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German Pages 686 [688] Year 2004
M A R K U S KOTZUR
Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit in Europa
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 952
Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit in Europa Der Beitrag von Art. 24 Abs. 1 a GG zu einer Lehre vom kooperativen Verfassungs- und Verwaltungsstaat
Von Markus Kotzur
Duncker & Humblot • Berlin
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten © 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-11241-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©
Vorwort Art. 24 Abs. 1 a GG normiert in Gestalt der „grenznachbarschaftlichen Zusammenarbeit" einen neuartigen Typus staatenübergreifender Kooperation. Er könnte sich über das konkrete Anwendungsbeispiel der bundesrepublikanischen Verfassung hinaus als strukturbildendes Element verfassungsstaatlicher Integrationsoffenheit etablieren und so auf seine Weise einen Beitrag zur Erfolgsgeschichte des kooperativen Verfassungs- und Verwaltungsstaates leisten. Das umso mehr, weil angesichts des europäischen Konstitutionalisierungsprozesses die überkommene Staatslehre in einer von vorneherein europäisch konzipierten Verfassungslehre aufgeht. Der akademische Lehrer der Verfassers, Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle , hat im Jahre 2001/02 dazu eine disziplinbegründende Monographie vorgelegt. Ihr verdankt vorliegende Untersuchung wegleitende Inspirationen, vor allem auch die Ermutigung, tradierte staatsrechtliche Kategorien in Frage zu stellen. Diesbezüglich sei aber auch Konrad Hesse mit einem vielzitierten Dictum (Baden-Baden 1999) zum klassischen Vorbild berufen: „Wir leben (...) von dem Gedankengut einer Welt, die nicht mehr die unsere ist (...) und in den tiefen Wandlungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts ihren Untergang gefunden hat." Diese Wandlungs- und Umbruchsprozesse beleuchtet vorliegende Arbeit am Beispiel neuer Kooperationsformen jenseits der Staatlichkeit. Dass es den kooperierenden Verfassungsstaat längst gibt und seine Wirklichkeit - manchen Rückschlägen in Folge des Irak-Konflikts zum Trotz - alle weiteren Integrationsprogramme steuert, ist ihre Prämisse. Dass Kooperation selbst zum Mittel politischer Einheitsbildung wird und, um mit Herman Heller zu sprechen, „Handlungs- und Wirkungseinheiten" über den Nationalstaat hinaus schafft, ist ihre These. Dass kooperative Öffnungsmechanismen in noch weit stärkerem Maße als heute die europäische Verfassungszukunft prägen werden, ist ihre Hoffnung. Solch „wissenschaftlichen Optimismus" zu wagen, wo handwerklich sauberes und methodisch abgesichertes juristisches Arbeiten die notwendige ,3odenhaftung" garantiert, gehört zum Credo von Professor Häberle. In seinem Bayreuther Seminar, bewusst in der Tradition von Rudolf Smend und Konrad Hesse geführt, hat er es stets begeistert und begeisternd gelebt. Nicht nur deshalb ist diese Arbeit dem verehrten Lehrer in herzlicher Dankbarkeit gewidmet. Sie trägt auch darüber hinaus die Handschrift des wissenschaftlichen Mentors, unermüdlichen Ratgebers, engagierten Pädagogen und konstruktiven Kriti-
VI
Vorwort
kers: die Freiheit in Themen- und Methodenwahl bis hin zur möglichst pluralistischen Literaturauswertung; die kulturwissenschaftliche Erschließung rechtswissenschaftlicher Fragestellungen; die komparatistische Dimension; die Auseinandersetzung mit Klassikertexten, die Offenlegung des Vorverständnisses und der Versuch, allem „Kästchendenken" entschieden entgegenzutreten. An letzterem hat zudem der beständige Austausch mit Freunden und Kollegen, gerade auch ausländischen Gastwissenschaftlern im Rahmen des von Professor Häberle geleiteten „Bayreuther Instituts für Europäisches Recht und Rechtskultur" bzw. seiner „Forschungsstelle für Europäisches Verfassungsrecht", entscheidenden Anteil. Nicht minder stark wiegt das stets offene wissenschaftliche Gespräch mit und die stetige Unterstützung von Prof. Dr. Rudolf Streinz schon währende des Studiums, ebenso zur Zeit der Dissertation, vor allem während der Habilitationsphase. Für diese wertvolle Begleitung und die ungemein rasche Erstellung des Zweitgutachtens gilt ihm großer Dank. Die Arbeit wurde von der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth im Sommersemester 2002 als Habilitationsschrift angenommen. Literatur und Rechtsprechung konnten für die Druckfassung vereinzelt bis Ende 2002/Anfang 2003 eingearbeitet werden. Dem Dekan, Prof. Dr. Peter Oberender, dem Professorium und allen Fakultätsmitgliedern sei für tätigen Rat, hilfreiche Gesprächsbereitschaft und die zügige Durchführung des Verfahrens ebenso gedankt wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die großzügige Gewährung einer Druckkostenbeihilfe. Dank für vielfältige Anregungen, geduldiges Zuhören und persönliches Verständnis schulde ich zahlreichen Freunden und Kollegen, von denen drei besonders hervorgehoben seien: Herr Privatdozent Dr. Lothar Michael (Bayreuth), Herr Rechtsanwalt Dr. Stefan Vetter (Berlin) und Herr Personalreferent Christian Ziegler (Hamburg). Meinen Eltern danke für ihre außerordentliche Unterstützung von Studienbeginn bis zum Abschluss der Habilitation. Für wertvolle technische Unterstützung bei der Anfertigung des Manuskripts danke ich Frau Angelika Popp und Frau Helga Walther. Die Formatierungsarbeiten hat zuletzt Herr Rechtsreferendar Andre Hupka mit größter Sorgfalt betreut. Ihm sei ebenso gedankt wie Herrn Benjamin von Engelhardt für sein genaues Korrekturlesen unter hohem Zeitdruck Herrn Prof. Dr. h.c. Norbert Simon und dem Hause Duncker & Humblot schulde ich vielfachen Dank für die Verlagsbetreuung seit meiner Dissertation. Auf das kritische Interesse von Wissenschaft und Praxis darf ich hoffen.
Bayreuth, im März 2003
Markus Kotzur
Inhaltsverzeichnis Einleitung
1
A. Gegenstand der Untersuchung
1
B. Gang der Untersuchung
5
C. Methoden der Untersuchung
8
I. Der rechtsvergleichende und kulturwissenschaftliche Ansatz II. Die Politik- und Wirtschaftswissenschaften als Kontext
9 13
Erster Teil Der Gedanke dezentraler, staatenübergreifender und integrationsstiftender Kooperation - Grundlagen eines europäischen Verfassungsprinzips A. Staatenübergreifende Kooperationsformen als politische und rechtliche Zielperspektive in der Europäischen Verfassungsgemeinschaft I. Problemstellung
17
17 17
1. Die Implikationen gegenwärtiger Staats-, Verfassungs- und Gesellschaftstheorie auf die staatenübergreifende Zusammenarbeit
18
2. Kooperative Verflechtungen im Verfassungs- und Verwaltungsstaat —
22
II. Der Raum jenseits der Staatlichkeit - kritische Vorüberlegungen zur Terminologiebildung
24
1. Internationalität, Transnationalität und das Moment der Grenzüberschreitung
26
2. Supranationalität, Überstaatlichkeit und die Konsequenzen der Begriffskritik
27
III. Die Idee dezentraler, staatenübergreifender, integrationsstiftender Kooperation
31
1. Materiale Aspekte der Kooperation a) Die kooperative Umgestaltung staatlichen Verwaltungshandelns ...
31 35
VIII
Inhaltsverzeichnis b) Die kooperative Gestaltung staatenübergreifender Beziehungen ...
37
c) Die gemeinsame Grundlage der Innen- und Außendimension kooperativer Staatlichkeit
40
2. Insbesondere: Grenzüberschreitende Kooperationsformen
bzw.
grenznachbarschaftliche
3. Träger der Zusammenarbeit B. Die Kooperation im Europäischen Verfassungsraum - ihre Kontextbegriffe I. Die Entwicklung in der Makrodimension: Globalisierung, Internationalisierung und Europäisierung 1. Globalisierung
44 49 52
54 54
a) Begriffliche Konturen
54
b) Die Auswirkungen der Globalisierung auf den Europäischen Verfassungsraum
57
2. Internationalisierung
61
a) Begriffliche Merkmale
61
b) Internationalisierung - ein kooperativer Prozess
64
3. Europäisierung
65
a) Der Europabegriff
66
b) Dimensionen der Europäisierung
69
aa) Erste Begriffskonturen: Von der „Europäisierung der Welt" zur „Europäisierung Europas" bb) Die kulturelle Seite der Europäisierung cc) Europäisierung als spezifisch juristischer Terminus c) Mittel und Wege der Europäisierung II. Die Parallelentwicklung in der Mikrodimension: Föderalisierung, Regionalisierung und Kommunalisierung 1. Föderalisierung
69 70 72 75 81 83
a) Begriff, (Vor-)Verständnis und kulturelle Bezüge
83
b) Das Gestaltungspotential der Föderalisierung im Europäischen Verfassungsraum
88
2. Regionalisierung
90
a) Regionalismus und Regionalisierung, das Europa der Regionen ...
90
b) Regionalisierung - ein dezentral-kooperatives Strukturprinzip im Europäischen Verfassungsraum
94
Inhaltsverzeichnis 3. Kommunalisierung
95
a) Eine europäische Kommunalismustheorie
95
b) Gemeindeöffentlichkeit und Gemeindebürgerschaft
97
c) Gemeinden als Kultur- und Wirtschaftsstandorte, ihre Brückenfunktion zu Osteuropa C. Die kooperative Architektur des Europäischen Verfassungsraums
101 103
Zweiter Teil Historische Entwicklung und konkrete Erscheinungsformen staatenübergreifender Kooperation - eine vergleichende Bestandsaufnahme zu Art. 24 Abs. 1 a GG und seinen Kontexten A. Art. 24 Abs. 1 a GG in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive I. Vorbilder und Initiativen zu staatenübergreifender Kooperation
107 107 107
1. Eine allgemeine Skizze historischer „Vorbilder"
110
2. Besondere Initiativen des konstitutionellen Europa: Europarat, Europäische Union
114
II. Die konkrete Entstehungsgeschichte von Art. 24 GG 1. Art. 24 GG alte Fassung in seinem historischen Kontext
120 120
2. Die Entstehungsgeschichte von Art. 24 Abs. 1 a GG, die Beweggründe des verfassungsändernden Gesetzgebers 124 a) Motive, Entstehungsvoraussetzungen und einzelne Schritte der Neuregelung 124 b) Defizite des verfassungsändernden Gesetzgebers
128
B. Formen und Gegenstände der staatenübergreifenden Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und ihren Nachbarn 130 I. Kooperationsprojekte der Länder, eine Bestandsaufnahme in geographischer Sicht
133
1. Die Kooperation im westeuropäischen Raum
133
2. Die Kooperation im südeuropäischen Raum
136
3. Die Zusammenarbeit im nordeuropäischen Raum
137
4. Die Zusammenarbeit im osteuropäischen Raum, die spezifische Rolle der möglichen EU-Beitrittsländer 139 5. Eine vorläufige Bewertung der kooperativen Netzwerke
141
X
Inhaltsverzeichnis II. Mögliche Formen staatenübergreifend verflochtener Kooperationsräume eine Typologie und Anwendungsbeispiele 142 1. Ein allgemeines Modell zu den Kooperationsstrukturen
143
2. Kooperation - ein Modell gestufter Rechtsverbindlichkeit
145
a) Informelle Kooperationsformen, insbesondere Konferenzen und Arbeitsgemeinschaften 145 b) Staatenübergreifende und grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Form des zivilrechtlichen Vereins 150 c) Rechtsverbindliche Kooperationsformen nach öffentlichem Recht
153
aa) Von der Rechtsverbindlichkeit im Innenverhältnis zu weitergehenden Bindungsformen
154
bb) Varianten der Rechtsverbindlichkeit im Außenverhältnis
156
3. Ausgewählte Beispiele erprobter Kooperationsmodelle - Mischformen
157
a) Städtepartnerschaften
158
b) Die Euregiones
162
aa) Die Idee der Euregiones, ein erstes Beispiel bb) Weitere Beispiele von Euregiones
162 164
(1) Die Region „Saar-Lor-Lux"
165
(2) Die Euregio Egrensis
168
(3) Die Europaregion Tirol
170
c) Insbesondere: Die regionale Zusammenarbeit am Oberrhein und die Ostseekooperation
172
aa) Die Kulturregion am Oberrhein, der Oberrheinrat
173
bb) Die Ostseekooperation, eine „neue Hanse"
177
d) Kooperationsprojekte mit spezifischem Grenzbezug
179
aa) Raumplanung, Landschaftsgestaltung
179
bb) Interkommunale Kooperationsformen
184
(1) Vertragliche Grundlagen
184
(2) Interkommunale kooperative Praxis
187
III. Geplante Gegenstände der Zusammenarbeit im Rahmen von Art. 24 Abs. l a G G 188 C. Eine rechtsvergleichende, innerbundesstaatliche und verfassungskonkretisierende Zusammenschau des Normbestands
191
I. Vorbemerkung zu einem neuen Normtypus: die „rezeptionsabhängige" Regelung 191 II. Die Vergleichs- und Konkretisierungsebenen
194
1. Die Ebene des Völker-und Europarechts
194
Inhaltsverzeichnis 2. Nationalstaatliche Verfassungstexte
196
3. Gliedstaatliche Verfassungstexte
198
4. Die einfachgesetzliche Ebene
200
a) Deutschland
200
b) Frankreich
202
c) Polen, osteuropäische Staaten
204
Dritter Teil Theorieelemente und Legitimationsgründe grenznachbarschaftlicher Zusammenarbeit A. Normzwecke und Tatbestandsmerkmale von Art. 24 Abs. 1 a GG
206 207
I. Die Grundidee der gliedstaatlichen Öffnungsklausel, ihr immanenter Zielkonflikt 207 II. Die Tatbestandsmerkmale und ihre Kontexte
211
1. Die Übertragung von Hoheitsrechten
211
a) Der Begriff der Hoheitsrechte
212
b) Das Wesen der Übertragung
216
c) Insbesondere: Die unmittelbare Durchgriffswirkung
218
2. Der Begriff der grenznachbarschaftlichen Einrichtung a) Problemstellung
220 220
b) Die kulturwissenschaftliche Erschließung der Begriffe „Grenze" und „Nachbar/Nachbarschaft" 222 aa) Grenze, Grenzen und Begrenzungen
223
(1) Etymologische Herleitung
223
(2) Die Vielgestaltigkeit der Grenzbegriffe
225
(3) Der juristische Grenzbegriff
227
(4) Grenzen und europäischer Raum
233
(5) Grenzen - ein Phänomen von Ausschließlichkeit und Zugehörigkeit 235 bb) Nachbarn und Nachbarschaft (1) Idee und Begriff der Nachbarschaft
240 240
(2) Gemeinschaftsbildung und Gemeinschaftsbindung in der Nachbarschaft 242
XII
Inhaltsverzeichnis cc) Grenz-Nachbarschaft im „Geiste guter Nachbarschaft"
244
dd) „Grenznachbarschaftlich" - die Spezifika eines neuen Verfassungsterminus
246
(1) Geographische Eingrenzung des Kooperationsraums
247
(2) Kooperationsaufgaben und Kooperationsträger
249
c) Der Einrichtungsbegriff 3. Aufgaben und Befugnisse
251 252
B. Art. 24 Abs. 1 a GG - ein neuer Textbaustein zur Relativierung der Lehre von den Staatselementen 254 I. Einführung II. Die einzelnen Staatselemente 1. Souveränität und Staatsgewalt
254 258 258
a) Die Verknüpfung des Souveränitätsdenkens mit den Begriffen von 259 Volk und Nation aa) Die Souveränität des Volkes
259
bb) Souveränität und Nation
263
b) Souveränität im Dienste des Menschen
265
c) Die Träger der Souveränität
267
aa) Souveränitätsträger in einer staatenübergreifenden Gemeinschaft 267 bb) Die Homogenität oder Heterogenität der Souveränitätsträger
269
d) Die Lokalisierung und die Gebietsbezogenheit der Souveränität, Souveränitätsgewinne und Souveränitätsverluste 271 e) Kooperative Souveränitätsverflechtungen 2. Staatsvolk, Unionsbürgerschaft und Weltbürgertum
274 278
a) Ein Staatsvolk der Bürger
278
b) Charakteristika der Unionsbürgerschaft
280
c) Der europa- respektive weltbürgerliche Status des „citoyen"
283
3. Das Staatsgebiet, die territoriale Radizierung des kooperationsoffenen Verfassungsstaates
284
a) Der Funktionswandel moderner Staatlichkeit als Entterritorialisierungsphänomen
285
b) Entterritorialisierungstendenzen im Europäischen Verfassungsraum
288
c) Die Relativierung des Staatsgebietes „von unten"
290
Inhaltsverzeichnis d) Insbesondere: Die grenzüberschreitende Nutzung von natürlichen Ressourcen, der durch die natürlichen Lebensgrundlagen bestimmte Lebensraum 291 e) Insbesondere: Grenzüberschreitende Staatsaufgaben C. Völker- und europarechtliche Implikationen auf Verständnis und Vorverständnis von Art. 24 Abs. 1 a GG I. Art. 24 Abs. 1 a GG im Kontext der Völkerrechtslehre
294
299 299
1. Die sich verfassende Völkerrechtsgemeinschaft
299
2. Das völkerrechtliche Prinzip der guten Nachbarschaft
302
II. Art. 24 Abs. 1 a GG im Kontext der europäischen Integration
306
1. Die verfassungsqualitativen Momente im europäischen Einigungsprozess 306 2. Der spezifische Beitrag grenznachbarschaftlicher Kooperationsformen zur Verfassung Europas 310 3. Die Bindungskräfte kooperativer Öffnungsklauseln auf dem Weg zu einer einheitlichen Rechtsordnung 312 D. Art. 24 Abs. 1 a GG - systembildender und strukturgeprägter Baustein der Verfassungs(rechts)lehre 314 E. Art. 24 Abs. 1 a GG - Brückennorm zwischen staatlicher und staatenübergreifender Verwaltungs(rechts)lehre 318 I. Allgemeine Prinzipien des Verwaltungsrechts und der Verwaltungslehre als staatenübergreifende Ordnungsidee 318 1. Die Krise des Verwaltungsstaates, staatenübergreifende Kommunikationsprozesse als Antwort 319 2. Die Internationalisierung des Verwaltungsrechts, komplexitätssreduzierende Parallelen zwischen Privatisierung und Internationalisierung 322 3. Die Europäisierung des nationalen und die kooperative Entwicklung eines europäischen Verwaltungsrechts 326 a) Ein Wettbewerb der europäischen Verwaltungssysteme
327
b) Gegenstände und Mittel der wechselseitigen Beeinflussung von europäischem und nationalem Verwaltungsrecht, insbesondere der Rezeptionsaspekt 329 c) Administrative Interaktion im Mehrebenensystem
334
d) Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen in der staatenübergreifenden Dimension 337
XI
Inhaltsverzeichnis 4. Verwaltungsorganisation diesseits und jenseits des Nationalstaates
339
a) Der Organisationsbegriff
339
b) Verwaltungsorganisation im Spannungsfeld von Aufgabendiversifikation und Kostenersparnis
342
c) Strukturelemente kooperativer Verwaltungsorganisation
344
aa) Kommunikation, Diskurs und Informationsaustausch als Grundbausteine staatenübergreifender Verwaltungsorganisation 345 bb) Netzwerkstrukturen in der staatenübergreifenden Verwaltungsorganisation 349 cc) „Lernende Organisation" und „Denken in Alternativen" - die staatenübergreifende Perspektive 356 dd) Gegliederte Verwaltung in europäischem und staatenübergreifendem Kontext
358
II. Staatenübergreifende, kooperative Dimensionen im besonderen Verwaltungsrecht 362 1. Staatenübergreifende Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kultur
362
2. Staatenübergreifende Kooperation auf dem Gebiet des Umweltschutzes und des Umweltrechts 366 3. Staatenübergreifende Kooperation auf dem Gebiet des Wirtschafts- und des Wirtschaftsverwaltungsrechts
369
4. Staatenübergreifende Kooperation auf dem Gebiet des Sicherheitsrechts 371 F. Legitimationsgründe grenznachbarschaftlicher Zusammenarbeit I. Kulturelle Legitimationsgründe, eine Kultur der Kooperation
374 376
1. Die Einbettung grenznachbarschaftlicher Kooperationsformen in die europäische Rechtskultur 376 2. Kulturelle Gemeinsamkeiten als innerer Legitimationsgrund grenznachbarschaftlicher Zusammenarbeit, die Idee einer interkulturellen Sozialisation 381 3. Die Entwicklung einer gemeineuropäischen Verwaltungskultur a) Der Begriff der Verwaltungskultur
384 386
b) Elemente europäischer Verwaltungskultur, teils bestehend, teils im Werden 389 aa) Die Ethik der Verwaltung - berufsethische Maximen und rechtliche Rahmenbedingungen 389 bb) Diskurs, Diskursethik und Rechtsgespräch
391
Inhaltsverzeichnis cc) Ein europäisches Verwaltungskulturerbe, Klassiker des europäischen Verwaltungsrechts 392 dd) Eine Kultur dezentraler Verwaltungsstrukturen
394
ee) Reformorientierung, Lern- und Innovationsbereitschaft
396
II. Politische, rechtliche und verfassungsbezogene Legitimationsgründe
399
1. Die Ausgangsthese: die „Verfasstheit des Alltags" als Motor politischer Gemeinschaftsbildung in Europa 400 2. Elemente eines politischen und rechtlichen Integrationsprogramms
402
a) Die Friedensfunktion, die Aussöhnung mit den Nachbarn
402
b) Die Brückenfunktion nach Osteuropa hin
404
c) Die politische Seite der Dezentralisierung
405
d) Die Möglichkeiten politischer Partizipation in kleinräumigen Einheiten 407 aa) Begriff der Partizipation
407
bb) Insbesondere: die demokratische Partizipation in Europa
409
cc) Staatenübergreifende Partizipationschancen dank lokaler Verwurzelung 412 3. Die europäische Identität
414
4. Bürgernähe, Bürgerverantwortung und Bürgerkooperation
417
a) Bürgernähe
417
b) Bürgerverantwortung, Bürgerengagement und Bürgerkooperation
421
aa) Die Idee einer res publica Europaea
421
bb) Ein europäisches Aktivbürgertum
423
(1) Ein spezifischer status activus Europaeus?
424
(2) Das europäische Aktivbürgertum zwischen „Staat und Gesellschaft" 427 cc) Verantwortungsteilung, Bürgerkooperation
429
5. Gemeinwohlbindung und Gemeinwohlorientierung, Gemeinwohlsicherung und Gemeinwohlkonkretisierung in staatenübergreifenden Gemeinschaften 431 6. Gewaltenbalance und Funktionengliederung in staatenübergreifenden Verfassungsräumen 434 a) Die Ausgangsfrage
434
b) Zur historischen Entwicklung des Gewaltenteilungsdenkens
436
c) Funktionenteilung über staatliche Grenzen hinweg
439
d) Funktionengliederung und Machtbalance durch dezentral-kleinräumige Einheiten 440
XVI
Inhaltsverzeichnis III. Wirtschaftliche Legitimationsgründe
443
1. Die globale bzw. gesamteuropäische Perspektive a) Dezentrale Wirtschaftsräume
444 444
b) Insbesondere: Dezentralisierung als Reaktion auf Globalisierungsängste 446 2. Die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit kleinräumiger Kooperationsformen
448
3. Ökonomie der Verwaltung
452
a) Effizienz und Gemein Wohlkonkretisierung
453
b) Die Effizienz als Rechtsprinzip
455
c) Die Effizienz grenzüberschreitender Kooperationsformen
457
Vierter
Teil
Rechtsprobleme grenznachbarschaftlicher Zusammenarbeit die dogmatischen Einzelfragen
461
A. Rechtliche, insbesondere vertragliche Gestaltungsmöglichkeiten grenznachbarschaftlicher Kooperation 461 I. Von Art. 24 Abs. 1 a GG unabhängige Gestaltungsmöglichkeiten 1. Der völkerrechtliche Vertrag
461 462
a) Die „völkerrechtliche Bestimmung" grenzüberschreitender Kooperationsabkommen 462 b) Die Völkerrechtssubjektivität respektive die sogenannte „treatymaking power" der Vertragspartner 465 aa) Die völkerrechtliche Vertragsfähigkeit von Gliedstaaten, insbesondere der deutschen Länder 465 bb) Die völkerrechtliche Vertragsfähigkeit von Gemeinden, anderen kommunalen Gebietskörperschaften und Regionen 467 c) Insbesondere: Die Vertragsschlusskompetenz der deutschen Länder im Rahmen von Art. 32 Abs. 3 GG
470
2. Der gemeinschaftsrechtliche Vertrag
473
3. Eine transnationale Vereinbarung sui generis?
475
4. Der öffentlich-rechtliche Vertrag nach nationalem Recht
478
5. Privatrechtliche Verträge
483
Inhaltsverzeichnis II. Der Gründungsvertrag und die Durchgriffsermächtigung gem. Art. 24 Abs. 1 a GG 1. Die Frage nach der Notwendigkeit eines völkerrechtlichen Vertrages ..
485 485
2. Die Frage nach einer notwendigen landesverfassungsrechtlichen Grundlage der Integrationsmöglichkeit 488 a) Eine bundesverfassungsrechtliche Implementierungspflicht?
488
b) Ein allgemeiner Verfassungsvorbehalt als Voraussetzung der Hoheitsrechtsübertragung? 490 3. Die Frage nach der Notwendigkeit einer einfachgesetzlichen Grundlage
493
4. Eine Hoheitsrechtsübertragung durch Gemeinden und Gemeindeverbände 497 B. Die Übertragung von Hoheitsrechten gem. Art. 24 Abs. 1 a GG, soweit die Länder für die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben zuständig sind 500 C. Die präventive Bundesaufsicht, das Erfordernis der Zustimmung durch die Bundesregierung 505 D. Das Verhältnis von Art. 24 Abs. 1 a GG zu den bisherigen Formen grenznachbarschaftlicher Kooperation E. Kooperative Perspektiven und verfassungsrechtliche Grenzen der Hoheitsrechtsübertragung nach Art. 24 Abs. 1 a GG I. Die Hoheitsgewalt grenznachbarschaftlicher Einrichtungen, die Qualifikation ihres Rechtsregimes 1. Die Art der Hoheitsgewalt a) Eine Strukturanalogie zu Art. 24 Abs. 1 GG? b) Die Hoheitsgewalt in einer Kooperationsordnung 2. Das Rechtsregime, die Qualifizierung des durch grenznachbarschaftliche Einrichtungen gesetzten Rechts
508
509 509 509 511 513 516
a) Parallelen zum Europäischen Gemeinschaftsrecht?
516
b) Implikationen einer europäischen Rechtsquellenlehre
517
c) Die Idee kooperativen Rechts
520
d) Insbesondere: Einseitige grenznachbarschaftliche Einrichtungen ...
