Schutz des Übergriffsopfers bewirken oder stärken. Ein Eingriff in die Grundrechte des Störers ist im Rahmen dieser Schutzstrategie typischerweise ausgeschlossen, da sich ein Kontakt staatlicher Stellen zum Störer nicht ergibt. Die Stärkung des Opfers kann aber ausnahmsweise dann zu einem mittelbaren Grundrechtseingriff beim Störer führen, wenn das Opfer durch staatliche Hilfen in die Lage versetzt wird, den Störer sei142
Auch wenn die Übergriffsschwelle in solchen Fallkonstellationen i.d.R. noch nicht erreicht wird, so handelt es sich hier dennoch um Schutzpflichtenfälle, wenn diese Schwelle mit Hilfe des staatlichen Handelns überschritten worden wäre. Dem Staat kann nicht gestattet werden, zunächst zu den Voraussetzungen für einen Übergriff beizutragen und ihm anschließend die Pflicht zu deren Bekämpfung aufzuerlegen. 143 So müssen etwa staatliche Stellen des Verbraucherschutzes abwägen, ob sie Informationen über die abstrakte Risikogeneigtheit bestimmter Produkte veröffentlichen, obwohl diese erstens nicht den Grad einer Gefährdung erreichen und zweitens zu besorgen ist, daß diese Informationen in den Medien entstellend und dramatisierend rezipiert und bestimmten Produzenten zugeordnet werden. Der Staat darf seine Informationen nicht sehenden Auges zur Grundlage drittschädigender privater Desinformation werden lassen.
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten
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nerseits in dessen Rechtskreis „präventiv" zu beeinträchtigen, und diese Beeinträchtigung seitens des Staates ins Kalkül gezogen wurde. Die Betrachtung kann sich hier aber auf den Regelfall echten passiven Opferschutzes beschränken. Dieser kann zum einen schon mittels staatlicher Präsenz erreicht werden. Alleine dadurch, daß der Staat Einrichtungen wie Polizeiund Ordnungsbehörden oder Gerichte unterhält, die der inneren Sicherheit bzw. dem inneren Frieden zu dienen bestimmt sind, wirkt er der Neigung zu Grundrechtsübergriffen entgegen. Darüber hinaus kann er (potentiellen) Opfern mit Beratung und Information zur Seite stehen, aber auch materielle Hilfen zum Selbstschutz gewähren. Problematisch ist hier, ob auch die nachträgliche Heilung bereits eingetretener Störungsfolgen durch staatliche Stellen von den grundrechtlichen Schutzpflichten gefordert sein kann. Aus der Sicht des Übergriffsopfers läßt sich diese Frage dahingehend zuspitzen, ob es vom Staat Kompensation für nicht geleisteten präventiven Schutz beanspruchen kann. Dies wird z. T. angenommen, indem eine Parallele zu dem - u.a. - aus den Abwehrrechten hergeleiteten Folgenbeseitigungsanspruch gezogen w i r d . 1 4 4 Anspruchsinhalt der Schutzpflichten ist die Vermeidung und Beseitigung von Grundrechtsübergriffen Privater. Die Folgen solcher Übergriffe, die nicht selbst Bestandteil der Störung sind, liegen außerhalb dieses Anspruchsinhalts. Aus einer Parallelbetrachtung der abwehrrechtlichen Hilfsansprüche läßt sich ein genereller Störungs- oder Übergriffsfolgenbeseitigungsanspruch ebenfalls nicht gewinnen. Ob der Staat oder ein privater Dritter einen rechtswidrigen Zustand geschaffen hat, ist ein erheblicher Unterschied, welcher die Gegenüberstellung von staatlichem Unterlassen und staatlichem Handeln im Zusammenhang mit der Herleitung der grundrechtlichen Schutzpflichten widerspiegelt. 145 Der Folgenbeseitigungsanspruch wird darum auch nicht ausschließlich auf die Freiheitsgrundrechte, sondern ebenso auf das Rechtsstaatsprinzip gestützt. 1 4 6 Er trägt dem Gerechtigkeitsgedanken Rechnung, wonach der Staat nicht nur seine rechtswidrigen Entscheidungen und Maßnahmen aufheben, sondern auch deren verbleibende Folgen beseitigen muß. Nicht gehalten ist der Staat jedoch, Folgen, zu deren Entstehen er nicht beigetragen hat und
144
In diesem Sinne Hermes, Schutz, S. 264, der jedoch diesen Anspruch anhand der Voraussetzungen des Rechts auf Schutz vor den Störungen als solchen begrenzt sehen will und damit offenbar einem solchen Folgenausgleichsanspruch nur die Fälle zuordnen will, in denen die staatlichen Stellen, den „verfassungsrechtlich gebotenen Schutz versäumt haben"; dies kommt i. Erg. der hier vertretenen Ansicht jedenfalls nahe. 145 Siehe oben Teil 3 B.III. 1. 146 So etwa Bachof, Vörnahmeklage, S. 126 ff.; siehe zu den verschiedenen Begründungswegen Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht II, § 52 Rz. 16.
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
die er nicht verhindern mußte, zu beseitigen. Der von solchen Folgen Betroffene hat sich an den Verursacher zu wenden. Ausdruck einer Schutzpflicht des Staates ist es hier allerdings, in Gestalt des Zivilprozesses ein wirkungsvolles Instrumentarium bereitzustellen, mit dessen Hilfe der Betroffene die Folgenbeseitigung durch den privaten Verursacher erwirken kann. Unmittelbar gegen den Staat gerichtete Ansprüche kommen nur dann in Betracht, wenn dieser eine originäre Schutzpflicht auf Verhütung oder Beseitigung einer Störung grob mißachtet hat und erst dadurch Folgeschäden eingetreten sind. Wegen der unüberschaubaren Vielfalt solcher Übergriffskonstellation und der natürlichen Begrenztheit der diesbezüglichen Kenntnisse staatlicher Stellen, wird in diesen Fällen aber nur bei schuldhafter Untätigkeit eine Haftung in Betracht kommen, die sich nicht aus den grundrechtlichen Schutzpflichten, 147 sondern aus Amtshaftungs- 148 sowie Aufopferungsansprüchen ergibt. c) Vierpolige
Schutzstrategien
Das der Schutzpflicht zugrundeliegende Dreieck aus Störer, Opfer und Staat kann auf der Rechtsfolgenseite zum Viereck erweitert werden, sofern zuständige staatliche Stellen für die Umsetzung und Konkretisierung der Schutzpflichten Private in Dienst nehmen oder staatliche Aufgaben privatisieren. Der Staat versucht seiner Schutzpflicht nachzukommen, indem er sich der Hilfe eines privaten „Vierten" bedient, um den Grundrechtsübergriff des störenden Dritten zu unterbinden. 149 Schaltet der Staat einen Verwaltungshelfer ein, so bleibt er selbst in der Schutzpflichtenverantwortung. Schutzansprüche des Opfers gegenüber dem Helfer werden nicht begründ e t ; 1 5 0 das Schutzpflichtendreieck erweitert sich also nur faktisch, nicht indes verfassungsrechtlich zum Viereck. Private Verwaltungshelfer können mangels einer unmittelbaren Grundrechtsbindung nicht in die Freiheitsrechte der von ihnen zu beeinflussenden privaten Störer eingreifen. Ihr Tätigwerden kann den Störern gegenüber aber einen Übergriff darstellen. 147
A.A. Röder, Haftungsfunktion, S. 100 ff. Die Schutzpflichten gewinnen ihre Bedeutung hier im Rahmen der zu prüfenden Amtspflichtverletzung. 149 So der Fall in BVerwGE 82, 76 ff., betreffend die staatliche Finanzierung eines privaten Vereins, mit dessen Hilfe Jugendsekten bekämpft werden sollten, sofern man mit Manssen, Staatsrecht I, Rz. 56, die staatliche Finanzierung als schutzpflichteninduziert werten möchte. Deutlicher die Vörinstanz OVG Münster, DVB1. 1990, 999 (1000 f.). 150 Gegen die Grundrechtsbindung des Verwaltungshelfers siehe eingehend: Burgi, Privatisierung, S. 332 ff. m.w.Nachw. Zurückhaltend zur Grundrechtsverpflichtung des Verwaltungshelfers auch Stern, Staatsrecht III/1, S. 1335. 148
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten
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Es bestehen dann grundrechtliche Pflichten des Staates in beide Richtungen: Der Staat schützt über seinen Helfer das Opfer vor Übergriffen und muß zugleich sicherstellen, daß die Schutzmaßnahmen des Helfers nicht übermäßig in die Grundrechte des Störers eingreifen. Der staatliche Schutz des Störers vor einem „übereifrigen" Verwaltungshelfer ist Ausfluß des Abwehrrechts, soweit sein Einsatz zur Störungsbeseitigung die - weit gefaßten - Voraussetzungen eines mittelbaren Grundrechtseingriffs erfüllen. Sollten diese im Einzelfall nicht mehr gegeben sein, so trifft den Staat insoweit eine (zweite) Schutzpflicht zugunsten des Störers. Unabhängig von der Qualifizierung als mittelbarem Grundrechtseingriff des Staates oder schutzpflichtenaktivierendem Übergriff des Privaten, hat die Disziplinierung des Helfers i.d.R. durch ein staatliches Gesetz zu erfolgen. 151 Etwas anderes gilt, wenn der Staat einen Privaten mit Hoheitsgewalt beleiht. Hier übernimmt der Beliehene zugleich mit der Hoheitsgewalt die staatliche Grundrechtsbindung aus Art. 1 Abs. 3 G G 1 5 2 und muß sich daher auch den grundrechtlichen Schutzanspruch entgegenhalten lassen. Die beleihende staatliche Stelle bleibt ebenfalls schutzverpflichtet. Solange wie der Beliehene prinzipiell die Gewähr für die Beachtung der Grundrechte bietet, beschränkt sich ihre Schutzpflicht allerdings auf eine Überwachung des Beliehenen im Rahmen ihrer Rechtsaufsicht. Grundrechtsdogmatisch entsteht durch diese doppelte Verpflichtung der unmittelbaren Staatsverwaltung und des Beliehenen jedoch kein Schutzpflichtenviereck hinsichtlich der Einlösung der Schutzpflicht, sondern es entstehen zwei, sich überlagernde Schutzpflichtendreiecke.
2. Schutzpflichtenkonkretisierung als Prognoseentscheidung und die staatliche Gestaltungsfreiheit Mit der dargestellten Vielfalt staatlicher Handlungsoptionen wird die Rechtsfolgenseite der Schutzpflichten im Verhältnis des Schutzbegehrenden zum Staat zutreffend beschrieben. Die Verwirklichung des grundrechtlich im Verhältnis Staat/Opfer zugesicherten Schutzes findet jedoch überwiegend durch Maßnahmen im Verhältnis Staat/Störer statt. Der Zweck der Schutzpflicht ist es letztlich, auf ein bestimmtes Verhalten des oder der Störer abzustellen. Insoweit entspricht die Situation doch wieder der Abwehrfunktion der Grundrechte; nur daß nicht auf ein bestimmtes Verhalten staatlicher Organe, sondern ein solches Privater im Ergebnis abgestellt werden 151
Vgl. OVG Münster, DVB1. 1990, 999 (1000 f.). In den Fällen eines mittelbaren Grundrechtseingriffs entsteht dadurch die atypische Konstellation, daß der Staat den grundrechtlichen Abwehranspruch nicht durch Nichthandeln, sondern durch (legislatorisches) Tätigwerden erfüllt. 152 Rüfner, HdbStR V, § 117 Rz. 19; Stern, Staatsrecht III/l, S. 1335.
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
soll. Die Vielfalt möglicher Rechtsfolgen aus den Schutzpflichten findet ihre Fokussierung in diesem Ziel der Übergriffs Vermeidung: Nur solche staatlichen Maßnahmen können von der Schutzpflicht gefordert werden, die diesem Ziel dienen. Dadurch löst sich das Dilemma der Pluralität der Konkretisierungsmöglichkeiten aber nicht auf, denn der Staat kann das störende Verhalten nicht selber unterlassen, sondern er muß auf den Störer einwirken. Die Ermittlung der richtigen Schutzpflichtenkonkretisierung ist daher im Kern eine Prognoseentscheidung des Staates. Die Prognose geht dabei über eine bloße Vorhersage des Zukünftigen hinaus, sondern enthält auch einen schöpferischen Prozeß der Zukunftsgestaltung. 153 Bei Prognoseentscheidungen ist insbesondere dem Gesetzgeber ein besonders weiter Einschätzungsspielraum zuzugestehen, der allerdings der gerichtlichen Kontrolle nicht gänzlich verschlossen i s t . 1 5 4 Notwendiges Korrelat dieses erweiterten Spielraums ist eine Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht. 155 Sie hält den Staat dazu an, die Auswirkungen des Konzepts, das er zum Schutz einer bestimmten Freiheitsposition entwickelt und verfolgt, im Auge zu behalten und bei Nichterreichen des gebotenen Schutzniveaus Korrekturen vorzunehmen. Das Bundesverfassungsgericht anerkennt „bei der Erfüllung von Schutzpflichten einen weiten Gestaltungsraum" der staatlichen Organe, „denen die Wahrung des Grundgesetzes als Ganzes anvertraut i s t " . 1 5 6 In einigen Judikaten verbreitert es diesen Begriff zu einem ,,weite[n] Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich", den es dann jedoch ausschließlich auf den Gesetzgeber bezieht. 1 5 7 Der Einschätzungs- und Wertungsspielraum bezieht sich auf den Tatbestand und die Reichweite der grundrechtlichen Schutzpflichten und markiert die Grenze der richterlichen Nachprüfbarkeit von Entscheidungen v.a. der Legislative. Der Gestaltungsspielraum hilft der Staatsgewalt, widerstreitende Grundrechtspositionen zum Ausgleich zu bringen, 1 5 8 er ist aber insbesondere notwendig, um sonstige konkurrierende private und öffentliche Interessen, welche die Schutzpflicht nicht als verfas153
Vgl. zu diesem Aspekt des Prognosebegriffs im Verwaltungsrecht Nierhaus, DVB1. 1977, 19 (22). 154 Siehe zum staatlichen Einschätzungs- und Prognosespielraum Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 165 ff.; Hermes, Schutz, S. 254; zur verfassungsgerichtlichen Tatsachenermittlung vgl. Kluth, NJW 1999, 3513 (3515 f.). 155 Vgl. BVerfGE 88, 203 (269, 309 f., 335); Hermes, Schutz, S. 268 ff. 156 BVerfGE 92, 26 (46); siehe auch BVerfGE 46, 160 (164); 77, 170 (215); 77, 381 (405); 79, 174 (202); 84, 212 (226 f.); 88, 203 (262); ausführlich nochmals BVerfGE 96, 56 (64). 157 BVerfGE 77, 381 (405); 77, 170 (214 f.); 79, 174 (202); BVerfG (Kammerentscheidung), NJW 1995, 2343. 158 Vgl. BVerfGE 92, 26 (46); 79, 174 (202).
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten
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sungsrechtliche Kollisionsnormen einzuschränken vermögen, zu berücksichtigen. Um diesen Rechts- und Interessenausgleich vorzunehmen, gebe „das Grundgesetz nur den Rahmen, nicht aber bestimmte Lösungen v o r " . 1 5 9 Der Gestaltungsspielraum des Staates beschränkt sich nicht auf die Auswahl der Schutzinstrumente, sondern erstreckt sich auch auf das Niveau des angestrebten und erreichten Schutzes. Treten andere, im Rahmen der Schutzpflichtenkonkretisierung zu berücksichtigende Rechte und Interessen in Widerstreit mit dem Schutzinteresse, so kann dies zu einem „Herunterregeln" des Schutzniveaus führen. Die Literatur pflichtet der Annahme eines Gestaltungsspielraumes im Grundsatz b e i . 1 6 0 Insbesondere sei das behördliche Ermessen im einfachen Recht nicht durch die Virulenz grundrechtlicher Schutzpflichten ausgeschlossen, 161 sondern es erhalte durch sie seine wesentliche Zweck- und Zielvorgabe. 162 Zurecht wird dennoch zwischen dem weiten Prognosespielraum des Gesetzgebers und der strengeren Überprüfbarkeit behördlicher Prognoseentscheidung differenziert. 163 Der Gestaltungsbereich, 164 der mithin der Ebene der Konkretisierung und Aktualisierung der Schutzpflichten zuzuordnen ist, wird als Begründung einer nur eingeschränkten richterlichen Nachprüfbarkeit der staatlichen Realisierung der Schutzpflichten herangezogen. Eine Verletzung staatlicher Schutzpflichten soll demnach nur vorliegen, „wenn die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen hat oder die getroffenen Regelungen und Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder erheblich dahinter zurückbleiben". 165 Diese Einschränkung der (verfassungs-)richterlichen Prüfungskompetenz ist im Ergebnis zuzustimmen, da sie sich aus der Natur der Schutzpflicht ergibt, die staatliches Handeln nicht instrumentell reglementiert, sondern den Schutz von Freiheitsgütern als Zielvorgabe statuiert. Es gibt jedoch Anlaß zu Mißverständen, wenn dieser Gestaltungsspielraum meist als argumentative Vorstufe zur eingeschränkten Nachprüfung 159
BVerfGE 92, 26 (46). Isensee, Sicherheit, S. 38 f.; Hermes, Schutz, S. 200 ff.; Wahl/Masing, JZ 1990, 553 (558); Classen, Jura 1997, 542 (546); Jaeckel, Schutzpflichten, S. 94 f. 161 Nach Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rz. 126, ist es jedoch auf ein Auswahlermessen beschränkt; das staatliche Opportunitätsprinzip gelte im Anwendungsbereich der Schutzpflichten nicht für das „Ob" des staatlichen Handelns. 162 Robbers, Sicherheit, S. 247. 163 Hierzu Nierhaus, DVB1. 1977, 19 (21). 164 Zur Begrenzung dieses Gestaltungsspielraumes durch das Untermaßverbot siehe sogleich unten Teil 5 C.V. 165 BVerfGE 92, 26 (46); ebenso bereits: BVerfGE 77, 170 (215); 77, 381 (405); 79, 174 (202); BVerfG (Kammerbeschluß) NJW 1995, 2343; NJW 1996, 651; NJW 1997, 2509. 160
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
eines Schutzpflichtenverstoßes durch das Bundesverfassungsgericht angeführt wird. Hierdurch könnte suggeriert werden, daß dieser Gestaltungsspielraum erst und ausschließlich bei der richterlichen Prüfungskompetenz Bedeutung erlangt. Dem ist allerdings nicht so. Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, aber auch der Exekutive bei der Konkretisierung der Schutzpflichten hat bereits Teil an der „materiellen" Verfassungsmaßstäblichkeit der Grundrechtsbestimmungen. Kommt das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis, die in Umsetzung der Schutzpflichten ergriffenen Maßnahmen hielten sich innerhalb dieser Gestaltungsbereiches, so kann das Gericht nicht nur keinen Verfassungsverstoß feststellen, sondern ein solcher liegt dann auch nicht vor. Die grundrechtliche Schutzpflicht von Gesetzgeber und Exekutive auf der einen Seite und die Prüfungskompetenz der Gerichte sind in Kongruenz zu bringen. Die eingeschränkte Nachprüfung durch die Gerichte nimmt also keinen höheren materiell-rechtlichen Schutzstandard auf der prozessualen Ebene zurück, sondern zeichnet den Maßstab der Freiheitsrechte inklusive des ihrer Schutzpflichtenfunktion inhärenten Gestaltungsspielraums exakt nach. Die Anerkennung eines Gestaltungsfreiraums des Staates bei der Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten stellen das jeweils um Schutz angegangene Staatsorgan in der Mehrzahl der Fälle von der Einleitung weiterer Schutzmaßnahmen frei, da die vorhandenen Gesetze, die zur ihrer Durchsetzung etablierten staatlichen Einrichtungen wie Behörden und Gerichte sowie deren tatsächliches Tätigwerden private Übergriffe auf ein aus grundrechtlicher Sicht - unter Berücksichtigung widerstreitender privater und öffentlicher Interessen - akzeptables Maß reduzieren. Der Schutzanspruch des einzelnen Grundrechtsträgers ist in diesen Fällen durch ein vorhandenes ausreichendes Niveau legislativen, exekutiven und judikativen Schutzes bereits erfüllt. Diese Erfüllung der Schutzpflicht, die im Sinne der zivilrechtlichen Rechtsfigur der Erfüllung (§ 362 BGB) verstanden werden kann, bewirkt den Untergang des individuellen Schutzanspruchs im konkreten Fall, stellt aber - um wiederum die zivilrechtliche Systematik zu bemühen - einen „Behaltensgrund" für das in Erfüllung der Schutzpflicht im konkreten Fall gewährleistete Schutzniveau dar. Der individuelle Schutzanspruch zwingt den Staat i.d.R. also nicht zum besonderen Tätigwerden, sondern korrigiert nur dort das Niveau tatsächlichen staatlichen Schutzes, wo dieses hinter dem grundrechtlichen Mindeststandard im Einzelfall zurückbleibt. Die einzelnen Parameter der Schutzpflicht, also insbesondere die Bedeutung des Schutzgutes und der Grad seiner Gefährdung, können in einzelnen Fällen und Fallgruppen aber auch ein Schutzniveau postulieren, das der Staat nur mit ganz wenigen oder gar nur einer einzigen Maßnahme erfüllen kann. In diesen Ausnahmefällen ist der staatliche Gestaltungsspielraum erheblich verengt oder gar „auf null" reduziert.
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten
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3. Auswahlkriterien Die Rechtsprechung beurteilt konkrete, von den zuständigen Staatsorganen ergriffene Schutzmaßnahmen auf ihre Verfassungskonformität. 166 Weil die Schutzpflichten nur den Schutzerfolg 167 oder gar nur das Schutzziel, nicht aber die Mittel zu seiner Erreichung determinieren, wird nur dieser Weg einer grundrechtlichen Prüfung in der Literatur als gangbar erachtet. Das Bundesverfassungsgericht befindet sich hier in einer ähnlichen Lage wie sie aus der Überwachung des allgemeinen Gleichheitssatzes, Art. 3 Abs. 1 GG, seit längerem bekannt i s t . 1 6 8 Obwohl das BVerfGG bei einem Verfassungsverstoß eines Gesetzes als Rechtsfolge nur die Nichtigerklärung des Gesetzes vorsieht (vgl. §§ 78 S. 1, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3) hat das Gericht erkannt, daß eine Alternativität zwischen Wirksamkeit und Nichtigkeit des Prüfungsgegenstandes nur der Systematik der Abwehrrechte gerecht wird. Anders als die Verletzung eines Abwehrrechts kann eine Ungleichbehandlung auf vielerlei verschiedene Weise behoben werden. Werden zwei Gruppen in ungerechtfertigter Weise unterschiedlich behandelt, so kann sich eine Gleichbehandlung i.d.R. wahlweise am Behandlungsmaßstab einer der beiden Gruppen orientieren oder aber ein neuer Behandlungsmaßstab zugrunde gelegt werden. 1 6 9 Daher beschränkt sich die Verfassungsjudikatur regelmäßig auf die Feststellung, das zu prüfende Gesetz sei mit dem Gleichheitssatz unvereinbar. 170 Die „Unvereinbarkeits-Judikatur" hat das Bundesverfassungsgericht zwischenzeitlich in einigen Fällen bei Verstößen gegen Freiheitsrechte aufgegriffen. 171 Der Ansatz einer pauschalen Beschränkung auf die Feststellung einer Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz unter bloßem Verweis auf die allgemeine gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit hat sich allerdings zu Recht nicht generell gegenüber der vom BVerfGG vorgegebenen Nichtigerklärung durchgesetzt. 172 Unbeschadet der Frage einer Subjektivierung von grundrechtlichen Leistungsrechten, welchen den Grundrechten in engen Grenzen entnommen werden können, ist der Inhalt solcher Rechte bereits objektiv-rechtlich unvollkommen fixiert, so daß sich auch bei ihnen regelmäßig keine konkrete 166
Vgl. Michael JuS 2001, 148 (151). Hermes, Schutz, S. 261 ff. 168 Parallelen zur Gleichheitssatzjudikatur zieht auch Klein, DVB1. 1994, 489 (495 f.). 169 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 479 ff.; Gubelt, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 3 Rz. 47. 170 BVerfGE 8, 28 (36 ff.); 82, 126 (154 f.); 85, 191 (211 f.); 93, 386 (396). 171 BVerfGE 57, 361 (388); 58, 137 (151); 62, 374 (391). Kritisch hierzu Schiaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rz. 392. 172 Vgl. Schiaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rz. 392. 167
18 Krings
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
Maßnahme als Rechtsfolge ableiten läßt, sondern insbesondere dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zuzubilligen ist. 1 7 3 Die verfassungsprozessuale Regelfolge einer Nichtigerklärung kann hier nicht greifen, weil sie eine unzureichende Leistung durch gar keine Leistung ersetzen würde. Auch in der Schutzpflichtenlehre geht es zwar nicht tatbestandlich um zwei Vergleichsgruppen. Gleichheitsrechte auf der einen sowie Leistungsrechte i.e.S. und Schutzpflichten auf der anderen Seite haben aber gemein, daß die Rechtsfolgenseite offen ist. Folglich haben hier ähnliche Erwägungen zu greifen: Die Rechtsprechung hat sich mit der Anordnung konkreter Schutzmaßnahmen zurückzuhalten. Diesem Postulat wird sie grundsätzlich auch gerecht. Selbst in der zweiten Fristenregelungsentscheidung, in der sie im Ergebnis recht konkrete gesetzeskräftige Anordnungen i.S.d. § 31 BVerfGG trifft, 1 7 4 stellt sie heraus, daß die Wahl des Schutzkonzepts allein Aufgabe des Gesetzgebers ist. 1 7 5 Die retrospektive Kontrolle von Schutzmaßnahmen ist aus Sicht der Verfassungsgerichtsbarkeit der richtige Weg, um die Gestaltungsfreiheiten der übrigen Staatsorgane zu wahren und eine - vielfach bereits beklagte - Konstitutionalisierung des einfachen Rechts 1 7 6 zumindest einzudämmen. Der Rechtsanwender mag aus einem immer dichter werdenden Geflecht von Einzelstellungnahmen des Bundesverfassungsgerichts zum gehörigen Maß des Grundrechtsschutzes vor drittverursachten Gefahren allmählich immer handhabbarere Entscheidungskriterien erhalten. Jedoch können sie ihm nicht die Auswahl von Schutzinstrumenten und -Strategien in den sich permanent neu stellenden Fallkonstellationen ersetzen. Die Ziel- und Erfolgsvorgabe der Verfassung müssen v.a. Legislative und Exekutive ausfüllen. Aber auch die Fachgerichte können in die Lage kommen, daß sie Schutzlücken in der Rechtsordnung auszufüllen haben. Das Bundesverfassungsgericht selbst schließlich kann - insbesondere wenn es im Wege eines Normenkontrollantrages analog Art. 100 Abs. 1 G G 1 7 7 angerufen wird - aufgefordert sein, ein inhaltliches Schutzkonzept zumindest bis zum Handeln des Gesetzgebers zu formulieren. Exekutive, Legislative und Jurisdiktion müssen dabei oftmals zwischen unterschiedlichen Schutzstandards, Instrumenten und Strategien eine originäre Entscheidung treffen, deren Findung un173 Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1, S. 710 f. Dies gilt etwa für den „Anspruch" der Mutter auf „Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft", Art. 6 Abs. 4 GG, oder für die Förderung von Privatschulen, Art. 7 Abs. 4 GG. Vgl. zu Art. 7 Abs. 4 GG auch: BVerfGE 75, 40 (66 ff.); zu Art. 5 Abs. 3 GG (Wissenschaftsfreiheit): BVerfGE 55, 37 (55 ff.). 174 BVerfGE 88, 203 (336 f.). 175 BVerfGE 88, 203 (264). 176 Siehe für das Privatrecht die Kritik von Schuppert/Bumke, Konstitutionalisierung, passim. 177 Vgl. oben Teil 5 B.II.2.
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten
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gleich komplexer ist als die nachträgliche Kontrolle der Rechtsprechung. Da die Akteure dieser Entscheidungsfindungsprozesse den Grundrechten ebenso verpflichtet sind wie die (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit, kann sich die verfassungsrechtliche Betrachtung nicht auf die Retrospektive beschränken. Dennoch muß angesichts der Vielzahl der einzufangenden Lebenssachverhalte und der Regelungsbreite der Grundrechte jeder Versuch scheitern, aus den Freiheitsrechten des Grundgesetzes minutiöse Entscheidungsalgorithmen für Schutzmaßnahmen abzuleiten. Möglich ist es lediglich, einige generelle Kriterien aufzustellen, die als Leitlinien einer Entscheidung dienen können, wobei es unter Umständen ebenso wichtig ist, die Irrelevanz bestimmter Kriterien für die Konkretisierung und Umsetzung der Schutzpflicht klarzustellen. Ausgeblendet bleiben an dieser Stelle noch Prinzipien und Überlegungen, die ausschließlich auf eine Abwägung der jeweiligen Schutzpflicht mit kollidierenden Verfassungsrechts- oder Rechtspositionen zielen und dazu dienen, diese Interessen zu einem verhältnismäßigen Ausgleich zu bringen. 1 7 8 Die im folgenden genannten Kriterien, deren Aufzählung nicht abschließend ist, gelten vor dem Hintergrund der staatlichen Gestaltungsfreiheit. Sie vermögen die wertende Entscheidung der zuständigen staatlichen Organe nicht zu ersetzen, da sich aus ihnen kein starres Korsett für das Schutzhandeln konstruieren läßt. Sie geben Leitlinien, mit deren Hilfe die relevanten Argumente und Interessen geordnet werden können, und können insofern gemeinsam mit der Interessenabwägung und dem Untermaßverbot - einen wichtigen Beitrag zur Konkretisierung und Justiziabilität der Schutzpflichten leisten. a) Übergriffsintensität In der Literatur werden zunächst die Schwere und Wahrscheinlichkeit der Beeinträchtigung als Konkretisierungskriterien genannt. 179 Deren Bedeutung versteht sich von selbst, da die vom Staat vorzunehmende Mittelauswahl die praktische Bedeutung der Gefährdung nicht ausblenden kann. Je größer die Übergriffsintensität ist, desto wirksamere Mittel muß der Staat anwenden, auch wenn diese mit anderen Nachteilen verbunden sind und etwa mit fiskalischen Interessen kollidieren. Zu berücksichtigen ist im Rahmen der Übergriffsintensität zum einen die Frage, ob es sich um eine bereits eingetretene und noch fortdauernde Störung oder um die Gefahr einer solchen handelt. Weist die Übergriffsgefahr einen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad auf, so ist sie wie eine bereits eingetretene Störung zu werten. 178
Hierzu sogleich unten Teil 5 C.V. und Teil 5 C.VI. Hermes, Schutz, S. 255 f.; vgl. auch Canaris, AcP Bd. 184 (1984), S. 201 (228); ders., JuS 1989, 161 (163). 179
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
Zum anderen ist von Bedeutung, wie empfindlich der - eingetretene oder zu besorgende - Schaden das grundrechtliche Schutzgut berührt. Dies kann sich zunächst nach der Wertigkeit des Schutzgutes beurteilen; 180 abgesehen von der herausgehobenen Stellung der Menschenwürde und dem z. T. postulierten „Höchstwert" des Lebens 1 8 1 wird eine abstrakte Rangordnung der Grundrechte untereinander aber zu Recht abgelehnt. 182 Allein dem schwach konturierten Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit mag man hier eine mindere Bedeutung zuweisen, der das Schutzinteresse der aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleiteten Innominatfreiheitsrechte zwar nicht generell hinter widerstreitenden (rechtlichen) Interessen zurücktreten, aber es doch mit einem geringeren Gewicht in den Auswahl- und Abwägungsprozeß eintreten läßt. Andere abstrakte Rangdifferenzierungen etwa zwischen Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt und vorbehaltlosen Grundrechten sind nicht aufzugreifen. 183 Wichtiger als die abstrakte Wertungsebene, ist die Ermittlung der konkreten Schwere der Freiheitsbeeinträchtigung aus der Sicht des betroffenen Grundrechtsträgers. Das Gewicht der Beeinträchtigung determiniert wesentlich auch ihre Zumutbarkeit 1 8 4 für den Grundrechtsträger. b) Wirkungsstadium
der Schutzmaßnahmen
Die vorbeugende Zielsetzung der Schutzpflichten bedingt einen Vorrang präventiver Maßnahmen vor solchen der Beseitigung und Heilung eingetretener Schäden. 185 Dieses Prinzip widerspricht dem soeben herangezogenen Kriterium der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts nicht. Der Vorrang des vorbeugenden vor dem „reparierenden" Schutz ist dahingehend zu verstehen, daß der Staat nicht zuwarten soll, bis sich eine Gefahr realisiert hat, sondern seine Schutzmaßnahmen in einem möglichst frühen Stadium ansetzen soll. Ist eine Störung eingetreten, so ist der Staat aber umso mehr zum Handeln verpflichtet, da der Störungseintritt ein Mehr zu einem auch noch so hohen Grad der Wahrscheinlichkeit darstellt. Der Wahrscheinlichkeitsgrad bezieht sich auf die näheren Umstände des Grundrechtsübergriffs, der Vorrang der Vorbeugung auf das staatliche Schutzhandeln.
180
Hermes, Schutz, S. 256; Canaris, AcP Bd. 184 (1984), S. 201 (228); ders., JuS 1989, 161 (163); ebenso: BVerfGE 88, 203 (254). Für den polizeirechtlichen Schutzkontext: Robbers, Sicherheit, S. 250 f. 181 BVerfGE 39, 1 (42). 182 Siehe nur Stern, Staatsrecht III/2, S. 828 ff.; Hillgruber, Schutz des Menschen, S. 127; Ruffert, Vorrang, S. 194. 183 Hierfür aber Canaris, JuS 1989, 161 (164 u. 172). 184 Robbers, Sicherheit, S. 251, verbindet dieses Stichwort indes mit dem staatlichen Aufwand. 185 Hermes, Schutz, S. 263 f.
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten
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Aus dem Vorrang des vorbeugenden Schutzes folgt allerdings kein genereller Vorrang des aktiven vor dem passiven Schutz. Zwar setzt der erstere bei der Störungsquelle an, so daß sein Vorrang sich im Einzelfall aus Gründen der Effektivität ergeben kann. 1 8 6 Wegen der Mannigfaltigkeit von Störungsquellen ist es indes nicht ausgeschlossen, daß Schutzmaßnahmen, die an der Freiheitssphäre des Opfers ansetzen, einen wirksameren Schutz versprechen oder geringeren Aufwand mit sich bringen. c) Quantitatives Moment In der Literatur wird ferner der Zahl der betroffenen Grundrechtsträger Relevanz für die Auswahl der Schutzmaßnahmen zugeschrieben. 187 Zwar kann die Zahl der (potentiell oder aktuell) von einem Grundrechtsübergriff tangierten Menschen nicht für die Frage herangezogen werden, ob eine grundrechtliche Gefährdungslage überhaupt vorliegt und der Tatbestand einer Schutzpflicht gegeben i s t . 1 8 8 Auf der Rechtsfolgenseite können im Hinblick auf die Auswahl des Schutzhandelns, die in Abwägung zu widerstreitenden verfassungsrechtlichen und sonstigen Interessen zu erfolgen hat, aber solche quantitativen Gesichtspunkte eine Rolle spielen. Eine Gefahr oder Störung, die eine Vielzahl von Menschen betrifft, stellt daher erhöhte Anforderungen an die Wirksamkeit des staatlichen Schutzhandelns. Zurückhaltung ist indes geboten, wenn im Zusammenhang mit der polizeirechtlichen Gefahrenabwehr der „Unwille der Bevölkerung mit der Gefahr" als Entscheidungskriterium herangezogen w i r d . 1 8 9 Der grundrechtliche Schutzauftrag des Staates besteht um des Individualschutzes willen und muß daher den einzelnen oder eine Minorität auch dann schützen, wenn die Bevölkerungsmehrheit die Gefährdungslage hinnimmt oder gar billigt. Dennoch muß man der Legislative und Exekutive zugestehen, daß sie politische Stimmungen in das Kalkül ihrer Entscheidungen zieht, solange dieses Kriterium nicht dominiert oder sie dadurch das Untermaßverbot verletzt. d) Schutzaufwand Nicht verwehrt ist es dem Staat, den Aufwand der einzelnen in Betracht kommenden Schutzmaßnahmen zu berücksichtigen. 190 Die Schonung staat186
Hermes, Schutz, S. 263. Hermes, Schutz, S. 256. 188 Siehe oben Teil 4 C.IV. 189 Robbers, Sicherheit, S. 250 f.; vgl. hierzu die Thematik der Räumung besetzter Häuser: VG Berlin, NJW 1981, 1748 (1749); Schlink, NVwZ 1982, 529 (533). 190 Vgl. Robbers, Sicherheit, S. 251. 187
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
licher Ressourcen, die Berücksichtigung der Kosten und der Effizienzgedanke können zum Verzicht auf die wirksamste Schutzstrategie führen. 191 e) Subsidiarität
staatlichen Schutzes
Im Zentrum der Auswahlkriterien steht die Subsidiarität des staatlichen Schutzes 192 und der Vorrang der Selbsthilfe des von einem Übergriff betroffenen Grundrechtsträgers. Der Grundsatz der Subsidiarität gilt kraft der den Schutzpflichten immanenten Logik, welche sich auf die Sicherung der Freiheit des Grundrechtsträgers gründet. Er gilt damit unabhängig von der Anerkennung der Subsidiarität als einem staatsorganisationsrechtlichen Prinzip. Letztere ist nämlich auch nach der Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG noch mit Zweifeln behaftet, da sich diese Bestimmung von ihrem Wortlaut und Zweck her nur auf die Europäische Union bezieht und keine Anordnungen für die innere Verfassungsordnung der Bundesrepublik trifft. 1 9 3 Die Intensität des gebotenen Schutzes steigt mit abnehmender Selbsthilfemöglichkeit. 194 Solche Selbsthilfemöglichkeiten bestehen gegenüber gewaltsamen Störungen kaum, während sie etwa im Bereich der freiwillig eingegangenen Sozialkontakte - ein Beispiel sind die vertragsrechtlichen Beziehungen - eine große Bedeutung besitzen. Die Abhängigkeit der Schutzintensität von der Selbstschutzmöglichkeit kann im Extremfall dazu führen, daß verfassungsrechtlich gar kein Schutz geboten ist, wenn der Betroffene in der Lage ist, die Beeinträchtigung in zumutbarer Weise mit eigenen Mitteln abzuwehren oder sich ihr zu entziehen. 195 Solche Fälle, in denen trotz des tatbestandlichen Vorliegens einer Schutzpflicht, ein Schutzhandeln des Staates nicht erforderlich ist, dürften indes äußerst selten sein, denn in Betracht zu ziehen sind nicht nur die Handlungen, welche die zuständigen staatlichen Organe, induziert von den Grundrechten noch zusätzlich vorzunehmen haben, sondern die Gesamtheit des Staatshandelns.196 Da bereits die Vorhaltung staatlicher Einrichtungen, die der Sicherheit der Bürger dienen, - wie Ordnungs- und Polizeibehörden 191 Siehe hierzu die zum Verbot von Versammlungen ergangene Rechtsprechung: VG Halle, NVwZ 1994, 719 f.; VG Hamburg, NordÖR 2001, 117 ff.; vgl. zu den Grenzen des Arguments unzureichender Ressourcen im Versammlungsrecht: BVerfG (Kammerbeschluß) NJW 2000, 3051 (3052 f.). 192 Den Gedanken der Subsidiarität betont aus ordnungspolitischer Sicht auch Drexl, Selbstbestimmung, S. 209 f., für staatliches Schutzhandeln im Bereich der Verbraucherpolitik. 193 Für eine innerstaatliche Wirkung hingegen: Oppermann, JuS 1996, 569 (570 f.). 194 Hermes, Schutz, S. 246; siehe auch Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 142; Canaris, AcP Bd. 184 (1984), 201 (228); ders., JuS 1989, 161 (163). 195 Hermes, Schutz, S. 245.
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten
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oder Justizorganen - staatliches Schutzhandeln verkörpert, ist kaum noch ein Gefahrenpotential vorstellbar, das nicht mit staatlichen Schutzmaßnahmen bewehrt ist. Im Interesse des grundrechtsschützenden Staates kann es auch nicht sein, gegenüber wesentlichen Gefahrenlagen untätig zu bleiben und den Bürger zu ermuntern, seinen Schutz unabhängig vom Staat und seiner Rechtsordnung zu organisieren. 197 Leitgedanke der Subsidiarität des staatlichen Schutzes gegenüber dem Selbstschutz des Betroffenen ist daher nicht der Rückzug des Staates aus möglichst vielen gefahrenbehafteten Gesellschaftsbereichen. Anzustreben ist vielmehr ein Zusammenwirken der Privaten mit staatlichen Stellen und staatlichem Recht; der Staat soll möglichst kein fertiges „Schutzprodukt" bereitstellen, sondern Instrumente, mit denen der einzelne sich selbst wirksam zu schützen vermag bzw. deren Anwendung er selbst initiiert. Die wichtigsten dieser Instrumente sind das Zivilrecht und die zu seiner Durchsetzung bereitgestellte Möglichkeit der zivilprozessualen Klage. 1 9 8 Diese ermöglichen es dem Bürger, kraft eigener Entscheidung und durch die aktive Inanspruchnahme staatlicher Gerichte in einem staatlich organisierten und geleiteten Verfahren gegen den Störer vorzugehen. Dieses Zusammenspiel privater Anstrengung und Initiative mit staatlichen Mittel und Einrichtungen hat Vorrang vor originär staatlichem Handeln und damit Vorrang vor der verwaltungsbehördlichen Inanspruchnahme des Störers. Unter dem Blickwinkel der Freiheitlichkeit und Autonomie des einzelnen Grundrechtsträgers liegen die Vorteile des Zivilprozesses gegenüber behördlich gesteuerten Verfahren auf der Hand. Der Dispositionsgrundsatz des Zivilprozeßrechts stellt sicher, daß der Schutzsuchende das „Ob" einer Klage ebenso in der Hand behält wie die Abgrenzung des Klagegegenstandes. Ob er staatliche Hilfe in Anspruch nehmen will oder auf nicht-juristischen Wegen bzw. ohne Mitwirkung staatlicher Stellen eine Lösung sucht, steht in 196 So kann der Grundrechtsträger die Gefahr von Wohnungseinbrüchen beispielsweise durch eigenständige Maßnahmen wie dem Anbringen geeigneter Schlösser jedenfalls verringern; diese genießen Vorrang vor vergleichbar wirksamen staatlichen Maßnahmen wie regelmäßige Überwachungen der Wohnung durch Polizeikräfte. Der Staat bleibt aber nicht untätig gegenüber der Gefahr von Wohnungseinbrüchen, denn er hält Polizeibehörden vor, die Streifenfahrten unternehmen, stellt den Wohnungseinbruch unter Strafe und verfolgt diese Straftat mit der Staatsanwaltschaft und den Strafgerichten. 197 Nicht unproblematisch ist daher die steigende Bedeutung privater Sicherheitsdienste, die zum einen Folge eines als nicht ausreichend empfundenen staatlichen Schutzes ist, zum anderen aber den Rückzug des Staates aus dem Sicherheitssektor befördert und zu einem Sicherheitsgefälle zwischen zahlungskräftigen und weniger zahlungskräftigen (potentiellen) Opfern von Freiheitsgefahren führt. 198 Siehe auch Möstl, in: Demel, Funktionen, S. 53 (68), für den das Zivilrecht „die Basis des gesetzlichen Rechtsgüterschutzes" bildet.
