Grenzen legislativer Gestaltungsfreiheit in zentralen Fragen des Wehrverfassungsrechts: Eine staatsrechtliche Analyse unter vergleichender Berücksichtigung der schweizerischen Rechtslage [1 ed.] 9783428484362, 9783428084364


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German Pages 478 Year 1995

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Grenzen legislativer Gestaltungsfreiheit in zentralen Fragen des Wehrverfassungsrechts: Eine staatsrechtliche Analyse unter vergleichender Berücksichtigung der schweizerischen Rechtslage [1 ed.]
 9783428484362, 9783428084364

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OLIVER FRÖHLER Grenzen legislativer Gestaltungsfreiheit in zentralen Fragen des Wehrverfassungsrechts

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 681

Grenzen legislativer Gestaltungsfreiheit in zentralen Fragen des Wehrverfassungsrechts Eine staatsrechtliche Analyse unter vergleichender Berücksichtigung der schweizerischen Rechtslage

Von Dr. Oliver Fröhler

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Fröhler, Oliver: Grenzen legislativer Gestaltungsfreiheit in zentralen Fragen des Wehrverfassungsrechts : eine staatsrechtliche Analyse unter vergleichender Berücksichtigung der schweizerischen Rechtslage / von Oliver Fröhler. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 681) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1994 ISBN 3-428-08436-5 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-08436-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Meiner Frau Ute, meiner Tochter Lisa und meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1994/95 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg im Breisgau als Dissertation angenommen. Verwendete Literatur und Rechtsprechung befinden sich auf dem Stand vom 1. Januar 1995. Dank einer speziellen Genehmigung des Bundesministeriums der Verteidigung war es möglich, auch aus zwei bislang unveröffentlichten Statistiken des Wehrersatzwesens zu zitieren und damit gerade im Rahmen der Beurteilung der Problematik der "unechten" Kriegsdienstverweigerung größtmögliche Sachnähe zu erzielen. Auf Grund der großzügigen Unterstützung durch den Rechtsdienst des Eidgenössischen Militärdepartements konnten unmittelbar vor Drucklegung noch die neuesten Gesetzesänderungen für die schweizerische Streitkräfteumstrukturierung "Armeeleitbild 95" berücksichtigt werden. Meinem verehrten akademischen Lehrer, Herrn Professor Dr. Thomas Würtenberger, möchte ich zunächst für die fachliche Betreuung der Arbeit und die Erstellung des Erstgutachtens herzlichen Dank aussprechen. Darüber hinaus hatte meine in menschlicher Hinsicht überaus angenehme wie fachlich interessante Tätigkeit als Mitarbeiter seines Lehrstuhls während des rechtswissenschaftlichen Studiums, der Doktorandenzeit sowie des Referendariats wesentlichen Anteil am Gelingen dieser Dissertation. Herrn Professor Dr. Jürgen Becker bin ich für die zügige Erstattung des Zweitgutachtens zu Dank verpflichtet. Danken möchte ich schließlich dem Verlag Duncker & Humblot, namentlich Herrn Professor Norbert Simon, für die Aufnahme der Arbeit in die Verlagsreihe "Schriften zum Öffentlichen Recht" und Frau Heike Frank für die sorgfaltige Bearbeitung des Manuskripts. Die Arbeit ist meiner Frau Ute, meiner Tochter Lisa und meinen Eltern gewidmet, die mich - jeder auf die ihm eigene besondere Art und Weise -

8

Vorwort

nachhaltig unterstützt haben. Ohne sie hätte die Dissertation nicht in der vorliegenden Form entstehen können. St. Märgen/Hochschwarzwald, im Februar 1995 Oliver Fröhler

Inhaltsverzeichnis Einleitung I. Gegenstand der Untersuchung

23 23

II. Gang der Untersuchung

24

ΠΙ. Aktualität des Themas

24

Erster Teil Grenzen legislativer Gestaltungsfreiheit bei der Entscheidung für oder gegen die Organisation einer militärischen Landesverteidigung

27

A. Verfassungsrechtliche Grenzen einer Grundgesetzänderung zur vollständigen Auflosung der Streitkräfte

30

I. Die ausdrückliche verfassungsrechtliche Verankerung der Streitkräfte in den Aitt. 12a Abs. 1, 73 Nr. 1 und 87a Abs. 1 Satz 1 GG

30

II. Andere Verfassungsgrundsätze, die dem Schutz des Art. 79 Abs. 3 GG unterliegen, aber die Notwendigkeit von Streitkräften nicht ausdrücklich nennen

31

1. Allgemeine staatliche Pflichten zum abstrakten Schutz vor militärischen Aggressionen aus dem Ausland und ihr Verhältnis zu Art. 79 Abs. 3 GG

31

a) Aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. GG

32

aa) Grundgesetzänderung zur Auflösung der Streitkräfte als aktives Tun oder Unterlassen

32

bb) Schutzbereich

36

cc) Verhältnis zum Unabänderlichkeitsschutz des Art. 79 Abs. 3 GG

39

b) Aus dem objektiven Wertgehalt derjenigen Grundrechte, die die staatliche Schutzpflicht nicht ausdrücklich vorschreiben, insbesondere aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG aa) Schutzbereich

40 40

aaa) Betroffener Regelungsbereich

40

bbb) Herleitung einer ungeschriebenen Schutzpflicht

43

(1) Abwehrrechtliche Begründung

44

(2) Begründung aus dem objektiv-rechtlichen Wert geh alt eines Grundrechts

44

Inhaltsverzeichnis

10

(3) Eigene Stellungnahme

47

ccc) Das Verhältnis von Schutzpflichtauslösung und Beeinträchtigungszurechnung - zur Nachrüstungs-Entscheidung des BVerfG (E 66, 39) hb) Verhältnis zum Uhabänderlichkeitsschutz des Art. 79 Abs. 3 GG

47 50

c) Aus dem ureigensten Staatszweck der Erhaltung von Freiheit und Sicherheit

51

d) Aus dem Vertrauensschutzprinzip

54

aa) Schutzbereich

54

bb) Das Verhältnis zum Unabänderlichkeitsschutz des Art. 79 Abs. 3 GG .

55

2. Die maßgebliche Eintrittswahrscheinlichkeit militärischer Aggressionen als Auslöser für eine konkrete unabänderliche staatliche Schutzpflicht - die Entscheidimg über das "Ob" von Schutzgewährung

57

a) Ausgangsproblematik

57

b) Allgemeine Kriterien zur Bestimmung der Eintrittswahrscheinlichkeit einer Gefährdung

58

c) Spezielle Gefahrdungskriterien bei militärischen Aggressionen

60

d) Subsumtion

62

aa) Allgemeine Ausgangsüberlegungen

62

bb) Die Lage im Nahen Osten

63

cc) Die Lage in der früheren Sowjetunion

65

3. Die Bestimmung der konkret notwendigen Schutzmaßnahmen - die Entscheidung über das "Wie" von Schutzgewährung

72

a) Politische Gestaltungsfreiheit bei der Maßnahmenbestimmung

72

aa) Herleitung der Gestaltungsfreiheit

72

aaa) Außenpolitisch

72

bbb) Gesetzgeberisch

73

ccc) Schutzpflichtbedingt

74

bb) Umfang der Gestaltungsfreiheit

75

b) Konsequenzen fur die Bestimmung der konkret notwendigen Schutzmaßnahmen

75

aa) Denkbare Schutzmaßnahmen

75

bb) Subsumtion

76

aaa) Ausschließlich durch Diplomatie?

76

bbb) Zusätzlich durch passiven Widerstand?

76

ccc) Durch militärische Landesverteidigung c) Sinnlosigkeit einer militärischen Landesverteidigung im Atomzeitalter? . . .

77 79

4. Die Rechtsfolge aus der staatlichen Verpflichtung zur Aufstellung von Streitkräften

80

Inhaltsverzeichnis

ΙΠ. Die Durchsetzbarkeit der Schutzpflichten zur Organisation von Streitkräften 1. Durch Verfassungsbeschwerde a) Als negatorische Klage oder als Normerlaßklage?

82 82 82

aa) Nach bereits erfolgter Auflösung der Streitkräfte - die Neuaufstellung von Streitkräften

83

bb) Vor einer Auflösung der Streitkräfte - die Beibehaltung von Streitkräften b) Das Problem der subjektiven Rechte im Sinne der Antragsbefugnis 2. Durch sonstige verfassungsprozessuale Verfahrensarten a) Konkrete Normalkontrolle

84 86 88 88

b) Abstrakte Normalkontrolle

89

c) Organstreitigkeit

89

IV. Besonderheiten nach schweizerischer Rechtslage

91

1. Formelle Voraussetzungen einer Verfassungsrevision - Partial- oder Totalrevision 2. Materielle Schranken einer Verfassungsrevision?

91 93

B. Völkerrechtliche Grenzen einer Grundgesetzänderung zur vollständigen Auflösung der Streitkräfte

98

I. Die völkerrechtliche Berechtigung eines Staates zur Organisation einer militärischen Landesverteidigung

98

II. Völkerrechtliche Verpflichtungen Deutschlands zur Aufstellung von nationalen Streitkräften

99

1. Aus einer allgemeinen Regel des Völkerrechts auf Schutzgewährung zugunsten der eigenen Staatsangehörigen gegenüber dem Ausland?

99

2. Aus der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten a) Grundsätzliche Beschränkung auf innerstaatliche Schutzansprüche?

99 99

b) Schutzbereich

100

c) Unzulässige europäische Einmischung in die nationale Sicherheitspolitik? .

102

d) Rechtsfolgen

103

aa) Auf innerstaatlicher Ebene

103

bb) Auf völkerrechtlicher Ebene

104

3. Aus dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. 12. 1966

106

4. Aus dem Brüsseler-Vertrag

107

5. Aus dem NATO-Vertrag

109

ΠΙ. Besonderheiten hinsichtlich der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz. . 1. Aus dem völkerrechtlichen Neutralitätsstatus der Schweiz

111 111

Inhaltsverzeichnis

12

a) Ausgangsproblematik

Ill

b) Grundsätzliche Verpflichtung zur militärischen Abwehr von Neutralitätsverletzungen

112

c) Spezielle Verpflichtung zur präventiven Bereitstellung von Streitkräften... d) Rechtsfolgen

115 116

aa) Auf innerstaatlicher Ebene

116

bb) Auf völkerrechtlicher Ebene

117

2. Aus der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten

119

C. Zusammenfassendes Zwischenergebnis

120

Zweiter Teil Grenzen legislativer Gestaltungsfreiheit bei der Verwirklichung der militärischen Landesverteidigung durch eine bestimmte Wehrform

A. Die Wehrform der nationalen Streitkräfte - eine Bestandsaufnahme

122

124

I. Der Begriff der allgemeinen Wehrpflicht und seine Abgrenzung zum Wehrsystem der Freiwilligenstreitkräfte

124

1. Der Begriff der allgemeinen Wehrpflicht

124

2. Ausgestaltungsmöglichkeiten der allgemeinen Wehrpflicht und ihre Abgrenzung von der Wehrform der Freiwilligenstreitkräfte

127

a) Formen der allgemeinen Wehrpflicht

127

aa) Das Milizsystem

127

bb) Die stehenden Streitkräfte aus Kern- und Mantelverbänden

128

cc) Stehende Streitkräfte auf Basis der allgemeinen Wehrpflicht mit freiwillig längerdienenden Soldaten b) Freiwilligenstreitkräfte Π. Die bestehende Rechtslage 1. Die bestehende Rechtslage in Deutschland

128 128 129 129

a) Die gesetzliche Entscheidung für die allgemeine Wehrpflicht

129

b) Die Wehrpflichtvoraussetzungen

131

c) Die Erfüllung der Wehrpflicht

131

aa) Durch Wehrdienst

131

bb) Durch Zivildienst

135

2. Die bestehende Rechtslage in der Schweiz

137

a) Die gesetzliche Entscheidimg für die allgemeine Wehrpflicht

137

b) Die Wehrpflichtvoraussetzungen

139

Inhaltsverzeichnis

c) Die Erfüllung der Wehrpflicht aa) Durch Militärdienst

139 139

bb) Zum Sonderproblem des waffenlosen Militärdienstes

141

cc) Durch Militärpflichtersatz

142

ΠΙ. Die historische Entwicklung der Wehrpflicht 1. In Deutschland

143 143

a) Die germanischen Stammesheere der Frühzeit

143

b) Die Epoche des Feudalismus im Mittelalter

145

c) Die Epoche der Wehrverfassungen in neuerer Zeit

148

aa) Die Zeit der nicht dauernd mit dem Staat verbundenen Söldnerheere...

148

bb) Die Zeit der Bildung stehender Heere

150

cc) Die Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg

153

aaa) Das französische Vorbild bbb) Die Entwicklung in Preußen und im Deutschen Reich dd) Die Entwicklung zwischen den beiden Weltkriegen

153 154 157

ee) Die Wiederbewaflhung der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg 2. In der Schweiz.

159 161

a) Die mit der deutschen Entwicklung identische Epoche der germanischen Stammesheere der Frühzeit b) Vom Fränkischen über das Deutsche Reich zur alten Eidgenossenschaft . . .

161 162

c) Von der Helvetischen Verfassung über die Mediationsverfassung bis in die Zeit der Restauration d) Die Bundesverfassungen von 1848 und 1874 IV. Zusammenfassendes Zwischenergebnis

B. Die allgemeine Wehrpflicht im Spiegel des Lebensrechts I. Zielsetzung

164 165 166

168 168

Π. Der durch die Wehrpflicht betroffene Schutzbereich des soldatischen Lebensrechts

169

1. Typische Fallgruppen soldatischer Lebensgefahrdungen - zum Regelungsbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG

169

a) Im Frieden

169

b) In Konfliktfallen

170

aa) Die Auslandsnothilfe

170

bb) Die Landesverteidigung

171

c) Bedeutung dieser Differenzierung

172

d) Schwerpunkt der nachfolgenden Untersuchung

172

Inhaltsverzeichnis

14

2. Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG innerhalb des Wehrverhältnisses a) Apriorischer Ausschluß der Grundrechtsgeltung im Wehrdienstverhältnis?. aa) Durch dai Sonderstatus des Wehrdienstverhältnisses?

173 174 174

bb) Durch die verfassungsrechtliche Grundentscheidung zur Landesverteidigung?

176

aaa) Zur Ansicht von Podlech

176

bbb) Zur Ansicht von Lorenz cc) Durch eine Grundpflicht zum Wehrdiaist?

178 180

b) Schutzbereichsreduzierung nach Abwägung zur Herstellung praktischer Konkordanz?

183

aa) Die Rechtsprechung des Β VerfG

185

bb) Die Rechtsprechung des BVerwG

186

cc) Die Ansicht von Ernst Hesse

186

dd) Die Ansichten von Pieroth/Schlink und Schoch

186

ee) Eigene Stellungnahme ΠΙ. Der staatliche Eingriff in das Lebensrecht der wehrpflichtigen Soldaten 1. Der Eingriff als aktives Tun oder als Unterlassen

186 190 190

a) Die Ausgangssituation

191

b) Das spezifische Problem der Nachbesserung gesetzlicher Regelungen

194

2. Bestimmung des maßgeblichoi Objektes, Mittels und Zeitpunktes des Eingriffs

196

a) Eingriffsobjekt

196

aa) Die auf Grund der Wehrpflicht Wehrdienst leistenden Soldaten

196

bb) Wehrdienst leistaide Zeit- oder Berufssoldaten

196

aaa) Bisher vertretene Ansichtai zu dieser Fragestellung bbb) Stellungnahme und eigener Lösungsvorschlag

197 198

b) Eingriffsmittel

200

c) Eingriffszeitpunkt

202

3. Zur Mittelbarkeit des Eingriffs

202

a) Bislang vertretene Ansichten

202

b) Eigene Stellungnahme

203

aa) Umgehung der Problematik der Mittelbarkeit durch Verneinung der Eingriffsqualität mangels staatlicher Finalität von Lebensgefährdungen?

203

bb) Verneinung der Eingriffsqualität mangels Unmittelbarkeit der Lebensgefährdungen?

205

4. Verursachung einer wehrdien st spezifisch en Lebensgefahrdung durch die Tapferkeitspflicht wehrdienstpflichtiger Soldaten

207

Inhaltsverzeichnis

a) Ausgangsproblematik

207

b) Für die Fallgruppe der Landesverteidigung

209

aa) Normative Gesichtspunkte

209

bb) Faktische Gesichtspunkte

210

aaa) Die Opfer des Zweiten Weltkrieges (1939 bis 1945)

213

(1) Sowjetische Verluste

213

(2) Polnische Verluste

214

(3) Französische Verluste

215

(4) Britische Verluste

216

(5) Deutsche Verluste

216

(6) Zwischenergebnis

218

bbb) Der Koreakrieg (1950 bis 1953)

218

(1) Nordkoreanische Verluste

219

(2) Südkoreanische Verluste

219

ccc) Der Vietnamkrieg (Zweiter Indochinakrieg, 1955 bis 1973/75) ..

220

( 1 ) Verluste des Vietcong und Nordvietnams

221

(2) Südvietnamesische Verluste

222

ddd) Der Zweite Golfkrieg (1991)

222

eee) Zwischenergebnis

223

c) Exkurs: Für die Fallgruppen des Wachdienstes im Frieden und des Auslandseinsatzes IV. Schranken des soldatischen Lebensrechts 1. Zur Anwendbarkeit des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG im Wehrverhältnis

226 226 226

2. Die Ausfüllung des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG durch § 7 SG und die §§ 1 Abs. 1 und 3 Abs. 1 Satz 1 WPflG V. Die maßgeblichen Schranken-Schranken 1. Zur rechtsstaatlich hinreichenden Bestimmtheit des § 7 SG a) Ausgangsproblematik

227 227 227 228

aa) Die Tatbestandsvoraussetzungen

228

bb) Die Rechtsfolgen

229

b) Exkurs: Die Auslandseinsätze

230

c) Zwischenergebnis

233

2. Zur Wesensgehaltsgarantie aus Art. 19 Abs. 2 GG

234

3. Zum Zitiergebot aus Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG

235

4. Verhältnismäßigkeit

237

a) Die wehrdienstspezifische Lebensgefahr bei der Landesverteidigung aa) Legislative Gestaltungsfreiheit und judical self-restraint

238 238

aaa) Allgemeine Ausgangsüberlegungen

238

bbb) Die Feststellung vergangener und gegenwärtiger Tatsachen

241

Inhaltsverzeichnis

16

ccc) Die Bewertung der vorliegenden Tatsachen im Rahmen von zukunftsorientierten Prognoseentscheidungen

244

(1) Allgemeine Grundsätze

244

(2) Subsumtion - Ausgangsproblematik

245

(a) Nach dem Sachinhalt

245

(b) Nach der Wertigkeit der betroffenen Grundrechtsposition der wehrdienstpflichtigen Soldaten

247

(c) Nach dem Gefahrdungsgrad der betroffen αϊ Gundrechtsp ositi on der wehrdienstpflichtigen Soldaten

250

(d) Kumulation der Einzelkriterien zu einem Gesamtmaßstab

252

(e) Reichweite der Vertretbarkeitskontrolle

252

(3) Weitere Reduzierung des Kontrollmaßstabes wegen des späteren Prüfungszeitpunktes?

252

ddd) Ausnahmsweise gänzlicher Ausschluß der Verhältnismäßigkeitsprüfung?

257

(1) Bestandsaufnahme

257

(a) Die Ansicht des BVerfG

257

(b) Die Ansicht von Luchterhandt

258

(c) Die Ansichten von Giers und Kögel

258

(d) Die Ansicht von Baldus

258

(2) Kritische Würdigung bb) Geeignetheit

259 263

aaa) Hinsichtlich der Lebenseinsatzpflicht aus § 7 SG

264

bbb) Hinsichtlich der die Lebenseinsatzpflicht aktualisierenden Wehrdienstpflicht aus § 1 Abs. 1 und § 3 Abs. 1 Satz 1 WPflG

265

(1) Hauptziel

265

(2) Nebenziele

266

cc) Erforderlichkeit

268

aaa) Zur Ausgangsproblematik

268

bbb) Dienach dem jeweiligen Realisierbarkeitsgrad von Freiwilligenstreitkräften gestufte Erforderlichkeitsprüfung

270

(1) Stufe 1 : Bei Realisierbarkeit gleichstarker Freiwilligenstreitkräfte

270

(a) Gleiche Eignung

270

(aa) Konsequenzen unvollständiger legislativer Tatsachenfeststellung

271

(bb) Gleiche Eignung zur Verwirklichung der Hauptziele

273

Inhaltsverzeichnis

(cc) Gleiche Eignung zur Verwirklichung der Nebenziele

273

(aaa) Die Verhinderung einer Entwicklung der Streitkräfte zum militärischen Staat im Staate

274

(bbb) Die Schaffung einer die Gesellschaft repräsentierenden personellen Zusammensetzung der Streitkräfte

278

(ccc) Die Vermeidung der Rekrutierung eines extrem rechtsnational gesinnten Spektrums . . . .

279

(ddd) Die Begründung einer soldatischen Leistungsmotivation (eee) Die Geringhaltung der Personalkosten (fff)

279 280

Die Wahrung des staatlichen Ansehens gegenüber den Nachbarstaat αϊ

281

(ggg) Die Aufrechterhaltung des sozialen Netzes? .

282

(hhh) Sonstige Ziele

283

(dd) Zumutb ark eit serw ä gun gen im Falle fehlender gleicher Eignung (b) Geringere Belastung

283 288

(2) Stufe 2: Bei Realisierbarkeit personell lediglich schwächerer Freiwilligenstreitkräfte, deren Stärke jedoch eine effektive Landesverteidigung noch ermöglicht

292

(3) Stufe 3: Bei Realisierbarkeit lediglich schwächerer Freiwilligenstreitkräfte, deren Stärke keine effektive Landesverteidigung mehr ermöglicht

295

b) Exkurs: Die wehrdienstspezifische Lebensgefahr im Wachdienst und bei Auslandseinsätzen

297

aa) Der Wachdienst

298

bb) Die Auslandseinsätze

299

VI. Eventuelle Rechtfertigung durch die Verfassung selbst 1. Ausgangsproblematik 2. Die Variante der Verfassungswidrigkeit einer Verfassungsnorm a) Prüfungsmaßstab

300 300 301 302

b) Das grundsätzliche Verhältnis von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu Art. 79 Abs. 3 GG

302

c) Besonderheiten im Falle der Beibehaltung einer unverhältnismäßigen Wehrpflicht 3. Die Auslegungsvariante 2 Fröhler

303 305

Inhaltsverzeichnis

18

a) Nach dem Wortlaut

305

b) Nach der Systematik

306

c) Im Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte 4. Rechtfertigung durch Art. 20 Abs. 1 GG?

306 309

a) Zum Sozialstaatsprinzip

310

b) Zum Demokratieprinzip

310

5. Zwischenergebnis VII. Besonderheiten nach schweizerischer Rechtslage V i n . Erkenntnisse aus der rechtsvergleichenden Betrachtung EX. Zusammenfassen des Zwischenergebnis

C. Die allgemeine Wehrpflicht im Spiegel der Pflichtengleichheit I. Zielsetzung II. Zum Begriff der Pflichtengleichheit ΙΠ. Vergleichspaar IV. Grundsätzliche Vergleichbarkeit V. Ungleichbehandlung 1. Tatbestände der Ungleichbehandlung a) Einfache Dienstbelastungen b) Lebensgeßhrdende Dienstbelastungen 2. Die der Wehrdienstpflicht immanenten Ungleichbehandlungstatbestände

311 311 314 315

319 319 320 320 323 324 325 325 326 329

3. Fallgruppen ohne unmittelbare Bedeutimg für das grundsätzliche Fortbestehen der Wehrpflicht VI. Willkürfreie Bestimmung der wesentlichen Sachverhaltsmerkmale 1. Ausgangsproblematik

330 331 331

2. Der gesetzlich vorgesehene Idealfall der sogenannten echten Kriegsdienstverweigerung

333

a) Zur Terminologie der echten und unechten Kriegsdienstverweigerung

333

b) Denkbare verfassungskonforme Differenzierungskriterien

334

c) Die Bestimmung des maßgeblichen Differenzierungskriteriums

335

d) Die Konsequenzen für die Ungleichbehandlung 3. Der gesetzlich nicht vorgesehene Fall der unechten Kriegsdienstverweigerung a) Das Zins-Versteuerungs-Urteil des BVerfG vom 27. 6. 1991

336 337 339

b) Zur Übertragbarkeit der Erkenntnisse aus dem Zins-Versteuerungs-Urteil auf die Konstellation der Wehrpflicht c) Vollzugsdefizit bei der Wehrdienstpflicht

342 346

aa) Die rechtliche Grenze einer zulässigen Typisierung

346

bb) Faktisches Vollzugsdefizit

347

aaa) Indizien

348

Inhaltsverzeichnis

19

(1) Die Entwicklung der jährlichen Anzahl von Kriegsdienstverweigerungsanträgen

348

(2) Die Anerkennungsquote

351

(3) Statistischer Vergleich zu den anderen NATO-Staaten

355

(4) Steuerung durch Dritte

357

(5) Anonymisierung des Anerkennungsverfahrens

358

bbb) Öffentliche Stellungnahmen

359

(1) Durch das BVerfG

359

(2) Durch die Bundesregierung

360

(3) Durch den Wehrbeauftragten

363

(4) Durch den Bundespräsidenten

364

(5) Durch die Mitglieder des Parlamentarischen Rates

365

(6) Durch das Schrifttum

366

d) Zurechnung zu Lasten des Gesetzgebers VIL Rechtfertigung durch andere Verfassungsnormen? 1. Die spezielle Wehrpflichtgestattung nach Art. 12a Abs. 1 GG a) Ausgangsproblematik

368 370 370 370

b) Art. 12a Abs. 1 GG als verfassungswidrige Verfassungsnorm?

371

c) Verfassungskonforme Auslegung des Art. 12a Abs. 1 GG?

372

d) Historisch-systematische Auslegung des Art. 12a Abs. 1 GG

374

2. Die allgemeine staatliche Schutzpflicht zur militärischen Landesverteidigung

376

a) Höherrangigkeit

376

b) Alternativen zum derzeit bestehenden Wehrpflichtsystem

378

aa) Anderweitige Sicherstellung der Landesverteidigung unter Beibehaltung eines Wehrpflichtsystems

378

aaa) Beseitigung des Vollzugsdefizites durch Modifizierung des Anerkennungsverfahrens für Kriegsdienstverweigerer auf der Vollzugsebene der Wehrdienstpflicht?

379

(1) Der Begriff des Gewissens

380

(2) Denkbare Methoden zur Gewissensüberprüfung

381

(a) Die Narcoanalyse

381

(b) Persönliches Prüfungsgespräch

381

(c) Die Gewissensprobe

382

bbb) Vermeidung des Vollzugsdefizites der Wehrdienstpflicht durch Abschaffung des Kriegsdienstverweigerungsrechts?

2*

384

20

Inhaltsverzeichnis

ccc) Das schweizerische Modell des waffenlosen Militärdienstes für Verweigerer aus Gewissensgründen - Vermeidung des Vollzugsdefizits der Wehrdienstpflicht durch Modifizierung der Rechtsfolge einer Kriegsdienstverweigerungsanerkennung

387

(1) Das schweizerische Modell des waffenlosen Militärdienstes..

387

(2) Die konkreten Vorteile eines waffenlosen Militärdienstes innerhalb der deutschen Rechtsordnung

389

(3) Die Verfassungskonformität der Ersatzdienstpflicht zu einem waffenlosen Militärdienst

390

(a) Art. 4 Abs. 3 GG

390

(b) Art. 12a Abs. 2 Satz 3 GG

391

(c) Das Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG

392

(d) Bedarfsdeckung und allgemeiner Gleichheitssatz

396

(aa) Allgemeine Ungleichbehandlung der vom Bedarfsplan erfaßten und der davon nicht erfaßten Wehrdienstpflichtigen

397

(bb) Spezielle Ungleichbehandlung der lediglich zu waffenlosem Militärdienst und der zu uneingeschränktem Militärdienst zur Verfügung stehenden Wehrdienstpflichtigen ddd) Zwischenergebnis

398 400

bb) Anderweitige Sicherstellung der Landesverteidigung durch Umstrukturierung zu Freiwilligenstreitkräflen

400

aaa) Die beiden Organisationsformen von Freiwilligenstreitkräflen . . .

401

(1) Freiwilligenstreitkräfte, denen keine allgemeine Dienstpflicht zugrunde liegt

401

(2) Freiwilligenstreitkräfte, denen eine allgemeine Dienstpflicht zugrunde liegt

402

bbb) Grundsätzliche Vereinbarkeit von Freiwilligenstreitkräflen mit Art. 3 Abs. 1 GG

403

ccc) Die vom jeweiligen Realisierbarkeitsgrad der Freiwilligenstreitkräfte abhängigen Rechtsfolgen

403

( 1 ) Bei der Realisierbarkeit zur Landesverteidigung ausreichend starker Freiwilligenstreitkräfte

404

(2) Bei einem Realisierbarkeitsgrad von Freiwilligenstreitkräften, der die zur Landesverteidigung erforderliche Mindeststärke nicht erreichen kann VITI. Zusammenfassendes Zwischenergebnis

404 405

Inhaltsverzeichnis

D. Verfassungsgerichtliche Durchsetzbarkeit und tatsächliche Realisierbarkeit von Freiwilligenstreitkräften

I. Zielsetzung II. Die einschlägigen verfassungsprozessualen Verfahrensarten

409

409 409

III. Legislative Gestaltungsfreiheit und judical self-restraint - zum Umfang der verfassungsgerichtlichen Kontrollkompetenz

410

1. Umfang der Kontrollkompetenz

410

2. Evidenz des Realisierbarkeitsgrades von Freiwilligenstreitkräflen?

412

a) Offenkundige Realisierbarkeit von Freiwilligenstreitkräflen?

413

aa) Der Vergi ei ch mit der Reichswehr der Weimarer Republik

413

bb) Der Vergleich mit dem Ausland

414

cc) Die aktuelle Längerdien enden quote in der Bundeswehr

415

b) Offenkundig ausgeschlossene Realisierbarkeit von Freiwilligenstreitkräften?

416

3. Die jeweiligen Konsequenzen aus den einzelnen in Betracht kommenden legislativen Prognoseentscheidungen

416

a) Bei nicht vertretbarer gesetzgeberischer Einschätzung der Aussichtslosigkeit einer hinreichenden Freiwilligenanwerbung

418

b) Bei vertretbarer gesetzgeberischer Einschätzung der Aussichtslosigkeit einer hinreichenden Freiwilligenanwerbung IV. Eigener Modellvorschlag für ein Freiwilligensystem 1. Vorschlag eines Modells zur Bedarfsermittlung

420 421 423

a) Dauerhafter personeller Gesamtbedarf

423

b) Jährlicher Bedarf pro Geburtenjahrgang

427

aa) Ausgangsproblematik

427

bb) Jährlicher Bedarf an Funktionspersonal im aktiven Dienst

428

cc) Jährlicher Bedarf an einfachem Militärpersonal im aktiven Dienst

428

dd) Zwischenergebnis für den aktiven Dienst

429

ee) Jährlicher Bedarf an Funktionspersonal im Reservestatus

429

ff)

430

Jährlicher Bedarf an einfachem Militärpersonal im Reservestatus

gg) Zusammenfassung des jährlich anzuwerbenden Gesamtbedarfs c) Die Sonderproblematik der Erstaufstellung von Freiwilligenstreitkräflen... 2. Vorschlag zur Schaffung von Anwerbungsanreizen

431 432 433

a) Materielle Anreize

433

b) Zugrundelegung einer allgemeinen Dienstpflicht

435

3. Vorschlag eines Übergangsmodells für eine schrittweise Umstrukturierung hin zu einem Freiwilligensystem

437

V. Zusammenfassendes Zwischenergebnis

439

22

Inhaltsverzeichnis

Schluß Zusammenfassung der Thesen

Literaturverzeichnis.

442

454

Einleitung I. Gegenstand der Untersuchung Die Arbeit verfolgt das Ziel, die "Grenzen legislativer Gestaltungsfreiheit in zentralen Fragen des Wehrverfassungsrechtsrechts" zu entwickeln. Hierbei werden zwei Kernprobleme unterschieden: Zum einen muß untersucht werden, ob der Gesetzgeber verfassungsrechtlich dazu verpflichtet ist, eine militärische Landesverteidigung zu organisieren. Zum anderen stellt sich die Frage, welche grundrechtlichen Vorgaben für die Ausgestaltung einer Landesverteidigung durch eine bestimmte Wehrform zu beachten sind. Die Untersuchung wird durch die vergleichende Berücksichtigung der schweizerischen Rechtslage ergänzt. Dieser rechtsvergleichende Gesichtspunkt bietet sich insofern an, als die Schweiz das eigene Wehrpflichtsystem im Gegensatz zu Deutschland zum einen als M i l i z 1 und zum anderen derzeit noch ohne das Zugeständnis eines zivilen Ersatzdienstes für Kriegsdienstverweigerer 2 ausgestaltet hat, der Untersuchung mithin die gesamte Bandbreite denkbarer Wehrpflichttypen zugrunde gelegt werden kann.

1

Art. 13 Abs. 1 der schweizerischen Bundesverfassung (BV) lautet: "Der Bund ist nicht

berechtigt, stehende Truppen zu halten". Einzelheiten dazu unten 2. Teil: Α. Π. 2. 2

Zunächst sieht die schweizerische Verfassung im Gegensatz zu Art. 4 Abs. 3 GG kein

Grundrecht

auf Kriegsdienstverweigerung vor. Der im Jahre 1992 neu eingefugte Art. 18

Abs. 1 Satz 2 BV, der zur einfachgesetzlichen Einführung eines zivilen Ersatzdienstes ermächtigt, wird angesichts der Regelung des Art. 49 Abs. 5 B V lediglich als objektiver Gesetzgebungsauftrag verstanden; vgl. dazu die Botschaft des Bundesrates zum Bundesgesetz über den zivilen Ersatzdienst vom 22. 6. 1994, SR 94.063, Nr. 143. In Art. 49 Abs. 5 Β V heißt es sogar: "Die Glaubaisansichten entbinden nicht von der Erfüllung der bürgerlichen Pflichten"; dazu J. P. Müller,

Grundrechte, S. 61 ff. Gleichwohl regelt Art.

lObis des

Bundesgesetzes über die Militärorganisation (MO) zumindest einen waffenlosen Militärdienst für diejenigen, denen ihr Gewissen die Tötung eines anderen Menschen mit der Waffe verbietet. Einzelheiten dazu unten 2. Teil: A. II. 2. c) bb) und 2. Teil: C. VII. 2. b) aa) ccc) (1).

Einleitung

24

Π . Gang der Untersuchung Der erste Teil der Arbeit fragt nach den Grenzen legislativer Gestaltungsfreiheit bei der Entscheidung für oder gegen eine militärische Landesverteidigung. Dabei wird insbesondere untersucht, ob der Gesetzgeber auf - wie auch immer organisierte - Streitkräftestrukturen gänzlich verzichten darf oder ob umgekehrt eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Organisation einer militärischen Landesverteidigung besteht. Der zweite Teil befaßt sich mit möglichen Grenzen legislativer Gestaltungsfreiheit bei der Ausgestaltung einer militärischen Landesverteidigung durch eine bestimmte Wehrform. In diesem Zusammenhang wird geklärt, ob sich der Gesetzgeber nach politischem Belieben frei zwischen Wehrpflichtsystem und Freiwilligenstreitkräflen entscheiden kann oder vielmehr verfassungsrechtlich zu einer bestimmten Wehrform verpflichtet ist. In Form einer Bestandsaufnahme werden dabei zunächst denkbare Wehrformen definiert und die derzeit in Deutschland und in der Schweiz bestehenden Wehrpflichtsysteme erläutert sowie ihre historische Entwicklung dargestellt. Anschließend wird die Wehrform der Wehrpflicht zum einen am Maßstab des Lebensrechts und zum anderen am Grundsatz der Pflichtengleichheit auf ihre Verfassungskonformität untersucht. Die Problematik der verfassungsgerichtlichen Durchsetzbarkeit und tatsächlichen Realisierbarkeit von Freiwilligenstreitkräflen als Alternative zum Wehrpflichtsystem ist abschließender Gegenstand dieses zweiten Teils der Arbeit. Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung der zuvor erarbeiteten Thesen.

ΠΙ. Aktualität des Themas Seit Beendigung des Kalten Krieges und damit verbundener Auflösung des Warschauer Paktes zu Beginn der neunziger Jahre wird die Notwendigkeit einer organisierten militärischen Landesverteidigung zunehmend in Frage gestellt. Bereits im unmittelbaren Vorfeld dieser weltsicherheitspolitischen Veränderungen votierte beispielsweise in der Schweiz im Jahre 1989 mehr als ein Drittel der abstimmenden Bürger, obschon die Schweizer als besondere Militärbefürworter gelten 3 , für die völlige Abschaffung der schweizerischen Streitkräfte 4 .

Einleitung

Die Frage nach der verfassungsrechtlich und politisch richtigen Wehrform spielte in Deutschland vor allem zur Zeit der Wiederbewafinung in den fünfziger Jahren eine wichtige Rolle 5 . Die jüngsten militärorganisatorischen Umstrukturierungspläne in den NATO-Bündnisstaaten der Niederlande und Belgiens 6 für ein Freiwilligenstreitkräftesystem, der dramatisch zunehmende weltweite Bedarf an UNO-Einsätzen und die anläßlich der Wiedervereinigungsfinanzierung kritischer gewordene deutsche Haushaltslage, die nach einer deutlichen personellen Reduzierung der aktiven Militärkontingente verlangt 7 , lassen in Deutschland die Diskussion über eine Ersetzung des Wehrpflichtsystems durch Freiwilligenstreitkräfte an Aktualität gewinnen. Auch in der Schweiz gibt es erste militärstrukturelle Veränderungbestrebungen. So wird beispielsweise die Aufstellung eines aus freiwilligen Soldaten bestehenden Kontingents für die Beteiligung an UN-Einsätzen geplant 8 , das die schweizerische Bevölkerung jedoch in einer Abstimmung vom 12. Juni 1994 vorerst abgelehnt hat 9 . Es ist vorstellbar, daß dieses derzeit auf Auslandseinsätze beschränkte Planungsprojekt, für den Fall, daß es in einer späteren Volksabstimmung doch noch angenommen wird und sich entsprechend bewährt, auch auf die Aufgabe der Landesverteidigung ausgedehnt werden könnte. In dieser höchst aktuellen Diskussion möchte diese Arbeit durch die Ermittlung von "Grenzen legislativer Gestaltungsfreiheit in zentralen Fragen des

Das grundsätzlich ausgesprochen positive Ansehen des schweizerischen Miltärs in der eigenen Bevölkerung erklärt sich aus dem helvetischen Unabhängigkeitsstreben. Über Jahrhunderte hinweg war es ausschließlich der Armee zu verdanken, daß das heutige schweizerische Volk nicht durch die nachbarstaatlichen Monarchien unterjocht wurde. Zu den Einzelheiten in diesem Zusammenhang ausführlich unten 2. Teil: A. III. 2. 4

Bei der Abstimmung am 26. 11. 1989 votierten 64,4 % gegen und 35,6 % für die Ab-

schaffung der Streitkräfte. In den Kantonen Genf und Jura gab es mit 50,4 % bzw. 55,5 % sogar eine regionale Mehrheit gegen die Armee. Dazu ausführlich Archiv der Gegenwart 1989, 33988 A 2. 5

Dazu umfassend Seidler/Reindl,

6

Die belgische Regierung Dehaene beschloß am 3. 7. 1992, die Wehrpflicht zum 1. 1.

S. 38 ff.

1994 abzuschaffen und gegen Freiwilligenstreitkräfte zu ersetzen. Dazu ausführlich Archiv der Gegenwart 1992, 37030 A 3 (37032). Zur Entwicklung in den Niederlanden Archiv der Gegenwart 1993,37514 A 1. 7

FAZ vom 29. 11. 1993, S. 2.

8

Agostinis,

9

Badische Zeitung vom 13. 6. 1994, S. 1.

in: Badische Zeitung vom 12. 6. 1993, S. 4.

26

Einleitung

Wehrverfassungsrechts" einen Beitrag zur Versachlichung der Argumentation, insbesondere zur Unterscheidung zwischen politischen Zielen und verfassungsrechtlichen Pflichten und Grenzen der Gesetzgebung leisten.