522
II. Die demokratische Legitimation der Hoheitsrechtsübertragung und der Rechtssetzungsakte bzw. Entscheidungen grenznachbarschaftlicher Einrichtungen 523 1. Legitimationsformen
526
XVIII
Inhaltsverzeichnis a) Die personell-organisatorische Legitimation
526
b) Die kollektiv-personelle Legitimation
530
c) Weitere Elemente organisatorischer Legitimation
531
d) Die sachlich-inhaltliche Legitimation, autonome Legitimationsarten 533 2. Konsequenzen für Art. 24 Abs. 1 a GG: Kompensationslösungen, Mischlegitimation 535 III. Die Rechtsgebundenheit der Verwaltung, die Verwaltungskontrolle 1. Grundrechtsbindung und Rechtsgebundenheit der Verwaltung
538 539
a) Die Bindungsnotwendigkeit
539
b) Die Bindungsintensität
541
2. Fragen der Verwaltungskontrolle
542
a) Der Begriff der Kontrolle, Gestaltungsmöglichkeiten der Aufsicht bei der Gründung grenznachbarschaftlicher Einrichtungen 543 b) Kontroll Varianten und Kontrollinstrumente
547
IV. Das Erfordernis effektiven Rechtsschutzes
550
1. Ein eigenes Gemeinschaftsgericht?
551
a) Zur Frage eines originären Gemeinschaftsgerichts
551
b) Die Frage eines Schiedsgerichts
553
2. Die Frage nach der Zuständigkeit europäischer Gerichte
554
3. Der Rechtsschutz vor nationalen Gerichten eines der kooperierenden Partnerstaaten 554 a) Problemstellung
554
b) Eine gemischt-besetzte „grenznachbarschaftliche Kooperationskammer" beim zuständigen nationalen Gericht? 557 c) Parallele Rechtswegeröffnung zu den nationalen Gerichten, Wahl557 möglichkeit zugunsten des Bürgers? V. Die Grenzen staatenübergreifender Kooperation aus der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG VI. Die Eigenstaatlichkeit der Länder als Grenze VII. Die Grenzen aus Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG VIII. Die Sprachenfrage - eine Kooperationsbanriere?
558 559 560 561
Inhaltsverzeichnis IX. Die Gestaltung der Außenpolitik - Chancen und Grenzen grenznachbarschaftlicher Integration 562 X. Europa als Grenze grenznachbarschaftlicher Kooperation
564
F. Regelungsmaterien im Rahmen von Gründungsvereinbarungen grenznachbarschaftlicher Einrichtungen - ein Katalog 565
(Europa-)Rechtspolitischer Ausblick und Ergebnisse der Untersuchung
568
A. Art. 24 Abs. 1 a GG - ein Modell grenznachbarschaftlicher Kooperation und seine (europa-)rechtspolitischen Konsequenzen 568 B. Wesentliche Ergebnisse der Untersuchung - eine Zusammenfassung in Thesen ....
579
Literaturverzeichnis
588
Sachregister
649
Einleitung A. Gegenstand der Untersuchung Der Verfassungsstaat des 21. Jahrhunderts gewinnt seine Identität aus einem Geflecht internationaler und supranationaler Bindungen, aus einer Vielzahl regionaler und kommunaler Beziehungen diesseits wie jenseits staatlicher Grenzen. Kooperation, i n Rechtstexten verbürgt, i n der Rechtspraxis gelebt, w i r d z u m unverzichtbaren Bestandteil seines Selbstverständnisses. 1 Dass staatenübergreifendes bzw. grenzüberschreitendes Miteinander öffentlicher
Körper-
schaften, gliedstaatlicher, regionaler oder lokaler Verwaltungsträger gerade i m konstitutionell verdichteten Europäischen Verfassungsraum 2 gute Tradition hat, vermag vor diesem Hintergrund kaum zu überraschen. 3 Die vielgestaltigen
1
P. Häberle , Der kooperative Verfassungsstaat (1978), in: ders ., Verfassung als öffentlicher Prozess, 3. Aufl. 1998, S. 407 ff.; ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 177; später S. Hobe, Der kooperationsoffene Verfassungsstaat, Der Staat 37 (1998), S. 521 ff. 2 Begriffsprägend wirkt vor allem der von R. Bieber/P. Widmer herausgegebene Sammelband L'espace constitutionnel européen (Der europäische Verfassungsraum, The European Constitutional Area), 2000. Für das Europarecht im engeren Sinne der EU vgl. das Bild von einem „konstitutionellen Rahmen", geformt aus den Verfassungen der Mitgliedstaaten einerseits, den Gründungsverträgen der EU andererseits, so A. Hatje , Die institutionelle Reform der Europäischen Union - der Vertrag von Nizza auf dem Prüfstand, Europarecht 2001, S. 143 ff., 146. 3 Eine erste Literaturauswahl mag als Beleg dienen: J. Witmer , Grenznachbarliche Zusammenarbeit, 1979; W. Hoppe/M. Beckmann , Juristische Aspekte einer interkommunalen Zusammenarbeit beiderseits der deutsch-niederländischen Grenze, DVB1. 1986, S. 1 ff; Ch. J. Autexier , Rechtsgutachten, in: Etudes et Documents du Centre d'Etudes Juridiques Françaises, 1993, S. 17 ff., 83 ff.; K. Rennert y Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit, FS E.-W. Böckenförde, 1995, S. 199 ff., 199 (m. w. N. in Fn. 4); V. v. Malchus , Partnerschaft an europäischen Grenzen, 1975; M. Boîhe , Rechtsprobleme grenzüberschreitender Planung, AöR 102 (1977), S. 68 ff; M. Oehm, Rechtsprobleme Staatsgrenzen überschreitender interkommunaler Zusammenarbeit, 1982; B. Schlögel , Grenzüberschreitende interkommunale Zusammenarbeit, 1982; M. Mattar , Die Staatsund landesgrenzenüberschreitende Zusammenarbeit in der Großregion SaarlandWestpfalz-Lothringen-Luxemburg-Trier, 1983; E.G. Mayer , Auslandsbeziehungen deutscher Gemeinden, 1986; U. Beyerlin, Grenzüberschreitende Zusammenarbeit benachbarter Gemeinden und auswärtige Gewalt, in: A. Dittmann/M. Kilian (Hrsg.), Kompetenzprobleme der Auswärtigen Gewalt, 1982, S. 109 ff., 111 ff; H. Ch. Heberlein , Kommunale Außenpolitik als Rechtsproblem, 1989, S. 8 ff (Bestandsaufnahme zu
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Einleitung
Formen der Zusammenarbeit sind längst z u m selbstständigen Forschungsfeld avanciert und von den unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen aufbereitet. 4 W i e auf zahlreichen anderen Feldern auch, kann die Jurisprudenz dabei keineswegs den ersten Z u g r i f f für sich beanspruchen, sondern bleibt auf die ihr teils vorausliegenden, teils parallelen Ansätze der Kulturwissenschaften, der Politik- und Sozialwissenschaften angewiesen. V o r allem aber darf sie ihre Augen nicht vor dem Funktionswandel moderner Staatlichkeit verschließen. Die bekannten Stichworte v o n Globalisierung, Internationalisierung und Europäisierung skizzieren, wenngleich nur holzschnittartig und vorläufig, ein Phänomen, das sich mit dem überkommenen Theoriegebäude klassischer Staaterechtswissenschaft nicht mehr erklären lässt. Pointiert formuliert K. Hesse: „Wir leben insoweit von dem Gedankengut einer Welt, die nicht mehr die unsere ist und, wie wir immer deutlicher sehen, in den tiefen Wandlungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts ihren Untergang gefunden hat. Über ihre Grundlagen, bislang als gesichert geltende Bestandteile der Staats- und Verfassungslehre, ist die Geschichte hinweggegangen."5 Diesen M a h n r u f nur auf den Makrokosmos der gegenwärtig mit politischer Leidenschaft und großer juristischer Kunstfertigkeit geführten Diskussion über eine „Europäische Verfassung" 6 zu verengen, hieße deren Prämissen zu verken-
Städte- und sonstigen kommunalen Partnerschaften), S. 30 ff. (zu grenznachbarlicher kommunaler Zusammenarbeit); J. Schwarze , Die Übertragung von Hoheitsrechten auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen i. S. d. Art. 24 I a GG, FS E. Benda zum 70. Geburtstag, 1995, S. 311 ff., 311-313; A. Beck , Die Übertragung von Hoheitsrechten auf kommunale grenznachbarschaftliche Einrichtungen, 1995; H.-H. Trute , Perspektiven grenzüberschreitender Zusammenarbeit, in: H.-G. Henneke (Hrsg.), Kommunen und Europa - Herausforderungen und Chancen, 1999, S. 209 ff, 209; O. Kannler , Dezentrale grenzüberschreitende Zusammenarbeit und die Übertragung von Hoheitsrechten auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen nach Artikel 24 Absatz 1 a des Grundgesetzes, 1999, S. 10 ff, S. 168 ff.; Th. Lott, Neue Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit - Zugleich ein Beitrag zu Art. 24 Abs. 1 a GG, 1999; M. Niedobitek , Das Recht der grenzüberschreitenden Verträge, 2001, S. 64 ff. Für die Schweiz: S. Breitenmoser , Regionalismus - insbesondere grenzüberschreitende Zusammenarbeit, in: D. Thürer/J.-F. Aubert/J. P. Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, 2001, S. 507 ff. 4 Für die politikwissenschaftliche Verwaltungsforschung siehe J. Beck , Netzwerke in der transnationalen Regionalpolitik, 1997, S. 21 ff. (zu den Methoden); darüber hinaus P. Schmitt-Egner , „Grenzüberschreitende Zusammenarbeit" in Europa als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, in: G. Brunn/P. Schmitt-Egner (Hrsg.), Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Europa, 1998, S. 27 ff. 5 K. Hesse, Die Welt des Verfassungsstaates - Einleitende Bemerkungen, in: M. Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates, 2001, S. 11 ff., 13. 6 Der Beschluss über einen Verfassungskonvent unter Leitung des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Giscard d'Estaing auf dem EU-Gipfel von Laeken im Dezember 2001 markiert einen weiteren Meilenstein auf dem Weg von der wirtschaftlichen
A. Gegenstand der Untersuchung
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nen. Das in Gestalt der EU, des Europarates und der OSZE sich verfassende Europa erwächst nämlich von unten nach oben, findet die ursprünglichsten Formen der politischen Gemeinschaftsbildung in kleinräumigen Einheiten, Gemeinden, Gebietskörperschaften, kulturgeprägten Regionen, schließlich den Ländern oder Kantonen in den Bundesstaaten.7 Doch handelt es sich dabei stets um staatliche oder subnationale Untergliederungen, deren Europa konstituierende Potenz noch immer national bedingt und staatlich vermittelt, in gewisser Weise mediatisiert erscheint und, um die zweifelhafte, aber nicht minder gebräuchliche Formel von den „Staaten als den Herren der Verträge" 8 abzuwandeln, den verzerrenden Eindruck von den „Staaten als Herren des Verfassunggebungsprozesses in Europa" nicht vollständig beseitigen kann. Demgegenüber sind staatenübergreifende oder grenzüberschreitende Kooperationsformen, soweit mit eigener Rechtspersönlichkeit, gar mit eigenen Hoheitsrechten ausgestattet, stärker von aller Staatlichkeit gelöst und ein Stück weit „europaunmittelbar". Sie entfalten originäre, Europa zugleich von unten und aus sich selbst heraus verfassende Kraft. 9 Die Geburt einer Europäischen Verfassungsgemeinschaft aus dem Geiste der Verfassungsstaatlichkeit wird um eine entscheidende Dimension erweitert: die konstitutionelle Verdichtung bzw. Verflechtung 10 des Europäischen Verfassungsraumes durch die bürgerintegrierenden, strukturbildenden Möglichkeiten kleinräumiger, von vorneherein jenseits staatlicher Grenzen entstehender Einheiten. Staatenübergreifende, grenzüberschreitende oder zur politischen Gemeinschaft. Dazu SZ vom 17. Dezember 2001, S. 1, 2, 3, 4. Der Konvent kam erstmals am 28. Februar 2002 zusammen (SZ vom 28. Februar 2002, S. 9). 7 Zu letzteren in ihrer weltumspannenden Dimension W. Graf Vitzthum, Gliedstaaten auf dem Globus, VB1BW. 1991, S. 241 ff. 8 Kritisch zu diesem Begriff U. Everling, Sind die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft noch Herren der Verträge?, FS H. Mosler, 1983, S. 173 ff.; I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 1998, Art. 23, Rn. 21; siehe aber auch M. Heintzen, Hierarchisierungsprozesse innerhalb des Primärrechts der Europäischen Gemeinschaft, EuR 1994, S. 35 ff., 41; J. C. Wichard, Wer ist Herr im europäischen Haus?, EuR 1999, S. 170 ff.; zur Sicht des BVerfG H.-P. Folz,, Kompetenzüberschreitende Akte von Organen der Europäischen Union - Die Sicht des deutschen Verfassungsrechts, in: B. Simma/C. Schulte (Hrsg.), Völker- und Europarecht in der aktuellen Diskussion, 1999, S. 19 ff., 32. 9 V. v. Malchus gibt schon 1975 seinem Buch „Partnerschaft an europäischen Grenzen" den Untertitel „Integration durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit". Ihrem „Stellenwert im Prozeß der europäischen Integration" gelten S. 72 ff. 10 Von „Verfassungsverflechtung" spricht R. Bieber, Verfassungsentwicklung der Europäischen Union: Autonomie oder Konsequenz staatlicher Verfassungsentwicklung, in: P. Ch. Müller-Graff/E. Riedel (Hrsg.), Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union, 1998, S. 209 ff., 215; ders. y Der Verfassungsstaat im Gefüge europäischer und insbesondere supranationaler Ordnungsstrukturen, in: D. Thürer/J.-F. Aubert/J. P. Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, 2001, S. 97 ff., 98 ff., 102.
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Einleitung
grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit ist daher heute stets „auf ihren Stellenwert im Prozess der europäischen Integration hin zu befragen" 11 und als ein Teilaspekt der „Constitutio Europaea" zu erörtern. Sie hat in der Verfassungsdiskussion ihren Bezugspunkt und vermag dieser vice versa neue Anstöße zu verleihen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass Staatsgrenzen überschreitende Kooperationsformen vor allem aus der Staats- und Verwaltungspraxis erwachsen sind und neuere rechtliche Rahmenregelungen ihre Positivierung nicht zuletzt der normativen Kraft praktischer Erfahrungen verdanken. 12 Eine solche Normgenese bringt ein gleichermaßen starkes Bedürfnis nach dogmatischer Absicherung wie wissenschaftlicher Durchdringung mit sich. Für das „Recht der grenzüberschreitenden Verträge" hat die Habilitationsschrift von M. Niedobitek wichtige Grundlagen gelegt.13 Neben einer Analyse des spezifisch grenzüberschreitenden Moments gelingt ihr eine Systematisierung hinsichtlich der Träger und der Instrumente der Zusammenarbeit. Unterschiedliche Gestaltungsformen vom völkerrechtlichen 14 über den „gemeinschaftsrechtlichen" 15 bis zum „nationalrechtlichen" 16 Vertrag werden vorgestellt. Der Gegenstand vorliegender Untersuchung ist zugleich enger und weiter gefasst. Sie beschränkt sich einerseits auf das Teilsegment der grenznachbarschaftlichen Kooperation im Sinne oder nach dem Vorbild des Art. 24 Abs. 1 a GG 1 7 ; die sonstigen Formen der Zusammenarbeit sind nur als (rechts-)vergleichend wie historisch zu berücksichtigender Kontext mitgefiihrt. Andererseits bedingt die Einordnung der Kooperationsproblematik als Strukturfrage europäischer Verfassungs- und Gemeinschaftsbildung einen Perspektivenwechsel vom geographischen zum Verfassungs-Raum, von der konkreten
11 Ebd. S. 72 ff.: „Grenzüberschreitende Zusammenarbeit und ihr Stellenwert im Prozess der europäischen Integration". 12 Zur „normativen Kraft der Praxis" in Anlehnung an das geflügelte Wort von der „normativen Kraft des Faktischen" P. Häberle , Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 460 f. und passim. 13 M. Niedobitek , Das Recht der grenzüberschreitenden Verträge, 2001. 14 Ebd., S. 144 ff. 15 Ebd., S. 290 ff. 16 Ebd., S. 324 ff. 17 Dazu auch schon die Freiburger Dissertation von A. Beck , Die Übertragung von Hoheitsrechten auf kommunale grenznachbarschaftliche Einrichtungen, 1995, die Göttinger Dissertation von O. Kannler , Dezentrale grenzüberschreitende Zusammenarbeit und die Übertragung von Hoheitsrechten auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen nach Artikel 24 Absatz 1 a des Grundgesetzes, 1999, sowie Th. Lott, Neue Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit - Zugleich ein Beitrag zu Art. 24 Abs. 1 a GG, 1999.
. Gan der Untersuchung
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Grenzüberschreitung zur staatenübergreifenden Integration und vom Vertragsregime zur Gesamtheit des konstitutionellen Gefuges in Europa. Die Differenzierung nach unterschiedlichen Kooperationstypen, informellen oder rechtsverbindlichen Ausgestaltungen erscheint genauso wie die Frage nach den tatbestandlichen Voraussetzungen von Art. 24 Abs. 1 a GG im Lichte einer das nationale, europäische und Völkerrecht umfassenden Verfassungslehre im weitesten Sinne.18 Berührt sind deren Grundlagen genauso wie die verwaltungsrechtliche Systembildung diesseits und jenseits staatlicher Grenzen, berührt sind die dogmatischen Einzelfragen der kooperativen Öffnung des Verfassungsstaates, aber auch ihre kulturellen Tiefenschichten. Das Spannungsfeld von Besonderem und Allgemeinen bestimmt den Gegenstand der Untersuchung und ihr methodisches Vorgehen, lenkt den Blick bald auf die „grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit" in concreto, bald auf Dezentralisation und Kooperation als Konstitutionsprinzip von Staat und - entgegen der bekannten Trennungsthese verfasster Gesellschaft, von Nationalstaat, Europäischer Verfassungs- und internationaler Staatengemeinschaft. 19 Ein so umfassender Zugriff birgt allerdings die Gefahr, die Rechtswissenschaft auf eine Form überkomplexer Synthesebildung hin zu verpflichten und den Kooperations- bzw. Dezentralisierungsgedanken zu einer Metatheorie kooperativer Staatlichkeit zu überhöhen. Das gilt es durch Arbeit anhand von empirisch gesichertem Beispielsmaterial und positiven Rückbindung Rechtstexten zu verhindern. Nur diese wirklichkeitsbezogene gewährleistet, dass die durch verallgemeinernde Typisierung gewonnenen Grundprinzipien kritischer Rationalitätskontrolle standhalten und in ihrer historisch bedingten und bereichsspezifisch geprägten Partikularität begriffen werden können.
B. Gang der Untersuchung Der Gedanke dezentraler, staatenübergreifender Kooperation und ihrer integrativen Kraft für das sich verfassende Europa ist die Folie, auf der die dogma18 Zu solchen Verflechtungen einer gemeinsamen Verfassungslehre Ch. Tomuschat, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL 36 (1978), S. 7 ff., 50 f.; P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 1062; M. Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, 2001,S. 56 ff. 19 So ist auch Verfassung immer die Grundlage von Staat und Gesellschaft, vgl. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995 (Neudruck 1999), Rn. 11 ff.; ihm folgend und den Ansatz kulturwissenschaftlich fortschreibend P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 685 und passim; ders., Europäische Verfassungslehre, 2001/2002.
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Einleitung
tischen Konturen grenznachbarschaftlicher Zusammenarbeit entwickelt werden müssen. Das so verstandene Kooperationsprinzip darf nicht den terminologischen Unschärfen eines vermeintlich selbstverständlichen Alltagsbegriffs oder der Beliebigkeit zeitgeistorientierter politischer Rhetorik preisgegeben 20, sondern muss hinsichtlich seines Raumbezuges, seiner materialen Gehalte und seiner Träger näher aufgeschlüsselt werden. Dazu gehört auch die Kontextualisierung 21: Globalisierung, Internationalisierung und Europäisierung bestimmen den Makrokosmos kooperativen Zusammenwirkens politischer Gemeinschaften, Föderalisierung, Regionalisierung und Kommunalisierung ihre dezentrale Spezifizierung. Nach diesem der kooperativen Architektur des Europäischen Verfassungsraumes gewidmeten „allgemeinen" Einleitungsteil will der zweite Hauptabschnitt die historischen Entwicklungen und konkreten Erscheinungsformen staatenübergreifender Kooperation im Sinne einer Bestandsaufnahme festmachen. Zwar wurde von der konkreten Möglichkeit zur Übertragung von Hoheitsrechten auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen gem. Art. 24 Abs. 1 a GG bisher kein Gebrauch gemacht, aber die bis zu dieser Schwelle aus der Verwaltungspraxis erwachsenen Kooperationsformen weisen eine kaum überschaubare Fülle auf und lassen sich nur schwer in einheitliche ordnende Strukturen fassen. Ein solch „kooperatives Babylon" spiegelt schon die Entstehungsgeschichte von Art. 24 Abs. 1 a GG wider. Mittels einer zunächst räumlich verorteten, sodann typologisch arbeitenden Übersicht kann eine erste Systematisierung gelingen, bevor in vergleichender Sicht Rechtstexte von der Verfassungsebene bis hin zum einfachen Gesetz zum Kooperationsthema befragt werden. Der dritte Teil beginnt mit einer Erläuterung der Tatbestandsmerkmale von Art. 24 Abs. 1 a GG. Einen Schwerpunkt nimmt die Wortneuschöpfung „grenznachbarschaftlich" ein. Die - vor allem kulturwissenschaftliche - Erschließung der Begriffsbestandteile „Grenze" und „Nachbarschaft" zeigt, dass bei allen in den Materialien sichtbar werdenden Unschärfen der neue Verfassungsterminus weit weniger unglücklich geraten ist, als von der Literatur mitunter angenommen 22 . Das Modell durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit gestalteter Integrationsräume auf nicht-staatlicher Ebene kann für die europäische Praxis Vorbildwirkung entfalten und sorgt für eine weitere Präzisierung der Theorie
20 U. Di Fabio y Das Kooperationsprinzip - ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Umweltrechts, NVwZ 1999, S. 1153 ff, 1154. 21 P. Häberle , Die Verfassung „im Kontext", in: D. Thürer u. a. (Hrsg.), Verfassungsrecht in der Schweiz, 2001, § 2, Rn. 6 ff.; kontextualistische Ansätze schon bei E. Zeller , Auslegung von Gesetz und Vertrag, 1989, S. 110 ff. 22 A. Randelzhofer , in: M/D/H/S, Bd. 3 (Stand: 39. Lfg, 2001), Art. 24 Abs. 1, Rn. 196.
. Gan der Untersuchung
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kooperativer Verfassungs- und Verwaltungsstaatlichkeit. Es bestätigt darüber hinaus eine paradoxe, aber nicht widersprüchliche Interdependenz: Völker- und europarechtliche Implikationen, die Relativierung der Staatselemente23 und vor allem ein gewandeltes Souveränitätsverständnis haben grenznachbarschaftliche Kooperation überhaupt erst möglich gemacht, sie werden zugleich aber durch die neukonstituierte Öffnungsklausel mitbestimmt und in ihrer Fortentwicklung bedingt. Art. 24 Abs. 1 a GG schreibt selbst die Lehre von der Staatsgewalt ein Stück weit fort, gibt der Entgrenzung des Staates weiterfuhrende Impulse und bestätigt die alle nationalen Engführungen sprengende, in die europäische und Weltebene ausgreifende Dimension zahlreicher modernen Staatsaufgaben. Auch das Verwaltungsrecht, schon durch andere Faktoren in vielen Bereichen internationalisiert und europäisiert, bleibt nicht unberührt. So erfährt die Verwaltungsorganisation jenseits des Staates kreative Anregungen (staatenübergreifende Verwaltungsnetzwerke, Denken in Alternativen, dezentral gegliederte Verwaltung, internationale Behördenkommunikation), wird das besondere Verwaltungsrecht gerade in seinen Teilbereichen Kultur- und Wirtschaftsverwaltungsrecht, Umwelt- und Sicherheitsrecht für den Europäischen Verfassungsraum geöffnet. Die Zusammenschau von internationaler, europäischer und nationaler Ebene, von Verfassungs- und Verwaltungsrecht öffnet schließlich den Blick für die Legitimationsgründe der grenznachbarschaftlichen Zusammenarbeit. Facettenreiche Parallelen zu Föderalismus und Regionalismus werden sichtbar, sei es in politischer, kultureller oder wirtschaftlicher Perspektive. Bürgernähe, Bürgerverantwortung und demokratische Partizipation vor Ort, Verantwortungsteilung und Gemeinwohlorientierung verleihen der Idee einer europäische res publica präzisere Konturen. Die Ausdifferenzierung vertikaler Gewaltenbalance wird zum Mittel gegen europäischen Zentralismus und gegen die mit der Kompetenzübertragung auf die Europäische Union oder andere größere, gar globale Entscheidungseinheiten verbundenen Gefahren von freiheitsfeindlicher Machtakkumulation. Doch die von Art. 24 Abs. 1 a GG eröffnete „Integrationsgewalt" der Länder wirft zahlreiche dogmatische Detailfragen auf. Diese beleuchtet der vierte Teil. Der Klärung bedarf z. B , in welcher Rechtsform grenznachbarschaftliche Einrichtungen konstituiert werden können, welches Vertragsregime zur Verfügung steht und wie weit die Übertragungskompetenz der Länder reicht. Eine Grundsatzfrage überlagert die gesamte Diskussion. Welche Art hoheitlicher Gewalt üben grenznachbarschaftliche Einrichtungen aus - nicht-deutsche Hoheitsgewalt, auch-deutsche, gemischte oder originäre Hoheitsgewalt? Wenngleich die Systematik eine strukturelle Parallele von Art. 24 Abs. 1 GG und
23
Dazu ausfuhrlich unten Dritter Teil B.
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Einleitung
Art. 24 Abs. 1 a GG nahe legen mag 24 , kann aufgrund der vom verfassungsändernden Gesetzgeber in den Blick genommen Regelungsbereiche eine vollständige Entsprechung bzw. Strukturidentität nicht die Antwort sein. Vielmehr müssen die Spezifika der kooperativen Wahrnehmung hoheitlicher Gewalt durch „subnationale" Einheiten herausgearbeitet und in diesem Lichte die Probleme der Verwaltungskontrolle, des Rechtsschutzes und der demokratischen Legitimation expliziert werden. Eine Liste von Topoi, die bei der Neuerrichtung einer grenznachbarschaftlichen Einrichtung zu berücksichtigen sind, schließt die dogmatisch Untersuchung ab. In einem Ausblick werden schließlich rechtpolitische Konsequenzen sowie weitere Möglichkeiten angedeutet, den kooperativen Verfassungsstaat nach außen hin zu öffnen. Zusammenfassende Thesen formulieren die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung. Deren Methoden gilt der letzte Abschnitt der Einführung.
