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German Pages 399 Year 2006
Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 177
Grenzen der Freiheit – Bedingungen des Handelns – Perspektive des Schuldprinzips Konsequenzen neurowissenschaftlicher Forschung für das Strafrecht
Von
Grischa Detlefsen
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
GRISCHA DETLEFSEN
Grenzen der Freiheit – Bedingungen des Handelns – Perspektive des Schuldprinzips
Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg
Herausgegeben von Dr. Dr. h. c. (Breslau) Friedrich-Christian Schroeder ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg
in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten
Band 177
Grenzen der Freiheit – Bedingungen des Handelns – Perspektive des Schuldprinzips Konsequenzen neurowissenschaftlicher Forschung für das Strafrecht
Von
Grischa Detlefsen
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Bernhard Hardtung, Rostock Die Juristische Fakultät der Universität Rostock hat diese Arbeit im Wintersemester 2005 / 2006 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-12212-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Meinem Vater
Vorwort Diese Arbeit wurde im Wintersemester 2005 / 2006 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Rostock als Dissertation angenommen. Eine große Freude war es für mich, dass Herr Professor Dr. Bernhard Hardtung die Mühe des Erstgutachtens auf sich genommen hat. Ich möchte ihm dafür danken, dass er mit aufgeschlossenem Interesse und stets genauem Blick für das Große und Kleine das Gelingen dieser Arbeit entscheidend gefördert hat. Ebenfalls danken möchte ich Herrn Professor Dr. Christoph Sowada für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Mein Dank gilt außerdem Herrn Professor Dr. Schulz, der es mir ermöglicht hat, an seinem Lehrstuhl die Arbeit für den Druck fertigzustellen. Herrn Professor Dr. Wilfried Küper danke ich dafür, dass er mich bei meinem Promotionsvorhaben unterstützt und ermutigt hat, und Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Schroeder gilt mein Dank für die Aufnahme der Arbeit in die vorliegende Schriftenreihe. Von Herzen dankbar bin ich Herrn Professor Dr. Reinhard Merkel für seine zahlreichen hilfreichen Hinweise. Zuspruch und Unterstützung habe ich auch von meiner Freundin Marion Helms und meinem guten Freund Arne Littmann erhalten, bei denen ich mich ebenfalls herzlich bedanken möchte. Vor allem aber danke ich meinen Eltern und Großeltern. Sie haben mich uneingeschränkt mit Rat und Tat unterstützt und damit das Entstehen und die Vollendung dieser Arbeit überhaupt erst ermöglicht.
Hamburg, im März 2006
Grischa Detlefsen
Inhaltsverzeichnis Einleitung...................................................................................................................... 21
Teil 1 Freiheit als Voraussetzung der Schuld – im Besonderen: die Handlungsfreiheit
25
Kapitel 1 Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf I.
25
Grundzüge der Freiheitsdiskussion dargestellt am Beispiel Schopenhauers........... 25 1. Willensbetätigung und Selbstbewusstsein........................................................ 27 2. Der negative Freiheitsbegriff bei Schopenhauer .............................................. 28 3. Das Abhängigkeitsverhältnis von Handlungs- und Willensfreiheit.................. 29 4. Folgerungen mit Blick auf deren rechtliche Relevanz...................................... 31
II. Die rechtliche Diskussion des Freiheitsbegriffs im Überblick................................ 34 1. Positive Freiheit in der Außenperspektive? ...................................................... 36 2. Probleme eines Begriffs des subjektiven Freiheitserlebens.............................. 39 3. Offene Fragen logisch begründeter subjektiver Freiheit .................................. 43 4. Normativer Freiheitsbegriff.............................................................................. 44 5. Zusammenfassung und Überleitung ................................................................. 45 III. Spannungsfelder zwischen Handlungsfreiheit und Schuldstrafe ............................ 45 1. Determination und moralischer Vorwurf.......................................................... 46 2. Das Merkmal der Willensbetätigung in der Deliktsprüfung............................. 48 3. Die „Willensbetätigung“ in ausgewählten Schuldlehren .................................. 49 a) „Die Vergeltungsstrafe in deterministischem Gewande“ nach Franz v. Liszt ..................................................................................... 50 b) Die Charakterschuld nach Engisch ............................................................ 53 c) Wesensgleichheit psychischer Strukturen nach Graf zu Dohna ................. 56 d) Personale Zurechnung nach Jakobs............................................................ 58 e) Strukturdeterminiertes Handeln und Verantwortlichkeit nach Kargl ......... 62
10
Inhaltsverzeichnis 4. Zusammenfassung............................................................................................ 67 5. Exkurs: Neuere Ansätze in der deutschen Philosophie..................................... 68 a) Personale Freiheit nach Bieri ..................................................................... 69 b) Minimalistische „Selbstbestimmung“ nach Pauen ..................................... 73 c) Kritik: Begriffliche Vermengung von Verantwortung und Schuld ............ 76
IV. Überleitung............................................................................................................. 77
Kapitel 2 Freiheit und Rechtsdogmatik I.
78
Beweisbedürftigkeit der Schuld.............................................................................. 78 1. Regelungsbereich des Art. 2 Abs. 1 GG........................................................... 80 a) Allgemeine Handlungsfreiheit im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG und metaphysische Willensfreiheit .......................... 80 b) Allgemeine Handlungsfreiheit im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG und individuelles Freiheitserleben ........................... 82 c) Konsequenzen für das Strafrecht................................................................ 85 2. Die Menschenwürde im Sinne des Art. 1 GG und die Schuldstrafe ................. 87 a) Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts zur Legitimität von Strafe ... 89 b) Historische Überlegungen zur Willensbetätigung als Grundlage staatlichen Strafens ............................................................. 92 c) Die Grundlagen und Grundfragen der Schuldstrafe ................................... 96 d) Grammatikalische Überlegungen zum Begriff der Selbstbestimmung....... 99 3. Schuldstrafe zwischen Handlungsfreiheit und Menschenwürde..................... 104 a) Die Begrenzungsfunktion der Schuld für die Strafe unter dem Aspekt einer objektiven Wertordnung .......................... 105 b) Der Mensch als Objekt der Verbrechensbekämpfung .............................. 110 c) Zusammenfassende Thesen...................................................................... 117 4. Das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG........................................................ 119 a) Normative Konstruktionen vor den Schranken des Art. 3 Abs. 1 GG...... 120 b) Die subjektive Evidenz von Freiheit als Grundlage der Schuld? ............. 122 c) Der gesetzliche Beweis im Strafprozess................................................... 125 d) Grenzen richterlicher Überzeugungsbildung............................................ 126 e) Richterliche Perspektive........................................................................... 131 f) Zusammenfassung.................................................................................... 133
II. Allgemeines zur Beweisbarkeit der Schuldfrage .................................................. 135
Inhaltsverzeichnis
11
1. Objektivierbarkeit subjektiven Erlebens ........................................................ 137 2. Erlebnisirrtümer ............................................................................................. 138 III. Fazit und Überleitung........................................................................................... 140
Teil 2 Automatisiertes Verhalten und Schuld
143
Kapitel 1 Die Handlung I.
143
Die Handlungsqualität in der Systematik der Nichthandlungen ........................... 143 1. Vis absoluta und Reflexe................................................................................ 145 2. Verhaltensweisen im Zustand der Bewusstlosigkeit....................................... 148 3. Das Willensproblem....................................................................................... 152 a) Subjektiv versus objektiv ......................................................................... 153 b) Normativ versus empirisch ...................................................................... 157 4. Zusammenfassung.......................................................................................... 158
II. Die automatisierten Verhaltensweisen.................................................................. 159 1. Erscheinungsformen automatisierter Verhaltensweisen – im Besonderen: die Spontanreaktionen .......................................................... 160 2. Wille als zeitlicher Aspekt der Handlung....................................................... 162 3. Das Problem der Handlungsqualität ............................................................... 163 III. Verursachung im Lichte ausgewählter Handlungslehren ..................................... 165 1. Der Handlungsbegriff um 1900...................................................................... 165 a) Naturalistische Handlungslehre (v. Liszt und Beling).............................. 166 b) Symptomatische Handlungslehre (Kollmann und Tesar)......................... 168 2. Die Entwicklung im 20. Jahrhundert.............................................................. 168 a) Finale Handlungslehre (Welzel, Stratenwerth und Schewe) .................... 169 b) Soziale Handlungslehre (Engisch und Maihofer)..................................... 173 c) Die „menschliche Seinsäußerung“ nach Michaelowa .............................. 175 d) Personale Handlungslehre (Roxin und Arthur Kaufmann)....................... 177 e) Der kognitive Handlungsbegriff Kargls ................................................... 181 f) Der funktionale Handlungsbegriff Jakobs’ .............................................. 183 3. Zusammenfassung.......................................................................................... 184 IV. Konsequenzen für den Schuldbegriff ................................................................... 186
12
Inhaltsverzeichnis Kapitel 2 Vermeidbarkeit
I.
187
Vorüberlegungen .................................................................................................. 187 1. Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens ............................................................... 188 2. Nachträgliche Kontrollübernahme ................................................................. 190
II. Automatisierte Verhaltensweisen und Reaktionszeit............................................ 191 1. Die Reaktionszeit in Rechtsprechung und Literatur ....................................... 191 2. Fallbeispiele im Vergleich.............................................................................. 194 a) „Kleintier-Fall“ versus „Jagdhund-Fall“ .................................................. 194 b) „Fliege-Fall“ versus „Fahrertür-Fall“....................................................... 195 3. Erklärungsansätze .......................................................................................... 196 a) Vorhersehbarkeit und Reaktionszeit ........................................................ 196 b) Aktivität innerhalb der Reaktionszeit....................................................... 197 c) Reaktionszeit und passives Verhalten ...................................................... 198 4. Exkurs: Zivilrechtliche Behandlung von Reaktionszeiten.............................. 200 III. Folgerungen.......................................................................................................... 203
Kapitel 3 Vorsatz und Fahrlässigkeit I.
208
Vorsatz und bewusste Fahrlässigkeit – Problemaufriss ........................................ 208 1. Die Beweisproblematik .................................................................................. 211 2. Automatisierte Verhaltensweisen ................................................................... 213 a) Aktuelles Vorstellungsbild....................................................................... 215 b) Sachgedankliches (Mit-)Bewusstsein....................................................... 216 c) Das Bewusstseinsfeld nach Schewe ......................................................... 218 d) Das Wollenselement ................................................................................ 219 3. Zusammenfassung.......................................................................................... 221
II. Die unbewusste Fahrlässigkeit ............................................................................. 222 1. Erkennbarkeit aufgrund des konkret riskanten Verhaltens............................. 222 a) Die visuelle Wahrnehmung als Erkenntnisquelle..................................... 223 b) Erkenntnisse aus den Reaktionszeitfällen ................................................ 225 c) Verhältnis von Reaktion und Wahrnehmung ........................................... 226 2. Erkennbarkeit aufgrund äußerer gefahrerhöhender Umstände ....................... 228 3. Folgerungen ................................................................................................... 232 III. Zwischenergebnis und Überleitung ...................................................................... 233
Inhaltsverzeichnis
13
Teil 3 Empirische Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften
240
Kapitel 1 Visuelle Wahrnehmung I.
240
Schnittstelle zwischen Strafrechts- und Neurowissenschaft ................................. 240 1. Bewusstseinsbegriff ....................................................................................... 241 2. Neuronale Informationsverarbeitung.............................................................. 241 a) Molekularbiologische Grundlagen........................................................... 242 b) Bildgebende Verfahren ............................................................................ 243 c) Die Arbeitsweise des Gehirns .................................................................. 244 3. Aufmerksamkeit ............................................................................................. 246 a) Bewusstseinskorrelierte elektrische Potentiale......................................... 247 b) Aufmerksamkeitsprioritäten..................................................................... 248 c) Motion-induced blindness........................................................................ 249 4. Folgerungen für die Innenperspektive............................................................ 250
II. Die Bewusstwerdungsdauer ................................................................................. 250 1. Bewusste Reizverarbeitung ............................................................................ 252 2. Unbewusste Reizverarbeitung........................................................................ 253 3. Masking / unbewusste Modifikation .............................................................. 254 a) Der Crawford-Effekt ................................................................................ 254 b) Vorbewusste oder nachbewusste Modifikation? (Dennett und Kinsbourne)........................................................................ 255 4. Der Flash-lag-Effekt....................................................................................... 257 a) Bewegungsextrapolation.......................................................................... 258 b) Latency-difference ................................................................................... 258 c) Motion Integration und Postdiction.......................................................... 259 5. Die Antedatierung nach Libet ........................................................................ 262 a) Libets vergleichende Untersuchungen ..................................................... 263 b) Kritik ...................................................................................................... 264 III. Konsequenzen der dargestellten Untersuchungen für die Rechtsbegriffe der „Kenntnis“ und der „Erkennbarkeit“ .......................... 266
14
Inhaltsverzeichnis Kapitel 2 Entstehung von Bewegungen
I.
269
Ausgangslage ....................................................................................................... 269 1. Handlungsinitiierung aus psychophysiologischer Sicht 1968 (Müller-Limroth)............................................................................................ 270 2. Das Bereitschaftspotential (Kornhuber/Deecke) ............................................ 271
II. Automatisierte Bewegungen................................................................................. 272 1. Wahrnehmung und Reaktion.......................................................................... 273 2. Reiz-Reaktions-Muster................................................................................... 275 3. Folgerungen ................................................................................................... 277 III. Willkürliche Bewegungen .................................................................................... 278 1. Das Libet-Experiment .................................................................................... 278 2. Diskussion...................................................................................................... 280 a) Erlebnisinhalt ........................................................................................... 280 b) Zeitliche Einordnung des subjektiv Erlebten............................................ 285 c) Messung des Bereitschaftspotentials........................................................ 291 3. Ontologisch-dualistische Interpretationen ...................................................... 292 a) Eccles und der selbstbewußte Geist ......................................................... 293 b) Kritik ...................................................................................................... 294 c) Die Vetotheorie........................................................................................ 295 d) Experimentelle Überprüfbarkeit............................................................... 295 e) Empirische Einwände .............................................................................. 296 f) Grundsätzliche Kritik............................................................................... 298 4. Identitätstheorie.............................................................................................. 300 5. Rechtliche Einordnung................................................................................... 302 IV. Folgerungen für willkürliches und unwillkürliches Verhalten.............................. 307
Kapitel 3 Neuronale Determination und subjektives Freiheitserleben I.
309
Selbstzuschreibung von Handlungen aus neurowissenschaftlicher Sicht ............. 309 1. Emotion und Motivation ................................................................................ 309 2. Entwicklung ................................................................................................... 316 3. Zielvorstellungen............................................................................................ 319 4. Grenzen subjektiven Erlebens ........................................................................ 321
II. Exkurs: Epiphänomenalismus .............................................................................. 324
Inhaltsverzeichnis
15
Teil 4 Fazit
326
Kapitel 1 Zur Annahme willentlicher Verhaltenssteuerung im Strafrecht I.
326
Die willentliche Verhaltenssteuerung in der Dogmatik ........................................ 326 1. Sachliches Kriterium zur Differenzierung? .................................................... 328 a) Handlungsbegriff ..................................................................................... 330 b) Vermeidbarkeit ........................................................................................ 332 c) Subjektive Tatseite................................................................................... 333 2. Ergebnis ......................................................................................................... 335
II. Die Willenssteuerung in der „Schuldidee“ ........................................................... 337
Kapitel 2 Zur verfassungsrechtlichen Legitimation der Strafe I.
341
Schuldbegründung und Schuldausgleich .............................................................. 341 1. Die Innenperspektive...................................................................................... 342 2. Die Außenperspektive .................................................................................... 343
II. Ausblick: Perspektive des Schuldprinzips............................................................ 345
Literaturverzeichnis .................................................................................................. 349 Entscheidungsregister................................................................................................ 385 Sachwortregister ........................................................................................................ 390
Abkürzungsverzeichnis Abb.
Abbildung
Abs.
Absatz
AcP
Archiv für die civilistische Praxis (zit. nach Band, Jahr und Seite)
a. E.
am Ende
a. F.
alte Fassung
AG
Amtsgericht
AK
Alternativkommentar zum Strafgesetzbuch, Gesamtherausgeber Rudolf Wassermann
AK-GG
Alternativkommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Gesamtherausgeber Rudolf Wassermann
al. (et al.)
alii
Anm.
Anmerkung
Ann. Neurol.
Annals of Neurology (zit. nach Band, Jahr und Seite)
Arch Psychiatr Nervenkr
Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten (zit. nach Band, Jahr und Seite)
ARSP
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (zit. nach Band, Jahr und Seite)
Art.
Artikel
AT
Allgemeiner Teil
Aufl.
Auflage
Ausg.
Ausgabe
BA
Blutalkohol (zit. nach Jahr und Seite)
BayObLG
Bayerisches Oberstes Landesgericht
Bd.
Band
bearb.
bearbeitet
Bem.
Bemerkung
Begr.
Begründer
BGB
Bürgerliches Gesetzbuch
BGH
Bundesgerichtshof
Abkürzungsverzeichnis
17
BGHSt
Entscheidungen des BGH in Strafsachen (zit. nach Band und Seite)
bspw.
beispielsweise
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BVerfGE
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (zit. nach Band und Seite)
bzw.
beziehungsweise
ca.
circa
CCC
Constitutio Criminalis Carolina
DAR
Deutsches Autorecht (zit. nach Jahr und Seite)
ders. / dies.
derselbe / dieselbe(n)
d. h.
das heißt
Diss.
Dissertation
DRiZ
Deutsche Richterzeitung (zit. nach Jahr und Seite)
DZPhil
Deutsche Zeitschrift für Philosophie (zit. nach Jahr und Seite)
E
Entscheidung
ebd.
ebenda
EcoG
Elektrokortikogramm
EEG
Elektroenzephalogramm
Einl.
Einleitung
EMRK
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und der Grundfreiheiten
EuS
Zeitschrift für Ethik und Sozialwissenschaften (zit. nach Band, Jahr und Seite)
Exp Brain Res
Experimental Brain Research (zit. nach Band, Jahr und Seite)
f. / ff.
(eine) folgende / (mehrere) folgende
FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung
FG
Festgabe
fMRT
funktionelle Magnetresonanz-Tomographie
Fn.
Fußnote
FS
Festschrift
GA
Archiv für Strafrecht, begründet von Goltdammer (zit. nach Jahr und Seite)
GesHrsg.
Gesamtherausgeber
GesRed.
Gesamtredaktion
GG
Grundgesetz
GS
Gedächtnisschrift
18
Abkürzungsverzeichnis
GSSt
Großer Senat für Strafsachen
Habil.
Habilitationsschrift
HRRS
Online-Zeitschrift der Hamburger Anwaltskanzlei Strate & Ventzke (zit. nach Jahr und Seite): www.hrr-strafrecht.de
Hrsg. / hrsg.
Herausgeber/in / herausgegeben
Hz
Hertz
i. d. R.
in der Regel
insb.
insbesondere
i. S. d.
im Sinne der/des
i. V. m.
in Verbindung mit
JA
Juristische Arbeitsblätter (zit. nach Jahr und Seite)
JR
Juristische Rundschau (zit. nach Jahr und Seite)
JuS
Juristische Schulung (zit. nach Jahr und Seite)
JW
Juristische Wochenschrift (zit. nach Jahr und Seite)
JZ
Juristenzeitung (zit. nach Jahr und Seite)
Kap.
Kapitel
KJ
Kritische Justiz (zit. nach Jahr und Seite)
KK-OWiG
Karlsruher Kommentar zum OWiG, herausgegeben von Karlheinz Boujong
KK-StPO
Karlsruher Kommentar zur StPO, herausgegeben von Gerd Pfeiffer
Kleinknecht/ Meyer-Goßner
Kommentar zur Strafprozeßordnung, erläutert von Lutz MeyerGoßner
km/h
Stundenkilometer
KMR
Kommentar zur Strafprozeßordnung, herausgegeben von HeintschelHeinegg / Stöckel
Lfg.
Lieferung
LG
Landgericht
Lit.
Literatur
LK (8. Aufl.)
Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, herausgegeben von Jagusch / Mezger
LK
Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, herausgegeben von Jähnke / Laufhütte / Odersky
LKW
Lastkraftwagen
LM
Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs, herausgegeben von Lindenmaier / Möhring (zit. nach Paragraph und Nummer)
MDR
Monatsschrift für deutsches Recht (zit. nach Jahr und Seite)
Abkürzungsverzeichnis
19
MdS
Metaphysik der Sitten
MEG
Magnetoenzephalogramm
ms
Millisekunde(n)
MschrKrim
Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (zit. nach Jahr und Seite)
m. w. N.
mit weiteren Nachweisen
NJW
Neue Juristische Wochenschrift (zit. nach Jahr und Seite)
NK
Nomos Kommentar zum StGB, hrsg. v. Kindhäuser / Neumann / Paeffgen (2005)
NK (1. Aufl.)
Nomos Kommentar zum StGB (1995–2003), GesHrsg. Ulfrid Neumann
Nr. / No.
Nummer
NStZ
Neue Zeitschrift für Strafrecht (zit. nach Jahr und Seite)
NZV
Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht (zit. nach Jahr und Seite)
OGHZ
Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes für die Britische Zone in Zivilsachen
OLG
Oberlandesgericht
OWiG
Gesetz über Ordnungswidrigkeiten
PET
Positronen-Emissions-Tomographie
PKW
Personenkraftwagen
Proc. Roy. Soc./B
Proceedings of the Royal Society of London. Series B, Biological sciences (zit. nach Band, Jahr und Seite)
resp.
respektive
RG
Reichsgericht
RGSt
Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen (zit. nach Band und Seite)
Rn.
Randnummer
Rspr.
Rechtsprechung
S. / s.
Seite/n, siehe
sc.
scilicet
Sch/Sch
Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 26. Aufl., verfasst von Lenckner / Eser / Cramer / Stree / Heine / Perron / SternbergLieben
SchwZStr
Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht (zit. nach Band, Jahr und Seite)
sek. / sec.
Sekunde(n)
20
Abkürzungsverzeichnis
SK-StGB
Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, herausgegeben von Rudolphi / Horn / Günther
SK-StPO
Systematischer Kommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, herausgegeben von Hans-Joachim Rudolphi
SMA
supplementär motorisches Areal
sog.
sogenannte/sogenannter/sogenanntes
SPECT
Einzel-Photonen-Emissions-Computertomographie
StGB
Strafgesetzbuch
StPO
Strafprozeßordnung
StrafR
Strafrecht
StV
Strafverteidiger (zit. nach Jahr und Seite)
teilw.
teilweise
Tz.
Textziffer
u.
und
u. a.
unter anderem / und anderen
usw.
und so weiter
u. U.
unter Umständen
v.
von / vom
VAE
Verkehrsrechtliche Abhandlungen und Entscheidungen (zit. nach Jahr und Seite)
Verf. / verf.
Verfasser/in / verfasst
vgl.
vergleiche
Vol.
Volume
Vorb. / Vorbem. Vorbemerkung(en) VRS
Verkehrsrechts-Sammlung, Entscheidungen aus allen Gebieten des Verkehrsrechts (zit. nach Jahr und Seite)
vs.
versus
z. B.
zum Beispiel
zit.
zitiert
ZNS
Zentralnervensystem
Z Psychol
Zeitschrift für Psychologie (zit. nach Band, Jahr und Seite)
ZStW
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (zit. nach Band, Jahr und Seite)
ZVS
Zeitschrift für Verkehrssicherheit (zit. nach Jahr und Seite)
„Es ist eine Frage, ob wir nicht, wenn wir einen Mörder rädern, grade in den Fehler des Kindes verfallen, das den Stuhl schlägt, an den es sich stößt.“ (Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbuch J 706)
Einleitung Das Schuldstrafrecht beruht auf der Prämisse, dass ein empirischer Zugang zum Freiheitsproblem nicht offen steht. Diese Grundannahme ist in Anbetracht neurowissenschaftlicher Erkenntnisse fraglich geworden. Obwohl das Strafrecht seit seinem Bestehen mit dickem Fell Angriffen jeglicher Provenienz in seinem innersten Kern, dem Schuldvorwurf, unbeschädigt getrotzt hat, könnten die Forschungen auf diesem interdisziplinär strukturierten Gebiet geeignet sein, das Menschenbild insgesamt zu reformieren und damit auch dem Menschen im Recht ein neues – unschuldiges? – Gesicht zu geben. Das Strafrecht findet seine größten Widersacher primär in den Reihen der Geisteswissenschaftler, insbesondere der (Rechts-)Philosophen und Sozialwissenschaftler. Die Naturwissenschafter, obwohl im letzten Jahrhundert sehr ertragreich für die Rechtspraxis, haben sich demgegenüber in Zurückhaltung geübt – wohl nicht zuletzt aufgrund der scheinbar unüberbrückbaren Distanz zwischen den Disziplinen, die Unsicherheit auch bei begründeter grundsätzlicher Kritik hervorzurufen vermag. Auf der anderen Seite hat sich die Strafrechtswissenschaft, was die Rechtfertigung ihrer grundlegenden Konstruktionen vor dem Hintergrund naturwissenschaftlicher Forschung betrifft, weitgehend in einen Mantel des Schweigens gehüllt. Seit einigen Jahren wird jedoch von Seiten der Neurowissenschaft zunehmende Kritik formuliert. So kommt aus der Neurowissenschaft die Mahnung, die funktionale Rolle bestimmter Aspekte von Erlebnisprozessen sei nicht nur als Modethema von Interesse, sondern habe weitreichende Implikationen unter anderem für die Rechtsphilosophie.1 Der Philosoph und Biologe Gerhard Roth führt aus: „Es müßte sehr sorgfältig diskutiert werden, ob und inwieweit es sowohl bei der Strafe als Sühne wie auch bei der Strafe als Erziehung zum Besseren einen großen Unterschied macht, ob man das Ich als Konstrukt bestraft (wenn dies überhaupt möglich ist) oder das Gehirn und seinen Organismus als autonomes _________________ 1
S. 19.
Siehe Roth/Schwegler/Stadler/Haynes, Die funktionale Rolle des bewußt Erlebten,
22
Einleitung
System.“2 Auch der Leiter des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung in München, Wolfgang Prinz, macht auf die Konsequenzen der Neurobiologie für die gesellschaftliche Verantwortungszuschreibung und damit den Strafprozess aufmerksam.3 Der Neurophilosoph Henrik Walter erklärt: „Was, wenn sich ein solcher Schuldbegriff als Illusion herausstellen sollte? Dann müßte das Strafrecht sich ändern. Es müßte aber nicht zusammenbrechen.“4 Und der Leiter des Max Planck Instituts für Hirnforschung in Frankfurt, Wolf Singer, erwägt als Konsequenz neurowissenschaftlicher Forschung die Möglichkeit eines humaneren Umgangs mit Gesetzesbrechern.5 Die vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch, die Voraussetzungen strafrechtlicher Schuld vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der Neurowissenschaft zu überprüfen. Winfried Hassemer, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, deutet auf das zentrale Problem dabei hin: „[...] die Annahme, daß Personen Erfolge in der Außenwelt bewirken und steuern können, daß gegenüber einer Verletzung menschlicher Interessen die Frage nach einem menschlichen Urheber dieser Verletzung erlaubt und diskutabel ist.“6 Da die heutige Neurowissenschaft kognitive und biologische Problemstellungen miteinander kombiniert und als solche eine Erweiterung bisheriger, sich mit den neuronalen Vorgängen nicht explizit befassender psychophysiologischer Forschung darstellt, setzt sie sich gerade auch mit Fragen menschlicher Verhaltenssteuerung auseinander. Doch obwohl die Neurowissenschaft inzwischen auch für die Grundfragen des Rechts aufschlussreiche Erkenntnisse liefert, wird sie in der Strafrechtswissenschaft regelmäßig nur dann herangezogen, wenn es um die Feststellung somatischer Hirndefekte oder messbarer „Anomalien“ beim Delinquenten geht. Soweit ihre Erkenntnisse einen Rückschluss auf die Willensfreiheit des Menschen zulassen, sind sie hingegen in der Strafrechtswissenschaft bisher nur sehr vereinzelt und unzureichend verarbeitet worden.7 Den Ausgangspunkt dieser Untersuchung wird die Freiheitsdiskussion im Strafrecht bilden. Dabei interessiert neben der Willensfreiheit vornehmlich die Handlungsfreiheit. Zum Verständnis dieses Begriffs werden Ausführungen _________________ 2
Roth, Das Gehirn, S. 330 f. Siehe Prinz, Freiheit oder Wissenschaft?, S. 90 und Fn. 3. 4 Walter, Neurophilosophie, S. 59. 5 In: Spektrum der Wissenschaft 2 (2001), S. 75 (Interview Hoefer/Pöppe). 6 Hassemer, Schuldprinzip, S. 94. 7 Ansätze finden sich bei Dreher, Willensfreiheit – ein zentrales Problem mit vielen Seiten (1987); Kargl, Handlung und Ordnung im Strafrecht: Grundlagen einer kognitiven Handlungs- und Straftheorie (1991); Guss, Willensfreiheit oder: Beruht das deutsche Strafrecht auf einer Illusion? (2002); Schiemann, NJW 2004, S. 2056 ff.; neuestens auch Hillenkamp, JZ 2005, S. 313 ff.; Kriele, ZRP 2005, S. 185 ff., u. Jakobs, ZStW 117 (2005), S. 247 ff. 3
Einleitung
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Arthur Schopenhauers herangezogen. Die dabei herausgearbeiteten Problemschwerpunkte – auch mit Blick auf die Willensfreiheit – dienen im Weiteren als Grundlage der kritischen Würdigung ausgewählter Schuldtheorien, die unter Berücksichtigung einer jedenfalls möglich erscheinenden Determination menschlichen Verhaltens am Schuldprinzip festhalten. Einbezogen in die Diskussion werden auch die Freiheitstheorien der Philosophen Peter Bieri und Michael Pauen, die davon ausgehen, mit einem Determinismus kompatible Freiheitsbegriffe entwickelt zu haben, die jeweils auch mit dem Schuldstrafrecht in Einklang stehen. Im Anschluss erfolgt eine verfassungsrechtliche Diskussion, die sich mit verschiedenen Perspektiven einer Legitimation des Schuldprinzips auseinandersetzt. Im Mittelpunkt stehen dabei die verfassungsrechtlichen Grundpfeiler der Freiheit und Gleichheit jeweils mit Bezug auf die Menschenwürde. Dazu wird zunächst der Regelungsbereich des Strafrechts anhand der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG diskutiert. Anschließend wird der Aspekt menschlicher Selbstbestimmung im Schuldstrafrecht dem Art. 1 Abs. 1 GG gegenübergestellt. Darauf aufbauend bilden beide Artikel der Verfassung die gemeinsame Grundlage, um die Begrenzungsfunktion der Schuld als Argument für ihre Rechtfertigung als strafrechtliche Systemkategorie zu hinterfragen. Die Überlegungen zur Gleichheit erwachsen dabei aus der Auseinandersetzung um Art. 1 Abs. 1 GG und werden unter dem Stichwort materieller Gerechtigkeit bei der strafrechtlichen Zurechnung im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG erörtert. Im Vordergrund steht dabei die Frage, welchen Anforderungen der Schuldspruch in Anbetracht des strafprozessualen Beweiserfordernisses genügen muss. Den Abschluss des ersten Teils bilden allgemeine Überlegungen zum Umgang mit subjektiven und objektiven Sachverhalten im Strafprozess. Im zweiten Teil werden diese allgemeinen Überlegungen am Beispiel des Handlungs- und Vermeidungsbegriffs sowie der subjektiven Tatseite in der strafrechtlichen Dogmatik konkretisiert. Am weiteren Beispiel der automatisierten Verhaltensweisen, insbesondere der Spontanreaktionen, werden die Voraussetzungen der Zurechnung strafrechtlicher Schuld hinsichtlich ihrer Tauglichkeit als sachliche Differenzierungskriterien zur Wahrung des Gleichheitsgebots erörtert. Dies erfolgt unter Berücksichtigung der in Rechtsprechung und Lehre vertretenen Standpunkte, wobei das besondere Augenmerk auf den Problemlösungsstrategien der Praxis liegen soll. Wegen der schier unerschöpflichen Theorienvielfalt, die sich zu den hier problematisierten Komplexen des Strafrechts entwickelt hat, ist es unumgänglich (wenngleich es nicht allen der in Einzelheiten sehr differenzierten Ansätze vollständig gerecht werden mag), einige Lehren unter einem Oberbegriff zusammenzufassen und einzelne Ansichten nur dann exemplarisch eingehender zu erörtern, wenn sie besondere Anhaltspunkte dafür aufweisen, weiteren Aufschluss für unser Thema zu erbringen. Zur Überprüfung der herausgearbeiteten Kriterien werden im dritten
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Einleitung
Teil der Arbeit Erkenntnisse herangezogen, die größtenteils aus der experimentellen Neurowissenschaft stammen. Über Forschungen zur Verhaltenssteuerung hinaus werden auch Erkenntnisse zur Verarbeitung von Sinneseindrücken sowie die (möglichen) Entstehungsbedingungen des menschlichen Ich-Bewusstseins und seiner Selbstzuschreibungen, insbesondere der der Handlungsurheberschaft, in den Blick genommen. Die Arbeit schließt im vierten Teil ab mit der Übertragung der neurowissenschaftlichen Erkenntnisse auf die Zurechnungsvoraussetzungen der Strafrechtsdogmatik unter Berücksichtigung der anfangs abstrakt diskutierten verfassungsrechtlichen Vorgaben. Die Spannungsfelder zwischen Strafrecht und Verfassung werden noch einmal aufgegriffen und es wird ein Resumée hinsichtlich der sich hieraus ergebenen Konsequenz für das Schuldprinzip formuliert. Als abschließender Hinweis dieser Vorbemerkungen sei der folgende gestattet: Diese Untersuchung versucht nicht zu klären, worüber sich kluge Köpfe seit Jahrhunderten streiten, – die Frage nämlich, was die Freiheit des Menschen eigentlich ist. Wenn sich diese Frage überhaupt beantworten lässt, dann bedarf es dafür weitaus umfassenderer Qualifikation, als sich die Verfasserin dieser Zeilen anmaßen dürfte. Der Leser wird daher im vergleichsweise bescheidenen Rahmen nur mit verschiedenen Aspekten strafrechtlicher Verantwortung und deren Voraussetzungen konfrontiert. Freilich werden diese dabei auch in einem Licht untersucht, dem sie bislang noch kaum oder jedenfalls nicht hinreichend ausgesetzt worden sind: dem der neueren Resultate einschlägiger naturwissenschaftlicher Forschungen.
Teil 1
Freiheit als Voraussetzung der Schuld – im Besonderen: die Handlungsfreiheit Kapitel 1
Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf I. Grundzüge der Freiheitsdiskussion dargestellt am Beispiel Schopenhauers Wenn auch nicht völlig frei von einzelfallbezogenen Kontroversen, so ist es heute für den Richter doch weitgehend unproblematisch, eine die Strafe begründende Schuld im Prozess festzustellen. Fehlen konkrete Anhaltspunkte für das Gegenteil, so werden Schuldfähigkeit des Täters und das Schuldhafte seiner Tat als der Normalfall ohne weiteres vorausgesetzt. Erst die Annahme der Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB1 wirft regelmäßig Schwierigkeiten auf. Von der Strafbegründungsschuld wird die Schuldidee unterschieden.2 Sie befasst sich mit dem „Phänomen der Schuld als Grundlage und Grenze der staatlichen Strafgewalt“3. In den Mittelpunkt rückt hierbei das „Wesen“ der Schuld, das in engem Zusammenhang mit der Frage der Freiheit des Menschen steht. Dabei stehen sich Überzeugungen gegenüber, die entweder auf deterministischen oder auf indeterministischen Weltbildern gründen. Der wesentliche Unterschied liegt in der Frage, ob alle Vorgänge in der Welt, also sowohl äußere (wie Bewegungen) als auch innere Vorgänge (wie die Willensbildung), in einen kausalen _________________ 1 § 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen. Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. 2 Siehe Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 107; Munoz Conde, GA 1978, S. 65; ausführlich Achenbach, Grundlagen, S. 6 ff. 3 Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 108. Nach Geddert-Steinacher hat der Schuldgrundsatz Prinzipiencharakter und ist anders als der strafrechtliche Schuldbegriff empirieunabhängig (s. Menschenwürde, S. 157).
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Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld
Zusammenhang eingebettet sind (Determinismus) oder ob sich die Willensbildung frei von determinierenden Faktoren vollzieht, so dass der menschliche Wille kausale Zusammenhänge „überdeterminieren“ kann (Indeterminismus). Überwiegend unterschieden werden in der Freiheitsfrage Willens- und Handlungsfreiheit. Während die Willensfreiheit in ihrer Relevanz für die Rechtswissenschaft seit jeher umstritten ist, wird der Frage der Handlungsfreiheit für die innere Berechtigung des Schuldvorwurfs nur wenig Bedeutung beigemessen.4 Das mit der Schuldidee einhergehende Freiheitsproblem wird daher überwiegend bei der Willensbildung angesiedelt.5 Willensfreiheit soll vorliegen, wenn sich die Willensbildung unabhängig von kausalen Faktoren vollzieht und die Person ihre Willensbildung selbst bestimmt.6 Anders ausgedrückt ist die Willensfreiheit „die Freiheit, das zu wollen, was man will“, während Handlungsfreiheit als „die Freiheit, das zu tun, was man will“, verstanden und damit mit der Willensbetätigung eng verknüpft wird.7 Weil der Nutzen empirischer Erkenntnisse, wozu die Forschungen der Neurowissenschaften gehören, in Bezug auf die Willenfreiheit stark umstritten ist, die Handlungsfreiheit dagegen durch die Verknüpfung mit dem Verhalten immer in engem Kontakt mit der Empirie stand, soll die Annäherung an den strafrechtlichen Schuldbegriff in dieser Arbeit über die Handlungsfreiheit erfolgen. Eine bedeutende Rolle in der philosophischen Diskussion um den Begriff der Handlungsfreiheit spielte, jedenfalls in Deutschland, Arthur Schopenhauer. Um ein besseres Verständnis der Probleme zu bekommen, die mit diesem Begriff und seiner Abgrenzung zu dem der Willensfreiheit verbunden sind, und als Grundlage für die sich anschließenden Überlegungen, soll deshalb zunächst die Auffassung Schopenhauers skizziert werden. _________________ 4
Siehe Tiemeyer, GA 1986, S. 211; vgl. auch Burkhardt, Wille, S. 322; Hochhuth, JZ 2005, S. 747. 5 Siehe Tiemeyer, GA 1986, S. 207; vgl. auch Mangakis, ZStW 75 (1963), S. 499 ff. 6 Siehe Pothast, JA 1993, S. 106; Kant unterscheidet in dieser Frage den empirischen Menschen („homo phainomenon“), dessen Wille nur als determiniert begriffen werden könne, vom „noumenalen“ Menschen als Subjekt des Sittengesetzes („homo noumenon“), dessen Wille als „frei“, nämlich nicht von empirischen Fakten, sondern allein vom Sittengesetz bestimmt gedacht werden könne und müsse; zu dieser schwierigen und spekulativen Willensmetaphysik bei Kant s. P. Baumann, Autonomie, S. 140 ff.; auch (knapp) Mittelstraß, S. 39. 7 Siehe Schopenhauer, Ethik, S. 16; Nicolai Hartmann, Ethik, S. 639; Mezger, Über Willensfreiheit, S. 3; Engisch, Willensfreiheit, S. 27; Lampe, ZStW 79 (1967), S. 486. Der Begriff der Willensbetätigung meint damit eine Verbindung des äußeren Akts des Verhaltens mit einem mentalen Akt oder Phänomen (vgl. zu den Willensbegriffen Giedrys, Enzyklopädie Philosophie, S. 1754 ff.). Einen Überblick zur Differenzierung der Freiheiten gibt Weischedel, Skeptische Ethik, S. 123 ff. Die Trennung der Freiheitsbegriffe wird heute teilweise bewusst aufgegeben, so bei Walter, Neurophilosophie, S. 24.
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf
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1. Willensbetätigung und Selbstbewusstsein Spricht man von einer Willensbetätigung, so impliziert dies – neben dem hier zunächst zurückzustellenden Problem der Entsprechung von Tun und Wollen – eine Abhängigkeit des Verhaltens vom Willen. Dieser Zusammenhang, „die Abhängigkeit unsers Thuns, das heißt unserer körperlichen Aktionen, von unserm Willen,“8 wird bei Schopenhauer allerdings nur durch das Selbstbewusstsein, also die innere Anschauung vermittelt: „Das Selbstbewußtsein sagt die Freiheit des Thuns aus, – unter Voraussetzung des Wollens [...].“9 Diese Abhängigkeit ist nach Schopenhauer wechselseitig. Der Wille geht dem Verhalten also nicht zeitlich voran, ist damit keine Voraussetzung für das Verhalten im Sinne einer Ursache: „Der Willensakt und die Aktion des Leibes sind nicht zwei objektiv erkannte verschiedene Zustände, die das Band der Kausalität verknüpft, stehn nicht im Verhältnis der Ursache und Wirkung; sondern sie sind Eines und dasSelbe, nur auf zwei gänzlich verschiedene Weisen gegeben: ein Mal ganz unmittelbar und ein Mal in der Anschauung für den Verstand. Die Aktion des Leibes ist nichts Anderes, als der objektivierte, d.h. in die Anschauung getretene Akt des Willens.“10 Darüber, wie der bewusste Wille zustande kommt, der nach Schopenhauer kausal durch Motive der Außenwelt bestimmt wird, kann das Selbstbewusstein keine Aussage treffen, weil dieser Bereich nicht von ihm erfahren werden kann: „Also jene unleugbare Aussage des Selbstbewußtseyns ,ich kann thun was ich will‘ enthält und entscheidet durchaus nichts über die Freiheit des Willens, als welche darin bestehen würde, daß der jedesmalige Willensakt selbst, im einzelnen individuellen Fall, also bei gegebenem individuellen Charakter, nicht durch die äußern Umstände, in denen hier dieser Mensch sich befindet, nothwendig bestimmt würde, sondern jetzt und so und auch anders ausfallen könnte. Hierüber aber bleibt das Selbstbewußtseyn völlig stumm: denn die Sache liegt ganz außer seinem Bereich; da sie auf dem Kausalverhältniß zwischen der Außenwelt und dem Menschen beruht.“11 „Sache des Selbstbewußtseyns ist allein der Willensakt, nebst seiner absoluten Herrschaft über die Glieder des Leibes, welche eigentlich mit dem ,was ich will‘ gemeint ist.“12 Der Begriff der Selbstbestimmung bringt zum Ausdruck, dass der Mensch seinen Willen und damit seine Handlungen als von ihm selbst, und zwar unab-
_________________ 8 9 10 11 12
Schopenhauer, Ethik, S. 16. Schopenhauer, ebd. Schopenhauer, Welt, S. 119. Schopenhauer, Ethik, S. 23. Schopenhauer, Ethik, S. 17.
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Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld
hängig von kausalen Bedingungen, verursacht erfährt.13 Wird er synonym mit einem „starken Begriff“ der Willensfreiheit verwendet, dann spiegelt er das verbreitete menschliche Selbstverständnis vom Willen als „causa sui“ wider, als Verursacher seiner selbst und damit auch der nachfolgenden Handlung14; in dieser Bedeutung reicht er über den bloßen Begriff der „Willensbetätigung“ hinaus, die zunächst nur irgendeinen Abhängigkeitszusammenhang zwischen Willen und Verhalten impliziert. Sofern Handlungen in dieser Weise selbstbestimmt sind, gelten sie daher allgemein als „frei“. Ein solcher Freiheitsbegriff wird als „positiv“ oder „stark“ bezeichnet: Ersteres, weil es sich um eine Freiheit zu (und nicht nur von) etwas, nämlich zu Selbstbestimmung und Wahl handelt, letzteres, weil er auf einer indeterministischen Weltsicht gründet und deshalb ein Mehr, einen größeren Umfang an Freiheit bezeichnet, als sie in der deterministisch geschlossenen Welt möglich zu sein scheint. Es gibt aber auch „schwache“ Freiheitsbegriffe, die so formuliert werden, dass sie mit einem deterministischen Weltbild in Einklang stehen oder damit kompatibel sind (daher die Kennzeichnung „Kompatibilismus“ für philosophische Lehren dieser Richtung).15 Einen solchen stellt der „negative Freiheitsbegriff“ dar, wie er z. B. von Schopenhauer erläutert und verwendet wird.
2. Der negative Freiheitsbegriff bei Schopenhauer Da das menschliche Erkenntnisvermögen nach Schopenhauer Veränderungen in der Außenwelt immer als Wirkungen vorangegangener Veränderungen auffasst16, existiert in der empirischen Welt nur kausale Notwendigkeit.17 Freiheit lässt sich daher allenfalls negativ, über die Abwesenheit von den (potentiellen) Handlungsspielraum einschränkenden Faktoren erfassen.18 Einge_________________ 13
So Pothast, JA 1993, S. 107; vgl. auch Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 279; ders., R. Lange-FS, S. 28. Zum „kausalen Moment“ in den Freiheitsbegriffen und der „Selbst“-Bestimmung vgl. Tugendhat, Aufsätze, S. 334 ff. 14 Vgl. Geisler, S. 48; Maurach/Zipf, StrafR AT, § 36 I, Rn. 13 ff., u. Burkhardt: „Von freier Selbstbestimmung zu sprechen, erscheint gerechtfertigt, weil der Mensch über eine Art höherer Selbstkontrolle verfügt“ (Wille, S. 337). 15 Auf der Grundlage eines schwachen Freiheitsbegriffs wird teilweise versucht, Determinismus und Schuldvorwurf in Einklang zu bringen, s. dazu Fn. 25 und die Ausführungen zu den Schuldlehren unten, S. 49 ff. und zu den Philosophen Bieri und Pauen, S. 68 ff. 16 Siehe Schopenhauer, Ethik, S. 27 f. 17 Siehe Schopenhauer, Ethik, S. 93; ebenso Kant (s. oben, Fn. 6). 18 Ähnlich der Begriff der „äußeren Autonomie“ Tugendhats (s. Aufsätze, S. 335). Nicolai Hartmann bezeichnet die Handlungsfreiheit denn auch als „eine Art ,äußerer‘ Freiheit“ (Ethik, S. 640).
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf
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schränkt wird dieser Handlungsspielraum durch äußere oder innere Zwänge19, zum Beispiel in Form von mechanischen Einwirkungen oder neurotischen Ängsten.20 In physischem Sinne „frei“ sind also Menschen und Tiere, „wann weder Bande, noch Kerker, noch Lähmung, also überhaupt kein physisches, materielles Hinderniß ihre Handlungen hemmt“.21 Im intellektuellen Sinne „frei“ sind sie dagegen, wenn die von außen einströmenden Motive unverfälscht, das heißt in der Form, wie sie auch für andere wirksam sind oder sein könnten, auf den Willen einwirken und nicht durch ein zerrüttetes Erkenntnisvermögen oder einen Irrtum über die tatsächliche Beschaffenheit der Motive vom Intellekt dem Willen falsch übermittelt werden.22 Inwieweit eine so verstandene negative Freiheit die Grundlage für den strafrechtlichen Schuldspruch bilden kann, wird später behandelt werden.23 Zunächst soll das Verhältnis der Handlungs- zur Willensfreiheit ins Blickfeld gerückt werden.
3. Das Abhängigkeitsverhältnis von Handlungs- und Willensfreiheit Stützt man sich auf das Verständnis Schopenhauers von der Handlungsfreiheit, so stellt sich die Frage, ob mit der Annahme derselben bereits eine Aussage über die Willensfreiheit getroffen wird. Wäre diese Handlungsfreiheit sowohl mit dem Denkmodell der Deterministen als auch mit dem der Indeterministen vereinbar und wäre sie zudem eine ausreichende Grundlage für die Zuschreibung von Schuld, dann könnten die mit der Willensfreiheit zusammenhängenden Beweisschwierigkeiten im Strafrecht mithilfe des Freiheitsbegriffs Schopenhauers unter Umständen umgangen werden. Dazu dürfte die Handlungsfreiheit aber die Freiheit der Willensbildung weder notwendig ein- noch ausschließen. Denn eine so verstandene Handlungsfreiheit kann nur dann in ein für Deterministen und Indeterministen gleichermaßen akzeptables Denkmodell integriert werden, wenn sie die Frage der Willensfreiheit offenlässt. So formuliert Engisch: „Das Freiheitsbewußtsein stellt sich in erster Linie ein als Bewußtsein der Handlungsfreiheit, als Bewußtsein, tun zu können, was _________________ 19
Zur Problematik des Begriffs des „Zwanges“ vgl. Schlick, S. 160. Siehe Schopenhauer, Ethik, S. 4 f. u. 99 ff.; s. auch Pothast, JA 1993, S. 106; Lampe, ZStW 79 (1967), S. 486; Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, S. 8; Tiemeyer, GA 1986, S. 208; Geisler, S. 82; zur Problematik auch Streng, ZStW 101 (1989), S. 279 f.; zur Analogie empirisch und normativ umgrenzter Handlungsspielräume Philipps, Handlungsspielraum, S. 15 ff., 101 ff. 21 Schopenhauer, Ethik, S. 4. 22 Siehe Schopenhauer, Ethik, S. 99. 23 Dazu unten, S. 340. 20
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Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld
man will. Daß es in dieser Gestalt für das Problem der Willensfreiheit nichts beweist, ist spätestens seit Schopenhauer gesicherte Erkenntnis.“24 Pothast sieht die Handlungsfreiheit im Vergleich zur Freiheit des Willens als entscheidend schwächer bestimmt an. Denn unabhängig von einem deterministischen oder indeterministischen Standpunkt soll der Mensch, soweit ihn keine äußeren Faktoren behindern, grundsätzlich in der Lage sein, sein Verhalten seinem Willen gemäß zu bestimmen. Ob dieser Wille frei oder unfrei zustande gekommen ist, soll hierfür zunächst nicht entscheidend sein.25 Nun wurde bereits aufgezeigt, dass das Selbstbewusstsein nach Schopenhauer hinsichtlich des zeitlich vor dem Willen Liegenden keine Auskünfte zu geben vermag. Auch der Wille selbst offenbart sich in jedem Augenblick erst über das Tun. Das Selbstbewusstsein erfährt den Willen also erst a posteriori, nämlich durch die Tat.26 Insoweit ist die Handlungsfreiheit lediglich ein auf die Zukunft gerichtetes inneres Erleben eines unbeschränkten Handlungsspielraumes. Da sich der Wille durch die Tat erst offenbart, ist er jedoch durch diese auch bestimmt. Hieraus folgt, dass es in jedem Augenblick nur einen Willen gibt.27 Die Überlegungen Schopenhauers lassen damit für eine dem Individuum zur Verfügung stehende Willensfreiheit keinen Raum, mag auch das Selbstbewusstsein nicht wissen, durch welche Motive Wille und Tat bestimmt werden _________________ 24
Engisch, Willensfreiheit, S. 63. Siehe Pothast, JA 1993, S. 106; ders., Schwächen, S. 141 ff. Zustimmend und weitergehend insoweit, als dieser „schwache Freiheitsbegriff“ für die strafrechtliche Schuld eine ausreichende Grundlage bilden soll, Koriath, Zurechnung, S. 604 bis 611 u. 670. Ähnlich Nicolai Hartmann, Ethik, S. 640, Kantorowicz, Tat und Schuld, S. 11, u. Bockelmann, ZStW 75 (1963), S. 375 f. Anders Arthur Kaufmann, JZ 1967, S. 553. Keine unmittelbare Abhängigkeit zwischen Willens- u. Handlungsfreiheit erkennt Mezger: „[...] so ist es gleichgültig, ob der Wille nun in seinem Bereich frei oder unfrei sei. So oder so kann er auf Körperliches einwirken“ (Über Willensfreiheit, S. 7). Entsprechend sieht auch Lampe in der Handlungsfreiheit „im wesentlichen eine Frage der Kraft“ (ZStW 79 [1967], S. 487). Anders die Folgerung Fristers: „[...] daß ein von der Idee der Willensfreiheit zu unterscheidender Begriff der Fähigkeit zur Antriebsunterdrückung nicht definiert werden kann“ (MschrKrim 1994, S. 318). Kritisch zum Rückzug auf die Handlungsfreiheit auch Kelsen, Rechtslehre, S. 100. Vgl. außerdem Roxin: „Und wenn man die Willensfreiheit als solche bejahen wollte, wäre die im Prozeß ausschlaggebende Frage, ob dieser bestimmte Mensch in dieser konkreten Situation anders hätte handeln können, damit noch nicht bejaht; sie ist, wie führende Psychiater und Psychologen unumwunden aussprechen, mit wissenschaftlichen Mitteln überhaupt nicht zu beantworten“ (JuS 1966, S. 378). 26 Siehe Schopenhauer, Ethik, S. 18. 27 Vgl. Schopenhauer, Ethik, S. 18 f.; ähnlich Nicolai Hartmann zur Handlungsfreiheit: „Sie setzt also den Willen einschließlich seiner Richtungsbestimmtheit schon voraus“ (Ethik, S. 639). Und Dreher verweist darauf, dass sich der Nachweis der Unfreiheit des Willens für Schopenhauer bereits aus seiner Definition der Freiheit ergibt (s. Willensfreiheit, S. 86). 25
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf
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und sich damit hinsichtlich eines zukünftigen Tuns frei fühlen. Aus diesem Erleben offener Möglichkeiten erwächst ein Irrtum über die tatsächliche Möglichkeit eines Anders-handeln-Könnens, den Schopenhauer mit einer Parabel veranschaulicht. Man solle sich einen Menschen denken, der, auf der Gasse stehend, zu sich sagt: „Es ist 6 Uhr Abends, die Tagesarbeit ist beendigt. Ich kann jetzt einen Spaziergang machen; oder ich kann in den Klub gehen; ich kann auch auf den Thurm steigen, die Sonne untergehn zu sehn; ich kann auch ins Theater gehn; ich kann auch diesen, oder aber jenen Freund besuchen; ja, ich kann auch zum Thor hinauslaufen, in die weite Welt, und nie wiederkommen. Das Alles steht allein bei mir, ich habe völlige Freiheit dazu; tue jedoch davon jetzt nichts, sondern gehe so freiwillig nach Hause, zu meiner Frau.“ Das sei nach Schopenhauer gerade so, als wenn das Wasser spräche: „Ich kann hohe Wellen schlagen (ja! nämlich im Meer und im Sturm), ich kann reißend hinabeilen (ja! nämlich im Bette des Strohms), ich kann schäumend und sprudelnd hinunterstürzen (ja! nämlich im Wasserfall), ich kann frei als Strahl in die Luft steigen (ja! nämlich im Springbrunnen), ich kann endlich gar verkochen und verschwinden (ja! bei 80° Wärme); tue jedoch von dem Allen jetzt nichts, sondern bleibe freiwillig, ruhig und klar im spiegelnden Teiche.“ Wie das Wasser so könne auch der Mann dieses oder jenes nur tun, wenn die Bedingungen für das eine oder andere einträten. „Bis die Ursachen eintreten, ist es ihm unmöglich: dann aber muß er es, so gut wie das Wasser, sobald es in die entsprechenden Umstände versetzt ist.“28 Eine in diesem Sinne verstandene Handlungsfreiheit passt also mit einer indeterministischen Weltsicht nicht zusammen. 29 Sollte sie eine ausreichende Grundlage für den strafrechtlichen Schuldvorwurf bilden, dann müsste dieser mit einem deterministischen Weltbild vereinbar sein.
4. Folgerungen mit Blick auf deren rechtliche Relevanz Die Schuldausschließungsgründe des § 20 StGB30 weisen zunächst eine Ähnlichkeit zur Schopenhauerschen Negativdefinition verminderter intellektueller Freiheit auf, worunter insbesondere Affekt und Rausch fallen. Mit der Formulierung „nach dieser Einsicht zu handeln“ wird jedoch auch ein Zusammenhang zwischen dem Verhalten und einer bewussten Vorstellung, der Unrechtseinsicht, hergestellt. Die Fähigkeit des Menschen, sein Handeln durch Vorstellungen zu bestimmen, wird also vorausgesetzt. Die bei Schopenhauer _________________ 28
Schopenhauer, Ethik, S. 42. Schopenhauer selber räumt der Willensfreiheit einen gewissen Platz ein (s. unten, S. 46); da sie aber zu keinerlei Wahl, Kontrolle oder dergleichen befähigt, bleibt sie im Ganzen metaphysisch. 30 Siehe oben, Fn. 1. 29
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Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld
lediglich durch das Selbstbewusstsein vermittelte Abhängigkeit des Tuns vom Willen wird hier zu einem gerichtlich feststellbaren Merkmal der Schuld. Während die Abwesenheit von Zwängen, unabhängig davon, ob diese psychischer oder physischer Natur sind, sich prinzipiell von außen und damit „objektiv“ bestimmen lässt, kann die Aussage „ich kann tun, was ich will“ zunächst nur aus der subjektiven Perspektive des Individuums als „Freiheit“ verstanden werden. Neben der Frage, inwieweit die negative Freiheit im Sinne Schopenhauers, also die Abwesenheit von Zwängen, eine ausreichende Grundlage für den Schuldspruch des Strafrechts bilden kann, wird also auch zu klären sein, ob eine nur dem Selbstbewusstein zugängliche Freiheit die für einen Schuldvorwurf notwendigen Voraussetzungen erfüllt.31 Da letztere eine subjektiv erlebte Freiheit darstellt und damit in Bezug auf ihre empirische Zugänglichkeit zunächst Ähnlichkeiten mit der Willensfreiheit aufweist, drängt sich außerdem die Überlegung auf, welche Auswirkungen auf das Freiheitsproblem ein „Gegenbeweis“, also der Nachweis der Nichtexistenz der Handlungsfreiheit, nach sich ziehen würde. Dazu ist es erforderlich, zunächst zu klären, worauf sich ein solcher Beweis beziehen müsste. Sicherlich ginge es nicht darum, einer Person ihr Erleben streitig zu machen. Erlebt sie indes einen Zusammenhang der Abhängigkeit ihres Tuns von ihrem Willen, also diesen als notwendige Voraussetzung ihres Handelns, dann bestünde, da dieser Zusammenhang objektiver Art wäre, natürlich die Möglichkeit, eine solche Ursächlichkeit zu bezweifeln und gegebenenfalls zu widerlegen. Einer konkreteren Erläuterung bedarf es hierzu an dieser Stelle noch nicht; was hier aufgezeigt werden soll, ist vielmehr nur die Rückwirkung eines solchen Ausschlusses der Ursächlichkeit auf die Frage der Willensfreiheit: Entfiele der Zusammenhang zwischen Wille und Tun, dann wäre nicht ersichtlich, wie sich eine Freiheit des Willens im äußeren Verhalten sollte niederschlagen können.32 Die Problematik der Willensfreiheit könnte als solche dann dahingestellt bleiben. Schopenhauer ist davon ausgegangen, dass der Wille nicht ursächlich auf das Verhalten einwirkt.33 Weil das subjektive Erleben aber den Eindruck einer freien Wahl zwischen Handlungsalternativen vermittelt und damit den einer Möglichkeit der Beeinflussung des Verhaltens in der einen oder anderen Weise durch eine Entscheidung, lädt es regelrecht dazu ein, den Willen als Instanz aufzufassen, die auch tatsächlich und nicht nur vermeintlich zwischen Hand_________________ 31
In diese Richtung weisen die Überlegungen Burkhardts, Lenckner-FS, S. 22 ff. Das Problem der Abhängigkeit wird dagegen regelmäßig anders herum angegangen. Gäbe es keine Willensfreiheit, entfiele auch die Handlungsfreiheit (vgl. Tiemeyer, GA 1986, S. 208). Vgl auch Weischedel: „Die ethischen Probleme stellen sich nur dann, wenn dem Menschen grundsätzlich Handlungsfreiheit zukommt; diese ist somit eine Voraussetzung der Ethik“ (Skeptische Ethik, S. 124). 33 Vgl. oben, S. 27. 32
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf
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lungsalternativen wählen kann. Damit wird die Willensbetätigung aber nicht nur zum Bindeglied zwischen Innen- und Außenwelt34, sondern auch mit starken metaphysischen Annahmen verknüpft. Aus dem philosophischen Gerüst einer Handlungsfreiheit im Sinne Schopenhauers lässt sich eine tatsächlich existierende Ursächlichkeit des Willens jedenfalls nicht ableiten; ein Schuldvorwurf, der eine solche Ursächlichkeit voraussetzt, kann daher auf diesen Freiheitsbegriff auch nicht gestützt werden. Vielmehr bildet diese Art der Freiheit eine recht unsichere Grundlage für das Anliegen einer Verständigung von Deterministen und Indeterministen in der Frage der Legitimation des Schuldvorwurfs. Neben dem Schuldbegriff spielt der Handlungsbegriff eine tragende Rolle in der Strafrechtswissenschaft. Anknüpfungspunkt ist hierbei das konkrete Verhalten. Dieses Verhalten wird auf den Willen der Person zurückgeführt35, denn Verhalten, das nicht willensveranlasst ist, wird im Recht üblicherweise nicht als Handlung qualifiziert. Damit wird die Möglichkeit willentlicher Verhaltenssteuerung zur Voraussetzung des Handlungsbegriffs und die Freiheitsproblematik bereits hier berührt.36 Nimmt man etwa die Behauptung Achenbachs, Strafbegründungsschuld und Schuldidee ließen sich voneinander trennen, da der Begriff der Schuld in der Rechtsanwendung keine Entscheidung hinsichtlich der Determinismus-/Indeterminismusdiskussion präjudiziere37, so ist mit Blick auf die Handlungsfreiheit und deren Verhältnis zur Willensfreiheit jedenfalls fraglich, ob nicht über den Handlungsbegriff und die Formulierung des § 20 StGB doch wesentliche Voraussetzungen der Schuldidee auch zu Voraussetzungen der Strafbegründungsschuld werden. Insbesondere für das Verhältnis von Handlung und Schuld lässt sich sagen, dass es eine hinreichende Unabhängigkeit der beiden Problemstellungen erforderte, wollte man das Problem der Handlungsfreiheit nur im Handlungsbegriff, die Frage der Willensfreiheit dagegen allein in der Schuld ansiedeln. Hiergegen spricht aber, dass jedenfalls ein deterministisches Verständnis von Handlungsfreiheit, wie es von Schopenhauer beschrieben wird, bereits eine negative Aussage zur Willensfreiheit enthält und damit an sich keine Voraussetzung für einen indeterministisch verstandenen Schuldbegriff bilden kann. Die Frage, ob über die Integration der Handlungsfreiheit in den Deliktsaufbau bereits im Vorfeld der Schuldfrage entschieden wird, ist mithin maßgeblich davon abhängig, wie der Handlungsbegriff des Strafrechts verstanden wird. _________________ 34
Vgl. Schopenhauer, Ethik, S. 19. Vgl. auch die Ausführungen zur „Imputativitas“ Pufendorfs in Sellert/Rüping, Geschichte, S. 352 ff. 36 Vgl. auch Tiemeyer, GA 1986, S. 214. 37 Siehe Achenbach, Grundlagen, S. 7. 35
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Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld
Eine Untersuchung hierzu wird deshalb einen Bestandteil des zweiten Teils dieser Arbeit bilden. Zunächst soll jedoch die Diskussion im Strafrecht um die Probleme des Freiheitsbegriffs kurz dargestellt werden.
II. Die rechtliche Diskussion des Freiheitsbegriffs im Überblick Dass es sich bei dem Freiheitsproblem im Strafrecht zuvörderst um eine Frage der persönlichen Überzeugung handelt, zeigt sich an der Vehemenz, mit der um seine Lösung gestritten wird. Dadurch haben über lange Zeit nicht Erkenntnisse die Diskussion geprägt, sondern die Weltanschauungen der Diskutierenden. Diese Herangehensweise kennzeichnet schon den sogenannten „Schulenstreit“38 um die Wende zum 20. Jahrhundert und erstreckt sich bis in die Gegenwart. Nachdem sich Anfang des 20. Jahrhunderts noch deterministische und indeterministische Weltbilder gegenüberstanden, setzte sich mit zunehmendem Einfluss erfahrungs- und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse im Strafrecht eine eingeschränkte oder „relative“ indeterministische Sicht der Dinge durch.39 Dabei wurden von Rechtswissenschaftlern auch Beispiele aus der Physik herangezogen. So gilt das von Newton geprägte mechanische Weltbild wegen seiner strengen Kausalität als klassisches Beispiel für den Determinismus40, während die Atomphysik, insbesondere die Unschärferelationen der Quantenphysik, gerne von Vertretern des Indeterminismus herangezogen werden.41 Der Begriff des Indeterminismus ging seither mit dem Kriterium der prinzipiellen Unvorhersehbarkeit einher, weil sich im Bereich mikrophysikalischer Ereignisse zwar notwendige Bedingungen für den Eintritt einer Wirkung benennen lassen, nicht jedoch hinreichende. Der Determinismus lehnte sich im Bereich menschlichen Verhaltens an die strenge Kausalität, also die prinzipielle Möglichkeit der Benennung von hinreichenden Bedingungen für eine Wirkung und der daraus resultierenden prinzipiellen Vorhersehbarkeit der Wirkung an.42 Die eingeschränkt indeterministische Sicht im Strafrecht erkennt an, dass der Mensch bereits aufgrund seiner Erbfaktoren und seiner psychischen Konstitu_________________ 38
Vgl. dazu Engisch, Willensfreiheit, S. 6 ff.; vgl. auch unten, S. 51. Vgl. die Ausführungen Tiemeyer, ZStW 105 (1993), S. 484 m. N. 40 Vgl. Tiemeyer, ZStW 105 (1993), S. 492. 41 Dazu Engisch, Willensfreiheit, S. 17 und Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, S. 10. 42 Hierzu bemerkt Walter, dass auch die Definition des Determinismus von Popper, die dazu führte, dass Vorhersagbarkeit und Determinismus oft als Synonyme verwendet wurden, bereits durch Instabilitäten in der klassischen Physik entkräftet werden konnte, es hierzu also der Erkenntnisse der Quantenphysik nicht bedurft hätte (s. Neurophilosophie, S. 38); vgl. auch Pothast, Freiheitsbeweise, S. 177. 39
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tion43 in seiner Möglichkeit zur „Überdetermination“, das heißt in der Befähigung zur Beeinflussung naturkausaler Abläufe durch Willensakte, jedenfalls eingeschränkt ist.44 Auf der anderen Seite lösen sich die Deterministen von der Vorstellung der prinzipiellen Vorhersehbarkeit menschlichen Verhaltens. Hier setzt sich die Auffassung eines „Augenblicksdeterminismus“ durch.45 Hinzu kommt, dass „Freiheit“ nicht nur in mikrophysikalischen Bereichen gesucht wird und dass sie jedenfalls nicht im Computertomographen, also mit einem Blick ins Gehirn, zu finden wäre, sondern vielfach ausschließlich in der Innenwelt, der Welt des subjektiven Erlebens des Individuums, verankert wird. Un_________________ 43
Der Gesetzgeber macht insoweit bereits die Überprüfung der Voraussetzungen für die Schuldfähigkeitsfeststellung von der Psychologie, bzw. Psychiatrie und Medizin abhängig. Vgl. hierzu Albrecht, GA 1983, S. 203 ff.; Lackner, Kleinknecht-FS, S. 263; Schreiber, Schuld und Schuldunfähigkeit im Strafrecht, S. 73; Schünemann, GA 1986, S. 298; Haddenbrock, JR 1991, S. 226; ders., MschrKrim 1996, S. 51, dazu Geisler, S. 73 ff. Zu den dennoch bestehenden Unterschieden in der Urteilsfindung vgl. Salger, Tröndle-FS, S. 206. 44 Siehe Heinitz, ZStW 63 (1951), S. 71; Dreher, Willensfreiheit, S. 396; ders., Spendel-FS, S. 14 ff.; Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 280 ff.; vgl. auch Mangakis, ZStW 75 (1963), S. 500 ff.; Nowakowski, Rittler-FS, S. 56. Den ursprünglichen „Gnadenstoß“, so Jellinek, hat der Theorie von einer absoluten Willensfreiheit allerdings die Kriminal- bzw. damals noch „Moralstatistik“ versetzt (s. Jellinek, Bedeutung, S. 67). Die Statistik zeigte nämlich, dass die Häufigkeit kriminellen Verhaltens relativ konstant ist, was sich mit der Vorstellung, dass sich jeder Verbrecher wirklich „frei“ für das deliktische Verhalten entscheidet – dies müsste eigentlich sprunghafte Wechsel in der Häufigkeit nach sich ziehen –, schwer zu vereinbaren ist. Dezidiert ablehnend gegenüber einem „relativen Indeterminismus“ Spilgies, Rechtstheorie 30 (1999), S. 530 ff.; ders., Bedeutung, S. 40 ff.; ders., HRRS 2005, S. 46. 45 Vgl. Dreher, ZStW 95 (1983), S. 341. Hier ist insbesondere Kargls „Strukturdeterminismus“ zu nennen (vgl. dazu unten, S. 62 ff.). Manfred Danner hatte daneben bereits in den sechziger Jahren den Begriff des „psychologischen Determinismus“ geprägt (Gibt es einen freien Willen?, S. 7 ff.). Die Idee, der Mensch sei zwar in seinem Wollen nicht frei, dieses Wollen sei jedoch nicht im streng deterministischen Sinne das Ergebnis einer zwingenden Kausalkette, ist damit nicht neu (vgl. in Bezug auf Danner auch Kargl, Handlung und Ordnung, S. 195 Fn. 146). Entscheidend ist, dass es aufgrund der „Unbeweisbarkeit der autogenen Entstehung von Gefühlen“ (Danner, ebd., S. 27) zur Kritik an Danners These ausreichte, von sich selbst zu behaupten, das (unwiderlegliche) „Gefühl“ oder den (unwiderleglichen) „Eindruck“ zu haben, dass man seine Gefühle sehr wohl seinem Verstand unterordnen könne (so im Wesentlichen Dreher in seiner Kritik an Danner, ZStW 95 [1983], S. 361; vgl. zu dieser Art der Argumentation Petersen, Willensfreiheit, S. 136 ff.). Kritisch hierzu auch Arthur Kaufmann, JZ 1967, S. 553, der die Problembetrachtung für verkürzt hält. Die neurobiologischen Erkenntnisse, auf denen Kargls Konzepte zu einem Teil basieren, bedürfen dagegen einer weit fundierteren Kritik. Stellungnahmen hierzu liegen, soweit ersichtlich, nur mit ablehnender Tendenz von Gössel, GA 1993, S. 132 ff., u. von U. Neumann vor, der hierin die Möglichkeit eines neuen Modells für die empirische Fundierung der Strafrechtswissenschaft erblickt, jedoch hervorhebt: „Wieweit das Modell der Kognitionsbiologie hier im einzelnen trägt, ist – für mich – noch nicht abzuschätzen“ (ZStW 106 [1994], S. 210).
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terscheidet man aber auf diese Weise die Betrachter- (oder „dritte-Person-“) von der Innen- (oder „erste-Person-“)Perspektive, so ergeben sich Spielräume für „kompatibilistische“ Freiheitstheorien, die trotz „äußerer Determination“ eine „innere Freiheit“ begründen wollen. Es ist also eine Tendenz zu beobachten, in deren Verlauf sich die Grenzen zwischen Determinismus und Indeterminismus mehr und mehr verwischen46, die neuen Inhalte vielleicht den ursprünglichen Bedeutungen der Begriffe nicht mehr entsprechen.
1. Positive Freiheit in der Außenperspektive? Eine „positive“ Freiheit zur Wahl bedarf einer offenen Zukunft. Ist der jeweils nächste Zustand durch den vorangegangenen bereits hinreichend bestimmt, dann entfällt jede reale Möglichkeit einer Wahl. Indizien für eine offene Zukunft meinen einige aus den Erkenntnissen der Mikrophysik gewinnen zu können. Bei dem Verweis auf die heisenbergschen Unschärferelationen47 wird aber oft übersehen, dass zwar der Ort eines einzelnen Elektrons nicht bestimmbar ist48, es aber möglich ist, diesbezüglich Wahrscheinlichkeiten anzugeben.49 Auch diese können aber Grundlage für Kausalitätsfeststellungen sein. Es handelt sich dabei freilich um ein Kausalitätsverständnis, das sich von _________________ 46
Vgl. auch Maurach/Zipf, StrafR AT, § 36 I, Rn. 7. Eingehend auf die unterschiedlichen Freiheitsdefinitionen Moritz, ARSP 58 (1972), S. 14 ff. Mit dieser Problematik unmittelbar konfrontiert sieht sich beispielsweise die Chaostheorie, vgl. dazu Walter, Neurophilosophie, S. 193 ff. 47 Will man den Ort eines Elektrons bestimmen, dann muss man es mit Licht, bestehend aus Photonen, bestrahlen. Weil Licht nach der Quantentheorie nicht stetig, sondern in Quanten strahlt, wird das Bild vom Elektron bei geringer Bestrahlung ungenau. Für eine größere Genauigkeit ist also eine Erhöhung der Quantenzahl erforderlich. Dies führt aber dazu, dass das Elektron durch die auftreffenden Photonen so sehr aus seiner Bahn gelenkt wird, dass sich sein Ort nicht mehr bestimmen lässt. Es entsteht eine Unschärfe (sog. Kopenhagener Deutung der Quantentheorie, s. Heisenberg, Physik, S. 28 ff., 31). Während man also am Billiardtisch nach den Regeln der Makrophysik weiterhin erwarten kann, dass die angestoßene Kugel an einem bestimmten Punkt auftrifft, lässt sich dieser Punkt beim Elektron durch die Unschärfe nicht bestimmen. 48 Die diesbezügliche Kritik Tiemeyers an Dreher (s. ZStW 105 [1993], S. 505) vermag indes nicht zu überzeugen, denn die Heisenbergsche Unschärfe- oder Unbestimmtheitsrelation bezieht sich auf eine Zustandsbeschreibung eines Elektrons zu einem konkreten Zeitpunkt. Die hierfür erforderliche Aufenthaltsbestimmung des Elektrons ist aber gerade von seinem Impuls abhängig, der wiederum durch die Präzisierung der Messapparatur selbst beeinflusst wird (s. oben, Fn. 47). Die Annahme Tiemeyers, man könne die Lage eines Elektrons mit „absoluter Präzision“ bestimmen, ist insofern physikalisch unrichtig. 49 Vgl. hierzu auch Mezger, Über Willensfreiheit, S. 16.
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demjenigen des strengen Determinismus unterscheidet.50 Dazu sei zweierlei angemerkt: Verfehlt ist zunächst jede Deutung dieser Dinge, die auf einen handlungspraktischen Fatalismus hinausläuft, wie er sich etwa in der Behauptung ausdrückt, man müsse angesichts der kausal geschlossenen Welt und einer deshalb determinierten Zukunft keinerlei eigene Anstrengungen mehr unternehmen, ja könne dies nicht einmal sinnvoll.51 Darin steckt, neben anderen Fehlern, ein Selbstwiderspruch. Denn dieser Verzicht setzt seinerseits eine Entscheidungsmöglichkeit voraus, die dem Fatalisten auf der Grundlage seiner Prämisse gerade nicht zukommen kann. Der Weltverlauf kann schließlich nicht vollständig festgelegt sein, wenn nicht auch so wichtige Begebenheiten wie einzelne menschliche Bewegungen mitsamt ihren Folgen festgelegt sind. Insofern ist es dem Fatalisten auf der Basis seiner Voraussetzung nicht möglich, sich Handlungen zu ersparen (also wirklich Fatalist zu sein), denn wäre es dies, so befände er sich schon nicht mehr in einer streng determinierten Welt. Es erscheint aber ohnehin mehr als zweifelhaft, dass sich aus einer Antwort auf die Frage, ob menschliches Verhalten von mikrophysikalischen Wahrscheinlichkeiten oder von makrophysikalischer Kausalität abhängt, auch die Grundlagen für eine Bestimmung hinreichender Bedingungen künftigen Verhaltens gewinnen ließen. Anzunehmen ist vielmehr, dass der Mensch schon aufgrund der Begrenztheit seiner Wahrnehmung nicht in der Lage sein wird, die auf ihn wirkenden Faktoren jemals vollständig zu erfassen, abgesehen davon, dass auch diese einem ständigen Wandel unterliegen.52 Auch in der mikrophysikalischen Gegenwart lassen sich aber jedenfalls Wahrscheinlichkeiten bezüglich zukünftiger Ereignisse angeben. Das Eintreten des Ereignisses lässt sich insoweit kausal auf seine notwendigen (wenngleich nicht hinreichenden) Bedingungen zurückführen.53 Von einer echten Form des Indeterminiertseins _________________ 50
Eingehend Heisenberg, Naturbild, S. 24 ff.; vgl. auch Rudolphi, der jedoch folgert: „Denknotwendige Voraussetzung der Möglichkeit aller Naturwissenschaften ist mithin der Determinismus“ (Unrechtsbewußtsein, S. 11), was in Anbetracht der naturwissenschaftlichen Chaos- und Emergenztheorie jedenfalls nicht für eine etwaige Vorhersagbarkeit gilt, dazu Walter, Neurophilosophie, S. 207 ff. 51 Vgl. dazu Kargl: „Der Fatalist braucht seine Handlungen nicht mehr vor sich oder anderen zu rechtfertigen. Er kann sich überdies unangenehme und schwierige Handlungen ersparen, da sich der Weltlauf gegen die eigenen Bemühungen durchsetzen wird. Damit räumt sich der Fatalist die Möglichkeit ein, seinen Handlungsspielraum gegen Null zu deuten“ (Handlung und Ordnung, S. 177); ähnlich Hörnle/v. Hirsch, GA 1995, S. 276; dagegen zutreffend Geisler, S. 117 ff. 52 Eine Ausnahme bildet insoweit das klinische Experiment, welches jedenfalls eine Reduktion der beeinflussenden Faktoren erlaubt. 53 Vgl. die Bedenken Engischs, die mikrophysikalischen Erkenntnisse auf den geistig-seelischen Bereich anzuwenden (Willensfreiheit, S. 19); ähnlich Mezger, Über Willensfreiheit, S. 19. Anders Reinelt, der offenbar keine Schwierigkeiten erkennt (s. NJW 2004, S. 2793 f.).
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kann deshalb noch keine Rede sein.54 Unvorhersehbarkeit impliziert noch keine Freiheit. Eine gewisse Veranschaulichung mag sich dem sogenannten MilgramExperiment entnehmen lassen. Hier hatten 37 von 40 Versuchspersonen einem vermeintlich Lernunwilligen nach ihrer eigenen Ansicht potentiell tödliche Stromstöße zuteil werden lassen, nachdem vorgeblich gleich- beziehungsweise höherrangige Versuchspersonen ihnen dies vorgemacht hatten.55 Würde man 40 Hunde auffordern, durch einen Reifen zu springen, an dessen anderer Seite sie Futter erwartet, dann würden vielleicht auch drei der Hunde nicht springen, vermutlich weil sie entweder gerade gefressen haben, grundsätzlich träge sind oder schlechte Erfahrungen mit Reifen gemacht haben. Man würde jedoch die jeweilige menschliche Entscheidung (zum Stromstoß) als „frei“ bewerten, die tierische (zum Reifensprung) hingegen nicht, obwohl in beiden Fällen lediglich experimentelle und noch dazu ungefähr gleiche Wahrscheinlichkeiten vorliegen, also weder die Entscheidung der Hunde noch die der Menschen im Einzelfall vorhersehbar ist. Die Freiheitsfrage ist also mit der Frage der Vorhersehbarkeit im Rahmen menschlicher Erkenntnismöglichkeiten nicht gleichzusetzen. Was dagegen ein gedachtes allwissendes Wesen – der berühmte Laplacesche Dämon – vorhersehen könnte, kann nur Gegenstand von Gedankenexperimenten, nicht aber empirischer Überprüfung sein. Unklar ist allerdings, ob der Ort eines einzelnen Elektrons nicht nur unbestimmbar, sondern auch ontologisch unbestimmt ist. Nimmt man das letztere an, wie dies wohl die große Mehrzahl der heutigen Physiker tut, so ließe sich auch hieraus für eine positive Freiheit nur wenig gewinnen. Liefen die Vorgänge im Gehirn im Modus mikrophysikalischer Indeterminiertheit ab, so wäre dies nur dann für die Freiheitsfrage relevant, wenn der menschliche Wille gerade auf diese Vorgänge einwirken und sie so zu Produkten seines eigenen Wirkens machen könnte. Denn Zufälligkeiten ohne Steuerung (und dies genau macht ja das Indeterminierte aus) begründen noch keine Freiheit. Andernfalls müsste man zumindest auch tierisches Verhalten frei nennen. Wir wissen aber weder, ob die Gesetze der Quantenphysik im Gehirn überhaupt zum Tragen
_________________ 54 Zum Verständnis von Kausalität auch Graf zu Dohna, ZStW 66 (1954), S. 508; Tiemeyer, ZStW 105 (1993), S. 514, und Kelsen: „Die Kausalität ist gleichsam eine periphere und nicht – wie das Vergeltungsprinzip – eine zentrale Verknüpfung von Tatbeständen. Der letzte Rest, der mit dem Vergeltungsprinzip als Deutungsschema verknüpften anthropo- oder richtiger: soziozentrischen Naturbetrachtung, das ptolemäische Weltbild mit der menschlichen Erde als Mittelpunkt, wird mit der Restauration des kausalen Denkens in der kopernikanisch-keplerschen Astronomie überwunden“ (Vergeltung und Kausalität, S. 280). 55 Dazu Kargl, Funktion, S. 56.
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kommen56, noch können wir erklären, wie es etwas Immateriellem wie dem Willen möglich sein soll, auf Materielles einzuwirken.57 Gerade dieser letztere Einwand bringt alle indeterministischen Positionen, die sich auf die Lehren der Quantenmechanik stützen, in eine Erklärungsnot, aus der zurzeit keinerlei Ausweg erkennbar ist. Denn, so ließe sich formulieren, unabhängig davon, ob sich im menschlichen Verhalten mikrophysikalische Wahrscheinlichkeiten oder makrophysikalische Gesetzmäßigkeiten auswirken, ist jedenfalls nicht ersichtlich, wie der Mensch in der Lage sein sollte, diese Abläufe mit seinem Willen zu steuern. Die Frage von Determinismus und Indeterminismus reduziert sich, soweit man sich für eine Antwort auf die Naturwissenschaften beruft, im Wesentlichen auf die Festlegung eines bestimmten Verständnisses von Kausalität. Im Übrigen wird sie in einen unzugänglichen Bereich der Metaphysik entrückt, dann nämlich, wenn es darum geht, was es außerhalb jeder möglichen menschlichen Wahrnehmung noch geben mag. Die Fragen nach der Urheberschaft menschlichen Wollens und der Intelligibilität menschlichen Verhaltens sind schon aus diesem Grunde naturwissenschaftlich nicht abschließend zu klären. Sie wären aber auch bei rein naturwissenschaftlicher Betrachtung mit einem deterministischen oder indeterministischen Standpunkt nicht notwendig bereits beantwortet.58 Die simplen Begriffsketten „Determinismus – Unfreiheit – Vorhersehbarkeit“ und „Indeterminismus – Freiheit – Unvorhersehbarkeit“ sind im Ganzen nicht haltbar; der Zusammenhang zwischen den Begriffen ist wesentlich komplexerer Natur.
2. Probleme eines Begriffs des subjektiven Freiheitserlebens Das allseits bekannte Phänomen einer natürlichen Reduktion von Handlungsmöglichkeiten aufgrund von Erbanlagen, psychischen oder physikalischen Einwirkungen hat jedoch im Hinblick auf den Freiheitsbegriff auch zu einer Abkehr von den empirischen Wissenschaften geführt.59 So lehnt Grasnick das _________________ 56
Eccles bemühte sich um den Nachweis quantenphysikalischer und insoweit indeterminierter Vorgänge im Gehirn (s. Selbst, S. 116 ff.); vgl. dazu mit ablehnender Haltung Roth, weil man davon ausgehen könne, dass sich diese indeterminierten Mikrophänomene im Makrobereich, und zwar bereits auf der Ebene kleiner neuronaler Netzwerke völlig zu determiniertem Systemverhalten ausmittelten (s. Fühlen, Denken, Handeln, S. 508 ff.). 57 Dazu auch unten, S. 294. 58 Im Ergebnis ebenso Tiemeyer, ZStW 105 (1993), S. 492 ff. u. 522. Zum Spannungsfeld von Freiheit und Determination Holl, Freiheit, S. 419 ff. Vgl. auch Mezger, Schuld und Persönlichkeit, S. 23 f., der sozialphilosophische Schlüsse ableitet. 59 Dies wird deutlich bei Jellinek, Bedeutung, S. 72; vgl. auch Vaihinger, Als Ob, S. 573. Differenzierend Mezger in Bezug auf den Indeterminismus: „Für ihn spricht
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Verständnis von Handlungsfreiheit als Handlungsspielraum aus der Außenperspektive ab und rückt an dessen Statt den Aspekt des „inneren Empfindens“ von Freiheit im Sinne des Erlebens einer Willensbetätigung in den Vordergrund.60 Griffel ist der Meinung, es sei nicht zu sehen, „wie es sinnvoll, vernunftgerecht erscheinen könnte, das ständige subjektive Bewußtsein von Sooder-anders-wollen-Können, von Sollen und Verantwortung als grandiose Selbsttäuschung anzunehmen, da das umfassende menschliche Bewußtsein sich gerade als die entscheidende positive Besonderheit des Menschen in der Evolution herausgebildet hat“.61 Auch Burkhardt ist der Ansicht: „Wenn es sich um die Begründung des Vorwurfs gegen einen Täter handelt, dann sind wir von Rechts wegen gezwungen, den ,inneren Standpunkt‘ zum Gegenstand der Bewertung zu machen, d. h. den Standpunkt des handelnden Subjekts.“62 Ähnlich argumentiert Hirsch, soweit er darauf abstellt, dass sich der Mensch als frei empfindet. „Soll das Recht die Menschen erreichen, muß es [...] diese so neh_________________
zunächst unser Freiheitsgefühl. [...] Ob ihm ,wirkliche‘ Freiheit entspricht, können wir nicht sagen“ (Über Willensfreiheit, S. 5). Ähnlich Nicolai Hartmann: „Freiheit wie Gott sind nicht gegeben, beide aber sind als Reales gemeint. Und schließlich steckt auch hinter dem Gottesbegriff nichts als ein Phänomen, das Phänomen des Gottesbewußtseins. Diesem kann man die Berechtigung so wenig absprechen wie dem Freiheitsbewußtsein. Aber beide sind nur Bewußtseinstatsachen; aus ihnen folgt in keiner Weise die Realität des gemeinten Inhalts“ (Ethik, S. 700); und auf das Schuldbewußtsein bezogen: „Ist aber die Autonomie der Person nicht auch ontologisch möglich, so fällt alle noch so hohe hypothetische Gewißheit mit einem Schlage hin“ (Ethik, S. 744); kritisch auch Kelsen, Rechtslehre, S. 99, u. Engisch: „Aber bei der strafrechtlichen Fragestellung kann uns der innere Standpunkt nicht weiterhelfen, zumindest nicht, wenn es sich um die Rechtfertigung des Schuldvorwurfs handelt“ (Willensfreiheit, S. 4). So auch Ellscheid/Hassemer: „Die Existenz des Schuldgefühls erklärt noch nichts für die Tatsache mißbrauchter oder verfehlter Freiheit“ (Civitas 9 [1970], S. 29). Haddenbrock bemerkt: „Die Empirie der Selbsterfahrung mit eigenem Handeln [...] läuft kurz gesagt darauf hinaus, daß Freiheit allein eine im geistigen Präsens ,erlebte Wirklichkeit‘ menschlichen Daseins ist“ (Salger-FS S. 640). Vgl. daneben Munoz Conde: „Daß eine so verstandene Willens- bzw. Entscheidungsfreiheit bloß eine phänomenologische Beschreibung des menschlichen Handelns, aber kein genügender Grund der Schuld ist, liegt auf der Hand“ (GA 1978, S. 68). 60 Siehe Grasnick, JR 1991, S. 365; ders., Schuld, S. 55 u. 58. 61 Griffel, ARSP 80 (1994), S. 103. Eben aus diesem Grunde, wenngleich im Ergebnis gerade umgekehrt, sieht Vollmer in den Erkenntnissen der Neurobiologie auch die Anlage, zur – nach seiner Rechnung – neunten Kränkung des Menschen zu avancieren (s. Philosophia naturalis 29 [1992], S. 132). 62 Burkhardt, Lenckner-FS, S. 21; vgl. auch ders., First-Person, S. 238 ff. Dieser Standpunkt hatte sich bei Burkhardt bereits in seiner Abwandlung der Charakterschuldlehre Engischs durchgesetzt (vgl. Burkhardt, Charaktermängel, S. 118 ff.). Strasser vermisst jedoch wohlbegründete Antworten bei Burkhardt und nimmt an, dass dessen Ansichten vielmehr von einer bestimmten Intuition getragen seien (s. Sich beherrschen können, S. 161). Kritisch auch Schiemann, NJW 2004, S. 2058 f., u. ablehnend Hillenkamp, JZ 2005, S. 320; Hochhuth, JZ 2005, S. 749.
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men, wie sie sich selbst verstehen.“63 Es stehen sich damit nicht unterschiedliche Weltbilder, sondern vielmehr unterschiedliche Perspektiven der Betrachtung gegenüber. Wird von einer Person A ihr Erleben in Sprache (oder in anderen Zeichen) ausgedrückt, dann kann es vom Gegenüber B intersubjektiv erfahren werden. Dadurch kann bei B ein Eindruck entstehen, der zweierlei bedeuten kann: Das so von B Erfahrene ist einerseits objektiv, da es auch von anderen wahrgenommen werden kann; andererseits spiegelt es in bestimmtem Sinn das persönliche Erleben des A wider, also etwas, dessen subjektive Privatheit gerade nicht in objektiven Zeichen vermittelbar ist. Nur das erstere, Objektivierbare, ist daher auch der empirischen Überprüfung prinzipiell zugänglich und die Verständigung darüber, was in diesem Sinne „objektiv vorliegt“, mag relativ problemlos gelingen, beispielsweise über die Befragung noch weiterer anwesender Individuen. Daraus lässt sich jedoch kein Befund über das subjektiv-private Erleben des A gewinnen, der unmittelbar empirisch zu handhaben wäre, etwa mit dem subjektiv-privaten Erleben Dritter, die ähnliches berichten wie A, direkt verglichen werden könnte. Nimmt man nun hinzu, dass es im gegenwärtigen Zusammenhang um das subjektive Erleben von Freiheit geht, also von etwas, das schon in seinem Begriff alles andere als klar ist oder gar unumstritten wäre, das vielmehr in erheblichem Grad von schwer fassbaren theoretischen Elementen „durchsetzt“ erscheint und daher bereits in seiner Bedeutung unterschiedlich verstanden werden kann, so folgt daraus, dass die Auskunft noch so vieler Individuen über die Innenperspektive ihres jeweils subjektiven Freiheitserlebens keinerlei empirische Bestätigung dafür liefert, dass man nun bei ihnen allen etwas objektiv Identisches festgestellt und somit dessen Existenz bewiesen habe. Subjektives Erleben als solches gibt eben per definitionem keine Auskunft über irgendetwas außerhalb der jeweils eigenen Subjektivität.64 Schon aus diesem Grunde kann auch im Recht der Begriff der „Freiheit“ nicht mit dem subjektiven „Freiheitserleben“ gleichgesetzt werden. Der Schluss vom Erleben auf dessen objektives Substrat ist (hier wie sonst) irrig, bestenfalls unbeglaubigt – argumentationstheoretisch gesprochen ein „non sequitur“. Unbeschadet metaphysischer Probleme und Spekulationen in dieser Frage lässt sich einfach sagen: Nur aus seiner Innenperspektive erwächst also das Freiheitserleben eines Menschen. Für die Zuschreibung von Freiheit auch zu anderen Personen erscheint eine differenziertere Betrachtung notwendig als ein _________________ 63
Hirsch ZStW 106 (1994), S. 763. Vgl. z. B. die Ausführungen bei F. A. Lange, Materialismus, S. 402 ff. Siehe zu den unterschiedlichen Perspektiven auch v. Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, S. 39, Dreher, Willensfreiheit, S. 383 ff.; Burkhardt, Lenckner-FS, S. 7 ff.; ders., First-Person, S. 238 ff.; Tiemeyer, GA 1986, S. 222 f.; Haddenbrock, JR 1991, S. 226; ders., NStZ 1995, S. 581; ders., MschrKrim 1996, S. 51; ders., Salger-FS 1995, S. 638; und Geisler, S. 80 f. 64
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umstandsloser Analogieschluss. Dies wird auch daran deutlich, dass man einer als geistig gestört geltenden Person nicht ohne weiteres denselben Freiheitsgrad wie einer geistig gesunden Person zuschreiben würde. Spezifische Konditionen des Gegenübers beeinflussen also die Übertragbarkeit des subjektiven Freiheitserlebens. Hierzu gehören, was wiederum anhand der Differenzierung zwischen „geistig krank“ und „geistig normal“ deutlich wird, auch Kriterien der sogenannten Außenperspektive. So erhoffte man sich im spektakulären Kriminalfall „Bartsch“ eine Erklärung der bei der Tat aufgewendeten besonderen Grausamkeit durch den „objektiven“ Nachweis eines Defekts, indem die Hirnströme des Täters in späteren Versuchen mittels EEG abgeleitet wurden.65 Eine Abweichung von der Normvariante hätte hier zur Annahme eines pathologischen Defekts und mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Anwendung der §§ 20, 21 StGB (§ 51 a. F.) geführt, und zwar unabhängig davon, ob Bartsch nun selbst Schuld oder Freiheit empfunden hätte oder nicht.66 Es lässt sich also zunächst festhalten, dass das Freiheitserleben des Täters selbst kein Gegenstand der Erkenntnis des Richters sein kann, dass es keinen Beweis für die Existenz von Freiheit zu liefern vermag und dass im Strafprozess, in dem ja durchaus auch innere Vorgänge mit den Möglichkeiten der menschlichen Erkenntnis Berücksichtigung finden, ein Spannungsverhältnis zwischen der Innen- und der Außenperspektive entstehen kann.67
_________________ 65 Siehe BGHSt 23, 176, 184. Nach den Feststellungen des Gerichts entführte der Angeklagte Bartsch in den Jahren 1962 bis 1966 vier Jungen im Alter von acht bis zwölf Jahren. „Er brachte sie in einen verlassenen Luftschutzstollen, missbrauchte sie dort zur Unzucht und tötete sie in grauenvoller Weise. Es ging ihm darum, sich an ihren Qualen zu weiden und in seinem Tun geschlechtliche Befriedigung zu finden. Zu seinem Plan gehörte es auch, die Kinder bei lebendigem Leibe zu zerschneiden, was ihm in einem Falle gelang. In den anderen Fällen zerstückelte er die Leichen“ (BGHSt 23, 176 f.). Die Einmaligkeit und Abartigkeit der Taten verbunden mit dem Umstand, dass die Gutachter über keine speziellen Kenntnisse auf dem Gebiet der Sexualwissenschaft verfügten, veranlasste den Bundesgerichtshof dazu, das Urteil des Landgerichts Wuppertal aufzuheben, das auf lebenslanges Zuchthaus lautete, und die strafrechtliche Verantwortlichkeit erneut überprüfen zu lassen (s. ebd., 187 ff.). In einer neuen Verhandlung vor dem Landgericht Düsseldorf verurteilte das Gericht Bartsch zu zehn Jahren Jugendstrafe mit anschließender Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. 66 Dazu auch unten, S. 139. 67 Vgl. dazu auch Petersen, Willensfreiheit, S. 136 ff. Ähnlich in der Kritik an einem transzendentalen Freiheitsbegriff im Strafrecht Tiemeyer: „[...] denn verantwortlich gemacht und von Sanktionen betroffen wird nicht bloß das transzendentale Ich, sondern vor allem der Mensch als Erscheinung in der Sinnenwelt. [...] Ein Schuldvorwurf darf nur dann erhoben werden, wenn die soziale Wirklichkeit seinsmäßig so beschaffen ist, wie die Denkfigur der Schuld es voraussetzen müßte“ (GA 1986, S. 211 u. 215). Zum Rechtsbegriff zwischen Sollen und Sein vgl. auch Baumhoer, Fiktion, S. 28 ff.
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3. Offene Fragen logisch begründeter subjektiver Freiheit Der sogenannte „epistemische Indeterminismus“68 unternimmt es ebenfalls, eine Freiheit des Subjekts zu begründen, die aber nicht auf ontologischen Annahmen aufbaut. Das insbesondere von Max Planck herausgearbeitete Argument für diese Freiheit lautet, dass das Subjekt, auch wenn es sich in einer vollständig determinierten Welt befände, niemals wissen könnte, wie es determiniert ist.69 Warum dies so ist, lässt sich gut verdeutlichen, wenn man sich ansieht, was Klaus Günther gegen den Determinismus eingewendet. Er sagt, wenn er nicht die Überzeugung hätte, frei zu sein, dann würde er gar nicht erst anfangen zu überlegen, ob er den Ruf an eine andere Universität annehmen solle. Er könnte zu einem Neurobiologen gehen, sein Gehirn analysieren lassen, und sich sagen lassen, was bei seinen Überlegungen am Ende ohnehin herauskommen werde.70 Auf diesen Einwand würde ein Anhänger des epistemischen Indeterminismus‘ entgegnen, dass das, was der Neurobiologe – vorausgesetzt er könnte aus dem Gehirnzustand tatsächlich auf den nächsten Zustand schließen – ihm, Klaus Günther, mitteilen würde, eine neue Information wäre, die ihrerseits eine Veränderung in seinem, Klaus Günthers, Gehirn auslösen würde, so dass ein neuer Gehirnzustand einträte und sich Klaus Günther nicht mehr auf die Information des Neurobiologen, der ja seinen Hirnzustand ohne die neue Information ausgewertet hat, verlassen könnte. Dieses Spiel von Untersuchung, Information darüber, damit Unrichtigwerden des Untersuchungsergebnisses und deshalb neuer Untersuchung (usw.) könnte Klaus Günther nun beliebig lange fortsetzen – am Ende stünde er doch ohne eine verlässliche Auskunft da, weil jede Auskunft den gerade noch vorausgesagten Kausalverlauf ihrerseits veränderte.71 Reinhard Merkel hält es für möglich, auf diese „logische Indeterminiertheit des eigenen Entscheidens“ einen strafrechtlichen Begriff von Verantwortlichkeit zu stützen; er lässt aber offen, wie dies geschehen sollte.72 Kargl sieht dagegen nicht, wie dies die Grundlage für das herkömmliche Konzept von Zuschreibung und Verantwortung sein soll.73 Er legt diese kompatibilistische74 Freiheitskonzeption zwar seiner Vorstellung von subjektiver Ver_________________ 68 „Epistemisch“ bedeutet, dass dabei allein auf die logische Struktur des Erkennens, nicht auf die des Gegenstands dieser Erkenntnis abgestellt wird. 69 Vgl. Planck, Willensfreiheit, S. 20. 70 Siehe K. Günther in: Bild der Wissenschaft 3 (2005), S. 75 (Interview Paulus). 71 Vgl. die Ausführungen bei Max Planck, Willensfreiheit, S. 11 f., und MacKay, Freiheit, S. 306 ff. 72 Siehe R. Merkel, Philipps-FS, S. 464 f.; Merkel behält die genauere Klärung dieser Frage späteren Überlegungen vor. 73 Siehe Kargl, Handlung und Ordnung, S. 189, Fn. 135. 74 Dazu oben, S. 28.
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antwortlichkeit zugrunde, entsagt aber dem herkömmlichen Strafrechtsmodell. Darauf wird noch zurückzukommen sein.75 Pothast macht auf die entscheidenden Schwächen aufmerksam, die dieser Freiheitsbegriff im Legitimationszusammenhang strafrechtlicher Schuld und Verantwortlichkeit aufweist. Zum einen würde der außenstehende Beobachter – also zum Beispiel der Neurobiologe, aber auch der Richter – die Person nicht für ihr Handeln verantwortlich machen, weil eben der Beobachter um die Determiniertheit dieses Handelns weiß und es insofern anders erlebt als der Handelnde selbst. Zum anderen erscheinen vergangene Handlungen immer nur im Lichte ihrer kausalen Verursachung. Pothast formuliert das so: „Die Verantwortlichkeit, die das Argument Plancks rechtfertigt, erstreckt sich genauso weit wie der damit aufgewiesene Sinn von Freiheit, nämlich auf zukünftige Handlungen der eigenen Person.“76 Danach ist der Täter aber weder subjektiv bei Begehung seiner Tat frei, weil er nicht mehr vor der subjektiv offenen Zukunft steht, sondern diese sich durch die Handlung schon verwirklicht, noch ist er es zu diesem Zeitpunkt aus der Perspektive eines Dritten. Wie man ihn dennoch – und zudem aus der Rückschau des Prozesses – als „frei“ soll erklären können, erschließt sich mit diesem Freiheitsbegriff nicht.
4. Normativer Freiheitsbegriff Nur kurz soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass auch ein „normativer Freiheitsbegriff“ entwickelt worden ist, der Freiheit nicht begründet, sondern sie schlicht dort voraussetzt, wo sie von der Norm gefordert wird. Sie wird unabhängig von ihrer realen Existenz fingiert. Der Mensch kann, weil er soll. Nach Kohlrausch „ist das generelle Können tatsächliche Voraussetzung jedes Zurechnungsurteils, das individuelle Können aber wird zu einer staatsnotwendigen Fiktion“.77 Gegen einen solchen normativ postulierten Freiheitsbegriff wird der Grundsatz „ultra posse nemo obligatur“ ins Feld geführt – das Recht dürfe vom Menschen nicht mehr verlangen, als er erfüllen kann. Etwas zu vergelten, das der konkrete Mensch nicht vermeiden konnte, könne mit guten Gründen als unvernünftig und ungerecht betrachtet werden.78 Mit dieser kurzen Einführung soll es hier sein Bewenden haben. Sie dient vorab dem bes_________________ 75
Ausführlich unten, S. 62 ff. Pothast, Seminar, S. 269 f. (Hervorhebung nur hier). 77 Siehe Kohlrausch, Güterbock-FS, S. 26; vgl. schon Keber: „Verfasser fingiert die menschliche Willensfreiheit und hat hierdurch mit einem Schlage eine befriedigende Unterlage der staatlichen Strafe gefunden. Allerdings beruht bei dieser Annahme das gesammte Strafrecht auf einer Fiktion“ (Verbot, S. 25). 78 Vgl. Nowakowski, Rittler-FS, S. 62; abl. auch Engisch, Willensfreiheit, S. 41, Fn. 101. 76
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seren Verständnis der Jakobschen Schuldbegründung, die neben anderen später (unten, sub III. 3. d) erläutert werden soll. Auf die Probleme eines normativen Schuldbegriffs wird im zweiten Kapitel zurückzukommen sein.
5. Zusammenfassung und Überleitung Ob es menschliche Freiheit gibt, lässt sich nach dem Gesagten nicht mit der Physik beantworten. Mögliche Spielräume in der physischen Welt erklären nicht, wie sie vom Willen sollten ausgenutzt werden können. Eine metaphysische Erklärung hilft hier nicht weiter, weil sie spekulativ, also unbewiesen und damit suspekt bleibt. Für das Recht kommt also nur ein Freiheitsbegriff in Betracht, der sich mit einer Position in Einklang bringen lässt, die den menschlichen Willen nicht metaphysisch und nicht als unabhängig von natürlichen Vorgängen begreift. Erste Schwierigkeiten eines Freiheitsbegriffs, der vom subjektiven Erleben abhängt, eines subjektiven Freiheitsbegriffs, der sich aus logischer Unvorhersagbarkeit ableitet, und eines normativen Freiheitsbegriffs wurden aufgezeigt. Das Strafrecht wird von den Problemen und Resultaten dieser Diskussion substantiell berührt, weil das menschliche Verhalten als Gegenstand rechtlicher Beurteilung über den Willen mit dem Freiheitsbegriff verknüpft ist.79 Die Fähigkeit des Menschen, sein Verhalten nach seinem Willen auszurichten, steht damit im Zentrum der Debatte um Freiheit und Schuld im Recht. Indeterministen können dem Menschen im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen wegen dieser Fähigkeit, nämlich der zur Selbstbestimmung, unschwer eine Letztveranwortung für sein Handeln zuschreiben. In einem determinierten Weltverlauf kommt dieser Fähigkeit wenn überhaupt eine, so jedenfalls keine herausgehobene Stellung zu. Auch Tiere mit Bewusstsein könnten über diese Fähigkeit verfügen. Der Begründungsaufwand für eine Verantwortlichkeit des Menschen, speziell eine strafrechtliche, ist deshalb für Deterministen ungleich größer, hat aber den Vorteil, dass nicht von vornherein unbewiesene und unbeweisbare Prämissen zu Grundlagen staatlichen Strafens gemacht werden. Im Folgenden soll es deshalb darum gehen, kompatibilistische „Schuld“lehren daraufhin zu untersuchen, wie die strafrechtliche Verantwortlichkeit begründet wird und welche Bedeutung der Willensbetätigung dabei zukommt.
III. Spannungsfelder zwischen Handlungsfreiheit und Schuldstrafe Der Zusammenhang zwischen dem Bewusstsein oder dem Willen und dem Verhalten wird zum Gegenstand der Erfahrungswissenschaften, wenn er nicht mehr vom Selbstbewusstsein, sondern von außen festgestellt oder beurteilt _________________ 79
Vgl. die Ausführungen oben, S. 31 ff.
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werden soll. Darauf muss sich das Recht primär beziehen. Denn es muss zuerst objektive Voraussetzungen definieren, damit eine Willensbetätigung von einem Richter festgestellt werden kann. Bevor diese Voraussetzungen im zweiten Teil einer exemplarischen Untersuchung unterzogen werden, soll zunächst ihre Behandlung in ausgewählten Schuldlehren betrachtet werden. Dabei erfolgt die Auswahl der Schuldlehren unter dem Gesichtspunkt, ob sie den Anspruch erheben, mit einem deterministischen Weltbild in Einklang zu stehen.80 Denn nur hier ist es interessant zu fragen, woran der Schulvorwurf anknüpfen soll. Dieser Erörterung vorangestellt sei wieder ein Blick auf die Überlegungen Schopenhauers zu diesem Problem.
1. Determination und moralischer Vorwurf Schopenhauer zufolge unterliegt der Mensch in seinen Handlungen dem Gesetz der Notwendigkeit; daher kann seine Freiheit nicht sinnvoll Gegenstand der Betrachtung in der Außenperspektive sein. Jedoch wirken die Ursachen einer Handlung, die Motive, auf jeden individuellen Charakter anders ein. Der individuelle Charakter bildet damit einen zweiten Faktor für das Zustandekommen einer konkreten Handlung; unterlassen kann er diese im Zusammenspiel mit den einwirkenden Motiven allerdings nicht.81 Dieser empirische Charakter des Menschen ist nach Schopenhauer angeboren und unveränderlich.82 Der Mensch erfährt damit einerseits über sein Selbstbewusstsein, dass seine Taten von seinem Willen abhängen; andererseits erkennt er, dass unter Einwirkung derselben Motive, die ihn bestimmt haben, eine Handlung auszuführen, einem anderen Menschen aufgrund eines anderen Charakters auch eine andere Handlung möglich gewesen wäre.83 Sein (innerer) Wille korrespondiert also mit seinem (von außen erkennbaren) Charakter. „Der Charakter ist die empirisch erkannte, beharrliche und unveränderliche Beschaffenheit eines individuellen _________________ 80 Eine Zusammenfassung auf indeterministischer Weltsicht begründeter Schuldlehren findet sich bei Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 113 ff. Zur Kritik am Versuch der Ausklammerung des Problems der Willensfreiheit durch indeterministisch orientierte Begründungen des Schuldvorwurfs vgl. Tiemeyer, GA 1986, S. 212 ff. Zusammenfassend stellt er fest: „Nach alledem vermittelt die Einschätzung von Lackner, im Schrifttum werde überwiegend die Auffassung vertreten, daß eine Parteinahme in der philosophischen und naturwissenschaftlichen Auseinandersetzung um Determinismus und Indeterminismus nicht erforderlich sei, ein schiefes Bild. Sie bedarf zumindest einer Ergänzung. Denn die vorherrschenden Schuldkonzepte verzichten nicht nur auf eine genaue Erfassung der Wirklichkeit, sondern es gelingt ihnen letztlich auch nicht, das unwegsame Terrain zu umgehen“ (ebd., S. 215). 81 Siehe Schopenhauer, Ethik, S. 95. 82 Siehe Schopenhauer, Ethik, S. 49 ff. 83 Siehe Schopenhauer, Ethik, S. 93 f.
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Willens.“84 Die Individualität des Charakters gepaart mit dem begleitenden Gefühl des Verursachens von Handlungen führt zu deren Selbstzurechnung und damit per Analogieschluss auch zur Zurechnung von fremden Handlungen zu anderen Personen. „Die Verantwortlichkeit, deren er sich bewußt ist, trifft daher bloß zunächst und ostensibel die That, im Grunde aber seinen Charakter: für diesen fühlt er sich verantwortlich.“85 Dieser Charakter ist wegen des an Raum, Zeit und Kausalität gebundenen Erkenntnisvermögens ein Bestandteil der empirischen Realität. Die „Grundlage“ dieses Erkenntnisvermögens aber, die diesen Begrenzungen nicht unterworfen ist, ist Schopenhauer zufolge (und in Anlehnung an Kant) der intelligible Charakter oder der Wille als „Ding an sich“, der erst das Tor in die Welt der Erscheinungen öffnet und dem, nun ungebunden durch Raum, Zeit und Kausalität, absolute Freiheit zukommt.86 „Demzufolge ist zwar der Wille frei, aber nur an sich selbst und außerhalb der Erscheinung: in dieser hingegen stellt er sich schon mit einem bestimmten Charakter dar, welchem alle seine Taten gemäß seyn und daher, wenn durch die hinzutretenden Motive näher bestimmt, nothwendig so und nicht anders ausfallen müssen.“87 Nun lehnt es Schopenhauer ab, mit Kant die juristische Verantwortlichkeit des Menschen auf einen moralischen Vorwurf durch ein a priori bewusstes Gesetz zu gründen.88 Für die Legitimation der Strafe kann er also nicht die Moral heranziehen, da für ihn eine Freiheit des in Erscheinung tretenden Willens durch Notwendigkeit ausgeschlossen ist. Deshalb bindet er Strafandrohung und Bestrafung in seine Überlegungen von der Ursächlichkeit mit ein. Das Strafgesetz hat danach den Zweck, die für das Begehen eines Verbrechens sprechenden Motive durch ein Gegenmotiv aufzuwiegen. Verfehlt es diesen Zweck im Einzelfall, wird seine Rechtsfolge, die Strafe, deshalb angeordnet und vollzogen, damit es weiterhin als Gegenmotiv wirksam sein kann. Der Verbrecher erleidet die Strafe danach nur, weil die Tat durch seinen Charakter hervorgebracht wurde, nicht weil er sie hätte verhindern können.89 Es ist auch nicht die von ihm empfundene moralische Schuld, die zu staatlicher Strafe berechtigt, denn „wie wäre doch ein Mensch befugt, sich zum absoluten Richter des andern, in moralischer Hinsicht, aufzuwerfen und als solcher, seiner Sünden wegen, ihn zu peinigen!“90 _________________ 84
Schopenhauer, Ethik, S. 95. Schopenhauer, Ethik, S. 93. 86 Siehe Schopenhauer, Ethik, S. 96 f. 87 Schopenhauer, ebd. 88 Vgl. Schopenhauer, Ethik, S. 10. 89 So auch Guckes, Freiheit, S. 215. 90 Schopenhauer, Ethik, S. 101 f.; diese Konzeption weist durchaus Parallelen zu der (älteren) „psychologischen Zwangstheorie“ Feuerbachs auf; vgl. ders., Revision I, S. 89 ff., sowie unten, Teil 2, Kap. 1, Fn. 159. 85
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Schopenhauer bleibt damit konsistent. Die Plausibilität seiner Folgerungen drängt nun allerdings zu der Frage, wie es Schuldlehren, die keinen „absoluten“ oder „starken“ Freiheitsbegriff voraussetzen, gelingen kann, Determinismus und Schuldstrafe in Einklang zu bringen. Doch sei vor die Erörterung dieser Lehren ein kurzer Überblick gestellt, wie sich das Problem auch im Begriff der sogenannten Strafbegründungsschuld manifestiert.
2. Das Merkmal der Willensbetätigung in der Deliktsprüfung In der strafrechtsdogmatischen Analyse eines Verbrechens beginnt im Anschluss an die Prüfung der Handlungsqualität,91 die, wie oben erwähnt92, bereits einen ersten Bezug zum Problem willentlicher Verhaltenssteuerung herstellt, mit der Subsumtion des relevanten Verhaltens unter einen Straftatbestand die Deliktsprüfung im engeren Sinne. Dabei ist für die Frage der Tatbestandserfüllung eine normative Betrachtung des Verhaltens maßgebend. Sie soll sowohl die innere Beziehung des Menschen zu seinem Handeln als auch das Verhalten in seiner äußeren Erscheinungsform erfassen. Als Voraussetzungen der Strafbegründungsschuld können also zunächst ein rechtserhebliches Verhalten und eine darauf bezogene „geistige Haltung“ festgehalten werden. Die innere Beziehung eines Menschen zur Rechtsordnung oder zu einem bloß imaginierten rechtswidrigen Verhalten stellt für sich allein keinen strafrechtlich relevanten Vorgang dar. „Der unverwirklichte Wille ist nicht strafbar.“93 Ferner legt § 17 Satz 1 StGB den Gedanken nahe, dass ein rechtserhebliches Verhalten, das auf keinerlei Willensbildung beruht, ebenso wenig strafbar sein soll. Zwischen Willensbildung und Verhalten muss also auch im Strafrecht ein Zusammenhang bestehen, damit die Begriffe im Deliktsaufbau nicht bloß als abstrakte Gliederungspunkte ohne sinnhafte Verbindung erscheinen. Dieser Zusammenhang wurde von der „psychologischen Schuldauffassung“, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts durchzusetzen begann und bis zum beginnenden 20. Jahrhundert vorherrschte94, in der subjektiv-seelischen Beziehung des Täters zu seiner Tat gesehen.95 Der psychologische Schuldbegriff „erfüllte fürs erste die Aufgabe, die Person des Täters mit dem Geschehen zu verbinden“.96 Anknüpfungspunkt war, dass das Verhalten eines Täters von seinem _________________ 91 Manche prüfen die Handlungsqualität auch erst beim spezifischen Handlungsmerkmal. Sachlich ergeben sich daraus allerdings keine Unterschiede. 92 Siehe S. 33. 93 Beling, Grundzüge, S. 19. 94 Vgl. zur Entwicklung dieses materiellen Schuldbegriffs Holzhauer, S. 110 ff. 95 Siehe Wessels/Beulke, StrafR AT, Rn. 406. 96 Schmidhäuser, Jescheck-FS, S. 499.
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Willen oder seiner Kenntnis bestimmt wurde.97 Das Verhalten stellt sich also nach dieser Auffassung regelmäßig als Willensbetätigung dar.98 Der Psychologismus wurde von der normativen Schuldauffassung Reinhard Franks abgelöst, der Schuld als Vorwerfbarkeit verstand und sie von psychischen Bedingungen lösen wollte.99 Fasst man die Willensbetätigung nicht als metaphysisches (überempirisches) Faktum auf, sondern untersucht sie mit den Methoden der empirischen Wissenschaften, so ergeben sich bestimmte konstant wiederkehrende Probleme, sofern jene Willensbildung zum Fundament der strafrechtlichen Schuldbegründung gerechnet wird. Diese Probleme sollen nun anhand der Prämissen deterministisch orientierter Schuldlehren aufgezeigt werden.
3. Die „Willensbetätigung“ in ausgewählten Schuldlehren Den Lehren Engischs, Graf zu Dohnas und Jakobs’ liegt ein negativer Freiheitsbegriff zugrunde.100 Für v. Liszt ist anlehnend an Schopenhauer die Bestimmbarkeit des Menschen durch Motive und damit die Möglichkeit determinierender Einflussnahme von außen entscheidend.101 Kargl schließt sich der Theorie des „epistemischen Indeterminismus“ an, dem, wie gesagt102, aus der Außensicht ein determinierter Weltverlauf zugrunde liegt. Besonders in Augenschein genommen werden soll der Umgang der verschiedenen Lehren mit dem _________________ 97
Vgl. Wessels/Beulke, StrafR AT, Rn. 406. Der Gedanke ist indes wesentlich älter, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden. 99 Vgl. dazu Lampe, Strafphilosophie, S. 226. Zur normativen Schuldlehre Franks auch Goldschmidt, v. Frank-FG, S. 428 ff.; Maurach, Schuld, S. 20 ff. Gleichzeitig erfuhr der Determinismus seine bis dahin stärkste Verbreitung; s. Holzhauer, S. 112 u. 132. 100 Engisch (s. Willensfreiheit, S. 48) und Graf zu Dohna (s. ZStW 66 [1954], S. 507) leiten ihr Freiheitsverständnis unmittelbar von der Schopenhauerschen Lehre ab. Jakobs „normativiert“ den Zwangsbegriff: „Der Bereich, in dem man schuldig werden kann, ist also zugleich ein Freiraum für Selbstbestimmung, diese nicht im Sinn einer Willensfreiheit, sondern im Sinn eines Fehlens rechtlich relevanter Hindernisse für eigene Organisationsakte“ (StrafR AT, 17/24); ablehnend Geisler, der das Offenstehen einer „realen, rechtmäßigen Verhaltensalternative“ fordert (s. S. 128 f.). Wobei zwischen Geisler und Jakobs wohl nur scheinbare Differenzen bestehen. Denn, wie noch dargestellt werden wird, kann auch Jakobs nicht auf empirische Sachverhalte verzichten. Diese nicht wegen ihres empirischen Gegebenseins, sondern vor dem Hintergrund normativer Wertung zu würdigen, gebietet allerdings das Recht. Alles andere wäre ein sog. naturalistischer Fehlschluss, also der direkte Schluss von einem „Sein“ auf das „Sollen“. 101 Siehe v. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 2, S. 40. 102 Siehe oben, S. 43. 98
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Abhängigkeitsverhältnis zwischen Wille und Verhalten, das zwar subjektiv im Regelfall evident, aber als Kausalverhältnis im Sinne eines Ursache-WirkungZusammenhangs empirisch unbestätigt ist. Kritisch hinterfragt werden soll daneben die jeweilige Begründung des Schuldvorwurfs.
a) „Die Vergeltungsstrafe in deterministischem Gewande“ nach Franz v. Liszt Die indeterministische Lehre von einem „Anders-handeln-Können“ lehnt v. Liszt ausdrücklich ab103, er hebt jedoch hervor: „Für mich ist Schuld gleichbedeutend mit der Verantwortlichkeit für den Erfolg. Diese ist begründet bei Zurechnungsfähigkeit des Täters.“104 Deren Wesen liege in der „normalen Bestimmbarkeit durch Motive“: „Wer auf Motive in normaler Weise reagiert, ist zurechnungsfähig.“105 Zurechnungsfähigkeit bedeute demnach auch die „Empfänglichkeit für die durch die Strafe bezweckte Motivsetzung“.106 Nur hierin liege die Berechtigung der Strafe. Jede „ethische Brandmarkung“ des Verurteilten verbietet sich für v. Liszt, denn „es ist nicht unser ,Verdienst‘, daß wir nicht längst schon vor den Strafrichter gekommen sind; und es ist nicht seine ,Schuld‘, daß ihn die Verhältnisse auf die Bahn des Verbrechens getrieben haben“.107 Die Vergeltungsstrafe wird als „rohe Grausamkeit“ und als „abgeschmackt“ zurückgewiesen, die Zweckstrafe zur Besserung des geistig Gesunden sei dagegen wohlbegründet.108 Es stellt sich die Frage, was mit all denen geschehen soll, die entweder die „rettende Hand“109 des Staates ablehnen, oder denen der Staat keine „bessernde“ therapeutische „Rettung“ bieten kann, weil sie prinzipiell keiner Besserung bedürfen. Dies wäre beispielsweise der Fall bei Tätern, deren Taten singulären geschichtlichen oder biographischen Ausnahmesituationen entstammen (wie nicht selten bei Kriegsverbrechern), keinerlei Zusammenhang mit den Charaktereigenschaften der Handelnden haben und daher eine Wiederholungsgefahr äußerst unwahrscheinlich erscheinen lassen. v. Liszt nennt diese Gruppe „Gele-
_________________ 103 Siehe v. Liszt, ZStW 3 (1883), S. 33 ff., u. ders., Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, S. 47. 104 S. v. Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, S. 48. Hieran sich anlehnend auch Roxin, StrafR AT/1, § 19, Rn. 36 ff. und Gimbernat Ordeig, Henkel-FS, S. 151 ff., 160 f. (zu beiden unten, Fn. 123). 105 v. Liszt, ebd., S. 219. 106 Siehe v. Liszt, ebd., S. 220. 107 v. Liszt, ebd., S. 45. 108 Siehe v. Liszt, ebd., S. 48. 109 Vgl. v. Liszt, ebd., S. 42.
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genheitsverbrecher“110 In diesen Fällen soll die Strafe abschreckende Wirkung entfalten.111 Ob dies gelingen kann, mag hier dahinstehen, interessanter ist, dass v. Liszt sozusagen im selben Atemzuge äußert: „Hier soll die Strafe lediglich die Autorität des übertretenen Gesetzes herstellen [...].“ Diesen Gedanken begreift man heute weniger im Sinne einer psychologischen Abschreckung, als vielmehr im Sinne einer Aufrechterhaltung der Norm selber und damit als Verdeutlichung der Wertmaßstäbe der Gemeinschaft. Er wird bei der Darstellung der Schuldtheorie von Jakobs wieder aufgegriffen werden.112 Der Lisztsche Begriff der „Schuld“ hat damit, wie der Autor selbst hervorhebt, mit dem klassischen Schuldbegriff „absolut nichts zu tun“.113 Der überlieferte Schuldbegriff sei unhaltbar.114 Stelle sich der Verbrecher als unverbesserlich heraus, dann sei er auch nicht „zurechnungsfähig“, woraus v. Liszt die von Binding115 mit geradezu wütender Polemik zurückgewiesene Konsequenz zieht: „Die Unterscheidung zwischen der Sicherungsstrafe gegen unverbesserliche Verbrecher und der Verwahrung gemeingefährlicher Geisteskranker ist nicht nur praktisch im wesentlichen undurchführbar, sie ist auch grundsätzlich zu verwerfen.“116 Die Kontroverse zwischen v. Liszt und Binding, die divergierende Grundverständnisse des gesamten Strafrechts zum Gegenstand hatte, bildete den Beginn des sogenannten Schulenstreits. Beim normalen Verbrecher im Gegensatz zum Geisteskranken setzt v. Liszt allerdings voraus, dass er durch Motive „normal“ bestimmbar ist: „Wer von uns hat die Bestimmbarkeit des Menschen durch Motive, also durch Vorstellungen, jemals geleugnet?“117 Wenn v. Liszt bei der Erörterung der Fahrlässigkeitsschuld von einer „Verstandesschuld“118 spricht, die darin liege, dass „ohne Voraussicht, aber trotz Vor_________________ 110 Das ist nicht ganz unmissverständlich; die gemeinten „Gelegenheiten“ sollen nach v. Liszt hier biographisch singuläre sein, nicht dagegen solche, die sich jederzeit wieder bieten könnten. 111 Siehe v. Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 1, S. 166 u. 172. 112 Dazu unten, S. 58 ff. 113 v. Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 1, S. 172. 114 Siehe v. Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, S. 47. 115 S. Binding, Grundriss I, S. 90 f., Fn. 1. 116 v. Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, S. 226 f. 117 v. Liszt, ebd., S. 40. Auch Bockelmann bemerkt: „Jedenfalls ist mir bisher keine Äußerung bekannt geworden, die das Dasein der Handlung als eines von Vorstellungsinhalten und Willensimpulsen gesteuerten Verhaltens überhaupt leugnete“ (ZStW 75 [1963], S. 374). Während man aber nach der Theorie v. Liszts ebensogut sagen könnte, das Verhalten wird von äußeren Motiven gesteuert, die sich gewissermaßen durch das Medium des individuellen menschlichen Charakters hindurch umsetzen, läuft Bockelmanns These eher darauf hinaus, es gebe eine selbständige geistige Entscheidungsinstanz zwischen den äußeren Motiven und deren Umsetzung. 118 Siehe v. Liszt, Lehrbuch, S. 163.
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hersehbarkeit des Erfolges (fahrlässig) gehandelt worden ist“119, dann ist damit also nicht gemeint, der Verbrecher hätte eine „Wahlfreiheit“ gehabt oder „Schuld“ im herkömmlichen Verständnis auf sich geladen.120 Es wird vielmehr ein nach dem Werturteil der Gesellschaft unerwünschter Erfolg mit einem Individuum verbunden, das sich in anderen Situationen als dem Recht entsprechend umsichtig gezeigt hat.121 Mit seiner Strafbegründung, der „normalen Bestimmbarkeit durch Motive“, gerät v. Liszt in Kollision mit der Forderung des Strafgesetzgebers, dass die Fähigkeit zur Unrechtseinsicht und die Fähigkeit nach der Unrechtseinsicht zu handeln bei Begehung der Tat (Wortlaut des heutigen § 20 StGB122) vorhanden sein müssen. Der Verbrecher hat sich ja durch seine Tat gerade als jedenfalls de facto nicht motiviert durch die Forderungen des Rechts in der konkreten Situation erwiesen. Selbst für den Indeterministen gilt: Wenn das überhaupt einen Schluss im Hinblick auf die Motivierbarkeit des Täters in dieser Lage nahe legt, dann den, dass sie eben nicht gegeben war; jedenfalls macht es die gegenteilige Behauptung ersichtlich grundlos. Für v. Liszt als Deterministen freilich muss sich aus dem konkreten „Nicht-motiviert-gewesen-Sein“ zwingend ein „Nichtmotivierbar-gewesen-Sein“ ergeben. Denn dass der Täter eine solche Motivierbarkeit vorher beliebig oft gezeigt haben mag, genügt der zeitlichen Kongruenzbedingung des § 20 StGB nicht; und für das konkrete Delikt besagt es einfach nichts. Wenn man aber von diesem Widerspruch absieht, bleibt v. Liszt vom deterministischen Standpunkt aus betrachtet schon deshalb praktisch unangreifbar, weil den Begriffen „Strafe“ und „Schuld“ in seiner Lehre ihr klassischer Sinn entzogen wird. „Strafe“ wird zum Synonym für „Therapie“. Schuld meint nurmehr die Zuständigkeit eines potentiell therapierbaren Individuums für einen Erfolg. Es ließe sich daher allenfalls einwenden, dass diese Begriffe doch besser aufgegeben werden sollten, wenn sie schon ihren (herkömmlichen) Inhalt vollständig verloren haben.123 _________________ 119
v. Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, S. 48. Siehe v. Liszt, ebd. Vgl. auch Graf zu Dohna: „Es ist unverkennbar, daß das Urteil, es sei jemand zu einer Sorgfalt, die er nicht präsentiert hat, gleichwohl imstande gewesen, mit einem strengen Determinismus nicht verträglich ist“ (ZStW 66 [1954], S. 512). 121 Ähnlich Graf zu Dohna; dazu unten, S. 56 f. 122 Siehe Fn. 1. 123 Etwas anderes gilt für den Schuldbegriff Roxins, der eine „normative Ansprechbarkeit“ voraussetzt und sich damit die berechtigte Kritik Bernsmanns zuzieht, dass er den empirischen Nachweis, ob der Täter durch Rechtsnormen prinzipiell ansprechbar und motivierbar sei, schuldig bleibe. Er ersetzte daher die „Freiheitsfiktion“ durch die „Ansprechbarkeitsfiktion“ (s. Bernsmann, Entschuldigung, S. 219). Eng damit verbunden ist das Problem, dass Roxin „die (sei es freie, sei es determinierte) psychische Steuerungsmöglichkeit, die dem gesunden Erwachsenen in den meisten Situationen gegeben 120
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b) Die Charakterschuld nach Engisch Nach der von Engisch vertretenen Charakterschuldlehre knüpft die staatliche Strafe ihren Vorwurf an den Charakter des Täters, „aus dem die verbrecherische Tat geflossen ist“.124 Diese Lehre steht in enger Verbindung mit den Gedanken Schopenhauers. Im Unterschied zu Schopenhauer stellt Engisch jedoch nicht auf die motivbildende Kraft der Norm, sondern auf eine solche der Strafe ab. Die Strafe könne den Motivationsprozess des Täters dahingehend beeinflussen, dass er dieselbe Tat kein weiteres Mal begehen würde, beziehungsweise potentielle Täter von der Begehung abschrecken.125 Grundlage der Strafe ist _________________
ist“ (StrafR AT/1, § 19, Rn. 36), als Wesenseigenschaft des Menschen unterstellt. Zwar bezeichnet Roxin seinen Schuldbegriff als einen „empirisch-normativen“, da empirisch feststellbar die prinzipielle Fähigkeit zur Selbststeuerung und die damit verbundene normative Ansprechbarkeit sei (s. Roxin, SchwZStr 104 [1987], S. 369); es ist aber nur die Verhaltensänderung empirisch feststellbar, während ein empirischer Beweis, sei es auch nur der prinzipiellen Fähigkeit zur Selbststeuerung, nicht erbracht ist. Vgl. insoweit auch die Kritik Tiemeyers am Handlungsbegriff: „Mit der Behauptung, daß die Äußerung einer Person als Handlung anzusehen ist, wird bereits ein Mindestmaß an Freiheit vorausgesetzt. Die an die strafbare Handlung geknüpften Eingriffe in die Rechte des einzelnen erscheinen nur dann sinnvoll, wenn die Äußerung durch einen Lenkungsprozeß von innen getragen wird. Von Lenkung kann aber nur dort gesprochen werden, wo der einzelne zwischen verschiedenen Alternativen wählen kann“ (GA 1986, S. 214). Schließlich verzichtet Roxin mit seinen Grundannahmen auch auf den Nachweis der Steuerungsfähigkeit in der konkreten Situation, der jedoch von § 20 StGB gefordert wird. Den legitimatorischen Überlegungen Roxins ähnlich ist die Lehre Gimbernat Ordeigs, der sich wie v. Liszt und Roxin von Freiheitserwägungen distanziert und auf der Motivierbarkeit des Menschen aufbaut (s. Gimbernat Ordeig, ZStW 82 [1970], S. 388 ff.; ders., Henkel-FS, S. 160). Allerdings ergeben sich auch hier Schwierigkeiten. Gimbernat Ordeig verwirft den Gedanken, „auf eine Strafe auch hinsichtlich derjenigen ,Normalen‘ zu verzichten, für welche das angedrohte Übel vielleicht keine hemmende Wirkung ausübt“ (Gimbernat Ordeig, Henkel-FS, S. 160), weil er einerseits mit den heutigen Methoden des Erkenntnisgewinns die Differenzierungskriterien zwischen den motivierbaren und nicht-motivierbaren „Normalen“ für nicht hinreichend bestimmbar hält und andererseits weil bei einem teilweisen Strafverzicht auch andere, die sich mit dem „normalen“, also nicht geistesgestörten Täter identifizieren könnten, ihrerseits darauf spekulieren könnten, ebenfalls nicht bestraft zu werden (s. Gimbernat Ordeig, Henkel-FS, S. 160 f.; zu letzterem Argument vgl. bereits Schopenhauer, oben, S. 47). Dabei scheint es Gimbernat Ordeig nicht in den Sinn zu kommen, dass die Strafandrohung bei jedem „normalen“ Täter jedenfalls de facto offenbar keine hemmende Wirkung entfaltet hat. Konnte sie dies möglicherweise auch gar nicht, so ist eine Differenzierung zwischen motivierbaren und nicht-motivierbaren „Normalen“ aber obsolet und wirft natürlich die Frage auf, warum nicht alle geistig gesunden Menschen nicht motivierbar sein sollten. 124 Engisch, Willensfreiheit, S. 44. 125 Siehe Engisch, Willensfreiheit, S. 55. Kritisch hierzu Welzel, Engisch-FS, S. 91 ff., 102; Strasser, Sich beherrschen können, S. 162 ff.
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nach Engisch ein modifiziertes Verständnis der geläufigen Formel vom „Anders-handeln-Können“: „Wenn der konkrete Täter in der konkreten Situation, in die er hineingestellt war, in dem Sinne anders hätte handeln können, daß er seinen allgemeinen Anlagen entsprechend bei Anwendung der gebotenen Willenskraft und Besorgnis richtig hätte handeln können, so ist es sinnvoll, strafend gegen ihn vorzugehen [...].“126 Die Strafe für die konkrete Tat trifft den Menschen also nur deshalb, weil sein Verhalten in der Vergangenheit mit der Rechtsordnung in Einklang stand; denn nur hieraus lässt sich mit Engisch ableiten, dass der Mensch an und für sich eine normale Motivierbarkeit durch Normen aufweist. Was sich aus dieser Rückschau mit Blick auf den Zeitpunkt der konkreten Tat allerdings gewinnen lässt, erscheint fraglich.127 Man stelle sich den rechtstreuen Familienvater und Ehemann vor, der nach dreißig Jahren zermürbenden Ehekriegs seine Ehefrau erschlägt, weil das Maß dessen, was sein Charakter verkraften kann, an irgendeinem Tag einfach voll ist. Kann man hier wirklich aus der Tatsache, dass er seine Frau dreißig Jahre lang nicht erschlagen hat, ableiten, dass er sie auch in dem Augenblick der Tat nicht hätte erschlagen können? Gerade wenn man, wie Engisch, davon ausgeht, dass die Umwelt auf den Charakter des Menschen einwirken kann, dann erscheint es doch möglich, dass sich der Charakter dieses Ehemannes innerhalb von dreißig Jahren Ehe stetig verändert hat; und er kann sich dahingehend verändert haben, dass er in dem Augenblick, als er seine Frau erschlug, nicht anders handeln konnte. Generalisierend über die „allgemeinen Anlagen“ von Menschen zur Normbefolgung zu sprechen, verdunkelt den Umstand, dass bei vielen Tätern über deren „Anlage“ zum Zeitpunkt ihrer Tat eigentlich nur das gesagt werden kann, was sich in der Tat konkret realisiert hat: ihre Unfähigkeit zum Rechtsgehorsam. Warum solche Menschen für ihre aktuelle Tat eine Strafe erleiden sollen, die an ihre früher feststellbaren und vielleicht überholten Anlagen anknüpft, leuchtet jedenfalls nicht unmittelbar ein und bleibt deshalb erklärungsbedürftig. Auf andere Schwierigkeiten stößt diese Lehre, wenn man sich fragt, warum hiernach eigentlich Tiere keine Charakterschuld sollten auf sich laden können. Denn auch einem Tier würde man grundsätzlich einen von Anlagen und Umwelt128 beeinflussten und insoweit determinierten Charakter zuschreiben; auch käme man gewiss mit Gründen zu dem Schluss, dass sich ein Tier durch Bestrafung zu anderem Verhalten motivieren ließe. Dieses Problem stellt sich bei Schopenhauer nicht, da Normen, im Gegensatz zur Strafe, nur vom Menschen verstanden werden können. Freilich folgt bei Engisch bereits aus einer Voraus_________________ 126
Engisch, Willensfreiheit, S. 55; s. auch ders., ZStW 66 (1954), S. 359 ff. Vgl. zur Lehre von der Charakterschuld auch Burkhardt, Charaktermängel, S. 103 ff. 127 Vgl. insoweit bereits die Kritik an Roxin, oben, Fn. 123. 128 Siehe Engisch, Willensfreiheit, S. 52.
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setzung seines Verständnisses vom „Anders-handeln-Können“, nämlich der Fähigkeit des Menschen, sein Handeln nach Willenskraft und Besorgnis auszurichten129, dass Tiere hiervon ausgenommen sein müssen. Allerdings beruht dies auf einer in das Menschenbild eingebauten Grundannahme, nämlich der Möglichkeit willentlicher Verhaltensteuerung, die ihrerseits einen Beleg vermissen lässt130 und jedenfalls in die Nähe einer indeterministischen Position rückt. Schließlich ist auch die Frage problematisch, warum den determinierten Charakter ein Vorwurf treffen soll.131 Der Vorwurf in Form der Strafe soll nach Engisch geeignet sein, die Charakterbildung günstig zu beeinflussen. Dass eine „ungeschickt angewendete Strafe“ auch solche Charakteranlagen aktualisieren könne, die für die Rechtsordnung gefährlich sind, erwähnt er eher beiläufig.132 Inwieweit die Strafe zur Charakterbildung geeignet ist, sei „wiederum Gegenstand kriminologischer Forschung“.133 Damit bleibt auch die eigentliche Frage nach der Erforderlichkeit eines Vorwurfs für die Zweckerreichung, die hier in präventiven Wirkungen zu sehen ist, gänzlich ungeklärt. Die positiv beeinflussende Wirkung einer Strafe ist ohnehin fraglich; noch zweifelhafter erscheint sie in Bezug auf einen Menschen, dem gleichzeitig gesagt wird, dass er für seine Tat nichts könne.134 Immerhin steht Engisch der Bestrafung von Kindern _________________ 129 Vgl. auch die Differenzierung zwischen „willkürlichen und unwillkürlichen Ausdrucksbewegungen“ bei Engisch, Willensfreiheit, S. 52. 130 In eben diesem Lichte erscheint auch die Persönlichkeitsschuldlehre de Figueiredo Dias‘. Hiernach würden Handlungen vom Menschen „durch die freie Entscheidung über sich selbst“ entstehen, beruhend auf der spekulativen Annahme einer „Grundwahl“ des Menschen (s. ZStW 95 [1983], S. 240). 131 So stellt auch Arthur Kaufmann die Frage: „Wie kann man sagen, daß der Mensch ,für das eigene Sosein einstehen‘ und es ,verantworten‘ müsse, wenn dabei nicht Freiheit vorausgesetzt ist?“ (Schuldprinzip, S. 279). Heinrich Foth resümiert insoweit: „Die unerwünschte Determination läßt sich nicht vorwerfen, sondern nur korrigieren“ (ARSP 62 [1976], S. 265). Daneben liefert Engisch keine Erklärung dafür, warum die Schuldstrafe zwar für Erwachsene, nicht jedoch für Kleinkinder geeignet sein soll (vgl. Willensfreiheit, S. 57). Zur Problematik der Zurechnungsfähigkeit von Tieren und Kleinkindern vgl. auch Kohlrausch, Güterbock-FS, S. 24 f., u. Tugendhat, Aufsätze, S. 345. 132 Siehe Engisch, Willensfreiheit, S. 53; ders., MschKrim 1967, S. 111. 133 Engisch, MschrKrim 1967, S. 111. Die Wirkung und damit Wirksamkeit der Strafe aus der „Innenperspektive“ zu erklären, unternimmt Kohler: „[...] sie liegt in der sühnenden, reinigenden, ich möchte fast sagen weihevollen Kraft des Schmerzes. Dass der Schmerz diese Wirkung hat, und dies insbesondere der psychische Schmerz, lehrt uns unser inneres Bewusstsein, und dieses Bewusstsein ist ein untrügliches [...]“ (Das Wesen der Strafe, S. 6). Kritisch zur Besserung durch Strafe Kühl, Rechtsphilosophie, S. 30. 134 Kritisch auch Frey, Einführung, S. XXII. Arthur Kaufmann hält eine Vorwurfshaltung des Staates für geeignet, den Täter positiv zu beeinflussen. Ohne Schuld und Vorwurf, prognostiziert er jedoch, würde „ein solcher Täter [...] jede kriminalrechtliche
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ablehnend gegenüber, weil sich hier andere Reaktionen als die Kriminalstrafe als besser erweisen würden.135 Daneben bleibt die Frage offen, ob der Charakter des Menschen überhaupt (in diesem Fall konkret durch die Strafe) wandelbar ist. Auch dies ist eine ins Menschenbild projizierte Grundannahme, die eines Belegs bedarf.
c) Wesensgleichheit psychischer Strukturen nach Graf zu Dohna Ein anderes Problem deterministisch orientierter Schuldlehren wird bei Graf zu Dohna offensichtlich. Ausgehend von der Annahme eines „Grundgesetzes des sozialen Daseins“, nach welchem der Mensch, soweit er hinter den Anforderungen der Gemeinschaft zurückbleibt, hierfür zur Verantwortung gezogen werden könne136, hebt Graf zu Dohna hervor: „Nur dort hat es einen Sinn, es den Menschen entgelten zu lassen, daß er nicht ,gekonnt‘ hat, wo ,man‘ ,konnte‘, wenn seine psychische Struktur wesensgleich war mit der seiner Genossen.“137 Den inneren Grund findet diese Ansicht darin, dass der Mensch „einzustehen hat für das, was er tut, insoweit es Ausfluß ist seiner Persönlichkeit“.138 Zur Schuld bei unbewusster Fahrlässigkeit merkt Graf zu Dohna an: „Nicht dafür trifft den Täter der Vorwurf, daß er die Sorgfalt außer Acht ließ, zu der er imstande war, denn das war er offenbar nicht; aber er wäre es bei stärkerer Willensanspannung gewesen, und hierzu kann er und muß er um der Interessen der Gemeinschaft willen erzogen werden.“139 Wie v. Liszt geht auch Graf zu Dohna davon aus, dass der geistig Gesunde „durch Motive normal determinierbar“ ist „und es gerade die Aufgabe der Rechtsnormen, der Strafdrohungen und in letzter Linie des Strafvollzugs ist, Motive zum Wohlverhal-
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Sanktion als ungerecht empfinden, und er würde ohne Zweifel auch nicht bereit sein, an seiner Resozialisierung mitzuwirken“ (R. Lange-FS, S. 36 f.). 135 Siehe Engisch, Willensfreiheit, S. 57 f. 136 Siehe Graf zu Dohna, ZStW 66 (1954), S. 508 f. 137 Graf zu Dohna, ZStW 66 (1954), S. 511; ders., Rechtsphilosophie, S. 79 ff., 86; vgl. auch Ebert, StrafR AT, S. 95; insoweit ähnlich auch Jakobs, „weil er eine den anderen gleiche Person ist“ (Schuldprinzip, S. 27). Tesar spricht von einer „sozialen Ähnlichkeit“, die Rückschlüsse auf die psychische Struktur und „Erziehbarkeit des Willens“ zulasse (s. Tesar, S. 226 ff.). 138 Graf zu Dohna, ZStW 66 (1954), S. 508; vgl. auch de Figueiredo Dias, ZStW 95 (1983), S. 237 ff.; kritisch hierzu Otto, GA 1981, S. 483 f., und Roxin, StrafR AT/1, § 19, Rn. 27–32. 139 Siehe Graf zu Dohna, ZStW 66 (1954), S. 512.