Erster Teil

Grenzen legislativer Gestaltlingsfreiheit bei der Entscheidung fur oder gegen die Organisation einer militärischen Landesverteidigung Im ersten Teil der Arbeit wird der Frage nachgegangen, ob sich der Gesetzgeber frei für oder wider eine militärische Landesverteidigung entscheiden kann oder vielmehr verfassungsrechtlich, hilfsweise auch völkerrechtlich, zur Aufstellung von Streitkräften verpflichtet ist. Aus rechtsvergleichender Sicht interessiert insbesondere der im Gegensatz zur deutschen NATOBündnismitgliedschaft bestehende schweizerische Neutralitätsstatus. Dabei wird untersucht, ob für die militärisch neutrale Schweiz verfassungsrechtlich wie völkerrechtlich gesonderte Sicherheitsmaßstäbe gelten und sich die Bundesrepublik Deutschland diese Rahmenbedingungen selbst zu eigen machen könnte. Das Grundgesetz trifft derzeit durch die Artt. 12a Abs. 1, 73 Nr. 1 und 87a Abs. 1 Satz 1 GG eine verfassungsrechtliche Grundentscheidung zugunsten der militärischen Landesverteidigung 1, die nach § 1 Abs. 1 WPQG2 in Form der allgemeinen Wehrpflicht organisiert ist. Die Abschaffung jeder Art von Streitkräften ist daher zumindest einfachgesetzlich nicht möglich. Die Problematik verschiebt sich vielmehr auf die Ebene der Verfassungsänderung. Die schweizerische Bundesverfassung setzt insbesondere3 in den Artt. 13, 18, 19 und 102 Nr. 11 sowie Nr. 12 BV die Existenz einer militärischen Landesverteidigung voraus und schreibt selbst in Art. 18 Abs. 1 BV die Ausgestaltung durch eine allgemeinen Wehrpflicht vor 4 . Auch hier kann keine 1

Das BVerfG bezieht sich dabei bald auf die Artt. 12a Abs. 1, 73 Nr. 1 und 87a Abs. 1

Satz 1 GG - so BVerfGE 28, 243 (261) und BVerfGE 32, 40 (46) - und bald ausschließlich auf die Artt. 73 Nr. 1 und 87a Abs. 1 Satz 1 GG - so BVerfGE 48, 127 (159). 2

Ausführlich zur Ausgestaltung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland unten

2. Teil: Α. II. 1. 3

Zusätzlich kann auch auf die Artt. 15 Satz 2, 17, 20, 21, 22, 34ter Abs. 1 Buchst, d,

42 Buchst, c, 85 Nr. 9 B V abgestellt werden. 4

Ausführlich zur Ausgestaltung dieser Milizwehrpflicht unten 2. Teil: Π. 2.

28

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

einfachgesetzliche Auflösung jedweder Streitkräftestruktur stattfinden. Insofern gleichen sich die schweizerische und deutsche Rechtslage. Die derzeit sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz bestehende Verfassungsentscheidung zugunsten einer militärischen Landesverteidigung beinhaltet noch keinerlei Aussage über die künftige Handhabung dieser Problematik. Es stellt sich insbesondere die Frage, ob dieser Grundsatz abänderbar ist oder eine entsprechende Verfassungsänderung an materiellen Schranken scheitern muß. Eine etwaige Auflösung jedweder zur militärischen Landesverteidigung erforderlichen Streitkräftestruktur könnte verfassungsrechtlich auf zwei verschiedenen Wegen vollzogen werden: Zum einen wäre es denkbar, die bisherige ausdrückliche Verankerung der Landesverteidigung lediglich ersatzlos aus der Verfassung zu streichen. Zum zweiten könnte darüber hinaus ein ausdrücklicher Verzicht auf jegliche militärische Landesverteidigung in die Verfassung aufgenommen werden, wie dies beispielsweise Art. 9 der japanischen Verfassung 5 regelt oder der im Jahre 1989 gescheiterte Entwurf der Volksinitiative "für eine Schweiz ohne Armee und für eine umfassende Friedenspolitik" vom 12. 9. 1986 in der geplanten Neufassung für Art. 17 B V vorsah 6 . Eine Verfassungsänderung ist in Deutschland unter den Voraussetzungen des Art. 79 Abs. 1 bzw. Abs. 2 GG und in den Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG möglich. Darüber hinaus können sich Beschränkungen aus mit Drittstaaten oder internationalen Organisationen eingegangenen Völkerrechtsverträgen ergeben. Für die hier relevante Thematik stellt sich die Frage, ob das Grundgesetz dergestalt geändert werden darf, daß ein völliger Verzicht - also nicht lediglich eine Änderung des Wehrsystems, wozu im Gegensatz zur schweizerischen Rechtslage ein einfaches Gesetz hinreichend wäre 7 - auf die militärische 3

Auf dieses Beispiel verweist bereits Riedel, S. 13, Fn. 35. Riedel nennt darüber hinaus

fälschlicherweise im gleichen Zusammenhang auch Art. 13 Abs. 1 B V ("Der Bund ist nicht berechtigt, stehende Truppen zu halten"). Diese Vorschrift verbietet aber gerade nicht die Organisation einer militärischen Landesverteidigung, da anderenfalls die parallele Regelung der allgemeinen Wehrpflicht in Art. 18 Abs. 1 BV unverständlich wäre. Art. 13 Abs. 1 BV verpflichtet den Bund vielmehr dazu, die militärische Landesverteidigung in Form einer M/7/ztruppe zu organisieren, mithin keine dauerhaft aktiven Verbände zu unterhalten. Zur Unterscheidung zwischen einem Milizsystem und einer auf aktiven Soldaten basierenden Wehrform ausführlich unten 2. Teil: Α. I. 2. a). 6

Inhalt und Wortlaut dieses Entwurfes finden sich in der Botschaft des Bundesrates an die

Bundesversammlung vom 25. 5. 1988 in BB1. 1988 I I S. 967 (969). Dazu ausführlich sogleich unten Α. IV. 2. 7

Dazu unten 2. Teil: Α. II. 1. a).

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

Landesverteidigung möglich ist. Die Problematik verdichtet sich dabei zu der Frage, ob ein solcher Schritt einerseits mit Art. 79 Abs. 3 GG und andererseits mit den Verpflichtungen aus bestehenden Völkerrechtsverträgen vereinbar ist. Die schweizerische Bundesverfassung sieht in den Artt. 118 ff. BV die Möglichkeit der Verfassungsänderung in Form einer Total- oder Partialrevision vor, ohne jedoch - anders als das Grundgesetz in Art. 79 Abs. 3 GG - ausdrücklich materielle Grenzen zu nennen. Hier gilt es daher zu klären, ob und bejahendenfalls welche ungeschriebenen Grundsätze eine Verfassungsänderung zur vollständigen Auflösung der Streitkräfte verbieten. Daneben stellt sich angesichts des in Art. 85 Nr. 6 und Art. 102 Nr. 9 BV festgeschriebenen Neutralitätsstatus ebenfalls die Frage nach völkerrechtlichen Bindungen, die einem völligen Verzicht auf bewaffnete Streitkräfte im Weg stehen könnten.

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen einer Grundgesetzänderung zur vollständigen Auflösung der Streitkräfte Das Grundgesetz setzt Verfassungsänderungen durch das in Art. 79 Abs. 3 GG formulierte Ewigkeitsgebot eine ausdrückliche Grenze. Hier stellt sich nun die Frage, ob eine völlige Abschaflung der im Grundgesetz verankerten Streitkräftestruktur diese verfassungsrechtliche Grenze unzulässigerweise überschreiten würde.

I. Die ausdrückliche verfassungsrechtliche Verankerung der Streitkräfte in den A r t t 12a Abs. 1, 73 Nr. 1 und 87a Abs. 1 Satz 1 G G Die Artt. 12a Abs. 1, 73 Nr. 1 und 87a Abs. 1 Satz 1 GG, denen zu Folge die Streitkräfte ausdrücklich in der Verfassung verankert werden, sind als bloße Normenkette unzweifelhaft nicht vom Ewigkeitsschutz des Art. 79 Abs. 3 GG erfaßt 1, der insofern ausschließlich die Kerngehalte der Grundprinzipien aus den Artt. 1, 20 und 79 Abs. 3 GG selbst einer Verfassungsänderung vorenthält. Fraglich ist daher alleine, ob das Bekenntnis zur militärischen Landesverteidigung auch Kernbestandteil der in den Artt. 1 und 20 GG enthaltenen Grundsätze ist und damit am Unabänderlichkeitsschutz des Art. 79 Abs. 3 GG Anteil hat.

1

Walz, NZWehrr 1989, 189.

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

31

Π . Andere Verfassungsgrundsätze, die dem Schutz des A r t 79 Abs. 3 GG unterliegen, aber die Notwendigkeit von Streitkräften nicht ausdrücklich nennen Die hierzu erforderliche Untersuchung wird in vier Schritten durchgeführt. Zunächst werden verschiedene Verfassungsgrundsätze darauf überprüft, ob sie den Staat abstrakt - mithin losgelöst vom Grad einer etwaigen aktuellen weltpolitischen Sicherheitsgefahrdung und unabhängig von einer ganz bestimmten Maßnahme - zum Schutz vor militärischen Aggressionen 2 durch das Ausland verpflichten und insofern dem Ewigkeitsschutz des Art. 79 Abs. 3 GG unterliegen (1.). Danach stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen in der jeweils aktuellen Weltsicherheitslage überhaupt irgendwelche Schutzmaßnahmen erforderlich werden (2.). Sodann wird das Problem behandelt, welche konkreten Schutzmaßnahmen ergriffen werden müssen und ob insbesondere eine Verpflichtung ganz speziell zur Organisation von Streitkräften besteht (3.). Abschließend ist zu untersuchen, welche Rechtsfolge aus der so ermittelten konkreten Schutzpflicht resultiert und ob auf die ausdrückliche Verankerung der militärischen Landesverteidigung in der Verfassung verzichtet werden darf

(4.)· 1. Allgemeine staatliche Pflichten zum abstrakten Schutz vor militärischen Aggressionen aus dem Ausland und ihr Verhältnis zu Art. 79 Abs. 3 GG

Fraglich ist, auf Grund welcher unabänderlichen allgemeinen Verfassungsgrundsätze über die ausdrückliche Streitkräfteverankerung in den Artt. 12a Abs. 1, 73 Nr. 1 und 87a Abs. 1 Satz 1 GG hinaus der Staat gegenüber militärischen Aggressionen 3 Schutz gewähren muß.

2

Eine genaue Definition dieses Begriffes erfolgt sogleich unten 1. a) bb).

3

Zum Begriff der militärischen Aggression sogleich unten a) bb).

32

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

a) Aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. GG aa) Grundgesetzänderung zur Auflösung der Streitkräfte als aktives Tun oder Unterlassen Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG garantiert die Menschenwürde sowohl als Abwehrrecht gegenüber dem Staat als auch in Form einer ausdrücklichen staatlichen Schutzverpflichtung vor entsprechenden Übergriffen durch Dritte. Hier stellt sich vorab die Frage, ob eine Grundgesetzänderung zur vollständigen Auflösung der Streitkräfte am Maßstab des Abwehrrechts oder der Schutzpflicht zu messen ist 4 . Auf die abwehrrechtliche Grundrechtsfünktion, die dem Staat eine Unterlassungspflicht auferlegt, müßte abgestellt werden, wenn die Streitkräfteauflösung unter primärer Gewichtung des Auflösungsaktes als aktives Tun zu qualifizieren wäre. Im Gegensatz dazu wäre die grundrechtliche Schutzpflicht, die dem Staat ein aktives Tun abverlangt, maßgebend, soweit man die Nichtgewährung von Schutz gegenüber militärischen Aggressionen als Schwerpunkt der in Rede stehenden Streitkräfteauflösung wertet und damit ein staatliches Unterlassen rügt. Diese Differenzierung hat für die weitere Untersuchung insbesondere deswegen eine ganz entscheidende Bedeutung, weil dem Staat, gegen dessen Unterlassen sich die grundrechtliche Schutzpflicht wendet, ein größerer Gestaltungsspielraum 5 als in einer abwehrrechtlichen Konstellation verbleibt. So weist Hans Klein zurecht darauf hin, daß ein abwehrrechtlich zu beurteilender "Eingriff stets ein bestimmter" sei; "was die Schutzpflicht gebietet, ist oft - jedenfalls soweit sie den Gesetzgeber bindet - unbestimmt" 6 . Hieraus ergebe sich, "daß wegen ihres in die Zukunft weisenden Charakters Fragen nach der Geeignetheit und Wirksamkeit in Betracht kommender staatlicher Schutzmaßnahmen sich oft weniger bestimmt werden beantworten lassen als Die Notwendigkeit einer derartigen dogmatischen Differenzierung zwischen dem gegen staatliches aktives Tun gerichteten grundrechtlichen Abwehrrecht einerseits und der am Unterlassen orientierten Schutzpflicht andererseits betonen Hermes, S. 72 f.; E. Klein,

NJW 1989,

1633; H. Klein, DVB1. 1994, 489 (494 f.); Murswiek, Risiken der Technik, S. 107. 3

Hier steht mit der Grundgesetzänderung zur Auflösung der Streitkräfte eine Maßnahme

des Gesetzgebers in Rede. In diesem Zusammenhang muß daher auf die verfassungsrechtliche Terminologie zurückgegriffen und von einem legislativen "Gestaltungsspielraum" gesprochen werden. Gubelt, in: von Münch/Kunig, Art. 3 GG, Rdnr. 23 und Scheuner, D Ö V 1961, 201 (202) weisen zurecht daraufhin, daß der Gesetzgeber nicht die Verfassung vollziehe, sondern in deren Rahmen echte politisch-soziale Bestimmung und Normgebung ausübe und daher statt von einem "Ermessen" von einem "Gestaltungsspielraum" gesprochen werden müsse. 6

H. Klein, DVB1. 1994, 489 (496); ähnlich Kuli, in: FS für Lerche, S. 663 (669); Stern,

Staatsrecht m / 1 , § 69 V I 4 c.

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

33

Fragen nach der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit (im engeren Sinne) eines staatlichen Eingriffs, der Einschätzungsspielraum des zuständigen Staatsorgans dort also vielfach größer bemessen sein wird als hier" 7 . Während - so Eckart Klein - jeder auf welchem Wege auch immer vorgenommene staatliche Eingriff in ein Grundrecht, der durch die Grundrechtsschranke nicht gedeckt sei, als Verfassungsverstoß identifiziert werden könne, schulde der Staat aufgrund seiner Schutzpflicht bei Eingriffen von dritter Seite die Abwehr des Eingriffs, ohne daß sich grundsätzlich der Weg dazu aus der Schutzpflicht ergebe 8. Mit Hans Klein ist dann lediglich das Ziel vorgegeben 9. Alexy verdeutlicht an Hand eines anschaulichen Beispiels die erhebliche Relevanz dieser Unterscheidung zwischen abwehrrechtlicher und schutzpflichtbezogener Grundrechtsfunktion: "Wenn es verboten ist, etwas zu zerstören oder zu beeinträchtigen, dann ist jede Handlung, die eine Zerstörung oder Beeinträchtigung darstellt oder bewirkt, verboten. Demgegenüber ist dann, wenn es geboten ist, etwas zu schützen oder zu fördern, nicht jede Handlung, die einen Schutz oder eine Förderung darstellt oder bewirkt, geboten. So impliziert das Tötungsverbot jedenfalls prima facie das Verbot jeder Tötungshandlung, ein Rettungsgebot demgegenüber nicht das Gebot jeder Rettungshandlung. Wenn es möglich ist, einen Ertrinkenden sowohl schwimmend als auch durch den Wurf eines Rettungsrings als auch mit Hilfe eines Bootes zu retten, sind keinesfalls alle drei Rettungshandlungen zugleich geboten. Geboten ist vielmehr, die erste oder die zweite oder die dritte Handlung vorzunehmen. Das aber heißt, daß der Adressat des Rettungsgebots, wenn nicht weitere Gründe einschränkend hinzutreten, einen Spielraum hat, innerhalb dessen er wählen kann, wie er das Gebot erfüllen w i l l " 1 0 . Selbst wenn eine Verpflichtung zur Verwirklichung eines bestimmten Ziels besteht, so darf daher zumindest das hierfür heranzuziehende Mittel politisch weitgehend frei bestimmt werden 11 , soweit es nicht völlig unzulänglich ist 1 2 . Anders verhält es sich, wenn ein aktives Tun in Rede steht. In diesem Fall hat sich der Staat selbst zu einer ganz bestimmten Maßnahme entschlossen und insofern bereits von seinem Gestaltungsspielraum Gebrauch gemacht. Hier wird folglich nicht nur die Verwirkli7

H. Klein, DVB1. 1994, 489 (496 f.); ebenso Alexy, Der Staat 29 (1990), 49 (62 f.).

8

E. Klein, NJW 1989, 1633 (1637).

9

Η. Klein, DVB1. 1994, 489 (495); ähnlich Alexy, S. 75 f. und 420 f.; Κ Hesse, Grund-

züge, Rdnr. 350. 10

Alexy, Der Staat 29 (1990), 49 (62).

11

BVerfGE 46, 160 (164 f.); 79, 174 (202); Κ Hesse, Grundzüge, Rdnr. 350; E. Klein,

NJW 1989, 1633 (1637). 12

BVerfGE 77, 170 (215); Pieroth/Schlink,

3 Fröhler

Rdnr. 96 f.

34

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

chung eines Ziels eingefordert, sondern sogar unmittelbar auf das dafür schon herangezogene Mittel Einfluß genommen. Die Einstufung der Verfassungsänderung als aktives Tun würde daher bewirken, daß abwehrrechtlich unmittelbar gegen die Auflösung der Streitkräfte vorgegangen werden könnte. Ist diese Maßnahme hingegen als Unterlassen zu werten, dann steht noch keineswegs fest, daß die Grundgesetzänderung zur Auflösung der Streitkräfte selbst angreifbar ist. Vielmehr bleibt es zunächst dem staatlichen Verantwortungsträger im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit überlassen, wie er die äußere Sicherheit garantiert. Nur wenn eine Alternative zu den Streitkräften völlig unzulänglich erscheint, kann die Aufösung der militärischen Strukturen direkt gerügt werden. Der Unterscheidung zwischen Abwehrrecht gegen aktives Tun und grundrechtlicher Schutzpflicht gegen ein Unterlassen kommt daher insbesondere im Hinblick auf den unterschiedlichen Umfang staatlicher Gestaltungsfreiheit entscheidende Bedeutung zu. Folglich muß geklärt werden, ob eine Grundgesetzänderung zur vollständigen Auflösung der Streitkräfte als aktives Tun oder als Unterlassen einzustufen und daher abwehrrechtlich oder schutzpflichtbezogen zu untersuchen ist. Für ein aktives Tun spricht der Umstand, daß durch eine Auflösung der Streitkräfte tatsächlich positiv handelnd in einen bereits bestehenden Zustand eingegriffen wird. Umgekehrt ist zu bedenken, daß dieses bisherige Vorhandensein von Streitkräften ursprünglich ebenfalls durch den Staat hervorgerufen worden ist. Diesbezüglich könnte nur schwer einzusehen sein, eine von vorneherein stattfindende Untätigkeit als Unterlassen, die spätere Aufhebung einer eigenen zwischenzeitlich stattgefundenen Tätigkeit, die lediglich den der anfänglichen Untätigkeit entsprechenden Ausgangszustand wiederherstellt, aber als aktives Tun zu bewerten. Die Einstufung einer Verfassungsänderung zur vollständigen Auflösung der Streitkräfte ist daher nicht eindeutig, sondern gestaltet sich vielmehr als problematisch. In derartigen Zweifelsfallen ist auf den Schwerpunkt des in Rede stehenden Verhaltens abzustellen. Schwerpunkt des an den verfassungsändernden Gesetzgeber gerichteten Vorwurfes ist hier, daß eine militärische Absicherung nach außen unterbleibt und damit militärische Aggressionen durch Drittstaaten nicht mit Waffengewalt abgewehrt werden können. M i t Murswiek muß an dem Grundsatz festgehalten werden, daß es keinen Unterschied machen darf, ob aktiver Schutz von Beginn an verweigert oder nach anfanglicher Gewäh-

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

35

rung später widerrufen w i r d 1 3 . In beiden Situationen verweigert der Staat die von ihm geforderte Leistung. Anders wäre nur dann zu urteilen, wenn die staatlichen Maßnahmen eine Schutzhandlung Dritter oder einen natürlich vorgegebenen Schutzzustand beeinträchtigen würden. Letzteres wäre etwa in der Schweiz für den Fall anzunehmen, daß die Spreng- und Sperrvorrichtungen auf den erst von Menschenhand errichteten Alpentransversalen beseitigt würden, da dann der ursprüngliche natürliche Schutzcharakter der das Land abschirmenden Gebirgszüge auf Grund der nicht mehr absperrbaren, sondern von auswärtigen Aggressoren passierbaren Tunnel- und Paßanlagen beseitigt würde. Eine solche Situation ist jedoch für Deutschland mangels vergleichbarer topographischer Verhältnisse offensichtlich nicht relevant 14 . Eine weitere Ausnahmekonstellation wird zwar auch für den Sonderfall einer unrechtmäßigen staatlichen Genehmigungserteilung zur Inbetriebnahme von Atomkraftwerken bei einem präventiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt diskutiert. Man könnte diesbezüglich annehmen, daß der Staat die Beeinträchtigung des betroffenen Lebensbereichs der Bevölkerung durch die Kraftwerksbetreiber erst ermöglichen und insofern gleichsam selbst eingreifen würde 1 5 . Aber auch hier liegt der sozialerhebliche Schwerpunkt der Handlung in einem Unterlassen, da die aktive Mißachtung des zuvor selbst normierten und als Schutzmaßnahme vorgesehenen Genehmigungsverfahrens nicht anders bewertet werden darf, als wenn ein solcher Schutzmechanismus niemals ins Leben gerufen worden wäre. Im Ergebnis unterläßt der Staat den ihm obliegenden Schutz. Daher ist selbst in dieser Sonderkonstellation eine objektive Schutzverpflichtung zu aktivem Tun jenseits des lediglich negatorisch wirkenden Abwehranspruchs notwendig. Daher liegt der Schwerpunkt der vollständigen Auflösung von Streitkräftestrukturen hier vielmehr in einem Unterlassen von Schutz.

13

Murswiek,

14

Zwar könnt man erwägen, die vollständige Auflösung von Streitkräften käme einer frist-

in: Grundrechtsschutz, S. 213 (225 f.).

losen Kündigung des NATO-Vertrages gleich und ziehe den Verlust des militärischen Bündnisschutzes nach sich. Doch gilt auch hier, daß dieser Schutz von vorneherein von der grundsätzlichen militärischen Verteidigungsbereitschaft Deutschlands abhängt, mithin mittelbar ebenfalls erst durch die ursprüngliche Aufstellung von eigenen Streitkräften möglich wurde. Anfängliches Unterlassen und späteres Aufheben zwischenzeitlichen aktiven Tuns müssen jedoch gleich eingestuft werden. In beiden Fällen liegt der Schwerpunkt des Vorwurfes im Unterlassen eines aktiven Tuns. Anders verhielte es sich hier nur, wenn der Bündnisschutz ursprünglich unabhängig von einem deutschen Militärbeitrag gewährt worden wäre, jetzt aber in Folge einer deutschen Streitkräfteauflösung entfiele. 13

3:

Vgl. dazu die Nachweise bei Hermes, S. 85 ff.

36

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

Dieses Ergebnis stimmt auch mit der dogmatischen Einstufung überein, die das BVerfG in seiner Rechtsprechung zum Schwangerschaftsabbruch zugrunde legt. Sowohl in der ersten Fristenlösungs-Entscheidung aus dem Jahre 1975 1 6 als auch in der zweiten Fristenlösungs-Entscheidung aus dem Jahre 1993 17 hat das BVerfG die vom Gesetzgeber geplante Abschaffung der strafrechtlichen Unterschutzstellung des Embryos vor einem Schwangerschaftsabbruch am Maßstab der staatlichen Schutzpflicht zu einem aktiven Tun überprüft und damit als ein Unterlassen von Schutz gewertet. Für die weitere Untersuchung steht damit fest, daß eine Streitkräfteauflösung an der staatlichen Schutzverpflichtung des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. gemessen werden muß. Für andere möglicherweise einschlägige Grundrechte 18 ist eine entsprechende Schutzpflicht mangels ausdrücklicher tatbestandlicher Benennung eines solchen Schutzanspruchs aus ungeschriebenen Grundsätzen gesondert zu begründen. Als Konsequenz aus der Bejahung der Schutzpflichtenfunktion steht dem staatlichen Verantwortungsträger bei der Bestimmung des richtigen Mittels zur Realisierung des Schutzziels - anders als im Falle einer abwehrrechtlichen Konstellation - grundsätzlich der soeben beschriebene weite Gestaltungsspielraum z u 1 9 . bb) Schutzbereich Art. 1 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. GG verpflichtet die staatliche Gewalt neben dem abwehrrechtlichen Achtungsgebot auf gleicher Ebene 20 ebenfalls ausdrücklich zum aktiven Schutz der Menschenwürde. Diese Schutzverpflichtung ist nur

16

BVerfGE 39, 1 (41) spricht ausdrücklich von der "Pflicht des Staates, jedes menschliche

Leben zu schützen ... . Sie ergibt sich ... auch aus ... Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG". Hier steht folglich die positive Gewährung von Schutz gegenüber Dritten als ein aktives Tun in Rede, das sich gegen ein gesetzgeberisches Unterlassen wenden muß. Wäre es um ein bloßes negatorisches Abwehrrecht gegen ein aktives Tun gegangen, dann hätte das BVerfG auf Art. 1 Abs. 1 Satz 2 1. Alt. GG zurückgreif αϊ müssen. Gerade das ist dort aber nicht geschehen. 17

BVerfG EuGRZ 1993, 229 (242). Hier ist unter Bezugnahme auf BVerfGE 39, 1 wie*

derum vom "Schutz der Menschenwürde" die Rede. Insofern wird auch in dieser Entscheidung die legislative Abschaffung des Strafrechtsschutzes als Unterlassen eingestuft, dem nur mit einer Schutzverpflichtung zu aktivem Tun entgegengetreten werden kann. 18

Dazu sogleich unten b).

19

Dazu unten 3.

20

Zu den anfänglichen Bestrebungen des Parlamentarischen Rates, die Schutzfunktion in-

nerhalb der Menschenwürdegarantie sogar bevorzugt zu regeln, von Doemming/Füsslein/Matz, JöRn.F. 1 (1951), 1 (49 ff.).

37

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

dann aktualisiert, wenn die Menschenwürde durch aw/terstaatliche 21 Kräfte beinträchtigt wird, da anderenfalls - bei staatlichen Eingriffen - bereits das Abwehrrecht aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 7. Alt. GG zum Tragen käme. Üblicherweise wird das staatliche Schutzgebot des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG gegen Handlungen privater Dritter herangezogen und steht daher zwangsläufig in unmittelbarem Zusammenhang mit der Problematik der Drittwirkung von Grundrechten innerhalb des Privatrechts 22 . Der Heimatstaat muß aber auch vor Übergriffen fremder Staaten schützen 23 . Zur Aktualisierung der Schutzpflicht ist es für einen vorverlagerten Präventivschutz hinreichend, daß die Menschenwürde lediglich bedroht ist 2 4 . Es muß also insofern noch keine vollendete Verletzung erfolgt sein. Hier genügt es grundsätzlich, wenn durch einen fremden Staat eine zukünftige Aggression droht 2 5 . Neben diesem präventiv wirkenden Schutz vor späteren durch etwaige Aggressoren zugefügten Menschenwürdebeeinträchtigungen steht auch eine aktuelle, mithin vollendete Verletzung des Art. 1 Abs. 1 GG in Rede. So wird die Menschenwürde bereits im Friedenszustand dadurch beeinträchtigt, daß dem Bürger die Freiheit von Angst 2 6 vor existenzbedrohenden militärischen Aggressionen genommen wird, unter denen man den direkten oder indirekten staatlichen Einsatz von Waffengewalt gegen einen Drittstaat versteht 27 . Dieses Recht wird bereits in der Präambel des Internationalen Paktes für bürgerliche und politische Rechte vom 19. 2. 1966 28 normiert. Dadurch, daß sich der Bür-

21

Dürig,

Wintrich, 22

AöR 81 (1956), 117 (118); Dürig,

in: Maunz/Dürig, Art. 1 GG, Rdnr. 3;

S. 13.

Κ Hesse, Grundzüge, Rdnr. 351; E. Klein, NJW 1989, 1633 ff.; Zippelius,

in: Bonner

Kommentar, Art. 1 Abs. 1 und 2 GG, Rdnr. 34 ff. Verallgemeinernd für staatliche Schutzpflichten, Murswiek, 23

in: Grundrechtsschutz, S. 213 (214 f. und 217).

O V G Münster DVB1. 1962, 139 (140); Dürig,

in: Maunz/Dürig, Art. 1 GG, Rdnr. 3;

Geck, ZaöRV 17 (1956/57), 476 (514); Hermes, S. 138; Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 1 GG, Rdnr. 33. Dabei kann es keinen Unterschied machen, ob der fremde Staat diese militärischen Aggressionen selbst hoheitlich durchführt oder die Übergriffe seiner Staatsangehörigen nicht unterbindet bzw. sich davon nicht distanziert. 24

Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 1 GG, Rdnr. 30.

23

Zu den Anforderung an die Eintrittswahrscheinlichkeit der Gefahr sogleich unten bbb).

26

Hermes, S. 143; Isensee, Sicherheit, S. 25 f.; Roßnagel, S. 44.

27

Ausführlich zur Definition des Begriffes der "Aggression" die Resolution der Generalver-

sammlung der Vereinten Nationen vom 14. 12. 1974, Res. 3314 ( X X I X ) . Dazu Frowein, Simma, Art. 39 SVN, Rdnr. 12. Diese Resolution erläutert Meier, 375 ff. 28

Dazu ausführlich unten Β. II. 3.

in:

ArchVR 16 (1974/75),

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

38

ger den auf ihn zukommenden Gefahren einer militärischen Aggression ohne jede eigene Verteidigungsmöglichkeit - Einzelwiderstand kann keinen fremdstaatlichen Militäreingriff verhindern - wehrlos ausgesetzt sieht, erfahrt er sich selbst als von Angst erfülltes Objekt der Bedrohung. Ihm wird das die Menschenwürde erst ausmachende Bewußtsein der grundsätzlichen Fähigkeit zur Selbstbestimmung genommen, so daß er schon jetzt in seinem von der Menschenwürde geschützten Recht auf Freiheit von existenzbedrohender Angst betroffen ist 2 9 . Militärische Aggressionen drohen einem Staat wie der Bundesrepublik Deutschland, die sich zu naturgegebenen Menschenrechten bekennt und sich selbst darüber hinaus in Art. 26 GG das Verbot des Angriffskrieges auferlegt, nur von solchen Staaten, die ihrerseits in der eigenen Staatsordnung derartige Werte ablehnen, Menschenrechte - die Menschenwürde an der Spitze - verachten und gegebenenfalls andere Gemeinwesen aus bestimmten Motiven zu unterdrücken trachten. Solche Regime mißachten auch außerhalb ihres eigenen Staatsgebietes Menschenrechte und würdigen auf auswärtigem besetzten 30 Gebiet die dortige Bevölkerung zum bloßen Objekt der Fremdherrschaft herab 31 . Kennzeichen eines totalitären Staates ist es gerade, den Menschen vollständig bis in die tiefste Privatssphäre zu beeinflussen. Hieraus folgt als Konsequenz, daß in der hiesigen Problematik die grundsätzliche, die Menschenwürde erst ausmachende Selbstbestimmungsfreiheit gerade unterdrückt w i r d 3 2 . Zu diesem Kreis sind schließlich auch solche Staaten zu zählen, die 29

Roßnagel, S. 44; Hermes, S. 143; Isensee, Sicherheit, S. 25 f. verwendet eine andersar-

tige Terminologie und spricht diesbezüglich von der "Freiheit von Furcht" (ebenda Fn. 56) und verweist auf eine Äußerung des ehemaligen US-Präsidenten Roosevelt über Freiheit von Furcht vor militärischen Angriffen. 30

Zu den unterschiedlichen Arten der Besetzung und verwandten Erscheinungsformen im

einzelnen Uhler, S. 33 ff. 31

Auf die totalitäre Grundeinstellung des Aggressors stellt auch Dürig,

in: Maunz/Dürig,

Art. 2 Abs. 2 GG, Rdnr. 20 ab. Exemplarisch kann der Überfall des die Menschenrechte mißachtenden nationalsozialistischen Deutschland auf das die Menschenrechte garantierende Frankreich während des Zweiten Weltkrieges und die damit verbundenen Menschenwürdeverletzungen gegenüber der französischen Bevölkerung durch die deutschen Besatzungskräfte verwiesen werden. Zur NS-Herrschaft in der besetzten Sowjetunion zwischen 1941 und 1944 Daliin,

pas-

sim. Zur deutschen Besatzungspolitik während dieser Zeit im allgemeinen Grassmann, passim. Ebenso war die Einverleibung der drei baltischen Staaten durch die Sowjetunion im Jahre 1940 mit gravierenden Menschenrechtsverletzungen verbunden. Dazu in Bezug auf Estland Tonska, in: Völker klagen an, S. 135 ff., hinsichtlich Lettland Bukiss, in: Völker klagen an, S. 181 ff. und für die Vorgänge in Litauen Kairys, in: Völker klagen an, S. 241 ff. 32

weisen.

Der große Brockhaus, Band 11, S. 433, Stichwort "Totalitarismus" mit weiteren Nach-

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

39

innerhalb ihres status quo zwar die oben genannten Werte tolerieren, sich angesichts ihrer innenpolitischen Destabilität aber jederzeit entgegengesetzt entwickeln können. Im Falle eines Krieges oder einer Besetzung durch derartige Staaten besteht daher grundsätzlich die Gefahr, massiven, die Menschenwürde verletzenden Handlungen ausgesetzt zu sein. Die Ausführungen beschränken sich an dieser Stelle auf die Herleitung abstrakter Schutzpflichten bei unterstellter Gefahrdung durch eine militärische Aggression. An späterer Stelle wird dann der Frage nachgegangen, unter welchen konkreten Gesichtspunkten überhaupt von einer solchen Gefahrdung auszugehen ist und welche Konsequenzen hinsichtlich des "Ob" und "Wie" konkreter staatlicher Maßnahmen aus den Schutzpflichten resultieren. Insofern ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. GG zunächst ganz allgemein eine abstrakte staatliche Schutzpflicht gegenüber militärischen Aggressionen, die von die Menschenwürde mißachtenden fremden Staaten drohen 3 3 . Diese Schutzpflicht müßte gleichzeitig auch von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG erfaßt sein, um eine Verfassungsänderung zu verhindern, die die Sicherheit vor militärischen Aggressionen eliminiert. cc) Verhältnis zum Unabänderlichkeitsschutz des Art. 79 Abs. 3 GG Art. 79 Abs. 3 GG erklärt ausdrücklich die "Grundsätze" der Artt. 1 und 20 GG für unabänderlich. Aus dem Wortlaut der Bezeichnung "Grundsätze" hat das BVerfG in seiner Abhör-Entscheidung aus dem Jahre 1970 geschlossen, daß eine sachgerechte und lediglich eine bestimmte Sonderlage betreffende Verfassungsänderung auch innerhalb der Tatbestände der Artt. 1 und 20 GG möglich sei, solange die darin enthaltenen Werte nicht prinzipiell aufgegeben würden 34 . Diese Einschränkung des Unabänderlichkeitsschutzes wird in der Literatur insofern heftig kritisiert, als man darin eine unzulässige Uminterpretation der Tatbestandsmerkmale des Art. 79 Abs. 3 GG erblickt. Der Wortlaut, die "in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze" dürften nicht "berührt wer33

Zur Frage, ob und bejahendenfalls wie der Staat tätig werden muß, unten 2. bzw. 3.

34

BVerfGE 30, 1 (24).

40

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

den" könne nicht dahingehend ausgelegt werden, daß entsprechende Eingriffe lediglich "grundsätzlich" verboten sind, um in Ausnahmen doch zugelassen zu sein 35 . Der Streitstand kann hier jedoch offen bleiben, da eine Besetzung Deutschlands durch eine totalitäre Macht aus soeben genannten Gründen jedenfalls den prinzipiellen Verlust jeden Menschenwürdeschutzes nach sich ziehen würde. Daher muß die aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG resultierende Schutzpflicht 3 6 vor militärischen Aggressionen fremder Staaten nach beiden Ansichten zu Art. 79 Abs. 3 GG einer Grundgesetzänderung vorenthalten werden. b) Aus dem objektiven Wertgehalt derjenigen Grundrechte, die die staatliche Schutzpflicht nicht ausdrücklich vorschreiben, insbesondere aus Art 2 Abs. 2 Satz 1 GG aa) Schutzbereich Aus soeben genannten Gründen sind militärische Aggressionen ausschließlich von totalitären, die Menschenrechte verachtenden Regimen zu befürchten. Neben der dabei im Vordergrund stehenden Gefahrdung der Menschenwürde der jeweiligen Einwohner des bedrohten Staates, sind zwangsläufig auch eine Vielzahl anderer Grundrechte bedroht, deren Schutz dem Staat anders als bei Art. 1 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. GG nicht ausdrücklich vorgeschrieben ist. aaa) Betroffener

Regelungsbereich

Angesichts einer im voraus nicht bestimmbaren Eigendynamik einer jeden militärischen Aggression kann keine vollständige Auflistung aller möglicherweise betroffenen Regelungsbereiche 37 erstellt werden. Vielmehr ist auf typischerweise, aus Erfahrungswerten gewonnene Tatbestände zurückzugreifen.

33

Düng,

in: FG für Maunz, S. 41 (43); Geddert-Steinacher,

S. 173 ff.; Stern, JuS 1985,

329 (333). 36

Zur speziellen Einbeziehung auch der in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. GG niedergelegten

Schutzpflicht in den Anwendungsbereich des Art. 79 Abs. 3 GG Stern, JuS 1985, 329 (334). 37 Unter dem maßgeblichen "Regelungsbereich" eines Grundrechts wird der Lebensbereich verstanden, dem das entsprechende Grundrecht gilt und in dem es dai Schutzbereich erst bestimmt. Der Regelungsbereich ist daher vom Schutzbereich zu unterscheiden. Zu dieser Differenzierung Pieroth/Schlink, Rdnr. 214 f.

41

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

Ein solcher Katalog von bedrohten Schutzgütern deutet sich bereits bei einem Blick auf die Situation der Bevölkerung totalitärer Staaten selbst an, deren Schicksal im Falle einer Okkupation - wie oben angedeutet - auch den Menschen im sodann besetzten Gebiet droht. So sind insbesondere das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Fortbewegungsfreiheit durch Hinrichtungen, Folter und willkürlich andauernde Inhaftierungen bei direktem Aufeinandertreffen mit der Besatzungsmacht einerseits und Meinungs- und Religionsfreiheit im Alltagsleben andererseits betroffen 38 . Häufig wird die Eigentumsordnung mißachtet, gegebenenfalls ganz abgeschafft 39. Beschränkt sich die Aggression nicht auf eine durch unblutige Erpressung erwirkte Besetzung, sondern geht letzterer ein militärischer Angriff auf das nahezu unbewaffnete Heimatland voraus 40 , dann hat dies darüber hinaus Tote und Verwundete zur Folge. So zeigt sich, daß in jedem Fall insbesondere der Regelungsbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG betroffen ist. So starben beispielsweise im Zusammenhang mit der gewaltsamen sowjetischen Besetzung Ungarns im Jahre 1956 mindestens 40.000 Menschen oder kehrten aus ihrer Verschleppung nicht wieder zurück 41 . Als erschütternder Höhepunkt fremdstaatlicher Besatzung in der jüngeren Vergangenheit gilt die sowjetische Besetzung Afghanistans vom Dezember 1979, die der Einsetzung und anschließenden Stabilisierung einer kommunistischen Regierung in Kabul diente 42 . Unzählig viele Todesopfer sind die Bilanz planmäßiger Bombardierung von Dörfern 43 und entsprechend gekennzeichneten Krankenhäusern 44 ,

38

In BVerfGE 48, 127 (161) werden Menschenwürde, Leben, Freiheit und Eigentum aus-

drücklich als von einer militärischen Landesverteidigung zu schützende Güter benannt. Ebenso die Aufzählung von Dürig,

in: Maunz/Dürig, Art. 2 Abs. 2 GG, Rdnr. 20 i. V. m. Art. 1 GG,

Rdnr. 28 ff., der ausdrücklich von erfahrungsgemäß in der Vergangenheit angewendeten Praktiken totalitärer Staaten spricht. Zu den Gruppen Vernichtungen (Genocid) durch die deutschen Besetzer im Zweiten Weltkrieg Uhler, S. 154 ff. Zu den Ermordungen, religiösen Unter drükkungen, willkürlichen Enteignungen etc. während der Vorgänge im Jahre 1940 im sowjetisch besetzten Estland Tonska, in: Völker klagen an, S. 135 ff. 39

Dazu etwa Tonska, in: Völker klagen an, S. 135 (143 ff.), der dies am Beispiel Estlands

schildert. 40

Zur Differenzierung zwischen Lebensbedrohungen unmittelbar durch Kriegshandlungen

einerseits und Besatzungsterror andererseits Schickel , Zeitschrift für Politik 1978, 279 (280). 41

Szebeni, in: Völker klagen an, S. 87 (112).