C. Methoden der Untersuchung Methodische Vorbemerkungen zu einer wissenschaftlichen Untersuchung sind in gleichem Maße üblich wie verfänglich. Sie erweisen sich entweder schlicht als überflüssig, insoweit sie nur vorwegnehmen, was an folgerichtiger Vorgehensweise auch ohne „selbstreflexive Begleitüberlegungen" aus der Sache unmittelbar deutlich werden sollte. 25 Oder sie laufen Gefahr, durch eine mehr oder weniger verklausulierte „captatio benevolentiae" die handwerklichen Unsicherheiten der folgenden Darstellung entschuldigend zu relativieren. Dennoch ist die knappe Selbstvergewisserung über das methodische Vorgehen gerade dort sinnvoll, wo eine relativ neue, von der Rechtspraxis inspirierte Themenstellung zu einem „methodologischen anything goes" 26 verleiten könnte bzw. die Jurisprudenz vergleichend oder im Gespräch mit den Geistes- und Wirtschaftswissenschaften die gesicherten Grenzen der eigenen Disziplin überschreitet. Die 24
Dafür sprechen schon die Gesetzgebungsmaterialien: BR-Drs. 501/92, BT-Drs. 12/3338, BR-Drs. 360/92, Rn. 13. Aus der Lit.: R. Rixecker , Grenzüberschreitender Föderalismus - eine Vision der deutschen Verfassungsreform zu Art. 24 Abs 1 des Grundgesetzes, in: K. Bohr (Hrsg.), Föderalismus, 1992, S. 201 ff, 210. Vgl. aus der weiteren Lit.: Ch. J. Autexier , Rechtsgutachten, in: Etudes et Documents du Centre d'Etudes Juridiques Françaises, 1993, S. 85 ff.; R. Streinz , in: M. Sachs (Hrsg.), GGKommentar, 2. Aufl., 1999, Art. 24, Rn. 38; J. Schwarze , Die Übertragung von Hoheitsrechten auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen i. S. d. Art. 24 I a GG, FS E. Benda, 1995, S. 311 ff, 317. 25 H. Schulze-Fielitz , Was macht die Qualität öffentlich-rechtlicher Forschung aus?, JöR 50 (2002), S. 1 ff, 30. 26 E. Kramer , Juristische Methodenlehre, 1998, S. 33.
C. Methoden der Untersuchung
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mit einer solchen Öffnung verbundenen vermeintlichen „Gewissheitsverluste im juristischen Denken" 27 sind dann ein Gewinn für die rechtswissenschaftliche Theoriebildung, wenn sie in gleichem Maße über die Rationalität der Normbegründung und die das Vorverständnis des späteren Norminterpreten bestimmenden Faktoren Aufschluss geben.28 Die „Vernünftigkeit" staatenübergreifender Kooperationsformen ist nicht nur eine juristische, sondern auch eine politische, kulturelle und ökonomische; Politik, Wirtschaft und Kultur bestimmen das Vorverständnis derer, die in der Praxis vielgestaltige Möglichkeiten der Zusammenarbeit längst erprobt haben und den neu geschaffenen Rechtsrahmen nun vergleichend, vielleicht auch experimentell auszuloten bestrebt sind.
I. Der rechtsvergleichende und kulturwissenschaftliche Ansatz Der Untersuchungsgegenstand ist mit ausschlaggebend für die Methodenwahl. Das Thema „Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit in Europa" macht zunächst den Rechtsvergleich zur selbstverständlichen Voraussetzung wissenschaftlicher Theoriebildung. 29 Art. 24 Abs. 1 a des deutschen Grundgesetztes ist nur eine konkrete Normvariante zur Übertragung von Hoheitsrechten und Errichtung grenznachbarschafitlicher Einrichtungen, die im Gesamtbild des Verfassungsstaates als Typus und vor dem Hintergrund einer in gemeinsamen Wurzeln gründenden Staats-, Verfassungs-, Europarechts- und Völkerrechtslehre erschlossen werden muss.30 Jede etatistisch-nationale Introvertierheit wäre hier in besonderem Maße wirklichkeitsblind und gefährlich, da gelingende Kooperation das Wissen um die rechtskulturellen Vorprägungen des jeweiligen Partners voraussetzt und sie darüber hinaus gerade das in der nur äußerlich fremden Rechtsordnung und ihren Texten gespeicherte Reservoir an Problemlösungsan-
27 So der gleichermaßen plastische wie viel zitierte Titel einer Monographie von G. Haverkate aus dem Jahre 1977. 28 Zum Vernunftargument bei der Normbegründung siehe B. Rüthers, Rechtstheorie, 1999, Rn. 96; zum Vorverständnis im Sinne der Theorieentwürfe H.-G. Gadamers und J. Essers vgl. E. Kramer, Juristische Methodenlehre, 1998, S. 219 ff. (S. 222: moralische, rechtsphilosophische und politische Überlegungen als Schichten des Vorverständnisses; Verweis auf die Relativität eines „zeitgeistgeprägten Vorverständnisses"). 29 Die wissenschaftliche Erkenntnis als Zweck der Rechts- und Verfassungsvergleichung betont G. de Vergottini, Diritto costituzionale comparato, 4. Aufl. 1993, S. 5 ff. 30 J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. 1, 1988, S. 76; K-P. Sommermann, Die Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Fortentwicklung des Staats- und Verwaltungsrechts in Europa, DÖV 1999, S. 1017 ff, 1017.
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Einleitung
Sätzen gemeinsam nutzen will. 3 1 Texte, gleich welchen Ursprungs, gleich ob juristischer oder literarischer Natur, können Haltungen der Bürger und der Staatsorgane beeinflussen, sie können europa- und sogar weltweit wirken. Vergleichende Textwissenschaft ist „potentielle Wirklichkeitswissenschaft" 32. Nur mit diesem Wissen erschließt sich Art. 24 Abs. 1 a GG. Wie zahlreiche andere Kooperations-Klauseln oder Europa-Artikel auch, bricht er in spezifischer Offenheit für das Staatenübergreifende die deutsche Verfassung auf und macht aufgrund seiner Teleologie eine rein verfassungsimmanente Norminterpretation unmöglich. Vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Rechtskultur sind die europäischen Staaten und ihre jeweiligen Wissenschaftlergemeinschaften gehalten, ihren Teilbeitrag zu der Gemeinschaftsleistung fortschreitender Konstitutionalisierung durch innereuropäischen Rechtsvergleich zu erbringen. Wechselseitige Rezeptions- und Produktionsprozesse 33 sind dem Gedanken der Zusammenarbeit dabei wesenseigen und zugleich auf einer ersten Stufe Voraussetzung ihrer konkreten verfassungsrechtlichen Ausgestaltung, auf einer zweiten Stufe Maßstäbe der späteren Verfassungsinterpretation. Was „grenzüberschreitende Zusammenarbeit" meint, bestimmt nicht mehr der einzelne Verfassungsstaat alleine. 34 Von der Genese bis zur Durchsetzung der Kooperationsnormen muss daher jeder Versuch fehlschlagen, durch eine rein autonome, „ungebundene" einzelstaatliche Verfassungsentscheidung ohne intensiven Austausch mit den potentiellen Partnern der Zusammenarbeit den geschlossenen Nationalstaat aufbrechen zu wollen. 35 Der kooperativ offene Staat ist nicht mehr allein von innen national, sondern auch von außen ¿¿ernational mitverfasst. Seine rechtlichen Strukturen und seine Handlungsfähigkeit gewinnt er aus einem gesamteuropäischen Normenensemble mit unzweideutiger Teleologie: Vergemeinschaftung durch Öffnung und Kooperation. 31 Die mangelnde Bereitschaft der deutschen Staatsrechtswissenschaft, Einflüsse von außen aufzunehmen, beklagt J. A. Frowein , Kritische Bemerkungen zur Lage des deutschen Staatsrechts aus rechtsvergleichender Sicht, DÖV 1998, S. 806 ff, 806. 32 W. Brugger , Kultur, Verfassung, Recht, Staat, AöR 126 (2001), S. 271 ff, 275 (zugleich ein Besprechungsaufsatz zu P. Häberle , Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998). 33 P. Häberle , Theorieelemente eines allgemeinen juristischen Rezeptionsmodells, JZ 1992, S. 1033 ff.; G. Frankenberg , Stichworte zur „Drittwirkung" der Rechtsphilosophie im Verfassungsrecht, in: R. Gröschner/M. Morlok (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Rechtsdogmatik in Zeiten des Umbruchs, 1997, S. 105 ff, 110; zur Kollisionsvermeidung im europäischen Verwaltungsrecht durch Rezeption M. Zuleeg , Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht - wechselseitige Einwirkungen, in VVDStRL 53 (1994), S. 154 ff, 169 ff. 34 P. Häberle , Europäische Verfassungslehre, 2001/2002. 35 Vgl. dazu G. Halmes , Rechtsgrundlagen für den regionalen Integrationsprozeß in Europa, DÖV 1996, S. 933 ff, 935.
C. Methoden der Untersuchung
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Um diesen Befund anhand einer sorgfältigen Exegese europäischer Verfassungstexte einschließlich ihrer (auch außereuropäischen) Kontexte zu belegen, wäre eine vergleichende Zusammenschau all der Verfassungsnormen notwendig, die den Verfassungsstaat in den staatenübergreifenden Raum hin öffnen. Hinzu käme eine Übersicht zu den einfachgesetzlichen Ausgestaltungen dieser Öffnungsklauseln, beispielsweise im Bau-, im Landesplanungs- oder Raumordnungsrecht, im grenzüberschreitenden Kommunal-, Sicherheits- oder Umweltrecht. 36 Die vorliegende Untersuchung muss angesichts solcher Materialfülle notwendig eklektizistisch vorgehen und sich auf die grenznachbarschaftliche Kooperation als ein Teilsegment aus dem Gesamtgefüge beschränken. Dabei darf ein übergeordneter Aspekt aber nicht vergessen werden. So wie die Zusammenarbeit zwischen Grenznachbarn, sei sie auf gesamtstaatlicher oder gliedstaatlicher, regionaler oder kommunaler Ebene angesiedelt, tragendes Element in der neuen Architektur des europäischen Hauses ist, bilden die sie ermöglichenden Verfassungs- und Gesetzestexte unverzichtbare Bausteine einer Dogmatik der kooperativ offenen Staatlichkeit.37 Von der Souveränitätsfrage bis zum Verwaltungsorganisationsrecht müssen auf unterschiedlicher Theorie- und Abstraktionshöhe die Kooperationsklauseln als „nationales Europaverfassungsrecht" (P. Häberle) begriffen und auf ihre Europa konstituierende Dynamik hin befragt werden. Der vom EuGH auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts eindrucksvoll praktizierte „wertende Rechtsvergleich" 38 ist das probate Mittel, um die kooperative Öffnung des Verfassungsstaates zum Europa der supranationalen EU, aber auch zum Europa des Europarates oder der OSZE, schließlich hin zu allen anderen regionalen oder internationalen Verantwortungsgemeinschaften mit den Kunstregeln rechtswissenschaftlicher Theoriebildung „einzufangen". Das gilt umso mehr, je intensiver die Öffnung nach außen politisches Credo der europäischen Verfassungsstaaten und letztlich ein neues Legitimationselement staatlicher Herrschaft wird. Will der Rechtsvergleich sich nicht vordergründig auf ein Gegenüberstellen von Texten, Theorien und Judikaten beschränken, kann er nur als umfassender Kulturvergleich gelingen.39 Diese Gleichsetzung hat ein kulturwissenschaftli36
Zum Sicherheits- und Umweltrecht insbes. unten Dritter Teil E. II. 2. und 4. K Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964; P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat (1978), in: ders, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 3. Aufl. 1998, S. 407 ff.; B. Beutler, Offene Staatlichkeit und europäische Integration, FS E.-W. Böckenförde, 1995, S. 109 ff. 38 Th. Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 684; siehe auch die kritische Stellungnahme dazu bei W. Weiß, Die Verteidigungsrechte im EG-Kartell verfahren, 1996, S. 23 ff. 39 Programmatisch zur Rechts- bzw. Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung schon P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1. Aufl. 1982, S. 33, 37
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Einleitung
ches Rechtsverständnis zur unausgesprochenen Prämisse. Es ist i n der Tradition H. Hellers , R. Smends, G. Holsteins
oder A. Hensels vor allem v o n P. Häberle
fur die vergleichende Verfassungslehre ausgearbeitet worden 4 0 und mitbestimmend für die gegenwärtige verfassungs- wie europarechtliche Diskussion. 4 1 Die kulturelle Grundierung ist vor allem dort unverzichtbar, w o der Untersuchungsgegenstand selbst ein kulturelles Phänomen ist. Das für die „grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit" zu behaupten, kommt fast schon einer Banalität gleich. Die Kooperation findet i m kulturgeprägten Raum Europa statt 4 2 und kulturelle Gemeinsamkeiten liefern ihr zu einem wichtigen T e i l die innere Legitimation. Die unverkennbare Parallele zu Art. 29 Abs. 1 GG, der neben landsmannschaftlicher Verbundenheit, wirtschaftlicher Zweckmäßigkeit und Erfordernissen der Raumordnung und Landesplanung auch die „geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge" als mögliche Voraussetzungen einer Neugliede-
2. Aufl. 1998, S. 463 f. ; jetzt auch R. Wahl , Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung, FS H. Quaritsch, 2000, S. 163 ff., 173 ff. Auf die Bedeutung außerrechtlicher Faktoren und Strukturen verweisen auch H. Krüger , Eigenart, Funktion und Methode der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, FS M. Kriele, 1997, S. 1393 ff., 1398 ff., sowie früh H. Strebet, Vergleichung und vergleichende Methode im öffentlichen Recht, ZaöRV 24 (1963), S. 405 ff., 409 ff. 40 P. Häberle , Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 2 ff., legt seinen Studien einen offenen Kulturbegriff zugrunde wie beispielsweise auch C. Kluckhohn, The Concept of Culture, in: E. A. Schuler and others (ed.), Readings in Sociology, 4 t h ed. 1971, S. 74 ff., 84: "In sum, the distinctive way of life that is handed down as the social heritage of a people does more than supply a set of skills for making a living and a set of blueprints for human relations. Each different way of life makes its own assumptions about the ends and purposes of human existence, about what human beings have a right to expect from each other and the gods, about what constitutes fulfillment or frustration. Some of these assumptions are made explicit in the lore of the folks; others tacit premises which the observer must infer by finding consistent trends in word and deed." In globaler Perspektive Ph. Mastronardi , Recht und Kultur: Kulturelle Bedingtheit und universaler Anspruch des juristischen Denkens, ZaöRV 61 (2001), S. 61 ff. 41 K. Hesse, Die Welt des Verfassungsstaates - Einleitende Bemerkungen, in: M. Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates, 2001, S. 11 ff., 11: „Es ist die kulturwissenschaftliche Richtung, der aller Voraussicht nach die Zukunft gehören wird." 42 P. Häberle , Europäische Rechtskultur (1993), in: ders. y Europäische Rechtskultur, TB 1997, S. 9 ff., 13 ff.; W. Huber , Landesbischof der Evangelischen Kirche in Berlin Brandenburg, betont in seinem Essay „Der Traum von den ,schönen glänzenden Zeiten4" (SZ vom 12. April 2001, S. 12) die kulturelle Prägung Europas: „Europa ist mehr als eine politische und ökonomische Idee", „Europa ist in stärkerem Maße eine kulturelle als eine geographische Größe". Von „kulturelle(n) Elemente(n)" in der EUGrundrechtecharta spricht P. J. Tettinger , Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, NJW 2001, S. 1010 ff.. 1013 f. ; zum „Europäischen Rechtskreis" siehe Ph. Mastronardi , Recht und Kultur: Kulturelle Bedingtheit und universaler Anspruch des juristischen Denkens, ZaöRV 61 (2001), S. 61 ff., 61/62.
C. Methoden der Untersuchung
13
rung des Bundesgebietes nennt 43 , mag auf den ersten Blick überraschen. Doch ist sie keineswegs ein Zufall, denn in seiner Neugliederungsklausel formuliert das deutsche Grundgesetz ein weit über den konkreten Anwendungsfall und das rein innerstaatliche Anwendungsgebiet hinaus gültiges Integrationsprogramm zur politischen Gemeinschaftsbildung - unter anderem dank und aus Kultur. Ebenso wenig sollte vergessen werden, dass die Begriffe „Grenze" und „Nachbarschaft" kulturgeprägte Größen sind. Grenznachbarschaftliche Einrichtungen auf ein rein rechtstechnisches Konstrukt zu reduzieren, griffe deshalb zu kurz. Sie können vielmehr, ganz im Sinne des Subsidiaritätsdenkens, vor Ort zu einem neuen Element gemeineuropäischer Verfassungs- und Verwaltungskultur 44 werden und sind - um ein berühmtes Wort von H. Heller aufzugreifen gemäß ihrer „Natur- und Kulturbedingungen" 45 zu organisieren. Die kooperative Öffnung des Verfassungsstaates wirkt seit ihren Anfängen in der Makrodimension identitätsprägend für die europäische Verfassungskultur 46. Jetzt übernehmen in der Mikrodimension kleinräumige, staatenübergreifende bzw. grenzüberschreitende Kooperationsformen zunehmend die gleiche Rolle und geben der Infrastruktur Europas ein neues Gesicht - in kultureller, aber auch politischer und wirtschaftlicher Hinsicht.
I I . Die Politik- und Wirtschaftswissenschaften als Kontext Der kulturwissenschaftlichen Analyse wohnt neben dem vergleichenden auch ein disziplinübergreifendes Moment inne. Dass die Komplexität des Kooperationsthemas jede disziplinäre Segmentierung ad absurdum führt, versteht sich von selbst. Neben den Kulturwissenschaften muss die Jurisprudenz vor allem das Gespräch mit den Politik- und Wirtschaftswissenschaften suchen und um eine
43
Vgl. z. B. Ph. Kunig, in: I. v. Münch (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 4. Aufl. 2001, Art. 29, Rn. 20 ff. (zu den Neugliederungskriterien); vgl. auch U. Berlit, Verfassungsrechtliche Perspektiven des Föderalismus, in: H. H. von Arnim/G. Färber/S. Fisch (Hrsg.), Föderalismus - Hält er noch, was er verspricht?, 2000, S. 63 ff, 95 ff. 44 P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 90, Fn. 136; W. Thieme, Über Verwaltungskultur, Die Verwaltung 20 (1987), S. 277 ff, 278 ff.; D. Czybulka, Verwaltungsreform und Verwaltungskultur, FS f. Knöpfle, 1996, S. 79 ff, 91 ff; W. Jann, Verwaltungskulturen im internationalen Vergleich, Die Verwaltung 33 (2000), S. 325 ff, 329; S. Fisch, Verwaltungskulturen - Geronnene Geschichte?, Die Verwaltung 33 (2000), S. 303 ff, insbes. 303 f., 309 ff. 45 H Heller, Staatslehre, 6. Aufl., 1983, S. 189. 46 P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff.; M. Stolleis, Europa - seine historischen Wurzeln und seine künftige Verfassung, 1997, S. 6.
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Einleitung
systematische Zusammenführung politischer Theorie 47 , ökonomischer Analyse und rechtswissenschaftlicher Integrationsforschung ringen. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit, ihre Legitimationsvoraussetzungen und Realisierungsbedingungen, umgreifen einen Themenkomplex an der Schnittstelle von Recht, Wirtschaft und Politik in Europa und lassen das Desiderat einer „interdisziplinären Europaforschung" umso dringlicher erscheinen. 48 Das freilich ist eine lang vertraute Gewissheit, von H. P. Ipsen in seinem „Europäischen Gemeinschaftsrecht" im Jahre 1972 zum europäischen Wissenschaftsprogramm erhoben: „In ihrer Zuordnung zur juristischen Durchdringung der Integration ist politologische Empirie und Theorie von besonderer Bedeutung für die folgenden Themata: Willensbildungsprozeß der Gemeinschaftsorgane (...); Problem des spill-over-Effekts (...); organisierte und nicht-organisierte übernationale Interessenvertretung; öffentliche Meinungsbildung zum europäischen' Bewußtsein (...); Strukturwandel der Außenpolitik unter dem Integrationseinfluß (...) - um ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Ordnung Wesentliches eines solchen Forschungsprogramms zu nennen, das rechtsrelevant und rechtsbezogen ist." 49
Das Wissen juristischer Intégrations- und Kooperationsforschung um ihre politische Bedingtheit ist heute notwendiger denn je. Für das Europa der EU bzw. EG sind die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBJI) seit dem Vertrag von Maastricht erste, wenngleich noch vage Konkretisierungen auf dem Weg zur „politischen Union". 5 0 Weit darüber hinaus gehört der Kooperationsgedanke im gesamten Europäischen Verfassungsraum zu den wesentlichen Schrittmachern der Integrationspolitik und berührt die unterschiedlichsten Themenfelder: Infrastrukturbildung; Frieden, Aussöhnung und Stabilität zwischen den Nachbarn in Europa; Gewaltenteilung und Machtbalance in der global vernetzten Gesellschaft; gemeinsame Verantwortung und nachhaltige Entwicklung; die aktivere Teilhabe der Bürger am Konstitutionalisierungsprozess, ihre Partizipation vor Ort; staatenübergreifende kommunikative Netzwerke - um nur besonders markante Beispiele anzuführen. Aufgrund all dieser Bezüge muss die nor47 Nachdrücklich betont H. P. Ipsen , Die Europäische Union - zu Reformprogrammen politikwissenschaftlicher Einlassung, FS U. Everling, Bd. 1, 1995, S. 551 ff, 551, die europäische Integration sei auch eine Aufgabe für die Politikwissenschaften und die politische Theorie. 48 M. Jachtenfuchs/B. Kohler-Koch , Regieren in der Europäischen Union. Fragestellungen für eine interdisziplinäre Europaforschung, in: PVS 37 (1996), S. 537 ff.; ebenso M. Höreth , Die Europäische Union im Legitimationstrilemma, 1999, S. 20. 49 Ebd, S. 17; zur Integrationspolitik ferner S. 979. 50 Vgl. z.B. M. Pechstein/Ch. König , Die Europäische Union, 3. Aufl. 2000, Rn. 340 ff; Th. Oppermann , Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 45, Rn. 305; R. Streinz , Europarecht, 5. Aufl. 2001, Rn. 18.
C. Methoden der Untersuchung
15
mative Ordnung staatenübergreifender, grenzüberschreitender und grenznachbarschaftlicher Kooperation auch aus der ihr immanenten politischen Dimension erklärt werden. Nicht anders verhält es sich mit dem ökonomischen Kontext. Die Zusammenhänge von Kooperationslehre und originär wirtschaftswissenschaftlichen Themenstellungen sind multidimensional, betreffen die Teleologie der Zusammenarbeit ebenso wie ihre konkrete Organisation. Es gilt die negativen Auswirkungen von Globalisierung und Europäisierung genauso aufzufangen wie staatenübergreifende und grenzüberschreitende Kooperationsformen am Kriterium wirtschaftlicher Effizienz auszurichten. Wo immer administrative Reformen und neue Verwaltungsstrukturen diskutiert werden, bestimmen auch ökonomische Kriterien Innovationsmöglichkeiten und -notwendigkeiten. Das wohl bekannteste, schon dem Begriffe nach betriebswirtschaftlich vorgeprägte Stichwort liefert das „new public management". Umschrieben ist damit die unter der britischen Premierministerin M. Thatcher entwickelte und teilweise erprobte Idee, den „civil service" an den Prinzipien des Managements in Unternehmen zu orientieren. 51 Das Konzept hat europa-, ja weltweit Karriere gemacht und ist heute vielfach rezipiertes Leitbild moderner Verwaltungstätigkeit, will die Potenzen der Leistungsverwaltung gerade in Zeiten großer Sparzwänge möglichst ressourcenschonend aktivieren. Auch andere Konzepte der Wirtschaftswissenschaften wie „corporate culture" und „corporate identity" gelten als Vorbilder moderner Verwaltungsorganisation. Damit ist zwar auch im kooperativen Verwaltungsstaat kein grundsätzlicher Paradigmenwechsel von einer primär juridisch-politischen zu einer rein ökonomischen Entscheidungsrationalität vollzogen oder einer Verabsolutierung ungebändigten Marktdenkens das Wort gere51
Dazu Ch. Hood , Public Administration, 1991, S. 3-19; J B. Christoph, The Remaking of British Administrative Culture, Adminsitration and Society 24 (1992), S. 163 ff., 165; S.Fisch, Verwaltungskulturen - Geronnene Geschichte?, Die Verwaltung 33 (2000), S. 303 ff., 313\ K. König, Neue Verwaltung oder Verwaltungsmodernisierung: Verwaltungspolitik in den 90er Jahren, DÖV 1995, S. 367 ff.; ders. f Öffentliche Verwaltung - postindustriell, postmodern, postbürokratisch, FS f. Knöpfle, 1996, S. 141 ff.; ders., Öffentliches Management und Governance als Verwaltungskonzepte Zehn Thesen, DÖV 2001, S. 618 ff.; M. Wallerath, Die Änderung der Verwaltungskultur als Reformziel, Die Verwaltung 33 (2000), S. 351 ff., 351 m. w. N.; speziell zum Sozialrecht K.-J. Bieback, Effizienzanforderungen an das sozialstaatliche Leistungsrecht, in: W. Hoñmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Effizienz als Herausforderung an das Verwaltungsrecht, 1998, S. 127 ff., 156 ff.; K. König/J. Beck,, Modernisierung von Staat und Verwaltung. Zum Neuen Öffentlichen Management, 1997; F. Naschold/J. Bogumil, Modernisierung des Staates. New Public Management in deutscher und internationaler Perspektive, 2. Aufl. 2000; aus rechtssoziologischer Sicht M. Rehbinder, Rechtssoziologie, 4. Aufl. 2000, S. 208 ff. Verwiesen sei schließlich auf H.-P. Bull, Reinventing NPM: Verwaltungsmodernisierung im Rechtsstaat, DVB1. 2001, S. 1818 ff., 1818.
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Einleitung
det. Das ökonomische „System" mit seinen Prinzipien wie Privateigentum, Markt und Wettbewerb steht dem auf den Grundsätzen von Menschenwürde und Humanität, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gründenden politischadministrativen „System" weiterhin eigenständig gegenüber. 52 Doch sind beides keine geschlossenen Systeme, die einander nur von außen komplementär ergänzen. Überschneidungen und gemeinsame Zielperspektiven bilden vielmehr eine übergreifende Basis, die manche Irrtümer der die Welt in künstliche Untergliederungen aufsplitternden Systemtheorie bestätigt. So blendet die Entwicklung neuer rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten den ökonomischen Faktor in den seltensten Fällen aus. Vor allem die Infrastruktur kooperativen Zusammenwirkens ist auch eine wirtschaftliche - der bereits zitierte Art. 29 GG kann das für den deutschen Föderalismus nachweisen.53 Nicht das Nebeneinader von Recht und Kultur, Recht und Politik, Recht und Wirtschaft bestimmt den hier vorgeschlagenen Ansatz. Das Recht wird nicht auf das reine Sollen reduziert, sondern die Normativität im Sein, das sie zu gestalten trachtet, mitverankert. Recht ist immer auch ein Stück Kulturprodukt, politisches Gestaltungsinstrument und Ergebnis wirtschaftlicher Notwendigkeit. Rechtsvergleichende und disziplinübergreifende Aspekte finden ihren Platz daher nicht in gesonderten Exkursen, Ergänzungen oder Ausblicken, sondern bleiben den einzelnen Themen von vorneherein zugeordnet. Unter diesen Prämissen können mit dem Gedanken dezentraler, staatenübergreifender und integrationsstiftender Kooperation die Grundlagen eines europäischen Verfassungsprinzips vorgestellt und für grenznachbarschaftliche Einrichtungen konkretisiert werden. Der kleinste gemeinsame Nenner dessen, was das zu entwickelnde Kooperationsprinzip ausmacht, galt schon für das kooperative Verwaltungshandeln i m 19. Jahrhundert und sei der Untersuchung als schlichter Prolog vorangestellt: „Mit den Bürgern und Betroffenen zusammen ging es leichter, gegen sie ging es schwieriger. Die Zusammenarbeit vermehrte die Erfolgsaussichten" 4 - damals wie heute.