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seiner Entscheidungsmacht. Er kann dabei in Rechnung stellen, daß die Inanspruchnahme der Hilfe Dritter und zumal staatlicher Organe auch zu einer Verfestigung und Verschärfung eines Konflikts führen kann. Selbst wenn das Opfer eines Übergriffs sich für eine Privatklage entscheidet, kann er ein Interesse daran haben, seinen Klageanspruch zu beschränken, um nicht seine gesamte Beziehung zum Störer zum Gegenstand einer juristisches Überprüfung werden zu lassen. Im Rahmen des Zivilprozesses setzt der Schutzsuchende autonom die Grenze zwischen dem rechtlich kontrollierten Raum und dem Raum einvernehmlichen Zusammenlebens, der nicht rechtsfrei ist, in welchem Handlungen aber keiner verbindlichen rechtlichen Überprüfung unterzogen werden sollen. Auch den Verlauf des Prozesses bestimmt der Schutzsuchende eigenständig; so entscheidet er - anders als unter der Geltung eines Amtsermittlungs- bzw. Untersuchungsgrundsatzes über die Einbringung von Beweismitteln. Da der Staat keinen allgegenwärtigen und auch faktisch lückenlosen Schutz gewähren kann und soll, liegt es im Interesse der Freiheit des Individuums, daß es auch bei der Inanspruchnahme staatlichen Schutzes möglichst weitreichende Steuerungsmöglichkeiten behält. Ein Ausfluß des Subsidiaritätsprinzips ist ferner der Vorrang der Unterrichtung des Bürgers über Gefahren vor dem Verbot gefährlichen Handelns. Der Bürger soll durch staatliche Informationen, Empfehlungen und Warnungen, mehr aber noch durch die Verpflichtung des (potentiellen) Störers zur Information über eine von ihm angebotene Leistung oder ein Verhalten in die Lage versetzt werden, diese Leistung nicht in Anspruch zu nehmen bzw. sich von der Gefahrenquelle fernzuhalten. 199 Gesetzgeber und Exekutive vermeiden eine patriarchalische Bevormundung des Bürgers und suchen stattdessen sicherzustellen, daß dieser seine Entscheidung auf einer adäquaten Informationsgrundlage trifft und dem Störer informatorisch auf einem „levelled playing field" begegnen kann. Der Staat soll mithin vorrangig solche Schutzstrategien bereitstellen, die dem einzelnen einen Schutz nicht aufdrängen, sondern ihm Instrumente anbieten, mit deren Hilfe er unter größtmöglicher Eigenverantwortung seinen Schutz mit staatlicher Hilfe selbst betreiben kann. In den Grenzen der Rechtsstaatlichkeit, 200 der Rechtsgleichheit und des staatlichen Gewaltmonopols 2 0 1 will der Gedanke der Subsidiarität des staatlichen Schutzes dem Schutzsuchenden bei der Auswahl und Anwendung des staatlichen Schutzinstrumentariums einen möglichst großen Freiraum lassen. Das Subsidiari199
Vgl. Hermes, Schutz, S. 245. Zur (selbstverständlichen) Beachtung der rechtsstaatlichen Grundsätze vgl. Starck, Verfassungsauslegung, S. 80; Sachs, in: Stem, Staatsrecht III/1, S. 738. 201 Zur Begrenzung des Subsidiaritätsgrundsatzes durch das Gewaltmonopol: Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 143. 200
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tätskriterium besagt jedoch auch, daß ein solcher eigenverantwortlich betriebener Schutz in bestimmten Fällen nicht ausreichend oder angemessen ist. Zum einen können die Schwere einer Rechtsbeeinträchtigung und ihre Folgen für das gesellschaftliche Zusammenleben insgesamt zu einem amtlichen Einschreiten des Staates zwingen. Solche Übergriffstypen bewehrt der Staat i.d.R. mit einem Straf- oder einem Ordnungswidrigkeitstatbestand. Er kann dabei gar verpflichtet sein, ein bestimmtes Verhalten unter Strafe zu stellen. 202 Dem Gedanken der Subsidiarität des Schutzes trägt der Gesetzgeber auch innerhalb des Strafrechts Rechnung, indem er bestimmte, weniger gravierende und den privaten Lebensbereich unmittelbar berührende Delikte unter einen Strafantragsvorbehalt stellt. Ähnlich wie im Strafrecht tritt generell bei der Durchsetzung eines (zivil-)gerichtlichen Urteils gegen den widerstrebenden Störer das Prinzip des Selbstschutzes zurück. Dem Opfer können zwar auch hier noch gewisse Dispositionsrechte eingeräumt werden. Die notfalls auch gewaltsame Durchsetzung der privaten Rechte darf der Staat jedoch nicht aus der Hand geben. Staatlicher Schutz, der von Amts wegen und ohne Beteiligung des Übergriffsopfers in Gang gesetzt wird, ist ferner dort angezeigt, wo eine Entscheidung staatlicher Gerichte zu spät ergehen würde, um eine Gefahr oder eine Störung zu beseitigen. Solche „Eilfälle" sind regelmäßig gegeben, wenn es um Gefahren im polizeirechtlichen Sinne geht, die einem nicht unbedeutenden Rechtsgut drohen. In entsprechender Weise muß der Staat von sich aus tätig werden, wenn das Opfer aus anderen Gründen nicht zur aktiven Betreibung eines Verfahrens zur Erlangung seines Schutzes in der Lage ist. Schließlich führt ganz allgemein die Unzumutbarkeit der eigenen Steuerung des staatlichen Schutzes zu einer Ausnahme vom Vorrang des Selbstschutzes.203 Im Kontext der Subsidiarität staatlichen Schutzes stellt sich abschließend die Frage nach einer Berücksichtigung besonderer autonomer, privater Schutzvorkehrungen. Setzt die Existenz solcher staatsunabhängiger Vorkehrungen des einzelnen die staatliche Handlungspflicht aus den Grundrechten im Ergebnis herab? Diese Frage ist zu verneinen. Nicht der tatsächlich erfolgende vorbeugende Selbstschutz, sondern die Möglichkeit zum Selbstschutz beeinflussen Intensität und Qualität staatlichen Schutzhandelns. Eine „Bestrafung" des Umsichtigen und desjenigen, der in private Sicherheitsvorkehrungen investiert, darf ebensowenig erfolgen wie eine Bevorzugung des Sorglosen, der blind auf den Staat vertraut. Abzustellen ist also darauf, ob der Private - im Rahmen des Zumutbaren - Schutzvorkehrungen effizienter vornehmen kann als der Staat, nicht ob er es auch getan hat. 202 203
BVerfGE 39, 1 (47). Hermes, Schutz, S. 245.
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
V. Schutzpflichtenkollisionen Nicht im Rahmen eines Tatbestandsmerkmals, der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs, sondern auf der Rechtsfolgenseite, bei der Konkretisierung des Schutzhandelns und der Auswahl der Maßnahmen hat die Kollision der Schutzpflichten mit anderen Rechtsgütern ihren dogmatischen Platz. In der Dreiecksstruktur der Schutzpflichten angelegt sind zunächst Kollisionen der Schutzpflichten des Übergriffsopfers mit den Abwehrrechten des Störers. Kollisionen kommen aber ferner in Betracht mit nichtabwehrrechtlichen Grundrechtsfunktionen einschließlich der Schutzpflicht selbst, mit objektiven Verfassungssätzen und einfachrechtlichen Normen. 1. Eingriffe in Störergrundrechte Der von den Freiheitsrechten geforderte Schutz vor Übergriffen kann vielfach nur durch einen staatlichen Eingriff in die Abwehrrechte des Störers verwirklicht werden. Schutzanspruch und Abwehrrecht befinden sich in diesen Fällen auf einem Kollisionskurs, der grundrechtsdogmatisch aufzulösen ist. Dazu bedarf es in materieller Hinsicht letztlich einer Güterabwägung. Zuvor sind allerdings die formellen Bedingungen dieser Kollision zu beleuchten. Kann die Schutzpflicht eine gesetzliche Eingriffsermächtigung verfassungsrechtlich legitimieren oder substituieren? Die damit gestellte Frage nach dem Verhältnis von Schutzpflicht und Eingriffsermächtigung, welche bereits im Kontext der Schutzpflichtenadressaten berührt wurde, 2 0 4 ist eine der folgenreichsten und zugleich umstrittensten Fragen der Schutzpflichtendogmatik. a) Meinungsstand Zu ihrer Beantwortung werden drei konkurrierende Vorschläge gemacht. Eine relativ große Meinungsgruppe in der Literatur billigt den grundrechtlichen Schutzpflichten keinerlei Bedeutung für die Beschränkung von Abwehrrechten z u . 2 0 5 Ihres Erachtens wird „die gesetzliche Schrankenziehung ... durch die Schutzpflicht in keiner Weise erleichtert" 206 , denn sie fürchtet andernfalls eine „latente Umbildung der Grundrechte in Grundpflichten". 207 204
Siehe oben Teil 5 B.II.2. Denninger, JZ 1975, 545 (547); Suhr, Entfaltung, S. 146; Häberle, VVDStRL Bd. 30 (1972), S. 43 (103); Hermes, Schutz, S. 207 f.; Bamberger, Der Staat Bd. 45 (2000), S. 355 (371); Ibler, FS Maurer, S. 145 (158). Diese Linie verfolgt auch das abweichende Votum von Rupp-von Brünneck/Simon, BVerfGE 39, 1 (73). 206 Hermes, Schutz, S. 208. 207 Goerlich, NJW 1981, 2616. 205
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten ^AQ
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Die von Teilen der Rechtsprechung und der Literatur vertretene oder z.T. unausgesprochen zugrundegelegte Gegenposition betrachtet die Schutzpflichten hingegen als verfassungsunmittelbare Eingriffstitel. So hat das Bundesverwaltungsgericht die Warnung der Bundesregierung vor jugendgefährdenden Sekten durch Zwischenschaltung eines staatlich finanzierten Vereins als staatlichen Eingriff in die Religionsfreiheit dieser Religionsgemeinschaft gewertet und zur Legitimation dieses Eingriffs - neben der aus staatsorganisationsrechtlichen Normen herausgelesenen allgemeinen Befugnis der Bundesregierung zur Öffentlichkeitsarbeit 210 - den Schutz der in Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG genannten Rechtsgüter herangezogen. Der Schutz begrenzt danach im Ergebnis die Glaubensfreiheit, ohne daß das Gericht eine inhaltliche gesetzliche Regelung für notwendig erachtete. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Auffassung in einem Kammerbeschluß 211 im wesentlichen bestätigt. Zwar hat die Kammer zunächst erklärt, die Schutzpflicht sei für sich genommen keine hinreichende Eingriffsgrundlage, diese Aussage aber sogleich entwertet, wenn sie anschließend als Eingriffsermächtigung einen allgemeinen Vorsorge- und Schutzauftrag gegenüber der Allgemeinheit postuliert. W i l l man diesen allgemeinen Schutzauftrag nämlich überhaupt verfassungsrechtlich so verankern, daß mit seiner Hilfe Grundrechtseingriffe legitimiert werden könnten, so wäre eine Verortung in dem nicht unmittelbar auf den Bürger bezogenen Normgefüge des Staatsorganisationsrechts nicht ausreichend, es blieben wiederum nur die Grundrechte in ihrer Schutzpflichtenfunktion als sedes materiae. Eine dritte Auffassung 212 schließlich sieht in den grundrechtlichen Schutzpflichten keine verfassungsunmittelbaren Eingriffstitel, spricht ihnen jedoch nicht jegliche Wirkung für die Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen ab. Sie erfüllen hiernach eine wichtige Funktion bei der Einschränkung, indem sie den grundrechtlichen Abwehrrechten auf gleicher Normebene ein kollidierendes Rechtsgut gegenüberstellen, das die notwendige konstitutio208 BVerwGE 82, 76 (82 f.); VGH Kassel, DVB1. 1990, 63 (65 f.) = NJW 1990, 336 (337 ff.); ähnlich auch BVerfG (Kammerbeschluß), NJW 1989, 3269 (3270). 209 Ossenbühl, DÖV 1981, 1 (4 f.); Jarass, AöR Bd. 110 (1985), S. 363 (383 u. 385); im Grundsatz auch: Isensee, Sicherheit, S. 28, der die Funktion der Schutzpflicht als verfassungsunmittelbare Eingriffsermächtigung jedoch nur „im Grenzfall als ultima ratio" anerkennen will, ebenso die oben Fn. 78 zitierten Autoren. 210 Abgestellt wird in der Entscheidung zwar zunächst auf den Topos der „Öffentlichkeitsarbeit" der Bundesregierung; das Gericht erkennt aber, daß diese wiederum „Ausdruck ihrer Verantwortung für das Gemeinwohl" ist und „dem Schutz der gewarnten Bürger" dient, BVerwGE 82, 76 (81). 211 NJW 1989, 3269 (3270). 212 Wahl/Masing, JZ 1990, 553 (560); Starck, Verfassungsauslegung, S. 80; Bethge, VVDStRL Bd. 57 (1998), S. 7 (50); Jeand'Heur/Cremer, JuS 2000, 991 (995).
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
nelle Legitimationsbasis für gesetzgeberische Beschränkungen von Abwehrrechten bildet. Die Schutzpflicht könne folglich nicht für sich genommen, aber im Verbund mit gesetzlichen Regelungen einen Grundrechtseingriff legitimieren. Sie hat damit eine Bedeutung zumindest bei den Grundrechten, die nicht über einen geschriebenen Gesetzesvorbehalt verfügen, und gegebenenfalls bei Grundrechten mit einem qualifiziertem Gesetzesvorbehalt, sofern dessen Voraussetzungen nicht gegeben sind. b) Keine generelle verfassungsunmittelbare
Eingriffsbefugnis
Der in Teilen der Rechtsprechung zugrunde gelegte Ansatz einer von den Schutzpflichten vermittelten verfassungsunmittelbaren Eingriffsbefugnis ist abzulehnen, da sie einen doppelten rechtsstaatlichen „Sündenfall" begeht. In der Konsequenz dieser Auffassung liegt zunächst ein Freiheits- und Schutzpflichtenkonzept, das von dem allgemein anerkannten und auch hier vertretenen fundamental abweicht. Die naheliegende Schlußfolgerung ist, daß diese Auffassung den Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes aufgibt, da über die Möglichkeit von Eingriffen in grundrechtliche Abwehrrechte nicht mehr der Gesetzgeber, sondern die Exekutive entschiede. W i l l sie dem Vorwurf, das fundamentale Prinzip des Gesetzesvorbehalts über Bord zu werfen, entgehen, könnte sie zwar die den Grundrechten entnommenen Schutzpflichten kurzerhand zu gesetzlichen Eingriffsgrundlagen erklären. Damit würde sie jedoch noch größeren grundrechtsdogmatischen Schaden anrichten, indem sie die Grundrechte zu präventiven Verboten mit Erlaubnisvorbehalt umdeuten müßte. Die Verfassung verböte drittgefährdendes Handeln danach unmittelbar und der Gesetzgeber müßte dieses Verbot im Wege von Erlaubnisregelungen partiell zurücknehmen. Seine Schutzgesetze wären dann nicht mehr Ausdruck und Umsetzung einer Schutzpflicht, sondern sie beinhalteten Eingriffe, weil sie die zu Schützenden nunmehr schlechter stellten als sie unter dem allein von der Verfassung geprägten status quo ante standen. Die damit einhergehende Umkehrung der Freiheitsvermutung in eine Verbotsvermutung für all jene Handlungsfelder, in denen Interessen Dritter berührt sind, zieht ferner einen Verlust an Rechtssicherheit für den Bürger nach sich. 2 1 3 Der zweite „Sündenfall" liegt in dem Schluß von Pflichten und Kompetenzen auf Befugnisse. Dieser ist dem rechtsstaatlichen System des Grundgesetzes prinzipiell fremd. Im Ergebnis würde diese Auffassung von einer verfassungsunmittelbaren Einschränkung von Abwehrrechten gefährlich nahe an eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte heranrücken. 214 2,3 214
Wahl/Masing, JZ 1990, 553 (555 f.). Vgl. Wahl/Masing, JZ 1990, 553 (554).
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten
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Festzuhalten ist, daß die Herleitung der Schutzpflichten aus den Grundrechten den Staat - jedenfalls im Grundsatz - nicht von der Einhaltung der rechtsstaatlichen Eingriffsvoraussetzungen gegenüber dem Störer und insbesondere nicht vom Vorbehalt des Gesetzes dispensiert. 215 c) Verfassungsunmittelbare
„Notbefugnis"
Zu untersuchen bleibt, ob man mit einer in der Literatur 2 1 6 recht weit verbreiteten Ansicht aber nicht wenigstens eine „Notbefugnis" der Rechtsprechung zur Ergänzung einer fehlenden Eingriffsermächtigung oder zur ausnahmsweisen Gestattung von Eingriffen ohne gesetzliche Grundlage zuzugestehen hat. Dieser Ansatz kann sich auf die verbindliche Geltung der Schutzpflichten für alle Staatsgewalten berufen und auf das Dilemma verweisen, daß ein Staatsorgan entweder legal handelt und dabei die grundrechtliche Schutzpflicht verletzt oder diese Schutzpflicht erfüllt, indem es ohne legale Befugnis handelt. Die praktische Bedeutung solcher Dilemmata ist indes begrenzt: Die Existenz von generalklauselartigen Eingriffsbefugnissen insbesondere im Ordnungsrecht wird eine solche „Ermächtigungslücke" in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht entstehen lassen. Derartige Lücken können sich regelmäßig nur auftun, wenn die Entwicklung und Fortbildung des Verfassungsrechts asynchron mit der Entwicklung des einfachen Rechts verläuft und etwa die Expansion oder Intensivierung bestimmter grundrechtlicher Positionen im Gesetzesrecht (noch) keine Entsprechung findet. 2 1 7 Andererseits darf man in bezug auf im Wege der Rechtsfortbildung entstandene Durchbrechungen des im Rechtsstaatsprinzip und den Abwehrrechten verankerten Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes den Blick nicht auf die Rechtsprechung verengen. Ihr scheint man eine Ergänzung bzw. Überspielung fehlender gesetzlicher Eingriffsermächtigungen unter Hinweis auf die anerkannte Rechtsfortbildung praeter oder extra legem 2 1 8 noch zugestehen zu können, ohne daß man darin eine Preisgabe rechtsstaatlicher Prinzipien sieht. 2 1 9 Wer aber dem Richter solche Befugnisse ein215
Dietlein, Schutzpflichten, S. 109; Erichsen, Jura 1997, 85 (87 f.); Hermes, Schutz, S. 208; vgl. auch VGH München, NVwZ 1995, 793 (795); Ruffert, Vorrang, S. 225 ff. 216 Vgl. Ossenbühl, HdbStR III, § 61 Rz. 41; Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 161; Hermes, Schutz, S. 272; Stern, Staatsrecht III/1, S. 1556; vgl. auch Henke, DÖV 1984, 1 (11); weitergehend wohl Böckenförde, Der Staat Bd. 29 (1990), S. 1 (11). A.A. Röthel, JuS 2001, 424 (428). 217 Vgl. Heinrich, Formale Freiheit, S. 130. 218 Vgl. Stern, Staatsrecht II, S. 584 f. 219 Von der prinzipiellen Zulässigkeit der richterlichen Rechtsfortbildung geht auch der Bundesgesetzgeber aus, wenn er in § 132 Abs. 4 GVG den Großen Sena-
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
räumt, kann sie der Exekutive nicht verwehren. 220 Sieht man einen Konflikt zwischen Schutzpflicht und fehlender Eingriffsermächtigung, so entsteht dieser - nimmt man einmal privatrechtliche Konstellationen aus - zunächst und v. a. bei den zur Gefahrenabwehr berufenen Behörden. Erst wenn diese sich entschlossen haben, diesen Konflikt zugunsten der Schutzpflicht aufzulösen und zu handeln, hat die Judikatur auf eine Klage des Störers hin Gelegenheit, bei der Überprüfung der behördlichen Maßnahmen rechtsfortbildend tätig zu werden. Dennoch wird man angesichts der Normenhierarchie des Verfassungsstaates, welche die grundrechtlichen Schutzpflichten über die einfachgesetzlichen Eingriffsermächtigungen und auf die gleiche Stufe mit dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes stellt, ein eingreifendes Schutzhandeln ohne gesetzliche Grundlage nicht generell ausschließen können, wenn ein Konflikt zwischen Schutzpflicht und Handlungsbefugnis für Exekutive und Judikative tatsächlich besteht. In der Literatur wird ein solcher Konflikt zum Teil negiert. 221 Die in Art. 1 Abs. 3 GG statuierte unmittelbare Grundrechtsbindung aller Gewalten könne die staatlichen Organe nur kompetenzund funktionsspezifisch verpflichten. Reiche der v.a. durch den Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes markierte rechtsstaatliche Funktions- und Kompetenzbereich von Exekutive und Judikative nicht aus, um einen effektiven Grundrechtsschutz zu gewährleisten, so seien sie dazu auch nicht verpflichtet. Eine solche Argumentation kann bei flüchtiger Betrachtung Unterstützung aus einem Vergleich mit der Abwehrfunktion der Grundrechte beziehen: Ein staatliches Organ, das abwehrrechtswidrig handelt, ist i.d.R. ohne weiteres in der Lage, dieses Handeln abzustellen; es muß in diesen Fällen seine Kompetenzen gegenüber anderen Staatsorganen und seine Befugnisse gegenüber dem Bürger nicht überschreiten. Wird eine Behörde oder ein Gericht jedoch zu einem abwehrrechtsverletzenden Handeln durch ein Gesetz nicht nur ermächtigt, sondern verpflichtet, so verändert sich das Bild und es bietet sich auch hier eine Konfliktszenario. Die Behörde bzw. das Gericht kann entweder unter Verstoß gegen den Vorrang des Gesetzes auf das grundrechtswidrige Handeln verzichten oder seine Grundrechtsbindung außer Acht lassen. Ein Gericht ist nicht gehalten, eine als grundrechtswidrig erkannte Rechtsnorm ohne weiteres anzuwenden. Handelt es sich um eine untergeten explizit die Aufgabe einer Fortbildung des Rechts zuweist, vgl. Heinrich, Formale Freiheit, S. 128, zur Zulässigkeit der Rechtsfortbildung siehe auch die Nachw. a.a.O., S. 128 f. (Fn. 343). 220 Konsequent daher Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 161, der - unter Verweis auf BVerfGE 46, 160 (164 f.) - auch der Exekutive eine solche Notkompetenz einräumt; ebenso Hermes, Schutz, S. 272. 221 Siehe insbesondere Wahl/Masing, JZ 1990, 553 (559).
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten
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setzliche Norm (eine Bestimmung in einer Rechtsverordnung oder Satzung) oder um ein vorkonstitutionelles Gesetz, so kann der Richter die Norm selbständig außer Acht lassen. Bei nachkonstitutionellem Gesetzesrecht ist er hingegen zur Vorlage der Norm im Wege der konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 GG beim Bundesverfassungsgericht bzw. beim zuständigen Landesverfassungsgericht verpflichtet, aber auch berechtigt. Art. 100 Abs. 1 GG konstituiert die fachgerichtliche Prüfungskompetenz nicht, sondern setzt sie voraus und begrenzt sie. 2 2 2 Diese Bestimmung läßt damit ein prinzipielles Normprüfungs- und -verwerfungsrecht der Fachgerichte am Maßstab der Verfassung erkennen, das seinerseits Ausdruck der unmittelbaren Grundrechtsbindung der Judikative ist. Auch die Gesetzesbindung der Exekutive läßt Raum für einen unmittelbaren Durchgriff der Grundrechte. 223 Das Beamtenrecht gestattet keine eigenmächtige Nichtanwendung von Normen durch den Beamten, sondern stellt der Gesetzesbindung eine Gehorsamspflicht des Beamten gegenüber seinen Vorgesetzten zur Seite. 2 2 4 Da der Beamte aber auch für die Rechtmäßigkeit seiner Amtshandlungen die volle Verantwortung trägt, ist er berechtigt und unter bestimmten Umständen verpflichtet, nicht nur rechtswidrige dienstliche Anordnungen, 225 sondern ebenso als verfassungswidrig erkannte gesetzliche Handlungspflichten 226 in einem Remonstrationsverfahren gegenüber seinen Vorgesetzten anzuzeigen. Teilen diese seine Bedenken nicht, so muß er das grundrechtswidrige Gesetz i.d.R. anwenden. Der im Beamtenrecht genannte Ausnahmefall einer erkennbaren Strafbarkeit oder Ordnungswidrigkeit des dienstlichen Handelns 227 dürfte kaum praktisch werden, da eine solche Erkennbarkeit im Angesicht einer Rechtsnorm, die dieses Handeln gerade gebietet, nahezu immer zu verneinen sein dürfte. Daneben ist einzig eine Menschenwürdeverletzung geeignet, den Beamten von einer Vorgesetztenweisung, das Gesetz anzuwenden, zu entbinden; 228 wegen der erhöhten Anforderungen an eine Verletzung des Art. 1 Abs. 1 GG wird diese Voraussetzung ebenfalls äußerst selten vorliegen. Unterstellt 222 Berkemann, EuGRZ 1985, 137 (138); Hermes, Schutz, S. 272 f.; vgl. auch BVerfGE 2, 124 (128); 2, 406 (410 f.); 10, 124 (127 f.); 32, 296 (299). 223 Vgl. allgemein zur „Verwerfungskompetenz" von Behörden hinsichtlich verfassungswidriger Gesetze: Hederich NdsVBl. 1997, 269 (270 ff.). 224 Siehe §§37 BRRG, 55 BBG sowie die gleichlautenden Vorschriften der Landesbeamtengesetze . 225 Siehe §§38 Abs. 2 BRRG, 56 Abs. 1 BBG sowie die gleichlautenden Vorschriften der Landesbeamtengesetze. 226 Depenheuer, DVB1. 1992, 404 (405); Stern, Staatsrecht III/2, 1170; vgl. hierzu eingehend: Horn, Grundrechtsunmittelbare Verwaltung, S. 199 ff., insbes. S. 234. 227 Siehe § 38 Abs. 2 S. 2 2. Halbs. BRRG, 56 Abs. 2 S. 3 1. Halbs. BBG. 228 Vgl. insoweit auch § 11 Abs. 1 S. 3 Soldatengesetz.
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
man, daß alle Amtsträger in der Entscheidungshierarchie ihre Grundrechtsbindung ernst nehmen, so verlagert das Remonstrationsverfahren die Entscheidung über die Anwendung oder Nichtanwendung eines Gesetzes aus dem Personenkreis der Beamten in die Spitzen der Exekutive. 2 2 9 Entscheidungsträger wird der zuständige Ressortminister oder die Regierung als Kollegialorgan. W i l l man das Remonstrationsverfahren nicht von vornherein seiner eigentlichen Überprüfungsfunktion berauben, so impliziert seine - im übrigen auch grundrechtlich im Sinne eines Grundrechtsschutzes durch Verfahren bedingte - Existenz, die Möglichkeit, daß die Anwendung einer Norm auf Regierungsebene ausgesetzt wird. Obwohl die Nichtanwendungsentscheidung eine Einzelfallentscheidung bleibt und keineswegs automatisch die generelle Nichtanwendung der Norm nach sich zieht, wird durch dieses Verfahren die Gefahr einer Zersplitterung des angewandten Rechts zumindest innerhalb eines Landes reduziert. Die Alternative, das fragliche Verwaltungsverfahren nur auszusetzen und eine Normenkontrolle durch die - hierzu antragsberechtigte - Landes- oder Bundesregierung abzuwarten, 230 ist wegen des nicht unerheblichen Zeitaufwandes nicht in allen Fällen praktikabel und kann daher nicht durchgängig eine eigenverantwortliche Nichtanwendung einer Norm ersetzen. 231 Außerdem geht die Verfassung selbst davon aus, daß der Exekutive neben der verfassungsprozessualen Option noch andere Möglichkeiten einer Reaktion auf verfassungswidrig erachtete Normen zur Verfügung stehen, wenn sie in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG die Einleitung einer Normenkontrolle in das Ermessen der Antragsteller stellt. 2 3 2 Diese Elemente unmittelbarer Grundrechtsbindung von Judikative und Exekutive nehmen einer „funktionsspezifischen" Begrenzung der Grundrechtsgeltung die Grundlage. Die Geltung und Bindung der Staatsgewalten an die Grundrechte ist einer funktionsdifferenzierten Auflösung nicht zugänglich; 2 3 3 die Beachtung der Grundrechte ist für kein staatliches Organ 229
Vgl. Stern, Staatsrecht III/2, S. 1170. Für eine weitergehende Möglichkeit der Verwerfung bzw. Nichtanwendung verfassungswidriger Normen durch Behörden unterhalb der Exekutivspitze sprechen sich etwa Kopp, DVB1. 1983, 821 (823 f.) und - mit Einschränkungen - Hederich, NdsVBl. 1997, 269 (271 ff.) aus. 230 Diese Vorgehensweise fordert Bachof, AöR Bd. 87 (1962), S. 1 (44 u. 47). Siehe für die Gegenansicht: Kopp, DVB1. 1983, 821 (828 f.); Hederich, NdsVBl. 1997, 269 (271 ff.). Auch Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rz. 36, will nur die „Überprüfungsmöglichkeiten innerhalb des Verwaltungsträgers ausgeschöpft" sehen. 231 Die eine Nichtanwendungs-Entscheidung treffende Exekutivspitze ist aber auf Grund des Demokratieprinzips (Art. 20 Abs. 1 u. 2 GG) im Regelfall gehalten, alsbald eine Klärung der Rechtslage herbeizuführen, wobei sie dies nicht nur im Wege einer abstrakten Normenkontrollklage, sondern auch über eine Gesetzes(änderungs)initiative tun kann, vgl. Hederich, NdsVBl. 1997, 269 (274). 232 Kopp, DVB1. 1983, 821 (826); Menzel, DVB1. 1997, 640 (646).
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten
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eine „funktionsfremde" Pflicht. Bleiben die beiden Gewalten zur Beachtung der Grundrechte als Abwehrrechte auch im Falle eines Widerspruchs zum Gesetzesrecht verpflichtet, so kann für ihre Bindung an grundrechtliche Schutzpflichten im Grundsatz nichts anderes gelten. Die Grundrechtsunmittelbarkeit der vollziehenden Gewalt wird heute mit Recht immer weniger als eine „Systemstörung" denn als ein „systemimmanentes Element des demokratischen Rechtsstaats" begriffen. 234 Im Bereich der Rechtsprechung verlangt das Grundgesetz nur für den besonders sensiblen Bereich des Strafrechts in Art. 103 Abs. 2 explizit die „gesetzliche" Bestimmung der Straftat. 2 3 5 Im Umkehrschluß ergibt sich, daß ein solch striktes Verbot der Rechtsfortbildung für andere Grundrechtseingriffe nicht gilt. Gleichwohl bleibt auch außerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 103 Abs. 2 GG eine verfassungsrechtlich induzierte Skepsis gegenüber der richterlichen ad-hoc-Kreation von Eingriffstiteln, 236 selbst wenn diese zur Herstellung eines verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes erfolgt. Der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes darf als eine der zentralen formalrechtsstaatlichen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts 237 nicht mehr als unbedingt notwendig angetastet werden. Seine Geltung schließt eine rechtsfortbildende Ergänzung fehlender Eingriffsermächtigungen als Regelfall aus. Solche Ergänzungen müssen überdies sachlich als eng umgrenzte Ausnahmefälle beschränkt sowie mit prozessualen Sicherungen ausgestattet werden. Hinsichtlich der materiellen Kautelen gilt: (1.) Eine Rechtsfortbildung praeter oder extra legem wird dem Richter prinzipiell zugestanden, solange er sich innerhalb der Aussagen hält, die sich in der Rechtsordnung fin/iiQ O^Q den, und insbesondere die einschlägigen Verfassungsinhalte beachtet. Diese Anstrengungen, dem Willen des Gesetzgebers möglichst authentisch Rechnung zu tragen, muß man noch insoweit steigern, als eine grundrechtseingreifende Rechtsfortbildung nur zu gestatten ist, wenn sich aus sachlich 233
Horn, Grundrechtsunmittelbare Verwaltung, S. 157 ff. (insbes. S. 168). So: Horn, Grundrechtsunmittelbare Verwaltung, S. 269. 235 Siehe zu dem in dieser Bestimmung (auch) angelegten speziellen Gesetzesvorbehalt: Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 Rz. 60 ff. 236 Genau genommen schafft das Fachgericht gar keinen Eingriffstitel, sondern überspielt dessen Notwendigkeit nur mit einem verfassungsrechtlichen Handlungsauftrag. Etwas anderes gilt für das Bundesverfassungsgericht, dessen Entscheidung (etwa im sogleich zu diskutierenden Verfahren der konkreten Normenkontrolle) gem. § 31 Abs. 2 S. 1 BVerfGG in Gesetzeskraft erwächst. 237 Hierauf weisen im Kontext der Schutzpflichten zu Recht Wahl/Masing, JZ 1990, 553 (557 ff.), nachdrücklich hin. 238 Heinrich, Formale Freiheit, S. 129 f. 239 Vgl. Stern, Staatsrecht II, S. 584 f. Eine Ergänzung von Strafgesetzen ist dabei wegen Art. 103 Abs. 2 GG natürlich gänzlich ausgeschlossen. 234
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verwandten Eingriffsermächtigungen der geschriebenen Rechtsordnung der Inhalt einer zu „ergänzenden" Ermächtigung klar und eindeutig extrapolieren läßt. Der Exekutive wird man - jedenfalls in ihrer Spitze - eine dem Richter entsprechende Befugnis nicht verweigern können. (2.) Im Wege einer solchen Rechtsfortbildung kann eine Ermächtigungsgrundlage zunächst lediglich für den Einzelfall ergänzt werden bzw. ihr Fehlen unberücksichtigt bleiben. Der Gesetzgeber bleibt in der primären Verantwortung, und seine Untätigkeit kann allenfalls punktuell und temporär aufgefangen werden. (3.) Die Rechtsfortbildung muß sich auf Fälle besonders dringlichen Schutzhandelns beschränken, bei welchen hochwertige Rechtsgüter erheblich gefährdet sind. (4.) Schließlich dürfen keine alternativen Schutzhandlungen, die wenigstens vergleichbar effektiv sind, aber ohne einen gesetzeslosen Eingriff auskommen, zur Verfügung stehen und daher eine schlechthin unerträgliche gesetzliche Schutzlücke entstanden sein. Der richterlichen Fortbildung von Eingriffstiteln sind ferner prozessual durch das Instrument einer Vörlagepflicht an das Bundesverfassungsgericht analog Art. 100 Abs. 1 GG Grenzen zu ziehen. 2 4 0 Die überwiegende Ansicht in der Literatur lehnt die Ausdehnung der konkreten Normenkontrolle auf Fälle gesetzgeberischen Unterlassens ab. 2 4 1 Verwiesen wird auf den Wortlaut des Art. 100 Abs. 1 GG, der die Existenz eines - für verfassungswidrig erachteten - Gesetzes zur Voraussetzung hat. Die Gegenauffassung plädiert für eine entsprechende Anwendung der konkreten Normenkontrolle auf Fälle gesetzgeberischen Unterlassens. 242 Diese Ansicht kann für sich zunächst die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde anführen; auch diese kann sich gegen legislatorisches Unterlassen richten.243 Der Wortlaut des Art. 100 Abs. 1 GG nimmt nur verfassungsrechtliche Handlungsverbote für den Gesetzgeber in den Blick, weil für den Verfassungsgeber noch ganz die Abwehrfunktion der Grundrechte im Mittelpunkt stand. Die zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnis, daß sich aus den Grundrechten auf interpretatorischem Wege auch positive staatliche Handlungspflichten ergeben können, spricht für den 240
Ebenso: Hermes, Schutz, S. 272. Kalkbrennen DÖV 1963, 41 (48 f.); Ulsamer, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, BVerfGG, § 80 Rz. 27 (Stand: März 1998); Klein, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 80 Rz. 22. 242 Schneider, AöR 89 (1964), S. 24 (51 ff.); Berkemann, EuGRZ 1985, 137 (138 f.); Hermes, Schutz, S. 272 f.; für eine Vorlagepflicht bei „verfassungskonformer Lückenfüllung": Meyer, in: v. Münch/Kunig, GG III, Art. 100 Rz. 19. Ruffert, Vorrang, S. 226 ff., schließt eine (analoge) Anwendung von Art. 100 Abs. 1 GG bei echtem gesetzgeberischen Unterlassen aus (a.a.O., S. 226), bejaht sie aber beim unechten Unterlassen (a.a.O., S. 227 f.). 243 Vgl. BVerfGE 6, 257 (265 f.); 8, 1 (9 ff.); 15, 46 (60); 15, 337 (350); 17, 148 (155); 22, 349 (359 ff.); 25, 167 (172 ff.); 29, 268 (273); 56, 54 (71). 241
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten
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Nachvollzug der grundrechtsdogmatischen Entwicklung im gesamten Verfassungsprozeßrecht und mithin für eine Erweiterung auch der konkreten Normenkontrolle auf konstitutionelle Handlungsgebote an die Adresse des Gesetzgebers. Das zentrale Argument für eine analoge Anwendung des Art. 100 Abs. 1 GG läßt sich aus der Zwecksetzung der konkreten Normenkontrolle gewinnen. Mit ihr soll die Autorität des Parlaments gesichert werden. Diese ist in Fällen gesetzgeberischen Unterlassens aber mindestens ebenso gefährdet wie bei erlassenen verfassungswidrigen Gesetzen. 244 Wie oben festgestellt 2 4 5 setzt Art. 100 Abs. 1 GG die fachgerichtliche Prüfungskompetenz bereits voraus und begrenzt sie. Verzichtet man auf eine Anwendung der Normenkontrolle bei gesetzgeberischem Unterlassen, führt dies nicht zu einer Beschränkung der fachgerichtlichen Prüfungskompetenz, sondern gäbe den Fachgerichten im Ergebnis gar eine Rechtsschöpfungskompetenz bei einem angenommenen Verfassungsverstoß. 246 Das Fachgericht hätte auf das Verfassungsgebot selbst zurückzugreifen und ihm vorläufig, bis zum Handeln des Gesetzgebers Geltung zu verschaffen. 247 Die konkrete Normenkontrolle stellt eine prozessuale Absicherung des Grundsatzes vom Vorrang des Gesetzes für den Justizbereich dar. Die Gerichte als Rechtsanwendungsorgane sollen sich nicht eigenmächtig über die Aussagen des Gesetzgebers hinwegsetzen. Dem historisch älteren Vorrang des Gesetzes, der in Art. 20 Abs. 3 GG eine Normierung erfahren hat, steht der in Art. 20 GG nicht ausdrücklich genannte, aber dort vorausgesetzte und inzwischen allgemein anerkannte Vorbehalt des Gesetzes zur Seite. 2 4 8 Auch für ihn besteht verfassungsrechtlich Bedarf nach einer prozessualen Absicherung über ein Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts. Der Gedanke des Schutzes der Parlaments vor fachgerichtlicher Eigenmacht schafft die für eine analoge Anwendung des Art. 100 Abs. 1 GG notwendige parallele Interessenlage. 249 Aber auch der zweite Zweck des Art. 100 Abs. 1 GG, die Vermeidung einer zersplitterten Rechtslage, streitet für seine analoge An244
Berkemann, EuGRZ 1985, 137 (139); Hermes, Schutz, S. 272. Siehe die Nachw. oben in Fn. 222. 246 Ein solches Ergebnis, wonach die Fachgericht gesetzesvertretend zunächst selbst den möglicherweise gebotenen Schutz gegen den Störer durchsetzen könnten, liegt dem BVerfG aber offensichtlich fern, vgl. Wahl/Masing, JZ 1990, 553 (557) mit Hinweisen auf die einschlägigen Judikate. 247 So Klein, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 80 Rz. 22. 248 Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 201. 249 Das BVerfG kann sich einer Schutzpflichten-Entscheidung, in der es gegebenenfalls auch einen Eingriffstatbestand zu schaffen hat, ohnehin nicht entziehen, da es bei einer Verletzung von Schutzpflichten durch gesetzgeberische Untätigkeit auch im Wege der Verfassungsbeschwerde angerufen werden kann und Abhilfe schaffen muß; dies räumen auch Wahl/Masing, JZ 1990, 553 (562) ein. 245
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
wendung. Nur das Bundesverfassungsgericht ist gem. § 31 BVerfGG in der Lage, die monierte Untätigkeit des Gesetzgebers umfassend zu sanktionieren und den Gesetzgeber sowie gegebenenfalls die Exekutive und die Fachgerichte in ihrer Gesamtheit an seine Entscheidung zu binden. 2 5 0 Aus der entsprechenden Anwendung der konkreten Normenkontrolle auf Fälle verfassungswidrigen Unterlassens des Gesetzgebers folgt, daß die Fachgerichte eine eigenständige Rechtsfortbildung, mit der sie - wiederum in den oben beschriebenen engen Grenzen - fehlende gesetzliche Eingriffsbefugnisse substituieren, in Erfüllung der Schutzpflicht nur betreiben können, wenn sie dabei die Sphäre des nachkonstitutionellen Parlamentsgesetzgebers nicht berühren. Da die dem Grundgesetz zu entnehmenden positiven legislatorischen Pflichten den Gesetzgeber aber umfassend binden, also auch bezogen auf Rechtsregime aus vorkonstitutioneller Zeit, bleiben für eine eigenständige Rechtsfortbildung nur die Normebenen unterhalb des formellen Gesetzes. Sofern die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für eine Rechtsverordnung oder Satzung vom Verordnungs- oder Satzungsgeber nicht ausgeschöpft wurde und den fehlenden Eingriffstitel tragen würden, können diese rechtlichen Instrumente im Wege analoger Anwendung ergänzt werden. 251 d) Schutzpflichten als verfassungsimmanente Grundrechtsschranken Gleichfalls abzulehnen ist die Literaturansicht, die von der Irrelevanz der Schutzpflichten für die Beschränkung der Abwehrrechte ausgeht. Der Ansicht ist zuzugeben, daß die Umsetzung der Schutzpflichten sich in die Systematik der Abwehrrechte einordnen muß. Das eingreifende Schutzhandeln des Staates muß (1.) an einen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt anknüpfen, es muß sich wegen des Gesetzesvorbehalts (2.) (außerhalb der soeben beschriebenen engen Notbefugnisse) auf ein Gesetz stützen lassen und (3.) die Schranken-Schranken beachten. Neben den expliziten Gesetzesvorbehalten im Text der Freiheitsrechte werden jedoch kollidierende Verfassungsrechtssätze und insbesondere die Grundrechte selbst als verfassungsimmanente Schranken der Grundrechte anerkannt. Auch solche Grundrechte, welche nicht mit einer Schranke bzw. einem Gesetzesvorbehalt ausgestattet sind, können durch die Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtswerte eine Beschränkung erfahren. 252 Grundrechte Dritter können die in ihrer Abwehrfunktion betroffenen vorbehaltlosen Grundrechte aber nur dann einschrän250 251
Vgl. Berkemann, EuGRZ 1985, 137 (139). A.A. Schneider, AöR 89 (1964), S. 24 (52 f.).
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten
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ken, wenn sie mit ihnen kollidieren, was wiederum voraussetzt, daß ihnen mehr als Abwehrrechtsgehalt zu entnehmen ist. Ist jeweils nur die Abwehrfunktion von zwei Freiheitsrechten berührt, so können sie auf keinen Kollisionskurs gelangen. Ihre Anspruchsrichtungen, die auf ein staatliches Unterlassen zielen, verlaufen auf parallelem Kurs; ihre Berührung im endlichen Raum des Verfassungsrechts ist folglich ausgeschlossen. Erst die Schutzpflicht mit ihrem Anspruchsziel einer staatlichen Handlungsverpflichtung zum Schutze von Grundrechtsträgern läßt freiheitsrechtliche Kollisionslagen entstehen. Auch wenn das bundesverfassungsgerichtliche Modell zur Beschränkung vorbehaltloser Grundrechte der Entwicklung der Schutzpflichtendogmatik zeitlich vorausgeht, so liegt ihm doch dieses Konzept einer auf aktiven Schutz durch Eingriffe gerichteten Grundrechtswirkung der Sache nach zugrunde. 253 Leugnet man jegliche Auswirkung der Schutzpflichten auf die Einschränkung von Grundrechten, ohne eine andere Grundrechtsfunktion anzugeben, von der eine solche Einschränkung auszugehen vermag, so stellt man nicht mehr und nicht weniger als dieses Modell der Beschränkung vorbehaltloser Grundrechte in Frage, zumal die Rechtsprechung mit der Annahme sonstiger (objektiver) Verfassungsrechtsgüter als Quellen einer Grundrechtsbeschränkung wegen ihres vielfach recht hohen Abstraktionsgrades zu Recht sehr zurückhaltend verfährt. 254 Grundrechtliche Schutzpflichten stellen daher einen verfassungsunmittelbaren oder -immanenten Schrankenvorbehalt der grundrechtlichen Abwehrrechte der Störer dar. Sie formulieren einen Schrankenauftrag an den Gesetzgeber und schaffen damit die verfassungsrechtliche Legitimationsgrundlage für grundrechtsbeschränkende Eingriffsnormen des Gesetzgebers, ohne selbst zu Grundrechtseingriffen zu ermächtigen. In dieser Rolle einer verfassungsimmanenten Schranke sind sie indes auf die im Text des Grundgesetzes vorbehaltlosen Freiheitsrechte beschränkt. W i l l man die grundrechtsdogmatische Fortentwicklung der verfassungstextlichen Schrankensystema252
So die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit BVerfGE 28, 243 (260 f.); 30, 173 (193); 32, 40 (46); 32, 98 (108); 33, 23 (29); 33, 52 (70 f.). Ihr folgen die Fachgerichte: BVerwGE 37, 265 (267 ff.); 49, 202 (209); 83, 358 (365); BSGE 61, 159 (165); BGHSt 37, 55 (62); BGHZ 84, 237 (238); BGH NJW 1975, 1882 (1884). Siehe hierzu ausführlich und mit weiteren Nachw. aus der Literatur: Sachs, in: Stem, Staatsrecht III/2, S. 551 ff. 253 Dies bedeutet allerdings nicht, daß nicht außerhalb des Anwendungsbereiches der Schutzpflichten bzw. zusätzlich zu ihnen auch von anderen (gegebenenfalls objektiven) Grundrechtsfunktionen oder von den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht explizit genannten sonstigen Verfassungsrechtsgütern eine Beschränkungsleistung ausgehen kann. 254 Das trifft insbesondere für die Staatsstrukturprinzipien des Art. 20 GG zu: BVerfGE 3, 225 (236 ff.); 33, 23 (32 f.); 52, 283 (298); 59, 231 (263); 65, 182 (193). Hierzu ausführlich: Sachs, in: Stem, Staatsrecht III/2, S. 574 ff.