42

Vgl. zum historischen Hintergrund der Besetzung die Angaben des aus dem neutralen

Österreich stammenden UNO-Sonderberichterstatters Ermacora, 43

Ermacora,

1. Bericht, Ziffer 95 und 3. Bericht, Ziffer 71.

44

Ermacora,

1. Bericht, Ziffer 119.

1. Bericht, Ziffer 1 ff.

42

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

willkürlicher Massenmorde insbesondere an Frauen und Kindern 4 5 , systematischer Hinrichtungen 46 und grausamster Folterungen 47 . Um den Widerstand der Bevölkerung endgültig zu brechen, wurde eine Politik der sogenannten "Entvölkerung" verfolgt, die nach Ansicht des entsprechenden UNO-Sonderberichterstatters an den Tatbestand des Völkermordes grenzt 48 . Hierzu wurden unter anderem Brennstoff-Luft-Bomben 49 , speziell für den Terror gegen Kinder konstruierte, als Spielzeug 50 und als Seifenstücke getarnte Sprengsätze 51 eingesetzt und die landwirtschaftliche Struktur - insbesondere Ernteerträge wie Bewässerungssysteme - systematisch vernichtet 52 . Ob auch chemische Waffen eingesetzt waren, ist heftig umstritten 53 . Anhand dieser Beispiele wird deutlich, daß im Falle militärischer Aggressionen durch einen totalitären Staat typischerweise die in den Grundrechten aus den Artt. 2 Abs. 2 Satz 1, 2 Abs. 2 Satz 2, 5 Abs. 1 Satz 1, 4 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG garantierten Regelungsbereiche 54 betroffen sind. Eine herausragende Bedeutung hat dabei das in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte Leben 55 . Das BVerfG betont in seiner Kriegsdienstverweigerungs-Entscheidung aus dem Jahre 1960, daß die militärische Landesverteidigung vor Beeinträchtigungen "von Freiheit und Menschenwürde" schütze 56 . In einer späteren Ent-

43

Ermacora,

2. Bericht, Ziffer 128b.

46

Ermacora,

1. Bericht, Ziffer 102.

47

Eine exemplarische Auflistung der hier bewußt nicht wieder gegebenen Folterpraktiken

findet sich bei Ermacora,

1. Bericht, Ziffer 86. Zum historischen und gegenwartsbezogenen

Hintergrund der Folter im allgemeinen Peters, S. 21 ff. 48

Ermacora,

49

Ermacora,

3. Bericht, Ziffer 87.

30

Ermacora,

3. Bericht, Ziffer 88 und 89.

3. Bericht, Ziffer 124.

51

Ermacora,

3. Bericht, Ziffer 102.

32

Ermacora,

3. Bericht, Ziffer 102.

33

Dazu die amerikanischen Vorwürfe, wiedergegeben in NZZ vom 16. 9. 1981, S. 3, N Z Z

vom 23. 3. 1982, S. 1 und N Z Z vom 9. 6. 1982, S. 4 und Ermacora,

1. Bericht, Ziff. 117 ei-

nerseits und die sowjetischen Dementis, wiedergegeben in der N Z Z vom 19./20. 9. 1981, S. 6, andererseits. 34

Zum Begriff des Regelungsbereichs oben Fn. 37.

33

Ähnlich M Winkler, N V w Z 1993, 1151 (1156), der jedoch von vorneherein ausschließ-

lich auf die spezifische Rechtfertigung der allgemeinen Wehrpflicht abstellt, ohne andere Wehrformen in Betracht zu ziehen. Zur Frage der verfassungskonformen Bestimmung der richtigen Wehrform ausführlich unten im 2. Teil der Arbeit. 36

BVerfGE 12, 45 (51). Zu dieser Entscheidung ausführlich unten 2. Teil: Β. V. 4. a) aa)

ddd) (1) (a).

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

43

Scheidung über die Wehrpflicht ist verallgemeinernd davon die Rede, "die Grundrechte" zu verteidigen 57 . Große Beachtung verdient in diesem Zusammenhang auch eine Feststellung des Menschenrechtsausschusses des Internationalen Paktes für bürgerliche und politische Rechte. Darin wird die staatliche Pflicht zur Gewährleistung des Lebensschutzes propagiert und ausdrücklich auf die Verhinderung von Kriegen bezogen. Maßnahmen zur Verhinderung von Kriegen - insbesondere von Atomkriegen - sowie zur Stärkung des Weltfriedens seien "wichtigste Bedingung und Garantie für den Schutz des Rechts auf Leben". Hieraus folge als höchste Pflicht der Staaten, Kriege, die Menschen willkürlich ihres Lebens beraubten, zu verhindern 58 . Insofern hält auch der Internationale Menschenrechtsausschuß durch militärische Aggressionen primär den Regelungsbereich des Lebens für betroffen. Fraglich ist nun, ob sich aus diesen Grundrechten - insbesondere aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG - eine staatliche Schutzpflicht gegenüber derartigen militärischen Aggressionen ergibt, obschon eine ausdrückliche Benennung des Schutzauftrages im Gegensatz zu Art. 1 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. GG in den entsprechenden Tatbeständen gerade fehlt. bbb) Herleitung einer ungeschriebenen Schutzpflicht Zunächst könnte die explizite Normierung der Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. GG die Herleitung einer vergleichbaren Pflicht für die anderen Grundrechte sperren. Man könnte im Wege eines Umkehrschlusses argumentieren, daß die ausdrückliche Nennung in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. GG nur dann sinnvoll wäre, wenn den Grundrechten nicht ohnehin schon eine ungeschriebene Schutzpflicht entnommen werden könnte. Zweck des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. GG ist es aber alleine, den Gesamtgrundrechtsschutz des Individuums auszubauen, nicht hingegen zu beschränken 59 . Daher schließt Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG die Herleitung anderer ungeschriebener staatlicher Schutzverpflichtungen nicht aus 60 .

37

BVerfGE 38, 154(167).

38

Allgemeine Bemerkung des Menschenrechtsausschusses 6/16, Ziffer 2, abgedruckt bei

Nowak, S. 879. Dazu Nowak, Art. 6 IPbürgR, Rdnr. 5 und 9. 39

Dietlein,

60

Böckenförde,

S. 66 f.; Murswiek, Risiken der Technik, S. 125. Der Staat 29 (1990), 1 (2) bezeichnet die Frage nach dem objektiven

Wertgehalt der Grundrechte durch Art. 1 GG als nicht vorentschieden.

44

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

Fraglich ist nun, wie eine solche ungeschriebene Schutzpflicht aus dem entsprechenden Grundrechtstatbestand dogmatisch begründet werden kann. Hierz u 6 1 werden im wesentlichen 62 zwei Argumentationslinien vertreten. (1) Abwehrrechtliche Begründung Die erste Variante wählt den Weg über die negatorische Abwehrfunktion der Grundrechte, macht sich insofern den am bloßen Achtungsgebot orientierten Wortlaut des Gesetzes zu eigen und verzichtet auf neue dogmatische Ansätze. Ausgehend vom Monopol und der Verpflichtung moderner Staatlichkeit zur Erhaltung des Friedens 63 wird die Hinnahme friedensstörender Eingriffe Dritter einem staatlichen Eingriff selbst gleichgesetzt, so daß die gewohnte Abwehrfunktion der Grundrechte zum Tragen kommen kann 6 4 . (2) Begründung aus dem objektiv-rechtlichen Wertgehalt eines Grundrechts Der andere Ansatz stützt sich auf den objektiv-rechtlichen Wertgehalt der Grundrechte 65 , der zusammen mit ihrer subjektiv-rechtlichen Wirkung eine doppelgestaltige Grundrechtsfunktion begründet. Dieser objektiv-rechtliche Wertgehalt der Grundrechte hat in dreierlei Hinsicht Bedeutung. Zum einen läßt er das Grundrecht auf alle Rechtsbereiche ausstrahlen, entfaltet zum zweiten Drittwirkung und begründet drittens die hier in Rede stehende Schutzverpflichtung 66 . In der Rechtsprechung des BVerfG spielen dabei insbesondere die allgemeine Ausstrahlungsfunktion und die mittelbare Drittwirkung - so etwa in der Lüth-Entscheidung 67 aus dem Jahre 1958 - bereits relativ früh eine wichtige

61

Zu anderen Begründungsansätzen für die staatliche Schutzpflicht, die sich nicht unmit-

telbar aus den Grundrechtstatbeständen selbst ergeben, sogleich unten c) und d). 62

In diesem Zusammenhang können nur die wesentlichen Gesichtspunkte angesprochen

und bewertet werden. Hinsichtlich der Einzelheiten im Rahmen der Schutzpflichtenthematik muß auf die vertiefenden Arbeiten von Dietlein

und Hermes verwiesen werden.

63

Zu diesem gesonderten Begründungsansatz sogleich unten d).

64

Murswiek,

65

Zum historisch philosophischen Hintergrund der Grundrechte als objektive Grundsatz-

Risiken der Technik, S. 61 ff.; Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 213.

normen und Wertentscheidungen Böckenförde,

Grundrechtsdogmatik, S. 22 ff.

66

Böckenförde,

67

BVerfGE 7, 198. Dort hebt das BVerfG ein Urteil eines Zivilgerichtes wegen Verletzung

Der Staat 29 (1990), 1 (8 ff.).

der Meinungsäußerungsfreiheit auf. In diesem Zivilgerichtsurteil wurde dem Beschwerdeführer

45

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

Rolle. Erst deutlich später widmet man sich der objektiven Schutzverpflichtung. So entscheidet das BVerfG erstmals in der ersten Fristenlösungs-Entscheidung 68 im Jahre 1975, daß unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG die Pflicht zum aktiven staatlichen Schutz menschlichen Lebens resultiere. So plötzlich diese Aussage auch geschieht, so muß doch darauf hingewiesen werden, daß sie auf Grund der Herleitung aus dem objektiven Wertgehalt der Grundrechte durch die bis dato bereits gefestigte Rechtsprechung zur Ausstrahlungs- und Drittwirkungsfunktion zum einen eingehend vorbereitet w a r 6 9 und sich zum anderen parallel auf die gleichzeitig betroffene ausdrückliche Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. G G 7 0 stützt. Auf diese Zusatzabsicherung über Art. 1 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. GG verzichtet das BVerfG erstmals in der Mühlheim-Kärlich-Entscheidung 71 Ende 1979. Die objektive Schutzpflicht wird in der Folgezeit nach 1975 speziell am Lebensrecht - später ebenso am Recht auf körperliche Unversehrtheit - aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG weiterentwickelt. In diesem Zusammenhang haben insbesondere die Schleyer-Entscheidung 72 , beide Kontaktsperre-Entscheidungen 73, die Kalkar- 7 4 , Mülheimuntersagt, dazu aufzurufen, einen bestimmten Film nicht in die Programme aufzunehmen bzw. solche Programme nicht zu besuchen. 68 BVerfGE 39, 1. 69

Isensee, Sicherheit, S. 27.

70

Zur Bedeutung des Art.

1 GG für die Grundrechte im allgemeinen, Dürig,

in:

Maunz/Dürig, Art. 1 GG, Rdnr. 4. Zur spezifischen Bedeutung speziell für die Schutzpflichten Schwabe,

Grundrechtsdogmatik,

S. 229 ff., wonach die staatliche Schutzpflicht

durch

"Anbindung" an Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG auf die jeweiligen Einzelgrundrechte zumindest hinsichtlich des jeweiligen Menschenwürdekerns übertragbar ist. Bezüglich des Restbereiches jenseits des Menschenwürdekems greift Schwabe auf das Rechtsstaatsprinzip zurück. Dazu sogleich unten c) und d). 71

Dazu sogleich unten Fn. 75.

72

BVerfGE 46, 160 (164 f.). Dort wird eine staatliche Schutzpflicht auch anläßlich von

Dritten (hier Terroristen) ausgehenden Lebensbedrohungen (hier zu Lasten des entführten Arbeitgeberpräsidenten Schleyer) grundsätzlich bejaht, eine Verpflichtung zu einer ganz bestimmten Maßnahme (hier Freilassung inhaftierter anderer Terroristen) hingegen verneint. 73

BVerfGE 46, 1 (12) und BVerfGE 49, 24 (53). Dort wird die für inhaftierte Terroristen

geltende Kontaktsperre im doppelhypothetischen Verfahren nach einstweiliger Anordnung wie später audi im Hauptsacheverfahren für gerechtfertigt gehalten, da anderenfalls die Lebensgefahr für den entführten Arbeitgeberpräsidenten Schleyer zu groß sei. Die Schutzpflicht dient dort also der Ermächtigung für einen Grundrechtseingriff gegen Dritte (die inhaftierten Terroristen) und nicht der Begründung eines Anspruchs für die Geisel. 74

BVerfGE 49, 89 (142). Eine gesetzliche Regelung (§ 7 AtomG), die die Erteilung einer

Betriebsgenehmigung für ein Atomkraftwerk auch bei verbleibendem Restrisiko für Leben und körperliche Unversehrtheit der Bevölkerung erlaubt, wird für mit den Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG noch vereinbar gehalten, da es keine absolute technische Sicherheit geben könne.

46

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

Kärlich- 7 5 , Fluglärm- 7 6 , die C-Waffen- 77 und die Aids-Entscheidung 78 einen gewichtigen Stellenwert. In der zweiten Fristenlösungs-Entscheidung aus dem Jahre 1993 greift das BVerfG wiederum hilfsweise auf die Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. GG zurück, ohne sich freilich von der besonderen Bedeutung des objektiv-rechtlichen Wertgehaltes des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ausdrücklich zu distanzieren 79 . Die objektiv-rechtliche Schutzverpflichtung des Staates gilt trotz ihrer soeben dargelegten speziellen Entwicklung aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG für alle grundrechtlichen Schutzbereiche 80, mithin auch für die durch eine militärische Aggression ebenfalls betroffenen Regelungsbereiche, die den Tatbeständen der Artt. 2 Abs. 2 Satz 2, 5 Abs. 1, 4 Abs. 1 und 14 Abs. 1 GG zugrunde liegen. Böckenförde wirft sogar die Frage auf, ob der Schutzpflicht im Verhältnis zu Ausstrahlungsfunktion und Drittwirkung die zentrale Funktion innerhalb der objektiv-rechtlichen Dimension von Grundrechten zukommt 8 1 .

75

BVerfGE 53, 30 (57). Dort wird die Schutzpflicht in einer ansonsten jedoch weitgehen-

den Bestätigung des Kalkarurteils erstmals ganz ohne Verweis auf Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG allein aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG abgeleitet. 76

BVerfGE 56, 54 (80 ff.). Darin werden die bestehenden gesetzlichen Regelungen zum

Schutz gegen Fluglärm auch am objektiv-rechtlichen Maßstab des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gemessen und für verfassungskonform gehalten, da es an einer völligen Unzulänglichkeit zur Verwirklichung des Lärmschutzes und damit an einer evidenten Verletzung der Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG fehle. 77

BVerfGE 77, 170 (214). Trotz Zuerkennung eines grundsätzlichen Schutzanspruches aus

Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auch gegenüber C-Waffen-Lagerungen fremder Staaten in Deutschland wird dieser Anspruch als nicht verletzt angesehen, da sich die Eignung der ergriffenen Schutzmaßnahmen nicht erschüttern läßt. 78

BVerfG NJW 1987, 2287. In einem Kammerbeschluß nimmt das BVerfG eine Verfas-

sungsbeschwerde mangels hinreichender Erfolgsaussichten nach § 93b BVerfGG erst gar nicht zur Entscheidung an. Mit der Verfassungsbeschwerde sollte der Staat zur Eindämmung der Immunschwächekrankheit Aids verpflichtet werden. Exekutive wie Legislative stehe bei der Erfüllung der ihnen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG obliegenden Schutzpflicht jedoch ein weiter Spielraum zur Verfügung. Zu dieser Entscheidung Dirnberger, 79

DVB1. 1992, 879 (880).

BVerfG EuGRZ 1993, 229 (242): "Ihren Grund hat diese Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1

GG, der den Staat ausdrücklich zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet; ihr Gegenstand und - von ihm her - ihr Maß werden durch Art. 2 Abs. 2 GG näher bestimmt". 80

Dietlein,

S. 74; Kunig,

in: von Münch/Kunig, Art. 1 GG, Rdnr. 33; Pieroth/Schlink,

Rdnr. 95. Speziell zu Art. 14 GG: BVerfGE 6, 290. Nach BVerfGE 41, 29 (49) ergibt sich auch die Pflicht des Staates, "Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung ... zu sichern". 81

Böckenförde,

Der Staat 29 (1990), 1 (12).

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

47

(3) Eigene Stellungnahme Als letztlich entscheidendes Kriterium für die Herleitung einer ungeschriebenen grundrechtlichen Schutzpflicht muß auf deren Zielrichtung abgestellt werden, der zu Folge hier, wie soeben ausführlich nachgewiesen wurde, ein staatliches Unterlassen von Schutzmaßnahmen vor von Dritten ausgehenden Beeinträchtigungen verhindert werden soll. Dieses kann jedoch ausschließlich durch ein aktives Tun realisiert werden, das aber niemals aus einer rein negatorisch wirkenden grundrechtlichen Abwehrfünktion resultiert. Bloßes staatliches Nichtstun kann nicht verhindern, daß Dritte in verschiedene Lebensbereiche der Bürger eindringen. Das im Regelfall zur Schutzgewährung vor von Dritten ausgehenden Beeinträchtigungen erforderliche aktive Tun kann daher nicht durch einen lediglich auf ein Unterlassen abzielenden grundrechtlichen Abwehranspruch begründet werden 82 . Hierzu muß vielmehr auf den objektiv-rechtlichen Wertgehalt der jeweils betroffenen Grundrechte abgestellt werden. ccc) Das Verhältnis von Schutzpflichtauslösung und Beeinträchtigungszurechnung - zur NachrüstungsEntscheidung des BVerfG (E 66, 39) Grundsätzlich hängt die Auslösung der staatlichen Schutzverpflichtung auch bei der Herleitung aus dem objektiv-rechtlichen Wertgehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht davon ab, daß den staatlichen Verantwortungsträgern die von Dritten begangenen und nun abzuwehrenden Beeinträchtigungsmaßnahmen in irgendeiner Weise zugerechnet werden können. Ebenso wie bei Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG ist es daher hinreichend, wenn ein fremder Drittstaat den dem Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zugrundeliegenden und dem Schutz des Heimatstaates anvertrauten Regelungsbereich des Lebens beeinträchtigt 83 . Fraglich ist aber, ob diese grundsätzliche Erwägung vor der speziellen Rechtsprechung des BVerfG zum Lebensrecht im Zusammenhang mit militärischen Bedrohungen durch Drittstaaten Bestand haben kann. Hierbei gilt es,

82

Hermes, S. 72 f.

83

Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 2 GG, Rdnr. 55.

48

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

insbesondere die Nachrüstungs-Entscheidung des Zweiten Senates vom 16. 12. 1983 8 4 zu untersuchen. Darin wertet das BVerfG die deutsche Zustimmung zur Stationierung von ausländischen Pershing-II-Raketen auf deutschem Territorium mit der damit verbundenen hypothetischen Gefahr der Provokation eines sowjetischen nuklearen Präventivschlages gegen deutsches Gebiet nicht als Eingriff in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG der deutschen Bevölkerung. Die Entscheidung ist für die hier in Rede stehende Problematik insofern besonders interessant, als sich der Urteilsaufbau an der Rechtsfigur der staatlichen Schutzpflicht zu orientieren scheint. So wird im Zuge der Eingriffsverneinung darauf verwiesen, daß den politischen Oganen bei der Erfüllung der ihnen obliegenden objektiv-rechtlichen Schutzpflicht in Bezug auf die Grundrechte im Bereich der Außen- und Verteidigungspolitik ein entsprechender Gestaltungsspielraum einzuräumen sei 8 5 . Das BVerfG verneint dabei einen von deutscher Staatsgewalt ausgehenden Eingriff unter anderem mangels Zurechenbarkeit etwaiger sowjetischer Präventivschlagfolgen an die deutsche öffentliche Gewalt, da die Entscheidung über einen solchen Präventivschlag von einem souveränen fremden Staat unabhängig vom Willen deutscher Staatsgewalt getroffen werde 86 . Auf den ersten Blick bietet sich wegen der oben herausgearbeiteten Bezugnahme auf die staatliche Schutzpflicht eine Übertragung dieser Grundsätze auf die hier in Rede stehende Problematik mit der Konsequenz an, daß bei militärischen Aggressionen fremder Staaten mangels Zurechenbarkeit ihrer Folgen an deutsche Verantwortungsträger keine staatliche Schutzpflicht ausgelöst werden könnte. Bei genauerer Untersuchung muß die Bezugnahme des BVerfG auf die objektiv-rechtliche Schutzpflicht aber als mißverständlich, wenn nicht gar als überaus unpassend formuliert erscheinen. Vergegenwärtigt man sich die oben beschriebene Ausgangssituation der Nachrüstungs-Entscheidung, dann wird schnell deutlich, daß die Schutzpflicht lediglich zur Rechtfertigung der Stationierung ins Feld gezogen werden kann. Ähnlich wie in den oben beschrie-

84

BVerfGE 66, 39.

83

Das BVerfG äußert sich dabei folgendermaßen: "... es ist nicht Aufgabe des Bundes-

verfassungsgerichts, jenseits rechtlich normierter Vorgaben in diesem Bereich seine Erwägungen an die Stelle der Einschätzungen und Erwägungen der zuständigen politischen Organe des Bundes zu setzen. Dies gilt audi für die Frage, in welcher Weise der objektivrechtlichen Schutzpflicht des Staates in Bezug auf Grundrechte im Bereich der Außen- und der Verteidigungspolitik gegenüber fremden Staaten genügt wird", BVerfGE 66, 39 (61). 86

BVerfGE 66, 39 (62).

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

49

benen Kontaktsperre-Entscheidungen 87 ist es aber gerade nicht die Schutzpflicht, sondern das negatorische Abwehrrecht, auf das sich die Antragsteller 88 berufen haben. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist hier insofern aus Sicht der betroffenen Stationierungsgegner alleine als Abwehrrecht einschlägig, als die unterstellte Bedrohung durch einen sowjetischen Präventivschlag gerade erst durch die aktive Zustimmung zur Stationierung der angeblich provozierend wirkenden Waffen ausgelöst würde. Daher ist die Geltendmachung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG negatorisch auf ein Unterlassen - genauer: auf den Verzicht auf die Stationierungszustimmung - gerichtet. Die Nachrüstungs-Entscheidung betrifft demgemäß eine abwehrrechtliche Konstellation, in der lediglich die mögliche Rechtfertigung des Eingriffs durch die Erfüllung der Schutzpflicht gegenüber der Gesamtheit der Bevölkerung angedeutet wird. Es bleibt insofern aber bei einer Andeutung, da es schon an Ursächlichkeit und Zurechenbarkeit des erst dann zu rechtfertigenden Eingriffs fehlt. Insofern stehen die dort genannten Stellungnahmen zur fehlenden Eingriffszurechenbarkeit der Auslösung einer Schutzpflicht nicht im Wege. Der negatorische Abwehranspruch eines Grundrechts entfaltet zurecht nur dann Wirkung, wenn dem Eingreifenden das maßgebliche aktive Tun Dritter zuzurechnen ist. Anders ist es hingegen bei der Schutzpflicht. Sie ist gerade von der fehlenden Zurechenbarkeit der Eingriffe Dritter abhängig, da anderenfalls - bei einer Zurechnung, die die Maßnahme als Eingriff des Staates selbst erscheinen ließe - automatisch wieder eine abwehrrechtliche Konstellation vorläge, so daß die Schutzpflichtvariante - Art. 1 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. GG sieht sie j a sogar ausdrücklich vor - niemals zur Anwendung kommen könnte, sondern überflüssig wäre. Die ausdrückliche Verankerung einer solchen Schutzverpflichtung in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. GG läßt ein solches Zurechnungserfordernis daher nicht zu. Gleiches muß auch für die ungeschriebenen objektiv-rechtlichen Schutzpflichten aus den anderen Grundrechten gelten. Von der Frage der Zurechenbarkeit einer von Dritten ausgehenden Maßnahme als eigenes aktives Tun ist folglich die Herleitung eines Schutzanspruchs streng zu unterscheiden. Ein solcher Schutzanspruch ergibt sich hier

87

BVerfGE 46, 1 und BVerfGE 49, 24. Zu deren Inhalt und Bedeutung oben in Fn. 73.

88

Der Nachrüstungs-Entscheidung lag ähnlich wie in der ersten Kontaktsperren-Entschei-

dung (BVerfGE 46, 1) ein Antrag auf einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG zugrunde, der hier wegen offensichtlicher Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde als Hauptsacheverfahren - es fehlt an einem Akt deutscher öffentlicher Gewalt - abgelehnt wurde. 4 Fröhler

50

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

aus dem objektiv-rechtlichen Wertgehalt der Grundrechte. Andere Ansätze werden später vorgestellt 89 . Insofern schadet die fehlende Zurechenbarkeit fremdstaatlicher Entscheidungen über eine militärische Aggression der Auslösung einer Schutzpflicht nicht nur nicht, sondern ermöglicht sie erst, da anderenfalls - bei zu bejahender Zurechnung - eine rein abwehrrechtliche Konstellation bestehen würde. Es bleibt daher dabei, daß die staatliche Schutzpflicht auch bei einer von einem souveränen fremden Staat ausgehenden militärischen Aggression ausgelöst wird. Für solche Eingriffe ist es wiederum ausreichend, wenn es zwar noch nicht zu einer vollendeten Verletzung gekommen ist, aber bereits eine hinreichende Gefahrdung im Verletzungsvorfeld besteht 90 . Das BVerfG bezeichnet eine derartige Konstellation als "verletzungsgleiche Beeinträchtigung von Leib und Leben" 9 1 . Präventiver Schutz ist gerade dort entscheidend, wo eine vollendete Verletzung wegen der Irreparabilität des Schutzgutes zu einer "schrecklichen Endgültigkeit" 92 führen würde. Zu solchen Rechtsgütern zählt insbesondere das Lebensrecht. bb) Verhältnis zum Unabänderlichkeitsschutz des Art. 79 Abs. 3 GG Die aus den Artt. 2 Abs. 2 Satz 1, 2 Abs. 2 Satz 2, 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 Satz 1 und 14 Abs. 1 GG resultierenden objektiv-rechtlichen Schutzpflichten gegen eine militärische Aggression eines Drittstaates müßten auch im Sinne des Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlich sein. Ausdrücklich schützt Art. 79 Abs. 3 GG nur die in Art. 1 und Art. 20 GG genannten Grundsätze, während die hier relevanten Grundrechte nicht genannt werden. Die von totalitären Mächten ausgehenden Hinrichtungen, Folter, willkürliche Verhaftung, Unterdrückung der Gewissens- und Meinungs89

Insbesondere zur Verantwortung aus den Grundsätzen des Vertrauensschutzes wegen des

Verbotes der privaten Organisation von militärischen Strukturen unten d). 90

In BVerfGE 49, 89 (141 f.) wird diesbezüglich ausdrücklich klargestellt, daß Grund-

rechtsgefährdungen den Gründrechtsverletzungen gleichzuachten sein können. Ebenso die nachfolgend ergangenen Entscheidungen BVerfGE 51, 324 (346 f.); 53, 30 (48 ff.); 66, 39 (58). Desweiteren Lübbe-Wolff,

S. 56 ff.; Kunig, Jura 1991, 415 (421). Zu den Wahrscheinlichkeits-

anforderungen im Rahmen des Gefährdungstatbestandes unten 2. 91

BVerfGE 66, 39 (59).

92

So Pieroth/SchlinK

Rdnr. 446.

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

51

freiheit sowie Eigentumsbeschränkungen sind jedoch allesamt Ausdruck der Mißachtung des elementaren menschlichen Bedürfnisses zur Selbstentfaltung. Derartige Übergriffe würdigen den betroffenen Menschen zum Objekt der Besetzer herab 93 . Daher ist in diesem Zusammenhang - unabhängig davon, ob man bestimmte Grundrechte grundsätzlich von Art. 1 Abs. 1 GG erfaßt sieht 9 4 - gleichzeitig der konkrete Menschenwürdekern des jeweiligen Schutzbereichs betroffen 95 , so daß sich auch hier jedenfalls die Ewigkeitsgarantie von Art. 1 Abs. 1 Satz 2 und Art. 79 Abs. 3 GG durchsetzt. Gleichzeitig wird auf diese Weise der in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG - bzw. der in den anderen betroffenen Schutzbereichen - vorgesehene Gesetzesvorbehalt überlagert. Soweit ein Grundrechtstatbestand einen Gesetzesvorbehalt beinhaltet, gilt dieser zwar grundsätzlich nicht nur im negatorischen Abwehrbereich, sondern auch im Rahmen der objektiv-rechtlichen Schutzpflichtenfunktion 96 . Dadurch, daß der hier in Rede stehende staatliche Schutzanspruch auch an der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG teilhat, ist er jedoch ausnahmsweise jeder staatlichen Beschränkung entzogen. Dabei kann hier noch 9 7 unentschieden bleiben, ob die Grundrechte eventuell auch jenseits ihres Menschenwürdegehaltes vom Ewigkeitsschutz des Art. 79 Abs. 3 GG erfaßt sind c) Aus dem ureigensten Staatszweck der Erhaltung von Freiheit und Sicherheit Nach der klassischen Dreielementelehre 98 setzt Staatlichkeit neben Staatsgebiet und Staatsvolk insbesondere auch effektive 99 Staatsgewalt voraus, die aus einer in Form von Selbstregierung nach innen und Unabhängigkeit nach

93

Dazu Dürig,

in: Maunz/Dürig, Art. 1 GG, Rdnr. 28 ff. i. V. m. Art. 2 Abs. 2 GG,

Rdnr. 20. 94

Eine umfassende Übersicht über diesen hier nicht relevant werdenden Streitstand gibt

Hermes, S. 140 ff. Die allgemeine Problematik des Verhältnisses von Art. 1 GG zu den nachfolgenden Grundrechten wird bei Geddert-Steinacher, 93

Dazu Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 229.

96

E. Klein, NJW 1989, 1633 (1638).

S. 164 ff. behandelt.

97

Diese Problematik wird erst unten 2. Teil: Β. VI. 2. b) behandelt.

98

Die Dreielementelehre wurde von Jellinek,

Doehring, 99

S. 394 ff. begründet. Einzelheiten dazu bei

Staatslehre, Rdnr. 39 ff. und Herzog, Staatslehre, S. 85.

Das Erfordernis der Effektivität aller drei Staatlichkeitsmerkmale wie dem Merkmal der

Staatsgewalt im besonderen betont Schweitzer, Rdnr. 435. 4*

52

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

außen bestehenden Souveränität resultiert 100 . Ursprüngliche Staatsaufgabe ist daher - wie von der schweizerischen Bundesverfassung in Art. 2 B V sogar ausdrücklich beschrieben 101 - die Gewährung von Schutz nach innen und nach außen 1 0 2 . Die Legitimität des Staates 103 , also die Rechtfertigung dafür, daß sich die einzelnen Individuen überhaupt einem Gemeinwesen unterordnen, liegt zunächst ganz allgemein in der damit verbundenen Erwartung einer nur auf diese Art realisierbaren Existenzgarantie 104 . Staatlichkeit ist mithin kein Selbstzweck, sondern dient dem Schutz seiner Bürger 1 0 5 . Sie wird in Art. 20 Abs. 1 GG durch die Formulierung "Bunde&staat" ausdrücklich 106 genannt, von dem ebenfalls in Art. 20 Abs. 1 GG niedergelegten Grundprinzip der rechtsstaatlichen 107 Demokratie vorausgesetzt 108 und damit dem Ewigkeitsschutz des Art. 79 Abs. 3 GG unterstellt. Staatlichkeit gewährleistet folglich durch die Wahrung der äußeren Souveränität die interne Aufrechterhaltung speziell der durch Art. 79 Abs. 3 GG für unabänderbar erklärten Grundsätze aus Art. 1 und Art. 20 GG, mithin nicht

100

Zur Begründung des Souveränitätsgedankens Bodin, S. 205. Dazu wiederum ausführlich

Zippelius,

Staatslehre, § 9 I I und III. Die weitere Entwicklung des Souveränitätsbegriffes skiz-

ziert Raap, S. 8 ff. Zum Streitstand um den Souveränitätsbegriff nach heutigem Verständnis einerseits Kelsen, in: Wörterbuch des Völkerrechts, Dritter Band, S. 278 (280 ff.), der alleine auf die rein völkerrechtliche Verbindung zwischen mehreren Staaten abstellt, und andererseits K. Ipsen,

Völkerrecht, § 5, Rdnr. 5, der ergänzend die rechtliche Herrschaflsfreiheit

von

anderen Staaten terminologisch für erforderlich hält. 101

Art. 2 BV lautet: "Der Bund hat zum Zweck: Behauptung der Unabhängigkeit des Vater-

landes gegen aussen, Handhabung von Ruhe und Ordnung im Inneren, Schutz der Freiheit und der Rechte der Eidgenossen und Beförderung ihrer gemeinsamen Wohlfahrt". 102

Fleiner-Gerster,

103

Zur Entwicklung der Legitimitätsidee im einzelnen Wü rte nberger, Legitimität, S. 73 ff.

§ 35, Ziffer 1 ff.

104

Doehring,

Staatslehre, Rdnr. 206; Krüger, S. 178 ff.

103

Doehring,

Diplomatischer Schutz, S. 46; Herzog, JR 1969, 441 (443 f.); Süsterhenn, in:

Wehrbeitrag I I / l , S. 260 (261) bringt die These mit der Formulierung auf den Punkt, daß sich der Staat als Staat aufgebe, wenn er nach außen keinen Schutz gewähre. 106

Zwar geschieht dies mittels des Begriffs "Bundesstaat" primär mit der Nuance, die Staat-

lichkeit der Länder gegenüber dem Bund zu sichern - dazu Degenhart,

Rdnr. 561. Ein solcher

Übergriff des Bundes kann aber auch im Unterlassen von Schutzmaßnahmen vor militärischen Aggressionen von Drittstaaten verstanden werden. 107

Trotz fehlender ausdrücklicher Erwähnung der Rechtsstaatlichkeit unmittelbar in Art. 20

GG ergibt sich deren Einbeziehung jedenfalls über die Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG. Dazu Κ Hesse, Grundzüge, Rdnr. 183, der diesbezüglich auf die Formulierung des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG über den Rechtsstaat "im Sinne dieses Grundgesetzes" verweist. 108

Murswiek,

Risiken der Technik, S. 104.

53

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

lediglich das nackte Überleben, sondern vielmehr ein Leben unter freiheitlichdemokratischen und menschenwürdigen Bedingungen. Sobald aber die Souveränität nach außen gegenüber totalitären Staaten verloren geht, droht in Form einer militärischen Aggression zwangsläufig der Verlust dieser rechtsstaatlichdemokratischen Grundstruktur im Inneren. Dies beweisen die historischen Erfahrungen aus dem Verhalten totalitärer Besatzungsmächte 109 wie etwa Deutschlands während des Zweiten Weltkriegs 1 1 0 und der Sowjetunion in der Nachkriegszeit insbesondere gegenüber Ungarn 1 1 1 und der CSSR 1 1 2 . Der Sozialphilosoph Johannes Messner stellt in diesem Zusammenhang fest, daß der "Selbstschutz gegen äußere Angreifer für den Staat die Voraussetzung der Erfüllung der gesellschaftlichen Grundfunktionen" sei, "die seine Natur ausmachen" 1 1 3 . Daher zwingt der durch Art. 20 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG vorgegebene und von Art. 79 Abs. 3 GG für unabänderlich erklärte Staatszweck dazu, die äußere Souveränität dahingehend aufrecht zu erhalten 1 1 4 , daß eine staatsin109

Dazu bereits ausführlich oben b) aa) aaa) in Zusammenhang mit den zahlreichen Men-

schenwürdeverletzungen. 110

Darstellungen über die deutsche Besatzungsherrschaft finden sich bei Grassmann, pas-

sim. 111

Zu den Vorgängen in Ungarn im Jahre 1956 Szebeni, in: Völker klagen an, S. 87 (112).

112

Zu den Ereignissen anläßlich des "Prager Frühlings" im Jahre 1968 Glauber,

in:

Badische Zeitung vom 21.8. 1993, S. 3. 113

Messner, S. 880. Ähnlich Listi, D Ö V 1985, 801 (803).

114

Die hier relevante Problematik beschränkt sich auf die Frage, ob eine ausdrücklich nor-

mierte Wahrnehmung der Wehrhoheit wieder aufgegeben werden darf. 1952 stellte sich in der Diskussion um den Beitritt zur später dann gescheiterten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft genau die umgekehrte Frage, ob nämlich die Bundesrepublik Deutschland die Wehrhoheit nach dem Zweiten Weltkrieg bereits eo ipso innehatte oder erst durch ausdrückliche Grundgesetzänderung begründen müßte. Die Beantwortung dieser Frage erledigte sich schließlich durch die ausdrückliche Ausübung der Wehrhoheit im Wege der Grundgesetzänderung im Jahre 1956 - dazu ausführlich sogleich unten 2. Teil: A. III. 1. c) ee). Bis dahin stritt man darüber, ob die Wehrhoheit - unabhängig von der ebenfalls umstrittenen Auslegung von Art. 4 Abs. 3, Art. 24, Art. 26 und Art. 140 GG i.V.m. Art. 141 W R V - insbesondere von der bestehenden Staatsgewalt bereits vorausgesetzt würde. Das bejahten unter anderem die Bundesregierung, in: Wehrbeitrag II/2, S. 5 (7 ff.), Kaufmann,

in: Wehrbeitrag II/2, S. 786 ff.,

Scheuner, in: Wehrbeitrag II/2, S. 94, Süsterhenn, in: Wehrbeitrag H/1, S. 260 ff. und Thoma, in: Wehrbeitrag H/2, S. 155 (166). Dem widersprach vehement insbesondere Martens,

S. 81 ff.

Eine überschaubare Zusammenfassung dieses Meinungsstreits und der darüber hinausgehenden Frage, ob die Begründung der Wehrhoheit einer spezifischen Legitimation in Form eines Volksentscheides des pouvoir constituant bedurft hätte, findet sich bei Stein, S. 42 ff. Die in diesem Zusammenhang geführte Diskussion ist aber ganz entscheidend von der nur bis zum Jahre 1956 aktuellen Problematik einer entsprechenden Verfassunglücke geprägt und kann

54

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

terne menschenwürdige und freiheitlich-rechtsstaatliche 115 Demokratie nicht durch militärische Aggressionen totalitärer Drittstaaten bedroht wird. Dies kann neben oder an Stelle isolierter eigener Schutzmaßnahmen auch durch den Anschluß an ein aus freiheitlichen Staaten bestehendes kollektives Sicherheitssystem geschehen. Es verbietet jedoch den völligen Verzicht auf wie auch immer ausgestaltete Maßnahmen zum Schutz der für unabänderlich erklärten Grundordnung. Im Gegensatz zu der in den beiden vorangegangenen Unterabschnitten dargestellten individualbezogenen grundrechtlichen Herleitung von staatlichen Schutzpflichten steht hier eine gemeinwohlbezogene Verpflichtung zum Schutze von Gemeinschaftsgütern in Rede 1 1 6 . d) Aus dem Vertrauensschutzprinzip aa) Schutzbereich Gegenüber rein /««erstaalich auftretenden Gefahrdungen durch private Dritte wird eine entsprechende staatliche Schutzpflicht häufig durch den Zusammenhang von rechtsstaatlichem 117 Vertrauensschutzprinzip einerseits und staatlichem Gewaltmonopol andererseits begründet. Dadurch, daß der moderne Staat der Bevölkerung grundsätzlich das Mittel der Selbsthilfe verbietet 1 1 8 und sich selbst das Gewaltmonopol vorbehält, übernimmt er auch die Verantwortung für Sicherheit und Schutz der Bevölkerung 119 und schafft diesbezüglich einen entsprechenden Vertrauenstatbestand. Diese Begründung einer staatlichen Schutzverpflichtung könnte auch auf die Abwehr von außerhalb drohenden militärischen Aggressionen übertragbar

daher für die hier in Frage stehende Unabänderlichkeit der bereits

bestehenden

Wehrho-

heitsnormierung nur am Rande behandelt wer dai. 113

Zur Verknüpfung von Rechtsstaatlichkeit und elementarem Grundrechtsschutz als durch

die Wehrpflicht zu verteidigende Schutzgüter M Winkler , NVwZ 1993, 1151 (1156). 116

Zur Anerkennung solcher Schutzpflichten für Gemeinschaftsgüter Murswiek,

Risiken der

Technik, S. 225 ff. 117

Zur

Herleitung

des

Vertrauensschutzgrundsatzes

aus

dem

Rechtsstaatsprinzip

BVerfGE 30, 392 (403); K. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 185 und 505. Neuerdings greift die Rechtsprechung bezüglich des speziellen, hier aber nicht relevanten Rückwirkungsverbotes auf einen grundrechtlich

begründeten Vertrauensschutz zurück. Dies ist beispielsweise in BVerfGE

76, 220 (244 f.) bezüglich Art. 14 GG geschehen. 118

Dazu Isensee, in: FS für Eichenberger, S. 23 ff.