52 K König, Öffentliche Verwaltung - postindustriell, postmodern, postbürokratisch, FS F. Knöpfle, 1996, S. 141 ff, 142; E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, S. 24 f. Zum Verhältnis von Recht und Wirtschaft aus systemtheoretischer Sicht G. Roellecke, Zur Unterscheidung und Koppelung von Recht und Wirtschaft, Rechtstheorie 31 (2000), S. 1 ff, 6 ff. 53 P. Häberle, Ein Zwischenruf zurföderalen Neugliederungsdiskussion in Deutschland - Gegen die Entleerung von Art. 29 Abs. 1 GG, FS W. Gitter, 1995, S. 315 ff. 54 Th. Ellwein, Kooperatives Verwaltungshandeln im 19. Jahrhundert, in: N. Dose/R. Voigt (Hrsg.), Kooperatives Recht, 1995, S. 43 ff, 59.
Erster Teil
Der Gedanke dezentraler, staatenübergreifender und integrationsstiftender Kooperation - Grundlagen eines europäischen Verfassungsprinzips A. Staatenübergreifende Kooperationsformen als politische und rechtliche Zielperspektive in der Europäischen Verfassungsgemeinschaft I. Problemstellung Art. 24 Abs. 1 a GG normiert in Gestalt der „grenznachbarschaftlichen Zusammenarbeit" einen neuartigen Typus staatenübergreifender Kooperation, der sich über das konkrete Anwendungsbeispiel der bundesrepublikanischen Verfassung hinaus als strukturbildendes Element verfassungsstaatlicher Integrationsoffenheit etablieren könnte. In seinem Wortlaut spiegelt sich die bereits einleitend umrissene, grundlegend veränderte Wirklichkeit wider, mit der alle europäischen Nationalstaaten zu Beginn des 21. Jahrhunderts konfrontiert werden und die einen grundlegenden Funktionswandel über die bislang bekannten Formen „offener", noch weitergehend „integrierter" Staatlichkeit hinaus bedingt. 1 Neue Strömungen der Staats-, Verfassungs- und Gesellschaftstheorie bilden die Folie für das Normverständnis. Die folgenden Stichworte mögen der Veranschaulichung dienen.
1 Grundlegend dazu bereits K. Vogel , Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964, S. 42; vgl. auch J. Isensee , Staat und Verfassung, HStR, Bd. I, 2. Aufl. 1995, § 13, Rn. 149; M Hilf Europäische Union: Gefahr oder Chance für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz, VVDStRL 53 (1994), S. 7 ff., 8; B. Beutler , Offene Staatlichkeit und europäische Integration, FS E.-W. Böckenförde, 1995, S. 109 ff.
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Erster Teil: A. Staatenübergreifende Kooperationsformen 1. Die Implikationen Gesellschaftstheorie
gegenwärtiger
Staats-, Verfassungs- und
auf die staatenübergreifende
Zusammenarbeit
Die Interdependenz von „nationalen und staatsübergreifenden Lebensbereichen" 2 zwingt die politische Philosophie, ihre staatszentrierte Tradition zu überwinden. 3 Sie stellt Kernelemente der überkommenen Staatslehre grundsätzlich i n Frage, allen voran das Souveränitätsdogma und den staatsbezogenen Verfassungsbegriff überschaubar.
5
4
- die wissenschaftliche Diskussion zu letzterem ist kaum
Spätestens seit den Verträgen von Maastricht (1992) und Ams-
2 D. Th. Tsatsos, Integrationsförderung und Integrationswahrung - Zur Europäischen Dimension der Verfassungsfunktion, FS M. Kriele, 1997, S. 1263 ff., 1266; ders., Die Europäische Unionsgrundordnung im Schatten der Effektivitätsdiskussion, EuGRZ 2000, S. 517 ff.; H.-W. Rengeling, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht wechselseitige Einwirkungen, VVDStRL 53 (1994), S. 202 ff., 219 spricht plastisch von einer ,„Ent-Grenzung nationalen Rechts". 3 So M. Höreth, Die Europäische Union im Legitimationstrilemma, 1999, S. 18. 4 In der Rechtsprechung des EuGH (Les Verts/Europäisches Parlament, Slg. 1986, 1339, 1365) ebenso wie in einer frühen Entscheidung des BVerfG (E 22, 293, 296) werden die Gemeinschaftsverträge als „Verfassung der Gemeinschaft" anerkannt, wenigstens als solche bezeichnet. Generalanwalt M. Lagrange spricht bereits in der Rechtssache Costa/E.N.E.L. von einer „echten Verfassung" der Europäischen Gemeinschaften (Slg. 1964, S. 1255 ff., 1289). Zu diesem von der Rechtsprechung des EuGH nachhaltig geprägten Selbstverständnis der Gemeinschaft E. Stein, Lawyers, Judges and the Making of a Transnational Constitution, American Journal of International Law 75 (1981), S. 1 ff.; H. Steinberger, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S. 9 ff., 18 f., sowie J. Schwarze, Auf dem Wege zu einer europäischen Verfassung - Wechselwirkungen zwischen europäischem und nationalem Verfassungsrecht, DVB1 1999, S. 1677 ff., 1681 ff. 5 J. Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, JZ 1993, S. 585 ff; A. Weber, Zur künftigen Verfassung der Europäischen Gemeinschaft, JZ 1993, S. 325 ff.; ders., Die Europäische Grundrechtscharta - auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung, NJW 2000, S. 537 ff; M. Hilf Europäische Union: Gefahr oder Chance fur den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz, VVDStRL 53 (1994), S. 7 ff., 20; P. Kirchhof Die Staatenvielfalt - ein Wesensgehalt Europas, FS Schambeck, 1994, S. 947 ff.; D. Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, 1995; H. H. Rupp, Europäische Verfassung und demokratische Legitimation, AöR 120 (1995), S. 269 ff.; J.-F. Aubert, Nécessité et fonctions de la Constitution, in: R. Bieber/P. Widmer (Hrsg.), L'espace constitutionnel européen, 1995, S. 15 ff.; M. Stolleis, Europa - seine historischen Wurzeln und seine künftige Verfassung, 1997, S. 16 ff.; R. Steinberg, Grundgesetz und europäische Verfassung, ZRP 1999, S. 365 ff.; W. Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, S. 28 ff.; S. Oeter, Europäische Integration als Konstitutionalisierungsprozess, ZaöRV 59 (1999), S. 901 ff.; Ch. Walter, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Konstitutionalisierungsprozess, ZaöRV 59 (1999), S. 961 ff., 966; Th. Oppermann, Der Europäische Traum zur Jahrhundertwende, JZ 1999, S. 317 ff.; W. Czaplinski, Die europäische Verfassung im Werden, in: H. Bauer u. a. (Hrsg.), lus Publicum im Umbruch, 2000, S. 11 ff.; /. Pernice, Europäisches Verfassungsrecht im Werden, in: H. Bauer u. a. (Hrsg.), lus Publicum im Umbruch, 2000, S. 25 ff.; ders. y Europäisches und
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I. Problemstellung
terdam (1997) kann der europäische Einigungsprozess nicht mehr auf die Idee der Vergemeinschaftung bloßer Teilbereiche von Wirtschaft und Politik reduziert werden. Nach Nizza markiert der EU-Gipfel von Laeken (Dezember 2001) mit der Einsetzung eines Verfassungskonvents
unter Leitung des ehemaligen
französischen Staatspräsidenten Giscard d'Estaing
einen neuen Meilenstein auf
dem W e g zu einer „demokratischeren, transparenteren, effizienteren", zu einer „verfassten" U n i o n . 6 Es stellen sich heute die Fragen nach einer europäischen Öffentlichkeit 7 und einem europäischen Gemeinwohl 8 , nach einem europäischen V o l k 9 und einem europäischen Verfassungsvertrag (J. Fischer) bzw. einer europäischen Verfassung 1 0 oder eines „VerfassungsVerbundes" 11 . I n dem Maße, i n
nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 148 ff; J.-C. Piris, Hat die Europäische Union eine Verfassung? Braucht sie eine?, Europarecht 35 (2000), S. 311 ff.Den Begriff der „Verfassungsgemeinschaft" prägt P. Häberle, Europa als werdende Verfassungsgemeinschaft, DVB1. 2000, S. 240 ff; siehe auch R. Arnold, Begriff und Entwicklung des Europäischen Verfassungsrechts, FS H. Maurer, 2001, S. 855 ff, 856 ff; A. v. Bogdandy, Beobachtungen zur Wissenschaft vom Europarecht, Der Staat 40 (2001), S. 1 ff, 9 ff.; G. F. Schuppert, Überlegungen zur demokratischen Legitimation des europäischen Regierungssystems, FS D. Rauschning, 2001, S. 201 ff, 201-205.Das Thema „Europäisches und nationales Verfassungsrecht" bildete auch den zweiten Beratungsgegenstand der Leipziger Staatsrechtslehrertagung im Oktober 2000 VVDStRL 60 (2001) - , neben dem bereits zitierten Referat von l Pernice (S. 148 ff.) mit weiteren Berichten von P. M. Huber (S. 194 ff.), G. Lübbe-Wolff (S. 246 ff.) und Ch. Grabenwarter (S. 290 ff.). 6 Die konstitutive Sitzung des Verfassungskonvents ist für den 28. Februar 2002 anberaumt. 7 P. Häberle, Gibt es eine europäische Öffentlichkeit?, 2000; G. Winter, Das Öffentliche und die Europäische Union, in: ders. (Hrsg.), Das Öffentliche heute, 2002, S. 197 ff, 197 f.; kritisch M. Höreth, Die Europäische Union im Legitimationstrilemma, 1999, S. 61 f. 8 P. Häberle, Gibt es ein europäisches Gemeinwohl? - eine Problemskizze, FS H. Steinberger, 2002, S. 1153 ff.; R. Uerpmann, Das öffentliche Interesse, 1999, S. 262 ff. („Das öffentliche Interesse auf europäischer Ebene"). 9 A. Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000; W. v. Simson, Was heißt in einer europäischen Verfassung „Das Volk"?, EuR 1991, S. 1 ff; J. M. Broekman, A Philosophy of European Union Law, 1999, S. 279 ff. 10 D. Argirakos und P. Lüdemann, Juristen an der privaten Münchener Forschungseinrichtung „Europäisches Institut flir Steuerrecht", haben im Vorfeld des EU-Gipfels von Nizza (Dez. 2000) einen 350 Artikel umfassenden Privatentwurf für eine europäische Verfassung vorgelegt, dazu SZ vom 1. Dezember 2000, S. 6.; für eine Europäische Verfassung hat sich auch Bundespräsident J. Rau in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament vom 04. April 2001 ausgesprochen („Plädoyer für eine Europäische Verfassung", vgl. SZ vom 05. April 2001, S. 9; ebenso viel diskutiert wurden im Frühjahr 2001 die Thesen zur institutionellen Reform der EU mit starken Tendenzen zu einer Konstitutionalisierung und Föderalisierung, vgl. SZ vom 8. Mai 2001, S. 1, S. 4 (Kernpunkte der Debatte: Souveränität, Föderalismus, Zwei-Kammern-Parlament, europäische Verfassung). Ablehnend auf das deutsche Modell einer europäischen Föderation reagierte Frankreichs Premierminister L. Jospin, siehe SZ vom 29. Mai 2001, S. 8, mit
20
Erster Teil: A. Staatenübergreifende Kooperationsformen
dem die Ausübung öffentlicher Gewalt internationalisiert und Entscheidungsträgern außerhalb der institutionalisierten Staatlichkeit anvertraut wird, müssen die Grundsätze von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ihre Kompatibilität, letztlich ihre gleichermaßen verfassende wie legitimierende Kraft für die neuen Formen politischer Gemeinschaftsbildung jenseits von Staat und Nation unter Beweis stellen. 1 2 Die EU-Grundrechtecharta, v o m Rat auf seiner Tagung i n Nizza feierlich proklamiert, ist ein weiterer wichtiger Schritt in diese Richtung. 1 3
Auszügen aus der Grundsatzrede des französischen Regierungschefs. Unter dem Titel „In der Mitte des Kontinents" betonen die Außenminister der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik, J. Fischer und J. Kavan, in der SZ vom 18. Juli 2001, S. 8: „Am Ende muss ein für jedermann verständliches Europa stehen, demokratisch verfasst, politisch voll handlungsfähig und wirtschaftlich dynamisch." Siehe dazu noch die einprägsame Formulierung vom „Verfassungszustand der Union" bei A. Hatje, Die institutionelle Reform der Europäischen Union - der Vertrag von Nizza auf dem Prüfstand, Europarecht 2001, S. 143 ff, 181; R. Bubner, Gott und die Fürsten sind aus dem Spiel. Auf der Suche nach der vermissten Verfassung: Wo ist das Volk, das sie wollte?, FAZ vom 27. Oktober 2001, Bilder und Zeiten, S. I. Das im Rahmen der EUGrundrechtecharta so erfolgreiche Konventmodell soll nach dem Gipfel vom Laeken nun auch der Gemeinschaftsverfassung zum Durchbruch verhelfen, SZ vom 17. Dezember 2001, S. 2, 4. Seit dem 28. Februar 2002 tagt der Verfassungskonvent. 11 Den „Verfassungsverbund" als Gegenbegriff zu der vom BVerfG in der Maastricht-Entscheidung (E 89, 155) geprägten Formel vom „Staatenverbund" entwickelt I. Pernice, z. B. in seinem Beitrag „Die dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund", EuR 1996, S. 27 ff. oder in seiner Kommentierung in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. 2, 1998, Art. 23, Rn. 17. Aus der Lit. zur MaastrichtEntscheidung sei an dieser Stelle nur verwiesen auf H.-P. Folz, Kompetenzüberschreitende Akte von Organen der Europäischen Union - Die Sicht des deutschen Verfassungsrechts, in: B. Simma/C. Schulte (Hrsg.), Völker- und Europarecht in der aktuellen Diskussion, 1999, S. 19 ff., insbes. 19-21. 12 So schon P. Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, VVDStRL 23 (1966), S. 34 ff., 37 f. 13 Aus der nicht mehr überschaubaren Lit.: H.-W. Rengeling, Eine Europäische Charta der Grundrechte, FS D. Rauschnig, 2001, S. 225 ff.; K. Ritgen, Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, ZRP 2000, S. 371 ff.; U. Di Fabio, Eine europäische Charta, JZ 2000, S. 737 ff.; A. Weber, Die Europäische Grundrechtscharta - auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung, NJW 2000, S. 537 ff.; S. Magiera, Die Grundrechtecharta der Europäischen Union, DÖV 2000, 1017 ff; A. v. Bogdandy, Grundrechtsgemeinschaft als Integrationsziel?, JZ 2001, S. 157 ff.; Ch. Grabenwarter, Die Charta der Grundrechte ftir die Europäische Union, DVB1. 2001, S. 1 ff., ders., Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 290 ff., 338 ff.; P. Szczekalla, Grundrechte für Europa - Die Europäische Union nach Nizza, DVB1. 2001, S. 345 ff.; H. Ch. Krüger/J. Polakiewicz, Vorschläge ftir ein kohärentes System des Menschenrechtsschutzes in Europa, EuGRZ 2001, S. 92 ff.; P. J. Tettinger, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, NJW 2001, S. 1010 ff.; R. Scholz, Zur Europäischen Grundrechtscharta, FS H. Maurer, 2001, S. 993 ff.
I. Problemstellung
21
Aufschlussreich für die hochdifferenzierten Schattierungen sich öffnender und in ihren Funktionen wandelnder Staatlichkeit ist zudem der Blick auf das gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Umfeld. 14 Die Gesellschaftstheorie hat wegleitende Aspekte herausgearbeitet. Hand in Hand mit der Globalisierung bzw. Transnationalisierung gehen das Ende der industriellen und damit der Beginn einer „Neuen Arbeitsgesellschaft", die zugleich „Wissens- oder vernetzte Gesellschaft" ist. 15 Die Sphären von „privat" und „öffentlich" verschwimmen, das Internet und wirkungsmächtige Massenmedien schaffen neue Formen und Foren der Öffentlichkeit. Der Einzelne wird als Weltbürger im Sinne /. Kants immer stärker in „seinen" Staatsverband sprengende Verantwortung für politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklungen eingebunden, mitunter auch schlichtweg überfordert. Angesichts dieses Problemhorizonts ist die Suche nach einer neuen Balance von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, kurz: die Suche nach den Konturen eines „Europäischen Gesellschaftsmodells" gesellschaftstheoretisches Leitmotiv unserer Tage. 16 Aus der Perspektive des Einzelnen werden in diesem Prozess immer stärkere gegenläufige Tendenzen zur Individualisierung einerseits 17, aber auch zu Bürgerengagement und Ehrenamt andererseits erkennbar; aus der Perspektive von Staat und Politik nimmt das Ringen um dezentrale Steuerungsmodelle eine herausgehobene Stellung ein. 18 Die für den Staat vorgeschlagenen Konsequenzen überraschen nicht, sei es die verstärkte „Pluralisierung und Auffächerung seiner Binnenstruktur", die „Flexibilisierung seines Handlungsrepertoires", und der „Zwang zur institutionalisierten Kooperation". 19 Kooperation und Öffnung nach innen wie außen heißen somit die Lösungsvorschläge, die Politik- und Gesellschaftswissenschaften der
14 Zum Kontext-Begriff M. van Hoecke , Norm, Kontext und Entscheidung, 1988, S. 38 ff.; P. Häberle, Die Verfassung „im Kontext", in: D. Thürer/J.-F. Aubert/J. P. Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, 2001, S. 17 ff, 19 ff. 15 Ch. Göhl , Bürgergesellschaft und politische Zielperspektive, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 6-7/2001, S. 5 ff, 5. 16 P. J. Tettinger , Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, NJW 2001, S. 1010 ff, 1015. 17 Vor die staatliche wie gesellschaftliche Einheit und das klassische französische Revolutionsideal der „Brüderlichkeit" sprengenden Individualisierungstendenzen warnt P. Kirchhof. \ Der demokratische Rechtsstaat - die Staatsform der Zugehörigen, HStR, Bd. IX, 1997, § 221, Rn. 6; siehe ferner W. Zapf u. a. (Hrsg.), Individualisierung und Sicherheit. Untersuchungen zur Lebensqualität in der Bundesrepublik Deutschland, 1987, S. 120 ff.; U. Di Fabio , Das Recht offener Staaten, 1998, S.8. 18 Ch. Gohl y Bürgergesellschaft und politische Zielperspektive, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 6-7/2001, S. 5 ff, 5; M. Rehbinder , Rechtssoziologie, 4. Aufl. 2000, S. 214 ff; R. Mayntz , Soziologie der öffentlichen Verwaltung, 4. Aufl. 1997, S. 26 ff. 19 H. Dreier , Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, 1991, S. 270.
22
Erster Teil: A. Staaten übergreifende Kooperationsformen
Jurisprudenz unterbreiten. Im Text des Grundgesetzes haben sie längst eine positiv-rechtliche Verankerung gefunden. 2. Kooperative
Verflechtungen
im Verfassungs-
und Verwaltungsstaat
Die Öffnung des deutschen Verfassungsstaates nach Europa und, noch weiter, in die Welt findet in der Präambel, in Art. 23 GG und Art. 24 GG ihre normative Grundlage. Der Wissenschaft blieb es vorbehalten, für die identitätsprägende Verfassungsentscheidung des deutschen Volkes, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen", anschauliche Begriffe zu finden. Sie war und ist hier besonders kreativ. Das Spektrum reicht vom „kooperativen Verfassungsstaat" 20 über die „Verfassungsentscheidung für eine internationale Zusammenarbeit" 21, die „offene Staatlichkeit" 22 oder die „internationale Offenheit des deutschen Staates"23 bis hin zu Formeln vom „entgrenzte(n) Verfassungsstaat" 24, der „Ablösung interner Staatlichkeit durch supranationale Gemeinschaften" 25, schließlich der „Internationalisierung des Staates".26 Gehörte die solchermaßen skizzierte Offenheit schon für die Väter und Mütter des Grundgesetzes, wenngleich in weit schwächerer Form als heute, zu den Grundcharakteristika bundesrepublikanischer Verfassungsstaatlichkeit, rückte ein Parallelphänomen erst sehr viel später in den Mittelpunkt wissenschaftlichen Interesses. Gemeint sind die Wechselbeziehungen staatlicher
20 P. Häberle , Der kooperative Verfassungsstaat (1978), in: ders ., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 3. Aufl. 1998, S. 407 ff. 21 K Vogel , Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964. 22 Wegweisend wiederum K Vogel , Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetztes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964; jetzt: U. Di Fabio , Das Recht offener Staaten, 1998; S. Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998; ders., Der kooperationsoffene Verfassungsstaat, Der Staat 37 (1998), S. 521 ff. 23 Ch. Tomuschat , Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, in: VVDStRL 36 (1978), S. 7 ff. 24 K-P. Sommermann , Der entgrenzte Verfassungsstaat, in: D. Merten (Hrsg.), Der Staat am Ende des 20. Jahrhunderts, 1998, S. 19 ff., 30 ff.; siehe auch U. Di Fabio , Das Recht offener Staaten, 1998, S. 16 ff.: „Verlust der territorialen Radizierung", „Kooperationszwänge im offenen Verbundstaat (Hervorhebung durch den Verf.). 25 R. Arnold , Begriff und Entwicklung des Europäischen Verfassungsrechts, FS H. Maurer, 2001,S. 855 ff., 864. 26 R. Wahl , Internationalisierung des Staates, FS A. Hollerbach, 2001, S. 193 ff.; siehe auch D. Thürer , Recht der internationalen Gemeinschaft und Wandel der Staatlichkeit, in: ders./J.-F. Aubert/J. P. Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, 2001, S. 37 ff., 55 f. („gewandelte Staatlichkeit").
I. Problemstellung
23
und privater Kräfte, die Verflechtungen von Staats- und Marktmacht, die Chancen und Grenzen der Privatisierung, Konsensrunden, Selbstverpflichtungserklärungen der Industrie angesichts der schwindenden Steuerungskapazität staatlich gesetzten Rechts: toto coelo der die gesamte Verwaltungsreformdiskussion umwölbende Begriff des kooperativen Rechts.27 Das Wort vom „Parallelphänomen 44 bedarf zunächst einer Erklärung. Es wurden in der bisherigen wissenschaftlichen Literatur der „kooperative Verfassungsstaat44 und der „kooperative Verwaltungsstaat44 thematisch eher getrennt behandelt. Und in der Tat haben, abgesehen von der generellen Relativierung der Staatlichkeit, die Übertragung von Hoheitsrechten auf überstaatliche Entscheidungseinheiten und die Zusammenarbeit zwischen Staat und Privat auf den ersten Blick wenig gemein. Doch schon die Frage nach den Gründen der „Kooperation 44 führt zu einem differenzierteren Bild. 2 8 Wo der Staat Aufgaben nicht mehr alleine erfüllen kann, weil sie seine Grenzen sprengen oder seine Ressourcen überschreiten, sucht er Partner zur Gewährleistung seiner Erfüllungsverantwortung. In beiden Fällen ist die Einschränkung staatlicher Hoheitsgewalt in den Dienst effektiver und effizienter Aufgabenerfüllung gestellt. Noch vielschichtiger werden die Verflechtungen, wenn die mit dem Staat kooperierenden privaten Akteure ihrerseits multinationale Konzerne, international organisierte Verbände oder weltweit vernetzte Nichtregierungsorganisationen sind. Auch die Probleme demokratischer Legitimation und staatlicher Kontrolle weisen zahlreiche Berührungspunkte auf. Vor allem aber können staatenübergreifende Kooperationsformen gleichwertige, mitunter sogar bessere Alternativen zu vorschneller Privatisierung bieten. Erst in diesem Koordinatensystem interner und externer „Kooperationszusammenhänge44 kann eine neue Standortbestimmung der Staatsrechts- bzw. Verfassungslehre gelingen und das „Kooperative 44
27 Inhalte und Konturen des „kooperativen Rechts44 bedürfen aber, trotz vielgestaltiger Ansätze in der wissenschaftlichen Diskussion, noch genauerer Bestimmung, vgl. etwa H. Schulze-Fielitz, Kooperatives Recht im Spannungsfeld von Rechtsstaatsprinzip und Verfahrensökonomie, in: N. Dose/R. Voigt, Kooperatives Recht, 1995, S. 225 ff, 225 m. w. N.; H. Bauer, Zur notwendigen Entwicklung eines Verwaltungskooperationsrechts - Statement, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Jenseits von Privatisierung und „schlankem" Staat, 1999, S. 251 ff, 251; A. Voßkuhle, Gesetzgeberische Regelungsstrategien der Verantwortungsteilung zwischen öffentlichem und privatem Sektor, in dem eben zitierten Sammelband, S. 47 ff, 60. Innovationsreich sind auch die Begriffs-Zusammensetzungen. So spricht R. Pitschas, Verantwortungsteilung in der inneren Sicherheit. Sozietale Sicherheitspartnerschaft als Ausdruck einer Verantwortungskooperation von Polizei, Sicherheitsgewerbe und Bürgern, wiederum in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Jenseits von Privatisierung und „schlankem" Staat, 1999, S. 135 ff, 135 von „Verantwortungskooperation"; ders.y Verwaltungswissenschaft, 2000, S. 115 ff. 28
Vgl. z.B. M. Niedobitek, S. 66 ff.
Das Recht Grenzüberschreitender Verträge, 2001,
24
Erster Teil: A. Staatenübergreifende Kooperationsformen
in seiner Breite und Tiefe als strukturbildendes Moment politischer Gemeinschaftsbildung entschlüsselt werden. Sind die Grenzen des Nationalstaates einmal überschritten, entsteht durch die Kooperation ein neuer Raum bzw. ein institutionelles Gefüge jenseits der Staatlichkeit. Das zu dessen Umschreibung geläufige Attribut „überstaatlich" ist zwar anschaulich, kann aber allenfalls auf den ersten Blick der Vielschichtigkeit des Gegenstandes gerecht werden, den es deskriptiv und normativ erfassen will.
I I . Der Raum jenseits der Staatlichkeit kritische Vorüberlegungen zur Terminologiebildung Da die tatsächliche Entwicklung in der politischen und administrativen Wirklichkeit der empirischen Analyse notwendig und zumeist auch der rechtswissenschaftlichen Begriffsbildung vorausgeht, spiegelt sich in einer neuen Terminologie Vorgefundenes wider, ist sie Produkt von Vorverständnissen, von Sub-, Meta- und Kontexten. 29 So bleiben auch die Attribute, die der Charakterisierung jenes spezifischen Moments der Öffnung des kooperativen Verfassungsstaates und seiner Rechtsordnung dienen, begrifflich längst bekannten Kategorien verhaftet. Umschreibungsversuche wie inier-national, ¿raws-national, supranational, sub-national, zwischen- oder wèer-staatlich beruhen auf Staat und Nation, zum Nationalstaat verschmolzen, als ihrem archimedischem Punkt. 30 Ihn zugleich zu bewahren und zu überwinden ist das paradoxe Ziel, für das trotz allen schöpferischen Freiraums der Doktrin eine originäre, im Kooperationsgedanken wurzelnde Begrifflichkeit (noch) nicht gefunden ist. 31 In den genannten Komposita schimmern vielmehr sprachliche Variationen zum Thema Staat und Nation auf, von der Wissenschaft teils synonym, teils eher kraft definitorischer 29 Zur Begriffsbildung „Internationalität, Transnationalität, Supranationalität" siehe H. Siedentopf\ Die Internationalität der öffentlichen Verwaltung, in: K. König/H. Siedentopf (Hrsg.), Öffentliche Verwaltung in Deutschland, 1997, S. 711 ff., 713 f. 30 D. Grimm , Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, S. 53 ff. („Staat als Grundbegriff kontinentaler Politik"). 31 Ein Satz M. Zuleegs , bezogen auf das Europarecht im engeren Sinne (Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, 1969, S. 2), kann noch heute Gültigkeit für den kooperativen Verfassungsstaat beanspruchen: „Es wäre Wunschdenken, an eine baldige Überwindung des Nationalstaatsprinzips im europäischen Raum zu glauben. Daraus ergibt sich die eigenartige Situation, daß die Idee der europäischen Einigung einerseits dem Nationalstaatsgedanken zuwiderläuft, daß aber andererseits die Europäischen Gemeinschaften als sichtbarster Ausdruck europäischer Einigungsbestrebungen in ihrer Existenz und in der Verwirklichung ihrer Ziele von den Mitgliedstaaten abhängig sind." Siehe auch P. Badura , Verfassung, Staat und Gesellschaft in der Sicht des Bundesverfassungsgerichts, in: FS 50 Jahre BVerfG, 2001, S; 897 ff., 902 f.