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
tik auf ein Minimum begrenzen, müssen für die übrigen Freiheitsrechte ihre expliziten Schrankenregelungen als abschließend angesehen werden. 255
2. Kollision der Schutzpflicht mit der Schutzpflicht und anderen Grundrechtsfunktionen Führt die Einlösung der Schutzpflicht zugunsten des Opfers vielfach zur Kollision mit dem Abwehrrecht des Störers, so ist die Kollision zwischen verschiedenen Schutzpflichten ein weniger häufiger Ausnahmefall. Sie setzt voraus, daß staatliche Maßnahmen, die in Erfüllung einer Schutzpflicht zum Wohle eines Übergriffsopfers ergehen, den Störer oder einen sonstigen Dritten neuen Übergriffen aussetzen. Der Staat schließt in diesen Fällen eine Schutzlücke, indem er eine andere aufreißt. Greift die Schutzmaßnahme selbst in die Grundrechte eines Dritten ein, löst dies ein Abwehrrecht aus, führt sie lediglich zu einer neuen Gefährdung 256 durch andere Private, so kollidieren zwei Schutzpflichten miteinander. 257 Eine schutzpflichtenimmanente Kollisionslage ist ferner gegeben, wenn der Staat von zwei von vornherein bestehenden Schutzpflichten nur eine erfüllen kann bzw. ein „Mehr" an Schutz für den einen Grundrechtsträger zwangsläufig ein „Weniger" an Schutz für den anderen bedeutet. In all diesen Konstellationen ist eine Abwägung zwischen den Schutzansprüchen und -interessen vorzunehmen, die sich nicht wesentlich von der Abwägung zwischen Abwehrrecht und Schutzpflicht unterscheidet. Da sich in privatrechtlichen Beziehungen typischerweise auf beiden Seiten grundrechtlich verbürgte Interessen gegenüberstehen, 258 sind schutzpflichtenimmanente Kollisionslagen, oftmals kombiniert mit kollidierenden Abwehransprüchen, nahezu unvermeidlich, sofern und soweit man den Staat aus den Grundrechten heraus verpflichtet sieht, private Vertragsbeziehungen zu kontrollieren und zu korrigieren. Entbindet ein staatliches Gericht den Vertragspartner A auf der Grundlage zwingenden Gesetzesrechts von einer Pflicht kann dies einen Grundrechtseingriff zu Lasten des Vertragspartners B darstellen. Billigt das Gericht dem Vertragspartner A eine 255
Anders aber etwa Sachs, in: Sachs, GG, vor Art. 1 Rz. 118 u. 120. Die Schutzmaßnahme zugunsten von A muß aber auch tatsächlich zu einer konkreten Gefährdungslage bei B führen. Fehlt es - wie im oben sub Teil 5 C.IV.l.a)bb) dargestellten Fall Schleyer - an einer solchen Konkretheit, so kann allenfalls eine Kollision der Schutzpflicht mit objektiven Verfassungsrechtssätzen wie bspw. dem Sozialstaatsprinzip vorliegen. 257 Für Manssen, Staatsrecht I, Rz. 58, der das Beispiel einer Zwangsversteigerung an erwerbsbereite Dritte nennt, greift auch insoweit nur das Abwehrrecht zugunsten des Störers. 258 Conans, JuS 1989, 161 (163). 256
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten
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Einrede oder ein ähnliches Verteidigungsrecht gegen den Anspruch des Vertragspartners B zu, schützt der Staat A, indem er B einem Übergriff des A aussetzt. Die Störer- und Opferrollen sind im Vertragsrecht prinzipiell doppelt besetzt; der Störer ist auch Opfer und umgekehrt. Dies zeigt, daß durch Konsens geprägte Beziehungen die Störer/Opfer-Struktur der Schutzpflicht zu sprengen drohen, und spricht dafür, beim Einbezug von Vertragsverhältnissen in den Anwendungsbereich der Schutzpflichten Zurückhaltung walten zu lassen und in Prozesse privater Selbstregulierung möglichst nicht aus Gründen des Grundrechtschutzes einzugreifen.
3. Kollision mit objektivem Verfassungsrecht Schutzpflichten können ferner mit materiellen 259 Bestimmungen des objektiven Verfassungsrechts kollidieren. Solche Kollisionsnormen sind insbesondere die Staatsstrukturprinzipien, wie sie sich schwerpunktmäßig in Art. 20 GG finden. Wenn im Hinblick auf eine verfassungsimmanente Einschränkung von Abwehrrechten durch die Staatsprinzipien Skepsis angebracht i s t , 2 6 0 so ist die Ausgangslage bei den Schutzpflichten eine andere. Ihr Inhalt ist offener und unbestimmter als derjenige der auf ein bloßes staatliches Unterlassen gerichteten Abwehrrechte. Da sie dadurch den Charakter von - allerdings subjektiv-rechtlich ausgestalteten - Optimierungsgeboten 2 6 1 tragen, können sie prinzipiell auch von den Grundsatz- und Zielentscheidungen verkörpernden Aussagen des Art. 20 GG in ihrer Wirkung eingeschränkt werden. Eine Kollision mit unterverfassungsrechtlichem Recht, insbesondere mit Parlamentsgesetzen kann es hingegen nicht geben, da die grundrechtliche Schutzpflicht eine Normebene über dem Gesetzrecht rangiert. Dennoch sind die in der Verwaltungs- und Gerichtspraxis auftretenden Konflikte zwischen dem grundrechtlichen Schutzauftrag einerseits und den gesetzlichen Bestimmungen andererseits nicht zu leugnen. Das unterverfassungsrechtliche Recht kollidiert mittelbar mit den Schutzpflichten v.a. über die Grundsätze vom Vorbehalt und Vorrang des Gesetzes. Der Widerstreit zwischen der unmittelbaren Grundrechtsbindung von Exekutive und Judikative und der zugleich den Grundrechten wie dem Rechtsstaatsprinzip zuzurechnende Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, 259
Formelle Bestimmungen, welche die Verteilung der staatlichen Zuständigkeiten, das Verfahren und die Form staatlicher Maßnahmen regeln, kollidieren nicht mit den Schutzpflichten, sondern setzen den Rahmen ihrer Erfüllung. Steht einem Organ z.B. keine Kompetenz zur Schutzpflichtenumsetzung zu, so kommt eine Abwägung nicht mehr in Betracht; sein Handeln ist absolut ausgeschlossen. 260 Vgl. oben Fn. 254. 261 Siehe oben Fn. 130.
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
der Grundrechtseingriffe ohne gesetzliche Grundlage grundsätzlich ausschließt, wurde im Wege einer Beschränkung des außergesetzlichen Eingriffshandelns der beiden Gewalten auf eine Notbefugnis gelöst. In ähnlicher Weise muß auch im Anwendungsbereich des grundrechtsunabhängigen Parlamentsvorbehaltes 262 verfahren werden. Auch dieser kann nicht pauschal mit dem Hinweis auf die verfassungsunmittelbare Bindung aller Staatsgewalt an die Schutzpflichten überspielt werden, sondern muß nur unter den beschriebenen engen Voraussetzungen der exekutiven und judikativen Notbefugnis zurücktreten. Stehen explizite gesetzliche Bestimmungen einer Schutzmaßnahme entgegen, so ist der Vorrang des Gesetzes berührt. Wie bereits im Zusammenhang mit Eingriffen in Störergrundrechte dargelegt wurde, 2 6 3 ist auch hier nur in den beschriebenen engen Ausnahmefällen ein Abweichen von der gesetzlichen Anordnung kraft Entscheidung der Exekutivspitze bzw. durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Verfahren der konkreten Normenkontrolle möglich. Zu erörtern ist schließlich, inwieweit politisch oder administrativ gesetzte Interessen und Ziele, die keine gesetzliche Positivierung erfahren haben, sich auf die Auswahl von Schutzstrategien und -instrumenten auswirken können. Unproblematisch dürfen die Schutz leistenden Staatsorgane bei der Auswahl unter einer Mehrzahl effektiver Schutzmaßnahmen solche Ziele und Überlegungen berücksichtigen. Ungewisser ist jedoch, ob diese Aspekte der Schutzpflicht auch als rechtliche Gegengründe entgegengesetzt werden können und im Einzelfall ein Absenken des erforderlichen Schutzniveaus zu rechtfertigen vermögen. Der einzig gangbare Weg, der hier beschritten werden kann, ist die verfassungsrechtliche Verankerung politischer Interessen. 2 6 4 Mit diesem Unterfangen werden der Verfassungsinterpret im allgemeinen und der Gesetzgeber im besonderen wenigstens bei den Staatsprinzipien regelmäßig fündig werden, 265 wenn sie in der Lage sind, das in concreto verfolgte politische Ziel abstrakt und allgemein genug zu formulieren und seine Partikularität dadurch auszublenden. 262
Siehe hierzu ausführlich: Stern, Staatsrecht II, S. 568 ff. Die Rechtsprechung des BVerfG hat den Parlamentsvorbehalt mit der „Wesentlichkeitstheorie" verknüpft, nach der die für das Gemeinwohl grundlegenden Entscheidungen durch das Parlament zu treffen sind: BVerfGE 40, 237 (249); 49, 89 (126 f.); 77, 130 (230 f.); 84, 212 (226); 88, 103 (116); 98, 218 (252 ff.). 263 Teil 5 C.V.l.c). 264 Vgl. Hermes, Schutz, S. 250. 265 Anders als bei den den grundrechtlichen Abwehrrechten hat man das objektive Verfassungsrecht und die Staatsstrukturprinzipien im Kontext der Schutzpflichten als verfassungsrechtliche Gegengründe zuzulassen. Sie übernehmen hier nicht die Rolle von verfassungsimmanenten Schranken, sondern von Abwägungspositionen auf der Rechtsfolgenseite.
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten
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Unter den Staatsprinzipien wiederum ist es v.a. die Sozialstaatsklausel, die hier wertvolle Dienste leistet. Als Staatszielbestimmung verkörpert sie einen zielorientierten Regelungsgehalt und beinhaltet ebenso wie die Schutzpflichten eine finale Programmierung. 266 Demgegenüber ist das Rechtsstaatsprinzip an den Mitteln und Methoden des staatlichen Handelns orientiert und insoweit eng mit den grundrechtlichen Abwehrrechten verknüpft.
VI. Untermaßverbot und Übermaßverbot Das Untermaßverbot markiert die Grenzen des staatlichen Gestaltungsspielraumes bei der Erfüllung der Schutzpflichten, 267 ohne diesen Spielraum jedoch zu negieren. 268 Indem es ihn umgrenzt, setzt es ihn vielmehr voraus. Die Kontrollbefugnis der Verfassungsjudikatur ist im Kontext der Einhaltung der Schutzpflichten auf die Anwendung und Überwachung des Untermaßverbotes reduziert. 269 Die zentrale Bedeutung dieses noch relativ jungen Prinzips für die Konkretisierung und seine Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu seinem länger und fester etablierten „Komplementärbeg r i f f ' 2 7 0 des Übermaßverbotes bilden den Gegenstand des folgenden Abschnitts. 1. Die Entwicklung des Untermaß Verbotes
in Literatur und Rechtsprechung Der terminologische Schöpferruhm geht weder an die Verfassungsrechtsprechung noch an den Kreis der Staatsrechtswissenschaftler. Es war der Zivilrechtslehrer Claus-Wilhelm Canaris, der sich in mehreren grundlegenden Arbeiten dem Verhältnis der Grundrechte zum Privatrecht gewidmet hat, 2 7 1 der ein knappes Jahrzehnt nach den ersten Schutzpflichtenjudikaten die Entwicklung eines „dem Übermaßverbot entsprechende[n] handliche[n] Untermaßverbot[es]" 272 postulierte und dieses Postulat mit der Kritik verband, daß „die Lehre von der Schutzgebotsfunktion und vom damit eng zusammenhängenden gesetzgeberischen Unterlassen dogmatisch noch wenig kon266
Hierzu näher unten Teil 6 C.I. Siehe nur Wollenteit/Wenzel, NuR 1997, 60 (63). 268 Vgl. bereits Canaris, JuS 1989, 161 (163). 269 Ruffert, Vorrang, S. 235. 270 Starck, JZ 1993, 816 (817); ebenso: Sodan, NVwZ 2000, 601 (605). 271 Canaris, AcP Bd. 184 (1984), S. 201 ff.; ders., JuS 1989, 161 ff. 272 Canaris, AcP Bd. 184 (1984), S. 201 (228); vgl. auch ders., JuS 1989, 161 (163). Aus der Staatsrechtswissenschaft wurde der Terminus alsbald von Jarass, AöR Bd. 110 (1985), S. 363 (383), aufgenommen. 267
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
turiert" 2 7 3 sei. Nach Canaris' Ansicht sollte ein solches Untermaßverbot Antwort auf die Frage nach dem Minimalstandard staatlicher Schutzmaßnahmen, also nach dem verfassungsrechtlichen Schutzminimum geben. 2 7 4 Josef Isensee hat das Untermaßverbot sodann mit dem Ziel einer effektiven Erfüllung der Schutzpflicht beschrieben. 275 Zu verfassungsjudikatorischen Weihen gelangte das Untermaßverbot im zweiten Fristenregelungsurteil des Bundesverfassungsgerichts. Zwar konstatierte der Zweite Senat, daß Art und Umfang des Schutzes im einzelnen durch den Gesetzgeber zu bestimmen sei. Der Schutzpflicht sei jedoch nicht schon dadurch genügt, daß überhaupt Schutzvorkehrungen irgendeiner Art getroffen seien. Der Gesetzgeber habe vielmehr das „Untermaßverbot" zu beachten und unterliege insoweit der verfassungsgerichtlichen Kontrolle. 2 7 6 Den Inhalt dieses Untermaßverbotes beschreibt der Senat zum einen inhaltlich, wenn er verlangt, daß „Vorkehrungen, die der Gesetzgeber trifft, ... für einen angemessenen und wirksamen Schutz ausreichend sein" müssen. 277 Zum anderen stellt er bezogen auf das Entscheidungsverfahren die Anforderungen auf, daß die Schutzvorkehrungen auf „sorgfältigen Tatsachenermittlungen und vertretbaren Einschätzungen beruhen". 278
2. Kritik aus der Literatur In der Literatur wird die Figur des Untermaßverbotes seit dem zweiten Fristenregelungsurteil regelmäßig herangezogen. 279 Dennoch besteht vielfach Skepsis, ob ein solcher Maßstab operationalisierbare Beurteilungskriterien liefern kann. 2 8 0 Beklagt wird die Unbestimmtheit des Untermaßverbotes und daß unklar sei, ob und um wieviel die Voraussetzung eines „angemessenen" Schutzes über einen „ausreichenden" Schutz hinausgehe. 281 273 274
(228). 215
Conans, AcP Bd. 184 (1984), S. 201 (228). Canaris, JuS 1989, 161 (163 a.E.); ebenso: ders., AcP Bd. 184 (1984), 201
Isensee, HdbStR V, §111 Rz. 165; vgl. auch Götz, HdbStR III, §79 Rz. 30 f. Ohne ausdrückliche Verknüpfung mit dem Schutzpflichtenkonzept griff zuvor bereits Scherzberg, Eingriffsintensität, S. 208 f., das Untermaßverbot unter dem Gedanken der „effektiven Verwirklichung grundrechtlicher Freiheit" auf. 276 BVerfGE 88, 203 (254). 277 BVerfGE 88, 203 (254). 278 BVerfGE 88, 203 (254). 279 Vgl. nur Callies/Kallmayer, JuS 1999, 785 (791); Hoffmann-Riem, DVB1. 1994, 1381 (1384 f.); Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 19 Rz. 132 ff.; Möstl, DÖV 1998, 1029 (1038); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG I, Art. 2 Abs. 2 Rz. 53; Starck, Verfassungsauslegung, S. 81. 280 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG I, Art. 2 Abs. 2 Rz. 53; Dreier, in: Dreier, GG I, vor Art. 1 GG Rz. 64; Denninger, FS Mahrenholz, S. 561 (567 f.); Dietlein, ZG 1995, 131 (132 f.).
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten
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Eine hierüber hinausgehende, grundlegende Kritik spricht dem Untermaßverbot eine eigenständige Qualität ab und nimmt eine vollständige Kongruenz von Untermaß- und Übermaßverbot zumindest in den typischen Fällen eines Grundrechtsträgerschutzes mittels Eingriffs in Störergrundrechte an. 2 8 2 Zwischen Mindest- und Höchstmaß des Schutzes gebe es keine Spanne; ein schonender Ausgleich zwischen den Störer- und Opferinteressen sei jeweils nur in einem Punkt möglich. 2 8 3 Danach wäre es im zweiten Fristenregelungsurteil angesichts der tangierten Rechtsgüter der Schwangeren und der Ärzte auf ein Untermaßverbot gar nicht mehr angekommen und das Bundesverfassungsgericht hätte es nach dieser Auffassung bei der Anwendung des Übermaßverbotes im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs bewenden lassen können. Die Kongruenzthese ist denn auch ihrerseits auf Widerspruch gestoßen. 284 Zunächst ist festzuhalten, daß auch nach Auffassung ihrer Verfechter eine Identität von Unter- und Übermaßverbot nur in „Dreiecksverhältnissen" gegeben ist. 2 8 5 Die Einschränkung ist insoweit mißverständlich, als die grundrechtlichen Schutzpflichten regelmäßig bzw. - nach der hier vertretenen Ansicht - ausschließlich in Dreieckskonstellationen, in welchen der Staat die Aufgabe hat, den Grundrechtsübergriff eines Störers in die Freiheitssphäre eines Opfers zu unterbinden, auftreten. Da nicht in allen diesen Dreiecksfällen der Schutz mit einem Eingriff in Abwehrrechte des Störers einhergehen muß, bleibt in jedem Falle ein nicht unbedeutender Anwendungsbereich des Untermaßverbotes, der seine dogmatische Konturierung rechtfertigt und eine Erledigung des Themas unter Hinweis auf eine (vermeintliche) Kongruenz mit dem Übermaßverbot ausschließt. Auch die Kritiker des Untermaßverbotes räumen ein, daß dort, wo das Verhältnismäßigkeitsprinzip mangels Eingriff nicht zum Zuge kommt, „die Effektivität des Schutzes auf andere Weise festzustellen versucht werden" müßte. 2 8 6 Verzichtete man auf das Untermaßverbot, so müßten seine Aufgaben zwingend durch ein anderes Prinzip übernommen werden. 281
Denninger, FS Mahrenholz, S. 561 (567 f.); vgl. auch Dietlein, ZG 1995, 131 (136 f.). 282 So zunächst Hain, DVB1. 1993, 982 (983); ders., ZG 1996, 75 (77 ff.); Starck, Verfassungsauslegung, S. 83; ihnen folgend: Blomeyer/Huep, AR-Blattei ES, 69. Lfg. Febr. 1999, 460.3 Nr. 17, S. 7 (12); Erichsen, Jura 1997, 85 (88); Unruh, Dogmatik, S. 87. 283 Explizit: Hain, DVB1. 1993, 982 (983). 284 Dietlein, ZG 1995, 131 (134 ff.); Jaeckel, Schutzpflichten, S. 94; Michael, JuS 2001, 148 (151); Möstl, DÖV 1998, 1029 (1038); vgl. auch Conans, JuS 1989, 161 (163); Classen, Jura 1997, 542 (546); Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 165; 285 Siehe Hain, DVB1. 1993, 982 (983); ders., ZG 1996, 75 (80); vgl. auch Starck, Verfassungsauslegung, S. 83. 286 Starck, Verfassungsauslegung, S. 83.
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
Soweit es um schützende Eingriffe geht, hat Dietlein überzeugend dargelegt, daß aber selbst hier das Untermaßverbot noch einen eigenen Gehalt haben kann, da die Elemente des Über- und Untermaßverbotes sich auf verschiedene Normebenen bezögen. 287 Während beim Übermaßverbot geprüft werde, ob die staatliche Maßnahme geeignet, erforderlich und angemessen sei, den Zweck der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage zu erreichen, beziehe sich die Prüfung der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit beim Untermaßverbot auf die von der Verfassung gesetzten Zwecke der grundrechtlichen Schutzpflichten. Wenn der Hauptvertreter der Kongruenzthese, Hain, hierauf repliziert, die verfassungsrechtliche Schutzpflicht determiniere den Gesetzeszweck, 288 so mißachtet dies die Zwecksetzungskompetenz des Gesetzgebers, der über den grundrechtlichen Schutzauftrag hinausgehen oder ihn mit anderen Zwecken, die sich auch außerhalb der Staatsaufgabe „Schutz" finden können, kombinieren kann. Das zweite Argument zur Widerlegung der Kongruenzthese greift ihre Prämisse einer nicht vorhandenen Spanne zwischen Mindest- und Höchstmaß des Schutzes an. Mit einer solchen Spanne verschwände zugleich der nahezu einhellig bejahte staatliche Gestaltungsspielraum bei der Konkretisierung der Schutzpflicht. 289 Über- und Untermaßverbot begrenzen den staatlichen Konkretisierungsspielraum von je unterschiedlichen Seiten. Das Übermaßverbot deckt nur eine Flanke des staatlichen Handelns ab, nämlich diejenige gegen ein „Zuviel" an staatlichem Schutz durch Eingriffe in die Freiheitssphären der Bürger. Die andere Flanke eines „Zuwenig" an staatlichem Schutz bleibt auf das Untermaßverbot angewiesen. Selbst bei Gesetzen, deren Schutzzweck eine grundrechtliche Schutzpflicht exakt kopiert, unterscheiden sich Über- und Untermaßverbot daher jedenfalls hinsichtlich des komparativen Prüfungskriteriums der Erforderlichkeit. Erforderlichkeit i.S.d. Übermaßverbot fragt danach, ob kein milderes Mittel gleicher Effektivität, das den Störer weniger belastet, zur Verfügung steht. Hingegen verlangt das Untermaßverbot, daß der Schutz ausreichend wirksam sein muß. Im Falle des schützenden Eingriffs in Störergrundrechte muß bei gleicher Eingriffsintensität das wirksamste Mittel gewählt werden. Dieses Kriterium streitet nicht für einen schonenderen, sondern für einen effektiveren Schutz vor Übergriffen Dritter. 2 9 0 287
Dietlein, ZG 1995, 131 (136); ihm folgend Ruffert, Vorrang, S. 216 f. Hain, ZG 1996, 75 (78). 289 Vgl. oben Teil 5 C.IV.l.c). Soweit auf dem Boden der Kongruenzthese dennoch ein staatlicher Gestaltungsspielraum angenommen wird, ist dieser nur um den Preis einer erheblichen definitorischen Aufweichung der drei Elemente der Verhältnismäßigkeitsprüfung, Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit, zu haben, vgl. Jaeckel, Schutzpflicht, S. 95. 290 Wären bspw. zwei Handlungsoptionen gleich effektiv, so ergäbe sich allein aus dem Untermaßverbot noch nicht die Pflicht, diejenige zu wählen, welche die 288
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten
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Eine Konvergenzthese ganz anderer Art verbirgt sich hinter der Kritik, das Untermaßverbot enthalte nichts, was sich nicht ohnehin aus den grundrechtlichen Schutzpflichten ergäbe; 291 es paraphrasiere danach lediglich den Aussagegehalt der Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte. Auch diese Kritik greift zu kurz, insofern sie der Eigenart des Untermaßverbotes gegenüber dem Übermaßverbot nicht hinreichend Rechnung trägt. Das Übermaßverbot ist instrumenten ausgerichtet und verbietet bestimmte vom Staat ergriffene Maßnahmen, es schränkt das durch die Gesetzesvorbehalte der Abwehrrechte eröffnete Feld staatlicher Handlungsoptionen ein. Das Untermaßverbot ist demgegenüber final ausgerichtet. Sofern der Gestaltungsspielraum nicht im Ausnahmefall auf eine einzige verfassungsgemäße Schutzhandlung schrumpft, statuieren die Schutzpflichten eine Zielvorgabe für das staatliche Handeln. Eine solche Zielvorgabe kann nicht nach dem Vorbild des Zusammenspiels von Abwehrfunktion, Gesetzesvorbehalt und Übermaßverbotes „eingeschränkt", sondern nur präzisiert werden. Das Untermaßverbot verhindert, daß der Gesetzgeber oder ein anderes Staatsorgan bei der Ansteuerung des Schutzziels zu weit vom Kurs abweicht, indem es die Vorgabe der Schutzpflicht auf detailliertere, subsumierbare Anforderungen herunterbricht. Daher ist es nicht ausgeschlossen, daß staatliche Maßnahmen, welche die großzügigeren Anforderungen der grundrechtlichen Schutzzielvorgabe noch erfüllen, den präziseren Voraussetzungen des Untermaßverbotes nicht mehr genügen.
3. Die Struktur des Untermaßverbotes und sein Zusammenspiel mit dem Übermaßverbot Die zuletzt genannte Begründung für eine eigenständige Bedeutung des Untermaßverbotes im Zusammenspiel mit der grundrechtlichen Schutzpflicht setzt voraus, daß es gelingt, dieses Prinzip für die Subsumtion handhabbar zu machen. Wie oben 2 9 2 dargelegt weist bereits die Einführung des Untermaß Verbotes in die Verfassungsjudikatur einen inhaltlichen nebst einem prozeduralen Ansatz zur Substantiierung dieses Prinzips auf. Die prozeduralen Anforderungen, daß Schutzvorkehrungen auf „sorgfältigen Tatsachenermittlungen und vertretbaren Einschätzungen beruhen" müssen, 293 spiegelt an sich keine Besonderheit der Schutzpflichtendogmatik wider. Sie
Freiheitssphäre des Störers weniger belastet. Wären andererseits zwei Handlungsoptionen gleich belastend, so ergäbe sich aus dem Übermaßverbot noch nicht die Pflicht, die effektivere von beiden zu wählen. 291 Siehe wiederum Hain, DVB1. 1993, 982 (983); ders. y ZG 1996, 75 ff.; vgl. aber auch Dietlein, ZG 1995, 131 (140). 292 Siehe Teil 5 C.VI.l. 293 BVerfGE 88, 203 (254).
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Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
sind seit langem anerkannte allgemeine Kontrollmaßstäbe final-programmierter Rechtssetzungstätigkeit. 294 Das gleiche gilt für die Beobachtungsund Nachbesserungspflicht 295 insbesondere des Gesetzgebers, die generell bei Prognoseentscheidungen zu beachten ist. Da die klassische Abwehrfunktion aufgrund ihrer Ausrichtung auf die jeweils vorgenommene staatliche Maßnahme weitgehend ohne diese Prognose- und Einschätzungskriterien auskommt, ist ihre Betonung im Rahmen der Schutzpflichtendogmatik verständlich. Die Sorgfältigkeit der Tatsachenermittlung, die Vertretbarkeit der daraus abgeleiteten Einschätzungen und die (legislative) „Nachsorge" können aber im eigentlichen Wortsinne kein „Untermaß" beschreiben. In den Mittelpunkt der Betrachtung müssen darum die inhaltlichen Kriterien treten. Die Möglichkeit einer Ausdifferenzierung des Untermaßverbotes in konkretere inhaltliche Anforderungen nach dem Muster des Übermaßverbotes wird in der Literatur unterschiedlich beurteilt. 2 9 6 Mit den Attributen „angemessen", „wirksam" und „ausreichend" 297 hat das Bundesverfassungsgericht indes zumindest den terminologischen Anknüpfungspunkt für eine dreistufige Auffächerung des Untermaßverbotes geliefert. Diesem Unterteilungsansatz ist zuzustimmen. Eine staatliche Maßnahme kann nur dann in Erfüllung einer grundrechtlichen Schutzpflicht ergehen, wenn sie wirksam bzw. geeignet ist, den Schutz der einschlägigen Freiheitssphäre gegen Übergriffe Privater zu verbessern. 298 Fragt man umgekehrt nach der Verletzung des Untermaßverbotes, so ist bei der Geeignetheit - wie auch bei den weiteren Unterpunkten des Untermaßverbotes - i.d.R. nicht auf eine einzelne Maßnahme abzustellen, sondern auf die Gesamtheit staatlicher Maßnahmen. Nur wenn unter diesen keine der Freiheitssphäre der einzelnen dienlich ist, ist das Untermaßverbot wegen Ungeeignetheit verletzt. Hinsichtlich einer einzelnen un294
Dietlein, ZG 1995, 131 (141), nennt als Beispiel die Aufstellung von Bebauungs- und Gebietsentwicklungsplänen; vgl. BVerfGE 76, 107 (121 f.); VerfGH NW, NWVB1. 1990, 51 (54); 1991, 371 (372); 1993, 170 (171); BVerwGE 34, 293 (301 ff.) 295 BVerfGE 88, 203 (269, 309 f., 335). Siehe hierzu auch oben Teil 5 C.IV.l.c). 296 Dafür etwa: Michael, JuS 2001, 148 (151); Möstl, DVB1. 1998, 1029 (1036 f.). Dagegen: Dietlein, ZG 1995, 131 (139); wohl auch Jaeckel, Schutzpflichten, S. 95 f. 297 BVerfGE 88, 203 (254), siehe das Zitat im Zusammenhang oben bei Fn. 277. 298 Ebenso: Möstl, DÖV 1998, 1029 (1038). Auch im Kontext des Übermaßverbotes muß das eingesetzte Mittel den verfolgten Zweck nicht verwirklichen, sondern lediglich fördern; dies ist der Fall, wenn die Wahrscheinlichkeit, das der angestrebte Erfolg eintritt, erhöht wird (BVerfGE 30, 292 (316); 33, 171 (187) 67, 157 (173); vgl. auch 96, 10 (23)). Zu geringe Anforderungen an die Geeignetheit des Untermaßverbotes stellt Michael, JuS 2001, 148 (151), wenn er nur fordert, daß das vom Staat gewählte Mittel entweder dem Schutzzweck oder „anderen Zwecken förderlich ist".
C. Die inhaltliche Konkretisierung der Schutzpflichten
303
ter vielen staatlichen Maßnahmen kann allenfalls davon gesprochen werden, daß sie dem Schutzzweck nicht förderlich oder gar abträglich ist. Für dessen Verwirklichung ist sie dann unergiebig, was die Existenz alternativer, geeigneter Schutzmaßnahmen aber nicht ausschließt. Es ist ebenso naheliegend wie irreführend, den zweiten Unterpunkt der Prüfung mit dem Etikett der Erforderlichkeit zu versehen. Zwar geht es bei dem Untermaßverbot insgesamt um die Frage, welches Maß an Schutz unabdingbar und damit erforderlich ist. Wie bereits gezeigt 2 9 9 verlangt die zweite Ebene des Untermaßverbotes einen effektiven 300 Freiheitsschutz. Dies bedeutet eine Optimierung des Schutzniveaus bei gegebener Eingriffsintensität. Aus dem vom Bundesverfassungsgericht verwandten Attribut „ausreichend", auf welches das zweite Fristenregelungsurteil ein Hauptaugenmerk legt, 3 0 1 ohne daß es innerhalb des Übermaß Verbotes eine inhaltliche Entsprechung besäße, ergibt sich eine derartige Optimierung zwar nicht zwingend. In der Sache ist aber gerade dieses Erfordernis mit der Grenze des Untermaßes gemeint. Verletzt ist das Effektivitätsgebot, wenn eine zur Verfügung stehende effektivere Schutzalternative nicht gewählt wird, obwohl sie insbesondere die Störerinteressen nicht stärker tangiert. 3 0 2 Innerhalb der Angemessenheit ist zu fragen, ob der gewährte Schutz hinreicht, was voraussetzt, daß die zwangsläufig verbleibenden Schutzdefizite zumutbar sind. Hier ist der Ort, die abwehrrechtlichen Störer- und die schutzrechtlichen Opferinteressen innerhalb des Schutzpflichtendreiecks umfassend abzuwägen. Der Abwägungsprozeß hat sich ferner an den oben dargestellten Auswahlkriterien 303 zu orientieren. Diese können die Freiheitsinteressen der Betroffenen spezifizieren bzw. auf- oder abwerten. Sie haben eine doppelte Bedeutung: Sie stellen nicht nur das Abwägungsmaterial für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne bereit und ordnen es. Sie geben den staatlichen Organen darüber hinaus praktische Leitlinien zur Ausfüllung des ihnen überantworteten Gestaltungsspielraumes, ohne daß sie in dieser Funktion einen verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab bildeten. 3 0 4 Nicht jede kritikwürdige Heranziehung dieser Kriterien durch den 299
Siehe oben Teil 5 C.VI.2. „Effektiv" ist hier im wissenschaftlichen Wortsinne der Betriebswirtschaft und Verwaltungslehre gemeint und bedeutet die Maximierung des Nutzens (d.h. Grundrechtsschutz für das Opfer) bei gleich bleibenden Kosten (d.h. Intensität des Grundrechtseingriffs beim Störer), vgl. nur Thieme, Verwaltungslehre, Rz. 156. 301 Siehe BVerfGE 88, 203 (254) sowie S. 261 („ausreichende Maßnahmen") und S. 262 („Faktoren ausreichend berücksichtigt"). 302 Möstl } DÖV 1998, 1029 (1038 f.); Michael, JuS 2001, 148 (151); vgl. auch bereits Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 165. 303 Siehe oben Teil 5 C.IV.3. 304 Vgl. zu einer ergänzenden, bloßen „Wegweiser"-Funktion der Grundrechte allgemein: Canaris, JuS 1989, 161 (164). 300
304
Teil 5: Die Rechtsfolgen grundrechtlicher Schutzpflichten
Staat führt damit zur Disproportionalität und Verfassungswidrigkeit des staatlichen Schutzkonzepts. In die einzelfallbezogene Güterabwägung sind ferner nicht ausschließlich die Grundrechtspositionen beider Betroffener einzustellen, sondern auch die tangierten Güter der Allgemeinheit. 3 0 5 Für die Prüfung von Untermaß- und Übermaßverbot gilt daher, daß bei einem Schutzhandeln, welches einen Eingriff in die Störergrundrechte darstellt, zunächst die Verhältnismäßigkeit i.S.d. Übermaßverbotes zu untersuchen ist. Bei dem der Geeignetheit vorgelagerten Frage nach dem legitimen Ziel staatlichen Handelns, steht die gesetzgeberische Zieldefinition im Vordergrund, es kann - zumal hinsichtlich ihrer Legitimität - aber gegebenenfalls schon auf die Relevanz grundrechtlicher Schutzpflichten zurückgegriffen werden. Die letzte Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung, die Angemessenheit, Proportionalität oder Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, ist in der Prüfungsfolge tunlichst zurückzustellen, da eine umfassende und sachgerechte Interessenabwägung erst möglich ist, wenn auch der grundrechtliche Status der Interessen des durch die staatliche Maßnahme geschützten Opfers festgestellt wurde. Bei der sich anschließenden Prüfung des Untermaßverbotes kann bei der Geeignetheit der Schutzmaßnahme auf den entsprechenden Punkt des Übermaßverbotes verwiesen werden, sofern das (gesetzgeberisch) festgelegte Ziel des Eingriffs mit der grundrechtlichen Schutzpflicht identisch ist. Nach der Effektivität ist schließlich die Angemessenheit für Unter- und Übermaßverbot gemeinsam zu prüfen, so daß sich bei diesen Fallgruppen folgender Aufbau ergibt: 1. legitimes Handlungsziel (Übermaßverbot) 2. Geeignetheit (Übermaßverbot) 3. Erforderlichkeit (Übermaßverbot) 4. Geeignetheit (Untermaßverbot, ggf. wie 2.) 5. Effektivität (Untermaßverbot) 6. Angemessenheit (Übermaßverbot/Untermaßverbot) Fehlt es an einem Grundrechtseingriff, so ist nur das Untermaßverbot mit seinen drei Unterpunkten (4.-6.) abzuarbeiten.
305 Vgl. BVerfGE 46, 160 (165); 77, 170 (229); a.A. das Sondervotum Mahrenholz (zu BVerfGE 77, 170), a.a.O., S. 234 ff.
Teil 6
Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht Der mit diesem Abschnitt der Arbeit gewagte konzeptionelle Sprung scheint groß zu sein: von der mit dem Anspruch der Geschlossenheit abgehandelten Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten zur Frage der Anwendbarkeit von grundrechtlichen und sonstigen, objektiven Schutzpflichten des Staates in einem vergleichsweise engen Ausschnitt des Zivilrechts. Die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und ihr vielstimmiges Echo in der Literatur läßt es lohnend erscheinen, die erarbeiteten Grundsätze der Schutzpflichtendogmatik abschließend im Hinblick auf den Schutz des Schwächeren im Vertragsrecht, mit dem die Schutzpflichtenlehre einen entscheidenden und umstrittenen Schritt weitergegangen ist, anzuwenden. Vor allem aber erscheint keine andere Rechtsmaterie geeigneter, die Grenzen der subjektiven grundrechtlichen Schutzpflichten aufzuzeigen und zugleich alternative, objektiv-rechtliche Schutzaufträge der Verfassung darzustellen.
A. Grundlagen und Themen des Verbraucherschutzes I. Ökonomische Grundlagen und rechtspolitische Modelle des Verbraucherschutzes Eine konsensfähige, in sich schlüssige Verbraucherschutzdogmatik kann nicht losgelöst von den ökonomischen Realitäten entwickelt werden; sie muß vielmehr an den Gegebenheiten des Wirtschaftsleben gemessen und verifiziert werden. 1 1. Die Verbraucherinteressen Daß der Verbraucher eines besonderen Schutzes bedarf und dieser vornehmlich mit rechtlichen Instrumentarien zu bewerkstelligen sei, wird je1
Vgl. Drexl, Selbstbestimmung, S. 69.
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Teil 6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
denfalls in der rechtswissenschaftlichen Literatur allgemein angenommen.2 Wenig erörtert wird jedoch die Frage, worin die Schutzbedürftigkeit des Verbrauchers besteht. Dies hängt mit dem Umstand zusammen, daß die ökonomische Literatur sich dem Problem des Verbraucherschutzes nur sehr zurückhaltend nähert und dieses Gebiet eine Domäne der Rechtswissenschaft geblieben ist. 3 Um einen besonderen rechtlichen Schutz zu rechtfertigen, müssen gerade Verbrauchern wegen ihrer spezifischen Rolle Gefahren für ihre Rechtsgüter oder ihr Vermögen erwachsen, denen Leistungsanbieter oder sonstige Dritte nicht in vergleichbarer Weise ausgesetzt sind und deren Inkaufnahme die Rechtsordnung den Verbrauchern daher billigerweise nicht zumuten kann. 4 Probleme ergeben sich insbesondere aus der fehlenden Homogenität der Gruppe der Verbraucher, die personell mit der Gesamtbevölkerung mehr oder minder identisch ist. 5 Weder unter den Anbietern noch unter den Nachfragern gibt es eine Interessenübereinstimmung oder auch nur eine „systembedingte Harmonie". 6 Auch eine Eingrenzung der verbraucherrelevanten Geschäfte nach dem Vertragstyp oder -gegenständ ist kaum möglich, da wegen der ausschließlichen Abgrenzung nach dem Verwendungszweck nahezu jedes Rechtsgeschäft ein Verbrauchergeschäft sein kann. 7 Zwar ist die Existenz von Verbraucherinteressen weithin als Grundannahme einer Verbraucherpolitik akzeptiert, jedoch räumen selbst Vertreter eines aktiven, an sozialen Alternativmodellen orientierten Verbraucherschutzes ein, daß Verbraucherinteressen als solche empirisch weder ermittelbar noch theoretisch zu legitimieren sind. 8 Angeführt wird für die Schutzbedürftigkeit des Verbrauchers seine intellektuelle und wirtschaftliche Unterlegenheit gegenüber den Anbietern. 9 Diese Sicht wird teilweise mit der Subsumtion des Verbrauchers unter die plakative Formel des „sozial Schwächeren" ausgedrückt. 10 Die intellektuelle Unterlegenheit kann beruhen auf seiner fehlenden Marktübersicht (insbes. in bezug auf Preise), seiner mangelnden Vertrautheit mit wirtschaft2
Siehe Dauner-Lieb, Verbraucherschutz, S. 17 ff.; Kemper, Verbraucherschutzinstrumente, S. 30 u. 504; aus ökonomischer Sicht: Nieschlag/Dichtl/Hörschgen, Marketing, S. 82. 3 Helmrich, in: Piepenbrock, Verbraucherpolitik, S. 41 (47 f.). 4 Kemper, Verbraucherschutzinstrumente, S. 31. 5 Vgl. Simitis, Verbraucherschutz, S. 81. 6 Nieschlag/Dichtl/Hörschgen, Marketing, S. 67. 7 Kemper, Verbraucherschutzinstrumente, S. 31. 8 Hart/Joerges, Verbraucherrecht, S. 90 f.; vgl. auch Drexl, Selbstbestimmung, S. 35. 9 Kemper, Verbraucherschutzinstrumente, S. 32 m.w.Nachw. in Fn. 28 f. 10 Siehe nur von Hippel, Schutz des Schwächeren, S. 29 ff.; ähnlich bereits Weitnauer, Schutz des Schwächeren, S. 12 f.
A.
Grundlagen und Themen des Verbraucherschutzes
307
liehen oder rechtlichen Grundtatbeständen, seiner unzulänglichen Fähigkeit zur Selbsteinschätzung seiner Bedürfnisse, einem grundsätzlichen Mißverhältnis zwischen Konsumwünschen und finanziellen Möglichkeiten oder gar auf einer Anfälligkeit für eine „externe Verhaltenssteuerung". 11 Die These von der ökonomischen Unterlegenheit spiegelt hingegen lediglich die typischerweise relativ geringe Nachfragemacht des einzelnen Verbrauchers gegenüber den Leistungsanbietern. 12 Im Vorfeld einer grundrechtsdogmatischen Betrachtung ist es indes unabdingbar, die Verbraucherinteressen als Freiheitsinteressen zu beschreiben, um den Verbraucherschutz dem für die Schutzpflichten konstitutiven grundrechtlichen Freiheitsbegriff zuordnen zu können. Zur Beschreibung der Verbraucherinteressen im Sinne einer Freiheits- oder Rechtsposition wird in der Literatur vielfach der Begriff der „Konsumentensouveränität" 13 bzw. der „Verbrauchersouveränität" 14 vorgeschlagen. Konsumentensouveränität bedeutet, daß die Verbraucher nach eigenen Vorstellungen entscheiden können und nicht fremden Vorgaben folgen müssen.
2. Staat und Markt: Verbraucherschutz in der Sozialen Marktwirtschaft Nimmt man diesen Begriff der Konsumentensouveränität als Umschreibung einer tatsächlich verwirklichten Freiheit im Wirtschaftsleben, so stellt sich die Frage, ob ein besonderer Verbraucherschutz nicht verzichtbar ist. Ein solches Vertrauen in die Freiheitssicherung des Marktes findet sich bereits in den Arbeiten Adam Smiths. Seinem Konzept zufolge spiegelt der am Markt gebildete Preis die Knappheit der nachgefragten Güter wider. 1 5 Der dezentral aufgebaute Mechanismus des Marktes, dessen Funktionieren von der Institution der Vertragsfreiheit abgesichert wird, gewährleiste den kostensparendsten und effizientesten Einsatz knapper Güter. Der Markt als Interessenkoordinator lenke den einzelnen durch seine „unsichtbare Hand" 1 6 und vermehrte dabei den Wohlstand aller Marktteilnehmer. Staatliche Ein11
Fallgruppen nach Kemper, Verbraucherschutzinstrumente, S. 36 ff. Kemper, Verbraucherschutzinstrumente, S. 58 f. 13 Siehe hierzu: Gröner/Köhler, Verbraucherschutzrecht, S. 11 ff. (m.w.Nachw. S. 11 in Fn. 28). 14 Schölten, in: Piepenbrock, Verbraucherpolitik, S. 95 (101). 15 Smith, Wealth of Nations, S. 63 f. (Bd. I Kap. VII); vgl. auch Drexl, Selbstbestimmung, S. 92 f., der allerdings zu Recht auch auf Ansätze bei Smith zur ethischen oder rechtlichen - Korrektur der Selbstregulierung des Marktes in Fällen eines ,Marktversagen' hinweist. 16 In der Literatur wird das Adam'sehe Marktkonzept üblicherweise mit diesem einem allerdings aus dem Zusammenhang genommenen Zitat folgenden - Schlagwort der „invisible hand" beschrieben. 12
20*
3 0 8 T e i l
6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
griffe seien geeignet, diesen Interessenausgleich zu stören und den Wohlstand zu mindern. 17 Mit seiner Grundthese von der „unsichtbaren Hand" und dem Postulat des Abbaus von staatlichen Interventionen widerspricht Smith der Hobbesschen Annahme, eine Gesellschaft falle in einen Kampf aller gegen alle zurück, wenn sie sich nicht der Macht eines unbeschränkten Souveräns ausliefere. 18 Smith knüpft die Ordnungsfunktion des Marktes an die Existenz von bestimmten Grundvoraussetzungen wie dem Mitgefühl der Menschen untereinander, einem Kanon freiwillig befolgter Regeln der Ethik sowie einem funktionierenden Rechtssystem.19 Seine Kritik richtet sich im übrigen nur gegen für schädliche erachtete Staatseingriffe, die dem jeweiligen Bewegungsgesetz des Individuums zuwiderlaufen; Regulierungen des Bankgeschäfts etwa hält auch Smith für gerechtfertigt. 20 Das dezentral-freiheitliche Marktmodell Smiths bildet die Grundlage vieler späterer ökonomischer Schulen vom sog. Laissez-faire-Liberalismus bis hin zur Neoklassik bzw. zu den Altliberalen. Erstere empfindet jedes wirtschaftlich relevante Handeln des Staates als unzulässige Behinderung der unsichtbaren, ordnenden Hand des Marktes und blendet die von Smith postulierten Grundvoraussetzungen der Ordnungsfunktion des Marktes aus. Die volkswirtschaftlichen Positionen der sog. Altliberalen 21 wie Milton Friedman und Friedrich Hayek weisen in eine ähnliche Richtung, wenn sie lediglich minimalstaatliche als „gute" Gründe zur Beschränkung der Freiheit akzeptieren; sie betonen die Forderung nach Rechtsstaatlichkeit zu Lasten der Bereitstellung bestimmter Kollektivgüter oder Versicherungen. 22 Kern altliberaler Positionen ist die Überzeugung von der Selbstbehauptungstendenz des Wettbewerbs. 23 Ein solches Marktmodell ist aber auch als Basis für darauf aufbauende Theorien nur begrenzt geeignet, Wegweisungen für eine Wettbewerbs- oder Verbraucherschutzpolitik zu geben. Insbesondere wird ihm mit Recht vorge17
Vgl. Heinemann, Freiburger Schule, S. 28 f. So: Kurz» in: Piper, Ökonomen, S. 29 (30). 19 Vgl. zu diesen Grundvoraussetzungen Drexl, Selbstbestimmung, S. 93. 20 So: Kurz, in: Piper, Ökonomen, S. 29 (34 f.). Vgl. zur Regulierung der Bankgeschäfte, Smith, Wealth of Nations, S. 331 ff. (Buch II, Kap. II). 21 Diese Gruppe von Wissenschaftlern, unter denen die Angehörigen der Chicago School in jüngerer Zeit wiederum eine herausgehobene Stellung einnehmen, läßt sich als „altliberal" oder „neoklassisch" umschreiben, weil die hier vertretenen Auffassungen dem klassischen Liberalismus am nächsten stehen; das Attribut „neoliberal" wäre hingegen geeignet, Mißverständnisse auszulösen, da es nicht selten synonym für „ordoliberal" verwandt wird, siehe hierzu: Grosseketteler, Wirtschaftsordnung, S. 8 f. 22 Vgl. Grosseketteler, Wirtschaftsordnung, S. 8. 23 Vgl. Grosseketteler, Wirtschaftsordnung, S. 9 m.w.N. 18
A.