119

Robbers, S. 192; Murswiek,

Risiken der Technik, S. 104.

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

55

sein. Zwar kann der einzelne Bürger alleine weder technisch noch finanziell eine kollektiv durchgeführte militärische Aggression fremder Staaten verhindern. Dennoch ist die großflächige Organisation einer Privatmiliz, die aus der von einer solchen Aggression ebenfalls bedrohten Privatwirtschaft finanziert werden könnte, durchaus denkbar 1 2 0 . Der Staat übernimmt in dieser Konstellation dadurch die Verantwortung für eine entsprechende Verteidigung, daß er schon im Interesse der innerern Sicherheit und der Erhaltung des internen staatlichen Gewaltmonopols den Aufbau von Privatmilizen mit schwerer Bewaffnung verbietet. Ein solches Verbot, als Privatrechtssubjekt Funktionen von Militär oder Polizei wahrzunehmen, ergibt sich aus der verfassungsrechtlich stillschweigend vorausgesetzten unmittelbaren Friedenspflicht der Einwohner eines Staates 121 . Daher resultiert auch aus dem Vertrauensschutzprinzip, das durch das staatlich auferlegte Selbstverteidigungsverbot aktualisiert wird, die Verpflichtung des Staates, den einzelnen Bürger vor militärischen Aggressionen fremder Staaten zu schützen. Die aus dem Vertrauensschutz hergeleitete staatliche Schutzpflicht müßte auch einer Verfassungsänderung standhalten können. bb) Das Verhältnis zum Unabänderlichkeitsschutz des Art. 79 Abs. 3 GG Diese staatliche Schutzverpflichtung wäre aber nur dann unabänderlich, wenn das rechtsstaatlich begründete Vertrauensschutzprinzip als Grundsatz des Art. 20 GG vom Ewigkeitsschutz des Art. 79 Abs. 3 GG erfaßt wird. Das BVerfG beschränkt diesen Ewigkeitsschutz auf die ausdrücklich in Art. 20 Abs. 2 und 3 GG umschriebenen Einzelprinzipien der Gewaltenteilung, Verfassungsbindung des Gesetzgebers und Rechtsbindung der Judikativen und Exekutiven 1 2 2 . Hierbei wird aber übersehen, daß Art. 20 Abs. 1 und Art. 79 Abs. 3 GG über die Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 GG das gesamte Rechtsstaatsprinzip erfassen 123 . Das ergibt sich wiederum aus 120

Eine vergleichbare Problematik besteht bereits hinsichtlich privater Polizeistrukturen in

den Großstadtzentren. Ein Beispiel wird an Hand der Berliner U-Bahn-" Schutzengel" in der Badischen Zeitung vom 21. 9. 1993, S. 17 erläutert. m 122 123

den.,

Hangartner,

in: FS für Haug, S. 109.

BVerfGE 30, 1 (24 f.). Kunig, S. 68 ff.; von Münch, JuS 1985,329 (333).

Staatsrecht 1, Rdnr. 325; Stern, Staatsrecht I , § 20 Η 3;

56

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

dem ebenfalls von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Bundesstaatsprinzip, das den Ländern bei der Ausgestaltung ihrer Verfassungen weitgehende Freiheit zuerkennt. Das BVerfG betont in diesem Zusammenhang, daß auch "die Gliedstaaten Staatsqualität besitzen", "ihre eigene, von ihnen selbst bestimmte Verfassung besitzen" und "nur ein Mindestmaß an Homogenität der Bundesverfassung und der Landesverfassung" gefordert sei 1 2 4 . M i t diesem Selbstbestimmungsrecht könnte es nicht vereinbart werden, wenn die Länder über Art. 28 Abs. 1 GG an ein Rechtsstaatsprinzip gebunden wären, das nach einer entsprechenden Grundgesetzänderung, die die von Art. 20 Abs. 2 und Abs. 3 GG nicht erfaßten rechtsstaatlichen Gesichtspunkte betrifft, auf Bundesebene keine Geltung mehr hätte. Art. 28 Abs. 1 GG verfolgt vielmehr den ausschließlichen Zweck, für Bund und Länder einen staatsorganisatorisch identischen Verfassungsrahmen vorzugeben und so die bundeststaatliche Einheit sicherzustellen. Die Länder können demnach über Art. 28 Abs. 1 GG niemals an ein der Bundesverfassung fremdes Kriterium gebunden werden. Das in Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG formulierte allgemeine Rechtsstaatsprinzip liegt daher auch Art. 20 Abs. 1 GG zugrunde und kann dort nicht auf die insoweit unvollständigen spezifischen Einzelprinzipien des Art. 20 Abs. 2 und Abs. 3 GG reduziert werden. Folglich gehört auch das gesamte Rechtsstaatsprinzip zum Schutzbereich des Art. 79 Abs. 3 G G 1 2 5 . Als unabänderlich werden diesbezüglich aber bei allen Grundprinzipien des Art. 20 GG grundsätzlich nur deren Kernbestandteile geschützt 126 . Konrad Hesse verweist diesbezüglich auf den inhaltsgleichen Schutzbereich der freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne der Artt. 18, 21 Abs. 2 und 91 Abs. 1 G G 1 2 7 . Dieser Komplex ist vom BVerfG dahingehend konkretisiert worden, daß zumindest Menschenrechte, Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Verantwortlichkeit der Regierung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Unabhängigkeit der Gerichte, Mehrparteiensystem, Chancengleichheit politischer Parteien und das Recht auf Opposition zu schützen seien 1 2 8 . Zwar ist die Aufzählung nicht abschließend, doch fehlt dem dort nicht genannten Vertrauensschutzprinzip die diesen soeben exemplarisch herausgestellten Grundsätzen vergleichbare absolute Bedeutung, um als Kern-

124 125 m

BVerfGE 36, 342 (360 f.). So im Ergebnis auch K. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 705. Bryde, in: von Münch, Art. 79 GG, Rdnr. 42; Schneider,

(354). 127

K. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 706.

12S

BVerfGE 2, 1 (13); 5, 85 (140).

in: FS für Maunz, S. 345

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

57

bestandteil des Rechtsstaatsprinzipes unberührt zu bleiben 1 2 9 . Daher hat die Herleitung der Schutzpflicht aus dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutzprinzip keinen Anteil am Ewigkeitsschutz des Art. 79 Abs. 3 GG. Das Vertrauensschutzprinzip kann hier aber die bereits oben erläuterte objektivrechtliche Schutzpflicht der Grundrechte ergänzend untermauern und vermag insofern zumindest mittelbar an deren aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG resultierender Unabänderlichkeit teilzunehmen. Zusammenfassend ergibt sich daher, daß der Staat aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, aus dem in seinem Menschenwürdegehalt betroffenen objektiv-rechtlichen Wertgehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und aus der in Art. 20 Abs. 1 GG verankerten Staatlichkeit unabänderlich zum Schutz vor militärischen Aggressionen von außerhalb verpflichtet ist. 2. Die maßgebliche Eintrittswahrscheinlichkeit militärischer Aggressionen als Auslöser für eine konkrete unabänderliche staatliche Schutzpflicht - die Entscheidung über das "Ob" von Schutzgewährung

a) Ausgangsproblematik Nachdem soeben abstrakte unabänderliche verfassungsrechtliche Schutzverpflichtungen des Staates herausgearbeitet worden sind, ist nun zu untersuchen, in welchem Entwicklungsstadium einer militärischen Aggression eine solche Schutzpflicht konkret ausgelöst wird. Die aktuelle deutsche Sicherheitslage ist derzeit dadurch gekennzeichnet, daß keine durch einen Drittstaat hervorgerufene militärische Aggression besteht. Deutschland wird momentan weder militärisch angegriffen noch mit militärischer Gewaltanwendung erpreßt. Daher verlagert sich die Problematik auf die Fragestellung, ob statt dessen eine entsprechende Gefahrdung besteht. Bejahendenfalls wäre der Gesetzgeber zu präventiven Maßnahmen verpflich-

129

Dementsprechend wird - soweit ersichtlich - auch von niemandem die Ansicht vertreten,

das Vertrauensschut2prinzip sei dem Unabhängigkeitsgrundsatz des Art. 79 Abs. 3 GG unterstellt. So findet sich insbesondere in den Kommentierungen zu Art. 79 Abs. 3 GG, die die jeweiligen Kembestandteile von Art. 1 und Art. 20 GG benennen, keinerlei Hinweise auf das Vertrauensschutzprinzip . Vgl. dazu etwa die Ausführungen von Bryde, in: von Münch, Art. 79 GG, Rdnr. 43 bis 48 oder bei Maunz/Dürig,

in: Maunz/Dürig, Art. 79 GG, Rdnr. 48.

58

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

tet, die durch Vorverlagerung des Schutzes den Eintritt einer späteren Verletzung verhindern sollen. Hierbei muß insbesondere untersucht werden, welche Eintrittswahrscheinlichkeit eine derartige Aggression erreicht haben muß, um den Staat noch in Friedenszeiten zu entsprechenden Präventivmaßnahmen zu zwingen. b) Allgemeine Kriterien zur Bestimmung der Eintrittswahrscheinlichkeit einer Gefährdung Insofern stellt sich die Aufgabe, eine bestimmte Gefahrenschwelle zu bestimmen, mit deren Erreichen eine präventive Schutzpflicht ausgelöst wird. Die maßgebliche Gefahrenschwelle richtet sich üblicherweise nach Schadenswahrscheinlichkeit, Schadensumfang, Qualität des möglicherweise gefährdeten Rechtsguts und dem Recht des Störers auf freies T u n 1 3 0 . Im Rahmen der Schutzpflicht gegenüber militärischen Aggressionen von Drittstaaten muß jedoch - anders als in innerstaatlichen Konstellationen - auf keinerlei Grundrechtspositionen des Beeinträchtigungsverursachers Rücksicht genommen werden, da letzterer ein nicht grundrechtsfahiger auswärtiger Staat ist. Vielmehr soll das Erfordernis einer bestimmten Gefahrenschwelle hier alleine die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers schützen. Es gilt zu verhindern, dem Gesetzgeber nicht ohne gerechtfertigte Besorgnis um eines der oben genannten Rechtsgüter das Ergreifen irgendwelcher Schutzmaßnahmen aufzubürden. Im hier relevanten Gefahrdungstatbestand ist daher primär auf die beiden Komponenten der Schadenswahrscheinlichkeit und des Schadensumfangs abzustellen. Dabei variiert die erforderliche Schadenswahrscheinlichkeit je nach Bedeutung des zu schützenden Rechtsgutes 131 . Je höherrangig das möglicherweise gefährdete Rechtsgut ist, desto geringere Anforderungen sind an den Wahrscheinlichkeitsgrad des Schadenseintritts zu stellen 1 3 2 . Ob von der zu verhindernden Beeinträchtigung eine überschaubare Anzahl von Einzelperso130

Dietlein,

S. 113; Isensee, Sicherheit, S. 37; Murswiek,

in: Grundrechtsschutz, S. 213

(236). 131

Isensee, Sicherheit, S. 37 f.

132

Zu dieser Je-Desto-Formel BVerfGE 7, 377 (408) - doit: je schwerer der aktive Eingriff,

desto wahrscheinlicher muß die Gefahr sein; Murswiek,

Risiken der Technik, S. 165 ff. Zur pa-

rallelen

und

Problematik

Heckmann/Riggert,

im

Bereich

des

Polizei-

Ordnungsrechts

Wü rte nb erger/

Rdnr. 284 mit umfangreichen Nachweisen zu Literatur und Rechtspre-

chung auf diesem Gebiet.

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

59

nen oder aber weite Teile der Bevölkerung betroffen wären, führt hierbei zu keinem unterschiedlichen Ergebnis, da das Grundgesetz jedenfalls auf den Schutz des einzelnen Individuums abstellt 1 3 3 . Hier sind aus oben genannten Gründen insbesondere mit der Menschenwürde und dem stets irreparablen Lebensrecht zwei elementare Grundrechtspositionen in Frage gestellt. Dieses hat zur Folge, daß die Anforderungen an die Schadenswahrscheinlichkeit relativ gering sind. So genügt in Fällen verletzungsgleicher Gefahrdung besonders wichtiger Rechtsgüter bereits eine entfernte, aber rational faßbare Wahrscheinlichkeit des Verletzungseintritts 134 . Hierbei müssen eventuelle internationale Hilfestellungen und Bündnisbeistandsleistungen anderer Staaten außer Betracht bleiben, da die Bundesrepublik Deutschland keinen Drittschutz in Anspruch nehmen kann, wenn sie selbst zuvor die gegenseitige militärische Solidarität durch die vollständige Auflösung der eigenen Streitkräfte bewußt aufgekündigt hat. Der Verzicht auf jedwede Streitkräftestruktur käme unweigerlich der - gegebenenfalls unzulässigen, aber faktisch wirksamen - fristlosen Kündigung des Brüsseler-Vertrages und des Nordatlantik-Vertrages gleich, die beide als Militärbündnisse zumindest die grundsätzliche Bereitschaft zur militärischen Verteidigung voraussetz e n 1 3 5 . Hilfen seitens der Vereinten Nationen müssen angesichts der verhehrenden Erfahrungen im Balkankonflikt mehr als unsicher gelten. Zur Zeit bestehen keinerlei konkrete Anhaltspunkte dafür, daß speziell die Bundesrepublik Deutschland im Falle fehlender militärischer Bewaffnung Opfer einer militärischen Drittstaatenaggression werden könnte. So werden - anders als etwa vor dem irakisch-kuwaitischen Konflikt 1990 - von keinem Staat Gebietsansprüche geltend gemacht. Sämtliche europäischen Nachbarstaaten achten vielmehr die Menschenrechte und das völkerrechtliche Selbstbestimmungsrecht und bekennen sich ausdrücklich zu diesen Werten. Insofern scheint sich die Bedrohung durch militärische Aggressionen auf ein tenden-

133

Murswiek,

134

BVerfGE 49, 89 (142); 53, 30 (57). In BVerfGE 51, 324 (346 ff.) wird der erforderliche

Risiken der Technik, S. 154 ff.

Wahrscheinlichkeitsgrad je nach Eigenheit des entsprechenden Falls in den Bereich zwischen bloßer Möglichkeit und Sicherheit des Schadenseintritts angesiedelt. BVerfGE 77, 170 (220) enthält den Hinweis, daß es diesbezüglich keinen abschließenden Maßstab gebe. Ebenfalls lediglich eine entfernte Wahrscheinlichkeit voraussetzend Lorenz, in: HStR VI, § 128, Rdnr. 31; Rauschning, 133

VVDStRL 38 (1980), 167 (191).

Zu beiden Vertragswerken einschließlich der daraus resultierenden völkerrechtlichen

Beistandspflichten ausfuhrlich unten Β. H. 4. und 5.

60

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

ziell unbeachtliches minimales Restrisiko zu verkleinern 136 . Die Gefahrdung durch militärische Aggressionen weist aber im Gegensatz zu anderen Sachverhalten spezifische Besonderheiten auf, die bei der Bestimmung der maßgeblichen Eintrittswahrscheinlichkeit mitberücksichtigt werden müssen. c) Spezielle Gefährdungskriterien

bei

militärischen Aggressionen Im Rahmen der speziellen Gefährdungskriterien bei militärischen Aggressionen sind insbesondere zwei Gesichtspunkte zu beachten. Zum einen benötigen außenpolitische Maßnahmen zum präventiven Schutz vor militärischen Aggressionen eine langwierige Vorlaufphase. Dies gilt sowohl für die Herstellung spezieller diplomatischer Verbindungen und Beziehungsgeflechte als auch für den Aufbau von Streitkräften, der insbesondere Strategieentwicklungen, Materialerprobung, Materialanschaffung und Personalaufbau erfordert. Für derartige Maßnahmen sind mehrjährige, für den langwierigen Aufbau von Reserveeinheiten, die neben den aktiven Einheiten einen ganz entscheidenden Beitrag zur militärischen Landesverteidigung leisten 1 3 7 , gar jahrzehntelange Vorlaufphasen erforderlich 138 . So dauerte es nach der Einführung der Wehrpflicht im Jahre 1956 noch sechs Jahre, bis im Jahre 1962 mit 250.000 Mann im Heer, 92.000 Mann in der Luftwaffe und 28.000 Mann bei der Marine ein erstes einsatzfahiges aktives Militärkontingent zur Verfügung stand 1 3 9 . Angesichts der langwierigen Entwicklungsphase für militärisches Gerät war man noch lange Zeit auf Verteidigungs-Hilfe-Abkommen mit den Verbündeten angewiesen 140 . Würde nun für die Konkretisierung der Schutzpflicht gefordert, daß bereits deutliche Anzeichen für eine bevorstehende Aggression vorliegen, dann kämen sämtliche Schutzmaßnahmen im Falle des Krisenausbruchs zu spät. Insofern muß es ausreichen, wenn sich die entfernte Wahrscheinlichkeit einer militärischen Aggression darin manifestiert, daß eine Vielzahl von totalitären Staaten

136

Zur Diskussion um die mögliche Relevanz eines Restrisikos Isensee, Sicherheit, S. 41 f.,

dem zu Folge Restrisiken unbeachtlich seien. Dem widerspricht Hermes, S. 237 f. 137 138

BMVg, Weißbuch 1985, Ziffer 553, und Weißbuch 1994, Ziffer 681. Ähnlich andeutungsweise M Winkler, NVwZ 1993, 1151 (1156), der von dem Erfor-

dernis einer Verteidigungsbereitschaft "in angemessener Zeit" für den Fall einer tatsächlich auftretenden Bedrohung spricht. 139

Militärgeschichtliches Forschungsamt, Verteidigung, S. 137, 143 und 148.

140

Militärgeschichtliches Forschungsamt, Verteidigung, S. 138.

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

61

mit einer Bewaffnung existieren, die die Bundesrepublik Deutschland technisch zu bedrohen in der Lage sind, daß diese Staaten ein Motiv für eine solche Aggression entwickeln können und sich der dadurch ergebene Befund auf Grund historischer Erfahrungen aus vergleichbaren Situationen zu erhärten vermag. Zum zweiten ist zu beachten, daß die zu schützende staatliche Gestaltungsfreiheit insofern erhalten bleibt, als die konkreten Entscheidungen über Strategie, Art und Umfang der Bewaffung im militärischen Bereich und über den konkreten Einsatz der Mittel im Krisenfall nachwievor dem politisch verantwortlichen Entscheidungsträger überlassen werden. Aufgabe der hier in Rede stehenden Untersuchung ist es lediglich, über die staatliche Verpflichtung zu befinden, überhaupt in irgendeiner wie auch immer ausgestalteten Weise Schutz vor militärischen Agressionen zu gewähren. Einer solchen Gefahrdungsdefinition könnte nun der Vorwurf entgegengehalten werden, die zu bestimmenden Risikoquellen seien einer zuverlässigen Analyse gar nicht zugänglich. In der Tat fordert das BVerfG in seiner Nachrüstungs-Entscheidung für die Bejahung der Eingriffsqualität von Grundrechtsgefahrdungen, daß die Untersuchung der Eintrittswahrscheinlichkeit einer Gefahr auf nicht völlig unbestimmten Annahmen basieren dürfe 1 4 1 . Vielmehr seien verläßliche Verfahren erforderlich. Darüber hinaus wird die möglicherweise auch für die hier in Rede stehende Problematik interessante Feststellung getroffen, die Gefahrdungsschwelle entziehe sich der richterlichen Kontrolle, wenn sie auf der Entscheidung eines fremden souveränen Staates vor dem Hintergrund der weltpolitischen Gesamtlage und sich wandelnder politischer Verhältnisse beruhe 1 4 2 . Die dort behandelte ganz spezielle Materie - ob sich die damalige Sowjetunion durch die Stationierung von US-Raketen in Deutschland zu einem nuklearen Präventivschlag herausgefordert fühle - kann aber mit der hiesigen, allgemeingültigen militärischen Situation nicht gleichgesetzt werden. Hier kann für die Feststellung einer allgemeinen Bereitschaft totalitärer Staaten zu militärischen Aggressionen gegen schwächere Staaten auf historische Erfahrungen zurückgegriffen werden 1 4 3 . Dieses ist in der Nachrüstungs-Entscheidung gerade nicht möglich, da es einen durch die Aufstellung von atomaren Waffen provozierten präventiven Nuklearschlag bisher noch 141

BVerfGE 66, 39 (59).

142

BVerfGE 66, 39 (59). Eine ähnliche Feststellung enthält bereits die Fluglärm-Entschei-

dung in BVerfGE 56, 54 (82), worin auf die internationale Verflechtung des Flugverkehrs abgestellt wird. 143

Dazu sogleich d).

62

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

nicht gegeben hat. Dort steht anders als hier eine bisher noch nicht vorgekommene militärische Einzelfrage in Rede. Hier gilt es dagegen, die ganz allgemeine und bereits vielfach erforschte Frage zu klären, ob ein bewaffneter totalitärer Staat im Falle eines entsprechenden Motives einen schwächeren Staat anzugreifen oder zu erpressen bereit ist. Darüber hinaus ist die NachrüstungsEntscheidung aus oben genannten Gründen im Lichte der spezifisch abwehrrechtlichen Zurechnungsproblematik zu sehen 1 4 4 und daher nicht ohne weiteres auf die hier maßgebliche anders gelagerte Schutzpflichtenkonstellation übertragbar. Insofern muß es nachwievor ausreichen, wenn sich die entfernte Wahrscheinlichkeit einer militärischen Aggression darin manifestiert, daß eine Vielzahl von totalitären Staaten mit einer Bewaffnung existieren, die technisch dazu in der Lage sind, die Bundesrepublik Deutschland zu bedrohen, daß diese Staaten ein Motiv für eine solche Aggression entwickeln können und sich der dadurch ergebende Befund auf Grund historischer Erfahrungen aus vergleichbaren Situationen zu erhärten vermag. d) Subsumtion aa) Allgemeine Ausgangsüberlegungen Angesichts des technischen Fortschritts in der Rüstungsindustrie ist es möglich, mit Hilfe von Artillerie, Raketenträgern und Flugzeugen verschiedenartigste Munition auch aus großer Entfernung ins Ziel zu bringen. Die dabei realisierbaren Reichweiten lassen es zu, ein beliebiges Land, also auch europäische Staaten und die Bundesrepublik Deutschland, von jedem Punkt der Erde militärisch zu bedrohen. Hieran wird deutlich, daß der Kreis der in Betracht kommenden militärischen Aggressoren nicht auf die unmittelbare Nachbarschaft der Bundesrepublik Deutschland reduziert werden kann. Vielmehr sind grundsätzlich alle totalitär geführten, die Menschenrechte verachtende Drittstaaten - seien sie auch weit von deutschem Hoheitsgebiet entfernt als potentielle militärische Aggressoren zu beachten. An dieser Stelle sei aber mit besonderem Nachdruck darauf hingewiesen, daß in der nachfolgenden Analyse keine Feindbilder aufgezeigt werden sollen und können. Wie oben bereits ausgeführt wurde, bestehen zur Zeit keine

144

Zum abwehrrechtlichen Aufbau der Nachrüstungs-Entscheidung ausführlich oben 1. b)

aa) ccc).

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

63

Anhaltspunkte für eine unmittelbar bevorstehende militärische Aggression. Alleine wegen der langjährigen Vorlaufzeit für präventive Schutzmaßnahmen müssen aber auch bereits jetzt angelegte Gefähidungßpotentiale,

die jederzeit

in tatsächliche Gefahrdungen umspringen können, analysiert werden. Das heißt jedoch nicht, daß den in diesem Zusammenhang genannten Staaten nach deren aktueller außenpolitischer Grundeinstellung feindliche Absichten gegen die Bundesrepublik Deutschland unterstellt werden. Vielmehr ist der Frage nachzugehen, ob von der Möglichkeit

der Entstehung einer künftigen

miltärischen Bedrohung auszugehen ist. Als eventuelles militärisches Aggjessionspotential ist exemplarisch insbesondere die Lage im Nahen Osten (bb) und in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion (cc) zu untersuchen. bb) Die Lage im Nahen Osten Zum einen könnten sich totalitäre Staaten des Nahen Ostens, wie beispielsweise Lybien, Syrien, der Irak und der Iran zu potentiellen militärischen Aggressoren entwickeln 1 4 5 . Alle diese Staaten haben sich mit Waffen der oben beschriebenen Reichweite und Wirkung ausgerüstet. Nach der erfolgreichen Anwerbung zahlreicher ehemaliger sowjetischer Atomfachleute wird auch an der Entwicklung atomarer Bewaffnung gearbeitet 146 . Lediglich der Irak ist durch den im Jahre 1991 verlorenen Zweiten Golfkrieg 1 4 7 rüstungstechnisch zurückgeworfen worden. Als Motiv für eine militärische Aggression gegen einen westeuropäischen Staat kommen insbesondere zwei Gesichtspunkte in Betracht. Zum einen könnte sich religiöser Fanatismus durchsetzen. Todesurteile und Morddrohungen, die bereits in mehrfachen Fällen gegen islamkritische Schriftsteller und Publizisten ausgesprochen wurden 1 4 8 , könnten schnell auf 145

Zu den massiven Menschenrechtsverletzungen in diesen Staaten schildert Amnesty

International, S. 466 ff., 471 ff., 499 ff., 510 ff. 146

Speziell zu den iranischen Angeboten an Nuklear expert en der ehemaligen Sowjetunion

sowie den westlichen Bemühungen, diese Experten durch lukrative Unterstützungen in der Heimat zu halten oder in den Westen abzuwerben, Diehl, S. 28 ff., der erst in der Verbindung derartiger Expertenanwerbungen mit einem entsprechenden Technologie- und Rohstoffverkauf eine emstzunehmende Gefahr für die internationale Sicherheit erblickt. 147

Dazu insbesondere unter dem Gesichtspunkt der personellen Verluste ausführlich unten

2. Teil: Β. ΙΠ. 4. b) bb). 148

A m 14. 2. 1989 rief Ayatollah Ruhollah Chomeini in Form eines Fatwa (Gottesurteil)

alle Muslime dazu auf, Salman Rushdie und eventuelle Verleger seines Buches "Die Satani-

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

eine ganze Nation ausgedehnt werden, wenn beispielsweise politische Repräsentanten nicht nur derartige Verurteilungen kritisieren, sondern darüber hinaus auch den Inhalt der verbotenen Schriften ausdrücklich unterstützen würden. In diesem Zusammenhang spielt auch die sogenannte "arabo-islamische Verschwörungstheorie" insofern eine entscheidende Rolle, als die westlichen Staaten bereits in den Schulen als Verursacher der Rückständigkeit der arabisch-islamischen Länder angeprangert und verteufelt werden 1 4 9 . Vor diesem Hintergrund wäre es leicht verständlich, daß eine militärische Aggression dazu dienen könnte, den aufgestauten Haßgefühlen gegen die westliche Welt freien Lauf zu lassen. Zum zweiten nehmen im Nahen Osten angesichts des dramatischen Wassermangels materielle Beschaffungszwänge zur Sicherung der elementaren Lebensgrundlagen zu. Langfristig wird es nicht möglich sein, die erforderlichen Nahrungsmittel in der eigenen Region anzubauen. Verbietet die oben dargelegte religiöse Grundeinstellung jedoch entsprechend umfassende Handelsbeziehungen mit andersgläubigen westlichen Staaten, dann könnte zusätzlich auch ein materielles Motiv für einen erpresserischen Zugriff auf die Reichtümer eines wirtschaftlich starken westlichen Agrar- und Industriestaates entstehen. Es ist daher nicht auszuschließen, daß sich ein für eine militärische Aggression hinreichendes Motivbündels ideeller wie materieller Art bildet. In der jüngsten Vergangenheit haben sich bereits beide Motivstränge realisiert. So wurde beispielsweise der Staat Israel während des Kuwait-Konfliktes im Jahre 1991 - ohne Kriegspartei gewesen zu sein - durch den Irak aus ideologisch reschen Verse" zu ermorden; dazu Trautner,

in: Konflikte, Band 2, S. 179. Mit dem Schicksal

Rushdies ist auch die in der Öffentlichkeit weniger bekannte Situation des türkischen Satirikers Aziz Nessin eng verknüpft, der seinerseits Rushdies "Satanische Verse" in einer türkischen Zeitung publiziert hatte. Auf Nessin wurde von einer in Deutschland ansässigen privaten türkischen Organisation, die die Türkei in einen undemokratischen fundamentalistischen Gottesstaat umgestalten möchte, ein Kopfgeld ausgesetzt. Ein ausführlicher Hintergrundbericht über diese Organisation findet sich bei Schmalenberg,

in: Die Zeit vom 5. 11. 1993, S. 18. Darüber hinaus

muß auf das Schicksal der aus Bangladesch st ammendai islamkritischen Schriftstellerin Τ a slima

Nasreen

hingewiesen

werden,

deren

öffentliche

Hinrichtung

seitens

starker

fundamantaler islamischer Kräfte nachdrücklich und unter Androhung von Terrorakten gefordert wird; dazu ausführlich Venzky, in: Badische Zeitung vom 22. 7. 1994, S. 8. Ein umfassender Gesamtüberblick über Autorenverfolgungen in zahlreichen Islam-Staaten fhdet sich in der Badischen Zeitung vom 4. 8. 1994, S. 9. Darin wird insbesondere darauf hingewiesen, daß alleine im Irak 60 Schriftsteller und im Iran seit 1979 48 Autoren wegen islamkritischer Äußerungen hingerichtet worden sind. 149

Dazu ausführlich Tibi, passim. Dazu wiederum FAZ vom 3. 9. 1993, S. 12.

6

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

ligiösen Gründen zunächst ausdrücklich militärisch erpreßt und anschließend tatsächlich durch Raketenbeschuß angegriffen 150 , obschon Israel und der Irak keine Nachbarstaaten sind. Im gleichen Konflikt zeigte sich, daß derartige Gefahren nicht auf den Orient begrenzt sind, sondern - so wurde es etwa an Hand der Gewaltandrohung des Irak gegenüber der T ü r k e i 1 5 1 deutlich - auch Europa erfassen können. Als Primärziel dieses Konfliktes griff der Irak am 2. 8. 1990 aus rein materiellen Gründen auf die ergiebigen kuwaitischen Ölfelder zu, um die eigene aus den Folgelasten des Iran-Irak-Krieges hervorgegangene Finanzkrise zu bewältigen 152 . Politische Grundeinstellung, militärische Ausrüstung, denkbare Motive und insbesondere die diesbezüglichen historischen Erfahrungen verdeutlichen die langfristige Möglichkeit einer militärischen Aggression durch einen totalitären Staat aus dem Nahen Osten. cc) Die Lage in der früheren Sowjetunion Zum anderen müssen die Staaten Osteuropas, die bis Anfang der neunziger Jahre die ehemalige Sowjetunion bildeten, je nach ihrer innenpolitischen Entwicklung als potentielle Aggressoren in Betracht gezogen werden. Diese Staaten - insbesondere die Russische Republik - bekennen sich derzeit zwar allesamt zur Achtung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts aller Völker und beginnen mittlerweile auch damit, diese Bekenntnisse in die Realität umzusetzen 153 . Die innenpolitische Lage muß jedoch als außeror-

130

Die Bilanz der insgesamt dreiunddreißig konventionellen Scud-B-Raketenangriffe weist

dreizehn Tote (ein direkt getöteter und zwölf indirekt durch Herzversagen umgekommene Israelis), zweihundert Verletzte und etwa siebentausendfünfhundert Gebäudebeschädigungen auf, Archiv der Gegenwart 1991, 35333 A 1 d (35336) bzw. 35486 Β 1 unter Bezugnahme auf Angaben der Jerusalem Post vom 1. 3. 1991. 131

Vgl. dazu das Schreiben des irakischen Außenministers Aziz an seinen türkischen Amts-

kollegen, worin er der Türkei wegen der Duldung der Flugplatznutzung in Incirlik durch USMilitärflugzeuge indirekt drohte, Archiv der Gegenwart 1991, 35333 A 4 (35342). In diesem Zusammenhang ist desweiteren die Massenflucht aus der türkischen Stadt Mardin aus Furcht vor einem irakischen Angriff zu beachten. Dazu N Z Z vom 29. 1. 1991, S. 3. 132

Der Irak hatte nach dem Golfkrieg gegen den Iran (1980-1988) 45 Mrd. S Auslands-

schulden und einen hohen wirtschaftlichen Wiederaufbaubedarf. Dazu Trautner,

in: Konflikte,

Band 2, S. 84 (90). 133

So hinsichtlich der Menschenrechte bereits andeutungsweise im Jahre 1987 die ehema-

lige Sowjetunion. Dazu ausführlich Amnesty International, S. 447 ff. Dennoch dauerten aber auch nach 1987 Menschenrechtsverletzungen fort, was insbesondere Brandt,

S. 84 betont. Hin-

sichtlich der Tolerierung des Selbstbestimmungsrechts der Völker muß daraufhingewiesen wer5 Fröhler

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

dentlich instabil bewertet werden. So erscheint es durchaus möglich, daß sich in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion links- wie rechtsextremistische K r ä f t e 1 5 4

durchsetzen könnten. Derartige Gruppierungen gewinnen

derzeit bereits innenpolitisch an Boden 1 5 5 und bekennen sich offen zur alten militärischen Stärke der früheren Sowjetunion 156 . Eine solche Gefahr kann sich einerseits insbesondere im Falle geringer Wahlbeteiligung auf demokratischem W e g 1 5 7 , andererseits aber angesichts ideologischer Perspektivlosigkeit und sozialen Abstiegs auch durch einen militärischen Putsch realisieren 158 . Eine derartige Entwicklung kann spätestens seit den russischen Parlamentswahlen vom Dezember 1993 nicht mehr ausgeschlossen werden. Dort errang der extrem-konservative Abgeordnete Schirinowskij einen dramatischen Erfolg und führte seine Partei als den, daß Rußland nach zwischenzeitigem Zögern - dazu sogleich unten - am 3 1 . 8 . 1993 seine Truppen aus Litauen abgezogen hat. Dazu Badische Zeitung vom 31.8. 1993, S. 2. 134

Als

für

die

bestehende

Ordnung

besonders

gefahrlich

gilt

die

sogenannte

"Nationalkommunistische Front" - eine Zweckvereinigung beider extremen Lager. 153

Vgl. dazu etwa dai dramatischen Machtkampf zwischen Präsident und Parlament in

Rußland zwischen September und Oktober 1993. Dazu Schmidt-Häuer,

in: Die Zeit vom 24. 9.

1993, S. 3; ders., in: Die Zeit vom 1. 10. 1993, S. 7; Sommer, in: Die Zeit vom 24. 9. 1993, S. 1. Eine Chronik des Machtkampfes in Moskau bis September 1993 findet sich in der Badischen Zeitung vom 23. 9. 1993, S. 3. Zum Wiedererstarken der Kommunisten in Osteuropa Gleissner-Bartholdi,

in: Badischen Zeitung vom 23. 9. 1993, S. 4. Zu den Erfolgen der

Sozialisten bei den Parlamentswahlen 1993 in Polen Hirsch,

in: Die Zeit vom 24. 9. 1993,

S. 10. 136

Der rechtsextreme Nationalist Schirinowskij, der bei dai Präsidentschaftswahlen im

Jahre 1991 6 Mio. Stimmen erhielt und seine Partei bei den Parlamentswahlen zur zweitstärksten Fraktion machte, kündigte an, nach einer eventuellen Machterlangung mit russischen Truppen in Afghanistan einzumarschieren, die östlichen Teile der Ukraine und die nördlichen Gebiete Kasachstans zu besetzen, Finnland zu "patronisieren"und Moldova sowie die baltischen Staaten auf die "Größe von Liechtenstein" zu reduzieren. Dazu die Nachweise von Diehl, Thielbeer,

S. 6.

in: FAZ vom 30. 8. 1993, S. 5 zitiert einige russische Kommandeure zu ihrer Ein-

stellung in Bezug auf Litauen, wonach die russischen Soldaten notfalls "innerhalb von Stunden zurück sein können". Zur Besorgnis Polens über den Machtkampf innerhalb Rußlands von September 1993 Badische Zeitung vom 23. 9. 1993, S. 5. 137

So die Einschätzung von Diehl,

S. 6, der aber im Gegenzug auch darauf hinweist, daß

das Scheitern des Putsches im August 1991 umgekehrt auf eine gewisse demokratische Stabilität hindeutet (S. 7). Angesichts eines sich insbesondere innenpolitisch rasant ausdehnenden Chaos sei jedoch innerhalb der russischen Bevölkerung der Wunsch nach einer "starken Hand" (S. 8) nicht auszuschließen. 138

Diehl, S. 48 f. verweist hinsichtlich der Gefahr einzelner putschi er ender militärischer Be-

fehlshaber auf historische Parallelen zu den nach der russischen Revolution von 1917 gegen die "Bolschewiken" legitimationslos kämpfenden "weißen" Generäle und auf ähnliche Zustände in China zwischen den beiden Weltkriegen.

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

zweitstärkste Fraktion in das neue russische Parlament. Schirinowski drohte anläßlich eines von deutscher Seite erteilten Einreiseverbotes offen mit Deutschlands "kompletter Zerstörung" im Wege eines Dritten Weltkrieges 159 . In einem anderen Zusammenhang kündigte er die Neuordnung Osteuropas an und bezog sich dabei insbesondere auf eine erneute Teilung Polens, die territoriale Ausdehnung Bulgariens nach Mazedonien und Thrakien 1 6 0 und die Ausdehnung Rußlands auf das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion in den Grenzen von 1975 unter zusätzlicher Einbeziehung Finnlands und Alskas 1 6 1 . Die Gefahr eines Militärputsches manifestierte sich anläßlich des offenen Moskauer Machtkampfes im Herbst 1993. Den Präsidententruppen Jelzins gelang es erst nach zehnstündigem Panzerbeschuß, das von Gegenpräsident Ruzkoy besetzte Parlamentsgebäude zu räumen und den Aufstand der demokratiefeindlichen Kräfte niederzuschlagen. Zuvor konnten die Aufständischen sogar das Moskauer Rathaus und die Fernsehzentrale stürmen 1 6 2 . In diesem Zusammenhang lassen sich auch die Verzögerungen des Truppenabzugs aus dem Baltikum - insbesondere aus Litauen - im August 1993 mit dem immensen innenpolitischen Einfluß der extremen Parteien erklären, wobei selbst den demokratisch-reformerisch gesinnten Kräften nachgesagt wird, sie seien für diese Entwicklung aus Enttäuschung über ein angebliches Zurückdrängen Rußlands in die asiatische Welt beteiligt gewesen 163 . Abzuwarten bleibt auch, wie der russische Einmarsch im Dezember 1994 in Tschetschenien zu bewerten sein w i r d 1 6 4 . So schnell sich die innenpolitische Umgestaltung im freiheitlich-demokratischen Sinne vollzogen hat, so kurzfristig besteht auch die Möglichkeit eines Rückfalls in die früheren totalitären Strukturen, die in der ehemaligen Sowjetunion durch massive Menschenrechtsverletzungen gekennzeichnet waren 1 6 5 .

139

Badische Zeitung vom 3. 1. 1994, S. 1.

160

Schleicher,

161

Bertram, in: Die Zeit vom 17. 12. 1993, S. 1.