II. Der Raum jenseits der Staatlichkeit
25
Dezision denn substantieller Notwendigkeit differenziert gebraucht. Die Termini „grenzüberschreitend" 32, „grenznachbarlich" oder „grenznachbarschaftlich" haben sich demgegenüber vom Staatsbezug gelöst. Das schon deshalb, weil sie die Zusammenarbeit von politischen und administrativen Einheiten „unterhalb der Nationalstaaten" zu bezeichnen suchen.33 Aber auch ihnen fehlt die Neutralität, das Kooperationsgefüge jenseits der Staatlichkeit generell auf einen treffenden Nenner bringen zu können. Sie implizieren nämlich einen mehr oder weniger konkreten Grenzbezug, verräumlichen das Kooperationsdenken in geographischer Sicht und verschleiern so, dass Kooperationsraw/we zunächst durch die einheitsstiftend Kraft gemeinsamer Aufgabenerfüllung zu solchen werden. Die relative Grenznähe ist allenfalls ein zusätzliches, kein den „Wesensgehalt" der Zusammenarbeit prägendes Moment. Doch soll mit diesen Provokationen das vorhandene Begriffsarsenal weniger grundsätzlich in Frage gestellt werden, als es auf den ersten Blick nahe liegen mag. Ziel ist vielmehr eine unvoreingenommene Reflexion über bislang staatsrechtlich geprägte Rechtsinstitute, um so die Unschärfen, Ambivalenzen und Widersprüche der bisherigen terminologischen Versuche aufzuzeigen und den kooperativen Wandel der Staatlichkeit auch begriffskritisch zu begleiten.34 Denn wenngleich die Notwendigkeit, komplexe Problemlagen so einfach und verständlich wie möglich zu bezeichnen, unbestrittener Zweck juristischer Begriffsbildung bleibt, darf das nicht zu einer formelhaften Verkürzung anstelle von differenzierter Abstraktion führen. 35 Die Erkenntnis, dass die kooperativen Verflechtungen der Staaten respektive staatlicher Untergliederungen (Länder, Regionen, kommunale Gebietskörperschaften) ihrem Wesen nach weder auf eine griffige neue Formel gebracht noch auf die überkommenen Adjektive reduziert werden können, ist Anlass und Beschränkung eines vorsichtigen „Dekonstruktionsversuchs". Er muss vor allem die Teleologie kooperativen Miteinander deutlich machen und zeigen, dass nicht die Überwindung des Nationalstaates, sondern zusätzliche einheitsbildende Momente ihr Anliegen sind.
32
Zur Begriffsbildung J. Bauer, Grenzüberschreitende Zusammenarbeit, StGR 1991, S. 231 ff.; B. Speiser, Der grenzüberschreitende Regionalismus am Beispiel der oberrheinischen Kooperation, 1993, S. 224 ff 33 H. Siedentopf,\ Die Internationalität der öffentlichen Verwaltung, in: K. König/H. Siedentopf (Hrsg.), Öffentliche Verwaltung in Deutschland, 1997, S. 711 ff, S. 715. 34 A. v. Bogdandy, Beobachtungen zur Wissenschaft vom Europarecht, Der Staat 40 (2001), S. 1 ff, 10. 35 Für die europarechtliche Begriffsbildung M. Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, 1969, S. 37.
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Erster Teil: A. Staatenübergreifende Kooperationsformen
/. Internationalität, Transnationalität und das Moment der Grenzüberschreitung Die Abgrenzung zwischen den Begriffen international und transnational haben vor allem die Politikwissenschaften und die Völkerrechtslehre geleistet. Wie der etymologische Ursprung bestätigt, gelten als international im engen Wortsinne nur eine Politik bzw. Rechtsordnung, „deren Aktionsbereich im Zwischenraum der Nationalstaaten liegt („inter nationes") und deren , Akteure" die Nationalstaaten sind." 3 6 Das Völkerrecht der Gegenwart ist in diesem engen Wortsinne aber nicht mehr Jnter-national", denn es bildet die normative Grundlage für ein staatenübergreifendes System, das sich nicht allein auf die rechtlichen Beziehungen zwischen souveränen Staaten beschränkt, sondern internationale Organisationen, zwischenstaatliche Einrichtungen, Nichtregierungsorganisationen und sogar die Individuen mit einbezieht.37 Die Wirklichkeit „inter-nationaler" Kooperation sieht nicht anders aus. Souveräne Staaten und die sie repräsentierenden Regierungen genauso wie innerstaatliche Untergliederungen, Non-Gouvernmental Organisations, gesellschaftliche Pluralgruppen und Wirtschaftsverbände bestimmen die Trägervielfalt über das nationale Territorium hinauswirkender Interaktionsprozesse. 38 In Konsequenz dessen wurde der Terminus „ in: I. v. Münch/Ph. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 4. Aufl. 2001, Art. 24, Rn. 83. 207 R. Streiniy in: M. Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 2. Aufl. 1999, Art. 24, Rn. 44; I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. 2, 1998, Art. 24, Rn. 48. Die Frage behandeln auch Ch. J. Autexier, Rechtsgutachten, in: Etudes et Documents du Centre d'Etudes Juridiques Françaises, 1993, S. 89 und passim; J. Schwarze, Die Übertragung von Hoheitsrechten auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen i. S. d. Art. 24 I a GG, FS E. Benda, 1995, S. 311 ff, 330; K. Rennert , Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit, FS E.-W. Böckenförde, 1995, S. 199 ff, 212; H. Ch. Heberlein, Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit auf kommunaler Basis, DÖV 1996, S. 100 ff, 104; yi. Beck, Die Übertragung von Hoheitsrechten auf kommunale grenznachbarschaftliche Einrichtungen, 1995, S. 142 ff.
II. Die Tatbestandsmerkmale und ihre Kontexte
253
liehen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben zuständig sein müssen. 208 Im Gesetzesentwurf wurde, in Anlehnung an die Formulierung von Art. 32 Abs. 3 GG, zunächst die Gestegebungszuständigkeit der Länder als Anknüpfungsmerkmal vorgeschlagen. Die endgültige, weiter gefasste Formulierung „Aufgaben und Befugnisse" greift demgegenüber den Wortlaut von Art. 30 GG auf und stellt klar, dass die Übertragung von Hoheitsrechten für das gesamte Spektrum der Länderkompetenzen in Betracht kommt, nicht lediglich auf die Legislative beschränkt ist. 2 0 9 Auch wenn damit die Fülle staatlicher Tätigkeit der Länder in all ihren Funktionen umfasst wird, so erlaubt dies nicht die generelle Abweichung von Bundesrecht. Folglich ermöglicht die gliedstaatliche Öffnungsklausel ein autonomes Regime grenznachbarschaftlicher Einrichtungen nur in dem Umfang, wie die Länder bzw. ihre Untergliederungen bei der spezifischen Aufgabenerfüllung nicht in übergeordnetes Bundesrecht eingebunden sind. 210 Art. 24 Abs. 1 a GG will nicht etwa den Ländern implizit neue Kompetenzen zuweisen oder Art. 31 GG relativieren. 211 Soweit übergeordnetes Bundesrecht die Ausübung potentiell zu übertragender Hoheitsrechte determiniert, hängt die Delegation von einer Mitwirkung des Bundes und einer entsprechenden Regelung schon im Gründungsstatut/-vertrag der grenznachbarschaftlichen Einrichtung ab. 2 1 2 Es wird deutlich, wie stark ohne Kooperation mit dem Bund die Übertragungsmöglichkeiten umfänglich
208 Zur Problematik O. Rojahn, in: I. v. Münch/Ph. Kunig (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, Bd. 2, 4. Aufl. 2001, Art. 24, Rn. 82; K. Rentiert, Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit, FS E.-W. Böckenförde, 1995, S. 199 ff, 211; J Beck, Netzwerke in der transnationalen Regionalpolitik, 1997, S. 141 f.; H.-H. Trute, Perspektiven grenzüberschreitender Zusammenarbeit, in: H.-G. Henneke (Hrsg.), Kommunen und Europa Herausforderungen und Chancen, 1999, S. 209 ff, 225. 209 Ch. J. Autexier, Rechtsgutachten, in: Etudes et Documents du Centre d'Etudes Juridiques Françaises, 1993, S. 85; J. Schwarze, Die Übertragung von Hoheitsrechten auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen i. S. d. Art. 24 I a GG, FS E. Benda, 1995, S. 311 ff, 316. 210 H.-H. Trute, Perspektiven grenzüberschreitender Zusammenarbeit, in: H.-G. Henneke (Hrsg.), Kommunen und Europa - Herausforderungen und Chancen, 1999, S. 209 ff, 225. Wohl zu eng K. Rennert, Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit, FS E.-W. Böckenförde, 1995, S. 199 ff, 211. 211 O. Kannler, Dezentrale grenzüberschreitende Zusammenarbeit und die Übertragung von Hoheitsrechten auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen nach Artikel 24 Absatz 1 a des Grundgesetzes, 1999, S. 121 ff.; K. Rennert, Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit, FS E.-W. Böckenförde, 1995, S. 199 ff, 211. 212 H.-H. Trute, Perspektiven grenzüberschreitender Zusammenarbeit, in: H.-G. Henneke (Hrsg.), Kommunen und Europa - Herausforderungen und Chancen, 1999, S. 209 ff, 225; vgl. auch O. Kannler, Dezentrale grenzüberschreitende Zusammenarbeit und die Übertragung von Hoheitsrechten auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen nach Artikel 24 Absatz 1 a des Grundgesetzes, 1999, S. 129 ff.
254
Dritter Teil: B. Relativierung der Lehre von den Staatselementen
begrenzt bleiben. In der Verknüpfung der Binnenstrukturen des kooperativen Bundesstaates mit den Außenbeziehungen des kooperativen Verfassungsstaates erschließt sich eine zweite kooperative Schicht des Art. 24 Abs. 1 a GG. Neben das existentielle Aufeinander-Angewiesen-Sein der Nachbarn bei der gemeinsamen staatenübergreifenden Aufgabenerfüllung tritt die nicht minder existentielle Kooperationsnotwendigkeit von Bund und Gliedstaaten, mag diese auch durch separative Momente oder den vielberufenen Konkurrenzföderalismus relativiert werden. Ein solch vielschichtiges kooperatives Netzwerk gesamtstaatlicher und gliedstaatlicher, regionaler und kommunaler, öffentlicher und privater Interakteure ist mit der klassischen Lehre vom Staat und den Staatselementen nicht mehr zu erklären.
B. Art. 24 Abs. 1 a GG - ein neuer Textbaustein zur Relativierung der Lehre von den Staatselementen I. Einführung G. Jellinek, von H. Kelsen mit gutem Grund als Vollender der Staatslehre des 19. Jahrhunderts apostrophiert 213 , widmete einen Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit der dezidiert rechtlichen Begründung moderner Staatlichkeit. Sie kulminiert in der Lehre von den drei staatskonstitutiven Elementen „Staatsvolk" „Staatsgebiet" und „Staatsgewalt". Die Wirkung dieser Definition reicht weit über das 19. Jahrhundert hinaus und ist bis heute prägend für die Allgemeine Staats- wie für die Völkerrechtslehre geblieben. In Art. 1 der Montevideo-Konvention über die Rechte und Pflichten des Staates vom 26. 12. 1933 zum völkerrechtlichen Vertragstext erwachsen 214, gibt die klassische Jellineksche Trias dem internationalen öffentlichen Recht seither den Orientierungsrahmen zur Anerkennung einer Verbandseinheit als Staat vor. 2 1 5 Doch Europäi-
213
H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, Vorwort S. VII; zur Bedeutung G. Jellineks für die Entwicklung einer modernen Staatslehre und Staatsrechtswissenschaft siehe J. Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, 2000. 2,4 League of Nations Treaty Series, Vol. 165, p. 19: „The State as a person of international law should possess the following qualifications: (a) a permanent population; (b) a defined territory; (c) government; and (d) capacity to enter into relations with other States". 215 Zur deutschen Staatspraxis vgl. die Bekanntmachung des Auswärtigen Amtes, 7. BT, 61. Sitzung, Sten.Ber, S. 3539, abgedruckt in ZaöRV 1975, S. 777: „Die Anerkennung eines neuen Staates setzt voraus, daß sich ein Staat gebildet hat mit einem neuen Staatsvolk, einem Staatsgebiet und einer Staatsgewalt, die durch eine effektive handlungsfähige Regierung verkörpert wird, die ihre Hoheitsgewalt über den größten Teil
I. Einführung
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sierung und Internationalisierung von Recht, Wirtschaft und Politik haben mit einem Funktionswandel der Staatlichkeit auch den Staatsbegriff neu zur Diskussion gestellt. Von einer Relativierung der Staatselemente ist die Rede und die Lehre vom starken, selbstbewussten Staat, die in H. Krüger einen ihrer letzten eindrucksvollen Exponenten gefunden hat, wirkt heute eher als historische Reminiszenz denn Zukunftsentwurf. 216 Allerdings gerät der sich damit abzeichnende Paradigmenwechsel nur allzu leicht in den Verdacht, vereinseitigendem Staatsskeptizismus oder Staatsnihilismus bzw. einer unreflektierten Antistaatlichkeitsideologie das Wort zu reden, ohne Alternativen zum Staat aufzuzeigen. Das freilich wäre ein grundlegendes Missverständnis. Denn weder soll der Staat als entscheidendender Ordnungsfaktor im Zusammenleben der Völker verabschiedet noch seine Rolle als Garant von Freiheit und Frieden im Inneren geleugnet werden. 217 Doch gilt es, ihn sehr viel stärker als bisher in Korrelation zu anderen Formen politischer Einheitsbildung zu setzen und seine Elemente von der staatenübergreifende Seite her gleichsam anzureichern: das Staatsgebiet als Teil des Europäischen Verfassungsraums, das Staatsvolk als europäisches „Teilvolk" und die Staatsgewalt als integrierte, nicht absolute Souveräni-
des Territoriums und die Mehrzahl der Einwohner effektiv ausübt und die sich mit Aussicht auf Dauer behaupten kann." In diesem Sinne auch VG Köln, DVB1. 1978, S. 510, 511 f. (Fürstentum Sealand). Zur amerikanischen Praxis vgl. die Staatsdefinition in: The American Law Institute's Restatement (2nd), Foreign Relations of the United States (1965), § 4, sowie The American Law Institute's Restatement (3rd), 1987, § 201. 2,6 Aus der Lit.: P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 620 ff.; P. Badura, Staatsrecht, 2. Aufl. 1996, S. 1 ff; K Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 7 ff. Siehe darüber hinaus W. Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, 1997, S. 1; von „Tendenzen zur Erosion aller Elemente des klassischen Staatsbegriffs" spricht D. Thürer, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S. 97 ff, 122; ders., Recht der internationalen Gemeinschaft und Wandel der Staatlichkeit, in: ders./J.-F. Aubert/J. P. Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, 2001, S. 37 ff, 55 f. Die Formulierung von der „Erosion" - wenngleich zurückhaltender - aufgreifend T. Stein, Europäische Union: Gefahr oder Chance für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz?, VVDStRL 53 (1994), S. 26 ff, 30; später auch A. v. Bogdandy, Beobachtungen zur Wissenschaft vom Europarecht, Der Staat 40 (2001), S. 1 ff., 10 („Erosion von Staatlichkeit"). 217 K-P. Sommermann, Der entgrenzte Verfassungsstaat, in: D. Merten (Hrsg.), Der Staat am Ende des 20. Jahrhunderts, 1998, S. 19 ff, 20.; R. Wahl, Der Einzelne in der Welt jenseits des Staates, Der Staat 40 (2001), S. 45 ff, 55, warnt vor „vereinfachenden Prophezeiungen eines Abschieds vom Staat" als „unterkomplexen Prophetien". Zur kontroversen Diskussion der Gesamtproblematik: P. Saladin, Wozu noch Staaten, 1995; M. Albrow, Abschied vom Nationalstaat, 1998; H. Hofmann, Von der Staatssoziologie zu einer Soziologie der Verfassung, JZ 1999, S. 1065 ff
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Dritter Teil: B. Relativierung der Lehre von den Staatselementen
tät. 2 1 8 Ein solcher Ansatz entspringt keiner blinden Europa-Euphorie oder dem Versuch, das komplexe Gefiige moderner Staatlichkeit auf den populären, zeitgeistnahen Begriff des „Relativen" zu reduzieren. 219 Im Gegenteil: Er stützt sich auf eine saubere Exegese des Verfassungstextes und nimmt Art. 24 Abs. 1 a GG im Zusammenspiel mit den Öffhungsklauseln aus der Präambel, aus Art. 23 GG, Art. 24 Abs. 1 GG und Art. 25 GG beim Wort. Die Normen selbst schreiben eine relativierte Staats- und Souveränitätslehre, denn sie sehen in staatlich verfasster Gemeinschaft nur eine von mehreren „Integrationsebenen" 220, oder, um die hierarchische Implikation dieses Sprachbildes zu vermeiden, „Integrationsräumen". Der Grundgesetztext steht dabei in vielfältigen Kontexten, die seine relativierende Sichtweise bestätigen. Zuerst verweisen meta- und vorrechtliche Kategorien den Staat in seine Schranken. A m intensivsten durchbricht die Kultur nationalstaatliche Grenzen und bestimmt geschichtlich gewachsene Räume, die mit dem staatlichen Territorium nicht notwendig kongruent sind. 221 Daneben bildet auch das positive Recht von der Verfassungsebene bis zum einfachen Gesetz, von völkerrechtlichen über europarechtliche bis hin zu innerstaatlichen Regelungen vielfältige Ansatzpunkte, staatliche- durch staatenübergreifende Elemente zu überlagern. Wo Grund- als Menschenrechte garantiert sind, ist der Staat zwar notwendiger, aber relativer Bezugspunkt. Wo Nicht-Staatsangehörige Prozessparteien oder Beteiligte an Verwaltungsverfahren sein können, weist dar Staat kraft eigenen Rechts über sich selbst hinaus. Noch viel stärker wirkt die völkerrechtliche Einbindung. Der Staat hat sich nach der UN-Charta vor der Völkerrechtsgemeinschaft 222 für einen Friedensbruch zu verantworten (Kap. VII, Art. 39 ff. UN-Charta). Die internationalen Menschenrechtspakte berührten die Fundamente staatlicher Souveränität, und in der nicht erst seit dem KosovoKrieg intensiv geführten Diskussion um die Legitimität der humanitären Inter218
P. Kirchhof Der demokratische Rechtsstaat - die Staatsform der Zugehörigen, HStR, Bd. IX, 1997, § 221, Rn. 8 („gebundene Souveränität"). 219 Siehe auch Ch. Möllers , Globalisierte Jurisprudenz - Einflüsse relativierter Nationalstaatlichkeit auf das Konzept des Rechts und die Funktion seiner Theorie, ARSP, Beiheft 79, 2001, S. 41 ff, 43 ff. 220 K.-P. Sommermann , Der entgrenzte Verfassungsstaat, in: D. Merten (Hrsg.), Der Staat am Ende des 20. Jahrhunderts, 1998, S. 19 ff, 37 ff. 221 P. Häberle , Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 75; Ph. Mastronardi , Recht und Kultur: Kulturelle Bedingtheit und universaler Anspruch des juristischen Denkens, ZaöRV 61 (2001), S. 61 ff, S. 61: Kultur als „Metaebene" zu Recht und Staat". 222 Zum Begriff siehe den Klassikertext von A. Verdross , Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, 1926; aus der heutigen Lit.: A. Bleckmann , Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, 1995, S. 415 ff.; M. Kotzur , Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, 2001, S. 146 ff. m. w. N.
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I. Einführung
vention zeigen sich deutliche Tendenzen einer immer restriktiveren Interpretation der „inneren Angelegenheiten" im Sinne von Art. 2 Nr. 7 UN-Charta. Die Völkerrechtswirklichkeit spiegelt zum Teil schon die Effektivität des normativen Anspruchs wider, sei es die Sanktionspolitik gegen das Apartheidregime in Südafrika, gegen Serbien bis zum Ende des Diktators Milosevic, seien es die nicht unumstrittenen UN-Einsätze zur Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse in Haiti, Somalia oder Uganda. 223 Noch stärker als die schrittweise zu gemeinschaftsbildenden Faktoren finder europäidende internationale Staatenwelt stellen Recht und Wirklichkeit schen Integration den überkommen Nationalstaat in Frage. Das ist schon durch das Wesen der in den Staaten und Völkern gründenden Europäischen Union als solchen bedingt. Weil sie ihre Legitimation aus staatenübergreifenden Elementen und dem Einigungswillen der Völker Europas bezieht, kann ihr Wesen mit den herkömmlichen Begriffen der Staatsformenlehre nicht erklärt werden. Denn diese haben ihren Ursprung doch gerade im Staatsbegriff. 224 Vielerlei bekannte Stichworte veranschaulichen den Befund: die Europäische Union als „Staaten'yyc
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verbünd" , „Verfassungsverbund" oder „Verfassungsgemeinschaft" ; der Vorrang des Europarechts unabhängig von der Frage, ob er als Anwendungsoder Geltungsvorrang zu qualifizieren ist; das Verhältnis von EuGH und nationalen Verfassungsgerichten; besonders aussagekräftig schließlich das personale Element der durch den Vertrag von Maastricht eingeführten Unionsbürgerschaft. 228 Art. 24 Abs. 1 a GG wurde angesichts all dieser Relativierungen der 223 K. Ebock, Der Schutz grundlegender Menschenrechte durch kollektive Zwangsmaßnahmen der Staatengemeinschaft, 2000. 224 D. Th. Tsatsos, Die Europäische Unionsgrundordnung im Schatten der Effektivitätsdiskussion, EuGRZ 2000, S. 517 ff, 519. 225 BVerfGE 89, 155 (188). Der Begriff geht zurück auf den Berichterstatter P. Kirchhof siehe vor allem dessen Beitrag „Der deutsche Staat im Prozess der europäischen Integration", HStR VII, 1992, § 138, Rn. 38; P. M. Huber, Recht der Europäischen Integration, 1996, S. 72 ff. 226 /. Pernice, Die dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, S. 27 ff; ders., in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. 2, 1998, Art. 23, Rn. 17. 227 P. Häberle, Europa - eine Verfassungsgemeinschaft?, in: ders. y Europäische Verfassungslehre in Einzelstudien, 1999, S. 85 ff, 85; ders, Europäische Verfassungslehre, 2001/2001, i. E. - jeweils bewusst anknüpfend an W. Hallsteins Begriff von der „Europäischen Gemeinschaft" (so Hallstein z. B. in seinem Buch „Die Europäische Gemeinschaft", 1973). 228 Früh und visionär E. Grabitz, Europäisches Bürgerrecht zwischen Marktbürgerschaft und Staatsbürgerschaft, 1970, S. 103 ff. Aus der jüngeren und jüngsten Lit.: H. Bauer, Zur Aufnahme einer Unionsbürgerklausel in das Grundgesetz, FS H. Maurer, 2001, S. 13 ff.; A. Augustin, Das Volk der Europäischen Union, 2000, S. 38 ff.; aus spezifisch sozialrechtlicher Sicht K-D. Borchardt, Der sozialrechtliche Gehalt der
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Dritter Teil: B. Relativierung der Lehre von den Staatselementen
Staatlichkeit in das Grundgesetz eingefügt, teils durch sie erst ermöglicht. Teils entwickelt er auf sehr eigene, die europäischen Nachbarn inspirierende Weise den Kooperationsprozess fort und ist selbst ein eigenständiges Kapitel in der Lehre vom kooperativ-offenen Staat. Die Wechselbezüglichkeiten zwischen der gliedstaatlichen Öffnungsklausel und den drei Elementen „Staatsvolk", „Staatsgebiet" und „Staatsgewalt" lassen daran keinen Zweifel. Mit letzterer sei der Anfang gemacht.
I L Die einzelnen Staatselemente 1. Souveränität und Staatsgewalt Völker- und europarechtliche Steuerungsmechanismen wirken heute auf alle Bereiche nationaler Staatsgewalt, auf Legislative, Exekutive und Judikative. Ein sichtbares, allen Europabürgern unmittelbar bewusstes Zeichen solcher Relativierung ist die Europäische Währungsunion einschließlich der Errichtung einer Europäischen Zentralbank 229 . Die Währungshoheit, ursprünglicher Ausdruck von Staatlichkeit, wurde Element einer zentralen europäischen Herrschaftsgewalt. 2 3 0 Europa hat letztlich weit über die „Maastricht"-Diskussion hinaus den Blick auf den Staat grundlegend verändert, den alten Kontinent auf diese Weise - nicht nur in Sachen Föderalismus auf EU-Ebene - der Neuen Welt ein Stück näher gebracht. In den USA ist das Rechtsverständnis konzeptionell sehr viel weniger staatsbezogen als in Kontinentaleuropa. Rechte dienen eher dem horizontalen Interessenausgleich, weniger um Machtabhängigkeiten, Über- und
Unionsbürgerschaft, NJW 2000, S. 2057 ff.; zu den Unionsbürgerrechten in der EUGrundrechtecharta von Nizza siehe Ch. Grabenwarter, Die Charta der Grundrechte für die Europäische Union, DVB1. 2001, S. 1 ff. 6 ff. Darüber hinaus P. Häberle, „Staatsbürgerschaft" als Thema einer europäischen Verfassungslehre, in: ders, Europäische Verfassungslehre in Einzelstudien, 1999, S. 113 ff, S.Hobe, Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag von Maastricht, Der Staat 32 (1993), S. 245 ff.; H. G. Fischer, Die Unionsbürgerschaft, EuZW 1992, S. 566 ff.; M. Degen, Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag über die europäische Union unter besonderer Berücksichtigung des Wahlrechts, DÖV 1993, S. 749 ff. 229 Aus der Lit.: H. J. Hahn/U. Hüde, Europa im Wartestand: Bemerkungen zur Währungsunion, FS U. Everling, Bd. I, 1995, S. 381 ff; I. Pernice, Das Ende der währungspolitischen Souveränität Deutschlands und das Maastricht-Urteil des BVerfG, ebd., Bd. II, S. 1057 ff; M. Selmayr, Aktuelle Rechtsfragen der Wirtschafts- und Währungsunion, in: B. Simma/C. Schulte (Hrsg.), Völker- und Europarecht in der aktuellen Diskussion, 1999, S. 125 ff. 230 G. Winkler, Raum und Recht, 1999, S. 39.