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ten zu setzen.“140 Wo es an dieser normalen Bestimmbarkeit fehle, fehle es am entscheidenden Erfordernis der Schuld.141 Bedenken begegnet es, zur Begründung des Vorwurfs „andere“ an die Stelle des Täters zu setzen, wenn nicht nachzuweisen ist, dass der so verallgemeinerte Menschentypus die konkreten „psychisch-sozialen Strukturen“ aufweist, die im Fall des Täters diesen konkret beeinflusst haben. Denn die psychische Struktur unterschiedlicher Menschen könnte ja möglicherweise auch nur in sehr groben Zügen „wesensgleich“ sein.142 Und das bedeutet: Man wird auch hier nie den Nachweis erbringen können, ob eine andere Person überhaupt in eben die konkrete Tatsituation des Täters gekommen wäre, folglich auch nicht, ob sie hier anders gehandelt hätte.143 Deutlich wird dies bei der Begründung der Fahrlässigkeitsschuld. Aus der „normalen Determinierbarkeit durch Motive“ folgt keineswegs, dass dem Fahrlässigkeitstäter eine „stärkere Willensanspannung“ in der konkreten Situation möglich gewesen wäre. Dies würde Graf zu Dohna wohl auch so nicht behaupten wollen, sondern nur, dass „man“ zu einer stärkeren Willensanspannung in der Lage gewesen wäre. Der Vorwurf des Unterlassens dieser „Willensanspannung“ erreicht den Täter deshalb, weil er als geistig Gesunder dazu generell in der Lage sein soll. Das wird aus dem Vergleich mit anderen geschlossen, die man sich irgendwie in dieselbe Situation hineindenkt, obwohl sie mit derselben Situation ersichtlich niemals konfrontiert wurden, weil zur deliktischen Sitation eben nicht nur äußere Umstände gehören, sondern auch der konkret-individuelle Täter. Selbst wenn also diese anderen, konfrontiert mit gleichen äußeren Umständen wie der Täter, ein anderes Verhalten als dieser hätten zeigen können, mag es eben ihre individuelle „psychische Struktur“ sein, die ihnen eine „Willensanspannung“ gegebenenfalls ermöglicht hätte, welche dem Täter, wiewohl „geistig gesund“, nicht möglich war. Wenn es unter Umständen erst der Strafvollzug ist, der „Motive zum Wohlverhalten“ setzt, dann könnte, so räumt Graf zu Dohna selber ein, das entscheidende Motiv dem Täter möglicherweise nicht zugänglich gewesen sein. Das bezeichnet zugleich den gewichtigsten Einwand gegen Graf zu Dohna: dass es nicht ver_________________ 140
Siehe Graf zu Dohna, ebd. Siehe Graf zu Dohna, ebd. 142 Ähnlich die Kritik Schörchers an Bockelmann: „Bockelmann weiß sicherlich, so gut wie jeder Psychiater, daß jeder Mensch von jedem anderen wesentlich verschieden ist“ (ZStW 77 [1965], S. 246). 143 So auch Engisch, Willensfreiheit, S. 23 ff.; dazu auch M. Köhler, Fahrlässigkeit, S. 170 ff.; Gimbernat Ordeig, ZStW 82 (1970), S. 153 f.; Scheffler, Kritik, S. 49 f.; Roxin, SchwZStr 104 (1987), S. 356; Cerezo Mir, ZStW 108 (1996), S. 19. Dieses Problem teilt die Lehre Graf zu Dohnas insoweit mit der Lehre vom „Anders-handelnKönnen“; dazu bspw. Brauneck: „Was das Recht inhaltlich verwirft und verbietet – das Unrecht –, wird dem Täter als Verbrechen (= Schuld) vorgeworfen, wenn – persönliche Zurechnung – seine innere Steuerung formal intakt war, er sich also zu einem anderen Verhalten hätte bestimmen können“ (GA 1959, S. 272). 141
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ständlich erscheint, Schuld anzunehmen, wenn etwas nicht verhindert werden konnte.144
d) Personale Zurechnung nach Jakobs Willentliche Handlungssteuerung spielte auch in der Lehre Jakobs’ zunächst eine nicht unwesentliche Rolle: Einmal lasse sich über Strafe der Wille lenken – durch die immer wieder erfolgende Bloßstellung von Straftätern würden andere zu normkonformen Verhalten veranlasst und würde damit die Wirksamkeit der Norm gestärkt.145 Zum anderen bilde sich in der Psyche die Motivation, die im Verhalten zum Ausdruck gelange, wobei es nicht auf eine reale psychische Reflexion ankomme, sondern nur darauf, dass der motivatorische Mangel hier zu lozieren sei.146 Als offenbar naturalistisches Element hat Jakobs die Willenssteuerung heute aber jedenfalls aus seiner Strafidee eliminiert. Strafe erfolge einzig zur Erhaltung der Normgeltung. Weder die Antriebslage des Rechtsbrechers noch psychologisch-präventive Strafzwecke seien zu berücksichtigen: „[...] denn die Sanktion hat nicht einen Zweck, sondern ist selbst Zweckerreichung [...].“147 Zwar verweist Jakobs explizit darauf, sein Schuldbegriff setze keine Willensfreiheit, sondern nur eine Freiheit zur Selbstverwaltung voraus148, die Fähigkeit zur Normbefolgung kommt jedoch der Person per definitionem149 und damit dem Täter deshalb zu, „weil er eine den anderen gleiche Person ist, insbesondere wie jedermann sonst zur Äußerung über die richtige Gestaltung der sozialen Welt kompetent ist“.150 Jakobs kann deshalb unschwer formulieren: _________________ 144
Siehe Roxin, StrafR AT/1, § 19, Rn. 29; Heinitz, ZStW 63 (1951), S. 74. Siehe Jakobs, Schuldprinzip, S. 25. Dieser Aspekt wird in neueren Schriften allerdings als unwesentlich dargestellt, vgl. Jakobs, ARSP 2000, Beiheft 74, S. 59 f.; zu dieser Entwicklung auch Schünemann, Roxin-FS, S. 14. Zur Problematik einer positiven Generalprävention, die auf der Degradierung des Täters fußt, vgl. unten, S. 109. 146 Vgl. Jakobs, Schuldprinzip, S. 25. 147 Jakobs, Straftheorie, S. 36. 148 Siehe Jakobs, Schuldprinzip, S. 34 f.; vgl. auch Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 97, 99. Einen ähnlichen normativen Ansatz wählt K. Günther, Freiheit, 245 ff.; ders., Voluntary Action, S. 263 ff. 149 Vgl. Jakobs, Norm, S. 29 ff. Zur Rolle des freien Bürgers gehöre als Synallagma die Beachtung der Normenordnung (s. Jakobs, Schuldprinzip, S. 35; ders., ZStW 117 [2005], S. 261). Vgl. auch Lesch, Verbrechensbegriff, S. 213 ff. 150 Jakobs, Schuldprinzip, S. 27. Es liegt nahe, Jakobs hier mit seinem gegenüber dem sozialen Handlungsbegriff erhobenen Vorwurf zu zitieren: „Aber durch die Nivellierung schon der [individuellen] Handlungssteuerung verschwindet das Subjekt im Standard, als sei nicht das Subjekt, sondern ein Phantom des Normalbegabten Träger des sozialen Kontakts. Eine solche Nivellierung mag im Zivilrecht berechtigt sein, für 145
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„Es wird nie mehr an Verarbeitungsvermögen erwartet, als sich einstellt, wenn die Person das konstruierte Normmotiv realiter aufweist – ultra posse nemo obligatur.“151 Beispielhaft: Für den Autofahrer, der sich durch ein Plakat von der Beobachtung des Straßenverkehrs hat abhalten lassen und deshalb einen Passanten verletzt hat, gilt nach Jakobs: „[...] obwohl ihm auch eine Weltgestaltung mit Aufmerksamkeit für Passanten zugänglich war, hat er eine solche ohne Aufmerksamkeit gewählt. Das Subjekt war falsch motiviert, indem es die Ablenkung zuließ; es hat zwar nicht die Benachteiligung des Passanten zum ,ausdrücklichen‘ Verhaltensinhalt gemacht, wohl aber die Ablenkung, und mit dieser war der Schutz des Passanten kognitiv unverträglich.“152 Es fragt sich hier aber, wie das Subjekt „gewählt“ hat, wie es die Ablenkung „zugelassen“ und zum Verhaltensinhalt „gemacht“ hat; Fragen, die an sich unmittelbar die Willensfreiheit betreffen. Für Jakobs jedoch gilt: „Wer den Standard verfehlt, hat Schuld, mit anderen Worten, wer die Leistung der Maßstabsperson des guten Bürgers nicht vollständig erbringt, hat versagt.“153 Während sich in der Norm die Erwartungshaltung der Gesellschaft gegenüber einer Person widerspiegele, komme in der Straftat ein Protest gegen diese normative Gestalt der Gesellschaft zum Ausdruck. Die Gesellschaft begreife den Täter als Person, die eine andere Normenordnung entwirft.154 Strafe mache den Anschluss Dritter an die vom Täter entworfene (Gegen-)Normenordnung normativ unmöglich. Ausnahmen von der Sanktionsbedürftigkeit ergäben sich jedoch, wenn aus der Tat lediglich „Inkompetenz zur Verwaltung schon der eigenen Angelegenheiten spricht, so daß die Gefahr eines Anschlusses an den materiellen Gehalt des Normbruchs nicht besteht“.155 Eine solche Inkompetenz liege beispielsweise vor, wenn ein Defekt der kognitiven Fähigkeiten die Erwartung ausschließe, der Täter könne richtig kalkulieren.156 _________________
das Strafrecht kann sie nicht überzeugen; denn strafrechtliche Zurechnung, die an den individuellen Fähigkeiten ausgerichtet wird, übergreift Rollen“ (StrafR AT, 6/24 – Einfügungen in eckigen Klammern entstammen hier und in nachfolgenden Zitaten nicht dem jeweils zitierten Text im Original). 151 Jakobs, Norm, S. 96. 152 Jakobs, Handlungsbegriff, S. 26. In einem neueren Aufsatz stellt Jakobs klar, dass sich ein kausal determiniertes Individuum nicht falsch verhalten und damit auch keine Schuld haben könne. Adressat des Schuldvorwurfs müsse daher die Person als Träger von Rechten und Pflichten sein (s. ZStW 117 [2005], S. 257). 153 Jakobs, ARSP 2000, Beiheft 74, S. 68; vgl. auch ders., Norm, S. 91; ders., Schuldprinzip, S. 29 f.; vgl. auch Pawlik, Person, S. 87. 154 Siehe Jakobs, ARSP 2000, Beiheft 74, S. 57 ff.; ders., Straftheorie, S. 34; ders., Norm, S. 103; vgl. auch H.-G. Schmitz, Kriminalstrafe, S. 176. 155 Siehe Jakobs, Straftheorie, S. 37. 156 Siehe Jakobs, Handlungsbegriff, S. 37.
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Wenn also nach den Anknüpfungspunkten in der Wirklichkeit, konkret den kognitiven Fähigkeiten des Menschen, gefragt wird, muss Jakobs letztlich und zwangsläufig individuell-empirische Antworten geben.157 Um diese empirischen Daten kommt ein Strafrecht, das einen Lebenssachverhalt ohne den Verdacht der Willkür verarbeiten will, aber generell nicht herum. So ist eine kognitive Fähigkeit nicht (ausschließlich) normativ bestimmbar und ihre empirische Beurteilung ein notwendiger Bestandteil normativer Behauptungen, wenn Gerechtigkeit und Rechtssicherheit hinreichend gewahrt werden sollen.158 Die Validität dieses Erklärungsmodells ist aber auch in anderer Hinsicht vom Bestand seines empirischen Unterbaus abhängig. Es setzt Selbst- und Fremdzuschreibung von Handlungen und Handlungsmotiven in der Weise voraus, wie wir sie heute erleben. Diese psychologische Grundannahme lässt Jakobs in einem Entwicklungsprozess wie die Stufen einer Treppe hinter sich, gleichwohl bildet sie das Fundament seiner Theorie. Normen und die Sanktionierung von Normbrüchen verlieren nämlich nicht automatisch ihren Sinn, wenn eine andere Erlebnisstruktur zugrundegelegt wird. Dies wird deutlich, wenn man sich vorstellt, dass der Täter aufgrund seiner (normalen) kognitiven Konstitution nicht in der Lage war, die Norm zu befolgen, die Tat also für ihn wie für jeden anderen Täter unvermeidbar war. Anders gewendet: Jede Tat brächte zum Ausdruck, dass eine andere kognitive Ausrichtung gerade nicht möglich war. Dann spiegelte sich in dem Normbruch nur die Unfähigkeit wider, sich zum konkreten Zeitpunkt nach der Norm zu richten, was Jakobs nur bei einem ausgesuch_________________ 157
Die Vermeidbarkeit wird als „selbstverständliche Voraussetzung“ strafrechtlicher Zurechnung (s. Jakobs, ARSP 2000, Beiheft 74, S. 67; vgl. auch ders., Studien, S. 41 ff.; ders., Handlungsbegriff, S. 25; ders., StrafR AT, 6/24 ff.) zunächst „mit Hilfe der Hypothese bestimmt, daß der Täter, hätte er das dominante Motiv zur Vermeidung einer bestimmten Aktion, diese Aktion real vermeiden würde“ (Jakobs, StrafR AT, 6/27; s. auch ders., Handlungsbegriff, S. 39). Mit Blick auf den konkreten Sachverhalt kommen dann Erwägungen hinsichtlich der kognitiven Verarbeitungsdauer ins Spiel (vgl. dazu unten, S. 183 f). 158 Hier grenzt sich der Schuldbegriff Geislers von dem Jakobs’ ab. Geisler möchte auf eine „reale“ Möglichkeit zum Andershandelnkönnen nicht verzichten, die aber schon immer dann bestehe, wenn der Täter „relativ frei“ im Sinne einer negativen Handlungsfreiheit sei (s. Geisler, S. 128 f.): „Die stigmatisierende Wirkung des Schuldurteils ist insofern weniger ausgeprägt. Der mit ihm verbundene Schuld-,vorwurf‘ ist abgeschwächt-bescheidener nur als ,Vorhalt‘ zu begreifen“ (Geisler, S. 582). Ablehnend gegenüber einer moralischen Abwertung des Straftäters auch Tiemeyer (s. GA 1986, S. 226 f. mit Fn. 104; ders., ZStW 100 [1988], S. 543 ff.), der jedoch, wie Streng bemerkt, den Freiheitsbeweis seinerseits nicht umgehen könne. „Denn auch das Erkennen relativer Freiheit oder Unfreiheit setzt einen empirisch faßbaren – und insoweit ,absoluten‘ – Bezugspunkt voraus. [...] Andernfalls handelt es sich um eine Bezugnahme auf Faktoren, die lediglich einem allgemeinen Freiheitsbewußtsein entsprechen [...], nicht aber um eine empirische Erfassung von Freiheit selbst“ (ZStW 101 [1988], S. 279).
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ten Personenkreis unterstellen will, was hier aber um des Arguments willen einmal für alle Täter vorausgesetzt werden soll. Kein Protest hätte stattgefunden, sondern unvermeidbares „Versagen“. Der Normbruch drückte wegen seiner Unvermeidbarkeit nicht mehr die Missachtung der Norm aus. Die Erwartungshaltung der Gesellschaft könnte sich der Wirklichkeit anpassen (wenn sie dies nicht ohnehin macht), nach der rechtlich missbilligte Verhaltensweisen mit einer gewissen Häufigkeit eintreten. Andernfalls müsste man wohl mit Jakobs sagen, dass das Wollen der Gesellschaft (hier die Befolgung der Normenordnung) auf einem falschen Wissen (hier der Vermeidbarkeit des Normbruchs) beruht und damit von Inkompetenz zeugt.159 Norm und Sanktionierung des Normbruchs blieben gleichwohl erforderlich, um Konflikte zu definieren und Konfliktlösung zu instrumentalisieren, soweit die Konflikte nach dem jeweiligen Gesellschaftsbild als nicht mehr privat lösbar angesehen werden.160 Die Lehre von Jakobs operiert also mit einer „Freiheit zur Selbstverwaltung“, die das empirische Faktum einer bestimmten kognitiven Fähigkeit voraussetzt – schließlich wird auch der „Defekt“ dieser Fähigkeit, wie die §§ 20, 21 StGB verdeutlichen, empirisch untermauert –, dessen Existenz aber nur über allgemein-gesellschaftliche Zuschreibungsmodelle beglaubigt wird. Strafrechtliche Verantwortlichkeit wird damit nur innerhalb dieser Zuschreibungsmodelle herausgearbeitet; Alternativen zur Strafe werden dadurch nicht ausgeschlossen. Neben einer Generalprävention im Sinne psychologischer Beeinflussung hat mit der Lehre Jakobs’ aber ein eher nüchterner Aspekt der Strafe gewissermaßen abseits von Schuld und Prävention an Bedeutung gewonnen: Die Aufrechterhaltung der Norm durch den Vollzug der mit der Norm verbundenen Sanktionsdrohung. Allerdings vermag auch die – unbestreitbare – Notwendigkeit der Sanktion zum Erhalt der Norm noch nicht den Inhalt der Norm und damit die konkrete Form des Vollzugs zu legitimieren. Dies liefe auf das Argument hinaus, die Strafe sei schon deshalb legitim, weil es eine Strafnorm gebe, deren Existenz gesichert werden müsse. Ausgeblendet wird dabei wiederum die Mög_________________ 159
Vgl. Jakobs, ZStW 107 (1995), S. 849. Dazu auch Robbers: „Entgegen zumeist vertretener Auffassung sind Zwang und Strafe dem Recht ganz sekundär. Die äußere Erzwingbarkeit ist bloßes Akzidens, nicht unterscheidendes Proprium des Rechts. Das Recht dient dazu, das Zusammenleben in Gemeinschaft zu ordnen, seine Zielvorstellungen deutlich zu machen, Institutionen zur Verfügung zu stellen, in denen freiheitliche Entfaltung des Einzelnen möglich ist. Solche Strukturen bereit zu halten ist die primäre Funktion des Rechts. Daß hierbei das Instrument der Strafe bisweilen zum Tragen gebracht werden muß, ist Ausdruck des Scheiterns, keineswegs ein Charakteristikum des Rechts, das es von anderen Ordnungssystemen unterscheiden würde“ (S. 149 f.). Vgl. auch Frank, der hervorhebt, der Streit der Lehre drehe sich nicht um das Ziel, das in der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung zum Schutz der Interessen der Einzelnen und der Gesamtheit zu sehen sei, sondern um die Mittel zu seiner Erreichung (s. Vergeltungsstrafe, S. 11); Hassemer, Schuldprinzip, S. 104 ff.; Scheerer, EuS 12 (2001), S. 69 ff. 160
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lichkeit, dass auch andere staatliche Reaktionen Normen wie das Tötungsverbot aufrechterhalten könnten.161 Baurmann sagt dazu: „Nur wenn man Strafe als ein für jeden ernsthaften Normgeber unverzichtbares Mittel der Vergeltung oder instrumentellen Prävention betrachtet, wird man das Fehlen einer Strafandrohung zwangsläufig als Ausdruck für das Fehlen eines ernsthaften Willens des Normgebers interpretieren. Nur dann also, wenn und insofern die Normadressaten diese Überzeugung besitzen und der Strafe notwendige nicht-symbolische Funktionen zuschreiben, ist Strafe ein nicht substituierbares Ausdrucksmittel für den Willen eines Normgebers, und nur dann muß ein Gesetzgeber die Strafe als Mittel zur symbolischen Manifestation von Rechtsgeltung verwenden.“162 Jakobs setzt dagegen die Notwendigkeit von Strafe bereits voraus.163
e) Strukturdeterminiertes Handeln und Verantwortlichkeit nach Kargl Kargl hält die Handlung und den Willen für „strukturdeterminiert“: Sie seien keiner außerkausalen Disposition erreichbar, aber gleichzeitig für den Handelnden auch nicht voraussagbar. Der Handelnde müsse sich entscheiden und diese Wahl sei keine Selbsttäuschung.164 Kargl orientiert sich also an der Position eines epistemischen Indeterminismus.165 Lebewesen verfügten über Nervensys_________________ 161
Hieran zweifelt indes Jakobs, der die Erforderlichkeit des Strafrechts darin sieht, dass es an einer Organisationsalternative fehle (s. StrafR AT, 17/23), die im „kommunikativen Bereich“ aber auch zwangsläufig ausgeschlossen sei (s. Schuldprinzip, S. 29). Vgl. auch ders., Strafe, S. 26 ff. 162 Baurmann, GA 1994, S. 384; vgl. auch ders., Zweckrationalität, S. 230 ff. Schild räsoniert: „Man könnte doch die Tat selbst (und als solche) als Rechtsbruch anprangern, in einem öffentlichen Tribunal (und gerade nicht in einem Strafverfahren) als Unrecht entlarven, vor allem durch die Mittel der modernen Mediengesellschaft sittlichen Abscheu vor einer solchen Tat erzeugen (etwa durch Inszenierung eines Theaterprozesses). Überhaupt liegt auf der Hand, daß eine Motivierung von Menschen besser (und jedenfalls milder) durch positive Sanktionen – also Belohnungen – gelingen kann als durch negative Sanktionen wie als Übel empfundene Strafen“ (Lenckner-FS, S. 292). Vgl. auch v. Bar: „Immerhin könnte die Notwendigkeit anerkannt werden, verbrecherischen Personen die Möglichkeit zu nehmen, zu schaden; aber man würde diese Vorbeugungsmaßregel mit möglichster Schonung ausüben, etwa wegen erwiesener verbrecherischer Neigung der Freiheit Beraubten dafür in anderer Weise tunlichst Ersatz schaffen müssen. Es wäre ein Unglück, aber nicht eine Schande, zu den Verbrechern zu gehören“ (Gesetz und Schuld im Strafrecht, Bd. II, S. 7); u. Kargl: „[...] man kann nicht beides gleichzeitig haben wollen: ein Schuldstrafrecht und einen funktionierenden, Grundrechte achtenden Behandlungsvollzug“ (Kritik, S. 288). Zustimmend Scheffler, Kritik, S. 122. Anders J. Baumann, Strafrecht, S. 104 ff. 163 Dies wird zu Recht auch von Schünemann kritisiert (s. Roxin-FS, S. 15). 164 Siehe Kargl, Handlung und Ordnung, S. 192. 165 Dazu oben, S. 43.
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teme, die sie insoweit „autonom“ gegenüber ihrer Umwelt machten, als sie die von außen kommenden Reize ihrer systemischen Eigenart entsprechend verarbeiteten, die Verarbeitung also selber festlegten (sog. „autopoietische Systeme“166).167 „Das System unterliegt demnach keiner Außenlenkung im deterministischen Sinn.“168 Obwohl alles Handeln und Wollen nach Ansicht Kargls auf neuronale Strukturen zurückzuführen ist, schreibt er dem Individuum die Fähigkeit zu, „zwischen den disparaten kognitiven Strukturen [zu] wählen und das eigene Bezugssystem in dieser Hinsicht [zu] korrigieren“169, und versucht so, das (strukturdeterminierte) Wollen als Kontrollinstanz menschlichen Verhaltens zu erhalten. Auf dieser (unfreien) Willensbetätigung basiert die Möglichkeit zur Verankerung eines (objektiven) Vorwurfs. 170 Kargl zufolge ist der Wille also der „Faktor, der in der Gegenwart als affektive Dynamik die Handlung steuert“.171 Aber: „Auch der Wille als regulierender Gefühlsimpuls unterliegt den Wandlungen des Systemzustands.“172 „Ebenso wie die Psyche als Ganze ist der Wille als deren Bestandteil determiniert.“173 Der Mensch sei aufgrund seines Bewusstseins als „selbstbeobachtendes System“174 zu Selbst- und Fremdreferenz fähig.175 Die Informationen, die hierdurch entstünden, bewirkten ihrerseits wieder „Veränderungen im Bewußtsein bzw. im Gehirn“:176 „Es ist nun genau diese Disposition zur Selbstreflexivität und zur damit gegebenen Motivationsänderung, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, an Menschen ethische Erwartungen zu richten.“177 „Jeder soll sich mit den Faktoren aus_________________ 166 Der Begriff der Autopoiesis wurde von den chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela geprägt und leitet sich von den altgriechischen Wörtern für „selbst“ und „machen“ ab. Zum Konzept der Autopoiese gehören Selbstreferentialität (interne Steuerung eigener Zustände), operative Geschlossenheit (äußere Reize können nur als Selbstveränderung wahrgenommen werden) und strukturelle Kopplung (das System wählt den Kontakt zur Umwelt selber aus). 167 Vgl. Kargl, Handlung und Ordnung, S. 178 ff. 168 Kargl, Handlung und Ordnung, S. 194. 169 Kargl, Handlung und Ordnung, S. 521, sowie S. 191. Dies erinnert an eine Abwandlung von der Lehre des Anders-handeln-Könnens in eine Form des „Anderseinstellen-Könnens“ (vgl. Hardwig, MschrKrim 1961, S. 202 f.), womit ein „Rückzug“ aus der Problematik der Handlungsfreiheit in die Frage der Willensfreiheit, freilich wiederum als „schwacher“ Freiheitsbegriff, angetreten wäre. 170 Vgl. Kargl, Handlung und Ordnung, S. 204 ff. 171 Kargl, Handlung und Ordnung, S. 504. 172 Kargl, Handlung und Ordnung, S. 518. 173 Kargl, Handlung und Ordnung, S. 517. 174 Siehe Kargl, Handlung und Ordnung, S. 85. 175 Vgl. Kargl, Handlung und Ordnung, S. 83 ff. 176 Siehe Kargl, Handlung und Ordnung, S. 520. 177 Kargl, Handlung und Ordnung, S. 522; ähnlich Jakobs, Schuldprinzip, S. 23 ff. Auch Graf zu Dohna erkennt beim Menschen „die allgemeine Fähigkeit [...], sein Ver-
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einandersetzen, die sein vergangenes Handeln steuerten. Soweit der Handelnde in der Vergangenheit andere Mitglieder der Gruppe schädigte, erscheint überdies die Erwartung berechtigt, die erkannte Handlungsdisposition zu verändern. Die neue, auf Tadel verzichtende und Strafe in hohem Maße modifizierende Verantwortlichkeit besteht in der sozialen Erwartung, die eigene Person zu erkennen und gemäß dieser Erkenntnis eine Handlungsdisposition zu verändern.“178 Diese Erwartungshaltung gegenüber dem Individuum, die „richtige“ Wahl zu treffen, beruht auf der Annahme, dass die Person zum einen erkennen kann, dass ihre Handlungen von ihren Entscheidungen abhängen, und zum zweiten, dass die Person ihre Motivation durchschauen und durch Selbstreflexion ihr Bezugssystem korrigieren kann.179 Dadurch, dass Kargl hier von der Außenperspektive in die Innenansicht des Individuums wechselt, übergeht er jedoch die objektiv zugrundeliegenden Voraussetzungen dieser These. Zunächst müsste eine Person in der Lage sein, die tatsächlichen Gründe für ihr Verhalten und die Erwartungshaltung zu erkennen. Hier beginnt Kargl zu relativieren, indem er ausführt: „[...] aber der Selbstbeobachtung sind sicherlich die dominierenden Erwartungsstrukturen zugänglich.“180 Für sicher bewiesen hält Kargl diese „Zugänglichkeit“ also nicht. Ihre Realität bleibt somit unklar; dennoch bildet sie eine entscheidende Voraussetzung von Kargls Theorie. Gerade wenn sich aber menschliches Verhalten und Denken auf die Funktionsweise eines neuronalen Systems zurückführen lässt, bedarf es einer Erklärung, wie die Erwartungsstrukturen der Selbstbeobachtung zugänglich sein sollen. Außerdem erläutert Kargl nicht schlüssig, inwiefern das Individuum aus der Retrospektive zu dem Ergebnis gelangen muss, eine Entscheidung gefällt zu haben; könnte doch das Individuum seine anfänglich als „Wahl“ verstandene Handlung nun im Lichte ihrer strukturellen Determination und damit gerade als „unfrei“ verstehen. Daneben müsste sich das Verhalten einer Person tatsächlich auf ihren Willen beziehungsweise ihre Entscheidung zurückführen lassen.181 Wenn Kargl _________________
halten nach Vernunftsgründen zu bestimmen [...]“ (Rechtsphilosophie, S. 86); und ähnlich mutet auch die Position M. Köhlers an: „Der Täter muß also, nicht bloß theoretisch, sondern im praktisch-konkreten Selbstbestimmungsprozeß sich setzen und realisieren als (potentiell) Vernünftigen, der partikulär nach vernunftswidriger [...] Handlungsmaxime gehandelt hat“ (Strafe, S. 36). 178 Kargl, Handlung und Ordnung, S. 522. 179 Diese beiden Voraussetzungen stellt Kargl selbst als Grundlage seiner Theorie heraus (vgl. Handlung und Ordnung, S. 522). Vgl. ferner Kargl, Handlung und Ordnung, S. 198 u. 521, sowie unter dem Stichwort „Freiheit“ auf S. 581; ders., Vorsatz, S. 104. 180 Kargl, Handlung und Ordnung, S. 198 u. 521. 181 Kargl kommt, ausgehend von der experimentell bestätigten Tatsache, dass sich neuronale Aktivität regelmäßig über verschiedene Teile des Kortex erstreckt, zu der Schlussfolgerung, dass bewusstes Erleben „aus den Interaktionen vieler Millionen von Nervenzellen“ resultiere, um hieran anzuhängen, dass es gleichzeitig „Ursache und Ausgangszustand für die Veränderung solcher Erregungsmuster“ sei. (s. Kargl, Hand-
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darauf abstellt, die Wahl des Individuums sei keine Selbsttäuschung, weil das Individuum nicht wisse, wie es determiniert sei, dann wird auch dieser Aspekt lediglich aus der Innenansicht des Individuums erklärt, obwohl man Kargls Konzept zufolge aus objektiver Sicht gerade zu dem Ergebnis einer Selbsttäuschung gelangen müsste, denn aus der Außenperspektive verneint er konsequent jegliche Freiheit.182 So bemerkt er selbst: „Aber auch hier bleibt entscheidend, daß diese Wahl stets nur auf der Basis der eigenen Geschichte struktureller Koppelungen erfolgen kann. Das schließt eine Wahl ex nihilo aus und eröffnet deshalb keine Chance für eine Wiederbelebung des herkömmlichen _________________
lung und Ordnung, S. 86 f., insb. Fn. 43). Die von ihm genannten Forschungen, insb. die Experimente Libets (dazu unten, S. 252 ff.), unterstützen zwar die These, dass bewusstes Erleben in Abhängigkeit von neuronaler Aktivität steht, der umgekehrte Fall, Bewusstsein als Ursache neuronaler Aktivität, hat aber eine ganz eigene Tragweite, die Kargl nicht durch empirische Erkenntnis erhärtet. Die Komplexität neuronaler Prozesse bietet hierfür keine Begründung. Diese Problematik findet sich in ähnlicher Form bei Luhmann, wenn er das Bewusstsein als autopoietisches System darzustellen versucht. Jeder Strukturbildungs- und Strukturveränderungsprozess des Bewusstseins lasse sich danach zunächst morphogenetisch herleiten (s. Autopoiesis, S. 47), dann jedoch solle auch einem Gedanken die Beobachtung eines anderen Gedankens als Vorstellung dazu dienen, „sich selbst zu finden, sich in der diffusen Aktualität des Moments kurzfristig zu lokalisieren und den Übergang zum nächsten Moment zu regulieren“ (ebd., S. 48). Durch den Kontakt mit anderen Systemen und einer mittels Selbst- und Fremdreferenz erworbenen Erwartungshaltung könne ferner das Erleben bestimmter Vorstellungen als anormal herausgebildet werden. „Am Recht kann man ablesen, ob man die Erwartung als berechtigt festhalten kann oder ob man sie aufgeben muß“ (ebd., S. 50). Es bleibt aber ungeklärt, wie sich diese Erwartungsregulation praktisch vollzieht. Luhmann erwähnt zwar die Kopplung der Genese komplexer Bewusstseinssysteme mit dem neurophysiologischen System des Körpers (s. ebd., S. 51), geht hierauf allerdings nicht weiter ein. 182 Siehe Kargl, Handlung und Ordnung, S. 183. Aufgrund dieser Inkonsequenz ist auch der Einwand Gössels berechtigt, soweit er Kargl entgegenhält, der Mensch könne die Elemente des Handelns schon vorausschauend erkennen und sein Entscheidungsverhalten daran und unter zusätzlicher Heranziehung normativer Gesichtspunkte ausrichten (s. GA 1993, S. 134). Damit übergeht Gössel ebenso wie Kargl selber die objektive Unfreiheit des hier skizzierten Individuums. Auch Klaus Günthers Theorie einer „kommunikativen Freiheit“ vermag vor dem Hintergrund eines determinierten Individuums nicht zu überzeugen. Fraglich ist wie bei Kargl bereits, ob das Individuum tatsächlich imstande ist, den von ihm akzeptierten Gründen zu folgen (s. K. Günther, Freiheit, S. 246), bzw. ob es von seiner „kritischen Stellungnahme abhängt“, ob und wie es handelt (s. K. Günther, Freiheit, S. 247 u. 257). Nach Klaus Günther soll dem Individuum hieraus die Möglichkeit erwachsen, „der Norm zumindest äußerlich zu folgen“ (Freiheit, S. 255). Wenn aber auch Gründe auf determinierenden Ursachen beruhten, wäre nicht ersichtlich, wie das Individuum über seine (handlungsleitenden) Gründe bzw. über die damit korrespondierenden Ursachen disponieren und damit den Normbruch vermeiden könnte (vgl. dazu ausführlich R. Merkel, Philipps-FS, S. 437 ff.).
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Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld
Schuldprinzips, das die Bedingtheit der Wahl letztlich leugnen muß.“183 Dabei lässt er es bewenden und versäumt so, den Widerspruch zwischen struktureller Determination und einer „Wahl“ des Individuums zu lösen. Denkt man das Prinzip struktureller Determination aber konsequent zu Ende, gibt es keine „Wahl“ des Individuums. Diese kann sich zwar als ein subjektives Erleben darstellen, die Selbst- und Fremdreflexion aber, welche die Verantwortlichkeit des Individuums begründen soll, ist selber abhängig von den strukturellen Bedingungen des neuronalen Systems. Es stellt sich also die Frage, an wen oder vielmehr an was sich die Erwartungshaltung, die Handlungsdisposition zu verändern, richten soll. Ein neuronales System „wählt“ nun einmal nicht. Daneben lässt Kargl auch das Problem enttäuschter Erwartungen der Gesellschaft auf sich beruhen. Können aber von dieser, wie Kargl behauptet, berechtigte Erwartungen an das Individuum gestellt werden, so begründet allein deren Enttäuschung eine resultierende Vorwurfshaltung, die sich kaum von einer „negativen Bewertung“ der abweichenden Person, einer „moralischen Missbilligung“ oder einem „sozial-ethischen Unwerturteil über den Täter“184 wird abgrenzen lassen. Wird sie aber einem Individuum gegenüber zum Ausdruck gebracht, das objektiv nicht anders handeln konnte, dann kann auch die Vorwurfshaltung selber objektiv nur unberechtigt sein. Trotz aller Kritik an der theoretischen Unterlage ist hervorzuheben, dass Kargl so konsequent ist, keinen persönlichen Vorwurf gegenüber dem Täter zu erheben, und außerdem die Gemeinschaft mit in die Verantwortung für ein Vorgehen einbeziehen will, das auf die Veränderung des neuronalen System eines Straftäters im Modus des „Lernens“ zielt. Der Täter wird danach nicht bestraft, sondern zum Lernen angehalten: „Erkenntnis und Veränderungsarbeit sind keine Übel.“185 Dabei wird der Lernprozess durch „ein gewisses Maß an positiver Haltung“ des Gemeinwesens gefördert, durch „moralische Feindschaft“ dagegen behindert oder sogar unterdrückt.186 Soweit ist Kargl zuzustimmen. Einzuwenden bleibt, dass Erkenntnis und Veränderungsarbeit für sich genommen keine Übel bedeuten mögen; der Zwangseingriff des Staates in die Lebensführung des Einzelnen – und erfolgte er noch so behutsam – ist es aber immer.187 _________________ 183 Kargl, Vorsatz, S. 104; vgl. auch die Feststellung Kargls, dass wir zwar handeln könnten, wie wir wollen, aber nicht wollen könnten, wie wir wollen (s. Handlung und Ordnung, S. 203). 184 Diese Haltungen gegenüber der delinquenten Person werden von Kargl ausdrücklich abgelehnt (vgl. Handlung und Ordnung, S. 214). 185 Kargl, Handlung und Ordnung, S. 213. 186 Siehe Kargl, Handlung und Ordnung, S. 214. 187 Vgl. auch Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 84, und Jakobs: „Selbst der Umstand, dass überhaupt dem Täter zugerechnet und gegen ihn reagiert wird, kennzeichnet ihn als Konfliktursache und bestätigt damit die Norm“ (StrafR AT, 1/37, 55).
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf
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4. Zusammenfassung Schuldlehren, die von einer „absoluten“ Freiheit des Menschen Abstand zu nehmen versuchen, begegnen folgenden Problemen, wenn es um die Begründung der Berechtigung eines Schuldvorwurfs geht: Wird von einem Ursachenzusammenhang zwischen Wille und Verhalten als „quasi-empirischer“ Aussage über den Menschen ausgegangen, dann ist bereits dieser Zusammenhang unbewiesen.188 Die Annahme eines solchen Zusammenhangs verleitet indes dazu, dem Menschen einen Einfluss auf seine Willensbildung zuzuschreiben, der es ihm ermöglicht, sein Verhalten nach gesellschaftlichen Normen auszurichten, sei es durch Erkennen motivationaler Faktoren (Kargl), durch die Wahl einer normativ richtigen Motivation (Jakobs) oder durch Aufwendung gebotener Besorgnis (Engisch). Dazu müsste das menschliche Bewusstsein Zugang zu den Variablen haben, die das Verhalten (mit-)bestimmen, das heißt die Variablen müssten selber bewusstseinsfähig sein und das Bewusstsein müsste auf sie Einfluss nehmen können. Liegt der Anknüpfungspunkt der Schuld hingegen nicht in der Willensbildung, so wird er darin gesehen, dass der Täter sich anders verhalten hat, als dies „andere“ an seiner Stelle getan hätten (Graf zu Dohna). Die Annahme, auch der Täter hätte sich im Prinzip ebenso verhalten können wie andere, die das Delikt nicht begangen hätten, setzt eine hinreichende Ähnlichkeit der psychischen beziehungsweise kognitiven Struktur und damit eine annähernd gleiche emotionale wie rationale Verarbeitung äußerer Einflüsse bei allen Menschen voraus. Dass der Täter sich auch normgemäß hätte motivieren und sein Verhalten danach ausrichten können, ist eine Prämisse, die natürlich auch schon die zuvor genannten Lehren voraussetzen. Ferner werden rechtsethische Probleme aufgeworfen, wenn Schuld und Strafe den unvermeidbar Handelnden bessern sollen (Engisch, v. Liszt). Begrifflich verwirrend ist schließlich die Verwendung des Wortes „Schuld“, wenn das Verhalten der Person nicht vermeidbar war. Dabei entsteht der Anschein, es werde versucht, das Schuldstrafrecht ungeachtet des mit ihm korrespondierenden sozialethischen Tadels mit einer deterministischen Grundlage in Einklang zu bringen, indem der Tadel – jedenfalls in der Theorie – auf ein „Nullum“ reduziert wird.189 Man müsse, so Paul Merkel, „auch wenn man auf dem Standpunkt steht, daß jeder Willensentschluß, einerlei ob bewußt oder unbewußt, _________________ 188
Vgl. dazu oben, S. 36 ff. Die Juristen gehen – im Gegensatz zu Schopenhauer – regelmäßig von einem „quasi-empirischen“ Kausalzusammenhang aus (vgl. z. B. Loening, Vorlesungen, S. 23), wie sich auch im folgenden Teil der Arbeit noch deutlicher zeigen wird. 189 Vgl. auch v. Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, S. 42 u. 48; Achenbach, Zurechnung, S. 137. Zur Funktion des Schuldspruchs als „sozialer Tadel“ vgl. die Kritik Lampes insoweit, als er darauf hinweist, dass dies an den „harten Tatsachen“ vorbeigehe (s. Strafphilosophie, S. 226 f. m. w. N.).
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Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld
ursächlich bedingt ist, [...] nicht zu dem Ergebnis kommen, die Möglichkeit der Schuld und damit den Sinn der Strafe zu leugnen“.190 Hier liegt jedoch das entscheidende rechtsethische Problem und hier finden sich die wenigsten Argumente. Daher wird man Roeder beipflichten müssen, wenn er bemerkt: „Das Verantwortlichkeits- und Schuldproblem darf mit Fug als die ,Achillesferse‘ des Determinismus bezeichnet werden.“191
5. Exkurs: Neuere Ansätze in der deutschen Philosophie Auch in der deutschen Gegenwartsphilosophie wird das Problem einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit trotz determinierten Verhaltens eher stiefmütterlich behandelt. Zwar haben die neurowissenschaftlichen Forschungen, die bisher noch nicht zur Sprache gekommen sind, mit denen sich aber der dritte Teil dieser Arbeit auseinandersetzen wird, in den letzten Jahren die philosophische Freiheitsdebatte wieder neu aufleben lassen. Der bisherige Ertrag dieser Theorien für einen strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriff geht dabei jedoch gegen Null. Denn es gibt noch kaum eine philosophische Auseinandersetzung damit, was „Verantwortung“ und speziell „strafrechtliche Verantwortung“ eigentlich meint.192 Die kompatibilistische Position in der Freiheitsdebatte hat dabei insbesondere durch die Neurowissenschaften gewissermaßen „Rückenwind“ bekommen. Obwohl man sich in der Wissenschaft seit langem weitgehend darüber einig ist, dass Mentales immer nur in Abhängigkeit von (determinierten) neuronalen Prozessen stattfindet (man spricht von „neuronalen Korrelaten“, weil nach wie vor ungeklärt ist, wie genau diese Abhängigkeit zu verstehen ist), haben die neurowissenschaftlichen Forschungen diesen Zusammenhang jedenfalls so beeindruckend bestätigt, dass die damit mögliche Determination alles Mentalen zu neuen Überlegungen in der Freiheitsdiskussion Anlass gegeben hat. Dabei haben auch die neurowissenschaftlichen Forschungen – das sei vorweggenommen – das Geist-Gehirn-Problem über eine Erhärtung der Annahme einer gerichteten Abhängigkeit (Mentales vom Physischen – nicht umgekehrt) hinaus nicht weiter erhellen können. Ausgehend von der Annahme, dass möglicherweise alles Denken und Handeln in Abhängigkeit von neuronaler Aktivität und insofern determiniert stattfindet, versuchen die deutschen Philosophen Peter Bieri und Michael Pauen zu zeigen, dass auch in diesem Fall am Schuldstrafrecht festgehalten werden könne. Ihre Freiheits- und Schuldkonzeptionen sollen daher hier exemplarisch untersucht werden. _________________ 190
P. Merkel, StrafR AT, S. 96. Roeder, Willensfreiheit, S. 169. 192 Diesen Misstand rügt jetzt Pothast, Verantwortlichkeit, S. 113 ff. – Vgl. immerhin den Sammelband „Verantwortung“, hrsg. v. Kurt Bayertz, der allerdings für einen Begriff der spezifisch strafrechtlichen Verantwortlichkeit ebenfalls praktisch nichts hergibt. 191
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a) Personale Freiheit nach Bieri Berücksichtigt man die neurowissenschaftliche Forschung, so stehen sich nach Bieri zwei Einsichten gegenüber: Alles Fühlen, Denken und Handeln ist determiniert durch neuronale Prozesse; und: der Mensch kann dennoch das zutreffende Gefühl einer Wahl haben. Für Bieri sind dies zwei Wahrheiten, von denen keine näher an der Wirklichkeit ist als die andere. Sie seien koexistent und kompatibel. Das Individuum sei frei und damit verantwortlich, wenn sein Wille mit seinem Urteil übereinstimmt. Es sei eine Freiheit der „Plastizität des Willens relativ auf das Urteilen“. Und dies sei genau das Verständnis von Willensfreiheit, das bei der Zuschreibung von Verantwortung auch im Strafrecht leitend sei. Selbst wenn die neuronalen Korrelate des Urteilens und des Wollens determiniert seien, so ließe sich noch immer sagen, dass die kausale Abfolge von neuronalen Korrelaten, die zunächst eine Überlegungsepisode hervorrufen und anschließend eine Wollensepisode, zu Verantwortlichkeit für die sich anschließende Handlung führen. Das Wollen hätte also anders ausfallen können, wenn die neuronalen Korrelate der Überlegungsepisode andere gewesen wären. Hierin liege der Spielraum von Möglichkeiten, der den intuitiven Kern der Freiheitsidee ausmache. Dagegen führe eine Störung der neuronalen Korrelate der Überlegungsepisode, die bewirkt, dass zwar eine Wollensepisode und eine anschließende Handlung eintritt, denen aber keine Überlegungsepisode vorangeht, dazu, dass auch keine Verantwortung für die Handlung zugeschrieben werden könne. Sie entfalle beispielsweise durch einen Rausch der Gefühle, im neurotischen Wiederholungszwang und in der psychotischen Erkrankung.193 Dies ist gewiss eine richtige Herangehensweise, will man Verantwortlichkeit und neuronale Determination vereinen. Bieri verkennt allerdings sicherlich nicht, dass auch solche Überlegungsepisoden nur auf der Grundlage neuronaler Korrelate möglich sind, und dass diese als Natur- (nämlich physiologische) Vorgänge ebenfalls nur so, wie sie waren, sein konnten und keine anderen hätten sein können, es sei denn, dass es sich um ein anderes Individuum oder das konkrete Individuum mit einer anderen Vergangenheit beziehungsweise einer aktuell anderen Umgebung gehandelt hätte. Wie auch immer: Die Handlung konnte von diesem konkreten Individuum mit seiner Vergangenheit und in seiner Situation nicht vermieden werden. Beruhe aber, so Bieri, das subjektiv erlebte Wollen auf einem subjektiv erlebten Urteil, dann entstehe begründete Verantwortung. Die psychologischen Grundannahmen der Abfolge von Urteil und Wollen sollen hier undiskutiert bleiben, denn das würde am Wesentlichen vorbeiführen. Jedenfalls festhalten wird man zunächst einmal müssen, dass die Abfolge Urteil _________________ 193
Bieri, Schadet die Regie des Gehirns der Freiheit des Willens? (unveröffentlichtes Manuskript).
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Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld
– Wollen ein persönliches Erlebnis des Individuums aus seiner Innenperspektive ist. Nun kann unterstellt werden, dass ein solches subjektives Erlebnis auch von anderen Individuen erfahren wird und dass es in den von Bieri genannten Zuständen des Rausches und der psychotischen Erkrankung nicht auftritt. Daraus ließe sich möglicherweise eine objektivierte Zuschreibung von Verantwortung aus der Außenperspektive nur in den ersteren und nicht in den letzteren Fällen ableiten. Schwierigkeiten werfen allerdings die Fälle auf, in denen Individuen subjektiv ein auf ihrem Urteil beruhendes Wollen mit anschließender Handlung erleben, während aus der Sicht eines Dritten das Individuum zum Zeitpunkt der Tat in der Fähigkeit „denkend Kontrolle über seinen Willen auszuüben“, wie es Bieri formuliert, beschädigt war. Das dürfte schon bei durchaus geläufigen Formen von Wahnvorstellungen der Fall sein. Man stelle sich einen Täter vor, der sich nach seiner Überzeugung aus freien Stücken entschließt, der nächtlichen Bitte eines Erzengels zu entsprechen und eine bestimmte Person in seiner Nachbarschaft zu töten, weil diese der leibhaftige Teufel sei und die Menschheit bedrohe. Beispiele geben auch die Fälle schlechthin uneinsichtiger geistig Kranker oder der von dem amerikanischen Philosophen Harry Frankfurt gebildete Fall eines Suchtabhängigen, dem seine Sucht unbemerkt geblieben ist und der sich aufgrund eines (vermeintlich) „freien“ Urteils dazu entschlossen hat, die Droge zu nehmen.194 Anführen kann man schließlich auch den theoretischen Beispielsfall eines Menschen, dessen Gehirn von einem Neurologen so manipuliert wurde, dass er zwar allein die vom Neurologen gewünschten Handlungen, aber wiederum aus einem als subjektiv frei erlebten Entschluss ausführt. In allen diesen Fällen schreiben wir keine Verantwortung zu. Die Frage ist, warum nicht? Aus dem subjektiven Erleben lässt sich dieses Ergebnis mit Bieri ersichtlich nicht herleiten, denn dem Wollen ging hier jedenfalls ein Urteil voraus, das sich subjektiv in nichts von dem Urteil eines „normalen“ Handelnden unterscheidet. Der Handelnde erlebt hier keinerlei psychischen oder physischen Zwang. Die Antwort „Das machen wir eben so“ wäre erkennbar unbefriedigend; insbesondere besagte sie nichts zu den sachlichen Kriterien der Differenzierung zwischen Verantwortlichkeit und Verantwortungsausschluss. Auch würde vermutlich niemand bestreiten, dass in allen diesen Fällen das Urteil des Handelnden nicht anders ausfallen konnte, weil die neuronalen Systeme des uneinsichtigen Kranken, des unbemerkt Drogensüchtigen und des Hirnmanipulierten genau so gestört waren, dass sie kein anderes Urteil zuließen. Damit wird aber zugleich deutlich, warum diese Theorie in der Erklärung strafrechtlicher Schuld Lücken lässt. Denn wenn ein subjektiv erlebtes Urteil abhängt von determinierten neuronalen Aktivitäten, dann erfolgen die Urteile _________________ 194
Siehe Frankfurt, Das Problem des Handelns, S. 72.
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf
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„normaler“ Menschen ebenso zwingend und neuro-kausal bedingt wie die Urteile in diesen Beispielsfällen. Die Differenzierung kann deshalb nicht darin liegen, dass das Urteil in den pathologischen Fällen nicht anders hätte ausfallen können, denn das kann es dann eben auch in den anderen nicht, sondern nur in etwas, das wir als „Störung“ bezeichnen. Und hier gibt es die bekannte Problematik der §§ 20, 21 StGB, ob und wann eine Störung Krankheitswert besitzt oder überhaupt als Störung gilt.195 Schaut man sich verschiedene Gehirne an, wird man Unterschiede feststellen können; was aber als Störung gilt und was nicht, das sind letztlich Wertungen der Mediziner, die durch eine Zusammenfassung einerseits dessen entstehen, was „relativ ähnlich“ ist und den Großteil des Bekannten ausmacht, und andererseits dessen, was nicht mehr in diesen Bereich fallen soll. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: In dem Wissenschaftsmagazin „New Scientist“ wurde im Oktober 2002 über einen Lehrer berichtet, der im Alter von ca. 40 Jahren plötzlich auffälliges sexuelles Verhalten zeigte.196 Der zuvor vollkommen unauffällig lebende Mann verabredete sich nun mit Prostituierten und konsumierte Kinderpornographie im Internet. Als ihm wegen sexueller Belästigung von Kindern von einem Gericht die erfolgreiche Teilnahme an einer Therapie als Ersatz für eine Gefängnisstrafe auferlegt wurde, konfrontierte er dort weiterhin Frauen mit seinen sexuellen Wünschen, sodass die Therapie abgebrochen werden musste. Am Abend bevor er sich in das Gefängnis zu begeben hatte, wurde er in einem Krankenhaus untersucht, weil er über starke Kopfschmerzen klagte. Außerdem gab er an, er habe Angst, er könnte seine Vermieterin vergewaltigen. Im Krankenhaus wurde ein Tumor in seinem Kopf diagnostiziert, nach dessen Entfernung der Mann überraschenderweise zunächst keine Auffälligkeiten mehr zeigte. Nach einigen Monaten kamen die Kopfschmerzen und mit ihnen das Interesse an pornographischem Material jedoch zurück. Wie die Ärzte feststellten, war der Tumor nachgewachsen. Nach seiner erneuten Entfernung normalisierte sich das sexuelle Verhalten des Lehrers wieder. Natürlich verursachte hier nicht der Tumor selbst die auffällige sexuelle Neigung des Lehrers, aber er veränderte die neuronalen Verbindungen im Gehirn des Lehrers so, dass diese Neigung entstand. Wenn sich aber Pädophilie, die auch in Deutschland unter Strafe gestellt ist (§§ 176–176b StGB), schlicht dadurch erklären lässt, dass neuronale Verbindungen im Gehirn von Pädophilen anders verlaufen als bei Nichtpädophilen, dann fällt es schwer zu verstehen, warum Pädophilen etwas vorgeworfen wird, das etwa so (un-)vermeidbar ist wie Homosexualität. Die Strafbarkeit homosexueller Handlungen (ehemals _________________ 195
Vgl. dazu NK-Schild, § 20, Rn. 9 ff. u. 59 ff. m. w. N. Siehe Choi, Brain tumour causes uncontrollable paedophilia, New Scientist v. 21.10.2002. 196
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§ 175 StGB) wurde aufgehoben. Jugendliche werden vor bestimmten sexuellen Handlungen weiterhin, nun aber unabhängig vom Geschlecht des Täters und des Opfers, durch § 182 StGB geschützt. Damit ist auch die moralische Abwertung Homosexueller aus dem Strafgesetzbuch verschwunden. Wenn sich auch in dem Fall des Lehrers für die „sexuelle Störung“ eine medizinische Ursache, nämlich der Tumor, finden ließ, die ihn nach deutschem Recht für sein Verhalten exkulpiert hätte, so liegt es doch sehr nahe anzunehmen, dass Pädophilie auch in anderen Fällen nicht durch eine vorwerfbare Gesinnung, sondern durch bestimmte neuronale Verschaltungen hervorgerufen wird, auf die der Pädophile keinen willentlichen Einfluss hat.197 Dieser Gedanke lässt sich natürlich weiterspinnen: Wenn der Pädophile durch seine neuronalen Strukturen determiniert ist, wie steht es dann mit dem Mörder oder dem Dieb? Bieri geht von der Überlegung aus, dass jeder Mensch durch seine neuronalen Strukturen determiniert sein könnte, will den Schuldvorwurf aber weiterhin gegen die einen erheben und gegen die anderen nicht. § 20 StGB scheint seine Grenze aber gerade dort zu ziehen, wo Determination ins Spiel kommt. Denn der Gesetzgeber geht davon aus, dass unter den von ihm in § 20 genannten Voraussetzungen Unrechtseinsicht nicht gebildet oder das Verhalten nach dieser Einsicht nicht ausgerichtet werden konnte. Das heißt aber im Umkehrschluss, dass dies nach der dem Gesetz zugrunde liegenden Annahme in allen übrigen Fällen hätte geschehen können. Damit unterstellte der Gesetzgeber bei der Formulierung des § 20 aber offensichtlich, dass das deliktische Verhalten im Normalfall wirklich hätte vermieden werden können. Denn natürlich ließe sich auch in den Fällen des § 20 sagen: Wenn die von dessen Merkmalen umschriebenen Defekte nicht vorhanden gewesen wären, hätte die erforderliche Einsicht gebildet werden können. Eine Möglichkeit zu einem „Anders-handeln-Können“ ließe sich also auch in diesen Fällen formulieren. Verstünde man die Möglichkeit des „Anders-handeln-Könnens“ insoweit nur als eine Art „Gedankenexperiment“ und nicht als reale Möglichkeit, dann müssten aber die Gründe für die Unterscheidung zwischen Schuldigen und nicht Schuldigen anders formuliert werden. Auf der realen Fähigkeit zum „Anders-handeln-Können“ könnten sie dann nämlich nicht mehr beruhen. Es gibt aber noch eine zweite grundsätzliche Kritik an der These Bieris. Denn Bieri begründet nicht lediglich irgendeine Verantwortlichkeit, er begründet die strafrechtliche Verantwortlichkeit198 und damit eine Verantwortung, die einen von Seiten des Staates erhobenen moralischen Vorwurf muss legitimieren _________________ 197
Vgl. auch Singer: „Den gleichen Effekt wie makroskopisch feststellbare Läsionen können jedoch unsichtbare Fehlverschaltungen haben, die ihrerseits auf vielfältigste Ursachen zurückgehen können“ (DZPhil 53 [2005], S. 712). 198 Bieri, Schadet die Regie des Gehirns der Freiheit des Willens? (unveröffentlichtes Manuskript).
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können.199 Akzeptiert man die Differenzierung zwischen verantwortlich und nichtverantwortlich, so bietet dies noch keine Lösung für das Problem der Rechtfertigung des moralischen Vorwurfs. Berührt ein Verhalten in seiner objektiven Wirkung eine Gesellschaft in einer bestimmten „unerträglichen“ Weise, dann genügt dies allein noch nicht für einen moralischen Vorwurf. Hinzukommen muss nach Bieri, dass das handlungsleitende Wollen des Täters auf dessen Urteil beruhte. Mussten aber sowohl Wollen als auch Urteil so eintreten, wie sie es taten, dann fragt sich, was hier vorgeworfen werden kann, denn auch das Urteil hat ja, wie bereits angemerkt, ein neuronales Korrelat, das durch die ihm unmittelbar vorangegangene neuronale Struktur bedingt wurde. Die Überlegung, dass das Handeln eben gegen eine Strafnorm verstieß, führt ersichtlich in einen Zirkelschluss. Man wird sich also damit auseinandersetzen müssen, warum psychische Zustände, deren neuronale Korrelate auf subpersonaler Ebene „determiniert“ sind, geeignet sein sollen, einen moralischen Vorwurf des Staates gegen die Person zu legitimieren. Bieri lässt hier eine Antwort vermissen.
b) Minimalistische „Selbstbestimmung“ nach Pauen Nach Pauen ist Verantwortlichkeit dann gegeben, wenn zwei Kriterien erfüllt sind: die Handlung darf nicht vollständig von außen determiniert sein – Pauen redet in diesem Fall von Autonomie –, und die Handlung muss mit einer Person so verbunden sein, dass diese Person als Urheber der Handlung erscheint. Liegen diese Kriterien vor, dann gilt die Handlung als „selbstbestimmt“. Dabei wird der Begriff der Selbstbestimmung nicht so verstanden, wie oben200 aus indeterministischer Sicht skizziert. Gemeint ist also nicht die Verursachung einer Handlung durch einen Willen als „causa sui“, sondern sie ist nach Pauen, wie gesagt, bereits dann „selbstbestimmt“, wenn die Kriterien der Autonomie und der Urheberschaft vorliegen.201 Autonomie ist immer dann gegeben, wenn die Person äußere Handlungsfreiheit besitzt, also nicht durch externe Zwänge zur Handlung veranlasst wird.202 Das Kriterium der Urheberschaft soll zurechenbare Handlungen von zufälligem Geschehen abgrenzen. So könnten beispielsweise Zweifel an der Zurechenbarkeit aufkommen, wenn man erführe, dass eine Handlung „überstürzt“ vollzogen wurde.203 _________________ 199 Vgl. auch Hillenkamp: „Auch stieße ein Vorwurf ohne eine solche [Willens-] Freiheit ins Leere“ (JZ 2005, S. 316). 200 Vgl. S. 27. 201 Vgl. M. Pauen, Freiheit, S. 86. 202 Siehe M. Pauen, Freiheit, S. 60 ff. 203 Vgl. M. Pauen, Illusion, S. 84 f.
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Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld
Liegen diese zwei „Minimalkriterien der Freiheit“ vor, dann ist die insoweit „selbstbestimmte“ Handlung dadurch gekennzeichnet, dass in ihr das „Selbst“ der Person, also ihre Überzeugungen, Charaktermerkmale oder Bedürfnisse, die für sie typisch sind, zum Ausdruck gelangen. Dazu benötigt jede Person bestimmte „personale Fähigkeiten“ und spezifische „personale Präferenzen“. Solche personalen Fähigkeiten hat eine Person, wenn sie in der Lage ist, Handlungsoptionen als solche und die Konsequenzen der Optionen zu erkennen. Sie muss fähig sein, ihre ganz persönlichen Präferenzen, die „personalen Präferenzen“, gegeneinander abzuwägen und die für sie optimale Handlungsoption umzusetzen – kurz: sie muss ein Mindestmaß an Rationalität und Willensstärke besitzen. Für die Frage, wie die personalen Präferenzen zu bestimmen sind, damit von Freiheit gesprochen werden kann, bezieht Pauen nun einen „liberalen“ Standpunkt, akzeptiert also insofern einen weiten begrifflichen Rahmen. Er geht davon aus, dass eine Person ihre Präferenzen im Prinzip korrigieren und aufgeben kann.204 Die Person ist nach Pauen also verantwortlich für jede Handlung, die sie ohne äußeren Zwang und nicht zufällig vollzieht. Dabei ist „zufällig“ der Gegenbegriff zu einer Handlung, in der die personalen Fähigkeiten und Präferenzen einer Person zum Ausdruck kommen. Diese Verantwortlichkeit begründet nach Pauen zugleich Schuld im strafrechtlichen Sinne.205 Betrachtet man zunächst seinen Begriff von „Autonomie“, dann fällt ins Auge, dass diese nach Pauen lediglich durch „äußere Zwänge“ beschränkt sein soll. Es fragt sich dann beispielsweise, ob der Tumor im Fall des pädophilen Lehrers206 ein „äußerer“ Zwang sein soll, und, wenn ja (was ersichtlich naheliegt), worin der Unterschied mit Blick auf die Autonomie zu funktional äquivalenten „Fehlverschaltungen“ des Gehirns ohne Tumor liegen sollte. Pauen erkennt das Problem einer Grenzziehung zwischen inneren und äußeren Zwängen und bemerkt dazu: „Doch unabhängig davon, wo man hier die Grenze zieht, lässt sich festhalten, dass freie Handlungen sich zumindest dadurch von erzwungenen oder von fremd gesteuerten Geschehnissen unterscheiden, dass sie nicht vollständig von außen determiniert sind.“207 Dies ist aber nur die Wiederholung der Prämisse und keine Lösung des Problems. Für die Urheberschaft ist erforderlich, dass Präferenzen willentlich korrigiert werden können. Dies könne eine selbstbestimmte Person leisten, weil sie im Laufe ihrer Entwicklung bestimmte rationale und volitionale Fähigkeiten erwerbe, kraft deren sie dann begründet zu bestimmten eigenen Präferenzen Stel_________________ 204
Siehe M. Pauen, Illusion, S. 59 ff.; ders., Freiheit, S. 83 ff. Siehe M. Pauen, Illusion, S. 230 ff, 242. 206 Dazu oben, S. 71. 207 M. Pauen, Freiheit, S. 84. 205
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf
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lung nehmen bzw. diese korrigieren könne.208 Mit den Kriterien der Autonomie und der Urheberschaft könnte man also vor dem Vollzug einer Handlung sagen, dass es von der Person P abhängt, ob sie x oder y tut. Dann könne man aber nach dem Vollzug dieser Handlung sagen, dass P auch die jeweils andere Handlung hätte wählen können. P hätte damit, nach Pauen, auch anders handeln können.209 Um zu zeigen, dass diese Prämisse mit dem Determinismus in Einklang steht, formuliert er: „Es wird nicht gefordert, dass die Person sich willkürlich für oder gegen das fragliche Merkmal entscheiden kann, vielmehr kommt es darauf [an], dass die Person einen Willensakt gegen dieses Merkmal auch tatsächlich umsetzen könnte, falls sie einen solchen Willensakt vollziehen würde.“210 Eine Person kann sich also nach Pauen, so scheint es, zwar nicht „willkürlich“, wohl aber mittels ihrer „rationalen und volitionalen Fähigkeiten“ für die eine oder andere persönliche Präferenz entscheiden. Damit möchte Pauen wohl deutlich machen, dass man sich diese Entscheidung nicht als die eines „freien Willens“ im indeterministischen Sinne zu denken habe. Aber auch für die „rationalen und volitionalen Fähigkeiten“ wird man die Frage stellen müssen, wieso sie eine Handlung zu einer selbstbestimmten und damit nach Pauen zu einer „freien“ machen, wenn auch sie von determinierten neuronalen Prozessen abhängen. Wenn man davon ausgeht, dass alles Denken und Handeln durch neuronale Prozesse determiniert ist, dann lässt sich gerade nicht mehr davon reden, dass die inneren Zustände andere hätten sein können. Es kann sich dabei also, will man den Determinismus nicht aufgeben, nur um ein Gedankenspiel handeln, das nicht mehr besagt, als dass statt der tatsächlich vollzogenen Handlung x auch die Handlung y mit den personalen Fähigkeiten und Präferenzen der Person in Einklang gestanden hätte. Dass es eine echte Alternative zu der Handlung x gegeben hat, ist damit aber nicht dargetan. Unter gleich bleibenden äußeren und inneren Bedingungen kann, so auch Pauen, nicht anders, als jeweils geschehen, gehandelt werden; wollte man dies anders sehen, so verließe man die Theorie des Determinismus.211 Auch hier fragt sich also, was einer Person vorgeworfen werden kann, wenn ihre Enscheidungen und Handlungen determiniert eintreten. Sie mag zwar nach den Kriterien von Pauen „selbstbestimmt“ und „frei“ gehandelt haben, einen Anknüpfungspunkt für strafrechtliche Schuld böte diese Theorie aber nur, wenn es in der Kette von Präferenzen und Handlungen irgendetwas gebe, was vorwerfbar wäre. Dies ist aber nicht zu sehen. _________________ 208
Siehe M. Pauen, Freiheit, S. 93. Vgl. M. Pauen, Freiheit, S. 101. 210 M. Pauen, Freiheit, S. 95. 211 Siehe M. Pauen, Freiheit, S. 97. 209
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Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld
c) Kritik: Begriffliche Vermengung von Verantwortung und Schuld Vorgestellt wurden zwei kompatibilistische Freiheitsbegriffe, die die Intuition auf ihrer Seite haben und auch insgesamt durchaus plausibel sind. Mit dem Bezug zum Individuum wohnt beiden das Element einer „Charakterschuld“ inne, wie sie Schopenhauer konzipiert hat.212 Im Gegensatz zu Schopenhauer lassen aber Bieri und Pauen eine Auseinandersetzung mit der Frage vermissen, ob die Verantwortlichkeit einer Person für eine Handlung, so wie sie unter Berücksichtigung einer deterministischen Weltsicht begründet werden kann, auch ausreichend ist für einen strafrechtlichen Schuldbegriff.213 Bieri und Pauen integrieren zwar die Negativvoraussetzungen der §§ 20, 21 StGB in ihren Verantwortlichkeitsbegriff, setzen sich aber mit dem der Schuld immanenten moralischen Vorwurf nicht auseinander. Dies könnte möglicherweise darin begründet sein, dass sie „Schuld“ in einem anderen Sinne verstehen. Pauen zitiert aber ausdrücklich die diesbezüglich sehr klare Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1952 – und auch Bieri dürfte sie bekannt sein –, in der es heißt: „Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können.“214 Zwar kann man in den meisten Fällen unterstellen, dass sich der Mensch für seine Taten verantwortlich fühlt, wenn sie mit seinem Wollen und Urteilen bzw. mit seinen persönlichen Präferenzen übereinstimmen und keine äußeren Hindernisse entgegenstehen. Für einen staatlich erhobenen Schuldvorwurf ist aber ersichtlich mehr als dies erforderlich. Nun kann man mit Pauen auch einen Begriff des Anders-entscheiden-Könnens bilden, der sich nicht im Widerspruch mit der deterministischen Grundannahme befinden mag, oder man stützt sich darauf, dass der Mensch nicht wissen könne, wie er determiniert ist215. Aber auch damit hat man sich dem Verantwortlichkeitsproblem kein Stück weiter genähert. Pothast hat das treffend beschrieben: „Wenn man gesehen hat, dass man Freiheit so bescheiden bestimmen kann, dass kein Konflikt mehr mit einer möglichen Determination besteht, hat man noch gar nichts gesagt über konkrete Gestalt, moralisches Recht, intendierten Zweck und empirisch erforschbare Zweckmäßigkeit der positiven oder negativen (vor allem natürlich der negati_________________ 212
Dazu oben, S. 46 f. Ebenso Guckes, Freiheit, S. 214 f. Eine knappe Diskussion der Straftheorien findet sich bei Guckes (Freiheit, S. 214 ff.), die jedoch – ausgehend von der These, dass es persönliche Schuld nicht gebe – das Strafrecht durch ein reines Maßregel- und Sicherungsrecht ersetzt sehen möchte (s. S. 219). Für eine Vereinbarkeit mit M. Pauens Theorie aber Roxin, StrafR AT/1, § 19, Rn. 45. 214 BGHSt 2, 194, 200. 215 Vgl. dazu oben, S. 43. 213
Kapitel 1: Freiheitsbegriff und Schuldvorwurf
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ven) Sanktionen, die im Namen solcher Verantwortlichkeit verhängt werden.“216 „Schuldig“ kann nur eine Person sein. Der Begriff der Schuld zielt damit immer und ausschließlich auf die Person. Legte man ein deterministisches Weltbild zugrunde, dann dürfte aber nicht die Person moralisch beurteilt werden, sondern die Tat. Bestimmte Taten würden nicht geduldet, Personen würden mit diesen Taten in Zusammhang gebracht werden, weil im Sinne Bieris ihr Wollen mit ihrem Urteil übereinstimmte oder weil sie im Sinne Pauens „selbstbestimmt“ handelten; die der Person gegenüber gebotene moralische Achtung dürfte sich dadurch jedoch nicht verändern. Weil sich aber der Begriff der „Schuld“ auf die Person bezieht, ist ihm der moralische Vorwurf gegen die Person immanent. Roxin unterscheidet zwar zwischen rechtlicher und moralischer Schuld und will letzterer im Strafrecht keinen Platz einräumen.217 Doch geht dies ersichtlich an der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorbei. Wenn Begriffe wie normative oder rechtliche Verantwortlichkeit für eine Tat ausreichen, um das zu beschreiben, was Roxin mit seinem Schuldbegriff beschrieben haben will, dann sollte schon aus Gründen der Klarstellung an ihrer Stelle ein moralisch aufgeladener Begriff, der sich ausschließlich auf die Person bezieht, im Strafrecht nicht verwendet werden.218 Bieri und Pauen vermögen daher zwar Freiheit und Verantwortlichkeit in einer bestimmten Weise zu begründen – wobei die Tauglichkeit dieser Verantwortlichkeitsbegriffe für das Recht gesondert untersucht werden müsste. Wie und warum ihre Konzepte aber mit dem strafrechtlichen Schuldvorwurf kompatibel sein sollen, bleibt offen.219
IV. Überleitung Weil sich aus § 20 StGB ergibt, dass der Gesetzgeber die Fähigkeit, das Verhalten nach der Unrechtseinsicht (sofern vorhanden) auszurichten, für den Normalfall voraussetzt, ist zu klären, ob sich die strafprozessuale Feststellung einer Willensbetätigung auf den Beweis eines (Kausal-)Zusammenhangs zwischen Wille und Verhalten, also die Außenperspektive, reduzieren lässt und welche Anforderungen an einen solchen Beweis zu stellen wären. Sollte die Willensbetätigung einem solchen Beweis nicht zugänglich sein, weil sie nicht in den Bereich unmittelbar überprüfbarer Tatsachen gehört, sondern ein Phä_________________ 216
Pothast, Verantwortlichkeit, S. 128. Vgl. Roxin, StrafR AT/1, § 19, Rn. 46 u. 51. 218 Zum Begriff der Strafe und seinen Implikationen vgl. Pawlik, Person, S. 15 f., 31. 219 Insgesamt ablehnend gegenüber Strafbegründungen, die auf persönliche Schuld verzichten, Hillenkamp, JZ 2005, S. 315 ff. 217
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nomen der Innenperspektive des Individuums ist, dann wäre zu fragen, ob und inwieweit die Willensbetätigung dann ein Gegenstand des Strafprozesses sein kann. Genügen die Methoden zur Feststellung des Zusammenhangs zwischen Wille und Verhalten nicht den Voraussetzungen strafprozessualer Beweisführung, dann wirft dies, unter der Prämisse, dass die Willensbetätigung überhaupt eines Beweises bedarf, verfassungsrechtliche Probleme auf. Diese Prämisse soll im nächsten Kapitel überprüft werden. Zu berücksichtigen ist dabei die wissenschaftliche Eigenart des heutigen Strafrechts als eines normativ bestimmten Unternehmens, das nicht nur historisch eine enge Verknüpfung mit der Philosophie aufweist. Schon deshalb könnte es möglicherweise eigene, von den empirischen Wissenschaften ganz unabhängige Maßstäbe für die Schuldfrage aufstellen.
Kapitel 2
Freiheit und Rechtsdogmatik I. Beweisbedürftigkeit der Schuld Das Problem der Beweisbedürftigkeit der Schuld wird zumeist im Zusammenhang mit der Frage der Beweisbarkeit der Schuld erörtert. Stellt man hierbei auf die Freiheit des Menschen ab, sein Handeln selbst zu bestimmen, so wird allgemein angenommen, dass diese Voraussetzung nicht beweisbar sei.220 _________________ 220 Siehe v. Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, S. 39; v. Bar, Gesetz und Schuld im Strafrecht, Bd. II, S. 12; Heinitz, ZStW 63 (1951), S. 65; Bockelmann, ZStW 75 (1963), S. 372; Roxin, JuS 1966, S. 378; ders., Henkel-FS, S. 174; ders., ZStW 96 (1984), S. 643; ders., Arthur Kaufmann-FS, S. 521; Schwalm, JZ 1970, S. 480; Ellscheid/Hassemer, Civitas 9 (1970), S. 34; Henkel, Larenz-FS, S. 23; Otto, GA 1981,488; Blau, Jura 1982, 393; Albrecht, GA 1983, 199; Schmidhäuser, Jescheck-FS, 485, S. 498; Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, S. 8 f.; Jakobs, StrafR AT, 17/23; Schreiber, Schuld und Schuldunfähigkeit im Strafrecht, S. 77; ders., Rechtliche Verantwortlichkeit und Schuld, S. 68; Y.-W. Kim, Schuldprinzip, S. 48 u. 50; Griffel, MDR 1991, 109; Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 235 f.; Streng, ZStW 101 (1989), S. 278 m. w. N. Mit einem differenzierterem Ansatz, der aber dieselben Probleme aufwirft, Stennert, S. 361. Vgl. auch den sprachtheoretischen Ansatz Schünemanns, Funktion, S. 163 ff.; ders., GA 1986, S. 293 ff.; kritisch hierzu Jakobs, StrafR AT, 17/23, Fn. 48. Der Mediziner Schörcher bemerkt: „Für die freie, selbstverantwortliche, sittliche Selbstbestimmung des Menschen, also für die Willensfreiheit bzw. den Indeterminismus gibt es keine zwingenden Beweise. Im Gegenteil, es sprechen alle naturwissenschaftlichen Erfahrungen dagegen, einschließlich der Psychologie und der Tiefenpsychologie“ (ZStW 77 [1965], S. 242). Wenn auch zum gleichen Ergebnis kommend, so doch weniger verabsolutierend Schaffhauser: „Die einzige wissenschaftliche Disziplin, der der wissenschaftliche Beweis der Hypothese 2 [Willenssteuerungen sind ausschließlich kausal determiniert] gelingen kann, ist die Hirnforschung. Denn das einzige Organ, das im menschlichen
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Käme man nun zu dem Ergebnis, es bedürfe aber eines Beweises, dann stünde das Strafrecht im Ganzen in Frage.221 Denn es ist schlechterdings unplausibel, einerseits Willensfreiheit für den Schuldvorwurf vorauszusetzen und sich andererseits mit der Unbeweisbarkeit derselben sowohl hinsichtlich ihrer Existenz als auch ihrer Nichtexistenz zu begnügen. Auch wenn, wie Hillenkamp anmerkt, das Strafrecht mit seiner Schuldlehre „unter dem Dach eines solchen non liquet“ möglicherweise schon lange lebt.222 Für andere Autoren, die sich dazu äußern, scheint es psychologisch daher näher zu liegen, von der Nichtbeweisbarkeit der Freiheit auf die Verneinung ihrer Beweisbedürftigkeit zu schließen, als diesen Problemkreis selbständig und unabhängig zu erörtern.223 Ein solches Vorgehen wird der Problematik allerdings nicht gerecht. Auch könnte es dazu führen, dass höherrangige Rechtsgrundsätze, sogar verfassungsrechtliche Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, gleichsam unbemerkt übergangen werden. Ein verbreiteter Einwand gegen die Beweisbedürftigkeit der Schuld ist zunächst das „unserem gesamten Rechts- und Verfassungsleben zugrundeliegende Menschenbild“.224 In den Grundsätzen der Menschenwürde und der freien _________________
Körper als materieller Träger der Willenssteuerungen in Betracht kommt, ist das Gehirn“ (Willensfreiheit, S. 24). 221 So auch Krümpelmann: „Kann nämlich die Frage nach der Schuld des einzelnen zwar gestellt, aber nicht beantwortet werden, dann ist die Strafe als Vergeltung und Schuldausgleich beim einzelnen nicht gerechtfertigt“ (GA 1983, S. 341 f.). Kritisch auch H. Foth: „Allen Bemühungen zum Trotz, dem Hauptproblem der Willensfreiheit möglichst aus dem Wege zu gehen, um sich vielleicht unbequeme Antworten zu ersparen, die Gewohntes in Frage stellen könnten, steht und fällt die Berechtigung des Schuldvorwurfs im Strafrecht mit dem Nachweis der menschlichen Willensfreiheit. Darauf ist schon wiederholt an anderer Stelle bescheiden hingewiesen worden. Nutzen wird es freilich wenig. Sätze wie diese, daß zwar Strafe sozialethisch diskriminierender Rache bedenklich nahekomme, daß ihr jeder tiefere Sinn fehle, daß sie aber zum Schutze der sozialen Ordnung in bestimmten Grenzen notwendig sei, werden wir so oder so immer wieder lesen. Man könnte sie als bloße Ungereimtheiten nehmen, wäre mit ihnen nicht die Gefahr des Unrechts verbunden, das dem Täter wie eine schicksalhafte Heimsuchung widerführe, wenn sein Wille nicht frei sein sollte“ (Tatschuld, S. 150). Anders der Ansatz Munoz Condes: „Auch wenn es Willensfreiheit gäbe, wäre sie kein genügender Grund, die Schuld materiell zu begründen“ (GA 1978, S. 68). 222 S. Hillenkamp, JZ 2005, S. 316 u. 319. 223 Diesbezüglich moniert bereits Anfang des 20. Jahrhunderts Loening: „Wenn man sich aber über das Unbefriedigende dieser Lage dadurch hinwegzutäuschen sucht, daß man sagt, eine tiefere Begründung des Strafrechts sei gar nicht erforderlich, genug, daß die Strafe für das menschliche Zusammenleben nun einmal nicht zu entbehren sei, so ist ein solcher Ausweg erst recht unbefriedigend. Denn er besagt nichts anderes als Verzicht auf wissenschaftliche Erkenntnis, die überall eine Erkenntnis der Gründe der Erscheinungen ist“ (Geschichte, S. VII). 224 Blau, Jura 1982, S. 395. Dazu auch Neufelder, GA 1974, S. 290.
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Entfaltung der Persönlichkeit erteile die Verfassung der Legislative, der Exekutive und der rechtsprechenden Gewalt den Befehl, den Bürger als freien, zur Verantwortung fähigen Menschen zu behandeln.225 „Auch ,unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt‘ (Art. 1 Abs. 2 GG) können nur auf Selbstbestimmung und -verantwortung angelegten Bürgern zukommen [...].“226 Inwieweit das Menschenbild der Verfassung das Strafrecht legitimieren kann oder das Strafrecht durch die Verfassung dazu verpflichtet wird, ein bestimmtes Menschenbild zu übernehmen, soll daher zunächst anhand der Art. 2 Abs. 1 und 1 Abs. 1 GG überprüft werden.
1. Regelungsbereich des Art. 2 Abs. 1 GG Das Bundesverfassungsgericht versteht Art. 2 Abs. 1 GG als Gewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit. Es knüpft hierbei an die Entstehungsgeschichte und die ursprüngliche Fassung an: „Jeder kann tun und lassen, was er will.“227 Diese Fassung lässt sich ihrerseits in zwei Aspekte aufspalten: Zum einen impliziert sie einen Zusammenhang zwischen Wille und Verhalten, zum anderen zielt sie – im Unterschied zur Persönlichkeitskerntheorie228 – auf den Schutz grundsätzlich jeder menschlichen Ausdrucksform ab.229 Es soll nun hinterfragt werden, ob mit der Formulierung des Art. 2 Abs. 1 GG notwendig vorausgesetzt ist, dass die Menschen entweder im metaphysischen Sinne oder hinsichtlich ihres subjektiven Erlebens als „frei“ verstanden werden.
a) Allgemeine Handlungsfreiheit im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG und metaphysische Willensfreiheit Das moralische Gebot, das man mit dem ersten Halbsatz des Art. 2 Abs. 1 GG verbinden kann, wonach „Jeder [...] das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit [hat], soweit er nicht die Rechte anderer verletzt [...]“, könnte lauten: „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen _________________ 225
Siehe Roxin, ZStW 96 (1984), S. 650. Blau, Jura 1982, S. 395. Ähnlich, jedoch abstellend auf die Kommunikation, Jakobs, Schuldprinzip, S. 29; ders., ZStW 107 (1995), S. 862 ff. 227 Siehe BVerfGE 6, 32, 36 u. 38/39 (Elfes-Urteil). Dazu auch Alexy, Grundrechte, S. 309 ff. 228 Nach der Persönlichkeitskerntheorie ist der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG „als bestimmter, begrenzter Lebensbereich verstanden und auf einen ,Kernbezirk des Persönlichen‘ bezogen worden“ (Pieroth/Schlink, Rn. 367 m. N.). 229 Vgl. dazu Alexy, Grundrechte, S. 310; Pieroth/Schlink, Rn. 368 ff. m. w. N. 226
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zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.“230 Dieser kategorische Imperativ des wohl prominentesten Vertreters einer metaphysischen Existenz von Willensfreiheit, Immanuel Kant, richtet sich ersichtlich an den Menschen als moralisches Subjekt, nicht dagegen als Rechtsperson. Denn der so formulierte Imperativ verlangt ein moralisch korrektes inneres Motiv des Handelns, während (nach Kant) rechtliches Handeln nur das äußere Verhalten der Person betrifft. Kants kategorischer Imperativ setzt voraus, dass der Mensch auch tatsächlich die Fähigkeit hat, sein Handeln nach dieser moralischen Norm auszurichten. Dagegen sagt Art. 2 Abs. 1 GG lediglich, dass die freie Entfaltung der Persönlichkeit von Gesetzes wegen nur so weit geht, wie sie nicht die Rechte anderer verletzt; er betrifft also offensichtlich allein das rechtliche (äußere) Verhalten der Person. Jenseits der Handlungsgrenze, an der die Verletzung anderer beginnt, darf der Staat mit rechtlichen Verboten eingreifen. Der Regelungsbereich des Art. 2 Abs. 1 GG berührt somit nicht die Frage, ob der Mensch nur so wie geschehen oder auch anders handeln konnte, sondern schafft eine Eingriffsbefugnis für den Fall, dass die Rechte anderer verletzt werden, unbeschadet des Umstands, ob sich die Verletzung vermeiden lässt bzw. ließ oder nicht. Eine moralische Aufforderung enthält er dagegen nicht. Das entspricht exakt Kants Aussage zum Verhältnis von Rechtssatz und Willensbildung: „[...] einen Zweck vorzusetzen, das kann durch keine äußerliche Gesetzgebung bewirkt werden (weil es ein innerer Act des Gemüths ist) [...].“231 Auch der Strafvollzug kann sich unmittelbar nur auf eine Veränderung äußerer Umstände richten. Allerdings ist eine mittelbare Änderung der inneren Haltung durch die Strafe vorstellbar. So ist es denkbar, dass ein Gesetz einen medikamentösen oder operativen Eingriff vorschreibt, der sich so auf die Psyche auswirkt, dass beispielsweise Dispositionen zu aggressivem Verhalten entgegengewirkt wird. Gewaltverbrecher könnten durch einen solchen Eingriff mittelbar ihren „Willen“ verlieren, die körperliche Integrität anderer Menschen zu verletzen.232 Ein „freier“ Wille könnte hierdurch jedoch nicht berührt werden, da er gerade nicht der kausalen Wirkung solcher Eingriffe unterliegen kann. Dies gilt ebenso für die Frage der Geeignetheit von Normen, die Willensbildung der einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft zu beeinflussen. Man spricht von einer „sittenbildenden Kraft“, wie sie beispielsweise mit den Vorschriften des Umweltstrafrechts bezweckt werde.233 Auch hier gilt aber, dass die Beein-
_________________ 230
Kant, GMS, AA IV, S. 421. Kant, MdS/Rechtslehre, AA VI, S. 239. 232 Daher ist auch der Schutz des Zustands einer Person unerlässlich. Vgl. dazu Alexy, Grundrechte, S. 176 f. u. 311 f. m. w. N. 233 Siehe Lampe, Rechtsphilosophie, S. 272. 231
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flussung einer etwaigen transzendentalen Freiheit wie der Willensfreiheit vollkommen außerhalb der Reichweite einer gesetzlichen Zwangsregelung liegt.234 Dies alles lässt sich so zusammenfassen: Mit der Formulierung des Art. 2 Abs. 1 GG hat der Verfassungsgeber also keine Stellung zu einem starken Freiheitsbegriff bezogen.
b) Allgemeine Handlungsfreiheit im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG und individuelles Freiheitserleben Aber auch eine subjektiv erlebte Willensfreiheit als Voraussetzung des Art. 2 Abs. 1 GG bereitet Schwierigkeiten. Würde man die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG vom individuellen Freiheitserleben abhängig machen, so könnte dies eine Reihe unerwünschter und inakzeptabler Konsequenzen nach sich ziehen, beispielsweise in Bezug auf den gesetzlichen Schutz Bewusstloser. Aber für uns alle gilt: Selbst wenn wir überzeugt wären, in unserer Willensbildung determiniert zu sein und dies auch durchaus subjektiv so erlebten, würden wir großen Wert darauf legen, in der äußeren Verwirklichung unserer (determinierten) Entschlüsse nicht durch willkürlichen Zwang behindert zu werden.235 Beschließe ich, ins Theater zu gehen, dann will ich dies auch dann tun dürfen, wenn mein Entschluss durch irgendetwas in mir – in meinem Gehirn, meinem Charakter, meiner Persönlichkeit oder meiner Biographie – determiniert war. Und genau dieses Dürfen ist es, was Art. 2 Abs. 1 GG garantiert und sinnvoll nur garantieren kann. Nicolai Hartmann bemerkt in diesem Sinne zur rechtlichen Freiheit: „Es leuchtet nun unmittelbar ein, daß dasjenige, dessen Freiheit hier sichergestellt wird, weder der Wille noch eine hinter ihm stehende Entscheidungsinstanz in der Person ist, sondern ihre äußere Aktivität, ihre Lebensbreite.“236 Es muss also grundsätzlich die Möglichkeit bestehen, dass sich die Persönlichkeit auch unabhängig von dem schwer zu fassenden Begriff des „Willens“ entfalten kann, denn der Begriff der Persönlichkeit erfasst den Menschen in seiner individuellen Gesamtheit. Persönlichkeit entfaltet sich im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG immer dann, wenn sie sich im Wortsinne äußert, also in Beziehungen zur Außenwelt manifestiert. Deutlicher als durch die Entwurfsfassung wird dies deshalb durch den Verfassungstext selbst, der gerade nicht auf _________________ 234
Vgl. dazu Kant, GMS, AA IV, S. 446 ff. Vgl. auch Alexy, Grundrechte, S. 323. Siehe R. Merkel, Philipps-FS, S. 416 f. 236 Nicolai Hartmann, Ethik, S. 638; so auch Alexy, Grundrechte, S. 323. Vgl. auch Arnold, Person, S. 23; ferner Böckenförde, Recht, S. 42 ff.; Binding: „Die Geschichte fragt nicht an erster Stelle: ,Was hat Jemand gewollt?‘, sondern ,Was hat Jemand getan?‘ [...]“ (Normen, Bd. 2/1, S. 310). 235
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den Willen, sondern auf die „Entfaltung der Persönlichkeit“ abstellt.237 Das Attribut „frei“ meint in diesem Zusammenhang also nichts anderes, als dass alle potentiellen Handlungsmöglichkeiten eines Menschen grundsätzlich zum Ausdruck gebracht werden können238, ein Handlungsspielraum prinzipiell gewährleistet ist.239 Auf das individuelle Erleben von Handlungsfreiheit, aber auch das individuelle Vermögen, diesen Spielraum auszuschöpfen, kommt es dagegen grundsätzlich nicht an.240 Art. 2 Abs. 1 GG gewährt aber nicht nur als Abwehrrecht dem Einzelnen die Möglichkeit, seine Persönlichkeit innerhalb bestimmter Grenzen zu entfalten, sondern garantiert als Schutzrecht jedem Mitglied der Gesellschaft und damit dieser als ganzer die Sicherheit, dass vor Verletzungen präventiv geschützt bzw. nach Verletzungen adäquat, nämlich im Sinne einer auch künftigen Gewährleistung der schützenden Norm reagiert wird. Auf diese Weise wird auch die in der Norm enthaltene Wertentscheidung verdeutlicht. Die Präventivwirkung einer Strafnorm kann zum einen durch die in der Norm enthaltene Androhung erzeugt werden, zum anderen durch den Vollzug der Norm, indem der Rechtsbrecher selber, aber auch die Allgemeinheit, der Geltungskraft der Norm versichert wird. Nach Ansicht von Deterministen besteht der Zweck der Norm beziehungsweise ihres Vollzugs darin, im Modus eines kausalen Zwangs motivierend auf den Willen einzuwirken.241 Nach indeterministischer Auffassung setzt dagegen bereits die Existenz der Normenordnung selbst und damit das Kalkül der Folgen ihrer Übertretung die Befähigung der Normunterworfenen zur freien _________________ 237 So auch das BVerfG: „Das Grundgesetz kann mit der ,freien Entfaltung der Persönlichkeit‘ nicht nur die Entfaltung innerhalb jenes Kernbereichs der Persönlichkeit gemeint haben, der das Wesen des Menschen als geistig-sittliche Person ausmacht; denn es wäre nicht verständlich, wie die Entfaltung innerhalb dieses Kernbereichs gegen das Sittengesetz, die Rechte anderer oder sogar gegen die verfassungsmäßige Ordnung einer freiheitlichen Demokratie sollte verstoßen können“ (BVerfGE 6, 32, 36). 238 Vgl. auch BVerfGE 80, 137, 152. 239 Dazu auch Luhmann, Grundrechte, S. 78. 240 Gleiches gilt im Übrigen für Art. 104 Abs. 1 GG und für das Recht auf Freiheit und Sicherheit nach Art. 5 EMRK, der enumerativ die objektiv freiheitsentziehenden Maßnahmen ohne Berücksichtigung des individuellen Erlebens wiedergibt. Bei Eingriffen staatlicher Gewalt in die Rechte Einzelner kommt es daher auf ihren objektiv Freiheit entziehenden Charakter, nicht hingegen darauf an, ob sich der Bürger im konkreten Fall tatsächlich in seiner Freiheit beschränkt fühlt. 241 „Denn die Gesetze gehen aus von der richtigen Voraussetzung, daß der Wille nicht moralisch frei sei, in welchem Fall man ihn nicht lenken könnte; sondern daß er der Nöthigung durch Motive unterworfen sei: demgemäß wollen sie allen etwanigen Motiven zu Verbrechen stärkere Gegenmotive, in den angedrohten Strafen, entgegenstellen, und ein Kriminalcodex ist nichts Anderes, als ein Verzeichnis von Gegenmotiven zu verbrecherischen Handlungen“ (Schopenhauer, Ethik, S. 99).
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Selbstsetzung ihres Willens voraus. Im Gegensatz zum Tier habe der Mensch die Fähigkeit, sich „frei“ nach dieser Norm auszurichten.242 Er werde dafür bestraft, dass er die moralisch falsche statt der moralisch richtigen Entscheidung getroffen habe. Dagegen wird die Legitimität einer präventiven Einflussnahme auf das Individuum mittels des Strafvollzugs von den Aufklärern Kant und Hegel abgelehnt.243 So scheint es zunächst, als ob eine Präventivwirkung der Norm sowohl nach der indeterministischen als auch nach der deterministischen Anschauung eine Fähigkeit des Menschen voraussetzte, sein Verhalten seinem Willen gemäß auszurichten. Während aber vom indeterministischen Standpunkt aus Strafe und die freie Entscheidung gegen die Norm sich wechselseitig bedingen, das eine also nicht ohne das andere gedacht werden kann, verwendet der Determinist den subjektiv erlebten Willen nur als Bindeglied, auf das ebensogut verzichtet werden könnte, da das Verhalten immer notwendig dem Willen entsprechen soll. Die Verhaltensnorm beziehungsweise ihre Kundgabe oder der Vollzug der Sanktionsnorm könnten als sinnlich wahrnehmbare Information aufgefasst werden, die vom Organismus aufgenommen und (im Prozess des „Verstehens“) neuronal verarbeitet wird und sich dann je nach Wirkungsgrad im Verhalten niederschlägt. Bei einer solchen Betrachtungsweise wird auf jede Objektivierung der subjektiv erlebten Handlungsfreiheit, nämlich auf die Behauptung eines wirklichen kausalen Zusammenhanges zwischen Wille und Verhalten, verzichtet. Die Information würde sich vielmehr auf dem Weg über das Gehirn im Verhalten und gegebenenfalls auch im Bewusstsein niederschlagen, ohne dass zwischen Bewusstsein und Verhalten ein kausales Abhängigkeitsverhältnis bestehen müsste.244 Eine etwaige Präventivwirkung der Norm selber kann also unabhängig von einer tatsächlichen Möglichkeit zur willentlichen Verhaltens-
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Vgl. dazu die Gegenüberstellung einer menschlichen Gesellschaft und einer Tiersozietät bei Henkel: „Eine an diese Sozietät herangetragene Sollensordnung, welche die naturgegebene Instinktordnung durch abweichende Verhaltensdirektiven außer Kraft setzen wollte, würde an der Unabänderlichkeit des von der Naturnotwendigkeit beherrschten Instinktes zuschanden werden. Dasselbe würde für die menschlichen Sollensordnungen gelten, wenn der Mensch in gleicher Weise wie die Tiere durch ein angeborenes, starres Verhaltenssystem total festgelegt wäre. Man muß sich darüber klar sein, daß nur die ,Offenheit‘ des menschlichen Verhaltenssystems im personellen Oberbau eine Rechtsordnung ermöglicht [...]“ (Rechtsphilosophie, S. 267). Vgl. auch das (abgelehnte) Bild bei A. Merkel vom Menschen als Maschine, auf die eine Gesellschaft gleich einem Mechaniker Einfluss nimmt (Vergeltungsidee, S. 47 f.). 243 Näher dazu unten, bei und in Fn. 259 f. 244 Diese Betrachtungsweise verzichtet also auf eine Differenzierung zwischen intellektueller und physischer Freiheit.
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steuerung gedacht werden.245 Auf der anderen Seite ist der objektive und sinnvolle Ausgleich einer faktischen Störung des sozialen Lebens – ein Handlungsspielraum wird zu Lasten eines anderen rechtswidrig erweitert – auch und schon dann möglich, wenn bei allen Beteiligten nicht mehr als eine (negative) physische Freiheit vorausgesetzt wird.246 Für die Handlungsfreiheit als subjektives Erleben eines Kausalzusammenhangs zwischen Wille und Verhalten ergibt sich damit, dass sie vom Regelungsbereich des Rechts nur mittelbar berührt werden kann: Weder kann subjektives Erleben ohne jeden Ausdruck nach außen eine staatliche Reaktion hervorrufen247, noch kann diese ihrerseits unmittelbar auf das subjektive Erleben gerichtet sein. Selbst bei einem medikamentösen oder operativen Eingriff zur Veränderung der Psyche müsste der Vollzug mit der Ausführung äußerer Handlungen enden. Die Veränderung des subjektiven Erlebens wird dagegen nur mittelbar bewirkt.
c) Konsequenzen für das Strafrecht Im Strafrecht als einem Teil des öffentlichen Rechts wird diese natürliche Grenze staatlicher Gewalt am Beispiel des sogenannten tatbestandsausschließenden Einverständnisses deutlich. Erhält eine Handlung ihren Unrechtsgehalt gerade dadurch, dass sie gegen den Willen des Betroffenen erfolgt, können der Tatbestand und damit das Unrecht nicht verwirklicht werden, wenn der Betroffene mit der Handlung einverstanden ist.248 Hierunter fallen alle Delikte, die Angriffe auf die Freiheit der Willensbildung oder -betätigung zu ihrem tatbestandlich umschriebenen Inhalt haben. Eingriffe dieser Art werden jedoch in Wahrheit objektiv festgestellt, nämlich anhand eines als Eingriffsverhalten deutbaren äußeren Vorgangs, dem nach ebenfalls objektiven Kriterien die Bedeutung eines Sich-Hinwegsetzens über den Willen des Opfers zugeschrieben wird. Ein wirklich „freier“ Wille wird aber von einer solchen Deutung nicht vorausgesetzt. Der tatbestandliche Eingriff bezieht sich nur auf einen Willen, der von dem jeweils einschlägigen Tatbestandsmerkmal (z. B. „der Freiheit berauben“, „nötigen“, „wegnehmen“) begrifflich vorausgesetzt, aber keines_________________ 245 Anders Burkhardt und Jakobs, welche die These vertreten, ein präventiver Einfluss sei abhängig von der Möglichkeit der Willensbeeinflussung (s. Burkhardt, Schuldprinzip, S. 63, u. Jakobs, Schuldprinzip, S. 23 ff.). 246 Im Ergebnis ebenso Heun, JZ 2005, S. 854 f. 247 Der rein interne Wille ist nämlich nicht nur nicht strafbar (vgl. oben, S. 48), sondern kann auch sonstiges staatliches Handeln offensichtlich nicht auslösen. Anders liegt der Fall natürlich dort, wo sich der Wille, bspw. eine Person zu töten, bildet und öffentlich erkennbar wird; dann mögen staatliche Stellen ggfs. Maßnahmen einleiten. 248 Siehe Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 32 ff., Rn. 31.
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wegs als metaphysisch „frei“ postuliert wird. Zur Illustration: Eine Nötigung im Sinne des § 240 StGB liegt auch dann vor, wenn die Lehre des Determinismus wahr ist, also beim Genötigten kein wirklich (metaphysisch) freier Wille gebeugt (und beim Nötiger keiner betätigt) werden konnte. Die Beeinträchtigung der Freiheit muss und kann nur auf der Ebene objektiver sozialer Bedeutung sowohl des Eingriffs- wie auch des „Erleidens“-Vorgangs festgestellt werden.249 Da ein aufgrund des Strafrechts erfolgter staatlicher Eingriff auf der anderen Seite lediglich zu einer Beschränkung potentieller Handlungsmöglichkeiten führt, ist auch hiervon das subjektive Erleben der Handlungsfreiheit allenfalls mittelbar betroffen. Ein auf innere Erlebniszustände wie die Sühne250 gerichteter „Zweck“ der Schuldstrafe entzieht sich aus diesem Grunde einer Verhältnismässigkeitsprüfung251 und taugt damit auch nicht zur Rechtfertigung eines strafenden Eingriffs in Art. 2 Abs. 1 GG.252 Auf die Willensbildung des Menschen abstellende Strafzwecke begegnen also jedenfalls Vollzugs- und schon deshalb wohl auch Legitimationsproblemen. Schuld und Sühne sollen einander zwar entsprechen; möglich im Sinne einer Verpflichtung der strafenden Staats_________________ 249
Dies gilt im Übrigen auch für Delikte mit einer sogenannten „überschießenden Innentendenz“. Zwar drängt sich hier die Frage nach dem Erleben des Täters geradezu auf (vgl. dazu Hegler, ZStW 36 [1915], S. 31 f), doch stellt sie sich ebenfalls nicht als Frage nach dem „freien“ Zustandekommen der jeweiligen „Innentendenz“. Beispiel: Wer die „Absicht rechtswidriger Zueignung“ hat, erfüllt mit der Wegnahme einer fremden Sache den Tatbestand des § 242 StGB, egal ob die Absicht frei oder determiniert zustandekam. Auch wenn sie im Sinne des § 20 StGB „unfrei“ war, entfällt nicht der Tatbestand, sondern erst die Schuld. 250 Vgl. dazu auch A. Merkel, Vergeltungsidee, S. 64. 251 Vgl. Huster, Rechte und Ziele, S. 133 ff., 140 f. Tiedemann kommt zunächst zum gleichen Ergebnis, stellt dann aber scheinbar alternativ auf die „materielle Gerechtigkeit“ ab, ohne die Beziehung zwischen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und der „Idee der Gerechtigkeit“ näher zu erläutern (s. Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 15 ff.). Lagodny sieht „die Bestimmung des Bereichs des strafbaren Handelns durch den Gesetzgeber“ als Teilausprägung dem „Gebot schuldangemessenen Strafens“ vom BVerfG zu- bzw. untergeordnet, wobei er bemerkt: „Der ,Grundsatz schuldangemessenen Strafens‘ muß wohl als grundrechtsgleiche Neuschöpfung eines bereichsspezifischen Prüfungsmaßstabs angesehen werden“ (Strafrecht, S. 66 u. 68). Vgl. auch Schild, der die in der Cannabis-Entscheidung des BVerfG (E 90, 145 ff.) zum Ausdruck gekommene Wandlung des zunächst unbestimmt gelassenen Verhältnisses von Schuld- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hervorhebt und sich kritisch zur Vermengung der Begrifflichkeiten in diesem Bereich äußert (Lenckner-FS, S. 294 ff.); aber auch A. Merkel, Vergeltungsidee, S. 4 ff. Zum „Vergeltungzweck“ vgl. unten, S. 88 (Fn. 260). 252 Vgl. auch Noll: „Weil Sühne sich im innersten Kern der autonomen Person ereignet, kann sie nicht von Staates wegen erzwungen werden“ (Strafe, S. 8); u. Haft: „[...] denn Sühne ist ein Akt der Freiheit, der nicht erzwungen, sondern nur ermöglicht werden kann“ (Schulddialog, S. 33).
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gewalt ist dies jedoch nur, wenn beide nicht als Bestandteile des subjektivpersonalen Erlebens begriffen werden. Hinter dem Begriff der Handlungsfreiheit, wie ihn das Bundesverfassungsgericht verwendet, steht mithin der Schutz potentieller Ausdrucksmöglichkeiten einer Person, die durch Einflüsse von außen objektiv beschränkt werden können. Die Handlungsfreiheit als erlebter Zusammenhang zwischen Wille und Verhalten bleibt hingegen allein dem Individuum vorbehalten.253 Problematisch erscheint also, ob eine abstrakte oder individuell erlebte Freiheit überhaupt geeignet ist, als Grundlage für staatliche Eingriffsbefugnisse zu dienen. Aus Art. 2 Abs. 1 GG allein ergibt sich dies jedenfalls nicht. Deshalb soll nun Art. 1 Abs. 1 GG eingehender untersucht werden.
2. Die Menschenwürde im Sinne des Art. 1 GG und die Schuldstrafe In der Strafrechtswissenschaft wird der Übergang von der Erfolgshaftung zur Schuldhaftung gemeinhin als eine bedeutende Errungenschaft angesehen.254 Die Bestrafung eines Menschen wegen bloßer Zufallsfolgen seines Handelns, unter Umständen gemeinsam mit einem Tier255, wird heute als ungerecht, ja unmenschlich erachtet. Das „Dafürkönnen“ im Sinne einer subjektiven Zurech_________________ 253
Von Streng wird hervorgehoben, die Entfaltungsfreiheit im Sinne von Art. 2 Abs. 1 GG und auch etwa die Vertragsfreiheit des Zivilrechts meinten eine andere Freiheitsdimension als die Willensfreiheit oder das Anders-handeln-Können im Sinne der Schuldbegründung (s. ZStW 101 [1989], S. 281). Vgl. auch Tiemeyer, der zu bedenken gibt: „Am Beispiel der klassischen ,Handlungsfreiheit‘ oder der durch die Grundrechte garantierten Freiheit zeigt sich deutlich, wie leicht es ist, Geschehensabläufe herauszugreifen, die sich als frei klassifizieren lassen. Doch kaum jemand wird behaupten, daß diese Arten der Freiheit schon die Grundlage für die innere Berechtigung des Schuldvorwurfs abgeben können“ (GA 1986, S. 211). Zum Abhängigkeitsverhältnis der Freiheiten vgl. jedoch die Ausführungen oben, S. 29 ff. 254 Vgl. Eb. Schmidt, Geschichte, S. 117; vgl. auch Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 23 ff.; Sellert/Rüping, Geschichte, S. 103. 255 Zur Bestrafung von Mensch und Tier vgl. Brunner, Missethat, S. 20 ff.; Bader, Schuld, S. 65; v. Liszt-Schmidt, Lehrbuch, S. 155, Fn. 2; Rüping, Grundriß, S. 13 f.; Pothast, Freiheitsbeweise, S. 318. Bei Brunner ist außerdem zu lesen, dass sich die Bestrafung auch auf Gegenstände erstrecken konnte. Sie wurden „ausgeliefert“, weggeworfen oder zerstört. Verwendete man sie nach der Tat, baute man z. B. den Balken, der bei einem Hausbau jemanden erschlagen hatte, in das Haus ein, dann musste das ganze Haus abgegeben werden. Wurde eine Frau vergewaltigt oder „geraubt“, dann wurde neben allem Lebenden, was bei der Tat gegenwärtig war, auch das Haus zerstört, in dem das Verbrechen begangen wurde oder der Verbrecher sich aufgehalten hatte. Hatte sich der Verbrecher auf der Flucht mit der geraubten Frau nacheinander in verschiedenen Häusern aufgehalten, dann sollten alle Häuser abgebrannt werden (s. Missethat, S. 26 ff.).
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nung wurde zum Inbegriff der Abgrenzung zwischen menschlichem und tierischem Verhalten, zwischen Schicksal und willkürlicher Gestaltung, folglich zur Voraussetzung menschengerechter Bestrafung.256 Das „Dafürkönnen“ wurde während der Aufklärung auf einem undiskutierten Freiheits- und Vernunftbegriff aufgebaut.257 Auch die in der Verfassung statuierte menschliche Würde soll auf Freiheit und Vernunft beruhen.258 Konsequenterweise sehen daher viele Rechtswissenschaftler gerade in der Schuldstrafe die Achtung der Menschenwürde zum Ausdruck gebracht.259 Dem Erfolg der Zurechnungslehre bei der Strafbegründung steht der Misserfolg der Strafzumessung auf der Grundlage des Wiedervergeltungsrechts gegenüber. Einst begrenzend gegenüber Sanktionen gedacht, die zur Abschreckung der Allgemeinheit ausufernd straften, und noch von Kant als Ausfluss der menschlichen Würde verstanden260, ist eine absolute Strafe im Sinne des _________________ 256
Vgl. Eb. Schmidt, Geschichte, S. 117; Bader, Schuld, S. 75. Siehe Holzhauer, S. 23; deutlich wird dies bei Pufendorf, zitiert und übersetzt bei Sellert/Rüping, Geschichte, S. 380, Quelle 3. 258 So Otto, GA 1981, S. 486; vgl. auch Dürig in Maunz/Dürig (2001), Art. 1 Abs. 1, Rn. 18 ff. 259 Dazu Lampe, Strafphilosophie, S. 225, sowie Eb. Schmidt in Bezug auf die Hegelsche Rechtsphilosophie: „Der Sinn der Strafe wird nicht darin gesehen, den Täter ein Übel leiden zu lassen – das ist ein ganz nebensächliches Moment –, vielmehr kommt es darauf an, daß die Persönlichkeit des Täters in dem die die Strafe fordernde allgemeine Vernunft ebenfalls existiert, die Strafe selbst benötigt, um auch als Verbrecher ,als Vernünftiges geehrt‘ werden zu können“ (Geschichte, S. 295; vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 100 Anm.); Heinitz, ZStW 63 (1951), S. 61, Fn. 17; Otto, GA 1981, S. 481; Pawlik, Person, S. 97; vgl. auch Kantorowicz, Tat und Schuld, S. 15; H. Mayer, StrafR AT, S. 26; Jescheck, Menschenbild, S. 20; R. Lange, SchwZStr 70 (1955), S. 381; Burkhardt, Lenckner-FS, S. 22; Jakobs, Schuldprinzip, S. 27; Duttge, Bestimmtheit, S. 155 m. w. N. Dagegen J. Baumann: „Wir haben noch nirgends feststellen können, daß ein ertappter Straftäter den Drang hatte, sich als Vernünftiger ehren zu lassen“ (Strafrecht, S. 22); s. auch H Foth, ARSP 62 (1976), S. 260. 260 Zur Entwicklung des Vergeltungszwecks vgl. Bauer, Verbrechen, S. 135 ff. Sein philosophisches Gepräge erhielt das Talionsprinzip von Kant: „Richterliche Strafe [...] kann niemals bloß als Mittel ein anderes Gute zu befördern für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat; denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines Anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowider ihn seine angeborne Persönlichkeit schützt [...]. Nur das Wiedervergeltungsrecht [...] kann die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben; alle andere sind hin und her schwankend und können anderer sich einmischenden Rücksichten wegen keine Angemessenheit mit dem Spruch der reinen und strengen Gerechtigkeit enthalten“ (MdS/Rechtslehre, AA VI, S. 331 f.). Die Folgen des Talionsprinzips werden insbesondere beim sog. „Inselgleichnis“ deutlich: „Selbst wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflösete (z. B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse auseinander zu gehen und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte 257
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Talionsprinzips mit heutigen Erwägungen zur Humanität staatlichen Strafens schwer vereinbar. Die Wandelbarkeit staatlicher Zwangseingriffe wie der Strafe wird vom Bundesverfassungsgericht sogar eigens hervorgehoben: „Die Geschichte der Strafrechtspflege zeigt deutlich, dass an die Stelle grausamster Strafen immer mildere Strafen getreten sind. Der Fortschritt in der Richtung von roheren zu humaneren, von einfacheren zu differenzierteren Formen des Strafens ist weitergegangen, wobei der Weg erkennbar wird, der noch zurückzulegen ist. Das Urteil darüber, was der Würde des Menschen entspricht, kann daher nur auf dem jetzigen Stande der Erkenntnis beruhen und keinen Anspruch auf zeitlose Gültigkeit erheben.“261 Dieses Verhältnis – Achtung der Menschenwürde durch Schuldstrafe – soll im Folgenden überprüft werden. Nach einer kritischen Würdigung der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zur Legitimation des heutigen Strafrechts werden dem Begriff der Menschenwürde eingeschriebene Elemente, wie die Vorstellung freiheitlicher Selbstbestimmung, vor dem Hintergrund der Hexenverfolgungen beleuchtet. Hieran schließt sich eine Auseinandersetzung mit der Zurechnungslehre, wie sie zur Zeit der Aufklärung entwickelt wurde. Es folgen einige Überlegungen zum Begriff der Selbstbestimmung, dem eine verbindende, aber zugleich auch trennende und damit, wie sich zeigen wird, letztlich widersprüchliche Funktion im Verständnis des Verhältnisses von Menschenwürde und Schuld zukommt. Im Anschluss an diese Überlegungen soll der Blick von den Schuldzurechnungs- auf die Strafzumessungsfragen gelenkt werden. Hier gilt es, die Begrenzungsfunktion der Schuldstrafe und, damit im Zusammenhang stehend, das ethische Bedenken gegen eine Verbrechensbekämpfung, die den Menschen zum „Objekt“ macht, näher zu beleuchten.
a) Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts zur Legitimität von Strafe Das Bundesverfassungsgericht führt aus, der Grundsatz nulla poena sine culpa wurzele „in der vom Grundgesetz vorausgesetzten und in Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG verfassungskräftig geschützten Würde und der Eigenverantwortlichkeit des Menschen [...]“262 und: „Nach dem Schuldgrundsatz, der aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG (Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen) sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt, müssen Tatbestand und _________________
der letzte im Gefängniß befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Thaten werth sind [...]“ (MdS/Rechtslehre, AA VI, S. 333). Auf der Kantschen Lehre aufbauend M. Köhlers „Begriff der Strafe“ in der so benannten Monografie. 261 BVerfGE 45, 187, 229. 262 BVerfGE 25, 269, 285; zur verfassungsrechtlichen Legitimation der Schuldstrafe vgl. auch Maurach, Strafe, S. 27 f., u. Frister, Schuldprinzip, S. 18 ff.
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Rechtsfolge – gemessen an der Idee der Gerechtigkeit – sachgerecht aufeinander abgestimmt sein [...].“263 Dabei fällt jedoch auf, dass sich diese und nachfolgende264 Entscheidungen auf eine Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts berufen, die zur Menschenwürde als Strafbegründung nicht viel hergibt. Dort heißt es lediglich: „Dem Grundsatz, daß jede Strafe – nicht nur die Strafe für kriminelles Unrecht, sondern auch die strafähnliche Sanktion für sonstiges Unrecht – Schuld voraussetze, kommt verfassungsrechtlicher Rang zu. Er ist im Rechtsstaatsprinzip begründet. [...] Die strafrechtliche oder strafrechtsähnliche Ahndung einer Tat ohne Schuld des Täters ist demnach rechtsstaatswidrig und verletzt den Betroffenen in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG.“265 Das Bundesverfassungsgericht erkennt außerdem in der „materiellen Gerechtigkeit“ einen Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips.266 Hieraus folge, dass ein sachgerechtes Verhältnis zwischen Tatbestand und strafrechtlicher Folge nur dann bestehe, wenn dem Täter ein strafrechtlicher Vorwurf gemacht werden könne, da die Strafe im Gegensatz zu reinen Präventionsmaßnahmen auch auf Repression und Vergeltung abziele.267 Nicht die Menschenwürde gebietet also nach dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Schuldstrafe, vielmehr ist Strafe nur deshalb gerechtfertigt, weil wegen der _________________ 263 BVerfGE 45, 187, 259; kritisch zu dieser Entscheidung Schild: „Darüber hinaus fällt das BVerfG in einen platten Gesetzespositivismus zurück, wenn über Schuldausgleichs- und Sühnefunktion einfach gesagt wird, daß erstere ,dem bestehenden System der Strafsanktionen‘ entspreche und letztere zwar bestritten, aber eben vom Gesetzgeber ,für einen legitimen Strafzweck [gehalten]‘ werde. Was der Gesetzgeber für legitim hält, kann doch nicht maßgebend sein, vor allem dann nicht, wenn der Anspruch erhoben wird, daß ,Art. 1 Abs. 1 GG die Auffassung vom Wesen der Strafe und das Verhältnis von Schuld und Sühne [bestimmt]‘ “ (Lenckner-FS, S. 295). 264 Vgl. BVerfGE 50, 125, 133; 57, 250, 275; 90, 145, 173. 265 BVerfGE 20, 323, 331; ebenso BVerfGE 41, 121, 125. Zwar hatte sich die Beschwerdeführerin auf Art. 103 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG berufen, den Gedanken der Menschenwürde hatte das Bundesverfassungsgericht jedoch offenkundig ganz bewusst nicht aufgegriffen, da es zunächst das Begehren der Beschwerdeführerin dahingehend auslegte, sie rüge eine Verletzung der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit (s. BVerfGE 20, 323, 329 f.). 266 Auch der Aspekt materieller Gerechtigkeit ist also vom Bundesverfassungsgericht nicht in direkten Zusammenhang mit Art. 1 Abs. 1 GG gebracht worden (vgl. BVerfGE 20, 323, 331; anders BVerfGE 50, 125, 133; dazu auch Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, S. 8). Ablehnend gegenüber einer Herleitung der Strafe aus dem Gerechtigkeitsgedanken Scheler: „Vergeltung und Strafe rühmen sich [...] einer rein sittlichen Wurzel ohne jedes innere Fundament“ (Formalismus, S. 374 f.). Vgl. zu den verfassungsrechtlich relevanten Aspekten des Schuldprinzips auch Arthur Kaufmann, R. Lange-FS, S. 31 ff. 267 Vgl. BVerfGE 20, 323, 331. Zum Gerechtigkeitsaspekt des Rechtsstaatsprinzips siehe auch BVerfGE 7, 194, 196, u. BVerfGE 7, 89, 92.
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Vorwerfbarkeit der Tat der strafrechtliche Eingriff dem Gebot materieller Gerechtigkeit genügt und damit nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip verstößt.268 Zwar hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt die „unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung“ anerkannt269, es hat dabei aber stets betont, dass die Grundrechte „als Ausdruck des allgemeinen Freiheitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat von der öffentlichen Gewalt jeweils nur so weit beschränkt werden dürfen, als es zum Schutz öffentlicher Interessen unerläßlich ist“.270 Soweit das Bundesverfassungsgericht von „den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung“ spricht271, geht es daher nicht um eine Strafverfolgung als Selbstzweck, sondern um die Wahrung der Interessen der Gemeinschaft, die eine Freiheitsbeschränkung des Einzelnen nur dann rechtfertigen können, wenn diese unerlässlich ist.272 Allerdings fordert das _________________ 268 Daneben führt Lackner an, dass das Schuldprinzip in der Verfassungsurkunde keine Erwähnung finde (s. Kleinknecht-FS, S. 247 f.). Man wird aber im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG zu dem Schluss kommen, dass der Verfassung sicher nicht die Überlegung eines Staates ohne Strafrecht zugrundeliegt, was auch durch Art. 26 Abs. 1 Satz 2 GG verdeutlicht wird. Es ist daher Calliess zuzustimmen, wenn er in Bezug auf das Grundgesetz bemerkt: „Die Existenz staatlichen Strafens setzt es dagegen als gegebenes Faktum voraus“ (Müller-Dietz-FS, S. 107). Allerdings lässt die ausdrückliche Benennung der Strafe in Art. 26 Abs. 1 Satz 2 GG daneben auch die Schlussfolgerungen Rupp-v. Brünnecks u. Simons zu, dass der Parlamentarische Rat nur für diesen Fall Strafsanktionen von Verfassungs wegen für geboten erachtete, im Übrigen daher keine Pflicht zum Strafen bestehe (s. BVerfGE 39, 68, 75). Zweifelhaft indes die Schlussfolgerungen von I.-S. Kim: „Die harte Realität der staatlichen Strafe ist zwar nahe an der Grenze eines unmenschlichen und menschenunwürdigen Daseins, aber damit wird nicht ohne weiteres gesagt, daß die staatliche Strafe als solche und im ganzen schon eine Verletzung der Mw [Menschenwürde] darstellt. Denn die staatliche Strafe ist ihrer Natur nach im demokratischen und sozialen Rechtsstaat nur ein Rechtsakt, der rechtmäßig ausschließlich gegen die faktische Situation eines Verbrechens im materiellen Sinne eingesetzt wird. Sie ist also begriffsnotwendig mit einer von der Rechts- und Staatsordnung gebotenen Maßnahme identisch, infolgedessen entspricht sie eo ipso dem Recht und bedarf insofern keiner Rechtfertigung“ (Menschenwürde, S. 288). Die Strafe mag insoweit eine gesetzliche Grundlage haben, dass sie auch dem „Recht“, insbesondere der Verfassung, entspricht, kann hieraus jedoch nicht unmittelbar gefolgert werden. 269 Siehe BVerfGE 33, 367, 383; 38, 312, 321; 39, 156, 163; BVerfGE 41, 246, 250; 46, 214, 222; 51, 324, 343. 270 BVerfGE 19, 342, 349. Demgegenüber galt es beispielsweise die Untersuchungshaft zu rechtfertigen (vgl. auch BVerfGE 20, 45, 49; 20, 144, 147. Vgl. zur Problematik auch H.-L. Günther, JuS 1978, S. 11 ff.; Amelung, Kritik, S. 89. 271 Siehe BVerfGE 19, 342, 347. 272 Auch dem BGH zufolge habe Strafe nicht die Aufgabe, „Schuldausgleich um ihrer selbst willen zu üben,“ sondern sei nur gerechtfertigt, „wenn sie sich zugleich als notwendiges Mittel zur Erfüllung der präventiven Schutzaufgabe des Strafrechts erweist“ (s. BGHSt 24, 40, 42). Vgl. auch BVerfGE 35, 202, 235; Jakobs, StrafR AT, 17/29; Freund, Legitimationsfunktion, S. 43 ff.; ders., GA 1995, S. 5 ff.; Noll, H. Mayer-FS,
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Bundesverfassungsgericht zunehmend auch ausdrücklich eine strafrechtliche Sanktionierung bestimmter Verhaltensweisen.273 Das „Übermaßverbot“ wird neuerdings ergänzt durch ein „Untermaßverbot“.274 Zur Begründung beruft sich das Bundesverfassungsgericht auf die Existenz und Funktion des Strafrechts an sich: „Dem Strafrecht kommt seit jeher und auch unter den heutigen Gegebenheiten die Aufgabe zu, die Grundlagen eines geordneten Gemeinschaftslebens zu schützen.“275 Eine solche Rechtfertigung staatlicher Strafgewalt birgt indes Probleme, da sich die Vereinbarkeit staatlicher Strafe mit rechtsstaatlichen Grundgedanken bereits wegen des historisch früheren Ursprungs der Strafe nicht von selbst versteht.276
b) Historische Überlegungen zur Willensbetätigung als Grundlage staatlichen Strafens Zur Fränkischen Zeit finden sich Begriffe wie „nesciens“ (nicht wissentlich), „nolens“ (nicht willentlich), „mala voluntate“ (mit bösem/schlechtem Willen) in Gesetzestexten.277 Gleichwohl ist umstritten, ob man im frühen Mittelalter bereits von einer strafrechtlichen Zurechnung sprechen kann.278 Ekkehart Kaufmann gelangt zu dem Ergebnis, dass er eine Entwicklung des Schuldstraf_________________
S. 232; befürwortend, aber differenziert gegenüber der Schuldstrafe Frank: „Inhalt und zwar begriffsnotwendiger Inhalt der Strafe ist die Vergeltung. Aber Vergeltung ist nicht ihr Zweck. Ihr Zweck ist in erster Linie die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung“, woraus er folgert: „Wir sollen nicht strafen in der Meinung, dass es die höchste Aufgabe des Staates sei, Leid mit Leid zu beantworten, sondern wir sollen erkennen, dass wir nur strafen, um die Rechtsordnung aufrecht zu erhalten“ (Vergeltungsstrafe, S. 22). Kritisch gegenüber dem Bedürfnis einer Strafverfolgung Scheerer, Kriminalstrafe, S. 348 ff.; Baurmann, Folgenorientierung, S. 7 ff. Zur „Krise des öffentlichen Strafanspruchs“ eingehend Lüderssen, Abschaffen des Strafens?, S. 22 ff. 273 Siehe BVerfGE 39, 1, 44 ff.; zustimmend Krey, StrafR AT, S. 8. Hierin wird allerdings teilweise mit bedenkenswerten Gründen eine Verkehrung des Gedankens der objektiven Wertordnung gesehen (s. Rupp-v. Brünneck, BVerfGE 39, 68 ff., insb. 72 ff.; AK GG-Denninger, Vor Art. 1, Rn. 34). Vgl. zur objektiven Wertordnung auch unten, S. 105 ff. 274 Vgl. BVerfGE 88, 203 ff. (Leitsatz Nr. 8). 275 BVerfGE 88, 203, 257. 276 Kritisch auch Calliess: „Die staatliche Strafbefugnis bedarf offenbar, weil mit dem neuzeitlichen Staat und seinem Gewaltmonopol entstanden, keiner besonderen Legitimation“ (NJW 1989, S. 1338). Zur geschichtlichen Entwicklung des Schuldgedankens vgl. auch Nass, Wandlungen, insb. S. 73 ff. 277 Siehe Sellert/Rüping, Geschichte, S. 72, 16b (Lex Thuringorum); S. 75, 18d (Lex Saxonum), 18e (Capitulare Missorum). Vgl. auch die Übersicht zur historischen Entwicklung der Strafbarkeit bei Schlüchter, Grenzen, S. 63. 278 Vgl. die Diskussion bei E. Kaufmann, Erfolgshaftung, S. 10–16.
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rechts nicht erkenne: „Ich sehe vielmehr eine Zeit, in der es Strafe nicht gab, auch keine Ansätze zu ihr. Und weiter sehe ich eine Zeit, in der das Recht anders geworden ist, und dann allerdings viele Ansätze zeigt, die sich im heutigen Recht wiederfinden.“279 Nach Eberhard Schmidt sollen in der Constitutio Criminalis Carolina von 1532 erstmals Ansätze des Schuldprinzips zum Ausdruck gebracht worden sein.280 Ansätze schon deshalb nur, weil es kein übergeordnetes Schuldprinzip gab. Andererseits ist unbestreitbar, dass seit der Fränkischen Zeit Begriffe mit subjektivem Gehalt im germanischen Recht zu finden sind, wenn auch – weil objektiv gefasst281 – ohne ihren heutigen Bedeutungsinhalt.282 So war nach Brunner bei der Brandstiftung im „focum mittere“ (Feuer setzen) die willentliche Verursachung bereits begrifflich enthalten.283 Umgekehrt fehlte es daran, wenn das vertypte Gesamtbild der Tat nach der „Volksanschauung“ dagegen sprach: „Darum hält man es für typisches Ungefähr, wenn die aufgehängte Waffe herabfällt und einen Menschen tödtet oder wenn das durch ein Geschoss geschieht, das von einem Steine abprallt. Dagegen sträubt man sich, die Tödtung durch ein unmittelbar aus der Hand des Schützen abirrendes Geschoss als Ungefähr zu behandeln, weil in diesem Falle der Gegensatz von Wille und That in dem Thatbestande nicht zur Genüge verkörpert ist.“284 Die Typisierung von Tatbeständen konnte nach Brunner denn auch zur Folge haben, dass eine absichtliche Tat als „Ungefährtat“ abgeurteilt wurde, wenn sie äußerlich einer solchen entsprach; ob im Einzelfall Absicht vorlag oder nicht, wurde nicht untersucht.285 Die „Ungefährtat“ umfasste dabei neben der heutigen Fahrlässigkeit auch die nach heutigem Recht objektiv nicht zurechenbaren Erfolge, weil, so Brunner, „das germanische Strafrecht entsprechend der pantheistischen Weltanschauung des germanischen Heidenthums den Zufall nicht kennt“.286 Der Willensbegriff als späterer Grundstein subjektiver Zurechnung wurde also keineswegs genauer geklärt, jedoch als solcher in seiner Undifferenziertheit bereits in die Carolina übernommen. Dass damit keinesfalls nur rechtsstaatlicher Fortschritt bewirkt wurde, mag ein historischer Ausschnitt verdeutlichen, der sich bei Behringer findet. Die Implementierung des Willensbegriffs in die Carolina war der Ausgangspunkt für seine weitgehende Verselbständigung in der sich im 16. Jahrhundert _________________ 279
E. Kaufmann, Erfolgshaftung, S. 18. Siehe Eb. Schmidt, Geschichte, S. 117. 281 Siehe Sellert/Rüping, Geschichte, S. 59. 282 Zur Entwicklung des Strafrechts im römischen Recht und im Hochmittelalter vgl. Wesel, S. 182 ff. u. 332 ff. 283 Siehe Brunner, Missethat, S. 10 mit Fn. 2. 284 Brunner, Missethat, S. 10. 285 Vgl. Brunner, Missethat, S. 10; Sellert/Rüping, Geschichte, S. 61. 286 Siehe Brunner, Missethat, S. 9. 280
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anschließenden Ländergesetzgebung.287 Denn als unbestimmter und metaphysischer Begriff war der Willensbegriff in Zeiten des Aberglaubens ein nützliches Instrument zum Machterhalt.288 Ausschlaggebend hierfür war, dass die Haftung der Constitutio Criminalis Carolina im Rahmen der Zaubereigesetzgebung Differenzen grundlegender Art hervorbrachte. Zwar seien, so Behringer, Hexendelikte nach damaligen physikalischen und theologischen Grundannahmen prinzipiell möglich gewesen289; dennoch sei gerade von Juristen durchaus der Standpunkt vertreten worden, dass Hexen zum Wetterzauber oder zum Fliegen durch die Luft naturgemäß nicht in der Lage seien.290 Auch lutherische Theologen hätten sich teilweise nur schwer mit dem Gedanken anfreunden können, dass der Teufel im Zusammenspiel mit dem Menschen die Fähigkeit besitzen sollte, sich der Allmacht Gottes entgegenzustellen.291 Der Stuttgarter Superintendent Johannes Brenz soll deshalb 1565/66 die Ansicht vertreten haben, dass Hexen zwar nicht zaubern könnten, dass sie jedoch wegen ihrer Absicht, dies zu tun und einen Pakt mit dem Teufel zu schließen, zu verbrennen seien.292 Diese Taktik, wegen der Unmöglichkeit eines kausalen Nachweises zwischen Handlung und Erfolg oder sogar der Unmöglichkeit einer Erfolgsverursachung selbst und der damit verbundenen theologischen Schwierigkeiten auf den Schadenswillen statt den wirklichen Schadenszauber abzustellen und damit das Hexereiverbrechen gänzlich zu „vergeistigen“, legte den Grundstein für eine beispiellose Hexenverfolgung.293 Bereits 1572 statuierte die Kursächsische Kriminalordnung: „So jemandts in vergessung seines christlichen Glaubens mit dem teufel ein Verbündnis aufrichtet, umgehet oder zu schaffen hat, daß die selbige Person, ob sie gleich mit Zauberei niemands Schaden zugefüget, mit dem Feuer vom Leben zu Tode gerichtet und Gestraft werden soll.“294 Das Hexenmandat Bayerns von 1611 stellte schließlich den „traurigen Höhepunkt“ dieser Gesetzgebung dar und war formell bis zur großen Strafrechtsreform durch Feuerbach im Jahre 1813 in Kraft.295 Schon dieser kurze Ausflug in die Geschichte dürfte die Annahme, das Strafrecht achte nur, aber auch schon dann die Würde des Menschen, wenn es das _________________ 287
Siehe Behringer, Hexengesetzgebung, S. 12. Dazu auch Kargl, Handlung und Ordnung, S. 370. 289 Siehe Behringer, Hexengesetzgebung, S. 12. 290 Vgl. Behringer, Hexengesetzgebung, S. 45. 291 Vgl. Behringer, Hexengesetzgebung, S. 55. 292 Siehe Behringer, Hexengesetzgebung, S. 62; vgl. zum Ausreichen des Teufelspaktes für das Hexereiverbrechen entgegen Art. 109 Satz 2 CCC auch Wesel, S. 405. 293 Vgl. Behringer, Hexengesetzgebung, S. 63. 294 Zitiert bei Behringer, Hexengesetzgebung, S. 79. 295 Siehe Behringer, Hexengesetzgebung, S. 7 u. 17 f. 288
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freiheitliche Selbstverständnis des Menschen zugrunde lege296, grundsätzlich in Frage stellen.297 Ein solches Selbstverständnis, das eben auch eine Freiheit zum Pakt mit dem Teufel anerkennt, garantiert jedenfalls für sich allein genommen nicht die Achtung der Menschenwürde bei der Anwendung von Strafrecht. Die Beendigung der Hexenverfolgung lässt eher auf das Gegenteil schließen, dass es nämlich gerade die naturwissenschaftliche Klärung kausaler Zusammenhänge war, die jedenfalls zu jener Zeit zu einem humaneren Strafrecht geführt hat. Diese Grenze des Menschenmöglichen findet heute ihre Berücksichtigung im selbstverständlichen Ausschluss der Zurechnung sowohl im Bereich der Verletzungsverbote als auch – gemäß dem Prinzip „ultra posse nemo obligatur“ – im Bereich positiver Pflichten: Ist ein kausaler Zusammenhang zwischen Handlung und Erfolg nicht nachweisbar oder hätte eine unterlassene Handlung nicht kausal für eine Erfolgsabwendung werden können, so scheidet eine strafrechtliche Zurechnung gleichermaßen und von vorne herein aus. Der Grundsatz, vom Menschen nichts ihm Unmögliches zu verlangen, soll, worauf noch zurückzukommen sein wird, unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG folgen.298 Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass auch die Berücksichtigung der biologischen Fähigkeiten und Grenzen des Menschen aus heutiger Sicht einen nicht unerheblichen Bestandteil seines Selbstverständnisses bildet. Zwar haben sich die physikalischen Grundannahmen seit der Hexenverfolgung entscheidend geändert. Das Abstellen auf den menschlichen Willen ist jedoch noch immer ein eher philosophischer, teilweise auch psychologischer Streitpunkt. Auch wenn also heute Intention und Erfolg losgelöst von jedweder empirisch kausalen Verbindung für eine Strafverfolgung nicht ausreichend sind, dient der menschliche Wille noch immer als eine Art Sammelbecken für spekulative Auffassungen aller Art, obwohl historisch gerade auch durch die Bezugnahme auf das Willensmoment eine Verfolgung von „Verbrechen“ ermöglicht wurde, wie sie aus heutiger Sicht unvertretbar erscheint. Die Verknüpfung zwischen Verletzungserfolg und Willen, die sich in den Schuldformen findet und vom finalen Handlungsbegriff akzentuiert wird299, kann daher _________________ 296
So Burkhardt, Lenckner-FS, S. 22. Dieser Aspekt wird auch von Bauer angesprochen (s. Verbrechen, S. 17 f.). Anzunehmen, ein Wegfall der Schuldstrafe sei „ein Schritt rückwärts“ aufgrund des Umstandes, dass das Zurechnungsprinzip einstmals eine Neuerung der Aufklärung war (vgl. Arthur Kaufmann, R. Lange-FS, S. 35), ist spekulativ und erscheint als eine simplifizierte Darstellung der Verhältnisse. In Wirklichkeit hat mit der Schuldstrafe ein wesentliches Element des peinlichen Strafrechts überdauert, nur dass die körperlichen Leiden, jedenfalls im Falle der Freiheitsstrafe, durch seelische Leiden ersetzt wurden (vgl. Britz, Müller-Dietz-FS, S. 97). Kritisch zum Menschenbild der Aufklärung und den sich daraus ergebenen Konsequenzen für den Schuldbegriff des Strafrechts auch Munoz Conde, GA 1978, S. 66. 298 Vgl. unten, S. 119 ff. 299 Zum finalen Handlungsbegriff unten, S. 169 ff. 297
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nicht einfach und unkritisch positiv bewertet werden, zumal diese Beziehung nur auf ein Verhalten gestützt werden kann, dessen Zusammenhang mit dem Willen auch im heutigen Strafrecht möglicherweise eine eher spekulative Grundannahme ist. Dieser Zusammenhang wird im dritten Teil dieser Arbeit genauer untersucht werden. c) Die Grundlagen und Grundfragen der Schuldstrafe300 Die sich im 17. Jahrhundert entwickelnden naturrechtlichen Strömungen übernehmen das Willensmoment in den von Pufendorf geprägten Begriff der „imputatio“301. Hier entwickelte sich nun die Zurechnung als technischer Begriff.302 Nach Pufendorf ist die Ausübung einer Bewegung von dem Entschluss des Willens und der Vernunft abhängig. Der Mensch wird zum Urheber seiner Handlungen, sie können ihm „zugerechnet“ werden.303 Dabei unterscheidet Pufendorf: „Eine auf freiem Willen beruhende Handlung enthält freilich zwei Dinge: Eines ist gewissermaßen material, nämlich die Bewegung der von der Natur verliehenen Macht oder Ausübung, wenn man sie für sich betrachtet. Das andere ist gewissermaßen formal und besteht in der Abhängigkeit dieser Bewegung oder deren Ausübung von dem Entschluß des Willens [...].“304 Dann führt er weiter aus: „Wir nennen jene Handlungen willentlich, die von dem Willen des Menschen als einer freien Ursache dergestalt abhängen, daß sie ohne desselben Bestimmung, die durch einige seiner inneren Bewegungen nach vorgehender Erkenntnis des Verstandes bewirkt wird, nicht stattfinden würden, _________________ 300 Vgl. auch v. Liszt: „Während der Streit um die Grundfragen und Grundlagen des Strafrechts in den außerdeutschen [...] Ländern, seit einer Reihe von Jahren die besten Köpfe beschäftigt, die tüchtigsten Federn in Bewegung hält und die lebhafteste Anteilnahme aller gebildeten Kreise wachgerufen hat, geht die deutsche Literatur mit vornehm ruhigem Schweigen an dieser mächtigen Geistesströmung vorbei“ (Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, S. 25). 301 Siehe Sellert/Rüping, Geschichte, S. 352; vgl. auch H. Mayer, StrafR AT, S. 104. Dass damit auch in der Handlung der Bestrafenden nun nicht mehr eine „Triebhandlung“, sondern eine „Willenshandlung“ zu sehen ist, wird von v. Liszt hervorgehoben (s. Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, S. 293). 302 Dabei geht die Lehre Pufendorfs nicht auf das positive Recht, insbesondere das römische oder die Carolina zurück, sondern fußt nach einer Untersuchung Loenings, von gewissen Einflüssen der mittelalterlichen Scholastik abgesehen, auf der Philosophie des Aristoteles (s. Geschichte, S. XI); vgl. auch Sellert/Rüping, Geschichte, S. 352 f. 303 Siehe Pufendorf, zitiert und übersetzt bei Sellert/Rüping, Geschichte, S. 380, Quelle 3. Zur Ablösung des theologischen Strafrechts Benedikt Carpzovs durch Samuel Pufendorf vgl. Wesel, S. 392 f. 304 Pufendorf, zitiert und übersetzt bei Sellert/Rüping, Geschichte, S. 379, Quelle 1a.
