Gott, ein Gefüge: Poststrukturalistische Überlegungen zur Theologie der Religionen [1 ed.] 9783737013352, 9783847113355


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Gott, ein Gefüge: Poststrukturalistische Überlegungen zur Theologie der Religionen [1 ed.]
 9783737013352, 9783847113355

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Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft / Vienna Forum for Theology and the Study of Religions

Band 23

Herausgegeben im Auftrag der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien von Karl Baier und Christian Danz

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.

Yan Suarsana

Gott, ein Gefüge Poststrukturalistische Überlegungen zur Theologie der Religionen

V&R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen bei V&R unipress. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Rektorats der Universität Wien. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Das Wetterkreuz bei Tauberbischofsheim; die alte Kastanie fiel 2011 einem Sturm zum Opfer, seither wachsen an der Stelle zwei jüngere Bäume. Foto: Yan Suarsana Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0718 ISBN 978-3-7370-1335-2

Wetterkreuz Oh wilder Wälder Rauschen, oh Dunst am Himmelsrand, wo Mohn und Wegrich säumen den Pfad ins Niemandsland, oh Sturmwind in den Bäumen, ihr Zeugen alter Zeit sollt heut der Kunde lauschen vom End’ der Ewigkeit. Zu Steinbach in der Höhe, am Rand von Raum und Feld, wo wirre Wetter schreiten zum Gipfelkreuz der Welt, und Grillen prophezeiten im dicken Dornensaum, bekränzt mit Ros’ und Schlehe, stand ein Kastanienbaum. In welker Sommerhitze, wenn Bein und Kriegerblut zermahlen unter Tale im klammen Grabe ruht, da warf ’s gar tausend Male das gluterrote Laub beim Donnern der Haubitze in eitlen Menschenstaub. Doch horcht, ein dumpfes Zittern am nahen Weltenend, als von der Himmelspforte am schwarzen Firmament des Äolus’ Kohorte tobt tosend in den Tag. Und unter Sturmgewittern der alte Riese lag. Da bricht mit frommer Brise der Lenz die Erden auf, schon fährt durch grüne Matten der Minne Geist hinauf zum kühlen Blütenschatten, der Nymphen Brautgewand! Und in der Frühlingswiese ein junges Bäumlein stand. Frohlockt, ihr Völkerscharen, und tut die Botschaft kund, den Erdkreis zu erheitern, der darbt zu dieser Stund’. Die Pläne werden scheitern von Hader und Armee, da sie vereitelt waren zu Steinbach in der Höh’.

Inhalt

Vorwort: Zur Notwendigkeit einer Neujustierung religionstheologischer Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Religion und Religionstheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Wahrheit als »Problem des religiösen Pluralismus« . . . . . . . . 1.2. Eine ›kleine Geschichte‹ der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1. Die Entdeckung der Transzendenz als ontologischer Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2. Von der Metaphysik zur Erkenntnistheorie . . . . . . . . 1.2.3. Erkenntnis und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.4. Wahrheit und Bedeutung in der (post-)strukturalistischen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Annäherungen an den Wahrheitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1. Historisch: Wahrheit als sedimentierter Name . . . . . . . 1.3.2. Politisch: Wahrheit als leerer Signifikant . . . . . . . . . . 1.4. Fazit: Was ist Wahrheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Universalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Universalität als ›unreine‹ Denkform? . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Von der Naturphilosophie zur Naturwissenschaft . . . . . . . 2.3. Die Säkularisierung des Universums im 19. Jahrhundert . . . . 2.4. Universalität und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5. Universalität und Kolonialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6. Universalität und (post-)strukturalistische Theorie . . . . . . . 2.7. Fazit: Universalität als sedimentiertes ›Hintergrundrauschen‹?

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Inhalt

3.2. Die Geschichte der Religion aus kultur- und religionswissenschaftlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Religion als sedimentierter Name und leerer Signifikant 3.2.2. Religion und Säkularität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3. ›Wissenschaft‹ und Religion im 19. Jahrhundert . . . . . 3.2.4. Die Entdeckung der Religionsgeschichte . . . . . . . . . 3.2.5. Religion und Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6. Religion bei Martin Luther? . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Fazit: Was ist Religion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Exkurs: Theologie oder Religionswissenschaft? Zum disziplinären Ort.

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5. Der ›eine Gott‹ der Religionstheologie . . . . 5.1. (Innerliche) Religion und Gotteskonzept 5.2. Die Globalisierung des göttlichen ›Einen‹ 5.3. Der ›eine Gott‹ der Religionen . . . . . .