II. Die einzelnen Staatselemente
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Unterordnungsverhältnisse in der Vertikale auszudrücken. 231 Der „Staat über alles" weicht „public private partnership" und integrierten Mehrebenensystemen 2 3 2 , er wird kooperativ. Doch wo bleibt in einem solchen System die Souveränität, von Th. Hobbes und J. Bodin moderner Staatlichkeit kongenial in die Wiege gelegt? 233 Hat der Staat, zum bloßen Moderator privater Interessen reduziert, seine Souveränität gänzlich verloren? Oder teilt er sie mit nichtstaatlichen Akteuren auf der einen, staatenübergreifenden auf der anderen Seite? Hatte er sie jemals ungeteilt? Wer die Souveränität preisgibt, verkennt nicht nur die Wirklichkeit, sondern auch die schlichte Notwendigkeit kompetenziell eindeutig abgesicherter Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit politischer Gemeinschaften. Wer auf der anderen Seite an der gängigen, aber fragwürdigen Gleichung von Souveränität, Volk, Staat und Nation festhält, ist nicht minder blind für die Realität und das Bedürfnis nach einem ihr korrespondierenden Souveränitätsverständnis. 234 a) Die Verknüpfung des Souveränitätsdenkens mit den Begriffen von Volk und Nation aa) Die Souveränität des Volkes Wenn Verfassungstexte um Öffnungsklauseln nach Art von Art. 23 GG, Art. 24 Abs. 1 GG oder Art. 24 Abs. 1 a GG angereichert werden, schreiben sie - so die bereits formulierte Ausgangsthese - eine neue Souveränitätstheorie. 235
231 M. Rosenfeld, Rule of Law versus Rechtsstaat, in: P. Häberle/J. P. Müller, Menschenrechte und Bürgerrechte in einer vielgestaltigen Welt, 2000, S. 49 ff, 50 ff. („antagonistic relationship between state and law"); Ph. Mastronardi , Recht und Kultur: Kulturelle Bedingtheit und universaler Anspruch des juristischen Denkens, ZaöRV 61 (2001), S. 61 ff, 66. 232
Siehe A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 187. U. Di Fabio, Das Recht offener Staaten , 1998, S. 16 ff.; S. Oeter y Souveränität ein überholtes Konzept?, in: FS H. Steinberger, 2002, S. 259 ff. 234 P. Lerche, Europäische Staatlichkeit und die Identität des Grundgesetzes, FS K. Redeker, 1993, S. 131 ff, 141, spricht von „Schwebezonen", ihm folgend U. Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 94 von einer „Schwebelage" der Souveränität. 235 Der Souveränitätsbegriff ist dabei immer als eine Kategorie der Völkerrechts- und der Verfassungslehre zu sehen. Einen speziell europäischen Begriff und Status der Souveränität - der mit Blick auf die gleichermaßen komplexe wie umstrittene Frage nach der „Verfasstheit" reizvoll erscheinen könnte - kennen weder das allgemeine Völkerrecht noch eine vergleichend arbeitende Verfassungslehre, so H. Steinberger, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S. 9 ff, 17. Aus der Grundlagenliteratur zum Souveränitätsbegriff: H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, 2. Aufl. 1928; H. Heller, Die 233
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Dritter Teil: B. Relativierung der Lehre von den Staatselementen
Die freie Gestaltungsmacht von Volk und Nation gehört fraglos zu den Kernstücken nationalstaatlichen Souveränitätsdenkens. Doch ist damit eine zwangsläufige Bindung der Souveränität an ein mehr oder weniger homogenes Staatsvolk vorausgesetzt, kann im demokratischen Verfassungsstaat nur der demos Träger souveräner Staatsgewalt sein oder ist sein eigenständiges „Entscheiden-Können" von vorneherein aufgrund staatenübergreifender Wirkungszusammenhänge ganz unterschiedlicher Formen politischer Einheitsbildung limitiert? Welche Rolle spielt die hinter der abstrakten Größe „Volk" verborgene pluralistische Vielfalt individueller Meinungen, Interessen, Werthaltungen? 236 Die Verbindung von Volk und Staat als auf dessen souveräner Entscheidung beruhender, konkreter Ordnung ist Kernstück demokratischer Legitimation. J.-J. Rousseau hat dafür den klassischen Begriff „Volkssouveränität" geprägt. 237 Er setzt das Volk voraus, ohne zu bestimmen, wer es ist und in welchen Abhängigkeiten tatsächlicher, rechtlicher und ethisch-moralischer Natur es lebt. In der von Abbé Sieyès durch die Unterscheidung von pouvoir constituant und pouvoir constitué zweistufige zugespitzten Legitimitätstheorie wird das Volk zum „Urgrund" vermeintlich ungebundener, überverfassungsrechtlichkonstituierender Souveränitätsakte, aus denen dann alle konstitutionell gebundenen hoheitlichen Handlungen ihre Legitimität ableiten. 238
Souveränität (1927), in: ders, Gesammelte Schriften, Bd. 2, 1971, S. 31 ff.; H Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1, 1970, S. 243 ff.; ders, Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jh. bis 1806, 1986; L. Wildhaber, Entstehung und Aktualität der Souveränität, FS K. Eichenberger, 1982, S. 131 ff, 133 ff.; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, S. 25 ff.; P. Saladin, Wozu noch Staaten?, 1995, S. 28 ff.; A. Randelzhofer, Staatsgewalt und Souveränität, in: HStR, Bd. I, 2. Aufl. 1995, § 15, Rn. 13 ff.; J. P. Müller, Wandel des Souveränitätsbegriffs im Lichte der Grundrechte, in: Symposion L. Wildhaber,
1997, S. 45 ff. Zu Klassikern des Souveränitätsdenkens wie H. Preuß, C. Schmitt, H Heller, H. Kelsen, A. Haenel, L. Duguit, H. J. Laski und N. Politis siehe schließlich die historisch-vergleichend angelegte Studie von M. Baldus, Zur Relevanz des Souveränitätsproblems, Der Staat 36 (1997), S. 381 ff, 381-388. 236 Vgl. W. v. Simson, Was heißt in einer europäischen Verfassung „Das Volk"?, EuR 1991, S. 1 ff, 2. 237 Siehe dazu E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, 2. Aufl. 1995, § 22, Rn. 3; B. Beutler, Offene Staatlichkeit und europäische Integration, FS E.-W. Böckenförde, 1995, S. 109 ff, 114; E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, S. 81 ff. 238 Dazu U. Thiele, Verfassunggebende Volkssouveränität und Verfassungsgerichtsbarkeit, Der Staat 39 (2000), S. 397 ff, 391; Ch. Möllers, Globalisierte Jurisprudenz Einflüsse relativierter Nationalstaatlichkeit auf das Konzept des Rechts und die Funktion seiner Theorie, ARSP, Beiheft 79, 2001, S. 41 ff, 44. Im Kontext der aktuellen Debatte um eine Europäische Verfassung R. Bubner, Gott und die Fürsten sind aus dem Spiel, FAZ vom 27. Oktober 2001, Bilder und Zeiten, S. I.
II. Die einzelnen Staatselemente
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Tiefe Wahrheit und fundamentales Missverständnis liegen hier dicht zusammen. Nur der Staat, der in Verfassung- wie gesetzgebender Volkssouveränität gründet, durch rechtliche Normierungen die politische Willensbildung des Volkes ermöglicht und auf demokratisch kontrolliertem Machtgebrauch baut, ist legitim. Doch die ungebundene, freie Entscheidung des Volkes ist gefährliche Fiktion. Schon die Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte weiß um die Unmöglichkeit der voraussetzungslosen verfassunggebenden Dezision. Sie proklamiert in Art. 3 und 6 zwar die volle Souveränität der Nation, die ihren Niederschlag in der volonté général der Gesetze finden soll, nennt aber die unveräußerlichen, jedem staatlichen Belieben, jeder Entscheidung des Volkes entzogenen Menschenrechte den Endzweck aller politischen Vereinigung (Art. 2). 2 3 9 J. Isensee löst das Spannungsverhältnis mit der Idee der „menschenrechtlich fundierte(n) Nation" 2 4 0 und sprengt so die vom Nationalen her suggerierte Ausschließlichkeit. 241 Politische Einheitsbildung hat viele Bezugspunkte, den umfassendesten in der anthropologischen Prämisse der Menschenwürde 242 , viele konkrete in Kultur und Geschichte, alltäglich erlebten Bedürfnissen, Freiheits- und Sicherheitsinteressen. Sie zu bündeln ist der Nationalstaat der vertraute, aber keineswegs ausschließliche Raum. Ein Grund, die Vertrautheit zu verabsolutieren, mag im Verständnis der Volkssouveränität als solcher liegen. Diese zu Recht unbestrittene Essentiale moderner Verfassungsstaatlichkeit impliziert - gewissermaßen in Form einer so gar nicht beabsichtigen „Nebenwirkung" - die begriffliche Gleichsetzung von Staat und Volk im „Staatsvolk", bestimmt durch das rechtliche Band der Staatsangehörigkeit 243. „Staatsvolk" wird so eher zu einer Tautologie denn einer Erklärung für das Spannungsverhältnis von demos und ethnos. 244 239 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, 2. Aufl. 1995, § 22, Rn. 3; zur gebundenen Souveränität auch P. Kirchhof Der demokratische Rechtsstaat - die Staatsform der Zugehörigen, HStR, Bd. IX, 1997, § 221, Rn. 8. 240 J. Isensee, Die alte Frage nach der Rechtfertigung des Staates, JZ 1999, S. 265 ff, 277; zur Problematik der „geschlossene(n) Nation" siehe E. Grabitz, Europäisches Bürgerrecht zwischen Marktbürgerschaft und Staatsbürgerschaft, 1970, S. 25 ff. 241 Die vermeintlich autonome verfassunggebenden Gewalt des Volkes stößt auf viele heteronome Grenzen auf rechtlicher, aber auch vor- bzw. meta-rechtlicher Art: die Bindung an überpositives Recht, die Bindung an Völkerrecht, die Bindung an das Recht regionaler Verantwortungsgemeinschaften wie die EU, den Europarat mit der EMRK oder die OSZE. 242 P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, HStR, Bd. I, 2. Aufl., 1995, S. 815 ff. 243 R. Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, HStR, Bd. I, 2. Aufl. 1995, § 14, S. 663 ff.; E.-W\ Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, 2. Aufl. 1995, §22, Rn. 26. 244 Zum Verhältnis von demos und ethnos vgl. J. M. Broekman, A Philosophy of European Union Law, 1999, S. 281.
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Dritter Teil: B. Relativierung der Lehre von den Staatselementen
Staat und Volk sind aber nicht identisch, der Staat ist eine Konkretisierung des Volkes und seiner Rolle bei der Ausübung der Staatsfunktionen. Er ist ein Ordnungsmodell, das Volk politisch handlungsfähig zu machen. 245 Der rein rechtliche, auf die statusmäßige Zugehörigkeit zu einer staatlichen Herrschaftsorganisation reduzierte Volksbegriff bleibt unbefriedigend, um das Zuordnungssubjekt souveräner Entscheidungen zu qualifizieren. Was die Souveränität des Volkes vielmehr legitimiert, ist die Fähigkeit zur freien, nicht erzwungenen Willensbildung. 246 Hinter der Idee der Volkssouveränität steht ein antimonarchisches, anti-absolutistisches Grundmotiv: die freie Selbstbestimmung des Individuums. 247 Volkssouveränität wandelt sich damit in „Bürgersouveränitat" 2 4 8 . Die res publica, der die Bürger angehören, die sie zu ihrer ureigenen „öffentlichen Sache" machen, gewinnt auch in staatenübergreifenden Erscheinungsformen Wirklichkeit. In diesem Kontext verdient auch einer der Kernsätze des Bundesverfassungsgerichts aus dem Maastricht-Urteil Beachtung, in dem sich der Zweite Senat ausdrücklich auf H. Heller bezieht: „Die Staaten bedürfen hinreichend bedeutsamer eigener Aufgabenfelder, auf denen sich das jeweilige Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozeß politischer Willensbildung entfalten und artikulieren kann, um so dem, was es - relativ homogen - geistig, sozial und politisch verbindet (Vgl. hierzu H. Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, Gesammelte Schriften, 2. Band, 1971, S. 421 (427 ff.)), rechtlichen Ausdruck zu geben."249
Die Formulierung Hellers , gerne auf den Aspekt der Homogenität reduziert, setzt einen zweiten, noch wichtigeren Akzent. Umschrieben werden die Kräfte, die das Volk bilden und das Staatsvolk zum Souveränitätsträger machen: Kräfte geistiger, sozialer und politischer Art; Kräfte, die nicht zuletzt für den Status des politischen Aktivbürgers bestimmend sind. J. M. Broekmans Interpretation des Hellerschen Klassikertextes gelingt überzeugend: „The essence is not the Volk itself, but the forces that bind the people together. Volk, Nation and State
245
W . v. Simson , Was heißt in einer europäischen Verfassung „Das Volk"?, EuR 1991, S. 1 ff, 8. 246 Ebd, S. 3. 247 H. Steinberger, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S. 9 ff, 23. 248 P. Häberle , Europäische Verfassungslehre, 2001/2002, S. 355: „Man vergesse nicht: Volk ist vor allem ein Zusammenschluss von Bürgern. Demokratie ist »Herrschaft der Bürger', nicht des Volkes im Rousseauschen Sinne" (Hervorhebung im Original). 249 BVerfGE 89, 155 (186); dazu L Pernice , Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration, AöR 120 (1995), S. 100 ff.
II. Die einzelnen Staatselemente
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are legal expressions for these forces (...)". 2 5 0 Das ist kein existentialistischer Volksbegriff Herderscher, sondern eher ein formaler Kantischer Prägung, orientiert am politischen Gestaltungswillen, an sozialen Notwendigkeiten und geistigem Austausch. A l l diese Kräfte stehen aber auch einer Gemeinschaft offen, die nicht Staatsvolk, die nicht Nation ist. Auch sie kann aufgrund ihrer relativen Einheit souverän handeln, teilsouverän sein. Die verfassungsstaatlichen Öffnungsklauseln nach dem Modell von Art. 23, 24 Abs. 1 und Abs. 1 a GG nehmen dem Volk daher weniger von seiner Hoheitsgewalt und politischen Gestaltungsfreiheit, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Sie eröffnen vielmehr neue Räume bürgerschaftlicher Partizipation und damit der Aktualisierung von staats-, europa-, und weltbürgerlicher Souveränität. bb) Souveränität und Nation Bleibt der „demos" allzu abstrakte Chiffre für das, was hinter dem „Souverän" steht, kommen andere Größen ins Spiel. Die gemeinsame Kultur, die gemeinsame Sprache, kurz: das einigende Band der zu politischem Selbstbewusstsein erwachten Nation macht diese zum legitimen Träger der souveränen Entscheidungsgewalt. Nation und Staatsvolk gehen im politischen Denken des (deutschen) Nationalstaates eine Symbiose ein. In der Metapher vom Staatsvolk als personale, durch gemeinsame Herkunft, Sprache und Geschichte charakterisierte, (vor-)politische Schicksalsgemeinschaft, unlösbar verknüpft mit dem Leben ihres Staates, findet sie sinnfälligen Ausdruck. 251 Nicht nur Volk und Souveränität, auch Nation und Souveränität scheinen auf diese Weise untrennbar verbunden. Ganz unterschiedliche Beispiele bestätigen diesen Konnex. So ist es ist kein Zufall, wenn der Amsterdamer Vertrag unter Berufung auf die „nationale Identität" (Art. 6 Abs. 3 EUV) einem nicht nur in Deutschland weitverbreiteten Unbehagen gegen die schleichende Erosion nationaler Souveränität implizit nationalen Identitätsvorbeugen möchte und Souveränitätsverluste verlusten gleichsetzt. 252 Die neue nachgeführte Schweizerische Bundesverfassung verzichtet, dem bundesrätlichen Entwurf folgend, in ihrer Präambel auf
250 J. M. Broekman, A Philosophy of European Union Law, 1999, S. 276 (Hervorhebung im Original). 251 BVerfGE 83, 37 (40, 50 ff.); E.-W\ Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, HStR, Bd. I, 2. Aufl. 1995, § 22, Rn. 26. 252 K. Hailbronner, Aufgabe von Souveränitätsrechten als EU-Mitglied - deutsche Erfahrungen, FS H. Maurer, 2001, S. 97 ff, 101; AT. Doehring, Die nationale „Identität" der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, FS U. Everling, Bd. I, 1995, S. 263 ff, 271, befürchtet bei einer vollständigen Überordnung des Gemeinschaftsrechts sogar eine „hinkende Identität".
Dritter Teil: B. Relativierung der Lehre von den Staatselementen
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den Terminus „schweizerische Nation". In den Verfassungsberatungen wurde der Vorgang kaum thematisiert, bei der Abstimmungskampagne vor dem obligatorischen Referendum von national-konservativer Seite allerdings nachdrücklich als „Verrat an der Schweiz" gebrandmarkt. Das Verhalten mag eine gewisse Verunsicherung über das Verhältnis der Eidgenossenschaft zur Europäischen Union erkennen lassen.253 Die Empörung über die Streichung versteht aber vor allem, wer sich den für die Schweiz spezifischen Zusammenhang von Nation und Souveränität bewusst vergegenwärtigt. Prägend für die „schweizerische Nation" sind angesichts sprachlicher und kultureller Heterogenität vor allem die Attribute ihrer souveränen Staatlichkeit, an deren Spitze die identitätsstiftende halbdirekte Demokratie. 254 Ein drittes Beispiel: Das Bundesverfassungsgericht nennt im Grundvertragswie im Maastricht-Urteil den Souveränitätsbegriff in einem Atemzug mit Volk und Nation. 255 Das Bindeglied zwischen den drei Kategorien ist die bereits zitierte Metapher von der „personalen Schicksalsgemeinschaft". Das Volk als Nation ist passiv erduldendes Objekt gemeinsamen Schicksals, aber eben auch aktiv gestaltendes, souveränes Subjekt seines politischen Schicksals. Wenngleich es paradox klingen mag, die Idee der Schicksalsgemeinschaft ist Deutungsmodell für die Nation und weist zugleich über sie hinaus, ist in ihren Wurzeln staatenübergreifend. Zwar verschleiert das „Schicksalhafte", wie Staat und Staatsbürgergemeinschaft nicht naturhaft vorgeben sind, sondern erst in demokratischen Prozessen ihre kollektive Identität gewinnen. Aber der Topos verweist doch eindrucksvoll auf die materialen, kulturellen Tiefenschichten, die solch prozesshaftem Werden vorausgesetzt sind. Allerdings ist so verstanden Schicksal kein nationales, sondern ein jede Form menschlicher Kulturgemeinschaft beschreibendes Phänomen. M. Stolleis hat für den Europäischen Verfassungsraum eine treffende Formel gefunden: „Europa ist nicht nur Mythos jener vom Stier entführten Jungfrau, nicht nur Kulturgemeinschaft, Streit- und Schicksalsgemeinschaft, sondern in gewisser Weise auch historisch gewachsene
253
Dazu Y Hangartner, Schweizerische Nation und europäische Integration, FS H. Maurer, 2001, S. 949 ff, 949. Das Fehlen eines Europa-Artikels in der nBV beklagt auch P. Häberle, Die „total" revidierte Bundesverfassung der Schweiz von 1999/2000, FS H. Maurer, 2001, S. 935 ff, 945 f. 254 Y. Hangartner, Schweizerische Nation und europäische Integration, FS H. Maurer, 2001, S. 949 ff, 950 f. 255
BVerfGE 36, 1 (19, 31) - Grundvertragsurteil;
E 89, 155 (182 ff.) - Maastricht;
dazu R. Grawert, Der Deutschen supranationaler Nationalstaat, FS E.-W. Böckenforde, 1995, S. 125 ff, 137; /. Pernice, Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration, AöR 120 (1995), S. 100 ff.
II. Die einzelnen Staatselemente
265
Rechtsgemeinschaft." 256 A l l die umschriebenen Gemeinschaftsdimensionen Europas sind notwendig transnational: sein Gründungsmythos und seine Kultur, sein Werden aus und trotz Jahrhunderte währender kriegerischer Vergangenheit - respektive Gegenwart (z. B. Kosovo, Mazedonien) - , sein Recht und sein Schicksal, 257 Das gemeinsame Erleiden und Erdulden von Gefahren und die aktive Gegensteuerung beschränken sich nicht auf die Nation. Die Aufgabenseite bestätigt eine solche Sichtweise. Was vom Nationalstaat an Freiheitssicherung und Friedensgestaltung, Daseins- und Risikovorsorge erwartet wird, ist nicht der Nation, sondern dem demokratischen Gemeinwesen als institutionalisierter, verfasster Wirkungseinheit überantwortet. 258 Damit ist diese staatlich oder staatenübergreifende verfasste Wirkungseinheit souverän - nicht die Nation. b) Souveränität im Dienste des Menschen Ist die Verklammerung von Volk und Souveränität, Nation und Souveränität ein Stück weit gelöst, wird der Blick frei für ihren tieferen Bezugspunkt: den Menschen, der in verfasster Freiheit leben will. Nur ein dem Menschen dienendes, instrumentales Souveränitätsverständnis kann dieser menschenrechtlichen Prämisse jeder Form von Herrschaftsausübung gerecht werden. Souveränität meint weder die absolute Vollmacht des Monarchen noch umschreibt sie den Mythos von der bindungsfreien Urgewalt eines nur vermeintlich homogenen Volkes. Vielmehr gründet sie in der Selbstbestimmung des einzelnen als einem zentralen Element seiner menschlichen Würde und seiner gestaltenden, aktivbürgerlichen Rolle im Verfassungsstaat und den ihn umgreifenden politischen Gemeinwesen.259 Die We/f-Karriere des europäisch-nordamerikanischen Verfassungsbegriffs nach der Amerikanischen und der Französischen Revolution 256 Europa - seine historischen Wurzeln und seine künftige Verfassung, 1997, S. 6. Zur einheitsstiftenden Wirkung des politischen Schicksals im Kontext des europäischen Einigungsprozesses darüber hinaus G. Nicolaysen, Der Nationalstaat klassischer Prägung hat sich überlebt, FS U. Everling, Bd. II, 1995, S. 945 ff, 954. 257 U. Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 139, sagt mit Blick auf das Europa im engeren Sinne der Europäische Union: „Zum ersten Mal in der Geschichte gehen höchst heterogene, traditionsreiche Nationalstaaten eine immer enger geknüpfte Verbindung ein, verschmelzen ihre Hoheitsrechte, verdecken ihre Souveränität, indem sie sie verbinden, werden Schicksalsgemeinschaft (Hervorhebung durch den Verf.)". 258 H Heller, Staatslehre, 6. Aufl. 1983, S. 228 ff.; daran anknüpfend R. Grawert, Der Deutschen supranationaler Nationalstaat, FS E.-W. Böckenförde, 1995, S. 125 ff, 135. 259 So /. Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 148 ff, 162; vgl. auch S. Oeter, Souveränität - ein überholtes Konzept?, FS H. Steinberger, 2002, S. 259 ff.
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Dritter Teil: B. Relativierung der Lehre von den Staatselementen
wurzelt in dem Verständnis, dass Verfassung an sich die Einrichtung souveräner menschlicher Selbstbestimmung verheißt. 260 Die Selbstbestimmung des Individuums hat sich zur Konstituente des post-revolutionären Verfassungs- und des modernen Souveränitätsbegriffs entwickelt. So wie der Staat um des Menschen willen da ist und zugleich „menschlich" wie „menschheitsbezogen" nach dem Klassikertext des Herrenchiemseer Verfassungsentwurfs 261 gedeutet werden muss, legitimiert sich Souveränität aus Sicherung menschlicher Freiheit, zu der es eben durchsetzungsmächtiger legislativer, exekutiver und judikativer Gewalt bedarf. 262 Der Staat ist „Realisationsform von Freiheit" 26 " 5 , sein Rechtsdurchsetzungs- und Gewaltmonopol effektiviert den Menschenrechtsschutz. 264 Gebunden ist er dabei aber auch an die überstaatlichen Menschenrechtsgarantien, gegen die er Souveränität nicht mehr wie einen Schutzpanzer ins Feld führen kann. Die Internationalen Menschenrechtspakte, die EMRK und neuerdings die EU-Grundrechtecharta konkretisieren vielmehr den Souveränitätsauftrag des Staates. Die im Kontext des Vertrages von Nizza immer wieder erhobene Frage, ob und inwieweit sich die Mitgliedstaaten durch die nicht verbindliche Grundrechtecharta neben der EMRK auch einer Kontrolle durch die EU unterwerfen und so eine weitere Einschränkung ihrer Souveränität hinnehmen 265 , muss denn auch präzisiert werden. Das 260
H. Hofmann, Von der Staatssoziologie zu einer Soziologie der Verfassung, JZ 1999, S. 1065 ff.: „Was die Menschen überwältigte, war das positive Gefühl, durch eine Verfassung in einem allumfassenden Sinne zu Herren des eigenen Schicksals zu werden, allein und gemeinsam, jeder für sich und alle zusammen (...)". Daneben sei verwiesen auf G. F. Schuppert, Überlegungen zur demokratischen Legitimation des europäischen Regierungssystems, FS D. Rauschning, 2001, S. 201 ff, 204; A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 95 ff. 261 H. Heller, Staatslehre, 6. Aufl. 1983, S. 36. 262 Dazu W. Hennis, Das Problem der Souveränität, 1951, S. 37. 263 W. Pauly, Hegel und die Frage nach dem Staat, Der Staat 39 (2000), S. 381 ff, 395. 264 H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1966, S. 528: „Der Staat ist daher nicht etwa das Gegenteil oder der Gegner er ist die Wirklichkeit und die Voraussetzung von Recht und Freiheit." P. Pernthaler, Grundrechtsdogmatik und allgemeine Staatslehre, FS F. Ermacora, 1988, S. 605 ff, 606; W. Brugger, Menschenrechte im modernen Staat, AöR 114 (1989), S. 537 ff, 537 f , auch 557; H. Hofmann, Menschenrechtliche Autonomieansprüche, JZ 1992, S. 165 ff, 170 f.; ders, Geschichtlichkeit und Universalitätsanspruch des Rechtsstaats, Der Staat 34 (1995), S. 1 ff.; W. Schreckenberger, Der moderne Verfassungsstaat und die Idee der Weltgemeinschaft, Der Staat 34 (1995), S. 503 ff, 509; J. Isensee, Die alte Frage nach der Rechtfertigung des Staates, JZ 1999, S. 265 ff, 270; H.-P. Schneider, 50 Jahre Grundgesetz, NJW 1999, S. 1497 ff, 1499; E. Denninger, Die Wirksamkeit der Menschenrechte in der deutschen Verfassungsrechtsprechung, JZ 1998, S. 1129 ff, 1129. 265 H.-W. Rengeling, Eine Europäische Charta der Grundrechte, FS D. Rauschnig, 2001, S. 225 ff. 243.