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also daß es daher in der Macht des Menschen liegt, ob sie geschehen oder nicht geschehen.“305 Ob mit Pufendorf eine auf dem freien Willen basierende Zurechnungslehre Einzug in die Rechtswissenschaft gehalten hat, ist umstritten.306 Unzweifelhaft ist jedoch, dass Pufendorf das Verhalten auf den Willen zurückführt und diesen Zusammenhang für die Zurechnung funktionalisiert. Die Willensbetätigung wurde damit zum Bestandteil der Rechtsdoktrin. Dies erklärt sich daraus, dass die Naturrechtler zwar bemüht waren, Recht auf Annahmen zu gründen, die gerade nicht von sich wandelnden gesellschaftspolitischen Anschauungen abhängig sein sollten, dass sie diese Annahmen jedoch auf einem philosophisch inspirierten Verständnis ihrer selbst als menschliche Wesen aufbauten und dabei zumindest Handlungsfreiheit voraussetzten.307 Damit umfasste das „Unwandelbare“ neben Naturereignissen auch die Bestimmung von Handlungen durch den Willen und die Vernunft des Menschen.308 Anders die bildhaft untermalte Ansicht des Rechtslehrers Hommel im 18. Jahrhundert: „Wer nachdenken und auf seine Seele Acht haben will, kan der Erfahrung und der Empfindung einer scheinbaren Freyheit nicht mehr zuschreiben, als: daß sein Wille und seine Bewegung zugleich entstehe. Daraus läßt sich aber noch nicht schließen, daß eines des andern Ursache sey, oder eines aus dem andern abstamme.“309 „Wir fühlen in uns das Verlangen etwas zu thun, aber die Ursachen, so diesen Trieb erregen, empfinden wir nicht. Also glauben wir, daß unser Verlangen die Ursache der unternommenen Handlung sey. Hierinnen liegt der ganze Selbstbetrug. Ein Ochse, so in einem holen Rade läuft, wodurch eine Mühle betrieben wird, glaubet zu laufen, und bleibet doch beständig auf der Stelle. Also sind die Betrügereyen, nicht allein der äuserlichen, sondern auch der innerlichen Sinne, so mannigfaltig und geringe, daß wir sie unmöglich _________________ 305
Pufendorf, zitiert und übersetzt bei Sellert/Rüping, Geschichte, S. 379, Quelle 1b. Die Lehren des Aristoteles, auf denen Pufendorfs Überlegungen beruhen sollen (vgl. oben, Fn. 302), gäben nach Loening für einen indeterministisch verstandenen „freien Willen“ jedoch nichts her. Cicero soll Aristoteles sogar unter den Vertretern fatalistischer Notwendigkeit des menschlichen Handelns aufgeführt haben (s. Geschichte, S. 294 f. u. S. 311); anders Hardwig, Zurechnung, S. 13. Mittelstraß bezeichnet den Willensbegriff des Aristoteles als „praktisch-philosophisch“ im Gegensatz zu dem metaphysischen Begriff Augustinus‘ und Plotins (s. S. 38). Vgl. zur Problematik der Verselbständigung des Willensbegriffs bei Aristoteles auch Dihle, S. 31. 306 Vgl. Holzhauer, S. 23. 307 Vgl. Holzhauer in Bezug auf Pufendorf, S. 23 f. 308 Vgl. auch Feuerbach, der in Anlehnung an Kant die Prinzipien des Rechts grundsätzlich aus der Sphäre der reinen praktischen Vernunft deduziert, und dieses als „ein[en] sich auf den Willen beziehende[n] praktische[n] Gegenstand“ als Produkt der praktischen Vernunft versteht (s. Kritik des natürlichen Rechts, S. 243). 309 Hommel, S. 59.
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fühlen können.“310 Ausgehend jedoch von der Lehre Pufendorfs und trotz der Zurückhaltung Feuerbachs311 herrschte in der deutschen Strafrechtswissenschaft des 18. und frühen 19. Jahrhunderts eindeutig der Indeterminismus.312 Der Willensbegriff hat damit zunächst vollkommen undefiniert Eingang in das deutsche Recht gefunden. Dem „Segen“ der Zurechnungslehre ging, basierend auf dem Verständnis von den geistigen Fähigkeiten des Menschen, mit den Hexenprozessen zunächst eine Strafverfolgung voraus, die jedenfalls aus heutiger Sicht dem Gerechtigkeitsgefühl widerspricht. Aber auch die Begrenzung der geistigen Einflussnahme auf das Verhalten, wie sie sich bei Pufendorf und Feuerbach findet, wurde nicht empirisch hinterfragt. Indes hatte sich bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eine indeterministische Begründung des Strafrechts so durchgesetzt, dass die Willensfreiheit des Individuums in erheblichen Teilen der Wissenschaft nicht mehr diskutiert wurde.313 Die Auffassung von der Selbstbestimmung hat also über die ursprünglich als „objektiv“ verstandene Zurechnung eines Erfolges zum Willen einer Person314 allmählich Eingang in die Strafrechtswissenschaft gefunden, obwohl der Zusammenhang zwischen Wille und Verhalten (beziehungsweise Erfolg) immer und ausschließlich Gegenstand der Spekulation geblieben ist. Deshalb kann mit Pothast zu Recht gefragt werden, „ob das Derivativ ,der Schuldige‘, das ja auf jeden Anwendung finden darf, der nach unserem Recht zu bestrafen ist, nicht späteren Epochen _________________ 310
Hommel, S. 61. Feuerbach übernimmt die Zurechnung in seine Lehre vom Strafgesetz, womit sie in den Bereich der richterlichen Anwendung des Gesetzes fällt und nicht als Frage des materiellen Verbrechens aufgefasst wird (kritisch hierzu Radbruch, Handlungsbegriff, S. 81 f.). Die Zurückhaltung Feuerbachs hinsichtlich der Frage der Willensfreiheit sei darauf zurückzuführen, dass er diese nicht im Recht, sondern in der Moral ansiedelte und diese Bereiche strikt trennte (vgl. NK-Schild, 1. Aufl., § 20, Rn. 8). Er übernimmt die Abhängigkeit menschlicher Bewegungen vom Willen, unterscheidet dagegen nicht, ob der Wille mit dem Bewirkten in Einklang steht. Er geht vielmehr davon aus, dass sich der Willensinhalt auch als solcher in seinen Wirkungen niederschlägt, womit auch die Fahrlässigkeitstat als „gewollte“ Tat erscheint (s. Radbruch, Handlungsbegriff, S. 80 ff.; v. Bubnoff, S. 26). Erst die Hegelianer rückten den Handlungsbegriff in den Mittelpunkt des strafrechtlichen Systems, Handlung und Zurechnung entsprachen sich danach (dazu Otter, Funktionen, S. 30 f.). Binding löste diese Verbindung, sah die Handlung jedoch als verwirklichten rechtlich relevanten Willen (s. Binding, Normen, Bd. 2/1, S. 92). 312 Siehe Holzhauer, S. 23; NK-Schild, 1. Aufl., § 20, Rn. 8. Vgl. dazu auch H. Mayer, der das Aufkommen der Schuldidee als philosophische Fragestellung im Wesentlichen einem Übersetzungsfehler von „imputatio iuris“ in den Begriff „Schuld“ zuschreibt (StrafR AT, S. 104). Zu den verschiedenen Deutungsarten bei der Unterscheidung von „imputatio iuris“ und „imputatio facti“ vgl. Radbruch, Handlungsbegriff, S. 99, Fn. 3. Hinsichtlich des Verständnisses der „imputatio iuris“ als Kausalzusammenhang zwischen Wille und Körperbewegung s. Radbruch, ZStW 24 (1904), S. 336. 313 Siehe Holzhauer, S. 89. 314 Vgl. v. Bubnoff, S. 141. 311
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als ein ebenso hilfloser metaphysischer Appell erscheinen wird, wie uns das Wort ,Scheusal‘, mit dem man sich noch vor kurzem über die Leiden des sogenannten Königsmörders hinwegsetzte“.315
d) Grammatikalische Überlegungen zum Begriff der Selbstbestimmung Nach diesem kurzen Gang durch die Entstehungsgeschichte strafrechtlicher Zurechnung soll nun zur Klärung der Frage, ob das Menschenbild des Art. 1 Abs. 1 GG dazu zwingt, den Menschen als „frei“ im Sinne von selbstbestimmt zu behandeln, untersucht werden, welche Schwierigkeiten ein in dem Begriff der „Würde des Menschen“ verankertes Attribut der Selbstbestimmung316 bei der Rechtsanwendung des strafrechtlichen Schuld- und Handlungsbegriffes hervorrufen muss. Auf erste Schwierigkeiten stößt die Implementierung der Selbstbestimmung in den Würdebegriff innerhalb der Schuldfähigkeitsfeststellung. Nicht verantwortlich für ihre Taten sind gemäß § 20 StGB all jene, die bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer anderen seelischen Abartigkeit unfähig waren, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser _________________ 315
Pothast, Freiheitsbeweise, S. 321. Robert-Francois Damien hatte 1757 in Versailles versucht, Ludwig XV. zu töten. Er wurde im selben Jahr in Paris auf grausame Weise hingerichtet. Siehe dazu vor allem Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe, S. 7 ff.; s. auch Britz, Müller-Dietz-FS, S. 73 f. Vgl. daneben Pothast, Schwächen, S. 146. Darauf, dass der „Versuch, Schuld auf eine unbewiesene und unbeweisbare Willensfreiheit zu gründen“ inzwischen unzeitgemäß sei, macht auch Tiemeyer (vgl. ZStW 100 [1988], S. 560) aufmerksam und Scheerer kommt zu dem Schluss, dass Strafe im engeren Sinne und Strafrecht keine Universalien seien, „sondern sehr spezifische Entwicklungen, die historisch relativ jung sind und doch schon sehr überaltert wirken“ (Strafrecht, S. 88). Zum geschichtlichen Wandel des Schuldverständnisses auch Dux, S. 8 f. 316 Der Inhalt der Menschenwürde und damit der Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG unterliegt zunächst keiner eindeutigen Definition. Im Bereich der positiven Bestimmung werden im Wesentlichen zwei Auffassungen vertreten (so Pieroth/Schlink, S. 81). Nipperdey zufolge bedarf der Begriff der menschlichen Würde keiner weiteren juristischen Definition. „Die eigenartige Stellung des Menschen beruht auf seinem ethischen Streben, auf seiner Fähigkeit zur Freiheit sittlicher Entscheidung [...]“ (Nipperdey, S. 1 u. 2). Die Auffassung Luhmanns ist dagegen am sozialen Bezug des Menschen orientiert. Bei Freiheit und Würde des Menschen handle es sich nicht um angeborene natürliche Qualitäten des Menschen und auch nicht um sich implizierende Werte, sondern um die äußeren und inneren Vorbedingungen der Selbstdarstellung als individuelle Persönlichkeit im Kommunikationsprozess (s. Grundrechte, S. 61 ff., 70); vgl. dazu auch Jakobs, ZStW 107 (1995), S. 843 ff.; kritisch Stübinger, KJ 1993, S. 40–43. Siehe auch das BVerfG zur Menschenwürde: „Dem liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistigsittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen“ (BVerfGE 45, 187, 227).
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Einsicht zu handeln. Entscheidend für die Schuldfähigkeit ist daher nach der Rechtsprechung „die Einsichtsfähigkeit wie das Hemmungsvermögen des Angeklagten“.317 Der innere Grund des Schuldvorwurfs liege darin, „daß der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, [...] solange die Anlage zur freien sittlichen Selbstbestimmung nicht durch die in § 51 StGB [a. F.] genannten krankhaften Vorgänge vorübergehend gelähmt oder auf Dauer zerstört ist“.318 Diese Leitentscheidung des Bundesgerichtshofes aus dem Jahre 1952 muss Lackner zufolge im Lichte der „Pervertierungen des Strafrechts im Nationalsozialismus“ verstanden werden.319 Im Kern geht es darum, dass eine Wiederholung staatlicher „Nutzbarmachung“ der Strafgewalt, wie dies zu Zeiten nationalsozialistischer Herrschaft geschah, zukünftig verhindert werden soll.320 Diesem Gedankengang folgt auch Baumann, der dem Strafrecht eine soziale und ausdrücklich keine ethische Aufgabe zuschreibt, eine vermehrte Konzentration auf letztere aber auch als Folge der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus versteht.321 Geht man jedoch von der „Selbstbestimmung“ als einem Attribut der menschlichen Würde aus, so drängt sich gerade dann die Frage auf, ob die nach
_________________ 317
Siehe BGHSt 11, 20, 21. Siehe BGHSt 2, 194, 200. Vgl. auch Arthur Kaufmann, JZ 1967, S. 559. 319 Siehe Lackner, Kleinknecht-FS, S. 247 f.; vgl. auch Arthur Kaufmann, R. LangeFS, S. 32. 320 Vgl. dazu Lackner, Kleinknecht-FS, S. 246 ff., u. Stratenwerth, der die Vorbehalte gegenüber zweckorientierten Ansichten während der Arbeit an der Reform des deutschen Strafrechts ab 1952 so beschreibt: „Wenn Franz von Liszt in seinem berühmten Marburger Programm die ,Gerechtigkeit im Strafrecht‘ als die ,Einhaltung des durch den Zweckgedanken erforderten Schuldmaßes‘ definierte, so mußte das als schlechterdings unannehmbar erscheinen, solange man noch den Satz: Recht sei, was dem deutschen Volke nützt, im Ohr und seine Konsequenzen vor Augen hatte. Und wenn etwa Eberhard Schmidt formuliert: ,Wer ... in einem gewissenhaften Strafverfahren als ,Verbrecher‘ überführt ist, dem gegenüber hat der Staat das Recht zu respektloser Inanspruchnahme auch seiner Persönlichkeit, soweit das notwendig ist, um weiterer Verbrechensbegehung durch ihn vorzubeugen‘, so schien auch damit jeglicher Eingriff in die Persönlichkeit gerechtfertigt werden zu können, der eben nur deren künftiges Wohlverhalten verbürgte. Natürlich konnte und wollte niemand den zitierten Autoren selbst auch nur von ferne inhumane Absichten unterstellen – es war die immanente Logik ihrer Konzeption, die man fürchtete. Darin liegt übrigens eine und vielleicht die wichtigste Erklärung dafür, daß die Vertreter der ,modernen‘ Schule in der Großen Strafrechtskommission weithin auf verlorenem Posten gekämpft haben, selbst bei konkreten Einzelfragen, bei denen die weitaus besseren Argumente auf ihrer Seite waren“ (Leitprinzipien, S. 8 f. – Hervorhebung nur hier); vgl. auch ders., Zukunft, S. 8 ff. 321 Siehe J. Baumann, Strafrecht, S. 20, wobei sich Baumann ausdrücklich als Anhänger des Schuldstrafrechts versteht. 318
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den §§ 20, 21 StGB vermindert schuldfähigen oder schuldunfähigen Menschen im Augenblick der Tat ihre Würde verloren haben oder ob auch diese Formen des Verhaltens noch als selbstbestimmtes Verhalten anzusehen sind. Denn einerseits wird in dem Schuldausschluss und in der Anwendung des Maßnahmerechts kein Verstoß gegen die Menschenwürde erblickt322 und andererseits waren es nicht zuletzt die Verbrechen der Nationalsozialisten an von ihnen als „lebensunwert“ erachteten Menschen, die den Parlamentarischen Rat zur Verankerung der Menschenwürde im Grundgesetz veranlassten.323 „Lebensunwert“ waren für die Nationalsozialisten insbesondere auch geistig kranke oder behinderte Menschen.324 Damit war es dem Gesetzgeber nach 1945 ein besonderes Anliegen, gerade auch bei diesem Personenkreis die menschliche Würde hervorzuheben.325 Graf Vitzthum stellt daher fest: „Jedem, auch dem Geisteskranken, dem Kleinkind, Triebtäter oder Todgeweihten, kommt unabhängig von seiner individuellen Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Freiheit kraft seines Menschenseins Subjektqualität zu. Niemand darf als ,non human being‘, als ,Untermensch‘, als ,Material‘ ausgegrenzt, also zum ,Liquidieren oder Abwracken freigegeben‘ werden.“326 Assoziierte man aber mit dem Begriff der menschlichen Würde die Freiheit zur Selbstbestimmung, so käme man zwar noch dazu, dass auch der verurteilte Mörder eine menschliche Würde innehat327, die Schwierigkeiten im Rahmen des Schuldausschlusses bei Geisteskranken und Kindern erscheinen dann jedoch unüberwindbar. Man wird sich also mit dem Zusammenhang zwischen dem Verlust der freien Selbstbestimmung bei Schuldunfähigkeit und dem Begriff des selbstbestimmten Verhaltens als Kriterium menschlicher Würde auseinandersetzen müssen.328 _________________ 322
Ausführlich Jakobs, StrafR AT, 1/12 ff.; vgl. auch Roxin, StrafR AT/1, § 3, Rn. 52. 323 AK GG-Podlech Art. 1 Abs. 1, Rn. 5; vgl. auch AK GG-Denninger, vor Art. 1, Rn. 5 ff. Daneben macht Denninger darauf aufmerksam, dass man auch bemüht war, naturrechtliche Absolutheitsansprüche abzuwehren (vgl. JZ 1982, S. 227 f.). 324 Vgl. Nipperdey, S. 3. 325 Vgl. auch Schreiber, Rechtliche Verantwortlichkeit und Schuld, S. 64. 326 Graf Vitzthum, JZ 1985, S. 202. 327 Siehe Nipperdey, S. 3. 328 So auch Geisler, S. 50. Noch deutlicher wird die Problematik, wenn man bei Griffel liest: „Im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, beschlossen ,vom deutschen Volk im Bewußtsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen‘ ist die Unantastbarkeit der Würde des Menschen hervorgehoben, die zu achten und zu schützen Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist. Dafür ist die freie Willensentscheidung im Bewußtsein sittlicher und rechtlicher Verpflichtung unabdingbare Voraussetzung. Zwingend determinierte Menschen (etwa Geisteskranke) können das nicht leisten. Im reinen Kausalgeschehen gibt es nichts von Sollen und Verantwortung“ (ARSP 84
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Deutlicher noch werden die Schwierigkeiten des Begriffs vom selbstbestimmten Verhalten im Bereich des Handlungsbegriffs des Strafrechts. Denn soweit sich vis absoluta oder Reflexe auf das menschliche Verhalten auswirken, gilt es als nicht „selbstbestimmt“. Zur Verdeutlichung soll ein Fall dienen, der vom Bundesgerichtshof im November 1994 entschieden wurde: Der Angeklagte litt aufgrund einer schweren Hirnverletzung an epileptischen Anfällen; dennoch fuhr er weiterhin ein Kraftfahrzeug. Als er sich eines Tages mit seiner Familie auf der Heimfahrt befand, erlitt er ohne erkennbare Vorzeichen einen Anfall, wodurch sich sein rechtes Bein derart verkrampfte, dass es das Gaspedal niederdrückte. Zudem war der Angeklagte infolge des von einer sog. „Dämmerattacke“ begleiteten Anfalls nicht mehr ansprechbar. Sein Auto erfasste mehrere Fußgänger, die sich größtenteils auf Fußgängerüberwegen befanden, bevor es an einem Hindernis zum Stehen kam. Der Bundesgerichtshof kam hier zu dem Schluss, dass es „mangels willensmäßiger Steuerung oder Beherrschbarkeit an einem strafrechtlich erheblichen Verhalten des Angekl[agten] fehlt“.329 Gemäß Art. 1 Abs. 1 GG verliert auch ein Epileptiker während eines Anfalls nicht seine menschliche Würde. Es wäre aber paradox, einerseits willensmäßige Steuerung oder Beherrschbarkeit eines Verhaltens zu verneinen, andererseits die „Selbstbestimmung“ zu bejahen. Ebenso verhält es sich in Fällen der vis absoluta, der Reflexe oder der Bewusstlosigkeit.330 Damit steht auch die oft zitierte Rechtsprechung des Großen Strafsenats nur soweit im Einklang mit der Verfassung, wie die „freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung“ gerade nicht den Inbegriff menschlicher Würde darstellt. Zwar wird zumeist nur in der Schuldprüfung auf den Begriff der Freiheit abgestellt, die „Selbstbestimmung“ wird aber in dem „Epileptiker-Fall“ bereits bei der Feststellung des Vorliegens einer strafrechtlich relevanten Handlung in Frage gestellt. Die menschliche Würde soll dagegen unter keinen Umständen Gegenstand strafrechtlicher Überprüfung, sondern stets vorausgesetzt sein.331 Die Selbstbestimmung als Kriterium eines materiellen Schuldbegriffs anzusehen ist mithin verfassungsrechtlich bedenklich, wenn sie zugleich Inbegriff menschlicher Würde sein soll. Überhaupt begegnet jede Definition des Würde_________________
[1998], S. 518). Eindrucksvoll wird hier die Zweischneidigkeit der gut gemeinten Intention des BGH deutlich, mit der er den Begriff der Selbstbestimmung hervorhob; denn eine Zwei-Klassen-Gesellschaft dergestalt, wie sie von Griffel beschrieben wird, hatte er sicher nicht im Sinn. 329 BGHSt 40, 341. 330 Vgl. dazu auch Nipperdey, S. 3. 331 Vgl. das BVerfG: „Die Würde des Menschen ist etwas Unverfügbares“ (BVerfGE 45, 187, 229). Vgl. auch Nowakowski: „In seinem Wert und seiner Würde als sittlicher Mensch steht der Angeklagte nicht im Verfahren“ (Rittler-FS, S. 88); Nipperdey, S. 3. Differenzierend Schlehofer, GA 1999, S. 359 ff.
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begriffs, die im weitesten Sinne aus dem Erleben des Menschen hergeleitet wird, immer wieder Schwierigkeiten, wenn spezifisch menschliche Erlebensfähigkeiten im Einzelfall nicht vorhanden sind. Zur Lösung dieser Schwierigkeiten wird der Inhalt menschlicher Würde in der Regel abstrahiert. So gründet Dürig die Menschenwürde bei Geisteskranken auf die potentielle Fähigkeit zur Verwirklichung derselben. Sie sei „als vorhanden zu denken“, auch wenn die Fähigkeit zur freien Selbst- und Lebensgestaltung beim konkreten Menschen fehle. Dem gehen zwei gedankliche Schritte voraus: Erstens beruhe der Begriff der Menschenwürde auf einer Aussage über eine menschliche Seinsgegebenheit, der Befähigung, sich kraft seines Geistes seiner selbst bewusst zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich und die Umwelt zu gestalten, in diesem Sinne also „frei“ zu sein. Zweitens müsse man erkennen, dass diese Freiheit auch bestehe, wenn die aufgeführten „Seinsgegebenheiten“ gerade nicht gegeben seien, denn es könne sich denknotwendig nur um eine abstrakte Freiheit handeln, die „dem Menschen an sich“ eigen sei.332 Denknotwendig ist es nicht, den Würdebegriff aus konkreten Seinsaussagen über den Menschen abzuleiten, wenn er ohne deren Vorliegen ebenso gut angenommen werden kann. Aus dem Gleichheitssatz, in dem Dürig den normativen Niederschlag der Auffassung des Verfassungsgebers erkennt, dass jeder Mensch frei sei333, ergibt sich ebenfalls keine zwingende Notwendigkeit, jeden Menschen kraft seines biologischen Status als frei zu behandeln, wenn die für seine Freiheit ausschlaggebenden Voraussetzungen im Einzelfall nicht vorliegen.334 Es lässt sich also nur entweder eine „abstrakte“ Freiheit formulieren, die unabhängig von der jeweiligen „Kraft des Geistes“ oder dessen Vorhandensein als solchem existieren soll, oder aber man bindet den Freiheitsbegriff an konkrete Voraussetzungen wie die Selbstbestimmung als materielles Kriterium und schließt entsprechend Freiheit aus, soweit diese Voraussetzungen nicht vorliegen. Beide Alternativen vermögen indes keine Lösung für die genannten Probleme zu bieten. Nach ersterer würde der Würdebegriff zwar umfassend wirken, könnte aber wegen der gesetzlichen Differenzierungen im Bereich der Schuld nicht den Schuldbegriff legitimieren. Aus der zweiten Alternative ließe sich zwar ein Differenzierungskriterium für die unterschiedliche Behandlung der Normbrecher ableiten; man müsste dann jedoch hinnehmen, dass auch der _________________ 332 Siehe Dürig, AöR 81 (1956), S. 125; ders., Maunz/Dürig (2001), Art. 1 Abs. 1, Rn. 18 ff.; dagegen Frister, der eine einseitig philosophische Interpretation des Art. 1 Abs. 1 GG als unzulässig ablehnt (s. Schuldprinzip, S. 29 u. Fn. 56); kritisch auch Herdegen in Maunz/Dürig (2003), Art. 1 Abs. 1, Rn. 11. 333 Siehe Dürig, AöR 81 (1956), S. 125. 334 Probleme bereitet dann beispielsweise das „Hirntodkriterium“ bei der Organentnahme (s. dazu R. Merkel, Forschungsobjekt, S. 124, 133 [Fn. 176], 229; ders., DRiZ 2002, S. 184 f., u. ders., Müller-Dietz-FS, S. 513, Fn. 68).
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Würdebegriff im Einzelfall einer Überprüfung unterläge, womit er von der Beweisbedürftigkeit der Schuld wiederum nicht befreien könnte. Beide Interpretationen des Art. 1 Abs. 1 GG liefern damit keine Legitimation für die Schuldstrafe. Die Verzahnung der Begriffe Schuld und Menschenwürde ist im Gegenteil höchst problematisch und erzeugt mehr Unstimmigkeiten, als sie über den gegenseitigen Wechselbezug zur Klärung beitragen könnte. Es zeigt sich, dass der Würdebegriff der Verfassung, soweit er mit Attributen angereichert wird, die sich auf das menschliche Freiheitserleben beziehen, für eine Legitimation des Schuldprinzips nicht geeignet ist.
3. Schuldstrafe zwischen Handlungsfreiheit und Menschenwürde Weder Art. 2 Abs. 1 noch Art. 1 Abs. 1 GG enthalten die Anordnung, den Menschen im deutschen Recht als „selbstbestimmt“ bzw. „willensfrei“ zu „konstruieren“; die Verfassungsgrundsätze haben damit jeder für sich gegen eine Beweisbedürftigkeit der Schuldfrage nicht viel hergeben können. Nun stehen diese Grundsätze nicht unabhängig nebeneinander. Werden Art. 2 Abs. 1 und 1 Abs. 1 GG in ein Verhältnis zueinander gestellt, dann muss die Schuldstrafe nicht mehr nur selbständig, sondern als Bestandteil einer (auch) zweckorientierten Strafgewalt beleuchtet werden. Dabei ist zunächst zu fragen, ob das Schuldprinzip jedenfalls deshalb legitim ist, weil ihm eine strafbegrenzende Wirkung zukommt. Zu untersuchen ist sodann die rechtsethische Frage, ob bzw. unter welchen Bedingungen der Verbrecher durch die Bestrafung zum bloßen „Mittel“ für den Zweck einer allgemeinen Prävention gemacht wird. Die sogenannte „Objektformel“ zur Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG gibt nach dem Bundesverfassungsgericht für die Feststellung einer hiermit gegebenenfalls verbundenen Verletzung der Menschenwürde freilich nur eine grobe Orientierung vor; hinzu kommen müsse, „daß er [der Mensch] einer Behandlung ausgesetzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt, oder daß in der Behandlung im konkreten Fall eine willkürliche Mißachtung der Würde des Menschen liegt“.335 Im Folgenden wird zunächst die These von der begrenzenden Wirkung der Schuldstrafe und anschließend die Frage nach der gebotenen Achtung der Subjektqualität im Rahmen der Art. 2 Abs. 1 und 1 Abs. 1 GG untersucht. Das Willkürverbot wird erst im folgenden Abschnitt aufzugreifen sein.
_________________ 335
BVerfGE 30, 1, 25 f.
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a) Die Begrenzungsfunktion der Schuld für die Strafe unter dem Aspekt einer objektiven Wertordnung Die Frage, inwieweit die Verfassung der staatlichen Gewalt den Auftrag erteilt, den Menschen als frei und selbstbestimmt zu behandeln, ist bisher lediglich in ihren materiellen Aspekten erörtert worden. Zurückgestellt wurde dagegen die Überlegung, ob sich der Staat zur Legitimation seiner Strafgewalt überhaupt auf das Selbstverständnis des Menschen berufen kann. Auch wenn ein solches in den obersten Grundsätzen der Verfassung zum Ausdruck kommt, bedeutet das noch nicht, dass es auch zur Legitimation staatlicher Eingriffe herangezogen werden kann. Die staatliche Strafe stellt zunächst immer einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG dar. Kommt in der Bestrafung selbst jedoch auch die Achtung der Menschenwürde zum Ausdruck, dann könnte sich die Legitimation des staatlichen Eingriffs aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG ergeben. In ihrer Funktion als Schutzrechte stellen Grundrechte zunächst nur Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat dar336; sie von dieser „ursprünglichen und primären Bedeutung als Menschen- und Bürgerrechte zu lösen“, kommt nicht in Betracht.337 Eine gewisse Modifikation wird seit dem Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts unter dem Stichwort der durch die Grundrechte errichteten „objektiven Wertordnung“ anerkannt, jedoch lediglich insoweit, als hierdurch „eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt“. Den Mittelpunkt dieses Wertsystems bilde die sich innerhalb sozialer Gemeinschaft frei entfaltende menschliche Persönlichkeit und Würde.338 Ob sich eine staatliche Schutzpflicht aus der objektiven Wertordnung339 oder direkt aus einem subjektiven Recht auf Schutz340 herleitet, kann hier dahin gestellt bleiben. Grundsätzlich gilt jeweils das oben Ausgeführte341, dass diese Schutzpflicht zunächst nur das „Ob“ eines staatlichen Eingriffs begründet, für das „Wie“ dieses Eingriffs aber einen weiten Spielraum lässt.342 Allerdings _________________ 336
Siehe BVerfGE 7, 198, 204 (Lüth-Urteil); Schmidt-Bleibtreu/Klein, Vorb. v. Art. 1, Rn. 5. 337 Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 290 m. w. N. 338 BVerfGE 7, 198, 205 (Lüth-Urteil); BVerfGE 35, 202, 225; 39, 1, 43; 50, 290, 337. Vgl. auch v. Münch/Kunig, Vorb. Art. 1–19, Rn. 22; AK GG-Denninger, vor Art. 1, Rn. 7, 29 ff.; Schmidt-Bleibtreu/Klein, Vorb. v. Art. 1, Rn. 8; Jarass/Pieroth, Vorb. vor Art. 1, Rn. 3; Maurach/Zipf gründen den Schuldbegriff ausdrücklich auf der objektiven Wertordnung (s. StrafR AT, § 36 I, Rn. 16). 339 So BVerfGE 77, 170, 214 m. w. N.; BVerfGE 92, 26, 46; 96, 56, 64. 340 So Alexy, Grundrechte, S. 413 ff. 341 Vgl. oben, S. 89 ff. 342 Vgl. auch Alexy, Grundrechte, S. 414, der allerdings mit einer gewissen Zurückhaltung formuliert: „Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß der Staat verpflichtet ist,
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könnte sich aus der objektiven Wertordnung das Erfordernis eines Strafrechts ableiten lassen, wenn gerade durch das strafende Recht den in den Grundrechten verkörperten deutlichen Aussagen zum Ausdruck verholfen würde. Das Bundesverfassungsgericht hat eine derartige Stärkung der Geltungskraft der Grundrechte im Rahmen einer objektiven Wertordnung bisher nur dann gesehen, wenn dem Bürger hieraus prinzipiell positive Folgen erwachsen, wie etwa im Falle des Grundsatzes des fairen Verfahrens.343 Durch die Strafe wird der Bürger dagegen zunächst maßgeblich in seinen Grundrechten beschnitten. Andererseits könnte das Schuldprinzip den Rechtsbrecher auch vor ausufernder Bestrafung (zum Beispiel zur Abschreckung anderer) bewahren. Roxin sieht in dem Schuldprinzip ein Instrument zum Schutze des Bürgers, weil es präventiven Strafbedürfnissen der Gesellschaft eine Grenze ziehe. Es habe keine belastende Wirkung und verstoße aus diesem Grunde auch nicht gegen die Verfassung.344 _________________
den einzelnen vor Mord und Totschlag zu schützen. Kaum bezweifelt werden kann ferner, daß der Staat verpflichtet ist, dies u. a. durch strafrechtliche Verbote und deren Sanktionierung zu bewerkstelligen“ (Grundrechte, S. 413). 343 Siehe Pieroth/Schlink, S. 20 ff., 93; vgl. v. Münch/Kunig, Vorb. Art. 1–19, Rn. 22. 344 Dazu Roxin, MschrKrim 1973, S. 320; ders., StrafR AT/1, § 3, Rn. 51–55; vgl. auch Hillenkamp, JZ 2005, S. 317; Kriele, ZRP 2005, S. 186. Zu den Thesen Roxins vgl. de Albuquerque, ZStW 110 (1998), S. 641; Haffke, MschrKrim 1975, S. 49 f. Vgl. auch Hörnle/v. Hirsch, GA 1995, S. 261 ff.; Noll, H. Mayer-FS, S. 227. Zum Begrenzungszweck der Schuldmaßfeststellung auch BVerfGE 86, 288, 346. Obwohl Roxin in der Bestrafung auch einen „sozial-ethischen Tadel“ sieht, lehnt er jede „Vergeltungstrafe“ ab (s. Roxin, StrafR AT/1, § 3, Rn. 44–46). Ähnlich wie der Sühnegedanke wird auch die Vergeltung heute nicht mehr als „Zweck an sich“ diskutiert, sondern erscheint integriert in relative Strafzwecke. Vgl. auch Haft, Schulddialog, S. 31 ff., nach dem der Strafe notwendig die Vergeltung innewohne; Vergeltung bedeute jedoch nicht Ausgleich einer Schuld, sondern Ausgleich der Tat. Dem Vergeltungsgedanken komme unter pragmatischen Gesichtspunkten jedoch keine Funktion zu, weshalb er auch kein taugliches Thema für einen Schulddialog sein könne. Zur Strafe als vom Zweck des Rechtsgüterschutzes unabhängig entstandene „Triebhandlung“ bereits v. Liszt, ZStW 3 (1883), S. 7 ff.; aber auch Noll, nach dem mit der Vergeltung der Schuldausgleich bezweckt wird, weshalb es sich auch bei den absoluten Theorien um Zwecktheorien handle (s. Strafe, S. 4 f., Fn. 4); dazu auch Arthur Kaufmann, Radbruch-GS, S. 334; ders., R. Lange-FS, S. 33 f. Ablehnend gegenüber einem Vergeltungs“zweck“ Frister: „[...] Vergeltung, Sühne oder Gerechtigkeit sind keine mittels der Strafeingriffe zu erreichenden Zwecke, sondern diesen Eingriffen zugeschriebene Eigenschaften [...]“ (Schuldprinzip, S. 14, Fn. 1), der jedoch auf die Frage, ob eine absolute Straftheorie verfassungsgemäß wäre, mit der Begründung, sie werde in dieser Form ohnehin nicht mehr vertreten, nicht näher eingeht (vgl. Schuldprinzip, S. 14 f.). Fraglich ist dabei, ob mit dem Abstellen auf die relative Straftheorie derlei verfassungsrechtliche Grundprobleme tatsächlich umgangen werden können. Vgl. zum Verhältnis der Strafzwecke zueinander Kunz: „Die schrittweise Zurückdrängung der Idee des Schuldausgleichs durch das Präventionskonzept ist ein Leitmotiv des mo-
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Zu berücksichtigen ist jedoch, dass dem Schuldprinzip eine begrenzende Wirkung nicht gleichsam immanent ist. Denn die immer wieder propagierte „Schuldangemessenheit“ richtet sich nach den jeweiligen gesellschaftlichen Anschauungen und schließt grundsätzlich auch die schwerwiegendste Strafe, die Todesstrafe, nicht aus. So könnte im Zuge gesellschaftlichen Wandels das Bestrafungsbedürfnis der Allgemeinheit insbesondere gegenüber Randgruppen ansteigen und sich damit auch die Vorstellungen über das Schuldmaß zum Nachteil des Täters verändern.345 Dies zeigt sich beispielsweise an der Erhöhung der Strafrahmen, denn eine begrenzende Wirkung der Schuld innerhalb des jeweiligen veränderbaren Strafrahmens bildet keine wirkungsvolle Barriere mehr gegen ausufernde Eingriffe in die Freiheitsrechte Einzelner. Damit kann auch das Maß der Schuld, wie es nach § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB bei der Strafzumessung Berücksichtigung finden soll, keine exakt bestimmbare Größe darstellen.346 Zudem ist die begrenzende Wirkung der Schuld auch im Hinblick auf die schuldunabhängige Möglichkeit der Sicherungsverwahrung fraglich347, woran im Übrigen gleichfalls deutlich wird, dass freiheitsentziehende Maßnahmen gesellschaftlich auch dann akzeptiert werden, wenn sie über das Maß der Tatschuld hinausgehen. Nicht gesagt ist außerdem, dass die Geltungskraft elementarer Regeln des Zusammenlebens, wie sie in den Strafgesetzen zum Ausdruck kommen, nicht auch auf andere Weise zum Ausdruck gebracht werden kann. Kriminologische Erkenntnisse lassen keine eindeutigen Schlüsse hinsichtlich der spezial- und generalpräventiven Wirksamkeit strafrechtlicher Sanktionierung zu und lassen damit offen, ob die Ziele der Bestrafung nicht durch mildere Maßnahmen eben_________________
dernen Strafrechts“ (ZStW 98 [1986], S. 824). Einen die Schuldstrafe und andere Konzepte integrierenden Charakter hat dagegen die „vierspurige Rechtsfolgensystematik“ von Walther, ZStW 111 (1999), S. 140 ff. Zur Entwicklung des „Unvereinbarkeitsgedankens“ von repressiver Schuldstrafe und präventiven Ansätzen vgl. Frey, Einführung, S. XVII ff. Grundsätzlich kritisch gegenüber mangelnder Bereitschaft von Seiten der Strafrechtler als auch der Verfassungsrechtler, sich mit den Schnittstellen zwischen den Disziplinen auseinander zu setzen, äußern sich denn auch Jung, GA 1996, S. 511; Androulakis, ZStW 108 (1996), S. 331, u. Scheerer, EuS 12 (2001), S. 137. 345 Dazu auch Streng: „Nicht das Schuldprinzip begrenzt oder bändigt ganz allgemein die Strafbedürfnisse, sondern das jeweilige gesellschaftseigene Ausmaß an Humanität, an Wissen um die Ursachen von Kriminalität und an Bereitschaft zur Hinterfragung von Strafbedürfnissen bestimmt über die Strafmentalität und damit über Gesetze, Gerichtspraxis und Strafvollzug“ (ZStW 92 [1980], S. 661 f.). Zur Frage, wodurch das angemessene Verhältnis bestimmt werde, vgl. dagegen auch J.-C. Wolf, Vergeltung, S. 46 ff. 346 Anders wohl Hillenkamp, JZ 2005, S. 317 f. 347 Zu beachten ist, dass in der Sicherungsverwahrung teilweise ein Verstoß gegen die Menschenwürde gesehen wird, so von Weichert, StV 1989, S. 272 f. Zur Legitimation der Sicherungsverwahrung vgl. auch Jakobs, Strafe, S. 37 ff., 42 ff.
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so gut erreicht werden könnten.348 Hinsichtlich des Würdebegriffs wurde oben festgestellt, dass er selbstverständlich auch den Geisteskranken umfasst, der nicht als befähigt zu selbstbestimmtem Verhalten gilt. Der Geisteskranke wird aber nicht bestraft, sondern nach den Regeln des Maßnahmerechts behandelt. Damit steht Art. 1 Abs. 1 GG einer Alternative zur Schuldstrafe nicht entgegen. Es ist also nicht auszuschließen, dass eine andere staatliche Reaktion als die Schuldstrafe die Grundrechte der Betroffenen in gleichem Maße wahren und achten könnte.349 Schließlich darf bei all diesen Überlegungen nicht vergessen werden, dass auch eine wirkliche Begrenzungsfunktion das Schuldprinzip nicht ausschließlich oder auch vorrangig zu einem Schutzinstrument machen könnte; denn es bleibt stets auch die Grundlage für repressive Eingriffe. Im Hinblick auf den Schutz von Grundrechten trägt das Schuldprinzip gewissermaßen (und jedenfalls) einen Januskopf: Was mit noch so plausiblen Schutzerwägungen zu seiner Legitimation angeführt werden kann, begründet und bestärkt stets auch seine repressive Funktion. Das macht die Schutzargumente nicht gegenstandslos. Es belastet sie aber unaufhebbar mit einer Kehrseite; und dort geht es nicht um Schutz, sondern um Eingriffe. Eine andere Frage ist es allerdings, ob ein am Verhältnismäßigkeitsprinzip bzw. an anderen Maßstäben orientiertes Eingriffsrecht oder das bisherige Strafrecht das im Sinne der Grundrechtsbeeinträchtigung mildere Mittel darstellte. Diese Frage lässt vorläufig allenfalls hypothetische Antworten zu; sie kann ohne praktische Umsetzung eines alternativen Rechts nicht abschließend geklärt werden. Insbesondere erscheint es unzulässig, aus der begrenzten Praxis des bisherigen Maßregelrechts Rückschlüsse auf seine allgemeine Anwendbarkeit abzuleiten. Nach dem Gesagten bietet die auf dem Schuldprinzip beruhende Strafe und damit dieses selbst einen nur unzureichenden Schutz vor dem Machtinstrument der staatlichen Reaktion auf Verbrechen.350 Der Schutz hiervon Betroffener _________________ 348 Zum kriminologischen Forschungsstand vgl. NK-Villmow, Vor § 38, Rn. 60 ff. m. w. N. Der Sozialtherapie als Maßregel bescheinigt Roxin eine Zukunft, sie könne die Strafe aber nicht ersetzen (s. Zipf-GS, S. 140 f.). Zur Sühne durch Strafe oder Therapie vgl. auch Schild, Lenckner-FS, S. 296. 349 Dazu Hassemer, Schuldprinzip, S. 105; Ellscheid/Hassemer, Civitas 9 (1970), S. 27 ff.; Baurmann, Zweckrationalität, S. 301 ff.; Scheffler, Kritik, S. 139 ff. Ablehnend Arthur Kaufmann, R. Lange-FS, S. 31 ff.; ders., Wassermann-FS, S. 889 ff.; ders., Rechtsphilosophie, S. 246; Naucke, Wechselwirkung, S. 184 ff. u. 194 ff.; Dreher, Willensfreiheit, S. 18 ff; Hillenkamp, JZ 2005, S. 317; wohl auch Jakobs, ZStW 117 (2005), S. 262. Kritisch Roxin, Arthur Kaufmann-FS, S. 521 ff.; ders., Müller-Dietz-FS, S. 702 ff. Vgl. auch den Ansatz Gimbernat Ordeigs in ZStW 82 (1970), S. 384 ff.; ders., Henkel-FS, S. 166. 350 Dazu auch Ellscheid/Hassemer, Civitas 9 (1970), S. 46.
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ergibt sich letztlich nur aus der Verantwortung der Gesellschaft für ihre Mitglieder. Diese Verantwortung kann sich zwar durch ein Verständnis des Schuldprinzips als begrenzendes Mittel ausdrücken, doch ist dabei zu beachten, dass eine staatlich praktizierte moralische Abwertung von Einzelnen351 immer die latente Gefahr des Missbrauchs mit sich bringt. Dieses Bedenken richtet sich deshalb auch gegen eine Generalprävention, welche auf der Degradierung des Täters aufbaut.352 Streng bemerkt in Bezug auf den Begrenzungseffekt des Schuldprinzips innerhalb der (negativen) Generalprävention: „Allein bei leichten, wenig emotionalisierenden Delikten vermag das Schuldprinzip also den Täter wirksam davor zu schützen, für die bereits geschehenen oder zu verhindernden Taten anderer Personen exzessiv bestraft zu werden.“353 Solche „wenig emotionalisierenden Delikte“ dürften indes das Strafrecht nach dem Prinzip des staatlichen Strafens als ultima ratio jedenfalls nicht dominant kennzeichnen. Man wird vielmehr sagen können, dass die meisten Delikte des Strafrechts durchaus das Potential einer Erzeugung ausufernder Strafbedürfnisse und der damit einhergehenden Gefährdung der Delinquenten haben. Andererseits ist auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht per se gegen Missbrauch gefeit, wirft doch eine Abwägung zunächst analoge Probleme bei der Eingrenzung auf wie das „Maß der Schuld“.354 Zieht man aber die Grundrechte nicht nur in ihrer Funktion als Abwehrrechte und damit zur Begrenzung staatlicher Eingriffe heran, sondern zugleich und darüber hinaus zu deren Legitimation, wie es das „janusköpfige“ Argument der Schutz- und Begrenzungs_________________ 351
Zu abgeschwächten Inhalten vgl. oben, Kapitel 1, Geisler in Fn. 158, u. Roxin bei und in Fn. 217. 352 So liegt nach der generalpräventiven Lehre Jakobs‘ der Zweck der Strafe in der „Stabilisierung der schwachen Norm“, die erfolgt, indem die Desavouierung des Täters als motivationaler Faktor in die Abwägung anderer einfließt (s. Jakobs, Schuldprinzip, S. 24 f.; vgl. aber auch ders., ZStW 107 [1995], S. 844; Norm, S. 54 f. u. ARSP 2000, Beiheft 74, S. 59 f., wo dieser psychologische Aspekt als nebensächlich bzw. irrelevant dargestellt wird; zum Ganzen oben, S. 58 ff. Zu den Thesen Jakobs‘ vgl. Stratenwerth, Zukunft, S. 23 ff.; Kunz, ZStW 98 (1986), S. 824 ff.; Roxin, SchwZStr 104 (1987), S. 364 ff.; M. Köhler, StrafR AT, S. 371 f.; ders., Hirsch-FS, S. 71 f.; Schünemann, Roxin-FS, S. 12 ff.; U. Neumann, Schuldprinzip, S. 399 ff.; de Albuquerque, S. 644 ff.; Kalous, Vergeltung, S. 28 ff. m. w. N. Allgemein kritisch gegenüber der „positiven Generalprävention“ Calliess, NJW 1989, S. 1340; ders., Müller-Dietz-FS, S. 109 f.; Bock, ZStW 103 (1991), S. 636 ff.; vgl. auch Schöneborn, ZStW 88 (1976), S. 349 ff.; ders., ZStW 92 (1980), S. 682 ff. Zu einem „symbolischen Strafrecht“, das gerade auch über generalpräventive Maßnahmen verwirklicht werde, Diez Ripollés, ZStW 113 (2001), S. 516 ff., 519. 353 Streng, ZStW 92 (1980), S. 661. 354 Dazu Alexy, Grundrechte, S. 319 ff. Achenbach sieht den Rationalitätsgedanken in Art. 2 Abs. 1 GG verwurzelt, da freiheitsbeschränkende Eingriffe aufgrund des Strafrechts nur dann erfolgen dürfen, „wenn sich dies als unabdingbar notwendig erweist“ (JuS 1980, S. 87).
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funktion des Schuldprinzips tut, dann unterliegt man einem besonderen Begründungszwang.355 Indes kann eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte durch die Schuldstrafe im Sinne einer begrenzenden Wirkung nicht festgestellt werden.
b) Der Mensch als Objekt der Verbrechensbekämpfung Was im vorangegangenen Abschnitt unter dem Stichwort der „Begrenzungsfunktion“ diskutiert wurde, findet sein ethisches Pendant in der Prämisse, der Mensch dürfe nicht zum „bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung“ gemacht werden.356 Soweit ihn hiergegen seine angeborene Würde schützen soll, ist mit Schlehofer zunächst festzuhalten: „Der Unantastbarkeitsgrundsatz ist normtheoretisch gesprochen die Bewertungsnorm, auf der die Verpflichtungsnorm des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG aufbaut. In dieser Bedeutung zieht der Unantastbarkeitsgrundsatz der staatlichen Strafgewalt allerdings keine Grenze. Denn als innerer, jeder Anfechtung von außen entzogener Wert kann die ,Menschenwürde‘ von der staatlichen Strafgewalt gar nicht erreicht, mithin auch nicht verletzt werden.“357 Damit sagt Schlehofer aber keineswegs, dass staatliches Strafen auch auf der Ebene der Verpflichtungsnorm die Menschenwürde – genauer: das Gebot, diese zu achten und zu schützen – nicht verletzen könnte. Denn das ist ganz offensichtlich möglich. Schwer vorstellbar wäre ein solches Antasten der Menschenwürde durch strafende Begrenzung der Freiheit allerdings dann, wenn man die hier gemeinte Freiheit als eine empirisch nicht aufweisbare, allein transzendentale oder nur im persönlichen „Freiheitserleben“ begründete auffassen wollte. Denn es ist, grob gesprochen, nicht zu sehen, wie der Staat mit seinem irdischen Instrument des Strafens überhaupt in jenen _________________ 355
Hierin liegt gerade der Unterschied zur nur vergleichenden Diskussion der ZweckMittel-Relation (vgl. dazu Scheerer, EuS 12 [2001], S. 70, Tz. 8 f., sowie P. Fischer, EuS 12 [2001], S. 100, Tz. 5). Das Verhältnismäßigkeitsprinzip begegnet dieser Problematik nicht, da es nach dem zu Art. 2 Abs. 1 GG Gesagten mit einem negativem Freiheitsbegriff auskommt. Deshalb reicht es nicht aus, mit Arloth zu sagen „Jedenfalls ist unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten, namentlich dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, ein Maßregelrecht nicht das mildere Mittel [...]“ (GA 2001, S. 315). Zu berücksichtigen ist dabei, dass Arloths Ansatz von einer Unbegrenztheit des Maßregelrechts ausgeht, die nicht näher diskutiert wird. 356 Sog. „Objektformel“, vgl. BVerfGE 50, 125, 133; s. auch BVerfGE 28, 386, 391; 45, 187, 228; 57, 250, 275. Dazu Dürig, AöR 81 (1956), S. 127 ff.; ders., Maunz/Dürig (2001), Art. 1 Abs. 1, Rn. 34 ff. u. Art. 3 Abs. 1 Rn. 21, Fn. 3; Alexy, Grundrechte, S. 322; Maunz/Dürig-Herdegen (2003), Art. 1 Abs. 1, Rn. 33. Zu verfassungsrechtlichen Fragen der Generalprävention siehe Badura, JZ 1964, S. 337 ff., sowie Neuß, S. 151 ff.; vgl. ferner v. Bar, Gesetz und Schuld im Strafrecht, Bd. II, S. 6; Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, S. 37 f.; Schild, Lenckner-FS, S. 292. 357 Schlehofer, GA 1999, S. 360.
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transzendentalen Bereich sollte hineinlangen können. Eine solche Freiheit könnte im Sinne von Art. 1 GG tatsächlich auch auf der Ebene der Verpflichtungsnorm nicht verletzt, sie könnte nämlich mit Mitteln der empirischen Wirklichkeit überhaupt nicht erreicht werden. Dann erschiene es aber in hohem Grade begründungsbedürftig, wollte man genau diesen transzendentalen oder rein subjektiv begründeten Freiheitsbegriff im Bereich der Schuldvoraussetzungen sehr wohl ausreichen lassen. Die damit verbundenen Probleme wurden bereits oben anhand der Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG und der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Schuld- und Handlungsausschluss dargestellt.358 Im gegenwärtigen Zusammenhang ist jedenfalls festzuhalten, dass auch für die Menschenwürde „in einem rechtlich relevanten Sinn“ primär nur ein äußerer Freiheitsbegriff in Betracht kommen kann.359 Wer dagegen für den rechtlichen Begriff der Menschenwürde die Freiheit im Sinne einer inneren, indeterministisch aufgefassten Autonomie versteht, kann nicht begründen, wie sie die äußeren Folgen der Strafgewalt des Staates begrenzen könnte. Schließlich kann nach Reinhard Merkel auch ein bloß gattungsbezogener Menschenwürdebegriff mit Blick auf das Instrumentalisierungsverbot nicht weiterhelfen, da er Instrumentalisierungen nicht ausschließt.360 Um die Menschenwürde als durch die staatliche Gewalt verletzbar darstellen zu können, bedarf es also eines anderen Verständnisses der Menschenwürde, denn aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG ergibt sich, dass ihr in Bezug auf die staatliche Gewalt auch eine praktische Funktion zukommen soll.361 Daneben drängt sich noch eine weitere mögliche Betrachtung des Zusammenhangs von Strafe und Würde auf: „Strafnormen sprechen durch das in ihnen enthaltene sozialethische Unwerturteil über ein bestimmtes Verhalten den Bürger in seinem Person-Sein, in seiner Ehre an und weisen auch von dieser Seite einen engen Bezug zur Würde des Menschen (Art. 1 I GG) auf [...].“362 _________________ 358
Vgl. oben, S. 80 f. u. 99 ff. Siehe Alexy, Grundrechte, S. 323 f. 360 Vgl. R. Merkel, Embryonenforschung, S. 167. 361 Dazu in diesem Abschnitt a. E. 362 Sommer in BVerfG NJW 1994, S. 1588. Vgl. auch BVerfGE 9, 167, 171; BVerfGE 90, 145, 172; Ellscheid/Hassemer, Civitas 9 (1970), S. 28; Prittwitz, Menschenwürde, S. 19 ff.; Kaiafa-Gbandi, S. 33 ff.; Krey, StrafR AT, S. 8; Kühl, Rechtsphilosophie, S. 9; vgl. auch Arthur Kaufmann: „[...] kann man doch in fast jeder Strafgerichtsverhandlung erleben, daß der strafrechtliche Schuldvorwurf den Angeklagten in seiner sittlichen Integrität aufs allerempfindlichste trifft [...]“ (JZ 1967, S. 553). Dass mit der Strafe ein „sittliches Unwerturteil“ verhängt wird, geht auch aus dem amtlichen Begründungsentwurf zum StGB 1962 (Bundestags-Drucksache IV/650) hervor (S. 96). Eng verknüpft mit dem gegenüber dem Täter erhobenen Vorwurf ist eine hieraus unter Umständen erfolgende benachteiligende Stigmatisierung, vgl. Androulakis: „Durch die 359
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Der Strafausspruch ist mithin geeignet, die Würde des Menschen als ein subjektives Erleben durch Herabsetzung zu verletzen. Achtung und Kränkung dürften aber jedenfalls im menschlichen Erleben in einem Ausschlussverhältnis zueinander stehen. Unter Berücksichtigung der Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts wird man auch eine mittelbare Kränkung des Rechtsbrechers, wenn überhaupt, dann nur unter der Prämisse für vertretbar halten können, dass das rechtswidrige Verhalten tatsächlich auf einem missgebildeten Willen beruht und ein Vorwurf somit entweder die Willensbildung oder die Willensumsetzung treffen kann.363 Denn das Bundesverfassungsgericht hat mit der Feststellung, dass dem Täter mit der Strafe ein Rechtsverstoß zum Vorwurf gemacht werde, auch die Überlegung verbunden: „Ein solcher strafrechtlicher Vorwurf aber setzt Vorwerfbarkeit, also strafrechtliche Schuld voraus. Andernfalls wäre die Strafe eine mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbare Vergeltung für einen Vorgang, den der Betroffene nicht zu verantworten hat.“364 Eine Kränkung des Täters durch staatliche Strafmaßnahmen erscheint damit zunächst als verfassungsrechtlich bedenklich. Ihre Verfassungsmäßigkeit könnte sich jedoch daraus ergeben, dass zwischen der Willensbildung und dem normwidrigen Verhalten des Täters ein vorwerfbarer Zusammenhang besteht. _________________
Strafe wird der Bestrafte stigmatisiert. Man muß das Wort nicht scheuen – Strafe ohne Stigma mag zwar der Wunschtraum manches progressiven Kriminalpolitikers sein, aber das Stigma ist nichts desto weniger noch heute, trotz allen Wandels und ,Fortschritts‘, trotz der freiheitlichen Verweichlichung der Sitten und trotz aller Toleranz, ein Hauptcharakteristikum der Strafe [...]“ (ZStW 108 [1996], S. 310). Vgl. auch Calliess: „Eine vorwiegend normativ orientierte Strafrechtswissenschaft ist auf Grund ihrer meist nicht reflektierten erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Prämissen gezwungen, die Schuld mit außerpositiven Annahmen zu begründen und aus ihnen zu rechtfertigen. Die Fähigkeiten und Anlagen zur freien Selbstbestimmung sind dort jeweils schon vor und außerhalb des rechtlichen Regelungszusammenhanges gegeben. Solange diese naturwüchsige wie individualistische Vorstellung die Lösung des Schuldproblems beherrscht, liegt beim Täter allein die Schuld, daß er sich nicht selbst bestimmt“ (Theorie der Strafe, S. 181). Vgl. auch Noll: „Jede Zeit, jede Gesellschaft hat ihre bestimmte Kriminalität, die sie wie ihr Schatten begleitet“ (Strafe, S. 16). 363 In einem Zuge mit der Hervorhebung der Schuldstrafe äußert sich auch das Verfassungsgericht ablehnend gegenüber einem erniedrigenden Strafrecht, vgl. BVerfGE 45, 187, 228; ähnlich BVerfGE 1, 332, 348; BVerfGE 6, 389, 439; 50, 125, 133. 364 BVerfGE 20, 323, 331. In Bezug auf Art. 1 GG auch Neufelder: „Ein Verstoß gegen diese Grundrechtsfundamentalnorm läge nur dann nicht vor, wenn der Mensch aus freier Selbstbestimmung den Unwert gewählt hätte, obwohl er sich wertgerecht hätte verhalten können, er selbst also es in der Hand hatte, den Vorwurf zu vermeiden. Ist die Willensfreiheit aber nicht nachweisbar, so hat der Staat Eingriffe durch schuldaussprechende Urteile zu unterlassen, da dann einem bestimmten Verhalten als innerstem Ausdruck einer Person der durch Art. 1 GG garantierte Achtungsanspruch versagt wird“ (GA 1974, S. 298). Ebenso Tiemeyer, GA 1986, S. 227.
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Problematisch ist aber auch hier, dass ein Ursachenzusammenhang zwischen Willensbildung und normwidrigem Verhalten bis heute empirisch nicht nachgewiesen werden konnte.365 Deshalb ist auch zu überlegen, ob im Falle einer objektiven Unfreiheit der Täter, von der Gesellschaft mit der Zuschreibung einer fiktiven Willens- oder Handlungsfreiheit bedacht, einer Sanktion unterworfen wird, die ihm überhaupt nicht gerecht werden kann.366 Schließlich bedeutet einerseits die Annahme eines „Anders-handeln-Könnens“ aufgrund einer Fiktion, andererseits das Konstrukt eines „Durchschnittsmenschens“ aufgrund von generalisierten Evidenzen nichts anderes, als dass der Täter gewissermaßen entindividualisiert und in diesem Sinne objektiviert wird. Der Blick auf die konkrete Täterpersönlichkeit und die sie beeinflussenden Faktoren wird aber durch einen so objektivierten Freiheitsbegriff weitgehend verstellt.367 In diesem Zusammenhang bietet es sich an, das Argument Hirschs368 zu korrigieren: Das Gesetz kann die Menschen gerade nicht erreichen, wenn es sie lediglich so nimmt, wie sie sich selbst verstehen. Erforderlich ist vielmehr, dass es sie zunächst einmal so nimmt, wie sie tatsächlich sind. Denn ohne diese Voraussetzung kann ein Gesetz schwerlich Wirkung entfalten. Ginge man also davon aus, dass der Täter in der konkreten Situation nicht anders handeln konnte, dann würde eine staatliche Reaktion, die sich der Degradierung des Täters zur Abschreckung369 oder zur Aufrechterhaltung der _________________ 365 Vgl. auch oben, S. 39 u. 67 f. und ausführlich zur empirischen Nachweisbarkeit unten, Teil 3, Kap. 2. 366 Vgl. auch Neufelder, GA 1974, S. 303. 367 Auf einen anderen Aspekt des Menschen abstellend, aber ähnlich in der Argumentation Noll: „Die idealistische Theorie vermag gerade ihrem Anliegen, daß die Strafe die Würde der Person achten solle, nicht gerecht zu werden; denn der Mensch, der wirkliche Mensch, rückt nicht einmal in ihr Blickfeld.“ „Nur in der konkreten mitmenschlichen Beziehung erklären sich im rechtlich-sozialen Bereich die Phänomene Schuld und Verantwortung. In der Vergeltungsidee wird diese Beziehung nicht sichtbar, sondern gerade verdeckt. Der Mensch wird durch sie zum passiven Objekt einer abstrakten Gerechtigkeit“ (Strafe, S. 6 u. 14 f.). Für eine Behandlung des Täters „als ob“ er frei wäre und die daraus folgende Bestrafung Mosbacher, JR 2005, S. 61. 368 Siehe oben, S. 41. 369 Zum Abschreckungseffekt des Strafvollzuges hinsichtlich der Rechtsbrecher und der Mehrheit der Bevölkerung bemerkt Müller-Dietz: „Sehr wahrscheinlich denkt diese Mehrheit auch nicht im Traum – oder in der Regel – daran, Straftaten zu begehen, die mit Freiheitsentzug geahndet werden. Ihre Kriminalität, also die der Braven und Angepaßten, bewegt sich eher im unteren Bereich, zwischen Ladendiebstahl, Schwarzfahren und Steuerhinterziehung. Trifft diese Annahme zu, dann braucht die mehr oder minder normkonforme Mehrheit auch gar keine relevante Abschreckung durch den Strafvollzug, weil die durch Erziehung und Sozialisation internalisierte oder eingepflanzte Moral im allgemeinen jedenfalls von der Begehung schwerer Straftaten abhält. Daß die anderen, die – aus welchen Gründen auch immer – ein solches ,Stützkorsett‘ nie erworben haben, oder bei denen es – durch welche Mechanismen auch immer – disfunktional
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Normtreue anderer370 bediente, den Täter nach der Verfassungsinterpretation, die für die Legitimation des Schuldprinzips herangezogen wird, gleich in zweifacher Weise als bloßes Objekt behandeln: einerseits durch die Zuschreibung von nicht vorhandenen, ihm sogar prinzipiell verschlossenen Fähigkeiten, was der Persönlichkeit des Täter nicht gerecht würde, ihn insofern „objektivierte“ und damit in der Würde seiner eigenen Personalität verfehlte; und andererseits durch eine Sanktion, die gleichfalls an der Persönlichkeit des Täters vorbeiliefe, weil sie auf ein anderes Persönlichkeitsbild zugeschnitten ist, als es der empirischen Wirklichkeit des Straftäters entspricht. Aus der Annahme objektiver Unfreiheit im Zusammenhang mit einem ethischen Verständnis der Menschenwürde, wonach die Persönlichkeit eines jeden, also auch des Verbrechers zu achten ist, folgt dagegen, dass der staatliche Eingriff nur unter Berücksichtigung der besonderen Eigenart des Täters erfolgen darf. Der Täter wäre dann nicht Objekt der Verbrechensbekämpfung, sondern eine in ihrer Individualität zu respektierende Person bei der Ausgestaltung eines möglichst friedlichen Zusammenlebens.371 Betrachtete man ihn so, müsste bei den Mitteln staatlicher Reaktion das Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft sorgfältig gegenüber den individuellen Bedürfnissen des Täters abgewogen werden. Dass der Respekt gegenüber der Täterpersönlichkeit im Falle ihrer objektiven Unfreiheit keineswegs obsolet würde, zeigt sich gerade daran, dass die staatliche Reaktion auf den Täter abgestimmt sein müsste.372 Auch bei Anwendung eines Eingriffsrechts ohne Schuldprinzip müsste folglich der Mensch in einer Weise Beachtung finden, die es verbietet, ihn nach den Vorstellungen der Gesellschaft „umzuformen“ oder die Sanktionsmöglichkeit allein zur Abschreckung anderer zu missbrauchen. Achtung der Menschenwürde bedeutete da_________________
geworden ist, durch den Strafvollzug nicht abgeschreckt worden sind, haben sie ja durch die Begehung von Straftaten bewiesen“ (Schneider-FS, S. 1005 f.). 370 Vgl. dazu oben, bei und in Fn. 352. 371 In diesem Sinne ließe sich auch eine frühe Entscheidung des BVerfG interpretieren, in der es heißt: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten. [...] Dies heißt aber: der Einzelne muß sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, daß dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt“ (BVerfGE 4, 7, 15 f.). Im Ergebnis ebenso, dabei aber auf die menschliche Selbstbestimmung abstellend BVerfGE 45, 187, 227 f. Dazu Armin Kaufmann, Aufgabe, S. 6 ff. Vgl. auch BVerfGE 12, 45, 51. 372 Auch Pawlik räumt dem Delinquenten einen Anspruch auf Nutzung sozialpräventiver Maßnahmen – also wohl therapeutischer Möglichkeiten – ein (s. Person, S. 94 m. w. N.).
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nach einfach, den Menschen so zu respektieren wie er ist.373 Eine solche Herangehensweise entspräche daneben der Grundintention der Verfassung, die Rechtsbeziehungen zwischen Bürger und Staat unter dem Gesichtspunkt größtmöglicher Freiheit zu ordnen.374 Das Schuldprinzip könnte hingegen selbst dann noch relativ unproblematisch angewendet werden, wenn eine Gesellschaft dahin tendierte, die Probleme mit ihrer Kriminalität durch rigoroses „Wegsperren“ der Täter zu lösen. Naheliegend ist daher die Überlegung, dass bereits aus dem Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG das Gebot resultiert, den Täter mit seiner Persönlichkeit zu respektieren, sei sie auch unter sozialen Gesichtspunkten fehlerhaft in Erscheinung getreten. Zu beachten ist allerdings, dass auf dem Boden der Annahme, Menschen seien in ihrem Verhalten jedenfalls im Sinne eines starken Freiheitsbegriffs nicht „frei“, jede negative Sanktion ein gravierendes Problem erzeugt, das Pothast so formuliert: Die Sanktionen träfen dann größtenteils die ohnehin benachteiligten Individuen und hätten damit den Beigeschmack einer ungerechten und ungleichen Behandlung.375 Dagegen kann man mit einem starken Freiheitsbegriff gegen den Menschen einen Vorwurf erheben, der die Sanktion als Ausgleich, als Wiederherstellung der Gerechtigkeit erscheinen lässt. Möglich ist dies, nach Pothast, freilich nur „um den sehr hohen Preis eines metaphysischen, mit unseren Erkenntnismitteln nicht einzulösenden Menschenbildes“.376 Was Pothast als Problem eines Verantwortlichkeitsbegriffs skizziert, der den Menschen als determiniert begreift, kann allerdings auch als Chance dieses Begriffs aufgefasst werden: Gerade weil er einen „Zug ungleicher Verteilung“377 trägt, begrenzt er auch jedwede negativen Sanktionen, die durch ihn legitimiert _________________ 373
„Zwangs-Sozialisierungen“ wären also auch dann nicht mit der Vorgabe des Art. 1 GG zu vereinbaren; vgl. dazu Roxin, StrafR AT/1, § 3, Rn. 39. Ebensowenig wäre wegen Art. 2 Abs. 1 GG ein Wegfall der geltenden Beweislastregeln oder die Errichtung von Konzentrationslagern zur „vorbeugenden Sicherungsverwahrung“ zu befürchten; vgl. Kriele, ZRP 2005, S. 186. Wer so argumentiert, verkennt, dass die Verfassungssgrundsätze auch bei einem anderen Sanktionenrecht als dem des geltenden Strafrechts nicht obselet werden. Auch durch die Hirnforschung wird, entgegen der Ansicht Krieles (s. ebd., S. 187), dem Gedanken der Menschenwürde nicht die Grundlage entzogen; vgl. dazu S. 345 f. 374 Calliess bemerkt hierzu: „Diese Grundposition der Verfassung ist in das genaue Gegenteil verkehrt worden. Nicht so sehr die grundrechtlich verbürgte Rechtsbeziehung von Bürger und Staat, sondern allein die Strafe als staatliches Handeln mit ihren Zwecken und Zielen dient nun der Fundierung des Strafrechts. Doch wo Zwecke und Ziele staatlichen Handelns die allein entscheidenden Kriterien werden, verliert das freiheitsverbürgende Recht seine Kraft. Recht wird zum bloßen Instrumentarium staatlicher Lenkung und Steuerung gesellschaftlicher Prozesse“ (NJW 1989, S. 1338). 375 Siehe Pothast, Verantwortlichkeit, S. 125. 376 Pothast, ebd. 377 Pothast, ebd.
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werden. Denn die (glücklichen) Rechtstreuen könnten die staatliche Reaktion gegenüber den (unglücklichen) Delinquenten zwar legitimieren, sie könnten sie aber de facto nicht durchsetzen, ohne ungerecht zu sein. Denn wenn man davon ausgeht, dass das Handeln des Delinquenten unvermeidbar war, dann gibt es keine abschließend wahre oder richtige Antwort darauf, warum ihm über einen möglichen Ausgleich des Schadens hinaus ein „Übel“ zugefügt werden darf. Zwar lässt sich noch gut begründen, warum es jedenfalls fairer erscheint, ihn die Folgen seines „So-geworden-Seins“ tragen zu lassen und diese Folgen nicht anderen aufzulasten, indem man beispielsweise einen Serienmörder weiterhin frei herumlaufen und somit auch weiter morden ließe. Damit lässt sich das dem Delinquenten zugefügte Übel aber nicht abschließend begründen. Die Gesellschaft könnte Serienmördern ja auch begegnen, indem sich jeder Einzelne selbständig um seinen Schutz kümmerte. Dann würde sie sich auf das Verhalten des Mörders einstellen, ihn dabei in seinem personalen „So-sein“ aber unangetastet lassen. Dass sie diesen Weg nicht wählt und nicht wählen wird, beruht auf der Erwägung, dass eine friedliche gesellschaftliche Entwicklung ohne ein Mindestmaß an normativ garantiertem wechselseitigen Vertrauen-Können nicht vorstellbar ist. Das ist natürlich höchst plausibel und gehört zu den Legitimationsgrundlagen von Staat und Recht. Es schließt aber nicht aus, dass einem Delinquenten mit dem Strafübel gleichwohl eine Last auferlegt wird, die ihm selbst gegenüber einer letzten moralischen Begründung nicht fähig ist. Wenn nämlich ihm selber weder die Bedingungen seines eigenen So-Seins noch die seiner Veränderung verfügbar wären, so müsste er mit dem Erleiden dieses Übels im Sinne der allseits erwünschten Ordnung für etwas „bezahlen“, wofür er in einem ganz ursprünglichen und unmittelbaren Sinne „nichts kann“. Wegen dieser verbleibenden „Gerechtigkeitslücke“ gegenüber dem Individuum erwächst für die davon profitierende Gesellschaft aus den Grundsätzen der Verfassung eine (Mit-)Verantwortung, diese Lücke so klein wie möglich zu halten (Verhältnismäßigkeitsprinzip).378 Im Gegensatz zum Strafvollzug, der immer auch ein Vergeltungselement enthält, dürften bei dem hier skizzierten alternativen Sanktionenrecht ausschließlich der Schutzanspruch der Gemeinschaft und der Freiheits- und Achtungsanspruch des Täters berücksichtigt werden. „Achtung“ der Täterpersönlichkeit bedeutete dann, dass zur Begründung des „Wie“ einer Sanktion, also der Erforderlichkeit des konkreten Eingriffs, erforscht werden müsste, warum der konkrete Täter so hat handeln müssen, wie er gehandelt hat, und wie ihm zu einem anderen Verhalten verholfen werden könnte. Wäre ein Täter für die Gemeinschaft in einem Maße gefährlich, das seine Verwahrung erforderlich _________________ 378
Das Verhältnismäßigkeitsprinzip verböte es freilich auch heute schon, für den „ ,Verzehrdiebstahl einer Milchschnitte‘ im Wert von 25 Cents“ ein „zehnjährige[s] Nacherziehungsprogramm“ anzuordnen; dass dies nicht der Fall sei, befürchtet zu Unrecht Hillenkamp, JZ 2005, S. 317.
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machte, müsste innerhalb des Rahmens, der zur Sicherung notwendig ist, dem Täter größtmöglicher Freiraum gewährt werden. Die Erforderlichkeit des Eingriffs selber, also das „Ob“ der Sanktion bestimmte sich freilich auch dann nicht nach der Gefährlichkeit des Täters, sondern wäre bereits durch die Norm und den ihr immanenten Zweck, den Erhalt der sozialen Normenordnung, vorgegeben.379 Die Grundgedanken des hier angedeuteten alternativen Sanktionenrechts tragen natürlich nur dann, wenn die Verfassungsgrundsätze der Handlungsfreiheit und Menschenwürde bei der Frage von Gerechtigkeitserwägungen auch weiterhin herangezogen werden. Diese Verfassungsgrundsätze sind aber der Rahmen, in dem allein die Argumentation der vorliegenden Arbeit entwickelt wird. Dass in einer anderen Gesellschaft mit möglicherweise anderen vorrangigen Rechtsprinzipien der Mensch auch als bloßes Objekt betrachtet und behandelt werden könnte, ist selbstverständlich, bleibt aber hier außer Betracht. Das Schuldstrafrecht könnte davor nach dem Gesagten im Übrigen auch nicht schützen.
c) Zusammenfassende Thesen Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass das Menschenbild des Grundgesetzes, wie es insbesondere durch Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG zum Ausdruck gebracht wird, für die Legitimation des strafrechtlichen Schuldbegriffs keine plausible Grundlage bildet. So begegnet zunächst die Berufung auf die Verfassungsgrundsätze zur Rechtfertigung des Schuldurteils Bedenken. Zwar käme hierfür eine nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch das Grundgesetz errichtete „objektive Wertordnung“ in Betracht; ein solches Argument ist allerdings verbunden mit einer Beweislast des Gesetzgebers hinsichtlich der damit erreichbaren prinzipiellen Verstärkung der Wirkungskraft der Grundrechte. Eine solche Verstärkung durch das Instrument der Schuldstrafe ließ sich indes nicht feststellen. Die bisherigen Überlegungen zum Verhältnis der Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG zum Schuldstrafrecht seien nachfolgend in fünf knappen Thesen zusammengefasst: 1.
Gründet man Schuld und Menschenwürde auf eine Freiheit zur Selbstbestimmung, dann müsste jeder Schuldausschluss, der die Fähigkeit zu dieser verneint, zugleich die Menschenwürde des Handelnden negieren. Ein bloß speziesbezogener, also nur der Menschengattung als ganzer zugeschriebener Würdebegriff vermag andererseits nicht zu klären, warum zwar eine generelle (Gattungs-)Freiheit zur Selbstbestimmung
_________________ 379
Anders Hillenkamp, JZ 2005, S. 317 m. w. N., der diesen primären Zweck einer Sanktion undiskutiert lässt.
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bejaht, im Einzelfall dagegen verneint werden muss. Die scheinbare Konsonanz von Schuld und Menschenwürde wirkt sich deshalb im Ergebnis zu Lasten des Täters aus; er wird dabei in gewissem Maß einer „objektivierenden“, entindividualisierenden Betrachtung unterworfen. 2.
Weder ein transzendentales noch ein subjektiv-individuelles Freiheitsverständnis kann für die in Art. 1 GG genannte menschliche Würde maßgebend sein, denn eine in diesem Sinne verstandene menschliche Würde könnte staatliche Eingriffe nicht begrenzen. Freiheit als Voraussetzung des rechtlichen Schuldbegriffs kann deshalb nur in einem äußeren funktionalen Sinne verstanden werden. Auch das Gebot eines angemessenen Verhältnisses von Schuld und Sühne kann nur dann eingriffsbegrenzend wirken, wenn beide Bereiche einer Feststellung oder einer Einwirkung seitens der Staatsgewalt überhaupt zugänglich sind. Jedenfalls personale „Sühne“ kann aber allenfalls mittelbar durch den staatlichen Eingriff erreicht und sie könnte selbst in diesem Fall nicht sicher festgestellt werden.
3.
Wird Schuld an empirische bestätigte Sachverhalte geknüpft, so sind zwar die Zurechnungsregeln, wie sie den neuzeitlichen Schuldbegriff prägen, zunächst geeignet, richterliche Willkür im Bereich der Strafbegründung allgemein zu reduzieren und damit dem Strafrecht insgesamt ein humaneres Gesicht zu geben; eine poena talionis ist aus heutiger Sicht indiskutabel. Was unter dem Strafzumessungsgesichtspunkt der Schuld im Sinne des § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB genau zu verstehen ist, bleibt jedoch unklar. Das Maß der Schuld richtet sich in hohem Grade nach den jeweiligen gesellschaftlichen Anschauungen, ist also variabel und vermag damit der staatlichen Strafgewalt jedenfalls keine absolute Grenze zu setzen.
4.
Für eine Legitimation der Schuldstrafe aus der Funktion der Grundrechte könnte daher allenfalls sprechen, dass sich möglicherweise so und nur so eine faktische Besserstellung des Normbrechers im Vergleich zur Anwendung anderer staatlicher Eingriffsinstrumente erreichen lässt. Die Annahme einer solchen Besserstellung bleibt indes eine Hypothese, da die Auswirkungen eines alternativen Eingriffsrechts, das den heutigen Maßstäben, etwa dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip entspricht, nicht bekannt sind. Auf der Grundlage einer hypothetischen Annahme lässt sich eine Besserstellung des Grundrechtsträgers nur behaupten, nicht aber begründen; Strafzumessungsgesichtspunkte tragen deshalb zur Legitimation der Schuldstrafe auf der Basis der Grundrechte nichts bei.
5.
Schließlich ist ungeklärt, ob es der Schuldstrafe bedarf, um das Wertesystem einer Gesellschaft angemessen zu schützen. Immerhin erscheint
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es nicht ausgeschlossen, dass auch staatliche Sanktionen, die keinen Vorwurf ad personam des Täters mehr enthalten, dies ebenfalls, vielleicht sogar besser leisten könnten. Es bleibt noch anzumerken, dass das Postulat der Schuld den Gesetzgeber seiner Pflicht, staatliche Eingriffe in Art. 2 Abs. 1 GG zu legitimieren, geradezu enthebt. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit fordert aber auch die Beachtung der Persönlichkeit eines Normbrechers. Die Zuschreibung von Schuld zur empirischen Persönlichkeit des Normbrechers ist aber möglicherweise falsch adressiert; sie könnte in Wahrheit einer gleichsam metaphysischen Person vor der Tat, ausgestattet nämlich mit einer auf metaphysischen Annahmen beruhenden Willensfreiheit, gelten. Der strafende Staat verführe, sofern die Freiheitsannahme unbegründbar wäre, mit dem Normbrecher dann so, als ob dieser ein anderer wäre. Dann würde dem Delinquenten seine wirkliche Subjektqualität möglicherweise abgesprochen.
4. Das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG Ein Schuldvorwurf gegenüber dem Rechtsbrecher kann nur dann gerechtfertigt sein, wenn der Täter die Möglichkeit hatte, die Tat zu vermeiden. Soll das Menschenbild des Strafrechts mit dem verfassungsrechtlichen Achtungsanspruch übereinstimmen, dann folgt aus Art. 1 Abs. 1 GG unmittelbar, dass diese Möglichkeit wenigstens prinzipiell existieren muss, da „[...] nur ein real mögliches Verhalten Gegenstand richtiger rechtlicher Normierung sein kann“.380 Hieraus ergeben sich bestimmte Anforderungen an die strafrechtliche Zurechnung. Denn soll die Abstimmung von Schuld und Sühne sachgerecht erfolgen381 und damit dem Prinzip materieller Gerechtigkeit genügen, dann sind hierfür konkrete Kriterien erforderlich. Im Folgenden soll unter Einbeziehung strafprozessualer Erwägungen zunächst die Frage erörtert werden, welcher Art _________________ 380
Engisch, Gerechtigkeit, S. 239; zum Prinzip des „ultra posse nemo obligatur“ vgl. ders., Eb. Schmidt-FS, S. 94, u. ders., Konkretisierung, S. 116 f. m. w. N., sowie Kahrs: „Daraus folgt als Grundlage eines Zurechnungsprinzips der Satz, daß die Zurechnungsfrage sich dort nicht stellt, wo die Rechtsgemeinschaft vom Rechtsunterworfenen Unmögliches verlangen würde“ (S. 37); J. Baumann, der ausführt, dass es als eine Aufgabe des Gesetzgebers betrachtet werden könne, „darauf zu achten, daß nur Erfüllbares verlangt wird“ (Strafrecht, S. 23 f.); u. Maurach/Zipf, soweit sie bemerken, mit strafrechtlichem Verlangen dürfe „dem Menschen nicht Übermenschliches abgefordert“ werden (s. Maurach/Zipf, StrafR AT, § 36 I, Rn. 5). Weitergehend H. Foth: „Der Satz: Nulla poena sine culpa stellt letztlich eine Ungeheuerlichkeit dar, da er, in sich widerspruchsvoll und im beständigen Gegensatz zur Erfahrung, den Menschen im Recht überfordert“ (ARSP 62 [1976], S. 261); s. auch ders., ebd., S. 252. 381 Siehe BVerfGE 6, 389, 439; 20, 323, 331; 25, 269, 286; 45, 187, 228; 50, 125, 133; BVerfGE 86, 288, 313; 90, 145, 173; 105, 135, 153.
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diese Kriterien sind, um anschließend die hieraus gewonnenen Folgerungen in die verfassungsrechtliche Diskussion einzubinden.
a) Normative Konstruktionen vor den Schranken des Art. 3 Abs. 1 GG Die Rechtswissenschaft ist nicht in der Lage, Erkenntnisse über die Natur zu liefern.382 Ihr Gebiet sind in erster Linie normative Fragen, Probleme und Konstrukte. Normative Begriffe entziehen sich aber in ihrem Wesen einer streng naturwissenschaftlichen Beweisführung.383 So gibt es kein natürliches Kausalgesetz, das einen Menschen zum „Täter“ macht, und kein natürliches Kausalgesetz, aus dem Schuldigkeit erwächst.384 Blau sieht deshalb in dem von der Rechtsordnung umrissenen Normaltäter „eine Rechtsfigur, ein juristischpsychologisches Konstrukt [...], [das] aber nicht etwa nur naturrechtlichen Kategorien, sondern der Selbst- und Fremderfahrung im normalen Umgang mit anderen Rechtsgenossen entspricht“.385 Der Begriff des „Normaltäters“ könnte also ein normatives Gebilde sein, das zwar aufgrund evidenter Erlebnisse geformt wird; doch mag die Verantwortlichkeit, die auf dem Freiheitserleben eines so bezeichneten Täters beruht, naturwissenschaftlich unzugänglich sein.386 _________________ 382 Zum Spannungsfeld zwischen Rechts- und Naturwissenschaft vgl. auch Arthur Kaufmann, Bockelmann-FS, S. 67 ff. Würtenberger rückt das Normative in den Vordergrund, um die Rechtswissenschaft von den Einflüssen der Psychologie, Psychoanalyse und Soziologie frei zu machen (s. Jescheck-FS, S. 37 f.). 383 Vgl. die Ausführungen U. Neumanns zur Falsifikationsmethode bei rechtlichen Deutungen in Loccumer Protokolle, S. 152 ff., und zu Logik und Wahrheit in der Rechtswissenschaft: „Dogmatische Sätze sind nicht verifizierbar [...]“ (Rechtsontologie und juristische Argumentation, S. 37); ders., Schuldprinzip, S. 404 f. 384 Ausführlich Kelsen, Rechtslehre, S. 79 ff. 385 Blau, Jura 1982, S. 395; ähnlich Y.-W. Kim, Schuldprinzip, S. 65; vgl. auch Kohlrausch, Güterbock-FS, S. 26. Zur Unergiebigkeit des „homunculus ,maßgerechter Mensch‘“ siehe Hassemer, Schuldprinzip, S. 91. 386 So wohl Schwalm: „Da sich jedoch die Möglichkeit strafrechtlicher Schuld und damit die Richtigkeit des Schuldprinzips weder exakt beweisen noch exakt widerlegen läßt, beruht das Schuldprinzip auf einem Postulat, dem Schuldpostulat, für das der Gesetzgeber die Verantwortung übernommen hat und von dem die Rechtsprechung ausgehen muß. Unter einem Postulat darf nicht etwa eine willkürliche, sondern muß eine zwar nicht exakt beweisbare, aber mit guten Gründen aufgestellte wissenschaftliche Behauptung verstanden werden. Die guten Gründe bestehen hier in den Erfahrungen und Erkenntnissen, daß der relativ reife Mensch grundsätzlich sich Handlungsziele setzen kann (Fähigkeit zu finaler Überdeterminierung), daß ein solches Ziel auch die Befolgung sozialer Normen sein kann, daß in ihm im Zusammenhang hiermit ein (subjektives) Verantwortungsbewußtsein vorhanden sein und sich bei Normverletzung als Schuldbewußtsein äußern kann. Diese Gründe sprechen dafür, daß der Gesetzgeber es vertreten
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Dabei muss aus jeder strafrechtlichen Konstruktion, die strafbegründend wirkt, wegen des in Art. 103 Abs. 2 GG enthaltenen Bestimmtheitsgrundsatzes hervorgehen, auf welche Lebenssachverhalte subjektiver oder objektiver Art sie Anwendung finden kann.387 Dies ist gemeint, wenn sich ein wertender Begriff im Rahmen des Rechts zu einem dogmatischen Begriff entwickelt, der es erlaubt, eine weitgehend einheitliche Anwendung der Norm zu gewährleisten. Das Prinzip der rechtlichen Gleichstellung bestimmter Sachverhalte findet seinen Ausdruck insbesondere in Art. 3 Abs. 1 GG.388 Dabei darf der Gesetzgeber nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts natürliche Gesetzlichkeiten, die in der Sache selbst liegen, und die fundierten allgemeinen Gerechtigkeits_________________
darf, grundsätzlich den relativ reifen Menschen für sein Verhalten verantwortlich zu machen und damit strafrechtlich als ein Wesen anzusehen, das schuldhaft handeln kann. Das ist mit dem Schuldpostulat gemeint“ (JZ 1970, S. 489). Kritisch R. Lange: „Müssen wir nicht versuchen, die Wurzeln des Strafrechts tiefer zu treiben? Es ist kaum ein Zufall, daß sich [...] gerade Empiriker gegenwärtig des Freiheitsproblems mit aller Intensität annehmen und daß sie von einem anthropologischen Ansatz ausgehen, wie wir das auch ringsum in den Grundlagenwissenschaften der Kriminologie gewahren. Sie überschreiten damit bewußt den Boden ihrer jeweiligen Einzelwissenschaft. Dieser Schritt ist in der Tat heute notwendig und auf keinem Gebiet notwendiger als in der Frage der Schuldfähigkeit“ (Bockelmann-FS, S. 264). Vgl. zum Komplex des Individuums als empirisches Objekt auch Rickert, S. 180 und 211. 387 Auch Küpper weist darauf hin: „In jedem Falle muß aber der Wertungsgegenstand, der mit einem Wertprädikat versehen werden soll, Beachtung finden. Sobald das Objekt der Wertung aus dem Blick gerät, sind Unklarheiten nicht zu vermeiden“ (Grenzen, S. 199). Ähnlich Puppe: „Da aber jede normative Aussage einen deskriptiven Gehalt haben muß, wenn sie überhaupt sinnvoll sein soll, ist es auch auf der normativen Ebene nicht möglich, Eindeutigkeit herzustellen, wenn es auf der deskriptiven nicht möglich ist“ (GA 1994, S. 297). Diese Problematik wird auch von U. Neumann, ZStW 99 (1987), S. 573 f., gesehen. Lampe hält den normativen Schuldbegriff für bedenklich, „weil auch die Sachfrage ihren angemessenen Ort haben muß“ (Strafphilosophie, S. 226). Kritisch Baumhoer, der in jeder Erkenntnis von den Tatsachen auch eine Wertung sieht (s. Fiktion, S. 36). Diese Wertung, deren Existenz nicht bestritten werden soll, unterscheidet sich jedoch von der juristischen bereits insofern, als die eine mit dem Bewusstsein von Dingen notwendig einhergeht, die andere jedoch in einem prozessualen Akt erst festgestellt werden muss. Soll das Recht regulierend in tatsächliche Sachverhalte eingreifen, soll es also funktionieren, dann kann die normative Wertung lediglich eine zusätzliche Abstraktion sein. Deshalb kann sich auch der „normative Schuldbegriff“ nicht von seinen tatsächlichen Voraussetzungen lösen, wie dies bspw. für den im Gegensatz hierzu als „deskriptiv“ bezeichneten psychologischen Schuldbegriff angenommen wird. Burkhardt bemerkt hierzu: „Obwohl diese Differenzierung im Prinzip unangefochten ist, ist doch keineswegs klar, wie sich deskriptive von normativen Begriffen unterscheiden lassen bzw. welche Funktionen normative Begriffe haben, wenn nicht beschreibende bzw. informative“ (GA 1976, S. 327 f.). Vgl. zu diesen Verwirrungen bereits Radbruch, SchwZStr 51 (1937), S. 251. 388 Vgl. R. Lange, SchwZStr 70 (1955), S. 380. Vgl. auch BVerfGE 3, 58, 135 f.; ebenso BVerfGE 41, 121, 125.
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vorstellungen der Gemeinschaft nicht missachten.389 Zur Rechtfertigung einer unterschiedlichen Behandlung von Sachverhalten reiche es nicht aus, dass der Gesetzgeber die eine oder andere Verschiedenheit zwischen ihnen berücksichtigt habe. Vielmehr müsse ein innerer Zusammenhang zwischen den vorgefundenen Verschiedenheiten und der differenzierenden Regelung bestehen. Erforderlich sei dabei die Heranziehung von sachgerechten Kriterien. Der Differenzierungsgrund müsse sachbezogen und vertretbar erscheinen.390 Altpeter sieht eine solche sachgerechte Unterscheidung des Staates „gerade in der Differenzierung zwischen strafrechtsrelevantem und nicht-strafrechtsrelevantem Verhalten, also der Feststellung der Strafwürdigkeit [...]. Das Strafwürdigkeitsurteil ist damit geradezu ein Musterbeispiel für die Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG“.391 Um feststellen zu können, ob dieser Differenzierung sachliche Kriterien zugrundeliegen, muss zunächst geklärt werden, welche Anforderungen an den Begriff der Schuld selbst zu stellen sind.
b) Die subjektive Evidenz von Freiheit als Grundlage der Schuld? Da sich subjektive Sachverhalte der unmittelbaren empirischen Überprüfung entziehen, lässt man hier regelmäßig Evidenzen ausreichen, die auf eine „allgemeine Anschauung“ gegründet werden.392 Metaphysische Begründungen der Schuldstrafe verfahren erheblich spekulativer; ihnen zufolge handelt es sich bei der Strafbegründungsschuld um etwas, das im Strafprozess zwar geprüft werden muss, dessen Grundlage, die Freiheit, jedoch den Methoden richterlichen Erkenntnisgewinns überhaupt nicht zugänglich ist.393 Da dies einen gewissen Verdacht des paradoxen Vorgehens auf sich zieht, weicht man dem Problem nicht selten mit der Behauptung aus, naturwissenschaftliche Erkenntnisse seien in diesem Bereich grundsätzlich nicht zu berücksichtigen.394 So hebt Grasnick _________________ 389
Siehe BVerfGE 9, 338, 349. Siehe BVerfGE 71, 39, 58, sowie BVerfGE 1, 14, 52; 17, 122, 130; BVerfG NJW 1993, 1517; vgl. dazu auch Alexy, Grundrechte, S. 364 ff. 391 Altpeter, Strafwürdigkeit, S. 181. Ausführlich und differenzierend Kelsen, Rechtslehre, S. 376 ff. 392 Vgl. aber Tugendhat, der „diejenige Zurechnungsfähigkeit, von der wir beim Überlegen Gebrauch machen und auf die wir uns beziehen, wenn wir entsprechende Vorhaltungen machen“ als „empirisches Faktum unseres alltäglichen Lebens“ begreift, das nicht bewiesen, sondern nur aufgeklärt werden müsse (s. Aufsätze, S. 340). Vgl. auch Kühne hinsichtlich der Umsetzungsschwierigkeiten des empirischen Anspruchs im Strafrecht (GA 1994, 510 ff.). 393 Vgl. auch Hassemer, Schuldprinzip, S. 101 f. 394 In diese Richtung wohl auch Arthur Kaufmann, Schüler-Springorum-FS, S. 421. Ablehnend Hassemer: „Dabei ist offenkundig, daß empirisches Wissen auf allen Ebenen 390
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hervor: „[...] die Freiheit – hier: des Willens – ist keines Beweises fähig. Sie ist auch keines Beweises bedürftig. [...] Empirische Ergebnisse sind bei der Suche nach Freiheit, auch der Freiheit des Willens, nicht zu haben. [...] Der als ,Gegenbeweis‘ so beliebte Rekurs auf die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation ist da, unterstellt er sei überhaupt tauglich, ersatzlos zu entbehren. Wir benötigen keine naturwissenschaftlichen Anleihen. Diese gehören gerade in einen Bereich, mit dem wir es hier überhaupt nicht zu tun haben. Der Ort der Freiheit ist die Lebenswelt, also die Welt, in der wir immer schon leben. Immer schon, das heißt auch: ehe die Naturwissenschaftler auf den Plan treten.“395 Und Schmidhäuser hebt für die Frage der Handlungsfreiheit hervor: „Für die naturwissenschaftliche Einzelbetrachtung, die nur eine Teilerkenntnis von den Dingen zum Ziele hat, mag es die Kausalität eines vom Gehirn ausgehenden Impulses für eine Körperbewegung, mag es jene ,psycho-physische Kausalität‘ geben – für die unmittelbare Anschauung dagegen gibt es hier nur das gewollte, und zwar das nur vom Willensakt her als gewollt zu erfassende Tun.“396 Auch Engisch überlegt, ob es für das Recht bei der Bestimmung der Natur des Menschen auf das biologisch Notwendige oder auf den Unterschied zum Tier ankomme397, und fragt: „Muß ich die Freiheit beweisen, um verantwortlich zu machen, oder spricht nicht die ganze im Menschenwesen festverwurzelte Tradition gewissermaßen ,prima facie‘ für die Freiheit, spricht nicht das Freiheitsbewußtsein für die Freiheit, spricht nicht das Schuldbewußtsein für die Freiheit, so daß wir sagen dürfen: Die sich auf diese und andere bekannte Phänomene stützende Vermutung der Freiheit ist so stark, daß derjenige beweispflichtig ist, der die Freiheit leugnet?“398 Damit allerdings ordnet Engisch das Freiheitsempfinden einem naturwissenschaftlichen Gegenbeweis zunächst nicht über. Er äußert sich lediglich zur Frage der Beweislast, soweit gerade keine gesicherten _________________
der Strafrechtspflege bedeutsam ist“ (NK, vor § 1, Rn. 36); u. Tiemeyer: „Ein Schuldvorwurf darf nur dann erhoben werden, wenn die soziale Wirklichkeit seinsmäßig so beschaffen ist, wie die Denkfigur der Schuld es voraussetzen müßte“ (GA 1986, S. 215). Kritisch auch Puppe: „Deshalb liefert sich die moderne Strafrechtsdogmatik gerade durch ihren konsequenten Rückzug auf die Wertungsebene und den Diskurs über die jeweils richtige Wertungsformel eben jenem Naturalismus aus, den sie der überkommenen Strafrechtsdogmatik so geläufig vorwirft. Denn wenn sie am Ende doch genötigt ist, die deskriptiven Grundlagen ihrer unterschiedlichen Wertungen, etwa der Zurechnung, anzugeben, verfällt sie auf die nächstbeste Beschreibung, die ihr das naturalistische Vorverständnis anbietet“ (GA 1994, S. 317). 395 Siehe Grasnick JR 1991, S. 365; so auch Dreher, Willensfreiheit, S. 383; anders v. Liszt: „Für das Recht kommt nur die Welt der Erscheinungen in Betracht. Nur der ,empirische‘ Mensch kann vor den Strafrichter gestellt, verurteilt, eingesperrt oder geköpft werden“ (Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, S. 39); kritisch gegenüber einem „phänomenologischem“ Freiheitsbegriff auch Geisler, S. 39 ff. 396 Schmidhäuser, ZStW 66 (1954), S. 31. 397 Siehe Engisch, Gerechtigkeit, S. 215. 398 Engisch, Willensfreiheit, S. 38.
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Erkenntnisse außerhalb der Evidenz des Erlebens existieren, eine ihrerseits lange diskutierte Problemstellung, die Engisch freilich dahingehend beantwortet, dass, wenn man schon mit dem Begriff der Beweislast operiere, es doch Sache der Indeterministen sei, die Freiheit des Menschen zu beweisen.399 Hier soll jedoch die Frage im Vordergrund stehen, ob auch naturwissenschaftlich gesicherte empirische Erkenntnisse aufgrund eines normativen Postulates, das auf dem Freiheitserleben oder auch einer Freiheitsfiktion gründet, unbeachtet bleiben können. Die zwei Problemstellungen: kann die Schuldfrage empirisch beantwortet werden (im Sinne eines tatsächlichen Könnens), und muss sie überhaupt empirisch beantwortet werden, sollen also getrennt werden. Statt, wie bisher, die Frage, ob die Schuld bewiesen werden muss, auf der Grundlage, dass sie nicht bewiesen werden kann, anzugehen, soll das Problem zunächst darauf reduziert werden, ob das Strafrecht auch dann auf einem rein normativistischen Schuld-Konstrukt aufbauen könnte, wenn dessen fiktive oder bloß subjektiv evidente Voraussetzungen empirisch widerlegt wären. Damit das Schuldprinzip der vom Bundesverfassungsgericht geforderten „materiellen Gerechtigkeit“ genügen kann, muss es mit den Wertmaßstäben der Gesellschaft, die sich im geltenden Recht wiederfinden, übereinstimmen. Zu deren Ermittlung können die Inhalte und die Entwicklungstendenz allseits geteilter Überzeugungen in einer Gesellschaft herangezogen werden, die widerspiegeln, was als gerecht oder ungerecht empfunden wurde und wird. Denn solange „absolute“, überzeitliche und zugleich material gehaltvolle Gerechtigkeitskriterien noch nicht gefunden oder jedenfalls nicht konsensfähig sind, wird sich das Prinzip „sozialer Gerechtigkeit“ vor allem an den Vorstellungen orientieren müssen, die sich in einer Gesellschaft historisch entwickelt haben.400 Insbesondere in Normen, die über lange Zeiträume Gültigkeit beanspruchen, fließen direkt oder indirekt sich wandelnde Vorstellungen der Gesellschaft ein, die in ihrer Tendenz auszuwerten sind.401 Der „Erfahrungsschatz der Rechtsentwicklung“402 kann damit als Kriterium für gesellschaftliche Wertmaßstäbe dienen.403 Da über den Schuldspruch letztlich im Strafprozess entschieden wird, _________________ 399
Siehe Engisch, Willensfreiheit, S. 38 f.; vgl. auch Schreiber, Rechtliche Verantwortlichkeit und Schuld, S. 64; H. Foth, Tatschuld, S. 153. 400 Vgl. zur sog. „objektiv-teleologischen“ Auslegung Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 153 ff.; Sch/Sch-Eser, § 1, Rn. 43 ff. 401 Vgl. dazu Engisch, Gerechtigkeit, S. 216 ff. 402 Kindhäuser, ZStW 107 (1995), S. 723. 403 Dabei ist grundsätzlich zu beachten, dass eine Selbstbindung der Gerichte durch ständige Rechtsprechung kritisch beurteilt wird (dazu Pieroth/Schlink, S. 120). Soweit daher erkennbar wäre, dass bisherige Rechtsprechung und neuere gesellschaftliche Tendenzen auseinanderfallen, müsste diese Problematik eigenständig diskutiert werden. Auch ist zu berücksichtigen, dass etwas nicht schon deshalb richtig ist, „weil es ist oder weil es war – oder auch, weil es sein wird“ (Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 13).
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liegt es nahe, nach einführenden Überlegungen jene Tendenzen anhand der Strafprozessordnung und mit ihr in Zusammenhang stehender Vorschriften näher zu beleuchten.
c) Der gesetzliche Beweis im Strafprozess Zur Feststellung der Schuld bezieht zunächst der amtliche Begründungsentwurf zum StGB von 1962 Stellung: „Die Schuld kann auch festgestellt und gewogen werden, wenn auch nur im Rahmen menschlicher Erkenntnismöglichkeiten. Es handelt sich dabei nicht um eine kausalwissenschaftliche Feststellung, sondern um einen sittlichen Wertungsvorgang innerhalb der Rechtsgemeinschaft, der gerade das eigentümliche Wesen des Richterspruches ausmacht.“404 Das Willkürverbot macht es allerdings erforderlich, dass auch normative Feststellungen jedenfalls im rechtswissenschaftlichen Sinne objektiv überprüfbar sein müssen. So verlangt Art. 6 Abs. 2 EMRK den gesetzlichen Beweis auch in Bezug auf die Schuldfeststellung.405 Zwar entscheidet nach § 261 StPO über das Ergebnis der Beweisaufnahme das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung, die Überzeugung des Richters muss aber ihrerseits aus den Gegenständen der Verhandlung hervorgehen.406 Der Strafprozess ist als Bestandteil des Rechts notwendig auf die Mittel des Ausdrucks verwiesen. Hier gilt, dass die Überzeugungsbildung den Denkgesetzen der Logik entsprechen muss.407 So sind Kreisschlüsse oder irrtümliche Annahmen, eine Schlussfolgerung sei zwingend, ein revisionsrechtlicher Aufhebungsgrund.408 Nicht die Emotionen oder Intuitionen des Richters sind hier entscheidend, sondern objektive Kriterien.409 Auch vertritt die Rechtsprechung heute eine einhellige Meinung hinsichtlich des Verhältnisses von Überzeu-
_________________ 404 Amtlicher Begründungsentwurf zum StGB 1962 (Bundestags-Drucksache IV/650), S. 96. 405 Vgl. dazu BVerfGE 19, 342, 347 ff. 406 Siehe Meyer-Goßner, § 261, Rn. 5. 407 Siehe KK StPO-Engelhardt, § 261, Rn. 47; SK StPO-Schlüchter, § 261, Rn. 57. 408 Siehe Meyer-Goßner, § 337, Rn. 30; vgl. auch KMR-Stuckenberg, § 261, Rn. 31. Zur revisions-rechtlichen Kontrolle der freien Beweiswürdigung auch Schäfer, StV 1995, S. 147 ff., u. E. Foth, NStZ 1992, S. 444 ff. 409 Siehe auch Gössel, Wertungsprobleme, S. 28. Vgl. ferner Küper, Richteridee, S. 328. Dies ergibt sich im Übrigen bereits aus dem § 1 StGB immanenten Willkürverbot; vgl. KMR-Stuckenberg, § 261, Rn. 32.
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gungsbildung und naturwissenschaftlichem Beweis410, wie die folgenden Ausführungen darlegen sollen.
d) Grenzen richterlicher Überzeugungsbildung Die Problematik der strafrichterlichen Bindung an naturwissenschaftliche Erkenntnisse gewann für das Reichsgericht ab 1917 zunehmend an Bedeutung.411 In einer Entscheidung des Reichsgerichts aus diesem Jahre heißt es noch: „Sachverständige zu hören, ist das Gericht [...] selbst dann nicht ver_________________ 410
Dagegen haben die folgenden Urteile einen durchaus stark subjektivistischen Charakter, soweit die Freiheit richterlicher Überzeugungsbildung außerhalb naturwissenschaftlicher Zugänglichkeit von Sachfragen betroffen ist; dazu Herdegen, StV 1992, S. 528; Fezer, StV 1995, S. 96. 411 Ausführlich zur geschichtlichen Entwicklung richterlicher Überzeugungsbildung Küper, Richteridee, insb. S. 298 ff.; ders., Peters-FG, S. 25 ff. Arzt führt zum Spannungsverhältnis zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und freier Beweiswürdigung durch den Richter aus: „Historisch gesehen sollte die freie Beweiswürdigung die Verurteilung erleichtern, weil der Richter ohne Geständnis, gestützt auf starke Indizien, sich seine Überzeugung bilden durfte. Zugleich hat man freilich im 19. Jahrhundert naturwissenschaftliche Fortschritte bei den Indizien erwartet, die einen wissenschaftlich sicheren und insofern keiner freien Würdigung bedürftigen Schluß auf Tat und Schuld erlauben. Deshalb sprengt der Verstoß der richterlichen Beweiswürdigung gegen naturwissenschaftliche Gesetze den Rahmen, der § 261 StPO inhärent ist“ (Stree/Wessels-FS, S. 62 f.); zur Diskussion im 19. Jahrhundert auch Herdegen, StV 1992, S. 528 f. (unter Berücksichtigung philosophischer Implikationen), u. Fezer, der hervorhebt: „Bevor die ,Freiheit‘ der Beweiswürdigung in der ersten partikularstaatlichen gesetzlichen Regelung (nämlich in Preußen) verankert wurde, fand in Deutschland über zwei Jahrzehnte hinweg eine wissenschaftliche und rechtspolitische Diskussion statt, die deutlichen Aufschluß gibt über verbreitete und klare Vorstellungen, was unter der neuerworbenen ,Freiheit‘ zu verstehen ist und was nicht: Jedenfalls nicht eine rein subjektive und mit rationalen Kriterien nicht zu erfassende Gewissensentscheidung nach dem (vor allem am Geschworenensystem ausgerichteten) Vorbild der französischen ,intime conviction‘. Befürwortet bzw. gefordert wurde ein Überzeugungsbildungsvorgang, der auf logischem Denken und objektiv zureichenden Gründen beruhen müsse [...]. Der rechtswissenschaftlichen Diskussion nach 1820 und den partikularstaatlichen Strafprozeßordnungen kann expressis verbis oder der Sache nach die eindeutige Vorstellung entnommen werden, daß die ,Freiheit‘ der Beweiswürdigung historisch ausschließlich als Befreiung von bindenden gesetzlichen Beweisregeln zu verstehen ist: dagegen nicht – ich referiere die damalige Erkenntnis – als Freiheit von Regeln der Logik und der Erfahrung, die den Erkenntnisbildungsprozeß prägen und nicht als Befreiung von jeder Rechenschaftspflicht und Kontrollmöglichkeit“ (StV 1995, S. 95). Fezer macht jedoch auch darauf aufmerksam, dass mit der RStPO von 1877 Unklarheiten aufkamen, und sich eine Tendenz entwickelte, den Überzeugungsbildungsvorgang als subjektiven Freiraum des Richters zu interpretieren (s. ebd., S. 96), was die unmittelbar folgenden Entscheidungen des RG zu erklären vermag. Allgemein zum Verhältnis richterlicher Unabhängigkeit zur Rechts- bzw. Staatsordnung, Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 166 ff.
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pflichtet, wenn zur Erforschung der Wahrheit eine besondere Sachkunde gehört.“412 Einschränkender äußert es sich dagegen zehn Jahre später: „Das Gericht kann die Zuziehung eines Sachverständigen unterlassen, wenn es sich selbst die nötige Sachkunde zutraut und diese nach der Erfahrung des Lebens auch haben kann.“413 In beiden Fällen hatte das Reichsgericht jedoch die vorangegangene Entscheidung aufgehoben, weil die Instanzgerichte ihrer Aufklärungspflicht nicht nachgekommen waren. Die Strafsenate des Reichsgerichts nahmen sich, nach Ansicht Mannheims, seither das Recht, an tatsächlichen Feststellungen, die eine besondere Sachkunde erforderten, Kritik zu üben, wenn das Instanzgericht die nötige Sachkunde nicht besaß und sich auch nicht durch Zuziehung von Sachverständigen verschafft hatte.414 Indes hatte der Vierte Zivilsenat schon früher, nämlich bereits 1908 eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Köln aufgehoben, in der das Berufungsgericht trotz eines entgegenstehenden Gutachtens des Sachverständigen die Möglichkeit einer künstlichen Befruchtung bejaht hatte. Die Frage der künstlichen Befruchtung, so hieß es, sei eine naturwissenschaftliche Frage, die nur unter Zuziehung von Sachverständigen entschieden werden könne.415 Anfang der dreißiger Jahre mussten auch die Strafgerichte darlegen, aus welchen Gründen sie eine angebotene naturwissenschaftliche Beweisführung ablehnten416, daneben durften sie sich über wissenschaftliche Grundsätze, die sie nicht nachprüfen konnten, nicht mehr grundlos hinwegsetzen.417 Diese Einschränkung der Gerichte wurde mit Blick auf die verfassungsrechtlich garantierte Unabhängigkeit des Richters auch kritisch gesehen.418 Als Begründung wird hierfür von Wegner der „altdeutsche Rechtsgang“ angeführt, der sich im Einklang auch mit prozessualer Irrationalität befinde. Hiernach sei es durchaus rechtens, den grundsätzlichen Beweislastvorteil des Beklagten gegenüber einem gegebenenfalls „höheren Stande“ des Klägers zurücktreten zu lassen, so dass allein deswegen der Kläger den Vorteil aus der Unbeweisbarkeit einer anspruchsbegründenden Tatsache ziehe und nicht der Beklagte.419 Doch hat sich dieser Standpunkt nicht durchsetzen können: Abschließend klargestellt _________________ 412
RGSt 52, 61, 62. RGSt 61, 273. 414 So Mannheim, JW 1931, S. 2496. 415 Siehe RG JW 1908, 485. Das Vorgehen des Oberlandesgerichts Köln wurde von Mannheim denn auch als „juristisches Kulturkuriosum“ bezeichnet (s. JW 1931, S. 2496). 416 Vgl. RG JW 1931, 2495, sowie RGSt 64, 113, 114; RG JW 1934, 2469. 417 Vgl. RG JW 1935, 543. 418 Vgl. A. Wegner, JW 1934, S. 2469 f. 419 Siehe A. Wegner, MSchrKrimPsych., Beiheft 3 (1930), S. 47 f. – der Verfasser drückt sich hier allerdings schwer verständlich aus; er redet von einem „Vorzug“ des Beklagten, der zurücktreten müsse, so dass lediglich der Kläger zum Beweise komme. 413
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wurde dies, als sich der Erste Strafsenat des Bundesgerichtshofs 1951 auf ein zivilrechtliches Urteil des Obersten Gerichtshofs (für die britische Zone) stützte420, wonach es den Richtern nicht mehr gestattet sein sollte, die Richtigkeit der jeweils einschlägigen fachwissenschaftlichen Lehren anzuzweifeln. Dies sollte unabhängig davon gelten, ob sie sich hierzu im Stande sahen oder nicht. Entscheidend sollte vielmehr sein, ob die jeweilige Lehre „in den maßgebenden Fachkreisen eine allgemeine und zweifelsfreie Anerkennung gefunden hat“.421 Von dieser Rechtsprechung ist bis heute nicht abgerückt worden.422 Sie gilt insbesondere auch im Rahmen der Schuldfeststellung423 und ist von Seiten der Lehre keiner Kritik ausgesetzt. So ist bei Zweifeln an der Schuldfähigkeit für den Richter der Erlass eines Urteils ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen praktisch nicht mehr möglich. Das lange Ringen um eine möglichst klare und allen Seiten entsprechende Fassung der §§ 20, 21 StGB hing maßgeblich mit der Befürchtung zusammen, dass auch Straftäter, die nicht somatisch gestört sind, über eine allzu weite Fassung der Voraussetzungen der Schuldunfähigkeit, im Besonderen durch Lehrsätze der Psychoanalyse, zur Straffreiheit gelangen _________________ 420
Siehe BGHSt 5, 34, 36. OGH Z 3, 119, 124. 422 So bemerkt der Dritte Strafsenat 1954: „Indessen ist eine einzelne abweichende Meinung, auch wenn sie von einem auf dem eigenen Sachgebiet anerkannten Sachverständigen vertreten wird, nicht ohne weiteres geeignet, die unbedingte Geltung allgemein anerkannter Naturgesetze in Frage zu stellen. Diese Wirkung könnte ihr nur dann zugestanden werden, wenn sie sich auf ausreichende Erfahrungen stützen [könnte]“ (s. BGHSt 6, 70, 73/74; vgl. auch BGHSt 31, 86, 89). Weitere drei Jahre darauf entscheidet auch der Zweite Strafsenat: „Denn der Tatrichter ist den Gesetzen des Denkens und der Erfahrung unterstellt; wo eine Tatsache auf Grund wissenschaftlicher Erkenntnis feststeht, ist für eine richterliche Feststellung und Überzeugungsbildung naturgemäß kein Raum mehr“ (s. BGHSt 10, 208, 211). Entsprechend wird ein Verstoß gegen § 261 StPO angenommen, wenn sich ein Gericht mit den Erfahrungen des Lebens, den Gesetzen der Wissenschaft und der Logik in Widerspruch setzt (s. BGHSt 17, 382, 385) oder seine Befugnis willkürlich ausübt (s. BGHSt 29, 18, 20). 423 1966 stellt der Vierte Strafsenat des Bundesgerichtshofs in Bezug auf ein Gutachten zur Herabsetzung des von der Rechtsprechung anerkannten allgemeinen Grenzwertes der unbedingten Fahruntüchtigkeit von 1,5 Promille auf 1,2 Promille fest: „Die hierfür in dem Gutachten mitgeteilten medizinisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnisse sind als für den Richter verbindlich hinzunehmen, da sie in den maßgebenden Fachkreisen allgemein und zweifelsfrei als richtig und zuverlässig anerkannt sind“ (s. BGHSt 21, 157, 159). Gleiches gilt für gesicherte Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft im Falle eines sogenannten „Schluß-Sturztrunks“ (s. BGHSt 24, 200, 203) sowie für die Rückrechnung des Blutalkoholgehalts, wobei der Bundesgerichtshof hervorhebt: „Der Richter muß bei seiner Überzeugungsbildung und Urteilsfindung den jeweiligen gesicherten Erfahrungsstand der Wissenschaft zugrunde legen. Für den Bereich der Blutalkoholforschung bedeutet dies, daß er die nach Veröffentlichung des Gutachtens des Bundesgesundheitsamtes, wenn auch zunächst noch vereinzelt vertretene Meinung, [...], nun nicht mehr unbeachtet lassen darf“ (s. BGH 25, 246, 248). 421
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könnten (sogenannte „Dammbruchgefahr“).424 Es gibt mithin gerade im Bereich der Schuld ein allseits anerkanntes Interesse, die Voraussetzungen für die Feststellung der Schuldfähigkeit objektiv überprüfbar zu halten. Im Rahmen der Strafbegründungsschuld unterliegt die Schuldfeststellung also schon bisher der Einflussnahme der Psychologie und der Medizin. Ebenso wie für die Rechtswissenschaft stellt sich aber auch für die Forschung in der Psychologie und Psychoanalyse das Problem der empirischen Beweisbarkeit ihrer Theorien.425 Die „Rationalisierung der Gerichte“ hat einen überwiegend steten und konsequenten Verlauf genommen. Man darf wohl annehmen, dass demgegenüber ein bewusstes Absehen von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen im Prozess zur Begünstigung einer tendenziell willkürlichen, insbesondere ideologieanfälligen Rechtsprechung führen müsste. Deshalb folgert das Bundesverfassungsgericht aus dem materiell verstandenen Rechtsstaatsprinzip, es habe ein zentrales Anliegen des Strafprozesses zu sein, „den wahren Sachverhalt“ zu erforschen, ohne den das materielle Schuldprinzip nicht verwirklicht werden könne. Das Gericht habe sich deshalb um den „bestmöglichen Beweis“ zu bemühen.426 Nach der unumstrittenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist also für eine eigene richterliche Feststellung und Überzeugungsbildung kein Raum mehr, soweit naturwissenschaftliche Erkenntnisse über einen konkreten Lebenssachverhalt existieren.427 Damit schließt die richterliche Überzeugungsbildung intuitive Gewissheit nicht grundsätzlich aus, diese muss jedoch weitgehend rational nachvollziehbar sein.428 Auch Beweise zur Kausalität sind somit _________________ 424
Siehe NK-Schild, § 20, Rn. 21. Vgl. dazu Rickert, S. 180. 426 Siehe BVerfGE 57, 250, 275 u. 277; wobei es freilich seinerseits die Existenz von „Schuld“ ohne Prüfung ihrer empirischen Grundlagen voraussetzt. 427 So auch Meyer-Goßner, § 337, Rn. 31; KK StPO-Engelhardt, § 261, Rn. 46; SK StPO-Schlüchter, § 261, Rn. 57; vgl. auch KMR-Stuckenberg, § 261, Rn. 32; Herdegen: „Die Berufung auf ein psychisches Faktum – das und nichts anderes ist die persönliche Gewissheit – kann keine hinlängliche Begründung sein. Wäre sie es, müßte man jede von Überzeugung getragene Aussage als hinlänglich begründet ansehen“ (StV 1992, S. 534 u. 528). 428 Siehe SK StPO-Schlüchter, § 261, Rn. 55. So wohl auch R. Keller, GA 1999, S. 255 ff. und trotz Kritik an der Revisibilität der Überzeugungsbildung Eberhard Foth: „Wer wird nicht verlangen, daß der Tatrichter mit dem Verstand (= rational) urteilt, daß er nur bei hoher Wahrscheinlichkeit [...] verurteilt?“ (NStZ 1992, S. 447). Fezer geht dagegen so weit zu sagen: „Die Beweiswürdigung ist nicht ,frei‘. Soweit die tatrichterliche Überzeugungsbildung eine rational-objektive Grundlage hat, wirken die allgemeinen Regeln der Erkenntnisgewinnung von selbst. [...] Folgerichtig kann und muß das Wort ,frei‘ in § 261 StPO hinweggedacht werden, weil es ausschließlich eine historischrückwärtsgewandte, inzwischen also völlig überholte Funktion hat (es war schon 1877 überflüssig)“ (StV 1995, S. 100 f.). 425
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grundsätzlich „nach dem Standard derjenigen Wissenschaft, die sich mit der Erforschung der betroffenen Zusammenhänge befaßt, das heißt in aller Regel nach den Standards experimenteller Naturwissenschaften“429 zu erbringen. Zwar ist es damit noch immer eine diskutable Grundsatzfrage, ob eine Gesellschaft ihre mehrheitlich geteilten Intuitionen über den jeweils neuesten Stand naturwissenschaftlicher Erkenntnis stellen und rechtlich verankern kann; schließlich unterliegen auch die Erkenntnisse der Naturwissenschaft stetigen Veränderungen. Die Rechtsprechung gibt für das Strafrecht jedoch den Weg der Objektivität und Rationalität430 vor. Träte nun der Fall ein, dass der Sachverhalt, auf den sich eine strafrechtliche Figur (z. B. ein Tatbestand) bezieht, empirisch nicht aufweisbar oder seine empirische Existenz sogar widerlegbar wäre, so hätte dies zur paradoxen Folge, dass der Richter unter Umständen zwar weiterhin auf der Eigenständigkeit der rechtlichen Konstruktion beharren, diese aufgrund der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes aber nicht mehr auf den konkreten Sachverhalt anwenden dürfte. Gäbe es also beispielsweise eine Norm, nach der sich Frauen, die fliegen können, der Hexerei schuldig machten, dann könnte man vielleicht darauf bestehen, dass es sich bei der Schuldfeststellung um eine rechtliche Konstruktion handelte, die unabhängig von jeder Empirie existieren könne; ein Strafrichter könnte aber in einer Verhandlung gerade mit Hilfe empirischer Erkenntnis niemals feststellen, dass eine Angeklagte tatsächlich fliegen kann, auch wenn er selbst oder die Angeklagte der persönlichen Überzeugung wäre, einige Frauen könnten fliegen. Es wäre also wohl nichts damit gewonnen, in einem solchen Fall die Unabhängigkeit normativer Figuren und Regeln zu betonen; im heutigen Strafprozess müsste ein solcher Einwand ins Leere gehen.431 _________________ 429
Siehe Armin Kaufmann, JZ 1971, S. 572 ff.; so bereits RGSt 61, 202, 206 f.; und der BGH äußert: „Absolut sicheres Wissen – auch von Ursachenzusammenhängen – dem gegenüber das Vorliegen eines gegenteiligen Geschehens mit Sicherheit auszuschließen wäre, gibt es nicht [...]. Kann eine Feststellung allerdings allein mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden getroffen werden, dann darf sich der Tatrichter nicht von wissenschaftlichen Standards lösen. An die richterliche Überzeugungsbildung sind dann keine geringeren Anforderungen zu stellen als an das Ergebnis wissenschaftlicher Untersuchung selbst [...]“ (BGHSt 41, 206, 214 f.). Vgl. zum Umgang mit den „Unsicherheitszonen“ bei der Kausalitätsfeststellung auch SK StGB-Rudolphi, Vor § 1, Rn. 42a ff. 430 Zur Frage der Rationalität im Rahmen der Strafgesetzgebung vgl. aber auch Frister, MschrKrim, S. 318; Müller-Dietz, Strafe und Staat, S. 14 ff.; Noll, H. Mayer-FS, S. 219 ff., sowie Seelmann, Jura 1980, S. 505 ff. 431 Keinesfalls tragen kann eine Begründung der strafrechtlichen Schuldzuschreibung allein auf dem (alltags-) sprachlichen Diskurs, wie ihn Krauss beschreibt: „Recht ist nur durch Sprache und in den Bedingungen von Sprache möglich. Daher begreift Recht den Menschen und seine Ordnungsvorstellungen zwangsläufig (!) so, wie sie sprachlich ,zum Ausdruck‘ kommen. Sprache aber, wie wir sie verstehen, wie sie unser Selbstbe-
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Man kann daher mit Grasnick432 der Ansicht sein, naturwissenschaftliche Erkenntnis sei bei der Beurteilung rechtlicher Freiheit ersatzlos zu entbehren. Ist sie jedoch geeignet, auch hierüber Aufschluss zu geben, und hielte man dennoch an diesem Grundsatz fest, dann geriete man in Widerspruch zu der seit über 50 Jahren unumstrittenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die kaum so unangefochten bliebe, repräsentierte sie nicht allgemeine gesellschaftliche Gerechtigkeitserwägungen.433
e) Richterliche Perspektive Mit Blick auf die Schuldproblematik ließe sich jedoch einwenden, dass es einen Bereich der Schuld gebe, der immer und ausschließlich der Innenperspektive vorbehalten bleiben müsse, da er prinzipiell unzugänglich sei – eben das Freiheitserleben. Tatsächlich ist dem heutigen Strafrecht eine Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Sachverhalten und Umständen immanent. Die Strafprozessordnung statuiert dagegen in § 261, dass über die Anwendbarkeit strafrechtlicher Normen im Einzelfall zwar das Gericht jeweils nur aus seiner Perspektive auf die Tatsachen der Beweisaufnahme entscheidet; doch ist diese Perspektive in Bezug auf den Angeklagten notwendig die objektivierte Außensicht Dritter. So wird auch im Strafprozess über das Vorliegen schuldrelevanter Merkmale des § 20 StGB wie der „Unrechtseinsicht“ eines Angeklagten nicht allein auf der Basis von dessen Angaben entschieden, sondern regelmäßig erst nach Anhörung eines Sachverständigen. Soweit der Angeklagte also überhaupt Angaben zur Sache macht, werden diese im Prozess notwendig ob_________________
wußtsein und unsere Möglichkeiten einer geordneten Sozialisation umschreibt, setzt den Menschen als von seinem existenziellen Grund entbundenes, freies Wesen voraus: Ich will, du sollst, wir können“ (Schüler-Springorum-FS, S. 461); wohl auch Burkhardt (vgl. Lenckner-FS, S. 21). Zum einen wird der Begriff der Schuld bzw. die Selbst- oder Fremdzuschreibung des Sich-schuldig-Fühlens oder Schuldig-Seins weit über den Bereich strafrechtlicher Verantwortung hinaus gebraucht (Krauss liefert selbst das Beispiel von streitenden Kindern [s. ebd., S. 459]), zum anderen werden auch Institutionen, Staaten oder Tieren innere Zustände oder Pflichten zugeschrieben, die auf Freiheit schließen lassen (der Betrieb X will, Amerika soll, Bello wäre lieber bei seinem Herrchen), woraus jedoch keinesfalls folgt, dass derlei Äußerungen „wörtlich“, nämlich in derselben Bedeutung wie gegenüber dem Individuum genommen werden. Vielmehr zeigt dies, dass der Mensch durchaus in der Lage ist, zwischen einer sprachlichen und einer tatsächlichen Ebene zu unterscheiden. Vgl. auch die Kritik Hassemers an der Erschließung der Vorsatzmerkmale aus der Semantik der Alltagssprache (Armin Kaufmann-GS, S. 294, Fn. 30). 432 Siehe oben, S. 122. 433 Insoweit gehen Empirie und Zeitgeist bei der Legitimität des staatlichen Strafens durchaus Hand in Hand (vgl. die Kritik Jakobs‘ an Scheerer zur „Empirischen Wende“, EuS 12 [2001], S. 107 [1] a. E.).
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jektiviert.434 Genauer gesagt handelt es sich bei den Feststellungen, die ein Gericht über die Innenperspektive eines Täters trifft, um solche aus der Innenperspektive des Gerichts selbst, die es jedoch in den Täter hinein projiziert. Was die Schuld betrifft, so legt dies die folgende Erwägung nahe: Es dürfte seitens des Richters vor allem seine eigene innere Gewissheit sein, dass er sich durch seinen persönlichen Willen auf die Seite des Rechts gestellt habe, was ihn veranlasst, beim Angeklagten das Sich-Stellen auf die Seite des Unrechts eben als dessen freie Willensentscheidung aufzufassen. An der Berechtigung einer solchen phänomenologischen Projektion der eigenen Introspektion gibt es jedoch Zweifel. Denn in der Alltagserfahrung werden eigene Willensentschlüsse nicht gesondert als solche erlebt.435 Die Psychologen Odmar Neumann und Wolfgang Prinz sehen in der Formulierung „Willlensakt“ vielmehr eine sprachliche Brücke zwischen den in der Tradition abendländischer Philosophie getrennten Welten des seelischen Erlebens und der physikalischen Vorgänge, zu denen die Handlungsausführung gehört. Der Begriff „Willensakt“ und das damit Bezeichnete, nämlich das Bewusstsein davon, dass die jeweilige Handlung (z. B. das Ergreifen eines Handtuchs nach dem Händewaschen) die Umsetzung eines zuvor gefassten Willens ist (z. B.: „Ich will jetzt das Handtuch ergreifen“), entstamme also keineswegs der Alltagserfahrung.436 Im Übrigen lässt sich auch aus dem Erleben von Handlungsfreiheit seitens des Richters oder einer größeren Anzahl von Personen nicht schließen, dass auch der konkrete, geistig gesunde Täter dieses Erleben zum Tatzeitpunkt hatte. Zu bedenken ist jedenfalls, dass sich der rechtstreue Bürger unter Umständen eher als „frei“ erlebt als der Rechtsbrecher, da man sicherlich eher geneigt ist, sich selbst Erfolge als Misserfolge zuzuschreiben. Hinzu kommt, dass sich auch ein mit dem Gefühl von Handlungsfreiheit vollzogenes Verhalten, wie eingangs dargestellt, in der objektiven Rückschau möglicherweise nur noch als eingebunden in kausale Zwänge auffassen lässt. _________________ 434 Ungeachtet dieser Schwierigkeiten befürwortet Burkhardt, die Innenperspektive des Täters zur Grundlage des Schuldurteils zu erheben (vgl. Lenckner-FS, S. 3 ff.; ders., First-Person, S. 238 ff.); anders Kohler, der nur die Bemessung der Strafhöhe durch den Richter vom subjektive Erleben des Täters abhängig macht: „[...] stets muss sich der Richter die Gefühlssphäre des Delinquenten veranschaulichen, wenn er gerecht, d. h. der That des Delinquenten entsprechend urtheilen will; wenn er auf ihn dasjenige Mass des Leidens ergiessen will, welches für seine That eine adäquirte Sühne bildet“ (Das Wesen der Strafe, S. 12). Zu den schier unlösbaren Problemen, vor die eine Überprüfung des Innenlebens des Menschen den Strafrichter stellt, vgl. aber Sarstedt, Schmidt-LeichnerFS, S. 171 ff. 435 Vgl. dazu Neumann/Prinz, S. 199 u. 213 (unter Bezugnahme auf den englischen Philosophen Gilbert Ryle und den deutschen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts Heinrich Zschokke). 436 Siehe Neumann/Prinz, S. 198. Zur philosophischen Entwicklung des Willensbegriffs s. Mittelstraß, S. 33 ff., 39.
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Der Richter kann damit zwar den inneren Standpunkt des Täters in der Form, wie dieser ihn artikuliert, in seine Überlegungen einbeziehen, die Bewertung selbst erfolgt jedoch „von außen“ und erfordert damit objektive Kriterien. Deshalb bezeichnet auch die von Burkhardt vertretene Ansicht, der Richter könne im Normalfall davon ausgehen, dass sich der Täter für oder gegen das Recht entscheiden konnte, „weil [er] aus eigener Erfahrung (und aus der Kommunikation mit anderen) weiß, daß dies der alltägliche und ubiquitäre Normalfall ist,“437 einen Sachverhalt, der den Fachwissenschaften grundsätzlich zur Überprüfung offensteht und damit auch prinzipiell erschüttert werden kann. Die „eigene oder allgemeine Anschauung“ ist mithin ihrerseits eine prinzipiell falsifizierbare Grundlage für den Schuldspruch.
f) Zusammenfassung Handelt es sich bei dem Menschenbild des Schuldstrafrechts um eine normative Konstruktion, um die Vorstellung eines aufgrund von Freiheitserlebnissen fiktiv als selbstbestimmt und verantwortlich betrachteten Täters, dann entbindet auch diese Konstruktion nicht davon, den ihr zugrundeliegenden tatsächlichen Sachverhalt, sei er subjektiver oder objektiver Art, zu konkretisieren, um so Willkürlichkeit auszuschließen. Das subjektive Freiheitserleben des einzelnen Täters bei der Tat festzustellen wirft dabei bereits wegen der im Prozess vom Richter notwendig eingenommenen Außenperspektive unlösbare Schwierigkeiten auf und kann wegen der objektiv zu treffenden rechtlichen Feststellungen auch nicht das entscheidende Kriterium bei der Frage der Schuldfähigkeit bilden. Aber auch ein normatives Konstrukt auf der Grundlage allgemeiner Freiheitserfahrung bringt Probleme mit sich, da erstens bereits die „Evidenz“ dieses Erlebens an sich in Zweifel gezogen werden kann, zweitens aber auch fraglich ist, ob dies von der Feststellung eines Freiheitserlebens auch des konkreten Täters entbinden kann. Anhand der Rechtsprechung ließ sich ausmachen, dass subjektive Evidenz als Tatsachengrundlage für eine strafrechtliche Konstruktion nur in Betracht gezogen werden kann, solange keine entgegenstehenden empirischen Erkenntnisse existieren. Der dahinter stehende Gedanke, dass objektive Erkenntnisse abweichenden subjektiven Auffassungen bei der Feststellung strafrechtlich relevanter Sachverhalte vorgehen, spiegelt das heutige Gerechtigkeitsverständnis wider. Materielle Gerechtigkeit im Bereich strafrechtlicher Schuldzuschreibung herzustellen bedeutet damit auch, die Voraussetzungen der Schuld immer wieder empirisch zu überprüfen. Nach dem Gesagten müssen dabei alle feststellbaren Möglichkeiten des Menschen berücksichtigt werden, um zu gewähr_________________ 437
Burkhardt, Lenckner-FS, S. 21.
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leisten, „daß der Täter [...] die Fähigkeit hatte, den Anforderungen des Rechts Folge zu leisten“.438 Entgegen der Ansicht von Grasnick439 sind naturwissenschaftliche Beweise damit nicht nur Bestandteil des Bereichs, mit dem es Rechtswissenschaftler zu tun haben440, sie sind darüber hinaus für die richterliche Überzeugungsbildung auch bindend. Beruht die normative Konstruktion von Schuld also auf Variablen wie Fiktion oder Evidenz und gibt es empirische Erkenntnisse, die diese Variablen in Frage stellen, dann sind diese Erkenntnisse grundsätzlich rechtlich relevant.441 Schmidhäuser bemerkt: „In der sinnerfüllten ,natürlich-sozialen‘ Welt, in der [...] menschliches Tun nach rechtlichen und ethischen Maßstäben bewertet wird, läßt sich keine Kausalität eines vom Gehirn ausgehenden Impulses für eine Körperbewegung feststellen; dieser Impuls läßt sich ebensowenig verbieten und als Unrecht bewerten, so wenig ich je meinen motorischen Nerven einen Impuls geben will, damit sie ein Ausstrecken meiner Hand bewirken; was ich hier wollen kann und will ist: meine Hand ausstrecken“442. Das ist zwar richtig, gleichwohl sind im Bereich des Rechts auch solche „Impulse“ durchaus zu beachten, soweit sie als Handlungsbedingung empirisch nachweisbar sind, und selbst dann, wenn sie das herkömmliche Verständnis von der Funktionsweise des Menschen „in der sinnerfüllten ,natürlich-sozialen‘ Welt“ in Frage stellen.443 Auch das „Können“ als normative Konstruktion, wie es Jakobs _________________ 438
Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, S. 5. Vgl. auch Dallinger, MDR 1953, S. 147 zu § 51 Abs. 2 StGB a. F. 439 Siehe oben, S. 122. 440 Man pflegte allerdings früher die Quellen der Erkenntniserlangung in revisionsrechtlichen Entscheidungen nicht zu zitieren, auch in OLG-Entscheidungen wurden höchstens Juristen als Beleg angeführt (s. Recktenwald, ZVS 1980, 52, 53). 441 Nach Kelsen setzt Zurechnung „weder die Tatsache noch die Fiktion der Freiheit als kausale Nichtbestimmtheit, noch den subjektiven Irrtum der Menschen, selbst frei zu sein, voraus“ (Rechtslehre, S. 99). Das Prinzip der Zurechnung besage, „daß, wenn A ist, B sein soll“ (Rechtslehre, S. 93; vgl. auch ders., ARSP 46 [1960], S. 322). Soll Zurechnung keines der genannten Freiheitsverständnisse voraussetzen, erforderte dies, dass sie in A nicht bereits enthalten sein dürfen. Die Feststellung der Bedingung, hier des Unrechts (vgl. Kelsen, ARSP 46 [1960], S. 324), dürfte also weder Freiheitsfiktion noch Freiheitserleben voraussetzen. In Anbetracht der von Kelsen implizierten kausalen Bestimmbarkeit des Willens, die Zurechnung erst möglich machen soll (s. Rechtslehre, S. 102) und dem Willen insoweit eine Funktion in Bezug auf das Verhalten zuschreibt, ist dies jedoch fraglich. Denn der Wille hat seinen Ausgangspunkt im Erleben, worüber auch seine Einbettung in einen Kausalzusammenhang nicht hinweghelfen kann. 442 Schmidhäuser, ZStW 66 (1954), S. 31. 443 Vgl. auch Hardwig: „Was für einen Naturwissenschaftler ein Kausalzusammenhang ist, ist es auch für den Juristen. Stellt der Naturwissenschaftler fest, daß ein Kausalzusammenhang nicht gegeben ist, dann kann auch der Jurist keine andere Feststellung treffen“ (Zurechnung, S. 93); u. Kohlrausch: „Denn das Strafrecht ist eine Erfahrungs-
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sieht444, entbindet nicht davon, die Bedingungen zu konkretisieren, die erforderlich sind, damit von einem „Können“ im rechtlichen Sinne gesprochen werden kann.445 Die Feststellung dieser Bedingungen kann aber, will man Willkürlichkeit weitestgehend ausschließen, nicht (ausschließlich) von der Erkenntnis des Gerichts herrühren, sondern muss primär aus allgemein zugänglicher Erfahrbarkeit stammen.446 Inwieweit naturwissenschaftliche Erkenntnisse darüber aus heutiger Sicht Aufschluss zu geben vermögen447, ist deshalb eine Frage der Beweisbarkeit der Schuld.
II. Allgemeines zur Beweisbarkeit der Schuldfrage Die in der westlichen Zivilisation verbreitete dualistische Vorstellung von Körper und Geist ist wesentlich durch die Philosophie der Neuzeit beeinflusst. Noch im Mittelalter hatte man dagegen eine Vorstellung der Einheit von Körper und Seele, die mit der damals vorherrschenden Ventrikellehre von der Struktur des Gehirns gut zusammenpasste.448 Mit der Unterscheidung einer immateriellen res cogitans (Geist, Seele) von einer materiellen res extensa (Körper) durch Descartes vollzog sich ein Bruch in der Diskussion des Leib-Seele-Verhältnisses.449 Nachdrücklich bekräftigt wurde diese kategoriale Trennung von Leib und Seele mit der von Kant aufge_________________
wissenschaft, beruht also auf der Allgemeingültigkeit des Kausalgesetzes [...]“ (Güterbock-FS, S. 23). 444 Vgl. Jakobs, StrafR AT, 17/23; dazu Geisler, S. 59–62. 445 In dem „Können“ ein vollständig empiriefreies normatives Kriterium zu erblicken, dessen Voraussetzungen ihrerseits normativ bestimmt werden, führt, wie Schünemann zu Recht bemerkt, in einen „circulus vitiosus“: Die rein normativistische Begriffsbildung könne aufgrund ihrer empirischen Inhaltsleere letztlich beliebig mit Inhalt gefüllt werden (s. Roxin-FS, S. 16 ff.). 446 Vgl. auch Hassemer zur Strafrechtswissenschaft: „Sie muß die Freiheit bewahren, die ihr als Wissenschaft zukommt, und sie muß zugleich der Verbindlichkeit gerecht werden, die ihr aus ihrem Gegenstand zuwächst“ (Selbstverständnis, S. 29). 447 Insoweit gilt die von Roth formulierte Einschränkung: „Was Naturwissenschaftler bestenfalls tun können, ist ein Gebäude von Aussagen zu errichten, das hinsichtlich der empirischen Daten und seiner logischen Struktur für eine bestimmte Zeitspanne ein Maximum an Konsistenz aufweist“ (Das Gehirn, S. 351). 448 Auf die Hirnventrikel wurden die seelischen Hauptvermögen Wahrnehmung und Imagination, Denken und Vernunft sowie das Gedächtnis verteilt, wobei es jedoch nicht um eine Lokalisation der Seele ging, die als regierendes Prinzip im Einklang mit der göttlichen Weisung verstanden wurde und sowohl Weisheit wie Lebensprinzip umfasste. Auf drei Hirnventrikel kam man durch Zusammenfassung der beiden Seitenventrikel. Siehe dazu ausführlich Hagner, Enzyklopädie C/I 1, S.12 ff. 449 Siehe Hagner, Enzyklopädie C/I 1, S. 24.