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6. Zur Natur der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1. Offenbarung als Konzept des globalen Religionsdiskurses . . . . 6.2. Exkurs: Historisch-kritische Exegese als Dekonstruktion . . . . 6.2.1. Hermeneutische Vorentscheidungen . . . . . . . . . . . . 6.2.1.1. Wir leben in Geschichten – Narrativität und Wirklichkeitsverständnis . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1.2. Bibelhermeneutische Modelle als kontextuelle Plausibilisierung göttlicher Wirklichkeit . . . . . . 6.2.2. Historisch-kritische Exegese als Genealogie . . . . . . . . 6.2.2.1. Die Zweiquellentheorie als genealogischer Stammbaum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2.2. Transformation im Detail – Der synoptische Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2.3. Kontext und Kon-Text – Motivgeschichte und ›Sitz im Leben‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2.4. Tradition liest – Formgeschichtliche Überlegungen

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7. Konsequenzen für das Reden vom ›einen Gott‹ . . . . . . . . . . . . 7.1. Konzeptuelle Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2. Der diskursive Ort des Sprechens . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1. Das religiöse ›Gewordensein‹ als Kontext . . . . . . . . . . 7.2.2. Poststrukturalistische Religionstheologie als postkoloniale Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang: Christus, ein Gefüge 2018: Predigt zum Fest . . . 1877: Trimurti . . . . . . . 1899: Der Reisende . . . . . 451: Teuerster Bruder! . . . 1866: Predigt auf dem Berg

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7.3. Sprechen von dem ›einen Gott‹ . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1. Poststrukturalistische Religionstheologie als (post-) pluralistische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2. Formen des Sprechens . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2.1. Negatives und uneigentliches Sprechen . . 7.3.2.2. Variationen poststrukturalistischer Rede . .

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Vorwort: Zur Notwendigkeit einer Neujustierung religionstheologischer Kategorien

Die theologische Debatte um die Positionierung des Christentums zu den nichtchristlichen Religionen ist auch im deutschsprachigen Raum letzthin wieder verstärkt in Bewegung geraten. Vor allem aus postkolonialer Perspektive finden sich verschiedene Beiträge, die weniger an einer Modifikation oder Weiterentwicklung der klassischen Entwürfe interessiert sind, als vielmehr daran, deren konzeptuelle und theoretische Grundlagen in den Blickpunkt zu rücken und auf den Prüfstand zu stellen.1 Doch auch von anderer Seite wird inzwischen häufiger die Meinung geäußert, dass zumindest die klassische, auf Alan Race zurückgehende Kategorisierung der verschiedenen religionstheologischen Positionierungen einer dringenden Revision bedürfe, weil die »aktuellen komplexen Konstellationen und neuen Entwicklungen auf dem Gebiet der Religionen die Entwicklung neuer Theorien und Methoden nötig machen«2. In diesem Sinne ist sicherlich auch die Zunahme postkolonialer Einwürfe mit der zu beobachtenden Intensivierung der globalen Diskurse (nicht zuletzt um Religion) seit Beginn des 21. Jahrhunderts zu erklären. Diese Diskurse haben – vor allem durch das Aufkommen neuer, weltweiter Kommunikationsmedien – das Bewusstsein für die globale Herausforderung althergebrachter Weltmodelle und Identitäten auch und gerade in den Geisteswissenschaften geschärft. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls die in den letzten Jahren zu beobachtende Zunahme postkolonialer Ansätze in den verschiedenen Disziplinen des sozialund kulturwissenschaftlichen Spektrums zu nennen, deren Debatten zum Teil 1 Vgl. v. a. Andreas Nehring/Simon Wiesgickl (Hrsg.): Postkoloniale Theologien II. Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum. Stuttgart: Kohlhammer 2018; Judith Gruber (Hrsg.): Theologie im Cultural Turn. Erkenntnistheologische Erkundungen in einem veränderten Paradigma. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2013. 2 »The current complex constellations and new developments in the field of religions make it necessary to develop new theories and methods.« Hans-Peter Großhans: Understanding the Plurality of Religions and Religious Pluralism. Some Methodological Reflections. In: HansPeter Großhans/Samuel Ngun Ling/Perry Schmidt-Leukel (Hrsg.): Buddhist and Christian Attitudes to Religious Diversity. Yangon: U Ngun Ling 2017, S. 11–25, hier S. 22.