162

Die Vorgänge im Zusammenhang mit dem Putschversuch Ruskoys werden in einer chro-

in: Badische Zeitung vom 28. 12. 1993, S. 6.

nologischen Übersicht in der Badischen Zeitung vom 5. 10. 1993, S. 5 skizziert. Die Hintergründe und zukünftigen Perspektiven bewertet Schmidt-Häuer,

in: Die Zeit vom 8. 10. 1993,

S. 3. Zur zögerlichen Haltung des russischen Militärs in diesem Konflikt Badische Zeitung vom 13. 11. 1993, S. 6. 163 164 163

Thielbeer, in: FAZ vom 30. 8. 1993, S. 5. Dazu Schmidt-Häuer, in: Die Zeit vom 23. 12. 1994, S. 3. Zur Bedeutung der Folter in der ehemaligen Sowjetunion Koch/Oltmanns,

277. Speziell zur Beeinträchtigung des Lebensrechts Hübner, für ostwissenschaftliche und internationale Studien, S. 53 ff. 5*

S. 138 ff. und

in: Berichte des Bundesinstituts

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

Das militärische Potential der Nachfolgestaaten ist von unverändert hoher Qualität und angesichts ständigen Ausbaus auch von erheblichem Umfang. Der größte Teil der konventionellen Bewaffnung ging nach Untergang der Sowjetunion auf die Russische Republik über. Neben den russischen Streitkräften hat nach allgemeiner Einschätzung nur die ukrainische Armee eine weltsicherheitspolitische Bedeutung 166 . Die strategischen 167 Atomwaffen der ehemaligen Sowjetunion verteilen sich zu 72 % auf Rußland, 14 % auf die Ukraine 1 6 8 , 13 % auf Kasachstan und zu 5 % auf Weißrußland/Belarus 169 , während sich die früher über die ganze ehemalige Sowjetunion verstreut gewesenen 14.000 taktischen Atomsprengköpfe mittlerweile vollständig auf russischem Gebiet befinden 170 . Konzentriert man die hier in Rede stehende Analyse möglicher Gefahrenpotentiale alleine auf Rußland, dann erscheint nicht nur das Raketenpotential, sondern auch die konventionelle Bewaffnung zu Land, zu Wasser und in der Luft von erheblicher Relevanz zu sein. Dies gilt in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland um so mehr, als über den Seeweg ein direkter Zugang sowie über den Landweg durch derzeit schwach bewaffnete östliche Nachbarstaat e n 1 7 1 ein indirekter Übergriff auf deutsches Gebiet möglich wäre. Besteht insofern ein ausreichendes militärisches Potential, so müßten im Falle eines totalitären Umsturzes auch entsprechende Motive für eine militärische Aggression denkbar sein. Derartige Motive sind den aktuellen poltischen 166

Diehl, S. 42.

167

Strategische

Waffen richten sich gegen Waffen, Wirtschaftsgüter und Bauten des Geg-

ners, sollen bereits dessen Fähigkeit zur Kriegsführung verhindern und haben große Reichweiten; im Gegensatz dazu werden die taktischen

Waffen direkt im Kampf gegen die feindlichen

Streitkräfte eingesetzt. 168

Vgl. zum möglichen Verzicht der Ukraine auf ihre Atomwaffen samt Verkauf der

Schwarzmeerflotte an Rußland die Berichte in der Badischen Zeitung vom 4. 9. 1993, S. 1 und 4 einerseits und vom 6. 9. 1993, S. 2 andererseits. 169

Vgl. zur Verteilung der strategischen Atomwaffen und zur Unterzeichnung des Zusatz-

protokolls zum START-Vertrag von 1991 zwischen diesai vier Nachfolgestaaten und den USA im M a i 1992 in Lissabon Diehl, S. 19. 170

Diehl, S. 19 f.

171

Nach der nPetersberg-Erklärung" des Ministerrats der W E U vom 19. 6. 1992 sollen Po-

len, Ungarn und die damalige Tschechoslowakei schrittweise in den europäischen Sicherheitsprozeß eingeliedert werden. Ein NATO-Beitritt Polais wurde erst Anfang September 1993 insbesondere von US-amerikanischer Seite für derzeit noch unerwünscht bezeichnet. Dazu Badische Zeitung vom 4. 9. 1993, S. 5. Zu den vorausgegangenen unterstützenden Bemühungen Norwegens und Deutschlands Badische Zeitung vom 1. 9. 1993, S. 2. Zu Deutschlands Bemühungen fur eine baldige Aufnahme der Visegrad-Staaten (Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei und Ungarn) in die N A T O vgl. FAZ vom 8. 9. 1993, S. 2.

6

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

Verantwortungsträgern insbesondere innerhalb der Russischen Republik zweifelsohne fremd. Maßgeblicher Anknüpfungspunkt sind von daher ausschließlich die - wie oben bereits dargelegt - innenpolitisch erstarkten extremistischen Kräfte, die zu einer Wiedereinführung totalitärer Strukturen in der Lage sein könnten. Für eine militärische Aggression sind unter solchen Extremisten sowohl ideologische als auch materielle Motive vorstellbar. In Anknüpfung an die bis Ende der achtziger Jahre dauernde Herrschaft der Kommunisten könnte ein linksextremes Regime zumindest langfristig das Ziel einer Weltrevolution zu verwirklichen versuchen. Starke reaktionäre Kräfte - speziell innerhalb der Streitkräfte - träumen von der Weltmachtstellung Rußlands und der russischen Armee. Der extremkonservative russische Abgeordnete Schirinowskij, der mit seiner Partei die zweitstärkste Fraktion im russischen Parlament stellt, hat bereits mehrfach die militärische Neugliederung Osteuropas angekündigt 172 und der Bundesrepublik Deutschland mit einem dritten Weltkrieg und vollständiger Zerstörung gedroht 1 7 3 . Als Reaktion auf den Wahlerfolg der extremen Kräfte in Rußland bemühen sich insbesondere die skandinavischen und baltischen Staaten sowie Polen, Tschechien und die Slowakei um eine frühzeitige Aufnahme in NATO und Europäische U n i o n 1 7 4 . Darüber hinaus müssen die ehemaligen sowjetischen Staaten den Verlust lebenswichtiger Ressourcen befürchten. Bis heute hat dort eine beispiellose Zerstörung der Umwelt stattgefunden 175 . Hierbei muß insbesondere auf die atomaren Verstrahlungen infolge defekter Atomkraftwerke 176 , der Versenkung zahlreicher atomangetriebener und mit Atomsprengkörpern bewaffneter Unterseeboote im Nordmeer 1 7 7 sowie vielfacher Atomsprengversuche 178 und auf dramatische Grundwasserspiegelabsenkungen als Folge unkontrollierter Be-

172

Bertram,

in: Die Zeit vom 17. 12. 1993, S. 1; Schleicher,

in: Badische Zeitung vom 28.

12. 1993, S. 6. 173

Badische Zeitung vom 3. 1. 1994, S. 1.

174

Zu den diesbezüglichen Reaktionen auf die gesellschafts- und parteipolitischen Verände-

rungen in Rußland seit Dezember 1993 Gamillscheg,

in: Badische Zeitung vom 15. 12. 1993,

S. 4; ders., in: Badische Zeitung vom 23. 12. 1993, S. 4; Glauber, in: Badische Zeitung vom 15. 12. 1993, S. 4; Marsch, in: Badische Zeitung vom 15. 12. 1993, S. 4. 173

Diehl, S. 63 spricht von "Millionen" ehemaliger Sowjetbürger, die schon heute in nukle-

arverseuchten Gebieten leben. 176

Nach Toxid Wasteland, U.S. News &World Report vom 13. 4. 1992, S. 44 ereigneten

sich alleine im Jahre 1991 270 Störfalle. 177

Klingholz,

in: GEO Nr. 11/1993, S. 62 (90 f.).

178

Klingholz,

in: GEO Nr. 11/1993, S. 62 (74 ff.).

0

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

Wässerungsprojekte 179 hingewiesen werden 1 8 0 . Desweiteren gelten insbesondere die in ukrainischem Besitz befindlichen strategischen Atomwaffen angesichts eines sehr schlechten Zustandes als ökologisches Gefahrenpotential 181 . Diese Umweltzerstörungen haben bereits weite Gebietsteile unbewohnbar gemacht und verhindern damit deren Nutzung für die menschliche Bedarfsdekkung. Daher müssen die materiellen Bedürfnisse der Menschen langfristig außerhalb solcher Gebiete, mithin im Ausland gedeckt werden. Neben der ideologischen ist mithin auch eine materielle Motivkomponente für eine militärische Aggression durch totalitäre Kräfte vorstellbar. Die historischen Erfahrungen zeigen auch hier, daß im Falle eines totalitär ausgerichteten innenpolitischen Systemwandels die Gefahr militärischer Aggressionen besteht. Die ehemals totalitär organisierte Sowjetunion - aus soeben genannten Gründen können auch die heutigen Nachfolgestaaten in ähnlich totalitäre Strukturen zurückfallen - hat sowohl aus ideologischen als auch aus materiellen Gründen in der Vergangenheit militärisch auf andere Staaten übergegriffen. Ideologisch bedingt wurden in den Jahren 1956 Ungarn und 1968 die ehemalige CSSR militärisch gemaßregelt. In beiden Fällen drohten freiheitliche Reformen die sozialistische Einflußsphäre zu beeinträchtigen 182 . Aus materiellen Gründen verleibte sich die Sowjetunion im Jahre 1940 die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen ein - nachdem man sich gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland durch streng geheime Verträge im Jahre 1939 entsprechendes Stillschweigen hatte zusichern lassen 183 . 179

So weist Diehl,

S. 64 auf die Bewässerungsprojekte für die Baumwollfelder in Usbeki-

stan hin, die den Grundwasserspiegel des Aralsees dramatisch absinken ließen. 180

Zu der umfangreichen Verseuchung und Ver Strahlung der russischen Gewässer und Bö-

den äußert sich der Umweltberater des russischen Präsidenten Jelzin Jablokow in einem Gespräch, veröffentlicht in: Die Zeit vom 5. 11. 1993, S. 33. 181

Vgl. etwa die Meldung von Istwestija über erhöhte Strahlungswerte in der Umgebung des

ukrainischen Atomwaffenlagers Perwomaisk, Badische Zeitung vom 16. 9. 1993, S. 20. 182

Zur Entwicklung in Ungarn seit dem Tod Stalins im Jahre 1953 Szebeni, in: Völker

klagen an, S. 87 (108 ff.). Zur Entwicklung in der CSSR bis Januar 1968 Greiner,

in: Völker

klagen an, S. 221 ff. Für die Zeit nach den Ereignissen des Jahres 1968 Skala,

in:

Menschenrechte, S. 183 ff. 183

Dies geschah in Form eines geheimen Zusatzprotokolls zum Ribbentrop-Molotow-Pakt.

Eine Abschrift davon befindet sich im Archiv des "Juni-Komitee" in Stockholm, worauf Bukiss, in: Völker klagen an, S. 181, Fn. 1 verweist - § 1 lautet: "In the event of a territorial and political rearrangement in the areas belonging to the Baltic States (Finland, Estonia, Latvia, Lithuania), the nothern boundary of Lithuania shall represent the boundary of the sphere of influence of Germany and the U.S.S.R.". Darüber hinaus haben das Geheimprotokoll vom 28. 9. 1939 sowie ein späteres Geheimprotokoll vom 10. 1. 1941 nach der Besetzung des betroffenen Gebietes Bedeutung. Dazu Kairys, in: Völker klagen an, S. 241 (243 ff.).

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

Auf diesem Weg eröffnete sich der Sowjetunion der Zugang nach Westeuropa 1 8 4 . Gleichzeitig ließ sich nach immensen Umsiedlungsprogrammen baltischer Wohnraum für russische Bevölkerung nutzen 1 8 5 . Auch unter den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion belegen zumindest eine jederzeit in den Totalitarismus abzugleiten drohende Gesellschaftsordnung, militärische Ausrüstung, Motivpotential und historische Erfahrungen die langfristige 186 Möglichkeit einer künftigen militärischen Aggression. Beide Beispiele zeigen deutlich, daß für eine Gefahrenprognose weder ausschließlich auf die unmittelbaren Nachbarstaaten noch lediglich auf die - gerade bei innenpolitischer Instabilität - derzeitige ideologische Grundeinstellung fremder Staaten abgestellt werden darf. Es gibt insofern eine Vielzahl von Gefahienpotentialen. Solange derartige Potentiale existieren - und es ist praktisch keine Konstellation ohne weltweit vergleichbare Gefahrdungspotentiale vorstellbar -, wird angesichts der langjährigen Vorbereitungsdauer für entsprechende Schutzmaßnahmen die insoweit unabänderliche staatliche Schutzpflicht vor etwaigen militärischen Aggressionen bereits zur jetzigen Friedenszeit ausgelöst. Daher müssen schon heutzutage entsprechende präventive Maßnahmen getroffen werden. Nachfolgend ist zu klären, ob hierzu eine militärische Landesverteidigung erforderlich ist.

184

Letzteres wurde vom Moskauer Regierungsblatt ISWESTIJA bereits am 25. 12. 1918

mit ideologischen Fem zielen, insbesondere der Revolutionsunterstützung in Deutschland und Skandinavien begründet, "um die Ostsee in ein sowjetisches Revolutionsmeer zu verwandeln". Dazu Kairys, in: Völker klagen an, S. 241. 185

Bukiss, in: Völker klagen an, S. 181 (184).

186

Das amerikanische Pentagon ging in einer internai Studie zu Beginn des Jahres 1992

nodi von einer relativ kurzfristigen Gefahr einer postsowjetischen/russischen Bedrohung des Westens aus, ist aber noch im gleichen Jahr hinsichtlich des Zeitfaktors von der ursprünglichen Einschätzung abgewichen. Dazu Diehl, S. 14 f. Diehl, S. 16 schließt eine entsprechende Bedrohung des Westens innerhalb des nächsten Jahrzehnts nicht aus, hält sie aber angesichts des wirtschaftlichen Neubeginns für höchst unwahrscheinlich, während die unmittelbaren Nachbarn samt der ehemaligen Satellitenstaaten einer höheren Wahrscheinlichkeit ausgesetzt seien. Diese Einschätzung erfolgte noch vor den Wahlerfolgen der extremen Kräfte bei den Parlamentswahlen im Dezember 1993.

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

3. Die Bestimmung der konkret notwendigen Schutzmaßnahmen die Entscheidung über das "Wie" von Schutzgewährung

Die eingangs der Untersuchung nachgewiesene, vom Unabänderlichkeitsgebot des Art. 79 Abs. 3 GG umfaßte staatliche Schutzpflicht vor auswärtigen militärischen Aggressionen verbietet die Auflösung der Streitkräfte aber nur dann, wenn dem Gesetzgeber hinsichtlich der Art und Weise der Schutzgewährung kein Gestaltungsspielraum dahingehend zusteht, statt auf Streitkräfte ausschließlich auf Diplomatie zu vertrauen. Für den weiteren Gang der Untersuchung ist daher zunächst von Bedeutung, ob der politische Verantwortungsträger die konkreten Schutzmaßnahmen selbst frei bestimmen darf oder ob ihm dabei verfassungsrechtlich ein bestimmtes Mittel vorgegeben wird. Hierbei interessiert insbesondere, inwieweit durch Verfassungsänderung auf eine militärische Landesverteidigung verzichtet werden kann, um statt dessen nichtmilitärische, rein diplomatische Methoden anzuwenden. a) Politische Gestaltungsfreiheit

bei der Maßnahmenbestimmung

aa) Herleitung der Gestaltungsfreiheit aaa) Außenpolitisch Ein grundsätzlicher politischer Gestaltungsspielraum, der trotz der unabänderlichen von Art. 79 Abs. 3 GG umfaßten Schutzpflicht vor auswärtigen Aggressionen den Staat zumindest nicht speziell zu militärischen Schutzmaßnahmen zwingen könnte, ergibt sich zum einen daraus, daß mit der Aufrechterhaltung bestehender Streitkräfte eine außenpoltische Maßnahme betroffen ist. War der Bereich der Außenpolitik über lange Zeit der innerstaatlichen Kontrolle völlig entzogen, so gilt diese Materie mittlerweile als von der rechtsstaatlichen Bindung erfaßt 187 . Es besteht aber zumindest im Grundsatz eine politische Einschätzungsprärogative hinsichtlich der Frage, wie der Schutz gegenüber dem Ausland gewährt wird, da außenpolitische Geschehensabläufe nicht alleine vom Einfluß der Bundesrepublik Deutschland abhängen 188 .

187

Dazu Tomuschat, VVDStRL 36 (1978), 7.

188

BVerfGE 55, 349 (365) - Fall Hess; Geck, ZaöRV 17 (1956/57), 476 (495).

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

3

bbb) Gesetzgeberisch Darüber hinaus könnte sich ein Handlungsspielraum bei der Erfüllung der oben genannten Schutzpflichten auch aus der allgemeinen gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit ergeben. Zugunsten des demokratisch gewählten parlamentarischen Gesetzgebers müssen größere Handlungsspielräume bestehen, als es hinsichtlich einer Exekutiventscheidung der Fall i s t 1 8 9 . Der Gesetzgeber müßte dann tätig werden, wenn die erforderlichen Maßnahmen vom Vorbehalt des Gesetzes erfaßt werden. Dieses richtet sich zunächst einmal danach, ob staatliche Eingriffe in private Grundrechtssphären in Rede stehen. Hierbei ist zwischen den jeweils in Betracht kommenden Schutzmaßnahmen zu differenzieren: Wird eine militärische Landesverteidigung erwogen und als Wehrpflicht ausgestaltet, dann findet der Vorbehalt des Gesetzes wegen zahlreicher Beschränkungen soldatischer Grundrechte Anwendung. Dies verdeutlicht die nicht abschließende 190 Aufzählung der durch die Wehrpflicht betroffenen Grundrechtstatbestände in Art. 17a GG. Folgerichtig mußte im Jahre 1956 das WPflG erlassen werden, um die jeweils betroffenen Grundrechte der wehrpflichtigen Soldaten ohne Verstoß gegen die Verfassung einschränken zu können. Soll die militärische Landesverteidigung hingegen durch Freiwilligenstreitkräfte verwirklicht werden, dann muß nocheinmal unterschieden werden: Zwar ist anerkannt, daß Freiwillige hinsichtlich der mit dem Soldatenstatus typischerweise verbundenen Gefahren, wie insbesondere der Lebensgefahrdungen im Krieg, auf die Ausübung ihres Grundrechtsschutzes verzichten 191 . Darüber hinaus sind auch freiwillige Soldaten vielfachen Grundrechtsbeschränkungen insbesondere hinsichtlich der Meinungs- und der allgemeinen Handlungsfreiheit durch die soldatische Gehorsamspflicht und die Pflicht zur politischen Neutralität während des Dienstes ausgesetzt. Ähnlich wie im freiwillig begründeten Beamtenverhältnis kann auch hier von keinem grundsätzlichen Ausübungsverzicht bezüglich des Grundrechtsschutzes ausgegangen werden. Im Gegensatz zur soldatischen Hauptaufgabe, das eigene Leben bei

189

Dietlein,

S. 111 ff. Speziell zur Frage der verfassungsgerichtlichen Kontrolle des Gesetz-

gebers und der damit verbundenen Tendenz zum "Jurisdiktionsstaat" Böckenförde, (1990), 1 (24 ff.). 190

Zur Bedeutung des Art. 17a GG unten 2. Teil: Β. IV. 1.

191

Dazu ausführlich unten 2. Teil: Β. V. 4. a) cc) bbb) (1) (b).

Der Staat 29

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

der Landesverteidigung einzusetzen, stehen jetzt bloße dienstliche Rahmenbedingungen in Rede. Wegen der diesbezüglichen Grundrechtsbetroffenheit gilt auch für die Regelung von Freiwilligenstreitkräften der Vorbehalt des Gesetzes. Daher müßte insoweit der Gesetzgeber tätig werden und könnte dabei von seiner grundsätzlichen Gestaltungsfreiheit Gebrauch machen. Daraus könnte als Konsequenz resultieren, daß trotz der von Art. 79 Abs. 3 GG umfaßten unabänderlichen staatlichen Verpflichtung, überhaupt Schutz vor auswärtigen militärischen Aggressionen zu gewähren, kein Zwang dafür bestehe, diesen Schutz gerade militärisch auszugestalten. Soweit auf jedwede militärische Komponente verzichtet wird und militärische Aggressionen statt dessen ausschließlich mittels Diplomatie und gegebenenfalls passiven Widerstands verhindert werden sollen, muß in Hinblick auf Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG zumindest der verfassungsändernde Gesetzgeber tätig werden und das in Art. 87a Abs. 1 Satz 1 GG niedergelegte ausdrückliche Bekenntnis zur militärischen Landesverteidigung aufheben. Demnach kommt auch in dieser Variante die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit zum Tragen. Insofern ergibt sich auch aus der Zuweisung der Schutzpflichtenerfüllung an den Gesetzgeber und der grundsätzlichen legislativen Gestaltungsfreiheit eine entsprechende politische Einschätzungsprärogative hinsichtlich der Bestimmung der richtigen Schutzmaßnahme. ccc) Schutzpflichtbedingt Darüber hinaus läßt sich eine politischer Gestaltungsfreiheit - unabhängig von der Zuordnung in Innen- oder Außenpolitik bzw. Legislativ- oder Exekutiventscheidung - auch dadurch begründen, daß hier keine aktive staatliche Maßnahme abgewehrt, sondern ein lediglich zielgerichtetes aktives Tun eingefordert w i r d 1 9 2 . Mit Alexy und Klein verpflichtet ein Schutzgebot im Gegensatz zu einem Eingriffsverbot, das jede beeinträchtigende Handlung verbietet, gerade nicht dazu, jede Schutz bewirkende Maßnahme zu ergreifen. Mit wel-

192

Diese Konstellation lag auch der Schleyer-Entscheidung zugrunde, in der das BVerfG ei-

ne staatliche Verpflichtung speziell zur Freilassung von Terroristen - einem schlichten Hoheitsakt der Exekutiven im rein innenpolitischen Bereich - wegen der grundsätzlichen staatlich en Freiheit bei der Wahl der Mittel zur Verwirklichung des Grundrechtsschutzes ablehnte, vgl. BVerfGE 46, 160 (164 f.).

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

chem Mittel der Staat den Schutz vor militärischen Aggressionen zu erreichen versucht, bleibt grundsätzlich seiner Einschätzung überlassen 193 . Bei der Bestimmung der maßgeblichen Schutzmaßnahmen besteht daher eine grundsätzliche staatliche Gestaltungsfreiheit 194 . Sie ist dreifach begründet und ergibt sich aus der Einschätzungsprärogative des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, der Zugehörigkeit der Entscheidungsmaterie in den Bereich der Außenpolitik und der grundsätzlichen Gestaltungsfreiheit bei der lediglich zielgerichteten, aber nicht mittelbestimmenden Verpflichtung zu aktivem Tun. bb) Umfang der Gestaltungsfreiheit Maßgebliches Kriterium für die Anerkennung von Schutzmaßnahmen ist deren Wirksamkeit zur Verwirklichung der Schutzpflicht. Das vom Gesetzgeber gewählte Mittel darf nicht gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich, die Unwirksamkeit darf nicht evident sein 1 9 5 . Umgekehrt wird aber auch keine absolut sichere Wirksamkeit verlangt 1 9 6 . b) Konsequenzen für die Bestimmung der konkret notwendigen Schutzmaßnahmen aa) Denkbare Schutzmaßnahmen Der Gesetzgeber könnte sich dabei an Stelle derzeit bestehender Streitkräfte auf andere ihm erfolgreicher erscheinende Mittel zur Erfüllung der Schutzpflicht vor potentiellen militärischen Aggressionen aus dem Ausland berufen dürfen. Fraglich wäre insbesondere, ob man auf jedwede militärische Verteidigung verzichten dürfte, um ausschließlich auf geschickte Diplomatie im Vorfeld bzw. passiven Widerstand während einer solchen Aggression zu vertrauen.

193

Alexy, Der Staat 29 (1990), 49 (62); E. Klein,

NJW 1989, 1633 (1637); H. Klein,

DVB1. 1994, 489 (496 f.); Einzelheiten dazu oben 1. a) aa). 194

Zur besonderen Relevanz der Gestaltungsfreiheit gerade bei der Frage der Auswahl des

Schutzmittels Dietlein, 193

S. 111 f.

BVerfGE 77, 170 (215); Wahl/Masing,

Kriterien von einem "Minimalschutz". 196

Pieroth/SchlinK

Rdnr. 96 f.

JZ 1990, 553 (562) sprechen angesichts dieser

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

bb) Subsumtion aaa) Ausschließlich durch Diplomatie? Diplomatie alleine kann eine expansionsorientierte Kriegspolitik nicht verhindern. Wer die territoriale Integrität eines anderen Staates nicht achtet und sich darüber hinaus dessen Gebiet, Arbeitskraft und Reichtümer einverleiben möchte, wird sich ausschließlich durch diplomatische Maßnahmen nicht dauerhaft aufhalten, sondern allenfalls - was jedoch ungewiß ist - vorübergehend hinhalten lassen. Die historische Erfahrung lehrt, daß unterdrückungs- und kriegsentschlossene Staaten nicht alleine durch Diplomatie von ihrem Vorhaben abgebracht werden können. Hitlers militärische Aggressionen gegen die Tschechoslowakei vom März 1939 konnten durch das Münchener Abkommen vom 29. 9. 1938 ebenso wenig verhindert werden 1 9 7 wie Husseins Überfall auf Kuwait im Jahre 1990, dem ebenfalls umfangreiche diplomatische Initiativen vorausgegangen waren 1 9 8 . bbb) Zusätzlich durch passiven Widerstand? Passiver Widerstand kann nur dort zu Erfolg führen, wo der Aggressor die Form des nicht militärisch organisierten Widerstandes akzeptiert und davor zurückschreckt, ihn gewaltsam zu brechen. Letzteres geschieht aber mit der nötigen Gewißheit nur dann, wenn der Aggressor Menschenrechte achtet, scheitert hingegen bei totalitären, die Menschenrechte verachtenden Okkupanten. Diese zwingende Abhängigkeit eines erfolgreichen passiven Widerstandes von der Tolerierung der Menschenrechte durch den Aggressor wird von mehreren historischen Erfahrungen belegt. So waren einerseits der passive Widerstand der deutschen Bevölkerung während des Ruhrkampfes im Jahre 1923

197

Da Frankreich und Großbritannien auf eine militärische Auseinandersetzung nicht vorbe-

reitet waren, beschränkten sie sich zusammen mit Italien hinsichtlich der sudetendeutschen Ansprüche Hitlers gegen die Tschechoslowakei auf eine Vermittlerrolle. Trotz tschechoslowakischer Abtretung der deutsch besiedelten Gebiete Böhmens und Mährens gegen eine deutsche Grenzzusicherung des übrigen tschechoslowakischen Gebietes besetzte die Wehrmacht am 15. 3. 1939 die "Resttschechoslowakei". 198

Zu den diplomatischen Initiativen durch Kuwait selbst, Jordanien, die USA und insbe-

sondere durch Ägypten Trautner, in: Konflikte, Band 2, S. 84 (89 f.).

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

gegenüber den belgisch-französischen Besetzern und der waffenlose Kampf der Inder unter Mahatma Gandhi gegen die britische Herrschaft in den Jahren 1920 bis 1922 und 1930 bis 1932 erfolgreich, da die jeweiligen Okkupanten Menschenrechte achteten und gegen die Widerstandleistenden daher nicht mit Gewalt vorgingen. Demgegenüber wurde der passive Widerstand in Ungarn im Jahre 1956 und der Tschechoslowakei im Jahre 1968 blutig niedergeschlag e n 1 9 9 , da die damaligen sowjetischen Aggressoren auf die Menschenrechte der Betroffenen keine Rücksicht nahmen. Insofern zeigt die historische Erfahrung, daß Diplomatie und passiver Widerstand alleine keinen wirksamen Schutz vor totalitären militärischen Aggressoren bieten. Da Deutschland nach der oben durchgeführten Analyse militärische Aggressionen auschließlich von totalitären Staaten drohen können 2 0 0 , scheiden Diplomatie und passiver Widerstand zumindest als alleinige Schutzmaßnahmen aus. ccc) Durch militärische Landesverteidigung Umgekehrt hat sich aber die Existenz von Streitkräften historisch bewährt. So sind gerade im militärisch verteidigungsstarken Westeuropa - speziell in der Bundesrepublik Deutschland - auf der Nahtstelle des ehemaligen OstWest-Konfliktes entsprechende militärische Aggressionen durch totalitäre Staaten ausgeblieben. Dieser Umstand ist um so höher zu bewerten, als sich jetzt nach der Zugänglichkeit ehemaliger Militärunterlagen der Nationalen Volksarmee beweisen läßt, daß es noch bis nach der politischen Wende in der ehemaligen Sowjetunion Ende der achtziger Jahre einerseits konkrete Besetzungspläne und andererseits bestimmte Angriffsziele taktischer Atomwaffen für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland durch den mittlerweile aufgelösten Warschauer-Pakt gegeben h a t 2 0 1 .

199

Zu den Vorgängen in Ungarn Szebeni, in: Völker klagen an, S. 87 (112). Zu den Ereig-

nissen in der Tschechoslowakei, bei denen unmittelbar während des unbewaflheten Widerstandes 72 protestierende Menschen ermordet wurden, Glauber,in:

Badische Zeitung vom 21. 8.

1993, S. 3. Zum russisch-tschechischen Abkommen und Präsident Jelzins nachträglicher Verurteilung der damaligen Besetzung der früheren CSSR Glauber, in: Badische Zeitung vom 27. 8. 1993, S. 4. 200

Dazu oben 1.

201

Hierzu ist eine umfassende Studie veröffentlicht worden: BMVg, Warschauer Pakt, pas-

sim. Dabei interessiert für den hier in Rede stehenden Zusammenhang insbesondere die auf Basis des archivierten Sprechzettels des ehemaligen DDR-Verteidigungsministers möglich gewordene Skizzierung der Warschauer-Pakt-Ùbung "Sojus 83" (S. 4). "Sojus 83" gilt als einzige

. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

Soweit eine entsprechende militärische Verteidigungsoption fehlte, wurden dringlich erscheinende Aggressionen jedoch alsbald realisiert. Hiervon zeugen die beiden oben bereits genannten Interventionen in Ungarn und der ehemaligen Tschechoslowakei 202 . Da sich eine militärische Landesverteidigung historisch bewährt hat und insoweit ihre Wirksamkeit mit der notwendigen Gewißheit nachgewiesen ist, umgekehrt aber die Unzuverlässigkeit ausschließlicher oder lediglich um passiven Widerstand erweiterter Diplomatie evident ist, muß die staatliche Schutzpflicht vor militärischen Aggressionen durch die präventive Organisation einer ebenfalls militärischen Landesverteidigung erfüllt werden. Die politische Gestaltungsfreiheit bei der Bestimmung der konkreten Schutzmaßnahme ist daher mangels hinreichend sicherer Alternativen beschränkt. Das so gefundene Ergebnis entspricht letztlich auch dem Kriterium der Billigkeit, da es auf der hier entschiedenen gesetzgeberischen Ebene lediglich um die Bereitstellung künftig denkbarer Optionen für die Exekutive geht. M i t der Verpflichtung des Gesetzgebers zur (Beibehaltung der) Aufstellung von Streitkräften ist nämlich noch nichts darüber ausgesagt, wann und wie diese Streitkräfte in einem späteren Konfliktfalle tatsächlich eingesetzt werden. Vielmehr verbleibt dem außen- und verteidigungspolitischen Entscheidungsträger noch genügend Spielraum, um die ausschließlich seinem eigenen Verantwortungs-

übung, deren Unterlagen nicht dem sonst bestehenden Befehl entsprechend sofort nach Übungsende vernichtet wurden. Schätzungen gehen dabei von etwa 25.000 erhaltenen Dokumenten aus (S. 1). Die Ziele der ersten strategischen Operation werden dabei, wie folgt, formuliert: am dreizehnten und fünfzehnten Tag seien die Grenzen Frankreichs zu erreichen, "dabei die Territorien Dänemarks, der BRD, der Niederlande und Belgiens einzunehmen", "den Austritt dieser westeuropäischen Staaten aus dem Krieg zu erzwingen", "am dreißigsten und fünfunddreißigsten Tag die Biskaya und die Grenze Spaniens zu erreichen" und Frankreich aus dem Krieg herauszuführen. Nach

1988/89 wurden in einer Weiterbildung der Generalität

der N V A

in den

"Anweisungen des Oberkommandierenden der Vereinten Streitkräfte zum operativen Einsatz der Truppen und Flottenkräfte" folgende Ziele formuliert: "Ziel ... ist es, ... die ökonomisch wichtigen Gebiete der BRD östlich des Rheins zu besetzen sowie die Bedingungen für den Übergang zum allgemeinen Angriff mit dem Ziel der Herauslösung der europäischen NATO-Staaten aus dem Krieg zu schaffen" (S. 5). Desweiteren werden die Ziele und die Anzahl der in den Warschauer-Pakt-Übungen zwischen 1980 und 1990 simulierten insgesamt 537 Atomwaffenschläge auf die Zielräume Schleswig-Holstein, Ost-Niedersachsen, Nordhessen und Ostbayern erläutert (S. 6 ff.). 202

Zwar hatten auch Ungarn und die ehemalige CSSR Streitkräfte. Diese unterstanden aber

angesichts der Eingliederung in den Warschauer-Pakt dem sowjetischen Oberbefehl, also dem hiesigen Aggressor selbst und blieben daher wirkungslos.

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

bereich unterstehenden Detaileinschätzungen wahrzunehmen 203 . Hieran ändert auch die mit einer solchen Aufstellungsverpflichtung zweifelsohne bereits verbundene Abschreckungswirkung der Streitkräfte nichts. Sie kann angesichts der Primäraufgabe, im Ernstfall das Land militärisch verteidigen zu können, nur Aufgabenreflex sein. Darüber hinaus besteht noch genügend Möglichkeit, durch Art und Umfang der Bewaffnung die genaue Wirkung dieser sekundären Abschreckung zu modifizieren. Dieser Spielraum eröffnet sich nun freilich - abgesehen von der nach Art. 115a Abs. 1 Satz 1 GG dem Gesetzgeber obliegenden Feststellung des Verteidigungsfalles - der Exekutivgewalt. Insofern ist durch die Verlagerung der Gestaltungsfreiheit weg von der gesetzgeberischen Entscheidung über die grundsätzliche Aufstellung von Streikräften hin zur exekutiven Entscheidung über Art und Umfang der Ausrüstung sowie deren grundsätzlichen Einsatz notwendigerweise das Funktionsgefüge der staatlichen Gewalten betroffen 204 . Daher ist der Gesetzgeber wegen Art. 79 Abs. 3 GG insoweit unabänderbar speziell zur Aufstellung von Streitkräften verpflichtet, solange es militärische Gefahrenpotentiale - und es ist weltweit praktisch keine Konstellation ohne derartige Potentiale vorstellbar - gibt. Art und Umfang der Bewaffnung sowie Fragen des Einsatzes im jeweiligen Einzelfall bleiben dem politischen Gestaltungsspielraum - dann allerdings der Exekutivgewalt - überlassen, soweit nur ein absolutes Mindestmaß an Effektivität der Streitkräfte gewahrt w i r d 2 0 5 . Inwieweit das soeben gefundene Ergebnis mit eventuell mittelbar tangierten Grundrechten der hierzu herangezogenen Soldaten kollidiert, ist Gegenstand der im 2. Teil dieser Arbeit folgenden Analyse. c) Sinnlosigkeit einer militärischen Landesverteidigung im Atomzeitalter? Dem so gefundenen Ergebnis könnte nun entgegengehalten werden, daß die Aufstellung von Streitkräften sinnlos sei, wenn der Aggressor über alles Leben vernichtende Atomwaffen verfüge.

203

Das entspräche dann auch den bereits ausführlich erläuterten Anforderungen zugunsten

der Wahrung der politischen Gestaltungsfreiheit, wie sie in der Nachrüstungs-Entscheidung in BVerfGE 66, 39 (59 und 61) formuliert werden. 204

Zu den Auswirkungen der objektiven Schutzpflichten von Grundrechten auf das Funkti-

onsgefüge der staatlichen Gewalten im allgemeinen Dietlein, 205

S. 112 f.

Zur Ermittlung der für eine funktionsfähige militärische Landesverteidigung erforderli-

chen Personalstärke der Streitkräfte ausführlich unten 2. Teil: D.

0

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

Dieser Einwand vermag die staatliche Pflicht zur (Beibehaltung der) Aufstellung von Streitkräften aber aus zweierlei Gründen nicht zu entkräften. Zum ersten wurde oben nachgewiesen, daß es eine erhebliche Zahl potentieller Aggressoren gibt, die zumindest keine atomare Munitionen besitzen, wenngleich die Entwicklung nuklearer Techniken vorangetrieben wird. Zum zweiten verfügen andere potentielle Aggressoren zwar über atomare Munition, müssen deren Einsatz aber von vorneherein vermeiden, da ihnen anderenfalls ein atomarer Gegenschlag droht 2 0 6 , eine sogenannte Erstschlagfahigkeit, bei der durch den Ersteinsatz nuklearer Technik eine gegnerische Reaktion ausgeschlossen wäre, also gar nicht besteht. Darüber hinaus - und das muß als das entscheidende Argument angesehen werden - würden durch einen Atomwaffeneinsatz ideologische und materielle Ziele verfehlt, da ein auf diese Weise vernichteter Staat weder ideologisch revolutioniert noch materiell ausgebeutet werden kann. So besteht auch im Zeitalter der Atomwaffen ein entsprechender Bedarf an konventioneller militärischer Landesverteidigung 207 . 4. Die Rechtsfolge aus der staatlichen Verpflichtung zur Aufstellung von Streitkräften

Auf Grund der Unabänderlichkeit der insbesondere aus den Artt. 1 Abs. 1 Satz 2, 20 Abs. 1 und 79 Abs. 3 GG hergeleiteten staatlichen Schutzpflicht vor auswärtigen militärischen Aggressionen müßte eine Verfassungsänderung, die einen ausdrücklichen Verzicht auf die militärische Landesverteidigung vorsieht, scheitern, solange die oben herausgearbeiteten Gefahrdungspotentiale und es ist weltweit praktisch keine Konstellation ohne derartige Potentiale vorstellbar - bestehen. Zu Beginn der Untersuchung wurde aber darauf hingewiesen, daß an Stelle der Aufnahme eines expliziten Verzichts auf Streitkräfte in die Verfassung auch lediglich eine ersatzlose Streichung der bisher in Art. 87a Abs. 1 Satz 1 206

Zwar hat die Bundesrepublik Deutschland selbst nicht die Möglichkeit zu einem solchen

Gegenschlag, da sie auf den Besitz atomarer Waffen verzichtet. Insofern kann in diesem Zusammenhang aber - was oboi nodi hinsichtlich der Feststellung einer Bedrohung bei völliger Entmilitarisierung verneint wurde - auf den Schutz durch die verbündeten NATO-Mitglieder abgestellt werden, da jetzt mit der Beibehaltung eines eigenen Militärbeitrages das Bündnis nicht aufgekündigt wird. 207 Selbst die geo- und topographisch im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland wesentlich sicherere Schweiz sieht die sicherheitspolitische Hauptgefahr nach wie vor auf konventionellem Gebiet. Vgl. dazu die Botschaft des Bundesrates, BB1. 1988 I I S. 967 (982).

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

GG verankerten militärischen Landesverteidigung aus dem Verfassungstext in Betracht gezogen werden könnte. In diesem Falle würde jedenfalls die spätere einfachgesetzliche Aufhebung des Wehrpflichtgesetzes und des Soldatengesetzes nach dem Vorrang der Verfassung gegen die höherrangige verfassungsrechtliche Schutzpflicht zur (Beibehaltung der) Aufstellung von Streitkräften verstoßen und damit verfassungswidrig sein, soweit kein gleichwertiger Ersatz in Form von Freiwilligenstreitkräften zur Verfügung gestellt wird. Unabhängig von der späteren einfachgesetzlichen ersatzlosen Auflösung der Streitkräfte ist aber bereits die bloße Streichung des Art. 87a Abs. 1 Satz 1 GG verfassungswidrig. Dies ergibt sich zwar nicht aus Art. 79 Abs. 3 GG, da die Streitkräfte auch ohne ihre ausdrückliche Verankerung in der Verfassung aufrecht erhalten werden könnten. Eine Streichung des Art. 87a Abs. 1 Satz 1 GG wäre aber mit dem in Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG enthaltenen Prinzip der Verfassungsklarheit 208 unvereinbar. Dieser Grundsatz verkörpert eine Antwort auf die schlechten Erfahrungen der Weimarer Demokratie, in der die Reichsverfassung heimlich ausgehöhlt wurde. Es soll einerseits verhindert werden, daß sich materielles Verfassungsrecht außerhalb der Verfassungsurkunde entwikkelt, und andererseits dem Bürger des demokratischen Verfassungsstaates Einblick in das staatliche Leben und dessen rechtliche Grundlagen geben 2 0 9 . Danach sind rein äußerliche, sich also nicht inhaltlich auswirkende Änderungen des Grundgesetzes nur dann möglich, wenn sie klarstellende oder symbolische Bedeutung haben 2 1 0 . Hier würde durch die Zulassung der ersatzlosen Streichung der ausdrücklichen Streitkräfteverankerung angesichts der sich aus der unabänderlichen staatlichen Schutzpflicht ergebenden faktischen Beibehaltungspflicht lediglich Unklarheit hervorgerufen und gerade keine Klarstellung erreicht. Wegen der bewußten Aufhebung eines Verfassungsbekenntnisses würde einerseits der gesetzgeberische Wille zur einfachgesetzlichen Abschaffung jeglicher Streitkräftestrukturen deutlich werden, ohne andererseits die so signalisierte Wirkung tatsächlich entfalten zu können. Daher scheitern sowohl die bloße ersatzlose Streichung der derzeitigen Streitkräfteverankerung aus dem Grundgesetz als auch die Aufnahme eines 208

Dazu ausführlich Ehmke, D Ö V 1956, 449 (452).