267
II. Die einzelnen Staatselemente
neuerlich Einschränkende kann sich nur auf das „Wer kontrolliert?" beziehen. 266 Menschenrechtlich war die Souveränität nie uneingeschränkt oder durch die Gestaltungsmacht des Staates definiert. Die Menschenrechte selbst dirigieren Handlungsspielräume und Handlungsvollmachten staatlich wie staatenübergreifend verfasster politischer Einheiten. Einer prägenden, den status activus politicus einbeziehenden Formel von V. Havel gebührt das diesbezüglich letzte Wort: „Die Souveränität der Gemeinde, der Region, des Volkes, des Staates, jegliche höhere Souveränität hat nur dann Sinn, wenn sie von der in der Tat einzigen originalen Souveränität abgeleitet ist, nämlich von der Souveränität des Menschen, die ihren politischen Ausdruck in der Souveränität des Bürgers findet." 267
c) Die Träger der Souveränität aa) Souveränitätsträger
in einer staatenübergreifenden
Gemeinschaft
Wer aber sind die Träger der Hoheitsgewalt im Dienste des Menschen? Souveränität ist Grundphänomen und -problem des sozialen Zusammenlebens, das sich überall dort stellt, wo eine Mehrzahl von Menschen oder eine Mehrzahl von durch eben diese Menschen bürgerschaftlich konstituierten, relativ unabhängigen Gemeinwesen miteinander leben müssen.268 Der Nationalstaat bietet nach innen wie außen ein Ordnungsmodell für dieses Zusammenleben. Doch selbst in seinen Grenzen wird der Frage nach dem realen Substrat höchster, entscheidungsmächtiger Staatsgewalt mit dem abstrakten Begriff von der „Staatssouveränität" eher ausgewichen.269 Wer innerhalb des Staates ist es, der entscheiden, wer, der Recht setzen soll? Das H. Grotius zugeschriebene Dictum „ubi societas, ibi ius" hat eine rechtsetzende, souveräne Autorität zur Voraussetzung. Doch freilich nicht notwendig den Staat. Dessen Souveränität legitimiert sich von der Aufgabenseite her. Um instrumental, im Dienste des Bürgers seine Aufgaben erfüllen zu können, muss er zu souveräner Entscheidung befähigt sein, 270 muss er Rechtssetzungsmacht besitzen. 271 Doch wo der Staat allein
266
Respektive auf über die menschenrechtlichen Mindeststandards hinausgehende innovative Grundrechtsfortschreibungen. 267 V. Havel, Die Herrschaft der Gesetze, in: ders, Sommermeditationen, 2. Aufl. 1994, S. 14 ff, 27. 268 W. Hennis, Das Problem der Souveränität, 1951, S. 2; vgl. auch B. Beutler, Offene Staatlichkeit und europäische Integration, FS E.-W. Böckenförde, 1995, S. 109 ff, 113. 269 H. Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, 1991, S. 94. 270 W. Hennis, Das Problem der Souveränität, 1951, S. 76 in Auseinandersetzung mit
H Heller.
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Dritter Teil: B. Relativierung der Lehre von den Staatselementen
die sich ihm stellenden Aufgaben nicht mehr bewältigen kann, geht die Souveränität - bildlich gesprochen - ins Leere, könnte sie sich nur noch aus sich selbst heraus rechtfertigen, wäre zum Selbstzweck reduziert. 272 Diese Überlegungen zeigen, dass Souveränität letztlich ein Kompetenzverteilungsproblem ist. Es müssen geeignete Kriterien dafür gefunden werden, wer entscheiden soll. In Verfassungsgemeinschaften, politischen Mehrebenensystemen, stellt sich die Frage nicht anders als im Saat, nur sind die Verflechtungen potentieller Entscheidungsträger vielfältiger. Entscheiden soll, wer politische Einheitsbildung am besten leisten, die Freiheit der Bürger sichern, die Ordnung erhalten und der effektiven Verwirklichung des Rechts dienen kann. 273 Das Denken vom Ausnahmezustand her, die Entscheidung um der Entscheidung willen 2 7 4 , wie es der Dezisionismus Schmittscher Prägung nahe legt, verkennt ein solches Anforderungsprofil. Weiterführend ist aber das Subsidiaritätsprinzip. Wo sie Integration in hinreichend umfassendem Sinne leistet kann, soll die jeweils kleinere Einheit souverän " entscheiden, wo das nicht mehr möglich ist, die übergreifende einspringen. So und nicht im hierarchischen Sinne der Überund Unterordnung verstanden, hilft das Denken im Mehrebenensystem, der „multilevel constitutionalism" (/. Pernice) 215, ein Kompetenzverteilungsmodell zu skizzieren. Unter den der Souveränität, eine Multi-Souveränitätenordnung 271
Ch. Enders, Offene Staatlichkeit unter Souveränitätsvorbehalt, FS E.-W. Böckenförde, 1995, S. 29 ff, 29. 272 Die „Staatsentlastung durch Aufgabenauslagerung", so W. Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, 1997, S. 227, hat nicht nur die funktionalen Selbstverwaltungsträger und gesellschaftlichen Kräfte, sondern ebenso staatenübergreifende „Entlastungsmöglichkeiten" mit in ihr Blickfeld zu nehmen. 273 Vgl. H. Heller, Staatslehre, 6. Aufl. 1983, S. 223; speziell zur Aufteilung der Hoheitsgewalt im Rahmen der EU M. Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, S. 2846 ff, 2847 f. 274 C. Schmitt, Politische Theologie, 3. Aufl. 1979, S. 10. 275 I. Pernice, Constitutional Law Implications for a State Participating in a Process of Regional Integration. German Constitution and "Multilevel Constitutionalism", in: Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Grundfragen der europäischen Verfassungsentwicklung, Forum Constitutionis Europae - Bd. 1, 2000, S. 11 ff.; ders, Europäisches Verfassungsrecht im Werden, in: H. Bauer u. a. (Hrsg.), Ius Publicum im Umbruch, 2000, S. 25 ff, 27.; ders., Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 148 ff, 173. Zur Verschränkung der nationalen Rechtsordnungen mit dem Gemeinschaftsrecht M. Zuleeg, Dieföderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, S. 2846 ff, 2849; von einem „Mehrebenensystem" mit Blick auf die Exekutive sprechen E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, S. 324; M. Jachtenfuchs/B. Kohler-Koch, Regieren im dynamischen Mehrebenensystem, in: dies. (Hrsg.), Europäische Integration, 1996, S. 15 ff.; siehe auch G. F. Schuppert, Überlegungen zur demokratischen Legitimation des europäischen Regierungssystems, FS D. Rauschning, 2001, S. 201 ff, 215 ff; A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 187 ff.
II. Die einzelnen Staatselemente
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teilsouveränen Entscheidungseinheiten behält der Nationalstaat seine prägende Rolle, teilt sie aber mit neuen, ihn umgreifenden Akteuren. 276 Dieses TeilenMüssen war mit dem „vereinten Europa" in der Präambel des Grundgesetzes schon lange vor der Neufassung des Art. 23 GG festgeschrieben. Das Grundgesetz hat niemals eine Staat konstituiert, der den Begriff Europas nicht schon vorausgesetzt und seine souveräne Entscheidungs- und Definitionsmacht dahingehend beschränkt hätte. 277 „Geteilte Souveränität" meint also nicht etwa nachträglichen Verzicht auf Souveränität, sondern ihr Geteilt-Sein von Anfang an. Zwar hatte E. Forsthoff angesichts der Bemühungen von Gemeinden, auf die Bundesgewalt Einfluss zu nehmen, noch vor einer ,polykratischen" Auflösung der Staatsgewalt gewarnt. 278 Doch solche Kassandrarufe können nicht auf das Europa von heute übertragen werden. Seine Wirklichkeit ist polyzentrisch, an ihrer Gestaltung sind viele beteiligt. Die „geteilten Souveränitäten", die „dezentrale Souveränität" entsprechen zugleich dieser Wirklichkeit und ordnen sie wiederum normativ. Hier kommt auch erneut das dem Menschen dienende Souveränitätsverständnis ins Spiel, denn angesichts der eben umschriebenen, an unterschiedlichen Gravitationszentren des Politischen ausgerichteten Realität kann der Nationalstaat nicht mehr die „Letzt"-, gar die „Totalverantwortung" für seine Bürger beanspruchen. 279 Damit verbunden wäre ein Versprechen, das der Staat aufgrund seiner international gebundenen, eingeschränkten Handlungs- und Entscheidungsfreiheit gar nicht halten könnte. Die Nichteinlösung hätte Handlungsohnmacht zur Folge und würde die Grundlagen staatlicher Legitimation erschüttern. 280 bb) Die Homogenität oder Heterogenität der Souveränitätsträger Noch bleibt eine Frage offen: Wie homogen muss, wie heterogen darf die souveräne Wirkungseinheit sein? Volk und Nation zeichnen ein Bild relativer 276
J. A. Frowein, Die Verfassung der Europäischen Union aus Sicht der Mitgliedstaaten, EuR 1995, S. 315 ff, 318, 320: „Ausgliederung von Teilsouveränitäten". 277 B. Beutler, Offene Staatlichkeit und europäische Integration, FS E.-W. Böckenförde, 1995, S. 109 ff, 111; R. Wahl, Internationalisierung des Staates, FS A. Hollerbach, 2001,S. 193 ff, 194. 278 E. Forsthoff,\ Die öffentliche Körperschaft im Bundesstaat, 1931, S. 108. 279 L. Wildhaber, Entstehung und Aktualität der Souveränität, FS K. Eichenberger, 1982, S. 131 ff, 139; K. Hesse, Verfassung und Verfassungsrecht, in: E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), HdBVerfR, 2. Aufl. 1994, § 1, Rn. 36; D. Tsatsos, Die Europäische Unionsgrundordnung, EuGRZ 1995, S. 287 ff.; G. Nicolay sen, Der Nationalstaat klassischer Prägung hat sich überlebt, FS U. Everling, Bd. II, 1995, S. 945 ff, 950 („modifizierte Staatlichkeit"). 280 Vgl. W. Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1998, S. 110.
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Dritter Teil: B. Relativierung der Lehre von den Staatselementen
Homogenität. Doch selbst angesichts dessen wäre es gefährlich, die „nationale Homogenität", die „Einheit der Nation" zum ausschließlichen staats- respektive gemeinschaftsbildenden Subjekt zu verklären. 281 Wer das versucht, übergeht nicht nur die Einzelmenschen in ihrem pluralistischen Zusammenwirken, sondern verkennt die Wirklichkeit der offenen Gesellschaft in toto. Der Willensbildungsprozess des Volkes und die daraus resultierenden souveränen Entscheidungen sind auf eine durch Meinungs- und Interessenvielfalt strukturierte Gemeinschaft bezogen. Nicht die „Volksdemokratie", sondern die „Bürgerdemokratie" ist ihr begriffliches Äquivalent. 282 Die Ausgrenzung des Anderen wirkt im demokratischen Verfassungsstaat nicht etwa als Voraussetzung der Souveränität, sondern führt zum Ende jeder bürgerlichen Freiheit und damit zum Ende jener freien Selbstbestimmtheit, die den Träger der Souveränität erst legitimiert. Eine Gemengelage nationaler und übernationaler demokratischer Partizipationsund Kontrollmechanismen steht (teil-)souveräner Entscheidungsmacht nicht entgegen. In ihrem Kompetenzbereich souveränes Handeln der Europäischen Union setzt ein „Europäisches Volk" nicht notwendig voraus. 283 Nur in einem Nebensatz sei erwähnt, dass auch bei dieser Frage zwischen ethnos und demos differenziert werden müsste, ohne vorschnell von der kulturbedingten Unmöglichkeiten des ersteren auf die politische des letzteren zu schließen. Europa kann sich deshalb durchaus von der Idee inspirieren lassen, dass lebendige Demokratie nicht notwendig rein staatlich verfasst sein muss, ohne das Konzept des Nationalstaates vollständig aufzugeben. 284 Das Souveränitätsverständnis des kooperativ offenen Verfassungsstaates entscheidet sich nicht am Antagonismus
281 So C Schmitt, Verfassungslehre, 1928 S. 231; demgegenüber spricht K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 211 ff, von einer „republikanische Homogenität", die nicht im Schmittschen Sinne durch „Ausscheidung oder Vernichtung der Heterogenen" erreicht werden soll, sondern „dadurch, daß allen Menschen, die im Gemeinwesen leben, die politische Freiheit ermöglicht wird." Dieser Homogenitätsbegriff setzt die Pluralität, die Heterogenität, dessen, was politische Freiheit ausmacht, aber schon voraus. 282 P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 244 f.; W. Schmitt Glaeser, Die grundrechtliche Freiheit des Bürgers zur Mitwirkung an der Willensbildung, HStR, Bd. II, § 31, Rn. 33; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 650 ff. 283
Das selbstverständliche Nein des BVerfG im Maastricht-Urteil - E 89, 155 (182 ff.) - wird kaum das letzte Wort sein. Das gemeinschafts- und mittlerweile auch verfassungsrechtlich verbriefte Kommunalwahlrecht für Ausländer, die Unionsbürgerschaft und die Demokratisierung der Europäischen Union, nicht zuletzt greifbar in der unmittelbaren Wahl des Europäischen Parlaments, weisen einen anderen Weg. Vgl. dazu auch R. Gr awert, Der Deutschen supranationaler Nationalstaat, FS E.-W. Böckenförde, 1995, S. 125 ff, 141. 284 Vgl. B. Beutler, Offene Staatlichkeit und europäische Integration, FS E.-W. Böckenförde, 1995, S. 109 ff, 115.
II. Die einzelnen Staatselemente
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„homogener" oder heterogener" Trägerschaft. Die Fähigkeit zu politischer Einheitsbildung, sozialem Miteinander und geistigem Austausch in selbstbestimmter Freiheit ist Voraussetzung souveräner Gestaltungsmacht einer Handlungsund Wirkungseinheit. Dazu gehört sicher ein Mindestmaß an Homogenität, die aber nicht national definiert sein muss, sondern ebenso in gemeineuropäischen Werten gründen kann. Zur kontinuierlichen Weiterbildung und Festigung solcher Werte leisten grenzüberschreitende und grenznachbarschaftliche Kooperationsformen einen wesentlichen Teilbeitrag. Wenn und wo sich der Nationalstaat nach dem Vorbild von Art. 24 Abs. 1 a GG öffnet, schafft er somit die Voraussetzung für souveränitätsfähige staatenübergreifender Handlungs- und Wirkungseinheiten. d) Die Lokalisierung und die Gebietsbezogenheit der Souveränität, Souveränitätsgewinne und Souveränitätsverluste Die Relativierung von Souveränität und Staatsgewalt durch die kooperative Öffnung des Verfassungsstaates hat in hohem Maße auch mit der Gebietsbezogenheit der Souveränität zu tun. Die räumliche Rechtsgeltung und Erstreckung hoheitlicher Macht wird in der Staats- und Völkerrechtslehre aus der Gebietshoheit eines Staates abgeleitet. Souveränität meint ursprüngliche Herrschaftsgewalt eines Staates über sein durch verbindliche Grenzen umschlossenes Gebiet. 2 8 5 „Die Lehre von der Souveränität", so U. Di Fabios Wertung, „ist ein konstruktivistischer Kunstgriff von genialer Einfachheit und fruchtbringender Paradoxie. Er findet seine Quelle in einer partikularen Universalität: dem territorial radizierten V o l k " . 2 8 6 Der Raumbezug ist jeder Souveränitätskonstruktion ebenso immanent wie die vorgestellten Topoi Volk und Nation. Wandelt sich nun der Raum, verliert die territoriale Radizierung zwar nicht an grundsätzlicher Bedeutung, aber an ausschließender Kraft. Manche Prämissen des überkommenen Souveränitätsdenkens werden zugleich in Frage gestellt. Daher gilt der folgende Überblick einigen Schritte auf dem Weg vom geschlossenen Territorialstaat zum offenen, auch räumlich vielfach vernetzten Verfassungsstaat. In der Entwicklungsgeschichte des modernen Staates war Souveränität das Ergebnis einer Konzentration von Herrschaftsrechten in der Hand des Landesfürsten mit dem Ziel, die Landeshoheit auszubauen und zu verfestigen. 287 Diese 285
G. Jellineky Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914 (Nachdruck 1960), S. 183; dazu auch G. Winkler, Raum und Recht, 1999, S. 55 f.; weiterhin U. Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 2. 286 U. Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 18, S. 94 ff, 122 ff. 287 W Mößle, Regierungsfunktionen des Parlaments, 1986, S. 6, S. 44 ff; vgl. darüber hinaus D. Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, S. 57 ff
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„Konzentration", Bündelung und Absolutsetzung von Herrschaftsmacht hatte eine doppelte Konsequenz. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts förderte sie eine bis ins „Absurde gehende Überhöhung" des Souveränitätsbegriffs und bedingte nach Überschreiten der Klimax zugleich dessen radikale Infragestellung und nahezu vollständige Entleerung. 288 Letztere beschleunigte vor allem das Industrielle Zeitalter. Sozialer Wandel und angesichts technischer Sachzwänge kaum verwunderliche "Souveränitätsverluste" gehören zu seinen epocheprägenden Merkmalen 289 . Ein Zeitsprung: Was mit der technologischen Revolution begann, potenziert sich im Postindustrialismus durch Globalisierungs- und Internationalisierungsphänomene. Eine globale Wissens-, Informations- und Risikogesellschaft sprengt alle staatlichen Grenzen und verlangt nach staatenübergreifenden Instanzen, die Verantwortung für das Gemeinwohl zu übernehmen bereit und in der Lage sind. 290 Die „civil society", die der Nationalstaat einst durch die Nationalkultur geeint, durch die Nationalökonomie geordnet und aufgrund der souveränen Entscheidung eines mehr oder weniger homogenen Staatsvolkes national verfasst glaubte, findet heute losgelöst von Nationalsprachen und Nationalbewusstsein in der neuen lingua franca der „global actors" staatenübergreifende, weltgesellschaftliche respektive transnationale Identität. 291 Die Staaten
288 W. Hennis, Das Problem der Souveränität, 1951, S. 1; geschichtlicher Abriss über die Souveränitätslehren insbes. zu Ende des 19. Jh. und zur Zeit der Weimarer Republik ebd., S. 11 ff. 289 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, 8. Aufl. 1976; E. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, 2. Aufl. 1971, S. 81; J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, S. 86; W. Mößle, Regierungsfunktionen des Parlaments, 1986, S. 7, greift das Stichwort von einer „Refeudalisierung" des „Staates der Industriegesellschaft auf, die eine faktische Dominanz einflußreicher gesellschaftlicher Kräfte, Lobbys, Verbände und Interessengruppen" etc. meine. R. Streinz, „Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht" - Verlust und Möglichkeiten nationaler politischer Gestaltungsfreiheit nach der Integration in eine supranationale Gemeinschaft, aufgezeigt am Beispiel des Lebensmittelrechts, insbesondere der sog. Novel-Food-Verordnung, FS A. Söllner, 2000. 290 Zum Stichwort einer „staatenübergreifenden Gemeinwohlverantwortung" siehe M. Zuleeg, Die föderativen Grundsätze der Europäischen Union, NJW 2000, S. 2846 ff, 2851. Das Stichwort Souveränitätsverluste findet sich auch bei P. Häberle, Das Grundgesetz als Teilverfassung im Kontext der EU/EG - eine Problemskizze, FS H. Schiedermair, 2001, S. 81 ff, 82. Speziell zum Gemeinwohl: P. Häberle, Gibt es ein europäisches Gemeinwohl? - eine Problemskizze, FS H. Steinberger, 2002, S. 1153 ff. 291 W: Pauly, Hegel und die Frage nach dem Staat, Der Staat 39 (2000), S. 381 ff, 393; P. Zumbansen, Spiegelungen von Staat und Gesellschaft: Governance-Erfahrungen in der Globalisierungsdebatte, ARSP, Beiheft 79, 2001, S. 13 ff, S. 32 ff. (Trias von Weltstaat, Weltföderation, Weltgesellschaft); vgl. noch K. M. Meessen, Politische Identität in Europa, EuR 34 (1999), S. 701 ff.
II. Die einzelnen Staatselemente
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reagieren auf dieses Phänomen vor allem durch Privatisierung auf der einen, Vergemeinschaftung ihrer Aufgaben auf der anderen Seite. 292 Diese Feststellung präzisiert das Problem. Infragegestellt ist auch weniger die Souveränität als solche, das heißt als „rechtliche Eigenschaft der Staatsgewalt", sondern der Einzel- bzw. Nationalstaat als „souveräner Willensverband". 293 Nicht Eliminierung, vielmehr Umwandlung und Verlagerung der Souveränität auf übergeordnete Verbände bzw. staatenübergreifende Einheiten lautet das Gebot gewandelter Staatlichkeit. Dass es sich zu einfach macht, wer solche Transformation mit zwingendem Souveränitätsverlust des Nationalstaates gleichsetzt, belegt ausgerechnet der deutsche Sonderfall in der europäischen Integrationsgeschichte. 294 Die Gründung der drei Europäischen Gemeinschaften bedeutete für die Bundesrepublik, 1949 als nicht vollständig souveräner Staat gegründet, eine Erweiterung, nicht etwa eine Einbuße ihrer Handlungsfähigkeit. 2 9 5 Sie bekam von Europa, was sie selbst hätte gar nicht schaffen können, und die gleichberechtigte Partnerschaft war für die Deutschen zwar nicht de iure, wohl aber de facto ein „Souveränitätsgewinn". Erst 1990 wurde die Bundesrepublik durch den Zwei-Plus-Vier-Vertrag „in die volle Souveränität" entlassen. 296 Ab diesem Zeitpunkt die fortschreitende supranationale Einbindung einseitig mit dem Prädikat des „Souveränitätsverlustes" zu belegen, entspringt wohl jener eigentümlichen, mitunter auch ironischen Dialektik der Weltgeschichte. Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Oktober 1993 (E 89, 155 ff.) macht hier keine rühmliche Ausnahme. 297 Doch durch neue
292 R. Grawert, Der Deutschen supranationaler Nationalstaat, FS E.-W. Böckenförde, 1995, S. 125 ff, 142. 293 So schon W. Hennis, Das Problem der Souveränität, 1951, S. 86 und ff, immer auch mit konkretem Blick auf die Idee eines europäischen Bundesstaates; vgl. heute /. Pernice, Europäisches Verfassungsrecht im Werden, in: H. Bauer u. a. (Hrsg.), Ius Publicum im Umbruch, 2000, S. 25 ff, 26. 294 Zum folgenden siehe auch D. H. Scheuing, Die Europäisierung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, in: H. Bauer u. a. (Hrsg.), Ius Publicum im Umbruch, 2000, S. 47 ff, 49 f. 295 Vgl. z. B. P. Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, VVDStRL 23 (1966), S. 34 ff, 40.; G. Wewer, Außenpolitik und Europapolitik als Gegenstand der Regierungslehre, in: H.-H. Hartwich/G. Wewer (Hrsg.), Regieren in der Bundesrepublik V, 1993, S. 9 ff, 12 f. 296 Art. 7 Abs. 2 des Vertrages über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland vom 12. September 1990, BGBl. II 1990, 1318. 297 Dazu aus der Fülle der Lit.: /. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. 2, 1998, Art. 23, Rn. 3; P. M. Huber, Maastricht - ein Staatsstreich?, 1993; R. Streinz, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, EuZW 1994, S. 329 ff.; H.'D. Horn, „Grundrechtsschutz in Deutschland" - Die Hoheitsgewalt der Europäischen Gemeinschaft und die Grundrechte des Grundgesetzes nach dem Maas-
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Dritter Teil: B. Relativierung der Lehre von den Staatselementen
institutionelle Arrangements auf staatenübergreifender Ebene - von der EU bis zu den grenznachbarschaftlichen Einrichtungen - gewinnt der Nationalstaat einen Teil seiner „materiellen Politikgestaltungsfähigkeit zurück", die er durch Globalisierung, technischen Fortschritt etc. schon verloren zu haben glaubte bzw. tatsächlich verloren hatte: auf dem Feld des Umwelt- und Verbraucherschutzes, des Asyl- und Einwanderungsrechts oder durch den „Euro-Cop" im Dienste wirksamer gesamteuropäischer Verbrechensbekämpfung. 298 e) Kooperative Souveränitätsverflechtungen Die bisher angestellten Überlegungen zur Souveränitätstheorie bereiten den Boden für einen Brückenschlag, ohne den Souveränität im kooperativen Verfassungsstaat nicht mehr adäquat umschrieben werden kann: hin zu einem Kooperationsmodell, zu kooperativen Souveränitätsverflechtungen, 299 Schon R. Smend hat die Beziehungen zwischen Staaten als solche „geistigen Austausch und Lebens, d. h. gegenseitiger Gestaltung und Selbstgestaltung"300 beschrieben und damit ein Stück heutiger Wirklichkeit vorweggenommen. Je intensiver der moderne Leistungsstaat seine Aufgaben nicht mehr allein, sondern nur noch im Zusammenwirken mit anderen Staaten wahrnehmen kann, umso prekärer wird die Kluft zwischen tatsächlicher Gemeinschaftsgebundenheit und der Doktrin souveräner Autarkie. Der nicht nur für das Europäische Gemeinschaftsrecht wichtige Bereich der Wirtschaft gibt ein mustergültiges Beispiel. Auf Zusammenarbeit angewiesen, hat der Staat allenfalls noch „die Position eines regional wirksamen Widerlagers gegenüber globalen Verkehrsvorgängen" inne, er wird „regionales Verdichtungszentrum im Gefüge überstaatlicher Machtkonstellationen" 301 . Seine Einzigkeit, Ausschließlichkeit und Monopolstellung gehören
tricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, DVB1. 1995, S. 89 ff.; J. H H Weiler , Der Staat über alles - Demos, Telos und die Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, JöR 44 (1996), S. 91 ff.; K. Hailbronner , Aufgabe von Souveränitätsrechten als EU-Mitglied - deutsche Erfahrungen, FS H. Maurer, 2001, S. 97 ff, 97. 298 K. Gretschmann , Traum oder Alptraum? Politikgestaltung im Spannungsfeld von Nationalstaat und Europäischer Union, Aus Politik und Zeitgeschichte, B5/2001, S. 25 ff, 27.; K. Hailbronner , Aufgabe von Souveränitätsrechten als EU-Mitglied deutsche Erfahrungen, FS H. Maurer, 2001, S. 97 ff, 102; siehe auch noch D. Grimm , Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, S. 81 ff. 299 Zum Problem „der Verantwortungszurechnung in Kooperationsgeflechten" siehe U. Di Fabio , Das Recht offener Staaten, 1998, S. 126 f. 300 R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 65. 301 R. Grawert , Der Deutschen supranationaler Nationalstaat, FS E.-W. Böckenforde, 1995, S. 125 ff, 142; zu Wachstum und Wandel der Verwaltungsaufgaben R. Mayntz, t Soziologie der öffentlichen Verwaltung, 4. Aufl. 1997, S. 45 ff.