Grundlagen und Themen des Verbraucherschutzes
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worfen, es sei statisch, während Marktprozesse in Wirklichkeit als dynamische Prozesse ablaufen. 24 Leitbild der Wirtschaftsordnung, wie sie sich in der Bundesrepublik Deutschland herausgebildet hat, ist die „Soziale Marktwirtschaft", die sich zumindest in ihrer Genese eng an die wissenschaftlichen Grundprinzipien des Ordoliberalismus angelehnt hat. Der Ordoliberalismus, als dessen Hauptvertreter Walter Eucken, Franz Böhm sowie Alfred Müller-Armack 25 zu nennen sind, kann verstanden werden als „Ideengemeinschaft derjenigen, welche mit Mitteln des Rechts dafür sorgen wollen, daß eine ... Soziale Marktwirtschaft entsteht und ... erhalten bleibt, in welcher die Wirtschaftsprozesse sachgerecht (effizient) und menschenwürdig gelenkt werden". 26 Er lehnt die - v.a. in der Neoklassik zu findende - Hypothese, wonach eine angestrebte Ordnung wie die Soziale Marktwirtschaft in der Realität spontan auf dem Boden minimalstaatlicher Regeln entstehen könne, ab; er fordert ein Wirtschaftsverfassungsrecht, welches „sozial" in dem Sinne ist, daß „die arbeitsteilige Kooperation freier Menschen systematisch so geleitet wird, daß Koordinationsmängel in Form eines Markt- oder Staatsversagens vermieden werden". 27 Nicht nur die politische, sondern auch die rechtliche Diskussion des Verbraucherschutzes spielt sich darum in dem wirtschaftspolitischen Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft ab, justiert mittels ihrer Entscheidungen diesen Rahmen aber auch stetig neu. Auch für eine verfassungsrechtliche Betrachtung des Verbraucherschutzes ist die Beachtung dieses Rahmens unerläßlich. Die normative Funktion des Verfassungsrechts gebietet es, die Bedingungen und Folgen der Gestaltung der Lebenswirklichkeit im Verfassungsstaat zur Kenntnis zu nehmen. Begrenzt werden solche ökonomischen Referenzbetrachtungen durch die wirtschaftspolitische Neutralität der Verfassung. Das Grundgesetz konstituiert keine Wirtschaftsverfassung und ist auf kein bestimmtes Wirtschaftssystem fixiert. Es überläßt die Gestaltung des Wirtschaftslebens dem Gesetzgeber, der hierüber innerhalb der ihm durch die Schranken, welche die einzelnen Rechtssätze des Grundgesetzes - wie insbesondere die einzelnen Grundrechte - ziehen, frei zu entscheiden hat. 2 8 Auch die Rechtsprechung darf sich bei ihrer Auslegung der Verfassung nicht in den Dienst einer be24
Drexl, Selbstbestimmung, S. 96 f. Vgl. zu diesen Grosseketteler, Wirtschaftsordnung, S. 22 ff. (jeweils m.w. Nachw.); Heinemann, Freiburger Schule, S. 32 ff. 26 Grosseketteler, Wirtschaftsordnung, S. 17. 27 Grosseketteler, Wirtschaftsordnung, S. 17. 28 BVerfGE 4, 7 (17 f.); siehe auch Ipsen, HdbStR III, § 92 Rz. 10; Papier, HdbVerfR, § 18 Rz. 1 f. 25
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Teil 6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
stimmten ökonomischen oder sozialwissenschaftlichen Theorie stellen oder diese gar zu Verfassungsrang erheben. 29 Die wirtschaftspolitische Zurückhaltung des Grundgesetzes bedeutet aber in erster Linie einen Verzicht auf die Normierung positiver Handlungspflichten des Staates und eine Absage an eine Wirtschaftsverfassung in einem „aggressiv-gestalterischen" Sinne. 30 Umgekehrt bewirken eine Reihe einzelner Verfassungssätze in ihrer Summe eine Absage an planwirtschaftliche Handlungskonzepte des Staates; dazu gehören v.a. der Gewaltenteilungsgrundsatz als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips, die Eigentums-, die Berufs- und die allgemeine Handlungsfreiheit. 31 Negative Aussagen zur Wirtschaftsordnung sind der Verfassung also durchaus zu entnehmen. Die freiheitliche Grundentscheidung der Verfassung tendiert zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung, 32 weil sie ihr Gegenteil praktisch ausschließt. Reichert man diese Feststellung um den Hinweis auf die grundgesetzliche Verankerung des Sozialstaatsprinzips in Art. 20 Abs. 1 GG an, so ergibt sich zwar noch keine verfassungsrechtliche Fixierung der Sozialen Marktwirtschaft. Es wird jedoch die Affinität des Grundgesetzes für eine einerseits freiheitlich-wettbewerblich und damit marktgeleitete und andererseits sozial ausgeglichene Ordnung des Wirtschaftslebens deutlich.
3. Modelle einer Verbraucherschutzpolitik a) Marktkomplementärer
Verbraucherschutz
Wenn sich die Soziale Marktwirtschaft - im Gegensatz zu einer reinen oder „freien" Marktwirtschaft - aus den Komponenten „Soziales" und „Markt(wirtschaft)" zusammensetzt, so ist die verbraucherpolitische Problematik primär und überwiegend der marktwirtschaftlichen Komponente zuzuordnen. 33 Dieser auf den ersten Blick überraschende Befund ergibt sich aus einer Analyse des sozialen Elements der Sozialen Marktwirtschaft. Während der Marktgedanke von einer Gleichwertigkeit der Wirtschaftsplanungen und -Subjekte ausgeht, korrigiert die soziale Komponente diesen 29
Dies hob bereits im Jahre 1905 der Richter am Supreme Court der USA, Oliver Wendeil Holmes, in seinem viel beachteten Sondervotum in der Entscheidung Lochner v. New York hervor: „This case is decided upon an economic theory ... But ... I strongly believe that my agreement or disagreement [with such a theory] has nothing to do with the right of a majority to embody their opinions in law. ... The 14th Amendment does not enact Mr. Herbert Spencer's Social Statics.", USReports Bd. 198, S. 45 (75). 30 Papier, HdbVerfR, § 18 Rz. 4. 31 Kriele, Staatslehre, S. 180 ff. 32 Vgl. auch Zacher, HdbStR I, § 25 Rz. 51 m.w.Nachw. in Fn. 281. 33 Schölten, in: Piepenbrock, Verbraucherpolitik, S. 95 (96).
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Grundlagen und Themen des Verbraucherschutzes
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Marktprozeß und seine Ergebnisse zugunsten von einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft oder bestimmten Gruppen, die in nicht ausreichendem Maße selbst in der Lage sind, in diesem grundsätzlich leistungsorientierten Marktgeschehen aktiv mitzuwirken und an seinen Ergebnissen teilzuhaben. 34 Begünstigte solcher Korrekturmaßnahmen sind etwa Behinderte, Kranke, Kinder, Senioren, aber z.B. auch Familien für die Zeit der Erbringung von Erziehungs- und Ausbildungsleistungen. Hingegen fällt eine wirtschaftliche Umverteilung als Ergebnis des Machtkampfes großer Gruppen im Markt nicht unter die soziale Komponente, auch wenn es sich um „Sozialpartner" handelt. 35 Die Verbraucher als eine heterogene und im Grundsatz dem Marktgeschehen durchaus gewachsene Personenmehrheit können in ihrer Gesamtheit nicht von dieser sozialen Komponente profitieren. Bereits vor Beginn der verbraucherpolitischen Debatte in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts wies das deutsche Recht eine Fülle von verbraucherschützenden Normen auf, die auch im internationalen Vergleich ein recht hohes Schutzniveau zugunsten des deutschen Verbrauchers konstituierten. Verbraucherschützende Aspekte fanden Eingang in die Rechts-, Gesundheit-, Hygiene-, Gewerbepolitik. 36 Insbesondere aber die von den Gedanken des Ordoliberalismus beherrschte Wettbewerbsordnung kann als ökonomisches Fundament der Wahrung von Verbraucherinteressen gelten: 37 In der Sozialen Marktwirtschaft laufen das Interesse an der Aufrechterhaltung eines funktionierenden Wettbewerbs und das Interesse am Verbraucherschutz weitgehend parallel. 38 In einem System, das die prinzipielle Freiheit der Marktteilnehmer zur Prämisse hat, muß eine „Verbraucherpolitik" darüber hinausgehend an der Schnittstelle der Verbraucheraktion im Marktgeschehen ansetzen, nämlich bei der Ausübung der Wahlfreiheit. 39 Hier will sie die Chancen des einzelnen Verbrauchers verbessern, die ihm zur Verfügung stehenden knappen Mittel möglichst nutzenmaximierend zu verwenden. Der Verbraucher braucht dazu Wissen, einerseits über sich und seine Wünsche und Bedürfnisse, andererseits über das verfügbare Angebot. Wissen wiederum setzt voraus, daß dem Verbraucher geeignete Informationen zugänglich sind. Er muß diese Informationen annehmen und sie zu eigenen Entscheidungen verarbeiten. 40 Ziel des staatlichen Verbraucherschutzes muß es sein, das Funk34 35 36 37 38 39
Schölten, Schölten, Schölten, Schölten, Helmrich, Schölten,
in: Piepenbrock, Verbraucherpolitik, S. 95 (96). in: Piepenbrock, Verbraucherpolitik, S. 95 (96). in: Piepenbrock, Verbraucherpolitik, S. 95 (106). in: Piepenbrock, Verbraucherpolitik, S. 95 (105). in: Piepenbrock, Verbraucherpolitik, S. 41 (49). in: Piepenbrock, Verbraucherpolitik, S. 95 (101).
312
Teil 6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
tionieren des marktwirtschaftlichen Systems in den Beziehungen zwischen Anbietern und Verbrauchern zu gewährleisten. 41 Die Marktwirtschaft im Sinne eines offenen Wettbewerbssystems soll für den Verbraucher stabilisiert und nicht (partiell) substituiert werden. Der Staat muß nur dort regelnd eingreifen, wo der Wettbewerb gestört ist. 4 2 Im Zentrum des Verbraucherschutzes hat die Schaffung und Erhaltung der Bedingungen zu stehen, unter denen dem Verbraucher selbstbestimmte Entscheidungen auf dem Markt möglich sind. 43 Dieser Erkenntnis korrespondiert die ordoliberale Grundposition, daß der Staat lediglich die Voraussetzungen der Wettbewerbswirtschaft zu schaffen hat, er aber nicht die Ergebnisse des Marktprozesses bestimmen darf. Er ist somit auf die Festlegung von „Spielregeln" für die Ordnung der Wirtschaft beschränkt. Verbraucherpolitik in der Sozialen Marktwirtschaft ist daher zum einen Bildungspolitik und zum anderen Informationspolitik. 44 Die Politiken, die gemeinhin unter dem Titel „Verbraucherschutzpolitik" firmieren, betreffen hingegen Tatbestände, welche die Freiheit des Vertragsschlusses und damit - neben der Dispositionsfreiheit des Anbieters - auch die Dispositionsfreiheit des Verbrauchers aus übergeordneten Gesichtspunkten einschränken. Auf der Grundlage einer solchen, ordnungspolitischen Betrachtung des Verbraucherschutzes, gilt, daß je mehr Risiko dem Verbraucher abgenommen wird, desto weniger Konsumfreiheit bzw. „Konsumentensouveränität" er behau45 b) Marktkompensatorischer
Verbraucherschutz
Einer entgegengesetzten Grundrichtung in der verbraucherpolitischen Diskussion reichen marktkomplementäre Steuerungsziele nicht aus. Ihr geht es um die Kompensation von Marktprozessen. Sie bestreitet, daß der Konsument eine souveräne Wahlfreiheit besitzt, weil er in marktwirtschaftlichen Ordnungen unentrinnbar in dem „gesellschaftsstrukturellen Gegensatz" zwischen den Kapitalinteressen der Produzenten von Waren und Leistungen und eigenen Gebrauchswertinteressen verharren müsse. 46 Der Verbraucher sei nicht Souverän, sondern „Untertan" des Marktsgeschehens. 47 40
Schölten, in: Piepenbrock, Verbraucherpolitik, S. 95 (101). Kemper, Verbraucherschutzinstrumente, S. 63. 42 Drexl, Selbstbestimmung, S. 123. 43 Vgl. Drexl, Selbstbestimmung, S. 206. Siehe hierzu die obigen Überlegungen sub Teil 6 A.I.4. 44 Vgl. Neuner, Privatrecht, S. 278. 45 Schölten, in: Piepenbrock, Verbraucherpolitik, S. 95 (102). 46 Reich/Tonner/Wegener, Verbraucher, S. 8 ff.; Reich, Markt, S. 179 ff.; Simitis, Verbraucherschutz, S. 144; vgl. hierzu Groner/Köhler, Verbraucherschutzrecht, S. 12 f. 41
A.
Grundlagen und Themen des Verbraucherschutzes
313
Der Verbraucher entscheide irrational, ihm komme es auf den von der Werbung vermittelten Zusatznutzen an. 4 8 Eine Informationspolitik wird als Ausweg aus diesem Problem wegen ihrer zu geringen Anpassungsgeschwindigkeit und notwendigen Unvollkommenheit skeptisch betrachtet. 49 Stattdessen werden die Offenlegung des sozialen Machtmißbrauchs durch die Leistungsanbieter und ein Verfahren der öffentlichen Willensbildung der Verbraucher gefordert. 50 Das Ziel ist letztlich ein partizipatorischer Verbraucherschutz, der auf einer kollektiven Selbstbestimmung der Verbraucher im Produktionsprozeß basiert. 51 Eine solche - staatlich angeordnete - Einflußnahme auf den Produktionsprozeß begegnet kaum zu überwindenden grundrechtlichen Bedenken. Die Unternehmerfreiheit (Art. 12 Abs. 1, 14 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG) läßt solche Interventionen als Regelinstrument des Verbraucherschutzes nicht zu. Da praktisch alle Menschen auch als Verbraucher am Markt agieren, müßte die Gesamtheit der Bürger oder Einwohner diese Partizipationsrechte erhalten. Zweckmäßigerweise würden diese durch den Staat als der bereits etablierten Organisationsform des Volkes ausgeübt. Das Postulat der Partizipation an unternehmerischen Entscheidungsprozessen liefe damit auf eine Teilverstaatlichung der Produktion und letztlich der Unternehmen hinaus. Bereits aus diesem Grunde ist dieser Ansatz eines marktkompensatorischen Verbraucherschutzes de constitutione lata nicht weiter zu verfolgen. Den marktkompensatorischen Verbraucherschutzansätzen ist ferner die Gefahr inhärent, daß der mit marktdurchbrechenden Rechtsinstrumenten ausgestattete Verbraucher nicht mehr zu ressourcensparendem Verhalten veranlaßt wird. Die von ihm individuell veranlaßten Kosten werden sozialisiert und sind von der Gesamtheit der Verbraucher z.B. über eine Anhebung von Produktpreisen oder Kreditkosten zu tragen. 52 Eine solche Sozialisierung von Kosten widerspräche auch dem zivilrechtlichen Prinzip der dezentralen Risikoverteilung. 53 Wenn aus der Heterogenität und Definitionssperrigkeit der Verbraucherinteressen die Konsequenz gezogen wird, Verbraucherinteressen primär prozedural - im Wege eines „Entdeckungsverfahren Praxis" 54 zur Geltung zu bringen, so ergeben sich im Rahmen der Grundrechtsordnung mehrere 47
Reich., Markt, S. 183 f. Simitis, Verbraucherschutz, S. 112 ff. u. 134. 49 Simitis, Verbraucherschutz, S. 119 ff. 50 Simitis, Verbraucherschutz, S. 155 ff.; vgl. auch Joerges, Verbraucherschutz, S. 96 f. 51 Simitis, Verbraucherschutz, S. 156 f. 52 Drexl, Selbstbestimmung, S. 142 f. 53 Hierzu ausführlich: Dauner-Lieb, Verbraucherschutz, S. 57 ff. 54 Joerges, Verbraucherschutz, S. 111 ff. 48
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gangbare Wege. Möglich bleibt zum einen die Stärkung von freiwilligen Zusammenschlüssen von Verbrauchern, etwa durch staatliche Förderung und Finanzierung von Verbraucherverbänden und -beratungssteilen, um so Einfluß auf Unternehmensentscheidungen zu nehmen. Des weiteren ist eine Integration in den politischen Prozeß nicht nur angezeigt, sondern auch gängige Praxis wie die Entwicklung der Verbraucherschutzgesetzgebung auch in der Bundesrepublik bestätigt. 55 Angesichts der weitgehenden Identität von Wählern und Verbrauchern ist die Forderung nach einer umfassenden Repräsentation der Betroffenen im Rechtsfindungsprozeß 56 bezogen auf die Ebene der Rechtspolitik bereits verwirklicht. Soweit ein solches Repräsentationspostulat auf den gerichtlichen Rechtsfindungsprozeß abzielt, wäre es mit der Unabhängigkeit der Justiz indes nicht zu vereinbaren.
4. Formelle versus materielle Vertragsfreiheit Die rechtsdogmatische Diskussion des Verbraucherschutzes spitzt sich zumindest im Kontext des Verbrauchervertragsrechts - auf die Frage nach dem richtigen Vertragsfreiheitskonzept zu: Ist der (verfassungsrechtlichen Bewertung ein formelles Verständnis der Vertragsfreiheit, das auf den Akt des Vertragsabschlusses fokussiert ist, oder ein materielles Verständnis, das auf den gerechten Inhalt eines Vertrages abstellt, zu Grunde zu legen? 57 Die Frontstellungen in dieser Auseinandersetzung scheinen dabei schon durch die Begriffswahl vorgegeben. In der Dichotomie zwischen formellen und materiellen Konzepten fällt die Wahl instinktiv auf die „aufgeklärte" Variante des um inhaltliche Kriterien angereicherten Konzepts. 58 Das überkommene, formelle Verständnis vom Vertrag als einem mehrseitigen, durch übereinstimmende Willenserklärungen zustande gekommenen Rechtsge55 Vgl. hierzu unten Teil 6 A.III. Zu den europarechtlichen Grundlagen der neueren verbraucherschützenden Normen siehe Wichard, in: Callies/Ruffert, EUV/ EGV-Kommentar, Art. 153 EGV Rz. 8 ff. Vgl. im einzelnen die Richtlinie (RL) 1985/577/EWG v. 20.12.1985 über Vertragsabschlüsse außerhalb von Geschäftsräumen; RL 1993/13/EWG v. 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln; RL 1997/7/EG v. 20.5.1997 über Vertragsabschlüsse im Femabsatz; RL 1987/102/EWG u. 1998/7/ EG v. 16.2.1998 über Verbraucherkredite; RL 1999/44/EG v. 25.5.1999 über den Verbrauchsgüterkauf und die Garantien für Verbrauchsgüter. 56 Joerges, Verbraucherschutz, S. 134. 57 Vgl. zu der seit der Mitte des 20. Jahrhunderts geführten Debatte zwischen Anhängern formaler und materieller Vertragsfreiheitskonzepte nur einerseits Schmidt-Rimpler, AcP Bd. 147 (1941), S. 130 ff. (insbes. S. 157); ders., FS Raiser, S. 3 (5 ff.) und andererseits Raiser, JZ 1958, 1 (4 ff.). 58 Fraglich ist es allerdings, ob im Zusammenhang mit den Ungleichgewichtslagen, denen ein „materielles" Vertragsfreiheitskonzept Rechnung tragen will, das Attribut „materiell" überhaupt zutreffend verwandt wird, da eine Ungleichheit letztlich eine rein formale Eigenschaft ist, vgl. Frankfurt, in: Krebs, Gleichheit, S. 38 (40).
A.
Grundlagen und Themen des Verbraucherschutzes
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schäft erhält demgegenüber die Aura des Rückständigen und Unvollständigen. Aus verfassungsrechtlicher Sicht muß unter dem Blickwinkel des Grundrechts der Vertragsfreiheit dennoch an dem festgehalten werden, was den Vertrag ausmacht: Dieser wird rechtlich konstituiert durch die Elemente der Freiwilligkeit, des Konsenses und der Bindung. Diese Komponenten determinieren auch den grundrechtlichen Schutzbereich der Vertragsfreiheit. Das Grundrecht schützt vertragliche Vereinbarungen nicht, weil und soweit sie gerecht sind, sondern weil und soweit sie auf der Selbstbestimmung der Beteiligten beruhen. 59 Niemand anders als die Vertragsparteien ist prinzipiell besser in der Lage, zu beurteilen, was das „Richtige" ist. 6 0 Vertragsfreiheit wird um der Freiheit und nicht um der Gerechtigkeit willen gewährleistet. 61 „Wettbewerb" ist in diesem Kontext nicht auf die Bestimmung von Preisen beschränkt, sondern stellt als Leitbild die notwendige Entsprechung der Privatautonomie dar. 6 2 Vorstellungen, es sei Aufgabe der Rechtsordnung, den Vertragsinhalt zu bestimmen, die seit der Antike bis zum Mittelalter immer wieder unter dem Stichwort des „gerechten Preises" („pretium iustum") aufschienen, erwiesen sich bereits in der frühen Neuzeit als nicht mehr kompatibel mit dem Verständnis individueller Freiheit und der Realität der Selbstregulierung des Marktes. 63 Der Gedanke der staatlichen Preissetzung wurde von dem Konzept der Privatautonomie und Selbstbestimmung abgelöst.
I I . Der Rechtsbegriff des Verbraucherschutzes Unter der Bezeichnung Verbraucherschutzrecht oder Verbraucherrecht werden ganz allgemein die Rechtsnormen und Rechtsgrundsätze zusammen59
So explizit: Ritgen, JZ 2002, 114 (117); vgl. auch Hillgruber, AcP Bd. 191 (1991), 69 (85); aus Sicht des Zivilrechts: Dauner-Lieb, Verbraucherschutz, S. 56. Kritisch zur Forderung nach einer Richtigkeitsgewähr auch: Neuner, Privatrecht, S. 222. 60 Eine gewisse Schieflage liegt bereits in der Suche nach einer „Richtigkeitsgewähr" des Vertrages. Die Vertragsfreiheit schützt auch die autonome Wahl eines „falschen" Vertrages, also das Recht auf den Abschluß eines nach allen objektiven bzw. rationalen Kriterien ungünstigen Vertrages. 61 Canaris, FS Lerche, 873 (886). 62 Drexl, Selbstbestimmung, S. 124. 63 Siehe hierzu: Goez, in: Erlanger Forschungen Reihe A Bd. 29, S. 21 ff. (insbes. S. 32); Bartholomeyczik, AcP Bd. 166 (1966), S. 30 (39 ff.); Drexl, Selbstbestimmung, S. 36. Daß dieser atavistische Gedanke gelegentlich in die gegenwärtige Gesetzgebung zurückkehrt, zeigt das Urhebervertragsgesetz aus dem Jahre 2002, zur Kritik siehe nur Ritgen, JZ 2002, 114 ff.
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Teil 6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
gefaßt, die dem Schutz des Verbrauchers dienen. 64 Das Verbraucherschutzrecht hat sich erst allmählich aus herkömmlichen Teilgebieten v.a. des Zivilrechts als eine eigene Rechtsmaterie herausgebildet und umfaßt inzwischen auch straf- und öffentlich-rechtliche Themen. Berührt sind neben dem allgemeinen bürgerlichen Recht, das Zivilverfahrensrecht, das Verwaltungsrecht sowie das Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht. Thematisch geht es insbesondere um die Vertragsinhaltskontrolle, um das Leistungsstörungsrecht, das Verbraucherkredit- und Versicherungsrecht, das Recht der Produktsicherheit sowie der Qualität von Dienstleistungen, um das Lebensmittelrecht, das Arzneimittelrecht, das Mietrecht, das Reisevertragsrecht, aber auch um das Datenschutzrecht, das Prozeßkosten- und Beratungshilferecht sowie das Wettbewerbsrecht. 65 Das Arbeitsrecht wird trotz seiner ähnlichen Interessenlagen wegen seiner besonderen Struktur und Entwicklung i.d.R. nicht hinzugerechnet. 66 Eine scharfe Abgrenzung der Rechtsmaterie ist jedoch problematisch und ergibt sich nicht immer mit ausreichender Klarheit aus dem jeweiligen Schutzzweck der Vorschriften. 67 Das Verbraucherrecht hat den Charakter einer Querschnittsmaterie ohne tiefere rechtsdogmatische Geschlossenheit.68 Darin vermag auch die jüngere Tendenz, einige Verbraucherschutzgesetze ins BGB zurückzuführen, 69 nichts zu ändern. Da im Fokus der vorliegenden Untersuchung das Verbrauchervertragsrecht steht, bleiben für die weitere Analyse hier alle Fragestellungen, die im weitesten Sinne dem technischen Verbraucherschutz zuzuordnen sind, oder die tatsächliche Produktqualität eines Vertragsgegenstandes außer Betracht. Die verfassungsrechtliche Analyse bezieht sich daher vornehmlich auf Fragen, die ihre einfachrechtliche Verortung im allgemeinen zivilen Vertragsrecht finden.
64
Siehe nur Kütten, in: Lexikon des Rechts, 17/1585, S. 1 (Stand: April 1995). Vgl. die Übersicht bei Borchert, Verbraucherschutzrecht, S. IX f. 66 Vgl. Kütten, in: Lexikon des Rechts, 17/1585, S. 1 (Stand: April 1995). 67 Borchert, Verbraucherschutzrecht, S. 3; Dauner-Lieb, Verbraucherschutz, S. 14 f. 68 Borchert, Verbraucherschutzrecht, S. 4. 69 Siehe zu den entsprechenden Ergänzungen des BGB im Rahmen der Schuldrechtsreform nur die Übersicht bei Eickhoff, BRAK-Mitt. 2001, 267 (271 f.) und Harms, BRAK-Mitt. 2001, 278 (281 f.); Schwab, JuS 2002, 1 (8). Auslöser der Integretion dieser dem Verbraucherschutz zuzuordnenden Nebengesetze in das BGB war die EG-Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf (RL 1999/44/EG v. 25.5.1999), bei deren Umsetzung in das deutsche Recht die Schaffung eines weiteren - wesentliche Aspekte des Kaufrechts umfassenden - Nebengesetzes vermieden werden sollte. 65
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Grundlagen und Themen des Verbraucherschutzes
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I I I . Gesetzgebung zum Verbraucherschutz Bereits die Stadtrechte des Mittelalters und die Landes- und Polizeiordnungen der frühen Neuzeit enthielten eine Fülle von Bestimmungen etwa gegen das Horten von Nahrungsmitteln, gegen die Ausnutzung von Monopolstellungen oder zur Einhaltung der rechten Maße und Gewichte, welche man nach heutigem Verständnis dem Verbraucherschutzrecht zurechnen würde. 70 Der legislative zivilrechtliche Verbraucherschutz moderner Prägung beginnt in Deutschland mit dem Abzahlungsgesetz aus dem Jahre 1894 71 und greift damit historisch noch vor das Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches zurück. Bereits zwei Jahre später folgt ein zweiter wichtiger Schritt mit dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG), das allerdings ursprünglich nur den Wettbewerber schützen sollte und erst im Verlaufe des 20. Jahrhunderts allmählich mit den Zwecken des Verbraucherschutzes in Verbindung gebracht wurde. 72 Ausgehend vom UWG ist vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen zur Bedeutung des Wettbewerbs für den Schutz des Verbrauchers auch das Kartellrecht in den Kreis der Verbraucherschutzgesetze einzubeziehen. 73 Der Verbraucherschutz als eigenständiges politisches Handlungsfeld ist jedoch erst in den sechziger Jahren in das Bewußtsein der Öffentlichkeit getreten. Eine Schlüsselrolle spielte die „Verbraucherbotschaft" des USamerikanischen Präsidenten John F. Kennedys im Jahre 1962. 74 In dieser Rede proklamierte er eine Reihe von Grundrechten des Verbrauchers, wie das Recht auf (Produkt-)Sicherheit, auf Information, auf Auswahl und auf Anhörung. Ferner skizzierte er ein politisches Programm zum Schutze der Verbraucher und ordnete die Schaffung eines Verbraucherbeirats an. Dieses politische Engagement wurde von seinen Nachfolgern fortgeführt. 75 Seit Anfang der siebziger Jahre erstattete auch die deutsche Bundesregierung regelmäßig Berichte zur „Verbraucherpolitik", 76 denen von Beginn an 70
Rütten, in: Lexikon des Rechts, 17/1585, S. 4 (Stand: April 1995). Hierzu: Dauner-Lieb, Verbraucherschutz, S. 34 ff.; Tonner, JZ 1996, 533 (536). Personeller Anknüpfungspunkt war bei diesem Gesetz in Ermangelung eines Verbraucherbegriffs allerdings noch die Gruppe der Nicht- bzw. nicht eingetragenen Kaufleute, siehe RGBl. 1894, S. 450. 72 Drexl, Selbstbestimmung, S. 20 f. 73 Ausführlich von Hippel, Verbraucherschutz, S. 145 ff. 74 Abgedruckt bei von Hippel Verbraucherschutz, S. 281 ff. 75 So berief L. B. Johnson einen Sonderberater für Verbraucherfragen. R. Nixon griff den Gedanken der Verbraucher-Grundrechte auf und postulierte eine „Buyer's Bill of Rights", darüber hinaus schuf er eine Reihe von Sonderbehörden und -einrichtungen (u.a.: Office of Consumer Affairs; National Business Council for Consumer Affairs). Siehe hierzu sowie zu den Aktivitäten von H. Ford und J. Carter: von Hippel Verbraucherschutz, S. 6 f. 71
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6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
ein ordnungspolitisches Bekenntnis zur Wettbewerbsordnung zu entnehmen ist. 7 7 In der Gesetzgebung schlug sich das erwachte Verbraucherschutzbewußtsein in einer Reihe von Änderungen bestehender Vorschriften und der Schaffung neuer Gesetz nieder, welche zwischenzeitlich zu einem großen Teil in das BGB (re-)integriert wurden. Anzuführen sind etwa die Zweite Kartellgesetznovelle von 1973 mit dem Verbot der vertikalen Preisbindung, die Preisangabeverordnung gleichfalls aus dem Jahre 1973, das zivilprozeßrechtliche Verbot der Gerichtsstandsvereinbarung für Nicht-Kaufleute (§ 38 Abs. 1 ZPO) aus dem Jahre 1974, die Einführung des Widerrufsrecht im AbzG im gleichen Jahr, die Makler- und Bauträgerverordnung (1975), das Fernunterrichtsgesetz (1976), die Pönalisierung des Mietwuchers in § 302a StGB (1976), die BGB-Regelungen zum Reisevertrag (1976) und das AGBGesetz (1976). 78 Mit gehörigem zeitlichen Abstand folgten das Haustürwiderrufsgesetz (1986) und - als Nachfolgegesetz für das AbzG - das Verbraucherkreditgesetz (1990).
B. Grundrechtliche Schutzpflichten im Vertragsrecht Der Großteil der Instrumente des Verbraucherschutzes hat eine Einschränkung der Vertragsfreiheit zum Gegenstand, um deren Mißbrauch zu Lasten des Verbrauchers zu verhindern. 79 Das Vertragsrecht stellt damit den zentralen Schauplatz der Kollision der Grundrechtspositionen von Verbrauchern und Anbietern dar. Umgekehrt ist es innerhalb des Vertragsrechts gerade das Recht der Verträge zwischen Verbrauchern und Anbietern, bei dem ein besonderes - sozialpolitisches - Bedürfnis nach einer staatlichen Aufsicht über die Vertragskonditionen entsteht. Die Untersuchung der grundrechtlichen Schutzpflichten soll sich - im Einklang mit dem Grundkonzept der Arbeit - auch in bezug auf das Vertragsrecht auf die Freiheitsrechte des Grundgesetzes konzentrieren. Unter den Gleichheitsrechten ist ohnedies nur die auf tatsächliche Gleichberechtigung von Mann und Frau zielende Bestimmung des Art. 3 Abs. 2 GG für eine Schutzpflichtenwirkung fruchtbar zu machen. 80 Die Reform des Schuldrechts führt nicht nur einige verbraucherschützende Sondergesetze in
76 Beginnend mit dem Ersten Bericht der Bundesregierung zur Verbraucherpolitik vom 18.10.1971, BT-Drs. 6/2724. 77 Drexl, Selbstbestimmung, S. 23. 78 Siehe auch die Aufzählung bei Drexl, Selbstbestimmung, S. 24. 79 Grunsky, in: Deutsches Rechtslexikon, S. 890. 80 Siehe oben Teil 4 A.IV.
B. Grundrechtliche Schutzpflichten im Vertragsrecht
319
das BGB zurück, 81 sondern setzt auch neue Regelungen zum Verbraucherschutz wie im Bereich des Bankvertragsrecht, §§ 488 ff. BGB n.F.
I. Das bundesverfassungsgerichtliche Theorem struktureller Disparität Aus dem ,,starke[n] Übergewicht" eines Vertragspartners, das dazu führe, daß er „vertragliche Regelungen einseitig setzen" könne, hat das Bundesverfassungsgericht bereits in der Handelsvertreterentscheidung eine staatliche Pflicht zu ausgleichenden staatlichen Regelungen mit dem Ziel der Vermeidung der Fremdbestimmung des Schwächeren, abgeleitet. 82 In seiner Bürgschaftsentscheidung vom 19. Oktober 1993 83 hat es diesen Gedanken weiter entfaltet. Zwar bekennt sich das Gericht hier zunächst scheinbar zu einem formellen Vertragsfreiheitskonzept und beteuert: „ I m Vertragsrecht ergibt sich der Interessenausgleich aus dem übereinstimmenden Willen der Vertragspartner." 8 4 Dieses Bekenntnis schränkt es dann jedoch wieder erheblich ein, wenn es auf der Folgeseite behauptet, „heute besteht weitgehende Einigkeit darüber, daß die Vertragsfreiheit nur im Falle eines annähernd ausgewogenen Kräfteverhältnisses der Partner als Mittel eines angemessenen Interessenausgleichs taugt". 8 5 Daraus folgert das Gericht nicht nur, daß das Zivilrecht einen „Ausgleich gestörter Vertragsparität" vorzunehmen hat, sondern die Sicherstellung dieses Ausgleichs zählt es gar „zu den Hauptaufgaben des geltenden Zivilrechts". 8 6 Die Rechtsordnung könne zwar nicht in jede Ungleichgewichtslage eingreifen; eine Reaktion der Rechtsordnung sei aber dann geboten, wenn es sich um typische Fallgestaltungen handele, die eine strukturelle Unterlegenheit des einen Vertragsteils erkennen ließen und die Folgen des Vertrages für den Betroffenen ungewöhnlich belastend sind. 87 Damit postuliert das Gericht eine allgemeine Pflicht der Fachgerichte zur Inhaltskontrolle von Verträgen, damit der Vertrag nicht zum Mittel der Fremdbestimmung werde. Indem es diese Pflicht des Zivilrechts, strukturelle Disparitäten auszugleichen, grundrechtlich ableitet, hat es die strukturelle Disparität zu einem 81 82 83 84 85 86 87
Siehe die Nachw. oben Fn. 69. BVerfGE 81, 242 (254 ff.). BVerfGE 89, 214 ff.; s.o. Teil 3 A.I.3. BVerfGE 89, 214 (232). BVerfGE 89, 214 (233). BVerfGE 89, 214 (233). BVerfGE 89, 214 (232).
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Teil 6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
Tatbestand der Grundrechtsdogmatik und der Sache nach zum Auslöser eines grundrechtlichen Schutzanspruches erhoben. Als grundrechtliches Schutzgut, das die Grundlage der Inhaltskontrolle bildet, wird die Privatautonomie des Art. 2 Abs. 1 GG genannt, der das „Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG)" zur Seite gestellt wird. Schutzgut ist also offenbar gerade nicht die - gleichfalls in Art. 2 Abs. 1 GG verortete - Vertragsfreiheit, denn diese taugt nach Auffassung des Gerichts „nur im Falle eines annähernd ausgewogenen Kräfteverhältnisses der Partner als Mittel eines angemessenen Interessenausgleichs" 88, und eine solche Ausgewogenheit verneint das Gericht in dem zugunsten der Bürgin entschiedenen Fall. Die Vertragsfreiheit wird hier beiseite geschoben und durch das Ungültigkeitverdikt der Bürgschaft negativ tangiert. Die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene Verbindung eines Freiheitsrechts (aus Art. 2 Abs. 1 GG) mit dem Sozialstaatsprinzip weist Parallelen zu einer bereits älteren Verfassungsjudikatur auf, die Art. 3 Abs. 1 GG mit dem Sozialstaatsprinzip verbindet. 89 Diese Rechtsprechung hat in der Literatur gar schon zu der Annahme geführt, „Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip" habe sich zu einem „eigenständigen Grundrecht" entwickelt. 90 Eine solche Schlußfolgerung wäre für Art. 2 Abs. 1 GG mit Sicherheit noch verfrüht; daß eine solche grundrechtsdogmatische Neuschöpfung am Ende einer von der Handelsvertreter- und der Bürgschaftsentscheidung angelegten Entwicklung steht, scheint indes nicht ausgeschlossen. Das Bundesverfassungsgericht ordnet die (grundrechtliche) Vertragsfreiheit und die (grundrechtliche) Privatautonomie damit unausgesprochen in eine Hierarchie ein. In einer solchen Hierarchie verdient die Vertragsfreiheit Achtung nur dann, wenn sie nicht dem übergeordneten Prinzip der Privatautomie widerspricht. Insofern können zumindest im Kontext des Verbrauchervertragsrechts die Termini „Privatautonomie" und „Vertragsfreiheit" nicht mehr ohne weiteres synonym gebraucht werden. Die Privatautonomie bleibt ein Anwendungsfall der allgemeinen Handlungsfreiheit. 91 Einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist das Gericht in seiner Entscheidung ausdrücklich nicht nachgegangen.92 Bedeutendster und typischer Unterfall der Privatautonomie ist die Vertragsfreiheit, die eben nicht dekkungsgleich mit ihr ist, sondern offenbar in einem Rangverhältnis unterhalb von ihr steht. 88
BVerfGE 89, 214 (233). Siehe BVerfGE 51, 295 (302); 52, 264 (272); 54, 251 (273); 55, 100 (111); 56, 139 (143); 63, 380 (390). 90 Neumann, DVB1. 1997, 92 (93) unter Verweis auf BVerfGE 63, 380 (390). 91 Siehe nur Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2 Rz. 54 unter Verweis auf die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Fn. 68. 92 BVerfGE 89, 214 (235). 89
B. Grundrechtliche Schutzpflichten im Vertragsrecht
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Unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten muß dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts Sympathie bekundet werden. 93 Dieses gerechte Ergebnis hätten die Zivilgerichte schon unter Anwendung des § 138 BGB erzielen können und müssen. 94 Zweifelhaft ist indes, ob die Grundrechte des Grundgesetzes in ihrer Schutzpflichtenfunktion eine solche Vertragsungültigkeit anordnen.
I L Schutzpflichten und Drittwirkung der Grundrechte Das Problem der Geltung grundrechtlicher Schutzpflichten im Zivilrecht und insbesondere im Vertragsrecht ist unlösbar verknüpft mit der Frage nach der Drittwirkung der Grundrechte. Der Streit um die Drittwirkung der Grundrechte hatte sich in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts so weit beruhigt, daß die wissenschaftliche Diskussion um die Beziehung von Grundrechten und Privatrecht nahezu verstummt war. Das Eindringen der Schutzpflichtendogmatik in das Privatrecht hat mit dem Handelsvertreterbeschluß des Jahres 1990 95 und dem Bürgschaftsbeschluß aus dem Jahre 1993 96 die Diskussion erneut angefacht. 97 Gehören Schutzpflichten- und Drittwirkungsdiskussion schwerpunktmäßig auch unterschiedlichen Zeitabschnitten der Grundrechtsdogmatik des Grundgesetzes an, so verbietet ihr teilidentischer Gegenstand, nämlich die Auswirkungen grundrechtlicher Normen in zivilrechtlichen Beziehungen unter Privaten, sie beziehungslos nebeneinander zu stellen. Bevor das Verhältnis von Drittwirkung und Schutzpflichten bestimmt werden kann, 98 ist der Stand der Drittwirkungsdiskussion zusammenzufassen. 99 Die Ermittlung der Bedeutung von Schutzpflichten und Drittwirkung im Privatrecht setzt wiederum die Abschichtung desjenigen Staatshandelns
93 In demjenigen der beiden in der Entscheidung behandelten Fälle, in dem das Gericht den Bürgschafts vertrag aufhob, ging es um die Bürgschaft einer 21jährigen ungelernten Arbeiterin, die für die Immobiliengeschäfte ihres Vaters eine Bürgschaft über 100.000 DM eingegangen war. 94 Dies belegte vor der Bürgschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts schon die Rechtsprechung des XI. BGH-Zivilsenats, siehe BGH NJW 1991, 923 (924 f.). Die starre Haltung des IX. Zivilsenats (etwa in: BGHZ 106, 269 ff.) stieß im zivilrechtlichen Schrifttum aus diesem Grunde auch überwiegend auf Kritik; siehe nur Mayer-Maly, AcP Bd. 194 (1994), S. 105 (153 f.); Reinicke/Tiedtke, ZIP 1989, 613 (615) sowie die Nachw. bei Drexl, Selbstbestimmung, S. 265 (Fn. 231). 95 BVerfGE 81, 242 ff. 96 BVerfGE 89, 214 ff. 97 Canaris, Grundrechte, S. 9. 98 Siehe sogleich Teil 6 B.II.3. 99 Siehe sogleich Teil 6 B.II.2. 21 Klings
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im Bereich des Privatrechts voraus, das bereits von der grundrechtlichen Abwehrfunktion erfaßt w i r d . 1 0 0
1. Die Abwehrfunktion der Grundrechte im Privatrecht Die Geltung der Grundrechte im Privatrecht ist nicht auf das Modell einer - wie auch immer gestalteten - Drittwirkung beschränkt. Die Frontstellungen in der Drittwirkungsdebatte der sechziger und siebziger Jahre ließ einzelne Stimmen im Schrifttum noch eine Beschränkung der Grundrechtswirkung auf die Generalklauseln des Privatrechts vertreten. 101 Wortlaut und Sinngehalt des Art. 1 Abs. 3 GG stehen einer solchen Verkürzung indes entgegen. Zum einen bindet er den Gesetzgeber uneingeschränkt, also auch in seiner Rolle als Zivilgesetzgeber an die Grundrechte des Grundgesetzes. 1 0 2 Zum anderen ist auch die rechtsprechende Gewalt in allen ihren Zweigen von der Grundrechtsbindung erfaßt. 103 Eine teleologische Reduktion dieser Vorschrift um das Zivilrecht oder die Zivilrechtsprechung ist nicht angezeigt. Daher greift prinzipiell auch die Abwehrrichtung der Freiheitsrechte im Zivilrecht und macht für ihren Anwendungsbereich jede Drittwirkungsdiskussion obsolet. Nicht auf der Ebene der (funktionalen) Grundrechtsadressaten, sondern auf der Ebene des Objekts einer staatlichen Bindung an die Abwehrseite der Grundrechte hat eine Differenzierung der Grundrechtsfunktionen anzusetzen. Die prinzipielle Anwendbarkeit der Abwehrfunktion im Privatrecht ersetzt nicht die Tatbestandsvoraussetzungen des grundrechtlichen Abwehranspruchs. Die Abwehrfunktion kann insbesondere nur durch staatliche Eingriffe in die Freiheitsrechte des einzelnen ausgelöst werden und nur vor dem Eingriffshandeln des Staates schützen. Denkbar ist zwar, jede gesetzgeberische oder gerichtliche Entscheidung, die sich für den einzelnen negativ auf sein - verfassungsrechtlich geschütztes - Eigentum, auf seine Berufsausübung, seine Persönlichkeit oder auch nur auf seine allgemeine Handlungsfreiheit auswirkt, als Grundrechtseingriff zu qualifizieren und der Abwehrseite der Grundrechte zu unterwerfen. Die Abwehrfunktion würde sich bei einer solchen Betrachtungsweise über das Zivilrecht in seiner gesamten Breite legen. Richtigerweise ist jedoch
100
Siehe sogleich Teil 6 B.II.l. So Mikat, FS Nipperdey I, S. 581 (587); Achterberg, JZ 1975, 713 (718); ders., JZ 1976, 440; vgl. auch Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 356. 102 Canaris, Grundrechte, S. 11 ff.; ders., AcP Bd. 184 (1984), S. 201 (223). A.A. Diederichsen, in: Starck, Rangordnung, S. 39 (48 f.). 103 Canaris, Grundrechte, S. 23 ff. 101
B. Grundrechtliche Schutzpflichten im Vertragsrecht
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zunächst nach der Qualität von Rechtssätzen und richterlichen Handlungen zu unterscheiden. a) Zivilrechtsgesetzgebung Die prinzipielle Bindung der zivilrechtlichen Gesetzgebung an die Grundrechte steht mit Blick auf die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fest. 1 0 4 Die Trennlinie für die Geltung der Abwehrfunktion verläuft hier zwischen dem zwingenden und dem dispositiven Recht. 1 0 5 Während der Erlaß einer zwingenden Norm auf dem Gebiet des Zivilrechts alternative vertragliche Gestaltungsformen unterbindet und damit in die Rechte aus Art. 14 Abs. 1, 12 Abs. 1 oder Art. 2 Abs. 1 GG eingreift, entbehrt der Erlaß dispositiven Rechts regelmäßig eines Eingriffscharakters. Wegen ihrer vertraglichen Abdingbarkeit sind solche Normen wie Vertragsabreden zu behandeln. Selbst im Bereich des ius cogens sind die Schutzpflichten der Grundrechte jedoch nicht ohne Relevanz. Da die Abwehrfunktion nur vor zu strikten Freiheitsbeschränkungen schützt, muß die Schutzpflicht auch im Zivilrecht verhindern, daß der Schutz vor anderen Zivilrechtssubjekten hinter dem grundrechtlichen Minimum zurückbleibt. b) Zivilrechtsprechung Noch viel problematischer nähme sich eine generelle Bejahung des Eingriffsbegriffs in der Rechtsprechung der Zivilgerichte aus. Bei jeder Entscheidung in einem kontradiktorischen Verfahren muß mindestens eine Partei mit ihren Forderungen bzw. Anträgen ganz oder teilweise auf der Strecke bleiben. Zumindest in den Fällen, in denen der Beklagte zu einer Leistung verurteilt wird oder ihm ein bisher geübtes Verhalten untersagt wird, scheint darin eine Verkürzung eines grundrechtlichen Schutzbereichs zu liegen. Eine solchermaßen pauschale Beurteilung erfaßt die Besonderheiten des Zivilrechts jedoch nicht angemessen. Sie ist nachvollziehbar für das gesetzlich zwingend vorgegebene Deliktsrecht und alle anderen nicht-dispositiven Zivilrechtsmaterien. So hätte der dem Lüth-Urteil 1 0 6 zugrunde liegende Sachverhalt eines Boykottaufrufs, der zu einer zivilgerichtlichen Verurteilung des Aufrufenden aus § 826 BGB führte, seitens des Bundesverfas104 BVerfGE 7, 198 (205); 7, 377 (403 f.); 14, 263 (278); 31, 58 (69 f.); 35, 79 (114); 39, 1 (41); 49, 89 (141); 55, 7 (21); 65, 325 (354). 105 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 178. 106 BVerfGE 7, 198 ff. 2
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6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
sungsgerichts mit Hilfe der klassischen Abwehrfunktion des Art. 5 Abs. 1 GG und ohne ein Ausweichen auf mittelbare Grundrechtswirkungen gelöst werden können. 1 0 7 Wird der Erlaß zwingenden Zivilrechts als Grundrechtseingriff gewertet, kann für die Anwendung einer solchen zwingenden Norm nichts anderes gelten. Die Konstellation ist insoweit nicht wesensverschieden vom Strafrecht, bei dem ebenfalls sowohl für das Strafgesetz als auch für dessen Anwendung ein Grundrechtseingriff angenommen wird. Auch daß eine zivilrechtliche Verurteilung nicht alleine auf einer Norm beruht, sondern an ein frei gewähltes Verhalten des Verurteilten anknüpft, ist keine Besonderheit des Zivilrechts, sondern gilt ebenso für das Strafrecht. Zu unterscheiden ist hier allerdings zwischen den zu einer Leistung oder zu einem Unterlassen verurteilten Personen und denjenigen, die mit einer Klage auf eine Leistung der Gegenseite unterliegen. Die Abweisung ihrer Klage ist regelmäßig kein Grundrechtseingriff, sondern ein Drittwirkungsund Schutzpflichtenproblem. Die Sachentscheidung des Zivilrichters kann aber nicht mehr als Eingriff in die Rechte des verurteilten Beklagten angesehen werden, wenn die Entscheidung auf einer vertraglichen Absprache oder auf dispositivem Gesetzesrecht beruht. Der Grundrechtseingriff setzt auch nach der erweiterten Begriffsdefinition ein staatliches Verhalten voraus, das dem einzelnen ein in einen Schutzbereich fallendes Verhalten ganz oder teilweise unmöglich macht. 1 0 8 Die für die unterlegene Partei nachteilige Wirkung geht hier von der privaten Vertragsabrede bzw. von dem bewußten und gewollten Verzicht auf eine Änderung des dispositiven Gesetzesrechts aus. Der Handlungsbeitrag des staatlichen Gerichts tritt in seiner Ursächlichkeit demgegenüber zurück. Das Gericht legt die Erklärungen der Parteien aus und trifft keine staatliche Dezision. Wenn schon das Objekt der Auslegung für sich genommen keinen Grundrechtseingriff darstellt, so muß dies ebenso für den Vorgang der Auslegung gelten. Würde nämlich das Tätigwerden eines Richters in einem konkreten Fall die Grundrechtsgeltung auslösen, weil etwa seine Verurteilung einer Partei zu einer vertragsgemäß geschuldeten Leistung als Grundrechtseingriff zu qualifizieren wäre, so ergäbe sich eine unerträgliche Diskrepanz zwischen der materiellen Rechtslage und dem Prüfungsmaßstab der Gerichte. Während die Vertragsschließenden die Freiheitsrechte des Grundgesetzes jedenfalls in ihrer Abwehrfunktion nicht zu beachten haben, müßte der Richter dies tun. Das unbefriedigende Ergebnis wäre ein ursprünglich recht- und verfassungsmäßiger Vertrag, dem bei seiner gerichtlichen Über107
So zu Recht Canaris, Grundrechte, S. 37. los Ygi Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 240; zur Genese dieses weiten Eingriffsbegriffs: Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373 (374 ff.).