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Vorwort: Zur Notwendigkeit einer Neujustierung religionstheologischer Kategorien

auch auf die Theologie und Religionswissenschaft übergegriffen haben. Gemeinsames Anliegen all dieser Ansätze ist es in der Regel, die überkommenen Konzepte, Identitäten und Narrative gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Diskurse einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Diese Kritik speist sich in ihren Grundlagen aus der Hypothese, dass es sich bei den politischen oder gesellschaftlichen Ideen und Identitäten, aber auch bei wissenschaftlichen Theoremen, nicht einfach um ›objektive‹ Repräsentationen der einen, einzigen Wirklichkeit handelt; vielmehr liegt diesen Ansätzen die Ansicht zugrunde, dass sämtliches Wissen über die Welt (sei es nun wissenschaftlich, politisch oder sonstwie kontextualisiert) das Produkt konkreter historischer Diskurse darstellt, und dass diese Diskurse maßgeblich durch die Globalität unserer heutigen Welt geprägt sind. Vor diesem Hintergrund erhält das Argument großen Stellenwert, dass die historische Genese dieser globalen Welt in gewichtigem Maße durch den geschichtlichen Prozess des europäischen Kolonialismus des 18. und 19. Jahrhunderts geprägt ist, der die weltweiten Diskurse nicht nur in struktureller Hinsicht initiiert, sondern (aufgrund der großen Deutungshoheit europäischer Akteure in dieser Zeit) auch ideologisch entscheidend geprägt hat. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass die Verbreitung postkolonialer Entwürfe in den verschiedenen Wissenschaften mit der gleichzeitigen ›Entschleierung‹ der kolonialen Verflechtung zahlreicher grundlegender Konzepte und Narrative in diesen Disziplinen einhergegangen ist – also der Erkenntnis, dass etwa wissenschaftliche Gegenstände wie Kultur, Religion oder Geschichte nicht einfach ›natürliche‹ Sichtfenster auf die uns umgebende Welt repräsentieren, sondern vielmehr erst im globalen Aushandlungsprozess der kolonialen Epoche ihren heutigen Status als quasi-universale Deutungskategorien der äußeren Wirklichkeit erhalten haben. Wenngleich die postkoloniale Theorie in den sozial- und kulturwissenschaftlichen Fächern heute zweifellos breit rezipiert wird, hat ihre Berücksichtigung in den theologischen Disziplinen (zumindest im deutschsprachigen Raum) gerade erst begonnen. Dass es sich bei der Theologie der Religionen dabei um ein ideales ›Einfallstor‹ für solcherlei Ansätze handelt, ist unübersehbar, wenn man bedenkt, wie stark die Begegnung der verschiedenen Religionen der Welt durch die politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Konstellationen gefärbt ist, die in nicht unerheblichem Maße auf Entwicklungen seit der kolonialen Epoche zurückgehen. Dies betrifft nicht allein die verschiedenen religiösen Identitäten und die damit verbundenen Vorstellungen der eigenen theologischen, konfessionellen oder kulturellen Herkunft, sondern auch und vor allem die konzeptuellen Fixpunkte des Dialogs – Kategorien, mit denen die verschiedenen Positionierungen über die Kontexte hinweg vergleichbar gemacht werden, etwa Religion, Kultur, aber auch Wahrheit, Gott oder Offenbarung: Weshalb und seit wann sprechen wir von Religion, um so unterschiedliche Dinge wie Chris-