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Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld
stellten These, dass Fragen den Körper betreffend von der physiologischen Fakultät zu beantworten seien, hingegen die Klärung des Seelenproblems allein in den Bereich der Metaphysik gehöre. Dies begründete er damit, dass eine lokale Eingrenzung der Seele nur durch eine räumliche Bestimmung ermöglicht würde, die aber eine Betrachtung von außen erforderte. Die Seele selbst könne sich jedoch nur durch innere Betrachtung wahrnehmen, „mithin sich selbst schlechterdings keinen Ort bestimmen, weil sie sich zu diesem Behuf zum Gegenstand ihrer eigenen äußeren Anschauung machen und sich ausser sich selbst versetzen müßte; welches sich widerspricht“.450 Jedwede Diskussion über einen „Sitz der Seele“ lehnte Kant daher ausdrücklich ab.451 Dem entspricht die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Hirnforschung profitierte hiervon insoweit, als sie sich nicht mit schwierigen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Problemen auseinandersetzen musste. Die sich auf ihre disziplinäre Selbständigkeit berufende „Gegenseite“, die Psychologie, unterstützte ihrerseits diese Trennung, indem sie mit dem Aufkommen des Behaviorismus die These aufstellte, dass mentale Vorgänge nur subjektiv erlebbar und nicht objektiv feststellbar seien.452 In analoger Weise wurden auch in den Rechtswissenschaften lange Zeit die Begriffe „Geist“ oder „Seele“ verwendet. Die ursprüngliche Begriffstrennung zwischen Körper und Geist oder Leib und Seele ist, nachdem man sich auf den Sitz der „Erlebnisstation“ im menschlichen Gehirn verständigt hatte, zugunsten des Begriffspaares Gehirn und Bewusstsein aufgegeben worden.453 Heute ist jedoch, dem Gehirnforscher Roth zufolge, „jegliche Art von GeistGehirn-Dualismus und jeder Glaube an eine Autonomie des Geistes gegenüber dem Gehirn mit dem Wissensstand der Hirnforschung unvereinbar“.454 Dies legt die Frage nahe, ob nicht und gegebenenfalls inwieweit auch die strafrechtliche Schuld von neueren Erkenntnissen interdisziplinärer Wissenschaften betroffen sein könnte. Die überwiegend vertretene Grundannahme, dass sich für das hinter der Schuld liegende Freiheitsproblem nichts beweisen lasse, und die _________________ 450
Kant, Nachwort, S. 86. Siehe Kant, Nachwort, S. 82. Diese rigorose Stellungnahme Kants war die Folge eines Ersuchens des Mediziners Samuel Thomas Sömmering, zu seiner Abhandlung „Über das Organ der Seele“ die Ansicht Kants mitgeteilt zu bekommen. Sömmering selbst hatte in dem zweiten Teil seines kurzen Bandes, der „transzendentalen Physiologie“, darzulegen versucht, dass die Flüssigkeit in den Hirnventrikeln der Sitz der Seele sein müsse. Vgl. dazu auch Hagner, Enzyklopädie C/I 1, S. 37 f.; Breitbach, S. 27 f. 452 Siehe Roth et al., Die funktionale Rolle des bewußt Erlebten, S. 1. 453 Zu den Begriffen „Bewusstsein“ und „Seele“ vgl. die Ausführungen bei NKSchild, 1. Aufl., § 20, Rn. 114 f. 454 Roth, Grundlagen, S. 205; vgl. auch M. Pauen, Grundprobleme, S. 90. Kritisch Esterbauer, Philosophia naturalis 39 (2002), S. 325 ff. 451
Kapitel 2: Freiheit und Rechtsdogmatik
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Unberührtheit der Rechtsprechung vom Schulenstreit legen die Vermutung nahe, dass die traditionelle Behandlung der Schuldfrage wohl nur dann einer grundsätzlichen Revision unterzogen würde, wenn ihr ein empirischer, auf überprüfbaren Beweisen beruhender neuer Zugang zu ihrem Thema eröffnet werden könnte.
1. Objektivierbarkeit subjektiven Erlebens Dazu wäre es erforderlich, einen experimentellen Zugang zum Willen zu bekommen. Nun ist das subjektive Erleben eines Entscheidungs- oder Abwägungsprozesses, eines Willens, überhaupt jedes Gedankens und jeder Emotion die persönliche Erfahrung eines Menschen und in diesem Sinne objektiv nicht unmittelbar zugänglich. Hieraus folgt jedoch nicht, dass dieses Erleben anderen Menschen gänzlich verschlossen wäre. So kann eine Person beispielsweise Auskunft über ihr Erleben geben. Damit „erleben“ andere Menschen nicht das, was die Person selbst erlebt, sie werden aber in die Lage versetzt, die Informationen über das Erleben mit ihren eigenen Erfahrungen abzugleichen oder zeitlich und räumlich455 einzuordnen. Informationen über das Erleben werden also mithilfe der Sprache oder anderer Ausdrucksmöglichkeiten einem Dritten zugänglich gemacht und können damit objektiviert werden. Überhaupt ist jeglicher Ausdruck, wie der Begriff bereits impliziert, ein Austreten aus der rein subjektiv erfahrbaren Erlebniswelt. Gibt eine Person mithin widersprüchliche Informationen über ihr Erleben, ist dieser Widerspruch objektiv nachweisbar, wenn auch nicht das tatsächliche Erleben selbst. Da mit dem Begriff der Willensbetätigung die Beziehung zwischen Erleben und Verhalten ausgedrückt werden soll und das Verhalten selber als Ausdrucksmöglichkeit immer Bestandteil der Umwelt des Menschen ist, geht die erlebte Willensbetätigung immer notwendig mit objektiven Umweltwirkungen einher. Im Unterschied hierzu gibt es keine natürlichen Ausdrucksweisen der Willensbildung als solcher. Deshalb wird das Verhalten auch als Ausdruck der Willensbildung456 angesehen, was freilich das Problem mangelnder empirischer Beglaubigung dieser äußeren „Willens“-betätigung aufwirft.457 Die Beziehung zwischen Wille und Verhalten wird mithin zunächst nur empfunden und ist damit, ebenso wie die Willensfreiheit, lediglich subjektiv erfahr_________________ 455
Zum Raum- und Zeitverständnis des Juristen vgl. Engisch, Weltbild, S. 44 ff., 67 ff.: „Was ,nacheinander‘, ,vor und nach‘, ,früher und später‘ heißt, ist nun wieder jedermann unmittelbar vertraut, das Recht knüpft also insoweit an die natürliche Auffassung an“ (S. 91). 456 Vgl. Tiemeyer: „Wille oder als Handeln realisiertes Wollen“ (ZStW 105 [1993], S. 491). 457 Dazu auch Lampe, ZStW 79 (1967), S. 486.
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Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld
bar. Empirische Ergebnisse über das Freiheitsempfinden selbst sind daher grundsätzlich nicht direkt zu gewinnen. Indem aber zum einen die Voraussetzungen für den Begriff der Freiheit objektiv definiert werden und man andererseits Informationen von der betreffenden Person über ihr Freiheitserleben erhalten kann, werden jedenfalls die Voraussetzungen des Freiheitsbegriffs sowie immerhin die intersubjektive Mitteilung eines spezifischen Gefühls von Entschlussfreiheit und dessen zeitliche Beziehung zum Willensakt, wenn auch nicht das Empfinden der Freiheit selber, zu einem Bestandteil der erfahrbaren Wirklichkeit458 anderer und damit in diesem Sinne zugänglich gemacht. Es wird also auch hier von der Grundannahme ausgegangen, dass die Welt des exakten Beweises ausschließlich die empirische Wirklichkeit ist.459 In diese kann die subjektive Erlebniswelt immer nur mittelbar über die Mittel des Ausdrucks integriert werden. Soweit möglich, ist es deshalb erforderlich, diese Aussagen durch objektive Tatsachen zu untermauern. Nachdem bereits erörtert wurde, dass jedenfalls alles, was die Unrechts- und Schuldfeststellung betrifft und empirisch zugänglich ist, auch unter empirischen Maßstäben im Strafprozess Beachtung finden muss, stellt sich als nächstes die Frage, welche allgemeinen Maßstäbe hinsichtlich der Feststellung des Erlebens oder der Innenperspektive gelten.
2. Erlebnisirrtümer Für die Umwelt können Widersprüche der Erlebniswelt einer Person zur äußeren Wirklichkeit erkennbar werden; andererseits kann das subjektive Erleben selber von der Umwelt nicht identisch geteilt werden. Das wirft die Frage auf, ob es so etwas wie Irrtümer im Erleben geben kann. So kommt es vor, dass Menschen ihre Umwelt in einem aus strafrechtlicher Sicht für sie günstigen Sinne anders erleben, als sie sich für andere Menschen darstellt. Möchte man beispielsweise ein Tier erschießen und trifft stattdessen einen Menschen, dann sehen andere die Tötung eines Menschen, während man selbst in diesem Au_________________ 458 Hier freilich nicht im Sinne absoluter Wirklichkeit oder Realität „an sich“ gemeint; vgl. zu dieser Differenzierung Tiemeyer: „die hinter der erkannten Wirklichkeit liegende andersartige Wirklichkeit“ (ZStW 105 [1993], S. 504), sowie Otto: „Das, was wir für die objektiv vorgegebene Wirklichkeit halten, kann eine solipsistisch konstruierte Traumwelt von Erscheinungen sein. Und die anderen, mit denen wir uns intersubjektiv das Welterlebnis teilen, mögen Gestalten unserer irrationalen Vorstellung sein, die mit der Realität nichts gemein haben“ (GA 1981, S. 488); und Gössel, Irrtum, S. 8. Die später folgenden Ausführungen zu „objektiven“ Erkenntnissen beziehen sich daher nicht auf eine außerhalb der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten liegende Realität oder Wirklichkeit, sondern nur auf den Bereich des Erfahrbaren. Vgl. dazu auch K. Günther, Zuschreibung, S. 319 ff., 347, sowie Lüderssen, Gebotene Zuschreibung?, S. 314 ff. 459 Siehe auch Rickert, S. 197 u. 211.
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genblick nur die Tötung eines Tieres sieht, was zu milderen strafrechtlichen Konsequenzen führt, als wenn man selbst ebenfalls den Menschen gesehen hätte.460 Das Gesetz kennt für diese Fälle den sogenannten Tatumstandsirrtum gemäß § 16 Abs. 1 StGB. Es wird hier bei der Feststellung des objektiven Tatbestands auf das tatsächliche Geschehen abgestellt. Ähnlich verhält es sich im Falle der Putativnotwehr, wenn sich der Beschuldigte durch einen vermeintlichen Angriff bedroht fühlt. Auch bei einem solchen Sachverhalt kommt § 16 Abs. 1 StGB entsprechend zur Anwendung461, weil es für die Rechtfertigungsumstände objektiv gerade nicht entscheidend ist, ob sich der Beschuldigte bedroht fühlte, sondern ob ein Angriff tatsächlich stattgefunden hat. Stehen sich also Innen- und Außenwelt in dem Sinne gegenüber, dass das Erleben zwar subjektiv „richtig“ ist, aber mit dem objektiven Erscheinungsbild nicht übereinstimmt, wird sich der Strafjurist hinsichtlich der Tat- bzw. Rechtfertigungsumstände immer an dem objektiven Erscheinungsbild orientieren.462 Das Strafrecht spricht also immer dann von einem „Irrtum“, wenn objektive Kriterien dem geäußerten Erleben widersprechen.463 Diese Grundsätze können auch auf die Schuldfrage übertragen werden. Wäre hier die subjektive Erlebniswelt für die richterliche Prüfung entscheidend, könnte dies in Bezug auf die Schuldfeststellung zwei Konsequenzen haben. Im ersten Fall wäre ein Täter trotz entgegenstehender objektiver Anhaltspunkte zu verurteilen, nur weil er sich schuldig fühlte464, im zweiten Fall, wenn die objektiven Anhaltspunkte für die Schuld des Täter sprechen, könnte er nur verurteilt werden, wenn er sich auch tatsächlich schuldig fühlte. Dass die erste Konsequenz nicht Bestand haben kann, bedarf nach den Ausführungen zum Rege_________________ 460
Das gilt sowohl für den Fall des error in obiecto als auch für die sog. aberratio ic-
tus. 461
Dies bzw. die genauere dogmatische Konstruktion ist freilich umstritten; zum Stand der Diskussion s. Roxin, StrafR AT/1, § 14, Rn. 52 ff. 462 Gleiches gilt im Übrigen für die Bewertung einer Aussage als „wahr“ oder „falsch“ im Rahmen der Aussagedelikte des StGB. Zwar geht eine Minderheitsmeinung davon aus, dies richte sich nach dem, was der Aussagende für wahr oder falsch hält (vgl. die Nachweise bei Sch/Sch-Lenckner, Vorbem §§ 153 ff., Rn. 5). Richtig ist aber auch hier, mit dem herrschenden Meinung danach zu bewerten, was objektiv wahr bzw. falsch ist und eine mangelnde Kenntnis des Aussagenden von den tatsächlichen Umständen bei der subjektiven Tatseite zu berücksichtigen (vgl. die Nachweise bei Sch/Sch-Lenckner, ebd.). Nur so lassen sich nämlich die §§ 160, 163 sinnvoll verstehen. 463 Vgl. auch den Beispielsfall eines „erklärbaren Irrtums“ bei Mezger, Über Willensfreiheit, S. 5. 464 Dass auch das Strafgesetzbuch bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit nicht die Innenperspektive des Täters zugrunde legt, wird bereits daran deutlich, dass sich Geisteskranke und Kinder durchaus als frei und selbstbestimmt erleben können und dennoch im rechtlichen Sinne nicht schuldhaft handeln können. Auf diese Problematik des Freiheitsgefühls macht auch Bauer aufmerksam (s. Verbrechen, S. 18).
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Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld
lungsbereich des Strafrechts keiner weiteren Erläuterung. Die zweite Konsequenz würde dagegen den Anwendungsbereich der §§ 20, 21 StGB erheblich erweitern. In diesen Paragrafen wird vorausgesetzt, dass der Täter grundsätzlich Unrechtsbewusstsein hat. Trägt er etwa vor, zum Zeitpunkt der Tat eine Unrechtseinsicht nicht gehabt zu haben, so genügt seine Aussage allein nicht, um ihn zu exkulpieren. Hinzukommen müssen objektive Tatsachen, die gegen das Vorliegen einer Unrechtseinsicht sprechen. Der Gesetzgeber ist zur Anordnung dieser Vorgehensweise schon deshalb genötigt, weil der Richter das Erleben des Täters selbst nicht überprüfen kann.465 Entscheidend ist, dass auch hier das (verbalisierte) subjektive Erleben zurücktritt, wenn objektive Tatsachen gegen das Vorbringen des Täters sprechen, ohne Unrechtsbewusstsein gehandelt zu haben.
III. Fazit und Überleitung Die nach Schopenhauer nur subjektiv erlebte Handlungsfreiheit erscheint im Regelungsbereich des Strafrechts als Abhängigkeitsverhältnis zwischen Wille und Verhalten, das der richterlichen Beurteilung unterliegt. Sowohl die Schuldlehren als auch der Wortlaut des § 20 StGB beziehen sich auf diesen Zusammenhang. Will man hier eine „gerechte“ Grenze ziehen zwischen Tätern, die schuldhaft, und solchen, die schuldlos handeln, dann muss das an konkret feststellbare Sachverhalte geknüpfte Differenzierungskriterium zwischen Schuld und Nichtschuld den Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 103 Abs. 2 GG genügen. Die Innenperspektive des Täters hat sich hierfür als nicht tauglich erwiesen. Im Strafprozess tritt diese Sicht auch in objektivierter Form immer hinter objektiven Erkenntnissen zurück. Auf der anderen Seite eröffnet die Objektivie_________________ 465 Daneben gibt es, soweit man konsequent auf dem individuellen Erleben aufbaut, natürlich die Möglichkeit, dass viele Menschen auch bei rechtswidrigem Tun kein entsprechendes Erleben aufweisen. So auch Kelsen: „Reue und Gewissensbisse als seelische Folgen eines begangenen Unrechts empfinden keineswegs alle Menschen. Vor allem aber halten viele gar nicht für Unrecht, was nach irgendeiner Moral- oder irgendeiner Rechtsordnung, unter der sie leben, als Unrecht gilt [...]“ (Rechtslehre, S. 99). Es ist daher fraglich, ob die „Goldene Regel“ des Kategorischen Imperativs, wie dies Griffel formuliert, auch für „den anlagemäßig zu Rechtswidrigkeit Neigenden“ selbstverständlich ist (s. Griffel, ARSP 84 [1998], S. 517). (Die Annahme, im Kategorischen Imperativ Kantischer Provenienz stecke (auch) die „Goldene Regel“, ist im Übrigen unzutreffend; vielmehr unterscheiden sich beide Imperative in ihrer normativen Logik deutlich: Die „goldene Regel“ macht das Empfinden des individuellen Handelnden, der Kategorische Imperativ dagegen die Übereinstimmung seiner Handlungsmaxime mit der Vernunft aller denkbaren vernünftigen Wesen zum Maßstab der gebotenen Universalisierung der konkreten Handlungsmaxime.)
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rung der Innenperspektive durch Sprache oder andere Zeichen jedoch einen Zugang zum Willen, indem dieser jedenfalls zeitlich in Bezug zum damit verknüpften Verhalten eingeordnet werden kann. So kann der Beschuldigte beispielsweise angeben, wann er nach seinem Erleben den Entschluss zur Tatbegehung gefasst hat. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass sich aus der Neurowissenschaft als einer Strukturwissenschaft, die sich auch mit den Zusammenhängen zwischen geistigen und hirnorganischen Phänomenen beschäftigt, Erkenntnisse hierzu gewinnen und strafrechtlich verwerten lassen. Obwohl es insoweit um die Untersuchung eines empirischen Zusammenhanges geht, ist schon wegen der Unklarheit und Mehrdeutigkeit des Kausalitätsbegriffs466 jedoch kein Ergebnis im Sinne der klassischen Determinismus-/ Indeterminismusdiskussion zu erwarten. Bereits die Differenzierungen bei Schopenhauer zwischen einer Innen- und Außenperspektive einerseits und einem prospektiven beziehungsweise retrospektiven Betrachterstandpunkt andererseits verdeutlichen dies.467 Für einen differenzierten Umgang mit der Frage der Kausalität sprechen daneben die Erkenntnisse aus der Mikrophysik.468 Hingegen sind empirische Erkenntnisse über den deskriptiven Gehalt dessen, was man objektiv als Willensbetätigung bezeichnet, sehr wohl geeignet, die strafprozessualen Feststellungen unmittelbar zu beeinflussen. Um die empirischen Voraussetzungen in den Blick zu bekommen, soll die Willensbetätigung zunächst als Teil der dogmatischen Schuldzurechnungskriterien untersucht werden. Dabei ist besonderes Augenmerk auf die Frage zu richten, ob und inwieweit sie als sachliches Differenzierungskriterium bei der Feststellung von strafbarem Verhalten verwendet wird. Die Krankheitsbilder, auf die die §§ 20, 21 StGB abstellen469, sind Voraussetzungen für die Schuldunfähigkeit, also gerade für das Nichtbestehen von Schuld. Hier soll aber die Willensbetätigung, wie sie positiv in Erscheinung tritt, untersucht werden, also die empirischen Bedingungen, mit denen nach der Vorstellung des Gesetzgebers der „normale“ Mensch offenkundig ausgestattet sein soll, um nach seiner Unrechtseinsicht handeln zu können. Beginnen soll die Untersuchung mit dem Handlungsbegriff, dessen Nähe zum Begriff der Willensbetätigung bereits erwähnt wurde.470 Daran anschließend soll herausgearbeitet werden, welche ontologischen Grundannahmen bei der Frage der Vermeidbarkeit eine Rolle spielen, und schließlich sollen Probleme der subjektiven Tatseite im Hinblick auf das menschliche Handeln geklärt werden. _________________ 466
Dazu oben, S. 36 ff. Vgl. oben, S. 27 ff. 468 Wie Fn. 466. 469 Siehe oben, Kap. 1, Fn. 1. 470 Siehe oben, S. 33. 467
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Teil 1: Freiheit als Voraussetzung der Schuld
Dem ist im dritten Teil der Arbeit eine naturwissenschaftliche Sicht auf die Willensbetätigung, so wie sie im Strafprozess erscheint, gegenüberzustellen. Schließlich sollen im vierten und abschließenden Teil aus dieser Gegenüberstellung mögliche Konsequenzen für die strafrechtliche Dogmatik und das Schuldverständnis aufgezeigt werden.
Teil 2
Automatisiertes Verhalten und Schuld Kapitel 1
Die Handlung I. Die Handlungsqualität in der Systematik der Nichthandlungen Der Systematik des Strafrechts und den Kommentierungen zum StGB lässt sich entnehmen, dass Unrecht und Schuld nicht beziehungslos nebeneinander stehen. Zwar gibt es Unrecht ohne Schuld (zum Beispiel die Tat eines Geisteskranken), nicht aber umgekehrt strafrechtliche Schuld ohne kriminelles Unrecht; vielmehr setzt erstere das letztere immer voraus.1 Ungeklärt ist dabei die Einordnung des Handlungsbegriffs und damit zusammenhängend die Frage, ob diesem überhaupt eine selbständige Funktion zukommt. So kann der Handlungsbegriff den „Oberbegriff“ oder „Grundbegriff“ der Deliktsprüfung bilden.2 Unrecht und Schuld bilden dann ihrerseits Unterbegriffe oder Attribute des Begriffs der „Handlung“, so dass von einer „tatbestandsmäßigen, rechtswidrigen und schuldhaften Handlung“3 gesprochen wird. Setzt man den Handlungsbegriff an den Anfang einer viergliedrigen Deliktsprüfung, so erfordert dies für ihn eine gewisse Neutralität gegenüber den nachfolgenden Feststellungen.4 Die Elemente des Handlungsbegriffs können aber in der Unrechts- und Schuldprüfung auch vollkommen aufgehen, womit das Erfordernis für einen selbständigen Handlungsbegriff entfiele.5 Lenckner zufolge entbindet dies _________________ 1
Siehe. Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 20. Auch als „Grundfunktion“ oder „Grundelement“ bezeichnet. Vgl. hierzu Engisch, Weltbild, S. 36; Maurach/Zipf, StrafR AT, § 16 I, Rn. 25 ff.; Roxin, StrafR AT/1, § 8, Rn. 1; Krauss, Bruns-FS, S. 15; NK-Puppe, Vor § 13, Rn. 31. 3 LK-Jescheck, Einl., Rn. 21; vgl. auch Radbruch, ZStW 24 (1904), S. 335. 4 Vgl. Roxin, StrafR AT/1, § 8, Rn. 3; Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 91. Vgl. auch Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 219; Mezger, Rittler-FS, S. 120. 5 Siehe Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 37 m. w. N. Vgl. auch Freund, StrafR AT, § 1, Rn. 60; Lampe, ZStW 79 (1967), S. 489; Brammsen, JZ 1989, S. 75; NK-Puppe, Vor § 13, Rn. 40; Maiwald, ZStW 86 (1974), S. 626 ff.; Herzberg, GA 1996, S. 9. 2
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Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld
indes nicht davon, die differenzierenden Kriterien zu spezifizieren, die eine Aussonderung der Nichthandlungen ermöglichten.6 Dies führt zu der nächsten Problemstellung, ob es sich um einen positiv definierten Handlungsbegriff handeln muss, wie ihn beispielsweise Jescheck fordert7, oder ob eine hinreichend klare negative Abgrenzung zu Verhaltensweisen, die grundsätzlich keine Handlungen darstellen sollen, ausreichend ist.8 Aber auch diese sogenannte Abgrenzungs- oder Ausscheidungsfunktion der Bestimmung von Bewegungen ohne Handlungsqualität erfordert nach der Lehre ihrer Befürworter eine Systematik, denn: „Positiv gesprochen muß der Handlungsbegriff sicherstellen, daß ein tauglicher Gegenstand strafrechtlicher Bewertung vorhanden ist.“9 Auch Mezger ist der Ansicht, Handlungsausschließungsgründe im eigentlichen Sinne des Wortes gebe es nicht, denn was man darunter verstehen könnte, sei in Wahrheit das Fehlen von Merkmalen, die den Begriff der Handlung bedingen.10 Der Rechtsprechung sei hingegen, so wird gesagt, die Diskussion um den Handlungsbegriff immer fremd geblieben, weil es für die Praxis allein darauf ankomme, in Grenzsituationen zu wissen, was keine Handlung ist.11 So hat sich auch in der Lehre, unabhängig vom Streit um den Handlungsbegriff, eine recht einhellige Verständigung darüber herausgebildet, welche Bewegungen keine Handlungsqualität besitzen sollen. Aber auch diese Systematik muss für die Allgemeinheit prinzipiell nachvollziehbar sein, um „dem Grundgedanken der Vorausberechenbarkeit des Rechts“12 zu genügen. Da es hier allein darum geht, herauszufinden, welche Vorentscheidungen beim Thema „Handlung“ für die Schuldfrage getroffen werden, kommt es im Folgenden nicht darauf an, an welcher Stelle im Deliktsaufbau die Differenzierungsmerkmale konkretisiert werden. Gleichwohl sollen, wie oben bei den Schuldlehren, die Schwierigkeiten einiger Handlungslehren exemplarisch in den Blick genommen werden. Nichthandlungen untergliedern sich nach Lenckner in vier Gruppen: Erstens Bewegungen, die durch vis absoluta ausgelöst werden, zweitens Körperbewe_________________ 6
Siehe Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 37; vgl. auch Roxin, StrafR AT/1, § 8, Rn. 43; vgl. zum Handlungsbegriff als „Grenzbegriff“ oder „Grenzelement“ auch Armin Kaufmann, Funktion, S. 27 f. 7 Siehe LK-Jescheck, Vor § 13, Rn. 25. 8 Vgl. Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 37. 9 Kühl, StrafR AT, § 2, Rn. 3; so auch Jescheck: die negative Funktion des Handlungsbegriffs setze voraus, dass man wisse, was positiv unter einer Handlung zu verstehen sei (s. LK-Jescheck, Vor § 13, Rn. 25). Vgl. dazu auch Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 37. 10 Siehe LK-Mezger, 8. Aufl., Bem. 7 vor § 51. 11 Siehe LK-Jescheck, Vor § 13, Rn. 25. 12 Sch/Sch-Eser, § 1, Rn. 24.
Kapitel 1: Die Handlung
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gungen im Zustand der Bewusstlosigkeit, in dem Sinne, dass „der geistige Steuerapparat völlig ausgeschaltet“13 ist, drittens Reflexbewegungen und viertens automatisierte Verhaltensweisen, wozu die Schreckreaktionen im Straßenverkehr zählen.14 Die vierte Gruppe soll zunächst zurückgestellt werden, da ihre Handlungsqualität umstritten ist; sie soll erst im Anschluss auf der Grundlage der zuvor gewonnen Erkenntnisse selbständig behandelt werden. Grundsätzlich wird man dabei sagen können, dass nur solche Verhaltensweisen sogenannte „Nichthandlungen“ sein können, die die Rechtsordnung nicht unerträglich belasten, denn Nichthandlungen sind straflos und unterliegen auch nicht dem Maßnahmerecht.15 Anhand der menschlichen Bewegungen, die heutzutage unstreitig nicht als Handlungen anzusehen sind, soll nun zunächst der Versuch gemacht werden, herauszufiltern, welches die Kriterien für die Annahme einer Handlung sind.
1. Vis absoluta und Reflexe Der juristische Begriff der „vis absoluta“ wird als unwiderstehliche Gewalt definiert.16 Sie liegt vor, wenn eine Bewegung durch mechanisch wirkende Gewalt von außen ausgelöst oder unterdrückt wird. Zu unterscheiden ist sie von der sogenannten „vis compulsiva“, bei der gleichfalls von außen Zwang auf einen Menschen einwirkt, dieser aber jedenfalls physisch, wenn auch nicht unbedingt psychisch, die Möglichkeit besitzt, dem Zwang entgegenzuwirken. Als erstes Merkmal einer strafrechtlich relevanten Handlung lässt sich also festhalten, dass das Verhalten nicht von außen (unwiderstehlich) aufgezwungen sein darf. Die Grenzen der Gruppe der „Reflexbewegungen“ sind etwas schwerer zu bestimmen. Die Schwierigkeit bei der Zuordnung von Sachverhalten hängt mit der juristischen Definition des Reflexbegriffs zusammen; dessen Stellung im breiten Spektrum der Deutung vom umgangssprachlichen Gebrauch bis zum medizinischen Fachbegriff, die ihrerseits bestimmungsbedürftig sind, ist unklar. So verstand Mezger die Reflexbewegungen in den fünfziger Jahren als „Körperbewegungen, bei denen es an einer Erregung motorischer Nerven durch seelischen Einfluß mangelt, bei denen vielmehr ein körperlich-physiologischer Reiz sich unmittelbar ohne Mitwirkung des Bewußtseins in eine Bewegung _________________ 13
Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 39; vgl. auch Haft, StrafR AT, S. 28. Siehe Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 37–41/42 m. w. N. 15 Strafbar könnte natürlich ein vorangegangenes pflichtwidriges Verhalten sein, dazu im Folgenden sowie unten, S. 188 f. u. 228 ff. 16 Siehe Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 38, sowie Kühl, StrafR AT, § 2, Rn. 5. 14
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Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld
umsetzt“.17 Die Probleme einer solchen Definition lassen sich wiederum anhand von Fallbeispielen aus der Rechtsprechung veranschaulichen. Das Landgericht Hamburg nahm ein „reflexartiges, nicht mehr bewußtes Tun“ im Falle eines Angeklagten an, der bei einer Kostümanprobe in die unfreiwillig entblöste Brust der Zeugin gebissen hatte.18 Diese Entscheidung wurde unter Bezugnahme auf die Definition Mezgers durch das Oberlandesgericht Hamburg aufgehoben.19 Im Anschluss an diese Urteilsbegründung des Oberlandesgerichts Hamburg verneinte dann das Amtsgericht Castrop-Rauxel20 im Jahre 1965 (im Folgenden „LKW-Fall“ genannt) eine Handlung, weil der psychologische Sachverständige für das unfallverursachende Ausweichmanöver eines Autofahrers zu dem Ergebnis kam, dass das überraschende Auftauchen eines Lastkraftwagens sich unmittelbar in der sehr einfachen Handlung einer Rechtskorrektur am Lenkrad niedergeschlagen haben könnte, so dass der Angeklagte möglicherweise nicht in der Lage gewesen sei, durch kritische Überlegungen sein Verhalten vom Willen her zu steuern. Die Handlungsqualität wurde vom Amtsgericht Castrop-Rauxel dementsprechend verneint, „weil ein äußerer Reiz schon eine Reaktion ausgelöst und die Körperbewegung vollzogen hat, bevor der erheblich langsamer arbeitende Wille tätig werden konnte“. In einem solchen Fall könne die Steuerung des menschlichen Verhaltens aber dem bewussten Willen nicht unterliegen.21 Zu dieser Annahme musste es kommen, weil die Reflexbewegungen bis zu diesem Zeitpunkt, wie das Gericht selbst formuliert, „einer genaueren Untersuchung und Präzisierung noch nicht unterzogen“22 waren.23 Die Definition Mezgers ermöglichte also unterschiedliche Akzentuierungen. Einmal lag der Schwerpunkt auf dem Ausschluss des seelischen Einflusses, Bewusstseins oder Willens, also der Abwesenheit geistig-seelischer Einwirkungen, dann lag er auf der motorisch-sensorischen Reizübertragung und damit auf dem Vorhandensein rein physiologischer Vorgänge. Zwar lässt sich bei den _________________ 17
LK-Mezger, 8. Aufl., Vor § 51, Rn. 7a. Siehe die Ausführungen des OLG Hamburg JR 1950, 408 f. 19 Siehe OLG Hamburg, ebd., sowie ausführlich zu diesen Fällen Schewe, Reflexbewegung, S. 31–40. 20 AG Castrop-Rauxel DAR 1965, 330 f. 21 Siehe AG Castrop-Rauxel DAR 1965, 330, 331; so auch Luff, Der öffentliche Gesundheitsdienst 1957, S. 157. 22 AG Castrop-Rauxel, ebd. 23 Ohne Differenzierung zwischen Reflexen und Automatismen auch v. Weber, der auf der anderen Seite aber bereits zwischen Eigen- und Fremdreflexen (nämlich Reflexen, die einen Effekt im selben Organ hervorrufen, in dem ein Reiz ausgelöst wird, und solchen, die den Effekt an anderen als den reizauslösenden Organen hervorrufen) unterscheidet (s. Engisch-FS, S. 332 ff.). Vgl. zu den Begriffsschwierigkeiten auch das Fallbeispiel bei Schewe, Wille, S. 4. 18
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Reflexbewegungen heute in der Literatur überwiegend eine stärkere Profilierung der physiologischen Abläufe ausmachen; der Bezug zum geistigseelischen Bereich lässt sich aber zumeist noch mehr oder weniger deutlich entweder in der Definition der Reflexe selbst oder bei den allgemeinen Kriterien einer Nichthandlung erkennen.24 Abgrenzungsschwierigkeiten gibt es nach wie vor, wie die folgende Entscheidung veranschaulicht. Im Jahre 1984 lag dem Bundesgerichtshof der Fall eines angeklagten Kriminalhauptmeisters vor, der bei einer körperlichen Auseinandersetzung seinen Angreifer mit seiner Dienstwaffe erschoss, die er in der Hand gehalten hatte, um ihre Entwendung durch den Angreifer zu verhindern. Als es bei der Auseinandersetzung zu einem überraschenden Angriff mit unmittelbarer körperlicher Nähe kam, betätigte der Angeklagte „unbeabsichtigt und ungewollt“ den Abzugshahn.25 Dem Bundesgerichtshof erschien eine Interpretation dieser Verhaltensweise als Reflexhandlung und damit als Nichthandlung durch die Strafkammer widersprüchlich. Unter Berufung auf Jescheck führt er aus: „Ein Körperreflex, bei dem eine Bewegung ,unmittelbar durch einen von außen kommenden, das Nervensystem treffenden Reiz ausgelöst wird‘ [...] ist keine Handlung im strafrechtlichen Sinne. Als solche ist dagegen die automatisierte Verhaltensweise anzusehen, bei der ,die Reaktionen infolge der langen Gewöhnung und Übung durch äußere Reize unmittelbar und weitgehend unbewußt ausgelöst‘ [...] werden.“26 In der Tendenz nähert sich der Reflexbegriff damit einer medizinisch-physiologischen Deutung an; erlernte Bewegungen soll er dagegen nicht umfassen. Hieraus kann zunächst gefolgert werden, dass der Sachverhalt, der dem „LKW-Fall“ des Amtsgerichts Castrop-Rauxel vorlag, nach heutigem Verständnis keine Reflexhandlung darstellt. Aufgrund der Variabilität der Reizantworten und der Möglichkeit einer Habituation bei den sogenannten „Fremdreflexen“27 kann jedoch auch bei einem somatischen Reflexbegriff die Handlungsqualität im Einzelfall schwierig zu bestimmen sein.28 Stennert hat bereits Mitte der siebziger Jahre die Unterschie_________________ 24 Vgl. LK-Jescheck, Vor § 13, Rn. 36 f.; KK OWiG-Rengier, Vor § 8, Rn. 5; Gropp, StrafR AT, S. 111, Rn. 16; Stratenwerth/Kuhlen, StrafR AT, § 6, Rn. 7; Kühl, StrafR AT, § 2, Rn. 7; Roxin, StrafR AT/1, § 8, Rn. 67. Anders Maurach/Zipf, die nur auf das fehlende Willenselement abstellen (s. StrafR AT, § 16 I, Rn. 16 f.). 25 Siehe BGH – 2 StR 329/84 v. 20.6.1984, S. 4 (unveröffentlicht). 26 BGH – 2 StR 329/84 v. 20.6.1984, S. 6 (unveröffentlicht). 27 Zurückzuführen ist sie auf die sog. polysynaptische Übertragung, d. h. die Übertragung verläuft über mehr als zwei Synapsen bzw. drei Neurone (s. Schmidt/Thews/ Lang-Wiesendanger, S. 101). Schewe lehnt deshalb die Ableitung einer Differenzierung von Handlung und Nichthandlung allein aus der Natur der biologischen Vorgänge selbst ab (s. Schewe, Reflexbewegung, S. 67; ders., Wille, S. 5). Zu den Reflexarten s. oben, Fn. 23. 28 Kritisch auch Jakobs, StrafR AT, 6/36.
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de in den Reflexarten dargestellt. Er machte auch darauf aufmerksam, dass die Reizantwort aus dem Rückenmark, aus dem Thalamus, aber auch aus dem Kortex kommen könne.29 Wenn Lenckner Reflexe heute so definiert, dass sie sich „organisch durch unmittelbare Überleitung eines von außen kommenden Reizes von den sensorischen auf die motorischen Nerven vollziehen,“30 dann dürfte das Kriterium der Unmittelbarkeit die möglichen Reizantworten auf solche beschränken, die direkt über das Rückenmark erfolgen und Antworten unter Mitwirkung des Kortex oder Thalamus ausschließen. Sicher ist dies jedoch nicht. Vor allem aber bliebe unklar, welche Kriterien zu dieser Unterscheidung Anlass geben. Die Mitwirkung des Bewusstseins oder des Willens als Abgrenzungskriterium ist, wie der LKW-Fall zeigt, nicht unproblematisch. Für den Handlungsbegriff des Strafrechts bleibt festzuhalten, dass neben Verhaltensweisen, die unwiderstehlich von außen gesteuert werden, auch solche Bewegungen als strafrechtlich nicht relevant betrachtet werden, deren interne Steuerung sich darauf beschränkt, einen von außen kommenden Reiz unmittelbar und ohne jede „geistige Mitwirkung“ umzusetzen.
2. Verhaltensweisen im Zustand der Bewusstlosigkeit Bei Nichthandlungen der Gruppe 2 nach dem eingangs (sub I.) dargestellten Klassifizierungsschema von Lenckner fehlt es dagegen überhaupt am Bewusstsein. Das Bewusstsein ist hier deshalb nicht Auslöser der Bewegung, weil es durch Schlaf, Ohnmacht, Narkose und dergleichen31 „ausgeschaltet“32 ist. Die Bewegung des Bewusstlosen soll damit nicht der „geistigen Steuerung“ unterliegen.33 Nun sollte die Zuordnung zu dieser Gruppe der Nichthandlungen an sich keine Schwierigkeiten aufwerfen, gleichwohl treten in der Praxis Unklarheiten auf. Zur Veranschaulichung bietet sich ein erneuter Blick auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs im bereits dargestellten „Epileptiker-Fall“34 und auf die voran gegangene Entscheidung des Landgerichts Stuttgart an, sowie eine Betrachtung der Urteilsgründe des Oberlandesgerichts Schleswig in einer von der Sache her ähnlichen Entscheidung aus dem Jahre 1983. _________________ 29
Siehe Stennert, S. 31. Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 40, sowie Nau, S. 17. Vgl. auch Jakobs, StrafR AT, 6/36. 31 Siehe dazu die Beispiele bei Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 39. 32 Kühl, StrafR AT, § 2, Rn. 6; vgl. auch LK-Jähnke, § 20, Rn. 1. 33 Siehe Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 39; ebenso Kühl, StrafR AT, § 2, Rn. 6, sowie BGH VRS 56, 447, 448; OLG Schleswig VRS 64, 429, 430; OLG Hamm NJW 1975, 657 und OLG Celle GA 56, 360. 34 Vgl. oben, S. 102. 30
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Nach den Feststellungen des Landgerichts Stuttgart war der Angeklagte während des epileptischen Anfalls nicht ansprechbar. Dennoch konnte er eine dem tatsächlichen Verlauf weitgehend entsprechende Schilderung des Unfallhergangs abgeben.35 Der Sachverständige erklärte das Erinnerungsvermögen des Angeklagten damit, dass bei einem Dämmerzustand das Bewusstsein nicht aufgehoben, sondern nur gestört und eingeschränkt sei. Deshalb sei auch durchaus denkbar, dass sich der Angeklagte an Teile des Unfallhergangs erinnerte.36 Der Angeklagte hatte also das Geschehen bewusst wahrgenommen und war dennoch nicht in der Lage gewesen, seine Bewegungen so zu kontrollieren, wie er es ohne den Anfall gekonnt hätte. Es wäre hier übereilt, mit dem Bundesgerichtshof die Handlungsqualität mangels willentlicher Steuerung oder Beherrschbarkeit des Verhaltens ohne weitere Überlegungen zu verneinen.37 Die folgende Entscheidung mag verdeutlichen warum. Das Oberlandesgericht Schleswig hatte einen ähnlich gelagerten Fall zu beurteilen und setzte sich bei der Frage der Verantwortlichkeit eines Epileptikers ausführlich mit der rechtlichen Ausgangslage auseinander. Der Angeklagte hatte während einer Autofahrt einen epileptischen Anfall erlitten und war dadurch auf einen vor ihm fahrenden Personenkraftwagen aufgefahren; anschließend hatte er weitere sechs Kilometer mit dem Auto zurückgelegt, konnte sich an den Unfallhergang jedoch nicht erinnern. Das Oberlandesgericht zog zur Beurteilung des Sachverhalts aus Literatur und Rechtsprechung folgende Überlegungen heran: „Rein physiologische Vorgänge des sensitiv-somatischen Bereichs, die ohne Mitwirkung der Geisteskräfte des Menschen ablaufen und damit der Beherrschbarkeit durch den Willen entzogen sind, scheiden als Handlungen aus [...]. Alle Körperbewegungen, die so belanglos sind wie außermenschliche Kausalprozesse und bei denen jegliche weitere Untersuchung, die über die bloße Feststellung der Verursachung einer Rechtsgutsverletzung hinausgehen, sinnlos wäre, kommen als Handlungen im strafrechtlichen Sinne nicht in Betracht [...]. Andererseits unterliegen alle Handlungen, die unterbewußt, mit natürlichem Willen gesteuert werden [...] der strafrechtlichen Wertung. [...] Bei dieser rechtlichen Ausgangslage kommt im Hinblick auf den nicht auszuschließenden epileptischen Anfall sowohl eine strafrechtlich relevante Handlung als auch eine Nichthandlung in Betracht.“38 „Wenn der Be_________________ 35
Siehe LG Stuttgart – 5 KLs 330/93 v. 2.5.1994, S. 37 (unveröffentlicht). Siehe LG Stuttgart – 5 KLs 330/93 v. 2.5.1994, S. 37 f. de Boor erklärt den Dämmerzustand als schwieriges psychopathologisches Phänomen das charakterisiert sei durch das veränderte Bewusstsein ohne auffälliges Hervortreten von Bewusstseinseintrübung, Benommenheit oder Inkohärenz (s. de Boor, S. 28 und Fn. 119 unter Berufung auf K. Jaspers). 37 Siehe BGH NJW 1995, 795; zustimmend Foerster/Winckler, NStZ 1995, S. 345, u. Freund, StrafR AT, § 1, Fn. 73. 38 OLG Schleswig VRS 64, 429, 430. 36
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schuldigte in bewußtlosem Zustand auf den vor ihm fahrenden PKW aufgefahren ist, dann wird das als Nichthandlung zu werten sein.“39 Es schien dem Senat jedoch ausgeschlossen, „daß ein Kraftfahrer komplexe Handlungen wie das Fahren des PKW über etwa sechs Kilometer auf einer Bundesstraße und auf Straßen in H während der Hauptverkehrszeit nur mechanisch, d. h. ohne Einsetzen des (zumindest) natürlichen Willens ausführen kann“.40 Das Oberlandesgericht hat also das Problem gesehen, das sich ergeben hätte, wenn der Angeklagte während seines epileptischen Anfalls bei Bewusstsein gewesen wäre. Dies hätte nach den Ausführungen eine Abgrenzung von unterbewusster Steuerung und rein physiologischer Steuerung ohne die Möglichkeit willentlicher Einflussnahme bedeutet. Jene Steuerung wäre als Handlung zu werten gewesen, weil sie zwar nicht durch das Bewusstsein, aber jedenfalls durch das „Unterbewusstsein“ erfolgt wäre. Diese wäre dagegen als Nichthandlung zu beurteilen gewesen, weil sie zwar bei Bewusstsein vorgenommen worden, jedoch gänzlich ohne Einflussnahme des Bewusstsein erfolgt wäre – ein Problem, welches sich wegen der bewussten Teilnahme des Autofahrers an den Geschehnissen auch im „Epileptiker-Fall“ des Bundesgerichtshofs gestellt hätte. Solche Überlegungen finden sich in der Urteilsbegründung des Landgerichts Stuttgart, die der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vorausging, indes nicht, denn sie basiert offenkundig auf der Überlegung, dass es sich nicht um einen Fall der Bewusstlosigkeit handelte und damit ein Ausschluss der Handlungsqualität ohnehin nicht in Betracht kam. Dort heißt es lediglich: „Durch diese sog. Dämmerattacke war die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aufgehoben.“41 Damit stellte sich der Sachverhalt für das Landgericht als ein Problem der Schuldfähigkeit dar. Es führt entsprechend aus: „Zwar war der Angeklagte wegen eines psychomotorischen epileptischen Anfalls in Form einer sog. Dämmerattacke und einer damit einhergehenden Bewußtseinsstörung durch das Bestehen einer krankhaften seelischen Störung i. S. d. § 20 StGB bei Begehung der Tat unfähig, nach seiner vorhandenen Unrechtseinsicht zu handeln. Für die eigentliche Tatbegehung war er mithin schuldunfähig gemäß § 20 StGB. Er hat jedoch für die Tat aus den Gründen der vorverlagerten Schuld – sog. actio libera in causa – einzustehen.“42 Das Landgericht hat also in dem Verhalten des Angeklagten eine Handlung begleitet von einer Bewusstseinsstörung gesehen. Der Bundesgerichtshof wer_________________ 39
OLG Schleswig VRS 64, 429, 431. Zustimmend LK-Jähnke, § 20, Rn. 1; Maurach/Zipf, StrafR AT, § 16 I, Rn. 19. 40 OLG Schleswig VRS 64, 429, 431. 41 LG Stuttgart – 5 KLs 330/93 v. 2.5.1994, S. 20. 42 LG Stuttgart – 5 KLs 330/93 v. 2.5.1994, S. 44.
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tete hingegen trotz des teilweise vorhandenen Bewusstseins das Verhalten des Angeklagten während des epileptischen Anfalls als Nichthandlung – eine Schlussfolgerung, die einer rechtlichen Erörterung durchaus bedurft hätte, da sich dieser Sachverhalt nicht eindeutig einer der Gruppen der Nichthandlungen zuordnen lässt. Vielmehr sind Fälle von Bewusstseinsstörungen, entsprechend dem Vorgehen des Landgerichts, grundsätzlich im Rahmen der §§ 20, 21 StGB zu überprüfen.43 Dennoch schien dem Bundesgerichtshof in diesem Fall eine Auseinandersetzung mit der Problematik nicht erforderlich. Das Bewusstsein als Abgrenzungskriterium bereitet damit erneut Schwierigkeiten. Für den Epileptiker ist diese Unterscheidung von Belang: Wäre das Autofahren des Epileptikers im Fall des Bundesgerichtshofs, genauer: das Durchdrücken des Gaspedals und Halten des Lenkrades eine Handlung, dann wäre sie ein rechtwidriger Angriff auf das Leben gewesen, da der Täter mit dem Auto auf andere Menschen zuraste. Dieser Angriff hätte nach § 32 StGB mit einer erforderlichen Verteidigung beendet werden dürfen. Zwar ist bei der Verteidigung gegenüber Schuldunfähigen nach herrschender Meinung grundsätzlich Zurückhaltung geboten44; lässt sich ein Angriff auf das Leben aber nicht anders abwehren, dann darf auch der schuldunfähige Angreifer durch eine Verteidigungshandlung nach § 32 StGB getötet werden. Stellte sich das Fahren dagegen als Nichthandlung dar, dann läge kein Angriff, sondern eine Gefahr vor. Die Bedrohten befänden sich dem Epileptiker gegenüber zwar in einem Defensivnotstand, weil die Gefahr von ihm ausging; selbst für diesen Fall ist aber umstritten, ob eine Tötung des Epileptikers zulässig wäre.45 Eine eingehende Begründung des Bundesgerichtshofs mit klaren Abgrenzungskriterien wäre deshalb wünschenswert gewesen. Festzuhalten bleibt, dass bewusstloses Verhalten mangels geistiger Steuerung nicht als Handlung im rechtlichen Sinne zu werten ist, dass aber auch Verhaltensweisen, die während eines nur gestörten Bewusstseins auftreten, unter Umständen keine Handlungen darstellen sollen. Die durch das Kriterium der Bewusstlosigkeit zunächst noch relativ eindeutige Abgrenzung von rechtlich relevanten und nicht relevanten Verhaltensweisen weicht so auf, die Gren_________________ 43
So auch v. Weber: „Nun ist selbstverständlich, daß, wer einen epileptischen Anfall hat [...], dafür nicht bestraft wird, auch wenn er Schaden anrichtet [...]. Aber der Grund ist seine Schuldlosigkeit, nicht notwendig das Fehlen eines Verhaltens“ (Engisch-FS, S. 332); vgl. auch Maiwald, ZStW 86 (1974), S. 635; anders LK-Jähnke, § 20, Rn. 1. 44 Dazu Sch/Sch-Lenckner/Perron, § 32, Rn. 52 m. w. N. Hier käme wegen möglichen Vorverschuldens des Epileptikers allerdings wieder ein Ausschluss dieser Ausnahme in Betracht. 45 Dagegen Sch/Sch-Lenckner/Perron, § 34, Rn. 30; im Ergebnis ebenso, aber wohl ohne Problembewusstsein BGHSt 48, 255, 257; anderer Ansicht die herrschende Meinung in der Lit., vgl. etwa Roxin, StrafR AT/1, § 16, Rn. 78; LK-Hirsch, § 34, Rn. 74 m. w. N.
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ze zu den Schuldausschließungsgründen wird verwischt. Hieraus erklärt sich, dass „krampfbedingtes Verhalten“ teilweise als eigenständige Klasse der Nichthandlungen verstanden wird, ohne dass hierfür allerdings systematische Gründe genannt werden.46
3. Das Willensproblem Alle bisher vorgestellten Voraussetzungen für Nichthandlungen eröffneten prinzipiell auch einen rein empirischen Zugang. So lässt sich – vorausgesetzt natürlich, der Sachverhalt ist soweit aufgeklärt – die rein externe Steuerung ebenso problemlos feststellen wie das Vorhandensein spezifischer Reflexarten und wie die Abwesenheit von Bewusstsein. Abgrenzungsschwierigkeiten entstehen aber immer dort, wo Bewegungen zwar von innen heraus und bei Bewusstsein ausgelöst werden, aber dennoch als nicht steuerbar erscheinen. Nach dem Gesagten reicht es für eine Handlung nicht aus, wenn die Steuerung von außen vollzogen wird (vis absoluta). Ebenfalls unzureichend ist die Steuerung durch die körpereigene Motorik (Reflexe). Die Steuerung muss mit dem Bewusstsein zusammenhängen, damit die Bewegung als Handlung gewertet werden kann. Denn ohne Bewusstsein ist wiederum die Handlungsqualität ausgeschlossen (Verhaltensweisen im Zustand der Bewusstlosigkeit). Weil aber diese Steuerungsmöglichkeit empirisch so schwer zugänglich ist, bereiten genau jene Fälle in der Praxis Schwierigkeiten, bei denen Bewusstsein zwar vorhanden, an der Bewegung aber nicht beteiligt war. Hier wird die „Mitwirkung geistiger Kräfte“ und damit die Willensbetätigung zum prozessual festzustellenden Kriterium. Es geht also bei der Abgrenzung von Handlung und Nichthandlung im Kern um die geistige Steuerung. Die empirischen Abgrenzungen und Einschränkungen dienen nur als Hilfsmittel, mit denen der Ausschluss einer Willensbetätigung im Einzelfall (natur-)wissenschaftlich untermauert werden kann. Die Urteilsbegründungen des Oberlandesgerichts Hamburg und des Amtsgerichts Castrop-Rauxel sowie die frühe Definition Mezgers lassen ihrerseits darauf schließen, dass Kriterien wie Bewusstsein und Reizüberleitung primär unter dem Aspekt einfließen, sich damit einem anderen Problem auf diesem Wege halb wissenschaftlich, halb intuitiv anzunähern: der Willenskraft und ihrem Einfluss auf das menschliche Verhalten. Das hieraus resultierende Dilemma wird von Schewe wie folgt beschrieben: „Aber nun müßte man eigentlich fragen, ob es überhaupt Körperbewegungen gibt, bei denen der menschliche Organismus nichts weiter darstellt als eine dem Gesetz von Ursache und _________________ 46
Vgl. Kindhäuser, StrafR AT, S. 70. Auch Gropp ordnet Körperbewegungen im Rahmen epileptischer Anfälle unabhängig vom Kriterium der Bewusstlosigkeit den Nichthandlungen zu (s. StrafR AT, S. 110 Rn. 11); v. Weber tendiert dazu, sie auf der Schuldebene zu untersuchen (s. Engisch-FS, S. 332).
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Wirkung unterworfene, mechanisch ablaufende Apparatur, und wie sie sich von jenen Bewegungsvorgängen unterscheiden sollen, bei denen das nicht der Fall ist. Statt dessen führt man den Willensbegriff ein und hält die Unterscheidung von ,willkürlich‘ und ,unwillkürlich‘ oder von ,Willkürbewegungen‘ und ,Reflexbewegungen‘ für die Lösung. Weil man aber den Willensbegriff eingeführt hat, kommt man jetzt auf ,das Willensproblem‘ mit seiner ganzen Vielschichtigkeit.“47 Es wurden bisher zwar Bedingungen formuliert, die für eine geistige Steuerung unabdingbar sind; damit ließ sich aber für einige Fälle bislang keine befriedigende Antwort finden. Es müssten also weitere Voraussetzungen für die Feststellung eines „handlungssteuernden Willenselements“ formuliert werden können. Im ersten Teil der Arbeit wurden die diversen Schwierigkeiten aufgezeigt, denen ein solches Element begegnet, wenn es als Grundlage für einen strafrechtlichen Schuldbegriff dienen soll. Welche konkreten Probleme auftreten, wenn ihm die Rolle einer Voraussetzung der Handlungsqualität zugewiesen wird, sollen die folgenden Ausführungen zeigen.
a) Subjektiv versus objektiv Krauss kritisiert, dass „dieser Handlungswille [...] offenbar als vorjuristische Realität begriffen und derart als ein ,natürlicher‘ Sachverhalt in das Strafrecht einbezogen werden [soll]“.48 Dies bedeute aber auch die Einbeziehung eines psychologischen Vorgangs und damit der Frage, ob dieser Vorgang psychologisch zutreffend gedeutet werde. Tatsächlich sei hingegen festzustellen, dass sich Strafrechtler, anstatt den Handlungsbegriff als psychophysisches Phänomen empirisch auszuloten, auf eine Beschreibung dessen beschränkten, was jedenfalls keine Handlung sei.49 Hingegen sieht Schewe den Handlungsbegriff nicht als ein Problem der Tatsachen- und Beweisfeststellung an, sondern ordnet ihn der abstrakt-normativen Ebene zu, da sich allein aus der Natur der biologischen Vorgänge die Unterscheidung zwischen final gesteuerten und rein kausal determinierten Körperbewegungen nicht ableiten lasse.50 Dies sei deshalb so, weil sich die Finalität, das Erstreben eines Ziels oder das subjektive Erleben des „Wollens“ einer mechanistisch-kausalistischen Betrachtungsweise entziehe.51 _________________ 47 Siehe Schewe, Reflexbewegung, S. 47; vgl. auch die Besprechung von Stratenwerth in ZStW 85 (1973), S. 469 ff. 48 Krauss, Bruns-FS, S. 15. 49 Siehe Krauss, Bruns-FS, S. 15. 50 Siehe Schewe, Reflexbewegung, S. 67. 51 Siehe Schewe, Reflexbewegung, S. 63–67.
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Es wird also zunächst zu fragen sein, welche Rolle subjektiven Aspekten bei der Frage der Handlungsqualität zukommt. Das Vorliegen einer Handlung könnte schon deshalb abhängig von dem subjektiven Gefühl einer Handlungsinitiation sein, weil sich eine Willensbetätigung, so wie bei Schopenhauer dargestellt, nur dem Selbstbewusstsein vermitteln könnte. Nach der Rechtsprechung soll eine Handlung jedenfalls dann nicht vorliegen, wenn der „natürliche Wille“52, die „Beherrschbarkeit durch den Willen“53, die „Willensbetätigung“54, der „Willensakt“55 oder „Willensentschluß“56 nicht festgestellt werden können. Davon abzugrenzen sind Begriffe wie „freie Willensbestimmung“57 und „Willensfreiheit“58, deren Fehlen grundsätzlich nur einen Schuldausschluss indiziert. Deshalb ist für den „natürlichen Willen“ auch ein „Vollbesitz geistiger Kräfte“ nicht erforderlich. Dies wird deutlich bei der Abgrenzung „sinnloser Trunkenheit“ (Handlungsausschluss) vom „Vollrausch“ gemäß § 323a StGB.59 Denn trotz des schuldausschließenden Zustands des Täters ist im letzteren Fall zu prüfen, ob er in der Lage war, eine rechtswidrige Tat, mithin eine Handlung mit natürlichem Willen zu begehen. Zwar soll auch der natürliche Wille das Produkt geistiger Tätigkeit in Form von „Überlegungen und Entschlüssen“60 sein, die Anforderungen sind jedoch geringer als bei der Schuldfähigkeit, da selbst Bewusstseinsstörungen wie beispielsweise infolge eines Blutalkoholgehalts von 3,4 Promille nicht
_________________ 52 So RGSt 73, 11, 17; RGSt 73, 177, 180; BGHSt 3, 287, 289; BGH NJW 1952, 193, 194; OLG Hamburg VRS 15, 205, 206; OLG Schleswig VRS 64, 429, 431; OLG Celle GA 56, 360. 53 OLG Schleswig VRS 64, 429, 430. 54 OLG Hamburg VRS 15, 205, 206.; so auch RGSt 63, 46, 49; 69, 189, 191. 55 BGH NJW 1952, 193, 194; so auch die zugrundeliegende Entscheidung des OLG Celle GA 56, 360. 56 BGHSt 1, 124, 127; OLG Saarbrücken NJW 1991, 3045, 3046. Das OLG Saarbrücken vermengt mit seiner Handlungsdefinition indes Handlungs- und Willensfreiheit; dazu Kühne, NJW 1991, S. 3020. 57 RGSt 63, 46, 49. 58 RGSt 64, 349, 353. 59 Dazu BGH VRS 56, 447; BGHSt 1, 124; BGH NJW 1952, 193; OLG Celle GA 56, 360; OLG Hamburg VRS 15, 205; vgl. auch AG Kappeln BA 3 (1965/66), S. 31 f. m. Anm. Krumme, BA 3 (1965/66), S. 32 f.; Schröder, DRiZ 1958, 219 ff.; Renzikowski, NJW 1990, S. 2908. Die Grenze zwischen „Schuldunfähigkeit“ und „Handlungsunfähigkeit“ ist indes ebenso wenig eindeutig bestimmbar wie bei den Affekttaten (s. hierzu Schewe, Reflexbewegung, S. 30 ff., sowie Krümpelmann, Welzel-FS, S. 329 ff.; Jakobs, StrafR AT, 6/18). 60 Siehe BGHSt 3, 287, 289; OLG Celle GA 56, 360.
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zwangsläufig den natürlichen Willen und damit die Möglichkeit zur Begehung einer rechtswidrigen Tat ausschließen sollen.61 An den „natürlichen Willen“ sind zur Bejahung einer Handlung also wesentlich geringere Anforderungen zu stellen als an den Willen oder die Willensfähigkeit zur Begründung der Schuldfähigkeit. Schon aus der Neutralitätsfunktion des Handlungsbegriffs gegenüber allen systematischen Stufen des klassischen Deliktsaufbaus ergibt sich, dass die Feststellung der Handlungsqualität notwendig ein „Minus“ gegenüber der Schuldprüfung sein muss. Die Bedeutung des Begriffs „natürlicher Wille“ reduziert das Erfordernis des subjektiven Erlebens der Handlungssteuerung jedoch auf ein Minimum, das mit den Charakteristika des Willens, so wie sie etwa Lenckner beschreibt, also mit „psychischen Vorgängen wie Aktivitäts- und Freiheitsgefühl, ausdrücklicher Zustimmung zu einem ausdrücklich vorgestellten Ziel“62, kaum noch etwas gemein zu haben scheint. Die Probleme, die durch einen subjektiven Aspekt wie das Freiheitsgefühl aufgeworfen werden, wurden bereits anhand des Freiheitserlebens bei der Schuldfrage erörtert.63 Konkret lassen sich diese Schwierigkeiten wiederum am „Epileptiker-Fall“ demonstrieren. Aufgrund der sehr eindrucksvollen Disparität von tatsächlichem Geschehen und dem Erleben des Angeklagten, soll das letztere so, wie es in den Feststellungen des Landgerichts Stuttgart festgehalten wird, nur wenig gekürzt wiedergegeben werden. Der Angeklagte gab in der Verhandlung an, als er „im ersten Gang in die Wilhelmstraße eingebogen sei, habe plötzlich der Motor aufgeheult und sein Auto sei auf den Fußgängerüberweg zugeschossen. Das Gaspedal sei nicht hochgekommen – er habe mehrfach draufgetreten, es sei jedoch nicht rausgesprungen. Seine Frau habe geschrien: Was machst Du, was ist los? Sofort habe er versucht zu bremsen – die Bremse sei jedoch hart wie Beton gewesen, er habe sie nicht durchdrücken können. Es sei ihm auch nicht gelungen, auszukuppeln und den Gang herauszunehmen. Plötzlich sei dann die Frontscheibe geplatzt und es habe eine Frau auf dem Kühler seines Fahrzeugs gelegen. Da_________________ 61
Siehe hierzu OLG Hamburg VRS 15, 205, 206; vgl. auch Anm. Lenckner, demzufolge die h. M. mit Recht den „Versuchen, auch nicht willensgetragene Verhaltensweisen in § 330a [a. F.] einzubeziehen, wenn sie rauschbedingt sind“ (JR 1975, S. 33) nicht gefolgt ist. Vgl. zur Differenzierung zwischen Antriebssteuerung und Handlungssteuerung auch Jakobs, StrafR AT, 6/21 m. w. N. 62 Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 37; Lenckner selbst lehnt so anspruchsvolle Willensvoraussetzungen für den Handlungsbegriff ausdrücklich ab (ebd.). 63 Siehe oben, S. 39. Im Grunde genommen handelt es sich dabei freilich um einen identischen Sachverhalt, sofern man die Handlungsfreiheit als ausreichend für den Schuldbegriff erachtet. Warum das Freiheitserleben nach Burkhardt daher erst bei der Schuldfrage von Belang sein soll (s. Lenckner-FS, S. 21), leuchtet deshalb ebenso wenig ein wie die gesamte Verlagerung der Freiheitsproblematik in das Schuldprinzip.
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durch sei er in seiner Sicht behindert worden. Das Auto sei währenddessen im ersten Gang mit heulendem Motor weitergefahren. Er habe dann den PKW nach links gelenkt. Er habe gedacht, weiter links besser durchzukommen. Er habe auch überlegt, die Handbremse zu ziehen, davon jedoch Abstand genommen, weil er befürchtete, daß sein Fahrzeug dann völlig unkontrolliert werde und noch größerer Schaden eintrete. Er sei dann gezielt auf einen Ampelmast [...] zugefahren. Er habe nur noch gedacht, wo fährst Du drauf, damit es eine Ruhe hat. Zwischen dem Mast und dem Gitter sei er dann zum Stehen gekommen. An den gesamten Unfallhergang könne er sich lückenlos erinnern. [...] Der Angeklagte äußerte sein tiefes Bedauern über das Unfallgeschehen. Er selbst habe stets, nachdem er sein Auto nicht mehr beherrschen konnte, das Ziel gehabt, auf etwas draufzufahren, um einen größeren Unfall, in dem Menschen zu Schaden kommen, zu vermeiden. Er habe keine Möglichkeit gehabt, den Unfallablauf in anderer Form zu beeinflussen“.64 Das Landgericht führte eine aufwendige Beweisaufnahme hinsichtlich der Funktionstüchtigkeit des Autos zum Zeitpunkt des Tathergangs durch. Im Ergebnis konnten keinerlei Mängel festgestellt werden. Die Ehefrau des Angeklagten und die Zeugin, die sich über eine Strecke von etwa 300 Metern auf der Motorhaube befunden und den Angeklagten durch die zerbrochene Windschutzscheibe angeschrien hatte, sagten übereinstimmend aus, dass der Angeklagte vollkommen regungslos verharrt und starr nach vorne geblickt habe. Auf der Polizeiwache habe der Angeklagte nach den Angaben des polizeilichen Sachbearbeiters einen benommenen Eindruck gemacht. Er brachte sogleich vor, das Gaspedal habe geklemmt. Außerdem gab er an, die Bremse sei fest gewesen und auch das Auskuppeln habe nicht funktioniert.65 Da der Angeklagte seine Version des Unfallhergangs direkt im Anschluss auf der Polizeiwache wiedergab, kann davon ausgegangen werden, dass er während des gesamten Tatgeschehens bei Bewusstsein war. Es kann auch angenommen werden, dass er sich an die Situation tatsächlich so erinnerte, als habe er ständig aktiv versucht, einen Zusammenstoß zu vermeiden. Nun mag dies wegen der Krankheit des Angeklagten ein extremes Beispiel darstellen; fest steht aber, dass sich kein Gericht in diesem Fall auf das subjektive Erleben des Angeklagten bei der Beurteilung des Tatgeschehens gestützt hätte. Denn die Willensbetätigung ist im Gegensatz zum Willen an ein äußeres Geschehen gebunden, das objektiv zugänglich ist. Deshalb muss selbst ein evidentes subjektives Erleben einer Willensbetätigung in Konkurrenz zu objektiven Anhaltspunkten, die einen anderen Tathergang belegen, immer unterliegen. Auf das subjektive Erleben kann es also bei der Frage der Handlungsverursachung nicht primär ankommen. _________________ 64 65
LG Stuttgart – 5 KLs 330/93 v. 2.5.1994, S. 24. Siehe LG Stuttgart – 5 KLs 330/93 v. 2.5.1994, S. 26 ff.
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b) Normativ versus empirisch Kommt es bei der Feststellung einer Handlung nicht ausschließlich auf das subjektive Erleben des Angeklagten an, dann sind es empirische und normative Erwägungen, die hier entscheiden und die zueinander wiederum in Konkurrenz stehen könnten. Denn die somit objektiv zu ermittelnde Beziehung zwischen Wille und Verhalten könnte sowohl normativen als auch empirischen Feststellungen vorbehalten sein. Nun wird ein Richter, der nicht gleichzeitig Mediziner ist, im Zweifelsfall kaum darüber urteilen können, ob eine unmittelbare Reizübertragung von den sensorischen auf die motorischen Nerven stattgefunden hat, weshalb die Feststellung einer Nichthandlung regelmäßig eine besondere Sachkunde erfordert. Im „LKW-Fall“ des Amtsgerichts Castrop-Rauxel66 wurde denn auch ein psychologischer Sachverständiger zugezogen, der die Frage des Reflexes in erster Linie nach dem damaligen psychophysiologischen Wissenstand zu klären suchte. Das Bayerische Oberste Landesgericht bediente sich in einem ähnlichen Fall der medizinischen Literatur.67 Das Landgericht Stuttgart zog im „EpileptikerFall“ einen medizinischen Sachverständigen mit Erfahrung auf den Gebieten der Neurologie und Psychiatrie zu Rate68 und der Mediziner und Physiologe Müller-Limmroth hielt eigens ein Referat über das Fehlverhalten von Autofahrern und die dabei zu berücksichtigenden psychophysischen Aspekte.69 Wegen des teilweise fließenden Übergangs von Schuld- und Handlungsausschluss überrascht dieses Vorgehen nicht. Denn es ist heute selbstverständlich und im Falle der Anordnung einer Maßregel, die mit einer Unterbringung verbunden ist, auch gesetzlich vorgeschrieben, dass zur Frage der Schuldfähigkeit ein Sachverständiger gehört wird (§ 246a StPO).70 Es gilt also auch bei der Frage der Handlungsqualität, dass der Spielraum intuitiver Gewissheit des Richters durch sachverständige Gutachten eingeschränkt werden kann. Nun stellten körpereigene motorische Steuerung und Bewusstsein lediglich Vorbedingungen für die Möglichkeit einer willentlichen Steuerung dar. Je näher man an die eigentliche Problematik der Willensbetätigung rückt, den Geist mit der internen motorischen Steuerung also zu verbinden sucht, desto schwerer scheint dieser Boden jedoch auch für externe Fachwissenschaften begehbar. Das von Krauss benannte „psycho-physische Phänomen“ birgt, wie Schewe richtig formuliert, die Schwierigkeit, dass das subjektive Erleben hierbei einen wesentlichen Bestandteil ausmacht. Die Feststellung von Nichthandlungen im _________________ 66 67 68 69 70
Siehe oben, S. 146. Vgl. die Ausführungen Rüths, DAR 1979, S. 239. Siehe LG Stuttgart – 5 KLs 330/93 v. 2.5.1994, S. 34. Siehe Müller-Limmroth, DAR 1968, S. 293 ff. Siehe hierzu die Ausführungen Renzikowskis, NJW 1990, S. 2906.
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Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld
Prozess lässt ein Bemühen erkennen, sich auch diesem Phänomen primär empirisch zu nähern. In Fällen aber, in denen körpereigene Steuerung und Bewusstsein vorhanden sind und dennoch fehlende geistige Verursachung vermutet wird, mangelt es an einer empirisch fundierten Erklärung zur Begründung der normativen Unterscheidung von Handlungen und Nichthandlungen. In der Folge treten nicht nur Schwierigkeiten einer Abgrenzung zur Schuldfrage auf, sondern es ergeben sich insgesamt Zweifel daran, ob die Differenzierung von Handlung und Nichthandlung sachgerechten Kriterien folgt und damit bei der Frage der Handlungsqualität von Verhaltensweisen dem Gleichbehandlungsprinzip, also einem Gerechtigkeitskriterium ausreichend Rechnung getragen wird. Empirische Erkenntnisse scheinen gegenüber richterlicher Intuition grundsätzlich besser geeignet zu sein, das Handlungsproblem systematisch aufzubereiten. Nicht nur von Seiten der Rechtsprechung gibt es ein Interesse an einem festumgrenzten Handlungsbegriff71, auch in der Wissenschaft wird teilweise eine „naturwissenschaftlich gesicherte“72 und „solide Begriffsbestimmung“73 gefordert.
4. Zusammenfassung Verhaltensweisen im Zustand der Bewusstlosigkeit, Bewegungen, die durch unwiderstehlichen Zwang verursacht werden, und Reflexe konnten hinsichtlich der positiven Voraussetzungen einer strafrechtlich relevanten Handlung nur insoweit Aufschluss geben, als kortikale Aktivität und Bewusstsein hierfür als unabdingbar erscheinen. Tritt indes ein Fall auf, der sich mit den genannten Kriterien nicht erfassen lässt, weil als Resultat eine Verhaltensweise als Handlung gewertet werden müsste, die den Vorstellungen von einem geistig beherrschbaren Verhalten deutlich widerspricht, so wird auf das Kriterium der „Willenssteuerung“ zurückgegriffen. Dabei veranschaulichte der „EpileptikerFall“74, dass die Willensbetätigung nicht das subjektive Erleben der Handlungsinitiation meint, sondern der Beurteilung aus der Außenperspektive unterliegen soll, die jedoch wegen der Schwierigkeit eines empirischen Zugangs durch die Intuition des Richters ergänzt wird. _________________ 71
Vgl. OLG Hamburg JR 1950, 408, 409; AG Castrop-Rauxel DAR 1965, 330, 331. Siehe Renzikowski, NJW 1990, S. 2908. Ähnlich Luff: „Man spricht zwar heute viel von dem ,menschlichen Versagen‘ und der ,Überforderung des Kraftfahrers‘ als Unfallursache, aber wir haben den Eindruck, daß die wirklichen biologischen Gründe zu wenig bekannt sind und deshalb in der Rechtsprechung nicht ausreichend berücksichtigt werden können“ (Der öffentliche Gesundheitsdienst 1957, S. 162). 73 Siehe Spiegel, DAR 1968, S. 285. 74 Vgl. oben, S. 102. 72
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Ist die fehlende willentliche Handlungssteuerung das entscheidende Kriterium bei der Feststellung einer Nichthandlung, muss sie im Umkehrschluss bei einer Handlung gegeben sein. Der Bundesgerichtshof hat zwar im Fall des Kriminalhauptmeisters, der seinen Angreifer mit der Dienstwaffe niederschoss75, bereits auf die Handlungsqualität der automatisierten Verhaltensweisen hingewiesen. Da hieran in der Lehre jedoch Zweifel geäußert werden, erscheint die Untersuchung dieser Verhaltensweisen zur Klärung der Voraussetzung einer Handlungssteuerung besonders geeignet.
II. Die automatisierten Verhaltensweisen Automatisierte Verhaltensweisen werden zwar teilweise als „reflexhaft“76 oder „reflexartig“77 bezeichnet78, sie werden aber nicht durch eine unmittelbare Reizüberleitung von den sensorischen auf die motorischen Nerven ausgelöst. Trotz einer Reizverarbeitung über den Kortex und trotz des Vorhandenseins von Bewusstsein erfolgen sie aber anscheinend „automatisch“, weshalb nicht abschließend geklärt ist, ob sie Handlungen sind.79 Die Schwierigkeit ihrer Zuordnung mag darin begründet sein, dass sie sich wie die Reflexe in einer motorisch einfachen Reizantwort erschöpfen können, dass sie aber auch als komplexe Reaktion auf unspezifische situative Ereignisse erfolgen können, so dass auch ganz unterschiedliche Bewegungsabläufe möglich sind. Sie sind daher äußerlich von den für das Selbstbild des Menschen typischen „Wahlentscheidungen“ schwer abzugrenzen. Andererseits widersetzen sie sich einer Einordnung in den Handlungsbegriff, da diese Bewegungen zwar im Wachzustand, aber, jedenfalls in den strafrechtlich relevanten Fällen, zumeist als unmittelbare Reaktion auf ein unvorhersehbares Ereignis derart spontan erfolgen, dass der Person schlichtweg keine Zeit zu einer überlegten Handlung bleibt und sie „einfach nur reagiert“. Dies sei darauf zurückzuführen, _________________ 75
Dazu oben, S. 147. Siehe Spiegel, DAR 1968, S. 285. 77 Siehe Stratenwerth, Welzel-FS, S. 289; Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 40 m. w. N. 78 Vgl. dazu auch Graßberger, S. 87 f. 79 Siehe Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 41/42; Lackner/Kühl, Vor § 13, Rn. 7; Maurach/Zipf, StrafR AT, § 16 I, Rn. 17; vgl. auch v. Weber, Engisch-FS, S. 336; Kühl, StrafR AT, § 2, Rn. 8; Kindhäuser, StrafR AT, S. 70; KK OWiG-Rengier, Vor § 8, Rn. 7; LK-Jescheck, Vor § 13, Rn. 41. Das OLG Frankfurt VRS 66, 372, 373, erachtet diese Frage dagegen als geklärt; ebenso BGH – 2 StR 329/84 v. 20.6.1984, S. 6 (unveröffentlicht); zustimmend Baumann/Weber/Mitsch, StrafR AT, § 13, Rn. 33. Differenzierend Jakobs, StrafR AT, 6/38, 39. Vgl. auch LK-Schroeder, § 16, Rn. 110 m. w. N. 76
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Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld
dass ein vormals erlernter Vorgang nunmehr lediglich auf einen Reiz hin „abgerufen“ wird.80 Um zu veranschaulichen, was unter einer automatisierten Verhaltensweise zu verstehen ist, soll aber zunächst ein Blick auf die Rechtsprechung hierzu geworfen werfen.
1. Erscheinungsformen automatisierter Verhaltensweisen – im Besonderen: die Spontanreaktionen Neben dem bereits dargestellten „LKW-Fall“ des Amtsgerichts CastropRauxel81 geht es auch in den folgenden zwei Beispielsfällen um Fehlreaktionen im Straßenverkehr. Im ersten, einem Fall des Oberlandesgerichts Frankfurt (im Folgenden „Kleintier-Fall“ genannt), lief der Angeklagten auf der Autobahn unvermittelt ein Kleintier vor das Auto, dem sie auswich, indem sie das Steuer nach links riss, dadurch in einem Winkel von nahezu 45 Grad die Überholfahrbahn überquerte, gegen die Mittelleitplanke prallte und sich anschließend überschlug. Da die Beifahrerin hierbei getötet wurde, war der Vorwurf der fahrlässigen Tötung zu klären.82 Im zweiten Fall, der dem Oberlandesgericht Hamm zur Entscheidung vorlag (im Folgenden „Fliege-Fall“ genannt), durchfuhr die Angeklagte eine leichte Rechtskurve, als durch das offene Fenster ihres PKW eine Fliege herein- und gegen ihr Auge flog. Während sie nun mit einer Hand die Fliege abwehrte, übertrug sich diese Bewegung auf die andere Hand, die das Steuer hielt, und damit auf die Wagensteuerung. Der Wagen kam von der Fahrbahn auf den unbefestigten Seitenstreifen ab, die Angeklagte verlor die Kontrolle über das Fahrzeug, geriet ins Schleudern und schließlich auf die Gegenfahrbahn, wo sie mit einem entgegenkommenden PKW zusammenstieß. Die Insassen beider Wagen trugen Verletzungen davon.83 Wegen der scheinbaren Unterschiedlichkeit der Fälle ist zunächst der Begriff des Automatismus zu klären und zu fragen, ob er auf alle gleichermaßen passt. So bemerkt Schewe in Bezug auf den „LKW-Fall“ und den „Kleintier-Fall“: „Die auf ,automatischen‘ Fehlreaktionen beruhenden Unfälle, [...] kann man schon deshalb nicht als Resultat einer ,Auslösung‘ eingeübter ,Automatismen‘ begreifen, weil es sich um Ausnahmesituationen handelt und weil wohl kaum Gelegenheit besteht, sich dafür ,Automatismen‘ einzuüben.“84 Ähnlich argumentierte das Oberlandesgericht Hamm im „Fliege-Fall“ und lehnte daher die _________________ 80 81 82 83 84
Siehe Müller-Limmroth/Schneble, BA 1978, S. 235. Siehe oben, S. 146. OLG Frankfurt VRS 28, 364 ff. OLG Hamm NJW 1975, 657. Schewe, Reflexbewegung, S. 38.
Kapitel 1: Die Handlung
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Annahme einer automatisierten Verhaltensweise ab.85 Demgegenüber erklärt der ehemalige Bundesrichter Spiegel, dass sich insbesondere beim Autofahren automatische Reaktionsweisen einspielten, die das Bewusstsein des Fahrenden in den Hintergrund drängten; daher veranlasse auch bei unvorhersehbaren Situationen der gerade aktive, automatische und unbewusste Teil der menschlichen Persönlichkeit schon aufgrund der Erforderlichkeit schnellen Reagierens jeweils eine bestimmte Verhaltensweise86 Hentschel unterscheidet zwischen „Verhaltensautomatismen“ im Sinne durch Erfahrung eingeübter Bewegungen und „Reflexbewegungen“ auch komplexer Art wie beim Ausweichen eines Kraftfahrers vor einem plötzlich auftauchenden Hindernis. Dabei sollen erstere durchaus Handlungen darstellen, letztere hingegen nicht.87 Dass eine auf die mangelnde Einübung abstellende Begründung für die Unterscheidung Probleme aufwirft, wird schnell deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass auch die von Hentschel als „Reflexbewegungen“ bezeichneten Verhaltensweisen einmal „automatisiert“ worden sind. So macht Welzel auf das Auftreten automatisierter Verhaltensweisen im Alltag aufmerksam. Neben dem erlernten Autofahren bilde auch das geübte Schwimmen88 und schon jedes Gehen eine automatisierte Verhaltensweise.89 „Alles, was wir an Handlungsbereitschaften in uns tragen, haben wir einmal durch Einzelakte mühselig einüben und erwerben müssen.“90 Deshalb stellt auch die Lenkbewegung des Autofahrers beim Ausweichen vor einem unvermuteten Hindernis oder der schnelle Wechsel vom Gas- auf das Bremspedal in derselben Situation eine erlernte Bewegung dar. Es liegen also auch den Reflexbewegungen im Sinne Hentschels durch Erfahrung eingeübte Automatismen zugrunde, auch wenn sie nicht in einer der konkreten Situation entsprechenden Lage erlernt wurden. Automatisierte Verhaltensweisen gelten deshalb gemeinhin als ursprünglich willkürlich erlernte Bewegungen, die als „Bewegungsmuster“ im sogenannten „prozeduralen Gedächtnis“ abgespeichert sind und damit nicht mehr jedesmal bewusst eingeleitet werden müssen.91 Auch wenn man sie oftmals mit dem _________________ 85
Siehe OLG Hamm NJW 1975, 657. Siehe Spiegel, DAR 1968, S. 287. 87 Siehe Hentschel, Straßenverkehrsrecht, Einl., Rn. 84 f. und 131. 88 Siehe Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S. 33, Fn. 92; vgl. auch Henkel, Studium Generale 1960, S. 238. 89 Siehe Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S. 33; vgl. auch Luff, DAR 1959, S. 91, u. Binding, der den Virtuosen als Beispiel anführt (s. Normen, Bd. 2/1, S. 305, Fn. 13). 90 Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S. 33. 91 Siehe Stennert, S. 104 m. w. N.; vgl. auch Müller-Limroth/Schneble, BA 1978, S. 235. 86
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Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld
eingeübten Fahrverhalten im Autoverkehr, wie dem automatischen Bremsvorgang auf das plötzlich aufleuchtende Bremslicht eines vorausfahrenden Wagens oder dem Lenk- und Schaltmanöver, in Verbindung bringt92, kann der Mensch auch in einer neuen, noch nie erlebten Situation „auf Anhieb, das heißt ,unwillkürlich‘ zielstrebig handeln, ohne dass zuvor schon einmal eine entsprechende Grundentscheidung getroffen worden wäre“.93 Automatisierte Verhaltensweisen können also in plötzlichen Gefahrensituationen wie auch prinzipiell überall dort auftreten, wo eine Bewegung nicht von geistiger Tätigkeit begleitet zu werden braucht. Da hierzu die Mehrheit aller alltäglichen Bewegungen zählt, sind vermutlich in jeder strafrechtlich relevanten Handlung auch automatisierte Bewegungsabläufe enthalten. Fährt beispielsweise der Dieb an seinem Opfer mit dem Fahrrad vorbei und entreißt im Vorüberfahren den Geldbeutel, dann geschah das Radfahren automatisch und selbst das Ausstrecken des Armes zum Ergreifen der Beute ist ein größtenteils automatisierter Bewegungsablauf. Ansonsten wäre eine derartige Koordination auf dem Fahrrad nicht möglich. Die hierfür erforderliche Muskelarbeit besteht zu einem großen Teil wiederum aus Eigenreflexen. Strafrechtlich relevante Handlungen dürften daher immer auch automatisierte Verhaltensweisen und Reflexe enthalten.94 Da rechtliche Schwierigkeiten jedoch vorwiegend dort auftreten, wo eine einzelne, automatisierte Bewegung den Gesamtkomplex eines Verhaltens gleichsam abbricht, sollen im Rahmen des Handlungsbegriffs zunächst nur diejenigen automatisierten Verhaltensweisen erörtert werden, die sich, wie in den genannten Fällen der Rechtsprechung, aufgrund eines unerwartet eingetretenen Zwischenfalls ereignet haben. Zur leichteren Unterscheidung von den in jedem „Handlungsgefüge“ mitverwirklichten Automatismen sollen sie im Folgenden mit dem Begriff der Spontanreaktion bezeichnet werden.
2. Wille als zeitlicher Aspekt der Handlung Automatisierte Verhaltensweisen sind also all jene Bewegungsabläufe, die der Mensch ohne gedankliche Begleitung in Form von Aufmerksamkeit oder Konzentration durchzuführen imstande ist. Im Unterschied zu den bewusstlosen Verhaltensweisen kann jedoch nicht davon gesprochen werden, das Bewusst_________________ 92
Beispiele bei Spiegel, DAR 1968, S. 285. Spiegel, DAR 1968, S. 287; Boehm spricht hier von einem „Reagieren im Rohzustand“, das aus dem „Urgrund der Persönlichkeit“ entwachse (s. Fehlleistungen, S. 119). 94 So auch Luff, DAR 1959, S. 91. Zu dem Aspekt der in jeder Handlung enthaltenen Reflexe vgl. auch Stennert, S. 48; Müller-Limroth, DAR 1968, S. 298. Vgl. zur Zerlegung des Handlungsbegriffs auch NK-Puppe, Vor § 13, Rn. 35 u. 40. 93
Kapitel 1: Die Handlung
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sein sei hierbei gänzlich ausgeschaltet. Es ist vielmehr vorhanden, nur spiegelt sich in ihm nicht die spezifische Bewegung während ihrer Ausführung. Bei den Spontanreaktionen kommt hinzu, dass aufgrund der Unmittelbarkeit der Reaktion weder die konkrete Bewegung noch ihre Folge Gegenstand eines bewussten Willens ist, wenn die Bewegung ausgeführt wird, wodurch das für sie Spezifische, das Erleben derselben als „automatischer“ Vollzug entsteht.95 Ein solches Erlebnis tritt bei alltäglichen Verhaltensweisen, die im Rahmen einer bewussten Intention durchgeführt werden, nicht auf. Es findet also bei Spontanreaktionen das für eine Willensbetätigung spezifische Erleben einer zielgerichteten Handlungseinleitung nicht statt, wodurch die Bewegung als nicht willentlich gesteuert erscheint. Denn, wie Gössel formuliert, „Steuerung ohne Antriebserlebnisse ist empirisch nicht aufweisbar“.96 Ein wesentliches Unterscheidungskriterium zu den „Wahlentscheidungen“ ist somit, dass der Mensch Spontanreaktionen als nicht willentlich initiiert erlebt. Gewillkürten Handlungen geht dagegen, vorbehaltlich der Kritik an dieser rein subjektiv-phänomenologischen Betrachtungsweise97, ein Wille voraus, der als auslösendes und steuerndes Moment erlebt wird. Willkürliche Verhaltensweisen und Spontanreaktionen unterscheiden sich damit insoweit, als bei jenen ein auf die Ausführung der Bewegung gerichteter Wille vor der Bewegung bewusst wird, bei diesen hingegen ein bewusster Wille bezogen auf das Verhalten nicht feststellbar ist.
3. Das Problem der Handlungsqualität Im „Fliege-Fall“ des Oberlandesgerichts Hamm und im „Kleintier-Fall“ des Oberlandesgerichts Frankfurt wurde die Handlungsqualität des Verhaltens der Angeklagten jeweils besonders festgestellt und bejaht. Das Oberlandesgericht Hamm führt aus, bei derartigen Handlungen werde der Wille, wie hier den Fremdkörper abzuwehren, über die sensorischen Nerven derart schnell aktiviert beziehungsweise gebildet und so schnell in eine motorische Reaktion umgesetzt, dass zur Bildung einer Gegenmotivation aufgrund noch so zwingender Tatsachen keine Zeit mehr verbleibe. Insofern ähnle die Kurzschlusshandlung den Schreckreaktionen, bei denen eine Ichfunktion als Kontrollinstanz erst gar nicht in Aktion treten könne. Trotz der Schnelligkeit dieses Vorgangs fehle _________________ 95
Vgl. AG Castrop-Rauxel, DAR 1965, S. 330; BGH – 2 StR 329/84 v. 20.6.1984, S. 4 (unveröffentlicht). Aufgrund der Ausführung bei Bewusstsein, wird auch von einem „halbautomatischen“ (s. OLG Hamm, NJW 1975, 675) und „halbbewussten“ (s. OLG Frankfurt, VRS 28, 364, 365) Verhalten gesprochen. Vgl. zum Ganzen auch Schewe, Wille, S. 8. 96 Gössel, Wertungsprobleme, S. 90. 97 Vgl. oben, S. 132.
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derartigen Abläufen jedoch nicht jeglicher willentlicher Antrieb, so dass dementsprechend auch in der in Frage stehenden Abwehrbewegung ein strafrechtlich relevantes Verhalten erblickt werden könne.98 Das Oberlandesgericht Frankfurt sieht den Handlungsbegriff auch bei menschlichen Verhaltensweisen erfüllt, die aus einer halb- oder unbewussten Handlungsbereitschaft hervorgehen und auf einen gegebenen Reiz mehr oder minder automatisch ablaufen. In dem Verhalten der Angeklagten, den Wagen nach links zu ziehen, als ihr das Kleintier davor lief, erblickt es eine „unbewusst finale Steuerung“ und daher keinen strafrechtlich bedeutungslosen vollautomatischen Reflex.99 Nach diesen Entscheidungen wären Spontanreaktionen nur im Ausnahmefall nicht als willensgetragene Handlung zu werten, obgleich der Wille hierzu offenbar den Angeklagten nicht bewusst sein muss. Rudolphi sieht in allen automatisierten Verhaltensweisen denn auch eine Frage richterlicher Bewertung im Einzelfall, da die Grenze zwischen beherrschbaren und nicht mehr beherrschbaren Verhaltensweisen fließend sei. Es komme daher entscheidend darauf an, ob sich der steuernde Wille noch einschalten und den Automatismus aufheben könne. Dies gelte auch für die automatisch ablaufenden Reaktionen von Kraftfahrern im Straßenverkehr.100 Dabei handelt es sich zwar um eine systemgerechte Lösung, denn Rudolphi verneint konsequent bei nicht beherrschbaren Bewegungen auch in Bezug auf die automatisierten Verhaltensweisen die Handlungsqualität; es tut sich jedoch das neuerliche Problem der richterlichen Wertungsfrage im Einzelfall auf. Um hier den Verdacht der Beliebigkeit auszuschließen, muss es Maßstäbe geben, die die Beurteilung des Verhaltens als beherrschbar oder nicht beherrschbar zu stützen vermögen.101 Es wird daher im Folgenden zu fragen sein, welche Maßstäbe die Lehre zur Lösung dieser Sachverhalte anbietet.
_________________ 98 OLG Hamm JZ 1974, 716, 717; anders Baumann/Weber/Mitsch, § 13, Fn. 45; vgl. auch KK OWiG-Rengier, Vor § 8, Rn. 7; Gropp, StrafR AT, S. 111, Rn. 16; LKJescheck, Vor § 13, Rn. 37; Kühl, StrafR AT, § 2, Rn. 7; Maurach/Zipf, StrafR AT, § 16 I, Rn. 18. 99 OLG Frankfurt VRS 28, 364, 365 f. 100 Siehe SK StGB-Rudolphi, Vor § 1, Rn. 19 ff.; ebenso KK OWiG-Rengier, Vor § 8, Rn. 7. Vgl. auch Jakobs, StrafR AT, 6/35 ff. 101 Im Ergebnis ebenso Stratenwerth, Welzel-FS, S. 302; vgl. auch die Ausführungen oben, S. 119 ff.
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III. Verursachung im Lichte ausgewählter Handlungslehren Da bei allen automatisierten Verhaltensweisen, insbesondere aber bei den Spontanreaktionen die einzelnen Bewegungen nicht bewusst gesteuert werden, steht die Frage der willentlichen Verursachung auch bei der Darstellung der Handlungslehren im Mittelpunkt. v. Hippel vertritt die Ansicht: „Das Strafrecht, wie das Recht überhaupt, wendet sich an den menschlichen Willen, denn anders läßt sich auf menschliches Handeln nicht einwirken.“102 Zu einer strafrechtlich relevanten Handlung gehöre daher „Handlungsfreiheit, d. h. Möglichkeit der Willensbetätigung (Willkür) im Augenblick des Tuns oder Unterlassens“.103 Auch Maurach/Zipf führen aus: „Ein der menschlichen Natur nach von niemandem steuerbares Verhalten ist nicht tauglicher Ausgangspunkt der Strafhaftung.“104 Arthur Kaufmann erkennt als primären Faktor „Ursächlichkeit der Willensbetätigung“ in der kausalen Handlungslehre, „Zielgerichtetheit der Willensbetätigung“ in der finalen Handlungslehre, „psychische Beschaffenheit der Willensbetätigung“ in der symptomatischen Handlungslehre und „rechtlichsoziale Sinnhaftigkeit der Willensbetätigung“ in der sozialen Handlungslehre.105 Da innerhalb der genannten Handlungslehren über die Fähigkeit des Willens, Bewegungen zu steuern, kein Dissens besteht, können sich die Erörterungen auf eine kurze Darlegung der Begründungen beschränken. Ausführlicher wird dagegen auf die Behandlung der automatisierten Verhaltensweisen in diesen Lehren sowie auf abweichende Auffassungen Einzelner einzugehen sein, sofern die Problematik den Autoren bereits geläufig war.
1. Der Handlungsbegriff um 1900 Die strafrechtliche Lehre um 1900 stand unter dem vordringenden Einfluss der Naturwissenschaften. Entsprechend reduktionistisch muten die Handlungs-
_________________ 102
v. Hippel, Lehrbuch, S. 91, Fn. 4. v. Hippel, Lehrbuch, S. 91. Dazu auch Schewe, Reflexbewegung, S. 24; Jescheck, der von einer „potentiellen Mitwirkung“ der „geistig-seelischen Kräfte als Mindesterfordernis des Handlungsbegriffs“ spricht (s. StrafR AT, S. 201; ders., LK, Vor § 13, Rn. 36); Rudolphi: „Als möglicher Gegenstand strafrechtlicher Normen und damit als Verbrechen scheiden [...] all diejenigen Verhaltensweisen aus, die nicht mehr als vom menschlichen Willen beherrschbar gedacht [...] werden können“ (SK StGB-Rudolphi, Vor § 1, Rn. 19); Kühne, der von einer „überkommende[n] Lehre von der Erforderlichkeit der Willenssteuerung einer Handlung“ spricht (s. NJW 1991, S. 3020), u. KK OWiG-Rengier, Vor § 8, Rn. 5. 104 Maurach/Zipf, StrafR AT, § 16 I, Rn. 13. 105 Siehe Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 92; im Ergebnis ebenso Maihofer, Eb. Schmidt-FS, S. 163. 103
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begriffe dieser Zeit an.106 Die beiden Hauptstränge, naturalistische und symptomatische Handlungslehre, von denen der konzeptionelle Ansatz der ersteren auch heute noch vertreten wird107, nehmen sich der Diskussion um die automatisierten Verhaltensweisen, die erst in den sechziger Jahren ihren Höhepunkt erreicht, kaum an. Insbesondere greifen sie diese Problematik nicht mit Blick auf die Reaktionen im Straßenverkehr auf, weshalb sie hierauf nur entsprechend übertragen werden können.
a) Naturalistische Handlungslehre (v. Liszt und Beling) Mit dem klassischen Deliktssystem Ende des 19. Jahrhunderts entstand die naturalistische Handlungslehre, begründet von v. Liszt und Beling.108 Der Begriff der Willkür erhält hier eine zentrale Funktion, obgleich es auf den Inhalt des Wollens nicht ankommen soll.109 Nach Beling ist Handlung von Willkür getragenes körperliches Verhalten. Willkür liegt vor, wenn nach der inneren (seelischen) Seite der Wille besteht, den Körper zu regen oder nicht zu regen. 110 v. Liszt setzt die Willensbetätigung mit willkürlichem Verhalten gleich.111 „Wollen“ bedeutet nach seinem Sprachgebrauch „denjenigen psychologischen Akt, durch welchen die Anspannung der Muskeln erfolgt. Gewollt ist mithin nur die Körperbewegung, niemals der Erfolg“.112 Nach beiden Ansichten wird mit dem Begriff der Willkür also die geistige oder seelische Tätigkeit bezeichnet, die eine Bewegung hervorruft, unabhängig von dem Zweck der Bewegung.113 Da der Begriff der Willkürlichkeit bei Beling als willentlicher, nicht unbedingt gewollter Anstoß zur Verwirklichung eines Erfolges verstanden werden könne, ist dieser Handlungsbegriff anders als der Lisztsche nach Auffassung Radbruchs geeignet, „ungeschickte Körperbewegungen“ zu erfassen.114 v. Liszt wählt, um zum gleichen Ergebnis zu gelangen, einen anderen Weg: „Dass einzelne Glieder des Verhaltens infolge wiederholter Übung automatisch vollzogen werden, nimmt dem Verhalten als Ganzem nicht die Eigenschaft der Will_________________ 106
Vgl. dazu v. Bubnoff, S. 134 ff. So von Baumann/Weber/Mitsch, StrafR AT, § 13, Rn. 22 ff. 108 Vgl. Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 92. 109 Siehe Jakobs, StrafR AT, 6/6. 110 Siehe Beling, Grundzüge, S. 17 f. Ähnlich M. E. Mayer, Handlung, S. 18. 111 Siehe v. Liszt, Lehrbuch, S. 102; s. auch v. Liszt/Schmidt, Lehrbuch, S. 154. 112 v. Liszt, Lehrbuch, S. 105, Fn. 1; s. auch v. Liszt/Schmidt, Lehrbuch, S. 155. 113 Eine Darstellung der Differenzen der Lehrmeinungen findet sich u. a. bei Radbruch, ZStW 24 (1904), S. 336 f. und Otter, Funktionen, S. 33 f. 114 Siehe Radbruch, ZStW 24 (1904), S. 336 f. Kritisch Koriath, Zurechnung, S. 660. 107
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kürlichkeit.“115 Während Radbruch noch auf die „ungeschickte Bewegung“ an sich abstellt, soll die automatisierte Verhaltensweise bei v. Liszt in einem Gesamtkomplex des Verhaltens aufgehen. Das ist zwar einerseits geeignet, rechtliche Schwierigkeiten mit Blick auf den dolus antecedens und die tatbestandliche Vorverlagerung116 aufzuwerfen, stimmt aber andererseits mit der Vorstellung von einer Handlung „im natürlichen Sinne“ bei der Anwendung des heutigen § 52 StGB überein.117 Unabhängig hiervon sind die von Radbruch und v. Liszt angesprochenen Verhaltensweisen aber in einen zielgerichteten Verhaltenskomplex eingebunden und können deshalb mit Spontanreaktionen, also automatisierten Verhaltensweisen, die aufgrund einer plötzlichen situativen Änderung gleichsam den ersten Akt eines neuen Verhaltenskomplexes bilden, nicht gleichgesetzt werden. Hier mangelt es eben im Unterschied zu den sonstigen automatisierten Bewegungen gänzlich an dem für eine Willensbetätigung erforderlichen psychischen Akt. Beide Lehrmeinungen vermögen aufgrund des von ihnen postulierten Erfordernisses eines vorausgehenden bewussten Willens die Spontanreaktionen also nicht mit ihrem Handlungsbegriff zu erfassen.118
_________________ 115
v. Liszt, Lehrbuch, S. 102, Fn. 1. Ausführlich zu den Legitimationsfragen der Vorverlagerungsmodelle Ulfrid Neumann, Zurechnung, S. 25 ff. Zur Vorverlagerung bei Spontanreaktionen auch unten, S. 188 f. u. 228 ff. 117 Vgl. BGHSt 1, 20, 21 f.; BGHSt 6, 81 f. 118 Dieser Problematik begegnet auch noch Mezger, der mit Blick auf die finale Handlungslehre Welzels (dazu unten, S. 169) bemerkt, es sei ihm „nie eingefallen, zwischen ,willkürlich‘ und ,final‘ einen Unterschied zu machen“ (Mezger, Rittler-FS, S. 121; kritisch Maihofer, Eb. Schmidt-FS, S. 156). Die Willkürlichkeit bezieht sich bei Mezger damit nicht nur auf die einzelne Bewegung, sondern vornehmlich auf ein dahinter liegendes Ziel. Ist dieses gewollt, so enthielten auch die zur Verwirklichung unternommenen „ungeschickten Bewegungen“ einen willkürlichen Kern (vgl. Mezger, Rittler-FS, S. 121, der hierunter in Anlehnung an Sigwart und v. Hippel die Bewegung eines Rückenmarkserkrankten oder eines von Aphasie Befallenen, „die vermöge der Störung der normalen Leitung völlig zwecklos herauskommt“ und das „Abdrücken eines Gewehres durch ungeschickte Bewegung“ versteht), sie sind nach Mezger also ihrerseits „gewollt“ (s. Mezger, Rittler-FS, S. 121; so im Übrigen bereits Schopenhauer: „Wenn ein Mensch will; so will er auch Etwas: sein Willensakt ist allemal auf einen Gegenstand gerichtet und läßt sich nur in Beziehung auf einen solchen denken“ [Ethik, S. 14]). Soweit die „ungeschickten Bewegungen“ nicht mehr eingebettet in den ursprünglichen Willensentschluss erscheinen, vermag also auch die Definition des Begriffs der Willkürlichkeit durch Mezger sie nicht als Handlungen zu erfassen; ebenso Baumann/Weber/ Mitsch, StrafR AT, § 13, Rn. 33. 116
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Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld
b) Symptomatische Handlungslehre (Kollmann und Tesar) Die symptomatische Handlungslehre, vertreten von Kollmann und Tesar Anfang des 20. Jahrhunderts119, nahm gegenüber dem naturalistischen Handlungsbegriff auch die psychischen Gründe im Täter, die ihn zu einem Delikt verleiteten, in den Blick. So sah Kollmann die Fahrlässigkeitstat, worunter die „ungeschickten Bewegungen“ regelmäßig fallen, vom naturalistischen Handlungsbegriff nicht erfasst.120 Um den Handlungsbegriff gegenüber dem Willen zum Erfolg neutral zu gestalten, definierte er: „Handeln ist das Vornehmen einer Körperbewegung in dem Bewußtsein, daß mit Vornahme derselben bestimmte als möglich ins Auge gefasste Veränderungen notwendig werden müssen.“121 Der naturalistische Handlungsbegriff kam damit immer dann als Spezialfall des symptomatischen zur Anwendung, wenn sich das „Willenssymptom als Willenswirkung“ darstellte, mithin im Fall des Vorsatzes.122 Denn der eigentliche Grund der Strafe liegt nach Tesar in der Gefährlichkeit des Täters, in der Wahrscheinlichkeit einer Gesellschaftsverletzung.123 Zwar operiert Tesar mit Wahrscheinlichkeiten, soweit es um den Eintritt eines schädlichen Willensaktes geht124; in dem Willen, beziehungsweise dem Bewusstsein125 wird jedoch auch hier, wie in der naturalistischen Lehre, eine Causa für die verbrecherische Tat gesehen, weshalb auch die symptomatische Lehre keine Bedingungen definiert, nach denen die Spontanreaktionen als Handlungen begriffen werden könnten.
2. Die Entwicklung im 20. Jahrhundert In den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts erlebte die Diskussion um den strafrechtlichen Handlungsbegriff eine Blütezeit. Eine Fülle unterschiedlicher Lehrmeinungen entstand, die hier nur grob den neuen Hauptsträngen, der finalen, sozialen und personalen Handlungslehre zugeordnet werden können.126 Im Übrigen sollen von den vereinzelt vertretenen Handlungs-
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Vgl. Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 92. Siehe Kollmann, S. 203. 121 Kollmann, S. 214. 122 Siehe Kollmann, S. 214. 123 Siehe Tesar, S. 265. 124 Siehe Tesar, S. 230 ff. 125 Vgl. Kollmann, S. 206 f. 126 So wird der negative Handlungsbegriff erst bei der Frage der Vermeidbarkeit aufzugreifen sein (vgl. unten, S. 207), da er eine Vermeidbarkeit des Nichtvermeidens voraussetzt (s. Herzberg, Unterlassung, S. 170 ff.; JZ 1988, S. 576; vgl. auch Behrend, Jescheck-FS, S. 303 ff.; zum „Vermeidbarkeitsprinzip“ bereits Kahrs, S. 36 ff.). Behrend spricht insoweit von der Fähigkeit zur Gegensteuerung (s. Unterlassung, S. 100; ders., GA 1993, S. 68). 120
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begriffen nur die Konzepte Michaelowas, Kargls und Jakobs’ dargestellt werden, wobei Kargl und Jakobs ihre Theorien erst Anfang der neunziger Jahre entwickelt haben.
a) Finale Handlungslehre (Welzel, Stratenwerth und Schewe) Im Lichte der finalen Handlungslehre vollzieht sich die Steuerung einer Handlung in der Weise zweckgerichtet, dass es über die Kategorie der Willkürlichkeit in der naturalistischen (seit Welzel auch „kausalen“127) Handlungslehre hinaus auf die innere Haltung dem angestrebten Ziel gegenüber ankommt. Nach Welzel beruht die Fähigkeit des Willens darauf, in bestimmtem Umfange die Folgen des kausalen Eingreifens vorauszusehen und dadurch dieses zur Zielerreichung hin planvoll zu steuern. „Hierzu ist nur erforderlich, daß ein Kausalfaktor vorhanden ist, der sein Ursächlichwerden ,sehend‘ zu regulieren vermag, und das ist der menschliche Wille: er vermag in bestimmtem, begrenztem Umfang die möglichen Folgen seines Kausalwerdens vorauszusehen und danach sein Eingreifen zweckmäßig zu regulieren.“128 „Er ist der Steuerungsfaktor, der das äußere Kausalgeschehen überformt und es dadurch zur zielgelenkten Handlung macht [...].“129 Automatisierte Verhaltensweisen einschließlich der Spontanreaktionen versucht Welzel seinem Handlungsbegriff zuzuschlagen, indem er die Schuld bei automatisierten Verhaltensweisen damit begründet, dass der Täter „bei Vornahme seiner finalen Handlung die Funktionsgrenzen seiner automatisierten Handlungsbereitschaften nicht berücksichtigt hat, obwohl er sie _________________ 127
So E. Wolf, AcP 170 (1970), S. 183; vgl. auch Maihofer, Eb. Schmidt-FS, S. 156. Welzel führt bspw. aus: „Methodisch beruhte bekanntlich der naturalistische Handlungsbegriff darauf, daß man die Willensrichtung (,Willensinhalt‘) von der Willensverwirklichung abtrennte. Die Willensverwirklichung wurde ausschließlich nach der kausalen Wirksamkeit betrachtet: zur Handlung gehörte alles, was der Wille als Kausalfaktor verursacht hat (Handlung=Willenswirkung). Nur vermöge dieser Abtrennung des ,bloß‘ subjektiven Willensinhalts von der objektiven Willenswirkung konnte die Handlung vollgültig einer rein mechanischen Kausalität unterworfen werden. Die ganze finaldeterminative Funktion des Willens ,inhalts‘, durch die sich die Handlung über das blindmechanische Naturgeschehen spezifisch erhebt, wurde damit prinzipiell vernichtet“ (ZStW 58 [1938], S. 498). Kritisch zur Interpretation der naturalistischen Handlungslehre durch Welzel, Schild, GA 1995, S. 102 ff. 128 Welzel, ZStW 58 (1938), S. 502; vgl. auch ders., Strafrechtsprobleme, S. 5. Kritisch Roxin, ZStW 74 (1962), S. 518 ff. 129 Welzel, Strafrechtssystem, S. 3; die Rede ist auch von „finaler Überdetermination“ (s. ders., NJW 1968, S. 425; ders., Strafrecht, S. 34). Vgl. dazu auch Schewe, Reflexbewegung, S. 57. Kritisch hinsichtlich der ontologischen Vorgegebenheiten des finalen Handlungsbegriffs Welzels, Bockelmann, Verhältnis, S. 30 ff.; dazu auch Niese, Finalität, S. 6 f.
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erkennen konnte“.130 So müsse der Autofahrer die Schnelligkeit seiner Fahrt dem Maße der Beherrschung der technischen Handgriffe und seiner Reaktionsbereitschaft anpassen.131 Zwar kommt es nach dem Handlungsbegriff Welzels nicht darauf an, dass der Wille den konkreten Erfolg der automatisierten Verhaltensweise umfassen muss, sondern lediglich irgendein finales Element, das durch die Bewegung hätte verwirklicht werden können132, aber auch dieses fehlt in den hier problematisierten Fällen der Spontanreaktionen. Denn sie zeichnen sich gerade dadurch aus, dass ein plötzliches Ereignis den ursprünglich beabsichtigten Verlauf einer Betätigung unterbricht, woraufhin Bewegungen stattfinden, denen weder in Bezug auf die Bewegung selbst noch hinsichtlich eines neuen Ziels ein Willensentschluss oder ein Bewusstsein vorangeht. Sollen sie über die Erkennbarkeit der Funktionsgrenzen zum Zeitpunkt eines finalen Willens, der die spätere Aufgabe seines ursprünglichen Handlungsziels nicht umfasste, in das Blickfeld strafrechtlicher Zurechnung einbezogen werden, so handelt es sich dabei, wie dies ähnlich beim Handlungsbegriff v. Liszts hervortritt, um eine Vorverlagerung des strafrechtlich relevanten Verhaltens.133 Vom Handlungsbegriff Welzels werden daher wiederum nur die in einen final ausgerichteten Verhaltenskomplex integrierten automatisierten Verhaltensweisen, nicht aber die Spontanreaktionen infolge einer plötzlichen situativen Veränderung umfasst.134 _________________ 130 Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S. 33 f.; s. auch ders., Strafrecht, S. 152. Ablehnend Hall, S. 14 (vgl. auch unten, S. 213 ff.). 131 Siehe Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S. 33. 132 Siehe dazu Welzel, NJW 1968, S. 425; ders., ZStW 51 (1931), S. 703 ff., insb. S. 717 ff. 133 Vgl. auch Kindhäuser, Gefährdung, S. 124 ff., der mit seinem intentionalen Handlungsbegriff zwischen einer empirischen Kausalität des Verhaltens (von Radbruch als „Tat“ bezeichnet, s. Handlungsbegriff, S. 75) und einer Handlung, der die subjektive Erfahrung der Selbstzuschreibung zugrundeliegt, unterscheidet (s. Kindhäuser, Intentionale Handlung, S. 206 f.; vgl. auch ders., GA 1982, 477, 495). Konsequent werden deshalb die automatisierten Verhaltensweisen im Straßenverkehr nur über den Umweg der Vorverlagerung erfasst: „Die Fehlreaktion selbst ist keine Handlung, aber es besteht die Möglichkeit, durch verschiedene Tätigkeiten – etwa üben, konzentriert fahren, Abstand halten usw. – das Eintreten der Fehlreaktion zu verhindern“ (Kindhäuser, Intentionale Handlung, S. 211; vgl. auch ders., Gefährdung, S. 129 ff.). 134 So auch Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 31; Jakobs, StrafR AT, 6/16; Stratenwerth, Welzel-FS, S. 290 ff.; Roxin in Bezug auf den finalen Handlungsbegriff Struensees (s. StrafR AT/1, § 8, Rn. 23); so wohl auch Henkel, Studium Generale 1960, S. 238. Hirsch umgeht die Problematik, indem er die automatisierten Verhaltensweisen in Willenshandlungen umdeutet und auf eine „geringere Bewußtseinsstufe“ abstellt (s. ZStW 93 [1981], S. 861), eine Argumentation, die in der personalen Handlungslehre noch Erörterung finden wird (vgl. unten, S. 177 ff.).
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Stratenwerth hat in Anbetracht der Problematik automatisierter Verhaltensweisen eine Erweiterung angestrebt: Die bis dahin als „bewusst“ definierte finale Steuerung sollte nun um eine unbewusste Steuerung ergänzt werden. „Steuerung bedeutet also, positiv formuliert, eine Regulation des Verhaltens, die immer auch bewußt übernommen werden könnte.“135 Beim Menschen gebe es, soweit für Stratenwerth ersichtlich, „keine einzige erfolgs- und umweltbezogene Verhaltensweise, die nicht bewußt gesteuert werden könnte“. Handlungen von der Struktur automatisierter Verhaltensweisen ließen sich allemal auch mit bewusster Steuerung vollziehen.136 Obwohl nicht empirisch belegt, erscheint dies zunächst überzeugend, da die automatisierten Verhaltensweisen als ursprünglich bewusst erlernte Bewegungen gelten, der Bewegungsablauf als solcher also jedenfalls auch von einer Person, bei der er noch nicht automatisiert ist, auch bewusst vollzogen werden könnte. Für die Annahme jedoch, dass er auch von der Person, bei der der Bewegungsablauf einmal automatisiert wurde, wieder bewusst übernommen werden könnte, dafür ist der Verweis auf ihre Struktur kein ausreichender Beleg. Bereits am Beispiel des Radfahrens dürfte deutlich werden, dass eine bewusste Übernahme aller einzelnen hierfür erforderlichen Automatismen zu einem bestimmten Zeitpunkt kaum zu leisten ist. Stratenwerth sieht seinen Handlungsbegriff damit jedoch als entlastet von der Frage der Möglichkeit aktiver bewusster Einschaltung an: „Ob der individuelle Täter im konkreten Einzelfalle noch rechtzeitig oder bei genügender innerer Anspannung die automatisierte Reaktion hätte umsteuern können, ob es auf seine individuellen Fähigkeiten hier überhaupt ankommen soll oder auf ein wie immer generalisiertes Können – von alledem ist die Annahme einer ,Handlung‘ unabhängig.“137 Damit stellt sich diese Problematik indes auf einer anderen Ebene. Die bewusste Einschaltung in einen unbewussten Vorgang setzt eine hinter dem Bewusstsein liegende geistige Fähigkeit voraus, womit sich diese Überlegung einerseits dem Problem eines infiniten Regresses aussetzt, denn diese geistige Fähigkeit müsste ihrerseits eine (sie potentiell kontrollierende) geistige Fähigkeit voraussetzen usw., andererseits aufgrund der dahinter stehenden Prämisse der Willensfreiheit keine Antworten darauf zu geben ver_________________ 135 Stratenwerth, Welzel-FS, S. 299; ders., StrafR AT, § 6, Rn. 7; ebenso Kühl, StrafR AT, § 2, Rn. 8. 136 Siehe Stratenwerth, Welzel-FS, S. 303.; zustimmend Jescheck/Weigend, StrafR AT, S. 221, u. Gimbernat Ordeig: „[...] erstens gibt es keine Ichausschaltung, und zweitens ist die Bewegung insofern nicht physisch notwendig bedingt, als der Handelnde dazu fähig ist, die automatisierte Bewegung in seinem Ich bewußtzumachen und auf diese Weise eine andere Bewegung zu verwirklichen“ (Armin Kaufmann-GS, S. 164). Zum Problem des infiniten Regresses bei dieser Argumentation vgl. die weiteren Ausführungen im Text zu Stratenwerth. 137 Stratenwerth, Welzel-FS, S. 300.
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mag, wie ein Tatrichter die Möglichkeit zu bewusster Steuerung an tatsächlichen Gegebenheiten festmachen sollte. Hinzu kommt, dass Stratenwerth für den Begriff der Steuerung fordert, der Verhaltensablauf müsse „erlebnismäßig bedingt und insoweit situationsabhängig sein“.138 An der Situationsabhängigkeit, die auch bei Bewegungsabläufen wie extern ausgelösten Reflexen, die Stratenwerth wohl den „reinen Kausalprozessen“ zuordnen würde, gegeben ist, besteht zwar in den problematisierten Fällen kein Zweifel; dass aber automatisierte Verhaltensweisen immer erlebnismäßig bedingt sein sollen, ist wiederum eine Voraussetzung, die sich bezweifeln lässt.139 Eine völlige Abkehr von den inneren Zuständen nimmt Schewe bei seiner Interpretation einer finalen Handlung vor: Zur Feststellung einer Handlung müsse es genügen, wenn eine „augenfällige umweltbezogene finale Steuerung“ vorliege. Finalität sei in erster Linie ein äußeres Kennzeichen eines Bewegungsablaufs. „Sie kann, muß aber nicht notwendig mit dem subjektiven Erlebnis der Freiheit, der Bewußtheit oder der Willkürlichkeit einhergehen.“140 Was eine Handlung sei und was nicht, müsse wertend bestimmt werden.141 Im „Kleintier-Fall“ handle es sich ganz offensichtlich um ein finales Ausweichmanöver, wobei die Frage der Vermeidbarkeit zu diskutieren bleibe.142 Dass diese Frage offenbleibt, ist Jakobs zufolge ein Einwand gegen diesen Handlungsbegriff, denn damit verliere er seine Abgrenzungsfunktion.143 Vermeidbarkeit und Handlungssteuerung hängen indes eng mit dem Willensbegriff zusammen, um dessen Eliminierung aus dem Handlungsbegriff sich Schewe bewusst bemüht. Will man aber einen von einer Stellungnahme zur Vermeidbarkeit unabhängigen Handlungsbegriff definieren und gleichzeitig am Schuldstrafrecht festhalten, dann wirft dies die Frage auf, warum es eines eigenständigen Handlungsbegriffs überhaupt bedarf, wenn man sich der Problematik der Reflexe und der _________________ 138
Stratenwerth, Welzel-FS, S. 299. Diesen Bedenken begegnet auch der reale Handlungsbegriff. Zwar könne nach E. Wolf der hierfür erforderliche Entschluss bei plötzlichen Gefahren auch „im Bruchteil einer Sekunde geschehen“, denn die Schnelligkeit eines solchen Vorgangs schließe nicht aus, „daß es sich dabei um bewußtes Entschließen handelt“ (E. Wolf, AcP 170 [1970], S. 229). Diese Annahme wird indes durch nichts belegt. Kritisch auch Jakobs: „Ob die Aufhebung des Automatismus bei gegebener Motivation nicht zur Vermeidung des Automatismus selbst, sondern der durch den Automatismus bedingten Folgen im Einzelfall möglich ist, richtet sich danach, ob die erforderlichen Erkenntnisschritte überhaupt und hinreichend schnell, nämlich vor dem Ablauf der automatischen Reaktion, vollzogen werden können“ (Studien, S. 81). Ausführlich dazu unten, S. 226 ff. 140 Schewe, Wille, S. 7. Ablehnend Jakobs, StrafR AT, 8/12. 141 Siehe Schewe, Reflexbewegung, S. 67; ders., Wille, S. 5. 142 Siehe Schewe, Wille, S. 7. 143 Siehe Jakobs, StrafR AT, 6/19. 139
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durch vis absoluta ausgelösten Verhaltensweisen auch bei der Prüfung der Vermeidbarkeit annehmen kann. Schewes Handlungsbegriff ergibt auch bei der Abgrenzung von Handlung und Nichthandlung keinen systematischen Gewinn, da er wie die einschlägige Rechtsprechung vornehmlich eine wertende Betrachtung des Einzelfalles erforderlich macht. Gleichwohl müssten einige Bewertungen anders als bisher vorgenommen werden. So erscheinen Verhaltensweisen wie das Würgen der Ehefrau im Schlaf als äußerlich final, während sich bei anderen Verhaltensweisen wie dem Einschlafen am Steuer eines Fahrzeugs144 eine Finalität nicht erkennen lässt. Im Wesentlichen dürfte eine Bewertung von Sachverhalten nach dem Handlungsbegriff Schewes aber auch den Ergebnissen der Rechtsprechung entsprechen, denn es wird, wie Schewe richtig bemerkt, regelmäßig aus den äußeren Umständen auch ein Bild von der psychischen Seite entworfen.145 Diese Übereinstimmung vermag indes nicht das Defizit an konkretisierenden Bedingungen bei der jeweiligen Vorgehensweise auszuräumen.
b) Soziale Handlungslehre (Engisch und Maihofer) Engisch bezieht in seine Handlungslehre sowohl kausale als auch finale und soziale Aspekte ein.146 Handeln sei „das willkürliche Bewirken objektiv bezweckbarer Folgen seitens eines Menschen“.147 Mit dem Merkmal der Objektivität löst sich Engisch von der Täterpersönlichkeit, stellt auf die „erfahrungsmäßig adäquaten“ Folgen ab.148 Dabei schließt er sich dem „Welzelschen Ausgangspunkt“ an, dass der Mensch in der Lage sei, „den kausalen Nexus final zu überdeterminieren“.149 Das Merkmal der Willkürlichkeit bedeute nur, „daß der Täter psycho-physisch in der Lage war, sich anders zu verhalten, daß er ,Hand_________________ 144
Vgl. dazu BGHSt 23, 156 ff. Siehe Schewe, Wille, S. 10. 146 Die Definitionsbreite erscheint beim sozialen Handlungsbegriff am größten. Bekannte Vertreter, wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen, sind neben den genannten Eb. Schmidt, H. Mayer, Bockelmann, R. Lange, Jescheck und zunächst auch Roxin (s. Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 92), der heute jedoch eine eher personale Handlungslehre vertritt (dazu unten, S. 177). Diese Lehren weisen insofern Ähnlichkeit mit dem finalen Handlungsbegriff auf, als sie auf den (sozialen) Gesamtzusammenhang der Tat abstellen. Sie verbänden den subjektiven Willen des Menschen der finalen Handlungslehren mit dem Zusammenhang zwischen Verhalten und Erfolg nach der naturalistischen Handlungslehre und fügten diesem das Element sozialer Auswirkung der Handlung bei: „Handlung ist alles sozialerhebliche Verhalten“ (so Jescheck, Eb. Schmidt-FS, S. 151). 147 Engisch, Kohlrausch-FS, S. 164.; vgl. auch ders., Weltbild, S. 38. 148 Siehe Engisch, Kohlrausch-FS, S. 162. 149 Siehe Engisch, Kohlrausch-FS, S. 160 u. 153. 145
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lungsfreiheit‘ besaß“. Diese Freiheit wird als relative, als „eine Freiheit von Lähmung, von Zwang usw.“ verstanden. 150 Deshalb geht Engisch bei den „ungeschickten Bewegungen“ davon aus, „daß es dem Handelnden bei genügender Selbstdisziplin freigestanden hätte, die Bewegung richtig auszuführen“. Diese Freiheit bestehe dagegen nicht bei mit absoluter Gewalt erzwungenen oder rein reflektorischen Bewegungen.151 Im ersten Teil dieser Arbeit wurde auf die Schwachstelle dieser Lehre im Spannungsfeld zwischen Freiheit, Vorwurf und Determination bereits hingewiesen. Auch hier kann der Mangel an Selbstdisziplin, soweit die Willensfreiheit nicht berührt werden soll, nur als unvermeidbar verstanden werden. Nur wenn die Umstände anders gewesen wären, wäre der Mangel ausgeblieben beziehungsweise nicht in Erscheinung getreten. Da sie nicht anders waren, konnte auch keine andere als die tatsächliche Reaktion erfolgen. Aus der Expost-Betrachtung ist alles Geschehene deshalb „zwangsläufig“ eingetreten. Somit kann es aus der Nachschau hinsichtlich der Vermeidbarkeit auch keinen Unterschied machen, ob eine „ungeschickte Bewegung“ oder eine „reflektorische Bewegung“ vollzogen wurde. Da Engisch deshalb nur die relative Freiheit von „Zwang“ zum Zeitpunkt der Ausführung der Verhaltensweise als Grundlage für seine Differenzierung heranziehen kann, wird mit Blick auf die Spontanreaktionen die Handlungsfreiheit zur Ausführung derselben bei der Frage ihrer Vermeidbarkeit konkreter zu beleuchten sein.152 Die Vermeidbarkeit und damit das „Menschenmögliche“ grenzt auch den sozialen Handlungsbegriff Maihofers ein.153 Er definiert diesen als „jedes objektiv beherrschbare Verhalten mit Richtung auf einen objektiv voraussehbaren Erfolg“154 und entfernt seine Voraussetzungen damit von den konkreten Möglichkeiten des individuellen Menschen. Dass er dabei von der grundsätzlichen Fähigkeit des Menschen zu geistiger Verhaltenssteuerung ausgeht, ergibt sich aus folgender Annahme: „Alles Handeln hat seinen ontologischen Grund in dem Vermögen des Menschen, sich intellektuell wie voluntativ von dem in Instinkt und Trieb vorgezeichneten Lebensentwurf zu lösen, damit anders als seiner sinnlichen Natur entsprechend zu verhalten, und so sein Leben nicht nach eingestifteten Zwecken blind zu vollziehen, sondern nach vorgesetzten
_________________ 150
Siehe Engisch, Kohlrausch-FS, S. 164. Siehe Engisch, Kohlrausch-FS, Fn. 82. 152 Vgl. dazu unten, S. 191 ff. 153 Vgl. Maihofer, Eb. Schmidt-FS, S. 180. 154 Maihofer, Eb. Schmidt-FS, S. 178. Äußerlicher noch eine frühere Definition: „,Handlung‘ ist menschliches Verhalten, das auf Bewirkung der Verletzung strafrechtlich geschützter Rechtsgüter gerichtet ist“ (Handlungsbegriff, S. 72). 151
Kapitel 1: Die Handlung
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Zwecken sehend zu gestalten.“155 Eine Annahme, die wenigstens Handlungsfreiheit voraussetzt. Die Eliminierung des Willens aus der Definition der Handlung ist auf die Überlegung Maihofers zurückzuführen, dass es augenscheinlich Verhaltensweisen gebe, die nicht mehr als willkürlich bezeichnet werden könnten und die dennoch strafrechtlich in Betracht gezogen werden müssten.156 Trotz Ausschluss des Willenselements verbleibt als Grundvoraussetzung für eine Handlung aber die geistige Fähigkeit des Menschen, die es ermöglicht, das Verhalten mit seinen sozialen Wirkungen als prinzipiell voraussehbar und beherrschbar aufzufassen. Die objektive Beherrschbarkeit setzt also Handlungssteuerung durch geistige, nicht notwendig willkürliche Tätigkeit voraus. Für die konkrete Subsumierung der Spontanreaktionen unter diesen Handlungsbegriff gilt das zu Engisch Gesagte.
c)
Die „menschliche Seinsäußerung“ nach Michaelowa
Den Vorteil, der daraus erwächst, auch nicht „spezifisch“ menschlichen Verhaltensweisen Handlungsqualität zuzuschreiben, nutzt Michaelowa für einen von geistiger Steuerung unabhängigen Handlungsbegriff. Obgleich davon ausgehend, dass der Mensch im bewussten Zustand als psychophysisches Wesen über Willensäußerungen zur Verhaltenssteuerung fähig sei157, sieht er diese Fähigkeit als unwesentlich für einen Handlungsbegriff an, der sich loslöst von einem an den Menschen herangetragenen sittlichen Sollen. Man müsse das Strafrecht nicht im Sinne einer solchen „Sollenstheorie“ verstehen, die die Verhaltensnorm primär als sittlichen Appell an das freie, autonome Subjekt als
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Maihofer, Eb. Schmidt-FS, S. 170. Im Hintergrund solcher „objektiven“ Voraussetzungen, wie der Maihofers, lauert freilich die im ersten Teil dieser Arbeit (S. 99 ff.) angesprochene Problematik, dass zwar der Strafrechtler im weiteren Verlauf der strafrechtlichen Prüfung das Vorliegen dieser Voraussetzungen beim konkreten Individuum verneinen kann, diese Möglichkeiten dem Verfassungsrechtler, der sich beim Würdebegriff auf dieselben Voraussetzungen beruft, indes nicht ohne weiteres zustehen, wodurch die beschriebenen Widersprüche entstehen. 156 Siehe Maihofer, Eb. Schmidt-FS, S. 164, 167 f. Hiermit setzt sich auch Boehm auseinander, dem zufolge sich die Zurechnung der Spontanreaktionen „aus der sie begründenden sozialen Einstellung“, der allgemeinen Fähigkeit und Bereitschaft zur Motivaktivierung ergebe (s. Fehlleistungen, S. 119 f.). Allerdings lasse sich ihre Handlungsqualität nur mittels individueller Maßstäbe feststellen, weshalb sie endgültig erst auf der Schuldebene erfasst werden könnten (s. ebd., S. 121). 157 Siehe Michaelowa, S. 81.
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Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld
den jeweiligen Urheber seines Verhaltens begreift.158 Vielmehr könne es auch im Sinne einer „Zwangstheorie“159 aufgefasst werden, wonach ihm allein die instrumentelle Funktion zukomme, Gefahren von der Gemeinschaft abzuwenden. Diese Gefahren könnten aber von bewussten wie von unbewussten, von freien wie von determinierten Verhaltensweisen gleichermaßen ausgehen.160 „Ob der Mensch die Fähigkeit zur Verwirklichung eines Willens besaß, ja ob er überhaupt etwas gewollt hat, kann für die Sozialschädlichkeit seiner Seinsäußerungen ebenso wenig maßgeblich sein wie die sittliche Freiheit, wozu insbesondere auch die Freiheit der Willensbildung gehört.“161 „Wir können also sagen: Alle möglichen Seinsäußerungen des Menschen (nicht nur die für seine Menschheit kennzeichnenden) sind, weil sie sämtlich für Gemeinschaftsgüter gefährlich werden können, für das Strafrecht grundsätzlich gleichwertig.“162 Der Handlungsbegriff nach dieser Zwangstheorie (im Sinne Michaelowas) vermag damit automatisierte Verhaltensweisen insgesamt und damit auch die Spontanreaktionen zu erfassen. Erst in einem zweiten Schritt sei zu fragen, ob es sinnvoll ist, den Menschen hierfür auch zu bestrafen. Dies sei danach zu beurteilen, ob durch die staatliche Reaktion weitere Rechtsgutsbeeinträchtigungen verhindert werden können.163 Im Gegensatz zu Schewe vermag Michaelowa damit zu erklären, warum er die Frage der Vermeidbarkeit erst in einer nachfolgenden Prüfung aufwirft, dies allerdings um den Preis, dass die bisher als „Nichthandlungen“ qualifizierten Verhaltensweisen nicht schon vorab ausgeschieden werden können. Roxins Einwand, der Handlungsbegriff Michaelowas stelle Handlungen mit Naturwirkungen auf eine Stufe und könne damit seiner Abgrenzungs- und Verbindungsfunktion nicht gerecht werden164, greift nur bedingt durch. Als Verbindungselement zeichnet sich der Handlungsbegriff, Roxin zufolge, gerade durch seine Neutralität und Indifferenz den Deliktskategorien gegenüber aus.165 Dies leistet aber der Begriff der Handlung als „Seinsäußerung“, wie ihn Michaelowa mit der „Zwangstheorie“ assoziiert (wenn auch ohne ein eindeutiges eigenes Bekenntnis dazu). Denn ein solcher _________________ 158
Siehe Michaelowa, S. 27 f. – Dagegen ist die durchgesetzte Sanktionsnorm selbstverständlich nach allen Auffassungen, also auch nach der so verstandenen „Sollenstheorie“ eine unmittelbar (per vis absoluta) zwingende und erzwungene Norm. 159 Nach Feuerbach ist der Zweck der Strafandrohung die Abschreckung des potentiellen Täters vor der Begehung der Tat; Zweck der Strafe ist die Realisierung der Androhung, um deren künftige Wirksamkeit zu gewährleisten (s. Revision I, S. 89 ff.). 160 Siehe Michaelowa, S. 79 f. 161 Michaelowa, S. 75. 162 Michaelowa, S. 81. 163 Vgl. Michaelowa, S. 82. 164 Siehe Roxin, StrafR AT/1, § 8, Fn. 100; kritisch auch Jakobs, Welzel-FS, S. 309, Fn. 8. 165 Siehe Roxin, StrafR AT/1, § 8, Rn. 3.
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Begriff stellt weder inhaltliche Anforderung an die Form der Seinsäußerung noch bewertet er diese und greift damit der Schuldfrage nicht vor. Wegen der Bezeichnung als „menschliche“ Seinsäußerungen scheiden jedoch tierische Verhaltensweisen und externe Naturwirkungen, aber auch Gedanken und Gesinnungen sowie Akte juristischer Personen aus dem Handlungsbegriff aus. Das Konzept Michaelowas ist damit, soweit man den Sinn des Strafrechts auf seine Funktion als Schutzinstrument der Gesellschaft vor Schädigungen der Rechtsgüter ihrer Mitglieder reduziert, nur konsequent.
d) Personale Handlungslehre (Roxin und Arthur Kaufmann) Als dem Handlungsbegriff der Zwangstheorie, wie ihn Michaelowa entwickelt, diametral entgegensetzt ließe sich wohl die personale Handlungslehre bezeichnen. Während Michaelowa auch die nicht spezifisch menschlichen Verhaltensweisen integriert, bezieht die personale Handlungslehre ihr Abgrenzungskriterium aus den besonderen Fähigkeiten des Menschen. Indem auf die in der Handlung zum Ausdruck kommende Persönlichkeit abgestellt wird, soll der Unterschied zwischen Mensch und Tier hervorgehoben werden. Denn nach Roxin könne man zwar darüber streiten, ob Tiere zu willentlicher oder finaler Handlung fähig seien, Persönlichkeitsäußerungen seien ihre Aktionen aber nicht.166 Zur Lösung der Fälle automatisierter Handlungsweisen und Schreckreaktionen stellt er zunächst fest, dass hier auf Merkmale wie den bewussten Willen, die planvolle Steuerung oder die bewusste Überlegung nicht abgestellt werden könne.167 Hinsichtlich der Autofahrt eines Volltrunkenen bemerkt er: „[...] in welchem Maße diese Verhaltensweisen bewußt geschehen [...], ist für die Annahme einer Handlung gleichgültig.“168 Man werde diesen Fällen nicht gerecht, „wenn man sie mit den Merkmalen der Freiheit oder klaren Bewußtheit verbindet“.169 Der personalisierte Handlungsbegriff hingegen könne auch diese Fallgruppen erfassen. „Denn es liegt eine Persönlichkeitsäußerung vor, solange wir es mit den Anpassungsleistungen des seelischen Apparates an Gegebenheiten oder Ereignisse der Außenwelt zu tun haben, die Persönlichkeit läßt sich nicht auf die Sphäre taghellen Bewußtseins reduzieren.“170 Vor dem Hintergrund dieser Aussagen überrascht dann aber die Begründung des Kriteriums für Nichthandlungen: „Wenn jemand mit unwiderstehlicher _________________ 166
Siehe Roxin, StrafR AT/1, § 8, Rn. 58; vgl. auch Tröndle/Fischer, Vor § 13, Rn. 3. Siehe Roxin, StrafR AT/1, § 8, Rn. 67 f. 168 Roxin, StrafR AT/1, § 8, Rn. 70. 169 Roxin, StrafR AT/1, § 8, Rn. 71. 170 Roxin, ebd.; ähnlich Haft, StrafR AT, S. 28. 167
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Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld
Gewalt in eine Fensterscheibe gestoßen wird, wenn er im Schlaf, im Delirium, im Krampfanfall um sich schlägt, wenn er rein reflexartig reagiert, dann sind das Äußerungen, die durch Willen und Bewußtsein nicht beherrscht oder beherrschbar sind und deshalb nicht als Persönlichkeitsäußerungen bezeichnet, der seelisch-geistigen Schicht der ,Person‘ nicht zugerechnet werden können.“171 Demzufolge wäre die Feststellung einer Persönlichkeitsäußerung doch wieder von der Beherrschbarkeit durch den Willen und das Bewusstsein abhängig. Folgt man dem zuvor zitierten Vorschlag Roxins, den Handlungsbegriff von Kriterien wie dem Bewusstsein oder der Willkürlichkeit loszulösen, dann eröffnet dies aber gerade die Möglichkeit, unbewusstes oder unwillkürliches Verhalten einzubeziehen. Denn auch Roxin zufolge sind die Erscheinungsformen von Persönlichkeitsäußerungen sehr verschieden.172 Das legt indes die Frage nahe, ob beispielsweise die Krampfanfälle eines Epileptikers, die Lautäußerungen eines Menschen mit dem Tourette-Syndrom173 oder das nächtliche Umhergehen eines Schlafwandlers nicht auch Bestandteile der Persönlichkeit des Menschen sind. Das „seelisch-geistige Aktionszentrum“ schien im „Epileptiker-Fall“174 durchaus aktiv zu sein, immerhin versuchte der Angeklagte nach seinem subjektiven Erleben über einen längeren Zeitraum die Verletzung von Personen zu vermeiden. Es wäre auch als komplexe „Anpassungsleistung“ des „seelischen Apparates“ zu beurteilen, wenn dieser „Irrtum“ des Angeklagten darauf beruhte, dass ihm sein „seelischer Apparat“ Gegebenheiten „vorgaukelte“. Außerdem wird beispielsweise das Knirschen der Zähne im Schlaf oftmals als Ausdruck einer gestressten Persönlichkeit verstanden, wie das Würgen der Ehefrau im Schlaf wohl oft als Ausdruck einer gestörten Persönlichkeit aufzufassen wäre. Davon, dass hier keine „Umweltbezogenheit“ vorliege, kann bei letzterem Beispiel und auch bei einem Schlafwandler, der nachts eine Straße überquert, kaum die Rede sein. Der Begriff der „Persönlichkeitsäußerung“ erscheint daher noch klärungsbedürftig. Es bedarf insbesondere objektiv zugänglicher Kriterien, wann Verhaltensweisen der „seelisch-geistigen Sphäre“ des Menschen entspringen sollen und wann sie als „Naturwirkungen“ zu klassifizieren sind. Nach dem Gesagten ist nicht ersichtlich, dass es diesem Handlungsbegriff dabei gelingen kann, auf das Bewusstsein und den Willen zu verzichten.175 _________________ 171
Roxin, StrafR AT/1, § 8, Rn. 44. Siehe Roxin, StrafR AT/1, § 8, Rn. 75. 173 Diese Menschen fallen durch „Ticks“, insbesondere im Kopfbereich, wie plötzliche Zuckungen, Schnaufen, Schnalzen, Ausspucken oder spontane Ausrufe auf. 174 Vgl. oben, S. 102 u. 148. 175 Roxin hebt die Ausfüllungsbedürftigkeit seines Abgrenzungskriteriums allerdings als positiv hervor: Die Kennzeichnung als Persönlichkeitsäußerung biete keine Definition, aus der sich im Einzelnen logisch deduzieren ließe, was eine Handlung sei (s. StrafR AT/1, § 8, Rn. 75). 172
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Den Handlungsbegriff auch auf Verhalten zu erstrecken, das auf einer Art „unbewusstem Willen“176 beruht, schafft darüber hinaus noch weitere Probleme. Da ein unbewusster Wille vom Menschen selbst nicht wahrgenommen wird, kann er auch schwerlich von außen festgestellt werden.177 Ginge man dennoch davon aus, dass er rechtliche Relevanz entfalten könnte, dann wäre beispielsweise mit Blick auf das sogenannte tatbestandsausschließende Einverständnis auch zu überlegen, ob in manchen Fällen ein unbewusster Wille des Opfers mit dem Verhalten des Täters übereinstimmen könnte und deshalb aufgrund eines „unbewussten Einverständnisses“ der Tatbestand nicht erfüllt wäre. Gleiches gilt für die vis absoluta: Wie soll ausgeschlossen werden können, dass nicht doch ein unbewusster Wille dieses Verhalten, welches herkömmlich keine Handlung darstellt, unterstützte? Das Kriterium eines unbewussten Willens ist, wie Schewe in Bezug auf einen psychologisch angelehnten Willensbegriff im Bereich der juristischen Handlungsproblematik formulierte, „nur eine Scheinlösung – eine Möglichkeit, mit Hilfe einer Ausweitung des Willensbegriffs bis zu einer beliebigen Verwendbarkeit jede gefühlsmäßig als richtig empfundene Entscheidung verbal zu rechtfertigen und jede abweichende Auffassung unter Hinweis auf die ,tiefer‘ angesetzte ,Bewußtseinsschwelle‘ abzutun“.178 Nach Arthur Kaufmann, dem „geistigen Vater“ der personalen Handlungslehre, soll sich in unbewussten Verhaltensweisen die „Würde des Personalen“179 niederschlagen. Er unterscheidet zunächst zwischen vier realen Welten: Der Welt der Materie, wozu anorganische Dinge zählen, des Lebens im Sinne einer organisch-vegetativen Welt, zu der die Pflanzen gehören, der Seele, als der Welt des animalischen, sensitiven, aber auch des sinnlichen Bewusstseins, zu der die Tierwelt zählt und schließlich der Welt des Geistes, die durch Sinnhaftigkeit, Geistigkeit und reflexives Bewusstsein geprägt ist und nur vom Menschen erfahren werden kann.180 Die Welten stellen dabei ein Schichtenmodell dar, das hierarchisch aufgebaut ist, so dass die jeweils höhere Schicht die darunterliegenden in sich vereint, während es von den unteren Ebenen keinen Zugang zu den höheren gibt.181 Da die geistige Welt gleichsam die höchste _________________ 176 So dürfte Roxins Kritik am Erfordernis eines „bewußten Willensanstoßes“ (StrafR AT/1, § 8, Rn. 12) beim naturalistischen Handlungsbegriff zu verstehen sein. Ähnlich aber auch Welzel, ZStW 60 (1941), S. 435 ff. 177 Damit mag dieser Willensbegriff philosophisch oder psychologisch diskutiert werden (vgl. Binding, Normen, Bd. 2/1, S. 304 ff. m. w. N.), in der Rechtspraxis ist er ein wenig taugliches Konstrukt. Kritisch auch Koriath, Zurechnung, S. 639. 178 Schewe, Reflexbewegung, S. 52. 179 Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 101. 180 Siehe Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 98. 181 Siehe Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 99. Der „geistige Vater“ dieses Schichtmodells wiederum ist Aristoteles (s. Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 79 ff.).