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prüfung nicht nur seine Durchsetzbarkeit abgesprochen würde, sondern der seitens des Richters gar als im Widerspruch zu einem Grundrecht stehend und damit als verfassungswidrig qualifiziert werden müßte. Das Recht der Privaten und das Recht der Gerichte würden auseinanderdriften. Die Rechtssicherheit und - rechtssoziologisch gewendet - das gesellschaftliche Verständnis des Phänomens „Recht" und der Kategorien „rechtswidrig" bzw. „rechtmäßig" erlitt ebenso Schaden wie die Akzeptanz der Rechtsordnung. Alternativ würde sich das materielle (Vertrags-)Recht dem unter der Kontrolle der grundrechtlichen Abwehrfunktion stehenden richterlichen Prüfungsmaßstab anpassen. Die Beseitigung der Diskrepanz von materiellem Recht und richterlichem Prüfungsmaßstab wäre dann allerdings erkauft mit einem der kontinentaleuropäischen Rechtstradition eher fremden gerichtszentrierten Rechtsbegriff. Das Recht wäre letztlich als der den Gerichtsentscheidungen zugrundeliegende Prüfungsmaßstab zu definieren. Dies wiederum müßte die Bindung der Rechtsprechung „an Gesetz und Recht" (Art. 20 Abs. 3 2. Hs. GG) ad absurdum führen; diese elementare rechtsstaatliche Bindung degenerierte zu einem Zirkelschluß. Beschränkt sich der Richter darauf, einen Vertrag und/oder dispositives Gesetzesrecht auszulegen, kann in seiner Sachentscheidung daher kein Grundrechtseingriff liegen. 1 0 9 Nicht selten wird seine Beurteilung des Sachverhalts aber auch durch ius cogens determiniert. Dies können im Vertragsrecht beispielsweise gesetzliche Verbote (§ 134 BGB) oder der Tatbestand der Sittenwidrigkeit von Verträgen (§ 138 BGB) sein. Sind solche zwingenden Vorschriften entscheidungsrelevant, soll eine vertragliche Abrede also gerade auf der Grundlage entgegenstehenden, nicht-dispositiven Gesetzesrechts korrigiert werden, so kann der gerichtlichen Entscheidung, insoweit sie sich auf diese Vorschriften stützt, Eingriffsqualität zukommen und die grundrechtliche Abwehrfunktion ausgelöst werden. 1 1 0 Ebenfalls Eingriffscharakter hat die Rechtsprechung als Ausübung öffentlicher Gewalt in ihren prozeduralen, von der Entscheidung in der Sache zu differenzierenden Aspekten, welche in den Prozeßordnungen und dem Gerichtsverfassungsgesetz geregelt sind. 1 1 1 Weil und soweit das Prozeß- und Gerichtsverfassungsrecht besondere Rechte und Pflichten der Gerichte als Träger hoheitlicher Gewalt statuiert, sind die entsprechenden Normen streng genommen dem öffentlichen Recht zuzurechnen. 112 Die Spruchkör109
Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 179. Die Abwehrfunktion verhindert insoweit allerdings nur eine zu strenge (also „übermäßige") Korrektur der Vertragsabrede. Unterläßt das Gericht eine notwendige grundrechtsinduzierte Korrektur oder fällt diese zu tolerant (i.S. einer „untermäßigen" Korrektur) aus, so kommt es wiederum auf eine - wie auch immer zu begründende und gestaltete - Dritt Wirkung an. 111 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 179. 110
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Teil 6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
per sind hier vornehmlich, aber keineswegs ausschließlich an die justiziellen Grundrechte gebunden; Geltungskraft entfalten ebenso die Gleichheitsrechte sowie Freiheitsrechte in ihrer abwehrrechtlichen Funktion. Die Anwendung der Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte wird also nicht lediglich von der einfach-rechtlichen Rechtsmaterie determiniert, sondern auch von ihrem Wirkungszweck im konkreten Fall. Die Abwehrfunktion kann nur vor übermäßigen Eingriffen durch staatliche Anordnungen schützen. Soweit die Grundrechte den Schutz eines Privatrechtssubjekts bezwecken, hilft diese Grundrechtsfunktion unabhängig von der Dispositivität der Rechtsnormen, auf welche sie einwirken, nicht mehr weiter.
2. Die Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht Im Anwendungsbereich des Vertrags- und dispositiven Gesetzesrechts, in dem der Staat lediglich Handlungsformen und -instrumente zur Verfügung stellt, bleibt ebenso Raum und Bedarf für die Frage nach der Drittwirkung der Grundrechte wie im Anwendungsbereich zwingenden Gesetzesrecht, soweit die Grundrechte hier den Staat erst zu einem (stärkeren) Eingreifen in die Privatautonomie anhalten sollen. Das Problem einer Drittwirkung der Grundrechte unter Privaten findet in der Sache zwar Parallelen in älteren, ausländischen grundrechtstheoretischen Ansätzen, 113 in seinem heute aktuellen Begriffs- und Sinngehalt ist es jedoch originär in Deutschland und erst unter der Geltung des Grundgesetzes entstanden. 114 Einen gewissen Anstoß für diese Entwicklung dürften auch die Erfahrungen aus der Epoche des Nationalsozialismus gegeben haben. Die Freiheit des einzelnen wurde in der NS-Zeit nicht nur durch staatliche Organe, sondern - v.a. zu Beginn - stärker noch durch die NSDAP und ihre Untergliederungen verletzt. 115 Heute geht es innerhalb der deutschen Rechtsordnung nicht mehr um das „Ob" einer grundrechtlichen Drittwirkung, sondern nurmehr um ihr „ W i e " . 1 1 6 Den Ausgangspunkt nahm die Drittwirkungslehre nicht bei den Freiheitsrechten, sondern bei den Gleichheitsrechten im Kontext der Gleichberechtigung von Mann und Frau. 1 1 7 Die Anwendung der freiheitsrechtlichen Aussagen des Grundgesetzes erfolgte 112
Vgl. BVerfGE 52, 203 (207). Vgl. Leisner, Grundrechte, S. 5 ff.; siehe insbesondere zur Lehre der Physiokraten in Frankreich Robbers, Sicherheit, S. 57 ff.; zur Drittwirkungsdiskussion in den USA vgl. Stern, Staatsrecht HI/1, S. 1521 f.; Giegerich, Privatwirkung, S. 136 ff. 114 Stern, Staatsrecht III/l, S. 1518 u. 1522. 115 Krüger, RdA 1954, 365; Müller, RdA 1964, 121 (125). 116 Canaris, AcP 184 (1984), S. 201 ff.; Stern, Staatsrecht III/l, S. 1530 f. 117 Vgl. Nipperdey, RdA 1950, 121 (126 f.). 113
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durch das Bundesverfassungsgericht 118 und den Bundesgerichtshof 119 seit Mitte der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts, zunächst ohne eine dogmatische Fundierung. Allerdings wurden für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits im Lüth-Urteil 1 2 0 die Weichen zur Begründung einer nur mittelbaren Grundrechtsgeltung im Privatrecht gestellt. 121 Die Erörterung der Drittwirkungslehre sollte keine falschen Vorstellungen von ihrer praktischen Bedeutung vermitteln. Das „Tagesgeschäft" des Zivilrechts und der Zivilgerichtsbarkeit kommt ohne den Rückgriff auf Grundrechte aus. Verfassungsrecht und Zivilrecht sind „in längerer Tradition gemeinsam gewachsen". 122 In ihrer Entwicklung beeinflussen sie sich gegenseitig. 123 Neuere gesellschaftliche Strömungen werden i.d.R. parallel aufgenommen und im eigenen System verarbeitet. Deshalb sind Wertungswidersprüche zwischen Zivil- und Verfassungsrecht die Ausnahme. Asynchronitäten in der Entwicklung sind nur in Einzelfragen zu beobachten. 124 Sie ergeben sich v.a. durch die offenere und unbestimmtere Fassung der grundrechtlichen Bestimmungen, welche ihre weitende Konkretisierung und inhaltliche Fortentwicklung begünstigen, und durch eine größere Innovationsgeneigtheit des Bundesverfassungsgerichts im Vergleich zu den Zivilgerichten. a) Die These von der unmittelbaren Drittwirkung Die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte sieht die Grundrechte auch in Rechtsbeziehungen unter Privaten als direkt verbindlich an, ohne daß es einer Transformation der Grundrechtsinhalte über ein Rechtsinstrument oder sonstiger interpretativer Zwischenschritte bedürfte. 1 2 5 Ihr erster Verfechter, Hans Carl Nipperdey, verkannte dabei 118
BVerfGE 7, 198 (204 f.); 14, 263 (277 f.); 24, 278 (282); 25, 256 (263). Siehe BGHZ 13, 334 ff.; 26, 349 (354 f.). 120 BVerfGE 7, 198 ff. 121 Vgl. hierzu Stern, Staatsrecht III/1, S. 1532 f. 122 Rüfner, HdbStR V, § 117 Rz. 72; siehe auch: Stern, Staatsrecht HI/1, S. 1579. 123 Als Beispiel mag das allgemeine Persönlichkeitsrecht dienen, das zunächst von der Zivilgerichtsbarkeit auf der Grundlage einzelner besonderer Persönlichkeitsrechte entwickelt, als absolutes Rechtsgut i.S.v. § 823 Abs. 1 BGB anerkannt und auf Art. 1,2 GG gestützt wurde, BGHZ 13, 334 (337 f.). Erst im Anschluß daran hat das Bundesverfassungsgericht dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. 1 Abs. 1 GG als Freiheitsrecht Gestalt gegeben, siehe BVerfGE 54, 148 (153). Das Herausarbeiten von Fallgruppen ist sodann primär durch die Verfassungsrechtsprechung erfolgt (vgl. Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2 Rz. 69 ff. m.w.N.), an deren Ergebnissen die Zivilrechtsjudikatur wiederum partizipieren kann. 124 Rüfner, HdbStR V, § 117 Rz. 73. 119
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Teil 6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
nicht, daß in Privatrechtsbeziehungen oftmals auf beiden Seiten Grundrechtsverbürgungen in Anspruch genommen werden können, die sich gegenseitig beschränken. 126 Die Geltung der Grundrechte nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch unter Privaten suchte er mit einem Erst-RechtSchluß und dem Hinweis auf eine dadurch erfolgenden Effektivitätssteigerung der Grundrechte zu begründen. Der von Nipperdey in Bezug genommene, aus Art. 3 Abs. 2 u. 3 GG folgende Grundsatz „Gleicher Lohn der Frau für gleiche Arbeit" liefe weitgehend leer, wenn er sich nur auf den Schutz vor Gesetzen beziehe. 127 Der alsbald einsetzenden Kritik gegen diesen Drittwirkungsansatz 128 tritt Walter Leisner entgegen. Er erstreckt die unmittelbare Drittwirkung explizit auch auf die grundgesetzlichen Freiheitsrechte und verweist auf die Einfügbarkeit auch unmittelbar unter Privaten wirkenden Grundrechten in das System des Privatrechts, dem insbesondere die Rechtfolgen für etwaige Grundrechtsverstöße zu entnehmen seien. 129 Leisner unterscheidet allerdings zwischen dem außervertraglichen und dem vertraglichem Bereich. Die Freiwilligkeit des Vertragsschlusses vorausgesetzt, sei die Drittwirkung im Bereich der Vertragsfreiheit weitgehend verzichtbar. 1 3 0 Das Bundesarbeitsgericht hat sich - unter dem Vorsitz Nipperdeys - dem Konzept der unmittelbaren Drittwirkung schon früh angeschlossen131 und an dieser Linie zunächst festgehalten. 132 Neuere Entscheidungen haben den Ansatz aber zugunsten der mittelbaren Drittwirkung aufgegeben. 133 In der aktuellen Literatur findet die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung so gut wie keine Gefolgschaft mehr. Lediglich für die „Inhaber wirtschaftlicher oder sozialer Macht" wird hinsichtlich ihrer Grundrechtsbindung vereinzelt eine Gleichbehandlung mit den staatlichen Stellen diskutiert. 134
125 Vgl. Heinrich, Formale Freiheit, S. 116. Vertreter dieser unmittelbaren Drittwirkungslehre sind insbesondere: Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, S. 15 ff.; Leisner, Grundrechte, S. 354 ff.; siehe auch Leisner, Grundrechte, S. 85 ff.; Hager, JZ 1994, 373 ff. 126 Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, S. 19. 127 Nipperdey, RdA 1950, 121 (125). 128 Siehe v.a. Dürig, FS Nawiasky, S. 157 (176 f.). 129 Leisner, Grundrechte, S. 357. 130 Leisner, Grundrechte, S. 384. 131 BAGE 1, 185 (193 f.). 132 BAGE 2, 221 (224 f.); 4, 22 (25); 7, 256 (260); 13, 168 (174 f.); 16, 95 (100 f.); 24, 438 (441). 133 BAGE 48, 122 (138 f.); 52, 88 (97 ff.); vgl. auch Heinrich, Formale Freiheit, S. 117 (Fn. 283). 134 Vgl. Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 357, der die gerichtliche Gewährleistung dieser Bindung wiederum aus den grundrechtlichen Schutzpflichten heraus begründet, ebd.; kritischer: ders., HdbVerfR, § 5 Rz. 57 ff.
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Der große Kreis der Gegner einer unmittelbaren Drittwirkung kann zunächst auf den Wortlaut des Art. 1 Abs. 3 GG verweisen, der die unmittelbaren Adressaten der Grundrechte explizit und erschöpfend aufführt. 135 Grundrechtsberechtigung und -Verpflichtung schließe sich gegenseitig prinzipiell aus; bei einer Doppelstellung des Bürgers als Grundrechtsträger sowie Grundrechtsverpflichteter drohe, daß staatliche Stellen seine Pflichtenstellung betonen und seine Berechtigung auf diese Weise verdrängt werde. 1 3 6 Der grammatische Befund aus Art. 1 Abs. 3 GG wird durch die Entstehungsgeschichte des Grundrechtskataloges verstärkt. 137 Das Grundgesetz wurde als Staats-, nicht als Gesellschaftsordnung konzipiert. Die ursprüngliche, bis zur deutschen Einheit gültige Textfassung der Präambel brachte dies deutlich zum Ausdruck, wenn sie formulierte, das Grundgesetz wolle „dem staatlichen Leben ... eine neue Ordnung ... geben" 1 3 8 . Die Ablehnung einer generellen direkten Drittwirkung wird ferner durch die systematische Grundrechtsauslegung bestätigt, da eine unmittelbare Bindung nur für die Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 GG als atypischer Sonderfall ausdrücklich geregelt ist. Auch das System der Gesetzesvorbehalte in den Art. 2 ff. GG ist alleine auf das Handeln des Gesetzgebers ausgerichtet, da es keine Grundrechtseinschränkung durch Rechtsgeschäft vorsieht. 139 Gegen die Unmittelbarkeitsthese wird ferner teleologisch argumentiert. Die Freiheitsbedrohungen, welche „von der Typik staatlicher Machtentfaltung" ausgehen, seien grundlegend verschieden von den Freiheitsrepressionen aufgrund privater Machtentfaltung. 140 Dem ist uneingeschränkt beizupflichten. Die unmittelbare Grundrechtsbindung verkehrt die Zielrichtung der Grundrechte, da sie staatliche Stellen zur inhaltlichen Kontrolle der Freiheitsausübung der Bürger ermächtigt und dadurch den Freiheitsraum im Ergebnis über Gebühr einengt und die Privatautonomie aushöhlt. 141 Die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung verengt den Blickwinkel auf das bilaterale Verhältnis der Rechtsgenossen. Sie weist keine Berührungspunkte zur Schutzpflichtenlehre auf, da in ihrer Dogmatik für den Staat als dem dritten Eckpfeiler des Schutzpflichtendreiecks kein Platz ist. 135 Siehe nur von von Münch, in: v. Münch/Kunig, GG I, vor Art. 1-19 Rz. 28 ff.; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rz. 175; Stern, Staatsrecht III/l, S. 1553 ff.; Heinrich, Formale Freiheit, S. 117. 136 Böckenförde, Grundrechtsgeltung, S. 77 (84); Hermes, Schutz, S. 103 f. 137 Vgl. Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rz. 175 sowie oben Teil 3 B.II.2.a)cc). 138 Hervorhebung vom Verfasser. Auf die Bedeutung der Präambel weist Bettermann, Hypertrophie, S. 6, hin. 139 Vgl. hierzu Heinrich, Formale Freiheit, S. 117. 140 Rupp, AöR 101 (1976), S. 161 (168); Canaris, AcP Bd. 184 (1984), S. 201
(206). 141
Vgl. Dürig, FS Nawiasky, 157 (167 ff.); Heinrich, Formale Freiheit, S. 118.
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6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
Sie ist gefährlich, weil sie mit dieser Verengung suggeriert, daß schon die unmittelbare Verpflichtung Privater aus den Grundrechten einen ausreichenden Rechtsschutz sicherstellt. Die Rechtsfolgenbetrachtung der Schutzpflichten hat indes gezeigt, daß effektiver Schutz nur durch tatsächliche oder potentielle staatliche Aktivitäten zu gewährleisten ist: Staatliche Gerichte und Vollstreckungsorgane müssen vorgehalten werden und im Bedarfsfälle tätig werden, um dem Rechtgehalt der Grundrechte Geltung zu verschaffen. 142 Bedenken ergeben sich schließlich unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung; die unmittelbare Drittwirkung verlagere der Legislative obliegende Aufgaben auf die Judikative. 143 Auch die Differenzierung der Grundrechtsbindung Privater nach ihrer sozialen bzw. wirtschaftlichen Macht vermag nicht zu überzeugen und ist ungeeignet, die Unmittelbarkeitsthese partiell zu stützen. Schon das Kriterium der wirtschaftlichen oder sozialen Macht weist keine klaren Konturen auf, welche die scharfen Folgen einer Unterwerfung Privater unter die gleichen Beschränkungen wie den Staat rechtfertigen könnte. 1 4 4 Zumindest für rezessive Phasen der Wirtschaftsentwicklung, die sich im Einzelhandel jeweils in vermehrten Geschäftsaufgaben und Konkursen manifestiert, wird in der Wirtschaftswissenschaft die Existenz „vermachteter" Strukturen, die den Verbraucher beim Einkauf benachteiligen, ausgeschlossen.145 „Macht" kann allenfalls situativ und einzelfallbezogen definiert werden und läßt sich in Bezug auf die Grundrechtssensibilität privater Aktivitäten nicht generell zuordnen: So kann der Käufer, der als Verbraucher dem Verkäufer wirtschaftlich unterlegen ist, bei bestimmten Produkten oder auch bei einer bestimmten Größenordnung des Geschäfts mitunter dem Verkäufer wirtschaftlich überlegen sein. Auch der typischerweise „Ohnmächtige" oder Mindermächtige vermag im Einzelfall die Rechte und Freiheiten eines Vertragspartners zu beschädigen oder zu gefährden. Der prinzipiell Mächtige bzw. Mächtigere darf dann aber nicht schutzlos gestellt werden. Häufig sind ferner privatrechtliche Beziehungen, die ein signifikantes Machtgefälle gar nicht aufweisen; 146 auch in diesen Konstellationen kann aber Bedarf für eine Einwirkung grundrechtlicher Wertungen bestehen. 147 Umgekehrt führt ein Machtgefälle alleine noch nicht zu einer Störung der faktischen Freiheit des Aushandelns von Verträgen, solange ein „einigermaßen funktionierender 142
Hermes, Schutz, S. 102 f.; vgl. auch oben Teil 5 C.IV.l. Hermes, Schutz, S. 104; dies räumt auch Leisner, Grundrechte, S. 316 f., ein. 144 Conans, AcP Bd. 184 (1984), S. 201 (207); Hermes, Schutz, S. 105. 145 Schölten, in: Piepenbrock, Verbraucherpolitik, S. 95 (106). 146 Darauf weist auch Canaris, AcP Bd. 184 (1984), S. 201 (206), hin. 147 Vgl. etwa das Beispiel der - gegen Art. 11 GG verstoßenden - Verpflichtung des geschiedenen Ehepartners, seinen Wohnort zu verlegen, BGH NJW 1972, 1414 (1414 f.). 143
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Wettbewerb besteht". 148 Das Wettbewerbsrecht sowie die gerichtliche AGBInhaltskontrolle und die staatliche Wirtschaftsaufsicht erweisen sich daher als Schlüsselbereiche der Freiheitssicherung im Vertragsrecht. 149 Trotz der zu Recht erfolgenden Ablehnung der unmittelbaren Grundrechtsdrittwirkung kommt die zivilgerichtliche Praxis einer solchen Unmittelbarkeit z.T. sehr nahe. In der praktischen Konsequenz gelten zumindest zentrale freiheitsrechtliche Inhalte auch im Zivilrechtsverkehr unmittelbar. Eine wesentliche Ursache hierfür ist die Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als sonstiges Recht i.S.v. § 823 BGB; seitdem „genießen im Ergebnis alle personalen Freiheitsrechte des Grundrechtskataloges den Schutz eines absoluten Rechts". 1 5 0 b) Die mittelbare Drittwirkung Normverpflichtet aus den Grundrechten bleibt demnach ausschließlich die Staatsgewalt, nicht der Private. Die heute ganz dominierende Auffassung von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte 151 verwendet die Grundrechte als Auslegungsrichtlinien und Konkretisierungsmaßstäbe. 152 Sie bedient sich damit methodisch des Instruments der verfassungskonformen Auslegung. 153 Sie geht davon aus, daß der Einfluß der Grundrechte im Zivilrecht auf ein zivilrechtsimmanentes Vehikel angewiesen ist. Die Grundrechte wirken danach durch das Privatrecht und entfalten „keine Privßiwirkung, sondern eine Privatrec/itewirkung". 154 Diese mittelbare Wirkung ist in der Literatur treffend mit Einfallstor- und Schlüsselmetaphern beschrieben worden: Die Grundrechte benötigen eine „Norm des Zivilrechts als Schlüssel, um in ein privatrechtliches Rechtsverhältnis Einlaß zu find e n " 1 5 5 . Dieses Bild vermag allerdings noch nicht zu zeigen, daß solche passenden Schlüssel existieren und warum sie benutzt werden wollen.
148
Canaris , AcP Bd. 184 (1984), S. 201 (207). Vgl. Canaris, AcP Bd. 184 (1984), S. 201 (207). 150 Canaris , AcP Bd. 184 (1984), S. 201 (208). Etwas anderes gelte allerdings für vertragsrechtliche Beziehungen, ebd. 151 Canaris , AcP 184 (1984), S. 201 ff.; Düng, FS Nawiasky, S. 157 ff.; Krause, JZ 1984, 656 (657); Medicus, AcP Bd. 192 (1992), S. 35 (43); Rüfner, HdbStR V, § 117 Rz. 54 ff.; Stern, Staatsrecht III/l, S. 1556 ff. Kritisch zu diesem Konzept: Depenheuer, ThürVBl. 1996, 270 (271). 152 Canaris , AcP 184 (1984), S. 201 (224). 153 Stern, Staatsrecht III/1, S. 1556; zum schweizerischen Recht: Müller, Grundrechte, 1964, S. 179. 154 Rujfert, Vorrang, S. 252 (Hervorhebungen im Original). 155 Siehe v. Münch, Grundbegriffe, Rz. 187; vgl. auch Jellinek, BB 1950, 425 f. 149
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6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
Den Schlüssel ins Zivilrecht sieht diese Drittwirkungslehre zunächst in den Generalklauseln und den unbestimmten Rechtsbegriffen des B G B . 1 5 6 Diese Verkürzung des Blickwinkels hat zu Recht Kritik erfahren. Auch bestimmte Tatbestände und Rechtsbegriffe des Privatrechts seien nicht prinzipiell einer Auslegung im Lichte der Grundrechte verschlossen. 157 Unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln seien deshalb „nicht ausschließliches, sondern nur bevorzugtes Einfallstor für die grundrechtliche Wert- und Güterverwirklichung". 158 Das hinter der mittelbaren Drittwirkung stehende Modell der verfassungskonformen Auslegung 1 5 9 ist nämlich keineswegs auf unbestimmte oder offene Tatbestände beschränkt. Die Kritik an der mittelbaren Drittwirkung beschränkt sich im wesentlichen auf terminologische Monita oder zielt auf leichte Modifizierungen ab, die im Ergebnis kaum zu abweichenden Beurteilungen führen. Begrifflich wird v. a. Anstoß an der Mittelbarkeit der Grundrechtsbindung und dem mit der Drittwirkungslehre eng verknüpften Stichwort von der „Ausstrahlungswirkung" der Grundrechte genommen. 160 Richtigerweise muß begrifflich scharf unterschieden werden zwischen der unmittelbaren Bindung aller Staatsorgane an die Grundrechte und der Wirkung der Grundrechte in Privatrechtsbeziehungen. Letztere kann nur mittelbar sein, da die Privatrechtssubjekte ja regelmäßig gerade keiner direkten Grundrechtsbindung unterliegen. 1 6 1 Der Begriff der „Ausstrahlung" der Grundrechte soll nicht mehr als diese indirekte Wirkung versinnbildlichen; er kann und soll keine dogmatische Begründung dieser Wirkung ersetzen. Soweit die Exklusivität der mittelbaren Drittwirkung angegriffen w i r d , 1 6 2 ist dieser Kritik zuzustimmen. Die mittelbare Drittwirkung ist nur ein, wenn auch zentraler Baustein der Grundrechtsgeltung in Privatrechtsbeziehungen. Unabhängig von dem sogleich zu klärenden Verhältnis zwischen Drittwirkung und Schutzpflichten spielt - wie gezeigt - jedenfalls die Abwehrrichtung der Grundrechte im Privatrecht eine wichtige Rolle. Die breite Zustimmung, welche die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte im Grundsatz erfährt, hat die Frage ihrer dogmatischen Herleitung in den Hintergrund treten lassen. Ihre Beantwortung scheint wegen der Tragweite der Drittwirkungslehre und der mit ihr verbun156
Siehe Hesse, HdbVerfR, § 5 Rz. 59. Canaris, AcP 184 (1984), S. 201 (222 f.); Stern, Staatsrecht III/1, S. 1557 f. 158 Stern, Staatsrecht III/l, S. 1584. 159 Siehe grundsätzlich Schiaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rz. 405 ff. 160 Vgl. Rüftier, HdbStR V, § 117 Rz. 58; Canaris, Grundrechte, S. 92 f. 161 So ausdrücklich auch Canaris, Grundrechte, S. 93. 162 Siehe in diesem Sinne etwa das sog. „Drei-Ebenen-Modell" von Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 485 ff. 157
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denen Einschränkungen der Privatautonomie aber unerläßlich. Der ursprüngliche Begründungsansatz der mittelbaren Drittwirkung weist starke Parallelen zu der in Rechtsprechung und Literatur gegebenen Begründung für die grundrechtlichen Schutzpflichten auf. Die Drittwirkung wird auf den „Rechtsgehalt der Grundrechte als objektiver Normen" 1 6 3 bzw. auf die objektive Pflicht aller staatlichen Organe, den grundrechtlichen „Freiheitsbereich ... möglichst zur Geltung zu bringen" 1 6 4 gestützt; teilweise wird ergänzend der Gedanke von der „Einheit der Rechtsordnung" angeführt. 165 Wie bei der überkommenen Herleitung der grundrechtlichen Schutzpflichten wird eine objektive Wertentscheidung in den Grundrechten bemüht. Dieser Weg ist im Kontext der Drittwirkungsdiskussion nicht weniger kritisch zu betrachten als im Schutzpflichten-Kontext, 166 zumal sich neben der Abstraktheit der objektiven Grundrechtsgehalte wiederum das Problem ihrer (Re-)Subjektivierung stellt. Ein einklagbarer Anspruch auf Beachtung der grundrechtlichen Drittwirkung wird zwar allgemein postuliert. Die objektive Qualität der Grundrechtswirkung kann ihn aber von sich aus nicht überzeugend begründen. 167 An diesem dogmatischen Scharnier zwischen der im Zivilrecht angesiedelten Drittwirkung durch Beachtung grundrechtlicher Gehalte einerseits und der Grundrechtswissenschaft andererseits drängt sich ein Rückgriff auf die Schutzpflichten auf. Im Bild der Schlüssel- und Tormetaphorik könnte ihnen die Funktion einer „Betretungs- oder Türöffnungspflicht" zukommen.
3. Die mittelbare Drittwirkung als Konkretisierungsvariante der Schutzpflichten Die Entfaltung der Schutzpflichtenlehre und ihr Ausgreifen in zivilrechtlich organisierte Rechtsbeziehungen ist auf die Drittwirkungsdiskussion nicht ohne Einfluß geblieben und hat die Frage nach den Verbindungslinien und dem rechtslogischen Verhältnis zwischen diesen beiden Rechtsfiguren ins Zentrum der wissenschaftlichen Betrachtung gerückt. 1 6 8 Auf diese Frage werden unterschiedliche und z. T. diametral entgegengesetzte Antworten ge163
Hesse, HdbVerfR, § 5 Rz. 59. Hermes, Schutz, S. 107. 165 Rüfner, HdbStR V, § 117 Rz. 60 ff. 166 Siehe oben Teil 3 B.III.3. 167 Hermes, Schutz, S. 110 f.; Hesse, HdbVerfR § 5 Rz. 59 (Fn. 67). 168 Vgl. Rupp, AöR Bd. 101 (1976), S. 161 (167 ff.); Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 357; Schmidt-Aßmann, AöR Bd. 106 (1981), S. 205 ff.; Schwerdtfeger, NVwZ 1982, 5 ff.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 1 Rz. 270; Canaris, AcP Bd. 184 (1984), S. 201 (225 ff.); Jarass, AöR Bd. 110 (1985), S. 363 (378 ff.); Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 88 ff.; Stern, Staatsrecht III/l, S. 1572 f.; Heinrich, Formale Freiheit, S. 109 ff. 164
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Teil 6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
geben. Außer Betracht bleiben können diejenigen Beobachter, die Verbindungslinien zwischen beiden ausmachen, ohne das Verhältnis zu spezifizieren. Anfänglich ist der Gedanke einer grundrechtlichen Schutzfunktion von einigen Autoren - zumindest in ihrem zivilrechtlichen Anwendungsbereich - nur als Ausprägung der Drittwirkungslehre verstanden worden. Aus einer Drittwirkung der Grundrechte ergebe sich zugleich die staatliche Verpflichtung zu ihrem aktiven Schutz. 1 6 9 Auch nach dem Einsetzen der Schutzpflichtenrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wurde die Schutzfunktion der Grundrechte gelegentlich noch als „Transmissionsriemen" für die Drittwirkung der Grundrechte beschrieben. 170 Die heute ganz überwiegende Ansicht sieht die logische Beziehung zwischen Schutzpflichten und Drittwirkung gerade umgekehrt. Nicht die Schutzpflichten verwirklichen die Drittwirkungsidee, sondern die Drittwirkung ist Ausdruck und Realisierung der Schutzgebotsfunktion auf dem Gebiet des Zivilrechts. Sie sehen die Drittwirkung als Ausschnitt aus dem weiter gesteckten Fragenkreis staatlicher Schutzpflichten. 171 Die grundrechtlichen Schutzpflichten füllen die Lücke in der dogmatischen Begründung der Drittwirkungslehre, sie bilden deren „dogmatische Grundlage" 1 7 2 bzw. Absicherung 173 und sind „der dogmatisch »sauberste4 Ansatzpunkt, die Wirkung der Grundrechte in der Privatrechtsordnung dem Wesen und dem Gehalt der Grundrechte entsprechend zu lösen". 1 7 4 Die Drittwirkung wird daher auch treffend als Anwendungsfall der Schutzpflicht charakterisiert. 175 Noch weiter geht eine Auffassung, die in allen „objektiven" Grundrechtsfunktionen lediglich Ausprägungen der Schutzpflichten erblickt. 1 7 6 Schließlich zieht eine weitere Ansicht keine Parallelen zwischen den Schutzpflichten und der mittelbaren Drittwirkung. Vielmehr bewirken ihr zufolge die Schutzpflichten eine unmittelbare Drittwirkung, indem sie eine Pflicht des Staates zum Eingriff in die Privatautonomie begründen; die für die mittelbare Drittwirkung charakteristische Indienstnahme der zivilrechtlichen Generalklauseln werde dadurch obsolet. 177 169
Herzog, JR 1969, 441 (443); Lang-Hinrichsen, FamRZ 1974, 497 (500). Benda, ET 1981, 868 (869). 171 Novak, EuGRZ 1984, 133 (139); Klein, DVB1. 1994, 489 (492); Ruffert, Vorrang, S. 252 f.; zustimmend: Stern, Staatsrecht III/1, S. 1575. 172 Conans, AcP 184 (1984), 201 (225). 173 Ruffert, Vorrang, S. 252. 174 Stern, Staatsrecht III/1, S. 1572. 175 Möstl, DÖV 1998, 1029 (1036). 176 Grimm, Grundrechts Verständnis, S. 221 (234), der dies aber auf der Grundlage eines sehr weiten Schutzpflichtenbegriffs tut, der auch originäre staatliche Leistungen - wie die Bereitstellung von Studienplätzen - mit umfaßt, vgl. a.a.O., S. 239. 170
B. Grundrechtliche Schutzpflichten im Vertragsrecht
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Zustimmung verdient im wesentlichen der Ansatz, welcher die mittelbare Drittwirkung als Unter- und Anwendungsfall der Schutzpflichten begreift. Hinter der Drittwirkung steht nichts anderes als hinter der Schutzpflicht, nämlich der Schutz von Freiheitssphären gegen private Übergriffe. Die Ausdehnung dieses systematischen Verhältnisses auf alle anderen „objektiven" Grundrechtsfunktionen geht zu weit, da die Schutzpflicht nur die Abgrenzung und Bewahrung der Freiheitssphären unter Privaten, nicht aber z.B. originäre staatliche Leistungen zur Herstellung oder Förderung von Grundrechtsvoraussetzungen zum Gegenstand hat. Eine Verknüpfung von Schutzpflichten und unmittelbarer Drittwirkung muß scheitern, weil die Schutzpflicht zunächst nur ein - allerdings mit einem Grundrechtsanspruch bewehrtes - Gebot konstituiert, das im Rahmen der Rechtsordnung umgesetzt werden muß, also auch auf zivilrechtliche Realisierungsmedien nicht verzichten kann. Schutzpflicht und mittelbare Drittwirkung stehen mithin im Verhältnis von Ursache und Wirkung. Die Schutzpflicht begründet den Einfluß der Freiheitsrechte auf die Gestaltung der Rechtsbeziehungen unter Privaten. Die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung beschreibt die praktische Realisierung und Konkretisierung dieses Einflusses im Zivilrecht. Diese Variante der Schutzpflichtenkonkretisierung bedient sich vornehmlich der Generalklauseln und unbestimmter Rechtsbegriffe des Zivilrechts, aber z.T. auch der exakter gefaßten Zivilrechtsnormen. Sie bezieht sich damit zum einen auf die Tätigkeit des Zivilrichters, wendet sich aber ebenso an jeden Rechtsgenossen. Getreu dem Grundsatz der Identität von gerichtlichem Prüfungsmaßstab und materieller Rechtslage determiniert die mittelbare Drittwirkung über ihre zivilrechtlichen Einfallstore die Rechtsbeziehungen bereits von ihrer Entstehung an. Das Verständnis von der Schutzpflicht als Quelle und dogmatische Grundlage der Drittwirkung wird erst dadurch sinnvoll, daß die Schutzpflichtenlehre ihrerseits auf dem Fundament einer am Freiheitsbegriff der Grundrechte orientierten Herleitung steht. 1 7 8 Würde man die Schutzpflichten nur auf den Topos der „objektiven Weitentscheidung" stützen, so wäre nur ein Betrag zu einer Systematisierung der Grundrechtsfunktionen geleistet, für die Begründung der mittelbaren Drittwirkung wäre indes nichts gewonnen, denn sie wurde ja von Beginn an auf den nämlichen Gedanken objektiver Normen bzw. Pflichten zurückgeführt. Das Bild des Verhältnisses von Schutzpflicht und mittelbarer Drittwirkung als eines von Ursache und Wirkung ist jedoch - gleichsam an den 177
So: Blomeyer/Huep, AR-Blattei ES, 69. Lfg. Febr. 1999, 460.3 Nr. 17, Betriebliche Altersversorgung III, S. 12. 178 Siehe oben Teil 3 B.III.2.e).
3 3 6 T e i l
6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
begrifflichen Rändern - in einigen Punkten zu korrigieren. Keiner Begründung bedarf der selbstverständliche Hinweis auf die thematische und organisatorische Beschränktheit der Instrumentalfunktion der Drittwirkung: Private Übergriffe hat der Staat nicht ausschließlich mit privatrechtlichen Instrumentarien, sondern ebenso mit den Mitteln des Straf-, Polizei- oder sonstigen Verwaltungsrechts oder mit tatsächlichen Maßnahmen abzuwehren. 1 7 9 Die mittelbare Drittwirkung ist eben nur eine Konkretisierungsvariante der Schutzpflichten. Überschneidungen, bei denen z.B. sowohl die grundrechtliche Drittwirkung über die Generalklauseln des Zivilrechts als auch Mittel der staatlichen Eingriffsverwaltung zur Verfügung stehen, sind hier häufig. Andererseits werden in vielen Fallkonstellationen privatrechtliche Instrumente von vornherein als nicht hinreichend effektiv erscheinen. Innerhalb des Zivilrechts ist es nur der Richter, nicht der Gesetzgeber, der sich der mittelbaren Drittwirkung bedient und auch dieser nur, soweit seine Handlungen sich nicht als Grundrechtseingriff auswirken. Im materiellen Zivilrecht verschafft die Schutzpflicht sich nicht ausschließlich durch die mittelbare Drittwirkung Geltung. Die Schutzpflicht gebietet hier vielmehr dreierlei: Zunächst ist der Gesetzgeber aufgefordert, durch klar gefaßte gesetzliche Tatbestände, ein i.d.R. ausreichendes Schutzniveau für potentielle Übergriffsopfer schon qua Gesetz sicherzustellen. Der Gesetzgeber ist darüber hinaus gehalten, für die legislativ nicht exakt zu erfassenden atypischen Fälle, hinreichend weite, ausfüllungsbedürftige und -fähige Generalklauseln zu schaffen. 180 Erst auf der dritten Stufe müssen die Gerichte diese Generalklauseln im Einzelfall inhaltlich im Lichte der Grundrechte füllen. Umgekehrt lassen sich nicht alle Anwendungsfälle der mittelbaren Drittwirkung dogmatisch auf die grundrechtlichen Schutzpflichten stützen. Abgesehen von der Frage einer Ausstrahlung von objektiven, nicht-grundrechtlichen Verfassungssätzen in das Privatrecht 181 gilt dies insbesondere für die Drittwirkung des allgemeinen Gleichheitssatzes, Art. 3 Abs. 1 GG. Zumindest im Arbeitsrecht spielt der Gleichbehandlungsgrundsatz eine wichtige Rolle. Dieser Grundsatz ist dem Verfassungsrecht entsprungen und war der zentrale Anwendungsfall der ursprünglich auch vom Bundesarbeitsgericht herangezogenen unmittelbaren Drittwirkung. Inzwischen hat der arbeits179
Die grundrechtliche Dritt- oder Ausstrahlungswirkung wird teilweise nicht auf das Zivilrecht beschränkt, sondern prinzipiell auch auf Generalklauseln, unbestimmte Rechtsbegriffe oder sonstige Normen des öffentlichen Rechts erstreckt, Hermes, Schutz, S. 107 f. Will man die Konturen des Drittwirkungsbegriffs nicht verwässern, so kann eine solche Erstreckung aber allenfalls auf prozessuale Konstellationen mit einander gleichgeordneten Verfahrensparteien in Betracht kommen. 180 Siehe auch Ruffert, Vorrang, S. 231. 181 Dazu unten Teil 6 C.I.3.