209

Ehmke, AöR 79 (1953/54), 385 (396).

210

Btyde, in: von Münch, Art. 79 GG, Rdnr. 10, der als Beispiel die Änderung des Art. 1

Abs. 3 GG aus dem Jahre 1956 anführt, bei der der Begriff "Verwaltung" durch "vollziehende Gewalt" ersetzt wurde, um klarzustellen, daß die gesamte Exekutivgewalt - insbesondere auch die neu geschaffenen Streitkräfte - der Grundrechtsbindung unterliegen. Zu dieser Grundgesetzänderung wiederum Stern, Staatsrecht I I , § 42 I 5 b. 6 Fröhler

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

ausdrücklichen Verzichts auf Streitkräfte in die Verfassung an den oben genannten unabänderlichen staatlichen Schutzpflichten. Für die ersatzlose Streichung ergibt sich diese Rechtsfolge aus Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit dem Prinzip des Vorrangs der Verfassung 211 gegenüber einer dann einfachgesetzlich erfolgenden Abschaffung der Streitkräfte. Die Aufnahme eines ausdrücklichen Verzichts auf die militärische Landesverteidigung in die Verfassung wäre als verfassungswidrige Verfassungsänderung gemäß Art. 79 Abs. 3 GG unwirksam.

Ι Π . Die Durchsetzbarkeit der Schutzpflichten zur Organisation von Streitkräften Die soeben herausgearbeitete, sich aus der Verfassung ergebende unabänderliche Schutzpflicht zur Organisation von Streitkräften wäre lediglich von theoretischem Wert, könnte sie nicht auch tatsächlich verfassungsgerichtlich durchgesetzt werden. 1. Durch Verfassungsbeschwerde

Das einzelne Individuum könnte unter Berufung auf die Verletzung der Schutzpflichten aus den oben genannten Grundrechten die Organisation von Streitkräften unmittelbar mit Hilfe der Verfassungsbeschwerde 212 durchsetzen. Fraglich ist jedoch, ob eine solche Verfassungsbeschwerde als negatorische Klage oder als Normerlaßklage erhoben werden müßte. a) Als negatorische Klage oder als Normerlaßklage? Diesbezüglich muß zwischen zwei unterschiedlichen Konstellationen differenziert werden.

211

Zum Vorrang der Verfassung Wahl, Der Staat 20 (1981), 485 ff.

212

Auf die Verfassungsbeschwerde als Instrum ait der unmittelbaren Durchsetzung von

grundrechtlichen Schutzpflichten weist bereits R. Schneider, AöR 89 (1964), 24 (28) hin.

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

83

aa) Nach bereits erfolgter Auflösung der Streitkräfte die Neuaufstellung von Streitkräften Zum einen ist zu untersuchen, welche Klageart maßgeblich ist, wenn nach entsprechender Verfassungsänderung und Modifizierung der einfachgesetzlichen Rechtslage die Streitkräfte aufgelöst worden sind. In einer derartigen Konstellation ist bereits ein Sicherheitsvakuum eingetreten, da die zum präventiven Schutz vor militärischen Aggressionen erforderliche militärische Landesverteidigung ersatzlos weggefallen ist. Man könnte nun mittels negatorischer Klage zu erreichen versuchen, daß das BVerfG die gesetzliche Streitkräfteauflösung aufhebt und statt dessen die ursprünglichen wehrrechtlichen Bestimmung wieder für anwendbar erklärt. In einer entsprechenden Entscheidung aus dem Jahre 1978 macht das BVerfG beispielsweise die Neuregelung des Anerkennungsverfahrens für Kriegsdienstverweigerer rückgängig und setzt gleichzeitig das ursprüngliche, im Zuge dieser Neuregelung abgeschaffte alte Verfahrensrecht wieder in K r a f t 2 1 3 . Eine solche verfassungsgerichtliche Aufhebung der zuvor zur Streitkräfteauflösung durchgeführten Gesetzesänderungen könnte jedoch alleine keine ausreichende Sicherheit bieten. Nach einer bereits vollzogenen Streitkräfteauflösung ist die bloße auf eine Fortführung bereits bestehender Militärstrukturen ausgerichtete Weitergeltung des ursprünglichen Wehrrechts die falsche Schutzmaßnahme. Vielmehr müssen gänzlich neue Regelungen für einen möglichst raschen Wiederaufbau der militärischen Landesverteidigung geschaffen werden. Die dazu erforderliche Erstaufstellung von Streitkräften und die durch eine Weitergeltung des ursprünglichen Wehrrechts lediglich ermöglichte Beibehaltung (noch) bestehender Streitkräfte unterscheiden sich mithin wesentlich voneinander. Die staatliche Schutzpflicht zur Organisation einer solchen militärischen Landesverteidigung kann daher nur dadurch erfüllt werden, daß der Gesetzgeber dazu verpflichtet wird, die für eine Neuaufstellung von Streitkräften notwendigen gesetzlichen Grundlagen zu schaffen. Ein derartiges, auf ein positives Tun des Gesetzgebers gerichtetes Verlangen muß verfassungsprozessual im Wege der Normerlaßklage geltend gemacht werden. Die § § 9 2 und 95

213

Zunächst vorläufig durch einstweilige Anordnung, BVerfGE 46, 337 (340). Anschlie-

ßend erfolgt die endgültige Entscheidung in der Hauptsache, BVerfGE 48, 127 (184 f.). Zu den Einzelheiten dieser sogen annten "Postkarten-Entscheidung" ausführlich unten 2. Teil: C. VI. 3. c) bb) bbb) (1). 6*

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

Abs. 1 Satz 1 BVerfGG lassen die Normerlaßklage insofern zu, als sie im Rahmen der Verfassungsbeschwerde auch die Grundrechtsverletzung durch legislatives Unterlassen für maßgeblich erklären 2 1 4 . Hierin besteht auch kein Verstoß gegen das rechtssaatliche Gewaltenteilungsprinzip, da das BVerfG nicht selbst Recht setzt, sondern den Gesetzgeber lediglich zu dessen eigener Rechtssetzung verpflichtet und dabei die grundrechtlichen Schutzpflichten als durch den Verfassungsgesetzgeber

im Sinne des Art.

1 Abs.

3 GG

vorgegebenen Kontrollmaßstab anlegt 2 1 5 . Mit Würtenberger ist hervorzuheben, daß die Gesamtrechtsordnung des sozialen Rechtsstaates, insbesondere die Grundrechte, dazu beitragen, daß der Bürger der öffentlichen Gewalt als Partner statt als bloßes Objekt gegenübertritt. Hierzu gehört auch die verfassungsrechtliche Möglichkeit des Bürgers, innerhalb der oben aufgezeigten Grenzen über die Grundrechte mit Hilfe der Rechtsprechung gestaltenden Einfluß auf die Gesetzgebung auszuüben 216 . Aus dieser Pflicht zum Normerlaß ergibt sich gleichzeitig eine Verschiebung innerhalb des Funktionsgefüges der staatlichen Gewalten. Dabei wird die grundsätzliche Gestaltungsreiheit des demokratisch legitimierten parlamentarischen Gesetzgebers durch die Verfassungsgerichtsbarkeit in verfassungsrechtlich zulässiger 217 Weise eingeschränkt. Das staatliche Funktionsgefüge entwickelt sich zu einem "verfassungsrechtlichen Jurisdiktionsstaat" 218 . bb) Vor einer Auflösung der Streitkräfte die Beibehaltung von Streitkräften Zum anderen muß geklärt werden, auf welche Klageart zurückzugreifen ist, wenn trotz entsprechender Grundgesetzänderung die Streitkräfte noch nicht

214

Zur Systemkonformität der Normerlaßklage - wenn auch mit verwaltungsprozessualem

Schwerpunkt - Würtenberger,

AöR 105 (1980), 370 (376 f.). Allgemein zur Normerlaßklage

Gleixner, passim. 213

Dietlein,

216

Würtenberger,

S. 175 ff. AöR 105 (1980), 370 (376 f. und 399), dessen Ausführungen zwar pri-

mär der verwaltungsprozessualen Normerlaßdogmatik gewidmet sind, hinsichtlich ihres allgemeingültigen Gehaltes aber auch im hiesigen Zusammenhang angewendet werden können. 217

Dietlein,

218

Zu dieser Problematik ausführlicher Böckenförde,

S. 175 ff. Der Staat 29 (1990), 1 (29); Wahl,

Der Staat 20 (1981), 485 (505) spricht hinsichtlich der gegenseitigen Unverträglichkeit des Optimierungspostulats als verfassungsrechtlich verstandenem Gebot, der umfassenden Verfassungsgerichtsbarkeit und der Gestaltungsfreiheit des parlamentarischen Gesetzgebers von einem "magischen Dreieck".

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

aufgelöst worden sind, angesichts der modifizierten Rechtslage mit einer derartigen Aufhebung aber zu rechnen ist. Anders als nach einer bereits erfolgten Streitkräfteauflösung sind in dieser Konstellation die für eine militärische Landesverteidigung erforderlichen Sicherheitsstrukturen noch vorhanden. Der individuelle Schutzanspruch kann demnach dadurch durchgesetzt werden, daß der Staat verfassungsprozessual zur Beibehaltung der bestehenden Streitkräfte gezwungen wird. Eine solche Beibehaltung kann lediglich dann erreicht werden, wenn der Gesetzgeber an der Aufhebung der bestehenden einfachgesetzlichen Regelungen gehindert wird. Dieses ist wiederum ausschließlich im Zuge einer negatorischen Klage möglich, da nur sie einen übergangslosen Schutz zu gewährleisten vermag. Im Gegensatz dazu würde eine Normerlaßklage mangels negatorischer Wirkung dazu führen, daß die Streitkräfte zunächst aufgelöst werden könnten, der Gesetzgeber jedoch im unmittelbaren Anschluß daran zu einer sofortigen Neuaufstellung verpflichtet wäre. Da eine solche Neuaufstellung aus oben ausführlich dargelegten Gründen zeitaufwendig ist, wäre während der so entstehenden Übergangszeit ein Sicherheitsvakuum hinzunehmen. Um die sich daraus ergebenden Risiken vermeiden zu können, muß mittels negatorischer Klage von vorneherein jegliche Streitkäfteauflösung verhindert werden. Gleichwohl beruht die Verfassungswidrigkeit eines entsprechenden Gesetzes zur Auflösung der Streitkräfte nachwievor, wie Hermes feststellt, "auf der positiven grundrechtlichen Pflicht zur schützenden Regelung" 2 1 9 und nicht etwa auf der Abwehrfünktion der Grundrechte. Das ergibt sich daraus, daß wie oben ausführlich geschildert - auch die Abschaffimg zuvor ergriffener staatlicher Schutzmaßnahmen als Unterlassen von Schutz zu bewerten ist. Im Rahmen der Beibehaltung staatlicher Schutzmaßnahmen entfaltet die objektivrechtliche Schutzpflicht zu aktivem Tun insofern zumindest vordergründig auch eine abwehrrechtliche Wirkung. Letztlich ist jedoch maßgeblich, daß der Staat auch weiterhin zur aktiven Organisation einer militärischen Landesverteidigung verpflichtet bleibt und somit am Unterlassen von Schutz gehindert wird. Diese Sichtweise entspricht auch der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG. So beurteilt das BVerfG in den beiden Fristenlösungs-Entscheidungen aus den Jahren 1975 und 1993 die gesetzgeberische Aufhebung des zugunsten des Embryos bestehenden Strafrechtsschutzes ebenfalls nicht an Hand der abwehrrechtlichen Funktion der betroffenen Grundrechte, sondern stellt auf die in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltene objektiv-

219

Hermes, S. 268, Fn. 449.

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

rechtliche Schutzpflicht zu aktivem Tun a b 2 2 0 . Beide Entscheidungen setzen sich dabei ausschließlich mit der Möglichkeit eines negatorischen Aufhebungsverbotes, nicht jedoch mit einer Verpflichtung auf Normerlaß auseinander221. Die aus der Unwirksamkeit einer Streitkräfteauflösung resultierende Pflicht zur Beibehaltung der bestehenden Wehrform verstößt auch nicht gegen den Grundsatz der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung. Insbesondere wird die wehrrechtliche legislative Gestaltungsfreiheit nicht vollständig zurückgedrängt und durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung ersetzt. Dem Gesetzgeber bleibt es im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit vielmehr unbenommen, die militärische Landesverteidigung organisatorisch zu modifizieren, soweit dies mit den Grundrechten der betroffenen Soldaten vereinbart werden k a n n 2 2 2 und ein ununterbrochener Schutz vor militärischen Aggressionen sichergestellt ist. Die Verfassungsbeschwerde ist daher als negatorische Klage geltend zu machen, soweit die Streitkräfte trotz entsprechender Verfassungsänderung tatsächlich noch nicht aufgelöst worden sind. Ist die Streitkräfteauflösung jedoch bereits vollendet, dann muß im Wege einer Normerlaßklage eine Neuaufstellung durchgesetzt werden. b) Das Problem der subjektiven Rechte im Sinne der Antragsbefugnis Nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG in Verbindung mit den §§ 13 Nr. 8a und 90 Abs. 1 BVerfGG müßte sich der Beschwerdeführer auf "seine" subjektiven Rechte berufen können.

220

BVerfGE 39, 1 und BVerfG EuGRZ 1993, 229 (242).

221

Zwar liegt beiden Entscheidungen ein Verfahren der abstrakten Normenkontrolle zu-

grunde, in dem lediglich bereits bestehende Normen überprüft werden können, nicht jedoch audi die Verpflichtung zum Erlaß einer Norm festgestellt werden darf. Das BVerfG muß jedoch audi im Rahmen der Zulässigkeit der Klage überprüfen, ob die Verfassungswidrigkeit des Aufhebungsgesetzes in Rede steht und das Verfahren damit statthaft ist oder ob es um eine Verpflichtung zur Neuregelung eines Strafrechtsschutzes als Anspruch auf Normenerlaß geht und die Klage daher als unstatthaft zurückzuweisen ist. Das BVerfG hat in beiden Fällen die Frage der Verfassungskonformität des Aufhebungsgesetzes für maßgeblich gehalten und daher die abstrakte Normenkontrolle zugelassen. 222

Zu den Grenzen der legislativen Gestaltungsfreiheit bei der Bestimmung der maßgebli-

chen Wehrform ausführlich unten 2. Teil: B. und C. In diesem Zusammenhang spielen insbesondere das Lebensrecht der betroffenen Soldaten und der Grundsatz der Pflichtengleichheit eine entscheidende Rolle.

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

Ist der subjektive Charakter der Grundrechte in ihrer klassischen Abwehrrechtsfunktion unzweifelhaft anerkannt, so ergeben sich diesbezüglich bei den nicht ausdrücklich normierten Schutzpflichten Probleme. Die Schutzpflicht des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG macht hiervon eine Ausnahme, da Abwehr- und Schutzfunktion ausdrücklich und gleichwertig nebeneinander genannt werden. Beinhaltet das Abwehrrecht einen subjektiven Gehalt, so muß dies folglich auch für die Schutzpflicht gelten. Obschon die Grundrechtseigenschaft des Art. 1 Abs. 1 GG sehr umstritten i s t 2 2 3 , wird seine subjektiv-rechtliche Durchsetzbarkeit im Wege der Verfassungsbeschwerde durchweg bejaht. Soweit man Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht anerkennt 224 , kann sich der Beschwerdeführer nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG hierauf berufen. Spricht man Art. 1 Abs. 1 GG die Grundrechtseigenschaft ab, dann muß der Regelungsbereich der Menschenwürde, wie Dürig dies fordert, im Interesse eines lückenlosen Grundrechtsschutzes in die (anderen) Grundrechte - zumindest in die offenen Tatbestände der Artt. 2 Abs. 1 und 3 Abs. 1 GG - integriert werden 2 2 5 . Daher geht von der in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. GG ausdrücklich genannten Schutzpflicht ebenso wie von der abwehrrechtlichen Position eine subjektivrechtliche Wirkung aus 2 2 6 . Schwieriger verhält es sich bei den anderen Grundrechten wie etwa den hier in Rede stehenden Tatbeständen der Artt. 2 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2, 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 Satz 1 und 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Hier läßt sich die Schutzpflicht aus oben ausführlich dargelegten Gründen aus dem objektiv-rechtlichen Wertgehalt der Normen lediglich ableiten, wird jedoch nicht ausdrücklich benannt. Dennoch besteht im Interesse eines effektiven Grundrechtsschutzes auch ein subjektives Recht auf die Geltendmachung dieser Schutzpflicht 227 , wenngleich eine ganz bestimmte Schutzmaßnahme nur unter der Voraussetzung eingefordert werden kann, daß andere Maßnahmen zur Errei-

223

Hierzu ausführlich Geddert-Steinacher,

224

So etwa BVerfGE 15, 283 (286); 61, 126 (137); Benda, in: HVerfR, § 6, Rdnr. 7 f.;

S. 167 ff.

Habe rie, in: HStR I, § 20, Rdnr. 74; Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1 GG, Rdnr. 18; Zippelius, in: Bonner Kommentar, Art. 1 Abs. 1 und 2 GG, Rdnr. 24 und 32. 223

Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 1 GG, Rdnr. 4 ff. und 88.

226

Robbers, S. 187 f.

227

BVerfGE 76, 1 (49 f.) zu Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG - Familiennachzug;

BVerfGE 77, 170 (214) zu Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG - C-Waffen-Stationierung; Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (14); K. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 350; Stern, Staatsrecht Π Ι 1, § 69 VI. Zurückhaltender äußert sich Badura, in: FS für Eichenberger, S. 481 (489 ff.). Ablehnend hingegen Rauschning,

DVB1. 1980, 831 (832).

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

chung des Schutzziels evidentermaßen unwirksam s i n d 2 2 8 . An der Zuerkennung eines subjektiven Schutzanspruchs ändert auch die Tatsache nichts, daß angesichts der großen Zahl der durch eine militärische Aggression potentiell betroffenen Menschen deren Individualisierung erschwert w i r d 2 2 9 . 2. Durch sonstige verfassungsprozessuale Verfahrensarten

a) Konkrete Normenkontrolle Die Schutzpflichten könnten auch durch eine konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG in Verbindung mit den §§ 13 Nr. 11 und 80 BVerfGG gerichtlich durchgesetzt werden 2 3 0 . Im Anschluß an die soeben entwickelte Differenzierung kann eine solche Normenkontrolle nur für diejenige Konstellation in Betracht kommen, in der die Streitkräfte noch nicht tatsächlich aufgelöst worden sind und daher durch die rückwirkende 231 Nichtigerklärung 232 eines etwaigen Aufhebungsgesetzes eine tatsächliche Abschaffung der noch bestehenden Militärstrukturen rechtlich verhindert werden könnte. Denkbar wäre etwa eine Situation, in der ein Berufs- oder Zeitsoldat vor einem Verwaltungsgericht gegen seine Entlassung im Zuge der Auflösung der Bundeswehr klagt und das Verwaltungsgericht die entsprechende gesetzliche Regelung, nach der das Grundgesetz geändert und die Bundeswehr aufgelöst werden, dem Bundesverfassungsgericht wegen der 228

BVerfGE 77, 170 (215).

229

Zu solchen Individualisierungsschwierigkeiten insbesondere BVerfGE 46, 160 (165),

worin das BVerfG den Schutzanspruch aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG audi der Gesamtheit der Bürger zuspricht - dort ging es um die Frage, ob im Zusammenhang mit der Schleyer-Entführung die von den Entführern geforderte Freilassung inhaftierter Terroristen im Interesse Schleyers zu befürworten oder im Interesse der Gesamtheit der Bürger abzulehnen sei. Ablehnend Ossenbühl, D Ö V 1981, 1 (7), der die individuelle Betroffenheit der im Umkreis eines Atomkraftwerkes lebenden Menschen wegen deren unübersehbar großen Anzahl verneint. Überzeugend wiederum gegen diese Ansicht Hermes,

S. 217 f., der sich unter Berufung auf

Baumann, BayVBl. 1982, 257 (265) gegen die unberechtigte Gleichsetzung von "Individualität" und "alleiniger Betroffenheit" wendet. 230

Böckenförde,

Der Staat 29 (1990), 1 (14) verweist hinsichtlich des Rechtsschutzes für

grundrechtliche Schutzpflichten ausdrücklich auf Verfassungsbeschwerde und Richtervorlage zur konkreten Normenkontrolle und betont bezüglich der letztgenannten Alternative den Vorteil, auf diesem Wege auch im Falle der Verneinung eines subjektiv-rechtlichen Gehaltes der Schutzpflichten - zu dieser Problematik oben aaa (2) - eine gerichtliche Überprüfung ermöglichen zu können 231

BVerfGE 7, 377 (387); Stuht, in: Umbach/Clemens, § 79 BVerfGG, Rdnr. 14.

232

Eine solche Nichtigerklärung erfolgt nach § 82 Abs. 1 in Verbindung mit § 78 BVerfGG.

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

Überzeugung von einem Verstoß gegen die oben ausführlich erörterten staatlichen Schutzpflichten vorlegt. Selbst wenn das vorlegende Gericht hierbei nur von der Verletzung eines Teils der oben genannten Verfassungsgrundsätze überzeugt wäre, wird das BVerfG das entsprechende Gesetz an allen in Betracht kommenden Bestimmungen höherrangigen Rechts messen 233 . Soweit die Streitkräfte jedoch bereits aufgelöst worden sind, hilft die bloße Wiederherstellung der urprünglichen Rechtslage aus oben genannten Gründen nicht weiter, da für eine dann erforderliche Neuaufstellung besondere neue legislative Maßnahmen getroffen werden müßten, mithin der Gesetzgeber zu entsprechendem Normerlaß zu verpflichten wäre. Das Verfahren der konkreten Normenkontrolle erlaubt nach den §§82 Abs. 1 und 76 BVerfGG lediglich die Überprüfung bereits bestehender Rechtsnormen. Die Verpflichtung zum Normerlaß kann auf diesem Weg jedoch nicht ausgesprochen werden. b) Abstrakte Normenkontrolle Ein weiteres Mittel verfassungsgerichtliche Kontrolle könnte die abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG in Verbindung mit den §§13 Nr. 6 und 76 BVerfGG sein. Hiernach könnten insbesondere eine Landesregierung oder ein Drittel der Bundestagsmitglieder - von anderer Seite ist kein Widerstand gegen ein zuvor beschlossenes Gesetz zu erwarten - ein entsprechendes Gesetz zur Auflösung der Bundeswehr vom BVerfG auf die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz überprüfen lassen. A u c h 2 3 4 die abstrakte Normenkontrolle kann ausschließlich bei noch nicht tatsächlich erfolgter Streitkräfteauflösung in Betracht gezogen werden. c) Organstreitigkeit Abschließend ist ein Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG in Verbindung mit den §§ 13 Nr. 5 und 63 BVerfGG in Betracht zu ziehen. Im Gegensatz zum Verfahren der zuvor erörterten abstrakten Normenkontrolle ist der Kreis der Antragsberechtigten nach § 63 BVerfGG größer, doch muß im Rahmen der Antragsbefugnis nach § 64 Abs. 1 2. Variante BVerfGG eine unmittelbare Gefahrdung des Antragstellers in ihm durch das Grundge-

233

BVerfGE 49, 260 (270 f.); H. Klein, in: Umbach/Clemens, § 82 BVerfGG, Rdnr. 17.

234

Angesichts der Regelung des § 82 Abs. 1 BVerfGG gelten für konkrete und abstrakte

Normenkontrollverfahren insoweit die gleichen Voraussetzungen.

0

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

setz übertragenen Rechten vorgetragen werden können. Hier könnte zwar der beim Gesetzesbeschluß unterlegene Teil des Bundestages geltend machen, daß er durch die vollständige Abschaffung der militärischen Verteidigungsstrukturen im Falle einer fremdstaatlichen totalitären Aggression seine repräsentativdemokratischen Parlamentsrechte nicht mehr ausüben könnte. Dabei spielt es auch keine Rolle, ob bereits eine tatsächliche Streitkräfteauflösung erfolgt ist, da das BVerfG nach § 67 Satz 1 BVerfGG selbst das Unterlassen einer gesetzlichen Regelung, die für eine Neuaufstellung bereits tatsächlich aufgelöster Streitkräfte erforderlich wäre, für verfassungswidrig bezeichnen kann. Ein solches gesetzgeberisches Unterlassen ist auch rechtserheblich 235 . Die hier in Rede stehende Gefahrdung müßte aber auch von unmittelbarer Art sein. Unmittelbarkeit bedeutet, daß die drohende Rechtsbeeinträchtigung durch ein späteres Eingreifen nicht mehr verhindert werden k a n n 2 3 6 . Dem wäre nicht so, wenn der Bundespräsident die Ausfertigung des Gesetzes nach Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG verweigern könnte. Dazu müßte ihm ein materielles Prüfungsrecht zustehen, das jedoch allenfalls eine Evidenzkontrolle beinhalten k a n n 2 3 7 . Hier ist eine Verletzung der verfassungsrechtlichen Schutzpflichten schon wegen der überaus komplizierten Ermittlung des maßgeblichen Gefahrdungsgrades 238 nicht offensichtlich. Folglich könnte der Bundespräsident das Inkrafttreten eines entsprechenden Gesetzes in keinem Fall verhindern. Neue Gesetzgebungsinitiativen für eine Beibehaltung der noch nicht tatsächlich aufgelösten Streitkräfte oder im Falle einer bereits tatsächlich vollzogenen Auflösung für eine Neuaufstellung von Streikräften hätten erst bei neuen Mehrheitsverhältnissen im Parlament Aussichten auf Erfolg und würden viel Zeit in Anspruch nehmen. In dieser Zeitspanne könnte einer etwaigen dramatischen Verschlechterung der Sicherheitslage nicht rechtzeitig entgegengetreten werden. Daher ist hier eine unmittelbare Gefahrdung zu bejahen. Das BVerfG kann folglich auch im Wege des Organstreitverfahrens angerufen werden.

233

Nach Ulsamer, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, § 64 BVerfGG, Rdnr. 10

ist der Erlaß eines Gesetzes eine rechtserhebliche Maßnahme im Sinne des § 64 Abs. 1 BVerfGG. Hieraus muß sich im Umkehrschluß ergeben, daß auch das gesetzgeberische Unterlassen rechtserheblich ist. 236

Clemens, in: Umbach/Clemens, §§ 63, 64 BVerfGG, Rdnr. 145.

237

Degenhart,

Rdnr. 456; mit weiteren Nachweisen. K. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 666

spricht von einer restriktiven Handhabung des Prüfungsrechts. 238

Dazu ausführlich oben II. 2.

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

IV. Besonderheiten nach schweizerischer Rechtslage In der Schweiz besteht eine ganz andere Ausgangssituation als nach deutscher Verfassungsrechtslage. Zwar sehen die Artt. 13, 18, 19 und 102 Nr. 11 sowie Nr. 12 B V ähnlich wie Art. 87a Abs. 1 Satz 1 GG die Organisation einer militärischen Landesverteidigung vor. Die schweizerische Bundesverfassung beinhaltet im Gegensatz zu Art. 79 Abs. 3 GG aber keine ausdrücklichen inhaltlichen Grenzen für Verfassungsänderungen. Vielmehr weist Art. 118 B V auf die "jederzeit" bestehende Möglichkeit einer Bundesverfassungsrevision hin, die nicht nur nach Art. 121 B V als Partial-, sondern gemäß den Artt. 119 und 120 B V sogar als Totalrevision verwirklicht werden kann. 1. Formelle Voraussetzungen einer Verfassungsrevision Partial- oder Totalrevision

Eine Revision kann nur unter Beachtung der formellen, sich aus der Verfassung ergebenden Anforderungen wirksam vollzogen werden. Hierzu ist zunächst die in Rede stehende Auflösung der Streikräfte einer der beiden Kategorien, der Partial- oder der Totalrevision, zuzuordnen. Diese Subsumtion hat wegen der erschwerten formellen Anforderungen im Totalrevisionsverfahren erhebliche Bedeutung 239 . Nach Art. 123 Abs. 1 B V müssen aber beide Verfahrensarten durch ein obligatorisches Volks- und Ständereferendum angenommen werden. Zur Unterscheidung der beiden Revisionsarten sind zwei Kriterien denkbar. Zunächst könnte mit Häfelin/Haller ausschließlich darauf abgestellt werden, ob im Zuge der Revision die alte durch eine neue Verfassung vollständig ersetzt w i r d 2 4 0 . Das deutsche Verfassungsrecht kennt eine solch tiefgreifende Maßnahme ausschließlich in Form der dem "pouvoir constituant" vorbehaltenen verfassungsgebenden Verfassungsablösung unter den Voraussetzungen des Art. 146 G G 2 4 1 . Gemessen am Umfang der Ersetzung wäre die Streichung der die militärische Landesverteidigung voraussetzenden Regelungen bei gleich-

239

Dazu ausführlich Aubert, Rdnr. 355 ff.; Häfelin/Haller,

240

Häfelin/Haller,

241

Zur Differenzierung von Verfassungsänderung und verfassungsgebender Verfassungsab-

Rdnr. 935.

Rdnr. 935.

lösung Heckmann, DVB1. 1991, 847 ff. Inwieweit die schweizerische Totalrevision dogmatisch eine Verfassungsänderung oder eine verfassungsgebende Verfassungsablösung verkörpert, ist sehr umstritten. Dazu H. Huber, in: FS für Scheuner, S. 183 (195 ff.).

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

zeitiger Aufrechterhaltung der Restvorschriften der Bundesverfassung bloße Partialrevision 242 . Darüber hinaus könnte mit Aubert ein ergänzendes materielles Kriterium dergestalt in Betracht gezogen werden, daß trotz Beschränkung der Modifizierung auf vereinzelte Verfassungsregelungen bereits aus der tiefgreifenden Veränderung einer grundsätzlichen Einrichtung der Staatsform die Zuordnung zur Totalrevision folge 2 4 3 . Dann ergäbe sich für das hier zu entscheidende Problem ein ganz anderes Ergebnis: Die Abschaffung der militärischen Landesverteidigung würde das bisherige Verfassungsprinzip einer auch nach außen hin wehrhaften Demokratie aufgeben, somit eine tiefgreifende Veränderung einer grundsätzlichen Einrichtung der Staatsform bewirken und daher eine Totalrevision erfordern. Der Verfassungswortlaut schweigt sich über das maßgebliche Abgrenzungskriterium aus. Zwar ist dem rein formell ausgerichteten Argument zuzugestehen, daß in Einzelfällen die Feststellung, welche Einrichtung "grundsätzlich" und wann eine Veränderung "tiefgreifend" ist, schwerfallen kann. Dieses Problem läßt sich aber - ähnlich wie bei der Bestimmung der "Grundsätze" in Art. 79 Abs. 3 GG - mittels konkretisierender Auslegung durch die zuständigen Organe und entsprechende Stellungnahmen im Schrifttum lösen. Vielmehr erscheint es unbillig, die erhöhten formellen Anforderungen des Totalrevisionsverfahrens - sie rechtertigen sich lediglich aus der großen Bedeutung für das Gemeinwesen - ausschließlich von der äußeren Gestaltung des Vorhabens abhängen zu lassen. So könnten trotz Beibehaltung der alten äußeren Verfassungsform durch Zugriff auf die materiellen Zentralnormen ganz schwerwiegende inhaltliche Veränderungen herbeigeführt werden. Insofern wird deutlich, daß ein förmlich erschwertes Totalrevisionsverfahren zumindest ergänzend auch dort angebracht ist, wo zwar keine formellen, dafür aber materielle Gesichtspunkte für eine schwerwiegende Veränderung sprechen. Daher müßten für eine vollständige Auflösung der Streitkräfte die sich aus den Artt. 119, 120, 122 und 123 BV ergebenden formellen Anforderungen für ein 7ota/revisionsverfahren beachtet werden 2 4 4 .

242

So auch die tatsächlich erfolgte Einstufung durch die Botschaft des Bundesrates über die

Volksinitiative "für eine Schweiz ohne Armee und für eine umfassende Friedenspolitik", BB1. 1988 I I S. 967 (971). Dazu sogleich ausführlicher. 243

Aubert, Rdnr. 354. Ähnlich auch der Bundesrat, BB1. 1959 I I S. 1294 (1304 ff.), ohne

sich später an diese selbst gesetzten eigenen Maßstäbe zu halten, vgl. etwa BB1. 1988 I I S. 967 (971). 244

Zu diesem Verfahren, dessen Erläuterung den hier relevanten Zusammenhang sprengen

würde, im einzelnen H. Huber, in: FS für Scheuner, S. 183 (194).

3

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

Der Bundesrat hat sich zwar in seiner Botschaft über die Volksinitiative "für eine Schweiz ohne Armee und für eine umfassende Friedenspolitik" 1988 entgegengesetzt, nämlich für eine Partialrevision, ausgesprochen 245 , hierbei aber erhebliche dogmatische Begründungsschwierigkeiten erkennen lassen. Obschon die existentielle Bedeutung der militärischen Sicherheit für die Schweiz betont wird und man auch andeutet, daß dieser Umstand für die Art des Revisionsverfahrens relevant i s t 2 4 6 , wird der Sachverhalt dennoch unter die richtig erkannten Tatbestandsmerkmale falsch subsumiert. Die Entscheidung ergeht ausschließlich wegen bisher fehlender praktischer Erfahrungen mit derart "radikalen" 2 4 7 Initiativen doch zugunsten einer Partialrevision. Diesem Ergebnis kann aber aus den soeben ausführlich erläuterten Gründen gerade nicht gefolgt werden. 2. Materielle Schranken einer Verfassungsrevision?

Einer solchen Revision könnten auch inhaltlich Schranken gesetzt sein. Insbesondere muß untersucht werden, ob bestimmte materielle Werte unantastbar s i n d 2 4 8 . Der überwiegende 249 Teil des schweizerischen Schrifttums - insbesondere Aubert 2 5 0 und Burckhardt 2 5 1 - und der nach Art. 95 BV die Exekutivgewalt repräsentierende Bundesrat 252 lehnen jedwede materielle Schranke für eine Verfassungsrevision ab. Die Abschaffung der militärischen Landesverteidigung könnte insofern unbegrenzt verwirklicht werden.

245

BBl. 1 9 8 8 Ü S . 967 (971).

246

Dies entspricht auch früheren Ausführungen des Bundesrates, vgl. etwa BBl. 1959 I I

S. 1304 ff. 247

BBl. 1 9 8 8 n S . 967 (971).

248

Andere denkbare inhaltliche Schranken, wie z.B. die Begrenzung auf generell-abstrakte

Regelungen oder der Ausschluß tatsächlich unmöglicher Inhalte - dazu J. P. Müller, Haug, S. 195 (201 ff.); Häfelin/Haller, 249

in: FS für

Rdnr. 925 ff. - haben hier keine Bedeutung.

Zu dieser quantitätsbezogenen Bewertung gelangt J. P. Müller,

in: FS für Haug, S. 195

(198). 230

Aubert, Rdnr. 324 ff., der sich bei der Abgrenzung zwischen Partial- und Totalrevision

auch auf materielle Gründe beruft. Zur Differenzierung hinsichtlich der jeweiligen Auswirkung bei der Abgrenzungsfrage einerseits und der Schrankenproblematik andererseits Rdnr. 354. 231

Burckhardt , S. 815.

232

Botschaft betreffend das Volksbegehren zum Schutze der Stromlandschaft Rheinfall-

Rheinau, BBl. 1954 I S . 721 (741 ff.); Bericht an die Bundesversammlung über das Volksbegehren für eine vorübergehende Herabsetzung der Militärausgaben, BBl. 1955 Π S. 325 (340).

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

Dieser Position steht eine hinsichtlich der Einzelfragen uneinheitliche Front von abweichenden Ansichten entgegen, die sich zumindest darin gleichen, daß sie - wenn auch in unterschiedlicher Reichweite - materielle Schranken anerkennen. Hierbei hält Giacometti 2 5 3 diejenigen Verfassungsnormen für "ewig", die die notwendigen Organe der Verfassungsänderung - also Bundesversammlung, Stimmberechtigte und Stände - einsetzen. Die Abschaffimg der militärischen Landesverteidigung wäre hiervon nicht betroffen. Hangartner 254 begrenzt die materiellen Schranken auf ein unmittelbar "der Rechtsidee des Rechtsstaates" entspringendes "ethisches Minimum der Rechtsordnung", das er wiederum aus dem Wortlaut der Überschrift der Bundesverfassung 255 ableitet. N e f 2 5 6 und K ä g i 2 5 7 gehen noch einen Schritt weiter, indem sie die tragenden Grundwerte der Verfassung für unabänderlich halten. H a u g 2 5 8 möchte primär die Freiheits- und Institutsgrundrechte sowie Demokratie und Föderalismus jedweder Revision entziehen. Nach den drei letztgenannten Unteransichten müßte die Abschaffung der militärischen Landesverteidigung - für den Fall einer hinreichend wahrscheinlichen langfristigen Gefahrdung der jeweils für unabänderlich befundenen Werte durch militärische Aggressionen totalitärer Staaten - an solchen materiellen Schranken scheitern. Indes vermag die Konstruktion ungeschriebener materieller Schranken nicht zu überzeugen. Vielmehr steht ihr zunächst entgegen, daß die Bundesverfassung nicht nur im Gegensatz zu ausländischen Verfassungen keinerlei materielle Schranken nennt 2 5 9 , sondern sogar in Art. 118 B V ausdrücklich gestattet, die Verfassung "ganz" zu revidieren. Auch die Entstehungsgeschichte der Bundesverfassung spricht gegen die Existenz materieller Schranken. So waren die Beratungen der am 16. 8. 1847 ernannten Verfassungskommission vom Willen geprägt, die absolute Demokratie insofern zu verwirklichen, als der Souverän die Verfassung jederzeit beliebig sollte abändern können 2 6 0 .

233

Fleiner/Giacometti,

254

Hangartner,

S. 706.

S. 34 und 217 f.

233

Diese Überschrift lautet: "Im Namen Gottes des Allmächtigen !

256

Nef ZSR NF 61/1 (1942), 108 (130 ff.).

237

Kägi, ZSR NF 75/11 (1956), 739a (751a ff.).

238

Haug, S. 234 ff.

239

Hierzu hat die schweizerische Geschichte anders als in Deutschland auch keinen Anlaß

gegeben. Diese historisch unterschiedlich begründete Ausgangsposition betont Häberle, für Haug, S. 81 (106). 260

Vgl. dazu den Bericht des Bundesrates, BB1. 1954 I S. 721 (742).

in: FS

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

Desweiteren verdeutlicht die interne Zerstrittenheit der Gegenansicht 261 , daß es keinen klaren Anhaltspunkt dafür gibt, wo eine derartige Grenze zwischen inhaltlich zulässiger und unzulässiger Verfassungsänderung verlaufen sollte. Schließlich paßt eine solche Grenzziehung auch nicht in das Gewaltengefüge der Bundesverfassung. Hierbei muß - gerade aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts - darauf hingewiesen werden, daß diesbezüglich auf keine Stellungnahme des Bundesgerichts zurückgegriffen werden kann. Zu dieser Problematik wird es auch künftig keinerlei Rechtsprechung des höchsten schweizerischen Gerichts geben, da Art. 113 Abs. 3 BV die Judikativgewalt an die Vorgaben des in der Schweiz durch das Instrument des Volksreferendums gerade unmittelbar-demokratisch legitimierten Bundesgesetzgebers bindet. Das Bundesgericht darf im Interesse der bundesstaatlichen Einheit zwar entsprechende Veränderungen der Kantonalsverfassungen überprüfen. Die dazu vorhandene Kasuistik hilft aber für die hier in Rede stehende Auflösung der Streitkräfte auf Bundesebene nicht weiter, da Prüfüngsmaßstab ausschließlich die übergeordnete Bundesverfassung, nicht aber andere Normen derselben geänderten Verfassung waren 2 6 2 . Angesichts dieser verfassungsgerichtlichen Unzuständigkeit gibt es insofern keine am Revisionsverfahren unbeteiligte übergeordnete Gewalt - eine solche Position kommt in der Bundesrepublik Deutschland aber dem BVerfG als Hüter der Verfassung zu -, die derartigen materiellen Schranken durch Nichtigerklärung eines entgegenstehenden Legislativaktes zur Durchsetzung verhelfen könnte. Zurecht stellt Aubert fest, daß an Stelle einer gerichtlichen Instanz - auch die aus den beiden Parlamentskammern bestehende Bundesversammlung 263 , die für den Beschluß der Referendumsvorlage an Volk und Stände nach Art. 85 Nr. 14 BV zuständig ist, ein vom Volk getragenes Votum nicht wegen angeblichen Verstoßes gegen materielle Verfassungsschranken verwerfen dürfte 2 6 4 . Aus den gleichen Gründen spricht der Bundesrat der Bundesversammlung grundsätzlich die Kompetenz darüber ab, eine Revisionsinitiative wegen angeblicher inhaltlicher Unvereinbarkeit mit bestimmten Verfassungsnormen für ungültig zu erklären. Dies käme anderenfalls einer unzulässigen Beschneidung des höchsten Souveränitäts-

261

Daher spricht H. Huber, in: FS für Scheuner, S. 183 (199) dieser Gegenansicht auch die

notwendige Durchschlagskraft ab. 262

Vgl. dazu den Bericht des Bundesrates, BBl. 1954 I S. 721 (742).