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Stufe darstellt, ist für Tiere sinnhaftes Verhalten nicht möglich, während der Mensch das materielle, pflanzliche, tierische und geistige in sich vereint. Es ist daher nach der These Arthur Kaufmanns für den Menschen möglich, auf den verschiedenen Ebenen zu agieren. Die Fälle der vis absoluta, in denen der Mensch bewegt wird, entspringen dabei der materiellen Welt, Reflexbewegungen sind der Welt des organisch-vegetativen zuzuordnen, die Verhaltensweisen eines Schlafwandlers oder eines Hypnotisierten der animalischen Welt.182 Da diesen Aktionen das Moment der Verantwortlichkeit, der Freiheit, mithin das personale Element fehle, stellten sie keine Handlungen dar. Andererseits setze Personenhaftigkeit nicht das tatsächliche Vorhandensein, sondern lediglich die Fähigkeit, Potenz, latente Anlage zur geistigen Selbstverfügung voraus: „Diese ,existenzielle Freiheit‘ ist es, die die sittliche Verantwortlichkeit des Menschen begründet.“183 Wenn aber bereits die „Anlage zur geistigen Selbstverfügung“ eine Verantwortlichkeit des Menschen begründet und diese Anlage zweifelsfrei auch in den Fällen der vis absoluta, der Reflexe und des Schlafwandlers vorliegt, erklärt sich nicht von selbst, warum es in diesen Fällen an der Verantwortlichkeit fehlen soll. Das Verhalten sei hier „nicht Objektivation der Person des SichVerhaltenden“.184 Zur Klarstellung greift Arthur Kaufmann auf die Lehre Ernst Amadeus Wolffs zurück und kennzeichnet den personalen Handlungsbegriff dadurch, dass die Wirklichkeit durch die Entscheidung einer Person gestaltet werde.185 Damit bildet aber die Möglichkeit im konkreten Fall und nicht lediglich die Fähigkeit oder Anlage zur Entscheidung das Abgrenzungskriterium zwischen Handlungen und Nichthandlungen. Denn nicht über die Anlage zur geistigen Selbstverfügung, sondern nur aufgrund einer tatsächlich vorhandenen Möglichkeit hierzu könnte die Wirklichkeit ja nur gestaltet werden. Den unbewussten Verhaltensweisen nähert sich Arthur Kaufmann mittels der Psychoanalyse, weil sie das Unbewusste als menschliche Antriebsschicht erkannt habe, es in der postfreudschen Ära schließlich seines animalischtriebhaften Charakters entkleidet und damit zum Spezifikum des Menschen erhoben habe.186 Arthur Kaufmann bezeichnet es in Anlehnung an Freud denn auch als „Unterbewusstes“, „weil dieser Begriff wohl am besten zum Ausdruck bringt, daß es sich hier um diejenige seelische Schicht, oder besser vielleicht: seelische Funktion handelt, die so unmittelbar unter der Schwelle des Wachbe_________________ 182
Siehe Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 100. Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 101. 184 Arthur Kaufmann, ebd. 185 Siehe Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 101. 186 Siehe Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 109. 183
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wußtseins liegt, daß sie in dieses heraufgehoben werden kann“.187 „Denn was aus dem Unterbewußten heraus geschieht, ist bewußtseinsfähig, kann bewußt gemacht und daher vom Willen beherrscht werden. Nicht allein diejenigen Kausalverläufe sind dem Menschen als Handlungen zurechenbar, die von ihm gewußt und von seinem Willen tatsächlich beherrscht waren, sondern auch solche, die als mögliche Gegenstände seines Bewußtseins durch seinen Willen beherrschbar waren.“188 Zusammenfassen lässt sich Arthur Kaufmanns Lehre damit wie folgt: Die menschliche Handlung muss auf einer Entscheidung beruhen, die mithilfe des bewussten Willens ausgeübt wird. Da das Bewusstsein aber nur erfassen kann, was eben bewusst ist, muss der Wille auch das Unbewusste bewusst machen. Wie er das nun aber machen soll, bleibt, wie bei Stratenwerth und Roxin, ungeklärt. Auch wenn Arthur Kaufmann durch den Ausdruck „unterbewusst“ versucht, es als quasi „halbbewusst“ darzustellen, bleibt dessen wesentliches Merkmal, dass es gerade nicht bewusst ist. Der Grund, warum diese Vorstellung so schwer eingängig ist, liegt darin, dass niemand jemals unbewusste Vorgänge erleben kann. Wenn sich Arthur Kaufmann auf seine Frage „Wie aber kann man feststellen, daß ein Kausalverlauf für einen Menschen, der ihn sich nicht bewußt gemacht hat, beherrschbar war?“189 selbst antwortet: „Wir haben hier kein anderes Mittel als unsere Erfahrung“190, dann ist dies schwer nachfühlbar, denn einerseits kann das Unbewusste gerade nicht erfahren werden, weil es dann bewusst wäre, und andererseits kann ex post auch nicht durch Erfahrung festgestellt werden, dass etwas beherrschbar war. Zwar mögen rationale Rückschlüsse zu dieser Feststellung Anlass geben; die Erfahrung selber vermag hier aber nichts mit Gewissheit festzustellen. Die Aussagen Arthur Kaufmanns sind deshalb weder beweisbar noch erfahr- oder erlebbar. Es bleibt als Quintessenz festzuhalten, dass psychoanalytische Modelle zwar gewisse Erklärungsansätze bieten können, aber kaum geeignet erscheinen, dem Richter Beurteilungskriterien bei der Frage der Handlungsqualität an die Hand zu geben.
e) Der kognitive Handlungsbegriff Kargls Im ersten Teil dieser Arbeit wurden die wesentlichen Voraussetzungen der kognitiven Straftheorie Kargls bereits erörtert.191 Die für den Handlungsbegriff _________________ 187
Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 110. Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 112. 189 Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 113. 190 Arthur Kaufmann, ebd. 191 Siehe oben, S. 62. 188
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entscheidenden Elemente sollen diesen daher nur hinzugefügt werden. „Der kognitive Handlungsbegriff versteht Handeln als Entscheidungsverhalten, das zustandsdeterminiert und dennoch verantwortlich ist.“192 Die Verantwortlichkeit ergibt sich aus der Fähigkeit des Individuums, auf der Basis seines affektlogischen Bezugssystems Entscheidungen zu treffen. Werde der Willensakt als psychophysiologischer Vorgang gewertet, so spricht nach Kargl nichts dagegen, auch tierisches Verhalten einzubeziehen. Es müssten daher überwiegend die kognitiven Möglichkeiten des Menschen sein, wozu die Fähigkeit zähle, (strukturdeterminierte) Entscheidungen zu treffen, die es ermöglichten, den Handlungsbegriff auf menschliches Verhalten zu begrenzen.193 Die Grenze zwischen Handlung und Nichthandlung sieht Kargl „zwischen erlerntem und angeborenem Verhalten bewußtseinsbegabter Lebewesen“ gezogen.194 Das angeborene oder instinktive Verhalten resultiere aus den immensen Zeiträumen der Phylogenese der Spezies.195 „Die angeborenen Bewegungsmuster entziehen sich also den Lernprozessen des Menschenlebens und sind daher nicht durch Selbstbeobachtung veränderbar. Das macht es aus, daß für ,instinktives‘ Verhalten keine ,Rechenschaft‘ verlangt werden kann.“196 Als Beispiele führt er das Lächeln, Lachen und Weinen an und gelangt sodann zu dem Schluss, man täte gut daran, für den menschlichen Bereich mit der Bezeichnung des Instinktverhaltens äußerst zurückhaltend zu sein, denn sehr viel mehr Beispiele für rein instinktgebundenes Verhalten ließen sich bezeichnenderweise gar nicht anführen. In Anbetracht dieser Schwierigkeiten und der „sozio-kulturellen Überformung“ des ursprünglich phylogenetisch festgelegten Verhaltensrepertoires sei es nicht ratsam, die Beurteilung der Zurechenbarkeit von der Ebene des Tatbestands zu abstrahieren.197 Da Kargl der (strukturdeterminierten) subjektiven Entscheidung Einfluss auf das Verhalten zuschreibt und nach seiner Ansicht Entscheidungen ihrerseits wesentlich vom Wissen des Menschen abhängen, macht das Wissen und nicht das Wollen die für das Strafrecht relevante Handlungsqualität aus. Eine Reduktion auf das Wollen müsste dagegen auch das tierische Verhalten umfassen. Die Feststellung der Handlung verlagert sich damit in den subjektiven Tatbestand. Hier lasse sich – notfalls mit gutachterlicher Hilfe – bestimmen, ob die Reaktion der kognitiven Kontrolle unterliege und damit zugerechnet werden könne, was wesentlich durch das vorangegangene Geschehen bestimmt werde. Ob es sich bei den Spontanreaktionen um Handlungen handelt, lasse sich daher erst _________________ 192
Kargl, Handlung und Ordnung, S. 526. Siehe Kargl, Handlung und Ordnung, S. 534. 194 Siehe Kargl, Handlung und Ordnung, S. 531. 195 Siehe Kargl, Handlung und Ordnung, S. 532. 196 Kargl, ebd. 197 Siehe Kargl, ebd. 193
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auf der Ebene des subjektiven Tatbestands klären.198 Im Gegensatz zu den meisten der vorangegangenen Handlungslehren verzichtet Kargl zwar auf den Willen als Abgrenzungskriterium; zu beachten ist aber, dass auch die kognitive Kontrollierbarkeit ein geistiges Moment darstellt, dem eine unbewiesene Beeinflussung der neuronalen Strukturen zugeschrieben wird, die dann ihrerseits das Verhalten auslösen.
f) Der funktionale Handlungsbegriff Jakobs’ Jakobs sieht die automatisierten Verhaltensweisen als genuin von seinem Handlungsbegriff miterfasst an.199 Die strafrechtliche Verantwortlichkeit sei davon abhängig, ob der Automatismus selbst motivatorisch aufhebbar sei, durch einen bewussten Willensakt in seinem Ablauf gestört werden könne oder in der Situation selbst unvermeidbar sei. Im ersten Fall, der die Möglichkeit zur Bildung einer Gegenmotivation im Vorfeld der Verhaltensweise voraussetzt, kommt Jakobs zu dem Ergebnis, dass bei unterlassener Gegenmotivation in der automatisierten Verhaltensweise selbst eine Handlung zu erblicken sei, wenn diese durch die Bildung der Gegenmotivation vollständig ausgeblieben wäre. So müsse ein Autofahrer bei Glatteis behutsam die Bremse betätigen, wenn vor ihm gebremst wird, auch wenn er bei normalen Witterungsverhältnissen automatisch kräftiger bremsen würde. Im zweiten Fall gehe es um nur-motivatorisch nicht aufhebbare Automatismen, deren Folgen jedoch durch eine Handlung verhindert oder abgeschwächt werden könnten. Insoweit sei der Automatismus selbst zwar keine Handlung, der Anknüpfungspunkt strafrechtlicher Verantwortlichkeit werde aber auf die den Ablauf potentiell störende Handlung verlegt. Als Beispiel nennt er den Fall eines Autofahrers, dem bei hoher Geschwindigkeit ein Kleintier vor das Auto läuft. Dieses könne jedenfalls ein Fahrer, der erstmals in eine solche Situation gerate, kaum ohne bewusstes krampfhaftes Einhalten der Fahrtrichtung überfahren. Das Nicht-Einhalten der Fahrtrichtung komme dann als strafbares Unterlassen in Betracht. Ist der Automatismus schließlich selbst unvermeidbar, weil er bereits abläuft, bevor das Subjekt die Situation oder die Fehlerhaftigkeit der automatischen Reaktion in der Situation wahrgenommen hat, dann sei weder der Automatismus Handlung noch sei das Ausbleiben einer paralysierenden Handlung eine Unterlassung. Gleichwohl komme hier eine Verantwortlichkeit aufgrund der Übernahme der Situation in Betracht.200 Diese Aufteilung wirkt auf den ersten Blick schlüssig. Die strafrechtliche Überprüfung muss aber zunächst die Vermeidbarkeit in den _________________ 198
Siehe Kargl, Handlung und Ordnung, S. 533 ff.; siehe dazu unten, S. 221. Siehe Jakobs, StrafR AT, 6/27. 200 Siehe Jakobs, StrafR AT, 6/38, 39; vgl. auch ders., Studien, S. 78 f.; ablehnend LK-Jähnke, § 20, Rn. 1. 199
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Blick nehmen; erst hiernach kann eine Aussage darüber getroffen werden, ob der Automatismus als Handlung in Betracht kommt. Problematisch ist der empirische Gehalt der Voraussetzungen dieses Handlungsbegriffs, denn es fehlt an einer Erklärung, wie automatische Impulse aufgehoben und von wachbewussten Steuerungsmaßnahmen übernommen werden können.201 Da Jakobs auf die für einen Motivationsprozess notwendige Zeitspanne verweist202, knüpft er insoweit an konkrete psychophysiologische Möglichkeiten des Menschen an. Diese muss der Handlungsbegriff Jakobs’ berücksichtigen, da innerhalb jener Zeitspanne die kognitiven Möglichkeiten eingeschränkt sein sollen. Kann aus einem solchen Grunde das Unrecht nicht vermieden werden, müsste dies damit korrespondieren, dass die Erwartungshaltung der Gesellschaft, die Norm werde eingehalten, in solchen Fällen ausbleibt oder jedenfalls „kognitiv erledigt wird, der Täter also für nicht zuständig gehalten wird, die ihn durchlaufenden, objektiven Verhaltensbedingungen umzuformen [...]. Bei dieser Sicht scheint der Täter einen Sinn zu entwerfen; genauere Analyse zeigt freilich, daß der maßgebliche Grund etwas ist, was Sinn ausschließt: Krankheit oder sonstige Gewalt.“203 In diesen Fällen wird demzufolge auch die Geltung der Norm nicht in Abrede gestellt. Ob dieser Handlungsbegriff geeignet ist, automatisierte Verhaltensweisen zu erfassen, wird sich erst im Rahmen der nachfolgenden Prüfungsschritte erweisen.
3. Zusammenfassung Für die Problematik der automatisierten Verhaltensweisen konnten folgende Erkenntnisse gewonnen werden: Der naturalistische Handlungsbegriff vermag unwillkürliche Verhaltensweisen nur mittels einer Ausdehnung des Begriffs der „Willkürlichkeit“ über die einzelne Körperbewegung hinaus auf das Ziel der Handlung zu erfassen. Damit sind, wie beim finalen Handlungsbegriff Welzels, jedoch nur diejenigen unwillkürlichen Bewegungen erfasst, die mit einem vorangegangenen Entschluss in Zusammenhang stehen. Da den Spontanreaktionen kein bewusster Entschluss vorangeht, vermögen diese Handlungsbegriffe wie auch die auf bewusste Kenntnis abstellende symptomatische Handlungslehre diese Reaktionen nicht als Handlungen aufzufassen. Der finale Handlungsbegriff Stratenwerths verlagerte die Problematik in die unzugängliche Ebene der Willensfreiheit, indem erst auf der Ebene der Zurechnung die Möglichkeit der _________________ 201
Vgl. bereits die Kritik im ersten Teil dieser Arbeit, S. 58 ff. Siehe Jakobs, StrafR AT, 6/38; dazu ausführlich unten, S. 191 ff. 203 Jakobs, Handlungsbegriff, S. 42; mit „Entwurf von Sinn“ meint Jakobs hier den im Täterverhalten manifest gewordenen Ausdruck einer Norm, die von der rechtlich geforderten Verhaltensnorm abweicht, zu dieser also den Entwurf eines normativen „Gegensinnes“ darstellt. 202
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bewussten Übernahme einer unbewussten Bewegung geprüft werden soll. Um die Spontanreaktionen vom Handlungsbegriff umfassen zu lassen, unterstellt Stratenwerth einerseits, dass Automatismen grundsätzlich auch bewusst vollzogen werden können, und andererseits, dass sie „erlebnismäßig bedingt“ erfolgen. Dagegen bedient sich Schewe einer rein äußeren Finalität zur Bestimmung dessen, was eine Handlung ist, und kann damit zwar auch automatisierte Verhaltensweisen einbeziehen, liefert aber keinen wissenschaftlichen Zugewinn bei der Abgrenzung von Handlung und Nichthandlung und vermag auch die Erforderlichkeit eines eigenständigen Handlungsbegriffs nicht zu begründen. Engisch stellt seinen Handlungsbegriff auf den Boden relativer Freiheit, wobei er die Fähigkeit zur geistigen Verhaltenssteuerung voraussetzt. Ob eine Handlung gegeben ist, beantwortet sich mit Feststellung der situativen und konstitutionellen Zwangswirkungen, die hier innerhalb der Überprüfung der Vermeidbarkeit vorgenommen werden soll. Auch Maihofer geht mit seinen Kriterien der objektiven Beherrschbarkeit und objektiven Voraussehbarkeit davon aus, dass menschliches Verhalten geistig kontrollierbar ist. Diese Voraussetzungen lassen sich ebenso wie die des Handlungsbegriffs von Engisch bei der Prüfung der Vermeidbarkeit aufgreifen. Die Frage, was Menschen möglich ist, berührt auch die Konzepte Kargls und Jakobs’. Bei Kargl stehen die individuellen Möglichkeiten des einzelnen affektiven Bezugssystems im Vordergrund. Die neuronalen Strukturen würden dabei auch durch vorangegangene subjektive Entscheidungen verändert, wodurch das Bezugssystem prinzipiell auf gesellschaftliche Erwartungshaltungen reagieren könne. Damit nimmt Kargl den Einfluss subjektiver Entscheidungen auf das Verhalten jedoch ebenso vorweg wie Jakobs, der seinerseits wenig Erklärungen für die motivationsbildenden Fähigkeiten des Individuums bietet, obwohl er diese auf teilweise empirischen Boden stellt. Dafür liefert Jakobs ein differenziertes System zur Behandlung automatisierter Verhaltensweisen, das in den folgenden Kapiteln genauer untersucht werden soll. Von der personalen Handlungslehre Roxins und Arthur Kaufmanns werden „unterbewusst“ ablaufende Verhaltensweisen als Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit angesehen und die Problematik der Handlungsqualität vortatbestandlich aufgegriffen. Die Fähigkeit zu geistiger Steuerung wie auch die Möglichkeit zur bewussten Übernahme der „unterbewussten“ Verhaltensweisen wird durch das Berufen auf philosophische und psychoanalytische Modelle, schließlich auf subjektive Erfahrungen jedoch nicht nachweisbar gemacht. Zudem lässt sich aus der personalen Handlungslehre wie auch aus dem Handlungsbegriff Schewes nicht logisch ableiten, was im Einzelfall eine Handlung und was eine Nichthandlung darstellt.
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Indem Michaelowa bei seiner Zwangstheorie den Rechtsgüterschutz in den Vordergrund der Überlegungen rückt, verlagert sich der Schwerpunkt seiner Betrachtung zunächst vom Handlungs- zum Erfolgsunrecht.204 Damit umgeht er die mit dem Handlungsstrafrecht aufgekommene Problematik der Willensbetätigung zunächst und begegnet ihr erst bei der Frage der Sinnhaftigkeit einer Bestrafung wieder. Einem solchen Handlungsbegriff, der unabhängig von geistiger Tätigkeit jede „menschliche Seinsäußerung“ umfassen soll, gelingt es damit ohne Rückgriff auf philosophische, kognitionspsychologische oder psychoanalytische Modellvorstellungen und die damit verbundenen Beweisschwierigkeiten, auch die automatisierten Verhaltensweisen insgesamt zu erfassen. Mit diesem Handlungsbegriff müsste jedoch die Abgrenzung von Handlungen und Nichthandlungen, wie sie bisher vorgenommen wurde, aufgegeben werden.
IV. Konsequenzen für den Schuldbegriff Arthur Kaufmann bestätigt Roxin in der Kritik an Welzel: Dieser begehe selbst den „naturrechtlichen Zirkelschluß“ – all das, was der naturrechtliche Denker für richtig und wünschenswert halte, habe er zuvor (stillschweigend) in seinen Naturbegriff vom Menschen hineingelegt, ehe er es zur Begründung seiner Überzeugung wieder heraushole. Das tue er, so Arthur Kaufmann, indem er die „Natur“ der menschlichen Handlung gleich einem Zauberhut zunächst mit Dingen versorge, die er ihm hinterher wieder entlocke.205 Wenn es auch nicht immer der Vorsatzwille ist, den Arthur Kaufmann dabei im Blick hatte, so wurde doch aufgezeigt, dass bis auf die Handlungsbegriffe Schewes und Michaelowas alle Handlungslehren die Fähigkeit zur Steuerung der Bewegung durch geistige Tätigkeit voraussetzen und dass zur Begründung dieser These unterschiedlichste Modellvorstellungen herangezogen werden. An der Veränderung der Begriffe vom Willen über das Bewusste, Unbewusste, Unterbewusste bis zum Kognitiven wird dabei der Einfluss fachfremder Erkenntnisse zur Unterstützung dieser These deutlich, der sich von der Philosophie über die Psychologie und die Psychoanalyse bis hin zur Kognitionswissenschaft erstreckt. Weder durch die Übertragung dieser Erkenntnisse in die Rechtswissenschaft zur Formulierung eines positiven Handlungsbegriffs noch durch Spezifizierung von Ausschlussfaktoren wird jedoch der Nachweis dieser Fähigkeit des Menschen erbracht. Wird bei den sogenannten Nichthandlungen ein Ausschluss der Möglichkeit zur Handlungssteuerung durch geistige Tätigkeit angenommen, _________________ 204
Was jedenfalls mit Blick auf den in § 23 Abs. 3 StGB gesetzlich verankerten sog. „untauglichen Versuch“ nicht unproblematisch erscheint. 205 Siehe Arthur Kaufmann, H. Mayer-FS, S. 83.
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muss diese Möglichkeit aber bei den Handlungen positiv gegeben sein. Selbst wenn man in der Abgrenzung von Handlung und Nichthandlung eine rein normative Entscheidung sieht, darf diese nicht willkürlich ausfallen. Zwar könnte man den rechtlichen Nachweis auf das Vorliegen der Ausschlussfaktoren beschränken; diese lassen sich aber aufgrund des Elements der Willenssteuerung, wie aufgezeigt, weder allein durch den Richter selbst noch mithilfe empirischer Methoden feststellen. Durch die Ausschlussfaktoren sowohl auf der Handlungs- als auch auf der Schuldebene wird aber auch verdeutlicht, dass es von der Annahme der Fähigkeit zu geistiger Verhaltenssteuerung bis zu einem gegen den Willen gerichteten Vorwurf nicht weit ist.206 Dagegen ist ein gegen den Willen gerichteter Vorwurf nur schwer zu rechtfertigen, wenn der Wille für das Verhalten als nicht ursächlich angesehen wird. Denn wenn deshalb die Kategorie einer handlungskausalen Willensbetätigung entfiele, dann bräche auch die Brücke zur Willensfreiheit als Handlungsbedingung – und damit die zur moralischen Verantwortlichkeit.207 Es werden also nicht nur bei Welzel Voraussetzungen der Schuld in den Handlungsbegriff verlagert.
Kapitel 2
Vermeidbarkeit I. Vorüberlegungen Im vorangegangenen Kapitel hat sich gezeigt, dass die meisten Handlungslehren sich darum bemühen, Verhaltensweisen, die gemeinhin als unvermeidbar gelten, bereits frühzeitig aus der strafrechtlichen Prüfung ausscheiden zu lassen. Ob die automatisierten Verhaltensweisen zu diesen „Nichthandlungen“ gehören, ist nach Auffassung des überwiegenden Teils der Literatur nicht abschließend geklärt.208 Insbesondere bei den Spontanreaktionen, also den automatisierten Verhaltensweisen, die eine unmittelbare Reaktion auf ein überraschendes Ereignis sind, ist die Vermeidbarkeit zweifelhaft. _________________ 206
So äußert auch F. Kaufmann: „Vielmehr ist in dem Begriff der Handlung bereits die Beziehung auf ein psycho-physisches Subjekt, das mit Rücksicht auf die psychische Komponente nicht als solches wahrnehmbar ist, mitgemeint und das psychologische Urerlebnis der ,Entstehung‘ der Handlung in der Psyche des Handelnden führt schon auf den tiefsten Stufen des Denkens zu einer primitiven Zurechnung, wonach alles Angenehme seinen Ursprung in den guten Geistern, alles Unangenehme seinen Ursprung in bösen Geistern habe“ (Grundprobleme, S. 66). 207 Vgl. dazu im ersten Teil, S. 29 ff. 208 Vgl. oben, Teil 2, Kap. 2, Fn. 79.
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Die Frage, ob ein Verhalten vermeidbar war, wird erneut relevant, wenn die Vermeidbarkeit des Erfolges untersucht wird. Denn tritt das den Erfolg herbeiführende Verhalten mit Zwangsläufigkeit ein, kann also der Täter das Verhalten nicht „vermeiden“, unterdrücken oder, im Falle eines gebotenen Handelns, ausführen, dann gilt auch der hierdurch verursachte Erfolg als unvermeidbar und somit als dem Täter nicht zurechenbar. Am Beispiel der automatisierten Verhaltensweisen, insbesondere der Spontanreaktionen, sollen auch hier wieder empirische Voraussetzungen und ontologische Annahmen herausgearbeitet werden, die dem Begriff der Vermeidbarkeit im Strafrecht zugrundeliegen. Dabei können Voraussetzungen und Annahmen variieren, je nachdem, welches Verhalten in den Blick genommen wird, das unmittelbar den tatbestandlichen Erfolg herbeiführende oder ein vorhergehendes. Anhand bereits erörterter Fallbeispiele sollen zunächst die Möglichkeiten diskutiert werden, Spontanreaktionen über das ihnen vorgelagerte und das ihnen unmittelbar nachfolgende, dem Erfolg aber noch vorangehende Verhalten strafrechtlich zu erfassen. Anschließend werden die Spontanreaktionen selber auf ihre Vermeidbarkeit hin überprüft; dabei werden die von der Rechtsprechung anerkannten Reaktionszeiten im Straßenverkehr zur genaueren Klärung hinzugezogen.
1. Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens In Fällen automatisierten Verhaltens kann nach Jakobs Anknüpfungspunkt für eine tatbestandliche Vorverlagerung die Übernahme der Situation sein.209 Dabei ist zu beachten, dass es um die (willkürliche) Herbeiführung der für die (unwillkürliche) Verhaltensweise konstitutiven Faktoren geht, nicht um die Beherrschbarkeit der automatisierten Verhaltensweise selbst, eine Differenzierung, die, wie an einem Beispiel von Herzberg deutlich wird, auch bei den unumstrittenen Fällen der sog. „Nichthandlungen“210 üblich ist211: „Ein Epileptiker, der für einen bestimmten Zeitpunkt einen Anfall vorhersieht, muß sich danach richten, wenn er in Porzellanläden geht. Zwar kann er zur Zeit des Anfalls nicht vermeiden, was von ihm ausgeht, aber er kann und muß Vorsorge treffen.“212 _________________ 209 Für eine Vorverlagerung auch Noll, GA 1970, 179 f.; SK StGB-Rudolphi, Vor § 1, Rn. 20 m. w. N. Die Vorverlagerung begrenzend auf unbewusste Fehlleistungen, die im engen Zusammenhang mit der vorangegangenen willentlich hervorgerufenen Ausgangssituation stehen, Boehm, Fehlleistungen, S. 110. 210 Dazu oben, S. 143 ff. 211 Wegen des bei Begehung der Tat erforderlichen Vorsatzes dagegen problematisch in Fällen der sog. vorsätzlichen actio libera in causa. 212 Herzberg, Unterlassung, S. 181 f.
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Hilfsweise gingen auch die Oberlandesgerichte in dem bereits geschilderten „Fliege-“ und im „Kleintier-Fall“213 auf das Vorverhalten der jeweiligen Angeklagten ein; sie stellten einerseits die Möglichkeit einer gesteigerten Aufmerksamkeit schon vor dem jeweils unfallverursachenden Ereignis fest und postulierten andererseits eine entsprechende Sorgfaltspflicht seitens der Angeklagten. Das Oberlandesgericht Hamm führt im „Fliege-Fall“ hierzu aus: „Nicht nur, daß bei Fahren mit offenem Fenster immer wieder mit dem Hereinfliegen von Fremdkörpern zu rechnen ist und sich der Fahrer dementsprechend darauf einzustellen und darauf zu achten hat, daß er nicht überreagiert [...]; auch hätte gerade dann, wenn sich die Angekl[agte] noch relativ unerfahren fühlte und daher über ihr Reaktionsverhalten in überraschenden Situationen noch nicht völlig sicher sein konnte, besonderer Anlaß für gesteigerte Konzentration und Selbstkontrolle bestanden.“214 Und das Oberlandesgericht Frankfurt ist im „Kleintier-Fall“ der Meinung, „daß die Vergegenwärtigung von Vorkommnissen dieser Art vor Fahrtantritt oder spätestens bei Einbruch der Dunkelheit die Reaktionsbereitschaft der Angekl[agten] verbessert und damit eine Schreckreaktion verhindert oder doch so abgeschwächt hätte, daß die Angekl[agte] dann verkehrsgerecht reagiert haben würde“.215 Von dem Umstand abgesehen, dass das Handlungsunrecht hier ohnehin schon einem Bereich entnommen wird, der möglicherweise als „erlaubtes Risiko“ bezeichnet werden könnte216, wird man nicht in jedem Fall automatisierter Verhaltensweisen ein pflichtwidriges Vorverhalten annehmen können. So lehnte der Bundesgerichtshof im Fall des Kriminalhauptmeisters217 entgegen der Ansicht der Vorinstanz ein Vorverschulden ab. Der Kriminalhauptmeister habe zwar vor dem tödlichen Schuss seine Waffe zum Schutz vor Entwendung aus dem Halfter genommen und während der körperlichen Auseinandersetzung mit dem Angreifer in der Hand gehalten, wodurch er eine Situation geschaffen habe, die die Möglichkeit eröffnete, dass sich bei der Auseinandersetzung ein Schuss lösen konnte. Hierzu hätte es jedoch auch kommen können, wenn er den Griff des Angreifers nach der Waffe durch Anwendung unmittelbaren Zwangs abzuwenden versucht hätte. Der Kriminalhauptmeister habe damit rechnen dürfen, dass ihm „die Waffe im Verlauf der Auseinandersetzung gegen seinen Willen aus dem Holster gelangte.“218 Nicht alle automatisierten Verhaltensweisen, durch die unmittelbar ein strafrechtlicher Erfolg herbeigeführt wird, lassen sich im Falle ihrer Unvermeidbar_________________ 213
Siehe oben, S. 160. OLG Hamm JZ 1974, 716, 717. 215 OLG Frankfurt VRS 28, 364, 366. 216 Vgl. dazu auch unten, S. 228 (Fn. 381). 217 Siehe oben, S. 147. 218 Siehe BGH – 2 StR 329/84 v. 20.6.1984, S. 5 (unveröffentlicht). 214
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keit also über ein Vorverschulden „auffangen“, wie dies teilweise auch durch Erweiterungen des Handlungsbegriffs versucht wird.
2. Nachträgliche Kontrollübernahme Diskutiert wird auch, ob der Mensch mithilfe seines Bewusstseins die Kontrolle über eine automatisch eingeleitete Verhaltensweise unmittelbar übernehmen kann. Müller-Limroth und Schneble zufolge wird bei einem Automatismus der Handlungsauslösungsvorgang in ein tiefer im Gehirn liegendes Gebiet verlagert. „Sobald aber über die Sinnesorgane eine Änderung in der Verkehrssituation oder am Fahrzeug signalisiert wird, dann wird die Handlungsauslösung sofort wieder von der Großhirnrinde übernommen.“219 Nach Spiegel kann das Bewusstsein auf die eingeleitete Reaktion als eine Art „Korrektiv“ einwirken.220 Es kommt damit auch die Möglichkeit eines Vorwurfs unterlassener nachträglicher Kontrollübernahme in Betracht. Problematisch ist jedoch, dass es aufgrund einer automatischen Reaktion wie im „Kleintier-Fall“ und im „Fliege-Fall“ schnell zu einem generellen Kontrollverlust über das Fahrzeug kommen kann, dem auch mit überlegtem Handeln nicht mehr entgegenzuwirken ist. Im „Kleintier-Fall“ wird der Vorwurf des Unterlassens einer nachträglichen Korrektur der Fahrtrichtung ganz offensichtlich deshalb nicht erhoben, weil, wie das Gericht feststellt, die Stabilität der Straßenlage des PKW der Angeklagten durch die Richtungsänderung von 45 Grad stark beeinträchtigt wurde.221 Das Gericht scheint deshalb davon auszugehen, dass eine Korrektur nicht mehr möglich war. In diesem Fall kam noch hinzu, dass die Angeklagte das Tier trotz ihres Ausweichmanövers erfasst hatte, was sich zusammen mit der starken Richtungsänderung nach Ansicht des Gerichts „besonders verhängnisvoll“ auswirken musste.222 Im „Fliege-Fall“ verlor die Angeklagte nach den Feststellungen des Gerichts die Gewalt über ihren PKW, als sie auf den unbefestigten Seitenstreifen geriet, was die unmittelbare Folge der Übertragung ihrer „impulsiven“ Bewegung auf das Steuerrad war. Dass sie dadurch ins Schleudern geriet und hierdurch wiederum auf die Gegenfahrbahn, wo es zum Zusammenstoß kam, wird ihr nicht zum Vorwurf gemacht.223 Diesen Vorgang hält das Gericht offenbar für nicht willentlich beherrschbar. In beiden Fällen _________________ 219 Müller-Limroth/Schneble, BA 1978, S. 235; in diese Richtung auch Boehm, Fehlleistungen, S. 43 f. 220 Siehe Spiegel, DAR 1968, S. 285; Jakobs, Studien, S. 77. 221 Siehe OLG Frankfurt VRS 28, 365, 366. 222 Siehe OLG Frankfurt, ebd. 223 Vgl. OLG Hamm NJW 1975, 657.
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konnte den Angeklagten also nicht vorgeworfen werden, dass sie nicht korrigierend eingegriffen hatten. Noch deutlicher ausgeschlossen ist die Möglichkeit einer nachträglichen Kontrollübernahme, wenn wie im Falle des Kriminalhauptmeisters nur der Abzugshahn einer Waffe betätigt werden muss, damit der Erfolg herbeigeführt wird. Für eine Kontrollübernahme bleibt hier kein Raum. Sie ist damit ebenso wie die Vorverlagerung von einzelfallgebundenen situativen respektive normativen Erwägungen abhängig. Damit ist die Vermeidbarkeit von automatisierten Verhaltensweisen wie in den angeführten Fällen nicht nur theoretisch interessant, sondern auch von praktischer Relevanz.
II. Automatisierte Verhaltensweisen und Reaktionszeit Wegen der Ähnlichkeit der Fallgestaltungen bietet es sich für die Überprüfung der Vermeidbarkeit an, den Entscheidungen der Oberlandesgerichte Hamm und Frankfurt zu den automatisierten Verhaltensweisen Entscheidungen aus dem Bereich der sogenannten Reaktionszeiten gegenüber zu stellen. So werden die strafrechtlichen Schwierigkeiten in den jeweiligen Fällen dadurch hervorgerufen, dass sich der Mensch einer Maschine bedient, die weit weniger Zeit für das Zurücklegen einer Wegstrecke benötigt, als der Mensch mit seinen natürlichen Fortbewegungsmitteln, seinen Beinen, benötigen würde. Die mit dem Auto zurückgelegte Wegstrecke ist weiter und ein Zusammenprall mit einem Auto ist gefährlicher, so dass die Folgen einer verspäteten Reaktion ungleich gravierender sind als beim Fußgänger. Obwohl es zahlreiche automatisierte Verhaltensweisen auch außerhalb des Straßenverkehrs gibt, wird hier besonders eindringlich und folgenschwer deutlich, dass der Mensch in seinen kognitiven Fähigkeiten zeitlichen Begrenzungen unterliegt.
1. Die Reaktionszeit in Rechtsprechung und Literatur Bereits seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigt sich die Rechtsprechung mit der „Reaktionszeit“ eines Kraftfahrers im Straßenverkehr. Seit 1928 kann diese als etabliert in der Rechtsprechung angesehen werden, und seit den dreißiger Jahren hat man zahlreiche Versuche unternommen, sie zu konkretisieren.224 Diese Zeitspanne sei so zu bemessen, dass dem Kraftfahrer ex post die Möglichkeit zugeschrieben werden könne, innerhalb ihres Verlaufs die erfor_________________ 224
Zur Entwicklung der Rechtsprechung siehe Recktenwald, ZVS 1980, S. 52 f.; Dannert, DAR 1997, S. 478; s. auch RG JW 1933, 2650.
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Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld
derlichen Entschlüsse zu fassen und zu verwirklichen.225 Sie betrug nach der Rechtsprechung bis 1980226 teilweise inklusive der Bremsansprechzeit zwischen 0,6227 und 1,0 Sekunden228, im Mittel 0,7 bis 0,8 Sekunden229, wobei jedoch im Einzelfall die konkrete Gefahrenlage und Reaktionsfähigkeit des Angeklagten zu berücksichtigen waren.230 Soweit man davon ausging, dass der Angeklagte aufgrund früher Kenntnis der die Gefahrenlage begründenden Umstände oder eigenen verkehrswidrigen Verhaltens das Ereignis vorhersehen konnte231, fand daher die untere Richtgrenze von 0,6 Sekunden Anwendung.232 Die Rechtsprechung gewährte in Fällen, in denen ein unvorhersehbares Ereignis stattgefunden hatte, zusätzlich zur Reaktionszeit eine sog. „Schreckzeit“ oder „Schrecksekunde“233, auf die noch genauer einzugehen sein wird.234 Eine gewisse Zeit für die Reaktion auf eine Situationsveränderung im Straßenverkehr war jedoch unabhängig von einer Gefahrenlage immer zuzubilligen.235 Dies wird besonders anschaulich am Beispiel der Verkehrsampeln, denn auch bei der Schaltzeit zur Veränderung der Farbsignale muss die Reaktionszeit des Autofahrers Berücksichtigung finden.236 Reagiere der Autofahrer vor Ablauf seiner individuellen Reaktionszeit nicht auf ein plötzliches Ereignis, komme
_________________ 225 Siehe OLG Schleswig DAR 1961, 201; vgl. auch Luff, Der öffentliche Gesundheitsdienst 1957, S. 161. 226 Vgl. auch die Ausführungen von Recktenwald, ZVS 1980, S. 55. 227 Siehe BGH VRS 6, 193, 195; BGH VRS 11, 430, 432; vgl. auch OLG Saarbrücken VRS 34, 228, 231; im Zivilrecht wurden auch nur 0,3 Sekunden zugebilligt, vgl. BGH VRS 4, 91, 93. 228 Siehe BGH VRS 24, 202, 204; vgl. auch BGH VRS 21, 293, 296 (nicht mehr als eine Sekunde); ebenso BGH VRS 38, 44. 229 Siehe BGH VRS 19, 343, 346; BGH VRS 21, 293, 296; BGH VRS 38, 44, vgl. auch BGH VRS 34, 205, 207 (0,8 Sekunden); ebenso BGH VRS 27, 100, 102, sowie BGH VRS 27, 119, 123 (kurz bemesse Reaktionszeit von 0,7 Sekunden) und BayObLG VRS 58, 445, 447 (ohne Vorliegen besonderer Umstände grundsätzlich nicht unter 0,8 Sekunden); schließlich RG JW 1933, 2650, 2651 (Bruchteil einer Sekunde), und BGH LM § 222 Nr. 23 (0,9 Sekunden). 230 Siehe OLG Schleswig DAR 1961, 201. 231 Siehe BGH VRS 19, 108, 109. 232 Siehe BGH VRS 6, 193, 195; vgl. auch BGH VRS 27, 119 (höchstens 0,7 Sekunden). 233 Vgl. die Nachweise bei Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 2 StVO § 1 Rn. 30; vgl. auch Dannert, DAR 1997, S. 479. 234 Siehe unten, S. 196. 235 Siehe BGH LM § 222 Nr. 23; OLG Schleswig DAR 1961, 201; s. auch Recktenwald, ZVS 1980, S. 55; Dannert, DAR 1997, S. 479. 236 Siehe Spiegel, DAR 1982, S. 372; Recktenwald, ZVS 1980, S. 55.
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mangels Schuld keine Strafbarkeit in Betracht237, denn die Reaktionsfähigkeit sei vom Willen unabhängig.238 Während bis Ende der siebziger Jahre die Reaktionszeit so gemessen wurde, dass sie mit der nicht näher konkretisierten „Wahrnehmung“ der Gefahr begann, wurde ihr Beginn später als der einer „Reizdarbietung“ aufgefasst. Die Reaktionszeit unterteilte man nun in eine „Reaktionsgrundzeit“ und eine „Umsetzzeit“, an die sich die sogenannte Bremsansprech- und die Schwellzeit anschlossen. Die Reaktionsgrundzeit oder sensorisch-kognitive Reaktionszeit bezeichnet dabei nach Meyer-Gramcko die Zeitspanne, die der Mensch benötigt, um auf eine Reizdarbietung körperlich, das heißt mit Muskelanspannung reagieren zu können.239 Sie unterteilt sich wiederum in Wahrnehmungs-, Erkennungs- und Entscheidungszeit240 und soll nach Engels bereits für sich allein zwischen 0,54 und 1,13 Sekunden einnehmen. Der wahrscheinlichste Wert betrage 0,93 Sekunden.241 Die Umsetzzeit oder motorische Reaktionszeit bezeichnet die Zeitspanne zwischen dem Beginn der muskulären Reaktion und dem Beginn der Bremspedalberührung. Die Bremsansprechzeit wurde nach einer statistischen Analyse242 mit 0,05 Sekunden festgesetzt, die Schwellzeit, die bis Ende der siebziger Jahre unberücksichtigt blieb und zwischen dem Beginn der Bremswirkung und dem Beginn der Blockierzeichnung (Bremsspuren auf der Fahrbahn) liegt, sollte 0,17 Sekunden betragen.243 Auf diesen neueren Erkenntnissen aufbauende Untersuchungen von Medizinern, Psychologen, Verkehrsjuristen, Kraftfahrzeugtechnikern und Kraftfahrzeugsachverständigen ergaben Reaktionszeiten zwischen 0,6 und 1,9 Sekunden244, was dazu führte, dass die lange Zeit dominierenden und relativ konstanten „Mittelwerte“ der Rechtsprechung nicht mehr haltbar waren.245 Eine Vermeidbarkeitsuntersuchung sollte nach Spiegel denn auch unterhalb von 0,5 Sekunden gar nicht erst vorgenommen werden.246 Ebenso wie das Fahrzeug _________________ 237 So das OLG München: „Selbst der reaktionsbereite Kraftfahrer braucht eine – wenn auch geringe – Reaktionszeit von wenigstens ½ Sek. neben der Bremszeit“ (NJW 1950, 556). Vgl. auch Sch/Sch-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 216. 238 Siehe Recktenwald, ZVS 1980, S. 56. 239 Siehe Meyer-Gramcko, Verkehrunfall 1990, S. 193; ähnlich Recktenwald: „Zeitraum zwischen der Möglichkeit der Wahrnehmung eines Geschehnisses und der Verwirklichung des folgerichtigen Entschlusses“ (ZVS 1980, S. 54). 240 Siehe Meyer-Gramcko, Verkehrunfall 1990, S. 191. 241 Siehe Engels, DAR 1982, S. 362. 242 Der sog. Weibullverteilung, benannt nach Waloddi Weibull (1887–1979). 243 Siehe dazu ausführlich Engels, DAR 1982, S. 362. 244 Siehe Dannert, DAR 1997, S. 481; vgl. auch Roddewig, DAR 1983, S. 385. 245 Siehe Löhle, Verkehrsunfall 1983, S. 139. 246 Siehe Spiegel, DAR 1982, S. 368.
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nicht unmittelbar „reagieren“ kann, wird somit auch vom Menschen angenommen, dass er eine gewisse Zeitspanne für die Verarbeitung der Ereignisse und die körperliche Reaktion hierauf benötigt. Die Wegstrecke, die er zwischen (peripherer) Wahrnehmung und dem Blockieren der Kraftfahrzeugräder zurücklegt, darf ihm – soweit ihm kein Vorverschulden aufgrund von überhöhter Geschwindigkeit, verkehrsuntauglichem Fahrzeug und dergleichen zur Last fällt – nicht vorgeworfen werden.
2. Fallbeispiele im Vergleich Nach dieser kurzen Einführung in die wesentlichen Begriffe der Reaktionszeit wird nun zu überprüfen sein, ob und inwieweit sich aus ihnen Konsequenzen für die automatisierten Verhaltensweisen ergeben, die die Oberlandesgerichte Hamm und Frankfurt beschäftigten. Deren Entscheidungen sollen zwei vorher ergangene – eine des Bundesgerichtshofs und eine des Oberlandesgerichts Celle – gegenübergestellt werden.
a) „Kleintier-Fall“ versus „Jagdhund-Fall“ Nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts Frankfurt im „KleintierFall“247 fuhr die Angeklagte mit mindestens 90 km/h, das entspricht mindestens 25 m/sec, auf der Autobahn, als ihr in einem Abstand von 10 bis 15 m das Kleintier vor das Auto lief und sie unwillkürlich das Steuer verriss. Das Gericht führte zwar hilfsweise aus, dass der Angeklagten keine Schrecksekunde zuzubilligen sei und sie darüber hinaus spätestens bei Einbruch der Dunkelheit eine erhöhte Reaktionsbereitschaft hätte zeigen müssen, die eine verkehrsgerechte Reaktion ermöglicht hätte; eine konkrete Berechnung ihrer Reaktionszeit unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes erfolgte jedoch nicht. Im Ergebnis wurde die Angeklagte wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Zwei Jahre zuvor hatte der Bundesgerichtshof248 im Falle eines Autofahrers zu entscheiden, der während eines Überholvorganges auf der Bundesstraße von einem „leichten“ Jagdhund abgelenkt wurde, welcher von rechts kommend über die Straße zur Straßenmitte lief, dort kehrtmachte und wieder zurücklief. Der Angeklagte hatte den Wagen auf der rechten Fahrbahn zu diesem Zeitpunkt bereits um eine Wagenlänge überholt, befand sich jedoch noch in der Mitte der Straße. Um den Hund nicht zu überfahren, bremste der Angeklagte noch in der Straßenmitte so stark ab, dass sein Wagen nach links wegrutschte und gegen _________________ 247 248
OLG Frankfurt VRS 28, 364. BGH VRS 23, 215.
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die Vorderfront eines entgegenkommenden Autos prallte. Das Landgericht war in diesem Fall ebenso wie das Oberlandesgericht Frankfurt im „Kleintier-Fall“ zu dem Ergebnis gekommen, der Angeklagte hätte das Tier notfalls überfahren müssen. Dagegen war der Bundesgerichtshof der Ansicht, es wäre hier zu prüfen gewesen, ob dem Angeklagten für eine sachgemäße und verkehrsgerechte Reaktion genügend Zeit verblieben war. Ihm sei dabei eine Reaktionszeit sowie eine Schreckzeit zuzubilligen. Bei falschen Reaktionen innerhalb dieser Zeitspanne sei ihm kein Fahrlässigkeitsvorwurf zu machen.249 Für die Angeklagte im Kleintier-Fall des Oberlandesgerichts Frankfurt hätte eine Übertragung dieser Grundsätze einen Freispruch zur Folge haben müssen, denn ihr verblieben bei konstanter Geschwindigkeit gerade 0,4 bis 0,6 Sekunden bis zum Zusammenprall mit dem Tier. Es konnte sich damit, in dubio pro reo, nicht um eine „überlegte“ Reaktion gehandelt haben. Weil auch der hierauf zurückzuführende Verlust der Kontrolle über das Fahrzeug von der Angeklagten nicht verhindert werden konnte,250 hätte die tödliche Folge für die Beifahrerin der Angeklagten folglich ebensowenig zur Last gelegt werden dürfen.
b) „Fliege-Fall“ versus „Fahrertür-Fall“ Dem Oberlandesgericht Schleswig lag im Jahre 1960 der Fall eines Autofahrers vor, dessen Fahrertür sich in einer leichten Rechtskurve plötzlich geöffnet hatte. Der Angeklagte hatte daraufhin versucht, die Tür mit der linken Hand zu schließen, wobei sein Fahrzeug nach links abwich und schließlich mit dem Gegenverkehr kollidierte.251 Dem Oberlandesgericht zufolge hatte das Landgericht dem Angeklagten zwar eine Schreckzeit zuerkannt, kam aufgrund seiner Berechnungen jedoch zu einer Verurteilung aus Fahrlässigkeit. Das Oberlandesgericht wies dagegen auf die zusätzliche Gewährung einer Reaktions- und Bremsansprechzeit hin und führte aus, das Landgericht habe zwar festgestellt, dass der Angeklagte, als die Tür aufsprang, nach links geriet, kurz noch einmal nach rechts zurückschwenkte und dann endgültig nach links hinüber fuhr. Der Wechsel in dem kurzen verbleibenden Zeitraum von 1,7 Sekunden – Aufgehen der Tür bis zum Unfall – lasse es aber als zweifelhaft erscheinen, ob und gegebenenfalls ab wann der Angeklagte zu angemessenem Handeln fähig gewesen wäre, zumal er sich selbst dahin eingelassen habe, bei dem Versuch die Tür zu schließen, habe es sich um eine unbewusste Reaktion gehandelt.252 _________________ 249
Siehe BGH VRS 23, 215, 216. Vgl. oben, S. 190. 251 OLG Schleswig DAR 1961, 201. 252 Siehe OLG Schleswig DAR 1961, 201, 202. 250
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Dagegen finden sich im „Fliege-Fall“ des Oberlandesgerichts Hamm253 aus dem Jahre 1974 bis auf die bereits wiedergegebenen Feststellungen keine weiteren Erörterungen zu einer zeitlichen Einschränkung der Möglichkeit zur Steuerung des Verhaltens, obwohl das offene Wagenfenster nur für die Frage der Voraussehbarkeit Anhaltspunkte bietet. Ob es sich in Anbetracht des plötzlichen Auftauchens der Fliege und der Spontanität der Reaktion beim Verhalten der Angeklagten aber überhaupt um eine gesteuerte Handlung handeln konnte, und auch die Frage, ob der Vorwurf nicht gänzlich entfallen müsste, weil sich Abwehrbewegung und Kontrollverlust über das Fahrzeug unterhalb der Schwelle der Reaktionszeit abspielten, bleibt, im Gegensatz zu den Ausführungen des Oberlandesgerichts Schleswig, unerörtert. Wie im „Kleintier-Fall“ kam es auch hier zu einer Verurteilung der Angeklagten.
3. Erklärungsansätze Die Ungleichbehandlung der vorgestellten Fälle müsste aufgrund sachlicher Differenzierungskriterien erfolgt sein, um nicht unter das Verdikt der Willkür zu fallen. Es liegt nahe, auf der Suche nach diesen Kriterien oder sonstigen Gründen die Überlegungen der Rechtsprechung in weiteren Entscheidungen heranzuziehen, um ein umfassenderes Bild der Problematik zu erhalten.
a) Vorhersehbarkeit und Reaktionszeit Ein Grund für die unterschiedliche Beurteilung der Sachverhalte könnte in der Vorhersehbarkeit der Ereignisse liegen. Obgleich zwischen Reaktions- und Schreckzeit unterschieden wurde, könnten Gerichte lediglich bei einem unverschuldeten „Hineingeraten“ in die zum Unfall führenden Ereignisse gewillt gewesen sein, den Täter vom Vorwurf der Fahrlässigkeit freizusprechen. Ist die Vorhersehbarkeit erst einmal festgestellt, mag es dem Rechtsempfinden widersprechen, die Vermeidbarkeit abzulehnen, da auch die Vorhersehbarkeit eine Art „Willensschuld“ begründen könnte. Tatsächlich ist dies nichts anderes als eine tatbestandliche Vorverlagerung des pflichtwidrigen Verhaltens.254 Die Spontanreaktion selbst wird dadurch in der konkreten Situation jedoch nicht vermeidbar; die Voraussehbarkeit schließt dem Bundesgerichtshof zufolge _________________ 253
OLG Hamm NJW 1975, 657. So auch Jakobs: „Fehlt eine Vermeidbarkeit in der Situation, so kann freilich das Verhalten, mit dem das Subjekt in die Situation gekommen ist, einen Haftungsgrund abgeben (Vermeidbarkeit durch Übernahme der Situation). Mit dieser Haftung für die Übernahme ist auch zu begründen, daß bei der Bestimmung der Vermeidbarkeit eine – psychisch unvermeidbare – Schrecksekunde nicht stets berücksichtigt wird“ (StrafR AT, 6/39). 254
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lediglich die Anerkennung einer Schreckzeit aus.255 Dagegen hätte die Reaktionszeit trotz Vorhersehbarkeit aufgrund einer erhöhten Reaktionsbereitschaft nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs lediglich auf den damals unteren Richtwert von 0,6 Sekunden reduziert werden dürfen256; ein völliger Ausschluss, wie er den Entscheidungen der Oberlandesgerichte Frankfurt und Hamm zu entnehmen ist, hätte nicht erfolgen dürfen. Die Unterscheidung zwischen Reaktions- und Schreckzeit bereitete jedoch bereits dem Reichsgericht Probleme. Dannert zufolge hatte es in einem ersten Urteil aus dem Jahre 1928 die Berücksichtigung einer Reaktionszeit für notwendig erklärt. Im Jahre 1929 hatte es dann aber einem Kraftfahrzeugführer, dessen Fahrzeug mit Kindern zusammengestoßen war, und der sich auf eine „Schrecksekunde“ berief, „eine derartige Reaktionsfrist“ nicht zugebilligt, weil auf Straßen mit lebhaftem Fußgängerverkehr immer damit zu rechnen sei, dass Fußgänger vor den Wagen liefen.257 Damit war, nach Dannert, Missverständnissen Tür und Tor geöffnet. Aber auch diesbezüglich habe das Reichsgericht nach einigen missverständlichen Entscheidungen für Klarheit gesorgt. Im Jahre 1932 lag ihm ein Fall vor, in dem es die Schrecksekunde nicht zuerkannte, aber klarstellte, dass auch unter günstigen Umständen eine Reaktionszeit von wenigstens 0,4 bis 0,5 Sekunden angesetzt werden müsse, die bei ungünstigen Umständen bis zu einer vollen Sekunde betragen könne258 – eine Klarstellung freilich, die vielleicht nicht jedes Gericht erreichte und nicht alle Probleme ausräumte.
b) Aktivität innerhalb der Reaktionszeit Hierfür bietet eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1969 Anhaltspunkte. Das Gericht befasste sich mit dem Fall eines alkoholisierten Autofahrers, der von einem entgegenkommenden Fahrzeug geblendet wurde. Nach der Blendung nahm der Angeklagte unmittelbar vor sich einen dunklen Gegenstand wahr, bei dem es sich um einen Radfahrer handelte. Der Angeklagte riss daraufhin sofort sein Steuer nach links, brach diese Ausweichbewegung dann jedoch ab und lenkte unvermittelt wieder nach rechts, wodurch es zu einem Zusammenstoß mit dem Radfahrer kam. Der Leitsatz der Entscheidung lautete: „Nach Aufhören der Blendung muß der Kraftfahrer immer mit vorher _________________ 255
Siehe BGH VRS 34, 205, 207; BGH VRS 38, 119; vgl. auch BGH VRS 19, 108, 109; BGH VRS 21, 293, 295; BGH VRS 23, 369, 370; BGH VRS 27, 119, 123; OLG Celle VRS 13, 224; OLG Schleswig DAR 1961, 201. 256 Siehe BGH VRS 6, 193, 195; vgl. auch BGH LM § 222 Nr. 23. 257 Siehe Dannert, DAR 1997, S. 478. 258 Siehe Dannert, DAR 1997, S. 479.
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nicht wahrgenommenen Verkehrsteilnehmern auf seiner Fahrbahn rechnen. Eine Schreckzeit kann ihm dabei nicht zuerkannt werden.“259 Obwohl das Landgericht zuvor zu dem Ergebnis gekommen war, der Angeklagte habe den Zusammenstoß nicht vermeiden können, weil er den Radfahrer zu spät gesehen habe, ließ der Bundesgerichtshof neben einer Schreckzeit auch die Reaktionszeit außer Acht und führte lediglich aus: „Die Tatsache, daß er sein Steuer auch sofort nach links riß, zeigt, daß seine erste Reaktion durchaus situationsangemessen war.“260 Es könnte hier also von der Annahme ausgegangen worden sein, dass dem Angeklagten aufgrund seiner unmittelbaren und zunächst richtigen Reaktion keine Reaktionszeit zuzubilligen sei. Dies verwundert, da die Reaktionszeit zwar dem Autofahrer Gelegenheit zu einem überlegten Handeln geben soll, damit aber nicht per se ausgeschlossen ist, dass unwillkürliche aktive Verhaltensweisen innerhalb dieser Zeitspanne stattfinden können.261 Vielmehr liegt die Frage nahe, ob eine aktive unwillkürliche Verhaltensweise nicht ebenso wenig vorwerfbar wäre wie Passivität während der zugebilligten Reaktionszeit. Dem gehen die folgenden Überlegungen nach.
c) Reaktionszeit und passives Verhalten Eine unterschiedliche Behandlung von aktiver und passiver Verhaltensweise mit Blick auf die Reaktionszeit ließe sich dann feststellen, wenn die Aktivität, wie der vorangegangene Fall nahelegt, zu einer Verkürzung der als Reaktionszeit zugebilligten Zeitspanne führt. Hierfür sprechen die Berechnungen, die der Bundesgerichtshof in zwei Entscheidungen aus dem Jahre 1954 anstellte. In dem ersten Fall hatte der angeklagte Autofahrer eine Fußgängerin überfahren, die seine Fahrbahn überquert hatte. Er war mit einer festgestellten Geschwindigkeit von 40 km/h gefahren und hatte vor der Aufprallstelle eine vier Meter lange Bremsspur hinterlassen. Seinen eigenen Angaben zufolge hatte er die Fußgängerin erst auf eine Entfernung von etwas über vier Metern erblickt. Dieser Angabe des Angeklagten wollte der Bundesgerichtshof nicht folgen. Er errechnete stattdessen die Entfernung, aus der der Angeklagte die Fußgängerin spätestens gesehen haben müsste, indem er – unter Berücksichtigung einer Reaktionszeit von 0,9 Sekunden und der festgestellten Geschwindigkeit – zu der innerhalb der Reaktionszeit zurückgelegten Wegstrecke von 10 Metern die
_________________ 259
BGH VRS 38, 119. BGH, ebd. 261 Anerkannt in einer strafrechtlichen Entscheidung des Reichsgerichts für unbewusste Steuerbewegungen innerhalb der Schrecksekunde (s. VAE 1939, 70, 71). 260
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Bremsspur von 4 Metern hinzurechnete. Danach hätte der Angeklagte die Fußgängerin auf eine Entfernung von 14 Metern gesehen.262 Der Bundesgerichtshof schließt damit ein unwillkürliches Verhalten im Sinne eines unwillkürlich eingeleiteten Bremsvorgangs bereits während der Reaktionszeit aus. Zwar gereicht dem Angeklagten die Berechnung hier nicht zum Nachteil, sie macht aber deutlich, dass die Reaktionszeit als eine „starre“ Zeitspanne verstanden wird, während deren aktive Verhaltensweisen ausgeschlossen werden. Auch im zweiten Fall hatte der angeklagte Autofahrer eine seine Fahrbahn kreuzende Fußgängerin mit dem Auto erfasst. Der Angeklagte hatte sich mit einer festgestellten Geschwindigkeit von 40 bis 45 km/h einer von ihm wahrgenommenen Fußgängerin genähert, die sich in der Mitte der zweispurigen Straße befand. Als der Angeklagte auf 30 Meter herangekommen war, lief die vorher in der Straßenmitte verharrende Fußgängerin plötzlich auf seine Fahrbahn. Weil der Angeklagte die Fußgängerin vorher wahrgenommen hatte, ging der Bundesgerichtshof von einer Reaktions- einschließlich Bremsansprechzeit von höchstens 0,6 Sekunden aus, wohingegen die Strafkammer einen mittleren Wert von 1 Sekunde zugrunde gelegt hatte. Unter Berücksichtigung einer Bremsverzögerung von 4 m/sek² errechnete der Bundesgerichtshof hieraus einen normalen Anhalteweg von 21 bis 25 Metern. Dem Angeklagten habe aber ein längerer Anhalteweg zur Verfügung gestanden, was sich aus folgender Feststellung ergebe: „Die beiden Bremsspuren begannen 28 m vor der Fußgängerin. An dieser Stelle waren Reaktions- und Bremsansprechzeit bereits abgelaufen. Nimmt man sie mit nur 0,6 Sekunden an, so hätte der Angekl[agte] bis zum Beginn der Bremsspuren bereits 6,5 bis 7,5 m zurückgelegt, befand sich also im Augenblick der Wahrnehmung noch etwa 35 m von der Fußgängerin entfernt, bei einer Reaktions- und Bremsansprechzeit von 1 Sekunde sogar noch etwa 40 m. Gerade auf der Grundlage dieser sicheren Feststellung wird die Schuldfrage neu zu prüfen sein. Es besteht der Verdacht, daß der Angekl[agte] entweder erheblich schneller gefahren ist oder infolge einer mangelnden, ihm nach der Verkehrslage zuzumutenden und erforderlichen Bereitschaft falsch reagiert hat, mag auch das Verschulden in diesem Fall gering sein.“263 Ebenso wie bei der Entscheidung im vorangegangenen Fall machen diese „sicheren“ Feststellungen deutlich, dass von einer völligen Passivität des Angeklagten innerhalb der Reaktionszeit ausgegangen wird. Diese Berechnung gereichte dem Angeklagten jedoch zum Nachteil, wenn man, wie der Bundesgerichtshof, vermuten würde, dass der Angeklagte unzulässig lange nicht rea_________________ 262 263
Siehe BGH LM § 222 Nr. 23. BGH VRS 6, 193, 195 f.
200
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giert habe. Ebensogut könnte der Angeklagte tatsächlich zu schnell gefahren sein, was die Länge der Bremsspur auch nahelegt, dann aber gegebenenfalls unwillkürlich stark abgebremst haben, als die Fußgängerin sich in einer Entfernung von 30 Metern in Bewegung setzte. Außer der überhöhten Geschwindigkeit wäre ihm dann kein Fehlverhalten vorzuwerfen. Dagegen steht die Variante des Nichtvermeidens des Erfolges trotz frühzeitiger Gefahrerkennung schon an der Schwelle zum Vorsatzunrecht. Die Annahme einer überhöhten Geschwindigkeit würde aber voraussetzen, dass man von der Möglichkeit einer unwillkürlichen Aktivität des Angeklagten innerhalb der Reaktionszeit ausginge. Beide Gerichtsentscheidungen beruhen dagegen auf der Überlegung, ein Autofahrer bleibe innerhalb der Reaktionszeit vollständig reaktionslos. Davon ausgehend wird verständlich, warum die „situationsangemessene“ Reaktion des alkoholisierten Fahrers den Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung aus dem Jahre 1969264 zu der Annahme veranlasste, der Angeklagte habe keine Reaktionszeit benötigt, obgleich eine Kürzung der Reaktionszeit natürlich ihrerseits im Widerspruch zur Rechtsprechung von 1954 steht. Das Erzielen eines übereinstimmenden Ergebnisses war hier jedoch von vornherein ausgeschlossen.
4. Exkurs: Zivilrechtliche Behandlung von Reaktionszeiten Werden Sachverhalte aus dem Bereich der Vermeidbarkeit einer Verhaltensweise von Strafgerichten uneinheitlich gewürdigt, wirft dies immer auch die Frage auf, ob das Verhalten an sich strafwürdig ist, ob es „Schuld“ oder lediglich zivilrechtliche „Haftung“ begründet. Denn besteht Unsicherheit über das Gegebensein eines Handlungsunrechts, könnte man sich auch im Bereich bloßen Erfolgsunrechts befinden, das aber für sich genommen keine ausreichende Grundlage für den Schuldspruch bildet. Dies mag Spiegel veranlasst haben, zu den automatisierten Verhaltensweisen im Straßenverkehr zu bemerken: „Die Möglichkeit einer Nichtschuld wird gar nicht erst erwogen. Der nachträgliche Schluß aus der theoretischen Vermeidbarkeit eines Unfalls auf individuelle Schuld liegt offenbar näher.“265 Und unter Berücksichtigung anderer rechtlicher Lösungsmöglichkeiten resümiert er: „Das Zivilrecht, das nicht über Schuld, sondern über Haftung zu entscheiden hat, mag einen objektiven _________________ 264
Siehe oben, S. 197. Spiegel, DAR 1968, S. 288. Ablehnend Bockelmann, Aufsätze, S. 83 f. Ähnlich wie Spiegel aber bereits Freudenthal: „Wir erklären gar manchen für schuldig, der in der Sprache der Laien für das Geschehene ,nichts konnte‘, der gehandelt hat, wie in seiner Lage jeder gehandelt hätte“ (Schuld und Vorwurf, S. 1); und auch Luff fragt: „Entspricht die heute übliche Auslegung und Anwendung des Begriffs der Fahrlässigkeit, die als ,Schuldform‘ bei Verkehrsdelikten fast ausschließlich in Betracht kommt, noch allen modernen Lebens- und Tätigkeitsbereichen der menschlichen Gesellschaft?“ (DAR 1959, S. 90). Vgl. auch Schewe, Reflexbewegungen, S. 138 f. 265
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Schuldbegriff bilden. Die Pönalisierung aber setzt individuelle Schuld voraus. Es ist nicht nur unzulässig, im Strafrecht mit einer bloßen Schuldvermutung zu arbeiten. Es ist schlechthin rechtswidrig.“266 Andersherum gilt regelmäßig, dass die Feststellung strafrechtlicher Schuld eine zivilrechtliche Haftung nach sich zieht, was auf die unterschiedlichen Beweisgrundsätze von Zivil- und Strafrecht zurückzuführen ist. Der Umgang der Zivilgerichte mit automatisierten Verhaltensweisen im Straßenverkehr führt allerdings, entgegen der Vermutung, keineswegs immer zu strengerer Haftung als der der Strafgerichte, wie die folgenden Entscheidungen veranschaulichen. Auf der Grundlage reichsgerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen267 hat der Dritte Zivilsenat des Bundesgerichtshofs eine Haftung für die Fälle abgelehnt, in denen man ohne Verschulden in eine nicht voraussehbare besondere Gefahrenlage gerät, in der keine Zeit zu ruhiger Überlegung bleibt und infolge der Kopflosigkeit nicht die richtigen und sachgemäßen Maßnahmen getroffen werden, um einen Unfall zu verhindern.268 Auch das Oberlandesgericht Hamm führt 1994 in einem Fall, dem ein Verkehrsunfall zwischen einem die Fahrbahn kreuzenden Fußgänger und einer Autofahrerin zugrunde lag, hinsichtlich der Möglichkeit einer erfolgversprechenden Ausweichlenkung der beklagten Autofahrerin aus: „Daß sie diese unterlassen hat, ist der Erstbekl[agten] nicht als Verschulden vorzuwerfen. Denn wenn ein Kraftfahrer erkennt, daß die Weiterbewegung seines Fahrzeugs und die Bewegung eines seine Fahrbahn überquerenden Fußgängers in eine kollisionsträchtige Situation münden wird, so führt das regelmäßig zu einer ohne vielschichtige Überlegungen im Automatismus ablaufenden Abwehrhandlung, die aus zwei Komponenten besteht, nämlich einer Ausweichlenkung und einer Vollbremsung. Dabei führt regelmäßig die Richtung der Ausweichlenkung von der Eindringrichtung der Gefahr weg, und zwar aufgrund des eingeschliffenen Automatismus auch dann, wenn ein Ausweichen in entgegengesetzter Richtung für den Fußgänger die Chance vergrößern würde, durch Beibehalten seiner Gehbewegung und -richtung den Profilraum des Fahrzeugs ohne Kollision zu durchqueren. Weil eine derartige mehr oder weniger antrainierte Reaktion ,weg von der Gefahr‘, die in vielen Fällen tatsächlich unfallvermeidend wirkt, nahezu reflexartig erfolgt, gereicht es einem Kraftfahrer nicht zum Verschulden, wenn er eine Ausweichbewegung ,hin zur Gefahr‘ unterläßt, _________________ 266 Spiegel, DAR 1968, S. 293. Allerdings sieht Spiegel bei Schreckreaktionen die Handlungsqualität als gegeben an (s. ebd., S. 290). 267 RG VAE 1939, 70 f.; RG VAE 1939, 128; RG VAE 1941, 121 f.; vgl. bereits RG DAR 1935, 144, u. RG HRR 1940, Nr. 38. 268 BGH VRS 4, 91, 92; vgl. auch Bay ObLG VRS 62, 211, 212; OLG Karlsruhe VRS 74, 86, 88.
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selbst wenn diese im Einzelfall erfolgversprechender wäre.“269 Es berücksichtigte dabei eine Reaktionszeit von 1,6 Sekunden inklusive einer Blickzuwendungsdauer, die aufgrund des schlechten visuellen Kontrastes in der Unfallsituation erhöht wurde, und einer Umsetzdauer. 1996 führte wieder das Oberlandesgericht Hamm zu einem Beklagten, der einer Gruppe von Rehen ausgewichen war und deshalb mit einem Straßenbaum kollidierte, das Folgende aus: „Denn diese Reaktion des Bekl[agten] ist, wie der Sachverständige überzeugend erklärt hat, die natürliche und plausible Reaktion des Kraftfahrers in einer solchen Situation. Ein solches Verhalten eines Kraftfahrers ist [...] jedenfalls nicht fahrlässig.“270 Ohne dass eine Gefahrenlage bestand, fuhr eine PKW-Fahrerin in einem Fall des Oberlandesgerichts Düsseldorf nachts über eine rote Ampelschaltung mit drei roten Ampeln und in ein Auto hinein, das aus der bevorrechtigten Querstraße kam. Erstaunlich war, dass die 50 Jahre alte Klägerin, die sich bisher im Straßenverkehr einwandfrei geführt hatte, ohne überhöhte Geschwindigkeit und trotz ihrer Ortskenntnis, die vermutlich auch die Blitzanlage an der Ampelkreuzung umfasste, nicht zu Beginn, sondern erst im weiteren Verlauf der Rotphase die Haltelinie überfuhr. Das Gericht ging daher davon aus, „daß die Klägerin das Ampelsignal infolge Unaufmerksamkeit nicht oder doch erst so spät in sich aufgenommen hat, daß sie nicht mehr darauf reagieren konnte“.271 Während die Beklagte, die Kaskoversicherung der Klägerin, den Versicherungsschutz wegen vorsätzlicher oder wenigstens grob fahrlässiger Herbeiführung des Schadens verweigerte, war das Oberlandesgericht der Ansicht, dass die Erforderlichkeit des unterbewussten Agierens im Straßenverkehr die Gefahr einer gelegentlichen typischen Fehlleistung in sich berge, wenn das Unterbewusstsein versage und das kontrollierende Bewusstsein gerade in diesem Augenblick abgelenkt sei. Eine grobe Fahrlässigkeit liege darin aber nur unter ganz besonderen Umständen: „Es ist bei der menschlichen Unvollkommenheit gar nicht verwunderlich und sogar selbstverständlich, daß bei der Dichte des Verkehrs und der Unzahl der den zahlreichen Verkehrsteilnehmern abverlangten Reaktionen täglich, ja stündlich und minütlich irgendwo eine Fehlleistung der oben gekennzeichneten Art geschieht.“ Ein solches Verhalten lasse sich nicht unter den Begriff der groben Fahrlässigkeit fassen, da es nicht beweise, dass die Klägerin die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und dasjenige unbeachtet gelassen habe, was jedem hätte einleuchten müssen.272 _________________ 269
OLG Hamm NZV 1995, 357, 358. OLG Hamm NZV 1996, 410, 411. 271 OLG Düsseldorf NJW 1966, 664, 665. 272 Siehe OLG Düsseldorf, ebd. 270
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Generelle Schlussfolgerungen hinsichtlich des Umgangs mit Automatismen in Zivil- und Strafsenaten lassen sich freilich aus den wenigen Beispielen nicht gewinnen. Die Begründungen der Zivilgerichte stufen den Handlungsunwert bei den automatisierten Reaktionen aber als so gering ein, dass sich die Berechtigung der Frage bestätigt, ob sich die Strafgerichte bei der Verurteilung von Spontanreaktionen wegen fehlender Steuerbarkeit des Verhaltens nicht im Bereich bloßen Erfolgsunrechts bewegen.
III. Folgerungen Der Vergleich der Fälle des Bundesgerichtshofs von 1954, in denen es jeweils zur Kollision mit einer Fußgängerin kam, mit dem „Fahrertür-Fall“ des Oberlandesgerichts Schleswig und dem „Jagdhund-Fall“ des Bundesgerichtshofs zeigt, dass unterschiedliche Sichtweisen hinsichtlich der Verhaltensmöglichkeiten innerhalb der Reaktionszeit eingenommen wurden. Während die früheren Entscheidungen von einer starren Reaktionszeit ausgingen, innerhalb deren dem Menschen kein aktives Verhalten möglich sein sollte, weshalb die Reaktionszeit der Zeitspanne aktiven Verhaltens nachträglich immer hinzugerechnet wurde, nahm man in den späteren Entscheidungen wiederum auf der Grundlage fester Reaktionszeiten an, dass jede Aktivität innerhalb der Reaktionszeit dem strafrechtlichen Vorwurf entzogen sein sollte. Einen dritten Weg schlug der Bundesgerichtshof schließlich im Fall des alkoholisierten Autofahrers aus dem Jahre 1969 ein, indem er die Reaktionszeit bei Auftreten einer „situationsangemessenen“ Reaktion nur bis zum Beginn dieser Reaktion reichen ließ. Auch in der Literatur finden sich unterschiedliche Sichtweisen in Bezug auf die Reaktionszeit. Fehlt dem Menschen die Zeit für eine bewusste Abwägung, wie er sich verhalten soll, und agiert er gleichsam lediglich „reflexartig“ auf einen von außen kommenden Reiz, soll ihm nach Hentschel hieraus grundsätzlich kein Vorwurf erwachsen.273 Dagegen versteht Meyer-Gramcko eine Reaktion als „das aktive Verhalten eines Menschen, das durch einen Reiz ausgelöst wird“.274 Sie könne unbewusst durch Reflexe oder Automatismen oder bewusst durch gesteuerte Handlungen erfolgen. Als Reaktionszeit bezeichne man „das Intervall vom Beginn einer Reizdarbietung bis zum Beginn der Reaktion, darin enthalten sind Zeitabschnitte für die Wahrnehmung und die Verarbeitung der Informationen sowie für die Entscheidung und Umsetzung“. Automatismen liefen unbewusst ab und erforderten nur eine kurze Reaktionszeit.275 Die Reak_________________ 273
Siehe Hentschel, Straßenverkehrsrecht, Einl., Rn. 131. Meyer-Gramcko, Verkehrsunfall 1990, S. 191. 275 Siehe Meyer-Gramcko, ebd. 274
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Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld
tionszeit endet damit nach Meyer-Gramcko grundsätzlich mit einer aktiven Verhaltensweise des Autofahrers unabhängig davon, ob diese in einer bewussten, gesteuerten Handlung oder in einem unbewussten Automatismus besteht. Da Meyer-Gramcko anmerkt, die Reaktion auf einen Reiz laufe bei automatisierten Fahrhandlungen ohne bewusstes Überlegen ab und die Wahrnehmung der Reaktion trete in der Regel erst bei Wirksamwerden der Reaktion auf276, muss davon ausgegangen werden, dass ihm zufolge „Entscheidung“ und „Umsetzung“ auch durch unbewusste Prozesse erfolgen können.277 Man wird sich aber fragen müssen, ob dies auch eine sinnvolle Interpretation des Begriffs der „Reaktionszeit“ im Rahmen der strafrechtlichen Vermeidbarkeit darstellt. Ginge es hierbei um die Feststellung, wie schnell ein Mensch überhaupt auf einen Reiz reagieren kann, dann müsste von einer Reaktionszeit ausgegangen werden, die sich im Bereich von Hundertstelsekunden bewegt, wovon man sich leicht anhand der Reaktion von Sportlern auf einen Startschuss überzeugen kann. Diese Reaktionszeit hatte die Rechtsprechung also offenbar nicht im Sinn, als sie einen Mittelwert von 0,6 Sekunden errechnete. Bei der Frage der Vermeidbarkeit geht es also nicht darum, wie schnell ein Mensch ohne bewusste Verarbeitung reagieren kann, sondern darum, wie schnell ihm eine zurechenbare Reaktion möglich ist. Soweit die Reaktionszeit die Möglichkeit zu einer bewussten Entscheidung erlauben soll, sieht man sich indes mit dem Problem konfrontiert, wie eben jene Verhaltensweisen rechtlich zu würdigen sind, die vor Ablauf dieser Zeitspanne auftreten. Eine Verkürzung der Reaktionszeit bei Auftreten einer automatisierten Reaktion löst das Problem nicht, denn das Strafrecht nennt in § 13 StGB die Möglichkeit einer strafbaren Unterlassung. Wäre eine unbewusste aktive Reaktion Anknüpfungspunkt für den strafrechtlichen Vorwurf, müsste unbewusste Passivität ebenfalls einer strafrechtlichen Überprüfung unterzogen werden.278 Dabei gilt im Grundsatz: Je länger die Reaktionszeit, desto wahrscheinlicher die Unvermeidbarkeit des Unfalls. Denn eine längere Reaktionszeit führt zu einer längeren zurückgelegten Wegstrecke. Ein Unfall ist aber grundsätzlich dann vermeidbar, wenn das Fahrzeug bis zur potentiellen Unfallstelle zum Stillstand gebracht werden kann. Passivität wäre dann innerhalb eines gewissen zeitlichen Rahmens für den Täter von Vorteil, denn für sein aktives Tun innerhalb einer Zeitspanne von mindestens 0,5 Sekunden vor dem Unfall würde der Autofahrer, der auf die akute Gefährdung eines Rechtsguts mit einem Aus_________________ 276
Siehe Meyer-Gramcko, Verkehrsunfall 1990, S. 193; so auch Graßberger, S. 88. Vgl. auch Dannert: „In der Entscheidungszeit muß sich der Fahrzeugführer darüber klar werden, ob und wie er der Reaktionsaufforderung nachkommen will. In den meisten Notfällen wird dies bedeuten, daß er sich – mehr oder weniger instinktiv – zu einer Vollbremsung entschließt“ (DAR 1997, S. 483). 278 Vgl. auch Jakobs, StrafR AT, 6/35. 277
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weich- oder Bremsautomatismus reagiert, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen, während der Fahrer, bei dem die Gefahrenlage keinerlei Reaktion279 hervorruft, straflos bliebe. Automatismen würden sich damit im Gegensatz zum bloßen „Verharren“ zu Ungunsten des Täters auswirken. Dieses Ergebnis erscheint bereits dem allgemeinen Menschenverstand als nicht gerecht; unter Berücksichtigung der psychophysiologischen Überlegungen, auf denen die Reaktionszeit beruht, ist aber auch kein sachlicher Differenzierungsgrund erkennbar. Würde man dagegen auch Passivität innerhalb dieser halben Sekunde „Reaktionszeit“ in den Bereich vermeidbaren und damit zurechenbaren Verhaltens ziehen280, führte dies zu einer Sinnentleerung der Reaktionszeit, denn die hiernach verbleibende unvermeidbare Zeitspanne, also jene, die erforderlich ist, um eine unbewusste Reizantwort hervorzubringen, läge nur noch im Bereich von Hundertstelsekunden. Außerdem wäre eine so ausgeweitete Zurechnung schwer mit der wissenschaftlich gesicherten Erkenntnis vereinbar, dass es der menschlichen Willkür unzugängliche Zeitspannen gibt.281 Diesen Erkenntnissen kann sich das Strafrecht aber zum einen nicht entziehen, weil sie naturwissenschaftlich fundiert und damit dem Beweis zugänglich sind, zum anderen deshalb, weil nicht verständlich wäre, worauf die Annahme einer Reaktionszeit gegründet werden sollte, wenn nicht gerade hierauf. Eine „Reaktionszeit“ anzunehmen, ohne psychophysisches Wissen zu berücksichtigen, ist also nicht akzeptabel. Sie ohne sachlichen Differenzierungsgrund einmal heranzuziehen, einmal unberücksichtigt zu lassen, ist Willkür. Wie im Falle der Reflexe haben die Strafrechtler auch mit der Reaktionszeit einen Begriff übernommen, der sie an die Erkenntnisse anderer Fachwissenschaften bindet. Die Reaktionszeit im juristischen Verständnis kann damit nur die Zeitspanne meinen, die für eine willkürliche Reaktion, also eine Reaktion, der ein Willensentschluss vorangeht, auf eine Reizdarbietung erforderlich ist. Da innerhalb dieser Zeitspanne keine kontrollierte Steuerung des Verhaltens möglich sein soll, kann das konkrete Verhalten strafrechtlich nicht vorwerfbar sein. Automatisierte Verhaltensweisen, die innerhalb dieser Zeitspanne auftreten, sind damit _________________ 279 Maurach/Zipf sprechen hier von einer „versteinerten Reaktion“, die jedoch beherrschbar sein soll (s. StrafR AT, § 16 I, Rn. 17). 280 Die Frage, ob sich die Garantenstellung des Unterlassenden hier aus Ingerenz ergibt, begegnet freilich denselben Problemen wie die Vorverlagerung bei automatisiertem Tun. Vertritt man aber die Ansicht, in der Übernahme der Situation könne ein plichtwidriges Vorverhalten erblickt werden, dann wird man auch für den Unterlassenden die Haftung aus Ingerenz bejahen müssen (sog. „omissio libera in causa“, s. Welp, S. 137, Fn. 155; dazu auch U. Neumann, Zurechnung, S. 45 ff., S. 186 ff.). Im Übrigen verbleibt die allgemeine Verkehrssichungspflicht des Kraftfahrzeugführers für die Garantenstellung (s. Jakobs, Handlungsbegriff, S. 32). 281 Beispielsweise die sog. „Korrektursaccadendauer“ (dazu unten, S. 225) und, da es sich um einen Reflex handelt, u. U. auch die „Blinksekunde“ (s. Bockelmann, Aufsätze, S. 199).
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Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld
ebenso wenig zurechenbar wie passives Verhalten. Folglich ist der Maßstab der Unvermeidbarkeit jedenfalls an alle Automatismen anzulegen, die innerhalb eines Zeitraumes von circa einer halben Sekunde auf ein Ereignis erfolgen. „Echte“ Spontanreaktionen, also jene, die unterhalb der Schwelle der Reaktionszeit erfolgen, können also generell ebenso wenig vermieden werden wie Verhaltensweisen, die durch vis absoluta hervorgerufen werden. Es handelt sich nur in dem einen Fall um eine von innen und im anderen Fall um eine von außen ausgelöste Mechanik. Das wirft die Frage auf, ob diese „innere Mechanik“ anders hätte wirken können; darauf wird zurückzukommen sein. Mit diesen Überlegungen ist noch keine Antwort auf die Frage gefunden, warum in einigen Fällen auf die Spontanreaktion selbst als unvermeidbares Verhalten abgestellt wird und in anderen Fällen eine Art „Vorverschulden“ geradezu „konstruiert“ wird. Mit abschließender Sicherheit lässt sie sich wohl auch nicht beantworten. Von Bedeutung könnte aber der Grad der Gefährdung sein, dem die Autofahrer durch das externe Ereignis ausgesetzt waren: Je geringer die Gefahr, desto eher wird ein außenstehender Beobachter eine überlegte Reaktion fordern, und umgekehrt. Dies kann in Verbindung mit der Reaktionszeit zu durchaus vertretbaren Ergebnissen führen, ist aber für sich genommen wenig sinnvoll. Da die Reaktionszeit bei Automatismen außerhalb des Straßenverkehrs soweit ersichtlich weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur Berücksichtigung findet, kommt sie beispielsweise dem Kriminalhauptmeister im Fall des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1984 nicht zugute. Hinzu kommt, dass hier der besonders hohe Grad der Gefährdung, die darin bestand, dass der Angreifer dem Kriminalhauptmeister seine Waffe aus dem Holster hätte entwenden können, den Bundesgerichtshof dazu veranlasste, das Ziehen der Waffe seitens des Polizisten nicht als Vorverschulden zu beurteilen; dieses hätte – sofern der tödliche Schuss selber nicht als Handlung aufzufassen gewesen wäre – allenfalls einen Fahrlässigkeitsvorwurf begründen können.282 Mit der Ansicht des Bundesgerichtshofs kam dann freilich nur das Abfeuern des Schusses als strafbare „Handlung“ in Betracht, ein Verhalten, das im Straßenverkehr eventuell als Spontanreaktion bezeichnet und deshalb vielleicht auch als „unvermeidbar“ eingestuft worden wäre. So aber blieb es eine automatisierte Verhaltensweise im allgemeinen Sinn, deren Vermeidbarkeit von Seiten der Rechtsprechung und Literatur schlicht unterstellt wird und die in diesem Fall sogar Vorsatzunrecht nahelegen musste. Spielt ein Kind mit einer geladenen Waffe und löst sich daraus ein Schuss, von dem ein Mensch tödlich getroffen wird, dann kommt in aller Regel nur Fahrlässigkeit in Betracht. Schießt dagegen ein Kriminalhauptmeister, der die Gefährlichkeit seiner Waffe genauestens kennt, damit aus nächster Nähe auf einen Menschen, dann ist so leicht nicht zu sehen, warum die Haftung aus Vorsatz entfallen soll. _________________ 282
Siehe oben, bei und in Fn. 218.
Kapitel 2: Vermeidbarkeit
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Ist die Möglichkeit zur Vermeidung nur gegeben, wenn die Vermeidereaktion durch geistige Tätigkeit ausgelöst wird, dann stellt die Vermeidung nichts anderes dar als das Alternativverhalten zur strafrechtlich relevanten Handlung, wie sie von einem Großteil der Handlungslehren definiert wird.283 Das bringt freilich all jene Theorien in Erklärungsnöte, die mit einem eigenständigen Handlungsbegriff Verhalten, das nicht der Steuerung unterliegt, vor- oder innertatbestandlich ausgrenzen wollen, die Spontanreaktionen aber dennoch zu den Handlungen rechnen.284 Man wird bei den Spontanreaktionen also auch nach einem anderen willkürlichen Verhalten suchen müssen, wie dies im Umgang mit Nichthandlungen praktiziert wird. So ist es in Herzbergs bekanntem Beispiel eines mit blutender Nase auf einem fremden Sofa liegenden Menschen285 nicht das unwillkürliche Nasenbluten, das vermieden werden kann, sondern das nachträgliche willkürliche Verhalten, das Sofa nicht zu verlassen beziehungsweise sich kein Tuch vor die Nase zu halten.286 Kommt dagegen jemand auf einem Abhang ins Rutschen und kann seinen Sturz auf Menschen oder fremde Gegenstände nicht bremsen,287 dann wird man klären, ob er die nötige Sorgfalt hat walten lassen, bevor er ins Rutschen geriet. Die Willensbetätigung, verstanden als Verhalten, das seinen kausalen Ursprung im Geist findet, ist damit elementare Voraussetzung strafrechtlicher Zurechnung. Übertragen auf die Frage der Schuld bei unbewusster Fahrlässigkeit bedeutet Vermeidbarkeit entsprechend, dass ein anderes Verhalten durch eine andere Kenntnis im Zusammenspiel mit einem (unterstellten) Vermeidewillen hätte hervorgerufen werden sollen. Für den unwillkürlich Handelnden heißt dies, dass er willkürlich hätte handeln sollen. Denn nur soweit er nicht automatisch, sondern bewusst reagiert, kann es ihm zum Vorwurf gemacht werden, dass er sich zu einer falschen Handlung entschlossen hat. Reagiert er hingegen im Ganzen unwillkürlich, kann eine Strafbarkeit nur dadurch erreicht werden, dass die Unwillkürlichkeit in das Unterlassen von Willkürlichkeit „umgedeutet“ wird, das naturgemäß gleichzusetzen ist mit einer willkürlichen _________________ 283
Dies wird besonders deutlich bei dem an die Hegelsche Rechtsphilosophie angelehnten individuellen Handlungsbegriff E. A. Wolffs, Handlungsbegriff, S. 15 ff.; ders., Radbruch-GS, S. 296 ff. 284 Zu den Handlungsbegriffen oben, S. 165 ff. Das Individuum kann in dieser Situation also auch keine Regel befolgen, wie dies nach der Handlungslehre Hruschkas erforderlich wäre (s. Hruschka, Strukturen, S. 17 f.). 285 Siehe Herzberg, Unterlassung, S. 173. 286 Nach Herzberg das (willentliche) Verharren in Ruhelage, obwohl der Blutende merkt, wie ihm das Blut aus der Nase läuft (s. JZ 1988, S. 576). 287 Vgl. das Beispiel bei Armin Kaufmann, v. Weber-FS, S. 218; dazu Herzberg, Unterlassung, S. 180 f.
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Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld
Handlung.288 Dann lautet der Vorwurf in der Sache aber, der Mensch habe sich willentlich zu einer unwillkürlichen statt einer willkürlichen Reaktion „entschlossen“; und damit befindet man sich, wenn nicht im schlicht Paradoxen, so doch jedenfalls, wie bereits Stratenwerth mit seinem Handlungsbegriff, mitten in der Willensfreiheitsfrage, die man aus dem Handlungsbegriff aber gerade heraushalten will.289 Sind Spontanreaktionen nicht beherrschbar, liegt außerdem die Frage nahe, ob unwillkürliches Verhalten überhaupt menschlicher Steuerung unterliegt. Denn auch ein vorangegangener oder „finaler“ Wille macht unwillkürliche Bewegungen in einem Verhaltenskomplex nicht notwendig beherrschbar. Werden die einzelnen unwillkürlichen Bewegungen nicht geistig gesteuert, dann muss aber jedenfalls dem vorausgegangenen Willensentschluss eine Initiativund Steuerungsfunktion zukommen. Läge auch diese nicht vor, wäre zu fragen, inwieweit der Anknüpfungspunkt strafrechtlicher Verantwortlichkeit an Willkürlichkeit oder Bewusstheit zu der Differenzierung zwischen Schuld und Nichtschuld überhaupt berechtigt. Vorüberlegungen hierzu gehen einher mit der Betrachtung der „Innenseite“ bei den automatisierten Verhaltensweisen, speziell wieder den Spontanreaktionen.
Kapitel 3
Vorsatz und Fahrlässigkeit I. Vorsatz und bewusste Fahrlässigkeit – Problemaufriss Durch die „Form“ der geistigen Tätigkeit, die mit dem äußeren Verhalten verbunden ist, wird im Strafrecht auch die Haftungsform bestimmt, die sich in _________________ 288
Vgl. auch die Kritik Stratenwerths an der „bewussten Finalität“: „Handlung ist wie immer geartete Einwirkung auf die Außenwelt. Die Steuerungsvorgänge, die zur Ausschaltung unfallträchtiger Fehlreaktionen erforderlich sind, lassen sich nun gerade nicht als eine solche Einwirkung beschreiben; sie sind ein völlig intern ablaufender Prozeß. Infolgedessen ist die Unterlassung der geforderten Gegensteuerung, der bewußten Einstellung auf die Gefahr von Fehlreaktionen, nicht die Unterlassung einer Handlung und damit eben im strafrechtlichen Sinne gar keine „Unterlassung“ (Welzel-FS, S. 292 f.). 289 Angesichts der Untrennbarkeit der Handlungs- von der Willensfreiheitsfrage vermag auch der Ansatz Radbruchs, der zwar die Entlassung des Schuld- aus dem Handlungsbegriff fordert, aber bei letzterem wiederum Willkürlichkeit zugrunde legt (vgl. Handlungsbegriff, S. 97 ff.; ders., ZStW 24 [1904], S. 335) nicht zu überzeugen. Deshalb kann auch J. Baumann nicht darin zugestimmt werden, im Handlungsbegriff seien die Würfel noch nicht gefallen (s. Armin Kaufmann-GS, S. 186 [unter Bezugnahme auf Horst Schröder]).
Kapitel 3: Vorsatz und Fahrlässigkeit
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Vorsatz- und Fahrlässigkeitshaftung unterteilt. Gemäß § 15 StGB ist nur vorsätzliches Handeln strafbar, soweit nicht fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht ist. Voraussetzung der Vorsatzhaftung ist die Kenntnis der Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören (§ 16 Abs. 1 Satz 1 StGB). Damit umfasst das sogenannte „Wissenselement“ des Vorsatzes neben der Kenntnis der äußeren Tatsachen und der erforderlichen Tätermerkmale auch das Bewusstsein des eigenen Verhaltens als eines „Umstands“ des Tatgeschehens.290 Denn das Schuldprinzip verlangt dem Bundesgerichtshof zufolge, dass nur solche Handlungsmodalitäten zugerechnet werden, „die dem Täter bewußt werden und auf die er im Augenblick der Tat Einfluß nehmen kann“.291 Umstritten ist diesbezüglich der Bewusstseinsgehalt. Dabei wird vertreten, dass es sich bei dem Bewusstsein des Täters nicht um eine reflektierende Abwägung bei der Tatausführung handeln muss. Es genügt nach Heine ein „handlungsimmanentes Mitbewußtsein“292, welches mit der Kenntnis von der Bedeutung der Umstände einhergehe. Dieses Mitbewusstsein beruht Platzgummer zufolge auf der psychologischen Gesetzlichkeit, „daß der erwachsene Mensch die Dinge der Umwelt sofort als Dinge mit einer bestimmten Bedeutung und mit einem bestimmten Sinngehalt wahrnehmen muß. Es bedarf dazu keiner willentlichen Anstrengung“.293 Heine spricht daher auch von unterschwelligen Bewusstseinsstufen.294 Demgegenüber wird zum Teil ein aktuelles Bewusstsein im Sinne eines reflektierten Vorstellungsbildes gefordert, um Auskunft darüber gewinnen zu können, welche Umstände dem Täter im Einzelfall in der Weise eines Mitbewusstseins gegeben waren.295 Neben der Kenntnis ist nach der Rechtsprechung und einem Teil der Lehre zur Begründung des Vorsatzes das „Wollen der zum gesetzlichen Tatbestand gehörenden objektiven Merkmale“ erforderlich.296 „Vorsatz ist Wille zur Verwirklichung eines Straftatbestandes in Kenntnis aller seiner Tatumstände.“297 _________________ 290
Siehe Sch/Sch-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 43; ähnlich Frisch, Vorsatz und Risiko, S. 164 u. 169. 291 BGH NJW 1989, 1739. 292 Heine, JR 1990, S. 299; ähnlich bereits Platzgummer: „sachgedankliches Mitbewußtsein“ (Untersuchung, S. 83); so auch Sch/Sch-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 51. 293 Platzgummer, Untersuchung, S. 85; befürwortend Roxin, ZStW 78 (1966), S. 248 ff. 294 Siehe Heine, JR 1990, 299. Kritisch zum Mitbewusstseinsbegriff Frisch in Armin Kaufmann-GS, S. 311 ff.; Schild in Stree/Wessels-FS, S. 241 ff.; Morselli, ZStW 107 (1995), S. 340 f. 295 Vgl. M. Köhler, GA 1981, S. 294 f.; vgl. auch LK-Schroeder, § 16, Rn. 99. 296 Siehe Sch/Sch-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 9 m. w. N. Zum Ganzen auch E. A. Wolff, Gallas-FS, S. 197 ff.; M. Köhler, Fahrlässigkeit, S. 21 ff. 297 BGHSt 19, 295, 298.
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Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld
Unter dem Begriff des „Wollens“, wird dabei teilweise die emotionale Beziehung des Täters zu seiner Tat, teilweise ein psychischer, nicht notwendig emotionaler Abwägungsvorgang verstanden.298 So sieht Küper in der Verhaltensweise eines vorsätzlich handelnden Täters das Wirken eines „Aktes handlungsleitender Präferenzbestimmung“299 und macht darauf aufmerksam, „daß der Täter sich weder von seiner im praktischen Urteilsvollzug erworbenen ,Vermeidemacht‘ durch Gefühlseinstellungen befreien kann, noch umgekehrt solche Macht durch Emotionen herzustellen vermag“.300 Voraussetzung für ein Wollenselement ist die Anerkennung eines binären Vorgangs im Innern des Täters, dessen beide Elemente nicht notwendig zusammenfallen müssen. Dabei wird oftmals zwischen einem intellektuellen (Erfassen des Sachverhaltes) und einem voluntativen Aspekt (psychischer oder emotionaler Abwägungsvorgang) differenziert.301 Dieser Auffassung steht die Annahme gegenüber, dass der innere Abwägungsvorgang mit der Kenntnis notwendig einhergeht, mithin allein die Kenntnis der Tatumstände ausreichend für den Vorsatz sein soll.302 Mit den Worten Schünemanns: „Wenn der Täter bewußt ein nicht mehr tolerables Risiko auslöst, so steuert er das Geschehen sehenden Auges gegen das Rechtsgut, woran auch eine emotionale Distanzierung durch die Hoffnung (gerne ,Vertrauen‘ genannt), es werde schon gutgehen, nichts zu ändern vermag.“303 All diese Konkretisierungsversuche weisen jedoch eine Gemeinsamkeit auf: Die geistige Tätigkeit des Täters, die es ihm ermöglichen soll, seine Handlung zu initiieren und zu steuern, ist ein subjektiv bewertender, nicht notwendig reflektiver Prozess, der sich in einem Entscheidungs- oder Aneignungsverhalten304 niederschlägt. So bemerkt Kindhäuser, dass das Merkmal der Kontrollierbarkeit einer _________________ 298
Siehe Perron, Nishihara-FS, S. 151; gegen ein emotionales Element z. B. Küper, GA 1987, S. 507; Sch/Sch-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 9–14 m. w. N. 299 Siehe Küper, GA 1987, S. 508. 300 Siehe Küper, GA 1987, S. 506. 301 Siehe Hülle, JZ 1952, S. 296; so auch Sch/Sch-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 10 f.; vgl. dazu auch Schewe, Bewußtsein, S. 28 ff. m. w. N. 302 Siehe hierzu Sch/Sch-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 12–14. 303 Schünemann, GA 1985, S. 361. Vgl. auch Kargl: „Im Kern besagt dieses Konzept [der Affektlogik], daß sich Wille und Verstand nicht als Gegensätze gegenübertreten können“ (Vorsatz, S. 40), weshalb er Wissens- und Wollenselement als „komplementär, analog und kongruent“ auffasst (s. Handlung und Ordnung, S. 544 f.). Zum Problemkomplex auch Ziegert, Vorsatz, S. 81 ff, insb. S. 107 ff. 304 Ausführlich dazu Hassemer, Armin Kaufmann-GS, S. 295 ff.; vgl. auch Kargl, Vorsatz, S. 38. Nach Jakobs muss man die psychologisierenden und ethisierenden Aspekte ausklammern und auf die expressive Bedeutung des Täterverhaltens mit Blick auf die Normgeltung abstellen (s. Jakobs, StrafR AT, 8/5 ff.).
Kapitel 3: Vorsatz und Fahrlässigkeit
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Basishandlung eine Entscheidung sei. „Nur ein Tun, zu dem man sich entscheiden kann, unterliegt der Kontrolle des Handelnden.“305
1. Die Beweisproblematik Ein voluntatives Element wirft jedoch prozessuale Beweisprobleme auf. Die Grenze zwischen gewollten und ungewollten Handlungsfolgen verläuft nach Perron fließend, weil kognitive und voluntative, assertorische und optativische, intellektuelle und affektive Faktoren zumeist tief ineinander verwoben seien und damit die in der Person vorhandenen Empfindungen und Strebungen in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit kaum auseinander gehalten werden könnten.306 Daneben unterliege die richterliche Überzeugungsbildung generellen Schwierigkeiten, zum einen aufgrund des hohen Maßes an Irrationalität, das bei wissenschaftlich nicht gesicherter Beweisführung immer im Spiel sei, zum anderen aufgrund prozess- und systemspezifischer Schwierigkeiten wie dem Ziel einer revisionssicheren Entscheidungsbegründung, die dazu führten, dass manche Autoren das Problem der Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit vor allem als prozessuales Problem ansähen.307 Die Frage, ob eine „wissenschaftlich nicht gesicherte Beweisführung“ stets „ein hohes Maß an Irrationalität“ involviere (woran man gewiss mit Gründen zweifeln kann), mag hier offenbleiben. Jedenfalls kann sie ein entsprechendes Risiko nicht ausschließen. Nach Perron folgen die begrifflichen Kategorien idealiter unmittelbar den vorhandenen philosophischen und psychologischen308 Annahmen zur Natur der menschlichen Handlung, um deren moralische und rechtliche Beurteilung auf eine möglichst unangreifbare Basis zu stellen. In der Realität bestimme sich das Verhältnis von begrifflichen Kategorien und strafrechtlichen Konsequenzen jedoch anders. Da es – soweit für ihn im Rahmen einer das europäische Strafrecht vergleichenden Studie ersichtlich – bislang in keinem Land gelungen sei, _________________ 305 Kindhäuser, GA 1982, S. 495; vgl. auch Schünemann, GA 1985, S. 362 und Küper, GA 1987, S. 508. 306 Siehe Perron, Nishihara-FS, S. 154. Auch nach de Boor ist deshalb „die Bewusstseinsstruktur eines nicht an krankheitsbedingten Bewusstseinsstörungen leidenden Menschen [...] – vor allem retrospektiv – nicht mehr verläßlich zu ergründen“ (de Boor, S. 29). Vgl. zur Begrenztheit menschlicher Kenntnis von sich selbst bereits Schopenhauer, Ethik, S. 267, sowie Planck, Willensfreiheit, S. 17; näher dazu außerdem unten, S. 311, 319, 321 ff. 307 Siehe Perron, Nishihara-FS, S. 155. M. Köhler zufolge bilde der innere Tatbestand die „Achillesferse“ des Beweisrechts (s. GA 1981, S. 294). Zur Beweisproblematik auch Hruschka, Kleinknecht-FS, S. 191 ff.; Hassemer, Armin Kaufmann-GS, S. 304 ff. 308 Psychologisch genähert hat sich dem Vorsatzproblem z. B. Morselli, ZStW 107 (1995), S. 346 ff. Vgl. auch Schmidhäuser, Oehler-FS, S. 135 ff.
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Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld
evidente oder zumindest unumstrittene Kategorien für die Bewertung der psychischen Seite des menschlichen Handelns zu entwickeln, legten die einzelnen Rechtsordnungen die entsprechenden Begriffe zu einem wesentlichen Teil pragmatisch, das heißt in Bezug auf ihre Tauglichkeit zur Erzielung akzeptabler Ergebnisse im Einzelfall, fest.309 Im ersten Teil dieser Arbeit wurde kurz dargelegt, dass bereits seit dem frühen Mittelalter mit Blick auf die Strafbarkeit zwischen einer bewussten und einer unbewussten Erfolgsherbeiführung unterschieden wurde. Nach Sellert zeigten einige Fälle allerdings, dass der Täter weitgehend ohne Rücksicht auf das Maß seines „Dafürkönnens“ zur vollen Verantwortung gezogen werden sollte.310 Die Entscheidung darüber konnte auch vom Willen des Opfers abhängen; wobei dem Opfer die Umsetzung der Entscheidung keineswegs immer leicht gemacht wurde. So berichtet Brunner: „Wer von einem Baume fällt und herabstürzend einen Menschen tödtet, soll nach den sogen. Leges Henrici primi für unschuldig gelten. Falls dennoch jemand darauf bestünde die That zu rächen oder das Wergeld einzuklagen, so soll ihm die Rache gestattet sein, aber nur so, dass er selbst auf den Baum steigt, um den anderen todt zu fallen.“311 Pufendorf hingegen übernimmt in seine Zurechnungslehre die bereits von Aristoteles vorgenommene Differenzierung zwischen Vernunft und Willen. War der Wille als Konglomerat aus Sinnlichkeit und Vernunft bei Aristoteles lediglich eine philosophische Grundannahme312, wurde er nun zur strafrechtlichen Voraussetzung und unterliegt damit bis heute den Beweisanforderungen der Strafprozessordnung. Entsprechend bemüht sich die Strafrechtswissenschaft seither, Rechtstheorien, die auf Gerechtigkeits- oder Zweckmäßigkeitserwägungen beruhen, mit subjektiven Elementen in Einklang zu bringen; wobei die inhaltliche Bestimmung subjektiver Begriffe über philosophische Implikationen hinaus durch die Psychologie nicht zu wirklichem Fortschritt, sondern eher zu weiterer Verwirrung geführt zu haben scheint. Beinahe absurd mutet es inzwischen an, die Theorienvielfalt zu betrachten, insbesondere wenn man diese der gerichtlichen Pragmatik gegenüberstellt, die sich wegen der empirischen Unzugänglichkeit des subjektiven Vorgangs hauptsächlich an dem äußeren Geschehen orientiert.313 So bemerkt Küper, dass „bei spürbarem Defizit an weiterführen_________________ 309 Siehe Perron, Nishihara-FS, S. 148 f. Ähnlich auch Küper, der zu bedenken gibt: „Die ganze Problematik einer begrifflichen Bestimmung des bedingten Vorsatzes könnte im übrigen damit zusammenhängen, daß sich der psychische Befund, den wir für diese Vorsatzart benötigen, einer isolierenden Kennzeichnung unter den Kategorien des ,Wissens‘ und ,Wollens‘ im Grunde widersetzt“ (GA 1987, S. 508). 310 Siehe Sellert/Rüping, Geschichte, S. 103. 311 Brunner, Missethat, S. 4. 312 Dazu ausführlich Loening, Geschichte, S. 268 ff. 313 Vgl. dazu Hassemer, nach dem der Vorsatz nur anhand äußerer Kennzeichen festgestellt werden könne (Armin Kaufmann-GS, S. 309).
Kapitel 3: Vorsatz und Fahrlässigkeit
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den psychologischen Erkenntnissen und offenbar ohnehin geringem Einfluß der Kontroverse auf die praktischen Ergebnisse – die Auseinandersetzung um das ,Wollenselement‘ des bedingten Vorsatzes zu einem Streit um bloße Begriffe zu werden“ drohe.314 Und Schünemann bezeichnet die gängige Diskussion um die Vorsatzabgrenzung denn auch als „Jonglieren mit umgangssprachlichen Nuancierungen und alltagstheoretischer Psychologie“.315 Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die philosophischen und psychologischen Annahmen zur Beurteilung der subjektiven Tatseite anscheinend unlösbare Beweisschwierigkeiten erzeugen. Entsprechend tritt die Problematik gerade dort zutage, wo mit rechtlichen Begriffen eine Trennung zwischen psychischen Abläufen angestrebt wird, die ihrerseits in den Fachwissenschaften ungeklärt sind. Besonders deutlich wird dies wiederum bei der Betrachtung automatisierter Verhaltensweisen.
2. Automatisierte Verhaltensweisen In der Rechtsprechung werden automatisierte Verhaltensweisen lediglich unter dem Fahrlässigkeitsaspekt untersucht, was wohl damit zusammenhängt, dass es sich in diesen Fällen in aller Regel um Spontanreaktionen handelt.316 Sind automatisierte Verhaltensweisen Bestandteile eines geplanten deliktischen Geschehens, dann erscheinen sie in einem anderen Licht. In Betracht kommt dann nach Ansicht einiger Autoren eine Vorsatzhaftung.317 Die Einleitung der einzelnen Bewegungen wird, wie die Untersuchung im Handlungsbegriff gezeigt hat, weithin als „unbewusst“ angesehen. Doch komme es hierauf, so Roxin, nicht an: Der Vorsatz müsse nur die jeweiligen Tatumstände, nicht aber jede einzelne Bewegung des auf die Zielerreichung gerichteten Vorgehens umfassen.318 Danach ist auch im Bereich automatisierten Verhaltens die Möglichkeit der Vorsatzhaftung eröffnet.319 Dagegen sieht Hall in einer solchen Subsumtion unter den Vorsatzbegriff eine Überanstrengung des Begriffs der Finalität. Nur eine gewollte und bewusst gesteuerte Tätigkeit sei final. Jede _________________ 314 Küper, GA 1987, S. 507. Vgl. auch Loening: „So herrscht über das psychische Wesen des Willens selbst, über die Seelenfunktion des Wollens und ihren Zusammenhang mit anderen Seelenvorgängen häufig genug völlige Unklarheit“ (Loening, Geschichte, S. IX). 315 Schünemann, GA 1985, S. 362. 316 So ist der Gedanke einer Vorsatzprüfung auch bei Welzel überhaupt nicht vorhanden, vgl. Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S. 32 ff. 317 Vgl. die Nachweise bei LK-Schroeder, § 16, Rn. 110. 318 Siehe Roxin, StrafR AT/1, § 12, Rn. 131. 319 So auch Jescheck, Eb. Schmidt-FS, S. 148, u. Sch/Sch-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 51.
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Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld
Ausdehnung auf unbewusstes, automatisches Verhalten entwerte den Begriff der Finalität.320 In diesem Sinne differenziert auch Ambrosius: Automatisiertes Verhalten lasse sich zwar mitunter als vorsätzlich bezeichnen, soweit es von der Zielvorstellung getragen werde oder wo zwischen der Bewusstseinsintention und dem ausführenden und oft automatisierten Akt eine Kooperation bestehe. „Ein strafrechtlich relevanter Vorsatz scheidet jedoch im Bereich der automatisierten Handlung aus. Die Verwirklichung eines Deliktstatbestandes beruht eben, anders als das Autofahren und Spazierengehen, nicht auf Teilhandlungen, die sich ständig wiederholen und damit erlernt und zur Gewohnheit werden.“321 Ob sich dies auch auf den Kriminalhauptmeister322 übertragen lässt, der während einer körperlichen Auseinandersetzung „automatisch“ seinen Angreifer mit der Dienstwaffe erschoss, erscheint indes zweifelhaft. Wurde bereits im Handlungsbegriff zwischen dem Bewusstsein respektive Willen in Bezug auf die einzelne Bewegung und dem Gesamtzusammenhang, in den die Bewegung integriert ist, differenziert, so wird diese Problematik also bei der Haftungsform für automatisierte Verhaltensweisen erneut relevant. Dabei ist zunächst fraglich, ob sich der Vorsatz überhaupt auf das automatisierte Verhalten beziehen muss, denn der strafrechtliche Tatbestand selbst stellt nicht auf ein konkretes Verhalten ab; für die Prüfung eines objektiven Unrechts ist es unerheblich, auf welche konkrete Weise die Rechtsgutsverletzung hervorgerufen wurde. Das gilt auch für solche Tatbestände, die das grundsätzlich verbotene Verhalten nicht bloß als kausale Produktion eines Erfolges, sondern in genaueren Handlungsbegriffen beschreiben. Auch sie tun dies hinreichend abstrakt, um beliebig viele Varianten konkreten Verhaltens in einzelnen Fällen zu erfassen. So ist beispielsweise für die Täuschung im Betrugstatbestand nicht festgelegt, durch welches konkrete Verhalten, ob schriftlich, mündlich oder auf sonstige Weise, die Täuschung erfolgen muss, um tatbestandsmäßig zu sein. Andererseits muss sich der Vorsatz auf die Täuschung beziehen, oder anders ausgedrückt, auf das täuschende Verhalten. Bezugspunkt des Vorsatzes ist damit immer auch die strafrechtlich relevante Handlung in Form des durch den Täter konkretisierten Verhaltens.323 Diese muss der Täter gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB „kennen“, um den Tatbestand vorsätzlich zu verwirklichen. Handelt es sich mithin um ein Verhalten, das in einem umfassenderen Kontext steht, wird die Täuschung also durch mehrere Einzelakte vollzogen, bezieht sich auch das Wissenselement des Vorsatzes auf das Verhalten in seinem straf_________________ 320
Siehe Hall, S. 14. Ambrosius, Vorsatzabgrenzung, S. 75. 322 Dazu oben, S. 147, bei und in Fn. 25. 323 Dazu auch Frisch, der als Bezugspunkt des Vorsatzes ausschließlich auf das Verhalten abstellt, allerdings definiert wiederum mithilfe der Tatbestandsmerkmale (s. Vorsatz und Risiko, S. 55 ff.); vgl. auch Sch/Sch-Cramer/Sternberg-Lieben, § 15, Rn. 15; M. Köhler, StrafR AT, S. 152. 321
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rechtlich bedeutsamen Gesamtzusammenhang und nicht auf die einzelne Bewegung. Somit gelingt es in diesen Fällen, mit dem Vorsatzbegriff auch unbewusste Bewegungen zu erfassen. Problematisch bleibt jedoch der Bezugspunkt des Vorsatzes, wenn sich das Verhalten, wie im Fall des Kriminalhauptmeisters, in einer einzigen unwillkürlichen Bewegung erschöpft.
a) Aktuelles Vorstellungsbild Nun folgt auch Ambrosius der Ansicht, das Bewusstsein könne bei diesen Bewegungen die Kontrolle grundsätzlich wieder übernehmen. Gelange daher die Gefahr rechtzeitig in das Bewusstsein des Täters, werde die Kontrolle und Steuerung wieder akut, womit das anschließende Verhalten willensgetragen sei.324 Diese Folgerung ist in sich konsequent und berücksichtigt die besondere Eigenschaft der Spontanreaktionen, unbewusst und ohne Antriebserlebnis abzulaufen. Denn, wie Meyer-Gramcko formuliert: „Die Wahrnehmung der Reaktion tritt in der Regel erst bei Wirksamwerden der Reaktion auf.“325 Dies schließt jedoch die Annahme aus, Spontanreaktionen selbst unterlägen der Kontrolle des Bewusstseins.326 Wenn Roxin anmerkt, man müsse darauf abstellen, ob das Ziel der Handlung vom Bewusstsein des Täters umfasst sei, so berücksichtigt er damit zunächst nur, dass auch in einer vorsätzlichen Handlung unbewusste Bewegungen enthalten sind; bei den Spontanreaktionen wäre eine Vorsatzhaftung indes immer ausgeschlossen; denn das Ziel einer Handlung kann nur bewusst sein, wenn die Handlung selbst bewusst ist. Zwar mag sich ein Spaziergänger zum Ziel setzen, spazieren zu gehen und dabei quasi „automatisch“ seinen Bewegungsapparat in Gang setzen; in den problematisierten Fällen wird jedoch die ursprüngliche Zielsetzung durch ein Ereignis unterbrochen; die Reaktion erfolgt gerade ohne Bildung einer Zielsetzung. Dem Verhalten liegt daher keinerlei aktuelles Vorstellungsbild zugrunde, welches diese Bewegungen einschließen würde.327 Hätte hierzu ausreichend Zeit zur Verfügung gestanden, so handelte es sich, wie Ambrosius richtig hervorhebt, gerade nicht mehr um unwillkürliches Verhalten, sondern um willkürliches.328 Deshalb entfalle auch, so Roxin, der Vorsatz bei unfallverursachenden automatischen Reaktionen, die infolge eines Schockerlebnisses ausgelöst werden, „weil der Erfolg nicht von der Kenntnis des Täters erfaßt war“.329 In Betracht komme _________________ 324
Siehe Ambrosius, Vorsatzabgrenzung, S. 75; ebenso Stennert, S. 242. Vgl. auch oben, S. 190 ff. 325 Meyer-Gramcko, Verkehrsunfall 1990, S. 193. 326 So Gössel, Wertungsprobleme, S. 78. 327 Vgl. auch Stennert, S. 106. 328 Siehe Ambrosius, Vorsatzabgrenzung, S. 75. 329 Roxin, StrafR AT/1, § 12, Rn. 131.
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aber eine Vorsatzhaftung, sofern ein sachgedankliches Mitbewusstsein und dessen Kontrollmöglichkeit feststellbar sei.330
b) Sachgedankliches (Mit-)Bewusstsein Folgt man der Theorie, dass auch „verinnerlichte“ Kenntnis, die nicht bewusst reflektiert wird, für das Wissenselement des Vorsatzes ausreichend sein soll, dann kommt bei den Spontanreaktionen auch ein unbewusst finales Verhalten in Betracht. Denn jeder Verkehrsteilnehmer hat eine abstrakte Kenntnis der vom Straßenverkehr ausgehenden Gefahren für Leib und Leben anderer Verkehrsteilnehmer und ist sich damit auch der Schwere der Folgen bewusst, die Fehlreaktionen im Straßenverkehr nach sich ziehen können. Insbesondere von den möglichen gefährlichen Folgen eines abrupten Bremsens, eines Ausweichmanövers auf die Gegenfahrbahn oder einer unbedachten Lenkbewegung hat jeder Autofahrer eine allgemeine Kenntnis. Die Zielsetzung des gefährdenden Verhaltens ergibt sich regelmäßig aus den objektiven Umständen, so zum Beispiel, ein Tier nicht zu überfahren. Man könnte daher aufgrund der objektiven Ereignisse zu dem Ergebnis kommen, das Interesse des Täters, andere Verkehrsteilnehmer (und sich selbst) nicht zu gefährden/verletzen, stand hinter dem Interesse, das Tier am Leben zu erhalten, zurück.331 Diese Lösung überzeugt offenkundig nicht in jedem Fall, denn trotz potentiellen Gefahrbewusstseins und Mitbewusstseins auch bezüglich der übrigen Tatumstände wird man bei den Spontanreaktionen regelmäßig davon ausgehen können, dass sich die Angeklagten unter normalen Umständen nicht für ein solches, oft sie selbst gefährdendes Verhalten entschieden hätten.332 Es liegt damit nahe, dass die Theorie vom „sachgedanklichen Mitbewusstsein“ noch eine weitere Voraussetzung impliziert. Platzgummer hat sich unter anderem mit dem von Schneider aufgeworfenen Problem auseinandergesetzt, dass viele Straftaten nicht als Ausfluss der rationalen Funktionen, sondern vielmehr der tiefenseelischen Antriebe des Menschen erscheinen. Sie würden „fast ohne Kontrolle durch den Persönlichkeitskern in _________________ 330
Vgl. Roxin, StrafR AT/1, § 12, Rn. 128 ff. in Bezug auf Affekttaten. So im Falle einer automatisierten Verhaltensweise das OLG Frankfurt DAR 1984, 157, 158. 332 Vgl. dazu auch Jakobs, StrafR AT, 8/5. Zur Affekttat vgl. insb. Schewe, Bewußtsein, S. 147 ff.; ders., Reflexbewegung, S. 90 ff.; ders., Wille, S. 8 f., u. Leferenz: „Der Vorsatz wird jedenfalls bei Affekthandlungen nicht verneint, auch wenn sich der Täter weder Handlung noch Erfolg vorgestellt oder überlegt hatte. Dem Richter genügt die Feststellung, daß bei dem Täter die intellektuellen Funktionen ungestört sind. [...] Die Formulierung des § 16 wird dieser Sachlage nicht gerecht“ (ZStW 70 [1958], S. 39). 331
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das entsprechende Verhalten überleiten“.333 „Wollte man die Annahme des Vorsatzes also wirklich davon abhängig machen, daß der Täter jeweils an sämtliche Tatumstände des Deliktstypus ,denkt‘, so müßten sehr viele Taten als vorsätzliche Verbrechen ausscheiden.“334 Er plädiert deshalb dafür, schon „minder intensive Formen des Bewußtseins“ genügen zu lassen. Denn auch diese gehörten „mit zu der Entscheidungslage, der gegenüber der Täter seinen Entschluß auszufällen hat“, womit das Substrat für das Wollen gewahrt würde.335 Die Voraussetzungen für den Vorsatzbegriff werden damit zwar herabgestuft, die Verhaltensweise muss jedoch noch ein „Wollenssubstrat“ in Form einer Entscheidung erkennen lassen. Die Theorie Platzgummers vom sachgedanklichen Mitbewusstsein erfordert also, dass das Mitbewusstsein verhaltensmotivierend wirkt. Wird das Verhalten durch das Wissen nicht beeinflusst, dann begründet das Wissen, auch in Form eines Begleitwissens, kein Unrecht.336 Bei den Spontanreaktionen ist zwar ein Mitbewusstsein bezüglich der Gefährlichkeit eines Fehlverhaltens abstrakt vorhanden, von diesem würde man aber annehmen, dass es zu einer anderen, weniger gefährdenden Reaktion geführt hätte, wäre es Entscheidungsgrundlage des Verhaltens geworden. Die Spontanreaktion steht damit eher im Widerspruch zur „mitbewussten“ Kenntnis, als dass sie durch diese motiviert erschiene. Dennoch bewegt sie sich im Rahmen dessen, was als nachvollziehbare Reaktion auf die Situation gelten kann. In solchen Fällen genügt es nach Schmidhäuser, auf das „sachgedankliche Bewusstsein“ des Täters abzustellen, mithilfe dessen eine Situation „blitzschnell“ erfasst und über die Reaktion hierauf entschieden werden könne: „[…] manchmal scheint es gar keine Zeit zu brauchen, ist im Augenblick da und auch schon abgeschlossen.“337 Die Inhalte dieses Bewusstseins könne sich das Gericht „auf Grund allgemeiner Erfahrung“ „im Wege seelisch-geistigen Einfühlens“ erschließen.338 In seinem Beispielsfall eines Mannes, der auf eine Beleidigung hin einem anderen Mann unmittelbar eine Ohrfeige versetzt, bringt der _________________ 333
Platzgummer, Untersuchung, S. 34. Platzgummer, Untersuchung, S. 35. 335 Siehe Platzgummer, Untersuchung, S. 81 f. mit Bezug auf Affekt- und Augenblickstaten insb. S. 92 ff. Ähnliche Problemstellungen der Theorie des Mitbewusstseins, beispielweise in Bezug auf die Affekttat, behandelt Frisch in Armin Kaufmann-GS, S. 325 ff. Vgl. auch Morselli, ZStW 107 (1995), S. 337. 336 Vgl. auch Frisch, Vorsatz und Risiko, S. 266. 337 Schmidhäuser, H. Mayer-FS, S. 326; ders., StrafR AT, S. 409, Nr. 54; ders., Studienbuch, S. 213, Rn. 65 f. und kritisch zum Mitbewusstseinsbegriff Platzgummers ders., Studienbuch, S. 213, Rn. 67. 338 Siehe Schmidhäuser, H. Mayer-FS, S. 324. 334
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Schlagende vor, „er habe dem anderen so spontan diese Ohrfeige versetzt, daß er gar nicht daran gedacht habe, dieses sein Verhalten könne dem anderen Schmerzen bereiten und eine unangemessene Behandlung sein, – noch ehe er Zeit zum Besinnen gefunden, habe er dem andern schon den Schlag versetzt“.339 Dabei übersieht Schmidhäuser, dass die Voraussicht nicht nur die möglichen Folgen des Verhaltens umfassen muss, sondern auch und vor allem das Verhalten selbst. Von diesem wurde aber angenommen, dass es gerade nicht bewusst vollzogen wird. Selbst wenn man davon ausginge, dass dem Mann eine Reaktionszeit von einer halben Sekunde zur Verfügung gestanden hätte, dann wäre die Ohrfeige, die unmittelbar mit Ablauf der Reaktionszeit erfolgt, lediglich als Eindruck einer möglichen Reaktion, also sachgedanklich ins Bewusstsein gerückt. Die unmittelbar erteilte Ohrfeige spiegelt sich jedoch nicht einmal in dieser Form im Bewusstsein wieder. Hieran scheitert in diesen Fällen auch der Bewusstseinsbegriff Platzgummers, denn eine Verhaltensweise, auf die vor ihrer Ausführung keinerlei Voraussicht und von der während ihres Ausführungsbeginns keinerlei Kenntnis besteht, kann nicht subjektiv motiviert sein. Damit sich ein sachgedankliches Begleitwissen von den möglichen Folgen eines Fehlverhaltens in einer Verhaltensweise „realisieren“ kann, muss auch die Verhaltensweise selbst von einem (sachgedanklichen) Entschluss getragen sein. Die (mitbewusste) Voraussicht des möglichen Erfolges ist daher nicht das entscheidende Kriterium, weshalb hier der Vorsatz entfällt, sondern neben der mangelnden Voraussicht auch das Fehlen der Kenntnis der Verhaltensweise selbst. Ohne diese Kenntnis kann auch nach den Theorien Platzgummers und Schmidhäusers bei den Spontanreaktionen kein Wissenselement vorliegen. Zur Untermauerung dieser Argumentation soll die Theorie vom sachgedanklichen Bewusstsein im Verlauf der Untersuchung, wenn weitere Überlegungen zur kognitiven Verarbeitung erfolgt sind, noch einmal aufgegriffen werden.340
c) Das Bewusstseinsfeld nach Schewe Schewe senkt die Anforderungen an die Kenntnis ab bis zu einer „unbewussten Kenntnis“, indem er auch die unbeachteten, weil selbstverständlichen psychischen Bestände des Denkens und Handelns dem „aktuellen Bewusstseinsfeld“ hinzurechnet.341 Damit kommen grundsätzlich auch die aufgrund von Einübung unbewusst vollzogenen Spontanreaktionen als vorsätzliche Verhal_________________ 339
Siehe Schmidhäuser, H. Mayer-FS, S. 322. Siehe unten, S. 227. 341 Siehe Schewe, Bewußtsein, S. 108 ff. Ablehnend wegen des Gesetzeswortlauts des § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB Jakobs, Perspektive, S. 26; ders., StrafR AT, 8/12. 340
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tensweisen in Betracht.342 Allerdings zieht Schewe neben dieser Form der „Kenntnis“ auch die Zielrichtung des Verhaltens heran.343 Zur Veranschaulichung dient ihm ein Beispielsfall, in dem „eine wegen Lungenerkrankung in einem Wiener Spital untergebrachte verheiratete Frau auf dem Abort unerwartet entbunden [hatte]. Kind, Nabelschnur und Placenta waren in das unten mit einer Klappe verschlossene WC gefallen. Auf das Geschrei der Patientin eilte eine Nonne herbei, die die Patientin, ohne zu wissen, was geschehen war, vom Sitz hob. In diesem Moment bemerkte die Klosterfrau das sich bewegende Kind im WC. In ihrer Verwirrung ergriff sie den Griff der Spülvorrichtung und öffnete diese. Das Kind wurde sofort hinuntergespült, stürzte in dem weiten Rohr zwei Stockwerke tief und wurde unten mit zerschmettertem Schädel aufgefunden.“344 Obgleich doch hier mit Sicherheit abzusehen gewesen sei, dass die Handlung zur Tötung führte, sei es gar keine Frage, dass das Verhalten nicht auf diesen Erfolg gerichtet war und dass die Nonne – wenn überhaupt – allenfalls wegen fahrlässiger, aber niemals wegen vorsätzlicher Tötung belangt werden könnte, so Schewe.345 Wie bei Platzgummer346 ist also auch bei Schewe erforderlich, dass das Unbewusste verhaltensmotivierend wirkt. Schewe schließt hier entsprechend ebenfalls die Vorsatzhaftung aus. Nicht, weil der Erfolg bei diesen Verhaltensweisen nicht objektiv absehbar ist, sondern weil das Verhalten nicht auf diesen Erfolg gerichtet ist.347
d) Das Wollenselement Liegt das Wissenselement nicht vor, erfordert das Wollenselement in der Fallbearbeitung zwar keine eigenständige Überprüfung mehr; aus den Überlegungen zum Wissenselement ergeben sich jedoch Folgerungen für das Wollenselement, die bei der weiteren Untersuchung noch einmal ins Blickfeld geraten und daher hier festgehalten werden sollen. Das voluntative Element des Vorsatzes kann dem Wissen um die Tatumstände nicht vorangehen. Denn die Kenntnis der Umstände des gesetzlichen Tatbestands muss nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB „bei Begehung der Tat“ vorhanden sein. Ein voluntatives Vorsatzelement zu fordern, ist nur sinnvoll, wenn es aus dieser Kenntnis erwachsen, weil es mit dieser Kenntnis zusammen die Entscheidung des Täters konstituieren soll. Denn soll sich ein Täter entschei_________________ 342
Vgl. dazu auch die Kritik Stratenwerths in Welzel-FS, S. 304. Siehe Schewe, Reflexbewegung, S. 112 ff. 344 Schewe, Reflexbewegung, S. 114. 345 Siehe Schewe, ebd. 346 Siehe oben, S. 217. 347 Vgl. Schewe, Reflexbewegung, S. 114 ff. 343
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den, abwägen oder seine Prioritäten bestimmen, benötigt er hierzu eine Vorstellung, sei es auch eine irrtümliche, der Auswahlkriterien. Ohne diese ist eine subjektive Entscheidung, wie sie für die Versuchsstrafbarkeit und damit für den Vorsatz gefordert wird, nicht denkbar. Deshalb ließe sich der Mangel eines voluntativen Elements bei den Spontanreaktionen auch bereits aus den Überlegungen zu den eigenständigen Handlungsbegriffen von Rechtsprechung und Lehre herleiten, die auf die Möglichkeit zur Verhaltenssteuerung abstellen. Danach fehlte es bei der Initiation dieser Verhaltensweisen an der für eine Willensbetätigung erforderlichen geistigen Tätigkeit. Diese kann wegen der Neutralitätsfunktion des Handlungsbegriffs aber lediglich ein „Minus“ gegenüber dem Vorsatzwillen darstellen.348 Ist mithin keine geistige Tätigkeit in Form eines „natürlichen Willens“ vorhanden, kann ein Vorsatzwille erst recht nicht angenommen werden. Auf eine ähnliche Fallgestaltung hat auch der Jurist und Mediziner ArbabZadeh im Rahmen einer Untersuchung des inneren Tatbestands bei der Unfallflucht hingewiesen. Wie bei den automatisierten Verhaltensweisen könne auch hier, wie gerichtsärztliche Erfahrungen zeigten, aufgrund von Furcht vor dem Blutsehen, dem Anblick Bewusstloser oder Toter, oder dem Schreien Verletzter in einer Unfallsituation das Bewusstsein, das eine Handlung immer begleitet, beim Täter fehlen. „Er handelt, wie man schlechthin sagt, im ,Unterbewußtsein‘. In solchen Fällen handelt der Betreffende nicht auf Grund der freien oder unfreien Willensbestimmung, sondern er handelt einfach ohne Willen.“349 So entschied auch der Bundesgerichtshof in eben einem solchen Fall von Unfallflucht: Die vom vorinstanzlichen Landgericht als wahr unterstellte Behauptung des Beweisantrags, der Angeklagte sei, als er sich vom Tatort entfernte, derart verwirrt, bestürzt und kopflos gewesen, dass er nicht mehr das Bewusstsein gehabt habe, er entziehe sich der Feststellung seiner Person oder der Art seiner Beteiligung, sei mit der andererseits getroffenen Feststellung, er habe hinsichtlich des Tatbestands des § 142 StGB mit natürlichem Vorsatz gehandelt, unvereinbar. Das Landgericht hatte zwar den entsprechenden Beweisantrag abgelehnt, weil es diese Behauptung als wahr unterstellen wollte, hatte dann aber lediglich unterstellt, dass der Angeklagte „später bei der Blutprobe“ bestürzt, verwirrt und kopflos gewesen sei. Der Bundesgerichtshof gab der hiergegen gerichteten Verfahrensrüge der Vereidigung statt und ließ die Unfallflucht als Rauschtat i. S. v. § 330a (a. F.) entfallen.350
_________________ 348
Für eine Gleichsetzung von Handlungs- und Vorsatzwillen Frisch, Vorsatz und Risiko, S. 265 u. 375. 349 Arbab-Zadeh, NJW 1965, S. 1051. 350 Siehe BGH VRS 36, 36.
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Auch wenn man mit Kargl davon ausginge, dass subjektive Entscheidungen stets objektiv unfrei zustande kommen, käme man in diesen Fällen zu keiner Vorsatzhaftung. Denn um Verantwortung zu begründen, ist es auch nach Kargl erforderlich, dass der Mensch die objektiv unfreie Entscheidung als seine eigene empfindet.351 „Über die Handlungsqualität entscheidet der subjektive Tatbestand. Definiert man Handeln als Entscheidungsverhalten, dann bedingt die Handlung die Zurechenbarkeit und umgekehrt: ohne Verantwortlichkeit keine Handlung, und ohne Handlung keine Verantwortlichkeit.“352 Zwar sei die Entscheidung des Individuums nicht frei, rückblickend sei aber durch die Selbstreflektion der Person einsehbar, dass ihre Handlungsdispositionen ein entscheidender Faktor beim Zustandekommen ihres Handelns seien. „Die Person kann nunmehr wissen, daß ihre Handlungen von ihren Entscheidungen abhängen und daß diese Entscheidungen durch ihre Erfahrungen, die sich zu einem affektlogischen Bezugssystem verdichtet haben, bestimmt werden.“353 Hat sich der Täter nach seinem eigenem Empfinden nicht für sein Verhalten entschieden, dann entsteht jedoch auch nicht der Eindruck einer vorangegangen oder künftig möglichen Handlungsdisposition. Die Selbstzuschreibung entfällt und damit die wesentliche Voraussetzung zur Verhaltensveränderung, welche die Verantwortlichkeit des Individuums begründen soll. Auch nach dem Konzept Kargls liegt damit bei Spontanreaktionen keine vorsätzliche Handlung vor.354
3. Zusammenfassung Vorsatzschuld und die Schuld bewusster Fahrlässigkeit können bei den Spontanreaktionen nicht angenommen werden. Eine subjektive Beziehung zu anderen automatisierten Verhaltensweisen kann hergestellt werden, wenn sie in einen Verhaltenskomplex eingebunden sind, wie dies auf den Großteil automatisierter Verhaltensweisen zutrifft. Wird die Bewegungsausführung nachträglich bewusst und aufrechterhalten, dann kann eine subjektive Beziehung auch nach einer Spontanreaktion zu der darauf folgenden Verhaltensweise entstehen. Die Spontanreaktion selber bleibt hiervon aber ausgenommen. Fordert man vom Menschen eine solche nachträgliche Kontrollübernahme, so muss feststehen, dass er sie auch leisten kann. Es ist aber weitgehend ungeklärt, wie sich diese subjektive Aneignung vollzieht und welche Bedeutung ihr für die Verhaltenssteuerung zukommt. _________________ 351
Siehe Kargl, Vorsatz, S. 103. Kargl, Handlung und Ordnung, S. 533. 353 Kargl, Vorsatz, S. 103. 354 Entsprechendes gilt für den intentionalen Handlungsbegriff Kindhäusers (vgl. oben, S. 170, Fn. 133). 352
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Unterschiedliche Antworten auf die Frage, ob Bewusstsein hinsichtlich einer Bewegung derselben vorangeht oder der Bewegungseinleitung nachfolgt, hätten damit elementare Bedeutung auch für die subjektive Tatseite. Ersichtlich geht es hier nicht nur um eine halbe Sekunde Reaktionszeit, sondern um das Verständnis des Menschen von sich selbst, das aber, so scheint es, in einem engen Zusammenhang mit der zeitlichen Abfolge von Bewegung und Bewusstsein steht. Auch eine Vorverlegung bei der Haftung wegen unbewusster Fahrlässigkeit erfordert, dass das relevante Verhalten in einer Beziehung zum Bewusstsein, genauer zur „Erkennbarkeit“ steht. Man mag sich hier im sicheren Bereich strafrechtlicher Zurechnung wähnen, weil nun faktische Umstände, die zu beweisen wären, wie die Kenntnis oder das Wollen überflüssig werden. Die folgenden Überlegungen sollen aber auch hier die empirischen Annahmen, die dieser Zurechnung zugrunde liegen, hinterfragen.
II. Die unbewusste Fahrlässigkeit Können Vorsatz und bewusste Fahrlässigkeit bei den Spontanreaktionen ausgeschlossen werden, verbleibt die Möglichkeit einer unbewussten Fahrlässigkeit.355 Sie setzt Erkennbarkeit der Erfolgsverwirklichung und darauf beruhend die Möglichkeit zur Vermeidung voraus. Auf die problematisierten Fälle übertragen hieße dies, dass entweder ab Eintritt des konkret gefahrbegründenden Ereignisses die Erfolgsverwirklichung aufgrund einer Fehlreaktion erkennbar oder aber die abstrakte Möglichkeit des Eintritts einer Gefahrensituation vorhersehbar war und damit die Steuerung des eigenen Organismus nicht den Automatismen überlassen werden durfte, sondern vom bewussten Willen hätte übernommen werden müssen.
1. Erkennbarkeit aufgrund des konkret riskanten Verhaltens „Die Umstände sind erkennbar, wenn der Täter [sc.: der ein Vermeidemotiv hat] sein Verhalten der bestimmten Art und dessen Folgen im Tatzeitpunkt als _________________ 355
Ablehnend M. Köhler, StrafR AT, S. 172 f., 201; ders., Fahrlässigkeit, S. 397 ff. Die Differenzierung zwischen bewusster und unbewusster Fahrlässigkeit entfällt freilich beim Bewusstseinsbegriff Schewes (s. Bewußtsein, S. 108 ff.), der die Problematik der Spontanreaktionen bei der „Zurechnungsfähigkeit“ ansiedelt (s. Reflexbewegung, S. 138 f.), die wiederum eng verknüpft ist mit dem Begriff der Willenssteuerung (s. Reflexbewegung, S. 130 ff., 134), weshalb auch er zu keinem abweichenden Ergebnis gelangen dürfte.