B. Grundrechtliche Schutzpflichten im Vertragsrecht
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rechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz sich jedoch als ein Rechtsprinzip des Privatrechts verselbständigt und von seinen grundgesetzlichen Wurzeln abgekoppelt. 182 Auf Tarifverträge wendet das Bundesarbeitsgericht den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz hingegen an. Seine Formulierungen weisen dabei z.T. eher auf eine mittelbare Drittwirkung. 1 8 3 Das Bundesverfassungsgericht hat die Geltung von Art. 3 Abs. 1 GG für Tarifverträge, welche nicht für allgemeinverbindlich erklärt wurden, ausdrücklich offen gelassen. 184 Soweit man eine Drittwirkung des allgemeinen Gleichheitssatzes im Zivilrecht annimmt, muß hierfür eine grundrechtsdogmatische Grundlage außerhalb der Schutzpflichten gesucht werden. 185 Insoweit scheint ein Rückgriff auf den Argumentationstopos einer objektiven Wertentscheidung des Grundgesetzes kaum vermeidbar. Dessen Anwendung hätte indes unsichere Konsequenzen für die Subjektivierung der Drittwirkung. Auch eine mittelbare Drittwirkung der Freiheitsrechte des Grundgesetzes erscheint über die Anwendbarkeit der grundrechtlichen Schutzpflichten hinaus nicht prinzipiell ausgeschlossen. Bejaht man den Wertentscheidungscharakter der Grundrechte, so können diese auch insoweit ins Privatrecht hineinwirken als die Schutzpflichten von ihrem Tatbestand oder ihrer Reichweite her nicht eingreifen. Eine solche „überschießende" Drittwirkung kann Bedeutung erlangen etwa in Fällen der Selbstschädigung beim Fehlen eines Grundrechts-Übergriffes aus anderen Gründen. Gerade im Vertragsrecht muß die Ablehnung der Schutzpflicht nicht zwangsläufig die Indifferenz der Grundrechte für einen gegebenen Sachverhalt bedeuten. Insbesondere die Einwirkung der Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG auf Arbeitsverträge oder andere Dauerschuldverhältnisse scheint hier noch eine dogmatische Verortung finden zu können, soweit der Vertragsschluß den Rückgriff auf eine grundrechtliche Schutzpflicht abschneidet. Allerdings ist auch in diesen Fallgruppen Zurückhaltung im Hinblick auf eine Subjektivierung der grundrechtlichen Ausstrahlung angezeigt. 186
182
Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rz 191 m.w.N. BAGE 71, 29 (35); Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rz 192. 184 BVerfGE 82, 126 (154); 90, 46 (58). Für die allgemeinverbindlichen Tarifverträge steht wegen ihrer Qualität als Gesetzgebung im materiellen Sinne die unmittelbare Grundrechtsgeltung außer Frage, vgl. BVerfGE 55, 7 (21 u. 24 ff.). 185 Zur mangelnden Erstreckung des Schutzpflichtenkonzepts auf den allgemeinen Gleichheitssatz siehe Teil 4 A.IV. 186 Auf eine eingehendere Untersuchung einer über den Anwendungsbereich der Schutzpflichten hinausgehenden, „überschießenden" (mittelbaren) Drittwirkung der Freiheitsrechte des Grundgesetzes muß hier verzichtet werden, da sie den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. 183
22 Krings
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Teil 6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
I I I . Wirkungsgrenzen grundrechtlicher Schutzpflichten im Vertragsrecht Indem das Bundesverfassungsgericht den Ausgleich struktureller Disparitäten zu einer „Hauptaufgabe des geltenden Zivilrechts" erklärt und diese Aufgabe grundrechtlich abgeleitet hat, hat es die Tür zu einem neuen Betätigungsfeld der Schutzpflichten weit aufgestoßen. 187 Dafür hat es neben Zu1 RS 180 Stimmung auch vielfältige Kritik erfahren. Die Frage nach der Wirkung der grundrechtlichen Schutzpflichten in das Vertragsrecht hinein bedarf einer differenzierenden Antwort. Auch das Vertragsrecht kann sich der Geltung der Schutzpflichten nicht gänzlich entziehen. Die Auswirkungen der Schutzpflichten im Vertragsrecht ist allerdings eine gegenüber allen übrigen Rechtsgebieten andere und begrenztere. Sehr viel stärker als etwa im (öffentlich-rechtlichen) Gefahrenabwehrrecht oder auch im (zivilrechtlichen) Deliktsrecht, hat der staatliche Schutz von Grundrechtsgütern im zivilen Vertragsrecht Rückwirkungen auf die Handlungsmöglichkeiten des Geschützten. 190 Der Schutz nimmt ihm zugleich Handlungsoptionen; die Sicherung seines Freiheitsraums durch die grundrechtlichen Schutzpflichten reduziert diesen Freiheitsraum zugleich. Im folgenden sollen die besonderen Wirkungsgrenzen der Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht anhand der einzelnen Tatbestands- und Rechtsfolgenelemente, die im Vertragsrecht von der „idealtypischen" Variante der Schutzpflichten abweichen, nachgezeichnet werden. Aus der Analyse der Grenzen ergibt sich im Ergebnis die Wirkungsbreite der Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht. 1. Die geschützte Freiheitsposition Die Ausgangsfrage für die Geltung der grundrechtlichen Schutzpflichten in Verbraucherverträgen ist die Frage nach der Freiheitsposition, welche den Verbraucherschutz verfassungsrechtlich beschreibt. Einer allgemeinen Verbraucherfreiheit als Summe aller Freiheitsinteressen der Verbraucher 187
Für die grundsätzliche Bedeutung der Entscheidung: Grün, NJW 1994, 2935; Honseil, NJW 1994, 565 (566); Preis/Rolfs, DB 1994, 261 (261 u. 264). 188 Vgl. nur Drexl, Selbstbestimmung, S. 268 f.; Grün, NJW 1994, 2935 f. 189 Vgl. nur Adomeit, NJW 1994, 2467 ff.; Grunsky, Vertragsfreiheit, S. 11 ff.; H A. Hesse/Kaujfmann, JZ 1994, 219 ff.; Spieß, DVB1. 1994, 1222 (1227 ff.); Zöllner, AcP Bd. 196 (1996), S. 1 (3). Ähnliche Kritik wurde bereits an der Handelsvertreterentscheidung (BVerfGE 81, 242 v. 7.2.1990) geübt: Hillgruber, AcP Bd. 191 (1991), S. 69 ff.; Medicus, AcP Bd. 192 (1992), S. 35 (61 f.); vgl. auch Wiedemann, JZ 1990, 695 ff. 190 Puffert, Vorrang, S. 243.
B. Grundrechtliche Schutzpflichten im Vertragsrecht
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würden die für eine grundrechtliche Freiheitsposition erforderlichen Konturen fehlen. Eine verbraucherspezifische und grundrechtlich taugliche Schutzposition kann allenfalls die „Konsumentensouveränität" sein, derzufolge der Verbraucher nach eigenen Vorstellungen und frei von fremden Vorgaben am Markt entscheiden soll. 1 9 1 Das Bundesverfassungsgericht macht in seinem Bürgschaftsbeschluß die Privatautonomie als grundrechtliche Triebfeder der Disparitätskorrekturen aus. 1 9 2 Die Konsumentensouveränität oder Verbraucherfreiheit wird man im Anschluß an die Ansicht des Gerichts verstehen können als ökomisch bestimmte Ausprägung der Privatautonomie, welche neben der rechtlich konturierten Ausprägung „Vertragsfreiheit" steht. Als Problem erkannt hat die Literatur die Gefahr der Uferlosigkeit einer Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 1 GG. Wegen des Auffangcharakters der Norm könnte jeder einzelne bestimmen, was staatlicherseits zu schützen sei. 1 9 3 Von anderer Seite wird eine solche, den Rechtsfrieden gefährdende Definitionsmacht des Grundrechtsträgers für die Privatautonomie deswegen nicht gesehen, weil ihre „Konturen ... durch die privatrechtlichen Vorgaben in einer Weise geschärft" seien, daß sie sich innerhalb der allgemeine Handlungsfreiheit als „konkretisiertes unbenanntes Freiheitsrecht" (Innominatfreiheitsrecht) abhebt. 194 Zwar könnten diese einfachrechtlichen Vorgaben des Privatrechts aus Gründen der Normenhierarchie nicht integraler Bestandteil des verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabes werden, sondern stünden ihrerseits auf dem grundrechtlichen Prüfstand. Dahinter verberge sich allerdings nur das allgemeine Dilemma der normgeprägten Freiheitsrechte. Sowohl Abwehrrechte als auch Schutzpflichten können grundrechtlich nur das sichern, was de facto oder gegebenenfalls - kraft einfach-rechtlicher Setzung - de jure schon existiert. So können die Schutzpflichten die Konsumentensouveränität nicht im Sinne einer Institutsgarantie erst konstituieren. W i l l man eine Bevormundung des Verbrauchers vermeiden, so kann man nur formal auf die Präferenzen abstellen, die der Verbraucher in seinem Konsumverhalten tatsächlich verfolgt. 1 9 5 Dies verbietet an sich die Konstruktion eines materiellen und inhaltlich konturierten „Souveränitäts191
Hierzu: Gröner/Köhler, Verbraucherschutzrecht, S. 11 ff. (m.w.Nachw. S. 11 in Fn. 28) sowie oben Teil 6 A.I.l. (a.E.). 192 BVerfGE 89, 214 (232). Siehe oben Teil 6 B.I. 193 Schwerdtfeger, NVwZ 1982, 5 (10). Eine Ableitung von Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 1 GG lehnt im Hinblick auf das Bauplanungsrecht auch BVerwGE 54, 211 (221) ab; ihm folgend: Pietzcker, JuS 1982, 106 (110). 194 Ruffert, Vorrang, S. 336; zum Status solcher Innominatfreiheitsrechte siehe Höfling, in: Berliner Kommentar, vor Art. 2 Rz. 38 u. 57 (Grundw. Okt. 2000). 195 Vgl. Grone r/Köhler, Verbraucherschutzrecht, S. 14 f. 22*
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Teil 6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
begriffs" z.B. eines rationalen, sparsam oder effizient wirtschaftenden Verbrauchers. Geschützt ist das gegebene Konsumverhalten als Ausdruck der allgemeinen Handlungsfreiheit. Eine solche Konsumentenfreiheit muß aber auch gegen den Staat schützen können. Dieser tangiert Konsumpräferenzen und beeinflußt das Konsumverhalten, indem er z.B. aus umweit- oder sozialpolitischen oder rechtsstaatlichen Erwägungen Verbote oder Konsumanreize schafft. Je mehr man den Begriff einer Konsumentensouveränität inhaltlich anreichert, desto schwächer wird auch - im Rahmen der Güterabwägung als Bestandteil des Übermaßverbotes - das öffentliche Interesse als Grundlage für staatliche Eingriffe in die Konsumfreiheit. Da „Konsum" den vertraglichen Erwerb von Gütern oder Dienstleistungen voraussetzt, ist das darauf bezogene Freiheitsinteresse ebenso wie die Vertragsfreiheit keine natürliche, sondern eine rechtsgeprägte Position. Diese rechtsgeprägte Freiheitsposition teilt darum auch mit der Schutzpflicht ihre im Vergleich zu „natürlichen" Schutzgütern geringere Intensität sowie die geringere richterliche Prüfungsdichte. 196 Die Ableitung von Rechtswirkungen wird bei der Privatautonomie generell noch durch den Umstand erschwert, daß nicht „statische", sondern „dynamische", auf Interaktion mit anderen Grundrechtsträgern ausgerichtete Freiheitsinteressen in Rede stehen. Die Zuordnung der Konsumfreiheit zu den entfaltungsschützenden Freiheitspositionen verstärkt die besondere Zurückhaltung bei der Ableitung konkreter staatlicher Handlungspflichten. 197 Die Verbraucherfreiheit oder Konsumentensouveränität ist demnach eine nur schwach konturierte Ausprägung der Privatautonomie, die ihrerseits wiederum einen Unterfall der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) darstellt. Je weiter man den Schutz der materiellen Gehalte der Privatautonomie ausbaut, desto eher wird der schutzpflichtendogmatisch gesicherte Boden verlassen. 198
2. Übergriff als Tatbestandsmerkmal der Schutzpflicht Bei rechtsgeschäftlichem Handeln fehlt es auch im Falle einer „nicht-paritätischen" Rechtsbeziehung i.d.R. an einem privaten Übergriff. Der sozial oder wirtschaftlich überlegene Vertragspartner schließt den Vertrag nicht gegen den Willen, sondern gerade im Konsens mit dem anderen Vertragspart-
196
Siehe oben Teil 4 A.II.3. Im Erg. auch Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1 Rz. 61 (Stand: Juli 2001). Zur Unterscheidung zwischen Integritäts- und Entfaltungsschutz und den daraus resultierenden Konsequenzen für die Schutzpflichten siehe oben Teil 4 A.III. 198 Ruffert, Vorrang, S. 339. 197
B. Grundrechtliche Schutzpflichten im Vertragsrecht
341
ner. 1 9 9 Weil der zu schützende Grundrechtsträger keiner Ingerenz seines Vertragspartners ausgesetzt ist, wird die Anwendbarkeit der Schutzpflichtendogmatik in rechtsgeschäftlichen Beziehungen des Privatrechtes z.T. prinzipiell bestritten. 200 Dieser Einwand wiegt schwer, weil der Übergriff die Basis des Schutzpflichtendreiecks bildet. Daher wundert es nicht, daß Befürworter von Schutzpflichten im Vertragrecht sich genötigt sehen, die Dreieckskonstellation der Schutzpflichten insgesamt in Frage zu stellen. Sie sei statisch und vernachlässige das prägende dynamische Element des Zivilrechts; die von den Privatrechtssubjekten selbst gestalteten Rechtsverhältnisse seien mittels der Dreieckskonstellation nicht angemessen zu erfassen. 201 Die grundrechtliche Schutzpflicht ist jedoch untrennbar mit dieser Dreieckskonstellation verbunden. Da auch der aus ihr entwachsene Schutzanspruch Freiheitsschutz ist, muß eine Freiheitsposition durch das Verhalten eines Dritten gefährdet sein. Fehlt es an einer dieser Voraussetzungen kann eine grundrechtliche Schutzpflicht nicht aktiviert werden. Verzichtete man auf diese Elemente, drohte als Konsequenz eine allgemeine staatliche Vertrags-Aufsicht. 202 Die mangelnde Anwendbarkeit der Schutzpflichten in zahlreichen Vertragsfällen beruht nicht auf einem Grundrechtsverzicht, dessen - im einzelnen immer noch ungeklärte - Voraussetzungen 203 im Einzelfall gegeben sein müßten. In dem Eingehen eines Vertrages ist grundrechtsdogmatisch kein Grundrechtsverzicht zu sehen. Ein solcher Verzicht kann jedenfalls nur von einem Grundrechtsberechtigten gegenüber bzw. mit Wirkung für einen Grundrechtsverpflichteten erklärt werden. 2 0 4 Grundrechtsverpflichtet ist unmittelbar nur die Staatsgewalt, die am Vertragsschluß aber nicht teilnimmt, der gegenüber mit dem Vertragsschluß auch keine (Verzichts-)Erklärung abgegeben wird. Der „Verzicht" auf Verhaltensmöglichkeiten erfolgt nicht dem Staat, sondern einem anderen Privatrechtssubjekt gegenüber. 205 An einem Grundrechtsverzicht fehlt es aber auch schon deshalb, weil mit dem Vertragsschluß die Vertragsfreiheit und damit die Privatautonomie gerade ausgeübt wird. Auch wenn Grundrechtsverzicht und -ausübung sich nicht 199
Heinrich, Formale Freiheit, S. 111 f. Vgl. Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 131; vgl. auch Heinrich, Formale Freiheit, S. 111 f. A.A. Ruffert, Vorrang, S. 250 f. 201 Ruffert, Vorrang, S. 242 f. 202 Vgl. Heinrich, Formale Freiheit, S. 112. 203 Siehe nur Stern, Staatsrecht III/2, S. 908 ff. 204 Pietzcker, Der Staat Bd. 17 (1978), S. 527 (531). Hierauf weist im Kontext der privatrechtlichen Wirkung der grundrechtlichen Schutzpflichten Ruffert, Vorrang, S. 245, hin. 205 Gegen die Subsumtion rechtsgeschäftlicher Verpflichtungen unter den Begriff des Grundrechtsverzichts auch: Canaris, Grundrechte, S. 50; Ruffert, Vorrang, S. 247. 200
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Teil 6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
ausschließen müssen, so ist die Vertragsbindung die notwendige und durchgängige Folge des Vertragsschlusses. Die Annahme einer generellen Identität zwischen Ausübung und Verzicht in bezug auf ein und dasselbe Grundrecht (hier: die Privatautonomie als Ausprägung der allgemeinen Handlungsfreiheit) würde den Begriff des Grundrechtsverzichts verwässern und auf den Allgemeinplatz reduzieren, daß mit jeder positiven Entscheidung für ein Verhalten notwendig die negative Entscheidung für alle nicht gewählten Verhaltensalternativen verknüpft ist. Aus dem Wesen des Vertragsrechts wird daher zum Teil gefolgert, daß die Schutzpflicht hier nur vor Zwang von außen schützt. 206 Diese Schlußfolgerung würde die grundrechtlichen Schutzpflichten keineswegs gänzlich aus dem privaten Vertragsrecht verbannen. Vertragliches kann durchaus mit deliktischem Handeln zusammenfallen. Die Beschränkung auf Zwänge von außen scheint aber zu streng. Das BGB kennt etwa Konstellationen, in der die Selbstbestimmung eines Vertragsschließenden durch Täuschung oder Drohung beeinträchtigt oder ausgeschlossen ist (siehe § 123 BGB). Richtig ist, daß die bewußte und freiwillige Selbstschädigung außerhalb des Schutzpflichtentatbestandes liegen muß. Die Grundrechte stehen Verpflichtungen nicht entgegen, die Private freiwillig eingehen. 207 Ein Vertragspartner wird regelmäßig nicht gegen seinen Willen zum Vertragsschluß gedrängt, auch dann nicht, wenn der Vertragsschluß zwischen Stärkeren und Schwächeren erfolgt. 2 0 8 Bei einer flächendeckenden Ausdehnung der Schutzpflichten ins Privatrecht würden die Bürger vor sich selbst geschützt. 209 Ein solcher Schutz des Menschen vor bzw. gegen sich selbst ist dem Grundgesetz aber fremd. 2 1 0 Die Schlüsselfrage ist daher, ob die Gefahren für den zu Schützenden durch seine autonome Entscheidung oder durch den anderen Vertragspartner hervorgerufen werden. 211 Ungleichgewichtslagen sind nur dann verfassungsrechtlich relevant, wenn sie mit einer Beeinträchtigung der Selbstbestimmung begründet werden können. 2 1 2 Ein heteronomer Ursprung ist anzunehmen, wenn der Vertragspartner auf die Entschließungsfreiheit bei Vertragsschluß unzulässig einwirkt oder wenn er bei der Vertragsdurchführung deliktisch bzw. deliktsähnlich handelt. Für 206 207 208 209
Heinrich, Formale Freiheit, S. 112. Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 356. Heinrich, Formale Freiheit, S. 111 f. Siehe: Becker, DZWiR 1994, 397 (403); Depenheuer, ThürVBl. 1996, 270
(272). 210
Siehen oben Teil 4 B.V.2. So: Oldiges, FS Friauf, S. 281 (305); Ruffert, Fn. 595. 212 Drexl, Selbstbestimmung, S. 208. 211
Vorrang, S. 247 f. m.w.N. in
B. Grundrechtliche Schutzpflichten im Vertragsrecht
343
die Selbstbestimmung und gegen die Anwendbarkeit einer Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 1 GG spricht wiederum, wenn die mit dem Vertrag verbundenen Nachteile bei Vertragsschluß bekannt oder zumindest vorhersehbar waren, weil sie etwa notwendig mit dem Gegenstand des Vertrages verknüpft waren. Die richtige Grenzziehung zwischen schutzpflichtenausschließender Selbst- und schutzpflichtenaktivierender Fremdbestimmung kann im Einzelfall Schwierigkeiten bereiten. Das Wissens- und Willensmoment bei dem schutzsuchenden Vertragspartner ist dabei von zentraler Bedeutung. Wilhelm von Humboldt hatte es als „eine der wichtigsten Pflichten des Staates" angesehen „Willenserklärungen aufrecht zu erhalten", daran aber zugleich die Voraussetzung geknüpft, daß der Erklärende „mit gehöriger Fähigkeit zur Überlegung" und „mit freier Beschließung" gehandelt habe. 2 1 3 Hieraus folgert er eine Pflicht des Staates, den Erklärenden vor Unüberlegtheit zu schützen, „daß nicht die Unüberlegtheit eines Moments dem Menschen Fesseln anlegt, welche seine ganze Ausbildung hemmen oder zurückhalt e n " . 2 1 4 Diese Pflicht faßt von Humboldt relativ eng. Eingreifen müsse der Staat bei gänzlicher Selbstaufgabe der persönlichen Freiheit, etwa durch einen auf Sklaverei hinauslaufenden Vertrag, bei Leistungsversprechen, über die der Versprechende - wie bei Gegenständen des Glaubens oder der Empfindung - gar keine Gewalt hat, sowie bei Versprechen, welche die Rechte Dritter beeinträchtigen. 215 Auch hier müsse der Staat nicht den Vertrag verhindern, sondern dürfe lediglich seinen Zwangsapparat nicht zu seiner Durchsetzung zur Verfügung stellen. Über diese Fälle hinaus legt er dem Staat noch eine besondere Prüfung von Dauerschuldverhältnissen jedenfalls nahe; der Staat könne hier verhindern, daß „nicht der zu einer Zeit gefaßte Entschluß auf einen zu großen Teil des Lebens hinaus die Willkür beschränke". 216 a) Vertragsgegenstand
und Vorhersehbarkeit
Die Anwendbarkeit der Schutzpflichten im Vertragsrecht wird z.T. anhand des Vertragsgegenstandes differenziert. Zumindest der Weg für eine Anwendung derjenigen Schutzpflichten soll eröffnet sein, die sich auf ein Grundrecht beziehen, über das der Schutzsuchende im Vertragsschluß gar nicht verfügen wollte, sondern das nur bei Gelegenheit der Vertragsdurchführung relevant w i r d . 2 1 7 Übertragen auf den Bereich des Verbraucherver-
213 214 215 216
v. v. v. v.
Humboldt, Humboldt, Humboldt, Humboldt,
Wirksamkeit Wirksamkeit Wirksamkeit Wirksamkeit
des des des des
Staates, Staates, Staates, Staates,
S. S. S. S.
133. 134. 134. 135.
3 4 4 T e i l
6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
tragsrechts würde dies bedeuten, daß alle mit der grundrechtlichen Privatautonomie zusammenhängenden grundrechtlichen Ansprüche des Verbrauchers ausscheiden, denn die Vertragsfreiheit, aber auch die Konsumentenfreiheit bilden als Ausprägungen der Privatautonomie die verfassungsrechtliche Grundlage des Vertrages. Andererseits könnten die mit dem vertragsgegenständlichen Produkt zusammenhängenden Beeinträchtigungen der Gesundheit des Erwerbers oder des Eigentums des Veräußerers den Gegenstand von Schutzpflichten bilden. Diese Differenzierung hat auf den ersten Blick etwas für sich. Im Ergebnis wird man beispielsweise in vielen Fällen einer Gesundheitsbeeinträchtigung auch zu einer Aktivierung der Schutzpflicht kommen können. Zu berücksichtigen ist zwar, daß je eher durch einen Vertrag weitere Rechtsgüter des Verbrauchers gefährdet werden, sich auch ein Leistungsanbieter desto mehr auf die zivilrechtliche Übernahme von Verantwortung für solche Gefahren einlassen muß. Die vertragliche Berücksichtigung solcher möglicher Nebenfolgen, hätte dann verfassungsrechtlich den Verlust des grundrechtlichen Schutzanspruchs zur Folge; die grundrechtliche Position des Verbrauchers wäre also gerade bei „gefahrgeneigten" Verträgen schwächer als bei anderen. Diese Konsequenz ist aber unproblematisch, da bei zivilrechtlicher Haftungsübernahme ein grundrechtliches Schutzbedürfnis entfallen mag. Die Abgrenzung alleine anhand des Vertragsgegenstandes erscheint indessen als zu formal. So sind Fälle denkbar, in denen eine mögliche nachteilige Folge zwar nicht eng mit dem Vertragsgegenstand bzw. mit einer Hauptleistungspflicht verknüpft ist, die beiden Parteien den Vertrag aber gerade in Kenntnis dieser möglichen Folge geschlossen haben. In der Sache geht es daher nicht um die Nähe einer (potentiellen) Schutzgutsbeeinträchtigung zum Vertragsgegenstand, sondern um ihre Vörhersehbarkeit. Zu fragen ist, ob es von den Parteien vorhergesehen wurde oder für einen verständigen Betrachter vorhersehbar war, daß durch oder aufgrund des Vertrages gerade in die später geschädigte Freiheitsposition ein Übergriff erfolgte. Auch nach diesem Maßstab schiede bei Verbraucherverträgen die Privatautonomie mit ihren Unterfällen als Quelle einer Schutzpflicht aus, da für jeden Vertragsschließenden die Auswirkungen des Vertragsschlusses auf dieses Grundrecht ohne weiteres ersichtlich sind. Dieser Ansatz stellt stärker auf den Einzelfall ab, indem er Schutz nicht schlechthin vor atypischen, sondern vor unvorhersehbaren Gefahren gewährt. Auf diese Art und Weise 217 Ruffert, Vorrang, S. 200 f., nennt das Beispiel des Arbeitsvertrages, mit dem der Arbeitnehmer über seine Freiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG disponiert, bei dem er aber nicht in Schäden an seiner in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG geschützten Gesundheit einwilligt; er will damit die Möglichkeit einer Schutzpflicht aus Art. 12 GG für das Arbeitsverhältnis allerdings nicht ausschließen.
B. Grundrechtliche Schutzpflichten im Vertragsrecht
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ließen sich v.a. grundrechtliche Überlegungen in Dauerschuldverhältnisse einführen. So muß der Mieter sich auch von Grundrechts wegen vorzeitig vom Vertrag lösen können, wenn sich die gemietete Wohnung nachträglich als für seine Gesundheit gefährlich erweist. Im Arbeitsrecht sieht die Rechtsprechung bei einer Kollision zwischen dem Direktionsrecht des Arbeitgebers (§315 BGB) auf der einen Seite und der Glaubens- oder Gewissensfreiheit des Arbeitnehmers auf der anderen Seite die Vörhersehbarkeit eines solchen Glaubens- oder Gewissenskonflikts für jedenfalls mitentscheidend dafür an, ob der Arbeitnehmer der Weisung des Arbeitgebers folgen muß. 2 1 8 Schutzpflichtendogmatisch gesprochen kann sich der zunächst „grundrechtsneutral" geschlossene Vertrag durch den nachmaligen Eintritt äußerer oder innerer Umstände in einen „Übergriff' des Anbieters in die Grundrechtssphäre des zu Schützenden verwandeln. Voraussetzung für eine Aktivierung der Schutzpflicht bleibt, daß die Unvorhersehbarkeit der nachteiligen Folge die Selbstbestimmung des betroffenen Vertragspartners ausschließt. Die Selbstbestimmung bzw. Freiwilligkeit des Handelns zwischen dem Vertragsschluß und den späteren Folgen aufzuspalten, ist nicht unproblematisch, zumal diese Aufspaltung nur in den Fällen relevant wird, in denen diese Folgen zivilrechtlich vom Vertragsinhalt und damit von der Willenserklärung der „benachteiligten" Partei jedenfalls konkludent mit umfaßt werden. Das Verfassungsrecht muß sich indessen nicht an die Rechtsgeschäftslehre des einfachen Rechts halten. Es kann den verfassungsrechtlich relevanten Gehalt einer Willenserklärung enger fassen als das Zivilrecht oder noch über die Lehre vom Wegfall der Geschäftsgrundlage hinaus Umstände zur Eingrenzung der Vertragspflichten berücksichtigen, um etwa im Interesse der Gesundheit, Glaubens- oder Meinungsfreiheit sicherzustellen, daß „nicht der zu einer Zeit gefaßte Entschluß auf einen zu großen Teil des Lebens hinaus die Willkür beschränke". 219 Dem Vertragsrecht soll dabei aber schon aus Gründen der Rechtsicherheit und der Einheit der Rechtsordnung nicht weitflächig seine verfassungsrechtliche Fundierung entzogen werden. Die grundrechtliche Beschränkung der inhaltlichen Reichweite einer zivilrechtlichen Willenserklärung mangels der Vorhersehbarkeit bestimmter Folgen muß daher äußerst vorsichtig gehandhabt werden. Nur grundrechtliche Schutzgüter, deren Betroffenheit insgesamt nicht zu gewärtigen war, sind geeignet, eine solche Beschränkung herbeizuführen. Strenge Maßstäbe sind ferner an das Fehlen der Vörhersehbarkeit zu stellen.
218 219
Siehe hierzu Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte, S. 162 ff. v. Humboldt, Wirksamkeit des Staates, S. 135.
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Teil 6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
b) Deliktsähnlichkeit Art. 2 Abs. 1 GG schützt den einzelnen vor Fremdbestimmung und Zwang im Vertragsrecht. 220 Die Unanwendbarkeit der Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 1 GG im (Verbraucher-)Vertragsrecht basiert auf der autonomen Entscheidung des Verbrauchers, einen bestimmten Vertrag einzugehen. Mithin fehlt es aus grundrechtlicher Perspektive dort an einem selbstbestimmten Handeln des Verbrauchers als Vertragspartner, wo er Opfer deliktischen bzw. deliktsähnlichen Verhaltens der Gegenseite wird. Deliktisches oder deliktsähnliches Handeln muß mit dem vertraglichen Handeln zusammenfallen. Bezogen auf den Vertragsschluß sind dies - in der Diktion des Zivilrechts - Fälle der Täuschung, der Drohung, der Überrumpelung und der Knebelung. 221 So ist eine Bürgschaft dann (auch) aus grundrechtlichen Erwägungen heraus unwirksam, wenn der Vertragsschluß unter Druck oder unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zustandekam. Wer nur einem äußeren Druck nachgibt oder sich täuschen läßt, handelt mit Blick auf die Konsequenzen seiner Willenserklärungen nicht selbstbestimmt. Berührt ist seine Privatautonomie in ihren Ausprägungen als Vertragsfreiheit und/oder Konsumentensouveränität. Ob solche Situationen des Drucks oder der Täuschung vorliegen ist eine Tatfrage im Einzelfall, die die Fachgerichte zu prüfen und zu entscheiden haben. Deliktischem oder deliktsähnlichem Verhalten kann der Verbraucher auch erst im Laufe der Vertragsdurchführung ausgesetzt sein. In diesen Fällen bleibt der Vertragsschluß zwar selbstbestimmt. Kritisch ist hier jedoch die Reichweite dieser Selbstbestimmung. Sie deckt zum einen die ordentliche Vertragsabwicklung, darüber hinaus auch mögliche Pflichtverletzungen des Leistungsanbieters, die sich auf die Leistung selbst beziehen, ab. Ein Mangel der Leistung ist vom Verbraucher sicherlich nicht erwünscht, verläßt aber noch nicht die Basis des selbstbestimmten Vertragsschlusses. Anders sind Mangelfolgeschäden zu beurteilen. 222 Läßt der Vertrag keinen anderen Willen der Parteien erkennen, so sind solche, nicht der Leistung anhaftende Nachteile, die andere Rechtsgüter des Verbrauchers beeinträchtigen, außer220
Siehe nur Rujfert, Vorrang, S. 341. Rujfert, Vorrang, S. 342 u. 347. Die ansonsten im Verbrauchervertragsrecht nicht selten einschlägige Fallgruppe der Knebelung scheidet in den Bürgschaftsfällen, da der bürgende Verbraucher i.d.R. nicht durch die Abhängigkeit von einer Person, sondern durch die Last der Schulden insgesamt betroffen ist, aus, siehe Ruf fert, a.a.O., S. 348. 222 Mit dieser Differenzierung zwischen Mangel- und Mangelfolgeschäden wird keineswegs nur ein verfassungsrechtliches Reservat für eine im Schuldrecht inzwischen überwundene Abgrenzung eingerichtet; auch nach der Schuldrechtsreform bleibt die Unterscheidung zwischen Mangel- und Mangelfolgeschäden im Zivilrecht noch relevant, siehe Eickhoff, BRAK-Mitt. 2001, 267 (268). 221
B. Grundrechtliche Schutzpflichten im Vertragsrecht
347
halb des vertragsbegründenden Willensentschlusses. Schädigungen des schon vor bzw. unabhängig von dem Vertrag existenten Rechtsgüterbestandes des Verbrauchers stellen sich in grundrechtlicher Perspektive als Übergriff dar und vermögen eine Schutzpflicht auszulösen. c) Vertragsfreiheit
in Ungleichgewichtslagen
Neben den dargestellten Fallgruppen der mangelnden Vörhersehbarkeit und der Deliktsähnlichkeit von Vertragsfolgen kann die Argumentationsfigur strukturellen Ungleichgewichts zwischen Privaten die Schutzpflichtenfunktion nicht aktivieren. Wirtschaftliches oder soziales Ungleichgewicht kann nicht als solches die Schutzpflicht des Art. 2 Abs. 1 GG auslösen. 223 Die Konzeption des Bundesverfassungsgerichts läßt sich in ihrer Breite nicht mehr mit der Schutzpflichtendogmatik begründen. 224 Sie ist Ausdruck einer „Schutzpflichtenhypertrophie", die einer Rückführung am Maßstab der subjektiv-rechtlichen Begründung der Schutzpflichten harrt. Der Ansatz leidet im System der Schutzpflichtendogmatik bereits daran, daß er nicht an eine isolierbare Übergriffshandlung anknüpft, sondern an die wirtschaftliche Potenz der Vertragsparteien und das sich zwischen ihnen ergebende Potenzgefälle. Schutzpflichten- und Abwehrfunktion der Freiheitsrechte haben indes gemeinsam, daß sie Schutz gegen konkrete Ingerenzen gewähren. Die Kompensation struktureller Disparitäten ist nicht ihr Thema. 2 2 5 Da Ungleichgewichtslagen nicht der Ausnahme-, sondern der Regelfall der Vertragspraxis sind, wird gar gefolgert, daß das Verlangen einer faktischen Vertragsparität im Sinne einer strukturell gleichen Verhandlungsstärke das „Ende der Vertragsfreiheit" bedeute und den „Vertrag als Rechtsinstitut verabschieden" würde. 2 2 6 Daran ist zutreffend, daß eine Suche nach Ungleichheiten nur selten vergeblich sein wird. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat der nahezu drei Jahrzehnte alte Befund Schmidt-Rimplers, daß „die Machtungleichheit häufig in unserer so repressionsallergischen und ... auf Repressionsenthüllungen so begierigen Zeit stark übertrieben" 227 wird, nichts an Richtigkeit und Aktualität eingebüßt. Das Verlangen einer ungestörten Vertragsparität gerät vor diesem Hintergrund unter Ideologieverdacht. 2 2 8 223
Rujfert, Vorrang, S. 339; Zöllner, AcP Bd. 196 (1996), S. 1 (14); Grunsky, Vertragsfreiheit, S. 14 f. 224 Rujfert, Vorrang, S. 339. 225 Vgl. Zöllner, AcP Bd. 196 (1996), S. 1 (14); Rujfert, Vorrang, S. 340. 226 Depenheuer, ThürVBl. 1996, 270 (273 f.). 227 Schmidt-Rimpler, FS Raiser, S. 3 (14).
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Teil 6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
Legt man einen kritischeren Maßstab an und läßt nicht jeden Unterschied als (strukturelle) Disparität durchgehen, so lassen sich Ungleichgewichtslagen kaum mit der nötigen Präzision nachweisen. 229 Insoweit begegnet die Argumentationsfigur der strukturellen Ungleichheit den gleichen Bedenken wie die These einer unmittelbaren Drittwirkung gegenüber sozial mächtigen Privatrechtssubjekten. 230 Imparität wird aber auch in der Sache als geeignetes Kriterium für die Gerechtigkeit eines Ergebnisses bzw. eines Vertrages in Zweifel gezogen. Anzuerkennen ist, daß es sowohl Ungleichgewichtslagen mit akzeptablen Ergebnissen als auch Gleichgewichtslagen mit untragbaren Ergebnissen gibt.231
3. Konkretisierung der Schutzpflichten Die Stärkung der Verbraucherrechte wirkt in Vertragskonstellationen zwangsläufig auf die Rechtsposition der Gegenseite, hier also des Leistungsanbieters zurück. Auch ihm gegenüber obliegen den Staatsgewalten Schutzpflichten. Insbesondere aber können sie sich auf ihr Abwehrrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG berufen, wenn der Staat mit der Stärkung von Verbraucherrechten zugleich in ihre Vertragsfreiheit eingreift. Die festgestellte Beschränktheit des normativen Gehalts der Konsumentensouveränität 232 hat Auswirkungen auf die Abwägung zwischen dem Schutz des Verbrauchers und den Grundrechtspositionen seines Vertragspartners. Letztere müssen der Schutzpflicht zugunsten des Verbrauchers nicht ohne weiteres weichen. Das zeigt sich insbesondere bei der richterlichen Korrektur oder Annullierung von Verbraucherverträgen: Das Abwehrrecht des Leistungsanbieters schützt ihn prinzipiell gegen „vertragsändernde" Eingriffe des Richters. 233 Das Korrektiv der Verhältnismäßigkeit ist für solche Eingriffe streng zu handhaben. Im Rahmen des Erforderlichkeitskriteriums ist stets eine Aufklärungspflicht des „schwächeren" Vertragspartners als milderes Mittel zum Unwirksamkeitsverdikt in Erwägung zu ziehen. 2 3 4 Eine Inhaltskontrolle des einzelnen Vertrages daraufhin, ob er Ausdruck der wirtschaftlichen Selbstbestimmung beider Parteien ist, stößt daher zu Recht auf Skepsis. 235 Zu228
Depenheuer, ThürVBl. 1996, 270 (274). Oldiges, FS Friauf, S. 281 (296 f.). 230 Siehe oben Teil 6 B.II.2.a). 231 Vgl. Depenheuer, ThürVBl. 1996, 270 (274); Wiedemann, JZ 1990, 695 ff. 232 Siehe oben Teil 6 B.III. 1. 233 Vgl. Knohel, Wandlungen, S. 219 f. 234 Vgl. Drexl, Selbstbestimmung, S. 522 f.; Floren, Grundrechtsdogmatik, S. 396; Ruffert, Vorrang, S. 353. 235 Drexl, Selbstbestimmung, S. 209. 229
B. Grundrechtliche Schutzpflichten im Vertragsrecht
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mindest dürfe es keine - grundrechtlich determinierte - Inhaltskontrolle der vertraglichen Hauptleistungspflicht 236 geben. In die gleiche Richtung weist der Grundgedanke der Subsidiarität 237 bei der Konkretisierung der Schutzpflichten. Ihm folgend kommt eine richterliche Inhaltskontrolle im Einzelfall mit der Folge einer Neugestaltung des Vertragsverhältnisses nur dort als ultima ratio - in Betracht, wo ein marktkonformer, insbesonderer informatorischer Verbraucherschutz keinen effektiven Schutz mehr bietet. 2 3 8 Das primäre Instrument des Verbraucherschutzes bleibt die Formulierung genereller Rechtsnormen. Im Rahmen der Interessenabwägung, die innerhalb des Angemessenheitskriteriums vorzunehmen ist, ist die klare Kontur der Vertragsfreiheit als Abwehrrecht einerseits und die geringe Schutzintensität der Schutzpflicht für die Konsumentensouveränität andererseits zu berücksichtigen. Eine schematische Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips verbietet sich dabei; zugunsten des Anbieters geht die Privatautonomie als selbst-regulatives Verteilungsprinzip im Zweifel öffentlich-rechtlichen Verteilungsprinzipien wie dem der Verhältnismäßigkeit v o r . 2 3 9 Die Anwendbarkeit der Schutzpflichten in den dargestellten Konstellationen führt nicht zu einer verfassungsrechtlichen Umgestaltung des geltenden Zivilrechts. Dieses enthält mit seinem Deliktsrecht ein taugliches Instrumentarium, um die Übergriffe unter Privaten angemessen zu lösen. Das Privatrecht wird seiner Rolle als „generelles Konfliktauflösungsinstrument" 240 gerecht. Auch neuere Untersuchungen bestätigen, daß das Deliktsrecht des BGB dem verfassungsrechtlichen Mindeststandard im wesentlichen entspricht. 24 1 Der durch das Untermaßverbot garantierte verfassungsrechtliche Mindestschutz werde für die Privatautonomie durch die Vorschriften des Allgemeinen Teils des Bürgerlichen Gesetzbuches - §§ 119, 123, 142 und 138 - erfüllt. 2 4 2 Abzugrenzen ist der grundrechtliche Schutz der Privatautonomie im allgemeinen und der Konsumentenfreiheit im besonderen schließlich von einem bloßen Grundrechtsvoraussetzungsschutz. 243 Die wirtschaftlichen Mittel, um die Privatautonomie oder seine Konsumfreiheit auch faktisch aus236
Ruffert, Vorrang, S. 349; vgl. auch Preis/Rolfs, DB 1994, 261 (265f.). Siehe zum Subsidiaritätsgedanken im Hinblick auf die Auswahl der Schutzinstrumente oben: Teil 5 C.IV.3.e). 238 Drexl, Selbstbestimmung, S. 210. 239 Vgl. Puffert, Vorrang, S. 352. 240 Stern, Staatsrecht III/2, S. 635. 241 Ruffert, Vorrang, S. 222, der allerdings darauf hinweist, daß dies für jedes einzelne Grundrecht zu verifizieren ist. 242 Ruffert, Vorrang, S. 343. 243 Teil 5 C.II. 237
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Teil 6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
üben zu können, können durch keine Grundrechtsfunktion des Art. 2 Abs. 1 GG garantiert werden. Das gilt beispielsweise auch für den in die Volljährigkeit eintretenden Bürgen. Soll er zur Zeit seiner Minderjährigkeit vor einer durch seine gesetzlichen Vertreter auferlegten Belastung geschützt werden und sichergestellt werden, daß er ohne Überschuldung in die Volljährigkeit eintritt, so fällt dies in den Bereich der tatsächlichen Voraussetzungen seiner allgemeinen Handlungsfreiheit. Zugunsten des Minderjährigen greift nicht eine Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 1 GG. Ihm steht insoweit jedoch das staatliche Wächteramt aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG zur Seite, das nicht ein bestimmtes Rechtsgut schützt, sondern auf die Kontrolle des elterlichen Handelns insgesamt zielt. 2 4 4
C. Alternative verfassungsrechtliche Impulse für den Verbraucherschutz Die Wirkungen der grundrechtlichen Schutzpflichten für den Verbraucherschutz haben sich im vorhergehenden als sehr begrenzt erwiesen. Insbesondere findet der ausladende Ansatz des Bundesverfassungsgerichts, strukturelle Disparitäten grundrechtlich auszugleichen in der subjektiv-rechtlich bestimmten Dogmatik der Schutzpflichten keine Grundlage. Es stellt sich daher die Frage, ob das Grundgesetz alternative verfassungsrechtliche Impulse für den Verbraucherschutz bereithält.
I. Das Sozialstaatsprinzip Das Sozialstaatsprinzip wird in der Literatur häufiger auch zur Begründung staatlicher Schutzpflichten herangezogen, 245 wobei z.T. der Umweg über seine Bedeutung als Begründungselement einer allgemeinen Wertfunktion der Grundrechte eingeschlagen w i r d . 2 4 6 Allerdings findet sich im Schrifttum auch die gegenteilige Ansicht, welche eine - auch nur mittelbare - Herleitung der Schutzpflichten aus der Sozialstaatsklausel ablehnt. 247 Das Sozialstaatsprinzip liegt als verfassungsrechtliche Grundlage des Verbraucherschutzrechts insbesondere dann nahe, wenn man ein - angebliches - soziales Ungleichgewicht zwischen Produzenten und Konsumenten zum 244
Ruffert, Vorrang, S. 344. Neumann,, DVB1. 1997, 92 (97); Langner, Geltung der Grundrechte, S. 94 f.; vgl. auch Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, S. 244 u. 269 f.; Pitschas, FS Zacher, S. 755 (763); Robbers, Sicherheit, S. 193. 246 Siehe Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 153 f. 247 Dreier, in: Dreier, GG, Vorbem. Rz. 65; Ruffert, Vorrang, S. 164 f. 245
C. Alternative verfassungsrechtliche Impulse für den Verbraucherschutz
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rechtspolitischen Ausgangspunkt des Verbraucherschutzes wählt. Fraglich ist, ob das Sozialstaatsprinzip angesichts der Untiefen seiner Dogmatik und seiner - zumal gegenüber den Grundrechten - eingeschränkten Geltungskraft etwas zur verfassungsrechtlichen Unterfütterung des Verbraucherschutzes beitragen kann.