Vorwort: Zur Notwendigkeit einer Neujustierung religionstheologischer Kategorien

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tentum und Hinduismus äquivalent zu setzen? Wie ist die Demarkationslinie zwischen denen, die als Religion sprechen, und denen, die es nicht tun, zu erklären? Wo liegt die geschichtliche Herkunft der Unterscheidung zwischen dem ›Westen‹ und dem ›Orient‹? Wann und in welchen diskursiven Zusammenhängen wurde der Gott der Christen konzeptuell zu einem Gott unter vielen? In welchem Zusammenhang wurde uns ›bewusst‹ oder plausibel, dass es nur eine, universale Wahrheit hinter der globalen, historischen Welt geben kann? Wie an dieser Aufstellung deutlich wird, darf die Bezeichnung ›postkolonial‹ nicht darüber hinwegtäuschen, dass der kritische Impetus der so benannten Theorie deutlich weiter reicht, als es die Aufdeckung kolonialer Verflechtungen impliziert: Durch ihre philosophische Basis, den sogenannten Poststrukturalismus, handelt es sich bei der postkolonialen Perspektive vielmehr um einen allgemein dekonstruierenden, umfassend historisierenden Ansatz, der die Historisierung diskursiver Gegenstände sozusagen lediglich exemplarisch anhand der Entschleierung ihrer kolonialen Prägung vollzieht, während er prinzipiell jedoch jeden anderen historischen Kontext (also nicht nur den kolonialen) in seine Analyse einbeziehen kann. Demgemäß soll im Folgenden auch und vor allem von poststrukturalistischer (und später auch post-pluralistischer) Religionstheologie gesprochen werden. Zum einen, um den soeben skizzierten allgemeineren Impetus des entsprechenden Ansatzes zu würdigen, was auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass die historische Verflechtung religionstheologischer Kategorien mit den Diskursen der Kolonialzeit nur ein Beispiel unter mehreren, theoretisch ähnlich gelagerten Themen in diesem Buch ist. Zum anderen, weil die postkoloniale Theorie für gewöhnlich aus einer dezidiert politischen, ideologiekritischen Perspektive argumentiert, der ich mich im Folgenden erst im späteren Verlauf widmen möchte und stattdessen zunächst vor allem auf die erkenntnistheoretischen Implikationen der poststrukturalistischen Theorie eingehen werde. Es ist die Grundthese dieses in seiner Gesamtheit eher experimentellen und stark explorativen Buchs, dass sich die oben angesprochene Revision zentraler religionstheologischer Modelle auch dadurch verwirklichen lässt, dass die Diskussion nicht länger im Kontext althergebrachter Konzepte und Kategorien geführt wird. Vielmehr versuche ich zu zeigen, wie die Dekonstruktion der (im weitesten Sinne) gemeinsamen konzeptuellen und theoretischen Basis verschiedener religionstheologischer Optionen3 mit Hilfe der poststrukturalisti3 Ich beschränke mich hier im Wesentlichen auf ›klassischere‹ (inklusivistische und pluralistische) Entwürfe. Zum einen, weil hier die Andockstellen für eine poststrukturalistische Kritik m. E. klarer zutage treten; zum anderen, weil ich im späteren Verlauf eine poststrukturalistische Re-Lektüre und entsprechende Würdigung einiger dieser Ansätze vornehmen möchte. Eine detailliertere (und systematisch-theologisch fundiertere) Auseinandersetzung mit neueren Optionen im Spektrum der Religionstheologie muss damit zukünftigen – dann vielleicht weniger explorativen – Arbeiten vorbehalten bleiben.

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Vorwort: Zur Notwendigkeit einer Neujustierung religionstheologischer Kategorien

schen Theorie neue Räume des Sag- und Denkbaren erschließen und damit möglicherweise die Grenzen des bisherigen Gesprächsverlaufs aufbrechen kann. Zu diesem Zweck wird sich das Buch in der Hauptsache zunächst einer skizzenhaften Historisierung und Dekonstruktion ausgewählter Kategorien (Wahrheit, Universalität, Religion, der ›eine‹ Gott, Schrift/Offenbarung) widmen, die dem bisherigen religionstheologischen Diskurs maßgeblich zugrunde liegen; diese Kategorien werden vielerorts als Fixpunkte des Dialogs interpretiert, die nicht umgangen werden könnten, und die daher die Annäherung der divergierenden Positionen verhinderten oder zumindest problematisch erscheinen ließen. Die durch die Dekonstruktion neu erschlossenen Räume des Sagbaren sollen schließlich im letzten Kapitel – im Sinne eines konzeptionellen Ausblicks – als rudimentäre, holzschnittartige Grundlage für eine religionstheologische Argumentation ausgeleuchtet werden, die es ermöglicht, ontologisierende Schließungen und Fixierungen zumindest der klassischen Modelle zu umgehen. Hier möchte ich – unter Anwendung verschiedener Entwürfe aus dem theoretischen Spektrum des Poststrukturalismus – Formen des nicht-essentialisierenden, antimetaphysischen Theologisierens skizzieren, die als potentieller Ausgangspunkt oder erste Impulse für zukünftige, poststrukturalistisch geprägte, religionstheologische Entwürfe dienen können. Die verschiedenen Teile des Buchs bauen insgesamt aufeinander auf, wobei im Rahmen der ersten beiden Kapitel auch eine umfangreiche Einführung in die theoretischen Grundlagen des Poststrukturalismus gegeben wird, sodass diesbezügliche Vorkenntnisse nicht notwendig sind. Dies hat den positiven Nebeneffekt, dass das Buch auch von solchen Leserinnen und Lesern rezipiert werden kann, die sich nur mittelbar für die religionstheologischen Debatten im engeren Sinne interessieren. So ist der Text auch als ein einleitender Beitrag zur laufenden Debatte um eine streng kulturwissenschaftliche Grundierung der Religionswissenschaft zu verstehen; gleichzeitig ist er wie gesagt als religions-/kulturwissenschaftlicher und theoretischer Impuls für weiterführende, dann stärker systematisch-theologisch ausgerichtete Entwürfe gedacht, indem er diese Debatte für eine entsprechend argumentierende Religionstheologie fruchtbar machen will. Das vorliegende Buch bildet den Abschluss meiner Heidelberger Schaffensphase. Ich möchte mich damit bei meinen dortigen Lehrerinnen und Lehrern, allen voran Christoph Strohm, Michael Bergunder und Jörg Haustein, bedanken. Durch ihren Forschergeist, ihre methodische und theoretische Akribie und ihre Begeisterung haben sie mir neue Räume des Denkens erschlossen, die ich auch in Zukunft mit vollem Eifer zu erkunden hoffe.