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nicht unwahrscheinlich so bestimmt erkennen und somit unterlassen würde.“356 Dabei liegt der Haftungsgrund nach Jakobs jedoch nicht in der fehlenden Erkenntnis oder Erkenntniserlangung: „Es gibt keine Pflicht, sich Kenntnis zu verschaffen, sondern nur eine Pflicht, erkennbar tatbestandsmäßige Handlungen im Fall ihrer Rechtswidrigkeit zu vermeiden; letzteres mag der Täter über eine Kenntnisverschaffung leisten oder, wenn sich der dafür erforderliche Aufwand seines Erachtens nicht lohnt, indem er es blind unterläßt.“357 Die Wahrnehmung der Umstände, insbesondere auch gefahrbegründender Ereignisse, ist Voraussetzung einer adäquaten Reaktion. Wurde bisher die Umsetzung des Willens nach außen untersucht, geht es nun also darum, was von außen ins Bewusstsein gelangt.
a) Die visuelle Wahrnehmung als Erkenntnisquelle Einen wesentlichen Informationszufluss erfährt der Täter dabei über die visuelle Wahrnehmung, die hier exemplarisch behandelt werden soll. Der Begriff der „Wahrnehmung“ wird dabei im Folgenden ausschließlich im Sinne bewusster Wahrnehmung358 verwendet. Die Bedeutung visueller Wahrnehmung für das Strafrecht wird ersichtlich, wenn man sich Beispiele von Wimmer vor Augen führt. So können die Sinne eines Kraftfahrers im Straßenverkehr zu wenig gereizt werden, wenn es sich um ein unauffälliges oder sonst nur schwach wahrnehmbares Objekt handle, das bei vielen Verkehrsteilnehmern nicht „ankomme“, so zum Beispiel, wenn man an einer Straßenstelle, die man oftmals befahren habe, einen ganz unauffälligen Wechsel im Verkehrsschild nicht bemerke. Diese „Unterforderung“ könne bewirken, dass man sich von einem falsch Vorausfahrenden verführen lasse.359 Gleiches gelte für den Kraftfahrer, der das Schild „Vorfahrt achten!“ nicht beachtet, die nachfolgende Straßenkreuzung zügig überfährt, dadurch einen von links kommenden PKW zu einer Gefahrenbremsung veranlasst und sich diesbezüglich „unwiderleglich“ einlässt, _________________ 356
Jakobs, StrafR AT, 9/2. Jakobs, ebd; vgl. auch AK-Zielinski, §§ 15, 16, Rn. 132. 358 Nicht zu verwechseln mit dem Rechtsbegriff „Vorhersehen“, das auf einen Erfolg gerichtet ist und ein rein interner Vorgang, also ohne eintreffende Reize, sein kann. Vgl. auch Armin Kaufmann, der jedoch, begrifflich ungenau, davon spricht, dass kurzsichtige oder sklerotische Kraftfahrer die Unfallfolge nicht „vorhersehen“ könnten (vgl. WelzelFS, S. 405). 359 Vgl. Wimmer, NJW 1959, S. 1756; vgl. auch Luff, Der öffentliche Gesundheitsdienst 1957, S. 162; Duttge, Bestimmtheit, S. 406; dazu Herzberg, den es jedenfalls „nachdenklich gemacht“ hat, dass Duttge aus kognitionspsychologischen Erwägungen in diesen Fällen Verständnis mit den Autofahrern aufbringt (s. Herzberg, GA 2001, S. 582). 357
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er habe das Schild nicht gesehen und deshalb nur aufgepasst, ob etwas von rechts komme.360 Man würde in diesem Fall davon ausgehen, dass der Fahrer bei Kenntnis der tatsächlichen Verkehrsregelung sein Verhalten entsprechend eingestellt hätte und vorsichtiger an die Kreuzung herangefahren wäre. Diese Kenntnis hätte er sich verschaffen können, indem er auf das Schild geachtet hätte. Die bewusste Beachtung von Gegenständen in der Umwelt erfordert wiederum eine bewusste visuelle Wahrnehmung. Es wäre zur Vermeidung des Verhaltens also erforderlich gewesen, das Schild bewusst wahrzunehmen und entsprechend zu reagieren. Dies erscheint jedoch nicht immer einfach. Wie Wimmer anmerkt, pflege eine wirkliche Beunruhigung beim Gericht dann einzutreten, wenn der Angeklagte selber ausführt, er könne sich nicht erklären, wieso er das Verkehrszeichen nicht bewusst wahrgenommen habe. Dazu könne er noch hinzufügen, dass es ihm an Fahrübung, gutem Willen, Frische und Aufmerksamkeit keineswegs gefehlt habe, dass er auch in die Richtung des Verkehrsschildes geblickt, aber kein Schild bemerkt habe.361 Wimmer wirft deshalb die Frage auf, ob es nicht auch „unverschuldete Fehlleistungen“362 geben könnte, und kommt zu dem Ergebnis, dass bei funktionellen Kraftfahrer-Fehlleistungen oft die theoretische Möglichkeit einer unverschuldeten Störung in Betracht komme, der Richter diese Möglichkeit jedoch außer Betracht lassen müsse, „weil er sie weder ausräumen noch verifizieren könnte“.363 Luff schildert einen Fall, in welchem ein Zeuge, der sich als Beifahrer neben dem Angeklagten befunden hatte, ein Kind, das zuvor über einen freien Platz gelaufen war, erst unmittelbar bevor es vor das Auto lief wahrgenommen hatte. Dies lässt Luff zufolge den Schluss zu, dass die bewusste Wahrnehmung bei verschiedenen Menschen durchaus unterschiedlich funktioniert. Tritt ein Objekt in den visuellen Wahrnehmungsbereich, muss es also nicht auch stets bewusst wahrgenommen werden. Neben den Komplex der Funktionsweise visueller Reizung tritt damit auch die Frage nach dem Zustandekommen bewusster Wahrnehmung. Denn eine Kenntnis der Umstände ist nur auf der Grundlage bewusster Wahrnehmung möglich; hinzu kommt die Auseinandersetzung mit dem Bedeutungsgehalt des Wahrgenommenen.364
_________________ 360
Siehe Wimmer, NJW 1959, S. 1753. Vgl. Wimmer, NJW 1959, S. 1754. 362 Wimmer, NJW 1959, S. 1755. 363 Wimmer, NJW 1959, S. 1757. 364 Vgl. dazu die Ausführungen bei Dannert, DAR 1997, S. 486. 361
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b) Erkenntnisse aus den Reaktionszeitfällen Erst seit dem Ende der siebziger Jahre beschäftigt man sich eingehender mit dem Anfangszeitpunkt der Reaktionszeit. Grundlage dieser Neuorientierung sei in erster Linie die Erkenntnis gewesen, „daß in Notfällen die Reaktion des Kraftfahrers überwiegend mit einer Blickzuwendung [hin zum Gefahrereignis] verbunden ist“.365 Diese wurde ursprünglich als die Zeit definiert, die von der peripheren Wahrnehmung bis zum Beginn der Objektfixierung vergeht und auftritt, wenn die Gefahrenquelle außerhalb des fovealen (= scharf gesehenen) Bereichs wahrgenommen wird.366 Nimmt der Kraftfahrer somit ein Ereignis nur aus dem „Augenwinkel“ wahr, vergeht zunächst eine Zeitspanne von circa 0,48 Sekunden, bis er das Ereignis in das Zentrum seines Blickwinkels rücken und so „erkennen“ kann.367 Man begann also zwischen dem subjektiv wahrnehmbaren Erscheinen eines Ereignisses und dem „Erkennen“ desselben zu unterscheiden.368 Praxisrelevant wird diese Unterscheidung, wenn beispielsweise ein unerwartet vor einem fahrenden Fahrzeug auftauchendes Kind nur als schemenhafter Umriss wahrgenommen wird, der ebensogut zu einem Tier oder einem Gegenstand gehören könnte. Da diese Problematik den Funktionskomplex des Auges sowie den Zusammenhang zwischen visueller Reizverarbeitung und bewusster Wahrnehmung betrifft, ergeben sich hieraus bis heute immer neue Fragestellungen. Die empirischen Wissenschaften beschäftigen sich dabei vorwiegend mit der medizinisch-optischen Funktionsweise des Auges. So führt Löhle die sogenannte „Korrektursaccadendauer“ an, eine Zeitspanne, die in 30 Prozent aller Fälle zur Blickzuwendungsdauer hinzukomme, wenn der Blickzuwendungswinkel mehr als 5 Grad betrage und die Blickzuwendung deshalb zunächst über das anzufixierende Objekt hinausschwinge bevor es mittels einer Rückwendung schließlich zur Fixierung komme. Daneben sei bei einem Blick auf den Tachometer auch eine Nah-Fern-Adaption erforderlich.369 Und Roddewig macht darauf aufmerksam, dass das Auge auch eine Zeitspanne benötige, um sich auf besonders schlechte Kontraste von Objekten vor dunklen Hintergründen einzustellen, die sogenannte „Readaptationszeit“.370 Diese medizinischen Überlegungen sind jedoch nur ein Teilbereich der „Erkennbarkeits-Problematik“. Zu den physiologischen Grundvoraussetzungen kommt der kognitiv verarbeitende Bereich, der _________________ 365
Dannert, DAR 1997, S. 481. Siehe Roddewig, DAR 1983, S. 386; vgl. auch Löhle, Verkehrsunfall 1983, S. 140. 367 Siehe Engels, DAR 1982, S. 362. 368 Vgl. hierzu auch Spiegel, DAR 1982, S. 372. 369 Siehe Löhle, Verkehrsunfall 1983, S. 140. 370 Siehe Roddewig, DAR 1983, S. 384. 366
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erst die bewusste Wahrnehmung ermöglicht. Allgemeinen Überlegungen zur Frage, welchen Voraussetzungen die kognitive Verarbeitung unterliegt, sollen aber zunächst Gedanken zum Erfordernis bewusster Wahrnehmung für Reaktionen vorangestellt werden.
c) Verhältnis von Reaktion und Wahrnehmung „Die juristischen Forderungen an die Sorgfaltspflicht eines Kraftfahrers basieren letzten Endes auf der Voraussetzung, daß seine Verhaltensweise voll kontrollierbar ist und auf die Reaktionskette – bewußte Wahrnehmungen – kritisches Verarbeiten und Durchdenken des Wahrgenommenen – überlegtes Handeln – zurückgeht.“371 Diese von Luff beschriebene Reaktionskette kann aufgrund der Überlegungen zur Vermeidbarkeit bestätigt werden. Auch der „Wille“ erschien sowohl im Handlungsbegriff als auch bei der Frage der Vorsätzlichkeit eingebunden in diesen temporalen Ablauf. Er stellte sich dar als das Resultat der mehr oder weniger kritischen Verarbeitung des bewusst Wahrgenommen und als Initiator der darauf folgenden Handlung. Bei den Spontanreaktionen ging man demgegenüber davon aus, dass diese Reaktionen vor ihrer Ausführung nicht bewusst verarbeitet werden. Stratenwerth forderte für ihre Handlungsqualität indes nur, dass sie „erlebnismäßig bedingt und insoweit situationsabhängig sein“ müssten.372 „Erleben“ setzt begrifflich aber ebenfalls wenigstens eine subjektive, mithin bewusste Verarbeitung – in diesem Fall der Situation – voraus. Meyer-Gramcko zufolge sagten von 75 Fahrern 61 vor Gericht aus, sie hätten die Gefahr erst an einer Stelle erkannt, an welcher sie tatsächlich bereits mindestens eine Sekunde und entsprechend viele Meter zuvor reagiert hatten: an der Stelle nämlich, an der die Bremsen wirksam wurden und die Räder zu blockieren begannen. Sie hätten also zu ihren Ungunsten ausgesagt, obschon sie die Gefahr bereits vorher erkannt und dementsprechend auch reagiert hätten. Die übrigen Fahrer, die alle von einem Rechtsanwalt verteidigt wurden, hätten angegeben, die Gefahr an der Stelle erkannt zu haben, an der sie sie aufgrund des technischen Beweises des Sachverständigen auch tatsächlich erkannt haben mussten. Die Angabe eines späteren Zeitpunkts des Reaktionsbeginns erklärt sich Meyer-Gramcko zufolge daraus, dass bei automatisierten Fahrhandlungen die Reaktion auf den Reiz ohne bewusstes Überlegen ablaufe.373 _________________ 371
Luff, DAR 1959, S. 90 (gemeint sind weniger die „Forderungen an die Sorgfaltspflicht“, als vielmehr diese selbst). 372 Vgl. oben, S. 171 f. 373 Siehe Meyer-Gramcko, Verkehrsunfall 1990, S. 193.
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Das erklärt indes nicht, weshalb die Wahrnehmung der Gefahr erst circa eine Sekunde nach Reaktionsbeginn erfolgte. Wenn die Möglichkeit besteht, dass eine körpereigene Reaktion erst wahrgenommen wird, wenn sie bereits ausgeführt wird,374 dann wäre es auch denkbar, dass die Wahrnehmung des situativen Reizes erst erfolgt, wenn die Reaktion bereits eingeleitet wurde. Hierfür spricht auch ein von Luff angeführtes Beispiel aus der Rechtsprechung. Ein Kraftfahrer erfasste mit seinem PKW eine etwa auf der Mitte einer breiten Straße stehende Frau und verletzte sie tödlich. Er war mit nicht überhöhter Geschwindigkeit auf der rechten Fahrbahnseite gefahren und hatte plötzlich den Wagen nach links gezogen, wo die Frau stand und darauf wartete, die Fahrbahn überqueren zu können. In der Gerichtsverhandlung erklärte er dann, es sei ihm unverständlich, weshalb er den Wagen plötzlich nach links gerissen habe. Während mehrere Zeugen schildern konnten, wie die Frau angefahren wurde, habe ein Zeuge ausgesagt, dass der Unfall durch einen Taxifahrer verursacht worden sei, der mit seinem Wagen aus einer Seitenstraße herausgeschossen war und den Angeklagten zum Ausweichen gezwungen habe.375 Setzt man, wie es Luff selber tut, die Wahrheit dieser Zeugenaussage voraus, so ist der Grund des Ausweichmanövers hier objektiv eindeutig. Nur hatte selbst der Angeklagte keine Kenntnis von den tatsächlichen Umständen. In diesem Fall hatte also offenbar der retinal verarbeitete Reiz des ursächlichen Ereignisses verhaltensmotivierend gewirkt, ohne dass eine bewusste Wahrnehmung des Reizes eintrat; es kam zwar zu einer situationsabhängigen, aber nicht zu einer (in Stratenwerths Formulierung) „erlebnismäßig bedingten“ Reaktion des Täters376; denn „Erleben“ setzt Bewusstsein voraus. Möglich erscheint daher, dass auch in den von Meyer-Gramcko geschilderten Fällen nicht die Kenntnis von der konkreten Gefahr die Reaktion auslöste, sondern die Reaktion dem Bewusstsein von der Gefahr voranging. Die Kritik an Schmidhäusers Interpretation seines Beispielsfalles eines spontan ohrfeigenden Mannes lässt sich daher um folgende Überlegungen ergänzen. Problematisch erschien bisher das Vorhandensein eines sachgedanklichen (Mit-)Bewusstseins von der Reaktion an sich. Nach Schmidhäuser soll sich der Mann aber auch der übrigen Tatumstände, mithin auch des auslösenden Ereignisses, der Beleidigung, „sachgedanklich“ bewusst gewesen sein. Dass es sich hierbei nicht um eine sprachlich repräsentierte Bewusstseinsform handeln soll, hindert nicht daran, den Zeitpunkt des sachgedanklichen Bewusstsein im Nachhinein richtig wiederzugeben, da man ansonsten wohl nicht von einem Bewusstsein wird sprechen können. So werden auch die Autofahrer bei der Frage, wann sie die Gefahr zuerst erkannt haben, sicher nicht über den Zeit_________________ 374
Vgl. Meyer-Gramcko, oben, bei Fn. 325. Siehe Luff, Der öffentliche Gesundheitsdienst 1957, S. 162. 376 Vgl. auch die Ausführungen Luffs, DAR 1959, S. 93. 375
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punkt der sprachlichen Repräsentation sinniert, sondern sich eher des bildhaften Eindrucks erinnert haben, der in diesem Augenblick in ihnen entstanden ist – eben jenes Eindrucks, den das sachgedankliche Bewusstsein nach Schmidhäuser vermitteln soll, der denn auch anmerkt: „Rasches Reagieren in überraschenden Situationen (man denke nur an den modernen Straßenverkehr) ist nur sachgedanklich möglich.“377 Wenn das sachgedankliche Bewusstsein von der Gefahrensituation jedoch erst nach Vollzug des Verhaltens entstand, wie es nach den Schilderungen Luffs und Meyer-Gramckos immerhin möglich erscheint, dann hätten die Autofahrer unter Umständen weder sprachgedanklich noch sachgedanklich bewusst reagiert. Mit anderen Worten: Sie hatten beim Vollzug der Spontanreaktion unter Umständen keinerlei bewusste Kenntnis von dem konkret gefahrbegründenden Ereignis. Zur richtigen Erfassung der Phänomene erscheint es daher nicht nur erforderlich, der Weise des Denkens auf die Spur zu kommen, wie dies Schmidhäuser fordert378, sondern auch die Beziehung des „Denkens“ zum Verhalten allgemein zu hinterfragen. Für die strafrechtliche Würdigung der Spontanreaktionen ergibt sich nach dem Gesagten, dass neben der Vermeidbarkeit und der Kenntnis von der Reaktion als solcher auch die Möglichkeit der Kenntnisnahme des unmittelbar zur Reaktion „motivierenden“ Ereignisses fraglich erscheint. Hieraus ergeben sich Konsequenzen für die Erkennbarkeit zum Zeitpunkt der konkreten Gefahrenlage. Denn ohne die Möglichkeit zur bewussten Kenntnisnahme des konkret gefahrauslösenden Ereignisses ist bei einer automatisierten Reaktion wie der Spontanreaktion, die also gleichfalls unbewusst erfolgt, nicht ersichtlich, worauf sich die Annahme der Erkennbarkeit der Erfolgsverwirklichung stützen sollte, wenn sie nicht, was nun zu überlegen sein wird, an etwas anknüpfen kann, das bereits vor dem erfolgsverursachenden Ereignis liegt.
2. Erkennbarkeit aufgrund äußerer gefahrerhöhender Umstände Die Gefahr wird im „Fliege-Fall“379 und im „Kleintier-Fall“380 nicht allein mit der vom Kraftfahrzeug allgemein ausgehenden Gefahr begründet, sondern vor allem mit einem erhöhten Risiko wegen des heruntergekurbelten Fensters im Zusammenspiel mit der Unerfahrenheit der Fahrerin beziehungsweise den schlechten Sichtverhältnissen infolge der eingebrochenen Dämmerung.381 Der _________________ 377
Schmidhäuser, H. Mayer-FS, S. 327. Vgl. auch AK-Zielinski, §§ 15, 16, Rn. 26. Schmidhäuser, H. Mayer-FS, S. 324. 379 Siehe Teil 2, Kap. 1, bei und in Fn. 83. 380 Siehe Teil 2, Kap. 1, bei und in Fn. 82. 381 Ansonsten müsste man sich mit der Frage auseinandersetzen, warum infolge des allgemein erhöhten, aber gesellschaftlich akzeptierten Risikos des Autofahrens eine ständig erhöhte Aufmerksamkeit und Handlungsbereitschaft gefordert werden könnte, 378
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Unterschied zur vorangegangenen Untersuchung der Erkennbarkeit besteht damit im Wesentlichen darin, dass die Umstände in den Beispielsfällen einen ausreichenden Zeitraum zur Verarbeitung gewähren, die Erkennbarkeit der Erfolgsverwirklichung also nicht aufgrund eines Zeitdefizits ausgeschlossen erscheint. In diesem Fall käme nach Jakobs die Möglichkeit des Unterlassens einer Gegenmotivation in Betracht, aus dem die Handlungsqualität der automatisierten Verhaltensweise folgen würde.382 Berücksichtigt man jedoch das zu den Voraussetzungen visueller Wahrnehmung Gesagte, dann legen die Beispiele Wimmers nahe, dass Wahrnehmung in Abhängigkeit von bereits gespeicherten Informationen, also vom Gedächtnis steht. Geschieht die Informationsverarbeitung auf der Grundlage bereits vorhandener neuronaler Strukturen383, dann könnte die gesamte Lebensgeschichte eines Menschen, unter Umständen auch seine genetische Veranlagung, mitentscheidend sein für das, was für ihn „erkennbar“ ist und was nicht. Die im Gedächtnis gespeicherten Informationen zu durchbrechen, bedarf es – auch dies legen die Beispielsfälle Wimmers nahe – offenbar besonders auffälliger Hinweise. Die in den Rechtsprechungsfällen hervorgehobenen „außergewöhnlichen“ Umstände könnten damit als „Alarmsignale“ für mögliche Gefahrensituationen wirken. Hätten die Angeklagten aber vor dem Unfall bereits eine längere Strecke unter diesen Umständen zurückgelegt, dann könnte auch die Erkennbarkeit der Erfolgsverwirklichung durch die tatsächlich erfahrene, wiewohl nur vermeintliche Gefahrlosigkeit unmöglich geworden sein. Vollzieht sich dies ebenso automatisch, wie erlernte Verhaltensweisen unbewusst ausgeführt werden, dann bliebe auch hier nur der Weg, an eine abstrakte geistige Fähigkeit des Menschen anzuknüpfen, während die konkrete Möglichkeit der Erkennbarkeit ausgeschlossen werden müsste. Hierfür spricht, dass die Kapazität bewusster Verarbeitung begrenzt ist, weshalb vermutlich nicht einfach willkürlich Umstände ins Bewusstsein gerufen werden können. Es geht also für die Erkenn_________________
wenn diese von niemandem erbracht werden kann, ja einem reibungslosen Führen des Fahrzeugs geradezu entgegen stünde (vgl. Luff, Der öffentliche Gesundheitsdienst, S. 157; ders., DAR 1959, S. 90 ff.; vgl. auch OLG Düsseldorf NJW 1966, 664, 665; dazu Spiegel, DAR 1968, S. 287). Wobei natürlich auch das Fahren mit geöffneten Fenster, mit wenig Fahrpraxis (wie soll diese erworben werden, wenn nicht das Risiko des ungeübten Fahrens eingegangen wird?) und bei Dunkelheit nicht unbedingt ein demgegenüber zurechenbar erhöhtes Risiko darstellen. Kritisch auch Jakobs: „Wenn aber die Risikogewöhnung Folge eines praktisch unumgehbaren Verhaltens ist, also insbesondere Folge rechtmäßiger Teilnahme am Straßenverkehr, dann liegt ihr Grund nicht im Verantwortungsbereich des Täters und eine Normativierung ist ausgeschlossen.“ Und: „[...] das praktisch Unumgehbare wird als individuell Umgehbares fingiert“ (StrafR AT, 8/31 u. Bruns-FS, S. 41, jeweils m. w. N.). 382 Vgl. oben, S. 183. 383 Vgl. dazu oben die Ausführungen zu Kargl, S. 62 f.
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barkeit der Tatumstände auch um die Frage, ob ein „Wahrnehmungsautomatismus“ willentlich überlagert werden kann.384 Hinge die Erkennbarkeit eines Sorgfaltspflichtverstoßes oder möglichen Erfolges in hohem Maße von den Vorerfahrungen ab und könnten somit Gefahrenpotentiale durch die wiederholte Ausführung einer Tätigkeit nicht mehr bewusst werden oder im Verlaufe einer Tätigkeit aus dem Bewusstsein „verschwinden“, dann könnte zur Begründung der unbewussten Fahrlässigkeit allenfalls auf ein „Bewusstseinsfeld“ im Sinne Schewes385 zurückgegriffen werden, wodurch allerdings die Begründungselemente der Schuld unter Umständen weit vor das eigentliche Tatgeschehen verlagert würden, was möglicherweise der Annahme einer Lebensführungsschuld gleich käme.386 Dagegen vertritt Stennert die Ansicht, eines Rückgriffs auf die Lebensführungsschuld bedürfe es nicht, weil – ähnlich der Auffassung Welzels387 – lediglich entscheidend sei, „daß der Täter die betreffende Tätigkeit ohne die dazu erforderlichen Fähigkeiten überhaupt übernommen hat“.388 _________________ 384
Philipps stellt heraus, dass es sich bei Unfällen im Straßenverkehr zum Teil um „Massenphänomene“ handelt, also um Phänomene, die bei einer statistischen Häufigkeit im Einzelfall zum Verletzungserfolg führen, im Übrigen aber folgenlos bleiben, weshalb auch die bewusste Übertretung diesbezüglicher Schutzvorschriften durch den einzelnen nicht in dem Maße fehlerhaft sein könne, dass hieraus eine Haftung aus Vorsatz erwachse (s. ZStW 85 [1973], S. 42 f.). Vgl. auch Kindhäuser, Gefährdung, S. 128 f. Jakobs greift diesen Gesichtspunkt unter psychologischen Aspekten auf: „Ein Autofahrer kann nicht jedesmal, wenn ein Nachfolgender den Sicherheitsabstand auf der Autobahn bei 100 km/h auf 20 m verringert, ernsthaft seinen eigenen Tod prognostizieren. Verhält er sich aber selbst entsprechend falsch, wie soll er dann (seinen wie zudem:) den Tod des anderen ernsthaft prognostizieren können?“ (Bruns-FS, S. 34). 385 Dazu oben, S. 218. 386 Vgl. auch Franzheim, NJW 1965, S. 2001, mit Blick auf eingeübte falsche Automatismen. Man wird wohl auch die Anforderungen, die Boehm an den Verkehrsteilnehmer stellt, nur mit dem Gedanken von einer Lebensführungsschuld in die Verantwortlichkeit einbeziehen können (vgl. Boehm, Fehlleistungen, S. 111 ff.). Der Verkehrsteilnehmer soll sich, so Boehm, „einen Schatz abgesunkener Verhaltensweisen [...] bilden“, um adäquat auf Gefahrensituationen reagieren zu können (Fehlleistungen, S. 116). Diese „abgesunkenen Verhaltensweisen“ entstünden aus der Fahrpraxis im Straßenverkehr. Wer die „typischen, habitualisierten Muster“ nicht erbringe, dem werde sein Zurückbleiben hinter dem „allgemeinen Maßstab“ strafrechtlich zugerechnet: „Entweder in der Form, daß er falsche oder infolge mangelnder Übung keine oder nicht genügend habituelle Muster gebildet hat“ (Fehlleistungen, S. 116). Stratenwerth bermerkt, dass die Lebensführungsschuld, nichts anderes sei „als ein mühsam verhüllter Kunstgriff, um präventive Notwendigkeiten doch noch notdürftig mit dem Schuldgedanken zu versöhnen“ (Zukunft, S. 44). 387 Dazu oben, S. 169. 388 Stennert, S. 358.
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Einem Autofahrer, der bei Dunkelheit nicht ununterbrochen mit auf die Fahrbahn rennenden Tieren rechnet, würde man aber kaum seine generelle Befähigung zum Führen eines Kraftfahrzeugs absprechen. Anzunehmen ist eher, dass sich jeder Autofahrer hin und wieder bei der eigenen Unaufmerksamkeit ertappt. So kommt nach dreißigjähriger Tätigkeit als Richter und zwanzigjähriger Fahrerfahrung auch Münzel zu dem Schluss: „Man braucht kein leichtfertiger Fahrer zu sein, um Fußgänger und Radfahrer […] erst spät zu sehen. Ich stehe nicht an zuzugeben, daß ich manche Fußgänger und Radfahrer erst gesehen habe, als sie an meiner rechten Seite vorbeihuschten.“389 Aufgrund kognitionspsychologischer Erkenntnisse gibt daher auch Duttge zu bedenken: „Strafrechtliche Verantwortlichkeit darf doch nur dort zugemutet werden, wo sie auch tatsächlich zu leisten ist. Anstelle somit – von der einzelnen Konstellation abstrahiert und auf der Basis einer Art von ,Laienpsychologie‘ – für den Regelfall pauschal von einem ,Erkennen-Können‘ der Rechtsgutsbeeinträchtigung auszugehen, muß der Einsicht der professionellen Psychologie Rechnung getragen werden, daß der menschliche Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozeß außerordentlich komplex, nur begrenzt leistungsfähig und stets täuschungsanfällig ist. Soweit daher ,Wahrnehmungsschwellen‘ (wie auch Entscheidungs- und Reaktionsgrenzen) bekannt sind, müssen diese bei der strafrechtlichen Beurteilung unbedingt beachtet werden, soll die ,Leichtigkeit‘, mit der sich die Beiträge menschlichen Fehlverhaltens im Nachhinein identifizieren lassen, nicht dazu führen, daß ,Sündenböcke‘, nicht aber persönlich Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden.“390 Weil Risikogewöhnung im Bereich minimaler Risiken unumgehbar sei und allgemein auftrete, sieht Jakobs hier Anzeichen für eine Zufallshaftung.391 Hingegen sei die „Beanspruchung von Sonder-,Rechten‘ “ im Sinne einer wiederholten Herbeiführung hoher Risiken persönlich und nicht allgemein und die Risikogewöhnung hier umgehbar, da sie keine Folge einer praktisch nicht zu vermeidenden Lebensführung sei.392 Eine höhere Risikogewöhnung mag zwar nicht „allgemein“ auftreten, es erscheint aber keinesfalls ausgeschlossen, dass aufgrund früher Disposition bei einigen Menschen ein anderes Empfinden von der Gefährlichkeit besteht. Ist dem so, ließe sich die Vermeidbarkeit der Lebensführung erfahrungswissenschaftlich wieder nur schwer begründen, und _________________ 389
Münzel, DAR 1956, S. 181. Duttge, Bestimmtheit, S. 409. Vgl. zum Erfordernis der Anpassung des Juristen an den jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Forschung auch Luff, Der öffentliche Gesundheitsdienst 1957, S. 162. 391 Siehe Jakobs, Bruns-FS, S. 39. Vgl. zur Fahrlässigkeit als Erfolgshaftung auch Stratenwerth, Schaffstein-FS, S. 187 f. m. w. N. 392 Siehe Jakobs, Bruns-FS, S. 41 f. 390
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normativ nur, wenn die Berechtigung hierauf gegründeter Vorwürfe vernünftig dargelegt werden kann. Daneben wirft der Fall des Kriminalhauptmeisters393 das Problem auf, ob bei mehreren, gleichzeitig vorhandenen Risiken auch alternative Handlungsbereitschaften verlangt werden können. Da der Kriminalhauptmeister jedenfalls vornehmlich die Gefahr der Entwendung seiner Waffe abzuwenden versuchte, könnte die daneben existierende Gefahr der versehentlichen Tötung des Angreifers hiervon gleichsam „überlagert“ worden sein, weshalb ihm ein Unterlassen des Schusses trotz erhöhter Aufmerksamkeit unter Umständen nicht möglich war. Da hilft es auch nicht, mit Kargl zu fragen, inwieweit der Handelnde innerlich beteiligt war, bevor er in die unausweichliche Situation geriet394; es kommt vielmehr darauf an, wodurch die innere Beteiligung bestimmt wird.
3. Folgerungen Die Spontanreaktionen stellen das Strafrecht damit auch im Bereich der unbewussten Fahrlässigkeit vor konkrete Probleme. Eine Erkennbarkeit zum Zeitpunkt des konkret gefährdenden Ereignisses erscheint zweifelhaft, da nach dem Gesagten auch das Ereignis offenbar nicht immer bewusst verarbeitet wird, bevor es zur Reaktion kommt. Durch die Vorverlagerung in den Bereich abstrakter Gefährdung durch risikoerhöhendes Vorverhalten wird diese Problematik, die ebenso wie die Wahrnehmung der Reaktion selbst auf einen Mangel an Zeit zurückzuführen sein könnte395, zwar umgangen, an ihre Stelle tritt aber die Frage, ob und inwieweit „Wahrnehmungsautomatismen“ wirken könnten und wie diese zu vermeiden wären. Denn die Wahrnehmung könnte ebensolchen Automatisierungsmechanismen unterliegen wie das Verhalten, wodurch sich die Frage, ob ein Automatismus willentlich überformt werden kann, im Bereich bewusster Wahrnehmung gleichfalls stellte. In Bezug auf das bewusste Wollen hat Schopenhauer zu Recht auf den unendlichen Regress in der Beweisführung hingewiesen, der sich durch eine Bejahung ergäbe.396 Geht man dagegen davon aus, dass unvermeidbare Automatismen auch bei der Wahrnehmung existieren, wie dies durch die Beispiele von Wimmer397 nahegelegt wird, dann stellt dies die Voraussetzungen strafrechtlich relevanter Erkennbarkeit generell in Frage. _________________ 393
Dazu oben, Teil 2, Kap. 1, bei und in Fn. 25. Siehe Kargl, Handlung und Ordnung, S. 535. 395 Man denke an die schnelle Abfolge von Bildern bei einem Fernsehfilm, wo die einzelnen Bilder für sich nicht mehr wahrgenommen werden können. 396 Siehe Schopenhauer, Ethik, S. 6. 397 Siehe oben, S. 224. 394
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Zwar bemerkt Roxin: „Die Annahme, es stehe in niemandes Macht, die Umstände zu bedenken, die einem nicht einfallen, ist irrig. Unser ganzes Sozialleben beruht darauf, daß es dem Menschen möglich ist, von ihm ausgehende Gefahren zu überprüfen und unter Kontrolle zu halten; wäre es anders, so würde z. B. der Autoverkehr untragbare Risiken mit sich bringen und eingestellt werden müssen.“398 Diese Folgerung ist aber nicht schlüssig. Das Sozialleben des Menschen steht zwar in engem Bezug zu seiner Fähigkeit, Zusammenhänge zu erfassen und sich insbesondere auch möglicher Folgen bewusst zu sein; aus dieser Fähigkeit folgt aber nicht, dass auch dort die Möglichkeit besteht, sich hypothetischer Verlaufsmöglichkeiten bewusst zu sein, wo diesbezüglich keine bewusste Repräsentation vorhanden ist. Der Autoverkehr wäre ohne eine solche Kontrollmöglichkeit künftiger Gefahren nicht risikoreicher. Jede andere Folgerung setzte die Möglichkeit zur „Bewusstseinssteuerung“ voraus, bildete also einen Zirkelschluss. Ob sich der Autoverkehr aber durch das Bewusstsein von der Begrenztheit menschlicher Möglichkeiten zukünftig anders entwickelt oder eingestellt wird, kann hier ebenso wenig beantwortet werden wie die Frage, ob das Strafrecht infolge dieser Erkenntnis verändert oder gar abgeschafft wird.
III. Zwischenergebnis und Überleitung Es konnte bisher festgestellt werden, dass die Untätigkeit eines Autofahrers auf eine plötzlich auftretende Gefahrensituation hin ihm innerhalb eines gewissen Zeitraumes, der als erforderlich für eine bewusste Verarbeitung und Entscheidung angesehen wird, mangels Vermeidbarkeit nicht vorgeworfen wird. Vermeidbarkeit setzt damit die Möglichkeit zu bewusst gesteuertem Verhalten voraus. Spontanreaktionen verlaufen zwar bei Bewusstsein, jedoch unwillkürlich. Diese Annahme wird sowohl durch Erlebnisberichte, denen zufolge die Reaktion „automatisch“ abläuft, unterstützt, als auch dadurch, dass nicht nur die Bewegung als solche, sondern offenbar auch das reaktionsauslösende Ereignis nicht bewusst verarbeitet sein muss, um die Reaktion hervorzurufen. Eine spontane Reaktion müsste daher nach denselben Maßstäben beurteilt werden wie eine unmittelbare Passivität, also innerhalb des gleichen Zeitraumes als unvermeidbar angesehen werden. Können Spontanreaktionen aufgrund ihrer Unmittelbarkeit nur ohne Willensbetätigung erfolgen, so kann ihnen nach allen Handlungslehren, die eine Möglichkeit zu willentlicher oder bewusster Verhaltenssteuerung voraussetzen, keine Handlungsqualität zugeschrieben werden. Daneben entfällt die Handlungsqualität auch nach denjenigen Lehren, die auf eine objektive Beherrschbarkeit oder individuelle Vermeidbarkeit des Verhaltens abstellen. Zwar mag _________________ 398
Roxin, StrafR AT/1, § 24, Rn. 69.
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die Reaktionszeit individuell differieren, ein Minimum ist aber für Jedermann, also generell erforderlich; daher ist auch seine Berücksichtigung als Kriterium des objektiven Ausschlusses einer Sorgfaltspflichtverletzung geboten. Wird ein tatsächliches Bewusstsein hinsichtlich des Verhaltens nicht gefordert, entfällt außerdem das subjektive Gefühl der Verursachung und damit der Selbstzuschreibung. Wird hierauf verzichtet, kann auch der strafrechtliche Vorwurf nicht auf dem evidenten Erleben von Selbstzuschreibung basieren, wie dies beispielsweise der Handlungsbegriff Kargls fordert.399 Werden Spontanreaktionen dagegen als dem Bewusstsein prinzipiell zugänglich und somit als steuerungsfähig angesehen, so entstehen entweder inhaltliche Widersprüche zu den Annahmen, die der Reaktionszeit zugrunde liegen, oder aber es ergibt sich ein systematischer Widerspruch daraus, dass bei Nichthandlungen wie bei den Reflexen die Unmöglichkeit der Vermeidung bereits bei der Unrechtsprüfung festgestellt wird, bei den ebenso unvermeidbaren Spontanreaktionen hingegen nicht. Diese Probleme vermochte lediglich die Handlungslehre nach der „Zwangstheorie“, wie sie Michaelowa darlegt, zu umgehen. Auch bei der von ihr gestellten Frage, ob durch staatliche Reaktion künftig Rechtsgutsbeeinträchtigungen verhindert werden können, müsste man danach die Spontanreaktionen nicht als strafrechtlich irrelevant ausscheiden. Bekanntlich gibt es Fahrkurse, die darauf abzielen, dem Kraftfahrer „falsche“ Automatismen abzugewöhnen und seinen Bewegungsapparat so zu trainieren, dass er spontan „richtig“, wenngleich automatisch reagiert. Ob es allerdings sinnvoll ist, dieses Ziel bei denjenigen, die von einer unglücklichen Situation überrascht wurden und falsch reagierten, mit dem Strafrecht zu verfolgen, sei hier dahingestellt. Hervorzuheben ist aber die prinzipiell andere Herangehensweise an den Handlungsbegriff, die sich nicht an der Möglichkeit zur Willenssteuerung in der konkreten Tatsituation, sondern an einem erlernbaren Können orientiert und damit jedenfalls die Freiheitsproblematik, wenn auch nicht die Frage der Sinnhaftigkeit der Strafe im Einzelfall gänzlich umgehen kann. Da den Spontanreaktionen kein Bewusstsein hinsichtlich der Reaktion vorangeht, erfüllen sie auch nicht die Voraussetzungen an die innere Tatseite. Zwar kann unwillkürliches Verhalten grundsätzlich vom Vorsatzbegriff umfasst sein, soweit es von einem umfassenderen „Willen“ mitgetragen wird; dieser Zusammenhang entfällt jedoch, wenn wie bei den Spontanreaktionen ein solcher Wille aufgrund der plötzlichen situativen Veränderung nicht gebildet werden konnte. Die Annahme einer Vorsatzschuld aufgrund eines sachgedanklichen Mit- oder Begleitbewusstseins nach Platzgummer oder Schmidhäuser kann darüber nicht hinweghelfen, da es an dem „Wollenssubstrat“ fehlt, das ohne eine konkrete Voraussicht der Möglichkeit einer Fehlreaktion nicht unterstellt werden kann. Darüber hinaus erscheint auch ein Bewusstsein hinsichtlich _________________ 399
Dazu oben, S. 181.
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der situativen Umstände, durch welche die Reaktionen hervorgerufen werden, zweifelhaft. Dies stellt die Handlungsqualität der Spontanreaktionen schließlich auch nach der Handlungslehre Stratenwerths400 in Frage. Analog begegnet man der Problematik des Automatismus auf der Ebene der Wahrnehmung, wenn nach der Erkennbarkeit der Tatumstände gefragt wird. Denn wie man von einem automatisierten Verhalten spricht, wenn es unbewusst vollzogen wird, weil es eingeübt ist und damit keine Aufmerksamkeit mehr für sich beanspruchen muss, könnte man auch von einer automatisierten Wahrnehmung bzw. Nichtwahrnehmung sprechen, soweit diese ebenso einer Art „Mechanismus“ unterliegt, wonach vormals bewusst Wahrgenommenes irgendwann „ausgeblendet“ wird. In diesem Falle wird man sich entweder mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob solche „Wahrnehmungsautomatismen“ willentlich überformt werden können, oder man lässt ein durch Vorkenntnisse erworbenes „Bewusstseinsfeld“ von einem erhöhten Risiko für die Erkennbarkeit des tatbestandlichen Erfolges ausreichen. Letzteres ist ohne die Annahme einer Lebensführungsschuld schwer begründbar und wirft überdies die Frage auf, worin die Schuld bei diesen Mechanismen gesehen werden kann, will man nicht in diesem Bereich gänzlich auf ein Handlungsunrecht verzichten. Vorsatzausschluss und Verneinung individueller Erkennbarkeit führten im Ergebnis jedenfalls zur Schuldlosigkeit. Auf der anderen Seite hindert die als „Reaktionszeit“ bekannt gewordene Zeitspanne den Kraftfahrer offenbar nicht an einem unwillkürlichen Verhalten, ohne dass ihm selbst immer bewusst ist, worauf er im konkreten Fall reagiert. Die Luff zufolge von Juristen für die Strafbarkeit vorausgesetzte Reaktionskette: bewußte Wahrnehmungen – kritisches Verarbeiten und Durchdenken des Wahrgenommenen – überlegtes Handeln, existiert damit bei den Spontanreaktionen nicht. Die neue Kette, die bei den Spontanreaktionen immerhin möglich erscheint: Ereignis – unbewusst-reaktives Verhalten – bewusste Wahrnehmung von Ereignis und Verhalten, vermag den Voraussetzungen für strafbares Verhalten auf verschiedenen Ebenen der Deliktsprüfung nicht zu genügen.401 Bei den Spontanreaktionen läge damit weder das subjektive Charakteristikum der Handlungsfreiheit, das Erleben einer Willensbetätigung, noch dessen „objektive“ Kehrseite, die zeitliche Abfolge: Wille – Verhalten, vor. Da man davon ausgeht, dass die Reaktionszeit eine für die Willensbildung erforderliche Zeitspanne darstellt, wird man von einer den Willen hindernden Zwangswir_________________ 400
Dazu oben, S. 171. Hier ergibt sich also die Folge, die Armin Kaufmann hinsichtlich der gemeinhin fraglichen Fälle des Handlungsbegriffs festgestellt hat: „Daß diese Fälle auch im dreifachen Filter von Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld irgendwo hängen bleiben würden, läßt sich wohl ernsthaft nicht bezweifeln“ (Funktion, S. 27). 401
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kung im Sinne Schopenhauers sprechen können.402 Spontanreaktionen erfolgten dann ohne Handlungsfreiheit und stellten kein Handlungsunrecht dar. Spezifisch für die hier untersuchten automatisierten Verhaltensweisen ist die Spontanität der Reaktion auf ein Ereignis hin. Automatisierte Verhaltensweisen sind jedoch auch alle übrigen Bewegungsabläufe, die auf vormals erlerntes Verhalten zurückgehen. Zwar geht ihnen ein Wille voran (z. B. der Wille mit dem Rad zur Arbeit zu fahren), dieser Wille bezieht sich aber nicht auf die einzelnen Bewegungen – sonst würde man gerade nicht von „automatisiert“ sprechen. Unabhängig davon, inwieweit die Handlungslehren diese unwillkürlichen Bewegungen zu erfassen vermögen, stellt sich deshalb die Frage, ob man bei ihnen von Vermeidbarkeit sprechen kann, denn auch sie vollziehen sich naturgemäß nicht erst nach Ablauf der für eine bewusste Verarbeitung jeder einzelnen Bewegung erforderlichen Reaktionszeit. Entsprechend müssten die jeweils einzelnen Bewegungen aus rechtlicher Sicht unvermeidbar sein. Wie aber soll dann eine Handlung vermeidbar sein, deren einzelne Bewegungen nicht vermeidbar sind? Hier müsste der Schuldvorwurf den zuvor gebildeten Willen treffen, also neben der Handlungs- auch die Willensfreiheit voraussetzen können. Übertragen auf die Ebene der Wahrnehmung hätte dies Konsequenzen für Schuldtheorien, die zwar die Möglichkeit eines Alternativverhaltens ablehnen, dafür aber den „Geist“ in die Verantwortung nehmen. Wären geistige Repräsentationen nicht beeinflussbar und damit unvermeidbar, so wäre eine Schuldtheorie wie die Kargls403, die, ausgehend von der Annahme der Erkennbarkeit motivationaler Faktoren, dem Individuum das Unterlassen einer Korrektur des eigenen Systems anlastet, kaum mehr haltbar. Wegen der Unterschiedlichkeit persönlicher Vorerfahrungen erscheinen auch Lehren wie die Graf zu Dohnas404 und Jakobs’405 zweifelhaft, soweit sie eine Ähnlichkeit der psychischen Strukturen bei verschiedenen Menschen voraussetzen. Die Perspektive, unter der die strafrechtliche Behandlung automatisierter Verhaltensweisen hier kritisch hinterfragt wird, setzt natürlich zweierlei voraus: zum einen die empirische Zugänglichkeit der Phänomene, zum anderen deren Berücksichtigung im Strafrecht. Der eingangs vorgestellte Grundsatz weitestgehender Objektivierung im Strafprozess beweist seine Existenzberechtigung indes gerade bei der Beurteilung der hinterfragten Rechtsbegriffe. Schon die Willensbetätigung unterliegt im Strafprozess der Beurteilung des für psychophysische Phänomene zuständigen Sachverständigen. Subjektives Erleben _________________ 402
Siehe oben, S. 29. Dazu oben, S. 62 ff. 404 Dazu oben, S. 56 f. 405 Siehe dazu oben, S. 58 ff. 403
Kapitel 3: Vorsatz und Fahrlässigkeit
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spielt bei ihrer Beurteilung jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass der Richter dieses Erleben nicht selbst erlebt, zum anderen daraus, dass das Erleben des Angeklagten hinter objektiven Feststellungen zurücktritt. Allerdings sind mangels wissenschaftlicher Erforschung der den Automatismen zugrundeliegenden Phänomene im Bereich der Handlungsqualität, der Vermeidbarkeit und der Erkennbarkeit breite Spielräume für richterliche Willkür zutage getreten, also gerade dort, wo die Möglichkeit zur Verhaltenssteuerung direkt oder indirekt über geistige Tätigkeit selbst in Frage steht. Ausschlusskriterien können hierüber solange nicht hinweghelfen, wie sie ihrerseits einer empirisch beglaubigten Systematik entbehren. Die Notwendigkeit der Berücksichtigung empirischer Erkenntnisse zur Verhaltenssteuerung im Strafprozess steht damit außer Frage. Den Versuch, die Initiation von Bewegungen beim Menschen zu erklären, unternahm bereits Descartes. Nach seiner dualistischen Theorie besitzt die Seele Einfluss auf den Körper. „Le principal siege de l’ame“ ist für Descartes die Zirbeldrüse406, von der aus „esprits“ in die Muskeln gesendet würden, wenn eine Bewegung ausgeführt werden soll. Als Willensakte bezeichnet er entsprechend die Tätigkeiten der Seele. Auch könnten die „Geister“ durch willentliche Bewegung der Drüse zu den Hirnporen gebracht werden, durch deren Öffnung etwas Vorzustellendes dargestellt werden könne. Solle dagegen ein Objekt längere Zeit aufmerksam betrachtet werden, halte der Wille die Hirndrüse während dieser Zeit in die gleiche Richtung geneigt.407 Umgekehrt könnten die Lebensgeister auch dadurch in Bewegung geraten, dass die Zirbeldrüse durch andere Ursachen, wie Sinneswahrnehmungen, bewegt würde. Diese Bewegung löse im Gegensatz zum Willensakt als Tätigkeit der Seele ein passives Erleiden derselben aus.408 So erklärt sich Descartes auch automatisiertes Verhalten, wie etwa die Flucht, als von der Seele unabhängig ausgelöste Aktivität der Geister. Aufgrund der Bewegung der Hirndrüse bemerke die Seele die Flucht zwar, sie werde jedoch allein durch die Verfassung der Organe ohne Beitrag der Seele ausgelöst.409 Zwar sind diese Vorstellungen heute veraltet, sie zeigen jedoch, dass das „Steuerzentrum“ des Körpers seit langer Zeit im Gehirn vermutet wird. Eine so empirische Herangehensweise an die Schuldfrage wird dennoch kritisch beurteilt. In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts äußerten Strafrechtler: _________________ 406 Siehe Descartes, Art. 34: „la petite glande qui est au milieu du cerveau“, erläutert von Hammacher, ebd., in Anm. 39. Dabei ist die Seele aufgrund ihrer immateriellen Natur jedoch nicht auf die Zirbeldrüse beschränkt, sondern ist mit dem ganzen Körper verbunden, vgl. Descartes, Art. 30. 407 Siehe Descartes, Art. 17 u. 43. 408 Siehe Descartes, Art. 34. 409 Siehe Descartes, Art. 38.
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Teil 2: Automatisiertes Verhalten und Schuld
„Gewiß ist richtig, daß wir bisher von den Gesetzlichkeiten unseres Seelenlebens und seines kausalen Unterbaus noch wenig wissen und es in seiner unübersehbaren Vielfalt wohl nie ganz erforschen und mit Hilfe allgemeiner Begriffe werden erfassen können.“410; und: „Ob aber […] ein frei wählender Entschluß möglich ist, das ist angesichts der Tatsache, daß wir über die mikrophysikalischen Vorgänge im menschlichen Gehirn kaum etwas wissen, zumindest unentscheidbar.“411 Circa ein Vierteljahrhundert später bemerkt Griffel, dass sich zwar die Abhängigkeit subjektiven Erlebens von Hirnprozessen feststellen ließe, über den Inhalt dieses Erlebens aber keine Feststellungen möglich seien.412 Im Gegensatz zu körperlichen Vorgängen stehe die Subjektivität des Menschen außerhalb kausaler Erklärbarkeit.413 Es sei auch in der Gehirnforschung die Redewendung üblich, das Ich denke mit seinem Gehirn, die zum Ausdruck bringen solle, dass gerade nicht das Gehirn denke, sondern das Ich.414 Er stellt schließlich fest, das „Erlebnis des So-oder-anders-wollen-Könnens ist tatsächliche, unabweisbare, auch von keinem Deterministen bestrittene innere Erfahrung und in diesem Sinne empirisch gewiss. Ob aber dieses Erlebnis möglicherweise irrig ist, ist nicht empirisch feststellbar“. Denn als rein subjektives Erleben sei es nicht Gegenstand objektiver, etwa gar experimenteller Überprüfung und damit nicht einem Beweis im Sinne exakter Wissenschaftlichkeit zugänglich.415 _________________ 410
Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, S. 9, wobei er jedoch das Ergebnis bereits vorwegnahm und den Naturwissenschaften einen Zugang zum menschlichen Wollen und zum hierauf basierenden Freiheitsbegriff absprach. 411 Roxin, JuS 1966, S. 378; ähnlich Bockelmann: „Ich weiß nicht – und vermutlich weiß niemand genau – wie weit und in welcher Weise geistige Prozesse von chemischen und physikalischen Vorgängen abhängig sind“ (ZStW 75 [1963], S. 374). 412 Siehe Griffel, GA 1989, S. 198, und ders., ZStW 98 (1986), S. 37. 413 Siehe Griffel, MDR 1991, S. 110. 414 Siehe Griffel, GA 1996, S. 462. 415 Siehe Griffel, ZStW 98 (1986), S. 35 f. Hirsch schließt ein Heranziehen der Naturwissenschaften nicht aus, sieht jedoch in der Heisenbergschen Unschärferelation, der Chaos-Theorie und den Folgerungen der unscharfen Logik eher Anzeichen für eine Freiheit des Willens. Zwar sei die Rechtswissenschaft nach seiner Ansicht von der realen Welt abhängig, sie sei jedoch keine Naturwissenschaft (s. ZStW 106 [1994], S. 762 f.). Haddenbrock zufolge bieten auch neue Erkenntnisse in der Humanwissenschaft keine Handhabe zur Unterscheidung von unvermeidbarem Schicksal und vermeidbarer Schuld eines Täters. Er fordert deshalb, dass der empirisch untermauerte Unfreiheitsaspekt jeder Straftat nicht als bloßes Denkmodell abgetan werden könne und kritisiert damit Dreher, dem Willensfreiheit als erlebte Wirklichkeit hinreiche, um beim psychisch gesunden Straftäter von einem Anders-handeln-Können auszugehen und ihn guten Gewissens als schuldfähig und schuldig zu behandeln (s. Haddenbrock, SalgerFS, S. 646).
Kapitel 3: Vorsatz und Fahrlässigkeit
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Der dritte Teil dieser Arbeit soll dazu dienen, diese Thesen zu überprüfen. Dabei sollen sowohl die Überlegungen Descartes vom Einfluss der Seele auf den Körper als auch die bereits erwähnten psychophysiologischen Erkenntnisse, welche das Strafrecht bei der Beurteilung der Verhaltenssteuerung maßgeblich prägen, durch neuere Forschungserkenntnisse ersetzt werden.
Teil 3
Empirische Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften Kapitel 1
Visuelle Wahrnehmung I. Schnittstelle zwischen Strafrechts- und Neurowissenschaft § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB setzt für die Vorsatzhaftung die Kenntnis der Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören, voraus. Satz 2 verweist darauf, dass im Falle der Unkenntnis die Fahrlässigkeitshaftung unberührt bleibt. § 276 Abs. 2 BGB normiert: Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Vollzieht sich ein solcher Sorgfaltspflichtverstoß ohne Kenntnis des Handelnden, dann muss er wenigstens erkennbar gewesen sein. Von Erkennbarkeit ist dann die Rede, wenn die Situation in Bezug auf die relevanten Umstände hätte wahrgenommen werden können. Wer die rote Ampel, die er überfahren hat, nicht gesehen hat, der hat nicht über die Kenntnis verfügt, gegen die Straßenverkehrsordnung zu verstoßen. Handelt es sich dabei aber um einen „Durchschnittsmenschen“, so soll ihm, wie es Jakobs formuliert, eine Weltgestaltung mit Aufmerksamkeit zur Verfügung gestanden haben1, was nichts anderes heißt, als dass der „normale“ Mensch bei genügender Aufmerksamkeit die rote Ampel hätte wahrnehmen können. Die Erkennbarkeit des Sorgfaltspflichtverstoßes hängt also maßgeblich von der Möglichkeit zur Wahrnehmung bestimmter Ereignisse ab. Häufig kommt es dabei auf die visuelle Wahrnehmung an. Weil diese neurobiologisch am umfassensten erforscht ist, soll der Begriff der Erkennbarkeit daher im Folgenden einigen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen zur visuellen Informationsverarbeitung gegenübergestellt werden.
_________________ 1
Vgl. oben, S. 59.
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung
241
1. Bewusstseinsbegriff Für die im Rahmen dieser Arbeit zu untersuchende Problematik ist es ausreichend, auch weiterhin nur alltagsphilosophische Kriterien des Bewusstseinsbegriffs vorauszusetzen. Visuelle Wahrnehmung meint danach ein Bewusstsein infolge der retinalen Verarbeitung externer Stimuli, die visuelle „Eindrücke“ von der Umwelt erzeugt. Dabei wird man bei der hier in Frage stehenden visuellen Wahrnehmung allerdings unterscheiden müssen: Der Differenzierung zwischen bewusst gesteuerten und automatisierten Bewegungen ungefähr entsprechend ist neben der bewussten Wahrnehmung auch eine visuelle Verarbeitung von Außenweltreizen möglich, die weder aktuell zu Bewusstsein kommen noch ex post rekapituliert werden können. Als Beispielsfall nennt der amerikanische Philosoph Michael Tye hier den Fahrer, der in Gedanken verloren einige Kilometer mit dem Auto zurücklegt, dabei den Wagen auf der Straße hält, unter Umständen die Gangschaltung bedient, ohne sich dabei des Autofahrens bewusst zu sein. Da keinerlei Erinnerung an die Eindrücke von der Umwelt und vom eigenen Verhalten existiert, ist der Fahrer zwar bei Bewusstsein, fährt jedoch unbewusst.2 Bewusste Wahrnehmung, die zu einem Bild von der Umwelt wie vor einer Art „innerem Auge“ führt, wird dagegen auch mit dem Begriff der Aufmerksamkeit bezeichnet.3
2. Neuronale Informationsverarbeitung Wird bewusst etwas wahrgenommen, dann verbinden sich zunächst Neuronen aus unterschiedlichen Hirnarealen zu Netzwerken, die diese Wahrnehmung repräsentieren. Darüber besteht heute in den Neurowissenschaften Übereinstimmung.4 Wie dies geschieht und welche Möglichkeiten sich durch die Kenntnis dieser Vorgänge für deren Visualisierung eröffnen, die ihrerseits zu einem enormen Erkenntnisgewinn beigetragen hat und noch immer beiträgt, soll im Folgenden kurz skizziert werden.
_________________ 2
Vgl. Tye, Bewußtsein, S. 104 u. 106, der jedoch nicht auf die Erinnerung, sondern auf das fehlende Bewusstsein höherer Ordnung abstellt, einen Denkvorgang, der auf den mentalen Zustand gerichtet ist, in dem sich der Fahrer befindet. Vgl. dazu auch Armstrong, Theory, 6/VI; ders., Nature, S. 197 ff., sowie unten, Teil 3, Kap. 2, Fn. 180. 3 Daneben gibt es noch viele weitere Bewusstseinsformen, insbesondere das Selbstbewusstsein (vgl. die Aufzählung bei Schmidt/Schaible-Birbaumer/Schmidt, S. 412). 4 Siehe Schmidt/Schaible-Birbaumer/Schmidt, S. 412; vgl. auch Roth, Gehirn, S. 251, u. ders., Grundlagen, S. 162 f.; vgl. auch Dudel/Menzel/Schmidt-Roth/Menzel, S. 559.
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Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften
a) Molekularbiologische Grundlagen Bei der Bildung von neuronalen Netzwerken spielen Neurotransmitter wie Glutamat und Gammaaminobuttersäuren eine entscheidende Rolle, denn sie sorgen zwischen den Nervenzellen für die Informationsübertragung. Sie werden durch die elektrische Erregung einer Nervenzelle freigesetzt und rufen an der Zellmembran der nächsten Zelle ihrerseits eine elektrische Erregung hervor. Dies geschieht, indem sich synaptische Vestikel mit der Endmembran verbinden und die Transmittermoleküle in den synaptischen Spalt freisetzen, ein Prozess, der Exozytose genannt wird. Daneben gibt es Neuromodulatoren wie Dopamin, Noradrenalin, Serotonin und Acetylcholin sowie Neuropeptide, welche die Wirkungsweise der Neurotransmitter beeinflussen können.5 Durch die Übertragung von Informationen in Form von Neurotransmittern wird demnach die Struktur der Neuronen verändert. Ein so entstandener Neuronenverband beruht auf den dynamischen Kombinationen von Neuronen, die für eine bestimmte Zeit als ein in sich geschlossenes System wirken. Neuronenverbände repräsentieren also ein Ensemble von funktionellen Zuständen.6 Zur elektrischen Erregung kommt es, vereinfacht dargestellt, dadurch, dass es geladenen Teilchen (Ionen) durch die Veränderung der Membraneigenschaften der Nervenzelle möglich wird, in die Zelle hinein und aus ihr heraus zu strömen. Konkret öffnen sich bei Kontakt der Nervenzelle mit einem Neurotransmitter sogenannte Ionenkanäle, durch die Natrium- und Calziumionen in die Zelle hineinströmen, bis sich die Kanäle wieder schließen. Der Zustrom von Natrium- und Calziumionen bewirkt eine Ladungsveränderung innerhalb der Nervenzelle, die wiederum ein Ausströmen von Kalium- und Chloridionen zur Folge hat. Wies die Zelle vor dem Einstrom der Ionen ein elektrisches Ruhepotential auf, wird sie durch die Natrium- und Calziumionen depolarisiert, das heißt die anfänglich bei circa -70 Millivolt liegende Spannung steigt bis hin zu positiven Werten. Sobald der Ausstrom von Kalium- und Chloridionen überwiegt, sinkt das Potential wieder. Dieser Vorgang wird Repolarisation genannt. Wird in der Phase der Depolarisation ein Schwellenwert, der üblicherweise bei -50 bis Minus -40 Millivolt liegt, überschritten, steigt danach das Potential autonom zu einem positiven Spitzenpotential an. In diesem Falle spricht man von einem Aktionspotential. Wird der Schwellenwert hingegen nicht erreicht, repolarisiert die Zelle, ohne dass es zur Entstehung eines Aktionspotentials gekommen ist.7
_________________ 5 6 7
Vgl. hierzu Roth, Grundlagen, S. 166 f. Siehe Dudel/Menzel/Schmidt-Menzel, S. 487. Vgl. hierzu Roth, Gehirn, S. 93; Dudel/Menzel/Schmidt-Dudel, S. 92 ff.
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung
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b) Bildgebende Verfahren Die beschriebenen Veränderungen elektrischer Potentiale sind mittels geeigneter Messinstrumente erfassbar. Die seit den sechziger Jahren gängige Methode zur Messung des Verlaufs elektrischer Aktivität ist die Elektroenzephalographie (EEG). Ende der zwanziger Jahre wurden mit ihrer Hilfe erstmals Potentialschwankungen von der menschlichen Kopfhaut abgeleitet. Das magnetische Analogon hierzu bildet die Magnetoenzephalographie (MEG), welche die durch die elektrische Hirnaktivität hervorgerufenen magnetischen Felder erfasst und darüber hinaus eine räumliche Zuordnung der Hirnaktivität ermöglicht.8 Für die räumliche Darstellung der Hirnanatomie sowie zur mittelbaren Erfassung des Blutflusses geeignet ist die Kernspin- oder Magnetresonanztomographie (MRT), die wie EEG und MEG nicht in den Stoffwechsel der Messpersonen eingreift und deshalb völlig nebenwirkungsfrei durchgeführt werden kann. Sie beruht, vereinfacht gesprochen, auf der Messung durch Radiowellen zum „Taumeln“ gebrachter Wasserstoffkerne. Zu den weiteren räumlichen Darstellungsverfahren zählen die funktionelle Magnetresonanz-Tomographie (fMRT), die Positronen-Emissions-Tomographie (PET), und die Einzel-Photonen-Emissions-Computertomographie (SPECT). Mittels der fMRT lassen sich Sauerstoffdifferenzen im Blut feststellen, die mittelbar auf Aktivitäten im Gehirn schließen lassen. Dagegen werden bei der PET- und SPECT-Messung radioaktiv markierte Substanzen wie Sauerstoff in den Stoffwechsel der Messperson eingeführt, deren Verfall messbar ist.9 Es liegt nahe, dass für eine gute zeitliche und räumliche Auflösung die Verfahren auch kombiniert angewendet werden.10 Durch die Entwicklung der bildgebenden Verfahren ist auch die neuronale Aktivität bei Bewusstseinsprozessen visuell zugänglich geworden. Man kann heute, so die Behauptung renommierter Hirnforscher, die Modalität und einige Aspekte der subjektiven Qualitäten eines wahrgenommen oder vorgestellten Ereignisses „objektiv“ erkennen, und auch, ob dieses Ereignis eine Bedeutung für die Person hat oder nicht.11 So veranschaulichte die Kernspintomographie den Neurowissenschaftlern Münte und Heinze, welche Gehirnareale aktiviert sein müssen, damit einer Versuchsperson eine falsche Antwort bewusst wird.12
_________________ 8
Siehe hierzu Münte/Heinze, S. 301 ff. Siehe hierzu Münte/Heinze, S. 299 ff. 10 Vgl. dazu Münte/Heinze, S. 303 ff. 11 Siehe Roth et al., Die funktionale Rolle des bewußt Erlebten, S. 9 f. 12 Siehe Münte/Heinze, S. 318 f. Daneben verweisen Münte und Heinze auf weitere Beispiele aus dem vergangenen Jahrzehnt, die insbesondere die unterschiedliche Gehirnaktivität bei Gedächtnisleistungen und Lernprozessen mit Hilfe des PET-Verfahrens aufzeigen (vgl. Münte/Heinze, S. 312 ff.). Hierzu auch Markowitsch, Spektrum der Wissenschaft/Digest 2 (2001), S. 53; Markowitsch/Daum, S. 221 ff.; Vogeley, Selbst9
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Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften
Erfolgreich bei der Identifikation wahrnehmungskorrelierter Hirnaktivität war mit dieser Methode auch Kleinschmidt. Er beobachtete so neuronale Veränderungen bei Probanden, während diese sogenannte „Kippfiguren“ betrachteten. Diese Bilder ermöglichen jeweils zwei stimmige, aber sich gegenseitig ausschließende Interpretationen. Bekanntestes Beispiel ist der sogenannte „Neckarwürfel“, bei dessen Betrachtung perspektivisch einmal das tieferliegende, einmal das höherliegende Quadrat als das im Vordergrund befindliche wahrgenommen wird, woraus sich jeweils unterschiedliche Ansichten des Würfels ergeben:
Die Probanden sollten dabei angeben, wann die Wahrnehmung des Bildes „kippte“, also eine Interpretation die andere ablöste. Dabei konnte Kleinschmidt mit Hilfe der Kernspintomographie sowohl Aktivitätsanstiege als auch Aktivitätseinbrüche in bestimmten Hirnregionen ausmachen, die mit dem Wahrnehmungswechsel einhergingen.13
c) Die Arbeitsweise des Gehirns Neu gebildete Neuronennetze werden im Gedächtnis niedergelegt, auf welches das Gehirn zurückgreift, wenn es bisher unbekannte Wahrnehmungen einordnen muss. Die Information über einen Gegenstand setzt sich dabei, Gerhard Roth zufolge, im Gehirn aus vielen getrennt verarbeiteten Aspekten zusammen. Ein Stuhl wird nicht als Stuhl im Gehirn quasi „abgebildet“ und von einer Art „innerem Auge“ angeschaut, sondern seine einzelnen deskriptiven Merkmale, wie Ort, Kantenorientierung, Umrisse, Farbe, räumliche Tiefe, Kontrast, Bewegung, Relation zu anderen Objekten und zum eigenen Körper sowie Bedeutung der Begriffe „Lehne“, „Sitzfläche“, „Beine“ und „Stuhl“ werden in unterschiedlichen kortikalen Arealen verarbeitet.14 Die getrennte Verarbeitung hat den Vorteil, dass der Gegenstand auch als solcher erkannt werden kann, wenn nicht alle Aspekte zusammentreffen. Befindet sich der Stuhl beispiels_________________
konstrukt und präfrontaler Cortex, S. 224; ders., Psychopathologie des Selbstkonstrukts, S. 256 ff. 13 Siehe Kleinschmidt, S. 449 ff. 14 Vgl. Roth, Gehirn, S. 253 f.
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung
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weise an einem anderen Ort, oder hat er eine andere Farbe, wird er, wenn ausreichend viele andere Merkmale zutreffen, dennoch als Stuhl identifiziert. Diese Parallelverarbeitung ist nach Roth mit einer hierarchischen Informationsverarbeitung kombiniert. Die Annahme eines sogenannten „Großmutterneurons“, das an der Spitze hierarchischer Informationsverarbeitung ein bestimmtes Geschehen oder eine Gestalt exakt repräsentiert, sei indes überholt.15 Die von einem Gegenstand oder einem Geschehen ausgehenden externen Stimuli der Wahrnehmung würden vielmehr in Elementarereignisse, wie Lichtquantenmenge und dominante Wellenlängen im visuellen System sowie Schallfrequenz und -amplitude im auditorischen System zerlegt, ihre Wahrnehmung durch Kombination und Ergänzung dieser Elementarereignisse erzeugt.16 Jeder Wahrnehmungsinhalt werde also durch ein hochkomplexes, strukturiertes Neuronenensemble repräsentiert, wobei sich die einzelnen Neuronen zu unterschiedlichen Netzwerken zusammenschließen könnten.17 Das Gehirn „bediene“ sich seiner Mechanismen zur Objekterkennung in wechselnder Weise, ohne dass dies bewusst werde; „es ist in der Wahl seiner Mittel opportunistisch“.18 Seien auf diese Weise sinnvolle Wahrnehmungseinheiten im Gehirn entstanden, so „bediene“ sich, Hoffmann zufolge, das Gehirn dieser „Gedächtnisnetze“ automatisch. Die Umwelt erscheine dadurch strukturiert, ohne dass eine sinnvolle Wahrnehmung jedesmal langsam aufgebaut werden müsste. „Dieses unmittelbare Wiedererkennen uns vertrauter Objekte wie Bäume oder Autos und umfassenderer Einheiten wie Straßen oder Geschäfte im Wirrwarr der Reizeindrücke ist unvermeidbar, so daß man wohl sagen kann, Wahrnehmen heißt in aller Regel Wiedererkennen.“19 Das Gedächtnis ermögliche es auch, dass ein bekannter Raum nicht bei jedem erneuten Betreten in seinen Einzelheiten wahrgenommen werden muss, damit darin eine Orientierung möglich ist. In völlig unbekannten Räumen könne hingegen zunächst ein Gefühl der „Blindheit“ auftreten, da die Menge unbekannter Gegenstände nicht auf einmal ausgewertet werden könne.20 Wie ein blinder Mensch sich einen Raum mit den Händen „ertastet“, müssen sehende Menschen den unbekannten Raum mit den Augen „abtasten“, was einige Zeit in Anspruch nehmen kann. _________________ 15
Siehe Roth, Gehirn, S. 171 ff. Vgl. Roth, Gehirn, S. 252 ff. 17 Siehe Dudel/Menzel/Schmidt-Roth/Menzel, S. 546 f. 18 Roth, Gehirn, S. 261. Das Gehirn „bedient“ sich freilich nicht wirklich; vielmehr passt dieser Begriff nur für das Verhalten von Personen. Um Kategorienverwechslungen zu vermeiden, versehe ich daher Begriffe, die das Systemverhalten des Gehirns der Abkürzung und Anschaulichkeit halber metaphorisch – nämlich in personalen Handlungsbegriffen – erfassen, mit Anführungszeichen. 19 Hoffmann, Enzyklopädie C/II 1, S. 391. 20 Siehe Roth, Gehirn, S. 267. 16
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Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften
Die neuronalen Gedächtnisleistungen können damit auch für Ratespiele dienen. Soll anhand einzelner Ausschnitte eines Gesichtes auf die „verborgene“ Person geschlossen werden, so reichen in der Regel wenige Ausschnitte, um das gesamte Bild hervorzurufen. Das Gehirn hat in diesem Fall anhand der im Gedächtnis niedergelegten Netzwerke das Bild „komplettiert“. Dies entspricht dem Betreten eines vertrauten Raumes, in dem nicht mehr alle Einzelheiten mit den Augen erfasst werden müssen, weil die Informationen bereits im Gedächtnis „gespeichert“ sind.21 „Je vertrauter mir eine Situation oder Gestalt ist, desto weniger ,Eckdaten‘ benötigt mein Wahrnehmungssystem, um ein als vollständig empfundenes Wahrnehmungsbild zu erzeugen, das zu diesen Eckdaten paßt.“22 Die Folge ist, dass in vertrauter Umgebung nur noch wenige Dinge bewusst wahrgenommen werden und der Rest durch das Gedächtnis vervollständigt wird. Dabei stehen Gedächtnis und Emotion und damit auch Bewusstsein und Emotion nach heutigem Kenntnisstand in engem Zusammenhang.23 „Man kann sogar sagen, daß Bewußtsein im wesentlichen dort entsteht, wo sich kortikales und limbisches System, Kognition und Emotion durchdringen; zumindest gilt dies für ,höhere‘ Bewußtseinsformen wie Ich-Empfindung und autobiographisches Gedächtnis.“24 Auf die Bedeutung des limbischen Systems, das wesentlich an der emotionalen Verarbeitung sinnlicher Wahrnehmungen beteiligt ist, wird an anderer Stelle zurückzukommen sein.25
3. Aufmerksamkeit Für den von Wimmer erörterten Fall eines Autofahrers, der gewohnheitsmäßig dieselbe Strecke mit seinem Auto zurücklegt und deshalb eine Änderung in der Vorfahrtsregelung nicht zwangsläufig bemerken müsse26, ergäbe sich nach dem bisher Gesagten eine einfache Lösung: Unter der Voraussetzung, dass das geänderte Straßenschild objektiv in dem Sichtbereich des Fahrers lag, lässt diese Fallkonstellation den Schluss zu, dass das Bild dieses Autofahrers von seiner Umwelt nicht mit den tatsächlichen Gegebenheiten übereinstimmte. Der Autofahrer sah nicht das Schild, sondern die ihm vertraute Umgebung. Sein Gedächtnis hatte ihm ein Bild von seiner Umwelt vorgegeben, das nicht mehr _________________ 21
Vgl. Roth, Gehirn, S. 269; dazu auch Hoffman, Enzyklopädie C/II 1, S. 416 ff.; Singer, Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen, S. 79 f. 22 Siehe Roth, Gehirn, S. 268. 23 Vgl. dazu Markowitsch/Daum, S. 226 ff. 24 Roth, Grundlagen, S. 199. 25 Siehe unten, Kap. 3 I. 1. 26 Siehe oben, S. 223. Auf dieses Phänomen wird reagiert, indem Vorfahrtsänderungen im Straßenverkehr besonders hervorgehoben werden.
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung
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aktuell war. Mit einer solchen Lösung ist indes noch nicht die Frage der „Erkennbarkeit“ beantwortet. Da das Verkehrsschild objektiv vorhanden war, ist zunächst davon auszugehen, dass es grundsätzlich auch hätte wahrgenommen werden können. Anzunehmen ist deshalb, dass ein Mangel an Konzentration oder Aufmerksamkeit dazu geführt hat, dass die erforderliche Leistung des Gehirns unterblieben ist. Man könnte daher auch sagen, dass der Fahrer bei genügender Aufmerksamkeit das Verkehrsschild wahrgenommen hätte. Zur genauen Klärung dieser Überlegung ist zunächst auf die Unterschiede in den begleitenden Neuronenaktivitäten einzugehen.
a) Bewusstseinskorrelierte elektrische Potentiale Der Verlauf elektrischer Aktivität im Gehirn eines Menschen lässt sich mittels EEG messen.27 Bei einem wachen erwachsenen Menschen im Ruhezustand mit geschlossenen Augen liegen die Frequenzen der Potentialschwankungen28 nach Birbaumer und Schmidt zwischen acht und 13 Hz. Diese Wellen werden ? -Wellen (Alpha-Wellen) genannt. Öffnet der Mensch seine Augen, tritt eine sogenannte ? -Blockade ein; die Frequenz erreicht jetzt 15–30 Hz und die Wellen werden ? -Wellen (Beta-Wellen) genannt. Bei Lern- und Aufmerksamkeitsprozessen treten Frequenzen von über 30 Hz auf, die ?-Wellen (GammaWellen) genannt werden. Unterschiedlichen Bewusstseinsformen entsprechen damit spezifische Frequenzbänder der EEG-Signale. Konzentriert sich mithin ein Mensch oder denkt er nach, so geht die mentale Repräsentation einher mit einer hohen elektrischen Aktivität im Gehirn29, regelmäßig mit Frequenzen um 40 Hz, die beim Menschen als induzierte Gamma-Aktivität bezeichnet wird.30 Vor allem die Untersuchungen Wolf Singers haben in den letzten Jahren wesentlich zum Verständnis der Funktionsweise neuronaler Netzwerke bei Aufmerksamkeitsprozessen beigetragen. Die neuronale Vernetzung erfordert danach eine hohe Präzision, damit keine Irrtümer geschehen, beispielsweise ein unbekannter Gegenstand nicht ein Neuronennetz aktiviert, das für einen völlig anderen Gegenstand angelegt wurde. „Zusammengehörige“ Neuronen finden sich über die durch Entladung erzeugte Spannung. Sie „wandern“ nicht im Gehirn umher, um sich zusammenzuschließen, sondern bleiben an ihrem Platz _________________ 27
Dazu oben, S. 243 f. Zu den molekularbiologischen Grundlagen vgl. oben, S. 242. 29 Vgl. Schmidt/Thews/Lang-Birbaumer/Schmidt, S. 133. Ausführlich zu den Arbeiten Hillyards und seiner Mitarbeiter, die Amplitudenunterschiede elektrischer Spannung bei der neuronalen Verarbeitung „beachteter“ und „unbeachteter“ Reize feststellten, Rösler/Heil, Enzyklopädie C/I 5, S. 173 ff. 30 Siehe Münte/Heinze, S. 311. 28
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Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften
im Gehirn.31 Ein solches „Zusammenfinden“ zwischen Millionen anderer „feuernder“ Neuronen wird nach heutigem Kenntnisstand von zwei Faktoren gesteuert und ermöglicht: Entladungsstärke und Entladungssynchronisation.32 Stimmen also Amplitude und Frequenz feuernder Neurone überein, so könne von einer gemeinsamen Reizverarbeitung ausgegangen werden.33
b) Aufmerksamkeitsprioritäten Da der Mensch täglich und oft zeitgleich unterschiedlichen neuen Sinnesreizen ausgesetzt ist, stellt sich nun die Frage, welche dieser Reize von Bewusstsein und damit Aufmerksamkeit begleitet werden. Denn die intendierte Ausrichtung der Aufmerksamkeit beinhaltet immer einen Bereich hervorgehobener mentaler Repräsentation und einen Bereich unterdrückter anderer, irrelevanter Repräsentationen.34 Alles, worauf sich keine Aufmerksamkeit richtet, ist nach Roth dem Menschen nur gering oder überhaupt nicht bewusst.35 Dazu hat Singer experimentelle Versuche an Tieren durchgeführt. Bewältigte eines der Tiere eine motorisch-sensorische Aufgabe, auf die es trainiert wurde, so konnte eine erhöhte Synchronisation der Neuronen innerhalb der für die Aufgabe benötigten Gehirnbereiche sowie zwischen diesen Arealen festgestellt werden, und zwar nur dann, wenn das Tier sich auf seine Aufgabe konzentrieren musste. Nach Bewältigung der Aufgabe fiel das synchrone Neuronenmuster zusammen und eine niederfrequente, wechselnde Neuronenaktivität setzte ein. Präsentierte Singer einer Katze zwei unterschiedliche visuelle Muster, die sich nicht zu einer einzigen Wahrnehmung verschmelzen ließen, so erzeugten beide Bilder zunächst Neuronenreaktionen gleichen Umfangs. Die Katze nahm jedoch nicht beide Bilder überlagert, sondern nur entweder das eine oder das andere wahr. Die von den Bildern ausgehenden Informationen treten im Gehirn in einen sogenannten „binokularen Wettstreit“. Dabei wird keine der Wahrnehmungen durch die Stärke der neuronalen Entladung unterdrückt. Die Schwelle zum bewussten Erleben wird jedoch nur von denjenigen Aktivitätsmustern eines der beiden Bilder überschritten, die zu einer genauen Synchronisation der neuronalen Reaktion führen. Die an der Verarbeitung des nicht bewusst wahrgenommen Bildes beteiligten Zellen zeigen hingegen keine oder eine nur schwache Synchronisation. Es lasse sich damit aufgrund des Ausma_________________ 31
Noch in der Entwicklung befindliche Zellen „wandern“ dagegen passiv oder aktiv an ihren endgültigen Platz im Gehirn (s. Dudel/Menzel/Schmidt-Campos-Ortega, S. 73). 32 Siehe Singer, Bewußtsein, S. 322; s. auch Engel, S. 424. 33 Vgl. Singer, Nature 397 (1999), S. 391 ff.; ders., Grenzen, S. 292 f. 34 Siehe Rösler/Heil, Enzyklopädie C/I 5, S. 171. 35 Roth, Grundlagen, S. 158; vgl. auch Singer, Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen, S. 79 f.
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung
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ßes der Synchronisierung eine Vorhersage darüber treffen, ob eine Hirnaktivität bewusstes Erleben erzeugen werde oder nicht.36 Nach einer Untersuchung von Fell und seinen Mitarbeitern scheint beispielsweise die synchrone Gammaaktivität von Hippocampus und Riechhirn im Zusammenhang mit der Erinnerung von Wörtern zu stehen. Sie zeigten ihren Probanden zunächst Wörter und forderten sie anschließend auf, die Wörter zu rekapitulieren. Dabei stellte sich heraus, dass Wörter, die später erinnert wurden, zum Zeitpunkt ihrer Betrachtung durch die Probanden von einem wesentlich erhöhten Prozentsatz synchroner Verarbeitung begleitet wurden, als diejenigen Wörter, die in Vergessenheit geraten waren.37 Die Vermutung liegt daher nahe, dass die Neuronen bei synchronisierter Gammaaktivität eben jene Netzwerke bilden, die dann im Gedächtnis niedergelegt werden, wie dies am Beispiel der visuellen Wahrnehmung beschrieben wurde.38 Bewusste Wahrnehmung setzt also neuronale Aktivität voraus, die mit einem erhöhten Energieaufwand einhergeht. Roth zufolge unterliegt Bewusstsein damit klar definierten physikalisch-chemisch-physiologischen Bedingungen.39
c) Motion-induced blindness Dass sich ähnliche Vorgänge wie im genannten Versuch mit der Katze auch beim Menschen abspielen, haben die Untersuchungen Bonnehs und seiner Kollegen gezeigt. Normalsichtige Probanden sollten sich dabei eine Minute auf einen Bildschirm konzentrieren, auf dem vor dunklem Hintergrund drei kontrastreiche gelbe Objekte in einem Muster angeordnet waren. Um diese gelben Objekte befanden sich 150 bewegte kontrastarme blaue Punkte. Die Probanden sollten durch Druck verschiedener Knöpfe nun angeben, wenn sie ein oder mehrere gelbe Objekte nicht mehr sahen. Im Unterschied zu dem Versuch mit der Katze war hier eine einheitliche Wahrnehmung möglich, d. h. die Probanden konnten anfangs alle gelben Objekte und gleichzeitig die sich bewegenden blauen Punkte wahrnehmen. Nach kurzer Zeit nahmen die Probanden nicht mehr alle drei gelben Objekte wahr. Diese schienen ganz oder zu einem Teil für die Probanden „unsichtbar“ zu werden. Obwohl also zunächst das Gesamtbild wahrgenommen werden konnte, ergab die Auswertung nach einem längeren Zeitraum, dass die gelben Objekte ganz oder zu einem Teil über 30 Prozent der _________________ 36
Singer, Bewußtsein, S. 324 f.; vgl. auch ders., DZPhil 53 (2005), S. 718. Siehe Fell et al., Nature Neuroscience 4 (2001), 1260 ff. 38 Vgl. dazu auch Wagner, Nature Neuroscience 4 (2001), S. 1159 ff. 39 Siehe Roth, Grundlagen, S. 198. Was indes nicht bedeute, dass sich Bewusstsein auf neuronale Ereignisse reduzieren lasse (s. Roth, Grundlagen, S. 205). 37
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Zeit nicht wahrgenommen wurden, und dies bis zu einer Zeitspanne von zehn zusammenhängenden Sekunden.40 Dieses Phänomen wird „Motion-induced blindness“ genannt. Bonneh und seine Kollegen gehen davon aus, dass es auch in ganz alltäglichen Situationen auftritt. Daraus ergibt sich, dass normalsichtige Menschen wahrscheinlich nicht in der Lage sind, ein einigermaßen komplexes oder inhaltsreiches Geschehen, wie es zum Beispiel bei Nachtfahrten im Straßenverkehr auftreten kann, im Ganzen dauerhaft und zeitunmittelbar zum Wechsel seiner Konstellationen visuell zu erfassen, auch wenn sie es konzentriert beobachten.
4. Folgerungen für die Innenperspektive Wenn Handlungen eine Entscheidung voraussetzen, dann bedeutet dies zugleich ein vorangegangenes Bewusstsein hinsichtlich der entscheidungsrelevanten Umstände. Zwar entsteht dieses Bewusstsein aus der Innenperspektive quasi aus dem Nichts heraus, oder man mag sich selbst aufgrund einer bestimmten geistigen Haltung aktiven Einfluss auf die eigenen Bewusstseinsinhalte zuschreiben, tatsächlich gibt es aber neuronale Prozesse, die unerlässlich für die Entstehung von Bewusstsein sind und die in der Innenperspektive nicht wahrgenommen werden können. Nicht das Bewusstsein selbst wird damit zum Gegenstand der Außenperspektive, aber die Prozesse des Gehirns, die nach dem Stand der Wissenschaft ablaufen müssen, damit Bewusstsein von etwas entstehen kann. Damit ist die Erforschung neuronaler Aktivität durchaus dazu geeignet, Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Bewusstsein und Gehirnprozessen zu liefern. Einige aufsehenerregende und vieldiskutierte Experimente hierzu hat der Neurobiologe Benjamin Libet bereits in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts durchgeführt. Diese und teils ältere, teils in jüngerer Zeit durchgeführte Untersuchungen sollen im Folgenden zur Veranschaulichung dieses Zusammenhangs dienen. Dabei soll zunächst die Frage interessieren, in welchem zeitlichen Verhältnis das subjektive „Gewahrwerden“ äußerer Ereignisse zu dem Zeitpunkt des tatsächlichen Stattfindens der sensorischen Reize steht, auf denen es beruht.
II. Die Bewusstwerdungsdauer Die Verarbeitungszeit, die das Gehirn benötigt, bevor ein von außen kommender visueller Reiz bewusst wahrgenommen werden kann, wurde bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von Friedrich Wilhelm Fröhlich untersucht. _________________ 40
Siehe Bonneh et al., Nature 411 (2001), S. 798 ff.
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung
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Fröhlich ließ hierfür in einer dunklen Umgebung vor seinen Probanden einen Lichtstreifen von rechts nach links mit unterschiedlicher Geschwindigkeit vorüberziehen. Der Lichtstreifen wurde dabei so beleuchtet, dass die Probanden seine Lichtquelle nur durch den Streifen wahrnahmen. Mit Messpunkten markierten die Probanden anschließend die Stelle, an der sie den vorderen in Bewegungsrichtung verlaufenden Rand des Lichtstreifens zuerst wahrgenommen hatten.
(stark vereinfachte Darstellung des Versuchsaufbaus41)
In der Wahrnehmung der Probanden erschien der Lichtstreifen jeweils nach links versetzt zu seinem tatsächlichen Auftreten. Mithilfe der Geschwindigkeit des Lichtstreifens ließ sich anschließend die Zeit errechnen, die der Lichtstreifen benötigt hatte, um von seinem objektiven Erscheinungspunkt zu dem subjektiv wahrgenommenen Erscheinungspunkt zu gelangen. Fröhlich nannte diese Zeitspanne zwischen dem abrupten Auftreten eines visuellen Reizes und seiner Wahrnehmung durch den Menschen die „Empfindungszeit“, auch bekannt als „Fröhlich-Effekt“.42 Seither hat sich die Forschung in diesem Bereich erheblich ausgeweitet. Hier sollen insbesondere zwei Herangehensweisen zur Untersuchung der Zeitdauer, die eine bewusste Wahrnehmung erfordert, dargestellt werden. Der Zugang von Eagleman und Sejnowski basiert auf dem subjektiven Eindruck, den Versuchspersonen von objektiven visuellen Reizen haben, und steht damit in der Tradition der Untersuchungen Fröhlichs. Der Darstellung dieser Experimente sollen Überlegungen zur Untersuchungsmethode Libets vorangehen, bei der die neuronalen Aktivitäten bei direkter Stimulation des Gehirns und Reizung der Hautoberfläche mit einbezogen werden.
_________________ 41 Für eine schematische Darstellung der erheblich komplexeren Versuchsanordnung vgl. Fröhlich, Die Empfindungszeit, S. 23. 42 Siehe Fröhlich, Die Empfindungszeit, S. 22; vgl. dazu auch Metzger, Psychologische Forschung 15–16 (1931/32), S. 176 ff.
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Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften
1. Bewusste Reizverarbeitung Libet ging bei seinen Versuchen davon aus, dass die bewusste Wahrnehmung eine rein subjektive Erfahrung sei, die Experimente also bezüglich der Wiedergabe subjektiven Erlebens durch die Probanden dem Anspruch auf „Objektivität“ nur insoweit genügen könnten, als die Ergebnisse von mehreren Probanden in unterschiedlichen Versuchsreihen nach wissenschaftlichen Standards zusammengefasst und überprüft würden.43 Da das Erlebnis einer Hautreizung durch direkte Reizung eines bestimmten Areals der Hirnrinde hervorgerufen werden kann, konnte der Neurowissenschaftler nach Stimulation des entsprechenden Areals der Hirnrinde seine Probanden befragen, ob sie eine Hautreizung wahrgenommen hatten. Er verabreichte ihnen mehrere Reihen elektrischer Ladung unterschiedlicher Dauer und Stärke und befragte sie dabei zu ihren Empfindungen. Auf diese Weise stellte er fest, dass Stromstöße, welche die Hirnrinde weniger als eine halbe Sekunde reizten, von den Probanden regelmäßig nicht wahrgenommen wurden, auch wenn die Spannung so stark war, dass sie das vierzigfache der Minimalspannung betrug, die bei einer Dauer von 0,5 Sekunden ein Erleben hervorrufen konnte. Sobald die Hirnrinde jedoch eine Reizung von durchschnittlich einer halben Sekunde Dauer und länger erfuhr, hatten die Probanden das Empfinden einer Reizung ihrer Haut.44 Für Libet schien es wahrscheinlich, dass selbst stärkste Stimulationen der Hirnrinde zur Bewusstwerdung eine Dauer von wenigstens 100 Millisekunden benötigen.45 Dagegen schienen wirkliche Reizungen der Hautoberfläche unmittelbar ins Bewusstsein zu gelangen. Durch Reizung der Hautoberfläche wird zunächst ein sogenanntes „evoziertes Potential“ im Gehirn ausgelöst. Evozierte Potentiale sind elektrische Veränderungen des Hirns, die durch Stimulation der Sinne hervorgerufen werden und mittels EEG bereits circa 0,015 Sekunden nach einem Hautreiz messbar sind. Diese evozierten Potentiale haben Spannungswellen im Kortex zur Folge. Daher nahm Libet an, dass diese Spannungswellen denjenigen entsprechen könnten, die bei der direkten Stimulation des Kortex zur Bewusstwerdung erforderlich waren. Er folgerte hieraus, dass zur Bewusstwerdung generell eine kortikale Aktivität von ungefähr einer halben Sekunde erforderlich sei, kürzere Aktivität jedoch dazu führen könnte, dass Reize unbewusst verarbeitet würden46 – _________________ 43
Vgl. hierzu Libet (1965), S. 78; ders. (1985b), S. 532. Siehe Libet (1965), S. 82; die verschiedenen Versuchsanordnungen ausführlich in Libet et al. (1964); s. auch Libet et al. (1967), S. 1598; Libet (1978), S. 72, u. Libet (1992), S. 258. Dazu auch Neumann/Prinz, S. 200. 45 Siehe Libet (1992), S. 258. 46 Siehe Libet (1965), S. 83. 44
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung
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eine Annahme, die als mögliche Basis für den psychologischen Begriff der „subliminalen Wahrnehmung“47 dienen könnte.48
2. Unbewusste Reizverarbeitung In den neunziger Jahren von Libet durchgeführte Versuche bestätigten seine Ergebnisse und trugen ihrerseits zur Annahme subliminaler Wahrnehmung bei. Hier forderte er die Probanden auf zu „raten“, ob ihnen ein elektrischer Impuls im Thalamus verabreicht wurde. Er beschränkte sich dabei auf die Region des Thalamus, durch die das spezifische System verläuft, welches Signale einer Sinnesmodalität mit einer konkreten Hirnregion, wiederum einem Areal der Hirnrinde, verbindet. Soweit die Probanden diesen Impuls tatsächlich zu spüren meinten, lag der Prozentsatz richtiger Antworten bei 97 Prozent. Waren sie nicht sicher, ob sie etwas verspürt hatten oder nicht, lagen sie noch in 85 Prozent der durchgeführten Versuche richtig. Aber selbst wenn sie nicht das Geringste verspürten, erreichten sie eine Trefferquote von 66 Prozent, also weit über der zu erwartenden 50-Prozent-Quote, wobei kürzere Impulse eine schlechtere, aber noch immer über 50 Prozent liegende Trefferquote (57 Prozent bei nicht wahrgenommen Impulsen, 68 Prozent bei eventuell wahrgenommen Impulsen und 66 Prozent bei eindeutig wahrgenommen Impulsen) und längere Impulse eine sehr hohe Trefferquote (85 Prozent bei nicht wahrgenommen Impulsen, 99 Prozent bei eventuell wahrgenommen Impulsen und 99 Prozent bei eindeutig wahrgenommen Impulsen) zur Folge hatten.49 Dies ließ Libet darauf schließen, dass auch unbewusste Informationen nicht ohne Einfluss auf das Erleben geblieben waren.50 Libet hatte also zwei wesentliche Erkenntnisse gewonnen: Sensorische Reize benötigen durchschnittlich eine halbe Sekunde Dauer, damit sie bewusst werden; gleichzeitig ist es wahrscheinlich, dass Reize, die das erforderliche Zeitlimit nicht erreichen, unbewusst verarbeitet werden, aber dennoch die Wahrnehmung beeinflussen.
_________________ 47
Subliminal ist die Wahrnehmung, wenn sie unterhalb der Schwelle zum Bewusstsein bleibt. Obwohl kein Bewusstsein von dem Reiz selber entsteht, wird der Begriff „Wahrnehmung“ hier verwendet, weil man davon ausgeht, dass die Wahrnehmung durch diese Reize dennoch beeinflusst werden kann. 48 Siehe Libet et al. (1967), S. 1599. 49 Siehe Libet et al. (1991), S. 1739. 50 Siehe Libet et al. (1991), S. 1749 ff.; Libet (1992), S. 265; vgl. auch Libet (1992), S. 268.
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Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften
3. Masking / unbewusste Modifikation Obwohl die bewusste Wahrnehmung oft mit einem Film von den tatsächlichen Ereignissen verglichen wird, scheint es nicht zuzutreffen, dass das visuelle Bild, welches dem Menschen bewusst wird, die tatsächlichen Ereignisse linear wiedergibt. Auf diesbezügliche Untersuchungen hatte Libet hingewiesen, weil ihn Experimente, wie die des Psychologen Crawford, zu der Annahme veranlassten, dass die bewusste Wahrnehmung von visuellen Reizen trotz Auslösung eines evozierten Potentials bereits nach 35 Millisekunden durch nachfolgende Reize verhindert werden könnte.51
a) Der Crawford-Effekt Crawford hatte 1946 gezeigt, dass ein schwacher Lichtreiz, dem innerhalb von bis zu 200 Millisekunden einer zweiter stärkerer Lichtreiz nachfolgt, vom Beobachter nur wahrgenommen werden kann, wenn er in seiner Lichtintensität deutlich erhöht wird, obwohl er bei größerer zeitlicher Differenz zwischen den Reizen auch mit weniger Intensität wahrgenommen wird (sogenannter „Crawford-Effect“).
(nach: Crawford, Proc. Roy. Soc./B 134 (1947), S. 286) _________________ 51
Siehe Libet (1966), S. 174 f.; Libet et al., (1972), S. 140.
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In dem Zeitfenster (gestrichelter Rahmen) erkennt man, dass die Helligkeit eines Lichtreizes (Teststimulus) deutlich erhöht werden muss, damit er wahrgenommen werden kann, wenn ihm ein stärkerer Lichtreiz (konditionierender Stimulus) innerhalb von bis zu 200 Millisekunden (Zeitskala x-Achse: 1 = 100 Millisekunden) nachfolgt. Crawford folgerte daraus, dass der stärkere Lichtreiz den schwächeren entweder auf seinem Weg von der Retina zum Gehirn „überholt“ oder aber dass der schwächere Lichtreiz eine Verarbeitungszeit von ungefähr einer Sekunde im Gehirn benötigt, während deren es dem stärkeren Lichtreiz möglich ist, bei dieser Verarbeitung zu intervenieren.52 Libet stellte fest, dass ein fortgesetzter kortikaler Stimulus, der gleichzeitig mit einer Hautreizung einsetzt, die Bewusstwerdung der Hautreizung vollständig unterdrückt und dass dieses Ergebnis auch dann noch eintritt, wenn die kortikale der Hautreizung bis zu 125–200 Millisekunden, im Einzelfall bis zu 500 Millisekunden nachfolgt.53 Er kam weiterhin zu dem Ergebnis, dass durch Reizung des Gehirns ausgelöste kortikale Aktivität, die der letzten von zwei gleich starken aufeinanderfolgenden Hautreizungen innerhalb von bis zu 500 Millisekunden nachfolgt, dazu führt, dass die zweite Hautreizung vom Probanden als stärker wahrgenommen wird.54 Die Verarbeitung der ankommenden Reize müsse also im Gehirn erfolgen. Zudem weist dies daraufhin hin, dass ein nachfolgender Reiz einen vorangegangenen hinsichtlich seiner Wahrnehmbarkeit beeinflussen könnte.55 Die erforderliche Zeitspanne zur bewussten Wahrnehmung könnte dann einerseits eine Art „Filtermechanismus“ darstellen, um einen Teil der Reize von der Bewusstwerdung auszuschließen, und würde andererseits die Möglichkeit bieten, die Wahrnehmung im Vorfeld unbewusst zu modifizieren.56 Libet schließt daher nicht aus, dass Unbewusstes geeignet sein könnte, die bewusste Wahrnehmung hinsichtlich tatsächlicher Informationen mit zu gestalten.57 Neben dieser Deutung gibt es jedoch noch ein anderes Erklärungsmodell, das an dieser Stelle erläutert werden soll.
b) Vorbewusste oder nachbewusste Modifikation? (Dennett und Kinsbourne) Der Philosoph Dennett und der Kognitionswissenschaftler Kinsbourne bezeichnen das Erklärungsmodell Libets als „Stalinesque“ (unter Anspielung auf _________________ 52 53 54 55 56 57
Siehe Crawford, Proc. Roy. Soc./B 134 (1947), S. 285 f. Siehe Libet et al. (1972), S. 161; ders. (1973), S. 774. Siehe Libet (1978), S. 73. Siehe Libet (1978), S. 74. Siehe Libet (1978), S. 79. Siehe Libet (1992), S. 268.
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stalinistische Schauprozesse, womit sie die Kernaussage dieses Modells als eine Art irreführender Inszenierung von Wahrnehmung und Bewusstsein kennzeichnen wollen). Libet gehe davon aus, dass ein Reiz vorbewusst durch einen zweiten Reiz in der Wahrnehmung modifiziert werde, so dass bereits die Wahrnehmung fehlerhaft sei und entsprechend auch die Erinnerung zwar der Wahrnehmung entspreche, aber ihrerseits mit Blick auf die tatsächlichen Ereignisse fehlerhaft sei. Dem stellen sie ein zweites „Orwellsches“ Erklärungsmodell gegenüber (in Anlehnung an das Ministerium für Wahrheit, das in „1984“ die Vergangenheit neu schreibt und allen Nachfolgenden dadurch den Zugang zur wirklichen Vergangenheit versperrt), demzufolge die Probanden sich des ersten Reizes durchaus zunächst bewusst gewesen seien, das Auftreten des zweiten Reizes aber dazu geführt habe, dass der erste Reiz modifiziert in der Erinnerung abgelegt worden sei. Daraus würde sich ergeben, dass die Wahrnehmung mit den tatsächlichen Ereignissen übereinstimmte, aber die Erinnerung wie im ersten Erklärungsmodell fehlerhaft wäre. Worauf es Dennett und Kinsbourne ankommt, ist hervorzuheben, dass es nicht nur dem Experimentator unmöglich ist zu unterscheiden, ob das eine oder das andere Modell trägt, sondern die Probanden dies ebensowenig zu sagen vermögen, ihre Perspektive also keinen „bevorzugten“ Zugang zur Lösung bietet. Weder aus der Außen- noch aus der Innenperspektive kann also geklärt werden, ob etwas bereits in der Wahrnehmung „falsch“ erscheint, oder ob erst die Erinnerung trügerisch ist.58 Darauf, dass auch Erinnerungen nachträglich noch Veränderungen erfahren können, wird noch zurückzukommen sein.59 Dennoch gibt es etwas, was dafür sprechen könnte, dass jedenfalls auch die Wahrnehmung bereits trügerisch sein kann. Denn was bei zwei Reizen passiert, das nachträgliche „Auslöschen“ des ersten Reizes aus der bewussten Erinnerung, könnte freilich bei einem einzigen Reiz ebenso auftreten. In den Fällen also, in denen Libet die Hirnrinde nur so lange stimulierte, dass die Probanden überzeugt waren, keinen Reiz gespürt zu haben, könnte ebenfalls ein Bewusstsein von dem Reiz entstanden sein, ohne dass die Probanden sich später an diesen erinnerten – vielleicht eine Art Bewusstsein, wie wir es von dem Autofahrer kennen, der eine Strecke mit seinem Fahrzeug zurücklegt und später keine Erinnerung hieran hat. Die Frage, die sich aufdrängt, ist die, dass bei der Versuchsdurchführung von Libet nicht ersichtlich ist, warum sich die Probanden an diesen Reiz nicht hätten erinnern sollen. Die Probanden waren schließlich mit nichts anderem als ihrer Introspektive beschäftigt und auch nicht zu müde oder zu erschöpft, als dass man sagen könnte, die Voraussetzungen für Aufmerksamkeit waren aus Kapazitätsgründen nicht gegeben, wie man es im Falle von zwei zeitlich eng aufeinanderfolgenden Reizen vermuten könnte. _________________ 58 59
Siehe Dennett/Kinsbourne (1992), S. 193. Siehe unten, S. 322.
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Eine Erklärung hierfür wäre, dass der Reiz von vornherein nicht die Voraussetzungen erfüllte, um im Gedächtnis niedergelegt zu werden; dass Libet also unter Umständen von den neuronalen Voraussetzungen her nur ein Bewusstsein hervorrief, das unterhalb der Schwelle zur Erinnerung blieb, weil die mechanisch hervorgerufene neuronale Aktivität für „mehr“ einfach nichts hergab. So oder so wirft dies die zweite Frage auf, ob man dann von diesem Reiz als einem dem Probanden bewussten Reiz sprechen kann. Dennett und Kinsbourne finden hierfür eine einfache Antwort: „Ask him.“60 Die lapidare Beiläufigkeit dieser Frage deutet an, dass für Dennett und Kinsbourne von der möglichen Antwort nichts abhängt. Ob dem Probanden etwas bewusst war, ist eine Frage allein seiner subjektiven Empfindung. Diese muss aber nicht mit den objektiven Befunden übereinstimmen. Ob das Gehirn der wahrnehmenden Person dabei etwas verschoben, selektiert oder hinzugefügt hat, kann nicht allein anhand der subjektiven Empfindung entschieden werden. Selbst wenn sein Gehirn dabei etwas verschoben, selektiert oder hinzugefügt hat. Weiter soll das Problem dieser beiden Erklärungsmodelle an dieser Stelle nicht diskutiert werden.61 Bevor jedoch auf die Experimente von Eagleman und Sejnowski eingegangen werden kann, ist es erforderlich, auch hier den Hintergrund zu beschreiben, vor dem die Forscher ihre Überlegungen angestellt haben.
4. Der Flash-lag-Effekt 1958 veröffentlichte Donald M. MacKay eine ähnlich ungewöhnliche Entdeckung wie die Crawfords. Ausgehend von der Erkenntnis, dass durch einen leichten Druck auf den Glaskörper des Auges die Wahrnehmungsobjekte sich scheinbar verschieben, verglich er diese Verschiebung anhand von konstant und inkonstant beleuchteten Wahrnehmungsobjekten. Dabei stellte sich heraus, dass die Verschiebung in der Wahrnehmung zwar bei konstant beleuchteten Objekten auftrat, aber nicht bei Objekten, die nur fünf bis sechs Mal pro Sekunde beleuchtet wurden. Wurde auf den Glaskörper des Auges jedoch über einen längeren Zeitraum Druck ausgeübt, begannen sich auch die nur temporär beleuchteten Objekte zu verschieben.62 Dieser Effekt des „Hinterherhinkens“ blinkender Objekte wurde als sogenannter „Flash-lag-Effekt“ bekannt. Anschaulicher lässt er sich an einer geläufigen Erfahrung darstellen. Sieht man am nächtlichen Himmel ein Flugzeug über sich hinweg fliegen, an dessen Tragflächen sich blinkende Signallichter befinden, hat man den Eindruck, die Lichter _________________ 60 61 62
Dennett/Kinsbourne (1992), S. 195. Näher unten, S. 268, 288 u. 307. Siehe MacKay, Nature 181 (1958), S. 507.
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versetzt und zwar dem Flugzeug nachfolgend wahrzunehmen, als sei das Flugzeug bereits weiter geflogen, bevor das Blinken der Lichter gesehen wird.
a) Bewegungsextrapolation Die Untersuchungen MacKays dienten zunächst dazu, eine Erklärungslücke zu schließen. Die Erkenntnis, dass die Reizverarbeitung des visuellen Systems eine nicht unwesentliche Zeitspanne benötigt, hatte das Problem aufgeworfen, wie dieser Nachteil vom Organismus kompensiert werden könnte. Deutlich wird die Problematik bei dem Versuch, einen Ball zu fangen. Wenn das visuelle System eine Verarbeitungszeit von nur 100 Millisekunden benötigt, würde ein Ball, der sich mit einer Geschwindigkeit von 50 km/h nähert, um fast 1,4 Meter in seiner Bewegungsrichtung zurückversetzt wahrgenommen werden. Nijhawan kommt deshalb zu dem Ergebnis, dass das Gehirn die Bewegungsrichtung von Objekten „vorausberechnet“ und damit den Zeitverzug, der durch die Verarbeitungszeit des visuellen Systems entsteht, kompensiert, wodurch die räumliche Position des Objekts in der Wahrnehmung annähernd seiner tatsächlichen Position entspricht.63 Das Bild von dem Flugzeug am nächtlichen Himmel wäre nach dieser Theorie kein tatsächliches, sondern ein hypothetisches, während die Wahrnehmung der Signallichter aufgrund mangelnder Kontinuität keine Vorausberechnung erfährt und entsprechend zeitlich verzögert erfolgt.
b) Latency-difference Angefochten wird diese Theorie insbesondere von Anhängern eines linearen Modells, der sogenannten „latency-difference“. Hiernach wird vom Gehirn nicht, wie Nijhawan annimmt, ein Zeitraum „ausgewertet“ und dem Beobachter ein hypothetisches Bild vermittelt, sondern es erfolgt die Abbildung der realen Außenwelt, wobei lediglich unterschiedliche Signale eine unterschiedliche Verarbeitungsdauer benötigen. Die Verarbeitungsdauer hänge jedoch auch von der Leuchtintensität der Objekte ab. Habe das bewegte Objekt weniger Leuchtintensität als das blinkende Licht, so benötige das Blitzlicht regelmäßig eine längere Verarbeitungszeit als das bewegte Objekt.64 Erhöhe man die Leuchtintensität des sich bewegenden Objektes, verkürze sich seine Verarbeitungsdauer, während die des blinkenden Lichts bei gleichbleibender Leuchtkraft konstant bleibe, wodurch sich die wahrgenommene Distanz zwischen den Objekten _________________ 63
Siehe Nijhawan, Nature 370 (1994), S. 256 f. Siehe Baldo/Klein, Nature 378 (1995), S. 565; Purushothaman et al., Nature 396 (1995), S. 424; Whitney/Cavanagh, Science 289 (2000), S. 1107a; Patel et al., Science 290 (2000), S. 1051a. 64
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vergrößere. Bleibt die Leuchtintensität des sich bewegenden Objektes hingegen konstant und wird die Leuchtkraft des Blitzlichtes verstärkt, erfährt nun das blinkende Licht eine schnellere Verarbeitung, wodurch sich der wahrgenommene Abstand zwischen den Objekten verringere und sogar umkehre, so dass das sich bewegende Objekt dem blinkenden in der Wahrnehmung auch nachfolgen könne. Die Theorie der Bewegungsextrapolation erkläre hingegen nicht, warum eine erhöhte Helligkeit des blinkenden Lichtes den Effekt des „Nachhinkens“ nicht nur aufhebe, sondern sogar umkehre. Es sei daher davon auszugehen, dass nicht das visuelle System die Verarbeitungsdauer ausgleiche, sondern vielmehr das motorische.65
c) Motion Integration und Postdiction Beide Erklärungsmodelle wurden in jüngster Zeit von Eagleman und Sejnowski kritisiert und experimentell widerlegt. Sie kommen in ihren „Flashlag“-Versuchen zu Ergebnissen, welche darauf schließen lassen, dass das wahrgenommene Bild von der Umwelt eine Zusammenfassung von visuellen Informationen eines zurückliegenden Zeitraums ist. Gleichzeitig bestätigen sie damit Libet in der Annahme, dass das Gehirn die tatsächliche Gegenwart bereits verarbeitet und moduliert hat, bevor sie dem Menschen bewusst wird. Denn nur so sei es dem Gehirn möglich, einen Teil seiner Informationen so zu verschieben, dass die bewusst gewordene Abfolge nicht mehr der tatsächlichen entspricht, wie es Libet beim Vergleich von Haut- und Hirnrindenstimulation festgestellt hat.66 Die Probanden von Eagleman und Sejnowski beobachteten zunächst einen sich bewegenden Kreis in dessen Mitte unvermittelt ein Lichtpunkt aufblitzte. Wanderte der Kreis von links nach rechts, wurde der Lichtblitz als nach links versetzt wahrgenommen, bewegte sich der Kreis in die entgegengesetzte Richtung, wurde der Lichtblitz entsprechend nach rechts versetzt, also dem Kreis gleichsam „nachfolgend“ wahrgenommen und dies, obwohl er in beiden Versuchen tatsächlich exakt zentriert aufblitzte.
_________________ 65 66
Purushothaman et al., Nature 396 (1995), S. 424. Vgl. Eagleman/Sejnowski, Science 287 (2000), S. 2038.
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Soweit entsprechen die Ergebnisse dem bereits bekannten Flash-lag-Effekt. Nach der Extrapolationstheorie wäre nun zu erwarten, dass bei einem Stoppen des Kreises zum Zeitpunkt des Aufblitzens des Lichtpunktes dasselbe Ergebnis erzielt würde, denn auch in diesem Fall hätte das Gehirn die vorangegangene Bewegungsrichtung entsprechend auswerten müssen. Tatsächlich wurde bei der Durchführung dieses Versuchs der Lichtpunkt von den Probanden als zentriert wahrgenommen, was der These einer hypothetischen „Vorausberechnung“ des Gehirns widerspricht. Eagleman ließ daraufhin den Kreis seine Bewegungsrichtung zum Zeitpunkt des Aufblitzens des Lichtpunktes ändern, das heißt der Kreis startete zunächst von links nach rechts (oder umgekehrt), brach diese Bewegungsrichtung ohne zu stoppen mit Aufblitzen des Lichtpunktes ab und bewegte sich wieder zurück zum Startpunkt. Da die Probanden von der Richtungsänderung keine vorhergehende Kenntnis hatten, hätten sie, entsprechend der ersten Versuchsdurchführung, den Lichtpunkt nach links, das heißt der ursprünglichen Bewegungsrichtung nachfolgend wahrnehmen müssen. Tatsächlich erschien ihnen der Lichtpunkt jedoch nach rechts versetzt, das heißt der geänderten (umgekehrten) Bewegung nachfolgend. Hieraus leitete Eagleman die Annahme ab, dass das Gehirn nicht „vorausberechnet“, sondern stattdessen bereits verarbeitete Kenntnis, wie die Richtungsänderung mit dem vorausgehenden Ereignis des Lichtblitzes, kombiniert.67 Bestätigt wurde dies durch einen weiteren Versuch, in dem den Versuchspersonen nicht bekannt war, in welche Richtung der rotierende Kreis starten würde. Gleichzeitig mit dem Start des Kreises leuchtete der Lichtblitz auf. Auch hier wurde der Lichtblitz jeweils „richtig“ versetzt wahrgenommen, was darauf schließen lässt, dass das Gehirn die Information der Bewegungsrichtung bereits verarbeitet und mit dem Lichtblitz kombiniert hatte.68 Mithilfe eines ebenso trivialen Versuchs zogen Eagleman und Sejnowski auch das Latency-difference-Modell in Zweifel. Wenn bei konstant geringerer Leuchtkraft des sich bewegenden Objektes das blinkende Objekt diesem immer eine gewisse Zeitspanne nachfolgt, wie es die Latency-difference-Theorie annimmt, dann müsste es möglich sein, beide Objekte in der Wahrnehmung zusammenzufügen, indem man das sich bewegende Objekt dem blinkenden diese Zeitspanne nachfolgen lässt. Um dem „Fröhlich-Effekt“69 entgegenzuwirken, ließen die Forscher einen Stab zunächst einige Zeit im zweidimensionalen Raum rotieren, bevor man an den Enden Lichtblitze aufleuchten ließ. Der Stab wurde entweder gleichzeitig mit oder zeitlich versetzt zu dem Aufleuchten der Lichtblitze angehalten. Die Versuchspersonen sollten nun lediglich angeben, ob _________________ 67 Siehe Eagleman/Sejnowski, Science 287 (2000), S. 2036 f., u. dies., www.cnl.salk. edu/~eagleman/flashlag/r1.html, Stand: 21.03.2005. 68 Siehe Eagleman/Sejnowski, Science 287 (2000), S. 2036 f., u. dies., www.cnl.salk. edu/~eagleman/flashlag/r2.html, Stand: 21.03.2005. 69 Dazu oben, S. 257.
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung
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sie die Lichtblitze vor dem Halt des Stabs wahrgenommen hatten. Da nach dem Latency-diffence-Modell Lichtblitze jeweils eine längere Verarbeitungszeit benötigen als sich bewegende Objekte, hätten die Probanden nach dieser Theorie sowohl bei objektiv nachfolgenden Lichtblitzen als auch bei gleichzeitig mit dem Halt der Stange auftretenden Lichtblitzen zu dem Ergebnis kommen müssen, dass diese dem Halten der Stange nicht vorangingen. Erst bei einem deutlichen zeitlichen Vorangehen der Lichtblitze, hätten diese als tatsächlich vorangehend wahrgenommen werden dürfen, während bei einem minimalen „Zeitvorsprung“ eine Gleichzeitigkeit der Ereignisse hätte wahrgenommen werden müssen.70 Stattdessen erklärte die Hälfte der Probanden bereits bei tatsächlicher Gleichzeitigkeit der Ereignisse, sie hätten die Lichtblitze zuerst wahrgenommen und zwar unabhängig von der Helligkeit des Lichtes. Ein Ergebnis, das mit dem Latency-difference-Modell nicht zu vereinbaren ist.71 Eagleman und Sejnowski kommen aufgrund dieser Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass das Gehirn, anstatt „vorauszuberechnen“, einen gewissen Zeitraum zusammenfasst, auswertet und erst das modifizierte Ergebnis zur bewussten Wahrnehmung gelangen lässt.72 Um herauszufinden, um wieviel Zeit es sich dabei handelt, wurde ein weiterer Versuch durchgeführt, in dem sich ein Kreis zunächst in eine Richtung bewegte und dann abrupt die Richtung änderte. Beim Erscheinen des Kreises leuchtete wiederum zentriert ein Lichtblitz auf; die Anfangsrichtung des Kreises wurde dabei für unterschiedliche Zeitspannen beibehalten. Schlug der Kreis die Anfangsrichtung für weniger als 26 Millisekunden ein und änderte dann die Bewegungsrichtung, wurde der Lichtblitz entsprechend versetzt zu der Bewegungsrichtung wahrgenommen, die er nach den 26 Millisekunden einschlug. Bewegte sich der Kreis für 26 Millisekunden in die Anfangsrichtung und änderte dann seine Bewegungsrichtung, wurde der Lichtblitz zentriert wahrgenommen, als ob sich der Kreis überhaupt nicht bewegt hätte. Die kurzfristige Bewegung des Kreises zunächst in eine andere Richtung, wurde also praktisch vom Gehirn „unterschlagen“. Um bei diesem Versuch einen „normalen“ Flash-lag-Effekt zu erhalten, musste sich der Kreis 67 bis 80 Millisekunden in die Anfangsrichtung bewegen.73 Eagleman und Sejnowski gehen deshalb davon aus, dass das Gehirn einen Zeitraum von ca. 80 Millisekunden nach dem Erscheinen eines Objektes „auswertet“, bevor das _________________ 70
Siehe Eagleman/Sejnowski, Science 290 (2000), S. 1051a, sowie dies., in Considering Latency Difference, S. 1 f., u. dies., www.cnl.salk.edu/~eagleman/flashlag/ r4.html, Stand: 21.03.2005. 71 Siehe Eagleman/Sejnowski, Science 290 (2000), S. 1051a; vgl. auch Eagleman/ Sejnowski, Considering Latency Difference, S. 1. 72 Siehe Eagleman/Sejnowski, Science 287 (2000), S. 2038. 73 Siehe Eagleman/Sejnowski, Science 287 (2000), S. 2036 f., u. dies., www.cnl.salk. edu/~eagleman/flashlag/r3.html, Stand: 21.03.2005.
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Objekt wahrgenommen wird, und zwar unabhängig davon, ob es sich um ein konstant bewegtes oder um ein blinkendes Objekt handelt. Sie nehmen weiterhin an, dass ein unerwarteter Lichtblitz die Auswertung eines sich bewegenden Objektes durch das Gehirn behindern könnte, indem er beispielsweise die Aufmerksamkeit an sich bindet. Dies könnte sich auch beim „Fröhlich-Effekt“ abspielen. Das bewegte Objekt könnte bei seinem plötzlichen Erscheinen den Effekt eines Lichtblitzes haben, wodurch die Auswertung seiner Bewegungsrichtung verzögert oder unterdrückt würde. Umfasst der vom Gehirn ausgewertete Zeitraum circa 80 Millisekunden, dann wäre es außerdem möglich, dass eine im Gehirn eingegangene Information durch eine zweite, kurz darauf folgende Information verändert werden könnte und lediglich die vom Gehirn vorgenommene Veränderung ins Bewusstsein dringt, während die erste Information, so wie sie tatsächlich aufgetreten ist, nie bewusst wahrgenommen wird. Damit steht diese Theorie sowohl im Einklang mit den „Masking“ Effekten74 als auch mit den Versuchen Libets.75
5. Die Antedatierung nach Libet Die Untersuchungen Eaglemans und Sejnowskis lassen den Rückschluss zu, dass der Mensch seine Umwelt nicht nur mit einem Zeitverzug, sondern auch als ein zusammengesetztes Bild von Ereignissen wahrnimmt, die nicht unbedingt zeitgleich erfolgt sein müssen. Kombiniert mit den Untersuchungen Libets hieße dies, dass der Mensch mit seinem subjektiven Erleben nicht nur in gewissem Sinn in der objektiven Vergangenheit lebt, sondern diese erlebte Vergangenheit mit den tatsächlichen Geschehnissen nur noch in wesentlichen Zügen übereinstimmt. Dies wirft die Frage auf, ob und wie der Organismus diesen Zeitverzug kompensieren könnte. Bei seinen Untersuchungen zur Dauer der Bewusstwerdung stellte sich für Libet die Frage, warum Hautreizungen nicht ebenso wie kortikale Reizungen längere Zeit andauern müssen, um bewusst zu werden.76 Libet verglich deshalb die Potentialveränderungen bei Reizung der Hautoberfläche mit denen, die bei Stimulation der Hirnrinde auftreten und kam zu einer Interpretation seiner Ergebnisse, die eine Antwort für die Problematik der Bewusstwerdungsdauer bereithalten könnte.
_________________ 74
Siehe oben, S. 254 f. Siehe Eagleman/Sejnowski, The Flash-lag Effect: An Overview; dies., Science 287 (2000), S. 2037 f. Zu den Versuchen Libets oben, S. 250 ff. 76 Siehe Libet (1966), S. 171. 75
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung
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a) Libets vergleichende Untersuchungen Um auch eine geringe elektrische Aktivität messen zu können, legte Libet die Elektroden des EEG direkt an der Hirnrinde an (sogenanntes Elektrokortikogramm [EcoG]) und stimulierte dann die Haut der Probanden. Dies geschah anlässlich medizinisch notwendiger Untersuchungen und mit Einwilligung der Probanden. Es zeigte sich, dass auch Hautreizungen, die so geringfügig sind, dass der Proband sie nicht bewusst wahrnimmt, ein evoziertes Potential und damit Hirnaktivität hervorrufen. Selbst wenn der Proband über die Stimulation informiert wurde, nahm er diese geringen Reizungen nicht wahr. Sobald die Reizung jedoch eine Hirnaktivität von einer halben Sekunde und länger hervorrief, trat neben dem evozierten Potential auch ein Bewusstsein des Probanden bezüglich des Reizes auf.77 Zum zeitlichen Vergleich der Wahrnehmung bei Hautoberflächen- und Hirnrindenstimulation wurde in der rechten Hand des Probanden ein Kribbeln, ausgelöst durch eine Hirnrindenstimulation, hervorgerufen und die linke Hand direkt an der Hautoberfläche gereizt. Der Proband sollte angeben, ob er die Reize gleichzeitig oder versetzt, das heißt die Stimulation der linken oder der rechten Hand zuerst erlebt hatte. Nach den vorangegangenen Versuchen war dabei zu erwarten, dass die Stimulation der linken Hand nach 0,5 Sekunden Hirnaktivität vom Probanden wahrgenommen werden würde und ein Kribbeln in der rechten Hand nach einer Reizung der Hirnrinde von wiederum 0,5 Sekunden in das Bewusstsein des Probanden dringen würde. Begann man folglich mit der Hirnrindenstimulation (rechte Hand) und reizte die Hautoberfläche (linke Hand) erst anschließend, so war damit zu rechnen, dass der Proband das Kribbeln der rechten Hand zuerst wahrnahm. Es stellte sich aber heraus, dass der Proband eine Reizung der linken Hand auch dann noch vor dem durch die Hirnrindenstimulation ausgelösten Reiz wahrnahm, wenn die Hirnrinde bereits bis zu 400 ms stimuliert wurde, bevor die Hand gereizt wurde.78 Entgegengesetzte Ergebnisse erzielte Libet hingegen, wenn er anstatt des der rechten Hand entsprechenden kortikalen Areals das der rechten Hand entsprechende Areal des spezifischen Thalamus stimulierte. Eine Stimulation des Thalamus hat zur Folge, dass zur Bewusstwerdung eine ähnlich lange Zeit wie bei der Reizung der Hirnrinde vergehen muss79, aber wie bei einer Hautreizung ein evoziertes Potential an der Hirnrinde messbar ist. In den Versuchen Libets wurde eine gleichzeitig einsetzende Reizung von Thalamus und Hautoberfläche als gleichzeitig erlebt, während bei einem ent_________________ 77 78 79
Siehe Libet et al. (1967), S. 1598 f. Vgl. Libet (1978), S. 74. Siehe Libet et al. (1979), S. 217.
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sprechenden Vergleich von Hirnrinden- und Hautoberflächenwahrnehmung die Reizung der Hautoberfläche von den Probanden als vorangegangen erlebt wurde.80 Zur Erklärung dieses Phänomens entwickelte Libet eine ungewöhnliche Theorie: Da für die Bewusstwerdung der Stimulationen der Haut eine Hirnaktivität von mindestens einer halben Sekunde notwendig sei, der Hautreiz aber unmittelbar, also ohne eine halbe Sekunde Verzögerung erlebt werde, wurde die in dem Versuch auftretende Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung kortikaler Stimulation bzw. der Wahrnehmung der Reizung des Thalamus im Vergleich zur Wahrnehmung der Hautreizung von Libet so erklärt, dass das Gehirn die Bewusstwerdung eines Sinnesreizes „vordatiert“, vermutlich auf den Zeitpunkt, zu dem sich das evozierte Potential aufbaut81, was seiner Ansicht nach jedoch nichts an der Verarbeitungsdauer für die Bewusstwerdung ändert.82
b) Kritik Diese „Antedatierungstheorie“ hat sowohl Zustimmung als auch Ablehnung in der Wissenschaft erfahren. Während sie sich in dualistische Konzepte des Gehirn-Geist-Verhältnisses, wie in das des Hirnforschers und Nobelpreisträgers Sir John C. Eccles scheinbar mühelos integrieren ließ, erfuhr und erfährt sie noch heute auch vehemente Ablehnung. Eccles, der die gesamte Hirnaktivität von einem selbstbewussten Geist überwacht sieht83, interpretiert die Experimente Libets dahingehend, dass die Zeit von circa einer halben Sekunde bis zur Bewusstwerdung die Zeit sei, die neuronale Aktivitätsmuster benötigten, um sich so aufzubauen, dass sie vom selbstbewussten Geist entdeckt werden könnten. Bei dem Antedatierungsprozess handle es sich um einen „zeitlichen Trick“ des selbstbewussten Geistes zur Vornahme geringfügiger zeitlicher Anpassungen.84 Anhänger monistischer Theorien versuchen dagegen ohne ein solches, von dem englischen Philosophen Gilbert Ryle auch als „Geist in der Maschine“ bezeichnetes85, von Hirnprozessen unabhängiges Bewusstsein auszukommen. So weist die Neurowissenschaftlerin Susan Pockett zu Recht darauf hin, dass die zugrunde gelegten 500 Millisekunden nur ein Durchschnittswert sind, dass aber auch nach den Messungen Libets die Schwelle zur bewussten Wahrneh_________________ 80
Siehe Libet (1978), S. 74 ff. Siehe Libet et al. (1979), S. 222, u. ders. (1992), S. 260. 82 Siehe Libet (1992), S. 266. 83 Dazu unten, S. 293 f. 84 Siehe Eccles in Popper/Eccles, S. 438. 85 „I shall often speak of it, with deliberate abusiveness, as ‚the dogma of the Ghost in the Machine‘ “ (Ryle, Concept, S. 15 f.). Vgl. zur Kritik an Descartes auch Dennett, Philosophie, S. 53 ff. 81
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung
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mung bereits unterhalb dieser Zeitdauer überschritten werden könne.86 Sie meint daher, die Experimente Libets auch ohne eine „Antedatierung“ auf der Grundlage unterschiedlich langer Reizverarbeitungszeiten erklären zu können, kommt aber ihrerseits zu dem Ergebnis, dass von einer Verarbeitungszeit von wenigstens 60 bis 80 Millisekunden auszugehen sei, die subjektive Wahrnehmung äußerer Ereignisse diesen also jedenfalls eine gewisse Zeitspanne nachfolge.87 Die vergleichenden Untersuchungen Libets liefern insoweit ein ähnliches Bild wie die Experimente Eaglemans88, da sie jeweils darauf schließen lassen, dass das Gehirn Informationen über einen Zeitraum auswertet, der die physiologisch erforderliche Dauer zur Reizverarbeitung weit überschreitet und damit die Möglichkeit bietet, Informationen vor ihrer Bewusstwerdung zu „sortieren“ oder gegenüber reizintensiveren gänzlich zu unterdrücken. Stanley Klein dagegen kombiniert die Vorstellung von unterschiedlichen Verarbeitungszeiten mit einem Aspekt des „Orwellschen“ Erklärungsmodells89. Danach benötigen die Reize zunächst eine gewisse Verarbeitungszeit, Haut- und Thalamusreiz werden aber in der Erinnerung so niedergelegt, als ob sie bei ihrem tatsächlichen Auftreten erlebt worden wären.90 Die unterschiedlichen Erklärungsansätze für diese Versuchsergebnisse brauchen hier nicht im Detail erörtert zu werden.91 Denn allen Interpretationen ist gemeinsam, dass sie von einer tatsächlichen Verarbeitungsdauer ausgehen, die eine Aktivität wie das Fangen eines Balles auf der Grundlage einer bewussten Wahrnehmung des Balls, die dann zur motorischen Reaktion führt, praktisch unmöglich erscheinen lassen. Die Cartesischen Geisterchen92 müssten sozusagen schon früher aufstehen, damit der Ball noch gefangen werden kann. _________________ 86
Vgl. Pockett (2002a), S. 146. Zustimmend Breitmeyer (2002), S. 281. Siehe Pockett (2002a), S. 145; dies. (2002b), S. 316. Vgl. auch Birbaumer/Jänig, die von mindestens 150 bis 300 ms ausgehen (in Schmidt/Thews/Lang, S. 179). 88 Siehe dazu auch Eagleman/Sejnowski, Science 287 (2000), S. 2038. 89 Dazu oben, S. 255. 90 Siehe Klein (2002a), S. 200 u. 211. 91 Siehe dazu P. S. Churchland, Philosophy of Science 48 (1981), S. 165 ff. (mit einer Erwiderung Libets [1981], S. 182 ff., u. Duplik Churchlands, ebd., S. 492 ff.). Honderich (1984), S. 200 ff. (mit Erwiderung Libets [1985a], S. 563 ff., u. Duplik Honderichs [1986]) Kritisch gegenüber einem hieraus abgeleiteten Dualismus Dennett, Philosophie, S. 203 ff.; zustimmend Walter, Neurophilosophie, S. 299 ff., 306; vgl auch Lycan, Consciousness, S. 761 ff. Zu Libets Experimenten vgl. auch die Reinterpretationen von Trevena/Miller (2002), S. 163 ff.; Gomes (2002a), S. 225 ff.; (dazu erwidernd Libet [2002] S. 292 f. u. 297 f. mit Duplik von Miller/Trevena [2002], S. 308 ff., u. Gomes [2002b], S. 304 ff.); Glynn (1990), S. 478 f. (mit Erwiderung Libets [1991], S. 27, u. Duplik Glynns [1991], S. 27 f.); Dennett/Kinsbourne (1992), S. 196 ff. 92 Descartes ging davon aus, dass „Geister“ (esprits) von der Zirbeldrüse in die Muskeln gesendet werden, wenn die Seele eine Bewegung des Körpers veranlasst (vgl. auch oben, S. 237). 87
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III. Konsequenzen der dargestellten Untersuchungen für die Rechtsbegriffe der „Kenntnis“ und der „Erkennbarkeit“ Im Rahmen der „Erkennbarkeit“ wird bei der strafrechtlichen Beurteilung gefragt, ob der Täter die Folgen seines Handelns hätte vorhersehen können, weil er sich bestimmter Sachverhalte und Zusammenhänge hätte bewusst sein müssen. Das Vorhersehen zukünftiger Ereignisse ist für jedermann eine Alltagserfahrung und eine Notwendigkeit für das gesellschaftliche Miteinander. „Vorhersehen“ kann der Mensch jedoch nur, wenn einerseits die notwendigen Informationen bereits im Gedächtnis, also in bestimmten neuronalen Netzen, verankert sind und wenn andererseits in der jeweiligen Situation auch die notwendigen neuronalen Verknüpfungen zwischen diesen Netzwerken entstehen. Diese entstehen aber nicht zufällig, sondern sind ihrerseits abhängig von den gesamten Vorerfahrungen eines Menschen sowie seiner genetisch vorgegebenen Grundausrüstung.93 Denkt beispielsweise ein Jäger, er schieße auf ein Wildschwein, und tötet stattdessen einen Menschen, dann haben seine Neuronen zuvor auf alles reagiert, was einzelne Erkennungsmerkmale eines Wildschweins besitzt. Haben sich ausreichend viele dieser Neuronennetze zusammengefunden, „erkennt“ der Jäger in der dunklen Gestalt im Gebüsch subjektiv ein Wildschwein, wiewohl es sich objektiv um einen Menschen handelt. Diese schnelle Klassifizierung von Objekten bietet, soweit sie im Wesentlichen irrtumsfrei erfolgt, insbesondere im Tierreich bei der Beute- oder Feinderkennung einen überlebenswichtigen Vorteil. Begegnungen mit dem einen wie dem anderen Gegenüber setzen schnelle Reaktionen voraus, die eine vollständige Überprüfung des Objekts nicht zulassen würden. Dabei wird die Reaktion vom Gehirn vollkommen „autonom eingeleitet“, sobald es „meint“94, das Objekt kategorisiert zu haben. Dieser Aspekt der schnellen Reaktion wird im Folgenden noch ausführlicher erklärt. Irrtümer sind jedoch bei diesen Verhaltensweisen nicht ausgeschlossen. Viele Tiere haben sogar Reaktionen entwickelt, um sich solche Irrtümer ihrer natürlichen Feinde zunutze zu machen.95 Ist ein Mensch auf der Jagd nach einem Beutetier, dann sind auch in seinem Hirn bestimmte kategorisierende Aspekte wie Größe, Form, Farbe und Verhaltensweisen des Tieres gespeichert. Nun ist es ausreichend, dass in einer bestimmten Höhe über dem Boden Blätter rascheln und ein dunkler Schatten ungefähren Ausmaßes sich im Laubwerk abzuzeichnen scheint, damit das Ge_________________ 93
Siehe Roth, Gehirn, S. 257. Vgl. zu diesen Begriffen die Anmerkung oben, S. 245, Fn. 18. 95 So z. B. eine Froschart bei Konfrontation mit einer Schlange. Die Frösche machen sich dabei besonders groß, indem sie sich auf die ansonsten angewinkelten Beine stellen, und verharren so regungslos, damit die Schlange sie nicht als Beutetier identifizieren kann (aus einer Fernsehdokumentation). 94
Kapitel 1: Visuelle Wahrnehmung
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hirn hierin die gesuchte Beute „erkennt“. Hat sich das Gehirn zuvor einmal „geirrt“ und dadurch negative „Erfahrungen“ gesammelt oder ist es von seiner früh erworbenen Struktur her eher „vorsichtig“, wird es vielleicht eine Art „Sicherheitsüberprüfung“ vornehmen, ansonsten wird es unter Umständen die neuronalen Netzwerke so komplettieren, dass der Jäger den subjektiven Eindruck hat, ein Wildschwein zu „sehen“. Da das Irren an sich nicht strafbar ist, vielmehr allenfalls die „Pflichtwidrigkeit“ eines (folgenreichen) Irrtums das Strafrecht auf den Plan ruft, lautete der strafrechtliche Vorwurf, wenn der Jäger statt eines Wildschweins einen Menschen trifft, etwa: der Jäger hätte sich vergewissern müssen, dass er keinen Menschen erschießen würde. Die Arbeiten Roths, Singers und Bonnehs lassen aber darauf schließen, dass der Mensch nur einen Teil seiner Umwelt bewusst wahrnimmt und dass auch diese Wahrnehmung entscheidend durch das Gedächtnis beeinflusst wird. Die „Entscheidung“ schließlich darüber, welche Informationen überhaupt bewusst werden, wird aber entweder bereits vor der Bewusstwerdung im Gehirn gefällt oder aber es werden im Nachhinein vormals bewusste Ereignisse nachträglich verändert. Bewusste Wahrnehmung und damit auch die Nichtwahrnehmung wären in beiden Fällen Folgen bestimmter neuronaler Aktivitäten. Der Vorwurf unzureichender Aufmerksamkeit bekäme so eine völlig andere Qualität. Er verlangte vom Menschen einen komplexen von innen heraus nicht steuerbaren Eingriff in automatisierte und teilweise unbewusste Gehirnprozesse. Soweit eingehende Informationen bereits vorbewusst vom Gehirn ausgewertet und teilweise verändert werden, ergäbe sich also die Konsequenz, dass, ginge man von einem subjektiven „freien Willen“ aus, die Entscheidungsgrundlage bereits „vorsortiert“ wäre. Hängt die bewusste Wahrnehmung insoweit von autonom ablaufenden Hirnprozessen ab, dann folgt daraus aber auch, dass der Mensch nur das erkennen konnte, was er erkannt hat, beziehungsweise was ihm neuronal repräsentiert wurde. Zwar ist es denkbar, dass er in einer erneuten vergleichbaren Situation schon aufgrund der im Gedächtnis niedergelegten negativen Vorerfahrung etwas anderes wahrnehmen würde; für jede in der Vergangenheit liegende Wahrnehmung müsste aber gelten, dass sie jeweils durch Hirnprozesse determiniert war, also auch nicht anders hätte ausfallen können. Diese Überlegungen hätten auch Konsequenzen für die Reaktionsgrundzeit96. Nach Engels ist ihr wahrscheinlichster Wert 0,93 Sekunden.97 In knapp einer Sekunde dürfte aber ein Gehirn Informationen wesentlich differenzierter verarbeiten können, als dies bei einem Kraftwagenfahrer, der mit vorüberziehenden Reizen im Straßenverkehr konfrontiert ist, oder bei einem reaktionsbe_________________ 96 97
Dazu oben, S. 193. Siehe oben, S. 193, Fn. 241.
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reiten Jäger der Fall ist. Unterhalb dieses situations- und persönlichkeitsbedingten Zeitlimits wird im Strafrecht davon ausgegangen, dass ein Mensch nur eingeschränkt „erkennen“ kann, ihm mithin aufgrund seiner biophysischen Voraussetzungen auch nicht mehr „erkennbar“ war. Auch Libet bemerkt hierzu, dass die erforderliche Zeitspanne zur bewussten Wahrnehmung den Rahmen derjenigen Aktionen beschränken könne, in denen der freie Wille seinen Ausdruck finde.98 Geht man aber davon aus, dass die Wahrnehmung insgesamt durch Hirnprozesse determiniert ist, dann erfolgt auch die differenziertere Verarbeitung von Reizen auf der Grundlage von autonom arbeitenden Hirnprozessen. Das „Ergebnis“ einer Wahrnehmung nach Ablauf einer längeren Zeitspanne tritt dann ebenso notwendig ein wie die Wahrnehmung kurzzeitig präsentierter Reize. Weder das, was innerhalb einer kurzen Zeitspanne nicht erkannt wurde, noch das, was nach Ablauf einer längeren Zeitspanne nicht erkannt wurde, wäre damit „erkennbar“ gewesen. Die vom Strafrecht vorgenommene Differenzierung bei der Reaktionszeit beruhte dann auf der falschen Annahme, dass unvollständige Wahrnehmungen und darauf basierende Handlungen nach Ablauf einer gewissen Zeitspanne vermeidbar sind, wohingegen sie vor Ablauf dieser Zeitspanne unvermeidbar sein sollen. Ist bewusste Wahrnehmung durch Hirnprozesse determiniert, dann kann der Schuldvorwurf ersichtlich auch nicht lauten, der Kraftwagenfahrer hätte seine Aufmerksamkeit bereits vor dem unfallverursachenden Ereignis so weit erhöhen müssen, dass er auf dieses besser hätte reagieren können. Denn worauf sich seine Aufmerksamkeit richtet, hängt dann wiederum nur davon ab, wie sein Gehirn die Situation verarbeitet und darauf reagiert. Laufen im Gehirn determinierte Prozesse ab, dann hätte die Aufmerksamkeit eines unaufmerksamen Fahrers nicht stärker sein können, als sie war. Die Untersuchungen Bonnehs und seiner Kollegen99 zeigen außerdem, dass Aufmerksamkeit auch bei „geistiger Anspannung“ nicht konstant aufrechterhalten werden kann. Die Vermutung liegt nahe, dass das Gehirn mit der ihm zur Verfügung stehenden Energie „haushalten“ muss, und Aufmerksamkeit wegen des damit einhergehenden hohen Energieverbrauchs nur eingeschränkt möglich ist. Die von Dennett und Kinsbourne gegenübergestellten Modelle vorbewusster und nachbewusster Modulation eingehender Reize legen schließlich die Frage nahe, ob von „Kenntnis“ im Sinne des § 16 Abs. 1 StGB auch dann gesprochen werden kann, wenn ein bestimmtes Faktum zwar für wenige Millisekunden bewusst war, hieran aber keine Erinnerung mehr existiert. Im dritten Kapitel des vorangegangenen Teils dieser Arbeit wurde bereits erörtert, dass für das Wissenselement des Vorsatzes nach manchen Auffassungen auch eine Form von „unbewusster Kenntnis“ genügen soll. Das „Orwellsche“ Erklärungsmodell _________________ 98 99
Siehe Libet (1978), S. 80. Dazu oben, S. 249.
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könnte damit eine „Lösung“ für die Spontanreaktionen bieten, die mit § 16 Abs. 1 StGB unter Umständen noch zu vereinbaren wäre. Die zwei profundesten Schwierigkeiten, auf die eine Anwendung des „Orwellschen“ Modells auf die subjektive Tatseite im Strafrecht stößt, sind aber erstens die Nachweisbarkeit und zweitens die Vorwerfbarkeit. Jene bereitet prozessuale Schwierigkeiten, weil sich weder der Angeklagte selbst erinnern kann noch ein objektiver Nachweis möglich ist, dass dieses Modell mit den Tatsachen übereinstimmt; und diese ist problematisch, weil ein Angeklagter, dem ein Vorwurf aufgrund einer vermeintlichen Kenntnis von Tatsachen gemacht wird, die er zum Zeitpunkt des Prozesses subjektiv nicht hat und die auch in seiner Erinnerung nicht vorhanden ist (denn die Erinnerung ist ja gelöscht), eine Bestrafung sehr wahrscheinlich als ungerecht empfinden wird. Denn in seiner Person wird er keinen Anknüpfungspunkt für den Vorwurf finden können. Das „Orwellsche“ Erklärungsmodell ist damit im Ganzen ungeeignet, über die „Kennntis“ im Sinne des § 16 Abs. 1 StGB Aufschluss zu geben. Die Möglichkeiten einer willentlichen Steuerung der bewussten Wahrnehmung müssen mit Blick auf den Schuldvorwurf wohl skeptischer beurteilt werden, als dies bislang geschieht. Es müssen Differenzierungskriterien entwickelt werden, die eine Grenzziehung zwischen vorwerfbarem und nicht vorwerfbarem Unterlassen genügender Aufmerksamkeit plausibel machten. Eine empirische Grenze, z. B. eine Zeitgrenze, würde ersichtlich noch nichts hinsichtlich des spezifisch Vorwerfbaren erklären. Hier müssen also vermehrt Anstrengungen unternommen werden. Nachdem dargelegt wurde, dass Wahrnehmen ein jedenfalls weitgehend automatisierter Vorgang ist, werden nun Untersuchungen vorgestellt, die im Zusammenhang mit der automatischen und der willentlichen Initiation von Bewegungen stehen.
Kapitel 2
Entstehung von Bewegungen I. Ausgangslage Um die Problematik der automatisierten Bewegungen neurowissenschaftlich zu beleuchten, soll zunächst noch einmal der psychophysiologische Kenntnisstand zusammengefasst werden, auf dem die Überlegungen zu den automatisierten Verhaltensweisen im Strafrecht beruhen.