1. Bedeutung des Sozialstaatsprinzips Versuche, die Entstehungsgeschichte des Sozialstaatsprinzips für eine erste Konturierung fruchtbar zu machen, müssen fehlschlagen. 248 Obwohl diese Klausel nicht an Bestimmungen älterer deutscher Verfassungen anknüpfte, wurde über sie im Parlamentarischen Rat inhaltlich nicht debattiert. 2 4 9 Gerade weil die Aufnahme des Sozialstaatsprinzip in das Grundgesetz angesichts der offenen Entstehungsgeschichte nicht als Antwort auf eine bestimmte historische Situation verstanden werden kann, erweist sich dieses Prinzip als besonders offen für einen Verfassungswandel, also für den Einfluß der jeweiligen Zeitverhältnisse auf den Inhalt der Verfassungsnorm. 2 5 0 Diese Offenheit hängt z.T. mit der Unabänderbarkeit des Sozialstaatsprinzips gem. Art. 79 Abs. 3 GG zusammen. 251 Aufgrund dieser sog. Ewigkeitsgarantie besteht in Rechtsprechung und Literatur wenig Neigung, aus dem Verfassungsprinzip zu enge und starre Vorgaben abzuleiten. 252 Das Sozialstaatsprinzip hatte allerdings zu Beginn seiner Wirkungsgeschichte unter dem Grundgesetz mit einem nur geringen - wissenschaftlichen wie rechtspraktischen - Interesse, mit einer ihm entgegengebrachten Ratlosigkeit 253 und z.T. mit offenen Vorbehalten zu kämpfen. 2 5 4 In ihm wurde lediglich ein „Programm" 2 5 5 gesehen oder es wurde als bloßer Blankettbegriff 2 5 6 gewertet. In der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts ist 248
Vgl. Weber,
Der Staat Bd. 4 (1965), 409 (415 f.); Schnapp, JuS 1998, 873
(874). 249
Siehe ausführlich zur Entstehungsgeschichte: Stern, Staatsrecht I, S. 878 ff. Benda, HdbVerfR, § 17 Rz. 82; siehe zur Offenheit des Begriffes „sozial" in der Zeitdimension: Zacher, HdbStR I, § 25 Rz. 65 f.; ders, FS H. P. Ipsen, S. 207 (260); vgl. auch BVerfGE 5, 85 (198 f.); 59, 231 (263). 251 Benda, HdbVerfR, § 17 Rz. 117 f. 252 Benda, HdbVerfR, § 17 Rz. 99 f. 253 Selbst ausgewiesene Fachleute des Sozial(verfassungs)rechts stellen ihre Darlegungen zur Dogmatik des Sozialstaatsprinzip unter die Überschrift der skeptischresignativen Frage: „Was können wir über das Sozialstaatsprinzip wissen?", so Zacher, FS H. P. Ipsen, S. 207 ff. (im Text insbes. S. 216 f.) und mit dem identischen Titel zwei Jahrzehnte später Schnapp, JuS 1998, 873 ff. 254 Vgl. Benda, HdbVerfR, § 17 Rz. 80. 255 Forsthoff, VVDStRL Bd. 12 (1954), S. 8 ff. 256 Grewe, DRZ 1949, 349 (351). 250
352
Teil 6: Staatliche Schutzpflichten i m Verbrauchervertragsrecht
es gar bis heute nur in einer relativ überschaubaren Zahl von Fällen letztlich entscheidungserheblich geworden 257 und es wird eine gewisse Scheu konstatiert, das Sozialstaatsprinzip für die verfassungsrechtliche Prüfung fruchtbar zu machen. 258 Eine wesentliche Ursache für die juristische Zurückhaltung und gleichzeitige politische Beliebtheit des Sozialstaatsprinzip liegt bereits in der Bedeutungsvielfalt und -Offenheit des Wortes „sozial"; es verführt den Interpreten zu seiner Füllung mit beliebigen Inhalten. 2 5 9 Nahezu jede politisch erwünschte Entscheidung läßt sich durch dieses Prinzip argumentativ zu einer von der Verfassung geforderten und damit unabweisbaren Maßnahme 260 erheben. Kaum eine Politik verzichtet darauf, sich als sozialstaatsgemäß darzustellen. 261 Seine (verfassungs)politische Beliebtheit birgt die Gefahr seiner Auszahlung in kleiner Münze und des Abgleitens des Verfassungsrechts auf die Ebene tagespolitischer Auseinandersetzungen 262 in sich. In über fünf Jahrzehnten ihrer Geltung hat die Sozialstaatsklausel sich in der wissenschaftlichen Diskussion indes als Rechtsprinzip durchgesetzt. Sie gilt als Staatsleitlinie mit normativer Verbindlichkeit. 263 Betont wird der Ermächtigungscharakter der Verfassungsnorm, die den Staat zu sozialgestaltender Tätigkeit beauftragt. 264 Nach überwiegender Ansicht steht das Prinzip auch mit den übrigen Strukturprinzipien des Art. 20 GG auf gleicher Stufe, muß also insbesondere nicht generell hinter dem Rechtsstaatsprinzip zurückstehen. 265 Dennoch verbleiben Unsicherheiten im einzelnen 266 und es besteht Einigkeit darin, daß der Garantie des Sozialstaates lediglich Leitlinien zu entneh257
Neumann, DVB1. 1997, 92. Abw. Meinung Rupp-von Brünneck, BVerfGE 36, 237 (247 ff.). 259 Schnapp, JuS 1998, 873 (877). 260 Benda, HdbVerfR, § 17 Rz. 92 u. 109. 261 Benda, HdbVerfR, § 17 Rz. 84. 262 Benda, HdbVerfR, § 17 Rz. 84. 263 Benda, HdbVerfR, § 17 Rz. 80. 264 Benda, HdbVerfR, § 17 Rz. 80; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 (VIII) Rz. 6 ff. (Stand: September 1980); Schiek, in: AK-GG, Art. 20 Abs. 1-3 V Rz. 71 (Stand: 2001). Bereits diese Aussage kommt aber nicht ohne eine Ambivalenz aus, denn eine „Ermächtigung" geht in ihrer Rechtswirkung zweifellos über eine bloßen „Auftrag" hinaus, da erstere zusätzlich eine Handlungs- und Eingriffsbefugnis verleiht, vgl. zu der dahinter stehenden Frage der Geeignetheit des Sozialstaatsprinzips zur Einschränkung von Grundrechten, ablehnend: BVerfGE 52, 283 (298); 59, 231 (263); 65, 182 (193); bejahend: Neumann, DVB1. 1997, 92 (98). 265 Bachof, VVDStRL Bd. 12 (1954), S. 37 (39 ff.); Ipsen, Staatsrecht I, Rz. 858; Stern, Staatsrecht I, S. 887 m.w.Nachw.; a.A. Forsthoff, VVDStRL Bd. 12 (1954), S. 8 (14 ff.), der davor warnt, den Rechtsstaat mit dem Zusatz sozial „adjektivisch zu verkleinem". 258
C. Alternative verfassungsrechtliche Impulse für den Verbraucherschutz
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men sind. Es begründet nicht originär Rechtspositionen, sondern hat seine Bedeutung bei der Auslegung von Gesetzen 267 und im besonderen bei der Auslegung des Grundgesetzes, 268 seiner Grundrechte und der sie einschränkenden Gesetze. 269 Es antizipiert auch keine bestimmte Sozialutopie. 270 Dem Gesetzgeber verbleibt vielmehr ein Spielraum bei der Umsetzung des Prinzips. 271 Zurecht verbreitet ist daher seine Charakterisierung als Staatszielbestimmung. 272 Anders als die übrigen Staatsstrukturprinzipien des Art. 20 GG werden nicht Mittel, Methoden oder Zuständigkeiten des Staatshandelns reguliert und eingeschränkt. Das Sozialstaatsprinzip gibt dem staatlichen Handeln vielmehr Richtung und Ziel; es nimmt eine finale Programmierung vor. Die Wirksamkeit des Sozialstaatsprinzips wird nicht unwesentlich dadurch geschwächt, daß es sich einer richterlichen Inhaltsbestimmung weitgehend versperrt, weil ihm aufgrund „seiner Weite und Unbestimmtheit regelmäßig keine unmittelbaren Handlungsanweisungen" zu entnehmen sind, welche „durch die Gerichte ohne gesetzliche Grundlage in einfaches Recht umgesetzt werden könnten". 2 7 3 Das Sozialstaatsprinzip wendet sich in erster Linie an den Gesetzgeber. 274 Seine Umsetzung steht unter dem Primat der Politik; die Sozialstaatsklausel beantwortet Fragen politischer Prioritätsentscheidung nicht. 2 7 5 Die Einklagbarkeit von aus dem Sozialstaatsprinzip fließenden Handlungspflichten hat das Bundesverfassungsgericht daher offengelassen; 276 sie wird in der Literatur aber ganz überwiegend abgelehnt. 2 7 7
266
Ipsen, Staatsrecht I, Rz. 858; Fuchs, FS Zacher, S. 169 (170). BVerfGE 1, 97 (105); 59, 231 (262 f.); Neumann, DVB1. 1997, 92 (93). 268 BverfGE 1, 97 (105); Benda, HdbVerfR, § 17 Rz. 80. 269 BVerfGE 59, 231 (262 f.). 270 Dürig, JZ 1953, 193 (196); Ipsen, Staatsrecht I, Rz. 859; Zacher, FS H. P. Ipsen, S. 207 (237). Dagegen erheben sich nur vereinzelte Stimmen, siehe etwa das von Hartwich, Sozialstaatspostulat, S. 344 ff., vertretene Alternativmodell, das mit dem Sozialstaatsprinzip die formelle Aufhebung der jetzigen Wirtschaftsordnung und eine Sozialisierung verbindet. 271 BVerfGE 18, 257 (267); 44, 70 (89); 50, 57 (108); 59, 231 (263); 65, 182 (193); 82, 60 (80); 97, 169 (185); 98, 169 (204). 272 Benda, HdbVerfR, § 17 Rz. 116. 273 BVerfGE 65, 182 (190). 274 So die ständige Rspr.: BVerfGE 1, 97 (105); 22, 180 (204); 50, 57 (108); 71, 66 (80); 75, 348 (360); ebenso: Benda, HdbVerfR, § 17 Rz. 80. 275 Benda, HdbVerfR, § 17 Rz. 109 u. 162. 276 BVerfGE 33, 303 (331) - Numerus-Clausus-Urteil. Bejaht hat es lediglich die Möglichkeit von Ansprüchen auf Zutritt zu vorhandenen Einrichtungen. 277 Siehe nur Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 (VIII) Rz. 28 (Stand: September 1980); Ipsen, Staatsrecht I, Rz. 876. 267
23 Krings
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Ernüchternd fällt schließlich ein internationaler Vergleich von Staaten mit konstitutionellen Sozialstaatsgarantien und solchen ohne entsprechende Verfassungsbestimmungen aus. Das Niveau der Sozialgesetzgebung und der Sozialleistungen ist relativ unabhängig von dem Ob und Wie einer normativen Verankerung des „Sozialen". Dieser Befund deutet letztlich auf eine tendenzielle Irrelevanz von (verfassungsrechtlichen) Sozialstaatsnormen h i n . 2 7 8 Andererseits statuieren Verfassungen, die bestimmte Ausprägungen des Sozialstaatsprinzips als Staatsziele kodifizieren, dadurch auch Gegenentwürfe zu real vorgefundenen sozialen Mißständen; findet die angestrebte Transformation der Sozialordnung in der Praxis nicht statt, so droht der Verfassung dann insgesamt ein Glaubwürdigkeitsverlust. 279
2. Geltung und Inhalt des Sozialstaatsprinzips Die Geltung des grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzips wird bestimmt von seinem „hohen Rang", seiner „prinzipiellen Gewißheit" und „konkreten Ungewißheit". 2 8 0 Potentiell ist das Sozialstaatsprinzip bei allem staatlichen Handeln in Betracht zu ziehen. 281 Wegen seiner Ungewißheit ist das Sozialstaatsprinzip aber weder Grundlage subjektiver Rechte 2 8 2 noch für sich genommen eine Legitimation staatlichen Handelns. 283 Vor dem Hintergrund dieser Unbestimmtheit ist das Bundesverfassungsgericht dazu übergegangen, das Prinzip mit einzelnen Grundrechten zu verknüpfen. 284 Es begründet auch keine Kompetenzen, sondern setzt diese voraus. 285 Es verschafft sich Geltung im Rahmen der Interpretation von Rechtsnormen 286 oder als Maxime der Ermessensausübung für administrative oder gubernative Entscheidungen. 287 Der Sozialstaat ist tendenziell auf eine faktische Gleichheit ausgerichtet. 2 8 8 Demgegenüber ist der Rechtsstaat auf Sicherung von Freiheit gerich278
Siehe hierzu Zacher, FS H. P. Ipsen, S. 207 (226). Sommermann, Staatsziele, S. 224. 280 Zacher, HdbStR I, § 25 Rz. 106; ders., FS H. P. Ipsen, S. 207 (229); Spieker, Legitimitätsprobleme, S. 228 ff. 281 Zacher, HdbStR I, § 25 Rz. 106. 282 Ständ. Rspr. seit BVerfGE 1, 97 (105); BSGE 10, 97 (100); BAGE 14, 282 (290). 283 Zacher, HdbStR I, § 25 Rz. 107. 284 Vgl. Neumann, DVB1. 1997, 92 (93). 285 Zacher, HdbStR I, § 25 Rz. 108. 286 BVerfGE 6, 32 (41); BVerwGE 8, 98 (103); BAGE 1, 128 (132 f.); 14, 282 (290); BFHE 74, 42 (46). 287 Stern, Staatsrecht I, S. 915 f.; Zacher, HdbStR I, § 25 Rz. 107. 288 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 (VIII) Rz. 36; Zacher, HdbStR I, § 25 Rz. 32 ff.; Benda, HdbVerfR, § 17 Rz. 169; Huster, Rechte, S. 226 ff. u. 409 ff. 279
C. Alternative verfassungsrechtliche Impulse für den Verbraucherschutz
355
tet, weist also eine Affinität zum Gehalt der Freiheitsgrundrechte auf. Der Schutz des einzelnen durch die Freiheitsrechte und die sozialstaatliche Ordnung wiederum stehen in einer „unaufhebbaren und grundsätzlichen Spannungslage". 289 Sozialleistungen des Staates finden weder ihre Begründung in konkreten Ingerenzen Dritter noch richteten sie sich gegen solche. 290 Die Schutzpflichtenkonstruktion verzichtet darum richtigerweise auf einen Einschluß der Thematik sozialer Grundrechte. 291 Die Sozialstaatsklausel hat zum einen eine gestattende Funktion. Sie erlaubt dem Staat aktive Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zu betreiben. Wegen der „konkreten Ungewißheiten" reicht die Gestattungswirkung der Sozialstaatsklausel erheblich weiter als die sich aus ihr ergebenden Verpflichtungen. 292 Der Sozialstaatsklausel ist deshalb eine Konsensorientierung eigen, 2 9 3 deren Ausfüllung und Umsetzung sich nicht nur idealerweise auf breite parlamentarische Mehrheiten stützt, sondern v. a. auf den prinzipiellen Konsens mit den zu Solidaritätsleistungen herangezogenen Bürgern zu achten hat. 2 9 4 Das Sozialstaatsprinzip bietet über diesen Gestattungsaspekt hinaus nur in wenigen Punkten inhaltliche Lösungen an. 2 9 5 Der Sozialstaat wird als „zukunftsorientierter Rechtsbegriff 4 , als Prozeß verstanden. Dies bedeutet aber zugleich, daß der Sozialstaat „je mehr er sich verwirklicht, die Voraussetzungen in Frage [stellt], von denen her er konkretisiert wurde." 2 9 8 Soweit die „prinzipielle Gewißheit" der Sozialstaatsklausel angesprochen ist, so geht es ihr im Kern um den staatlichen Schutz des Schwächeren 299 innerhalb der Gesellschaft. Ihr entspringt ein Schutz- und Fürsorgegebot, dessen Ziel die Herstellung sozialer Sicherheit für Hilfsbedürftige 300 ist. Diese Fürsorgepflicht erstreckt sich auf Personen, die aufgrund ihrer per-
289
BVerfGE 18, 257 (267). Hermes, Schutz, S. 118 f., bezeichnet diese Konstellationen daher als „gegnerlose Not44. 291 Vgl. Isensee, HdbStR V, § 111 Rz. 132 f.; Hermes, Schutz, S. 118 f. A.A. Neumann, DVB1. 1997, 92 (97). 292 Neumann, DVB1. 1997, 92. 293 Benda, HdbVerfR, § 17 Rz. 115. 294 Siehe Benda, HdbVerfR, § 17 Rz. 121, der betont, daß „ein Staat, der Nächstenliebe zu erzwingen versuchte, nicht mehr freiheitlich sein44 könne. 295 Benda, HdbVerfR, § 17 Rz. 113. 296 Erbel, Sittengesetz, S. 198. 297 Zacher, HdBStR I, § 25 Rz. 66. 298 Zacher, HdbStR I, § 25 Rz. 79. 299 Zacher, FS H. P. Ipsen, S. 207 (234) m.w.Nachw. in Fn. 122. 300 BVerfGE 5, 85 (198); 40, 121 (133); 43, 13 (19); 44, 353 (375). 290
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Teil 6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
sönlicher Lebensumstände oder ihrer gesellschaftlichen Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind. 3 0 1 Darüber hinaus hat man aus ihm die generelle Pflicht des Staates abgeleitet, für einen Ausgleich sozialer Ungleichheiten und Gegensätze zu sorgen. Das ambitionierte Ziel ist insoweit die Herstellung einer gerechten Sozialordnung bzw. „sozialer Gerechtigkeit". 302 Das Sozialstaatsprinzip wirkt insoweit im Sinne eines Angleichungsgebotes, 303 ohne jedoch radikal-egalitäre Tendenzen zu verfolgen. 304 Geboten ist die annähernd gleichmäßige Verteilung der öffentlichen Lasten. 305 Dem einzelnen sind Lasten abzunehmen, die aus einem von der Gesamtheit zu tragenden Schicksal entstanden sind und nur zufällig einen bestimmten Personenkreis treffen. 306 Dem Sozialstaatsprinzip entspricht es, wenn öffentliche Mittel nur dorthin gelenkt werden, wo im Einzelfall ein Bedarf festgestellt w i r d 3 0 7 und wenn nur demjenigen geholfen wird, der zur Selbsthilfe nicht in der Lage i s t . 3 0 8 Die Fürsorge für Hilfsbedürftige darf nicht so weit gehen, daß die Bürger durch Zwang davon abgehalten werden, Risiken einzugehen. 309 Das Sozialstaatsprinzip hat ferner nicht nur eine leistungsbezogene Seite, sondern ebenso eine den Bürger verpflichtende Seite, die sog. Solidaritätsmaxime bzw. das Soziabilitätsprinzip. 310 Mit der Abnahme von Lasten korrespondiert das solidarische Mittragen dieser Lasten in der Gesellschaft. 311 Der Sozialstaat ist daher notwendig auch ein Verteilungs- und Umverteilungsstaat. 312 Dies geschieht typischerweise in dem Sinne, daß er Finanzmassen durch Steuern und Abgaben akkumuliert, um sie als staatliche Leistungen 313 wieder zu verteilen. 301 302 303 304 305 306
Rz. 40.
BVerfGE 35, 202 (236); 40, 121 (133); 45, 376 (387). BVerfGE 22, 180 (204); 35, 348 (355 f.). Zacher, HdbStR I, § 25 Rz. 78. Benda, HdbVerfR, § 17 Rz. 171. BVerfGE 5, 85 (198 f.). BVerfGE 27, 253 (2. Leitsatz); Bley/Kreikebohm/Marschner,
Sozialrecht,
307 Vgl. BVerfGE 17, 1 (11). Allgemein hält es das BVerfG für gerechtfertigt, hinsichtlich der Höhe staatlicher Leistungen nach dem Grad der Bedürftigkeit zu differenzieren, vgl. BVerfGE 13, 248 (259); 23, 135 (145). 308 BVerfGE 17, 38 (56). 309 BVerfGE 59, 172 (213). 310 Bley/Kreikebohm/Marschner, Sozialrecht, Rz. 41. 311 Vgl. zum Einschluß von Personengruppen in Systeme zwangsweiser sozialer Vorsorge: BVerfGE 10, 354 (368 f.); 44, 70 (89). 312 Ipsen, Staatsrecht I, Rz. 874. 313 Der soziale Auftrag des Grundgesetzes richtet sich primär - in Abgrenzung zur staatlichen Aufgabe der Daseinsvorsorge - eigentlich nicht einmal auf Leistun-
C. Alternative verfassungsrechtliche Impulse für den Verbraucherschutz
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3. Sozialstaatsprinzip und Verbraucherschutz Untypischer ist die - u.a. im Bereich des Verbraucherschutzes einschlägige - Konstellation einer direkten Güterzuweisung unter Privaten. Auch sie ist als Aufgabe des Sozialstaates indes nicht generell auszuschließen. Der soziale Staat soll sich auch bei konfligierenden Grundrechtsposition e n 3 1 4 um den Ausgleich aller beteiligten Interessen bemühen. Sozialstaat besteht nicht lediglich in Leistungen des Staates, sondern verlangt auch „Sozialverantwortung". 315 Daher geht es nicht nur um die Inpflichtnahme der Gesellschaft, sondern auch des Individuums selbst für die soziale Existenz und Wohlfahrt des anderen. 316 Da das Sozialstaatsprinzip die sozialen Voraussetzungen des Freiheitsgebrauchs in den Blick nimmt, muß es gerade im Privatrechtsverkehr Auswirkungen zeitigen. 317 Das Sozialstaatsprinzip schlägt sich daher auch im Privatrecht in vielfältigen Erscheinungsformen nieder. 3 1 8 Seine gestaltende Kraft hat es hier aber schon entfalten können, bevor es explizit Eingang in das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland fand. 3 1 9 Das grundgesetzliche Sozialstaatsprinzip hat die dem Zivilrecht inhärente Tendenz zu einer sozialen bzw. sozialstaatlichen Auslegung von Normen verfassungsrechtlich erhärtet und verstärkt. Ein Hauptreferenzgebiet für eine solche unmittelbare „Horizontalwirkung" des Sozialstaatsprinzips ist das Arbeitsrecht. 320 Darüber hinaus finden sich Ausprägungen des Sozialstaatsprinzip im Zivilrecht überall dort, wo Normen auf den Schutz des Schwächeren abzielen. 321 Es wirkt auch in das Vertragsrecht hinein und legitimiert jedenfalls gesetzgeberische Schutzmaßnahmen zugunsten der materiellen Entscheidungsfreiheit der Vertragsparteien. 322 Diese Legitimationsbasis reicht über die grundrechtlich relevanten Fälle einer Fremdbestimmung hinaus. 323 Da es hier um die wechselseitige Ausrichtung und Anpassung individueller Freiheitssphären geht, kann -
gen an sich, sondern auf die Vermeidung der Benachteiligung sozial Schwächerer bei der Verteilung staatlicher Leistungen, Zacher, HdbStR I, § 25 Rz. 59. 314 Benda, HdbVerfR, § 17 Rz. 159. 315 Benda, HdbVerfR, § 17 Rz. 179. 316 Ygi Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 540; Fuchs, FS Zacher, S. 169 (170). 317 Neumann, DVB1. 1997, 93 (98). 318 Siehe hierzu ausführlich: Neuner, Privatrecht, S. 237 ff. 319 Fuchs, FS Zacher, S. 169 (170). 320 Vgl. BAGE 8, 1 (10). 321 Neuner, Privatrecht, S. 274. 322 Neuner, Privatrecht, S. 274. 323 Vgl. Neuner, Privatrecht, S. 274 (Fn. 1798) u. 267 ff.
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Teil 6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
nicht in Identität, aber in Parallelität zu den grundrechtlichen Schutzpflichten - auch in Abwesenheit eines Übergriffstatbestandes von sozialstaatlichen Schutzpflichten gesprochen werden. Um terminologische Mißverständnisse zu vermeiden, kann alternativ der ohnehin weiter gefaßte Begriff der Drittwirkung verwandt und von einer mittelbaren Drittwirkung des Sozialstaatsprinzips unter Privaten über das Vehikel des Zivilrechts gesprochen werden. Das Sozialstaatsprinzip weist eine enge Verbindung zur Gewährleistung materieller Aspekte der (grundrechtlichen) Privatautonomie auf. 3 2 4 Deshalb verwundert es nicht, wenn die Bürgschaftsentscheidung, 325 aber auch schon in die Handelsvertreterentscheidung 326 ausdrücklich auf dieses Prinzip Bezug nehmen und es als normative Begründung ihrer Vertragsinhaltskontrolle heranziehen. Andererseits hat das Bundesverfassungsgericht in dem sog. Kleinbetriebs-Beschluß, einer Entscheidung jüngeren Datums zur gesetzlichen - mittlerweile wieder beseitigten - Einschränkung des Kündigungsschutzes in kleinen Unternehmen, die Geltung des Sozialstaatsprinzips im Privatrecht, explizit abgelehnt, weil Art. 12 Abs. 1 GG hier den einschlägigen und konkreteren Maßstab biete. 3 2 7 Hieran ist zutreffend, daß die grundrechtsdogmatische Bewertung eines Schutzbedürfnisses und damit die Anwendung der grundrechtlichen Schutzpflicht grundsätzlich Vorrang vor einem Rückgriff auf das Sozialstaatsprinzip genießt. Soweit keine Bedrohung grundrechtlicher Schutzräume von außen vorliegt, sondern es um die Entfaltung dieser Freiräume geht, kann das Sozialstaatsprinzip aktiviert werden. 3 2 8 Speziell die Kompensation von Ungleichgewichtslagen hat ihren verfassungsrechtlichen Sitz im Sozialstaatsprinzip. 329 Klassische Themenfelder des Verbraucherschutzes wurden schon vor dem Ausgreifen der Schutzpflichten in das private Vertragsrecht aus Sicht des Verfassungsrechts als „sozialstaatliche Imprägnierung des Privatrechts" wahrgenommen. 330 Inhaltlich hat sich auf der verfassungsrechtlichen Grundlage des Sozialstaatsprinzips ein privatrechtliches „Sozialprinzip" herausgebildet, welches zunächst Larenz beschrieben hat: Dieses solle diejenigen schützen, „die auf den Abschluß von Verträgen angewiesen, dabei aber infolge ihrer wirtschaftlichen Unterlegenheit oder mangelnden Geschäftserfahrung typischer324 325 326 327 328 329 330
Ruffert, Vorrang, S. 330; vgl. von Stebut, Sozialer Schutz, S. 5 ff. BVerfGE 89, 214 (232). BVerfGE 81, 242 (255). BVerfGE 97, 169 (185). Dietlein, Schutzpflichten, S. 104 f. Ruffert, Vorrang, S. 340. Stern, Staatsrecht I, S. 900 f.
C. Alternative verfassungsrechtliche Impulse für den Verbraucherschutz
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weise nicht dazu in der Lage sind, ihre Interessen selbst hinreichend wahrzunehmen". 331 Das Sozialstaatsprinzip gibt dem Gesetzgeber den Auftrag, auch in den Wirtschafts- und Privatrechtsverkehr durch Festlegung sozialer Standards aktiv einzugreifen. 332 Die Rechtsprechung ist zu eigenständigem sozialgestalterischen Handeln hingegen nicht befugt. Sie darf ihre Gesetzesauslegung nicht an gesetzesfremden Prinzipien orientieren oder klare Vorgaben des Gesetzgebers unter Berufung auf das Sozialstaatsprinzip manipulieren. 3 3 3 Die Prinzipien der Rechtssicherheit und der Handlungs- bzw. Vertragsfreiheit schließen eine generelle Kompensation von strukturellen Ungleichgewichtslagen durch richterliche Intervention aus, solange die Grundbedingungen formaler und materieller Entscheidungsfreiheit gegeben sind. 3 3 4 In Ansehung der Größe und Heterogenität der Gruppe der Verbraucher kann nicht die Rede davon sein, daß „der" Verbraucher „dem" Leistungsanbieter schlechthin unterlegen sei; der Verbraucherschutz kann folglich nur in begrenztem Umfang, und zwar als Schutz des Schwächeren legitimiert werden. 335 Es geht ihm nicht um den Schutz der Gesamtheit der Bevölkerung in einer abstrakt definierten sozialen bzw. ökonomischen Rolle, sondern um den Schutz der in bestimmten Lebenssituationen vergleichsweise „Schwächeren". Nicht nur die grundrechtliche Betrachtungsebene, sondern auch diejenige des Sozialstaatsprinzips setzt für staatliche Interventionen eine (zumindest abstrakte) Gefährdung bzw. ein Risiko 3 3 6 für den Willensbildungsprozesses voraus. 337 Die bloße Verkörperung der Verbraucherrolle ist nicht ausreichend. Sozialstaatlich motivierter Verbraucherschutz kann erst eingreifen, wenn innerhalb einer Kategorie oder Gruppe von Verbrauchervertragsverhältnissen spezifische Situationen beschrieben werden können, die wenigstens typischerweise ein Risiko für die Freiheit der Willensbildung implizieren. Liegt ein solches Risiko vor, ohne die Schwelle einer schutzpflichtenrelevanten Gefährdung oder gar Störung zu erreichen, ist der Richter gehalten, das Anliegen des Sozialstaatsprinzips, den Schutz des Schwächeren, im Rahmen seiner Gesetzesauslegung und insbesondere bei offen formulierten Tatbeständen - wie den Generalklauseln des Zivilrechts - zu berücksichtigen. Das Sozialstaatsprinzip bietet mithin eine breite normative Legitimation für den Schutz des Verbrauchers im Vertragsrecht. Es fordert den Gesetzge331 332 333 334 335 336 337
Larenz, Bürgerliches Recht AT, S. 36 f. Vgl. Badura, Wirtschaftsverfassung, S. 33 ff.; Neuner; Privatrecht, S. 229. Neuner, Privatrecht, S. 229. Neuner, Privatrecht, S. 277. Neuner, Privatrecht, S. 279. Zum Risikobegriff s.o. Teil 4 C.III. Neuner, Privatrecht, S. 277.
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Teil 6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
ber zu gesetzlichen Vorkehrungen für typische Vertragsrisiken auf, die sich u.a. in bestimmten „risikogeneigten" Vertragsarten oder Formen des Vertragsschlusses manifestieren. Der sozialstaatlich induzierte Verbraucherschutz ist dem sehr engen Bereich grundrechtlich relevanten Verbraucherschutzes vorgelagert. Aus dem Sozialstaatsprinzip alleine lassen sich aber auch im Verbrauchervertragsrecht keine subjektiven Rechte des Verbrauchers ableiten. Subjektive Schutzrechte ergeben sich weder aus der Sozialstaatsklausel noch aus den übrigen Staatsprinzipien und staatsorganisationsrechtlichen Bestimmungen, soweit sich aus ihnen Schutzgebote zugunsten der Verbraucher im Vertragsrecht gewinnen lassen.
I I . Weitere Verfassungsprinzipien, Staatszielbestimmungen und Institutsgarantien 1. Rechtsstaatsprinzip Der Rechtsstaat weist inhaltliche Überschneidungen mit dem Sozialstaatsprinzip auf, soweit man als eines seiner zentralen Ziele die Schaffung von Gerechtigkeit in der Gesellschaft betrachtet. 338 Der Gerechtigkeitsbegriff ist im pluralistischen Staat jedoch im Vergleich zum Sozialstaatsprinzip in noch weitaus stärkerem Maße unbestimmt. 339 Das Ziel materieller Gerechtigkeit kommt zwar in verschiedenen Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips zum Tragen. 3 4 0 Handlungsaufträge an den Staat zum Schutz des Verbrauchers im Vertragsrecht lassen sich ihm nicht entnehmen. 2. Demokratieprinzip Innerhalb des marktkompensatorischen Verbraucherschutzansatzes wird die Forderung nach einem öffentlichen Willensbildungsverfahren erhoben, in dem die Verbraucher an der Produktentwicklung und -Vermarktung beteiligt werden. 341 Wegen der praktisch unmöglichen Abgrenzbarkeit der Gruppe der Verbraucher in personeller Hinsicht liefe dies auf eine Beteiligung der gesamten Öffentlichkeit, also der gesamten Bürgerschaft hinaus. 338
Vgl. aus der Rechtsprechung: BVerfGE 3, 225 (237); 15, 313 (319); 25, 269 (290); 49, 148 (164); 74, 129 (152); hierzu: Robbers, Gerechtigkeit, passim. 339 Vgl. Sommermann, Staatsziele, S. 212. 340 So etwa in der verfassungsrechtlichen Gebotenheit öffentlich-rechtlicher Ersatzleistungen (vgl. Stern, Staatsrecht I, S. 855) oder im Übermaßverbot (vgl. Stern, a.a.O., S. 865). 341 Vgl. Simitis, Verbraucherschutz, S. 155 ff.; Joerges, Verbraucherschutz, S. 96 f.; siehe hierzu oben Teil 6 A.I.3.b).
C. Alternative verfassungsrechtliche Impulse für den Verbraucherschutz
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Ein solcher prozeduraler Schutz der Verbraucher wird für sich in Anspruch nehmen, ein Ausfluß des Demokratieprinzips (Art. 20 Abs. 1 und 2 G G ) 3 4 2 zu sein. Eine Partizipation der Angehörigen des Staatsvolkes in ihrer Rolle als Verbraucher vollzöge sich auch nicht abstrakt in „der" Wirtschaft, sondern müßte sich konkret in jedem einzelnen Unternehmen eines Leistungsanbieters abspielen; das Demokratieprinzip würde dadurch in die privaten Unternehmen hineingeholt. Ein marktkompensatorisch-prozeduraler Verbraucherschutz, der sich aus dem Demokratieprinzip heraus legitimieren wollte, setzt eine „Globalkonzeption" 3 4 3 dieses Prinzips voraus. Eine solche Konzeption verfolgten gesellschaftspolitische Strömungen der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, die eine „Demokratisierung" der Gesellschaft einschließlich der Wirtschaft sowie „Partizipation" und „Mitbestimmung" einforderten. Das Bundesverfassungsgericht hat indes klargestellt, daß sich solche schlagwortartigen Postulate nicht auf das Grundgesetz berufen können. 3 4 4 Die Grundsätze des Art. 20 GG eignen sich nur zur Willensbildung im Staat selbst; nur hier findet das Mehrheitsprinzip in einer „substantiellen Gleichheit" 3 4 5 und prinzipiellen politischen Gleichwertigkeit aller Staatsbürger die erforderliche Grundlage. 346 Die verfassungsrechtliche Trennung von Staat und Gesellschaft ist Bedingung einer freiheitlichen Verfassung. 347
3. Staatliche Infrastrukturverantwortungen aus Art. 87e Abs. 4, 87f Abs. 1 GG Die infrastrukturellen Verfassungsaufträge in Art. 87e Abs. 4 und Art. 87f Abs. 1 GG für das Schienennetz und den Schienenverkehr sowie für Postund Telekommunikationsdienstleistungen stellen nicht nur unverbindliche Programmsätze, sondern normativ verbindliche Staatsziele dar. 3 4 8 Sie beinhalten die Pflicht zur Gewährleistung quantitativ ausreichender und qualitativ angemessener Infrastruktureinrichtungen auf diesen Gebieten. Ausgeschlossen werden soll v.a. die Konzentration des privaten Leistungsanbie342 Zur These einer Verbindung von den „Prinzipien freiheitlicher Demokratie" zur Herstellung sozialer Gleichheit siehe ausführlich Maihof er, HdbVerfR, § 12 Rz. 131 ff. 343 Stern, Staatsrecht I, S. 629 (m. w. Nachw.). 344 Siehe BVerfGE 11, 310 (321) zur organisatorischen Gestaltung der Sozialversicherung. 345 Schmitt, Verfassungslehre, S. 228; Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 133. 346 Hennis, Demokratisierung, S. 23 ff.; Stern, Staatsrecht I, S. 632 f. 347 Vgl. Böckenförde, Unterscheidung, passim; Stern, Staatsrecht I, S. 633. 348 Lerche, FS Friauf, S. 251 (259 f.); Gersdorf, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 87f Rz. 50; ders., a.a.O., Art. 87e Rz. 73.
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Teil 6: Staatliche Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht
ters auf wirtschaftsstarke, dichtbesiedelte Regionen, die den höchsten Gewinn erwarten lassen. 349 Der Staat hat hiermit seine ursprüngliche Erfüllungsverantwortlichkeit auf diesen Gebieten in eine bloße sozialstaatlich und ordnungspolitisch begründete Gewährleistungs- und Überwachungsverantwortlichkeit eingetauscht. 350 Der Staat erfüllt seine Infrastrukturverantwortung zum einen im Wege der Beteiligungsverwaltung und durch den Einsatz fiskalischer Mittel und zum anderen durch hoheitliche, regulierende Eingriffe. 3 5 1 Er muß intervenieren, wenn der Wettbewerb die notwendige Grundversorgung nicht mehr zu gewährleisten vermag. 3 5 2 Die Bestimmungen der Art. 87e Abs. 4 und Art. 87f Abs. 1 GG dienen nicht ausschließlich, aber doch auch der Versorgung der privaten Verbraucher mit Telekommunikations-, Post- und Bahnverkehrsdienstleistungen. Das Verbrauchervertragsrecht ist durch diese Gewährleistungspflichten insoweit berührt als die Versorgung zu akzeptablen Vertragskonditionen und „erschwinglichen" Preisen erfolgen muß. 3 5 3 Eine dem „Wohl der Allgemeinheit" genügende (Art. 87e Abs. 4 GG) bzw. eine „flächendeckend angemessene und ausreichende" (Art. 87f Abs. 1 GG) Versorgung setzt u.a. voraus, daß die den Endverbrauchern eingeräumten bzw. angebotenen Vertragsbedingungen nicht so ausgestaltet sind, daß die Kommunikations- und Transportdienstleistungen für sie praktisch nicht mehr erreichbar sind. Dieser Aspekt der staatlichen Gewährleistungsverantwortung, der auf die Unterbindung „prohibitiver" Vertragskonditionen zielt, generiert mithin objektiv-verfassungsrechtliche Schutzpflichten auch für das Verbrauchervertragsrecht.
4. Der Sonn- und Feiertagsschutz Ein Kernelement seelischer und sozialer „Infrastruktur" unserer Gesellschaft sind die Sonn- und Feiertage. Ihr in Art. 139 WRV i.V.m. Art. 140 GG angeordneter Schutz geschieht nicht um ihrer selbst willen, sondern im Interesse der ruhebedürftigen Menschen. Die Bestimmung stellt eine Konkretisierung sowohl des Sozialstaatsprinzips („Arbeitsruhe") als auch der Religionsfreiheit („seelische Erhebung") dar. 3 5 4 Der Gesetzgeber darf zwar einzelne Feiertage abschaffen, ist aber an die institutionelle Garantie der 349
Kämmerer, Privatisierung, S. 502. Gersdorf, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 87f Rz. 22. 351 Vgl. Windthorst, in: Sachs, GG, Art. 87f Rz. 16. 352 Gersdorf, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG III, Art. 87f Rz. 51. 353 Badura, in: Bonner Kommentar, Art. 87f Rz. 31 (Stand: September 1997); Lerche, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 87f Rz. 75 (Stand: Oktober 1996). 354 Ehlers, in: Sachs, GG, Art. 140 GG/Art. 139 WRV Rz. 1; Kästner, HdbStKR II, § 51, S. 337 (343 u. 350). 350
C. Alternative verfassungsrechtliche Impulse für den Verbraucherschutz
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Sonn- und Feiertage gebunden. 355 Eine subjektiv-rechtliche Berechtigung ergibt sich aus Art. 139 WRV nicht. 3 5 6 Bei der gesetzlichen Ausgestaltung des Schutzes ist er jedoch an ein „Untermaßverbot" gebunden. 357 Die Bestimmung ist damit ein Beispiel für eine objektiv-verfassungsrechtliche Schutzpflicht 358 und Drittwirkung. Geschützt sind durch sie insbesondere die Arbeitnehmer. 359 Art. 139 WRV ist ferner auf den Güterkonsum bezogen. Die Bestimmung ist allerdings keine verbraucherschützende Vorschrift, da sie nicht den Verbraucher beim Konsum, sondern den Grundrechtsträger vor dem Konsum Dritter schützt.
355 Ehlers, in: Sachs, GG, Art. 140 GG/Art. 139 WRV Rz. 1; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 140 GG/Art. 139 WRV Rz. 1; Kästner, HdbStKR II, § 51, S. 337 (339 f.); vgl. BVerwGE 79, 118 (122). Die Ansicht von Anschütz, WRV-Kommentar, Art. 139 Anm. 2 (S. 565), wonach die Bestimmung die Sonntags- und Feiertagsruhe nicht gebiete, sondern sie nur gestatte, verträgt sich mit der heute allgemein akzeptierten Interpretation als institutionelle Sonn- und Feiertagsgarantie nicht. 356 BVerfG (Kammerentscheidung), NJW 1995, 3378 (3379); Kästner, HdbStKR II, § 51, S. 337 (341); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 140 GG/Art. 139 WRV Rz. 1. A.A. Morlok, in: Dreier, GG III, Art. Art. 140 GG/Art. 139 WRV Rz. 19. 357 Ehlers, in: Sachs, GG, Art. 140 GG/Art. 139 WRV Rz. 1. 358 Kästner, HdbStKR II, § 51, S. 337 (344 f.). 359 Ehlers, in: Sachs, GG, Art. 140 GG/Art. 139 WRV Rz. 5 f.
Teil 7
Zusammenfassung und Ergebnisse A. Ergebnisse und Thesen zu Teil 1 und Teil 2 (Grundlagen) 1. „Grundrechtliche Schutzpflichten" sind aus den Grundrechten abzuleitende, positive Pflichten des Staates, zum Schutz der Grundrechtsberechtigten tätig zu werden. 2. Im Rahmen der Schutzpflichtendiskussion darf der axiomatische Leitgedanke nicht aus den Augen verloren werden, daß die Ableitung von Pflichten für Private unmittelbar aus den Grundrechten des Grundgesetzes grundsätzlich nicht in Betracht kommt. 3. Parallel zum Grundrechtseingriff, der die Abwehrseite der Freiheitsgrundrechte aktiviert, kann für die grundrechtliche Schutzpflicht der Terminus eines „Übergriffs" eines privaten „Störers" in die Grundrechtssphäre des zu schützenden „Opfers" herangezogen werden. 4. Auf der Grundlage der von Thomas Hobbes begründeten Staatsvertragstheorie, wird die Garantie der Sicherheit heute als die zentrale Legitimationsgrundlage staatlicher Gewalt verstanden. Die Vertragshypothese selbst ist jedoch eine pure Fiktion ohne Erklärungswert für die Konstituierung und mit sehr begrenztem Erklärungswert für die Entwicklung staatlicher Gewalt. 5. Insbesondere geht das Konzept der Herrschaft als Unterwerfung unter die Autorität eines Fürsten der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Staatenbildung historisch voraus. Selbst in den engeren Rechtsbeziehungen innerhalb einer Grundherrschaft wird das Prinzip der Gegenseitigkeit von Pflichten sowie die Pflicht des Grundherren zum Schutze des Grundholden vor Dritten vielfach überschätzt. Die Gewährleistung von Sicherheit stellt eines von mehreren Leistungsmerkmalen des Territorialstaates dar, mit denen er sich in einem Herrschaftswettbewerb gegen andere, konkurrierende Träger politischer Macht zu behaupten versucht. 6. Während die Staatsvertragstheorien frühneuzeitlicher Prägung den Gegensatz zwischen der Freiheit des Menschen und seinen Bindungen im
B. Ergebnisse und Thesen zu Teil 3
365
Staat auflösen wollten, akzeptiert der liberale Rechtsstaat moderner Prägung den Widerspruch zwischen Freiheit und Bindung und ist bemüht, ihn u. a. durch grundrechtliche Abwehrrechte zu entschärfen. 7. In einer demokratischen Staatsordnung wird die Funktion der Vertragstheorie, der Staatsgewalt Legitimation zu geben, durch eine kontinuierliche, sich v.a. auf die Periodizität von Wahlen gründende Teilhabe aller ersetzt. 8. Der souveräne Staat kann sich jenseits des Staatszweckes Sicherheit weiteren Zwecken verschreiben. Legitimierende Kraft hat in diesem Kontext der Staatszweck der „Wohlfahrt" bzw. der Sozialstaatlichkeit gewonnen, der seinerseits wiederum Quelle von Sicherheitsleistungen des Staates sein kann. Der Staat besitzt einen prinzipiell unbegrenzten Wirkungskreis. Im modernen Verfassungsstaat sind nicht die Zwecke, sondern die Mittel des staatlichen Handelns beschränkt. 9. Ideengeschichtliche Argumente für eine Begründung oder Bestimmung von verfassungsrechtlichen Schutzpflichten scheitern an der für den Verfassungsstaat kennzeichnenden Differenz von „pouvoir constituant" und „pouvoir constitué". Der (vorkonstitutionelle) Staatszweck Sicherheit findet im Widerstandsrecht gegen den pflichtvergessenen Herrscher das Instrument seiner Durchsetzung. 10. Im Text der Grundgesetzes finden sich Aussagen zum Schutz von Privaten in einzelnen Grundrechten (Art. 1 Abs. 1, 6 Abs. 1 und 4 GG), in einer Reihe von Grundrechtsschrankenregelungen (Art. 5 Abs. 2, 11 Abs. 2, 13 Abs. 3 GG), in Kompetenznormen (Art. 73 Nr. 1, 74 Abs. 1 Nrn. I I a , 19, 20, 24) sowie in Art. 139 WRV i.V.m. Art. 140 GG. Weder den Schrankenbestimmungen noch den Kompetenznormen wohnt jedoch grundsätzlich ein materiell verpflichtender Gehalt inne, so daß sie als Quelle staatlicher Schutzpflichten ausscheiden. 11. Fast alle Landesverfassungen enthalten ebenfalls Schutzvorschriften; diese sind an Ausdrücklichkeit und Bestimmtheit den grundgesetzlichen Anknüpfungspunkten von Schutzpflichten zum Teil überlegen.