263

Die Bundesversammlung besteht nach Art. 71 BV aus den beiden Abteilungen National-

rat und Ständerat. 264

Aubert, Rdnr. 328.

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

rechts zulasten von Volk und Ständen gleich 2 6 5 . Als einzige Ausnahme wurde bislang anerkannt, daß die Bundesversammlung eine auf ein tatsächlich unmögliches Tun gerichtete Initiative für ungültig erklärt. Hier war der Gedanke ausschlaggebend, daß es für die Aufrechterhaltung des Vertrauens in die demokratischen Einrichtungen besser sei, von vorneherein eine Initiative für ungültig zu erklären, als sie dem Volk und den Ständen vorzulegen, nach einer Annahme aber ihre Ausführung wegen Unmöglichkeit verweigern zu müssen 2 6 6 . Insofern muß man in konsequenter Fortführung der schweizerischen staatsrechtlichen Gesamtsystematik auf die politische Einstellung und Besonnenheit der Bevölkerung 267 vertrauen. Nur diese Lösung wird dem Prinzip der unmittelbaren Demokratie gerecht, die insoweit die Verfassungsjudikatur zurückdrängt. Vor diesem dogmatischen Hintergrund ist auch die Tatsache zu verstehen, daß die im Jahre 1986 ins Leben gerufenen Initiative "für eine Schweiz ohne Armee und für eine umfassende Friedenspolitik" von der Bundesversammlung nicht für ungültig erklärt wurde 2 6 8 . Daher wäre eine entsprechende Verfassungsrevision für einen Verzicht auf jedwede Streitkräftestruktur keinen verfassungsrechtlichen Grenzen ausgesetzt und könnte anders als in Deutschland verwirklicht werden. Das Volk hat es als Souverän aber bisher deutlich abgelehnt, eine solche Revision zu realisieren. Das soeben angesprochene Referendum wurde am 26. 11. 1989 bei einer Stimmbeteiligung von 68,5 % mit 64,4 % zu 35,6 % der abgegebenen Stimmen verworfen. Lediglich innerhalb der beiden Kantone Genf und Jura ergab sich eine regionale Mehrheit an Befürwortern von 50,4 % bzw. 55,5 %. In dem an Deutschland angrenzenden Kanton Basel-Stadt sprachen sich noch 45,1 % für eine Abschaffung der Streitkräfte aus 2 6 9 . Die vergleichende Berücksichtigung der schweizerischen Verfassungsrechtslage zeigt insofern deutlich auf, daß die Unabänderlichkeit staatlicher Schutzpflichten zur Erhaltung insbesondere menschenwürdiger Lebensbedingungen auch in einer freiheitlichen Demokratie nicht selbstverständlich ist. Statt dessen kann gerade eine unmittelbar-demokratische Staatsform, die sich

265

Vgl. dazu den Bericht des Bundesrates, BB1. 1954 I S. 721 (733 f.).

266

Zweiter Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über das Volksbegehren für

eine vorübergehende Herabsetzung der Militärausgaben, BB1. 1955 H S. 325 (341). 267

So H. Huber, in: FS für Scheuner, S. 183 (199).

268

Dazu die entsprechende Botschaft des Bundesrates vom 25. 5. 1988, BB1. 1988 Π

S. 967. 269

An gab αϊ über das Abstimmungsergebnis finden sich im Archiv der Gegenwart 1989,

33988 A 2.

Α. Verfassungsrechtliche Grenzen

im Laufe der eigenen verfassungsgeschichtlichen Entwicklung dauerhaft ihre freiheitlichen Grundprinzipien erhalten hat, dem stimmberechtigten Volk uneingeschränkte Kompetenzen zur Verfassungsrevision einräumen. Die im Gegensatz dazu in Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegte materielle Begrenzung von Verfassungsänderungen ist folgerichtige Konsequenz aus den Erfahrungen des unzureichenden Demokratiebewußtseins während des Übergangs von der Weimarer Republik als erster deutscher Demokratie in den Nationalsozialismus.

7 Fröhler

Β. Völkerrechtliche Grenzen einer Grundgesetzänderung zur vollständigen Auflösung der Streitkräfte Einer Verfassungsänderung zur vollständigen Abschaffung der Streitkräfte könnte nicht nur höherrangiges Verfassungsrecht, sondern auch Völkerrecht entgegenstehen. Bevor auf eine etwaige völkerrechtliche Verpflichtung zur Aufstellung nationaler Streitkräfte eingegangen werden kann, muß zunächst die völkerrechtliche Zulässigkeit einer solchen Maßnahme überprüft werden.

L Die völkerrechtliche Berechtigung eines Staates zur Organisation einer militärischen Landesverteidigung Streitkräfte werden letztlich mit dem Ziel aufgestellt, im Kriegsfall die Interessen des eigenen Staates gewaltsam durchzusetzen. Grundsätzlich besteht für Deutschland ein völkerrechtliches Gewaltanwendungsverbot. Das ergibt sich zum einen aus Art. I des aus dem Jahre 1928 stammenden Vertrages über die Ächtung des Krieges (Kellogg-Pakt), der durch das Deutsche Reich nach Art. 45 WRV unterzeichnet wurde 1 und in transfomierter Form nach Art. 123 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 124 GG für die Bundesrepublik Deutschland fortgilt. Das grundsätzliche Gewaltanwendungsverbot resultiert für Deutschland als UN-Mitglied darüber hinaus auch aus Art. 2 Nr. 4 SVN 2 . Dennoch erforderlich werdende Gewaltanwendung im Rahmen militärischer Landesverteidigung ist jedoch durch das Recht auf Selbstverteidigung aus Art. 51 SVN gerechtfertigt 3. Daher ist Deutschland zur Aufstellung von Streitkräften jedenfalls völkerrechtlich befügt. Das gleiche gilt für die Schweiz, die weder UNMitglied noch Unterzeichner des Kellogg-Paktes ist, nach Völkergewohnheits-

1

Vgl. RGBl. 1929 Ü S . 97.

2

Art. 2 Nr. 4 S V N wird durch die in Art. 2 Nr. 3 i.V.m. Art. 33 Abs. 1 S V N normierte

Verpflichtung zur friedlichen Streitbeilegung ergänzt. Vgl. dazu Stern, Staatsrecht Π , § 42 I. 6. 3

Bey eri in, S. 49; Walz, NZWehrr 1989, 189 (193).

99

Β. Völkerrechtliche Grenzen

recht 4 . Daher sind Deutschland und die Schweiz zur Aufstellung von Streitkräften zumindest berechtigt.

Π . Völkerrechtliche Verpflichtungen Deutschlands zur Aufstellung von nationalen Streitkräften 1. Aus einer allgemeinen Regel des Volkerrechts auf Schutzgewährung zugunsten der eigenen Staatsangehörigen gegenüber dem Ausland?

Es gibt keine allgemeine Regel des Völkerrechts - eine solche würde nach Art. 25 GG Zwischenrang 5 innerhalb der deutschen Normenhierarchie einnehmen -, nach der der Heimatstaat seine Staatsangehörigen gegenüber dem Ausland schützen muß6. Letzteres ist völkerrechtlich lediglich erlaubt, wofür die soeben erläuterte Regelung des Art. 51 S V N ein Indiz ist. 2. Aus der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten

Eine völkerrechtliche Grenze für die vollständige Abschaffung von Streitkräften könnte sich aber aus der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergeben. a) Grundsätzliche Beschränkung auf innerstaatliche Schutzansprüche? Dem könnte zunächst die insbesondere von Blumenwitz vertretene Ansicht entgegenstehen, eine individualbezogene staatliche Schutzverpflichtung ergebe sich ausschließlich aus innerstaatlichem Recht 7 . Diese These ist jedoch aus zwei Gründen unzutreffend.

4

Zum völkergewohnheitsrechtlichen Gewaltverbot Beyerlin,

3

BVerfGE 6, 309 (363); 37, 271 (278 f.); Schweitzer, Rdnr. 359, der auch knapp auf

S. 43.

denkbare Alternativergebnisse (Verfassungs- bzw. Überverfassungsrang) eingeht. 6

Geck, ZaöRV 17 (1956/57), 476 (512); Oberthür,

7

Blumenwitz,

S. 5 ff.

S. 81 mit weiteren Nachweisen. Die dortigen Ausführungen befassen sich

mit dem sogenannten "diplomatischen Schutz" deutscher Staatsangehöriger gegenüber dem Ausland. Darunter versteht man repressiven wie präventiven staatlichen Schutz von Personen vor völkerrechtswidrigen Handlungen einer ausländischen Staatsgewalt; dazu Geck, in: Wörterbuch des Völkerrechts, Erster Band, S. 379. Der Anwendungsbereich beschränkt sich mithin nicht leT

100

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

Zum einen wird das in Rede stehende Völkerrecht durch die Artt. 25 und 59 Abs. 2 Satz 1 GG nach entsprechender Transformation ohnehin innerstaatliches Recht, so daß sich eine Herleitung der Schutzverpflichtung aus dem Völkerrecht und das Erfordernis innerstaatlicher Regelungen nicht gegenseitig ausschließen. Zum anderen leidet die Argumentation der oben genannten Ansicht an der Pauschalität ihrer begründenden Verweisung auf die Arbeit Doehrings 8 und übersieht dabei, daß Doehring die Ablehung einer völkerrechtlichen Schutzverpflichtung ausdrücklich auf die allgemeinen Regeln des Völkerrechts reduziert, aber durch Vertragsgesetz transformierte Schutzpflichten aus ratifiziertem Völkerrechtsvertrag wie der EMRK akzeptiert 9. Auf nationaler Ebene würden die als einfaches Gesetz transformierten Regelungen der EMRK zwar von einer entgegenstehenden Verfassungsnorm verdrängt 10 . Nach außen hat sich die Bundesrepublik Deutschland aber durch die Ratifikation hinsichtlich der Einhaltung dieser Regelungen verantwortlich gemacht 11 . Die Ableitung von Schutzpflichten ist daher auch aus der EMRK möglich. b) Schutzbereich Ausgehend von den oben herausgearbeiteten, bei militärischen Aggressionen totalitärer Staaten typischerweise verletzten Schutzgütern 12 könnten hier insbesondere die Artt. 2 Abs. 1 (Lebensrecht), 3 (Folterverbot), 4 Abs. 1 (Sklavereiverbot), 5 Abs. 1 (Freiheits- und Sicherheitsrecht), 9 Abs. 1 (Gewissens· und Religionsfreiheit) und 10 Abs. 1 (Meinungsfreiheit) EMRK betroffen sein.

diglich auf das Tätigwerden diplomatischer Vertretungen oder des Auswärtigen Amtes. Derartige Schutzmaßnahmen sind beispielsweise Gegenstand der Ausführungen von Blumenwitz, FS für Ferid, S. 439 (443), Dietlein, S. 42, E. Klein,

in:

S. 122, Geck, ZaöRV 17 (1956/57), 476 ff., Jürgens,

D Ö V 1977, 704 und Oberthür,

S. 8 sowie der verfassungsgerichtlichen

Entscheidungen in BVerfGE 6, 290; 36, 1; 37, 217; 40, 141. Darüber hinaus muß als "ultima ratio jeder Schutzausübung" auch der "Schutz durch die bewaffnete Macht" erwogen werden; so ausdrücklich Doehring,

Diplomatischer Schutz, S. 46. Ähnlich zieht auch Mössner, S. 96 die

verschiedensten Mittel von der diplomatischen Note bis zur militärischen Intervention als Schutzmaßnahmen des diplomatischen Schutzes in Betracht. 8

Blumenwitz,

9

Doehring,

10

S. 81, Fn. 329. Diplomatischer Schutz, S. 13.

Dazu ausführlich sogleich d) aa).

11

Dazu ausführlich sogleich d) bb).

12

Dazu ausfuhrlich oboi Α. II. 1. b) aa) aaa).

Β. Völkerrechtliche Grenzen

101

Art. 2 Abs. 1 Satz 1 der von der Bundesrepublik Deutschland ratifizierten 13 EMRK enthält eine ausdrückliche Verpflichtung zu gesetzlichem Schutz des Lebensrechts, der nur in den Fällen des Absatzes 2 zur Verteidigung eines Menschen, bei Festnahmen und zur Unterdrückung von Aufruhr Ausnahmen erfahrt. Die anderen normierten Rechte nennen die staatliche Verpflichtung zum aktiven Tun zwar nicht ausdrücklich. Diese könnte sich aber aus der vor die Klammer gezogenen allgemeinen Zusicherung der in der Konvention nachfolgend niedergelegten Rechte in Art. 1 EMRK und aus einer ergänzenden Auslegung der betroffenen Rechte selbst ergeben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hält nach einer Entscheidung aus dem Jahre 1981 in einer innerstaatlichen Zivilrechtsauseinandersetzung, bei der Arbeitnehmer von ihrem Arbeitgeber wegen Verweigerung des Gewerkschaftsbeiritts gemäß einer entsprechenden Arbeitsvertragsklausel entlassen wurden, die Aufhebung eines früheren Schutzgesetzes zum Verbot solcher Entlassungsklauseln für eine eingriffsrelevante staatliche Maßnahme. Der hierfür maßgebende Schutzbereich des Art. 11 EMRK sieht ähnlich wie die Artt. 3, 4 Abs. 1, 5 Abs. 1, 9 Abs. 1 und 10 Abs. 1 EMRK keine ausdrückliche staatliche Schutzpflicht vor. Der Gerichtshof leitet diese Pflicht zum gesetzlichen Schutz vor derartigen Arbeitsvertragskündigungsklauseln aus dem vor die Klammer gezogenen Tatbestand des Art. 1 EMRK ab 1 4 . Danach sichern die Unterzeichnerstaaten allen ihrer Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen die in der EMRK niedergelegten Rechte und Freiheiten zu. Diese Konstruktion kann aber deshalb nicht überzeugen, weil nach dem Wortlaut des Art. 1 EMRK nur die nachfolgenden Rechte - im besprochenen Urteil: Art. 11 EMRK - zuzusichern sind und Art. 1 EMRK den Schutz aus Art. 2 ff. EMRK nicht erweitert, sondern nur die typische völkervertragliche Konsequenz der innerstaatlichen Transformation manifestiert 15 . Den Tatbeständen ist aber als Ausgleich für ein - den der Herrschaftsgewalt der Unterzeichnerstaaten unterstehenden Personen notwendigerweise auferlegtes - allgemeines Selbsthilfeverbot eine staatliche Schutzpflicht gegenüber Übergriffen durch Dritte zu entnehmen. Dritte, deren Handlungen eine solche 13

Ratifikation

durch den Bundespräsidenten

auf Grund des Vertragsgesetzes nach

BGBl. 1952 I I S. 685 bzw. 953 (Berichtigung). 14

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 13. 8. 1981, Pubi. Ser. A, Vol.

44, S. 5 (20). Eine deutschsprachige inhaltliche Besprechung dieses Urteilsgesichtspunktes findet sich bei Murswiek, 13

Ähnlich Murswiek,

in: Grundrechtsschutz, S. 213 (218 ff.). in: Grundrechtsschutz, S. 213 (222 f.).

10

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

nationale Schutzpflicht auslösen, können sowohl Privatpersonen 16 als auch fremde Staaten sein, da auch gegen derartige Angriffe von außen das innerstaatliche Gewaltmonopol durch das Verbot von Privatmilizen 17 zu wahren ist. Insofern ergibt sich auch aus den Artt. 3, 4 Abs. 1, 5 Abs. 1, 9 Abs. 1 und 10 Abs. 1 EMRK eine Pflicht zum Schutz vor militärischen Aggressionen durch Drittstaaten. Die EMRK schützt auch präventiv vor Gefahrdungen 18. Eine entsprechende Gefährdung der hier in Betracht kommenden Rechte ist aus den oben ausführlich herausgearbeiteten Gründen zu bejahen. c) Unzulässige europäische Einmischung in die nationale Sicherheitspolitik? Kommission und Gerichtshof müssen bei der Gefahrenprognose eigene Erwägungen über Vorhandensein und Ausmaß von Gefahrdungspotentialen anstellen. Dies erscheint zunächst in Hinblick auf die territoriale Souveränität eines jeden Staates als bedenkliche Einmischung von außen in dessen politische Gestaltungsfreiheit und wiegt zweifelsohne schwerer als die weiter oben dargestellte innerstaatliche Funktionsverschiebung zugunsten der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber der Legislativgewalt. Gleichwohl ist eine solche europäische "Einmischung" aus mehreren Gründen gerechtfertigt. Zunächst werden die EMRK-Organe ausschließlich zur Vermeidung von Menschenrechtsgefahrdungen tätig, nicht hingegen - wie dies aber bei innerstaatlichem Rechtsschutz eine (mit-) entscheidende Rolle spielen kann 1 9 zur Bewahrung der Staatlichkeitsvoraussetzungen der Bundesrepublik Deutschland, die diesbezüglich in der Tat für sich alleine verantwortlich ist. Zum zweiten hat sich die Bundesrepublik Deutschland mit der Zuständigkeitsanerkennung von Kommission und Gerichtshof 20 freiwillig ihres Alleineinschätzungsrechts in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen begeben.

16

So Murswiek,

in: Grundrechtsschutz, S. 213 (226) für den oben genannten EGMR-Fall

des Schutzes vor innerstaatlichen Eingriffen privater Arbeitgeber. 17

Dazu ausführlich oben Α. II. 1. d) aa).

18

Europäische Kommission für Menschenrechte, Entscheidung 7154/75, DR 14, 31 ff.

zum Lebensrecht aus Art. 2 EMRK. Frowein, in: Frowein/Peukeri, Art. 2 EMRK, Rdnr. 6. 19

Dazu ausführlich oben Α. II. 1. c).

20

Dazu sogleich d) bb).

Β. Völkerrechtliche Grenzen

10

Zum dritten verbleibt der Bundesrepublik Deutschland aus ihrer territorialen Souveränität noch ein immenser Spielraum bei der Ausgestaltung der festgestellten Schutzpflicht insbesondere hinsichtlich der Entscheidungen darüber, wie umfangreich, mit welcher Bewaffnung und unter welchen Einsatzbedingungen die Streitkräfte aufgestellt werden. Demnach ist die Bundesrepublik Deutschland auch völkerrechtlich zur aktiven Gewährleistung von Schutz - auch vor militärischen ausländischen Aggressionen - verpflichtet. Hierzu muß der Exekutiven, die nach Art. 115b GG letztlich über die konkreten Maßnahmen entscheidet, zumindest die Option einer militärischen Verteidigung zur Verfügung stehen. Die völlige Abschaffung jedweder Streitkräftestrukturen würde angesichts einer in der derzeitigen weltund sicherheitspolitischen Lage nicht auszuschließenden militärischen Aggression den jeweiligen Schutzbereich aus den Artt. 2 Abs. 1 Satz 1, 3, 4 Abs. 1, 5 Abs. 1, 9 Abs. 1 und 10 Abs. 1 EMRK verletzen. d) Rechtsfolgen Fraglich ist, welche Rechtsfolgen aus der Verletzung einer solchen völkerrechtlichen Schutzpflicht resultieren können. Hierbei müssen die völkerrechtliche und die innerstaatliche Ebene unterschieden werden. aa) Auf innerstaatlicher Ebene In deutsches Recht transformiertes 21 Völkerrecht erlangt niemals innerstaatlichen Verfassungsrang. Das gilt sowohl für allgemeine Grundsätze des Völkerrechts, die nach Art. 25 Satz 2 GG Zwischenrang 22 über einfachem Recht, aber unter Verfassungsrecht einnehmen, als auch für Völkerrechtsverträge, die mangels ausdrücklicher Rangzuweisung in Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG nur den Rang ihrer Transformationsnorm, mithin den einfachgesetzlichen 23

21

Nach ganz überwiegender Rechtsauffassung in Deutschland gilt Völkerrecht nicht auto-

matisch innerstaatlich, sondern bedarf hierzu der Transformation. Zur Gesamtproblematik bezüglich Adoptions-, Vollzugs- und Transformationstheorie umfassend Schweitzer, Rdnr. 307 ff. 22

BVerfGE 6, 309 (363); 37, 271 (278 f.). Eine Übersicht zu den Ansichten, die von Ver-

fassungs- oder gar Überverfassungsrang ausgehen, sich aber nicht haben durchsetzen können, findet sich bei Schweitzer, Rdnr. 359. 23

BVerfGE 74, 358 (370); Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 1 GG, Rdnr. 59; von Münch, in:

von Münch/Kunig, Vorbemerkungen zu den Art. 1 - 1 9 GG, Rdnr. 80; Schweitzer, Rdnr. 335. Anders Kl e eb erger, S. 49 ff., der der EMRK Verfassungsrang mit Anwendungsvorrang im Falle

10

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

Rang des Vertragsgesetzes, erreichen 24 . Transformiertes Völkerrecht wird daher in der nationalen Normenhierarchie vom Verfassungsrecht verdrängt. Selbst wenn die Aufstellung von Streitkräften völkerrechtswidrig wäre, könnte die verletzte Völkerrechtsnorm gegenüber einer Verfassungsänderung zur Auflösung der Streitkräfte keine begrenzende Wirkung entfalten. Eine völkerrechtliche Bindung könnte aber dadurch bestehen, daß sich die Bundesrepublik durch die oben genannte Ratifikation nach außen zur Einhaltung dieser Inhalte verpflichtet hat. Es stellt sich daher die Frage nach den Rechtsfolgen einer Verletzung der EMRK auf völkerrechtlicher Ebene. bb) Auf völkerrechtlicher Ebene Die Bundesrepublik Deutschland wird als exportabhängiges Industrieland schon eine außenpolitische Isolation zu vermeiden bestrebt sein und völkerrechtliche Verpflichtungen daher erfüllen. Darüber hinaus kann sie dazu auch mit den Instrumentarien des Völkerrechts gerichtlich verurteilt werden. Nach Art. 46 WVRK, zu deren Unterzeichnern sowohl die Bundesrepublik Deutschland 25 als auch die anderen EMRK-Staaten gehören, könnte sich die Bundesrepublik Deutschland nur dann auf dem Völkerrecht entgegenstehendes nationales Verfassungsrecht berufen, wenn dieses innerstaatlich begründete Hindernis offenkundig und grundlegend ist. Hier stand zur maßgeblichen Zeit des völkerrechtlichen Vertragsabschlusses im Jahre 1952 keine innerstaatliche Verfassungsregelung entgegen. Auf Grund der alliierten Besetzung in der Nachkriegszeit konnte die deutschen Staatsgewalt erst mit Erlangung der Souveränität im Jahre 1956 die Aufgabe der Landesverteidigung nach entsprechender Verfassungsänderung selbst durch eigene Streitkräfte 26 übernehmen. Bis dahin wurde die militärische Sicherheit durch die Besatzungsmächte sichergestellt. Zum maßgeblichen Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertragsgesetzes zur EMRK im Jahre 1952 sprach sich das Grundgesetz gerade nicht gegen eine militärische Landesverteidigung aus, sondern setzte lediglich die da-

des qualitativen Zurückbleibens der nationalen Verfassung hinter dem EMRK-Standard zuerkennt. 24

Zum gleichen Ergebnis gelangt, wer an Stelle der Umsetzung von Völkerrecht in natio-

nales Recht (Transformation) der Vollzugslehre folgt und das Vertragsgesetz lediglich als Anwendungsbefehl wertet. Dazu Schweitzer, Rdnr. 336. 25

BGBl. 1985 Π S. 926 (Vertragsgesetz); BGBl. 1987 I I S. 757 (Bekanntmachung über

das Inkrafltreten). 26

Zur Entwicklung im einzelnen unten 2. Teil: A. III. 1. c) ee).

Β. Völkerrechtliche Grenzen

10

mais noch treuhänderisch von den Alliierten wahrgenommene Schutzleistung voraus. Daher ergibt sich aus Art. 46 WVRK eine nach außen gerichtete völkerrechtliche Bindung an die aus der EMRK resultierenden Verpflichtungen. Diese Bindung könnte allenfalls durch eine - hier nicht in Rede stehende Kündigung nach Art. 65 EMRK entfallen. Wegen des Verstoßes gegen die Schutzpflichten aus den Artt. 2 Abs. 1 Satz 1, 3, 4 Abs. 1, 5 Abs. 1, 9 Abs. 1 und 10 Abs. 1 EMRK kann nach vorheriger Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges gemäß Art. 26 EMRK durch jeden betroffenen Bürger nach Art. 25 oder durch jeden Vertragsstaat nach Art. 24 EMRK die Europaratskommission angerufen werden. Bei Erfolglosigkeit in der obigen Vorinstanz kann die Rechtssache auf Initiative eines Vertragsstaates oder der Kommission im Rahmen des Art. 48 EMRK beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg anhängig gemacht werden. Die hierfür erforderliche Anerkennung der Zuständigkeit des EGMR ist von allen Vertragsstaaten - außer der Türkei und Malta erklärt worden 27 . Hierbei ist insbesondere hervorzuheben, daß jeder Vertragsstaat appelationsfahig ist und nicht nur zugunsten seiner eigenen Staatsangehörigen, sondern auch zugunsten der Staatsangehörigen des Verletzerstaates tätig werden kann 2 8 . Deutschland wäre dann nach Art. 53 EMRK zur Umsetzung eines entsprechenden Urteils des EGMR verpflichtet. Daher ergibt sich aus der EMRK unabhängig von der innerstaatlichen Verfassungsentwicklung eine völkerrechtlich gerichtlich durchsetzbare Verpflichtung zur Organisation einer militärischen Landesverteidigung.

27

Frowein, in: Frowein/Peukert, Einführung, Rdnr. 3.

28

Vgl. dazu beispielsweise den Fall, aus dessen Anlaß Österreich im Jahre 1961 gegen

Italien auf Grund der strafrechtlichen Verurteilung italienischer Jugendlicher durch ein italienisches Gericht wegen Mordes an einem italienischen Grenzbeamten in Italien (aber nahe des südtirolischen Bozen) klagte. Der Fall weist angesichts des Südtirol-Problems eine ganz besonders delikate Note auf; Österreich gegen Italien, Europäische Kommission für Menschenrechte, Entscheidung 788/60, YB 4 (1961), 116 ff. Dazu Schctupp-Haag, S. 68 f.

10

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

3. Aus dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966

Eine weitere völkerrechtliche Schutzpflicht könnte sich aus dem von Deutschland ratifizierten 29 Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte ergeben. Dieser Pakt verkörpert die vertragliche Verpflichtung der bereits im Jahre 1948 ausgearbeiteten allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 30. Im Gegensatz zur EMRK ist der IPbürgR auch Nichtmitgliedstaaten des Europarates zugänglich. Ähnlich wie in der EMRK wird nur in Bezug auf das Lebensrecht (Art. 6 Abs. 1 Satz 2 IPbürgR) eine ausdrückliche gesetzgeberische Handlungspflicht zum staatlichen Schutz formuliert. Hinsichtlich der anderen, wegen der oben ausführlich dargelegten Gründe insbesondere bedrohten Schutzbereiche aus den Artt. 7 (Verbot von Folter und medizinischen Versuchen), 8 Abs. 1 (Verbot der Sklaverei), 9 Abs. 1 Satz 1 (Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit), 10 Abs. 1 (Recht auf Menschenwürde bei Freiheitsentzug), 18 Abs. 1 Satz 1 (Gewissens- und Religionsfreiheit) und 19 Abs. 1 IPbürgR (Meinungsfreiheit) kann auf den deutlichen Wortlaut von Art. 2 Abs. 2 IPbürgR verwiesen werden, der als allgemeiner vor die Klammer gezogener Grundsatz die Unterzeichnerstaaten verpflichtet, gesetzgeberisch und auf anderweitige Art allen nachfolgenden Einzelverbürgungen innerstaatliche Wirksamkeit zu verleihen. Der Menschenrechtsausschuß hat im Jahre 1982 die staatliche Gewährleistungspflicht für den Lebensschutz ausdrücklich auf die Verhinderung von Kriegen bezogen. Maßnahmen zur Kriegsverhinderung - insbesondere von Atomkriegen - sowie zur Stärkung des Weltfriedens seien "wichtigste Bedingung und Garantie für den Schutz des Rechts auf Leben". Hieraus folge bezüglich Art. 6 IPbürgR die "höchste Pflicht" der Staaten, Kriege, die Menschen willkürlich ihres Lebens berauben, zu verhindern 31 . Darüber hinaus ist zu beachten, daß das in Art. 1 Abs. 1 IPbürgR genannte Selbstbestimmungsrecht der Völker zwar kollektiver Natur ist, aber auch unmittelbare Wirkung gegenüber dem einzelnen entfaltet 32 .

29

BGBl. 1 9 7 3 U S . 1534.

30

Nowak, Einführung, Rdnr. 1.

31

Allgemeine Bemerkungen des Menschenrechtsausschusses 6/16, Ziffer 2 wiedergegeben

bei Nowak, S. 879. Dazu Nowak, Art. 6 IPbürgR, Rdnr. 5 und 9. 32

Denkschrift zum IPbürgR, BTDrucks. 7/660, S. 27 (28).

Β. Völkerrechtliche Grenzen

10

Angesichts der oben genannten Notwendigkeit, militärischen Aggressionen durch die Organisation von Streitkräften vorzubeugen, ergibt sich auch aus den Artt. 1 Abs. 1, 6 Abs. 1 Satz 2 und 2 Abs. 2 in Verbindung mit den Artt. 7, 8 Abs. 1, 9 Abs. 1, 10 Abs. 1, 18 Abs. 1 Satz 1 und 19 Abs. 1 IPbürgR eine Pflicht zur Aufstellung von Streitkräften. Wie und in welchem Umfang dies geschieht, bleibt alleine dem jeweiligen Ermessen des betroffenen Staates überlassen. Im Falle eines staatlichen Verstoßes gegen die obigen Rechte befaßt sich nach den Artt. 28 und 40 IPbürgR der Menschenrechtsausschuß im zwingenden allgemeinen Berichtssystem mit dem Vorfall. Angesichts ensprechender Verfahrensanerkennung durch die Bundesrepublik Deutschland 33 ist darüberhinaus auch eine fakultative Staatenbeschwerde nach Art. 41 IPbürgR möglich. Eine Kontrolle durch Individualbeschwerdeverfahren scheidet aus, da Deutschland hierzu keine nach Art. 44 IPbürgR in Verbindung mit Art. 1 des Fakultativprotokolls 34 erforderliche Erklärung ratifiziert hat 3 5 . 4. Aus dem Brüsseler-Vertrag

In Art. V Brüsseler-Vertrag 36 hat sich Deutschland neben sonstiger Hilfe und Unterstützung insbesondere zur militärischen Hilfe verpflichtet, wenn einer der Bündnisstaaten Opfer eines bewaffneten Angriffs werden sollte 37 . Der Brüsseler Vertrag ist aber keineswegs (mehr) als ein isoliert konzipiertes Regelwerk zu verstehen, sondern darf vielmehr immer nur in Zusammenhang mit dem Nordatlantik-Vertrag ausgelegt werden. Dem Brüsseler Vertrag vom März 1948 folgte alsbald im Jahre 1949 die NATO-Gründung. Aus diesem Anlaß wurden sämtliche Verteidigungsaufgaben geschlossen auf die NATO übertragen 38 . Zusammen mit dem Beitritt Italiens und der Bundesrepublik Deutschland zur von nun an neu (vormals alleine nach dem Brüsseler Vertrag) benannten WEU wurde im Jahre 1954 durch das erste von insgesamt vier parallel beschlossenen Zusatzprotokollen ein neuer Art. I V in den Brüsseler· Vertrag eingefügt. Dieser Art. I V blockiert die militärische Bündnispflicht 33

Nachgewiesen bei Nowak, S. 848.

34

Fakultativprotokoll zu dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte

(deutsche Übersetzung), BTDrucks. 7/660 S. 66. 33

Dazu Denkschrift, BTDrucks. 7/660, S. 27 (41).

36

BGBl. 1955 Π S. 283. Später wurde das Bündnis in "WEU" umbenannt.

37

Zu Einzelheiten wie etwaigen Höchststärken Walz, NZWehrr 1984, 23.

38

Hiezu ausführlicher Fischer, Europa-Archiv 1959 I, 47 (51 ).

10

. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

aus Art. V durch den ausdrücklichen Verweis bezüglich militärischer Angelegenheiten auf den Nordatlantik-Vertrag 39 . Art. V Brüsseler-Vertrag ist daher gleichsam schwebend unwirksam, solange die NATO besteht 40 . Gleichwohl setzt der Brüsseler-Vertrag trotz ausgesetzter militärischer Beistandspflicht in seinem Wesen als Militärbündnis gerade wegen der Verbindung zum Nordatlantik-Vertrag gleichsam als Geschäftsgrundlage voraus, daß die Mitgliedstaaten Streitkräfte zumindest bereithalten, um zu einem militärischen Beistand überhaupt in der Lage zu sein. Eine innerstaatliche Abschaffung oder (letztlich) Nichtaufrechterhaltung der Bundeswehr würde daher jedenfalls gegen den Grundkonsens des Brüsseler-Vertrag verstoßen. Da bei Vertragsschluß im Jahre 1955 das Grundgesetz über Art. 73 Nr. 1 GG eine militärische Landesverteidigung vorsah, kann sich Deutschland im Falle einer späteren Grundgesetzänderung zur Auflösung seiner Streitkräfte wegen Art. 46 W V R K 4 1 nicht auf von da an entgegenstehendes nationales Verfassungsrecht berufen. Daher ist Deutschland unabhängig von internen Verfassungsentwicklungen über die Grundaussage des Brüsseler-Vertrages in Verbindung mit dem Nordatlantik-Vertrag bis zum frühestmöglichen Kündigungstermin nach Art. X I I Brüsseler Vertrag völkerrechtlich zur Aufstellung militärischer Kräfte verpflichtet. Soweit Deutschland dennoch auf eigene Streitkräfte verzichten würde, könnten die anderen Bündnisstaaten - wegen Art. 34 Abs. 1 StIGH aber nicht die WEU als solche - diesen Verstoß durch Klageerhebung vor dem IGH in Den Haag nach Art. 36 Abs. 1 und Art. 40 Abs. 1 StIGH geltend machen. Art. X Abs. 2 Brüsseler Vertrag verweist auf Art. 36 Abs. 2 StIGH und sieht die Möglichkeit vor, den IGH in Streitigkeiten, die den Brüsseler Vertrag betreffen, anzurufen. Auch die Bundesrepublik Deutschland hat die Zuständigkeit des IGH insoweit als obligatorisch anerkannt 42 .

39

Dazu sogleich unten 5.

40

Bartke, S. 191.

41

Dazu ausführlicher oben 2. d) bb).

42

Bekanntmachung vom 6. 7. 1956, BGBl. 1956 I I S. 809 über die Unterwerfung der

Bundesrepublik Deutschland unter die Gerichtsbarkeit des I G H in Bezug auf Art. X Brüsseler Vertrag.

Β. Völkerrechtliche Grenzen

10

5. Aus dem NATO-Vertrag

Eine völkerrechtliche Verpflichtung zur Aufstellung von Streitkräften könnte sich schließlich auch aus dem Nordatlantik-Vertrag 43 ergeben. Zwar überläßt es Art. 5 Abs. 1 Nordatlantik-Vertrag der nationalen Entscheidungsfreiheit der einzelnen Bündnisstaaten, welche Maßnahmen zur Erfüllung der Beistandspflicht für erforderlich gehalten und daher eingeleitet werden 44 , und zwingt insofern nicht zu militärischem Beistand 45 . Auch Art. 3 Nordatlantik-Vertrag, der eine gegenseitige Unterstützung gegen bewaffnete Angriffe vorsieht, bewirkt selbst bei vorheriger Zustimmung der deutschen Vertreter im NATO-Rat keine völkerrechtliche Bindung des deutschen Bundestages zur Festsetzung eines (bestimmten) Verteidigungshaushaltes. Im Rahmen der Jahreserhebung der NATO-Mitgliedstaaten werden lediglich solche Rüstungsverpflichtungen eingegangen, die nach autonomer nationaler Entscheidung als etatmäßig vertretbar anerkannt worden sind. Bei dieser Jahresrechnung gilt die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu sogenannten "festen Zielen" nur insoweit, als diese Ziele mit den national eigenständig beschlossenen und in den innerstaatlichen Haushaltsplänen ausgewiesenen Verteidigungsprogrammen übereinstimmen 46 . Soweit überhaupt kein Verteidigungsprogramm beschlossen wäre, bestünde daher auch keine Bindung. Art. 11 Satz 1 Nordatlantik-Vertrag betont nochmals ausdrücklich den Vorrang der nationalen Verfassungslage bei der Durchführung des Vertrages 47 . Gleichwohl setzt der Vertrag in seinem Grundcharakter als Militärbündnis - insbesondere durch die ausdrückliche Erwähnung der Waffengewalt als Beistandsmaßnahme in Art. 5 Abs. 1 und hinsichtlich des historischen Hintergrundes der westlichen Besorgnis um die sowjetische Hochrüstungspolitik im Gründungsjahr 1949 - voraus, daß jeder Bündnisstaat zumindest die

43

BGBl. 1955 I I S. 256 (289) in der Fassung des Protokolls vom 17. 10. 1951, BGBl.

1955 Π S. 293. 44

Art. 5 Abs. 1 Nordatlantik-Vertrag lautet auszugsweise: "... die Maßnahmen, ein-

schließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet,...". 45

K. Ipsen, JöR n.F. 21 (1972), 1 (19). Dazu weiter vertiefend K. Ipsen, Verteidigung,

S. 44 ff. 46

K. Ipsen, in: Bonner Kommentar, Art. 87a GG, Rdnr. 24.

47

Art. 11 Satz 1 Nordatlantik-Vertrag lautet auszugsweise: "Der Vertrag ist von den Par-

teien in Übereinstimmung mit ihren verfassungsmäßigen Verfahren ... in seinen Bestimmungen durchzuführen".

10

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

Möglichkeit zur militärischen Hilfeleistung besitzt 48 . Die Aufnahme Deutschlands in die NATO im Jahre 1955 sollte gerade das militärische Verteidigungspotential in Westeuropa stärken. Daher verstieße die völlige Abschaffung von Streitkräftestrukturen in Deutschland gegen den dem Nordatlantikpakt immanenten Basisgedanken, wenigstens die Option einer militärischen Hilfeleistung zu wahren. Nach Art. 46 WVRK könnte sich die Bundesrepublik Deutschland dieser völkerrechtlichen Verpflichtung auch durch eine spätere innerstaatliche Verfassungsänderung nicht entziehen. Denkbar wäre allenfalls eine Vertragskündigung nach Art. 13 Nordatlantik-Vertrag. Den anderen einzelnen Bündnisstaaten steht aber nicht alleine wegen Verletzung des Nordatlantik-Vertrages der oben erläuterte Völkerrechtsschutz im Sinne der Artt. 36 Abs. 1 und 40 Abs. 1 StIGH zur Verfügung, da die Bundesrepublik Deutschland die IGH-Zuständigkeit bislang nur punktuell und dabei nicht speziell für Rechtsstreitigkeiten aus dem Nordatlantik-Vertrag anerkannt hat 4 9 . Dadurch, daß Art. I V Brüsseler-Vertrag hinsichtlich der militärischen Angelegenheiten auf den Nordatlantik-Vertrag verweist und beide Bündnisse als Einheit zu begreifen sind, deckt der für den Brüsseler-Vertag wegen Art. X Abs. 2 Brüsseler-Vertrag und Art. 36 Abs. 2 StIGH bestehende Rechtsschutz die Belange des Nordatlantik-Vertrages mit ab. Art. I V Brüsseler-Vertrag hat insofern eine erneute Aufnahme einer Art. X Abs. 2 Brüsseler Vertrag entsprechenden punktuellen IGH-Zuständigkeitsanerkennung in den Nordatlantik-Vertrag entbehrlich gemacht. Ihr dortiges Fehlen erscheint somit nur konsequent. 48

MdB Erler, BTDrucks. I I / 1200, S. 52, der trotz des Umstandes, daß die Mindeststärke

der NATO-Streitkräfle wegen des Einstimmigkeitsprinzip es im NATO-Rat nur mit deutscher Zustimmung festgelegt werden kann, einen völligen Verzicht Deutschlands auf Streikräfte unmißverständlich für ausgeschlossen hält. 49

Die Bundesrepublik Deutschland hat sich trotz ihres Beitritts zur U N O ,

deren

Hauptrechtsprechungsorgang der I G H nach Art. 7 S V N und Art. 1 StIGH ist, im Jahre 1973 BGBl. 1973 I I S. 430 - der IGH-Zuständigkeit bislang lediglich in Bezug auf bestimmte Völkerrechtsverträge unterworfen, so ζ. B. hinsichtlich Art. X Brüsseler Vertrag - BGBl. 1956 H S. 809 - noch vor dem UNO-Beitritt. Vgl. dazu auch den letzten Stand hinsichtlich deijenigen Staaten, die nach Art. 36 Abs. 2 StIGH die besagte Zuständigkeit allgemein

anerkannt haben,

in International Court of Justice, Yearbook 1983/84, S. 57 ff. Zu den drei unterschiedlichen Arten der gerichtlichen Zuständigkeitsanerkennung im Völkerrecht (1. Spezieller Vertrag für einen bereits bestehenden Streitfall; 2. Spezielle Vertragsklausel für künftige Streitfälle; 3. Allgemeingültige Erklärung gemäß Art. 36 Abs. 2 StIGH) Müller/Wildhaber,

S. 476.

Β. Völkerrechtliche Grenzen

11

Π Ι . Besonderheiten hinsichtlich der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz 1. Aus dem völkerrechtlichen Neutralitätsstatus der Schweiz

a) Ausgangsproblematik Der Schweiz könnte es durch ihren Neutralitätsstatus völkerrechtlich verboten sein, auf jedwede Streitkräftestruktur zu verzichten. So sieht insbesondere Art. 5 V. Haager Abkommen betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkriegs (LN) vom 18. 10. 1907 vor, daß ein neutraler Staat im Falle eines Krieges zwischen zwei anderen Staaten jede Benachteilung der einen wie der anderen kriegführenden Partei von seinem (des neutralen Staates) Gebiet aus zu verhindern und zu bestrafen hat. Der schweizerische Neutralitätsstatus beruht auf keiner völkervertraglichen Grundlage, sondern wurde ursprünglich von anderen Staaten einseitig 50 - also ohne Übernahme von Pflichten durch die Schweiz - anerkannt. Das geschah zunächst durch die Pariser Erklärung Österreichs, Frankreichs, Großbritanniens, Portugals, Preußens und Rußlands vom 20. 11. 1815 51 , wurde durch die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg 5 2 , die Londoner Erklärung des Völkerbundes am 13. 2. 1920 und den Beschluß des Völkerbundrates vom 14. 5. 1938 ausgedehnt und schließlich durch das Moskauer Memorandum vom 15. 4. 1955 53 indirekt bestätigt 54 . Die schweizerische Neutralität ist daher insbesondere nach entsprechenden Einschätzung der UNO-Völkerrechtskommission 55 - weltweit zumindest völkergewohnheitsrechtlich anerkannt. Trotz dieser grundsätzlich lediglich einseitigen Anerkennung dürfte die Schweiz auf ihren Neutralitätsstatus nach dem auch im Völkerrecht geltenden

30

Dieses betont Thürer, in: SJIR Jubiläumsband 1989 X L V , S. 73 (79 f.).