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Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften
1. Handlungsinitiierung aus psychophysiologischer Sicht 1968 (Müller-Limroth) Nach Müller-Limroth kommt es zu einer bewussten Reaktion, wenn ein Informationsstrom über den sensorischen Bereich in das Bewusstsein eindringt, es durchschreitet und nach Modulation durch Motive über den motorischen Bereich zu einer Aktion führt.100 „Wenn also eine Willkürhandlung ausgeführt werden soll, so müssen im Willkürzentrum eine Reihe von Nervenzellen, sogenannten Pyramidenzellen, aktiviert werden und eine Impulssalve zu den entsprechenden Vorderhornzellen des Rückenmarks abgeben.“101 Bei Automatismen handle es sich um Bewegungsmuster, die zunächst erlernt, also ursprünglich von der Großhirnrinde veranlasst worden seien.102 Der handlungsauslösende Vorgang verlagere sich hingegen in ein tiefer im Gehirn liegendes Gebiet, bei dem dann, ähnlich einer mit einem Programm versehenen ComputerLochkarte, ein Impulsmuster vorhanden sei, welches z. B. die gesamte Handlung im Straßenverkehr, also die Fahrhandlung veranlasse.103 „Eine solche Automatisierung entlastet gleichsam das Großhirn und damit auch den Kraftfahrer selbst. Sobald aber über die Sinnesorgane eine Änderung in der Verkehrssituation oder am Fahrzeug signalisiert wird, dann wird die Handlungsauslösung sofort wieder von der Großhirnrinde übernommen.“104 Dabei blieben die automatischen Bewegungsabläufe unter der ständigen Kontrolle der Willkür unter Einschluss der aus den Sinnesorganen einlaufenden Informationen.105 Zusammenfassend lässt sich sagen: Voraussetzung für eine selbstbestimmte Handlung ist, dass das Bewusstsein über das „Willkürzentrum“ des Menschen handlungsinitiierend wirkt. Bei den Automatismen wird die Selbstbestimmung dadurch erhalten, dass die Bewegungsabläufe unter ständiger Kontrolle der Willkür, wiederum unter Einschluss der bewussten Wahrnehmung stehen. Das würde nach populärer Auffassung für Willkürbewegungen bedeuten, dass Informationen von der Außenwelt zum Gehirn eines Menschen geleitet werden (zum Beispiel Gerüche, Konturen), diese verarbeitet und vom Menschen als Endprodukt erfasst werden – er nimmt beispielsweise einen Apfel wahr, woraufhin sich der Mensch entschließt, diesen Apfel zu essen oder es nicht zu tun.
_________________ 100
Siehe Müller-Limroth, DAR 1968, S. 296. Müller-Limroth, DAR 1968, S. 297. 102 Siehe Müller-Limroth, DAR 1968, S. 300. 103 Siehe Müller-Limroth/Schneble, BA 1978, S. 235 und Müller-Limroth, DAR 1968, S. 300. 104 Müller-Limroth/Schneble, BA 1978, S. 235. 105 Siehe Müller-Limroth, DAR 1968, S. 300. 101
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2. Das Bereitschaftspotential (Kornhuber/Deecke) Bereits 1964 wurde von Kornhuber und Deecke das sogenannte „Bereitschaftspotential“ entdeckt. Mittels EEG wurde am supplementär motorischen Areal (SMA) die von den Neuronen ausgehende Spannung gemessen. Das SMA befindet sich am oberen Rand der Innenseite der Hemisphäre und gehört zum primären motorischen Kortex, der mit der Vorbereitung und Durchführung von Willkürhandlungen zu tun hat.106 Kornhuber und Deecke registrierten so 1 bis 1,5 Sekunden vor Ausführung einer Willkürbewegung eine langsame, negative neuronale Aktivität im supplementär motorischen Kortex und nannten diese das Bereitschaftspotential.107 Weil es in Beziehung zur Aktivität beider Hemisphären steht, wird es auch als „symmetrisches“ Bereitschaftspotential bezeichnet.108 Kornhuber und Deecke bemerkten hierzu: „[...] der bioelektrische Vorgang [scheint] zu jenen Hirnprozessen zu gehören, die im Bewußtsein als Bereitschaft zum Handeln erscheinen.“109 Denn die Wissenschaftler stellten fest, dass die Amplitude des Bereitschaftspotentials mit der Aufmerksamkeit und intentionalen Beteiligung ihrer Probanden wuchs, bei Gleichgültigkeit derselben hingegen abnahm. 110 Diese Deutung erschien auch insofern berechtigt, als das Bereitschaftspotential selbst dann auftrat, wenn sich der Proband die Bewegung lediglich vorstellte, der motorische Kortex also inaktiv blieb.111 Bei sich wiederholenden Willkürbewegungen konnten Kornhuber und Deecke Intervalle des Bereitschaftspotentials zwischen 0,4 und 4 Sekunden vom Beginn der Potentialänderung bis zum Bewegungsbeginn (Zeitpunkt 0,0) feststellen.112 Das kortikale Motorsignal, das entsteht, wenn der motorische Kortex die Muskeln aktiviert, tritt dagegen regelmäßig nur 50 bis 100 Millisekunden vor Ausführung der Bewegung auf.113
_________________ 106
Siehe Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 444 f. Siehe Kornhuber/Deecke, Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie 284 (1965), S. 4. 108 Vgl. Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 487. 109 Kornhuber/Deecke, Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie 284 (1965), S. 15. 110 Siehe Kornhuber/Deecke, Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie 284 (1965), S. 8 f. 111 Siehe Roth, Gehirn, S. 307; vgl. auch die Untersuchungen in Libet et al. (1983a), S. 369. 112 Siehe Kornhuber/Deecke, Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie 284 (1965), S. 5. 113 Siehe Roth, Gehirn, S. 307. 107
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Die Erkenntnisse Kornhubers und Deeckes integrierte Stennert 1975 in seine strafrechtliche Untersuchung der automatisierten Verhaltensweisen, indem er sich dieser Interpretation des Bereitschaftspotentials als der neuronalen Folge einer Bewegungsintention oder -vorstellung anschloss.114 Eine solche Annahme würde bedeuten, dass nach dem Entschluss des Menschen, den Apfel zu essen, dieser Entschluss das Gehirn dahingehend aktiviert, die nötige Handlung, wie zum Beispiel das Ergreifen des Apfels, vorzubereiten. Auffallend ist, dass demnach zwischen der Entschlussfassung und dem Ergreifen des Apfels circa eine halbe Sekunde liegen müsste, nämlich die Zeitspanne, die das Gehirn benötigt, um das Bereitschaftspotential aufzubauen. Hinzu käme der Zeitraum, der zwischen dem Eingang des vom Apfel ausgehenden sensorischen Reizes und dem Entschluss zum Ergreifen desselben liegen müsste.
II. Automatisierte Bewegungen Diese Zeitspanne erscheint Eduard Dreher als zu lang. Er errechnet für einen Pianisten, der Schumanns Toccata (Op.7) spielt, bis zu 65 Anschläge in einer halben Sekunde, und bemerkt: „Solch eine Zahl steht in krassem Widerspruch zu Libet/Kornhuber.“115 Eine Sekretärin bringe es auf sechs Anschläge in der Sekunde bei unbekanntem Diktat und ein Tennisspieler habe knapp 0,36 Sekunden Zeit, um auf einen Ball von Boris Becker zu reagieren. In der Leichtathletik würde man nur 0,10 Sekunden zwischen dem Startschuss und der ersten Bewegung der Läufer messen.116 Diese Zeiten stünden, so meint Dreher, im klaren Missverhältnis zu der nach den Untersuchungen Libets, Kornhubers und _________________ 114
Vgl. Stennert, S. 97. Dreher, Willensfreiheit, S. 287. 116 Siehe Dreher, Willensfreiheit, S. 288. 115
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Deeckes benötigten Zeitspanne. Hiernach benötige die bewusste Wahrnehmung 0,5 Sekunden und der Aufbau des Bereitschaftspotentials seinerseits circa 0,8 Sekunden, woraus sich durch Addition 1,3 Sekunden ergäben.117 Dreher äußert deshalb Zweifel. Im Autoverkehr könnte dies „geradezu verhängnisvolle Folgen“ haben, weil die aktuelle Lage im Zeitpunkt der Bewusstwerdung schon nicht mehr der Realität entspreche. Er hat daher „erhebliche Bedenken gegen die ,Vordatierungstheorie‘“.118 Dabei richtet sich die Kritik Drehers inhaltlich nicht gegen Libets Antedatierungstheorie, denn diese findet in die Berechnungen Drehers keinerlei Eingang: die Summe von 1,3 Sekunden ergibt sich vollkommen unabhängig hiervon. Drehers Bedenken richten sich vielmehr gegen die experimentelle Untersuchung der zur Bewusstwerdung notwendigen Zeitspanne. Soweit aber diese Versuchsdurchführung Bedenken unterliegt, wäre es erforderlich, konkrete Mängel anzuführen, anstatt sich lediglich darauf zu berufen, dass ihre Ergebnisse persönlichen Erfahrungen widersprächen. Hinzu kommt, dass Dreher die Versuche zum Bereitschaftspotential auch auf automatisiertes, insbesondere spontan reaktives Verhalten überträgt. Festgestellt wurde ein Bereitschaftspotential von Kornhuber und Deecke jedoch lediglich bei willkürlichen Bewegungen.119 Auch diesbezüglich kann daher den Schlussfolgerungen Drehers nicht zugestimmt werden. Problematisch bleibt aber die Vereinbarkeit der vorgestellten Untersuchungsergebnisse mit dem Auftreten sehr schneller Reaktionen.120 Ausgangspunkt der Fragestellung ist deshalb, warum der Mensch auch vor Ablauf einer halben Sekunde auf äußere Reize reagieren kann. Diesbezüglich hat Libet selbst Überlegungen angestellt, die im Folgenden erörtert und den kritischen Einwänden Drehers gegenübergestellt werden sollen.
1. Wahrnehmung und Reaktion Aus den kurzen Reaktionszeiten folgt für Libet, dass diese Reaktionen wahrscheinlich unbewusst ablaufen. Die bewusste Wahrnehmung des Reizes wie auch der Reaktion selbst könne nachfolgend eintreten, manchmal auch gänzlich ausbleiben. Auch alternative Verhaltensweisen könnten unbewusst erfolgen. Von einem Entscheidungsverhalten, das auf einem freien Willen oder einer _________________ 117
Siehe Dreher, Willensfreiheit, S. 287. Vgl. auch Penrose, S. 439 ff., 442. Siehe Dreher, Willensfreiheit, S. 288. 119 Zu weiteren Untersuchungen Libets siehe unten, S. 278 ff. 120 Reaktionstests ergeben Reaktionszeiten von 0,05 Sekunden (s. Libet [1965], S. 85, u. ders., [1966], S. 176). Nach Roth erfolgen Hinwende-, Schreck- und Abwehrreaktionen mit einer Latenz von ca. 30 ms. „Dies ist mehr als zehnmal schneller als die Zeit, die verstreichen muss, bis uns ein Reiz bewusst wird“ (Fühlen, Denken, Handeln, S. 444). 118
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freien Wahl beruht, könne jedoch in diesen Fällen nicht gesprochen werden, da eine solche Willensbetätigung immer als Ausfluss bewusster Wahrnehmung angesehen werde. Die Person hätte sich demnach ihrer Reaktion bewusst sein und bewusste Kontrolle über ihr Verhalten ausüben müssen. Eine bewusste Intervention könnte in solchen Fällen also allenfalls nachfolgend in einer Abänderung zukünftigen Verhaltens oder der Wiederherstellung des alten Zustands bestehen.121 Eagleman und Sejnowski kommen zu einer ähnlichen Theorie für die problematisierte Situation des Ballfangens: Ihrer Ansicht nach ist keine Extrapolation der Position des Balles erforderlich, denn der Zeitverzug könne durch Routine des motorischen Systems ausgeglichen werden.122 Diese Überlegungen werden durch eine Untersuchung der Physiologen Taylor und McCloskey unterstützt. Sie machten sich den von Crawford entdeckten Effekt zunutze, dass ein schwacher visueller Reiz, dem ein starker visueller Reiz unmittelbar folgt, nicht bewusst wahrgenommen wird.123 Sie forderten ihre Probanden auf, jeweils schnellstmöglich auf einen visuellen Lichtreiz zu reagieren. Dabei stellte sich heraus, dass die Probanden statt auf den starken Lichtreiz, der einem schwachen 50 Millisekunden folgte, auf den von ihnen nicht bewusst wahrgenommen schwachen Lichtreiz reagierten. Dies wiederholte sich sowohl mit einfachen Reaktionsbewegungen als auch mit komplexen Bewegungen, die unterschiedliche Muskelaktivitäten in beiden Körperhälften erforderten.124 Taylor und McCloskey kamen daher zu dem Ergebnis, dass willkürliche Handlungen (die sie als Handlungen definierten, die ein Mensch nach seinem Willen durchführen oder unterlassen kann) ohne bewusste Wahrnehmung des auslösenden Reizes stattfinden können. Noch bevor der sensorische Reiz bewusst werde, leite das Gehirn „automatisch“ die willkürliche Handlung ein, auch wenn der Reiz überhaupt nicht in das Bewusstsein gelange.125 Überträgt man die Untersuchungsergebnisse Libets auf die Problematik der Reaktionszeiten von Kraftfahrern, dann stellt man zunächst fest, dass die untere Grenze von 0,6 Sekunden, die die Gerichte für das Einleiten einer „überlegten Reaktion“ auf ein plötzliches Ereignis hin festgesetzt hatten126, tatsächlich geeignet ist, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die von Libet gemessene Zeitspanne für eine bewusste Wahrnehmung erforderlich ist. Damit wird jedoch _________________ 121
Siehe Libet (1965), S. 85; s. auch ders. (1966), S. 176; ders. (1978), S. 80, u. ders. (1992), S. 267. 122 Siehe Eagleman/Sejnowski, The Flash-lag Effect: An Overview; dies., Science 287 (2000), S. 2037 f. 123 Dazu oben, S. 254. 124 Siehe Taylor/McCloskey, Journal of Neurophysiology 63 (1990), S. 439 ff. 125 Siehe Taylor/McCloskey, Journal of Neurophysiology 63 (1990), S. 444 f. 126 Siehe oben, S. 192.
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zugleich fraglich, ob reaktive automatisierte Verhaltensweisen, wie Stratenwerth sich ausdrückt, überhaupt „erlebnismäßig bedingt“ sind.127 Die Überlegungen Libets decken sich insoweit mit den Berichten der Betroffenen, wie sie von Meyer-Gramcko geschildert wurden.128 Denn deren Angabe, sie hätten die Gefahr erst wahrgenommen, nachdem sie bereits reagiert hatten, findet hiernach eine wissenschaftliche Stütze. Und auch das unfallverursachende Reagieren auf das nicht bewusst wahrgenommene Taxi im Beispielsfall von Luff129 erklärte sich hieraus. Diese Erklärungen setzen jedoch voraus, dass das Gehirn praktisch selbständig und ohne jegliche bewusste Kontrolle in der Lage ist, Handlungen einzuleiten und ihre Ausführung zu veranlassen. Außerdem hieße es, dass das Bewusstsein nicht jederzeit die Kontrolle übernehmen könnte wie Müller-Limroth und Stennert annahmen; denn jedenfalls innerhalb der für die bewusste Wahrnehmung erforderlichen Zeitspanne wäre ihm dies keinesfalls möglich. Die jederzeit mögliche Kontrollübernahme durch das Bewusstsein ist jedoch ein wesentlicher Aspekt bei der strafrechtlichen Beurteilung automatisierter Verhaltensweisen.130 Taylor und McCloskey nennen auch unbewusst ablaufende Verhaltensweisen „willkürlich“. Das mag man für diejenigen Verhaltensweisen gelten lassen können, denen tatsächlich ein Wille voranging wie dem Spaziergang im Park, dem Boxkampf und auch dem Knopfdruck von Probanden bei einem Reaktionstest. Bei den Spontanreaktionen im Straßenverkehr ist die Verwendung dieses Adjektivs, wie die vorangegangenen Ausführungen gezeigt haben131, dagegen nicht mehr plausibel.
2. Reiz-Reaktions-Muster Wenn automatisierte Verhaltensweisen unbewusst erfolgen, stellt sich weiterhin die Frage, wie sie initiiert werden. Dreher bezog in seine Überlegungen die Erkenntnisse Libets sowie Kornhubers und Deeckes ein. Dabei berücksichtigte er jedoch nicht, dass das Bereitschaftspotential von Kornhuber und Deecke lediglich vor willkürlichen Bewegungen gemessen wurde. Eine Übertragung dieser Erkenntnisse auf unterschiedliche Arten von unwillkürlichem Verhalten, wie sie Dreher vorgenommen hat, ist danach methodisch nicht gerechtfertigt. Zwar haben nachfolgende Untersuchungen gezeigt, dass das Bereitschaftspotential bei sich im Alltag ständig wiederholenden Bewe_________________ 127
Dazu oben, S. 171. Siehe oben, S. 226. 129 Vgl. oben, S. 227, Fn. 375. 130 Ausführlich oben, S. 203 ff. 131 Siehe oben, S. 162 ff. u. 219 f. 128
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gungen132 und bei einzelnen unbemerkten Körperbewegungen133 ebenfalls auftritt. Es fehlt jedoch bei spontanen Reaktionen auf einen unerwarteten Reiz sowie bei Reaktionszeittests und konnte auch bei Patienten mit dem TourettesSyndrom, die durch „Ticks“ (plötzliche Zuckungen, spontane Ausrufe) auffallen, nicht gemessen werden.134 Es scheint daher möglich, dass schnellen Reaktionen auf ein unerwartetes Ereignis zum Beispiel im Straßenverkehr kein Bereitschaftspotential vorangeht. Das Bereitschaftspotential ist also nur bedingt geeignet, Aufschluss über den inneren Vorgang in den Fällen automatisierter Verhaltensweisen und damit auch der typischen Reaktionszeitfälle im Straßenverkehr zu geben. Automatisierte Verhaltensweisen sollen nach heutigem Kenntnisstand, ähnlich wie es Müller-Limroth formuliert, durch vom Gedächtnis angelegte ReizReaktions-Muster hervorgerufen werden, die automatisch und völlig unbewusst abgerufen werden.135 Dieser Prozess zeigt sich bei eingeübten Handlungen. So wird beim Radfahren nicht jeder Tritt in die Pedale bewusst vollzogen, ebenso wie der Gleichgewichtssinn nicht in jeder Sekunde von Bewusstsein begleitet ist. Der Vorteil dieser Arbeitsweise des Gehirns ist, dass die aufgrund erhöhten Energieverbrauchs nur begrenzt verfügbare Aufmerksamkeit für andere Dinge, wie etwa den Straßenverkehr, zur Verfügung steht. Motorisch hat es den Vorteil, dass automatisierte Handlungen „flüssiger“ ablaufen. Dies wird insbesondere bei sehr schnellen Bewegungsabläufen deutlich. Würde man den Klavierspieler oder die Sekretärin bitten, jeweils mit einem Blinzeln Auskunft darüber zu geben, wann ein „c“ angeschlagen oder ein „a“ getippt wird, würde das Blinzeln entweder erheblich nachfolgen oder die Bewegung sich verlangsamen. Analog würden auch Läufer und Tennisspieler nicht von einer „bewussten“ Reaktion sprechen, sondern vielmehr von einer „automatischen“ Reaktion.136 Roth zufolge arbeitet das Unbewusste schnell und effektiv, irrt sich selten, ist dabei aber relativ inflexibel. Es kann nur einfache Dinge bearbeiten. Bei komplexeren Problemen würden andere Netzwerke, vornehmlich im Bereich des Stirnhirns, aktiviert, die jedoch langsam und fehleranfällig arbeiteten. Sie _________________ 132
Vgl. Touge et al., Ann. Neurol. 37 (1995), S. 791 ff., u. Dirnberger et al., Exp Brain Res 120 (1998), S. 263 ff. Nach Libet kann hieraus nicht darauf geschlossen werden, dass das Bereitschaftspotential auch automatisierte Bewegungsabläufe, wie die eines Klavierspielers einleitet (s. Libet [1985b], S. 562). 133 Vgl. Keller/Heckhausen, Electroencephalography and clinical Neurophysiology 76 (1990), S. 351 ff. Dazu auch Lang/Deecke, Enzyklopädie C/I 5, S. 237. 134 Siehe Libet (1999), S. 52; Papa et al. (1991), S. 217 ff. 135 Siehe Schmidt/Thews/Lang-Birbaumer/Schmidt, S. 141; s. auch Roth, Grundlagen, S. 162, 136 Vgl. Roth, Grundlagen, S. 162; Roth et al., Die funktionale Rolle des bewußt Erlebten, S. 10. Vgl. auch Searle (2001), S. 18.
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hätten aber den entscheidenden Vorteil, dass sie mittels Verbindung unterschiedlicher Informationen auch unbekannte Dinge bewältigen könnten.137 Ein beeindruckendes Beispiel für die zeitliche Unterlegenheit bewusstseinsbegleiteter Bewegungen im Gegensatz zu reaktiven Bewegungen soll Niels Bohr seinen Studenten geliefert haben. Nachdem er im Anschluss an einen Kinobesuch eine Theorie entwickelt hatte, weshalb bei dem obligatorischen Westernduell immer der Held und nie der Schurke gewinnt, wurde er von seinen Studenten, die ihm keinen Glauben schenkten, zum Duell mit Spielzeugpistolen herausgefordert. Bohrs These war es, dass der Held, der nie zuerst schoss, immer nur „reflexartig“ zum Revolver griff, sobald er eine Bewegung der Hand des Gegenübers wahrnahm, während der Schurke sich zuvor entscheiden musste, wann er schießen wollte, was seine Bewegung hemmt. Niels Bohr, der im Scheinduell den Helden spielte, „erschoss“ alle seine Studenten.138
3. Folgerungen Gegen die von Dreher errechnete Zeitspanne von 1,3 Sekunden gibt es daher zunächst zwei Einwände. Erstens erfordern nicht alle Bewegungen ein Bereitschaftspotential, zweitens ist anzunehmen, dass viele Bewegungen, insbesondere schnelle Bewegungsabläufe und Reaktionen, unbewusst anhand von Gedächtnisleistungen vollzogen werden.139 Der Bewegungsapparat würde dann von nur wenig anderen neuronalen Abläufen bestimmt werden, als dies bei der Wahrnehmung der Fall ist; unter Umständen könnten sie auch ebenso unausweichlich eintreten. Worauf es hier jedoch zunächst ankam, war die Frage, ob automatisierte Verhaltensweisen bewusst eingeleitet oder kontrolliert werden können. Jedenfalls bei den Spontanreaktionen spricht dagegen als erhebliches Indiz die zur Bewusstwerdung erforderliche Zeitspanne. Daneben kann darauf verwiesen werden, dass der menschliche Bewegungsapparat nach den Untersuchungen Taylors und McCloskeys auch ohne die Bewusstwerdung des auslösenden Ereignisses vollkommen autonom reagieren kann.140 Bei anderen automatisierten Verhaltensweisen bleibt dagegen die Möglichkeit, dass sie von einem Bewusstsein umfasst sind, das zwar nicht jede einzelne Bewegung steuert und kontrolliert, das aber den „Anstoß“ gegeben hat und jederzeit regulierend eingreifen kann. Diese und weitere Fragestellungen hinsichtlich menschlichen Verhaltens gilt es deshalb mit Blick auf die Zurechnungsproblematik zu klären. _________________ 137
Siehe Roth, Pseudoherrschaft (Interview Marzluf), S. 2. Bericht Gamows, wiedergegeben in Norretranders, S. 367 f. 139 Siehe Libet (1992), S. 268. 140 Dazu oben, S. 274. 138
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III. Willkürliche Bewegungen Nach den bisherigen Erkenntnissen würden zwar nicht automatisierte, wohl aber willkürliche Reaktionen eine durchschnittliche Zeitspanne von circa 1,3 Sekunden erfordern, da willkürliche Bewegungen auf ein Ereignis erst nach Ablauf der Zeit zur Bewusstwerdung und dem Aufbau eines Bereitschaftspotentials erfolgen könnten. Es bleibt also die lange Zeitdifferenz zwischen Reizdarbietung und Reaktion zu klären. Libet nutzte das von Kornhuber und Deecke entdeckte Bereitschaftspotential dazu, willkürliche Bewegungen eingehender im Hinblick auf den Zeitpunkt des willentlichen Entschlusses zu untersuchen. Das im Folgenden dargestellte Experiment ist gewissermaßen „berühmt“ geworden, da zum ersten Mal versucht wurde, den subjektiv erlebten Willensentschluss in eine experimentelle Untersuchung einzubeziehen.
1. Das Libet-Experiment Die Versuchsanordnung entsprach zunächst der zur Messung des Bereitschaftspotentials.141 Hinzu kam eine „Wundtsche Komplikationsuhr“142, die in der experimentellen Psychologie zur genaueren Messung von Zeiteinheiten, zum Beispiel der Reaktionszeit, verwendet wird. Sie besteht aus einer Scheibe mit Ziffern, auf der im Uhrzeigersinn ein Punkt rotiert, der für eine Umdrehung lediglich 2,56 Sekunden benötigt. Die Probanden wurden aufgefordert, sich die Stelle zu merken, an der sich der rotierende Punkt auf der Uhr befand, wenn sie zuerst den Drang verspürten, den Arm zu bewegen. Der Bewegungsbeginn wurde mittels eines Elektromyogramms (EMG) gemessen, das auch kleinste Bewegungen über einen Sensor registriert. Dabei wurden sie aufgefordert, die Bewegung nicht im Voraus zu planen. Der rotierende Punkt sollte außerdem vor einer Bewegung zunächst eine volle Umdrehung gemacht haben. Im Übrigen gab es keine zeitliche Einschränkung.143 Um mögliche Fehlerquellen auszuschließen, wurde die Versuchsanordnung variiert. Die Probanden sollten nun nicht mehr den „Uhrzeigerstand“ angeben, an dem sie ihren Bewegungsdrang verspürten (z. B. „bei fünf Uhr“); vielmehr sollten sie die Position des rotierenden Punktes im Verhältnis zu einem stillstehenden Referenzpunkt auf der Komplikationsuhr angeben, der ihnen präsentiert wurde, nachdem der rotierende Punkt (einige Zeit nach der Aufzeichnung des Bewegungsbeginns) ausgeblendet worden war. Die Angabe der Probanden sollte nun nur noch lauten: „Wahrnehmung vorher“ – was besagte: im Kreis des _________________ 141
Siehe oben, S. 271. Nach dem Psychologen und Philosophen Wilhelm Wundt (1832–1920). 143 Vgl. Libet et al. (1982), S. 324; Libet (1999), S. 49. 142
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„Ziffernblatts“ der Uhr vor dem Referenzpunkt (Beispiel: Wahrnehmung des Bewegungsdrangs, als sich der rotierende Punkt etwa beim Stand „drei Uhr“ befand, während der später eingeblendete Referenzpunkt etwa bei „fünf Uhr“ erschien); oder umgekehrt: „Wahrnehmung des Bewegungsdrangs nachher“ (bzw. „Position des Referenzpunkts vorher“); oder schließlich: „Gleichzeitig“ (nämlich: „Beide Punkte am gleichen Ort“). Aufgrund der geringen Umlaufzeit des rotierenden Punktes erhielt Libet auf diese Weise eine recht konkrete Angabe von dem Zeitpunkt, den seine Probanden wahrnahmen, als sie den Entschluss zur Bewegung verspürten. Die Zeitangabe gibt also, unabhängig von der physikalischen Nachweisbarkeit eines subjektiv gefassten Entschlusses, Aufschluss über die zeitliche Einordnung des Momentes, der als „Entschlusszeitpunkt“ erlebt wird.144 Der so gefasste Entschluss sollte nach dieser Versuchsanordnung bestimmte Kriterien erfüllen: Er sollte „von innen heraus“ gefasst sein, das heißt keine Reaktion auf ein externes Ereignis darstellen. Die Versuchsbedingungen sollten daher so beschaffen sein, dass die Probanden in ihrer Entscheidung nicht beeinflusst wären. Dadurch sollte der Entschluss subjektiv als zeitlich frei und auf eigener Initiative beruhend empfunden werden, was die Probanden auch bestätigten.145 Dabei wählten sie zur Beschreibung ihrer Empfindung in Bezug auf die Bewegung unterschiedliche Begriffe wie „wanting“, „wishing“, „urging“ oder „intending“.146 Die Ergebnisse lieferten, obwohl nur an fünf Probanden in jeweils wenigstens sechs Reihen von je 40 Versuchen durchgeführt, ein deutliches Bild: Während das Bereitschaftspotential weiterhin vor der Handlung einsetzte, befand sich der von den Probanden angegebene Zeitpunkt des Entschlusses nicht vor dem Einsetzen des Bereitschaftspotentials, wie es nach Kornhuber und Deecke zu erwarten gewesen wäre, sondern folgte diesem zeitlich nach. Der subjektiv empfundene Entschluss, eine Handlung auszuführen, lag nur circa 0,2 Sekunden vor der Handlung.147
_________________ 144
Siehe die Versuchsanordnung in Libet et al. (1983b), S. 625 f. Siehe Libet (1985b), S. 529 f. 146 Siehe Libet (1987), S. 320. 147 Siehe Tabelle in Libet et al. (1983b), S. 630 f.; s. auch Libet (1985b), S. 532. 145
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2. Diskussion Die Untersuchungen Libets wurden 1985 von zahlreichen Wissenschaftlern in der Zeitschrift „The Behavioral and Brain Sciences“ diskutiert, darunter John C. Eccles und Donald M. MacKay. 148 Auch in den folgenden Jahren erschienen immer wieder kritische Aufsätze; eine neuere ausführliche Diskussion fand im Jahre 2002 in der Zeitschrift „Consciousness and Cognition“ statt. Zu den teilweise zustimmenden, teilweise ablehnenden Anmerkungen hat Libet größtenteils selbst Stellung genommen. Die wichtigsten kritischen Punkte sollen hier kurz dargestellt werden.
a) Erlebnisinhalt Während die physikalische Seite der Versuchsdurchführung wenig Kontroversen hervorrief, wurden vielfach Vorbehalte hinsichtlich der Objektivierung der subjektiven Erlebnisse geäußert. Zunächst wurde die Selbstwahrnehmung der Probanden sowohl hinsichtlich dessen, was sie erlebt hatten, als auch hinsichtlich des Zeitpunktes, zu dem sie es erlebt hatten, in Zweifel gezogen. Zu der Frage, was die Probanden erlebt hatten, äußerte Ringo, dass die Probanden vielleicht nur den stärksten Punkt des Bewegungsdranges wiedergegeben hätten, dieser Bewegungsdrang sich aber bereits mit der Absicht, den Instruktionen des Versuchsleiters Folge zu leisten, langsam aufgebaut und damit das Bereitschaftspotential eingeleitet habe.149 Dabei wird man unterscheiden müssen, ob mit der genannten Absicht oder Intention, den Anweisungen des Versuchsleiters Folge zu leisten, der Zeitpunkt zu Beginn des gesamten Experiments gemeint ist, wie dies Walter unter Berufung auf die Untersuchungen von Keller und Heckhausen vertritt150, oder der jeweilige Zeitpunkt zu Beginn jedes Einzelversuchs, wie es wohl Ringo vorschwebte. Keller und Heckhausen untersuchten in einem ersten Experiment mittels EEG die Gehirnaktivität, die entsteht, wenn Probanden Bewegungen ausführen, die ihnen nicht bewusst sind und zu denen sie nicht aufgrund einer Versuchsanleitung aufgefordert wurden, also Bewegungen, die spontan entstehen und mittels EMG gemessen werden, während die Probanden gedanklich Rechenaufgaben lösen. Zum Vergleich führten Keller und Heckhausen ein zweites dem Libetschen Versuchsaufbau entsprechendes Experiment durch, was gleichzeitig die Ergebnisse Libets bestätigte. _________________ 148
Siehe Libet (1985b), S. 529 ff. Siehe Ringo (1985), S. 551. 150 Vgl. Walter, Neurophilosophie, S. 306 f. Vgl. dazu auch Flanagan, Inessentialism, S. 361 ff. 149
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Dabei konnten sie feststellen, dass die Amplitude des Bereitschaftspotentials in den Libet-Experimenten deutlicher höher ausfiel als diejenige bei den unbewussten Bewegungen während der Rechenaufgabe. Sie führten noch ein drittes Experiment durch, in dem die Probanden sich auf ihre Arme konzentrieren sollten und nach jeder mittels EMG gemessenen Bewegung angeben sollten, ob sie vorher einen Bewegungsdrang verspürt und damit die Bewegung bewusst ausgeführt hatten oder ob sich die Bewegung im Ganzen unbewusst vollzogen hatte. Die Probanden wurden vorher nicht aufgefordert, sich zu bewegen, sondern nur, ihre Aufmerksamkeit introspektiv ihren Armen zu widmen. Verspürten die Probanden einen Bewegungsdrang, glich ihr Bereitschaftspotential demjenigen aus den Libet-Experimenten, vollzog sich die Bewegung unbewusst, blieb die Amplitude so niedrig wie in dem ersten Experiment. Keller und Heckhausen interpretierten aufgrund dieser Ergebnisse das LibetExperiment so, dass es sich bei den Bewegungen, die die Probanden ausgeführt hatten, eigentlich um unbewusste Bewegungen handelte, die lediglich aufgrund der Instruktion des Versuchsleiters sich auf die Bewegung zu konzentrieren (und nicht etwa, sich zu bewegen) bewusst wurden. Durch die Aufmerksamkeit werde ihrer Ansicht nach das supplementär motorische Areal in die Bewegungsausführung mit einbezogen, was zu einer erhöhten Aktivität des Gehirns und damit zu einer höheren Amplitude des Bereitschaftspotentials führt.151 Das Erleben des Bewegungsdranges unmittelbar vor Ausführung der Bewegung entstehe nur durch die aufgrund der Instruktionen verlangte Aufmerksamkeit und sei bedeutungslos für die Bewegung selbst.152 Diese Annahme der Bedeutungslosigkeit des unmittelbaren „Bewegungsdranges“ verwendet wiederum Walter zur Untermauerung seiner These, dass die Instruktion des Versuchsleiters „sich so zu verhalten, daß sie im Laufe des Experimentes [...] ihre Hand bewegen sollten, wann immer sie wollten“ eine Intention bei den Probanden hervorgerufen hat, die dann in die jeweilige Be_________________ 151
Siehe Keller/Heckhausen, Electroencephalography and clinical Neurophysiology 76 (1990), S. 352 ff. Dass Keller und Heckhausen sich für die mögliche Rolle, die die Instruktion des Versuchsleiters spielte, eine oder mehrere Bewegungen auszuführen, bei dem Libet-Experiment nicht interessierten, wird auch daran deutlich, dass die Wissenschaftler aus ihrem ersten Experiment gewonnene Aufzeichnungen von der Hirnaktivität, die entsteht, wenn sich die Probanden zwischenzeitlich bewusst bewegten, um ihre Position zu verändern oder um sich zu kratzen, nicht veröffentlichten. Diese Ergebnisse, die an sich die Hirnaktivität bei willkürlichen Bewegungen ohne vorangegangene Instruktion zur Bewegung wiederspiegeln, seien für ihre Zwecke „uninteressant“ (s. Keller/Heckhausen, Electroencephalography and clinical Neurophysiology 76 [1990], S. 354). 152 Siehe Keller/Heckhausen, Electroencephalography and clinical Neurophysiology 76 (1990), S. 358 ff.
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wegung umgesetzt wurde.153 Was Libet zeitlich festgehalten habe, sei demnach „allenfalls die bewußte Empfindung des Überschreitens einer Schwelle“.154 Diese Überlegung ist ohne Zweifel jedenfalls teilweise richtig. Es ist anzunehmen, dass die Probanden bei Versuchsbeginn bereits die Absicht hatten, den Instruktionen des Versuchsleiters nachzukommen und damit die geforderten Bewegungen auszuführen. Daraus ergäbe sich aber das Folgeproblem, in welchem Verhältnis diese Intention zu den jeweiligen Bewegungen steht. Denn ein Proband bewegte in sechs Versuchsreihen jeweils etwa 40 mal seinen Arm. Er konnte dabei eine selbst gewählte Bewegung ausführen z. B. das Handgelenk beugen oder eine Schnippbewegung mit den Fingern machen.155 Die Intention müsste also bereits circa 240 Armbewegungen umfasst haben, wenn dem jeweiligen Bewegungsdrang keine eigenständige Funktion in Bezug auf die Bewegungen mehr zukommen sollte. Ein ähnlicher Einwand ergibt sich aus nachfolgenden Experimenten Haggards und Eimers. Sie ließen ihre Probanden zwischen Bewegungen mit der linken und der rechten Hand „frei“ wählen und zeichneten dabei neben dem symmetrischen Bereitschaftspotential auch das sogenannte lateralisierte Bereitschaftspotential auf. Das lateralisierte Bereitschaftspotential unterscheidet sich von dem symmetrischen Bereitschaftspotential Kornhubers und Deeckes dadurch, dass es die neuronale Aktivität bezogen auf eine spezifische Bewegung widerspiegelt. Es wird nicht wie das von Kornhuber und Deecke in der Mitte der Hemisphären, sondern seitlich über nur einer Hemisphäre abgeleitet. Durch dieses Experiment wurden wiederum die Ergebnisse Libets bestätigt, dass sich auch dieses Bereitschaftspotential vor dem subjektiv erlebten Entschlusszeitpunkt aufbaut. Darüber hinaus konnten Haggard und Eimer einen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem lateralisierten Bereitschaftspotential und dem subjektiven Erleben des Entschlusszeitpunktes ihrer Probanden ausmachen.156 Damit wird die These gestützt, dass eine relativ konkrete Bewegung (nämlich konkret hinsichtlich der Wahl, ob sie mit der linken oder rechten Körperhälfte ausgeführt werden soll157) neuronal vorbereitet wird.158 _________________ 153
Siehe Walter, Neurophilosophie, S. 307; so wohl auch Hillenkamp, JZ 2005, S. 319; NK-Schild, § 20, Rn. 7. 154 Walter, Neurophilosophie, S. 308; so auch Heun, JZ 2005, S. 856. 155 Siehe Libet et al. (1982), S. 324; Libet (1999), S. 49. 156 Siehe Haggard/Eimer, Exp Brain Res 126 (1999), S. 131. Vgl. auch Münte/Heinze, S. 318. Dagegen noch die Interpretation Libets (1989), S. 41 ff. 157 Eine Folgerung, die bereits die Untersuchungen Kornhubers und Deeckes nahelegten, da auch sie eine relativ erhöhte Aktivität jeweils über der Hemisphäre feststellten, die der ausführenden Körperhälfte gegenüberliegt (kontralateral). Die Aktivität der Hemisphäre, die auf einer Seite mit der ausführenden Körperhälfte liegt (ipsilateral)
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Es bliebe also auch zu klären, warum die Intention bei Beginn des Experiments Ausgangspunkt für die Ausführung jeweils unterschiedlicher Bewegungen sein sollte. Denn die bei Versuchsbeginn gefasste Intention enthielt sicherlich nicht die Entscheidung, welche Hand in den vielen Versuchsreihen jeweils bewegt werden sollte.159 Dieser Entschluss dürfte frühestens mit Beginn des einzelnen Versuchs entstehen. So betrachtet erscheint die ursprüngliche Intention als ungeeignet, den subjektiven Anknüpfungspunkt für die konkreten Bewegungen zu bilden. Mit dem Experiment von Haggard und Eimer dürfte schließlich auch ein von Bridgeman erhobener Einwand unhaltbar geworden sein. Er kritisierte an der Versuchsdurchführung Libets, sie würde sich nicht mit dem „freien Willen“ der Probanden auseinandersetzen, da dieser bereits durch die Versuchsanweisungen eingeschränkt werde. So täten die Probanden nichts anderes, als lediglich Instruktionen zu befolgen. Ihre Aktionen seien daher mit einem Verhalten, wie es bei Reaktionstests gefordert wird, zu vergleichen und stellten damit keine gewillkürten Handlungen dar.160 Bei Wahlbewegungen verbleibt dem Probanden aber jedenfalls eine gewisse Handlungsfreiheit. Es ist daher anzunehmen, dass Bridgeman seinen Einwand in Anbetracht dieser neuen Erkenntnisse nicht aufrechterhalten würde. Die Interpretation, der unmittelbare „Bewegungsdrang“ sei bedeutungslos, lässt sich daneben auch schwer mit unseren alltäglichen Erfahrungen in Einklang bringen. Wir würden einem Menschen, der unschlüssig an der Straße steht und einen geeigneten Zeitpunkt zum Überqueren derselben abwartet, nicht die Kontrolle über das konkrete Ansetzen zur Überquerung absprechen, weil er die Intention, die Straße zu überqueren, bereits bei seiner Tagesplanung zu Hause gefasst hatte. Dies ließe sich auch, wenngleich weniger stark, gegen Ringo einwenden. Der an der Straße stehende Mensch, der die Intention hat, die Straße alsbald zu überqueren, würde wohl behaupten, zum konkreten Zeitpunkt des Bewegungsbeginns aufgrund eines Willensentschlusses zu handeln. _________________
betrug im Durchschnitt nur 75 Prozent der kontralateralen (Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie 284 [1965], S. 5); vgl. auch Lang/Deecke, Enzyklopädie C/I 5, S. 238. 158 Weiterführende Untersuchungen mit dem lateralisierten Bereitschaftspotential zur Fähigkeit des Menschen auf einen Reiz hin eine geeignete Reaktion zu wählen bei Lang/Deecke, Enzyklopädie C/I 5, S. 250 ff. 159 Erklärt wird dies auch nicht von van de Grind, der von einer Art „Urheberschaft“ der anfänglichen Intention, den Versuchsanordnungen nachzukommen, ausgeht und den jeweiligen bewussten Willen während der Versuche nur als einen kontrollierenden Beobachter eines durch die Intention bereits in Gang befindlichen Prozesses versteht (s. van de Grind [2002], S. 259 f.; ähnlich Miller/Travena [2002], S. 308). 160 Siehe Bridgeman, The Behavioral and Brain Sciences 8 (1985), S. 540.
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Die Annahme der zitierten Kritiker Libets, die Intention zum „Mitspielen“ bereits am Beginn des gesamten Experiments sei der relevante Anknüpfungspunkt für die Zuschreibung der maßgeblichen subjektiven Anteile an den danach vorgenommenen Einzelhandlungen, beharrt letztlich auf der Überzeugung, dass dem Aufbau des Bereitschaftspotentials eine subjektive Entscheidung vorangehen müsse. Dieser (kausale) Zusammenhang zwischen der zuvor gefassten Intention, den Vorgaben des Versuchsleiters Folge zu leisten, und dem Aufbau des Bereitschaftspotentials findet allerdings keinerlei empirische Stütze in den Ergebnissen der Versuche. Zum einen sollte der Punkt auf der Wundtschen Komplikationsuhr bei den Experimenten Libets beziehungsweise Haggards und Eimers eine Umdrehung gemacht haben, bevor die Bewegung einsetzen sollte. Das heißt, jeder Bewegung gingen wenigstens 2,56 Sekunden voran, in denen die Intention, der Versuchsanordnung Folge zu leisten, in den überwiegenden Fällen wohl auch vorhanden war. Das Bereitschaftspotential begann sich aber erst circa 550 Millisekunden vor den Bewegungen aufzubauen. Wenn man hinzunimmt, dass es einen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem lateralisierten Bereitschaftspotential und dem erlebten Willensentschluss gibt, ist nur schwer zu erklären, wie diese zeitliche Diskrepanz zwischen der Intention und dem Aufbau des Bereitschaftspotentials zustande kommt. Auch die später von Papa und seinen Kollegen durchgeführten Reaktionszeittests sprechen gegen diese Annahme. Diesen Untersuchungen zufolge bildet sich bei normalen Reaktionszeittests kein Bereitschaftspotential, obwohl die Probanden auch hier zuvor zugestimmt hatten, eine bestimmte Bewegung auf ein Signal hin auszuführen. Anders jedoch, soweit die Probanden auf das Signal hin noch 200 ms bis 1 sec. mit der Bewegung warten sollten. Hier entsteht ein Bereitschaftspotential.161 Diese Unterschiede lassen sich mit der vorangegangen Intention nicht erklären, da sie in beiden Testreihen vorhanden war. Zum anderen hatten Haggard und Eimer – abweichend von Libet – ihre Probanden aufgefordert, den Zeitpunkt anzugeben, „zu dem sie zuerst begannen, ihre Bewegung vorzubereiten“162, der damit eigentlich dem von Ringo ins Auge gefassten Zeitpunkt entsprechen dürfte. Dieser Zeitpunkt lag tatsächlich zeitlich vor dem von Libet im Schnitt ermittelten, allerdings baute sich auch das Bereitschaftspotential entsprechend früher auf.163 _________________ 161
Siehe Papa et al. (1991), S. 219 ff. Die hier als „Bereitschaftspotential“ benannte negative Aktivität ist unter einem anderen Namen bekannt (contingent negative variation [CNV]), da sie in Experimenten mit äußerem Auslöser festgestellt wurde. Sie unterscheidet sich aber ansonsten nicht vom Bereitschaftspotential (s. Trevena/Miller [2002], S. 168). 162 „[...] the time at which they ‚first began to prepare the movement‘ [...]“ (Haggard/Eimer, Exp Brain Res 126 [1999], S. 129); vgl. dazu Haggard/Libet (2001), S. 56. 163 Siehe Haggard/Eimer, Exp Brain Res 126 (1999), S. 129 ff., u. Haggard/Libet (2001), S. 51.
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Neben dieser Kritik gibt es im Zusammenhang mit der Freiheitsdiskussion auch noch die allgemeine Überlegung, ob denn die von Walter und Ringo ins Spiel gebrachten Intentionen vollkommen unabhängig von neurologischen Prozessen entstehen können164; denn nur unter dieser Voraussetzung ließe sich die aus den Libet-Experimenten resultierende Freiheitsproblematik wirklich umgehen. Ansonsten stellte sich das Problem lediglich auf einer zeitlich weiter vorgelagerten Ebene – eben dann, wenn jene Intentionen entstehen. Ginge man davon aus, dass es zur vorangegangenen Intention ein determiniertes neurobiologisches Analogon gibt, dann bliebe für den Kompatibilisten, der die These vertritt, dass Freiheit und Determinismus miteinander in Einklang gebracht werden können, zu klären, ob ein solcher Intentionsbegriff als tragfähige Basis für strafrechtliche Verantwortlichkeit in Betracht kommt.165 Zunächst soll die zweite Problematik im Zusammenhang mit dem subjektiven Erleben ins Blickfeld gerückt werden: ob der Zeitpunkt des Ereignisses, hier des subjektiv erlebten Dranges, die Bewegung auszuführen, introspektiv richtig wahrgenommen und in Übereinstimmung mit der tatsächlichen Zeit gebracht werden kann.
b) Zeitliche Einordnung des subjektiv Erlebten Die Bestimmung des Zeitpunktes, zu dem der Drang zur Bewegung verspürt wurde, ist vielseitig angreifbar, da es sich hier nicht um ein unmittelbar messbares, sondern ein rein subjektiv erfahrbares Ereignis der Introspektive handelt, das dem Wissenschaftler nur mittelbar zugänglich ist.166 Eine Schwachstelle könnte darin liegen, dass subjektiv Erlebtes unter Umständen nicht unmittelbar verbal wiedergegeben werden kann.167 Dagegen spricht jedoch, dass die Probanden sich nicht unmittelbar verbal zu ihrem Erleben äußern mussten, sondern erst nachträglich hierzu befragt wurden.168 Außerdem wurde der Versuchsaufbau von Keller und Heckhausen sowie Haggard und Eimer auch dahingehend variiert, dass die Probanden den Zeitpunkt ihres Bewegungsdranges nonverbal über Eingaben in einen Computer bestimmten.169 Problematisch ist aber der _________________ 164
Wovon Walter freilich nicht ausgeht (s. Neurophilosophie, S. 159 ff.); ebenso Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 525. 165 Dazu unten, S. 303. 166 Vgl. bspw. Breitmeyer (1985), S. 539; ders. (2002), S. 283; Davis (1987), S. 318 f. mit Replik Libets (1987), S. 320 f. 167 Vgl. diesen Hinweis Libets in früheren Versuchen (Libet [1965], S. 79; ders., [1966], S. 166). 168 Siehe Libet (1985b), S. 535. 169 Siehe Keller/Heckhausen, Electroencephalography and clinical Neurophysiology 76 (1990), S. 354, u. Haggard/Eimer, Exp Brain Res 126 (1999), S. 129.
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Zeitpunkt der Visualisierung des rotierenden Punktes auf der Komplikationsuhr. Libet fand aufgrund seiner früheren Untersuchungen Argumente für die Richtigkeit der zeitlichen Einordnung subjektiver Erlebnisse. Der Antedatierungstheorie zufolge170 sollen ja Reizungen der Thalamusregion ebenso wie Reizungen der Hautoberfläche im Gegensatz zu direkten Stimulationen der Hirnrinde in der subjektiven Wahrnehmung keinen zeitlichen Verzögerungen unterliegen. Entsprechend hatten Libets Probanden zwischen Reizungen der Hirnrinde und der Thalamusregion deutliche Zeitunterschiede in der subjektiven Wahrnehmung ausmachen können. Diese Untersuchungen sind nach Libet ein wesentlicher Anhaltspunkt dafür, dass der Mensch hinsichtlich nur introspektiv erfahrbarer Erlebnisse durchaus zu hinreichend genauer zeitlicher Bestimmung in der Lage ist, auch wenn die Angabe des Zeitpunktes erst im Nachhinein erfolgt.171 Libet bemühte sich, diese These mit Hilfe der Wundtschen Komplikationsuhr zu stützen. So forderte er die Probanden zusätzlich auf, den Zeitpunkt auf der Uhr anzugeben, den sie wahrnahmen, wenn ihnen ein sensorischer Reiz (Berührung der Hautoberfläche einer Hand) verabreicht wurde. Dieser Zeitpunkt lag erstaunlicherweise im Durchschnitt 47 Millisekunden vor der tatsächlichen Berührung172, was Libet jedoch als Fehler der Probanden bei der Wiedergabe der Zeit interpretierte.173 Ein ähnliches Ergebnis erzielte er, wenn er seine Probanden befragte, wann sie ihre Hand zu bewegen begannen. Auch dieser Zeitpunkt lag 86 Millisekunden vor dem mittels EMG aufgezeichneten Zeitpunkt. Der Antedatierungstheorie gegenüber wurden bereits Vorbehalte geäußert.174 Hier kommt nun ein zusätzliches Problem hinzu. Während die Antedatierungstheorie einem Versuchsaufbau entsprang, bei dem lediglich ein Vorher-nachher-Vergleich zwischen zwei Reizerlebnissen vollzogen wurde, musste nun ein konkreter „Zeigerstand“ auf der Wundtschen Komplikationsuhr zum Zeitpunkt des Erlebens angegeben werden. Das aber ruft die Problematik der visuellen Verarbeitungszeit hervor. Die Untersuchungen Eaglemans und Sejnowskis175 zu dieser Problematik legen nahe, dass der tatsächliche Zeigerstand nicht unmittelbar wahrgenommen wird. Berücksichtigt man diese Überlegung bei den Experimenten Libets zur _________________ 170
Dazu oben, S. 264. Siehe Libet (1985b), S. 534. 172 Siehe Libet et al. (1983b), S. 631. 173 Vgl. Libet (1985b), S. 533. 174 Vgl. oben, S. 264 f. 175 Dazu oben, S. 259 ff. 171
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Genauigkeit der Zeitangabe, dann ergeben sich folgende Gedankenschritte: Die Haut der Probanden wurde zum Zeitpunkt t = 0 gereizt. Die Annahme ist, dass ein Hautreiz (h) eine unbekannte Zeit (t?) benötigt, um wahrgenommen zu werden. Um herauszufinden, wann die Probanden den Hautreiz wahrnahmen (wh), sollten sie angeben, wo sich ein rotierender Punkt zum Zeitpunkt ihrer Wahrnehmung des Hautreizes befand (Abb. 1). Den Untersuchungen Eaglemans und Sejnowskis zufolge nehmen die Probanden nicht den tatsächlichen, sondern einen „veralteten“ Zeigerstand wahr, weil die visuelle Wahrnehmung dem tatsächlichen Geschehen immer „hinterhinkt“. Wir nehmen der Einfachheit halber, und weil dies dem wahren Wert in etwa entsprechen dürfte176, an, dass die Wahrnehmung des rotierenden Punktes 100 ms benötigt. Zum Zeitpunkt der Wahrnehmung des Hautreizes (wh) wurde der rotierende Punkt von den Probanden also dort wahrgenommen, wo er sich vor 100 ms befand (Abb. 2). Gaben die Probanden zum Zeitpunkt der Wahrnehmung des Hautreizes (wh) für den rotierenden Punkt einen Ort an, an dem er sich 47 ms vor der Reizung der Haut (h) befand, dann ergibt sich, dass die Hautreizung nach 53 ms (47+53=100) von den Probanden wahrgenommen wurde (Abb. 3).
Übertragen auf das Erleben eines Bewegungsbeginns hieße dies: Wenn der Bewegungsbeginn zum Zeitpunkt t = 0 stattfand und die Probanden zum Zeitpunkt der Wahrnehmung der Bewegung den rotierenden Punkt auf einer Position sahen, auf der er sich 86 ms vor der Bewegung befunden hatte, dann hätten sie den Bewegungsbeginn 14 ms nach der Bewegung wahrgenommen. Der Bewegungsbeginn hätte auf jeden Fall weniger Zeit als der Hautreiz benötigt, um erlebt zu werden, wenn man davon ausgeht, dass die Verarbeitungszeit der visuellen Wahrnehmung bei beiden Versuchen konstant geblieben ist.177 Möglich ist natürlich auch, dass diese Zeitspanne größer oder kleiner ist, also beispielsweise 150 oder 86 Millisekunden. Im letzteren Fall würde der wahrgenommene Bewegungsbeginn mit dem tatsächlich gemessenen Bewegungsbeginn zusammenfallen, was bei intern hervorgerufenen Ereignissen jedenfalls nicht unplausibel erscheint, auch wenn dies hier spekulativ bleiben muss. Nach der Latency-difference-Theorie178 würde sich der von den Probanden angegebene Zeitpunkt vor dem tatsächlichen Ereignis ebenfalls aus einer gewissen Verarbeitungszeit erklären, weshalb man diese Zeitangabe nach beiden _________________ 176
Vgl. oben, S. 252, bei und in Fn. 45. Vgl. auch Pockett (2002a), S. 158 f. 178 Vgl. oben, S. 258. 177
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Theorien nicht, wie Libet, als Fehler interpretieren müsste. Mit der Extrapolationstheorie179 würden die Probanden hingegen annähernd den „richtigen“ Zeigerstand wahrnehmen, auch wenn es sich bei der Wahrnehmung lediglich um eine vom Gehirn vorgenommene fiktive Vorausberechnung handelt. Nach diesen Vorüberlegungen stellt sich nun die eigentliche Frage, was dies für die Wiedergabe des Zeitpunktes des subjektiv wahrgenommenen „Willensentschlusses“ bedeutet. Breitmeyer und Klein halten eine Verarbeitungszeit auch bei inneren Vorgängen wie dem Erleben eines Willensentschlusses für möglich.180 Bittner kommt über die Annahme einer solchen Verarbeitungszeit zu dem Ergebnis, dass es das Bereitschaftspotential ist, was den bewussten Willensentschluss repräsentiert und das Erleben des Willensentschlusses eine Art „Herausfinden“ ist, dass man eine Entscheidung getätigt hat.181 Was hier gemessen werden könnte, wären allenfalls die Gehirnvorgänge, die das erst später reflexiv bewusste Erleben eines Willensentschlusses quasi „einleiten“. Kann dann aber das Einsetzen dieser Gehirnvorgänge als Zeitpunkt des „tatsächlichen“ Willensentschlusses gedeutet werden? Sicher nicht, denn das Erleben eines Willensentschlusses ist eine subjektive Erfahrung, die zwar mit bestimmten Gehirnvorgängen einhergeht, die sich aber nicht auf einen Gehirnvorgang reduzieren lässt.182 Eine Vorverlagerung des Zeitpunktes des (reflexiv) bewussten Willensentschlusses auf diesen gegebenenfalls einleitende Gehirnvorgänge ergibt daher im Hinblick auf die hier interessierende Frage der willentlichen (im Sinne von reflexiv bewussten) Verhaltenssteuerung nur dann einen Sinn, wenn man mit dem „Orwellschen“ Modell von Dennett und Kinsbourne annehmen könnte, dass der Aufbau des Bereitschaftspotentials durch ein Bewusstsein bedingt ist, das in der Erinnerung nicht festgehalten wird und deshalb für den Handelnden _________________ 179
Dazu oben, S. 258. „No such scales or techniques were available to measure the magnitude of internally generated stimuli like intentions“ (Breitmeyer [2002], S. 283). Diese These korreliert mit der Differenzierung Armstrongs (s. Armstrong, Theory, 6/VI; ders., Nature, S. 197 ff.) zwischen Bewusstsein und Bewusstsein vom Bewusstsein und führt zu der spekulativen Annahme, dass, ähnlich der Zeitspanne zwischen der mentalen Repräsentation eines äußeren Reizes und dessen Wahrnehmung, eine ungewisse Zeitspanne zwischen dem Willensentschluss und dem Bewusstsein vom Willensentschluss eingeräumt werden müsse (so auch Gomes [1999], S. 68; ders., [2002a], S. 226). Dagegen wird eine solche Differenzierung von Rosenthal abgelehnt, weil es zum Bewusstsein von etwas gehöre, dass es im Sinne Armstrongs selbstbewusst ist (s. Rosenthal, Concepts, S. 329 ff., 347). In diesem Sinne dürfte auch Klein (2002b), S. 275 f., zu verstehen sein. 181 Siehe Bittner (1996), S. 337. 182 Als „Reduktionismus“ wird daher auch die Ansicht bezeichnet, subjektives Erleben lasse sich mit neuronalen Vorgängen in einer bestimmten Weise gleichsetzen. Kritisch Roth, DZPhil 53 (2005), S. 693 ff. Vgl. auch die Ausführungen unten, S. 300 f. 180
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subjektiv nicht existiert.183 Dies ist freilich eine rein spekulative Annahme. Falls aber doch zu diesem Zeitpunkt der bewusste Willensentschluss stattgefunden haben sollte, wäre zu klären, warum die Probanden einen Zeitpunkt nannten, der 300 Millisekunden nach diesem Willensentschluss lag. Eine befriedigende, insbesondere überprüfbare Antwort wird es hierauf schwerlich geben. Dennoch soll die Möglichkeit eines sofort in Vergessenheit geratenen Bewusstseins nicht verworfen werden. Will man aber wissen, was die Probanden als ihr eigenes subjektives Erleben bezeichnen, dann wird man zwangsläufig auf ihren Äußerungen aufbauen müssen, was, wie Libet selbst hervorgehoben hat, natürlich eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich des Ergebnisses bestehen lässt. Eine absolute Sicherheit sei andererseits selbst mit rein physikalischen Untersuchungen nicht zu erzielen.184 Der Zeitpunkt, der dann interessiert, ist somit der der Wahrnehmung des Zeigerstandes der Komplikationsuhr, als die Probanden den Willensentschlusses nach ihren eigenen Angaben erlebten. Mit der Extrapolationstheorie ergäben sich hier keinerlei Probleme, denn der wahrgenommene Zeigerstand entspräche, wie dies auch Libet aufgrund seiner Antedatierungstheorie annimmt185, dem tatsächlichen. Nimmt man dagegen an, dass der Zeigerstand eine gewisse Verarbeitungszeit benötigt, um bewusst zu werden, der Proband also ein „veraltetes“ Bild wahrnimmt, dann hieße dies, dass der Zeitpunkt, zu dem der Willensentschluss erlebt wurde, tatsächlich später lag, als Libet annimmt; also noch näher an der Bewegungsausführung und entsprechend weiter vom Einsetzen des Bereitschaftspotentials entfernt. An der Gesamtinterpretation des Ergebnisses würde dies ersichtlich nichts ändern, da das Bereitschaftspotential noch immer vor dem subjektiven Bewegungsentschluss einsetzte.186 Joordens und seine Kollegen führten dagegen ein Experiment aus, das nahelegen sollte, die Probanden in Libets Experiment hätten einen späteren als den tatsächlichen Zeitpunkt ihres Willensentschlusses angegeben. Die Probanden sahen auf einem blauen „Zeigerblatt“, ähnlich der Wundtschen Komplikationsuhr, einen weißen Punkt rotieren. Das Zeigerblatt wechselte seine Farbe zu irgendeinem Zeitpunkt von blau nach gelb bei fortlaufender Rotation des Punktes. Die Probanden sollten anschließend anhand der Position des rotierenden _________________ 183
Dazu Dennett/Kinsbourne (1992), S. 197. Siehe Libet (1992), S. 256; vgl. auch Libet (1965), S. 79 und Libet (1985b), S. 559. Zu den Problemen experimenteller Integration der Introspektive auch Roth et al., Die funktionale Rolle des bewußt Erlebten, S. 6 ff. 185 Siehe Libet (1985b), S. 559. 186 So auch Klein (2002b), S. 276; Pockett (2002a), S. 158. Anders van de Grind, demzufolge die Position des rotierenden Punktes in der Wahrnehmung der Probanden im Vergleich zu seiner tatsächlichen Position in die Zukunft verschoben sein soll (s. van de Grind [2002], S. 258). 184
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Punktes den Zeitpunkt bestimmen, zu dem der Farbwechsel erfolgte. Die Probanden nahmen, ihrer Angabe über die Position des Punktes zufolge, den Farbwechsel 65 bis 70 Millisekunden später wahr, als er tatsächlich eingetreten war.187 Joordens und seine Kollegen nehmen an, dass der rotierende Punkt auf der Komplikationsuhr in der Erinnerung der Probanden „nach vorne“ verschoben (extrapoliert) wird. Übertragen auf das Libet-Experiment hieße dies ihrer Ansicht nach, dass der Willensentschluss der Probanden tatsächlich vor der Zeit, die sie angaben, und gegebenenfalls auch vor Beginn des Aufbaus des Bereitschaftspotentials erfolgte.188 Nach dem bisher Gesagten gibt es für die von Joordens und seinen Kollegen festgestellte Verzögerung eine naheliegende Erklärung: Der rotierende Punkt stellt ein sich konstant bewegendes Objekt dar. Der plötzlich auftretende Farbwechsel von blau nach gelb könnte dagegen den Effekt des „Blitzes“ aus den Flash-lag-Versuchen auslösen. Das heißt, dass nach der Theorie von Eagleman und Sejnowski189 mit dem Farbwechsel die kontinuierliche Verarbeitung des rotierenden Punktes unterbrochen und seine Position neu bestimmt wurde. Durch diese Unterbrechung kommt es, wie in den Flash-lag-Versuchen, zum Fröhlich-Effekt; der rotierende Punkt taucht also erst nach einer gewissen Zeitspanne wieder auf, wird aber an dieser späteren Stelle als gleichzeitig mit dem Farbwechsel wahrgenommen. Die Differenz zwischen dem tatsächlichen Zeitpunkt des Farbwechsels und dem anhand der wahrgenommenen Position des Punktes ermittelten Zeitpunkt betrug bei Joordens und seinen Kollegen mindestens circa 66,8 Millisekunden190 (Eagleman und Sejnowski gingen von einer Verarbeitungszeit von mindestens circa 67 Millisekunden aus191). Dass ein solcher „Flash lag“ – und es ist sehr wahrscheinlich, dass es genau dieses Phänomen ist, was Joordens und seine Kollegen hier festgestellt haben – bei den Libet-Experimenten hervorgerufen wurde, erwägt auch Klein. Seiner Meinung nach könnte der subjektiv erlebte Willensentschluss auf die Wahrnehmung des rotierenden Punktes den gleichen Einfluss haben wie ein Lichtblitz.192 Der genaue Zeitpunkt des subjektiv erlebten Willensentschlusses ist deshalb von so großem Interesse, weil jedenfalls sein Verrücken hin zum Bereitschaftspotential die Möglichkeit eröffnen würde, die Abfolge „Aufbau des Bereitschaftspotentials – Willensentschluss“ anzuzweifeln. Wenn man davon ausgeht, dass der _________________ 187
Siehe Joordens et al. (2002), S. 235 ff. Siehe Joordens et al. (2002), S. 238. 189 Dazu oben, S. 259 ff. 190 Vgl. Joordens et al., ebd. 191 Vgl. oben, S. 261. 192 Siehe Klein (2002b), S. 275 f. Das Bewusstwerden eines inneren Zustands in Analogie zur Wirkung eines „Lichtblitzes“ auf die Wahrnehmung zu deuten, ist methodisch durchaus nicht zweifelsfrei, doch mag das hier auf sich beruhen. 188
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rotierende Punkt tatsächlich erst nach circa 70 Millisekunden, aber dennoch zeitgleich mit dem Willensentschluss wahrgenommen wird, dann wird aber schnell deutlich, dass diese Zeit nicht annähernd an die 350 Millisekunden heranreicht, die nach Libet zwischen dem Aufbau des Bereitschaftspotentials und der Zeitangabe in Bezug auf den Willensentschluss liegt. Diese Überlegung verlagert den Zeitpunkt des erlebten Willensentschlusses damit zwar nach vorne, aber nicht vor den Beginn des Bereitschaftspotentials.
c) Messung des Bereitschaftspotentials Aus diesem Grunde haben Trevena und Miller sich vorrangig auf den Zeitpunkt des Aufbaus des Bereitschaftspotentials konzentriert. Sie haben zunächst das lateralisierte Bereitschaftspotential zum Gegenstand ihrer Untersuchungen gemacht und hier mit etwas anderen Berechnungen, als Haggard und Eimer sie vorgenommen hatten, ein mittleres Einsetzen desselben nur 300 Millisekunden vor der Bewegung errechnet. In einem weiteren Schritt stellten sie fest, dass 20 Prozent der „Willensentschlüsse“ vor diesem Zeitpunkt lagen. Im Durchschnitt wurden die Willensentschlüsse dagegen 122 Millisekunden vor der Bewegung und damit nach Einsetzen des lateralisierten Bereitschaftspotentials erlebt. In Bezug auf das symmetrische Bereitschaftspotential konnten Trevena und Miller keinerlei erlebte Willensentschlüsse vor dem Einsetzen desselben registrieren. In einem dritten Schritt legten sie die Annahme zugrunde, dass sich die Probanden aufgrund der Instruktionen des Versuchsleiters bereits vor ihrer Bewegung entschlossen haben mussten, eine Bewegung auszuführen. Da die Forscher in 40 Prozent der Versuche Zeitangaben erhielten, wonach der Willensentschluss erst später auftrat als der Bewegungsbeginn, zogen sie den Schluss, dass diese Angaben jedenfalls falsch sein mussten. Aus den 20 Prozent der Willensentschlüsse, die vor dem Einsetzen des mittleren lateralisierten Bereitschaftspotentials registriert wurden, folgerten sie schließlich, dass es damit möglich wäre, dass sich das lateralisierte Bereitschaftspotential immer erst als Folge des subjektiv erlebten Willensentschlusses aufbaut.193 Libet hatte zwar selbst auf die Fehleranfälligkeit subjektiver Angaben über das innere Erleben hingewiesen, es ist ihm jedoch nicht begreiflich, wieso Trevena und Miller die immerhin 80 Prozent der Willensentschlüsse, die nach dem Aufbau des lateralisierten Bereitschaftspotentials erlebt wurden, ignorieren und ihre Folgerungen auf die restlichen 20 Prozent stützen.194 Und natürlich muss man sich fragen, warum, wenn Trevena und Miller in immerhin 40 Prozent ihrer Versuche von fehlerhaften Angaben ihrer Probanden ausgehen, von ihnen _________________ 193 194
Trevena/Miller (2002), S. 177 ff. Siehe Libet (2002), S. 293.
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nicht eher die 20 Prozent der Willensentschlüsse vor dem Einsetzen des lateralisierten Bereitschaftspotentials als Irrtümer ausgelegt wurden. Außerdem ist in Betracht zu ziehen, dass die visuelle Verarbeitungszeit bei der Zeitangabe des Willensentschlusses auch die von Trevena und Miller ausgemachten 20 Prozent Willensentschlüsse vor dem Aufbau des lateralisierten Bereitschaftspotentials angreifen könnte.195 Abgesehen davon, präsentieren Trevena und Miller ihre Ergebnisse zwar so, als hätten sie für diese konkreten 20 Prozent der Willensentschlüsse festgestellt, dass diesen der Aufbau des lateralisierten Bereitschaftspotentials nachfolgte; aus ihren Berechnungen ergibt sich dies aber nicht.196 Danach ist keineswegs ausgeschlossen, dass in diesen 20 Prozent das lateralisierte Bereitschaftspotential früher als 300 Millisekunden und damit auch vor diesen konkreten Willensentschlüssen einsetzte. Dies stünde jedenfalls im Einklang mit den Untersuchungen Libets und Haggards und Eimers, bei denen ein früher Willensentschluss, also einer, der relativ weit vor dem Bewegungsbeginn lag, mit einem frühen Aufbau des Bereitschaftspotentials und ein später Willensentschluss entsprechend mit einem späten Aufbau des Bereitschaftspotentials einherging. Die Experimente Trevenas und Millers können damit die auch von anderen Wissenschaftlern bestätigten Ergebnisse Libets nicht erschüttern. Ihre Untersuchungen werden sogar als Bestätigung des Libet-Experiments angesehen.197 Es bleibt anzumerken, dass Trevena und Miller trotz ihrer Kritik keineswegs die These anzweifeln, dass jeder bewussten Entscheidung kausale unbewusste Gehirnaktivitäten vorangehen.198
3. Ontologisch-dualistische Interpretationen Nach Libets Interpretation besagen seine Ergebnisse, dass eine Willkürhandlung neuronal vorbereitet wird, bevor ein hierauf bezogener subjektiver Entschluss erlebt wird. Das Initiieren der Willkürhandlung geschehe damit unbewusst.199 Wird eine willkürliche Handlung jedoch bereits vor dem subjektiven Entschluss hierzu vorbereitet, dann kann es nicht dieser Wille des Menschen sein, der die Entscheidung über die Handlungsinitiation trifft. Der Unterschied zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen würde sich, neben _________________ 195 196
So auch Klein (2002b), S. 274. Gemeint sind die Auswertungen von Figure 4 in Trevena/Miller (2002), S. 176–
178. 197 198
So Joordens et al. (2002), S. 232. Miller/Trevena (2002), S. 312; so auch Pockett (2002b), S. 323; Gomes (1999),
S. 59. 199
Siehe Libet (1985b), S. 536; Libet (1992), S. 263; Libet (1999), S. 51; vgl. auch Roth et al., Die funktionale Rolle des bewußt Erlebten, S. 15.
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den Differenzen in der Amplitude des Bereitschaftspotentials, darauf reduzieren, dass willkürlichen Bewegungen ein Bewusstsein in Bezug auf die Bewegung vorausgeht, unter Umständen begleitet von einem Entscheidungserlebnis, unwillkürlichen Bewegungen dieses Bewusstsein hingegen entweder nachfolgt oder überhaupt nicht eintritt. Ein minimaler Unterschied, so scheint es, der unsere Intuition, willentliche Kontrolle über unsere Bewegungen auszuüben, schwerlich zu stützen vermag. Sowohl Libet selbst als auch Eccles haben deshalb jeder für sich unterschiedliche Erklärungsansätze entwickelt, um der geistigen Freiheit in diesem Modell einen Platz einzuräumen.
a) Eccles und der selbstbewußte Geist Eccles interpretiert zunächst die Experimente Kornhubers und Deeckes so, „daß das Wollen einer Aktion zu einem ausgedehnten negativen Potential über den Scheitel des Gehirns führt, das sich während fast einer Sekunde aufbaut und sich schließlich auf die Pyramidenzellen konzentriert, die für die Aktion zuständig sind“.200 Woraus er folgert: „Das Bereitschaftspotential kann als die neuronale Konsequenz des Willenskommandos betrachtet werden.“201 Es blieb damit zu erklären, wie der Wille neuronale Ereignisse initiiert.202 Eccles war die Komplexität des neuronalen Zusammenspiels, die erforderlich ist, um eine feinmotorische Bewegung auszulösen, bekannt. Allein 200.000 Motoneuronen im Rückenmark seien für die Kontraktionen der Muskeln mit Ausnahme des Kopfes zuständig.203 Er äußerte deshalb: „Es ist bemerkenswert, daß wir lernen können, einzelne Motoneurone in Arm oder Beinmuskeln zu aktivieren und einmal das eine und einmal das andere willkürlich zu betätigen.“204 Die Anzahl der im Gehirn insgesamt vorhandenen Neuronen wird heute auf hundert Milliarden bis eine Billion geschätzt.205 Mit entsprechend großer Verwunderung ließe sich fragen, wie es der Mensch anfängt, physiologisch derart komplexe Aufgaben wie Bewegungsausführungen oder Nachdenken in allen neuronalen Einzelheiten willentlich zu initiieren und zu kontrollieren. Eccles selbst sieht sich zu einer wissenschaftlichen Erklärung zunächst nicht in der Lage.206 Er greift daher zu einem Konstrukt, dem „selbstbewussten _________________ 200
Siehe Eccles in Popper/Eccles, S. 337. Eccles in Popper/Eccles, S. 347; ders., Selbst, S. 237. 202 Siehe Eccles in Popper/Eccles, S. 337. 203 Siehe Eccles in Popper/Eccles, S. 341. 204 Eccles, ebd. 205 Siehe Roth, Grundlagen, S. 167. 206 Eccles in Popper/Eccles, S. 345. 201
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Geist“. Dieser repräsentiert die subjektive Welt des Menschen mit dessen persönlichem Wissen, seinen Erfahrungen und Wahrnehmungen von sich und der Außenwelt. Darüber hinaus steht er über das Gehirn in Wechselwirkung mit der objektiven „äußeren“ Welt und stellt auf diese Weise die Verbindung zwischen Geist und Materie her. Diesem selbstbewussten Geist ist es nach Eccles möglich, über Module der Großhirnrinde das Bereitschaftspotential hervorzurufen.207 Dies bestätige sich empirisch durch die Experimente Kornhubers, auch wenn sie über die Entstehung des selbstbewussten Geistes keinen Aufschluss geben könnten.208 Der mentale Vorsatz werde durch eine momentane Zunahme der Wahrscheinlichkeit einer Exozytose in ausgewählten Bereichen der motorischen Neuronen neural wirksam. 209 Ferner sei es dem selbstbewussten Geist möglich, kontrollierend und interpretierend auf neuronale Ereignisse im Hirn einzuwirken.210 Es existierten indes keine Experimente, die den Einfluss mentaler Ereignisse auf eine Erhöhung der Wahrscheinlichkeit einer Exozytose bestätigen könnten.211 Eccles sieht dieses Konstrukt durch die Experimente Libets nicht gefährdet. Denn durch die Messung des Bereitschaftspotentials bestätige sich dessen Wirkung. Da die Probanden ihren Willensentschluss erst nach dem Aufbau des Bereitschaftspotentials erlebten, wirke ihr Wille zuvor unbewusst.212
b) Kritik Wenn sich zuvor die Frage stellte, wie der Mensch Kontrolle über die neuronalen Vorgänge in seinem Gehirn ausüben kann213, so stellt sich nun mit dieser Theorie die weitere Frage der Beeinflussung des selbstbewussten Geistes, der wegen seiner Komplexität und der offenbar unbeeinflussten Initialfunktion seines Tätigwerdens ebensowenig bewusster menschlicher Kontrolle unterliegen könnte wie das Gehirn. Es entsteht damit entweder ein Problem des infiniten Regresses oder es müsste erklärt werden, woher dieser Geist kommt. In jedem Fall bleibt ungeklärt, wie ein solcher Geist gewissermaßen ex nihilo _________________ 207
Konkret über die supplementären motorischen Areale (SMA) (s. Eccles, Arch Psychiatr Nervenkr 231 [1982], S. 437 ff.). 208 Siehe Eccles in Popper/Eccles, S. 338. 209 Siehe Eccles, Selbst, S. 234. Zur Erläuterung des Begriffs „Exozytose“ vgl. oben, S. 242. 210 Siehe Eccles in Popper/Eccles, S. 436. 211 Siehe Eccles, Selbst, S. 216. 212 Siehe Eccles, The Behavioral and Brain Sciences 8 (1985), S. 542. 213 Fraglich ist zudem, ob man überhaupt von „Kontrolle“ sprechen kann, wenn selbst für die Gehirnforschung bis dato die neuronalen Zusammenhänge zwischen einzelnen Hirnarealen bei einer Willkürhandlung nicht umfassend geklärt sind.
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Materie beeinflussen könnte. „Wechselwirkungen mit Materiellem erfordern den Austausch von Energie. Wenn also das Immaterielle Energie aufbringen muß, um neuronale Vorgänge zu beeinflussen, dann muß es über Energie verfügen. Besitzt es aber Energie, dann kann es nicht immateriell sein und muss den Naturgesetzen unterworfen sein.“214 Schließlich sind diese Annahmen auch nicht geeignet, subjektive Intuition mit der Gehirnforschung in Einklang zu bringen, denn es wird keine bewusste, sondern lediglich eine unbewusste geistige Kontrollinstanz eingerichtet, die der menschlichen Erfahrung nicht zugänglich ist. Daneben ist sie auch experimentell nicht nachweisbar und ist damit wohl nicht mehr als metaphysische Spekulation.215
c) Die Vetotheorie Für Libet stellte sich die Frage, warum der Mensch überhaupt ein Bewusstsein dieser Art entwickelt, wenn es nach dem Gesagten eine scheinbar unnütze Begleiterscheinung216 darstellt. Er folgert, dass das vor der Handlung einsetzende Bewusstsein dem Menschen eine „Vetomöglichkeit“ eröffne, die eingeleitete Handlung noch abzubrechen.217 Da das Bewusstsein im Schnitt bereits 200 Millisekunden und das sogenannte Final-motorische-Potential erst circa 50 Millisekunden vor der Bewegung einsetze, bleibe Libet zufolge für ein Veto des Bewusstseins eine hinreichend große Zeitspanne.218 Der Mensch würde danach seine Handlungen zwar nicht initiieren, wäre aber in der Lage, sie abzubrechen und damit auf diese Weise zu kontrollieren.219
d) Experimentelle Überprüfbarkeit Libet fühlte sich durch eine von ihm selbst als unzureichend empfundene Versuchsanordnung bestätigt. Er forderte fünf Probanden in zehn Sitzungen zu je 40 Versuchen auf, sich zwar auf die willkürliche Bewegung eines Fingers _________________ 214
Singer, Grenzen, S. 285. In diesem Sinne scharf kritisch auch Carrier/Mittelstraß, Geist, Gehirn, Verhalten, S. 131 f. m. w. N.; vgl. auch Birnbacher, EuS 6 (1995), S. 84. 216 Diese Theorie ist auch bekannt als sog. „Epiphänomenalismus“ (vgl. dazu unten, S. 324 f). Ablehnend Roth/Schwegler, EuS 6 (1995), S. 76. 217 Siehe Libet (1985b), S. 538. 218 Siehe Libet (1985b), S. 536 f.; ders. (2005), S. 177 ff. 219 Ähnlich sieht auch Eccles die Funktionsweise seines „selbstbewussten Geistes“. Dieser übe keine direkte Aktion auf die motorischen Pyramidenzellen aus (s. Popper/Eccles, S. 439), sondern wirke interpretierend und kontrollierend auf die neuronalen Ereignisse (s. in Popper/Eccles, S. 436; ders., The Behavioral and Brain Sciences 8 [1985], S. 543). 215
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einzustellen, diese Intention jedoch zu einem bestimmten Zeitpunkt abzubrechen. Es stellte sich dabei heraus, dass genau wie vor einer tatsächlichen Bewegung eines Fingers ein Bereitschaftspotential zunächst aufgebaut wurde.220 Libet sieht sich darüber hinaus darin bestätigt, einen Abbruch des Bereitschaftspotentials zu der von ihm vorgegebenen Zeit ausmachen zu können.221 Er gibt dabei jedoch zu bedenken, dass die Versuchsanordnung verändert werden müsste, um tatsächlich einen Rückschluss auf ein „freies Veto“ zuzulassen. So müsste zunächst ein Bereitschaftspotential erzeugt werden, das auf „natürlichem“ Wege, das heißt zu einer tatsächlich intendierten Handlungsvorbereitung entsteht. Dieses müsste daraufhin durch einen plötzlichen internen Entschluss abgebrochen werden. Jede Einwirkung von außen würde hingegen interferieren mit der Idee einer vollkommen freien Entschlussfassung und wäre auch technisch derzeit wegen zu großen Hintergrundrauschens bei der EEG-Messung nicht durchführbar.222 Ähnlich wie Eccles schwebt Libet der experimentelle Beweis eines möglichen „bewussten mentalen Feldes“ vor, welches es dem Bewusstsein erlaubt, ohne neuronale Mittler direkt auf das neuronale Netz des Gehirns einzuwirken. Zu seinem eigenen Bedauern steht ein solches Experiment jedoch noch aus223, womit aber seine Theorie der Vetomöglichkeit auch nicht widerlegt sei.224 Libet interpretiert seine Ergebnisse deshalb so, dass sie der Idee eines freien Willen nicht entgegenstünden, sondern lediglich eine neue Sicht auf die Funktionsweise des freien Willens lieferten. Allerdings könne man nach dieser Sicht die Menschen nicht mehr für ihre Gedanken moralisch oder ethisch verurteilen. Auf diese hätten sie keinen Einfluss, da der „Wille“, nämlich der Drang zur Bewegung, nicht unterdrückt werden könne.225 Nur die gegebenenfalls nachfolgende Bewegungsblockade oder eben deren Unterbleiben könne Gegenstand einer normativen Beurteilung sein.
e) Empirische Einwände Der Vetotheorie Libets widersprechen zunächst Erkenntnisse aus neueren Untersuchungen. Die Neurowissenschaftler Praamstra und Kollegen fanden heraus, dass die Amplitude des Bereitschaftspotentials bei Vorgabe einer be_________________ 220
Zum Vergleich hirnphysiologischer Vorgänge bei vorgestellten und ausgeführten Bewegungen siehe Lang/Deecke, Enzyklopädie C/I 5, S. 260 ff. 221 Vgl. Libet et al. (1983a), S. 369; Libet (1985b), S. 537. 222 Siehe Libet (1985b), S. 538. 223 Vgl. Libet (1999), S. 56; ders. (2005), S. 212 ff. Ein Problem, das er mit Eccles teilt. 224 Siehe Libet (1992), S. 270. 225 Siehe Libet (1985b), S. 538 f.
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stimmten Bewegung immer niedriger ausfiel als bei Wahl- beziehungsweise Willkürbewegungen. Einzusetzen begannen die jeweiligen Bereitschaftspotentiale jedoch gleichzeitig, wobei die elektrische Aktivität an verschiedenen Stellen des Kopfes gemessen wurde.226 Diese Untersuchungen wurden auch von anderen Wissenschaftlern bestätigt.227 Touge und seine Kollegen interessierten sich insbesondere für die Unterschiede der kortikalen Potentiale228 (die nun gemeinhin in Verbindung mit der Bewegung gebracht wurden) bei Parkinsonpatienten und einer „normalen“ Vergleichsgruppe. Dabei heben sich Parkinsonpatienten, die an einer Unterproduktion des Neuromodulators Dopamin in Neuronen der Substantia nigra229 leiden, dadurch hervor, dass sie aus eigener Initiative kaum spontane Handlungen ausführen können (Akinesie). Hierzu bedarf es regelmäßig eines externen Motivators wie zum Beispiel eines rhythmischen Händeklatschens. Zum Vergleich ließen Touge und seine Kollegen beide Gruppen zunächst eine bestimmte Bewegung an einem Joystick wiederholt ausführen. Anschließend stellen sie ihnen frei, in welche von vier möglichen Richtungen sie den Joystick bewegen wollten. Wie bei der Untersuchung Praamstras fiel bei der Vergleichsgruppe die höhere Amplitude bei den Wahlbewegungen im Gegensatz zu den wiederholten Bewegungen auf. Dagegen trat dieser Unterschied bei den Parkinsonpatienten nicht auf. Bei ihnen blieb die Amplitude durchgängig auf dem Niveau der wiederholten Bewegungen, obwohl sie den Versuch der Anweisung entsprechend durchgeführt hatten.230 Diesen Unterschied brachte Touge mit der Unfähigkeit dieser Patientengruppe zu endogen motivierten Handlungen in Zusammenhang.231 Daneben untersuchte er auch die Amplituden der Vergleichsgruppe genauer. Während Keller und Heckhausen angenommen hatten, dass sich der Unterschied der Amplituden dadurch erklären lasse, dass bei frei gewählten Bewegungen neuronale Aktivitäten aus dem motorischen Supplementärfeld (SMA), die ungefähr 250 Millisekunden vor der Bewegung beginnen, zu den gemessen Aktivitäten hinzukämen und so die größere Amplitude auslösten232, fand Touge heraus, dass sich zwar die Amplituden unterscheiden, dies aber über den gesamten Zeitraum hinweg gleichmäßig.233 Es gibt also keinen sprunghaften Anstieg der Amplitude kurz _________________ 226
Siehe Praamstra et al., Exp Brain Res 103 (1995), S. 429 ff. Vgl. Touge et al., Ann Neurol 37 (1995), S. 791 ff.; Dirnberger et al., Exp Brain Res 120 (1998), S. 263 ff. Dazu auch Lang/Deecke, Enzyklopädie C/I 5, S. 235 ff. 228 Vgl. dazu oben, S. 242. 229 Die Substantia nigra gehört zu den Basalganglien (zur Funktion der Basalganglien bei Willkürhandlungen unten, S. 299). 230 Siehe die Abbildung in Touge et al., Ann. Neurol. 37 (1995), S. 795. 231 Siehe Touge et al., Ann. Neurol. 37 (1995), S. 798 f. 232 Siehe Keller/Heckhausen, Electroencephalography and clinical Neurophysiology 76 (1990), S. 358 ff. 233 Siehe Touge et al., Ann. Neurol. 37 (1995), S. 793 ff. 227
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vor der Bewegung. Die Unterschiede in den Potentialen lassen sich schon mit deren Aufbau messen. Wenn aber bereits mit dem Einsetzen des Bereitschaftspotentials bestimmte Modalitäten der Bewegungsausführung neuronal „berücksichtigt“ sind234, dann ist es nicht das erst später einsetzende Bewusstsein, das hierüber entscheidet. Es könnte im Gegenteil auch der Bewusstseinsinhalt bereits mit dem Aufbau des Bereitschaftspotentials beeinflusst sein. Denn geht man davon aus, dass sich die Amplituden der Potentiale bei unwillkürlichen und willkürlichen Bewegungen bereits vor dem Zeitpunkt des Einsetzens des „Bewegungsdrangs“ bei den willkürlichen Bewegungen unterscheiden, dann kann auch das Einsetzen bzw. Ausbleiben des „Bewegungsdrangs“ bereits feststehen, bevor er selbst verspürt wird. In diese Richtung weisen auch die Versuche von Haggard und Eimer. Der zeitliche Zusammenhang zwischen dem Einsetzen des lateralisierten Bereitschaftspotentials und dem „Entschlusszeitpunkt“ legt nämlich nahe, dass auch das Bewusstsein selbst von dieser „Vorauswahl“ beeinflusst sein könnte. Haggard und Eimer nehmen daher an, dass sich der „Entschluss“ ihrer Probanden bereits auf die spezifisch vorbereitete Bewegung beziehen müsse, der seinerseits abhängig von dem lateralisierten Bereitschaftspotential sei.235 In diesem Fall könnte von einem „Veto“, wie es Libet annimmt, nicht mehr gesprochen werden, denn dann hätte der „Wille“ selbst schon keine Wahl mehr und sein Entstehen hinge seinerseits von neuronalen Bedingungen ab.
f) Grundsätzliche Kritik Aber auch wenn man von den späteren Untersuchungen zum lateralisierten Bereitschaftspotential absieht, stellt sich allgemein die Frage, wie ein Veto gegen eine bereits spezifisch eingeleitete Bewegung aussehen sollte. Aus den Untersuchungen Libets ergibt sich, dass eine Bewegung ursächlich auf unbewusste Prozesse im Gehirn zurückzuführen ist. Ein Veto müsste in der Lage sein, diesen Kausalzusammenhang zu durchbrechen und damit eine erneute Ursache für das Unterlassen der Bewegung bilden. Gerhard Roth und seine Kollegen schließen eine kausale Funktion der neuronalen Korrelate (!) der subjektiv erlebten Entschlussfassung für die Handlungsausführung nicht aus. Alternativ sei denkbar, dass die Handlungsausführung hiervon unabhängig zustande kommt und das subjektive Erleben des Handlungsentschlusses nur eine Nebenfolge darstellt, deren neuronales Korrelat lediglich dafür sorgt, dass _________________ 234
So ist wohl auch Roth zu verstehen (vgl. Fühlen, Denken, Handeln, S. 523). Siehe Haggard/Eimer, Exp Brain Res 126 (1999), S. 131 f.; vgl. dazu auch Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 521 ff. 235
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die Information über die bereits gefallene Entscheidung dem System zur Verfügung gestellt wird, um so die Ausführung zu kontrollieren. In beiden Fällen wäre jedoch nicht das subjektive Erleben, sondern sein neuronales Korrelat von Bedeutung. Während die zweite Alternative den neuronalen Korrelaten nur eine Begleitfunktion einräumt, sind sie der ersten Alternative zufolge wenigstens mitverursachend, wenn auch nicht die Initiatoren der jeweiligen Handlung, denn auch in diesem Fall stünden sie selbst unter dem Einfluss subkortikaler Zentren und folgten der Handlungsinitiierung zeitlich nach.236 Die Ergebnisse von Keller und Heckhausen237 legen dabei die zweite Alternative nahe. Ihnen zufolge könnten eigentlich unbewusste Bewegungen durch konzentrierte Aufmerksamkeit bewusst werden.238 Folgte man dieser Interpretation, so ergäbe sich die notwendige Schlussfolgerung, dass den neuronalen Korrelaten des Bewusstseins keinerlei kausale Funktion für die Bewegungen zukäme, da diese auch ohne Bewusstsein in gleicher Weiser ausgeführt worden wären. Die neuronalen Korrelate des Bewusstseins wären für die Bewegung also nicht erforderlich. Nach beiden Alternativen ist es also nicht der subjektive Wille, der handlungsinitiierend wirkt. Da subjektive Gedanken und Entscheidungen auch nach Libet an neuronale Vorgänge gebunden und daher genauso wie diese determiniert sind, käme als freies „Veto“ nur ein transzendentaler Wille in Betracht, der dann aber nicht mit dem subjektiven Entschluss, eine Handlung zu unterdrücken, gleichgesetzt werden könnte. Er wäre mit einer experimentellen Untersuchungsmethode vielmehr überhaupt nicht ermittelbar. Roth wendet deshalb ein, das Vetorecht könne schon in logischer Konsequenz keinen spontanen, unabhängigen Willensentschluss des Menschen darstellen, da man hierfür genauso vorhergehende Gehirnprozesse fordern müsste. „Ein derartiges Blockieren kann ja nicht aus heiterem Himmel kommen.“239 Heute wisse man zudem, so Roth, dass auch dem Bereitschaftspotential seinerseits unbewusste Erregungen in den Basalganglien vorausgehen240, die den Prozess der Selektion zwischen verschiedenen Verhaltensalternativen repräsentieren und wiederum unter dem Einfluss des limbischen Systems stehen. Denn jeder Willkürakt erfordere gleichzeitig die Unterdrückung einer großen Anzahl alternativer Verhaltensweisen. Diese Funktion der Basalganglien für die Auslösung von Willkürbewegungen habe sich bei der Untersuchung der Parkinson_________________ 236
Vgl. Roth et al., Die funktionale Rolle des bewußt Erlebten, S. 15 f. Dazu oben, S. 280 f. 238 Siehe Keller/Heckhausen, Electroencephalography and clinical Neurophysiology 76 (1990), S. 360. 239 Roth, Gehirn, S. 309; ebenso Birnbacher, EuS 6 (1995), S. 84; vgl. auch diverse Kritiker, zusammengefasst in der Replik Libets (1985b), S. 563. 240 Siehe Roth, Grundlagen, S. 195. 237
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schen Krankheit gezeigt.241 Er kommt damit zu dem Ergebnis, dass mit der Erkenntnis, dass das Ich wenig Zugriff auf Steuerungsmechanismen hat, sowohl das traditionelle Menschenbild als auch das abendländische Konzept der subjektiven Verantwortlichkeit mit aller Radikalität zusammenbreche.242 Auch Libet kommt für den Fall, dass jeder bewusste Entschluss, und damit auch das Veto, das Ergebnis unbewusster Prozesse ist, zu einem klaren Ergebnis: Zwar gebe es Stimmen, die auch bei dieser Konstellation einen freien Willen annähmen, dem könne er jedoch nicht folgen. Denn in diesem Fall kontrolliere das Individuum seine Handlungen nicht bewusst, es erlebe lediglich das Ergebnis einer unbewusst initiierten Wahl, auf die es keinerlei Einfluss habe. Freier Wille aber impliziere, dass jemand für seine Handlungswahl verantwortlich gemacht werden könne. Für unbewusste Handlungen, bei denen keine Möglichkeit zu bewusster Kontrolle bestehe, würden Menschen gemeinhin nicht zur Verantwortung gezogen werden. So seien epileptische Anfälle oder Bewegungen eines Menschen mit dem Tourettes-Syndrom keine auf freiem Willen beruhenden Verhaltensweisen. Warum solle dann die unbewusst entwickelte Handlung eines normalen Menschen, ein Prozess, über den er ebenfalls keine bewusste Kontrolle habe, als eine Willenshandlung angesehen werden?243
4. Identitätstheorie Eine andere Möglichkeit, den bewussten Willen als Kausalfaktor für das Verhalten aufzufassen, bietet die Identitätstheorie.244 Sie ist so etwas wie das Gegenstück zur gerade vorgestellten ontologisch-dualistischen Theorie. Denn ihr zufolge sind Mentales und Physisches nicht unterschiedliche Substanzen, die wechselseitig aufeinander einwirken können, mehr noch, Mentales und Physisches weisen nicht nur keinen Unterschied in der Substanz auf, sie sind auch im Übrigen unterschiedslos, besitzen also insbesondere keine Eigenschaften, die nur für das eine oder andere gelten.245 Geht einer Bewegung notwendig _________________ 241
Siehe Roth, Pseudoherrschaft (Interview Marzluf), S. 2; ders. et al., Die funktionale Rolle des bewußt Erlebten, S. 14. 242 Siehe Roth, Pseudoherrschaft (Interview Marzluf), S. 5. 243 Siehe Libet (1999), S. 52 f.; so auch Fisher, Medical Hypotheses 56 (2001), S. 366. 244 Einen Überblick über die Theorie und ihre Schwierigkeiten bietet Bieri, Philosophie, S. 36 ff. 245 Anders allerdings der sog. Eigenschaftsdualismus, der auf der Grundlage einer Identität der Substanz gleichwohl auf der Verschiedenheit der – einerseits objektiven, andererseits eben subjektiv-phänomenalen – Eigenschaften von Physischem und Mentalem insistiert.
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neuronale Aktivität voran, die im subjektiven Erleben ein Bewusstsein von der bevorstehenden Bewegung hervorruft, dann ist nach dieser Theorie das Bewusstsein sehr wohl kausal für die Bewegung, weil genau dies eben die neuronale Aktivität ist, die ihrerseits mit dem Bewusstsein identisch ist. Nach dieser Theorie gelten für die neuronale Aktivität die physikalischen Gesetze; daher gibt es „Freiheitsräume“ nur dann, wenn die physikalischen Gesetze solche Räume zu- bzw. offenlassen. Diese letztere Frage blieb oben246 unbeantwortet; denn auch wenn darauf eine beweisbare Antwort gefunden würde, bliebe immer noch zu klären, wie das Mentale diese Freiräume sich zunutze machen sollte. Da aber nach dem identitätstheoretischen Ansatz Geist und Materie eins sind, muss der Geist nicht einwirken; denn er ist selbst bereits die Materie. Sollte aber für die physische Außenwelt der Determinismus nicht gelten, so unterliegt eben auch diese Materie keinem geschlossenen Kausalzwang. Hier scheint sich ein Ausweg in der Freiheitsdiskussion aufzutun. Meines Erachtens ist er aber, wie immer es sich mit ihm verhalten mag, für einen Freiheitsbegriff als Grundlage strafrechtlicher Schuld ungeeignet. Dies hat vor allem den folgenden Grund: Bewusste Wahrnehmung entsteht nicht ad hoc, sondern ist, wie dargelegt, das Ergebnis unbewusster Hirnaktivitäten, hängt also von diesen vorangegangen Aktivitäten ab; damit wird aber auch die bewusste Entscheidung bzw. der (ggfs. vorwerfbare) Willensentschluss hiervon abhängig. Die bewusste Wahrnehmung verleitet zwar zu der Annahme einer linear abgebildeten Außenwelt. Schon die einfache Vorführung eines Films macht aber deutlich, dass wesentliche Teile der Wirklichkeit, nämlich der Umstand, dass eine Abfolge einzelner Bilder präsentiert wird, nicht Bestandteil der bewussten Wahrnehmung werden; sie können aber gleichwohl vom Hirn registriert werden und bestimmen, wie die Versuche von Libet247 und von Taylor/ McCloskey248 nahelegen, unter Umständen auch das Verhalten mit.249 Im folgenden Kapitel250 wird eingehend dargelegt, dass es einen so großen Anteil innerer unbewusster Dispositionen gibt, die zur bewussten Entscheidung beitragen, dass es letztlich offen bleiben kann, ob Freiräume existieren, die einen anderen Verlauf derjenigen neuronalen Aktivität ermöglicht hätten, die das Bewusstsein ausmacht. Jedenfalls ist der Geist alles andere als unabhängig. Dass man nach der Identitätstheorie Bewusstsein als notwendige Bedingung von Handlungen auffassen kann, begründet also nur einen stark reduzierten _________________ 246
Vgl. dazu oben, S. 36 ff. Vgl. oben, S. 253. 248 Dazu oben, S. 274. 249 Im französischen Wahlkampf soll es Ende der achtziger Jahre zu einem Eklat gekommen sein, als man der Regierungspartei die Verwendung von „Subliminals“ in ihren TV-Werbespots nachgewiesen habe, berichtet eine Internetseite (www.musikmagieund medizin.com/standard_seiten/subliminals.html, Stand: 5.4.2005). 250 Vgl. S. 309 ff. 247
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Freiheitsbegriff. Zwar kann man damit sagen, dass der bewusste Wille ein anderer hätte sein können, wenn die neuronalen Aktivitäten andere gewesen wären (unterstellt, die Welt wäre nicht kausal determiniert); insoweit lässt sich von einer indeterministischen Position sprechen. Wegen der Abhängigkeit der neuronalen Aktivitäten, die Bewusstsein sein sollen, von anderen neuronalen Aktivitäten, die kein Bewusstsein sind, liegt aber die Möglichkeit zur „freien“ Disposition nicht beim Mentalen bzw. den neuronalen Aktivitäten, die das Mentale sind, sondern vielmehr zu weit überwiegenden Teilen bei den „unfreien“ neuronalen Aktivitäten, die unbewusst bleiben. Damit ist auch hier ein einleuchtender Anknüpfungspunkt für einen Schuldvorwurf nicht ersichtlich.
5. Rechtliche Einordnung Die Notwendigkeit einer juristischen Perspektive auf das bisher Gesagte ergibt sich schon aus der Selbständigkeit der Rechtswissenschaft. Hier wurden eine Untersuchungsmethode und ihre Ergebnisse vorgestellt, welche die Annahme einer Urheberschaft des menschlichen Willens für Verhaltensweisen jedenfalls so einfacher Art, wie sie in den einschlägigen Experimenten stattfanden, grundsätzlich zweifelhaft, ja unplausibel machen. Das legt die Frage nahe, ob diese konkreten Ergebnisse auf die Zurechnung strafrechtlich relevanten (regelmäßig komplexeren) Handelns zum Willen eines Handelnden übertragen werden können. Hierzu ist zunächst festzustellen, dass die Validität der Untersuchungen Libets, da sie fachwissenschaftlich nicht angezweifelt werden, auch von juristischer Seite nicht sinnvoll in Abrede gestellt werden kann.251 In Anbetracht der Versuchswiederholungen seitens anderer Wissenschaftler mit verschiedenen Testpersonen, in mehreren Testdurchläufen und unter Variierung der jeweiligen Versuchsanordnung, aber mit gleichem Testergebnis, sind Zweifel an der Durchführung der Untersuchungen jedenfalls von seiten anderer Wissenschaften nicht mehr plausibel. Auch Trevena und Miller haben die grundsätzliche Richtigkeit der Testergebnisse nicht in Abrede gestellt. Die subjektive Perspektive, die in die Libet-Experimente einbezogen wird, mag nach dem „Orwellschen“ Modell von Dennett und Kinsbourne nicht das eigentlich Erlebte wiedergeben. Das aber, was unter der subjektiven Tatseite im Strafrecht verstanden wird, wäre in Fällen wie diesem Experiment ganz zweifelsfrei das, was die Probanden später als ihr Erleben rekapitulieren könnten. Schwierigkeiten entstünden erst dann, wenn – wie im Fall von Spontanreaktionen, Affekthandlungen oder Handlungen im Zustand des Vollrausches – die jeweilige Person sich mit dem eigenen Verhalten nicht identifizieren könnte. _________________ 251
Vgl. auch Hillenkamp, JZ 2005, S. 318.
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Bei einfachen willkürlichen Bewegungen wie in den Untersuchungen Libets ergäben sich für die traditionelle Strafrechtsdogmatik jedoch keine grundsätzlichen Zweifel zur subjektiven Tatseite; wären die Berichte der betroffenen Personen zu ihrem Erleben als subjektiv wahrhaftig anzuerkennen, so ließen sie keine problematischen Fragen offen. Libet bemerkt zu dem Problem, dass dem Experimentator niemals das subjektive Erleben zugänglich ist: Auch wenn man subjektive Aussagen auf ihre Richtigkeit hin überprüfe, sei es im alltäglichen Leben nicht der Fall, dass man wegen der Erkenntnis der Unzugänglichkeit subjektiv-personalen Erlebens aus der Außenperspektive Aussagen über die Introspektive grundsätzlich in Frage stellen würde.252 Wie zudem die Untersuchungen Fröhlichs, Crawfords, MacKays, Eaglemans und Sejnowskis, Taylors und McCloskeys sowie vieler weiterer Wissenschaftler zeigen, stellte die Einbeziehung des subjektiven Erlebens bereits vor den Untersuchungen Libets einen wesentlichen Aspekt bei experimentellen Untersuchungen dar und ermöglicht auch seither wichtige Einsichten. Anzunehmen ist, dass erst mit Zunahme der Forschung im kognitiven Sektor auch die Skepsis gegenüber der objektiven Validität subjektiver Angaben wächst und damit die Akzeptanz der hierauf beruhenden Erkenntnisse sinkt.253 Dies unterstützt jedoch zusätzlich die These, dass auch Rechtswissenschaftler die Grundannahmen des Rechtssystems, die im Bereich der strafrechtlichen Schuld vom subjektiven Erleben der Handlungszuschreibung stark beeinflusst sind, in Anbetracht der Erkenntnisse der Neurowissenschaft kritisch hinterfragen müssen. Mit der Aussage, dass es in Fällen einfacher willkürlicher Bewegungen, die ohne einen Hinweis auf Abnormitäten auftreten, im Strafrecht darauf ankomme, was die Individuen als ihr subjektives Erleben wiedergeben, ist aber noch nichts darüber gesagt, auf welches Erleben dabei abzustellen ist. So geht Walter davon aus, dass die willentliche Handlungsinitiierung im Rahmen der LibetExperimente bereits im Voraus mit der Intention, den Versuchsinstruktionen Folge zu leisten, eingetreten sei.254 Aber lässt sich diese Überlegung auch auf das Strafrecht übertragen? Man stelle sich den Attentäter vor, der geplant hat, einen Sprengsatz zur Explosion zu bringen, um so Menschenleben zu vernichten. Der Attentäter hält nun in der einen Hand die mit einem Knopf versehene Vorrichtung zur Auslösung der Explosion. In der anderen Hand hält er sein Handy, um im Falle des Entdecktwerdens von einem Gehilfen rechtzeitig informiert zu werden. Löst der Attentäter bewusst den Sprengsatz aus, hätte niemand Zweifel daran, dass er mit Tötungswillen handelte. Sieht er aber in der Nähe des Tatortes stehend zufällig, wie ein Kind von einem Auto angefahren _________________ 252
Siehe Libet (1985b), S. 534. Vgl. auch Singer, Grenzen, S. 287. 254 Siehe S. 282, bei und in Fn. 153; vgl. auch Heun, JZ 2005, S. 856. 253
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wird und überkommt ihn unvermittelt der Drang, diesem Kind zu helfen, indem er einen Notarzt herbeiruft, dann würde niemand, wenn der Attentäter nun anstatt die Handytaste zu bedienen, versehentlich den Sprengsatz auslöst, behaupten, er habe dies mit Tötungswillen getan. Es kann also nicht jede Intention, die sich in einem Taterfolg realisiert, auch als Anknüpfungspunkt für strafrechtliche Verantwortlichkeit dienen. In § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB heißt es aus diesem Grunde, dass der maßgebliche Zeitpunkt für das Vorliegen des Vorsatzes zur Tatbestandsverwirklichung der Zeitpunkt des Begehens der Tat ist; dass also der Täter genau zu diesem Zeitpunkt, nämlich dem der Tathandlung (§ 8 Satz 1 StGB), die unter die Tatbestandsmerkmale subsumierbaren Umstände des Geschehens kennen muss. Zur genauen zeitlichen Eingrenzung des subjektiven Elements noch folgendes Beispiel aus der Rechtsprechung: Der Täter betätigt einen Klingelknopf und plant, sein Opfer unmittelbar nach dem Öffnen der Tür zu überwältigen, um die Wohnung des Opfers auszurauben. Der Bundesgerichtshof zweifelt in solchen Fällen nicht daran, dass schon das Klingeln an der Tür ein versuchter Raub sein kann.255 Allerdings wird der relevante Zeitpunkt für das Vorliegen der subjektiven Tatseite wiederum nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB durch den Zeitpunkt der Tatbegehung begrenzt und dieser ist im vorliegenden Fall nach § 22 StGB der Zeitpunkt des unmittelbaren Ansetzens zur Tatbestandsverwirklichung. Der Bundesgerichtshof macht diesen Zeitpunkt daran fest, dass der Klingelnde innerlich eine Schwelle überschreitet, die als das subjektive Gefühl des „Jetzt-geht-es-los“ beschrieben wird.256 Auffallend ist hier die Ähnlichkeit zwischen dem Willensdrang, den die Probanden Libets beschrieben haben und den Walter auch als „bewußte Empfindung des Überschreitens einer Schwelle“ bezeichnet257, und dem „Jetzt-geht-es-los-Gefühl“, das der Bundesgerichtshof bemüht.258 Hierbei fließt die vorher gefasste Absicht aber nur indirekt mit ein. Das Unwerturteil knüpft an die innere Haltung des Täters zu genau dem Zeitpunkt an, an dem er den Klingelknopf betätigt. Sonst könnte eine am frühen Morgen gefasste Absicht, jemanden nach dem Öffnen einer Tür zu erschießen, auch dann eine strafbare Handlung begründen, wenn diese Absicht bis zum Mittag aufgegeben wurde und das Klingeln nun lediglich zum Zweck des Besuches erfolgt. _________________ 255
Siehe BGHSt 39, 236, 238 m. w. N. Vgl. BGHSt 26, 201 ff. m. w. N. 257 Siehe oben, S. 282, bei und in Fn. 154. In der Volitionspsychologie auch „Willensruck“ oder „Fiat“ genannt, vgl. Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 523. 258 Das unmittelbare Ansetzen verneint der BGH im Allgemeinen, wenn es zur Erfolgsherbeiführung „noch eines weiteren – neuen – Willensimpulses“ (BGHSt 31, 178, 182; BGH NStZ 1999, 395, 396) bzw. „eines letzten Willensrucks“ bedarf (BGH StV 1987, 528, 529; vgl. auch Tröndle/Fischer, § 22, Rn. 10 – zu letzterem Begriff auch Fn. 257). 256
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Die vor dem unmittelbaren Ansetzen zum Taterfolg gefasste Intention ist als dolus antecedens also kein tauglicher Anknüpfungspunkt für strafrechtliche Verantwortlichkeit. Dies gilt sowohl für Versuchs- als auch für vollendete Delikte. Denn es ist die Konsequenz eines handlungsorientierten Strafrechts, dass nicht willkürlich Intentionen mit Erfolgen verknüpft werden können. Die Beispielsfälle zeigen aber auch, dass sich die in der Libetschen Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse auf strafrechtlich relevante Sachverhalte übertragen lassen, obwohl sich die Verhaltensweise der Libet-Probanden in einer einfachen Bewegung erschöpft. Man muss sich ja nur vorstellen, dass die Probanden aufgefordert wurden, per Knopfdruck einen Sprengsatz auszulösen, der Menschenleben in Gefahr zu bringen geeignet sein sollte. Weiterhin wurde bereits erläutert, weshalb der Einwand einiger Kritiker, die Probanden hätten aufgrund der Versuchsinstruktionen keinen willkürlichen Entschluss gefasst, in Anbetracht neuerer Untersuchungen und wegen der Schwierigkeit, die Verursachung physischer Vorgänge durch Mentales zu erklären, nicht haltbar ist.259 Daneben sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass sich diese Argumentation auf das Rechtssystem auch nicht übertragen ließe. Denn die Haftung entfiele hier weder aufgrund von Vorgaben durch Rechtsnormen, noch etwa durch Anweisungen eines Versuchsleiters oder eines sonstigen Anstifters. Derlei Instruktionen sind damit grundsätzlich nicht geeignet, die rechtliche Verantwortlichkeit und die damit einhergehende Vorstellung von Freiheit entfallen lassen. Und der vor Versuchsbeginn gefasste Entschluss eines Täters, den Vorgaben des Anstifters (oder Versuchsleiters) zu folgen, ist strafrechtlich irrelevant, auch wenn er – im Sinne von Walters Hypothese – bereits der innerpsychische Beginn der willentlichen Handlungsinitiierung wäre. Schließlich sei noch auf eine speziell strafrechtliche Problematik der Vetotheorie hingewiesen: Käme dem Menschen lediglich eine Freiheit insoweit zu, als er gegen einen bereits eingeleiteten Bewegungsdrang ein Veto einlegen könnte, dann hätte dies nach einigen Theorien zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen Konsequenzen für die Fälle einer Tatbegehung durch bloßes Untätigbleiben. Denn nur dann, wenn der spätere Unterlassungstäter zunächst eine Bewegung zur Abwendung des Erfolges eingeleitet hat, könnte eine diese unterdrückende Willenssteuerung bei ihm stattfinden. Ist aber vom Gehirn schon keine Bewegung eingeleitet worden, entfällt die Möglichkeit zum Veto von vornherein: Ein solches Untätigbleiben könnte deshalb dem menschlichen Willen nicht zugerechnet werden. Da es nicht nur Verbotsnormen gegen aktives Handeln (wie „Du sollst nicht töten!“) gibt, sondern auch Gebotsnormen, die zur Hilfeleistung in Unglücksfällen oder zur Erfolgsabwendung als Garant verpflichten, ergäben sich unlösbare Zurechnungsfragen. In ähnlicher Form _________________ 259
Vgl. oben, S. 282 ff.
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träten sie auch beim Rücktritt vom sogenannten „unbeendeten Versuch“ auf: Nur wenn beim Aufgeben der Tatausführung ein Drang zum Weitermachen unterdrückt würde, könnte von Freiwilligkeit die Rede sein; hörte der Ausführungsdrang hingegen von selbst auf, weil das Gehirn einfach begonnen hätte, eine andere Verhaltensweise einzuleiten, dann bliebe für Freiwilligkeit kein Raum. Weil also sowohl der Tätigkeit als auch der Untätigkeit rechtliche Bedeutung zukommt, müsste auch die Vetotheorie zu einem generellen Umbau der strafrechtlichen Zurechnungsregeln führen.260 Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Probanden Libets nach dem Maßstab des Strafrechts frei verantwortlich handelten. Hätten sie also wissentlich mit ihrer Bewegung einen Sprengsatz mit tödlichen Folgen ausgelöst, dann erschöpfte sich die objektive Tatseite in dieser einfachen Bewegung und die subjektive Tatseite in dem Bewegungsdrang, den die Probanden kurz vorher verspürten, bei gleichzeitiger Kenntnis der tatbestandlich relevanten Tatumstände. Allerdings wäre – das eben zeigen Libets Experimente – die den Sprengsatz auslösende Bewegung nicht durch den für die rechtliche Beurteilung relevanten subjektiven Willen verursacht worden, sondern durch neuronale Prozesse, die ohne erlebtes „Willenskommando“ bereits vor dem Willensentschluss einsetzten. Zwar lassen sich die Ergebnisse des Libet-Experiments mit einem identitätstheoretischen Ansatz261 so deuten, dass die Bewegung vom Bewegungsdrang abhängig war (indem sie nämlich von neuronalen Aktivitäten abhing, die selber der Bewegungsdrang sein sollen). Dabei werden allerdings diejenigen neuronalen Aktivitäten nicht berücksichtigt, die unbewusst bleiben, aber ihrerseits zum Verhalten beitragen, so dass es auch insoweit eine Abhängigkeit des Bewusstseins von (unbewussten) neuronalen Prozessen gibt. Sollte man jedoch, entgegen der hier vertretenen Ansicht, die angeführten Untersuchungen für widerlegbar oder für anders interpretierbar halten, käme man dennoch nicht umhin, sie als gewichtiges Indiz gegen die dem Menschen zugesprochene Fähigkeit zur willentlichen oder bewussten Verhaltenssteuerung anzuerkennen. Denn sie bilden ein in sich schlüssiges und durch experimentelle Forschung erhärtetes Erklärungsmodell. Sie können daher als empirische Er_________________ 260
Ein Aspekt, der Guss offenbar, wenngleich erstaunlicherweise, nicht irritiert. Trotz des Hinweises auf Libets Versuch, nach dem das Willenserlebnis erst nach dem Aufbau des Bereitschaftspotentials auftritt (s. Willensfreiheit, S. 89), verweist er in seiner Zusammenfassung auf die hierdurch gerade in Frage gestellte Annahme Kornhubers, das Bereitschaftspotential werde erst durch den Willensentschluss gebildet, kombiniert diese mit dem Vetorecht und erhält sozusagen „unterm Strich“ eine empirisch evidente Willensfreiheit (s. ebd., S. 102 f.); kritisch Schiemann, NJW 2004, S. 2058. Auch Reinelt macht sich über die strafrechtlichen Konsequenzen keine Gedanken (s. NJW 2004, S. 2793). 261 Dazu oben, S. 300.
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kenntnisse über Wahrnehmungs- und Bewegungsentstehung nicht von vornherein abgelehnt werden, wenn es hierauf im Strafprozess ankommen sollte.
IV. Folgerungen für willkürliches und unwillkürliches Verhalten Wegen der Einsicht, dass Bewusstsein ohne neuronale Prozesse nicht existiert, kann auch das menschliche Bewusstsein oder der menschliche Wille nicht als übermaterieller Faktor, der aus dem „Nichts“ heraus entsteht, verstanden werden. Er kann daher auch nicht als „übermaterielle Kraft“ Geschehnisse beeinflussen. Es ist mithin unerheblich, ob der Wille als handlungsinitiierend oder lediglich als nachträglich kontrollierend aufgefasst wird; ihm kommt in beiden Fällen diese Rolle nur im subjektiven Erleben zu. Zwar bestätigen die Ergebnisse Libets damit nicht den üblicherweise vorausgesetzten Ablauf von subjektiver Intention und Bewegungseinleitung, sie sprechen dem Menschen aber auch nicht sein Erleben ab. Sie widerlegen lediglich aus naturwissenschaftlicher Perspektive die Möglichkeit der Beeinflussung menschlichen Handelns durch eine von Materie und Physik gänzlich unabhängige, rein geistige Steuerung. Zugleich entwerfen und bestätigen sie ein anderes Modell vom Ablauf der Ereignisse, die wir „menschliche Handlungen“ nennen: ein Modell, das dem subjektiven Willen die ihm traditionell zugeschriebene Funktion, Initiator dieser Handlungen zu sein, nicht mehr zuerkennt.262 Dies gilt nicht nur für einfache Bewegungen und den sie begleitenden „Willensdrang“, sondern ebenso für das im Voraus geplante und dann umgesetzte Handlungsgefüge. Denn akzeptiert man, dass Bewusstsein neuronale Aktivitäten voraussetzt, für deren Organisation Begriffe wie „Freiheit“ fehl am Platze sind und die nicht ihrerseits durch einen übermateriellen Geist gesteuert oder kontrolliert werden, dann ist auch die lange im Voraus geplante Handlung nur im subjektiven Erleben das Produkt einer bewussten, freien Entscheidung, während sie sich objektiv ebenso unvermeidbar darstellt wie jede tierische Verhaltensweise auch. Wenn nach dem „Orwellschen“ Modell von Dennett und Kinsbourne263 gleichwohl über ein Bewusstsein spekuliert wird, das lediglich später in Vergessenheit gerät, dann verspricht dies keinen Gewinn für die Freiheitsproblematik; denn ein solches Bewusstsein könnte ohne seine neuronalen Korrelate ja ebensowenig existieren wie ein später rekapitulierbares Bewusstsein. Dualistische Konzepte, die eine Interaktion zwischen einem materie-unabhängigen Geist und dem Gehirn annehmen, stützt es deshalb nicht, weil es gerade nicht den „Geist“ repräsentiert, der für die Freiheitsdebatte ausschlaggebend ist. _________________ 262
Im Ergebnis ebenso Neumann/Prinz, S. 210. Das Erleben ist insoweit „real“, vgl. auch Planck, Willensfreiheit, S. 17. 263 Vgl. oben, S. 268.
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Freiheitserleben erwächst nicht aus dem, was letztlich unbewusst bleibt, sondern aus dem, was als willentlich verursacht erlebt wird. Ansonsten stritte sich wohl niemand darum, ob automatisierte Verhaltensweisen noch als „frei“ gelten könnten. Es ist also nach der hier vorgenommenen Deutung der dargestellten Ergebnisse neurobiologischer Forschung nicht der subjektiv erlebte Wille, der Bewegungen initiiert, kontrolliert oder steuert.264 Insoweit bestehen zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen keine Unterschiede. Zwar geht mit bewusstseinsbegleiteten Verhaltensweisen eine andere neuronale Aktivität einher, als dies bei unbewussten der Fall ist; zu einer spezifischen Funktion des subjektiven Bewusstseins als einer Steuer- oder Kontrollinstanz führt dies jedoch nicht. Anzunehmen ist nach dem hier Dargelegten vielmehr, dass die erhöhte und zeitaufwändigere Aktivität der Neuronen bei bewusstem Handeln einen detaillierteren Abgleich mit bereits gewonnenen Erfahrungen beziehungsweise den hierdurch entstanden neuronalen Netzen ermöglicht, als dies bei unmittelbaren und damit zunächst unbewusst bleibenden Reaktionen der Fall ist. Dadurch können bewusste Verhaltensweisen neben dem subjektiven Gefühl der Kontrolle für den Handelnden auch den Eindruck vermitteln, dem Gesamtbild der Persönlichkeit eher zu entsprechen. Willkürliche Handlungen unterscheiden sich damit zwar hinsichtlich der Hirnaktivität und der mit ihnen einhergehenden bewussten Wahrnehmung von unwillkürlichen Handlungen, nicht aber mit Blick auf Antrieb oder Steuerung der Handlung durch das IchBewusstsein. Das Antriebs- und Steuerungsgefühl ist vorhanden, stellt aber eine Täuschung über die tatsächlichen objektiven Ereignisse dar. Während das Individuum aus seiner Innenperspektive heraus seine Handlungen also als selbstbestimmt im Sinne von willentlich verursacht erlebt, liegen jeder Bewegung, objektiv beurteilt, neuronale Prozesse zugrunde, die vor dem Willensentschluss des Individuums die Bewegung einleiten und damit zum wirklichen Ursprung ihres Stattfindens werden.
_________________ 264
So auch die Interpretationen von M. Pauen, Grundprobleme, S. 90, und Roth, Grundlagen, S. 195, der Untersuchungen Libets.
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Kapitel 3
Neuronale Determination und subjektives Freiheitserleben I. Selbstzuschreibung von Handlungen aus neurowissenschaftlicher Sicht Die Problematik, die vor allem durch die Libet-Experimente aufgeworfen wurde, die sich aber durch die Untersuchungen anderer Wissenschaftler noch verschärft hat, ist also die, dass dem subjektiven Erleben, dem Bewusstsein oder dem Geist, nicht die Funktion zuzukommen scheint, die ihm aufgrund der Innenperspektive des Menschen zugeschrieben wird. Der Geist erscheint nicht mehr als freier Urheber von Handlungen, weil er wie die Handlung selbst in Abhängigkeit von neuronalen Prozessen steht. Im letzten Kapitel sollen nun einige Untersuchungen zusammengetragen werden, die sich damit auseinandersetzen, welche Gehirnaktivitäten bei einer „Entscheidung“ mitwirken und wie es zur Selbstzuschreibung der damit in Einklang stehenden Handlungen kommt. Für rechtliche Erwägungen ist daneben die Möglichkeit zur Verhaltensänderung, die Verlässlichkeit subjektiven Erlebens und die Relevanz von Zielvorstellungen bedeutsam.
1. Emotion und Motivation Libet differenziert in einer jüngeren Publikation dahingehend, dass die Wahrnehmung einer bewussten Entscheidung als solche gegebenenfalls auf unbewussten Prozessen beruhe, der Inhalt dieser Entscheidung aber nicht notwendig unbewusste Abläufe voraussetze.265 Neuere Untersuchungen bezüglich der Verbindungen zwischen dem unbewussten limbischen System und dem Kortex legen indes nahe, dass auch der Entscheidungsinhalt durch unbewusste neuronale Vorgaben bestimmt wird. Wird eine Handlung im präfrontalen Kortex, dem Stirnhirn, geplant, so wird die entsprechende Information nicht direkt an die motorische Hirnrinde weitergegeben, um so ungefiltert zur Ausführung zu gelangen, sondern wird zunächst zu den Basalganglien des limbischen Systems, deren Bedeutung für Willkürhandlungen bereits dargestellt wurde266, weitergeleitet.267 Das limbische System _________________ 265
Siehe Libet (1999), S. 53; vgl. auch ders. (2005), S. 187 f. Vgl. zur Ansicht Libets auch Roth, Biologie in unserer Zeit 28 (1998), S. 12. 266 Vgl. oben, S. 299. 267 Siehe Roth, Vortrag, S. 5; ders., Biologie in unserer Zeit 28 (1998), S. 7 ff.
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gilt als das „Bewertungssystem“ des Gehirns268 und durchzieht das gesamte Gehirn.269 Die Handlungsbewertung vollziehe sich, so Roth, soweit bekannt nach einem einfachen Muster. Durch Verbindung der Basalkerne zu Arealen des Gehirns, in denen sämtliche positiven und negativen Vorerfahrungen mit Verhaltensweisen seit der pränatalen Phase gesammelt worden seien, erfahre jede Handlung einen Abgleich mit bereits durchlebten emotionalen Erfahrungen. Von den Basalganglien gelange ein positives Ergebnis dieses Abgleichs, also die „Entscheidung“270, die Handlung auszuführen, über das Zwischenhirn in die Großhirnrinde, während bei einem negativen Ergebnis die Großhirnrinde nicht entsprechend aktiviert werde und damit die Handlung vollständig unterbleibe oder stattdessen eine nach dem Erfahrungsgedächtnis naheliegende, gewohnte Handlung ausgeführt werde.271 Ausgewählt werde damit nach dem Erfahrungsprinzip: Hat ein Organismus positive Erfahrungen gesammelt, wird er eine Verhaltensweise wiederholen, hat er hingegen schlechte Erfahrungen gemacht, wird er die Verhaltensweise zukünftig vermeiden.272 Das limbische System sei dabei weitgehend ein emotionales Gedächtnis, dessen wesentliche Bewertungskriterien bereits gegen Ende des dritten Lebensjahres entwickelt seien.273 Zum limbischen System zählt die Amygdala, ein subkortikales Kerngebiet in der Tiefe des Temporallappens.274 Versuche an Affen haben gezeigt, dass die Zerstörung der Amygdala zu einer Änderung der Hierarchie in einer Affenhorde führt. Die betroffenen Affen sind nach einer bilateralen Läsion der Amygdala verhaltensgestört, das heißt unfähig, geordnete Verhaltensweisen zu zeigen, die soziale Bedeutung von außen eintreffender Signale zu erkennen und zu den eigenen zentralnervösen Zuständen in Beziehung zu setzen.275 Von außen eintreffende Signale gelangen über den menschlichen Kortex und den Thalamus zur Amygdala. Die thalamischen Eingänge erreichen die Amygdala dabei vor oder mindestens zeitgleich mit den kortikalen Eingängen. Es gelangen also zunächst vorverarbeitete Reize über subkortikale thalamische Projektionsbahnen zur Amygdala, wodurch eine unbewusste und präkognitive _________________ 268
Siehe Roth, Gehirn, S. 194; dabei wird sich in jüngster Zeit insbesondere auf die Amygdala konzentriert (s. Dudel/Menzel/Schmidt-Gahr, S. 479). 269 Siehe Roth, Gehirn, S. 198; ders., Biologie in unserer Zeit 28 (1998), S. 9 ff.; vgl. auch die Darstellung bei Schmidt/Thews/ Lang-Birbaumer/Jänig, S. 177. 270 Vgl. zu diesen Begriffen die Anmerkung oben, S. 245, Fn. 18. 271 Siehe Roth, Vortrag, S. 6. 272 Vgl. auch Schmidt/Thews/Lang-Birbaumer/Jänig, S. 180; Singer, FAZ vom 8.1. 2004, S. 33. 273 Siehe Roth, Pseudoherrschaft (Interview Marzluf), S. 1. 274 Siehe Schmidt/Thews/Lang-Birbaumer/Jänig, S. 177. 275 Siehe Schmidt/Thews/Lang-Birbaumer/Jänig, S. 177 f.
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Reizverarbeitung ermöglicht wird.276 Der Bewertungsvorgang bleibe damit unbewusst. Das Gefühl, eine Handlung zu wollen, entstehe erst, nachdem das limbische System „entschieden“ habe und das Ergebnis an die Großhirnrinde weitergereicht worden sei.277 Genauer gesagt, wirkten, Roth zufolge, die Prozesse des limbischen Systems auf den motorischen Planungsapparat im engeren Sinne ein, der seinerseits teils bewusst (präfrontaler Kortex), teils unbewusst (Basalganglien, laterales Kleinhirn) arbeite.278 Dieser Planungsapparat wirke wiederum auf die prämotorischen Kortexareale ein, die ihrerseits den Motorkortex kontrollierten, der dann im Zusammenspiel mit dem medialen Kleinhirn die aktuelle Bewegung steuere. Der subjektiv erlebte Entschluss, die Handlung auszuführen, werde dabei, so Roth und seine Kollegen, offenbar beim Übergang der Aktivität vom prämotorischen zum motorischen Kortex ausgelöst.279 Denn werde die Bewegung eines Patienten mittels mechanischer Einwirkung auf den motorischen Kortex ausgelöst, so empfinde der Patient dies als aufgezwungen.280 Es wird angenommen, dass auch der präfrontale Kortex seinerseits die subkortikalen Prozesse beeinflussen kann.281 In experimentellen Untersuchungen, in denen Ratten darauf konditioniert wurden, auf einen auditorischen Reiz mit Angst zu reagieren, zeigte sich, dass es für die Auslösung von Angstkonditionierten Reaktionen auf einen einfachen Reiz lediglich der Verarbeitung des Reizes in einem subkortikalen Schaltkreis (Thalamus-Amygdala) bedarf, wodurch eine schnelle emotionale Reaktion, wie Flucht oder Bewegungslosigkeit ermöglicht wird. Komplexe auditorische Reize können dagegen vom auditorischen Thalamus nicht erkannt werden. Es sei daher denkbar, dass neben der Verarbeitung im subkortikalen Schaltkreis eine parallele Verarbeitung im Kortex-Amygdala-Netzwerk stattfindet, die eine „falsche“ (= der äußeren Situation nicht angemessene) thalamische Reaktion aufgrund der kortikalen Auswertung abbrechen könnte, wobei die kortikalen Netzwerke jedoch mehr Zeit benötigten als die subkortikalen.282 Die Verbindungen der Amygdala zu Thalamus und _________________ 276
Siehe Dudel/Menzel/Schmidt-Gahr, S. 479. Siehe Roth, Vortrag, S. 6; ders., Biologie in unserer Zeit 28 (1998), S. 9. 278 Vgl. Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 488 ff., 490 ff. 279 Siehe Roth et al., Die funktionale Rolle des bewußt Erlebten, S. 14; vgl. auch die graphische Darstellung bei Roth, Biologie in unserer Zeit 28 (1998), S. 13. 280 Siehe die Schilderung dieses Penfield-Versuches aus dem Jahre 1958 bei Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 515 f. (W. Penfield ist ein bekannter amerikanischer Neurophysiologe, der seine hier in Bezug genommenen Forschungsergebnisse 1958 in dem Buch „The Excitable Cortex in Conscious Man“ veröffentlicht hat.) 281 Dazu Schmidt/Thews/Lang-Birbaumer/Jänig, S. 179; Roth, Biologie in unserer Zeit 28 (1998), S. 12; Dudel/Menzel/ Schmidt-Gahr, S. 481. 282 Siehe Dudel/Menzel/Schmidt-Gahr, S. 481. 277
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Kortex sind dabei bei Primaten und Ratten ähnlich verschaltet.283 Es könne jedoch keinen Zweifel daran geben, dass auch der präfrontale Kortex zutiefst von unbewussten Erfahrungen, Motiven und Antrieben beeinflusst werde, die in den Zentren des limbischen Systems liegen.284 Wird beispielsweise der zentrale Nukleus der Amygdala elektrisch stimuliert, wird auch das EEG des Neokortex gestört. Über die indirekte Verbindung der Amygdala zum Neokortex könnte damit die emotionale Reizverarbeitung in der Amygdala die kognitiven Prozesse wie Reizrepräsentation, Aufmerksamkeit, Gedächtnisbildung oder logisches Schließen im Neokortex verändern.285 Affektive Erkrankungen und deren Behandlung bei Menschen sowie die Erkenntnisse aus Tierexperimenten haben bereits Hinweise auf die Zusammenhänge zwischen chemischen Substanzen, welche Veränderungen im Neurotransmittersystem hervorrufen, und emotionalen Zuständen geliefert. Eine Zuführung von Benzodiazeptinen in den lateralen und basalen Nukleus der Amygdala, in dem sich von Natur aus eine hohe Dichte an BenzodiazeptinRezeptoren befindet, bewirkt beispielsweise eine Verringerung von Angstreaktionen, während die Infusion von Benzodiazeptin-Antagonisten zu einer Zunahme der Angstreaktionen führt. Dopamin und endogene Opiate scheinen eine wichtige Rolle bei der Kontrolle positiv bewerteter Zustände zu spielen, während Noradrenalin und Serotonin bei depressiven Zuständen von Bedeutung sind.286 Emotionale Zustände stehen also in engem Zusammenhang mit biochemischen Reaktionen im Nervensystem. Dies hat Auswirkungen auf den „Charakter“ eines Menschen. So werden Patienten mit einer Störung des orbitofrontalen Kortex, der unmittelbar über den Augenhöhlen liegt und mit den emotionalen und motivationalen Aspekten einer Handlungsplanung in Beziehung steht, allgemein als gefühlskalt bis rücksichtslos eingestuft, was damit zusammenhängt, dass diese Patienten aufgrund ihrer Läsion unfähig sind, einen sozial-kommunikativen Kontext wie die Mimik von Gesichtern oder die Bedeutung von Szenendarstellungen zu erfassen. Daneben werden sie durch negative Konsequenzen ihres Handelns nicht emotional be-
_________________ 283
Siehe Dudel/Menzel/Schmidt-Gahr, S. 482. Siehe Roth, Biologie in unserer Zeit 28 (1998), S. 12; diese Annahme steht daneben im Einklang mit den Überlegungen zur „Affektlogik“ bei Kargl, Handlung und Ordnung, S. 151 ff. 285 Siehe Dudel/Menzel/Schmidt-Gahr, S. 480. 286 Ausführlich hierzu Dudel/Menzel/Schmidt-Gahr, S. 483 f.; s. auch Nemeroff, Spektrum der Wissenschaft/ Digest 2 (2001), S. 84. 284
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rührt, so dass sie nach fremd- wie nach selbstschädigenden Verhaltensweisen keine Einsicht zeigen.287 Der wohl bekannteste Fall in diesem Zusammenhang ist der des Amerikaners Phineas Gage. Anhand der erhaltenen Dokumente hat diesen Fall auch der Neurologe Antonio Damasio untersucht. Gage war bis zu dem Tag, der seinem Leben eine vollkommen neue Richtung gab, Vorarbeiter einer amerikanischen Eisenbahngesellschaft. Im Sommer 1848 kam es bei einer Sprengung, die Gage versehentlich selbst ausgelöst hatte, zu einem tragischen Unfall. Eine fast zwei Meter lange Eisenstange mit einem Durchmesser von etwas über drei Zentimetern durchbohrte den Schädel des 25jährigen. Die Eisenstange drang unterhalb seines linken Wangenknochens in den Schädel ein und trat aus dem vorderen Schädeldach wieder aus. Gage war nach dem Unfall bei Bewusstsein, konnte sprechen und gehen. Er wurde medizinisch versorgt und zwei Monate später für geheilt erklärt. Äußerlich war nur sein linkes Auge beeinträchtigt, mit dem er nicht mehr sehen konnte. Die Stange hatte aber im vorderen Teil seiner linken Gehirnhälfte Schaden angerichtet. Ein Teil der Orbitalregion war verletzt worden. Der vormals charakterstarke, geschäftstüchtige und beliebte Mann wurde den Berichten seines Arztes zufolge launisch, respektlos gegenüber seinen Mitmenschen, ungeduldig, halsstarrig und wankelmütig. Seine Ausdrucksweise wurde so gemein und abscheulich, dass man, wie Damasio den Bericht des Arztes widergibt, Frauen riet, sich nicht lange in seiner Gegenwart aufzuhalten. Gage verlor seine Arbeit bei der Eisenbahngesellschaft und arbeitete nun in wechselnden Stellungen. Unter anderem trat er als Zirkusattraktion auf und stellte seine Narben und die Eisenstange zur Schau. Lange hielt er es aber nirgendwo aus und wohl auch niemand mit ihm. Er bekam epileptische Anfälle, an denen er 1861 im Alter von 38 Jahren verstarb.288 Damasio führt Gages Verlust der Fähigkeit, seine Zukunft zu planen, sich nach sozialen Regeln zu richten und effiziente Handlungsabläufe zu wählen, auf die Schädigung seines Gehirns zurück289 und berichtet von einem Patienten mit dem Pseudonym „Elliot“, bei dem nach der Entfernung eines Hirntumors ähnliche Verhaltensweisen zu beobachten waren. Weil mit der Entfernung des Hirntumors auch umliegendes geschädigtes Hirngewebe entnommen wurde, wies „Elliot“ im orbitalen Bereich, wo sich der Tumor befunden hatte, Schädigungen auf. Im Gegensatz zu Phineas Gage war bei „Elliot“ aber die rechte Gehirnhälfte stärker in Mitleidenschaft gezogen.290 Nach der Operation war der vormals beruflich und persönlich erfolgreiche _________________ 287
Siehe Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 282 f., teilweise unter Bezugnahme auf die Untersuchungen Damasios; vgl. auch die Ausführungen bei Walter, Entscheidungen, S. 158 ff., u. Singer, Grenzen, S. 289. 288 Siehe Damasio, Descartes’ Irrtum, S. 25 ff. 289 Siehe Damasio, Descartes’ Irrtum, S. 63. 290 Vgl. Damasio, Descartes’ Irrtum, S. 64 ff.
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„Elliot“ unfähig, seinen Tagesablauf sinnvoll zu organisieren. Er hatte Mühe, morgens aufzustehen, um zur Arbeit zu gehen, und verlief sich während der Arbeit oft in Nebensächlichkeiten, die ihn sein eigentliches Ziel aus den Augen verlieren ließen. Nach wiederholten Hinweisen und Ermahnungen wurde ihm gekündigt. Er ging daraufhin wechselnde Geschäftsbeziehungen ein, auch mit Personen, denen er mehr Vertrauen entgegenbrachte, als angezeigt gewesen wäre, und war schließlich finanziell ruiniert. Sein privates Leben löste sich ebenfalls auf: es kam zur ersten, nach einer weiteren kurzen Ehe zur zweiten Scheidung. Weil „Elliot“ bei Intelligenztests aber keinerlei Auffälligkeiten zeigte, die auf eine Störung gedeutet hätten, sogar überdurchschnittliche Ergebnisse erzielte, wurde eine hirnorganische Ursache ausgeschlossen. „Elliot“ meisterte sogar spezielle „Stirnhirntests“ und zeigte auch bei Persönlichkeitstests normale Leistungen. Sein Verstand arbeitete offenkundig einwandfrei und ermöglichte es ihm dennoch nicht, im persönlichen und sozialen Umfeld die angemessenen Entscheidungen zu treffen.291 Allerdings gab es etwas, dass auch „Elliot“ selber bewusst geworden war: Er empfand seit der Operation keine emotionalen Höhen und Tiefen mehr. Er war gewissermaßen emotional „neutral“ geworden.292 Damasio entwickelt aus der Untersuchung verschiedener Personen mit emotionalen Defekten die Hypothese der „somatischen Marker“. Sie besteht, kurz gesagt, darin, dass negative und positive Erfahrungen im Gedächtnis des Menschen gespeichert werden und an jeder aktuellen Entscheidungsfindung mitwirken, indem sie körperliche Signale hervorrufen. Bei der Vorstellung einer Handlungsalternative entsteht, Damasio zufolge, ein angenehmes oder unangenehmes „Bauchgefühl“, das als Warnoder Startsignal wirkt.293 „Elliot“ hatte wie Gage, so die Theorie Damasios, diese Fähigkeit der Verknüpfung einer aktuellen Entscheidung mit zuvor erworbenen Erfahrungen bezüglich negativer und positiver Folgen einer Handlung verloren. Sie waren nach Damasio durch die Hirnverletzung unfähig geworden, die Folgen ihrer Handlung mithilfe bereits erworbener Erfahrungen zu antizipieren.294 Weiter soll diese Theorie nicht verfolgt werden. Die geschilderten Fälle veranschaulichen die enge Beziehung zwischen dem, was gemeinhin als der „Charakter“ einer Person bezeichnet wird, und dem Organ Gehirn. Daneben legen sie auch einen engen Zusammenhang zwischen der Funktionsweise des Gehirns und sozial, moralisch und schließlich rechtlich „richtigem“ Verhalten nahe.