B, Ergebnisse und Thesen zu Teil 3 (Anerkennung und Begründung) 12. Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten findet ihren Ausgangspunkt in dem grundrechtsdogmatischen „Paukenschlag" (Isensee) des ersten Fristenregelungsurteils. Ältere Judikate des Bundesverfassungsgerichts haben zur Grundlegung dieser neuen Rechtsfigur unmittelbar nichts beigetragen. Die Lehre wurde thematisch fortgeführt mit
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Teil 7: Zusammenfassung und Ergebnisse
dem Schutz vor terroristischen Gewalttaten sowie vor Gesundheits- und Technikgefahren. 13. Die Schutzpflichtenlehre expandiert seit den 1990er Jahren auf breiter Front ins Zivilrecht. Den Höhepunkt erreicht diese Rechtsprechung mit der Bürgschaftsentscheidung, in der das Bundesverfassungsgericht auf der Grundlage der Schutzpflichtenlehre eine Vertragsinhaltskontrolle anhand von Art. 2 Abs. 1 GG vornimmt und die in dem streitgegenständlichen Bürgschaftsvertrag ausgemachte strukturelle Ungleichheit der Vertragspartner zum Anlaß nimmt, den Vertrag für unwirksam zu erklären. 14. Der immense Bedeutungszuwachs der Grundrechte unter dem Grundgesetz ließ das Bedürfnis nach einem verfassungsrechtlichen Gegengewicht zur Abwehrseite der Grundrechte entstehen; dieses Gegengewicht konnte wiederum nur in den Grundrechten gefunden werden. 15. Im Rahmen der Begründung grundrechtlicher Schutzpflichten ist zunächst zwischen einer staatszweckorientierten und einer grundrechtsendogenen Herleitung zu unterscheiden. 16. Selbst wenn man die objektiv-verfassungsrechtliche Geltung des Staatszwecks Sicherheit unterstellt, gelingt es einer von ihm ausgehenden Herleitung nicht überzeugend, die Verbindungslinie zwischen diesem Staatszweck und den Grundrechten als normative Verortung der Schutzpflichten zu ziehen. 17. Auf eine verfassungshistorische Begründungslinie kann sich dieser Ansatz nicht berufen. Mit der dogmatischen Entwicklung der Figur der grundrechtlichen Schutzpflichten wurde im eigentlichen Sinne kein älteres Rechtsprinzip „wiederentdeckt". Eine signifikante Rolle spielte der Sicherheitsaspekt weder in den Vereinigten Staaten von Amerika noch in Frankreich im Zuge der Verfassungsgebung. Auch im deutschen Verfassungsrecht war ein Grundrecht auf Sicherheit bis in die Kodifikation des Grundgesetzes hinein weitgehend unbekannt. 18. Die in Teilen der Literatur vertretene „Einheitsthese" oder „abwehrrechtliche Lösung", derzufolge die grundrechtlichen Schutzpflichten nur ein Unterfall der grundrechtlichen Abwehrdimension sind, ist abzulehnen. Der Staat ist im Regelfall weder Überwachungsgarant für störendes bzw. freiheitsgefährdendes Verhalten einzelner noch verantwortlicher Beschützergarant für die Freiheitssphäre seiner Grundrechtsträger. 19. Das Handlungskriterium bleibt für die Aktivierung der grundrechtlichen Abwehrfunktion unabdingbar. Es ist erfüllt, wenn der Staat eine quasihoheitliche Handlungsbefugnis verleiht, bei staatlich angeordnetem und kooperativem Handeln von staatlichen Stellen und Privaten.
B. Ergebnisse und Thesen zu Teil 3
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20. Im Falle der staatlichen Förderung bzw. Finanzierung privaten Handelns ist es nur dann erfüllt, wenn die Förderung derart dominierend ist, daß der Private sich in der Rolle eines Erfüllungsgehilfen des Staates wiederfindet. 21. Eine bloße staatliche Genehmigung privaten Handelns kann die Abwehrfunktion nicht auslösen. Soweit die Abwehrseite greift, steht - abgesehen vom Fall eines Zusammentreffens des Staatshandelns mit selbständigen Ingerenzen privater Dritter - die Schutzpflicht zurück. 22. Bei der Absenkung eines bestehenden Schutzniveaus mittels Rechtsetzungs- oder Administrativakten ist zwischen Abwehr- und Schutzpflichtenfunktion zu unterscheiden. Wird das Schutzniveau im Wege der Änderung einer Norm abgesenkt, die eine verfestigte, individualschützende und drittgerichtete Rechtsposition des Grundrechtsträgers konstituiert, handelt es sich um einen Grundrechtseingriff, andernfalls kommt nur eine Schutzpflicht in Betracht. 23. Eine solche Schutzpflicht ist dann aber i.d.R. nur verletzt, wenn ein ausreichender Schutz das Vorhalten einer gesetzlichen Eingriffsermächtigung oder einer Verbotsnorm verlangt und diese beseitigt wird. Ein allgemeiner Anspruch auf einfach-rechtliche Wiederholung eines verfassungsrechtlichen Schutzanspruches besteht nicht. 24. Die Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG bildet außerhalb des Schutzbereichs der Menschenwürde keine hinreichende Grundlage für die Schutzpflichtenlehre. 25. Die Schutzpflichten aus den Art. 2 ff. GG erschließen sich unmittelbar aus dem Wortlaut und der Systematik der Freiheitsrechte des Grundgesetzes. Der Freiheitsbegriff dieser Grundrechte ist mehrdimensional. Er ist nicht auf eine Abwehr staatlicher Eingriffe zu verengen, sondern umfaßt auch den Schutz der jeweiligen Freiheitssphäre gegenüber Störungen Dritter. 26. Die Ausblendung dieser zweiten Dimension des Freiheitsschutzes bei der Entstehung des Grundrechtskataloges ist zwischenzeitlich im Wege eines Verfassungswandels korrigiert worden. 27. Der zweidimensionale Freiheitsbegriff wird argumentativ abgesichert durch eine teleologische Auslegung der Freiheitsrechte und eine rechtsvergleichende Betrachtung. 28. Die vielfach bemühte Herleitung der Schutzpflichten aus einer den Grundrechten entnommenen objektiven Wertordnung wird obsolet. Dieser Begründungsansatz ist im übrigen schon wegen der Wesensverschiedenheit von Wert- und Normaussagen - wie sie die grundrechtlichen Schutzpflichten beinhalten - wenig überzeugend.
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Teil 7: Zusammenfassung und Ergebnisse
C. Ergebnisse und Thesen zu Teil 4 (Tatbestand und Reichweite) 29. Ein „Grundrecht auf Sicherheit" existiert allenfalls im Sinne einer Addition der einzelnen, schutzbereichsspezifischen Schutzpflichten und -ansprüche des Grundrechtsträgers. 30. Für Umfang und Inhalt der grundrechtlichen Schutzpflichten ergeben sich bei den natürlichen bzw. sachgeprägten Schutzgütern klarere Vorgaben als bei den rechtserzeugten; zumindest soweit die jeweilige Institutsgarantie bei einem Freiheitsrecht der letzteren Gruppe reicht, reicht aber auch eine grundrechtliche Pflicht des Gesetzgebers, den Freiheitsraum vor Störungen Dritter zu sichern. 31. Im Rahmen einer Unterscheidung der Freiheitsrechte in solche des Entfaltungs- und des Integritätsschutzes wird deutlich, daß die Ermittlung und Konkretisierung einer staatlichen Pflicht zum positiven Schutz entfaltungsbezogener Schutzgüter gegen Übergriffe Dritter vergleichsweise schwieriger ist. Die wechselseitige Durchdringung solcher dynamischer Schutzbereiche verschiedener Grundrechtsträger, legt dem Verfassungsinterpreten eine besondere Zurückhaltung bei der Ableitung konkreter staatlicher Handlungspflichten auf. 32. Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) folgen keine Schutzpflichten. Auch den speziellen Differenzierungsverboten des Art. 3 Abs. 3 GG kann eine solche nicht entnommen werden. Lediglich Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG verpflichtet den Gesetzgeber zu positivem Tun im Hinblick auf die Beendigung von Geschlechterdiskriminierungen. 33. Die Schutzpflichten können keine Freiheit von individuell empfundener „Furcht" oder „Angst" garantieren. 34. Der Schutz vor staatlichen Maßnahmen fällt aus dem Anwendungsbereich der grundrechtlichen Schutzpflichten heraus. Soweit staatliche Grundrechtsgefährdungen nicht durch ein bloßes Nichthandeln des Staates in Erfüllung der Abwehrseite der Freiheitsrechte beseitigt werden können, kommen die grundrechtlichen Einrichtungsgarantien (Institutsund institutionelle Garantien) sowie v.a. der Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren in Betracht. 35. Störer oder Opfer einer Schutzpflichtenkonstellation können auch die öffentlich-rechtlich organisierten Religionsgemeinschaften sein, soweit sie nicht kraft (gesondert) übertragener Hoheitsbefugnisse handeln. Die Schutzpflicht aus Art. 4 Abs. 1 GG hält den Staat insbesondere dazu an, Religionsgemeinschaften oder private Dritte vor den Angriffen und
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Behinderungen anderer Religionsgemeinschaften oder Einzelpersonen zu schützen. 36. Die Schutzpflichten schützen vor im Ausland resultierenden Übergriffen oder Gefahren für (deutsche oder ausländische) Inländer. Gegenüber im Ausland befindlichen privaten Störern sind die staatlichen Handlungsmöglichkeiten jedoch auf defensive Schutzvorkehrungen im Inland und die Nutzung diplomatischer (indirekter) Einwirkungsmöglichkeiten beschränkt. Auch gegen ausländische staatliche Störer greift die Schutzpflicht; sie verleiht ein Recht auf diplomatische Schutzhandlungen und Maßnahmen der Landesverteidigung. Die grundrechtliche Schutzpflicht gilt ferner zugunsten Deutscher im Ausland, jedoch mit eingeschränkten Möglichkeiten ihrer Umsetzung, die sich auf diplomatischen Schutz beschränken. Ausländer genießen in Deutschland - abgesehen von den Besonderheiten der Deutschen-Grundrechte - grundrechtliche Schutzansprüche wie deutsche Staatsbürger. Im Ausland kommen ihnen die grundrechtlichen Schutzpflichten des deutschen Verfassungsrechts nicht zugute. Die einzige Ausnahme stellt der Schutz vor staatlichen „Störungen" im Schutzbereich des Asylrechts dar. 37. Die Personen Verschiedenheit von Störer und Opfer sind im System der Schutzpflichten unverzichtbares Wesensmerkmal. In Fällen freiverantwortlicher Selbstschädigung und übernommenen Risikos sind die Schutzpflichten daher nicht anwendbar. Der Staat muß den Grundrechtsträger nicht gegen oder vor sich selbst schützen. 38. Aus den gleichen Gründen scheiden auch körperimmanente Gesundheitsstörungen als Auslöser grundrechtlicher Schutzpflichten aus. 39. Schutzpflichtenauslösend können hingegen von privaten Dritten ausgehende Infektionserkrankungen sowie vorsätzliche oder fahrlässige Körperverletzungen oder Gesundheitsgefahren ebenso sein wie sonstiges einseitiges gefährliches Tun Dritter, das sich unmittelbar auf einen Grundrechtsberechtigten auswirkt. Die Gefährdung muß bestimmten Personen oder jedenfalls einer nach abstrakten Kriterien klar abgrenzbaren, homogenen Personengruppe zugeordnet werden können. 40. Im Bereich der medizinischen Versorgung besteht für die grundrechtlichen Schutzpflichten nur ein enger Anwendungsbereich; die verfassungsrechtliche Bewertung gesetzlicher Vorschriften, gubernativer oder administrativer Akte muß i.d.R. auf sozialstaatliche Grundsätze ausweichen. 41. Mangels einer hinreichend konkreten Beziehung zwischen bestimmten Emittenten und bestimmten Geschädigten finden grundrechtliche Schutzpflichten im Immissionsschutzrecht regelmäßig keine Anwendung. Eine 24 Krings
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Teil 7: Zusammenfassung und Ergebnisse
Ausnahme können lokale Emissionen bilden, die sich nur im Nahbereich auswirken (insbes. bei Lärm- oder Geruchsemissionen). 42. Die grundrechtlichen Schutzpflichten schützen nicht vor Naturgewalten. 43. Der Tatbestand der grundrechtlichen Schutzpflicht ist erst mit dem Überschreiten einer bestimmten Übergriffsschwelle erfüllt. 44. Nur störendes bzw. gefährdendes privates Handeln, nicht privates Unterlassen kann eine Schutzpflicht auslösen. Etwas anderes gilt nur, wenn das Grundgesetz eine „Schutzhandlungspflicht" ausdrücklich anordnet (Art. 14 Abs. 2 GG zu Lasten des Eigentümers und Art. 6 Abs. 4 GG zugunsten der Mutter) oder zwei Personen auch verfassungsrechtlich dergestalt einander zugeordnet sind, daß die eine notwendigerweise für die andere Verantwortung zu übernehmen hat (die Mutter für den nasciturus). 45. Schon die konkrete Gefährdung eines grundrechtlichen Schutzbereichs erfüllt den Übergriffstatbestand. Ein bloßes Risiko reicht hingegen nicht aus. 46. Im Rahmen der Abgrenzung zwischen Risiko und Gefahr ist bei der Ermittlung der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Schadensereignisses die Zahl der potentiellen Opfer ohne Relevanz. Eine hohe Zahl an möglichen Opfern bei sog. „Kollektivrisiken" kann jedoch im Rahmen der Auswahl der Schutzmaßnahmen und der Bestimmung des Schutzniveaus das staatliche Ermessen einschränken. 47. Die Einführung der „Rechtswidrigkeit" als Tatbestandsmerkmal des Übergriffs würde zu einem Zirkelschluß führen und ist abzulehnen.
D. Ergebnisse und Thesen zu Teil 5 (Rechtsfolgen) 48. Ein der Schutzpflicht korrespondierendes subjektives Recht des zu Schützenden wird in Rechtsprechung und Literatur zwar weitgehend anerkannt. Eine dogmatisch zwingende Begründung gelingt auf der Basis eines Verständnisses der Schutzpflichten als einer objektiven Grundrechtsfunktion indes nicht. 49. Der angeführte Gedanke einer „Wirkkraftverstärkung" der Freiheitsrechte durch eine Subjektivierung der Schutzpflichten läßt sich plausibler bereits für ihre subjektive Herleitung fruchtbar machen. 50. Die Besorgnis einer durchgängigen Subjektivierung rein objektiver Normen des einfachen Gesetzesrechts über das Vehikel der grundrechtlichen Schutzpflicht ist unbegründet, da die Schutzpflichten dem Gesetz-
D. Ergebnisse und Thesen zu Teil 5
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geber auch die Wahl lassen, ob er den gebotenen Schutz einfachrechtlich im Wege der Schaffung von Rechtsansprüchen oder bloßen objektiven Pflichten umsetzt. 51. Die Wirksamkeit der grundrechtlichen Schutzpflicht erweist sich erst auf der Ebene ihrer Umsetzung durch Exekutive und Jurisdiktion. Eine einseitige Fokussierung auf legislative Pflichten ist daher nicht gerechtfertigt. 52. Auf der primären Schutzpflichtenebene muß der Gesetzgeber den übrigen Gewalten Eingriffsbefugnisse als Voraussetzung ihrer Schutzbemühungen zur Verfügung stellen. 53. Auf der sekundären Schutzpflichtenebene sind Einrichtungen mit einer angemessenen personellen und sachlichen Ausstattung sowie eine (gesetzliche) Ordnung ihres Verfahrens vorzuhalten. Ferner müssen die vorhandenen Kompetenzen und Ressourcen effektiv ausgeschöpft werden. 54. Eine Zweistufigkeit von primärer und sekundärer Schutzpflichtenebene besteht nicht durchgängig. Zum einen mag der appellative Charakter des reinen Gesetzestextes bei weniger empfindlichen Schutzgütern ausreichen. Zum anderen bedarf ein Handeln der Exekutive keiner gesetzlichen Grundlage, sofern und soweit es nicht in Störer-Grundrechte eingreift. 55. Bund und Länder sind in ihrem jeweiligen Kompetenzbereich zur Umsetzung und Konkretisierung der Schutzpflichten berufen. Eine Reserveverantwortung des Bundes besteht nicht. Das gilt auch für Warnungen und sonstiges informatorisches Staatshandeln. 56. Die Schrankenbestimmungen der Grundrechte beziehen sich nur auf die Abwehrseite der Grundrechte und sind auf die Schutzpflichten nicht anwendbar. Ein hinter einem Schutzoptimum zurückbleibendes Schutzniveau muß zu seiner verfassungsrechtlichen Rechtfertigung daher die Voraussetzungen der Schrankenbestimmungen nicht erfüllen. 57. Soziale Leistungsrechte folgen aus den grundrechtlichen Schutzpflichten auch nicht im Sinne einer Gewährleistung der tatsächlichen Voraussetzungen der Inanspruchnahme der Freiheitsrechte des Grundgesetzes (sog. Grundrechtsvoraussetzungsschutz). 58. Ein Anspruch auf optimalen staatlichen Schutz besteht im Anwendungsbereich der Schutzpflichten schon dem Grunde nach nicht. Im Vergleich zur Abwehrfunktion, die das Nicht-Handeln des Staates verlangt, ist dem Staat bei der Erfüllung seiner Schutzpflicht eine Fülle von positiven Handlungsoptionen eröffnet. 24*
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59. Der Staat kann aktiven Schutz an der Störungsquelle leisten. Dies beinhaltet im Regelfall einen Eingriff in Störer-Grundrechte, kann ausnahmsweise aber auch durch einvernehmliche Änderung des Störerverhaltens gelingen. Aufgrund des Rechtsstaatsprinzips i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG dürfen gesetzlich normierte Verfahren jedoch nicht im Einzelfall willkürlich auf Druck Privater durchbrochen werden. 60. Alternativ oder kumulativ kann der Staat auch beim Opfer der Störung schützende Maßnahmen ergreifen. 61. Ein Anspruch auf nachträgliche Heilung bereits eingetretener Störungsfolgen durch den Staat folgt nicht aus den Schutzpflichten. Die Schutzpflichten gebieten insoweit lediglich, daß der Staat in Gestalt des Zivilprozesses ein wirksames Instrument zur Liquidation des Anspruchs gegen den Störer vorhält. Hat der Staat seine originäre Schutzpflicht zuvor schuldhaft verletzt und konnte dadurch der durch Dritte zugefügte Schaden erst eintreten, kommt ein Amtshaftungsanspruch des Opfers in Betracht. 62. Der Staat kann sich zur Erfüllung seiner Schutzpflichten Privater bedienen. Setzt er Verwaltungshelfer ein, so besteht diesen gegenüber kein Schutzanspruch; der Staat bleibt insoweit in der Verantwortung. Handelt er durch Beliehene, so sind diese Gegner eines grundrechtlichen Schutzanspruches; die beleihende staatliche Stelle bleibt aber ebenfalls schutzverpflichtet. 63. Bei der Ermittlung der Schutzpflichtenkonkretisierung handelt es sich um eine Prognoseentscheidung. Insbesondere dem Gesetzgeber, aber auch der Exekutive ist daher ein weites Ermessen im Hinblick auf die Bestimmung des Schutzniveaus und die Auswahl der Schutzmittel einzuräumen. 64. Die Konkretisierung der Schutzpflicht und die Auswahl von Schutzmitteln und -methoden sollen die Merkmale der Übergriffsintensität, des Wirkungsstadiums der möglichen Schutzmaßnahmen, des quantitativen Ausmaßes von Störung oder Gefahr, den erforderlichen Schutzaufwand und insbesondere den Gedanken der Subsidiarität staatlichen Schutzes berücksichtigen. 65. Der Staat soll dem schutzpflichtenimmanenten Subsidiaritätsprinzip entsprechend vorrangig solche Schutzstrategien bereitstellen, die dem einzelnen einen Schutz nicht aufdrängen, sondern ihm Instrumente anbieten, mit deren Hilfe er unter größtmöglicher Eigenverantwortung seinen Schutz mit staatlicher Hilfe selbst betreiben kann. Pflichtenmindernd zugunsten des Staates wirken sich nicht erst private Schutzvorkehrungen, sondern schon die Möglichkeit dazu aus.
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66. Die grundrechtliche Schutzpflicht ist Auftrag und nicht Befugnis für den Staat. Sie legitimiert Exekutive und Judikative nicht unmittelbar zu Eingriffen in die Abwehrrechte des Störers, sondern setzt grundsätzlich eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage voraus. 67. Fehlt eine zur ausreichenden Schutzgewährung unerläßliche gesetzliche Eingriffsgrundlage, so ist den Gerichten sowie der Exekutive in engen Grenzen die Schaffung einer für den Einzelfall geltenden Notbefugnis zum Grundrechtseingriff einzuräumen. Die fachrichterliche ad-hocSchließung einer solchen Befugnislücke setzt im Anwendungsbereich nachkonstitutionellen Gesetzesrechts eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht analog Art. 100 Abs. 1 GG voraus. 68. Die Schutzpflichten schaffen ferner eine verfassungsrechtliche Gegenposition, die gegenüber vorbehaltlos gewährleisteten Abwehrrechten die Grundlage einer gesetzlichen Eingriffsermächtigung (verfassungsunmittelbare Schranke) bilden kann. 69. Schutzpflichten ihrerseits sind durch kollidierende Grundrechtspositionen insbesondere in der Abwehr-, aber auch wiederum in der Schutzpflichtenfunktion sowie durch objektives Verfassungsrecht beschränkbar. 70. Das Untermaßverbot hat gegenüber dem Übermaßverbot eine eigenständige Bedeutung. Abweichungen bestehen zwischen den Kriterien der Erforderlichkeit einerseits und der Effektivität andererseits sowie z.T. in bezug auf das Kriterium der Geeignetheit. Bei einem Schutzhandeln, das zugleich einen Eingriff in Störergrundrechte darstellt, ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen, welche Elemente des Überund Untermaßverbotes miteinander verschränkt.
E. Ergebnisse und Thesen zu Teil 6 (Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht) 71. Verbraucherinteressen lassen sich zum Zwecke ihrer Einordnung in das Freiheitskonzept der Grundrechte als die Freiheitsposition der „Konsumentensouveränität" beschreiben. 72. In der Sozialen Marktwirtschaft, die aus der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie des Ordoliberalismus hervorgeht, laufen das Interesse an der Aufrechterhaltung eines funktionierenden Wettbewerbs und das Interesse am Verbraucherschutz parallel. Die Gewährleistung eines funktionierenden Marktes dient dem Schutz der Verbraucher. 73. Die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes verbietet zwar eine unmittelbare Ableitung von Rechtsfolgen aus den Lehren von
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Ordoliberalismus oder Sozialer Marktwirtschaft. Aufgrund einer Vielzahl negativer Aussagen mit Bezug zu einer Wirtschaftsordnung - v. a. in den Grundrechten und Staatsprinzipien - läßt sich der Verfassung eine freiheitliche Grundentscheidung entnehmen, womit sie jedenfalls zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung tendiert. 74. In der Verbraucherschutzpolitik konkurrieren marktkomplementäre und marktkompensatorische Schutzansätze. 75. Der marktkomplementäre Ansatz fokussiert - auf der Grundlage eines angenommenen und zu sichernden funktionierenden Wettbewerbs am Markt - auf Information und Bildung des Verbrauchers. 76. Der marktkompensatorische Ansatz geht von prinzipiell irrational entscheidenden Verbrauchern aus. Er bezweckt daher eine (partielle) Substituierung von Marktprozessen durch ein Verfahren der öffentlichen Willensbildung, welches bereits auf den Produktionsprozeß einwirkt. Dieser Ansatz begegnet verfassungsrechtlich indes nicht zu überwindenden Bedenken wegen der mit ihm verknüpften Grundrechtseingriffe. 77. Ziel des staatlichen Verbraucherschutzes muß es sein, das Funktionieren des marktwirtschaftlichen Systems in den Beziehungen zwischen Anbietern und Verbrauchern zu gewährleisten. 78. Aus Sicht der grundrechtlichen Garantie der Vertragsfreiheit verdient das Konzept einer formellen Vertragsfreiheit, die auf den Parteiwillen und nicht auf die inhaltliche Richtigkeit einer Vereinbarung abstellt, den Vorzug gegenüber einem Konzept der materiellen Vertragsfreiheit. Vertragsfreiheit wird verfassungsrechtlich um der Freiheit und nicht um der Gerechtigkeit willen gewährleistet. 79. Der weitgehend beigelegte Streit um die Drittwirkung der Grundrechte wurde mit dem Eindringen der Schutzpflichtendogmatik in das Privatrecht im Handelsvertreterbeschluß des Jahres 1990 und dem Bürgschaftsbeschluß des Jahres 1993 erneut entfacht. 80. Der Zivilrechtsgesetzgeber ist unmittelbar an die Grundrechte gebunden; relevant wird ihm gegenüber bereits ihre Abwehrdimension. Der Erlaß dispositiven Rechts besitzt jedoch regelmäßig keine Eingriffsqualität. 81. Auch die Zivilgerichte sind unmittelbar grundrechtsgebunden; ihre prozessualen Entscheidungen unterliegen den Abwehrrechten. Eine unmittelbare Grundrechtsbindung ihrer Auslegung des Vertrags- und dispositiven Gesetzesrechts ist abzulehnen und wäre nur um den Preis des Auseinanderfallens der materiellen Rechtslage und des gerichtlichen Prüfungsmaßstabes zu begründen.
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82. Darüber hinaus wirken die Grundrechte mittelbar in das Zivilrecht hinein. Sie stellen insoweit eine Konkretisierungsvariante der Schutzpflichten dar: Die grundrechtlichen Schutzpflichten leisten die - bislang nur unzureichend gelungene - dogmatische Begründung für die mittelbare Privatwirkung der Grundrechte. 83. Allerdings sind mittelbare Drittwirkung und Schutzpflichten nicht dekkungsgleich. Die Schutzpflichten können auch auf dem Gebiet des materiellen Zivilrechts nicht ausschließlich durch die mittelbare Drittwirkung zur Umsetzung gelangen. Umgekehrt können auch andere Grundrechtsfunktionen (außerhalb der Schutzpflichten) eine mittelbare Privatwirkung der Grundrechte induzieren. 84. Das Bundesverfassungsgericht ordnet in der Bürgschaftsentscheidung die (grundrechtliche) Vertragsfreiheit und die (grundrechtliche) Privatautonomie implizit in eine Hierarchie ein, in welcher die Vertragsfreiheit Achtung nur dann verdient, wenn sie nicht aufgrund einer strukturellen Disparität der Vertragspartner dem übergeordneten Prinzip der Privatautonomie widerspricht. 85. Die Verbraucherfreiheit oder Konsumentensouveränität ist eine Ausprägung der Privatautonomie, die ihrerseits wiederum einen Unterfall der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) darstellt. Aufgrund ihrer Rechtserzeugtheit und ihres dynamischen Charakters bildet die Konsumentensouveränität eine nur schwach konturierte Freiheitsposition. Je weiter man den Schutzbereich der Privatautonomie ausbaut, desto eher wird der schutzpflichtendogmatisch gesicherte Boden verlassen. 86. Bei rechtsgeschäftlichem Handeln fehlt es auch im Falle einer „imparitätischen" Rechtsbeziehung i.d.R. an einem privaten Übergriff, der für die Annahme einer grundrechtlichen Schutzpflicht unverzichtbar ist. Soweit die unerwünschten (wirtschaftlichen) Folgen eines Vertrages auf eine autonome Entscheidung zurückzuführen sind, scheidet ein Übergriff aus. 87. Ein heteronomer Ursprung (Fremdbestimmung) ist anzunehmen, (1.) wenn der Unternehmer auf die Entschließungsfreiheit bei Vertragsschluß unzulässig einwirkt, (2.) wenn der Verbraucher über ein - nunmehr nachteilig betroffenes - grundrechtliches Schutzgut außerhalb der Privatautonomie nicht verfügen wollte und die diesbezüglichen negativen Auswirkungen objektiv unvorhersehbar waren oder (3.) wenn der Unternehmer bei der Vertragsdurchführung deliktisch bzw. deliktsähnlich handelt. 88. Strukturelle Ungleichgewichtslagen eignen sich nicht als Anknüpfungspunkt für eine grundrechtliche Vertragsinhaltskontrolle.
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Teil 7: Zusammenfassung und Ergebnisse
89. Soweit Schutzpflichten im Verbrauchervertragsrecht zur Anwendung kommen, sind Verbraucherinteressen mit dem Abwehrrecht des Unternehmers auf Erhaltung des Vertrages im Rahmen einer strengen Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes abzuwägen. 90. Das Erforderlichkeitsprinzip und das ermessensleitende Kriterium der Subsidiarität lassen auch im Anwendungsbereich der grundrechtlichen Schutzpflichten eine richterliche Vertragsinhaltskontrolle und Neugestaltung des Vertragsverhältnisses nur dort als ultima ratio zu, wo ein marktkonformer, insbesonderer informatorischer Verbraucherschutz keinen effektiven Schutz mehr bietet. 91. Die Sozialstaatsklausel zielt als verbindliches Rechtsprinzip auf den Schutz des Schwächeren und die Kompensation von Ungleichgewichtslagen. Sie ist nicht nur auf staatliche Leistungen gerichtet; aus ihr folgt daneben eine Solidaritätsmaxime, die für die Rechtsverhältnisse Privater untereinander Bedeutung erlangt. Das Sozialstaatsprinzip wirkt in das Privatrecht hinein. 92. Es bietet deshalb für weite Teile des Verbraucherschutzrechts einschließlich des Verbrauchervertragsrechts einen verfassungsrechtlichen Handlungsauftrag. Sozialstaatlich motivierter Verbraucherschutz setzt jedoch voraus, daß eine bestimmte Gruppe oder Art von Verbrauchervertragsverhältnissen wenigstens typischerweise Risiken für die freie Willensbildung mit sich bringt. 93. Das Sozialstaatsprinzip wendet sich in erster Linie an den Gesetzgeber, dem es einen Gestaltungsauftrag erteilt. Für die Fachgerichte bildet es eine Auslegungsmaxime bei der Anwendung einfachen Rechts; es ermächtigt sie nicht zur Heranziehung gesetzesfremder Prinzipien oder zu eigenständigem sozialgestalterischen Handeln contra legem. Ein Rechtsanspruch auf Schutz erwächst dem Verbraucher aus dem Sozialstaatsprinzip nicht. 94. Rechtsstaats- und Demokratieprinzip können für den Verbraucherschutz nicht fruchtbar gemacht werden. 95. Die Infrastrukturverantwortungen der Art. 87e Abs. 4, 87f Abs. 1 GG weisen nur geringe Überschneidungen mit dem Verbraucherschutz auf; die von ihnen garantierte Versorgung der Allgemeinheit impliziert auch eine objektive Schutzpflicht des Staates mit dem Ziel der Vermeidung gänzlich unangemessener und folglich „prohibitiver" Vertragskonditionen. 96. Die Sonn- und Feiertagsgarantie des Art. 139 WRV i.V.m. Art. 140 GG schützt als Ausprägung des Sozialstaatsgedankens zwar auch den einzelnen Menschen, jedoch nicht beim, sondern vor dem Konsum.
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Sachverzeichnis Abwehrfunktion der Grundrechte 18, 21, 23, 25, 48, 56, 61, 84-85, 87, 9899, 101-105, 108, 114-115, 120, 126, 128, 134, 139-142, 146, 154, 164, 186, 188, 191, 195-196, 200, 223, 225, 234, 240, 254-255, 257, 262263, 269, 286, 290, 292-293, 301302, 322-326, 347, 366-367, 371 - Abwehrfunktion, Vorrang 100 Abwehrrecht 90 abwehrrechtliche Lösung 104 ff., 124 - Einheitsthese 105 Adressaten grundrechtlicher Schutzpflichten 234,242,244 AIDS-Bekämpfung 210 Aktiver Schutz 263 allgemeine Handlungsfreiheit 176, 178, 350 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 92 allgemeines Persönlichkeitsrecht 78, 175 Allokation von Spenderorganen 138 Altliberale 308 Angemessenheit 303, 304 Angriffskrieg 197 Anspruch auf Schutz 234 ff. Arbeitsschutz 69 Arzt-Patient-Verhältnis 137 Asylrecht 51, 146, 201 Auftragsvergabe 130 Ausländer 195, 197-198, 201 Auslandsbezug grundrechtlicher Schutzpflichten 194 ff. Auslandsschutz 199 Ausstrahlungswirkung 332 ff. Auswahl der Schutzinstrumente 262
Auswahlkriterien 273 ff. auswärtige Gewalt 196 Bagatellgrenze 230 Baugenehmigung 126 Bedarfsdeckungsgeschäfte 130 Befugnis zu quasi-hoheitlichem Handeln 116 Behandlungsvertrag 137 Beliehene 192, 269 Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht 270, 302 Bereitstellung eines Medikaments 211 Berufsfreiheit 77, 174 Beschützergarant 108, 121, 366 Brief- und Femmeldefreiheit 174 Bundesverfassungsgericht 274, 287, 290, 292 Bürgschaftsentscheidung 17, 75 ff., 78, 140, 172, 319-321, 358, 366, 375 Dauerschuldverhältnisse 337, 345 Deliktsähnlichkeit 346 Deutschengrundrechte 194, 199 diplomatischer Schutz 200 Dispositionsgrundsatz des Zivilprozeßrechts 279 dispositives Recht 323 Drei-Elemente-Lehre 196 Drittwirkung der Grundrechte 74 ff., 321, 326 ff. Drittwirkung des allgemeinen Gleichheitssatzes 337 dualer Einwirkungsschutz 164, 171 Duldungspflicht 106, 115 Effektivität 304 Eheschutz 175, 179
Sachverzeichnis
Eigentumsbegriff 114 Eigentumsschutz 177-178 Eingriff 103-104, 106, 114, 126, 137 Eingriff durch Unterlassen 104, 107 Eingriffe in Störergrundrechte 282 Eingriffsermächtigung 283 Einheit der Rechtsordnung 107, 114, 333 Einschätzungsspielraum 270 Einstufige Schutzpflichtenkonstellationen 248 Eintritts Wahrscheinlichkeit 231-232 Entfaltungsschutz 182-183 Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts 291 Entstehungsgeschichte der Grundrechte 97 f., 102, 154 ff. Erforderlichkeit 304 Erfüllung 272 Erpessung des Staates 265 Erziehungspflicht 63 Familienschutz 175 Femaufklärung 264 Fiskalgeltung der Grundrechte 130 Fluglärm 217 Folgenbeseitigungsanspruch 267 Förderung und Finanzierung, staatliche 118 f., 128 ff. Frankfurter Reichsverfassung von 1848/49 94 Frankreich 90 Freiheitsbegriff 110 Freiheitsräume 161-162 Fremdbestimmung 346 Friedenspflicht 105 Fristenregelungsentscheidungen 17, 60, 62, 70 ff., 298 Furcht, Freiheit von 188-189 Garantenstellung 105, 107-108 - staatliche 124 ff. Geeignetheit 304 Gefahr 231
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Gefährdungsniveau 67, 222 Gefahrenbegriff 229 Gefahrenquellen 188, 221 Gefahrenschwelle 223 Gefahrerforschung 264 Gehorsamspflicht des Beamten 287 Geiselnahme 265 Genehmigung, staatliche 21, 68, 81, 111, 113, 115-116, 118, 126-128, 198, 207, 367 Genehmigungsvorbehalt 128 Generalklauseln des Privatrechts 322, 335 f. Gerechtigkeitsbegriff 360 Gesetzesfreier Schutz 249 Gesetzeskonkurrierendes Richterrecht 251 Gesetzesmediatisierung der Schutzpflicht 244 Gesetzesvorbehalt 245, 256 Gestaltungsspielraum 272, 274 f., 297, 300 Gesundheitsschutz 67, 69-70, 75, 136, 139 Gesundheitsstörungen 210 Gewaltenteilungsgrundsatz 310 Gewaltmonopol 100 ff., 280 Glaubensfreiheit 283 Gleichberechtigung von Männern und Frauen 187 Gleichheitsrechte 22, 185 Grundherrschaft 34 Grundrechte im Privatrecht 322 Grundrechtsadressaten 153 Grundrechtsgefährdung 225, 227 Grundrechtsschranken 51, 53, 147-148, 153, 169, 218, 220, 254, 256, 261, 292 Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren 21, 64, 68, 85, 92, 193-194, 252, 368 Grundrechtstheorien 167, 169 Grundrechtsübergriff 215, 230 Grundrechtsunmittelbarkeit der vollziehenden Gewalt 289
414
Grundrechtsverzicht 341 Grundrechtsvoraussetzungsschutz 258, 349 Grundrechtszentriertheit 84, 87
Sachverzeichnis
257,
Handels Vertreterentscheidung 75-77, 319, 358 Heilung 267 Helmpflicht 206 Herabsetzen des Schutzniveaus 135 Herrschaftsverträge 28 ff. Hilfsgeschäfte 130 Horizontalwirkung 357 Immissionen 104 Infektionskrankheiten 212 Information 267 infrastrukturelle Staatsaufgaben 40 Infrastrukturverantwortungen 361 Inhaltskontrolle von Verträgen 319 Institutsgarantien 180, 181, 339, 360 Integritätsschutz 182-183 Internationale Schutzpflichten 24 Kalkar-Entscheidung 67, 260 Kassenarzt 137 Kernenergie 54 Kleinemittenten 216 Koalitionsfreiheit 175, 178, 329 Kollektivrisiken 232 Kollision der Grundrechtsfunktionen 139 Kollision mit objektivem Verfassungsrecht 295 Kommunikationsfreiheiten 174 Kompensationsargument 100 ff. Kompetenzordnung 52 ff. Kompetenztitel 49 Kompetenzverteilung im Bundesstaat 252 Kongruenzthese 299-300 konkrete Normenkontrolle 287 Konkretisierung der Schutzpflichten 254 Konsumentenfreiheit 340, 344, 349
Konsumentensouveränität 307, 312, 339, 346 Koordinator der Freiheitssphären 198, 219 Körperverletzungen 212 Landesherrschaft 37 Landesverfassungsgerichte 287 Landesverfassungsrecht 56 ff. Landesverteidigung 201 Legitimation von Grundrechtseingriffen 140 legitimes Handlungsziel 304 Lehnsrecht 33 ff. Leistungsansprüche 238 Leistungsrechte 63, 257 Lüth-Urteil 323,327 Marktkompensatorischer Verbraucherschutz 312 Marktkomplementärer Verbraucherschutz 310 Mehrdimensionalität des grundrechtlichen Freiheitsbegriffs 164, 235 Mehrzahl von Beteiligten 216 menschenrechtlicher Mindeststandard 197 Menschenwürde 50, 61, 71, 142-143 Menschenwürdebegriff 207 militärischer Schutz 200 Mittelauswahl 254 mittelbare Drittwirkung 331-332, 336337 mittelbarer Grundrechtseingriff 269 Mitverantwortung 115, 129 Mülheim-Kärlich-Entscheidung 68, 115,
118, 128, 260
Nachbarklage 127 Nachbesserungspflicht 69 Naturgewalten 217-219 Nichtanwendungsentscheidung 288 Nichtigerklärung 274 Nordamerika 88
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Normbereich 159 Normprogramm 159 Notbefugnis 285 Notwehrrechte 117 objektive Wertentscheidung 164, 166 objektive Werteordnung 64, 166, 170 objektives Individualrisiko 232 Offenheit staatlicher Zwecksetzung 38 optimaler Schutz 259, 262 Optimierungsgebote 262, 295 Ordnungsfunktion des Marktes 308 Ordoliberalismus 309 Organtransplantation 211,213 Parlamentarischer Rat 154 Parlamentsvorbehalt 296 Partizipation 361 Partizipation an unternehmerischen Entscheidungsprozessen 313 Passiver Schutz 266 Peep-Show-Entscheidung 207 Personenverbandsstaat 36 Physiokraten 91 Polizeigesetzgebung 38 Polizeirecht 229, 231 primäre Schutzpflicht 244-245 Primat der Abwehrrichtung 88 Primat der Freiheit 109 Privatautonomie 76, 78, 119, 128, 176, 178, 315, 320, 326, 329, 333-334, 339-341, 344, 349, 358, 375 private Sicherheitsvorkehrungen 281 Privatisierung 18, 142 Privatrecht 342 Prognoseentscheidung 269-271, 302 Prozeßgrundrechte 193 Prüfungskompetenz der Gerichte 272 Prüfungsmaßstab 272, 325, 335 Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts 260 Quantitatives Moment 277 quasi-hoheitliches Handeln 117, 191
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Rationalisierung einfachrechtlicher Entwicklungen 230 Recht auf Rausch 206 Rechtserzeugte Schutzgüter 177 Rechtsfolgenseite 234 Rechtsfortbildung 289 Rechtsstaatsprinzip 265, 267, 310, 360 Rechtswidrigkeit 233 Religionsfreiheit 183, 205 Religionsgemeinschaften 192 Remonstrationsverfahren 287-288 Reserveverantwortung 252 richterliche Fortbildung von Eingriffstiteln 290 Risiko 229 Risiko, übernommenes 208 Risikovorsorgepflichten 230 Schadensausmaß 231 Schadenswahrscheinlichkeit 231 Schleyer-Entscheidung 66, 265 Schrankenauftrag an den Gesetzgeber 293 Schrankenbestimmung 52 Schrankenregelungen 52, 254 Schutz durch Eingriff 263 Schutz gegen sich selbst 203, 206, 208 Schutz ohne Eingriff 264 Schutzansprüche 235 Schutzaufwand 277 Schutzbereich 161 Schutzbereichskonzept 150 Schutzerfolg 273 Schutzgürtel 141, 162 Schutzinstrumente 263, 274 Schutzkonzept 274 Schutzlücke 294 Schutznormlehre 235 Schutzpflichten-Dreieck 190 f., 220 Schutzpflichtenebenen 243 Schutzpflichtenhypertrophie 347 schutzpflichtenimmanente Kollisionslagen 294
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Schutzpflichtenkollisionen 282 Schutzrichtungen 188 ff. Schutzstrategien 244, 263 sekundäre Schutzpflicht 106, 244, 246 Selbstbestimmung 345-346 Selbstgefährdung 208, 209 Selbstschädigung 342 Selbstschutzmöglichkeit 278 Selbstverteidigung 107 Sicherheit als Staatszweck 49 Sicherheit, Grundrecht auf 172 Sicherheitswettbewerb 36 Solidaritätsmaxime 356 Sonderstatusverhältnisse 123 Sonn- und Feiertagsschutz 55, 58, 362 Souveränität 109 Sozialadäquanz von Gefährdungslagen 230 soziale Grundrechte 18, 94, 258 soziale Macht 330 Soziale Marktwirtschaft 307, 309-310 Sozialprinzip 358 Sozialstaatsprinzip 22, 49, 63, 66, 7576, 121-122, 139, 186, 190, 209, 214, 238, 266, 294, 297, 310, 320, 350-360, 376 Sozialverantwortung 357 Spenderorgane 139 Staatsaufgabe Sicherheit 48 Staatsgebiet 197, 199 Staatsvertragstheorie 28, 30-33, 38, 45, 86 Staatsvolk 197 Staatszielbestimmungen 360 Staatszweck 39, 41, 43 Staatszweck Sicherheit 28, 85 ff. Staatszwecklehre 41, 45 State action-Doktrin 90 Störer 18, 27, 47, 101, 105, 116, 120, 124, 140, 161, 185, 190-192, 198199, 203, 208, 210, 213, 217, 220, 222-223, 229, 243, 248-250, 262266, 268-269, 279-281, 285, 291, 293-295, 299-300, 303, 368-369, 371-372
strukturelle Disparitäten 319, 338, 348, 350 subjektives Recht 66 Subjekti vierung der Schutzpflichten 234 ff. Subjekti vierung objektiven Gesetzesrechts 241 Subsidiarität staatlichen Schutzes 278279, 281 Subsidiaritätsprinzip 280 Subventionen 118-119, 128, 132-134 - siehe auch Förderung und Finanzierung, staatliche Subventionsquote 132 Technikgefahren 67, 69 Technische Anleitungen 112 Terrorismus 67, 266 Transplantationsgesetz 13 8 Trennung von Staat und Gesellschaft 361 Übergriff 24, 26-28, 106, 109, 116, 161, 190, 199, 216-217, 222-223, 225, 228, 231, 247, 249, 265-266, 268, 277-278, 295, 299, 340, 344345, 347, 375 Übergriffsfolgenbeseitigungsanspruch 267 Übergriffsintensität 275 Übergriffsschwelle 221, 231 Übermaßverbot 297, 299, 301 Überwachungsgarant 108, 117, 125, 366 Überwachungspflicht des Staates 111 f. Umweltgefahren 212, 214 Umweltrecht 127 Umweltschutz 111 unbestimmter Rechtsbegriff 335 Ungeeignetheit 302 Ungleichgewichtslagen 319, 342, 347348, 358 unmittelbare Drittwirkung 327-330
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Unmittelbarkeitserfordernis 216 unsichtbare Hand 308 Unterlassen 223 Untermaßverbot 25, 72-73, 154, 169, 261-262, 271, 275, 277, 297-304, 349, 363, 373 Unternehmerfreiheit 313
Vertragsgegenstand 343 Vertragsrecht 75, 295, 338, 342, 346 Verwaltungshelfer 268 f. Vorbehalt des Gesetzes 284, 286, 289, 291 vorbeugender Schutz 277 Vorlagepflicht 290 Vorrang des Gesetzes 251, 291
Verbraucherbotschaft 317 Verbraucherinteressen 305,307,311 Verbraucherpolitik 306,311,317 Verbraucherschutz 305, 311, 317, 358 Verbraucherschutzrecht 315 Verbrauchersouveränität 307 Verbrauchervertragsrecht 305, 320, 338, 344 Vereinigungsfreiheit 174 Verfassungsbeschwerde 69, 236 Verfassungsfortbildung 156-158 Verfassungsrecht und Zivilrecht 327 Verfassungstext 59, 154 verfassungsunmittelbare Eingriffsbefugnis 284 verfassungsunmittelbarer Schrankenvorbehalt 293 Verfassungswandel 158-160 Verkehrslärm 69 Verkehrs wegebau 129 Vermutung eines kausalen Grundrechtsübergriffs 231 Versammlungsfreiheit 174 Vertragsfreiheit 176, 178, 181, 314 ff., 341, 346
Wächteramt 64, 146 Weimarer Reichsverfassung von 1919 96 Wesensgehaltsgarantie 147 Wettbewerb 315 Wettbewerbstätigkeit 130 Widerstandsrecht 46 Willenserklärung 345 f. Wirkkraftverstärkung von Grundrechtsprinzipien 238 Wirkungsstadium der Schutzmaßnahmen 276 Wissenschaftsfreiheit 174 Wohlfahrt 39 Wortlaut der Freiheitsrechte 151 Wortlautgrenze 157
27 Krings
Zivilisationskrankheiten 212 Zivilrechtsgesetzgebung 323 Zivilrechtsprechung 323 Zweckveranlasser 129 Zweidimensionaler Freiheitsbegriff 150, 164 zwingendes Zivilrecht 324