31

Dazu Bonjour , Band 1, S. 138 ff.

32

Im einzelnen nahm man auf den Pariser Pakt von 1815 in folgenden Friedensvertragsre-

gelungen Bezug: Art. 435 Versaille, Art. 375 St. Germain, Art. 291 Neuilly und Art. 358 Trianon. 33

Hier wurde die Schweiz als Vorbild für die österreichische Neutralität hervorgehoben.

34

Zu dieser Entwicklung insgesamt Schindler,

in: Handbuch der schweizerischen Aussen-

politik, S. 159 (160); Thürer, in: SJIR Jubiläumsband 1989 X L V , S. 73 (79). 33

Yearbook of the International Law Commission 1964 II, S. 184; 1966 Π , S. 231.

1

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

Prinzip von Treu und Glauben nur nach Vorankündigung und nicht zur Unzeit verzichten 56 . Aus der Neutralität könnte sich nun über Art 5 LN, das die Schweiz ebenso wie das weniger relevante XIII. Haager Abkommen betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte im Falle eines Seekrieges (SN) vom 18. 10. 1907 mit Wirkung vom 11. 7. 1910 ratifiziert hat 5 7 , mit völkergewohnheitsrechtlicher Ausdehnung auf den zur damaligen Zeit noch keine Rolle spielenden Luftkrieg 5 8 eine Pflicht zum Einsatz und damit auch zur präventiven Bereithaltung von Streitkräften ergeben. Art. 5 L N spricht eindeutig eine Abwehrpflicht des neutralen Staates für den Fall aus, daß zwischen Drittstaaten Krieg ausbricht und einer dieser Staaten das neutrale Gebiet für seine Kriegsführung in irgendeiner Weise nutzen möchte 59 . Diese Regelung dient dem Schutz des mit dem Aggressor in Krieg befindlichen Drittstaates. Für die hiesige Problematik stellen sich nun die beiden entscheidenden Fragen nach einer Verpflichtung zu einer militärischen Abwehr von Angriffen und nach der präventiven Bereitstellung von Streitkräften. b) Grundsätzliche Verpflichtung zur militärischen Abwehr von Neutralitätsverletzungen Zum ersten ist zu klären, ob ein aktueller Übergriff zwingend mit militärischer Gewalt zurückzudrängen ist. Der Wortlaut von Art. 5 L N schweigt sich hierüber aus und bedarf daher der Auslegung. Zum einen könnte man erwägen, Art. 5 L N ermögliche gerade wegen seines offenen Wortlautes auch eine unbewaf&iete Neutralität. Dadurch, daß die Pflicht des Neutralen ausdrücklich erst durch Kriegsausbruch zwischen den Drittstaaten aktualisiert wird, könnte sie auch lediglich den Einsatz der zu die-

36

Thürer, in: SJIR Jubiläumsband 1989 X L V , S. 73 (80).

37

BBl. 1909 I S. 1. Dazu Thürer, in. SJIR Jubiläumsband 1989 X L V , S. 73 (78).

38

Η. Ρ. Brunner,

39

Art. 5 L N lautet: "Eine neutrale Macht darf auf ihrem Gebiete keine der in den Artikeln

S. 67 f.

2-4 bezeichneten Handlungen dulden. Sie ist nur dann verpflichtet, Handlungen, die der Neutralität zuwiderlaufen, zu bestrafen, wenn diese Handlungen auf ihrem eigenen Gebiete begangen worden sind." Zu den Handlungen in Sinne der Art. 2-4 gehört insbesondere das Hindurchführen von Trupp αϊ oder Munitions- oder Verpflegungskolonnen durch einen Kriegsführenden. Der Text ist wiedergegeben in SR 0.515.21.

11

Β. Völkerrechtliche Grenzen

sem Zeitpunkt gerade vorhandenen Mittel, die gemäß Wortlaut nicht zwingend militärischer Art sein müssen, voraussetzen 60. Dieser wörtlichen Auslegung sind aber sowohl die Entstehungsgeschichte als auch der Regelungszweck der Vorschrift des Abkommens entgegenzuhalten. Aus der Entstehungsgeschichte des Haager Abkommens ergibt sich, daß der Abwehrpflicht der Einsatz militärischer Mittel immanent war. So wurde in den Materialien immer wieder auf die im unmittelbaren zeitlichen Vorfeld des Abkommens veröffentlichte Literatur Bezug genommen, die eine militärische Bewaffnung zwingend voraussetzte 61. Hätte man von diesem wesentlichen Grundgedanken der Bezugsliteratur abweichen wollen, dann wäre hierzu gerade vor dem Hintergrund des damaligen Neutralitätsverständnisses ein ausdrücklicher Hinweis auf die Möglichkeit der unbewaffneten Abwehr erforderlich gewesen. Vielmehr war der Grundsatz der bewaffneten Neutralität zur damaligen Zeit derart selbstverständlich, daß man dessen ausdrückliche Normierung nicht für erforderlich hielt 6 2 . Art. 5 L N spricht darüber hinaus auch von der Verpflichtung des Neutralen, entsprechende Handlungen eines Kriegsführenden zu bestrafen. Eine solche Bestrafung erscheint unbewaffnet aber als unmöglich, wenn der Kriegsführende durch die Verletzung des Neutralitätsstatus zum Ausdruck gebracht hat, daß er völkergewohnheitsrechtliche Grundregeln nicht zu achten bereit ist. Die dann nur noch verbleibende Hilfsanrufung des UNO-Sicherheitsrates nach Art. 35 Abs. 1 S V N kann gemäß Wortlaut des Art. 5 L N schon deshalb nicht genügen, weil dort ausdrücklich eine Bestrafung durch den Neutralen selbst vorgesehen ist 6 3 . Vielmehr gilt die Verpflichtung zu Abwehr bzw. Bestrafung aus Art. 5 L N als Korrelat zu der aus Art. 1 L N 6 4 folgenden begünstigenden Zusicherung der Gebietsunverletzlichkeit. So eindeutig sich diese Zusicherung aus Art. 1 L N gegen militärische Gebietsverletzungen wendet, so deutlich muß der neutrale Nutznießer umgekehrt auch mit militärischen Mitteln reagieren, wenn ein Drittstaat diese Neutralität gegen seinen Kriegsgegner durch Besetzung oder Überfliegen dieses neutralen Staates auszunützen trachtet. Darüber hinaus zeigen unzählig viele Neutralitätsverletzungen durch Drittstaaten gerade, daß ein 60

Ähnlich Majer, S. 54.

61

H. P. Brunner,

S. 71.

62

H.P. Brunner,

S. 71.

63

Die maßgebliche Passage lautet: "Eine neutrale Macht

Sie ist ...verpflichtet, ... zu

bestrafen,... ". 64

8 Fröhler

Art. 1 L N lautet: "Das Gebiet der neutralen Mächte ist unverletzlich".

1

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

völkerrechtliches Verbot alleine nicht ausreichen kann. Als historischer Beleg kann das allgemeine "Neutralensterben" 65 speziell auf Grund der Interventionen totalitärer Mächte im Zweiten Weltkrieg angeführt werden. Hiervon waren insbesondere Finnland 6 6 sowie die drei baltischen Staaten 67 gegenüber der Sowjetunion und Luxemburg, Belgien, Holland, Dänemark und Norwegen gegenüber Hitler-Deutschland betroffen. Die Schweiz konnte ihre Neutralität während des Zweiten Weltkrieges zwar aufrechterhalten. Nach Brunners Analyse mußten aber bei 6.501 Fliegergrenzverletzungen 84 Todes-, 260 Verletztenopfer und ein Sachschaden von 65 Mio sFr. hingenommen werden 68 . Auch durch die spätere Normierung eines universellen Gewalt- und Interventionsverbotes in Art. 2 Nr. 4 SVN ist die Welt allenfalls theoretisch, nicht aber tatsächlich friedlicher geworden 69 . Daher ergibt sich aus Art. 5 L N grundsätzlich die Verpflichtung zur militärischen Abwehr 7 0 . Das gilt speziell für die Schweiz um so mehr, als sie als dauerhaft neutraler Staat schon im Frieden um ihre Abwehrverpflichtung weiß. Darüber hinaus hat die übrige Staatenwelt gerade in die Schweiz ein besonders großes Vertrauen auf effektive Verteidigung der Neutralität gesetzt, weil sie zusammen mit Österreich den Zugang aus dem Osten in den Westen versperren bzw. erst ermöglichen könnte 71 . Trotz der Beendigung des Kalten Krieges ist diese ursprünglich aus der Zeit des früheren Ost-West-Konfliktes stammende Überlegung angesichts der oben skizierten innenpolitischen Unsicherheitsfaktoren in den autonomen Republiken der ehemaligen Sowjetunion auch heute noch bedeutsam. Dementsprechend bezeichnet der Bundesrat in 63

Dazu / / . P. Brunner,

66

Wagner, S. 25.

67

Dazu Thürer, in: SJIR Jubiläumsband 1989 X L V , S. 73 (96), Fn. 64.

68

H. P. Brunner,

S. 61, Fn. 2.

S. 62. Diesen Neutralitätsverletzungen liegen auch die vielen völker-

rechtswidrigen Maßnahmen des nicht totalitären Großbritannien zugrunde - so beispielsweise die britischen Bombenabwürfe auf Zürich vom 23. 12. 1940 und auf das Thurgauer Dorf Buhwil vom 12. 10. 1941. 69

Vgl. dazu die untai 2. Teil: B. III. 4. b) bb) erstellte Bilanz der Kriegstoten seit dem

Zweiten Weltkrieg. 70

Verdross/Simma,

§ 401 sprechen insofern von der Pflicht zur Verteidigung mit allen

Mitteln. Diese Pflicht wird selbst durch das sich zumindest formell zur unbewaffneten Neutralität bekennende Costa Rica erfüllt, indem dieser Staat trotz förmlicher Abschaffung der Armee im Jahre 1949 zum einen Sicherheitskräfte in deutlich über dem üblichen Polizeikräftekontingent liegenden Umfang besitzt und zum zweiten durch mehrere regionale Paktsysteme - vgl. den Rio-Pakt vom 2. 9. 1947 - abgesichert ist. Dazu Bundesrat, BBl. 1988 I I S. 967 (978); Verdross/Simma, 71

§ 403; H. P. Brunner,

H. P. Brunner,

Korridorfunktion.

S. 99.

S. 108 spricht hier von einem operativen Schlüsselraum mit Riegel- bzw.

Β. Völkerrechtliche Grenzen

115

seinem Bericht an die Bundesversammlung über die Konzeption der Armee in den neunziger Jahren vom 27. 1. 1992 das Risiko gefahrlicher Rückschläge im Umwandlungsprozeß der Oststaaten mit der Folge schwerer internationaler Spannungen gerade wegen des gewaltigen Waffenbestandes einerseits und der katastrophalen Wirtschaftslage andererseits als eines der aktuellen militärischen Hauptrisiken 72 . Dessen ungeachtet steht die freie Nutzbarkeit der Alpentransversale aber in jedem Falle ganz entscheidend im internationalen Interesse. Aus diesem Grund haben die oben genannten Staaten schon im Jahre 1815 die Anerkennung der Neutralität von deren bewaffneter Verteidigung durch den neutralen Staat abhängig gemacht 73 . Der Schweiz ist auf Grund der geographischen Gegebenheiten eine entsprechende militärische Abwehr auch gerade mit den ihr ausschließlich zur Verfügung stehenden konventionellen Waffensystemen gut möglich 7 4 . Ein atomarer Überfall scheint schon deshalb wenig wahrscheinlich, weil sich der Aggressor dann seines Hauptziels der Nutzung des Gebiets als Alpentransversale selbst berauben würde 7 5 . Daher muß die Schweiz, solange sie neutral bleibt, zur Erfüllung ihrer völkerrechtlichen Pflichten aus Art. 5 L N und den mit der Pariser Akte von 1815 verbundenen Erwartungen der Staatenwelt notfalls militärische Gewalt einsetzen 76 . c) Spezielle Verpflichtung zur präventiven Bereitstellung von Streitkräften Zum zweiten ist fraglich, ob Art. 5 LN, der ausdrücklich nur die aktuelle Situation eines Übergriffs erfaßt, auch bereits im Friedensfall das Bereithalten von Streitkräften verlangt. Es stellt sich insofern die Frage nach sogenannten Vorwirkungen der Neutralität. Hierbei ist zunächst zu berücksichtigen, daß die Schweiz ebenso wie seit 1955 auch Österreich ein dauerhaft neutraler Staat ist, sich also bereits vor dem Ausbruch eines bestimmten Krieges neutral erklärt hat und sich daher auf die eigenen Pflichten langfristig einstellen kann. Insofern unterscheidet sie sich von den sogenannten ad-hoc-neutralen Staaten. Wenn im Angriffsfall militärische Waffen eingesetzt werden sollen, bedarf es dafür notwendigerweise

8*

72

BBl. 1992 I S. 850 (876 f. und 881 f.).

73

Dazu Η. P. Brunner,

74

Stutz, A S M Z 1988, 394 ff.

S. 110 mit weiteren Nachweisen.

73

So zurecht H. P. Brunner,

76

Kurz, Neutralität, S. 54 f.; Botschaft des Bundesrates, BBl. 1988 I I S. 967 (977 f.).

S. 109.

1

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

einer Vorbereitungsphase für Beschaffung, Einsatzplanung und Bedienungsausbildung. Anderenfalls wäre die Gefahr zu groß, der Abwehrpflicht später nicht genügen zu können 77 . Die Entscheidung über Ausmaß und Art der militärischen Bewaffnung muß dabei aber grundsätzlich der nationalen schweizerischen Einschätzungsprärogative vorbehalten bleiben 78 , da hier anders als beispielsweise für Österreich 79 keine bestimmten völkerrechtlich verbindlichen Rüstungsvereinbarungen getroffen wurden. Mit Brunner ist als Grenze der nationalen Gestaltungsfreiheit das Unterschreiten eines zumutbaren und tatsächlich realisierbaren 80 Minimums an Wirksamkeit festzuschreiben 81. Daher ist die Schweiz wegen ihres Neutralitätsstatus bereits in Friedenszeiten zur Bereithaltung einer militärischen Landesverteidigung verpflichtet. Diese Verpflichtung besteht ausschließlich im Interesse der Drittstaaten, im Kriegsfalle der gegnerischen Seite keine Vorteile aus der neutralen Schweiz zukommen zu lassen. d) Rechtsfolgen aa) Auf innerstaatlicher Ebene Nach schweizerischem Verfassungsrecht wird Völkerrecht mit Self-Executing-Eigenschaft - dazu gehören Völkerrechtsverträge (sogenannte Staatsverträge) und allgemeine Regeln des Völkerrechts - ohne Transformation automatisch innerstaatlich gültig 8 2 . Die Bundesverfassung enthält keine ausdrücklichen Vorschriften über den Rang solcher Normen. Man geht jedoch unter Verweis auf die Art. 113 Abs. 3 und 114bis Abs. 3 BV, die Staatsverträge und Bundesgesetze auf einer Ebene nennen, grundsätzlich vom Rang eines einfachen Bundesgesetzes unterhalb der Verfassungsebene aus. Völkerrechtswidrige Verfassungsnormen dürften zwar nicht beschlossen werden, könnten aber

77

Bindschedler,

78

Bundesrat, Bericht an die Bundesversammlung über das Volksbegehren für ein Verbot

ZaöRV 17 (1956/57), 1 (17).

von Atomwaffen, BBl. 1961 I I S. 202 (220); Schindler,

in: Handbuch der schweizerischen

Aussenpolitik, S. 159 (172). 79

DazuA/q/er, S. 63 ff.

80

Es gilt der Grundsatz: "Ultra posse nemo tenetur". Dazu Kurz, Neutralität, S. 56.

81

H. P. Brunner,

S. 115 in Anschluß an den oben genannten Bundesratsbericht BBl. 1961

Π S. 202 (220). Wegen Uhzumutbarkeit soll danach vom neutralen Staat beispielsweise nicht verlangt werden können, daß er sein Territorium überfliegende Marschflugkörper der Kriegsparteien abschießt, wenn deren atomare oder chemische Bewaffnung nicht auszuschließen ist. 82

BGE 105 I I S . 49 (57 f.).

11

Β. Völkerrechtliche Grenzen

wirksam werden 83 . Als einzige Ausnahme wird den Menschenrechten der EMRK verfassungsähnlicher Rang zugebilligt 84 . Mangels Überverfassungsrangs kann aber selbst die inkorporierte EMRK der Wirksamkeit einer kollidierenden Verfassungnorm nicht entgegenstehen. Daher würde eine etwaige Völkerrechtswidrigkeit der Auflösung von Streitkräften auch in der Schweiz keinen unmittelbaren Geltungseinfluß auf die innerstaatliche Verfassungslage haben. bb) Auf völkerrechtlicher Ebene Doch wird unabhängig von der innerstaatlichen Ebene nach außen eine völkerrechtliche Verantwortung bejaht 85 , obschon die WVRK - im Gegensatz zur entsprechenden völkerrechtlichen Verpflichtung Deutschlands - nicht ratifiziert wurde und folglich Art. 46 WVRK nicht unmittelbar gilt. Art. 46 WVRK, dem zu Folge eine zur Zeit des Völkerrechtsvertragsschlusses abweichende innerstaatliche Verfassungsregelung eine völkerrechtsvertragliche Bindung nur bei offenkundiger und grundlegender Unvereinbarkeit durchbrechen kann, entfaltet aber angesichts der weltweit zahlreichen Ratifikation der WVRK zumindest völkergewohnheitsrechtliche Wirkung. Hieran ist auch die 83

Häfel in/H aller,

Rdnr. 1050 f.; Hangartner,

S. 216; Bericht des Bundesrates an die

Bundesversammlung über das Volksbegehren zum Schutz der Stromlandschaft

Rheinfall-

Rheinau, BBl. 1954 I S . 721 (739), wonach schon mangels Eingliederung der Schweiz in einen "Überstaat" kein Vorrang des Völkerrechts gegenüber der Bundesverfassung bestehe, insbesondere gehe eine spätere Verfassungsvorschrift einem früheren Staatsvertrag vor. Ablehnend Η. P. Müller,

in: Handbuch der schweizerischen Außenpolitik, S. 223 (235), wonach unter

Beachtung der Autorität

des Völkerrechts

eine völkerrechtswidrige

Verfassungsrevision

scheitern müsse, wenn der Revision entgegenstehende staatsvertragliche Bindungen nicht in einem völkerrechtlich zulässigen Verfahren aufgekündigt werden könnten. 84

Frowein/Peukert,

Einführung, Rdnr. 6; Hangartner,

S. 43; Kohlbacher,

S. 8 f.;

BGE 101 la S. 67 (69 ff.), wonach der einzelne Bürger wegen Verletzung seiner Rechte aus der EMRK die staatsrechtliche Beschwerde nicht auf einen Staatsvertrag nach Art. 113 Abs. 1 Nr. 3 BV i.V.m. Art. 84 Abs. 1 Buchst, c OG, sondern auf eine innerstaatliche Norm nach Art. 113 Abs. 1 Nr. 3 B V i.V.m. Art. 84 Abs. 1 Buchst, a OG stützen müsse. Auf diesem Weg sollte die Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges sichergestellt werden, der für Staatsvertragsbeschwerden bis 1992 nicht vorgesehen war. Seit der Reform des OG im Jahre 1992, nach der nun alle Arten der staatsrechtlichen Beschwerde der obligatorischen Rechtswegeerschöpfung unterliegen, ist die soeben zitierte BGE hinfallig geworden. Dazu Häfelin/Haller,

Rdnr. 1700. Hier

ist aber zu beachten, daß ein derartiger nationaler Rechtsbehelf nicht weiterhelfen wird, da die Organisation der militärischen Landesverteidigung auf einer gesetzgeberischen Maßnahme (dem M O ) beruht und nach Art. 113 Abs. 3 BV hiergegen kein Rechtsschutz besteht. Dazu oben Α. IV. 83

Hangartner,

S. 44.

1

1. Teil: Für oder gegen eine militärische Landesverteidigung

Schweiz gebunden, zumal sie diesem Prinzip nicht als Persistent Objector ausdrücklich widersprochen hat 8 6 . Die Schweiz hat sich seit ihrem Bestehen zur militärischen Landesverteidigung bekannt. Die Existenz von Streitkräflen wurde schon immer als Grundvoraussetzung für die Wahrung der eidgenössischen Unabhängigkeit gegenüber den Nachbarstaaten angesehen87. Insofern widersprach die Verfassung zu keiner Zeit der aus dem Haager Neutralitätsabkommen resultierenden völkerrechtlichen Verpflichtung zur Organisation von Streitkräften. Soweit die Schweiz dieser Verpflichtung nicht nachkommt, kann jeder andere Staat, der seinerseits die IGH-Zuständigkeit anerkannt hat, die Schweiz, die sich ihrerseits nach Art. 36 Abs. 2 StIGH ohne UNO-Mitglied zu sein 8 8 der IGH-Zuständigkeit pauschal für alle Rechtsstreitigkeiten unterworfen hat 8 9 , wegen Verstoßes gegen die Neutralitätspflichten vor dem IGH verklagen. Die sich aus der dauernden Neutralität der Schweiz ergebende völkerrechtliche Verpflichtung zur Bereithaltung von Streitkräften kann bereits in Friedenszeiten auch für die Bundesrepublik Deutschland eine wichtige Signalwirkung entfalten. So zeigt sich, daß selbst im Falle einer derzeit unwahrscheinlichen Auflösung der NATO eine deutsche Neutralitätserklärung insbesondere nach Beendigung des Kalten Krieges und Auseinanderbrechen des Warschauer Paktes die oben festgestellte unabänderliche Verfassungspflicht zur Beibehaltung der Streitkräfte nicht in Frage stellen könnte. Ganz im Gegenteil verdeutlicht die für Schweiz maßgebliche Rechtslage, daß gerade der Neutralitätsstatus im Interesse der die Neutralität wahrenden Drittstaaten - insofern auch im mittelbaren Interesse des neutralen Staates, der nur wegen dieses Eigeninteresses der Drittstaaten auf deren Rücksichtnahme vertrauen kann - zur Bereithaltung von Streitkräften verpflichtet und die nach deutscher Rechtslage innerstaatlich bestehende Schutzverpflichtung zusätzlich bestärkt.

86

Zu diesem Prinzip Schweitzer, Rdnr. 184 und 235.

87

Vgl. dazu die ausführlichen Erläuterungen über den historischen Hintergrund der Miliz-

wehrpflicht unten 2. Teil: Α. ΠΙ. 2. 88

Vgl. dazu den Bundesratsbeschluß über das Ergebnis der Volksabstimmung (obliga-

torisches Staatsvertragsreferendum nach Art. 89 Abs. 5 BV) vom 16. 3. 1986 über den Bundesbeschluß betreffend den Beitritt der Schweiz zur UNO, BBl. 1984 Ι Π S. 1464, wonach sowohl das Volk mit ca. 75 % der Stimmen als audi alle Stände den Beitrittsbeschluß verworfen haben. 89

International Court of Justice, Yearbook 1983/84, S. 87 f.

Β. Völkerrechtliche Grenzen

11

2. Aus der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten

Die Schweiz könnte nicht nur zugunsten der Drittstaaten aus dem Neutralitätsstatus, sondern auch zugunsten der eigenen Staatsbürger aus der EMRK völkerrechtlich zur Organisation einer militärischen Landesverteidigung verpflichtet sein. Die EMRK wurde durch die Schweiz am 28. 11. 1974 ratifiziert 90 . Die jeweiligen Zuständigkeiten der Kommission nach den Artt. 24 und 25 EMRK und des Gerichtshofs nach Art. 46 EMRK sind anerkannt worden 91 . Aus oben bereits hinsichtlich der deutschen völkerrechtlichen Verpflichtungen ausführlich erläuterten Gründen ist auch die Schweiz insbesondere gemäß Art. 2 Abs. 1 Satz 1 EMRK aus der gesetzgeberischen Schutzpflicht für das Leben der ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen zur Organisation einer militärischen Landesverteidigung gehalten. Hieran könnte auch eine spätere Verfassungsrevision, die die Auflösung der Streitkräfte vorsieht, nichts ändern. Diese Pflicht kann gegebenenfalls vor der Kommission und anschließend auf gerichtlichem Weg durchgesetzt werden. Die Schweiz hat keinerlei andere Völkerrechtsverträge ratifiziert, aus denen sich weitere Schutzpflichten zur Organisation der militärischen Landesverteidigung ergeben 92 .

90

SR 0.101.

91

Müller/Wildhaber,

92

Insbesondere wurde der IPbürgR nicht ratifiziert. Vgl. dazu die Übersicht zum Ratifika-

S. 416.

tionsstand bei Nowak, S. 900. Militärbündnisse bestehen schon aus Neutralitätsgründen nicht.

C. Zusammenfassendes Zwischenergebnis 1. Die gesetzgeberische Abschaffung der in den Artt. 12a Abs. 1, 73 Nr. 1 und 87a Abs. 1 Satz 1 GG verankerten deutschen Streitkräfte stellt dogmatisch ein Unterlassen dar. 2. Aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, dem jeweiligen objektiven Wertgehalt der im Konfliktfall üblicherweise in ihrem Menschenwürdegehalt gefährdeten Grundrechtstatbestände - insbesondere aus dem Lebensrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG - und aus dem ureigenen staatlichen Schutzgewährungszweck zur Erhaltung der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie nach außen ergibt sich unter Bezugnahme auf Art. 79 Abs. 3 GG eine unabänderbare abstrakte staatliche Schutzpflicht vor militärischen Aggressionen. 3. Im Rahmen der sicherheitspolitischen Weltlage besteht eine konkrete Pflicht zu staatlicher Schutzgewährung vor militärischen Aggressionen (das "Ob" von Schutzgewährung). Angesichts der in Frage stehenden elementaren Rechtsgüter genügt für die Bejahung eines verletzungsgleichen Gefahrdungstatbestandes eine entfernte Schadenseintrittswahrscheinlichkeit. Speziell bei den hier in Rede stehenden militärischen Aggressionen ist angesichts der langen Vorlaufzeiten für entsprechende Schutzmaßnahmen der Nachweis von Gefähidungßpotentialen hinreichend. 4. Bei der Bestimmung der maßgeblichen Schutzmaßnahmen (das "Wie" von Schutzgewährung) besteht grundsätzlich ein politischer Gestaltungsspielraum, der dreifach begründet ist, da außenpolitische, gesetzgeberische und lediglich zielbezogene Tätigkeiten betroffen sind. Auf Grund der zahlreichen historischen Erfahrungen hinsichtlich des Verhaltens gegenüber totalitären Aggressoren ist jedoch evidentermaßen erwiesen, daß ausschließlich durch militärische Landesverteidigung wirksamer Schutz gewährt werden kann. 5. Die Pflicht zur für Deutschland lediglich im konventionellen Rahmen möglichen militärischen Landesverteidigung wird vor dem Hintergrund der Vernichtungskapazität weltweit vorhandener Atomwaffen insbesondere angesichts fehlender Erstschlagsfähigkeit nicht obsolet.

C. Zusammenfassendes Zwischenergebnis

121

6. Die sich so ergebende Verfassungswidrigkeit einer vollständigen Abschaffung der Streitkräfte wäre selbst im Falle einer entsprechenden Verfassungsänderung verfassungswidrig. Dies gilt sowohl für eine bloße Streichung der Streitkräfteverankerung aus der Verfassung als auch für eine ausdrückliche Normierung eines Verfassungsverzichtes auf Streitkräfte. 7. Die Erfüllung der verfassungsrechtlichen Pflicht zur militärischen Landesverteidigung kann, soweit die Streitkräfte noch nicht tatsächlich aufgelöst wurden, durch negatorische Klage im Wege der Verfassungsbeschwerde, durch konkrete und abstrakte Normenkontrolle und im Organstreitverfahren durchgesetzt werden. Nach einer tatsächlichen Streitkräfteauflösung kommen für das Klageziel einer entsprechenden Neuaufstellung von Streitkräften lediglich eine als Normerlaßklage geltend gemachte Verfassungsbeschwerde und ein Organstreitverfahren in Betracht. 8. Völkerrechtlich ergibt sich eine entsprechende staatliche Pflicht aus den jeweils gefährdeten und in deutsches Recht transformierten Menschenrechtstatbeständen - insbesondere des Lebensrechts - der EMRK und des IPbürgR sowie aus der Grundlage der Militärbündnisse des Brüsseler- und des Nordatlantikvertrages. Den Vertragsstaaten verbleibt hierbei ein hinreichender Spielraum bei der Entscheidung über Umfang und Ausgestaltung der Streitkräfte. 9. Diese völkerrechtlichen Schutzpflichten sind vor EKMR bzw. EGMR, dem Menschenrechtsausschuß des IPbürgR und dem IGH ausschließlich - mit Ausnahme der EKMR - durch die Vertragsstaaten gerichtlich durchsetzbar. 10. Nach schweizerischer Rechtslage ist eine im Wege der Totalrevision durchgeführte Abschaffung der Streitkräfteverankerung aus der Verfassung mangels materieller Revisionsschranken als Konsequenz des unmittelbaren Demokratieprinzips verfassungsrechtlich möglich. 11. Die Schweiz ist angesichts ihrer dauerhaften Neutralität nach Art. 5 L N bzw. völkergewohnheitsrechtlich bereits im Frieden - neben den ebenfalls aus der EMRK resultierenden Pflichten - völkerrechtlich zur Bereithaltung von Streitkräften verpflichtet und könnte bei entgegengesetztem Verhalten diesbezüglich seitens anderer Staaten vor dem IGH verantwortlich gemacht werden. 12. Für die Bundesrepublik Deutschland zeigt sich so, daß selbst bei Kündigung der eingegangenen Militärbündnisse und dadurch notwendig werdender Neutralitätserklärung eine völkerrechtliche Verpflichtung zur Bereithaltung von Streitkräften bestünde.

Zweiter Teil

Grenzen legislativer Gestaltungsfreiheit bei der Verwirklichung der militärischen Landesverteidigung durch eine bestimmte Wehrform Der zweite Teil dieser Arbeit geht der Frage nach, ob der Gesetzgeber auch bei der Ausgestaltung der militärischen Landesverteidigung hinsichtlich der Bestimmung der maßgeblichen Wehrform verfassungsrechtlich gebunden ist. Nach einer Definition der verschiedenen Wehrformen und einer Erläuterung der derzeit bestehenden Wehrpflichtsysteme in Deutschland und in der Schweiz samt deren historischer Entwicklung (A.) wird die Wehrpflicht auf ihre Verfassungskonformität untersucht. Prüfungsmaßstäbe sind das Lebensrecht der wehrpflichtigen Soldaten (B.) und der Grundsatz der Pflichtengleichheit (C ). In beiden Fällen spielt es eine ganz entscheidende Rolle, ob Freiwilligenstreitkräfte als Alternative zum Wehrpflichtsystem tatsächlich verwirklicht werden können. Die Untersuchungen zeigen an dieser Stelle insofern noch konditionale, am jeweiligen Realisierbarkeitsgrad von Freiwilligenstreitkräften orientierte Lösungen auf. Erst in einer sich anschließenden gesonderten Prüfung wird die Problematik der Feststellung des tatsächlichen Realisierbarkeitsgrades von Freiwilligenstreitkräften genauer erörtert (D.), um so die zuvor gefundenen konditionalen Lösungen zu einem konkreten Endergebnis konzentrieren zu können. Die vergleichende Berücksichtigung der schweizerischen Rechtslage verfolgt das Ziel, mit Hilfe der dort geläufigen Regelungsmechanismen Alternativen zum deutschen Wehrpflichtsystem aufzuzeigen. So stellt sich insbesondere die Frage, ob die bedarfsunabhängige Heranziehung aller diensttauglichen Wehrpflichtigen zum Militärdienst 1 und die Verpflichtung der gewissensbedingten Kriegsdienstverweigerer zu einem waffenlosen Dienst innerhalb der Streitkräfte 2 im Hinblick auf den Grundsatz der Pflichtengleichheit zu anderen 1

Pilgrim , S. 26.

2

Art. lObis MO. Dazu ausführlich unten 2. Teil: C. VII. 2. b) aa) ccc).

2. Teil: Bestimmung der maßgebenden Wehrform

123

Ergebnissen führt, als dies angesichts einer bedarfsabhängigen 3 Einberufung der Soldaten und eines außerhalb 4 der Streitkräfte abzuleistenden Zivildienstes für Kriegsdienstverweigerer in Deutschland der Fall ist.

3

Zum deutschen Bedarfsdeckungsplan Hahnenfeld/Boehm-Tettelbach,

Rdnr. 2 und 5. 4

Art. 12a Abs. 2 Satz 3 GG und § 1 KDVG.

§ 21 WPflG,

Α. Die Wehrform der nationalen Streitkräfte eine Bestandsaufnahme I. Der Begriff der allgemeinen Wehrpflicht und seine Abgrenzung zum Wehrsystem der Freiwilligenstreitkräfte 1. Der Begriff der allgemeinen Wehrpflicht

Unter dem Begriff der Wehrpflicht versteht man die auf Grund der Wehrhoheit eines Staates eingeführte und durch Gesetz geregelte Verpflichtung der Staatsangehörigen zur persönlichen Mitwirkung in den Streitkräften, insbesondere zur Landesverteidigung 1. Diese Wehrpflicht wird dann zur allgemeinen Wehrpflicht, wenn sie für alle männlichen Staatsangehörigen bestimmter Altersklassen ohne Ausnahme besteht2. Zur Erfüllung des Moments der Allgemeinheit der Wehrpflicht sind mehrere Anknüpfungspunkte denkbar. So könnte etwa Voraussetzung sein, daß tatsächlich auch alle Wehrpflichtigen zum militärischen Dienst herangezogen werden 3. Hiernach wäre aber niemals eine allgemeine Wehrpflicht realisierbar, da es immer eine bestimmte Zahl von Wehrdienstunfähigen geben wird, die keinen Wehrdienst leisten können. Zum anderen könnte darauf abgestellt werden, daß alle Wehrpflichtigen irgendeinen vergleichbaren aktiven Dienst leisten 4 . Danach könnte man erwägen, einen Ersatzdienst - eventuell auch für Wehrdienstunfahige - als Belastungsmoment dem militärischen Dienst gleichzusetzen. Aber auch hier wäre hinsichtlich der Schwerbehinderten, die gar keinen aktiven Dienst leisten können, das derart definierte Allgemeinheitskriterium nicht erfüllt. Hinzu kommt, 1

Von Löwenstern, Wehrkunde 1969, 438 (440).

2

Der große Brockhaus, Band 12, S. 291, Stichwort "Wehrpflicht".

3

Zur Abgrenzung von Wehrpflicht und Wehr- bzw. Militäri/z^wj/pflicht sogleich unten II.

l.b). 4

Von Löwenstern, Wehrkunde 1969, 438 (440).

125

Α. Bestandsauahme

daß sich beide Diensttypen angesichts unterschiedlicher Gefährlichkeit - insbesondere hinsichtlich der dienstspezifischen soldatischen Lebensgefahr 5 - nicht hinreichend ähneln. Dieser Gesichtspunkt wird ganz besonders deutlich, wenn man etwa die in der Schweiz vorgeschriebene Wehrersatzabgabe militärdienstunfähiger Schwerbehinderter 6 mit dem lebensgefährlichen Militärdienst in den Streitkräften vergleicht. Denkbar wäre weiter, für die Eigenschaft der Allgemeinheit der Wehrpflicht lediglich die Heranziehung einer Mehrheit der Wehrpflichtigen zum militärischen Dienst zu fordern 7. Dieses würde aber den Begriff der allgemeinen Wehrpflicht von der jeweiligen Bedarfssituation abhängen lassen, die insbesondere - im Gegensatz zu gekaderten Milizarmeen 8 - für präsente stehende Streitkräfte eine wesentliche Rolle spielt. Wenn diese Bedarfssituation zur Auftragserfüllung der Streitkräfte bei geburtenstarken Wehrpflichtigenjahrgängen nur einen relativ geringen Umfang erfordert und zuläßt, so daß lediglich ein kleiner Prozentsatz, der Wehrpflichtigen herangezogen werden kann, wäre die Wehrpflicht nicht mehr von allgemeiner Art. Umgekehrt würde sie aber bei steigendem Personalbedarf oder sinkender Geburtenrate allgemein werden können. Die Allgemeinheit der Wehrpflicht darf aber nicht ausschließlich von derartigen externen Rahmenbedingungen abhängen, sondern muß sich unabhängig vom jeweiligen Personalbedarf und der gerade zur Verfügung stehenden Jahrgangsstärke aus gesonderten internen Kriterien ergeben. Maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Eigenschaft der Allgemeinheit ist statt dessen primär die abstrakte Wehrpflicht selbst, nur sekundär hingegen der hiervon zu trennende 9 Gesichtspunkt ihrer konkreten Erfüllung durch militärischen Dienst. So ist das Kriterium der Allgemeinheit gewahrt, wenn alle männlichen Staatsbürger bestimmter Altersklassen ohne Ausnahme abstrakt wehrpflichtig sind und der tatsächlich zu leistende konkrete Wehrdienst zwar nicht jeden dieser Wehrpflichtigen trifft, die Auswahl aber unabhängig von irgendeinem 3

Dazu ausführlich unten C. V. 1. b).

6

Vgl. dazu den kritischen Hintergrundbericht von A. Mayer,

in: Badische Zeitung vom

2. 6. 1993, S. 10. 7

So zumindest andeutungsweise Roewer, S. 16 f., der bezüglich Art. 34 der preußischen

Verfassungsurkunde von 1850 die Allgemeinheit der Wehrpflicht angesichts der geringen Zahl der tatsächlich Eingezogenen nicht für verwirklicht hält. 8

Das gekaderte Milizsystem der Schweiz rekrutiert

Pilgrim , S. 26. 9

Dazu im einzelnen sogleich unten II. 1. b) und c).

sich bedarfsunabhängig.

Dazu

126

2. Teil: Bestimmung der maßgebend

Wehrform

Prozentsatz willkürfrei erfolgt und insofern von einer Auswahlwehrc/ze^pflicht gesprochen werden kann. Die allgemeine Wehrpflicht ist daher im Regelfall eine Auswahlwehr