_________________ 291
Siehe Damasio, Descartes’ Irrtum, S. 75. Vgl. Damasio, Descartes’ Irrtum, S. 76 ff. 293 Ausführlich Damasio, Descartes’ Irrtum, S. 227 ff. 294 Siehe Damasio, Descartes’ Irrtum, S. 277 ff. 292
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Auch eine Studie von Greene und seinen Kollegen belegt eindrucksvoll die Bedeutung von Emotionen bei moralischen Entscheidungen.295 Sie konfrontierten ihre Probanden mit moralisch (und rechtlich) schwierigen Situationen. Die von den Probanden zu treffenden Entscheidungen wurden eingeteilt in „moralpersonal“, „moral-impersonal“ und „non-moral“. „Non-moral“ waren dabei beispielsweise Entscheidungen, die sich auf die Wahl bezogen, eine Strecke in bestimmter Zeit entweder mit dem Bus oder mit dem Zug zurückzulegen oder beim Einkauf zwischen verschiedenen Coupons zu wählen. Zu den „moralimpersonal“ Entscheidungen gehörten solche, Geld aus einer gefundenen Brieftasche zu behalten oder nicht. Auch der unter Juristen vieldiskutierte „Weichensteller-Fall“296, in der Variante, dass ein Zug auf fünf Personen zurast und durch Umlegen einer Weiche auf ein anderes Gleis gesetzt werden kann, auf dem sich aber ebenfalls eine Person befindet, die dann sterben müsste, gehört nach der Einteilung von Greene und seinen Kollegen zu diesem „moralimpersonal“-Typus von Entscheidungen. Eine Variante des Weichenstellerfalles wird dagegen von den Versuchsleitern den „moral-personal“ Entscheidungen zugeordnet: Hier kann der Zug, der wiederum auf fünf Menschen zurast, dadurch gestoppt werden, dass ein Mensch von einer Brücke auf die Gleise gestoßen wird und so den Zug blockiert – freilich unter Verlust seines Lebens. Eine ebenfalls „moral-personal“ Entscheidung bildet die Variante, dass einem Menschen seine (lebenswichtigen) Organe geraubt werden, um damit fünf andere Menschen am Leben zu erhalten. Während die Probanden zu entscheiden hatten, ob sie die Handlung für moralisch angemessen hielten, wurden ihre Hirnaktivitäten mit der funktionellen Magnetresonanz-Tomographie (fMRT) aufgezeichnet. Greene und seine Kollegen stellten fest, dass Bereiche im Gehirn, die mit Emotionen assoziiert werden, bei den „moral-personal“ Entscheidungen signifikant stärker aktiv waren, als bei den „moral-impersonal“ Entscheidungen. Umgekehrt war das Arbeitsgedächtnis, das bei emotionalen Prozessen weniger eingebunden ist als bei kognitiven, bei den „moral-personal“ Entscheidungen signifikant schwächer aktiv als bei den „moral-impersonal“ Entscheidungen. Das Arbeitsgedächtnis umfasst alle Strukturen und Prozesse, die der vorübergehenden Speicherung und Verarbeitung von Informationen dienen, und ermöglicht so ein kontinuierliches Erleben der Wirklichkeit. Zwischen der Hirnaktivität bei „moral-impersonal“ und „non-moral“ Entscheidungen konnten hingegen keine signifikanten Unterschiede gemessen werden. Greene und seine Kollegen folgern daraus, dass aus neurowissenschaftlicher _________________ 295
Siehe Greene et al., Science 293 (2001), S. 2105 ff.; vgl auch Greene/Haidt, Trends in Cognitive Sciences 6 (2002), S. 517 ff. 296 Dazu Welzel, ZStW 63 (1951), S. 51; die gleiche Konstellation wird übrigens auch in der angelsächsischen Moral- und Rechtsphilosophie (und gewiss ohne Kenntnis des Welzelschen Aufsatzes) erörtert; vgl. insb. Thomson, Rights, S. 39.
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Sicht der wesentliche Unterschied zwischen diesen Formen moralischen Entscheidens in der Aktivität der mit Emotionen korrelierten Hirnbereiche liege.297 Moralische Entscheidungsprozesse sind damit ebenso abhängig von bestimmten Hirnaktivitäten wie Entscheidungen ohne moralische Implikationen. Erstaunlich ist vor allem die Entdeckung von Greene und seinen Kollegen, dass zwischen der Entscheidung, einen Bus oder einen Zug zu nehmen, und der Entscheidung, Geld aus einer fremden Brieftasche zu behalten, aus hirnphysiologischer Sicht keine signifikanten Unterschiede in der Beteiligung emotionaler Bereiche bestehen. Im Folgenden soll die Bedeutung von Emotionen anhand der Entwicklung des einzelnen Menschen verdeutlicht werden und in Zusammenhang mit dem Verantwortungsgefühl für eine Handlung gebracht werden. Aufschluss hierüber gewährt ein Abgleich von Entwicklungspsychologie und Gehirnforschung.
2. Entwicklung In der frühen Embryogenese wird die Wanderung der Neuroblasten an ihren endgültigen Standort im Gehirn von genetisch bedingten Informationen gesteuert. Die Neuroblasten bilden Axone und Dendriden aus, die schließlich ihrerseits Synapsen bilden, um so mit anderen Neuronen kommunizieren zu können.298 Die Synapsendichte steigt bei Säugetieren in der späten Embryonalphase an. Dieser Anstieg erreicht sein Maximum in den ersten Lebensmonaten, wonach die Synapsendichte aufgrund von Selektion und Elimination unter dem Einfluss sensorischer Stimulation wieder zurückgeht.299 Dieser Vorgang lässt sich postnatal heute mittels SPECT und PET beobachten.300 Er wird größtenteils durch den Kontakt des Kindes mit seiner Umwelt beeinflusst.301 Die neuronalen Verbindungen entstehen also zunächst nach einem vorläufigen Muster, das nur eine grobe Annäherung an den endgültigen Zustand darstellt. Findet in der postnatalen Phase keine ausreichende Stimulation wichtiger Neuronenverbände statt, verlangsamt sich Beobachtungen zufolge die Entwicklung des Kindes.302 Etabliert scheint schließlich zu sein, dass es kritische zentralnervöse Entwicklungsphasen gibt, die offenbar einem präzisen genetischen Kalender _________________ 297
Siehe Greene et al., Science 293 (2001), S. 2107; Greene/Haidt, Trends in Cognitive Sciences 6 (2002), S. 522. 298 Siehe Dudel/Menzel/Schmidt-Menzel, S. 495. 299 Siehe Dudel/Menzel/Schmidt-Menzel, S. 498; s. auch Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 387 f.; Singer, Was kann ein Mensch wann lernen?, S. 47. 300 Zu diesen bildgebenden Verfahren vgl. die Ausführungen oben, S. 243 f. 301 Rothenberger, Enzyklopädie C/I 5, S. 351 f. 302 Siehe Rothenberger, Enzyklopädie C/I 5, S. 346.
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folgen. Werden bestimmte Fähigkeiten nicht bis zu einem gewissen Lebensalter erlernt oder einige Fehlentwicklungen des Nervensystems nicht innerhalb einer bestimmten Entwicklungsphase behoben, dann lassen sich die entstandenen Zustände später kaum mehr beheben.303 Jenseits der genetischen Veranlagung wird die Entwicklung des Nervensystems also auch durch die Qualität der Beziehung des Kindes zu seiner Umwelt beeinflusst.304 Im Gegensatz zu kognitiven Zentren ist das limbische System bereits vor der Geburt funktionstüchtig. Der Säugling erfährt daher bereits vor der Geburt emotional afferente Zustände der Mutter, die unbewusst verarbeitet werden.305 Erst mit zweieinhalb Jahren findet ein Reifesprung des präfrontalen Kortex hinsichtlich des dendritischen Längenwachstums und der synaptischen Feinverknüpfungen statt, wodurch die Ausbildung reflexiven Denkens und anderer höherer kognitiver Leistungen sowie des Ich-Bewusstseins stattfinden kann.306 Der Säugling verfügt danach bei der Geburt über ein emotionales System, welches sein Zu- oder Misstrauen gegenüber der Welt bereits beeinflusst, bevor eine bewusste rationale Reaktion stattfinden kann. Roth zufolge ist es daher fraglich, inwieweit später einsetzende bewusste Prozesse noch Einfluss auf bereits vorhandene emotionale Bewertungen nehmen können.307 Wegen des fehlenden Arbeitsgedächtnisses stehen alle Erlebnisse für das Neugeborene noch unverbunden nebeneinander. Sein Gehirn entwickelt sich jedoch so schnell, dass der Säugling bereits mit drei bis sieben Monaten in der Lage ist, einfache Handlungen zu verstehen und Erwartungshaltungen zu zeigen. In dieser Zeit entwickelt sich ein vorbewusstes Gedächtnis.308 Bis zum achtzehnten Lebensmonat hat der Säugling ein Konzept von innerer und äußerer Motivation entwickelt. Das Kind hat nun außerdem ein deklaratives Gedächtnis für Fakten und Ereignisse sowie ein Arbeitsgedächtnis entwickelt. Hinzu kommt, dass das Kind beginnt, sich seiner emotionalen Erlebnisse bewusst zu werden. Dabei spricht es jedoch in der dritten Person von sich selbst und geht noch davon aus, dass das innere Wesen bei allen Menschen gleich ist.
_________________ 303
Dies betreffe beispielsweise die Sehfähigkeit schielender Kinder oder Deprivationen sog. „Kaspar-Hauser-Kinder“; s. Rothenberger, Enzyklopädie C/I 5, S. 348; vgl. auch Singer, Was kann ein Mensch lernen?, S. 48. 304 Siehe Rothenberger, Enzyklopädie C/I 5, S. 352; vgl. auch Teuchert-Noodt/ Schmitz, S. 146 f. 305 Siehe Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 382; Teuchert-Noodt/Schmitz, S. 140. 306 Siehe Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 391 f. 307 So Roth, Eröffnungsvortrag 1998. Vgl. dazu auch Teuchert-Noodt/Schmitz, S. 141. Siehe zum empirischen Nachweis daneben M. Pauen, Selbstbewußtsein, S. 113–116. 308 Vgl. L. Köhler, S. 153 ff.
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Es projiziert, mit anderen Worten, die eigenen emotionalen Erlebnisse und Erwartungen in andere Menschen.309 Bis zum sechsunddreißigsten Monat hat sich ein reflexives Bewusstsein entwickelt. Das Kind gebraucht nun Wörter wie „ich“ oder „mein“, ohne dass ihm jedoch deren Bedeutung unbedingt bewusst ist.310 Erst zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr bilden sich klare Erinnerungen, das Kind erkennt die persönliche Bedeutung von Sachen, beginnt Vorhersagen zu treffen und über seine inneren Absichten Auskunft zu geben.311 Komplexere kognitive Leistungen wie operationales Denken entwickeln sich im Alter von sieben bis elf Jahren mit der Ausreifung des präfrontalen Kortex. Vom Ende des zehnten Lebensjahres an zeigt sich die Fähigkeit zu abstrakt logischem Denken. Es können komplizierte Verhaltensentscheidungen in komplexen Situationen getroffen werden, die mit der Entwicklung des orbifrontalen Kortex einhergehen. Die neuronale Grundlage für „vernünftiges“ Verhalten beginnt sich zu entfalten. Der Reifungsprozess des Neocortex312 als Träger des bewussten Ichs ist schließlich erst mit dem Ende der Pubertät abgeschlossen.313 Der Vergleich von Entwicklungspsychologie und Gehirnforschung macht deutlich, dass das Verständnis des Menschen von sich und seiner Umwelt mit der Entwicklung seines Gehirns einhergeht. Das Ich-Gefühl und damit den Eindruck, Initiator von Handlungen zu sein, bringt der Mensch nicht mit auf die Welt. Ebenso wie das Kind mit drei Jahren einen Namen auf sich bezieht und diesen verwendet, um sein inneres Erleben oder seine subjektiven Zustände auszudrücken („Hans hat Hunger.“), erlernt es auch die Rückführung von Handlungen auf die Initiative seines Willens. Mit dem bewussten „Ich“ verbindet sich wegen seiner erst späten Entwicklung über Sprache und Erziehung eine soziale Komponente. Es entwickelt sich damit lange nachdem die wesentlichen emotionalen Bewertungskriterien herausgebildet wurden.314 Roth nimmt daher an, dass das mit dem Ich-Gefühl _________________ 309
Siehe L. Köhler, S. 166 ff. Vgl. L. Köhler, S. 175 ff. 311 So Roth, Eröffnungsvortrag 1998; vgl. auch ders., Grundlagen, S. 203; S. Pauen, S. 291 ff.; Newen, S. 40 ff. 312 So bezeichnet, weil er phylogenetisch erst bei Säugern auftritt. 313 Siehe Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 392; vgl. auch Singer, Was kann ein Mensch lernen?, S. 54. Nach Rothenberger geht aus Messungen mittels SPECT und PET hervor, dass der Metabolismusanstieg, der mit dendritischer Entwicklung und Synaptogenese einhergeht, zuerst in tiefer liegenden Regionen und im primären Kortex beobachtet wird und erst danach in assoziativen Hirnrindenbereichen (Enzyklopädie C/I 5, S. 351). 314 Vgl. auch Singer: „Abwägungsstrategien, Bewertungen und implizite Wissensinhalte, die über genetisch Vorgaben, frühkindliche Prägung oder unbewusste Lernvor310
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einhergehende Bewusstsein nur ein besonderes Hilfsmittel ist, das eingesetzt werde, wenn komplexe neuartige Situationen auftauchten, für welche die bisherige Erfahrung keine Lösung anbiete.315 Aus der zeitlich verzögerten Entwicklung des Selbstbewusstseins gegenüber dem biologisch-egoistisch arbeitenden Bewertungssystem könnten Konflikte im Sozialverhalten entstehen, die sich das Individuum selbst nicht erklären kann oder wofür es fadenscheinige Begründungen angibt.316 Denn die tatsächlichen Antriebe und Grundstrukturen des Handelns seien, weil weitestgehend unbewusst erworben, dem Individuum nur zu einem geringen Teil einsichtig.317 Dafür spreche auch, dass die Bahnen, die von Gehirnarealen der unbewussten Verarbeitung zu der an Bewusstseinsprozessen beteiligten Großhirnrinde führen, viel stärker ausgeprägt sind als die Bahnen in umgekehrter Richtung. Hieraus schließt Roth, dass bewusste Vorgänge stark vom unbewussten limbischen System beeinflusst werden, selbst aber nur geringe Einwirkungsmöglichkeiten zurück haben.318 „Das Bewußtsein kann deshalb auch nicht herausbekommen, woher Gedanken, Gefühle und Antriebe kommen, und nimmt fälschlich an, daß sie von ihm selbst stammen oder ,aus heiterem Himmel‘. Gleichzeitig stellt unser Bewußtsein fest, daß das Gehirn und unser Körper etwas tun, und hält sich ebenso fälschlich für den wahren Verursacher.“319
3. Zielvorstellungen Wie sich bereits bei der Diskussion des Handlungsbegriffs herauskristallisiert hat, ist es nicht nur das Erleben des Entschlusses, eine unmittelbare Bewegung auszuführen, welches dem Menschen sein Freiheitsgefühl vermittelt, sondern daneben auch der Eindruck, entferntere Zielvorstellungen umsetzen zu können. Zwar wurden im Libet-Experiment nur einfache willkürliche Bewegungen mit unmittelbar vorangehenden Willensentschlüssen untersucht. Die _________________
gänge ins Gehirn gelangten und sich deshalb der Bewußtmachung entziehen, stehen [...] nicht als Variablen für bewußte Entscheidungen zur Verfügung. Gleichwohl aber wirken sie verhaltenssteuernd und beeinflussen bewußte Entscheidungsprozesse (Verschaltungen, S. 59). 315 Siehe Roth, Pseudoherrschaft (Interview Marzluf), S. 1. 316 Siehe Roth, Pseudoherrschaft (Interview Marzluf), S. 4. 317 Siehe Roth, Vortrag, S. 1; vgl. auch Singer: „Es scheinen [...] nur solche Erregungsmuster bewußt zu werden, die zumindest Teillösungen repräsentieren“ (Grenzen, S. 294). 318 Siehe Roth, Vortrag, S. 6. 319 Roth, Vortrag, S. 7; vgl. auch Singer: „Wenn die Prämisse gilt, daß neuronale Prozesse erst dann bewußt werden können, wenn sie sich Lösungen nähern, dann bleibt die Erfahrung, frei zu sein, widerspruchsfrei, weil wir uns der Aktivitäten nicht gewahr werden, welche die Entscheidungen vorbereiten“ (Grenzen, S. 296 f.).
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Überlegung aber, dass der subjektive Wille dann vielleicht als über einen längeren Zeitraum planende Zielvorstellung Handlungen beeinflussen könnte, ignoriert nach dem Gesagten die Tatsache, dass diese Zielvorstellung ebenfalls nicht ohne neuronale Korrelate entsteht.320 Wohl mag man sagen, dass ohne die erlebten Zielvorstellungen auch die Handlung sehr wahrscheinlich anders ausgefallen wäre und darin eine Form der „Mitverursachung“ von Handlungen durch subjektives Erleben sehen; diese Mitverursachung begründet aber keinerlei „Freiheitsspielraum“ im herkömmlichen und für die Zuweisung von Schuld erforderlichen Sinne.321 Roth und seine Kollegen nehmen an, dass die Aufnahme der Zielrepräsentation in das neuronale Korrelat des Bewusstseins dazu dienen könnte, diese Neuronennetze für verschiedene, anatomisch möglicherweise weit auseinander liegende Teilprozesse des Nervensystems zur Verfügung zu stellen. Das neuronale Korrelat der bewussten Zielvorstellung scheine gegenüber dem neuronalen Korrelat einer einfachen bewussten Vorstellung einen besonderen Zugriff auf das motorische System zu haben, so dass die Differenz zwischen der Repräsentation des aktuellen Zustandes und der des Zielzustandes minimiert werden könnte. Eine solche Interpretation der Handlungsorganisation stimme auch überein mit dem phänomenologischen Faktum der Attraktivität des Ziels.322 Anzunehmen sei, so die Theorie von Lotte Köhler, dass die subjektiv erfahrenen Zielvorstellungen oder Intentionen einen Zweck erfüllten. Ihre neuronalen Korrelate seien vermutlich die Grundlage für ein Bewusstsein von dem zukünftigen Verhalten anderer, wodurch ein Selektionsvorteil entstünde.323 Einen neuen Ansatz im Verständnis des Zusammenhanges zwischen Wahrnehmung und gezielter Handlung hat Prinz entwickelt. In seinem Arbeitsmodell ordnet er, kurz zusammengefasst, zunächst jeder Bewegung eine beliebige Anzahl mit ihr einhergehender, wahrnehmbarer Effekte, unter anderem Veränderungen in der Umwelt, zu. Da die jeweilige Bewegungsausführung regelmäßig mit diesen Effekten einhergeht, kann dieser Wirkungszusammenhang erlernt werden. Es bilden sich sogenannte „Handlungscodes“, das heißt entferntere Effekte („Zielcodes“) werden mit den hierzu erforderlichen Bewegungen („Bewegungscodes“) kombiniert und im Gedächtnis niedergelegt. Die motorische Ausführung der Bewegungen ist ihrerseits erlernt und an den Bewegungs_________________ 320
Vgl. dazu Roth, Lampe-FS, S. 53 f.; ders., Fühlen, Denken, Handeln, S. 526. Vgl. dazu auch die Kritik an der Identitätstheorie, die ebenfalls eine Kausalität des Bewusstseins zu erklären vermag, S. 300, sowie unten, S. 324. 322 Siehe Roth et al., Die funktionale Rolle des bewußt Erlebten, S. 16. 323 Vgl. L. Köhler, S. 167. Auch hier gilt freilich, dass das Gehirn oder seine neuronalen Strukturen keine Intentionen oder Vorstellungen bilden. Sie operieren auf der Basis vorhandener Netzwerke, weshalb die mentale Repräsentation in Gestalt einer Vorstellung nicht mit den korrelierten neuronalen Vorgängen zu verwechseln ist. 321
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code gebunden. Mit der Aktivierung eines Handlungscodes und der Spezifizierung der geeigneten Bewegung wird damit auch die hierfür erforderliche Motorik abgerufen.324 Da Handlungscodes lediglich gespeicherte Wahrnehmungen von Ereignissen repräsentieren, werden mit jeder entsprechenden aktuellen Wahrnehmung auch Handlungstendenzen induziert, denn die aktuell wahrgenommenen Ereignisse sind, zergliedert in Einzeleffekte, bereits in den Handlungscodes gespeichert und werden entsprechend abgerufen. Wahrnehmung und Handlung stünden danach in einem Wirkungszusammenhang, in dem „die Endprodukte der Wahrnehmung aus dem gleichen Stoff gemacht sind wie die Ausgangsprodukte der Handlungssteuerung“.325 Auch nach diesem Modell entfällt also die subjektive Willenserscheinung als handlungsauslösender Faktor. Handlungsverursachend sind Prozesse, die sich nach Ansicht Prinz’ im Prinzip neurobiologisch beschreiben lassen.326
4. Grenzen subjektiven Erlebens Es soll nun ein Thema aufgegriffen werden, das bereits im ersten Teil dieser Arbeit kurz gestreift wurde und auch im zweiten und dritten Teil immer wieder eine Rolle spielte. Es geht um die Verlässlichkeit des eigenen subjektiven Erlebens. Trugschlüsse im subjektiven Erleben sind in der Gehirnforschung seit langem bekannt und liefern einen weiteren Hinweis darauf, wie eng Gehirnfunktionen und subjektives Erleben miteinander verbunden sind. Dieser Zusammenhang lässt sich an Patienten mit Gehirnläsionen, insbesondere der „Anosognosie“ gut studieren. Anosognosie wird eine Krankheit genannt, bei welcher der Patient seine neurologischen Ausfälle selbst nicht erkennt oder zur Kenntnis nimmt. In der Regel liegt hier eine Verknüpfung zwischen zwei Krankheiten vor. Die eine besteht zum Beispiel in einer einseitigen Lähmung nach einem Schlaganfall oder im Verlust motorischer Kontrolle, die andere in der Schädigung bestimmter Areale des Gehirns, bei denen man davon ausgeht, dass sie das subjektive Erleben beeinflussen. Nach Roth überlieferte Seneca den ältesten bekannten dieser Fälle, in welchem eine Patientin den Ausfall ihres Sehvermögens damit erklärte, dass es bei ihr zu Hause so dunkel sei.327 Roth berichtet außerdem: „Fordert man Anosognosie-Patienten, die eine Lähmung der linken Körperhälfte haben, auf, die linke Hand zu reichen, so ignorieren sie entweder die Aufforderung, versuchen abzulenken oder geben Pseudoerklärungen wie: ,Ich kann den Arm _________________ 324
Siehe Prinz, Z Psychol 208 (2000), S. 43 ff. Prinz, Z Psychol 208 (2000), S. 46. 326 Siehe Prinz, Z Psychol 208 (2000), S. 40. 327 Roth, Gehirn, S. 216. 325
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nicht heben, weil ich so müde bin.‘ “328 In einem anderen Fall habe ein Patient statt der linken die rechte Hand gegeben und, als er darauf aufmerksam gemacht wurde, behauptet, er habe drei Hände, eine linke, die er tatsächlich nicht bewegt hatte, die rechte, die er seiner Meinung nach nicht bewegt hatte und eine imaginäre dritte, die nach seiner Ansicht vorhanden sein musste, weil sein Gehirn meldete, dass tatsächlich eine Hand bewegt wurde.329 Die Krankheit kann sich auch daran zeigen, dass Gliedmaßen als fremd angesehen werden. Patienten behaupteten dann, man habe ihnen über Nacht ein fremdes Bein angenäht oder ins Bett gelegt.330 Diese Fälle verdeutlichen die Abhängigkeit des subjektiven Erlebens von funktionierenden Gehirnprozessen und lassen damit die Verlässlichkeit des eigenen Empfindens nur als relativ erscheinen.331 So stellten Fried und seine Kollegen bei Untersuchungen fest, dass eine elektrische Stimulation des SMA unterschiedliche Gefühle bei den Probanden hervorrief. Einige berichteten von einem „Drang“ zur Bewegung, andere hatten den Eindruck, eine Bewegung ihres Körpers stünde unmittelbar bevor.332 Die Ähnlichkeit zum Erleben der Probanden Libets bedarf kaum eines Hinweises. Es erscheint damit möglich, dass auch das Gefühl, welches in der strafrechtlichen Versuchslehre mit den Worten „Jetzt-geht-es-los“ umschrieben wird, eine Folge neuronaler Prozesse im Bereich des SMA ist, die automatisch eingeleitet werden, sobald ein Abgleich der aktuellen Situation mit gespeicherten Informationen ein bestimmtes Bewegungsmuster aktiviert. Ein solches Erleben ist jedoch für die betroffene Person ebenso real wie die ohne äußere Einwirkung auf das Gehirn erzeugten Erlebniszustände. Denn ebenso wie Anosognosie-Patienten können sich auch gesunde Menschen nicht außerhalb ihres eigenen Erlebens stellen. Auch sie sind also nicht in der Lage, eine ihnen rational und emotional sinnvoll erscheinende Motivation objektiv noch weiter zu hinterfragen.333 „Falsche“ Motivationen können jedoch nicht nur im Organismus selbst erzeugt, sondern ebenso von außen vermittelt werden. Denn jeder Abruf einer Erinnerung verändert, Lotte Köhler zufolge, die ursprüngliche Erinnerung bei _________________ 328
Roth, Gehirn, S. 217. Vgl. Roth, Gehirn, S. 217. 330 Vgl. Roth, ebd. 331 Dazu auch Roth, Lampe-FS, S. 56. 332 Fried et al., The Journal of Neuroscience, S. 3658 ff.; vgl. dazu auch Lang/ Deecke, Enzyklopädie C/I 5, S. 234. Eine Beteiligung des SMA konnten auch Naito et al. ausmachen, als sie durch Stimulation des Bizeps Tendon mit 70–80 Hz Frequenzen lediglich die Illusion einer Armbewegung hervorriefen (s. Naito et al., The Journal of Neuroscience 19/14 [1999], S. 6137 ff.). 333 Vgl. auch Singer, FAZ v. 8.1.2004, S. 33. 329
Kapitel 3: Neuronale Determination und subjektives Freiheitserleben
323
Kindern wie auch bei Erwachsenen. Da aber auch leicht veränderte Gegebenheiten bei einem Neuabruf in die Erinnerung eingebaut würden, stehe die ursprüngliche Erinnerung nicht mehr zur Verfügung. Dies sei für Zeugenaussagen von Belang.334 Erinnerungen und entsprechend die subjektiven Aussagen über eine Motivation wären damit nur mit weit größerer Vorsicht zu verwerten, als dies dem persönlichen Erleben des Aussagenden entspricht, der die eigene Erinnerung regelmäßig für eine getreue Wiedergabe des tatsächlich Geschehenen hält.335 Zu dieser Verwechslung kommt es, weil der Mensch in seinem Erleben abhängig ist von den neuronalen Vorgaben seines Gehirns. Außerhalb des bestehenden biologischen Systems ist es ihm nicht möglich zu denken oder zu fühlen. Wegen des Fehlens eines Einblicks des erlebten „Ichs“ in neuronale Prozesse sind ihm damit Grenzen gesetzt. Weil der Mensch keine Kenntnis von den komplizierten neuronalen Vorgängen habe, die dem erlebten Willen und jeder Handlung unmittelbar vorangehen, komme er, so Roth, zu dem Eindruck, der Wille stünde außerhalb kausaler Verursachung und steuere unmittelbar die Handlungen.336 Deshalb nehme der Mensch an, selbstbestimmte Gründe und nicht natürliche Ursachen steuerten sein Handeln. „Es ist diese Selbstzuschreibung, die uns das Gefühl, etwas frei zu wollen, vermittelt.“337 Diesen Ansatz verfolgt auch der amerikanische Psychologe Wegner. In mehreren Versuchen hat er die „erlebte“ kausale Rolle des Mentalen in Bezug auf das Verhalten in Zweifel gezogen. Es zeigte sich, dass Probanden sich bei bestimmten Versuchsanordnungen Verhaltensweisen zuschrieben, die tatsächlich fremdverursacht waren. Als Willensbetätigung wird nach Wegner eine Bewegung erfahren, wenn Gedanken als Ursache der Bewegung interpretiert werden. Dazu ist _________________ 334
Vgl. L. Köhler, S. 157; vgl. auch Machleidt, S. 478 f. Bestätigung findet dies durch die Untersuchungen von Elizabeth F. Loftus. Sie zeigte, wie leicht Erwachsene dahingehend zu beeinflussen sind, „falsche“, also nicht tatsächlich erlebte Erinnerungen, als eigene Erinnerungen anzunehmen. Derartiges könne nach Ansicht Loftus bei polizeilichen Verhören wie auch bei therapeutischen Sitzungen auftreten. Ein lediglich vorgestelltes Ereignis „schleicht“ sich dabei in die Erinnerung und wird später als tatsächlich erlebt empfunden. Besonders einfach zu manipulieren seien dabei die ohnehin nur lückenhaft vorhandenen Kindheitserinnerungen. „Offensichtlich wird einem ein intensiv vorgestelltes Ereignis scheinbar vertrauter, und diese Vertrautheit bringt man dann irrtümlich mit Kindheitserinnerungen in Verbindung statt mit dem Vorstellungsakt. Eine solche Quellenverwechslung – bei der man sich nicht mehr an die Herkunft der Information erinnert – ist in Zusammenhang mit den entlegenen Ereignissen der Kindheit oft besonders ausgeprägt“ (Loftus, Spektrum der Wissenschaft/Digest 2 [2001], S. 64 f.; vgl. auch dies., Nature Reviews: Neuroscience 4 [2003], S. 231 ff.). 335 Vgl. zu diesem Problem auch Singer, Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen, S. 78 f. 336 Vgl. Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 397; vgl. auch Singer, Verschaltungen, S. 50. 337 Roth, Fühlen, Denken, Handeln (1. Aufl.), S. 445.
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Teil 3: Voraussetzungen der Schuld im Lichte der Neurowissenschaften
erforderlich, dass der Gedanke inhaltlich mit der Bewegung übereinstimmt, dass dieser Gedanke der Bewegung eine bestimmte Zeitspanne vorangeht und dass für den Handelnden andere Ursachen der Bewegung nicht in Betracht kommen. Tatsächlich gehen Wegner zufolge Gedanken und Bewegungen jeweils unbewusste Ursachen voran; Bewegungen würden nicht durch Gedanken verursacht.338 Auch Prinz weist darauf hin, dass sich die Psychologie auf fast allen Forschungsgebieten mit Ausnahme der Willens- und Handlungstheorie schon seit langer Zeit von der Vorstellung verabschiedet habe, „dass die Beobachtung der eigenen geistigen Tätigkeit ein auch nur annähernd zutreffendes Bild von den zugrundeliegenden kognitiven Prozessen liefern kann“.339
II. Exkurs: Epiphänomenalismus Wenn Handlungen auf neuronalen Prozessen beruhen und nicht durch den Willen verursacht werden und auch Zielvorstellungen nicht geeignet erscheinen, Handlungsabläufe zu beeinflussen, dann drängt sich die Annahme auf, dass der menschliche Geist etwas sein könnte, das zwar irgendwie vorhanden ist, dem aber keinerlei Funktion zukommt. Libet fiel es schwer, das Bewusstsein als eine bloße „Begleiterscheinung“ zu begreifen, die ohne jeden Einfluss auf unsere Handlungen bleibt. Aus einer solchen Qualifizierung (oder Disqualifizierung) des Bewusstseins zum „Epiphänomen“ würde folgen, dass wir unsere Handlungen auch ohne Bewusstsein ganz genauso vollziehen würden.340 Dieser Vorstellung einer vollständigen und durchgängigen Substrahierbarkeit des Bewusstseins vom menschlichen Handeln, ohne dass dieses Handeln selbst im Mindesten modifiziert würde, liegt ersichtlich ein dualistischer Trugschluss zugrunde. Denn es wird nicht berücksichtigt, dass die neuronalen Prozesse ihrerseits andere wären, wenn die konkrete Entscheidung nicht subjektiv erfahren würde. Roth führt die Beobachtung an, dass Patienten mit schweren IchStörungen zugleich massive Verhaltensstörungen aufweisen341, eine Tatsache, die deutlich macht, dass nicht einfach bestimmte subjektive Phänomene weggedacht werden können, ohne dass sich der gesamte Organismus verändert. Das heißt nicht, dass die subjektive Entscheidung die neurobiologischen Prozesse beeinflusst, wohl aber, dass die neuronalen Korrelate dieser subjektiven Entscheidung für den nächsten neuronalen Zustand mitbestimmend sind. Das _________________ 338
Vgl. Wegner/Wheatley, American Psychologist 54 (1999), S. 480 ff.; D. M. Wegner, Illusion, S. 63 ff.; zustimmend Markowitsch, Psychologische Rundschau 55 (2004), S. 167. 339 Prinz, Z Psychol 208 (2000), S. 41. 340 Vgl. auch die Darstellung des Epiphänomenalismus bei Searle (2001), S. 13 ff. 341 Siehe Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 395.
Kapitel 3: Neuronale Determination und subjektives Freiheitserleben
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menschliche Bewusstsein kann daher nicht hinweggedacht werden, ohne dass sich zugleich auch neuronale Prozesse und damit das gesamte Verhalten verändern würden. Im Übrigen kommt dem bewussten Erleben in der Entwicklungsgeschichte des Menschen als auch in der von Tieren ganz offenkundig eine wichtige Funktion zu. Jedenfalls erweitert es insbesondere mit den Gedächtnisleistungen die Handlungsmöglichkeiten des jeweiligen Organismus. Eine Bedeutung des Bewusstseins für das Verhalten ist damit schwerlich in Abrede zu stellen. Aber für die Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten, die dem spezifisch menschlichen „Ich-Bewusstsein“ zugesprochen werden, spricht damit allein ersichtlich eben noch nichts.
Teil 4
Fazit Kapitel 1
Zur Annahme willentlicher Verhaltenssteuerung im Strafrecht I. Die willentliche Verhaltenssteuerung in der Dogmatik Der normative Rahmen, in dem Schuld zugesprochen wird, findet im Strafprozess eine faktische Grenze in den empirischen Sachverhalten, die der rechtlichen Beurteilung zugrunde liegen. Zu ihnen wird allgemein die willentliche Verhaltenssteuerung gerechnet, die als begriffliches Konglomerat aus subjektivem Erleben und metaphysischer Überzeugung über die Konzeption eines „allgemeinen, von jedem geteilten Erlebens“ als eine der abstrakten Bedingungen strafrechtlicher Schuld gilt. Dass sie im Strafprozess als (vermeintlich) empirisches Faktum in Erscheinung tritt, ergab zunächst eine Analyse der Kriterien, die für das Vorliegen einer Nichthandlung sprechen.1 Ließe man hier die willentliche Steuerung als Kriterium der Abgrenzung von Handlungen und Nichthandlungen entfallen, stünde kein durchgängig anwendbares Abgrenzungsmerkmal mehr zur Verfügung, sondern nur noch eine Gruppe unzusammenhängender einzelner Kriterien mit jeweils bloß beschränkter Reichweite, orientiert am Bewusstsein oder – im Fall von Reflexhandlungen – an der bloßen neuronalen Verarbeitung von Stimuli der Außenwelt. Es gäbe jedoch keine alle Nichthandlungen umfassende Systematik mehr, mittels deren sich für jeden Einzelfall ableiten ließe, wann eine Nichthandlung vorliegt. Daneben wird auch unter dem systematischen Titel „Vermeidbarkeit“ danach gefragt, ob ein anderes als das tatsächlich vollzogene Verhalten hätte realisiert werden können. Da diese Möglichkeit aber ihrerseits wenigstens willentliche Verhaltenssteuerung voraussetzt, eröffnet sie sich nur bei Vorliegen einer Handlung, setzt also all das voraus, was bereits für die Handlungsqualität gefordert wird.2 Schließlich ist die bewusste Kenntnis des eigenen Verhaltens als eines objektiven Tatumstands im Sinne des § 16 Abs. 1 StGB unabdingbare Voraussetzung für die _________________ 1 2
Siehe oben, S. 143 ff., 158. Vgl. oben, S. 187 ff., 207 f.
Kapitel 1: Zur Annahme willentlicher Verhaltenssteuerung im Strafrecht
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Bejahung der inneren Tatseite. Dieser subjektive Erlebnisgehalt einer Willensbetätigung bezieht sich entweder auf das unmittelbar den Verletzungserfolg herbeiführende Verhalten3 oder auf ein dem Erfolg zeitlich vorangehendes, einen Sorgfaltspflichtverstoß begründendes Verhalten.4 Es handelt sich insoweit einerseits beim „natürlichen Willen“ als Voraussetzung einer Handlung (der Willensbetätigung) lediglich um ein „Minus“ gegenüber dem „Vorsatzwillen“5, andererseits zeigt sich an der Anerkennung der unbewussten Fahrlässigkeit als eines möglichen tatbestandsmäßigen Verhaltens, dass nicht nur eine Fähigkeit zur realen Willensbetätigung, sondern auch eine solche zur Willenserzeugung verlangt wird (wobei die letztere Forderung das Postulat eines kognitiven Aktes – nämlich: eine bestimmte Wahrnehmung zu haben beziehungsweise zu machen – einschließt). Diese Anforderungen harmonieren mit der üblichen Vorstellung, das Bewusstsein gehe dem Verhalten mit zeitlichem Vorsprung voran; denn dann und genau deshalb – so diese Auffassung – kann ein normativ „vernünftiger“ Wille gebildet (und gegebenenfalls die Unrechtseinsicht im Sinne von § 17 StGB erlangt) werden, der seinerseits das anschließende Verhalten erzeugt. Ausgehend von den neurowissenschaftlichen Untersuchungen Libets und anderer lassen sich die Bedingungen der Entstehung menschlichen Verhaltens jedoch mit diesen Vorstellungen eines steuernden beziehungsweise erzeugbaren Willens nicht in Einklang bringen. Da die bewegungseinleitende neuronale Aktivität immer vor dem subjektiv erlebten Willensentschluss zur Durchführung der konkreten Bewegung einsetzt, kann dem Willen keine Initiativfunktion für die Bewegung zukommen.6 Ein vorangegangener allgemeiner Entschluss, irgendwann eine bestimmte Bewegung auszuführen, versagt nicht nur bei der Erklärung des Aufbaus mehrerer Bereitschaftspotentiale, sondern ist als dolus antecedens auch strafrechtlich kein tauglicher Anknüpfungspunkt. Daneben kann auch das Zustandekommen dieses Entschlusses nicht unbesehen als Letztbegründung einer Verhaltensweise postuliert werden. Denn auch dem bewussten Entschluss oder der bewussten Planung gehen unbewusste neuronale Aktivitäten voran, ohne die Bewusstsein nicht entstehen kann und die ihrerseits der menschlichen Willkür entzogen sind. Von diesem Mangel einer Initiativfunktion abgesehen, kommt dem Willen aber _________________ 3
Siehe oben, S. 213 ff., 221. Dazu oben, S. 222 ff., 232. 5 Genauer – da viele einen echten Vorsatzwillen nicht verlangen: die Vorsatzkenntnis muss, soweit sie sich auf die sorgfaltswidrige Handlung bezieht, natürlich auch deren Voraussetzungen, also auch den natürlichen Handlungswillen umfassen. Man kann aber nicht sinnvoll sagen, jemand wisse, dass er einen Willen hat, weil dies über die Feststellung hinaus, dass er eben diesen Willen hat, keinerlei zusätzliche Aussage enthält. Daher gehört zur Vorsatzkenntnis notwendig das Element des „natürlichen Willens“ zur Handlung. 6 Dazu oben, S. 307 f. 4
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Teil 4: Fazit
auch keine Wahlfunktion zu.7 Im neurowissenschaftlichen Experiment lässt sich anhand der Lokalisation der neuronalen Aktivität bereits vor dem Bewegungsbeginn erkennen, mit welcher Körperhälfte die Bewegung ausgeführt werden wird; und das bedeutet, dass eine Spezifikation bereits erfolgt ist. Darüber entscheidet also nicht erst der erlebte Willensentschluss. Schließlich kommt dem menschlichen Willen auch keine Vetofunktion zu.8 Denn der erlebte Willensentschluss bei den Willkürbewegungen steht seinerseits in Abhängigkeit von neuronaler Aktivität. Hierauf deutet insbesondere die Möglichkeit hin, durch künstliche Stimulation eines bestimmten Hirnareals das subjektive Erleben eines Willensentschlusses hervorzurufen. Entsteht das subjektive Erleben und mit ihm der erlebte Wille selbst in Folge neuronaler Aktivität, dann wird auch der Abbruch einer Bewegung lediglich von dem Erleben eines „Abbruchwillens“ begleitet und nicht hierdurch hervorgerufen. Mit diesen Erörterungen wird zunächst nur die Strafbegründungsschuld berührt. Da die Annahme der Möglichkeit einer willentlichen Verhaltenssteuerung aber sowohl Elemente der Außenperspektive (das wahrnehmbare Verhalten) als auch der Innenperspektive (den nur subjektiv erfahrbaren Willen) umfasst, wird mit ihr eine Brücke von der empirisch zugänglichen Außenwelt, in der die Willensbetätigung erfolgt, zur Innenwelt geschlagen, in der allenfalls eine strafrechtlich relevante Willensbildung stattfinden kann. Hiervon wird somit auch die Annahme von „Willensfreiheit“ berührt, und deshalb sind die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse auch für die Voraussetzungen der Schuldidee bedeutsam, die nach verbreiteter Auffassung eben jene Annahme eines freien Willens voraussetzt.9 Die Konsequenzen für die behandelten strafrechtsdogmatischen Voraussetzungen und Schuldtheorien sollen daher noch einmal im Lichte der neurowissenschaftlichen Erkenntnisse betrachtet werden.
1. Sachliches Kriterium zur Differenzierung? Die zur Bewertung, Abgrenzung und rechtlich unterschiedlichen Behandlung von Sachverhalten herangezogenen Kriterien müssen nach dem Bundesverfassungsgericht sachlich begründet sein, um den Forderungen des Art. 3 Abs. 1 GG zu genügen.10 Soll also nach unserem Strafrecht die willentliche Verhaltenssteuerung eine Voraussetzung strafrechtlicher Schuld sein, so muss man zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Verhaltensweisen unterscheiden _________________ 7 8 9 10
Dazu oben, S. 298. Siehe oben, S. 296 ff. Vgl. dazu oben, S. 31 ff. Dazu oben, S. 119 ff.
Kapitel 1: Zur Annahme willentlicher Verhaltenssteuerung im Strafrecht
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können. Diese Bewegungen lassen sich nicht nur mittels der Messung der damit einhergehenden neuronalen Aktivität unterscheiden11; vielmehr legen Menschen mit Störungen des subjektiven Erlebens auch äußerlich andere Verhaltensmuster an den Tag,12 so dass sich insoweit vom subjektiven Erleben als einer Bedingung bestimmter Verhaltensweisen sprechen lässt. Diese Unterschiede allein berechtigen jedoch nicht dazu, Verantwortlichkeit mit der Existenz erlebten Willens zu begründen. Auch wenn man hinzufügte, dass der Bewegung ein subjektiv erlebter Wille zwar nur Sekundenbruchteile, aber jedenfalls regelmäßig vorangeht, wodurch im Übrigen sehr wahrscheinlich auch das subjektive Erleben einer willentlichen Verhaltenssteuerung und damit einer geistigen Einflussmöglichkeit auf die Bewegung hervorgerufen wird, reichte dieser Umstand nicht, um Verantwortung zu begründen. Man könnte den Willen zwar als insofern „kausal“ für das Verhalten ansehen, als dieses ohne das subjektive Erleben anders ausfallen würde. Für eine Zurechnung bedarf es aber, wie sich aus den Voraussetzungen der Strafbegründungsschuld ergibt, einer objektiv feststellbaren Möglichkeit zur Steuerung, die von den neurowissenschaftlichen Untersuchungen gerade nicht bestätigt wird. Vielmehr erweist sich in deren Licht eine entsprechende Annahme als unhaltbar. Im Hinblick auf diesen objektiven Befund wurde im ersten Teil dieser Arbeit zunächst festgestellt, dass das Zurücktreten subjektiver Überzeugungen hinter erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnissen im Strafprozess das Ergebnis einer historischen Entwicklung des Rechts ist.13 Sie war als solche nicht selbstverständlich (wie sich an den frühneuzeitlichen Diskussionen um die Flugfähigkeit von Hexen ablesen lässt), hat sich jedoch ohne Abstriche und mit guten Gründen durchgesetzt. Aber nicht nur die subjektive Überzeugung des Richters muss sich an objektiven Anhaltspunkten festmachen, sondern ebenso das dem Strafverdikt zugrunde gelegte subjektive Erleben des Täters, das dem Richter stets nur mittelbar, vermittelt eben über objektive Anhaltspunkte, zugänglich ist. Der Sachverhalt wird im Strafprozess also gänzlich objektiviert, sei es auch nur auf der Grundlage von Evidenzen und bestimmten Rekonstruktionen. Es wurden daher im zweiten Teil der Arbeit die dogmatischen Voraussetzungen der Schuld unter dem Aspekt untersucht, ob auf der Grundlage empirischer Evidenz sachgerechte Ergebnisse mit der willentlichen Verhaltenssteuerung als Differenzierungskriterium erzielt werden können. Die Schwierigkeiten ließen sich am Beispiel der automatisierten Verhaltensweisen, insbesondere der Spontanreaktionen, gut demonstrieren. Denn die Spontanreaktionen stehen den Reflexen, denen die strafrechtliche Relevanz abgesprochen wird, vom inneren Erleben her näher als willkürliches Verhalten, sie sind jedoch, soweit es sich _________________ 11 12 13
Siehe dazu oben, S. 296 f. Dazu oben, S. 324. Vgl. oben, S. 119 ff., 133.
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Teil 4: Fazit
um komplexe Bewegungsabläufe handelt, äußerlich von Willkürbewegungen nicht zu unterscheiden. Da sich einerseits die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass ein großer Teil alltäglicher Bewegungen automatisch, das heißt ohne bewusste Teilnahme abläuft, andererseits nur schwer vorstellbar ist, dass diese Bewegungsabläufe ohne willentliche Kontrolle ablaufen könnten, besteht ein Bedürfnis – viele würden wohl sagen ein Erfordernis –, die automatisierten Verhaltensweisen nicht von vornherein als strafloses Verhalten zu deklarieren. Dies führt jedoch auf den verschiedenen Ebenen der Deliktsprüfung zwangsläufig zu Inkonsistenzen. Insbesondere bei den Spontanreaktionen im Kraftfahrzeugverkehr kann der zeitliche Verzug bewusster Wahrnehmung selbst indirekt erlebt werden, was dazu führt, dass sie subjektiv als nicht willentlich gesteuert empfunden werden. Möglich ist dies aber auch bei anderen automatisierten Verhaltensweisen, die gerade aus diesem Grunde auch als „automatisiert“ bezeichnet werden. Die subjektive „empirische Evidenz“ willentlicher Verhaltenssteuerung, auf die deren Zuschreibung zum Täter nach vorherrschender Auffassung gegründet werden muss und kann, versagt damit immer dort, wo Verhaltensweisen ins Spiel kommen, die sich der Täter selber nicht zuschreibt, weil er sie als nicht willentlich gesteuert erlebt. Denn empirisch evident ist bei diesen Verhaltensweisen im Gegenteil, dass sie gerade ohne Antriebs- und Steuerungserleben verlaufen. Dass die strafrechtliche Relevanz hier dennoch nicht generell entfallen soll, macht bereits deutlich, dass es nicht die empirische Evidenz sein kann, auf deren Grundlage die Zuschreibung bei diesen Verhaltensweisen erfolgt. Die Ergebnisse für die einzelnen Stufen des Deliktsaufbaus sollen zunächst noch einmal unter Einbeziehung der neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zusammengefasst werden.
a) Handlungsbegriff Postuliert man einen unabhängigen Handlungsbegriff, so liegt dessen hauptsächliche Schwierigkeit darin, dass der originär nur subjektiv erlebte Zusammenhang zwischen Wille und Verhalten aufgrund des Erfordernisses seiner strafprozessualen Nachweisbarkeit objektiv feststellbar sein muss. Die Rechtsprechung stellt deshalb und um eine Vermengung mit dem Vorsatzbegriff zu vermeiden nicht auf die emotionale Beziehung der Person zu ihrem Verhalten ab, sondern behilft sich mit der normativen Konstruktion eines „natürlichen Willens“, dessen empirische Voraussetzungen im Regelfall vorliegen sollen. Mit dem Begriff des „natürlichen Willens“ werden jedoch nicht nur gewisse Vorprüfungen zur subjektiven Tatseite umgangen, es entfallen auch die spezifisch subjektiven Attribute der Willensbetätigung wie Antriebserlebnis und Gefühl der Handlungskontrolle. Daran, dass die Handlungsqualität im „Epileptiker-Fall“ des Bundesgerichtshofs trotz des deutlichen subjektiven Erlebens einer (objektiv fehlenden) Verhaltenssteuerung verneint wird, offenbart sich die
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vollständige Abkehr vom Kriterium des (geäußerten) subjektiven Erlebens bei der Feststellung einer Handlung.14 Wird dem individuell-subjektiven Erleben für die Frage der Handlungsqualität keine Bedeutung beigemessen, dann kann auch eine subjektive Evidenz hier keinen Platz haben. Darüber hinaus wird insbesondere bei den Reflexen deutlich, dass der Handlungsbegriff durch naturwissenschaftliche Überlegungen mitbestimmt wird. Deshalb gilt: Falls objektiv bei keiner menschlichen Verhaltensweise eine unabhängige geistige Kontrollmöglichkeit vorhanden ist, dann kann auch ein rein normatives Verständnis von Willenssteuerung, das sich zur Behauptung ihres Nichtvorliegens in bestimmten Einzelfällen sehr wohl auf empirische Erkenntnisse stützt, kein überzeugendes sachliches Kriterium für eine Abgrenzung von Handlung- und Nichthandlung sein. Der Konstruktionsfehler eines seiner subjektiven Attribute weitestgehend beraubten Handlungsbegriffs liegt also in seiner vermeintlichen Objektivität, die jedoch lediglich auf intuitiven Annahmen aufbaut. Mangels eines erfahrungswissenschaftlichen Zugangs zur Beziehung zwischen subjektivem Willen und Verhalten hat sich die Vorstellung vom verursachenden Willen wegen der „empirischen Evidenz“ einer Art Quasi-Gesetzmäßigkeit dieses Zusammenhangs zwar bisher als praktikabel bei der rechtlichen Beurteilung von Bewegungsverursachung erwiesen, weil sich so die Differenzierung von Handlung und Nichthandlung relativ plausibel und einheitlich gewährleisten ließ. Annahmen, die lediglich auf subjektiver Evidenz bauen, müssen jedoch dann zurücktreten, wenn sich das subjektive Erleben im Widerspruch zu objektiven Erkenntnissen befindet und nach letzteren gefragt werden muss. Naturalistische15 und symptomatische16 Handlungslehre gehen also fehl, soweit sie eine prozessual feststellbare willentliche Verhaltensverursachung für das Vorliegen einer Handlung nicht nur fordern, sondern auch für nachweisbar halten. Auch die finale Handlungslehre Welzels17 vermag keine Brücke zu schlagen, indem sie den Blick, vom Willen ausgehend, von der physischen Bewegung weg auf deren Ziel richtet; denn auch der erlebten Zielvorstellung oder Intention kommt objektiv betrachtet nicht die Rolle der Handlungsinitiatorin zu. Zwar wird man grundsätzlich von der einzelnen Bewegung abstrahieren und das Verhalten als Gesamtkomplex betrachten können; dies schließt aber beim Handlungsbegriff nicht die Strafbarkeitslücken im Bereich der Spontanreaktionen und verlagert die Problematik der willentlichen Verhaltenssteuerung lediglich auf eine andere Ebene, nämlich die einer komplexen Aggregation von nicht-willentlich initiierten „primitiven“ Einzelbewegungen zur Gesamthand_________________ 14 15 16 17
Dazu oben. S. 152. Siehe dazu oben, S. 166. Vgl. dazu oben, S. 168. Dazu oben, S. 169.
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Teil 4: Fazit
lung, die dann freilich ebenfalls nicht willentlich initiiert sein kann. Stratenwerth gründet seinen Handlungsbegriff deshalb auf die grundsätzliche Möglichkeit zur bewussten Handlungssteuerung, was aber aus den bereits genannten Gründen ebenfalls zu keiner Lösung verhilft.18 Auch sein Zurechnungskriterium einer erlebnismäßig bedingten Reaktion verfehlt, objektiv betrachtet, nicht nur bei den Spontanreaktionen die Tatsachen, weil dem subjektiven Erleben eben keine Initiativfunktion zugeschrieben werden kann.
b) Vermeidbarkeit Wird die Problematik der Willenssteuerung im Handlungsbegriff umgangen oder kein eigenständiger Handlungsbegriff gebildet, dann begegnet sie einem bei der Frage der Vermeidbarkeit wieder, wohin sie unter anderen von Schewe19, Engisch20, Maihofer21 und Jakobs22 verlagert wird. Die Gegenüberstellung von Fällen automatisierter Verhaltensweisen und den Reaktionszeitfällen hat hier ergeben, dass bei den Überlegungen zur Reaktionszeit wissenschaftliche Erkenntnisse herangezogen werden, die auf alle Fälle spontaner Verhaltensweisen übertragen werden müssen. Diese Erkenntnisse über die Zeitdauer bewusster Wahrnehmung und Verarbeitung sind auch maßgeblich für die normative Bewertung des Verhaltens. Wird die für bewußte Wahrnehmung und Verarbeitung eines Ereignisses erforderliche Zeitspanne unterschritten, gilt das unmittelbar den Verletzungserfolg herbeiführende Verhalten als unvermeidbar, weil der Täter nicht nach seiner Einsicht handeln konnte. Er hatte weder die Möglichkeit einer Wahl noch die eines Vetos. Weil die normative Bewertung der Reaktionszeitfälle auf anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht, die in gleicher Weise bei den Spontanreaktionen zum tragen kommen, müssen sie immer auch in die Bewertung der letzteren mit einfließen. Im Ergebnis sind damit alle Reaktionen, die innerhalb einer Zeitdauer von circa einer halben Sekunde auf ein Ereignis hin erfolgen, für den Menschen unvermeidbar. Dies muss über die Spontanreaktionen hinaus aber für jedes reaktive automatisierte Verhalten gelten, das sich gerade durch seinen schnellen Bewegungsablauf auszeichnet. Die für das Bewusstsein erforderliche Zeitspanne ist deshalb so maßgebend für die Frage der Vermeidbarkeit, weil die bewusste Verarbeitung der Tatumstände die Grundlage für die Willensbildung darstellt und damit auch für die _________________ 18 19 20 21 22
Dazu oben, S. 171 f., 226. Vgl. dazu oben, S. 172, 218. Siehe oben, S. 173 f. Dazu oben, S. 174. Vgl. oben, S. 183 f., 188, 229.
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(zumindest mögliche) Unrechtseinsicht, die § 17 StGB verlangt. Tritt also das Verhalten vor Abschluss der Reaktionszeit auf, kann es sich nicht um eine willentlich gesteuerte Reaktion handeln. Noch deutlicher als beim Handlungsbegriff tritt hier deshalb zutage, dass für die strafrechtliche Verantwortlichkeit eine willentliche Beeinflussbarkeit des verletzenden Verhaltens zwingend erforderlich ist. Da diese Möglichkeit über die automatisierten Reaktionen hinaus aber auch bei subjektiv als willkürlich erlebtem Verhalten objektiv nicht gegeben ist, müsste menschliches Verhalten insgesamt unter den normativen Begriff der Unvermeidbarkeit fallen. Damit hätten bereits die Erkenntnisse zur Reaktionszeit eigentlich grundsätzliche Skepsis in Bezug auf das herkömmliche Verständnis von Bewegungsverursachung durch geistige Bestimmung über den Bereich des Fehlverhaltens von Autofahrern hinaus hervorrufen müssen. Stattdessen haben sich Rechtswissenschaftler wie Roxin23 und Arthur Kaufmann24 in ihren Handlungslehren jedoch auf den Begriff einer hinter dem erlebten Willen existierenden geistigen Sphäre zurückgezogen, die sich auch ohne konkretes Bewusstsein im Verhalten manifestieren soll. Vor der bewussten Wahrnehmung finden Prozesse im Gehirn statt, die – soweit ersichtlich und soweit dem Beweis zugänglich – zwar nicht durch eine Art „selbstbewussten Geist“ (Eccles)25 oder den „Willen a priori“ eines „noumenalen Subjekts“ (Kant)26 hervorgerufen werden, die sich aber im menschlichen Verhalten niederschlagen. Weil diese Prozesse beim Nachweis der Voraussetzungen für strafbares Verhalten eine tragende Rolle spielen, müssen sie auch Berücksichtigung finden. Den Strafvorwurf aber gegenüber einem unbewussten Willen zu erheben, ist noch weniger verständlich, als ihn einem Willen zu machen, der wie das Schuldgefühl immerhin subjektiv erlebt werden kann.
c) Subjektive Tatseite Damit hängt zusammen, dass das reine subjektive Erleben auch für die subjektive Tatseite eine zweifelhafte Basis bildet. Wird das Erleben des Täters im Prozess relevant, dann werden bei Zweifeln oder Beweisschwierigkeiten in der Regel objektive Anhaltspunkte zur Untermauerung oder zur Widerlegung herangezogen. Durch die Erkenntnisse der Neurowissenschaft erfährt dieses Vorgehen eine gewichtige Unterstützung. Denn sie legen nahe, dass die subjektive Kenntnis nur bedingten Aufschluss über das neuronal tatsächlich Verarbeitete _________________ 23 24 25 26
Dazu oben, S. 177. Siehe oben, S. 179. Vgl. oben, S. 293. Siehe dazu im ersten Teil, erstes Kapitel, bei und in Fn. 6.
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Teil 4: Fazit
liefern kann. Zum einen verarbeitet das Gehirn wesentlich mehr Informationen, als dem Individuum bewusst werden, zum anderen gelangen die Informationen nicht linear gleichförmig in das Bewusstsein. Ob ein Verhalten der „kognitiven Kontrolle“ unterliegt, lässt sich, wie Kargl27 zutreffend anmerkt, also nicht unbedingt mithilfe der subjektiven Kenntnis des Individuums allein erschließen, sondern müsste zusätzlich davon abhängig gemacht werden, welche Informationen tatsächlich vom Gehirn verarbeitet wurden. Was hier futuristisch klingen mag, erscheint in Anbetracht der Möglichkeiten der Neurowissenschaft keineswegs weit hergeholt. Ein Beispiel: Lässt sich anhand der Interpretation neuronaler Aktivität in unterschiedlichen Hirnregionen darauf schließen, ob eine Information neu oder bereits bekannt ist, dann könnten die modernen bildgebenden Verfahren durchaus geeignet sein, Widersprüche zwischen neuronaler Informationsverarbeitung und subjektiver Kenntnis hiervon aufzudecken und so als Mittel zu einer spezifischen Wahrheitsfindung dienen, wenn denn gerade diese gefragt ist. Eine solche Situation könnte eintreten, wenn ein (unschuldig) Verdächtigter beispielsweise einen Einbruch gesteht. Man könnte ihn dann mit Gegenständen aus der Wohnung konfrontieren und an seinen Hirnaktivitäten „ablesen“, ob er diese Gegenstände schon einmal gesehen hat. Der Unschuldige könnte noch so eindringlich behaupten – und selber auch davon überzeugt sein –, den Einbruch begangen zu haben; wird diese Behauptung vom Gehirn nicht „bestätigt“, wird man ihm den Einbruch nicht glauben.28 Ein anderes Beispiel: Könnten mittels bildgebender Verfahren „echte“ Erinnerungen von nachträglich erworbenen Informationen unterschieden werden, so wäre nicht einzusehen, weshalb beispielsweise in einem Prozess wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern deren subjektive „Erinnerung“ gegenüber einem objektiven Verfahren, welches es ermöglicht, das tatsächlich Erlebte von nachträglich Erzähltem zu unterscheiden, als Beweismittel bevorzugt werden sollte. Anders wäre dies, wenn es darum ginge, das subjektive Erleben der Kinder zu beurteilen. Wo aber objektive Tatsachen in Frage stehen, wie der dem sexuellen Missbrauch zugrundeliegende Sachverhalt, müssen diese möglichst nach dem neuesten Stand der Wissenschaft geklärt werden. Damit bleibt festzuhalten, dass die subjektive Kenntnis des Täters nicht nur wegen ihrer äußeren Unzugänglichkeit prozessuale Schwierigkeiten erzeugt, sondern auch eine unsichere Basis bildet, wenn man erfahren will, welche Informationen der Mensch tatsächlich verarbeitet hat. Diese Beschränktheit des subjektiven Erlebens gilt freilich auch für die Beweggründe eines Täters. Sie dürften nach dem Gesagten regelmäßig aus einer _________________ 27
Dazu oben, S. 182. Kritisch gegenüber den Möglichkeiten der Neurotechnologie im umgekehrten Fall des sog. „brain fingerprinting“ Wolpe et al., The American Journal of Bioethics, 5 (2005), S. 39 ff. 28
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Gemengelage bewusst und unbewusst verarbeiteter Informationen bestehen, so dass der Täter im besten Fall nur unzureichende, im schlechteren einfach unrichtige Auskunft über seine Motivation zu geben vermag. Dieses Manko ist bekannt; in gravierenden Fällen versucht man es durch psychologische Gespräche auszugleichen, wobei auch die fachkundigen Gesprächspartner regelmäßig gezwungen sind, das dem Täter nicht Bewusste durch objektive Anhaltspunkte zu erschließen und zu vervollständigen. Was dem Täter allerdings ins Bewusstsein gelangt, ist von ihm ebenso wenig willentlich steuerbar wie seine Bewegungen, da dem subjektiven Erleben seinerseits neuronale Prozesse vorangehen. Dies ist sowohl hinsichtlich eines etwaigen „Wollenselements“ als auch mit Blick auf die Erkennbarkeit der Tatumstände einschließlich des Erfolges für den Täter zu beachten. Denn es bedeutet, dass der Täter seine innere Einstellung zur Tat nicht „wählt“ und damit auch nicht vermeiden kann und dass Umstände, die ihm zum Zeitpunkt seiner Tat nicht bewusst waren, ihm auch nicht hätten bewusst sein können, mag nun sein Gehirn bestimmte Informationen überhaupt nicht verarbeitet haben oder sich bezüglich verarbeiteter Informationen kein Bewusstsein eingestellt haben.
2. Ergebnis Schuld kann subjektiv erlebt werden, ist aber im Recht ein normativer, also objektiver Begriff. Sie existiert rechtlich somit zunächst nur als abstrakter Terminus technicus, nicht als Gegenstand irgendeiner Anschauung. Etwas anderes gilt für die tatsächlichen Voraussetzungen, unter denen Schuld zugesprochen wird. Diese können ihren Ursprung sowohl im subjektiven Erleben als auch in messbaren, äußerlich zugänglichen Kriterien haben. Hier gibt es jedoch einen prozessualen Vorrang objektiver Kriterien. So kann die Schuldfähigkeit eines Täters auch entgegen seinem eigenen Freiheits- oder Schulderleben bei Vorliegen konkreter neuronaler Fehlfunktionen als beeinträchtigt oder ausgeschlossen festgestellt werden. Existieren in dem vom Richter zu beurteilendem Bereich anerkannte Gesetzmäßigkeiten, so müssen diese sogar dann berücksichtigt werden, wenn der äußere Anschein im konkreten Fall hierzu im Widerspruch steht. Es ist – um ein pointiertes Beispiel zu wählen – dem Richter deshalb nicht möglich, im Falle einer Frau, die von mehreren Zeugen angeblich fliegend auf einem Besenstiel gesehen wurde, seine normative Bewertung auf den Umstand der Flugfähigkeit dieser Frau zu stützen; denn einer solchen Feststellung stünde das Gravitationsgesetz entgegen. Solche Gesetzmäßigkeiten können durch neuere Erkenntnisse zwar grundsätzlich abgelöst werden, solange sie jedoch in den Naturwissenschaften anerkannt sind und Aufschluss in Bezug auf den zu beurteilenden Sachverhalt geben können, wäre es ein Verstoß gegen die richterliche Aufklärungspflicht, sie zu ignorieren.
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Teil 4: Fazit
Die Auffassungen vom menschlichen Geist, die im Handlungs- und Vermeidungsbegriff des Strafrechts sowie bei der subjektiven Tatseite der Deliktsprüfung hervorgehoben werden und die insgesamt das Bild einer willentlichen Verhaltenssteuerung projizieren, behaupten eine Initiativ-, eine Veto- und eine Wahlfunktion menschlichen Willens, die mit den neurowissenschaftlichen Experimenten widerlegt worden sind. Dem subjektiven Erleben sind die ihm vorangehenden Gehirnprozesse nicht zugänglich; diese aber schließen jede Initiativ-, Wahl- und Vetofunktion des Willens objektiv aus. Damit wird das subjektive Erleben willentlicher Steuerung nicht in seiner Existenz negiert, sondern lediglich seine vermeintliche Rolle als Täuschung über die objektiven Vorgänge entlarvt. Es ist daher entscheidend, in welchem systematischen Kontext sich die Frage nach dem Vorliegen einer willentlichen Verhaltenssteuerung stellt. So mag man etwa fragen, wie das Verhältnis der Sonne zur Erde subjektiv erlebt wird und als durchaus richtige Antwort erhalten, dass die Sonne um die Erde kreist; fragt man aber nach dem objektiven Verhältnis der beiden zueinander, so wäre diese Antwort falsch. Denn das Erleben vermittelt in diesem Fall eine Vorstellung von objektiven Abläufen, die – strafrechtlich gesprochen – einem Tatumstandsirrtum gleichkommt.29 In der Deliktsprüfung wird, mit Ausnahme der subjektiven Tatseite, nicht nach dem subjektiven Erleben, auch nicht in der Form „empirischer Evidenz“ gefragt, sondern, soweit möglich, nach erfahrungswissenschaftlichen Begründungen. Auf der Ebene neuronaler Prozesse hat der subjektiv erlebte Wille jedoch keine Funktion. Willentliche Verursachung von Verhalten ist damit ebensowenig ein brauchbares Instrument zur Differenzierung von schuldhaftem und schuldlosem Verhalten wie (umgekehrt) die „biologische Determination“, die eben bei jedem Verhalten vorliegt. Wird auf die Prämisse einer solchen Initiativfunktion des Willens verzichtet, dann entfällt aber auch die Brücke, die eine normative Zurechnung zum menschlichen Willen ermöglichen soll und auf die im folgenden Abschnitt noch zurück zu kommen sein wird. Allenfalls den neuronalen Korrelaten des subjektiven Erlebens ließe sich die Verhaltenssteuerung objektiv zurechnen. Die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse machen damit neue Begründungen für die Zurechnung menschlichen Verhaltens erforderlich. Denn auf der Fähigkeit zu willentlicher Verhaltensteuerung beruhende Abgrenzungen als Grundlage einer Verhängung strafrechtlicher Rechtsfolgen verstoßen wegen _________________ 29
Treffend insoweit K. Günther: „Die Behauptung, die Erde sei eine Scheibe, war unter den Erfahrungsbedingungen der Vergangenheit sicher rational akzeptierbar – unter den besseren Erfahrungsbedingungen der Neuzeit wissen wir jedoch, daß jene Bedingungen von den idealen Bedingungen der rationalen Akzeptierbarkeit weiter entfernt gewesen sind als die gegenwärtigen“ (s. Zuschreibung, S. 342 ff., 345); und Bauer: „Bekanntermaßen dreht sich – aller Wahrnehmung zum Trotz – die Sonne nicht um die Erde“ (Verbrechen, S. 18).
Kapitel 1: Zur Annahme willentlicher Verhaltenssteuerung im Strafrecht
337
des Prinzips materieller Gerechtigkeit in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gegen die Verfassung. Dass es sich dabei keinesfalls nur um dogmatische Probleme in Form von Strafbarkeitslücken handelt, die es durch geeignetere Definitionen zu schließen gilt, bedarf nach den vorstehenden Untersuchungen keiner besonderen Bekräftigung mehr. Inwieweit die Schuldidee als Ganzes hiervon betroffen ist, sollen die folgenden Ausführungen zeigen.
II. Die Willenssteuerung in der „Schuldidee“ Es stellt sich nach dem Gesagten die Frage, woran ein strafrechtlicher Schuldvorwurf geknüpft werden kann. Weder Neuronenverbänden noch Ionen gegenüber wird man eine Vorwurfshaltung einnehmen wollen oder – schon begrifflich – auch nur einnehmen können. Dabei gilt hinsichtlich der Vermeidbarkeit ihrer „Aktivität“ nichts anderes als in Bezug auf menschliches Verhalten. Auch hier ließe sich unschwer mit einem negativen Freiheitsbegriff operieren: Hätte es nicht die Information eines äußeren Stimulus gegeben oder wären nicht bestimmte Hirnregionen geschädigt, so wäre es beim Handelnden zu einer anderen neuronalen Aktivität gekommen. Die Neuronen hätten sich also rein physikalisch anders „verhalten“ können, die „Handlung“ wäre dann vermieden worden. Diese Form der Vermeidbarkeit ist offensichtlich nicht ausreichend, um „Schuld“ zu begründen. Hinzu kommt, dass der Richter den zu bewertenden Vorgang aus der Rückschau betrachtet. Zwar lässt sich mit den heutigen Methoden menschlichen Erkennens aus der Prospektive nicht vorhersagen, welches Verhalten eintreten wird30, und für den Einzelnen mag dieses Wissen für immer logisch verschlossen sein31, aus der Retrospektive handelt es sich jedoch immer um unvermeidbares Verhalten. Wie die Diskussion um die Beweisbarkeit der Schuld gezeigt hat32, kann das rein subjektive Erleben schon wegen seiner absoluten Privatheit keine Voraussetzung strafrechtlicher Verantwortung bilden. Bestätigt wird dies durch die stets empirisch zugänglichen Ausschlusskriterien. Freiheitserleben und biologische Determination sind damit zwei Ebenen, die zwar nebeneinander existieren, von denen aber nur die eine, die empirische, für die Feststellung strafrechtlicher Verantwortlichkeit herangezogen werden kann. Die dargelegten Erkenntnisse vermögen damit die bereits vorgebrachten kritischen Stellungnahmen zu den im ersten Teil aufgeführten Schuldlehren33 zu untermauern. Da die Inhalte des Bewusstseins maßgeblich durch Vorerfahrun_________________ 30 31 32 33
Vgl. dazu oben, S. 36 ff. Siehe oben, S. 43. Siehe oben, S. 135 ff. Siehe oben, S. 49 ff.
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Teil 4: Fazit
gen beeinflusst werden, die teilweise schon pränatal erworben werden und ihrerseits von der genetischen Veranlagung abhängen, besitzt jeder Mensch ein einzigartiges neuronales System, mit dem neue Informationen verarbeitet werden. Dies hat zur Konsequenz, dass auch die „psychische Struktur“ (Graf zu Dohna)34 unterschiedlicher Menschen jeweils einzigartig ist. Voneinander abweichende Reaktionen lassen sich also mit der unterschiedlichen Informationsverarbeitung in den neuronalen Netzwerken erklären. Die formelhafte Ersetzung eines Menschen durch einen anderen in bestimmten Schuldlehren („ein anderer hätte an Stelle des Täters …“) basiert demgegenüber auf der stillschweigenden Annahme, dass jeder Mensch Informationen identisch verarbeitet, das heißt jedem menschlichen Bewusstsein dieselben Informationen zur Verfügung stehen, die dann nur mit den normativen Anforderungen der Gesellschaft verglichen werden müssen. Dadurch jedoch, dass Situationen individuell unterschiedlich wahrgenommen beziehungsweise neuronal verarbeitet werden, kann es zu normabweichenden Reaktionen kommen, deren Motivation auch vom Handelnden selber kaum hinreichend verstanden werden kann. Damit bestätigt sich ein Punkt der Kritik an der Auffassung Kargls35, der Mensch könne aufgrund seiner Kenntnis von sich selber seine Handlungsdisposition verändern. Auch die subjektive Kenntnis der motivationalen Faktoren würde schließlich nicht dazu führen, dass der Mensch seine Handlungsdisposition verändern kann. Denn weder Emotionen noch Gedanken und schließlich auch nicht die Verhaltensweisen unterliegen einer unabhängigen „geistigen“ Kontrolle. Verhaltensregulation ist nach dem Gesagten ausschließlich eine Folge der Selbstkorrektur des Organismus. Zwar ist Kargl insoweit zuzustimmen, als die neuronalen Korrelate jeweils neuer Bewusstseinszustände das Verhalten ihrerseits beeinflussen können; dies unterliegt jedoch wiederum nicht einem irgend gearteten willentlichen Einfluss des Menschen. Das heißt, das Individuum kann sich nicht aufgrund der sozialen Erwartungshaltung willentlich dazu entschließen, ein anderer Mensch zu werden oder auch nur Verhaltensmuster aufzugeben. Damit sind Vorstellungen von der Möglichkeit zur bewussten Strukturierung des Bewusstseins, wie sie in der Forderung nach Aufwendung gebotener Besorgnis (Engisch)36, aber auch in der Annahme, dem unaufmerksam Agierenden stehe eine Weltgestaltung mit Aufmerksamkeit zur Verfügung (Jakobs)37 zum Ausdruck gebracht werden, mit Blick auf die realen Möglichkeiten des Individuums nicht mehr überzeugend. Die Kompetenz zur richtigen Gestaltung der sozialen Welt, also die Möglichkeit, normativen Erwartungen Folge zu _________________ 34 35 36 37
Dazu oben, S. 56. Vgl. oben, S. 64. Vgl. dazu oben, S. 54. Siehe oben, S. 58.
Kapitel 1: Zur Annahme willentlicher Verhaltenssteuerung im Strafrecht
339
leisten, wird von Jakobs für die Person zwar lediglich fingiert, bildet aber gleichwohl die Grundlage für eine reale Bestrafung des Individuums, das gerade nicht anders handeln konnte. Richtig ist, dass der Grundsatz „ultra posse nemo obligatur“ auf der personalen Ebene nicht verletzt werden kann, wenn der Person die abverlangten Fähigkeiten bereits per definitionem zugeschrieben werden. In diesem Zirkelschluss verliert er aber jeden Sinn. Will man andererseits den Grund für den Vollzug mit Jakobs primär in einer restitutiven Verteidigung der Normenordnung sehen, so ist hierfür die Zuschreibung von personaler Schuld nicht erforderlich. Die Grenze zur Bestimmung, wann einer Person Schuld zugerechnet wird und wann nicht, wird zwar ihrerseits normativ gezogen, die Grenzziehung orientiert sich aber an empirischen Sachverhalten. Unter bestimmten faktischen Voraussetzungen wird die Möglichkeit, nach einer „Einsicht“ zu handeln, ausgeschlossen. Ist die Kompetenz zur normgerechten Gestaltung der sozialen Welt somit von der Fähigkeit zur Willenssteuerung abhängig, war diese zum Zeitpunkt der Tat beim geistig gesunden Täter aber ebenso wenig vorhanden wie beim geistig kranken, dann taugt das Kriterium der willentlichen Handlungssteuerung jedenfalls dann nicht als Schuldvoraussetzung, wenn ihm ein hinreichend beglaubigter empirischer Sachverhalt zugrundeliegen soll. Dass dem so ist, haben die Ausführungen zum Handlungsbegriff und zur Vermeidbarkeit gezeigt.38 Damit wird dem Menschen aber eine Fähigkeit zugeschrieben, der nachzukommen er in Bezug auf die deliktische Tat tatsächlich nicht in der Lage war. Die Zuschreibung konkreter Fähigkeiten oder Eigenschaften zu einem bestimmten Personenkreis als Kriterium der Verantwortlichkeit (oder auch des Ausschlusses der Verantwortlichkeit) gerade dieser Personen wirft ersichtlich sofort Legitimationsprobleme auf, wenn die fragliche Fähigkeit oder Eigenschaft nicht nur bei dem spezifizierten Personenkreis, sondern auch bei allen anderen Personen fehlt. Beispielhaft: Wenn weißhaarige Menschen aufgrund dieser Eigenschaft im Gegensatz zu allen anderen Menschen als schuldunfähig angesehen würden, und es erwiese sich, dass jede Haarfarbe nur aufgrund einer optischen Täuschung durch das Sonnenlicht entsteht, in Wirklichkeit also alle Menschen weißhaarig sind, dann geböte es diese Erkenntnis der Wissenschaft, die Differenzierung zwischen Schuld und Unschuld nicht länger an den subjektiven Eindruck der Haarfarbe zu knüpfen. Sie geböte es ganz offenkundig deshalb, weil Bestrafungen, die sich aus Bedingungen legitimieren, welche gegen Naturgesetze verstoßen (wie etwa die Hexenverbrennungen), ungerecht sind. Sie werden übrigens, sobald sie von späteren Generationen als naturgesetzwidrig durchschaut sind, regelmäßig mit einer Art historischer ex-tunc-Wirkung als ungerecht auch schon für die vergangenen Zeiten ihrer Anwendung empfunden. Auch dies zeigt das Beispiel Hexenverbrennung deutlich. In dem Augenblick _________________ 38
Dazu oben, S. 143 ff. u. 187 ff.
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Teil 4: Fazit
also, in dem eine neue wissenschaftliche Erkenntnis einen gewissen Grad der Beglaubigung erlangt hat, lassen sich ihr widersprechende rechtliche Wertungen nicht mehr legitimieren. Zwar kann man, wie es auch ein negativer Schuldbegriff nahelegen würde, versuchen, aus neuronaler Aktivität, die bestimmte Schwellenwerte über- oder unterschreitet, besondere Konsequenzen abzuleiten; damit ist jedoch für einen Schuldbegriff innerhalb dieser Begrenzungen noch nichts gewonnen. Das Dilemma lässt sich so zusammenfassen: Die Grenzen eines Schuldbegriffes, gleichviel ob dieser metaphysisch, aus empirischer Evidenz oder normativ begründet wird, bedürfen wegen der Vorgaben für die richterliche Wahrheitsfindung eines beschreibungsfähigen Sachverhalts als ihrer Grundlage; die Kehrseite dieses Sachverhalts führt dann aber auch zu Umkehrschlüssen hinsichtlich der Schuldbegründung. Nun kann man aber nicht pro culpa metaphysisch und gleichzeitig contra culpam empirisch argumentieren; denn beide Herangehensweisen haben nur einen und denselben Gegenstand ihrer normativen Beurteilung, sei dieser nun a priori oder empirisch gegeben. Werden also zur Bestimmung der Schuldunfähigkeit sowie zur Bewertung weiterer Negativvoraussetzungen der Schuldbegründung (wie Nichthandlung und Unvermeidbarkeit) erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse herangezogen, dann muss auch ein positiver Begriff von Schuld als Minimum zwingend die Kehrseite dieser empirischen Annahmen enthalten. Hierzu gehört die Steuerung des Verhaltens durch den Willen. Dass diese Möglichkeit in der Perspektive, in der im Prozess nach ihr gefragt wird, nicht existiert, hat deshalb weitreichende Konsequenzen. Nicht ersichtlich ist, wie kompatibilistische Freiheitstheorien, wie die von Bieri39 oder Pauen40, diesem Dilemma entgehen könnten. Selbst wenn die Voraussetzungen, die sie für verantwortliches Handeln aufstellen, hinreichend bestimmt und auch prozesstauglich wären, reichten sie zur Legitimation eines Schuldvorwurfs nicht aus. Der Schuldvorwurf richtet sich gegen das Innere der Person: gegen ihren (bösen) Willen, und geht damit über den Ausdruck des Unwerts einer Handlung und seiner Gerichtetheit gegen die (äußere) Person als kausaler Bedingung für den Erfolgseintritt hinaus. Schuld einer Person ist aber ohne eine Letztverantwortung des Menschen, die auf seinem Willen als „causa sui“ gründet, nicht denkbar.41 Der Umstand, dass nach den von der Neurowissenschaft zutage geförderten Indizien alles gegen einen solche Letztursächlichkeit des bewussten Willens spricht, ändert nichts an der normativen Möglichkeit und Bestimmbarkeit von Zurechnung. Nur müssen deren empirische Voraussetzungen neu definiert und die Zuschreibung von Schuld entweder gänzlich _________________ 39 40 41
Dazu oben, S. 69. Dazu oben, S. 73. Vgl. dazu oben, S. 72, 76 f.
Kapitel 2: Zur verfassungsrechtlichen Legitimation der Strafe
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anders, das heißt ohne Vorwurfsimplikation begründet, oder aber aufgegeben werden. Bieri und Pauen bemühen sich aber richtigerweise darum zu begründen, wann einer Person die Verantwortung für ihr Handeln zukommt. Bereits Schopenhauer hatte diesen Bezug hergestellt und eine „Charakterschuld“ formuliert, aus der nach der Überzeugung Schopenhauers aber freilich kein staatlich erhobener moralischer Vorwurf erwachsen durfte.42 Dennoch mag man sich verleitet fühlen, eine sogenannte Lebensführungsschuld zu formulieren. Weil die Neurowissenschaften aber nahelegen, dass die Grundstrukturen einer Person im Umgang mit Situationen bereits im (vorbewussten) Kindesalter entstehen und teilweise sogar auf pränatale Einflüsse zurückzuführen sind,43 bietet auch ein Rückblick auf das gesamte Leben des Rechtsbrechers keinen Anknüpfungspunkt für einen Schuldvorwurf. Wer eine „Lebensführungsschuld“ behauptet, müsste also begründen können, woraus bei einer Lebensführung, die aus der Rückschau nicht anders hätte verlaufen können und die durch viele Dinge geprägt ist (Gene, vorgeburtliche und frühkindliche Einflüsse etc.), die dem Bewusstsein nicht zugänglich sind, Schuld erwachsen soll.
Kapitel 2
Zur verfassungsrechtlichen Legitimation der Strafe I. Schuldbegründung und Schuldausgleich Das Schuldprinzip wurde bezüglich seiner Legitimation von zwei Seiten in den Blick genommen: von seinem Rechtsgrund und von seiner Rechtsfolge her. Dabei wurde die enge Verbindung dieser Betrachtungsweisen bereits im ersten Teil dieser Arbeit44 deutlich, als sich die Rechtsfolgenseite, der Schuldausgleich, als unzureichend für eine Legitimation erwies, die aus einem an der Selbstbestimmung orientierten Menschenbild des Grundgesetzes folgen soll. Es wurden die Schwachstellen und Inkonsistenzen aufgezeigt, die sich für ein Eingriffsrecht des Staates auf der Grundlage einer vorausgesetzten freien Selbstbestimmung des Menschen ergeben. Der Widerspruch, der entsteht, wenn menschliche Selbstbestimmung einerseits zur Grundlage menschlicher Würde erhoben und andererseits als Voraussetzung strafrechtlicher Schuldfähigkeit angesehen wird, lässt sich ohne einen Wechsel der Interpretation des Würde_________________ 42 43 44
Siehe dazu oben, S. 46. Vgl. oben, S. 319. Vgl. oben, S. 78 ff., 117 f.
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Teil 4: Fazit
begriffs nicht beheben.45 Daneben ist zu bedenken, dass das Maßregelrecht nach der geltenden Rechtsordnung nicht als Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG gewertet wird. Die Beachtung der Menschenwürde erfordert es daher offenbar, dass in bestimmten Fällen die Strafsanktion gerade nicht eingreifen darf.46 Warum sich dann aber das Schuldprinzip unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG soll ableiten lassen, ist unverständlich. Solche grundsätzlichen Bedenken ergaben sich in ähnlicher Form aus der Diskussion des Rechtsgrundes, der Schuldbegründung, mit Blick auf die innerdogmatischen Schwierigkeiten. Dieser Blick soll nun noch einmal, diesmal unter Berücksichtigung der neurowissenschaftlichen Untersuchungen, die verfassungsrechtlichen Legitimationsfragen einbeziehen.
1. Die Innenperspektive Die Begriffe Schuld und Sühne stehen in engem Zusammenhang mit Emotionen, die auch das Bild des Menschen von sich selbst als einem freien Wesen prägen. Diese „inneren Interpretationen“ des Schuldbegriffs begrenzen die staatliche Gewalt jedoch nicht, sondern leisten der Möglichkeit Vorschub, unter dem Deckmantel metaphysisch aufgeladener Begriffe wie Schuld und Sühne, die einem objektiven Verfahren der Feststellung in Wahrheit nicht zugänglich sind, emotionale Bedürfnisse zu verschleiern, die mit einem tatsächlich erforderlichen Schutz der Gesellschaft oder des Täters nichts zu tun haben, wie Demütigung oder Rache.47 Diese dem Schuldprinzip immanente Missbrauchsgefahr wird paradoxerweise mit Verweis auf die Objektformel zu Art. 1 Abs. 1 GG übergangen. Dabei führt gerade die Zuschreibung der Fähigkeit einer freien Selbstbestimmung zur praktischen Inkonsequenz: Zunächst werden die Unterschiede zwischen den Menschen ignoriert, indem man freie Selbstbestimmung als Pendant der Menschenwürde jedem zuschreibt, um das Strafrecht auf der Grundlage dieser nur dem Menschen zugestandenen Verantwortungsfähigkeit überhaupt zu legitimieren; dann aber werden sie wieder beschworen, wenn es darum geht, zwischen schuldfähigen und schuldunfähigen Tätern zu differenzieren. Das Schuldprinzip legitimiert sich also aus einer Objektivierung des Menschen am Maßstab eines abstrakten „Bildes“, das ihn als freien darstellt, um ihn zur Verantwortung ziehen zu können, und ihn gegebenenfalls zur Verantwortung zieht, weil er frei sei.48 Dass der Mensch in diesem circulus vitiosus verglichen mit einem alternativen Eingriffsrecht des Staates besser gestellt sein _________________ 45 46 47 48
Dazu oben, S. 99 ff. Siehe dazu oben, S. 100 f. Vgl. dazu oben, S. 107 f. Dazu oben, S. 113 f.
Kapitel 2: Zur verfassungsrechtlichen Legitimation der Strafe
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soll, ist lediglich eine hypothetische Annahme. Erforderlich wäre indessen ihr Beweis, wenn man ausgerechnet die Grundrechte der Bürger heranzieht, um staatliche Gewalt gegenüber diesen Bürgern zu legitimieren.49 Die metaphysischen Annahmen ebenso wie das Freiheitserleben entstammen der Innenperspektive. Für das Freiheitserleben lässt sich aufgrund der neurowissenschaftlichen Untersuchungen sagen, dass es selber neuronale Prozesse voraussetzt. Dies gilt damit prinzipiell auch für metaphysische Annahmen wie den (Schopenhauerschen) „Willen als Ding an sich“. Allerdings besteht bei dieser letzteren Annahme die Besonderheit, dass nach ihr auch die Außenperspektive bereits das Ergebnis – in einem außerkausalen Verständnis – des „Willens als Ding an sich“ sein soll. So gesehen, können die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse über den Willen „als Ding an sich“ natürlich nichts aussagen (ähnlich wie das Bewusstsein nichts über die ihm vorangehenden neuronalen Prozesse erfahren kann), weil sie ontologisch zu einer Kategorie gehören, innerhalb deren über den „Willen als Ding an sich“ überhaupt keine Erkenntnisse gewonnen werden können. Die Neurowissenschaften gehören jedoch genau in den Bereich, aus dem sich der Strafrichter zur Ermittlung von Tatsachen bedient, weshalb auch im Strafprozess ein positiver Freiheitsbegriff niemals Gegenstand der Untersuchung ist. Dass die „innenperspektivischen“ Interpretationen des Schuldbegriffs für eine Legitimation staatlicher Gewalt nicht ausreichen können, zeigt sich jedoch nicht erst daran, dass im konkreten Fall alle Freiheitsfragen lediglich mithilfe von Ausschlussgründen, also negativen Freiheitsbegriffen auf erfahrungswissenschaftlicher Grundlage, beantwortet werden, sondern bereits mit Blick auf den Regelungsbereich des Rechts allgemein, der das ausschließlich innere Erleben nicht unmittelbar, sondern immer nur über eine Veränderung äußerer Bedingungen berührt.50 Auch das Strafrecht kann also nicht direkt den inneren Ausgleich menschlicher Schuld, die Sühne, herbeiführen; das Mittel der Vergeltung reicht über einen objektiven „Ausgleich“ zunächst nicht hinaus.
2. Die Außenperspektive Der Richter steht insoweit zur Schuld wie der Physiker zur Zeit: Er muss mit ihr operieren. Und diese Operation findet in einem Rahmen statt, der Aussagen über das, was außerhalb dieses Rahmens liegt, nicht zulässt.51 Wenn der Physi_________________ 49
Siehe dazu oben, S. 105 ff. Ausführlich oben, S. 80 ff. 51 Stübinger brachte diese Schwierigkeit im Umgang mit der Schuld in einem an Augustinus‘ Diktum über die Zeit (s. Augustinus, Bekenntnisse, 11. Buch, Kap. XIV) angelehnten Zitat zum Ausdruck: „Was also ist Schuld? Wenn niemand mich danach fragt, 50
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Teil 4: Fazit
ker t = 0 setzt, dann heißt das ebensowenig, dass Zeit nicht existiert, wie der Schuldausschluss durch den Richter bedeutete, dass der Begriff „Schuld“ in der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht verwendbar wäre. Diese Arbeit versucht das Schuldprinzip nur innerhalb des Rahmens zu hinterfragen, der ihm durch die verfassungsmäßige Ordnung vorgegeben wird. Nach den Ausführungen zur Rechtsfolgenseite wurde daher Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG als Ausgangspunkt herangezogen, um die Schuldbegründung hinsichtlich ihrer sachlichen Kriterien zu untersuchen.52 Die vorgenommenen Differenzierungen in diesem Bereich verstoßen nach dem Gesagten gegen das Willkürverbot: Sie beruhen auf unsystematischen, teilweise subjektiv-intuitiven, empirisch nicht bestätigungsfähigen Unterscheidungen. Da auf der einen Seite eine Selbstbestimmung im metaphysischen Bereich den Regelungsbereich des Rechts und damit die Voraussetzungen der Schuldbegründung im Strafrecht nicht berührt, auf der anderen Seite bloß subjektiv evidente Vorstellungen über diese Voraussetzungen gegenüber objektiv-empirischen Erkenntnissen zurücktreten müssen, ist menschliches Verhalten nach den Kriterien des Strafrechts insgesamt als unvermeidbar zu bewerten. Die Zurechnung des Erfolges über das Verhalten zum Willen hat damit zwar gegenüber der Zuschreibung eines bloß fingierten Erfolges zum Willen, wie sie zur Zeit der Hexenverfolgung vorgenommen wurde, einen erheblichen rechtlichen Fortschritt bewirkt; die seit jeher spekulativ gebliebene „empirische“ Anbindung des Verhaltens an den Willen steht jedoch mit den Anforderungen an das heutige Recht nicht mehr im Einklang. In Anbetracht dieser Überlegungen verwundert es nicht, wenn der Strafvollzug regelmäßig keinen positiven Effekt beim Täter hinterlässt. Denn was bestraft werden soll, ist ein Wille, der ohne Schuld, und ein Handeln, das ohne Initiation des Willens entstanden ist. Der Mensch wird in seiner Eigenschaft als geistiges Wesen gezwungen, für etwas einzustehen, was er mit seinem Geist objektiv nicht verhindern konnte. Wenn Geist und Wille das Verhalten gerade nicht auslösen, dann kann eine gleichwohl auf dieser Grundlage beruhende Strafe nur noch so gedeutet werden, dass dem Menschen zur Vermeidung der Bestrafung schlichtweg Übermenschliches abgefordert wird. Das Strafrecht befindet sich damit im Widerspruch zur Verfassung, gleichviel ob eine Interpretation der Verfassung zugrunde gelegt wird, die auf dem Bild eines freien selbstbestimmten Individuums gründet, oder ob sie in einer Weise ausgelegt wird, die ohne metaphysische Grundannahmen auskommt. _________________
weiß ich es; wenn ich aber gefragt werde und es erklären will, weiß ich es nicht“ (KJ 1993, S. 33). In Anlehnung an Einsteins Zitat über die Zeit („Zeit ist das, was die Uhr anzeigt“) wird hier eine andere Herangehensweise an diese Problematik bevorzugt, denn Schuld ist – strafrechtlich betrachtet – jedenfalls das, was der Richter zur Verurteilung feststellt. 52 Vgl. oben, S. 119 ff.
Kapitel 2: Zur verfassungsrechtlichen Legitimation der Strafe
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II. Ausblick: Perspektive des Schuldprinzips Abschließend stellt sich die Frage, ob eine und, wenn ja, welche Konsequenz für das Schuldprinzip aus den vorangegangenen Erörterungen folgt. Denn, so ließe sich einwenden, auch ein Wandel im Rechtssystem könne nur unter der Annahme einer tatsächlich existierenden menschlichen Freiheit erfolgen. Denn auch der Forderung, das einfache Recht in Übereinstimmung mit der Verfassung zu bringen, könne eben nur eine Person nachkommen, die entweder frei sei oder jedenfalls als frei gedacht werden müsse. Dieser Einwand ist allerdings nicht berechtigt. Selbstverständlich können Gründe für eine bestimmte Position auch dann objektiv zutreffend sein, wenn ihre subjektive Annahme und daraus etwa gezogene Konsequenzen nicht auf einer „willensfreien“ Akzeptanz und einem davon initiierten Handeln beruhen. Anders formuliert: Selbstverständlich kann jemand neuronal determiniert bestimmte Argumente als zutreffend akzeptieren, ohne dass dies die Richtigkeit (oder Falschheit) der Argumente irgendwie berühren könnte. Das gleiche gilt natürlich auch für den, der solche Argumente formuliert. Das mag er, wie Reinhard Merkel zutreffend ausführt, neuronal determiniert oder frei tun, die Richtigkeit (oder Falschheit) der Argumente hängt davon nicht ab – so wenig wie ganz generell der objektive Zustand der Welt von den Bedingungen des Zustandekommens unserer Erkenntnisse darüber abhängt.53 Weil negative Sanktionen, die sich nicht aus einem Schuldvorwurf legitimieren, keine „gerechte Strafe“ eines vorwerfbaren Vergehens mehr darstellten, müssten sie neu legitimiert werden. Dabei wird ihnen immer, wie dies Pothast zutreffend erkannt hat54, eine Ungerechtigkeit innewohnen. Noch weniger mit Gerechtigkeitserwägungen zu begründen wäre es allerdings, wenn das Unglück, mit dem Delinquenten dann belastet wären, ohne dass es ihnen vorgeworfen werden könnte, auf Dritte abgewälzt würde. Zugleich ist in dieser immanenten Ungerechtigkeit aber die Chance eines alternativen Sanktionenrechts zu sehen. Denn gerade hierdurch würden die (glücklichen) Dritten, die den ihnen erwachsenden Vorteil zwar legitimieren, aber nicht ohne Ungerechtigkeit zu vermeiden durchsetzen könnten, mit zur Verantwortung gezogen. Die Verantwortung bestünde in der Pflicht, die Ungerechtigkeit so gering wie möglich zu halten. Damit wäre einem alternativen Sanktionenrecht, das auf den Schuldvorwurf verzichtete, eine Begrenzung immanent, die das Strafrecht nicht aufweisen kann. Zur Eingrenzung der staatlichen Reaktion auf Normbrüche bedarf es also einerseits keiner Schuldidee; andererseits erscheint diese hierzu nicht etwa mehr, sondern eher weniger tauglich als andere Gerechtigkeitsprinzipien, _________________ 53 54
Siehe R. Merkel, Philipps-FS, S. 436. Vgl. oben, S. 115.
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Teil 4: Fazit
die mit unserer Verfassung in Einklang stehen. Deshalb darf der Mensch vor dem Richter auch nicht mehr so behandelt werden, „als ob“ er frei wäre. Dabei ist es wichtig, Alternativkonzepte zum Strafrecht ebenso kritisch zu prüfen wie das Strafrecht selber. Sollten eines Tages Eingriffe in die Gehirne von Delinquenten eine Aussicht auf „Besserung“ bieten, dann ist selbstverständlich gerade hier Art. 1 GG in der hier vorgenommenen Deutung zu beachten: Der Mensch ist so zu respektieren, wie er ist. Deshalb kann auch zukünftig kein Delinquent zwangsweise operiert oder therapiert werden, um Rechtstreue zu bewirken. Ungeeignet sind auch amerikanische Konzepte, die den Delinquenten erniedrigen sollen. Sie sind Folgen einer übersteigerten Vorwurfshaltung. Einem Delinquenten, der seine Tat nicht vermeiden konnte, darf aber kein Vorwurf gemacht werden. Es darf und muss der Unwert der Tat zum Ausdruck gebracht werden, keinesfalls aber ein Unwert der Person. Dies gilt selbstverständlich auch dann, wenn erniedrigende Maßnahmen tatsächlich geeignet wären, eine „Besserung“ zu bewirken. Die Erkenntnisse der Neurowissenschaften weisen den Weg in einen therapeutischen Maßnahmevollzug. Weil der Mensch Zeit seines Lebens in der Lage ist zu lernen, darf der Blick der Gesellschaft nicht nur auf der Erziehung der Kinder ruhen; es müssen vielmehr auch Therapiekonzepte für kriminelle Erwachsene entwickelt werden, die es den Delinquenten ermöglichen, wirklich zu lernen. Ansätze hierzu finden sich im Jugendstrafrecht und im Maßregelrecht. Diese gilt es auszubauen.55 Der geschlossene Vollzug hat sich hier längst als ungeeignet erwiesen.56 Er muss daher wieder auf seine ursprüngliche Funktion, nämlich die Sicherung, reduziert werden. Dass auch mit einem umfangreichen Therapie- und Sicherungskonzept keinesfalls die Normen preisgegeben werden, liegt auf der Hand: Der Delinquent wird staatlich zu „vertrauensbildenden Maßnahmen“ verpflichtet. Das bedeutet einen Eingriff des Staates und damit, normativ gesehen, ein „Übel“. Es ist anzunehmen, dass dem Strafrecht jedenfalls derzeit eine wichtige gesellschaftliche Funktion zukommt. Solange das Schuldprinzip überwiegenden Interessen dient, ist mit einer Änderung der staatlichen Befugnisse im Straf_________________ 55
Noch einmal: Eine solche Veränderung wird nur unter der Voraussetzung befürwortet, dass dem Menschen aus Art. 1 Abs. 1 u. 2 Abs. 1 GG das Recht zugestanden wird, so zu sein, wie er ist. Hochhuth will dagegen einzelne Erkenntnisse der Hirnforschung vor dem Hintergrund des Schuldstrafrechts nutzbar machen: „Denn die lebenslange, wenn auch nur mit eigener Anstrengung mögliche Veränderbarkeit der Hirnstrukturen eröffnet Aussichten auf Umsetzung der idealistisch klingenden Position Kants, des ,Du kannst, denn Du sollst!‘, bei einem viel größeren Anteil der Bevölkerung, auch der kriminellen, auch der psychisch schwer gestörten, als man es, vor Beginn der einschlägigen Lektüre, je für möglich gehalten hätte“ (JZ 2005, S. 753). Hier scheint mir die Missbrauchsgefahr auf der Hand zu liegen. 56 Ausführlich Spieß, What Works?, S. 19 ff.
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recht und ihrer symbolischen Untermauerung durch die vermeintliche Berechtigung eines „sozialethischen Tadels“ kaum zu rechnen, denn Veränderungen setzen sich in eingespielten Systemen nur schwer durch. Denkbar ist aber, dass sich im Zuge fortschreitender Einsicht in die Ursachen menschlichen Handelns oder auch aufgrund einer Resignation in Bezug auf positive Wirkungen des staatlichen Strafvollzugs die Haltung der Gesellschaft gegenüber delinquentem Verhalten langsam, aber generell verändert und dass nach anderen Möglichkeiten der Konfliktbewältigung Ausschau gehalten wird. Vorstellbar ist es deshalb, dass das herkömmliche Strafsystem und ein therapeutischer Maßnahmevollzug (jedenfalls zunächst) nebeneinander existieren, letzterer jedoch allen Delinquenten statt wie bisher nur bestimmten Personengruppen zugänglich gemacht wird. Ihnen könnte die Wahl eingeräumt werden, ob sie an einer therapeutischen Maßnahme teilnehmen oder die herkömmliche Geld- oder Freiheitsstrafe auf sich nehmen. In Fällen freilich, in denen eine schwere Gefahr vom Delinquenten ausgeht, müsste ein Vorrang sichernder Maßnahmen bestehen, in deren Rahmen therapeutische Hilfsangebote unterbreitet werden könnten. Diese Wahlmöglichkeit mag einerseits jene beruhigen, die ein unbegrenztes Maßregelrecht und damit ein ausuferndes Eingriffsrecht des Staates befürchten. Andererseits dürfte mit einer solchen Möglichkeit der Wahl auch der Fortbestand der überkommenen Strafen legitimiert sein. Zudem sollte ein solches Sanktionensystem geeignet sein, an die Erwartungshaltung der Gesellschaft anzuknüpfen: Die herkömmliche Übelszufügung mag auf den ersten Blick härter erscheinen und befriedigt eher das Vergeltungsbedürfnis, die andere fordert aber eine größere persönliche Anstrengung des Delinquenten und verspricht einen größeren zukünftigen Gewinn für die Gesellschaft. Die Erarbeitung eines solchen Modells im Detail bedarf freilich der Mitwirkung anderer Disziplinen. Wichtig ist, dass intensiver als bisher über plausible Alternativen zum Strafvollzug nachgedacht wird. Der Ansatz hierzu liegt im Verständnis des eigenen Verhaltens. Denn wer meint, er habe aufgrund „geistiger Kontrolle“ seine Gesetzestreue allein sich selbst zu verdanken, der kommt nur schwer umhin, eine solche Möglichkeit auch in anderen zu sehen.57 Aber auch der schlechterdings gesetzestreue Bürger – sofern es ihn überhaupt gibt – kann nicht anders und hält sich lediglich für „frei“. Ist diese Einsicht einmal entstanden, dann können sachliche Überlegungen an die Stelle des „moralischen Zeigefingers“ treten. Ob sich allerdings eine solche Einsicht einmal durchsetzen, ob sie das Schuldprinzip verdrängen wird und ob das, was vielleicht danach kommt, besser ist als das Strafrecht58, lässt _________________ 57
Deutlich wird dieser Aspekt auch bei Braun, JZ 2004, S. 612. Immerhin könnte damit ein Weg zur Verwirklichung des prognostischen und programmatischen Gedankens Radbruchs eröffnet sein, „daß die Entwicklung des Strafrechts über das Strafrecht einstmals hinwegschreiten und die Verbesserung des Straf58
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Teil 4: Fazit
sich heute nicht sicher sagen. Was sich aber sagen lässt, ist, dass es nach den Maßstäben, die derzeit für das Recht gelten, jedenfalls gerechter wäre, den Menschen so zu nehmen, wie er ist.
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rechts nicht in ein besseres Strafrecht ausmünden wird, sondern in ein Besserungs- und Bewahrungsrecht, das besser als Strafrecht, das sowohl klüger wie menschlicher als das Strafrecht wäre“ (Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 157).
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Entscheidungsregister Verfassungsgerichtliche Entscheidungen BVerfG – 2 BvG 1/51 v. 23.10.1951 = BVerfGE 1, 14 ff.
122
BVerfG – 1 BvR 137/52 v. 13.6.1952 = BVerfGE 1, 332 ff.
112
BVerfG – 1 BvR 1/47 v. 17.12.1953 = BVerfGE 3, 58 ff.
121
BVerfG – 1 BvR 459, 484, 548, 555, 623, 651, 748, 783, 801/52, 5, 9/53, 96, 114/54 v. 20.7.1954 = BVerfGE 4, 7 ff.
114
BVerfG – 1 BvR 253/56 v. 16.1.1957 = BVerfGE 6, 32 ff. (Elfes-Urteil)
80, 83
BVerfG – 1 BvR 550/52 v. 10.5.1957 = BVerfGE 6, 389
112, 119
BVerfG – 1 BvL 23/52 v. 24.7.1957 = BVerfGE 7, 89 ff.
90
BVerfG – 1 BvR 678/57 v. 12.12.1957 = BVerfGE 7, 194 ff.
90
BVerfG – 1 BvR 400/51 v. 15.1.1958 = BVerfGE 7, 198 ff. (Lüth-Urteil)
105
BVerfG – 1 BvR 197/53 v. 4.2.1959 = BVerfGE 9, 167 ff.
111
BVerfG – 1 BvR 71/57 v. 16.6.1959 = BVerfGE 9, 338 ff.
122
BVerfG – 1 BvL 21/60 v. 20.12.1960 = BVerfGE 12, 45 ff.
114
BVerfG – 2 BvR 108/62 v. 8.10.1963 = BVerfGE 17, 122 ff.
122
BVerfG – 1 BvR 513/65 v. 15.12.1965 = BVerfGE 19, 342 ff.
91
BVerfG – 1 BvR 58/66 v. 3.5.1966 = BVerfGE 20, 45 ff.
91
BVerfG – 1 BvR 296/66 v. 27.7.1966 = BVerfGE 20, 144 ff.
91
BVerfG – 2 BvR 506/63 v. 25.10.1966 = BVerfGE 20, 323 ff. = JZ 1967, 171 ff.
90, 112, 119
BVerfG – 2 BvL 15, 23/68 v. 26.2.1969 = BVerfGE 25, 269 ff.
89, 119
BVerfG – 1 BvL 24/69 v. 9.6.1970 = BVerfGE 28, 386 ff.
110
BVerfG – 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69 v. 7.7.1970 = BVerfGE 30, 1 ff.
104
BVerfG – 2 BvL 7/71 v. 19.7.1972 = BVerfGE 33, 367 ff.
91
BVerfG – 1 BvR 536/72 v. 5.6.1973 = BVerfGE 35, 202 ff.
91, 105
386
Entscheidungsregister
BVerfG – 2 BvR 65/74 v. 15.1.1975 = BVerfGE 38, 312 ff.
91
BVerfG – 1 BvF 1, 2, 3, 4, 5, 6/74 v. 25.2.1975 = BVerfGE 39, 1 ff.
92, 105
BVerfG – 2 BvR 135, 136, 137, 138, 139/75 v. 11.3.1975 = BVerfGE 39, 156 ff.
91
BVerfG – 1 BvL 24/75 v. 17.12.1975 = BVerfGE 41, 121 ff.
90, 121
BVerfG – 2 BvR 941/75 v. 21.1.1976 = BVerfGE 41, 246 ff.
91
BVerfG – 1 BvL 14/76 v. 21.6.1977 = BVerfGE 45, 187 ff.
89 f., 102, 110, 112 f., 119
BVerfG – 2 BvR 631/77 v. 20.10.1977 = BVerfGE 46, 214 ff.
91
BVerfG – 2 BvL 4/77 v. 16.1.1979 = BVerfGE 50, 125 ff.
89 f., 110, 112, 119
BVerfG – 1 BvR 532, 533/77, 419/78 u. 1 BvL 21/78 v. 1.3.1979 = BVerfGE 50, 290 ff.
105
BVerfG – 2 BvR 1060/78 v. 19.6.1979 = BVerfGE 51, 324 ff.
91
BVerfG – 2 BvR 215/81 v. 26.5.1981 = BVerfGE 57, 250 ff.
89, 110, 129
BVerfG – 2 BvL 4/83 v. 15.10.1985 = BVerfGE 71, 39 ff.
122
BVerfG – 2 BvR 624, 1080, 2029/83 v. 29.10.87 = BVerfGE 77, 170 ff.
105
BVerfG – 1 BvR 921/85 v. 6.6.1989 = BVerfGE 80, 137 ff.
83
BVerfG – 2 BvR 1041/88, 78/89 v. 3.6.1992 = BVerfGE 86, 288 ff.
106, 119
BVerfG – 1 BvL 38/92 v. 26.1.1993 = BVerfG NJW 1993, 1517 f.
122
BVerfG – 2 BvF 2/90 u. 4, 5/92 v. 28.5.1993 = BVerfGE 88, 203 ff.
92
BVerfG – 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92 v. 9.3.1994 = BVerfGE 90, 145 ff. = NJW 1994, 1577 ff.
86, 89, 111, 119
BVerfG – 1 BvF 1/90, 1 BvR 342, 348/90 v. 25.1094 = BVerfGE 92, 26 ff.
105
BVerfG – 1 BvR 409/90 v. 6.5.97 = BVerfGE 96, 56 ff.
105
BVerfG – 2 BvR 794/95 v. 20.3.2002 = BVerfGE 105, 135 ff.
119
Strafgerichtliche Entscheidungen RG – IV 443/07 v. 4.6.1908 = RG JW 1908, 485 f.
127
RG – IV 479/17 v. 23.11.1917 = RGSt 52, 61 ff.
127
Entscheidungsregister
387
RG – I 2/27 v. 15.2.1927 = RGSt 61, 202 ff.
130
RG – I 86/27 v. 1.4.1927 = RGSt 61, 273 f.
127
RG – II 1442/28 v. 14.2.1929 = RGSt 63, 46 ff.
154
RG – II 369/28 v. 2.12.1929 = RGSt 64, 113 ff.
127
RG – I 322/30 v. 10.10.1930 = RGSt 64, 349 ff.
154
RG – 1 D 242/31 v. 14.4.1931 = JW 1931, 2495
127
RG – 2 D 544/33 v. 21.9.1933 = JW 1933, 2650 f.
191 f.
RG – 4 D 247/34 v. 29.6.1934 = JW 1934, 2469
127
RG – 1 D 549/34 v. 9.11.1934 = JW 1935, 543
127
RG – 4 D 315/35 v. 16.4.1935 = RGSt 69, 189 ff.
154
RG – 1 D 1467/34 v. 14.5.1935 = DAR 1935, 144
201
RG – 1 D 765/38 v. 25.11.1938 = RGSt 73, 11 ff.
154
RG – 1 D 838/38 v. 29.11.1938 = VAE 1939, 70 f.
198, 201
RG – 1 D 1028/38 v. 17.1.1939 = VAE 1939, 128
201
RG – 4 D 203/39 v. 21.4.1939 = RGSt 73, 177 ff.
154
RG – 1 D 373/39 v. 7.7.1939 = HRR 1940, Nr. 38
201
RG – 4 D 88/41 v. 4.4.1941 = VAE 1941, 121 f.
201
BGH – 2 StR 83/50 v. 5.1.1951 = BGHSt 1, 20 ff.
167
BGH – 4 StR 78/50 v. 12.4.1951 = BGHSt 1, 124 ff.
154
BGH – 4 StR 26/51 v. 21.6.1951 = NJW 1952, 193 f.
154
BGH – GSSt 2/51 v. 18.3.1952 = BGHSt 2, 194 ff.
76, 100
BGH – 1 StR 510/52 v. 11.11.1952 = BGHSt 3, 287 ff.
154
BGH – 1 StR 809/52 v. 16.6.1953 = BGHSt 5, 34 ff.
128
BGH – 3 StR 695/53 v. 14.1.1954 = VRS 6, 193 ff.
192 f., 197, 199
BGH – 3 StR 87/53 v. 18.3.1954 = BGHSt 6, 70 ff.
128
BGH – 2 StR 74/54 v. 9.4.1954 = BGHSt 6, 81 f.
167
BGH – 3 StR 183/54 v. 16.6.1954 = LM § 222 Nr. 23
192 f., 199
BGH – 4 StR 342/56 v. 25.10.1956 = VRS 11, 430 ff.
192
BGH – 2 StR 508/56 v. 9.2.1957 = BGHSt 10, 208 ff.
128
BGH – 4 StR 21/57 v. 10.10.1957 = BGHSt 11, 20 ff.
100
BGH – 4 StR 95/60 v. 20.5.1960 = VRS 19, 108 ff.
192, 197
388
Entscheidungsregister
BGH – 4 StR 272/60 v. 2.9.1960 = VRS 19, 343 ff.
192
BGH – 4 StR 178/61 v. 4.8.1961 = VRS 21, 293 ff.
192, 197
BGH – 4 StR 142/62 v. 22.6.1962 = VRS 23, 215 ff. („Jagdhund-Fall“)
194, 203
BGH – 4 StR 91/62 v. 27.7.1962 = VRS 23, 369 ff.
197
BGH – 3 StR 28/62 v. 1.8.1962 = BGHSt 17, 382 ff.
128
BGH – 4 StR 383/62 v. 30.11.1962 = VRS 24, 202 ff.
192
BGH – 1 StR 26/64 v. 5.5.1964 = BGHSt 19, 295 ff.
209
BGH – 4 StR 14/64 v. 22.5.1964 = VRS 27, 119 ff.
192 f., 197
BGH – 4 StR 157/64 v. 5.6.1964 = VRS 27, 100 ff.
192
BGH – 4 StR 119/66 v. 9.12.1966 = BGHSt 21, 157 ff.
128
BGH – 4 StR 459/67 v. 17.11.1967 = VRS 34, 205 ff.
192, 197
BGH – 4 StR 361/68 v. 16.10.1968 = VRS 36, 36 f.
220
BGH – 4 StR 286/69 v. 17.9.1969 = VRS 38, 44 f.
192
BGH – 4 StR 66/69 v. 18.11.1969 = BGHSt 23, 156 ff.
173
BGH – 3 StR 249/68 v. 21.11.1969 = BGHSt 23, 176 ff.
42
BGH – 4 StR 472/69 v. 26.11.1969 = VRS 38, 119 f.
197 f.
BGH – 1 StR 353/70 v. 8.12.1970 = BGHSt 24, 40 ff.
91
BGH – 4 StR 574/70 v. 19.8.1971 = BGHSt 24, 200 ff.
128
BGH – 4 StR 130/73 v. 11.12.1973 = BGHSt 25, 246 ff.
128
BGH – 1 StR 264/75 v. 16.9.1975 = BGHSt 26, 201 ff.
304
BGH – 4 StR 47/79 v. 22.3.1979 = BGH, VRS 56, 447 ff.
148, 154
BGH – 4 StR 441/78 v. 7.6.1979 = BGHSt 29, 18 ff.
128
BGH – 4 StR 60/82 v. 7.6.1982 = BGHSt 31, 86 ff.
128
BGH – 1 StR 662/82 v. 21.12.1982 = BGHSt 31, 278 ff.
304
BGH – 2 StR 329/84 v. 20.6.1984 (unveröffentlicht) („Kriminalhauptmeister-Fall“)
147, 159, 163, 189 f., 206, 214 f., 232
BGH – 4 StR 303/87 v. 23.7.1987 = StV 1987, 528 f.
304
BGH – 1 StR 16/89 v. 21.3.1989 = NJW 1989, 1739 f.
209
BGH – 2 StR 158/93 v. 2.6.1993 = BGHSt 39, 236 ff.
303
BGH – 4 StR 441/94 v. 17.11.1994 = BGHSt 40, 341 ff. = NJW 1995, 795 („Epileptiker-Fall“)
102 f., 148 f., 155, 158, 178, 330
Entscheidungsregister
389
BGH – 2 StR 221/94 v. 2.8.1995 = BGHSt 41, 206 ff.
130
BGH – 4 StR 76/99 v. 22.4.1999 = BGH NStZ 1999, 395 f.
304
BGH – 1 StR 483/02 v. 25.3.2003 = BGHSt 48, 255 ff.
151
Bay ObLG – 1 St 551/79 v. 18.2.1980 = VRS 58, 445 ff.
192
Bay ObLG – RReg 1 St 371/81 v. 5.11.1981 = VRS 62, 211 f.
201
OLG Celle – 1 Ss 374/55 v. 25.1.1956 = GA 56, 360
148, 154
OLG Celle – 1 Ss 416/56 v. 24.4.1957 = VRS 13, 224 f.
197
OLG Frankfurt – 2 Ss 1026/64 v. 16.12.1964 = VRS 28, 364 ff. („Kleintier-Fall“)
160, 163, 172, 183, 189 f., 194 f., 228
OLG Frankfurt – 1 Ws (B) 163/83 v. 1.2.1984 = DAR 1984, 157 f. = VRS 66, 372 ff.
159
OLG Hamburg – Ss 464/49 v. 13.12.1949 = JR 1950, 408 f.
146, 158
OLG Hamburg – Ss 2/58 v. 5.2.1958 = VRS 15, 205 f.
154
OLG Hamm – 5 Ss 331/74 v. 16.7.1974 = JZ 1974, 716 f. = NJW 1975, 657 („Fliege-Fall“)
148, 160, 163, 189, 195, 228
OLG München – 2 Ss 75/49 v. 13.11.1949 = NJW 1950, 556
193
OLG Saarbrücken – Ss 12/67 v. 15.6.1967 = VRS 34, 228 ff.
192
OLG Saarbrücken – Ss 84/90 v. 27.6.1991 = NJW 1991, 3045
154
OLG Schleswig – Ss 93/60 v. 3.8.1960 = DAR 1961, 201 f. („Fahrertür-Fall“)
192 f., 195 f., 203
OLG Schleswig – 1 Ss 688/82 v. 14.2.1983 = VRS 64, 429 ff.
148 f., 154
LG Stuttgart – 5 KLs 330/93 v. 2.5.1994 (unveröffentlicht)
150
AG Castrop-Rauxel – 5 Cs 49/65 v. 23.7.1965 = DAR 1965, 330 f. („LKW-Fall“)
146, 158
AG Kappeln – Ds 13/64 v. 26.6.1964 = BA 3 (1965/66), 31 f.
154
Zivilgerichtliche Entscheidungen OGH – II ZS 223/49 v. 9.1.1950 = OGHZ 3, 119 ff.
128
BGH – III ZR 8/50 v. 25.10.1951 = VRS 4, 91 ff.
192, 201
OLG Düsseldorf – 4 U 232/65 v. 14.12.1965 = NJW 1966, 664
202, 228
OLG Hamm – 6 U 207/91 v. 16.5.1994 = NZV 1995, 357 f.
202
OLG Hamm – 13 U 197/95 v. 17.4.1996 = NZV 1996, 410 f.
202
OLG Karlsruhe – 1 U 12/86 v. 5.11.1986 = VRS 74, 86 ff.
201
Sachwortregister Abschreckung (s. Strafzwecke) Abwehrrechte (s. Grundrechte) Abwertung (s. Degradierung des Täters) Achtung (s. Menschenwürde) actio libera in causa 150, 188 Fn. 211 Affekt 31, 154 Fn. 59, 216 Fn. 330 u. 332, 217 Fn. 335, 302 Aktionspotential 242 Alltagssprache (s. Schuld) Anosognosie 321 f. Ansprechbarkeit – normative 52 Fn. 123 Antedatierungstheorie 262 ff., 273, 286, 289
– u. Fahrlässigkeit 213 ff., 222 ff. – u. Kontrollübernahme 190 f., 221, 275 – u. „menschliche Seinsäußerung“ 176, 186 – u. naturalistischer Handlungsbegriff 167 – u. personaler Handlungsbegriff 177 – u. Reaktionszeit 191 ff., 204 f. – u. Unterlassen 204 f. – u. Vermeidbarkeit 187 ff., 200, 206 – u. Vorsatzwille 220 f., 233 ff., 302 – u. Vorverschulden 167, 170, 188 f., 191, 194, 196, 205 Fn. 280, 206 f., 232 – u. zivilrechtliche Haftung 201
Antrieb 30 Fn. 25, 58, 155, 319, 330 – erlebter 163, 215, 308 – tiefenseelischer 216 – unbewusster 180, 312, 319 – willentlicher 164, 308
Automatisierte Wahrnehmung 230, 232, 235
Arbeitsgedächtnis 315, 317
Autopoietische Systeme 63, 65 Fn. 181
Augenblicksdeterminismus 35
Autonomie des Geistes 136 Autopoiesis – Begriff 63 Fn. 166
Aussagedelikte 139 Fn. 462 Automatisierte Verhaltensweise – Begriff 159 ff. – Entstehungsbedingungen 270 ff. – u. finaler Handlungsbegriff 169, 171 f. – u. funktionaler Handlungsbegriff 183 f. – u. Handlungsqualität 145, 147, 159, 166, 308, 329 f., 332 f.
Begrenzungsfunktion der Schuld (s. a. Maß der Schuld) 92, 105 ff., 345 Bereitschaftspotential 271 ff., 278 ff., 291 ff., 327 – lateralisiertes 282, 284, 291, 298 – symmetrisches 271, 282, 291 Besserung des Täters (s. Strafzwecke) Bestimmbarkeit durch Motive 49, 50 ff., 57
Sachwortregister Bewegungsextrapolation (s. Extrapolationstheorie) Beweisbarkeit der Schuld 78, 135 ff. Beweisbedürftigkeit der Schuld 78 ff. Beweiswürdigung (s. Freiheit der richterlichen Überzeugungsbildung)
391
Einzel-Photonen-EmissionsComputertomographie 243, 316, 318 Fn. 313 Elektroenzephalographie 42, 243, 247, 252, 263, 271, 280, 296, 312 Elektrokortikogramm 263
Bewusstlose Verhaltensweisen 145, 148 ff., 158
Elektromyogramm 278, 280, 286
Bildgebende Verfahren 243 f., 334
„Epileptiker-Fall“ 102 f., 148 f., 155, 158, 178, 330
Binokularer Wettstreit 248 Blickzuwendungsdauer 202, 225 Bremsansprechzeit 192 f., 195, 199
„Elfes-Urteil“ 80, 83
Epiphänomenalismus 295 Fn. 216, 324 ff. Erfolgshaftung 87, 231 Fn. 391
Charakter 27, 46 f., 50, 74, 82, 180, 312, 314 Charakterschuld 53 ff., 76, 341 Constitutio Criminalis Carolina 93 f. „Crawford-Effekt“ 254 ff., 274 Dammbruchgefahr 129 Degradierung des Täters 58 Fn. 145, 109, 113 Demütigung des Täters 342 Determinismus 23, 26, 33 ff., 43, 48, 68, 75 f., 86, 141, 285, 301 – Augenblicks- 35 – u. Fatalismus 37 – u. Freiheitserleben 309 ff. – psychologischer 35 Fn. 45 dolus antecedens (s. a. Vorsatz) 167, 305, 327 Dualismus 136, 265 Fn. 91 – Eigenschafts- 300 Fn. 245 – u. „Orwellsches“ Modell 256, 265, 268, 288, 302, 307 – u. „Stalinistisches“ Modell 255 Einverständnis – tatbestandsausschließendes 85, 179
Erfolgsunrecht 186, 200, 203 Erkennbarkeit (s. a. Fahrlässigkeit, unbewusste) 170, 222 ff., 228 ff., 232, 235 f., 240, 247, 266 ff., 335 Erlaubtes Risiko 189, 228 Fn. 381 Erwartungshaltung der Gesellschaft 59 f., 64 f., 184 f., 338 Evidenz 113, 122 ff., 133 f., 329 f., 336, 340 Evoziertes Potential 252, 254, 263 f. Exozytose 242, 294 Extrapolationstheorie 258 ff., 274, 288 f. „Fahrertür-Fall“ 192 f., 195 f., 203 Fahrlässigkeit (s. a. Ungefährtat) – bewusste (s. a. Kenntnis) 208 ff., 222 Fn. 355 – u. Determination 51, 56 f. – u. Handlungsbegriff 98 Fn. 311, 168 – u. Reaktionszeit 195 ff., 202, 206 – unbewusste (s. a. Erkennbarkeit) 56, 207, 222 ff., 327 – u. visuelle Wahrnehmung 240 Fatalismus 37
392
Sachwortregister
„Flash-lag-Effekt“ 257 ff., 290 „Fliege-Fall“ 148, 160, 163, 189, 195, 228 Freiheit (s. a. Handlungsfreiheit u. Willensfreiheit) – absolute 48, 67 – abstrakte 103, 229 – äußere 111 – „existenzielle“ 180 – u. Fiktion 134 – u. Identitätstheorie 300 f. – kommunikative 65 Fn. 182 – u. Letztverantwortung 340 – metaphysische 45, 343 – negative 28, 31, 49, 85, 337, 343 – positive 28, 36 ff., 343 – relative 34, 60 Fn. 158, 174, 185 – der richterlichen Überzeugungsbildung (s. a. Intuition des Richters) 125 ff., 329 – u. Selbstverwaltung 58 – sittliche 176 – transzendentale 82, 110, 118 Freiheitsbegriff – kompatibilistischer 28, 36, 43, 68, 76, 285, 340 – normativer 44 f. – schwacher 28 – starker 28, 48, 82, 115 – subjektiver (s. a. Freiheitserleben) 32, 43, 45, 82, 118, 133 Freiheitserleben – u. Grundgesetz 82 ff., 104, 110, 120, 133, 343 – u. Handlungswille 155 – u. neuronale Determination 43 f., 69, 308 ff., 337, 343 – u. objektive Erkenntnis 39 ff., 124, 138 – u. Strafprozess 39 ff., 131, 133, 335
„Fröhlich-Effekt“ 250 f., 260, 262, 290 Gedächtnis, – Arbeits- 315, 317 – autobiographisches 246 – deklaratives 317 – emotionales 310 – prozedurales 161 – vorbewusstes 317 Geltung der Norm (s. Strafzwecke) Generalprävention (s. Strafzwecke) Gerechtigkeit 60, 80, 90 f., 98, 115 f., 119, 121, 124, 131, 133, 158, 212, 337, 345 Gewalt (s. vis absoluta) „Großmutterneuron“ 245 Grundrechte – als Abwehrrechte 83, 105, 109 – als Schutzrechte (s. a. Strafzwecke) 83, 105, 114, 116 – Geltungskraft 105 f. Haftung – Erfolgs- 87, 231 Fn. 391 – zivilrechtliche 200 Handlungsbegriff – Abgrenzung v. Nichthandlungen 33, 144, 148, 151, 172, 176 f., 180, 183, 326 – eigenständiger 172, 185, 207, 220, 332 – finaler 95, 153, 165, 168 ff., 184, 331 – funktionaler 183 ff. – individueller 207 Fn. 283 – intentionaler 170 Fn. 133, 221 Fn. 354 – kognitiver 181, 221
Sachwortregister
393
– naturalistischer 166, 168 f., 179 Fn. 176, 184, 331 – negativer 168 Fn. 126 – Neutralitätsfunktion 143, 155, 176, 220 – personaler 168, 170 Fn. 134, 173 Fn. 146, 177 ff., 185, 245 Fn. 18 – realer 172 Fn. 139 – u. willentliche Selbstbestimmung 102 f., 336, 339 – sozialer 168, 173 ff. – symptomatischer 165, 168 f., 184, 331 – Verbindungsfunktion 176
Indeterminismus, – Begriff 26 – epistemischer 43, 49, 62 – u. Erleben 39 Fn. 59 – u. Naturwissenschaft 34 ff., 78 Fn. 220, 141 – relativer 35 Fn. 44 – u. Schuld 33, 46 Fn. 80, 98
Handlungsfreiheit – u. Art. 2 Abs. 1 GG 80 ff. – Begriff 26 – erlebte (s. a. Antrieb, erlebter) 40, 82 ff., 123, 132, 140, 155 Fn. 63, 235 – u. Handlungsbegriff 165 ff. – u. Libet-Experiment 283 – u. Menschenwürde 104 ff. – u. prozessualer Nachweis 32 ff., 140 – u. Schuld 45 ff., 97 – u. Spontanreaktionen 235 – u. Willensfreiheit 29 ff., 32 f., 155 Fn. 63, 187,
Intuition des Richters (s. a. Freiheit der richterlichen Überzeugungsbildung) 157 ff.
Handlungsspielraum 28, 30, 40, 83, 85 Handlungsunrecht 186, 189, 200, 235 f. Hexenverfolgung 89, 94 ff., 130, 339, 344 Homosexualität 71 Ich-Bewusstsein 317 ff., 323 f. Identitätstheorie 300 f., 306, 320 Fn. 321
Initiation von Bewegungen 154, 158, 208, 220, 237, 292, 327 f., 332, 336 f., 344 Instrumentalisierungsverbot (s. a. Mensch als Objekt, Objektformel) 111
„Jagdhund-Fall“ 194, 203 „Jetzt-geht-es-los-“Gefühl 304, 322 Jugendstrafrecht 346 Kategorischer Imperativ 81, 140 Fn. 465 Kenntnis – als aktuelles Vorstellungsbild 215 f. – u. bewusste Wahrnehmung 240, 268, 333 – als Bewusstseinsfeld 218, 230, 235 – u. Erkennbarkeit der Umstände 222 ff. – u. Irrtum 139, 336 – als Mitbewusstsein 209 f., 216 ff., 227, 234 – u. Spontanreaktion 213, 215 ff., 221, 233 ff., 269, 277 – unbewusste 218 Kernspinresonanztomographie 243 f., 315 Kippfigur 244
394
Sachwortregister
„Kleintier-Fall“ 160, 163, 172, 183, 189 f., 194 f., 228
„Menschliche Seinsäußerung“ 175 ff., 186
Kompatibilismus 28, 36, 43, 68, 76, 285, 340
Metaphysik (s. Freiheit)
Komplikationsuhr 278 f., 284, 286 ff.
Mitbewusstsein (s. a. Kenntnis) 209 f., 216 ff., 227, 234
Konstruktion – normative 120 f., 130, 133 f., 330 Kontrollübernahme 190 f., 221, 275 Korrelat – neuronales 68, 73, 298, 307, 320 f., 324, 336, 338 „Kriminalhauptmeister-Fall“ 147, 159, 163, 189 f., 206, 214 f., 232
Milgram-Experiment 38
Motion-induced blindness 249 f. Motion Integration and Postdiction 259 ff. „Natürlicher Wille“ 150, 154 f. – u. Vorsatzwille 186, 220, 327, 330 Neuronales Korrelat 68, 73, 298, 307, 320 f., 324, 336, 338
Latency-difference-Theorie 258 ff., 287
Normative Konstruktion 120 f., 130, 133 f., 330
Lebensführungsschuld 230 f., 235, 341
Normgeltung (s. Strafzwecke)
Leib-Seele-Problem 135 – u. Quantenpysik 39, – u. Identitätstheorie 300
Objektformel (s. a. Instrumentalisierungsverbot, Mensch als Objekt) 104, 342
Letztverantwortung 340
Objektive Wertordnung 92 Fn. 273, 105 f., 117
„Libet-Experiment“ 278 ff., 319 Limbisches System 246, 299, 309 ff., 317, 319 „LKW-Fall“ 146, 158
omissio libera in causa 205 Fn. 280 „Orwellsches“ Modell 256, 265, 268, 288, 302, 307
„Lüth-Urteil“ 105 Pädophilie 71 ff. Magnetoenzephalographie 243
Persönlichkeitskerntheorie 80
Maß der Schuld (s. a. Begrenzungsfunktion) 92, 107, 118, 212
Persönlichkeitsschuldlehre 55 Fn. 130
Maßnahme- / Maßregelrecht 101, 108 f., 145, 157, 342, 346
Personale Präferenz 74 ff.
Mensch als Objekt (s. a. Instrumentalisierungsverbot, Objektformel) 110, 114, 117 Menschenwürde 79, 87 ff., 104 ff., 341 f.
Positronen-Emissions-Tomographie 243, 316, 318 Fn. 313 poena talionis (s. Talionsprinzip), Potentialschwankung 243, 247 Prozess (s. Strafprozess), „Psychische Struktur“ 56 f., 67, 236, 338
Sachwortregister Psychoanalyse 120 Fn. 363, 128 f., 180, 186 Putativnotwehr 139 Rache (s. a. Vergeltung) 79 Fn. 221, 212, 342 Rausch 31, 69 f., 154, 220, 302 Reaktionsgrundzeit 193, 267 Reaktionszeit 188, 191 ff., 218, 222, 225, 234, 268, 273 f., 276, 278, 284, 332 f. Reaktionszeittest 275 f., 283 f. Rechtsgüterschutz 106 Fn. 344, 174 Fn. 154, 177, 186, 234 Rechtsgutsbeeinträchtigung 149, 176, 204, 210, 214, 231 Rechtsstaatsprinzip 79, 89 f., 112, 129 Reduktionismus 288 Fn. 182 Reflexbewegung 102 f., 145 ff., 152 ff., 158, 162, 164, 172, 178, 180, 203 f., 234, 326, 331 – u. automatisierte Verhaltensweise 159 ff., 329 Richterliche Überzeugungsbildung (s. Freiheit der -) Risiko (s. erlaubtes Risiko) Risikogewöhnung 229 Fn. 381, 231 Rücktritt 306 Sanktion (s. a. Übel) 42 Fn. 67, 56 Fn. 134, 58 ff., 77, 84, 88 ff., 107, 113 ff., 119, 176 Fn. 158, 342, 345 Schlafwandler 178, 180 Schreckreaktion (s. a. Spontanreaktion) 145, 189 Schrecksekunde/-zeit 192, 194 ff. Schuld
395
– u. Altagssprache 130 Fn. 431 – Begrenzungsfunktion (s. a. Maß der Schuld) 105 ff., 345 – Beweisbarkeit 78, 135 ff., 337 – Beweisbedürftigkeit 78 ff. – Charakter- 53 ff., 76, 341 – u. Evidenz 113, 122 ff., 133 f., 329 f., 336, 340 – Lebensführungs- 230 f., 235, 341 – u. Letztverantwortung 340 – u. moralischer Vorwurf - (s. a. Schuld, personale) 47, 66, 72, 76 f., 81, 109, 116, 187, 296, 341, 347 – Persönlichkeits- 55 Fn. 130 – personale 77, 339 f., 346 – Postulat 119, 120 Fn. 386, 124 – psychologischer -begriff 48 – rechtliche 77 – u. Unrecht 143 – §§ 20, 21 StGB (s. a. Schuld[un]fähigkeit) 25, 31, 33, 42, 52, 53 Fn. 123, 61, 71 f., 76 f., 86 Fn. 249, 99 f., 128, 131, 140 f., 150 Schuld(un)fähigkeit (s. a. §§ 20, 21 StGB) 25, 35 Fn. 43, 99 ff., 121 Fn. 386, 128 f., 133, 139 Fn. 464, 141, 150, 154 f., 157, 238 Fn. 415, 335, 340, 341 – u. Dammbruchgefahr 129 Schuldidee 25 f., 33, 98 Fn. 312, 328, 337 ff., 345 – u. Strafbegründungsschuld 25, 33 Schulenstreit 34, 51, 137 Schutzrechte (s. Grundrechte) Selbstbestimmung 27, 45, 49 Fn. 100, 64 Fn. 177, 73, 78 Fn. 220, 80, 89, 98 ff., 112 Fn. 362 u. 364, 114 Fn. 371, 117, 270, 341 ff. Selbstzuschreibung 60, 131 Fn. 431, 170 Fn. 133, 221, 234 f., 309, 323
396
Sachwortregister
„Selbstbewusster Geist“ 264, 293 f., 295 Fn. 219, 333 Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft (s. a. Grundrechte als Schutzrechte) 114 Sicherung des Täters (s. Strafzwecke) Sicherungsverwahrung 107 Sittenbildende Kraft der Norm 81 „Somatische Marker“ 314 Spezialprävention (s. Strafzwecke) Spontanreaktion – u. finale Handlungslehre 169 ff. – u. Handlungsqualität 145, 160 ff., 163 ff., 184, 187, 196, 203, 206 ff., 275, 329, 331 f. – u. Kenntnis 213, 215 ff., 218, 221, 233 ff., 269, 277 – u. kognitive Handlungslehre 182 – u. „menschliche Seinsäußerung“ 176 – u. naturalistische Handlungslehre 167 – u. soziale Handlungslehre 174 f. – u. symptomatische Handlungslehre 168 – u. unbewusste Fahrlässigkeit 222, 226 ff., 232 ff. – u. Vorverhalten 189 – u. Vorsatzwille 220 f., 233 ff., 302
– u. freie richterliche Überzeugungsbildung 125, f., 127 ff., 131 f., 329 – u. Freiheitserleben 42, 131 f., 133 f., 140 ff., 326, 343 – u. Handlungs- / Willensfreiheit 30 Fn. 25, 32 ff., 140 – u. metaphysischer Freiheitsbegriff 122, 326, 343 – u. „Orwellsches Modell“ 269 – u. Strafbegründungsschuld 25, 122, 125, 138, 326, 340 – u. Vorsatzwille 211 f., 333 f. – u. Willensbetätigung / -steuerung 77, 152, 158, 236, 307, 326, 330 f., 340 Strafzwecke – Abschreckung 51, 88, 106, 113 f. – Besserung des Täters 50 ff., 55 Fn. 133, 67, 346 f. – Normgeltung 51, 58 ff., 83, 109 Fn. 352, 113, 117, 184 f., 339 f., 346 – Sicherung des Täters 51, 107, 114, 117, 342, 346 Strukturdeterminismus 35 Fn. 45, 62 ff., 182 f. Supplementär motorisches Areal 271, 281, 294 Fn. 207, 297, 322
„Stalinistisches“ Modell 255
Sühne 55 Fn. 133, 86 f., 90 Fn. 263, 106 Fn. 344, 108 Fn. 118, 119, 132 Fn. 434, 342 f.
Stigmatisierung 60, 111 Fn. 362
Synchronisation 248
Strafbegründungsschuld 25, 33, 48 f., 122, 129, 328 f. – u. Schuldidee 25, 33 Strafe, absolute (s. Vergeltung, Talionsprinzip) Strafprozess – u. epistemischer Indeterminismus 44
Tadel 64, 67, 106 Fn. 344, 347 Talionsprinzip 88, 118 Tatschuld (s. Maß der Schuld) Tatumstandsirrtum 139, 336 Therapie (s. a Strafzwecke) 52, 71, 108 Fn. 348, 346 f.
Sachwortregister
397
Tourette-Syndrom 178, 276, 300
– u. unmittelbares Ansetzen 283, 304 – untauglicher 186 Fn. 204
Übel 53 Fn. 123, 62 Fn. 162, 66, 88 Fn. 259, 116, 346
Veto 295 ff., 305 f., 328, 332, 336
Übermaßverbot (s. a. Maß der Schuld) 92
vis absoluta 102 f., 145 ff., 152, 158, 173 f., 178 ff., 206 – u. vis compulsiva 145
Übernahme der Situation 183, 188, 196 Fn. 254, 205 Fn. 280
Vorausberechenbarkeit des Rechts 144
ultima ratio 109
Vorhersehbarkeit – u. Quantenphysik 34, 38 – u. Reaktionszeit 196
ultra posse nemo obligatur 44, 59, 95, 119 Fn. 380, 339 Unbestimmtheitsrelation (s. Unschärferelation) Unfallflucht 220 f. Ungefährtat (s. a. Fahrlässigkeit) 93 Unmittelbares Ansetzen 283, 304 Unrechtseinsicht 31, 52, 72, 77, 131, 140 f., 150, 327, 333, 339 Unschärferelation 34 ff., 123, 238 Fn. 415 Unterbewusstsein 150, 185, 202, 220 Unterlassen 57, 95, 165, 183, 190, 201, 205 Fn. 280, 207, 229, 232, 236, 269, 298, 305 Untermaßverbot 92 Unvermeidbarkeit (s. Vermeidbarkeit) Unwerturteil (s. a. Degradierung des Täters) 66, 76, 111 f., 304, 346 Ventrikellehre 135 Vergeltung (s. a. Talionsprinzip) 38 Fn. 54, 50, 79 Fn. 221, 88, 90, 92 Fn. 272, 106 Fn. 344, 112, 113 Fn. 367, 116, 343 Verhältnismäßigkeitsprinzip 86, 108 f., 116, 118 Versuch – u. „Jetzt-geht-es-los-“Gefühl 304, 322
Vorsatz – dolus antecedens 167, 305, 327 – u. Fahrlässigkeit 208 ff. – u. Handlungswille 186, 220, 327, 330 – u. Spontanreaktion 220 f., 233 ff., 302 – Wissenselement (s. a. Kenntnis) 268 – Wollenselement 211 ff., 219 ff. – Zeitpunkt 304 Vorverschulden 151 Fn. 44, 170, 188 f., 191, 194, 196, 205 Fn. 280, 206 f., 232 Wahlfunktion des Willens 328, 336 Wahrnehmung – automatisierte 230, 232, 235 – u. Reaktionszeit 193 f., 203 – subliminale 253, 301 Fn. 249 – visuelle 223, 229, 240 Wille – natürlicher 150, 154 f., 220, 327, 330 Willensfreiheit – u. Art. 2 Abs. 1 GG 80 f., 87 Fn. 253, – Begriff 26 f.,
398
Sachwortregister
– erlebte 32 f., 82, 137, 238 Fn. 415, – fiktive 44 Fn. 77, 113 – u. Handlungsbegriff 154, 171, 174, 176, 184, 187, 208 – u. Handlungsfreiheit 29 ff., 155 Fn. 63, 187, – u. Kriminalstatistik 35 Fn. 44 – metaphysische 80, 119 – u. Nachweisbarkeit 32 f., 78 Fn. 220 f., 99 Fn. 315, 306 Fn. 260 – u. personale Freiheit 69 – u. personale Zurechnung 49 Fn. 100, 58 – u. Schuld 46 Fn. 80, 78 Fn. 220 f., 98, 187, 236, 328, – u. Selbstbestimmung (s. a. Selbstbestimmung) 28 – u. Strukturdeterminismus 63 Fn. 169 Willensschuld 196
Willkürverbot 60, 104, 118 ff., 135, 187, 196, 205, 237, 344 Würde (s. Menschenwürde) Zeugenaussage 227, 323 Zielvorstellung 61 Fn. 160, 214, 309, 319 f., 324, 331 Zufallshaftung (s. Erfolgshaftung) Zwang – äußerer 70, 74, 82, 145, 174, 185 – gesetzlicher / staatlicher 61 Fn. 160, 66, 82 f., 89, 115 Fn. 373, 346 – innerer 69 f., 235 – normativer -begriff 49 Fn. 100 – unmittelbarer 189 – unwiderstehlicher (s. vis absoluta) Zwangstheorie 47 Fn. 90, 176, 186, 234 Zweckstrafe (s. Strafzwecke)