II. Die einzelnen Staatselemente
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der Vergangenheit an. Kann der Nationalstaat z. B. Maßnahmen der Wirtschaftspolitik oder des Umweltschutzes entweder nur in staatenübergreifender Kooperation oder überhaupt nicht wahrnehmen, so ist jede Form der Vergemeinschaftung dieser Materie ein schlichter Akt der Souveränitätssicherung, eine „Europäische Souveränitätszusammenführung". 302 Das Parallelphänomen findet sich, wie bereits mehrfach angesprochen, auch im Inneren des Staates. Öffnet er sich nicht der Kooperation, verliert er auch hier ein Stück seiner „Souveränität" im Sinne souveräner Gestaltungsmacht: „Die personale Einheit des Staates, seine Souveränität, wie sie in monarchischer Tradition genannt wird, wandelt sich nach innen und außen. Dieselben funktionalen Kräfte der industriell-bürokratischen Gesellschaft, die nach innen zur Aufgliederung der Gesellschaft in Gruppen, zu Pluralismus und einer ihm gemäßen Umbildung der staatsrechtlichen Institutionen drängen, fuhren nach außen zu neuen Zusammenfassungen, die die zwischenstaatlichen zu überstaatlichen Institutionen verdichten."303
Der kooperative Aspekt bedingt zwingende Konsequenzen. „ I m staatsrechtlichen Begriffe der Souveränität muss die Tatsache der Neben- und Zusammenordnung der Staaten als materiales Moment so gut enthalten sein, wie ihm vom Eigenwert des Menschen seine Grenzen bestimmt werden." 304 Anders formuliert: Der materielle Souveränitätsbegriff baut auf einer doppelten Prämisse auf. Er gründet, wie der Verfassungsstaat selbst, in der Menschenwürde und dem Eigenwert der Person als „anthropologischer Prämisse" 305 und enthält zugleich die Dimension der Kooperation, da für den gegenwärtigen Staat weniger die abstrakte Größe der Souveränität kennzeichnend ist als vielmehr die Vielzahl
302
L. Kühnhardt, Europäische Union und föderale Idee, 1993, S. 129; D. Th. Tsatsos, Bemerkungen zur Gegenwartsfunktion der Verfassung, in: R. Bieber/P. Widmer (Hrsg.), L'espace constitutionnel européen, 1995, S. 57 ff, 65, sieht ebenfalls in „Souveränitätswahrung" und „Integrationsforderung" keine Gegensätze. 303 H. Bülcky Der Strukturwandel der internationalen Verwaltung, Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, Heft 247, 1962, S. 23. 304 W. Hennis, Das Problem der Souveränität, 1951, S. 131. Verwiesen sei auch auf das erstmals von der Staatsrechtslehrertagung im Jahre 1959 zum Thema gemachte Spannungsverhältnis von Grundgesetz und durch internationale Staatengemeinschaft ausgeübte öffentliche Gewalt. G. Erler, Das Grundgesetz und die öffentliche Gewalt internationaler Staatengemeinschaften, VVDStRL 18 (1960), S. 7 ff, 8, sieht durch „die Möglichkeit der Ausübung einer öffentlichen Gewalt im Bundesgebiet (...), die nicht der deutschen Staatsgewalt entspringt" zu Recht den „Grundsatz der Geschlossenheit und Ausschließlichkeit der Staatsgewalt" in Frage gestellt. 305 P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, HStR, Bd. I, 2. Aufl. 1995, S. 815 ff.; für die internationale Gemeinschaft daran anknüpfend M. Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, 2001, S. 217 ff.
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Dritter Teil: B. Relativierung der Lehre von den Staatselementen
seiner rechtlichen und tatsächlichen Bindungen. 3 0 6 War historisch die Souveränität ein Ergebnis von Herrschaftskonzentration in der einen Hand des Souver ä n 3 0 7 , hat sie so ihre Inhalte gewonnen und wurde erst nach und nach verfassungsstaatlich aufgefangen, so muss heute die souveräne Macht wieder dekonzentriert werden. Maßgaben sind die „kollektive Wahrnehmung der Souveränität" und das Subsidiaritätsprinzip als „Bedingung der Souveränitätsverwirklichung". 3 0 8 Subsidiär-teilsouveräne Entscheidungseinheiten verschmelzen zu der Wirkungseinheit, aus der Europa Inhalt, Form und Verfassung gewinnt. 3 0 9 Wenn der Nationalstaat konkrete Mitwirkungsbefugnisse i m Verflechtungsbereich des Gemeinschaftsrechts erhält, bricht auch die Volkssouveränität aus den Grenzen des Nationalen aus und wird eine wenigstens mittelbar wirksame supranationale Größe. 3 1 0 Denn die Mitgliedstaaten einer jenseits der Staatlichkeit verfassten politischen Gemeinschaft sind nicht von ihren Bürgern losgelöst zu denken, sondern von diesen zur Erfüllung bestimmter staatenübergreifender Zwecke konstituiert. Handeln die Mitgliedstaaten durch ihre Organe, artikuliert 306 Vgl. Ch. Tomuschat, Die internationale Gemeinschaft, Archiv des Völkerrechts 33 (1995), S. 1 ff, 20; Ch. Walter, Die Folgen der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion, DVB1. 2000, S. 1 ff, S. 7, spricht vom Wandel des souveränen Nationalstaates zum rechtlich gebundenen Mitgliedstaat. Neben den bereits angesprochenen menschenrechtlichen Bindungen spielen auch die umweltrechtlichen eine große Rolle, siehe z. B. M. Haedrich, Internationaler Umweltschutz und Souveränitätsverzicht, Der Staat 29 (2000), S. 547 ff. 307 W. Mößle, Regierungsfunktionen des Parlaments, 1986, S. 6. 308 D. Th. Tsatsos, Die Europäische Unionsgrundordnung im Schatten der Effektivitätsdiskussion, EuGRZ 2000, S. 517 ff, 520; siehe auch K. Hailbronner, Aufgabe von Souveränitätsrechten als EU-Mitglied - deutsche Erfahrungen, FS H. Maurer, 2001, S. 97 ff, 103. 309 In der „Gründerzeit" der Europäischen Gemeinschaften sprach W. Thieme, Das Grundgesetz und die öffentliche Gewalt internationaler Staatengemeinschaften, VVDStRL 18 (i960), S. 50 ff, 55, von einer „partielle(n) Einschmelzung der Souveränität der Mitgliedstaaten durch die Errichtung der Gemeinschaft." Für den kooperativen Verfassungsstaat heutiger Entwicklungsstufe scheint das Bild einer „Verschmelzung" teilsouveräner Entscheidungsbefugnisse angemessener; dazu aus der Lit.: P. Häberle, Das Grundgesetz als Teilverfassung im Kontext der EU/EG - eine Problemskizze, FS H. Schiedermair, 2001, S. 81 ff, 82 f.; siehe schon ders, Europa - eine Verfassungsgemeinschaft, in: ders, Europäische Verfassungslehre in Einzelstudien, 1999, S. 84 ff, S. 100 ff. 3,0 R. Grawert, Der Deutschen supranationaler Nationalstaat, FS E.-W. Böckenforde, 1995, S. 125 ff, 142.; von einem „System der Verfassungsverflechtung" spricht R. Bieber, Verfassungsentwicklung der Europäischen Union: Autonomie oder Konsequenz staatlicher Verfassungsentwicklung, in: P. Ch. Müller-Graff (Hrsg.), Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union, 1998, S. 209 ff, 215; ders., Der Verfassungsstaat im Gefüge europäischer und insbesondere supranationaler Ordnungsstrukturen, in: D. Thürer/J.-F. Aubert/J. P. Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, 2001, S. 97 ff, 98 ff, 102.
II. Die einzelnen Staatselemente
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sich hierin der souveräne Wille ihrer Bürger. 311 Somit wird die vordem nationalstaatlich verengte Souveränität zum supranationalen Kooperationsprinzip. Der für die Verfassungs- wie für die Völkerrechtslehre gleichermaßen gültige Souveränitätsbegriff setzt dieses kooperative Element bereits voraus. Öffentliche Gewalt, heute gleichermaßen von staatlichen wie in Integrationsprozessen gewachsenen staatenübergreifenden Einheiten ausgeübt, kann nicht mit den eindimensionalen Kategorien einer positivistischen Staatslehre erklärt, sondern muss aus der Wirklichkeit der globalisierten Staatenwelt erschlossen werden. 312 Die nationalen Verfassungstexte leisten dazu ihren unverzichtbaren Beitrag. In seiner Präambel, Art. 23, 24 und 25 weist das Grundgesetz, wie es K Hesse pointiert zuspitzt, „über sich selbst hinaus". 313 Neue terminologische Versuche lösen das „absolute Zuhöchst-Sein" als Souveränitätscharakteristikum ab. Das Zusammenspiel relativer Kompetenzhoheiten, „geteilte Souveränität" 314 , „internationale Organisationsgewalt", oder „supranationale Integrationsgewalt" 315 geben die Stichworte. Damit schließt sich der Kreis zur Ausgangsthese und präzisiert sie zugleich. Das gängige Bild von der „Überlagerung" staatlicher Souveränität durch das Völker- bzw. Europarecht ist letztlich nicht exakt. Nicht eine Hoheitssphäre überlagert die andere, sondern unterschiedliche Kompetenzbereiche und Hoheitsräume werden einander zugeordnet, zu einem ineinandergreifenden Mechanismus verbunden. Der Normenkanon, der die grundgesetzliche Entscheidung für die internationale Zusammenarbeit manifestiert, strukturiert Souveränität denn auch eher als er sie verlagert. Art. 24 Abs. 1 a GG ist die jüngste Spielart solcher Strukturbildung. Die Relativierung der Souveränität führt nicht zu ihrer Verabschiedung, vielmehr zu deren struktursichernden Neuinterpretation. Vergleichbares ist für den Funktionswandel zu konstatieren, der das Staatselement Staatsvolk in den Dreiklang von Staatsvolk, Unionsbürgerschaft und Weltbürgertum transformiert.
311 1. Pernice, Europäisches Verfassungsrecht im Werden, in: H. Bauer u. a. (Hrsg.), Ius Publicum im Umbruch, 2000, S. 25 ff, 31. 312 In diesem Sinne schon die „wissenschaftstheoretische Conclusion" bei J. H. Kaiser, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, VVDStRL 23 (1966), S. 1 ff, 26. 313 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995 (Neudruck 1999), Rn. 11. 314 1. Pernice, Europäisches Verfassungsrecht im Werden, in: H. Bauer u. a. (Hrsg.), Ius Publicum im Umbruch, 2000, S. 25 ff, 37. 315 So S. Hobe, Der kooperationsoffene Verfassungsstaat, Der Staat 37 (1998), S. 521 ff, 545.
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Dritter Teil: B. Relativierung der Lehre von den Staatselementen 2. Staatsvolk,
Unionsbürgerschaft
und Weltbürgertum
a) Ein Staatsvolk der Bürger Versteht sich die Europäische Union nicht als Staat, ist ein europäisches Staatsvolk als Träger und Legitimationssubjekt europäischer Staatsgewalt schwer denkbar. 316 So sprechen denn auch die Präambel und Art. 1 EUV von einer immer engeren Union der „Völker" Europas, Art. 189 EGV von den „Völkern der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten". Dem Wunsch nach einem homogenen Staatsvolk stünde nicht nur die kulturelle Vielfalt Europas, sondern die Idee der Integration als solche entgegen. Ihr geht es nicht um die Reproduktion überkommener Staatlichkeitselemente auf höherer Ebene, um „staatsrechtliche Harmonie" auf „höherem territorialen Niveau" 3 1 7 , gar um die „Nationalstaatswerdung" Europas durch den schlichten Austausch von Staatsvolk und europäischem Volk, Staatsgewalt und Gemeinschaftsgewalt, Staatsgebiet und EU-Raum. Das wäre kaum eine Integrationsleistung, sondern alter Wein in neuen, mit europäischem Etikett versehenen Schläuchen. Die integrative Einbindung der „Völker Europas" in die Unionsbürgerschaft folgt denn auch einer anderen Teleologie. Schon vor Einführung der Unionsbürgerschaft durch den Vertrag von Maastricht war eine europabürgerschafitliche Grundtendenz unverkennbar. Alle europäischen Ordnungsinstrumente sind darauf angelegt, in dem von EG bzw. EU umfassten Bereich Diskriminierungen der Individuen aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit zu vermeiden. Geschaffen werden soll ein umfassender Raum, in dem die Grundfreiheiten und Grundrechte aller Gemeinschaftsbürger gegen hoheitliche Beeinträchtigungen gleichermaßen geschützt sind. 318 Zwar ist die Unionsbürgerschaft durch die Staatsangehörigkeit vermittelt (Art. 17 Abs. 1 S. 2 EGV), doch verliert deren Band nichtsdestoweniger an Bedeutung. Die Zuordnung des Einzelnen zu seinem Staat relativiert sich, da er nicht mehr allein auf dessen Schutz und freiheitsgestaltende Ordnungsmacht
316
P. M. Huber , Recht der Europäischen Integration, 1996, S. 71; das Staatsvolk aus nationaler wie europäischer Sicht beleuchtet P. Kirchhof Der demokratische Rechtsstaat - die Staatsform der Zugehörigen, HStR, Bd. IX, 1997, § 221, Rn. 16 ff. 317 U. Di Fabio , Das Recht offener Staaten, 1998, S. 98. 3,8 D. Thürer , Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S. 97 ff, 124; vorher schon Th. Oppermann , Sinn und Grenzen einer EG-Angehörigkeit, FS K. Doehring, 1989, S. 713 ff.; S Magiera , Die europäische Gemeinschaft auf dem Weg zu einem Europa der Bürger, DÖV 1987, S. 221 ff.
II. Die einzelnen Staatselemente
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angewiesen ist. 3 1 9 Der Nationalstaat hat sich mit der Nation identifiziert und damit einhergehend die Staatsbürgerschaft der „citoyenneté" zu einer der „nationalité" konkretisiert. 320 Der Prozess der europäischen Integration führt zu einer vom „Entkonkretisierung". Er bedingt die Loslösung des aktivbürgerlichen staatsbürgerlichen Status und führt vice versa - sehr viel weniger paradox, als es auf den ersten Anschein wirken mag - den Begriff der Nation auf seine politischen Wurzeln zurück: auf „das Ideal einer Solidargemeinschaft gleichberechtigter freier Bürger", auf die Vorstellung der „politisch einheitsbewussten und daher staatsbildenden Kräfte". 321 Allerdings weitet die global vernetzte Wirklichkeit das Bewusstsein zur politischen Einheitsbildung in den staatenübergreifenden Raum. Die kooperativen Öffnungsklauseln in den Verfassungstexten muten ihren Bürgern diese Dimension zu, denn sie setzen deren Handlungsfähigkeit und Partizipationswillen außerhalb des Staatsverbandes voraus. Der Einwand, Kooperationsmodelle nach dem Muster von Art. 23 und Art. 24 Abs. 1 oder Abs. 1 a GG seien gar nicht bürgerbezogen, beträfen nur die Zusammenarbeit zwischen Hoheitsträgern, greift letztlich nicht durch. Die unterschiedlichsten Formen politischer Einheit, die in Gestalt einer supranationalem Organisation, einer zwischenstaatlichen oder grenznachbarschaftlichen Einrichtung neu entstehen, leben mittelbar vom Bürger, finden wie alles hoheitliche Handeln ihre Legitimation nur in der Bürgersouveränität 322. Kooperation zwischen Staaten oder staatlichen Untergliederungen bzw. Verwaltungseinheiten ist immer auch ein Stück durch Hoheitsträger vermittelter Bürgerkooperation. Unions- und Staatsbürgerschaft gehen Hand in Hand, begründen einen status activus politicus, ohne auf ein präsumtives Gesamtvolk mit seiner Einheit von Sprache und Kultur zurückzugreifen. Der Status des Bürgers ist ein solcher diesseits wie jenseits der Staatlichkeit. 323 Darin besteht die Relativierung seiner 319 Ch. Tomuschat, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL 36 (1978), S. 7 ff, S. 54 f.; J. Isensee, Der Abschied der Demokratie vom Demos, FS P. Mikat, 1989, S. 705 ff, S. 709 ff. 320 H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 181 f.; E. Grabitz, Europäisches Bürgerrecht zwischen Marktbürgerschaft und Staatsbürgerschaft, 1970, S. 105. Siehe auch U. K. Preuß, Zum verfassungstheoretischen Begriff des Bürgers in der modernen Gesellschaft, FS E. G. Mahrenholz, 1994, S. 619 ff, 620. 321 R. Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, HStR, Bd. I, 2. Aufl. 1995, § 14, S. 663 ff, 667, Rn. 10. 322 Zum Parallelbegriff der Bürgerdemokratie P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 244 f.; W. Schmitt Glaeser, Die grundrechtliche Freiheit des Bürgers zur Mitwirkung an der Willensbildung, HdBStR, Bd. II, § 31, Rn. 33; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 650 ff. 323 Pointiert spricht P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 2001/2002, i. E , von „status ohne Staat". Zum Paradox der Staatsbürgerschaft, die auf der exklusiven Mitgliedschaft in einem konkreten politischen Verband und doch auch auf einer menschenrechtlichen und damit universalistischen Rechtfertigung beruht U. K. Preuß, Zum ver-
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Dritter Teil: B. Relativierung der Lehre von den Staatselementen
Angehörigkeit zu einem Staatsverband und zugleich die Aktivierung politischen Potenzen.
seiner
b) Charakteristika der Unionsbürgerschaft In dem Normenensemble zur Unionsbürgerschaft mit ihren vorwiegend politischen Rechten und Pflichten findet der eben entwickelte aktivbürgerliche Status seine textliche Grundlage. 324 Die Unionsbürgerschaft baut auf der mitgliesdstaatlichen Staatsbürgerschaft auf, ergänzt diese (Art. 17 Abs. 1 S. 3 EGV) und bezieht die politischen Partizipationsmöglichkeiten und alle dazu notwendigen Rechte des Bürgers auf die Gemeinschaftsebene. 325An erster Stelle steht das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen in den Mitgliedstaaten (Art. 19 EGV). 3 2 6 Bei letzterem sind die europäische und die innerstaatliche Ebene(n) besonders augenfällig verschränkt und der gemeinsame , die eine wie die andere Rechtsordnung bestimmende status activus nationalis et Europaeus erhält eine gemeinschaftsrechtliche Textgestalt. Dass im Kontext des Grundgesetztes sich damit auch die Frage nach der Anwendbarkeit der sogenannten Deutschengrundrechte auch auf Unionsbürger neu stellt, bleibe als obiter dictum in Erinnerung. 327 Durch die Unionsbürgerschaft bedingte gemeinschaftsrechtliche
fassungstheoretischen Begriff des Bürgers in der modernen Gesellschaft, FS E. G. Mahrenholz, 1994, S. 619 ff, 634. 324 Die aktivbürgerliche Rolle der Gemeinschaftsangehörigen war schon Diskussionstopos, als eine Unionsbürgerschaft noch wie eine ferne Utopie erschien, vgl. E. Grabitz , Europäisches Bürgerrecht zwischen Marktbürgerschaft und Staatsbürgerschaft, 1970, S. 25 ff. 325 Zum Spannungsverhältnis von Staatsvolk und Unionsbürgerschaft: A. Deringer , Europäisches Parlament und Maastrichturteil des Bundesverfassungsgerichts, FS U. Everling, Bd. I, 1995, S. 248 ff, 250 ff. ("Europäisches Staatsvolk?"); I Pernice, , Europäisches Verfassungsrecht im Werden, in: H. Bauer u. a. (Hrsg.), Ius Publicum im Umbruch, 2000, S. 25 ff, 35 f.; P. Häberle, Das Grundgesetz als Teilverfassung im Kontext der EU/EG - eine Problemskizze, FS H. Schiedermair, 2001, S. 81 ff, 88; K-P. Sommermann , Der entgrenzte Verfassungsstaat, in: D. Merten (Hrsg.), Der Staat am Ende des 20. Jahrhunderts, 1998, S. 19 ff, 35, beschreibt die Unionsbürgerschaft als „personale Entgrenzung des Verfassungsstaates". 326 Zum Kommunalwahlrecht für Ausländer allg. und sehr restriktiv P. Kirchhof, Der demokratische Rechtsstaat - die Staatsform der Zugehörigen, HStR, Bd. IX, 1997, §221, Rn. 17.; ebenso J. Isensee, Der Abschied der Demokratie vom Demos, FS P. Mikat, 1989, S. 705 ff. 327 H. Bauer , Zur Aufnahme einer Unionsbürgerklausel in das Grundgesetz, FS H. Maurer, 2001, S. 13 ff, 17 ff.; zur parallel gelagerten Frage der Auslegung von Art. 19 Abs. 3 GG bezüglich juristischer Personen mit Sitz in der EU K-E. Hain , Zur Frage der
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Pflichten zur Anpassung der nationalen Verfassungen, sei es durch Textänderungen, eine neue Lesart der Texte im Sinne innerer Europäisierung oder durch europarechtskonforme Verfassungsinterpretation, sind kaum von der Hand zu 328
weisen. Weitere Unionsbürgerrechte können nur kurz skizziert werden. Art. 20 EGV eröffnet den Unionsbürgern die Inanspruchnahme diplomatischen und konsularischen Schutzes in Drittstaaten und relativiert so das „genuin link" der Staatsangehörigkeit durch die nicht minder genuine Gemeinschaftszugehörigkeit. Ein vergleichbaren nationalen Verfassungsklauseln nachempfundenes Petitionsrecht beim Europäischen Parlament (Art. 294) stärkt nicht zuletzt die Kommunikationsmöglichkeiten zwischen den Bürgern und ihren gewählten Repräsentanten. Die nordeuropäische Tradition des Ombudsmannes/der Ombudsfrau findet ihren Niederschlag in der Möglichkeit, sich an einen Europäischen Bürgerbeauftragten zu wenden (Art. 21 EG). Dieser Ansatz wird jetzt in der EUGrundrechtecharta (Kapitel 5, Art. 39 ff.) teils aufgegriffen, teils weitergehend ausgeformt. 329 Daneben gibt es zahlreiche Vorschriften, die zwar keine gesonderten aktivbürgerlichen Rechte verbürgen, aber an den rechtlichen Gehalt der Unionsbürgerschaft anknüpfen (z.B. Art. 18 EGV, Art. 17 I I EGV). Sie in einem dynamisch-evolutiven Prozess zu konkretisieren, wird zur vorrangigen Aufgabe von Wissenschaft und EuGH-Rechtsprechung. 330 Praktische Jurisprudenz und begleitende wissenschaftliche Theoriebildung können so den Weg vom Marktbürger 331 zum politischen Bürger nachzeichnen, der in den Texten längst angelegt ist und die EU aus einer (vormals rein) mitgliedstaatlichen in
Europäisierung des Grundgesetzes, DVB1. 2002, S. 148 ff, 149 f., 151 f , sowie M. Kotzur, Der Begriff der inländischen juristischen Personen nach Art. 19 Abs. 3 GG im Kontext der EU, DÖV 2001, S. 192 ff. 328 H. Bauer, Zur Aufnahme einer Unionsbürgerklausel in das Grundgesetz, FS H. Maurer, 2001, S. 13 ff, 18 ff.; R. Wernsmann, Die Deutschengrundrechte des Grundgesetzes im Lichte des Europarechts, Jura 2000, 657, 662 f.; M. Herdegen, Europäisches Gemeinschaftsrecht und die Bindung deutscher Verfassungsorgane an das Grundgesetz, EuGRZ 1989, S. 309 ff, 311. 329 Dazu CH. Grabenwarter, Die Charta der Grundrechte für die Europäische Union, DVB1. 2001, S. 1 ff, 6 ff. 330 EuGH, Slg. 1998 1-2691, entspricht EuZW 1998, 372 - Martinez Sala/Freistaat Bayern. Auch Verfahren zum sozialrechtlichen Gehalt der Unionsbürgerschaft sind beim EuGH anhängig, vgl. die Übersicht bei K.-D. Borchardt, Der sozialrechtliche Gehalt der Unionsbürgerschaft, NJW 2000, S. 2057 ff, 2057 in Fn. 3. 331 Von einem „marktbürgerlichen Status" spricht schon E. Grabitz, Europäisches Bürgerrecht zwischen Marktbürgerschaft und Staatsbürgerschaft, 1970, S. 65 ff.
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Dritter Teil: B. Relativierung der Lehre von den Staatselementen
eine (jetzt auch) bürgerschaftliche hat. 3 3 2
„Angehörigengemeinschaft'
gewandelt
Doch korrespondiert der allmählichen Emanzipation des Europabürgers zu einer konstitutionellen Größe im Europäischen Verfassungsraum ein innerstaatlicher Verlust demokratischer Mitgestaltungsmöglichkeiten? Kritiker befürchten, vor allem das kommunale Wahlrecht für EU-Ausländer berge die Gefahr beliebiger Teilnahme am Willensbildungsprozess des demokratischen Souveräns und relativiere so nicht nur die politische Einheit des Staatsvolkes, sondern generell die auf das Volk zurückgehende Legitimation der Herrschaftsmacht. 333 Impliziert ist mit einer solchen These zugleich die vermeintliche Gewissheit, allein die Staatsanghörigkeit als Volkszugehörigkeit sei geeignetes Ausschlusskriterium ungewollter Teilhabe am Politischen. Wer Menschenwürde und menschenrechtliche Freiheit von der Demokratie trennt, mag solcher Logik folgen. Wer Demokratie aber als organisatorische Konsequenz der ersteren sieht 334 , vermag die Teilhabedimension treffender zu verorten. Da die politische Mitwirkung des einen Bürgers Staatsgewalt konstituiert und der andere Bürger dieser Staatsgewalt wiederum unterworfen ist, bedarf jede Form politischer Partizipation zweifelsfrei der Rechtfertigung. Diese gründet im politischen Teilhabeanspruch des Menschen als solchem. Die Verengung von der Menschheit auf den demos entspringt nur einer jeden Gemeinschaft immanenten legitimatorischen Notwendigkeit bzw. Ordnungsfunktion. Da das Individuum kraft seines Menschseins nicht überall, nicht an jeder politischen Einheit konstitutiv mitwirken kann, sondern nur an der, zu der eine hinreichende Bindung, ein hinreichender Wertekonsens und ein hinreichender Wille zur Einheitsbildung besteht, ist das Staatsvolk weiterhin unbestrittenes Zuordnungssubjekt und Anknüpfungspunkt der Legitimation. Doch daneben tritt das bürgerschaftliche Moment als neues Glied einer parallel geknüpften „Legitimationskette" (U. Scheuner). 335 332
R. Wahl, Der Einzelne in der Welt jenseits des Staates, Der Staat 40 (2001), S. 45 ff, 54, zu Recht mit der Einschränkung, dass die „EG in rebus politicis eine Entwicklungsgemeinschaft sei", die zu einer „Angehörigengemeinschaft" werden könne, es derzeit aber noch nicht vollständigem Sinne sei. 333 So F. Hennecke, Die verfasste Staatlichkeit als Bedingung der Grundrechtsgeltung, FS E.-W. Böckenförde, 1995, S. 299 ff, 310 ff. 334 Statt aller P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 623 f. und passim. 335 Die Metapher der Legitimationskette gebraucht auch das BVerfG, z. B. E 47, 253 LS. 2; 83, 60 (73); 93, 37 (66 ff.); dazu M. Brenner, Der Gestaltungsauftrag der Verwaltung in der europäischen Union, 1996, S. 99; M. Schmidt-Preuß, Steuerung durch Organisation, DÖV 2001, S. 45 ff, 47; ders., Gestaltungskräfte im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, FS W. Leisner, 1999, S. 467 ff, 468; K. Rennert, Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit, FS E.-W. Böckenforde, 1995, S. 199 ff, 216; A. Voßkuhle, Gesetzgeberische Regelungsstrategien der Verantwortungs-
II. Die einzelnen Staatselemente
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Die Unionsbürgerschaft, insbesondere das Kommunalwahlrecht für Unionsbürger, stellt die demokratische Legitimation weder europäisch noch innerstaatlich in Frage, sondern liefert der menschenrechtlich geforderten Teilhabe am politischen Prozess eine neuartige Konkretisierungsform. Das Staatsvolk ist relativiert, aber die Legitimation hoheitlichen Handelns durch Bürgersouveränität in weit höherem Maße sichergestellt, als es die Volkssouveränität je vermocht hätte. c) Der europa- respektive weltbürgerliche Status des „citoyen" Die Verknüpfung von Menschenwürde, Menschenrechten und Demokratie weitet die Jellineksche Statuslehre in die globale Dimension, vom nationalstaatlichen status activus politicus über den status Europaeus zum status mundialis hominis. 33