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Wahrheit

1.1. Wahrheit als »Problem des religiösen Pluralismus« »Normalerweise findet sich die religiöse Grundüberzeugung in der Form, dass für eine bestimmte Religion beansprucht wird, sie sei eine gültige Antwort auf das Göttliche, und die von ihr implizierten Glaubensüberzeugungen seien wahre Aussagen über das Wesen der Wirklichkeit. Das Problem des religiösen Pluralismus folgt aus dem Umstand, dass es zahlreiche solcher Ansprüche gibt.«4

Was John Hick, einer der Väter der pluralistischen Religionstheologie, hier als das Problem der religiösen Vielfalt bezeichnet, ist auch an vielen anderen Stellen als eines der Haupthindernisse in der interreligiösen Verständigung benannt worden: Dass nämlich die »konkurrierenden Wahrheitsansprüche der Religionen«5 und die damit verbundene »behauptete[…] Allgemeingültigkeit ihrer Aussagen«6 den Prozess einer konzeptuellen Universalisierung einzelner religiöser Traditionen widerspiegeln, die ganz zwangsläufig zu einer Inkompatibilität der verschiedenen, im Rahmen dieser Traditionen getätigten, theologischen Aussagen führt. Und mehr noch: »Tagtäglich berichten Medien über religiös motivierte Gewalt, eskalierende ethnische und kulturelle Differenzen, die aus religiösen Wahrheitsansprüchen resultieren.«7 Fast scheint es, als dass der Anspruch auf den Besitz allgemeingültiger Wahrheit zu den Grundübeln menschlichen Zusammenlebens gezählt werden kann, sodass es nicht weiter verwundert, dass solche Ansprüche auch für eine Theologie, die die Multireligiosität der Welt in den Blick nimmt, ein Problem darstellen. Und in der Tat haben sich Theolo4 John Hick: Gott und seine vielen Namen. Frankfurt a. M.: Lembeck 22002, S. 98. 5 Reinhard Leuze: Viele Religionen – eine Wahrheit? In: Christian Danz/Friedrich Hermanni (Hrsg.): Wahrheitsansprüche der Weltreligionen. Konturen gegenwärtiger Religionstheologie. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2006, S. 29–40, hier S. 29. 6 Ebd., S. 30. 7 Christian Danz/Friedrich Hermanni: Zur Einführung. In: Christian Danz/Friedrich Hermanni (Hrsg.): Wahrheitsansprüche der Weltreligionen. Konturen gegenwärtiger Religionstheologie. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2006, S. 1–7, hier S. 1f.

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Wahrheit

ginnen und Theologen »seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts intensiv mit dem religiösen Pluralismus befasst und eine Reihe religionstheologischer Konzeptionen entwickelt, die auf einen konstruktiven Umgang mit den divergierenden Wahrheitsansprüchen zielen.«8 Zweifellos sind auch die gegenwärtigen Debatten innerhalb der Theologie der Religionen im Kern von der Frage geprägt, wie sich die einzelnen religionstheologischen Optionen zur Wahrheitsfrage verhalten. Während exklusivistische und klassisch-inklusivistische Ansätze die jeweils eigene religiöse Tradition einmal mehr und einmal weniger mit dem Wahrheitsanspruch verbinden, problematisieren Ansätze wie der Pluralismus oder der mutuale Inklusivismus9 diese oftmals »naiv-unkritische«10 Verknüpfung vor allem im Hinblick auf eine »echte[…] Würdigung religiöser Vielfalt«11, die auch die Grundüberzeugungen anderer religiöser Traditionen mit ihren jeweils eigenen Wahrheitsansprüchen ernst nimmt: »Es scheint mir […] einer menschlichen Grundintuition zu entsprechen, dass Vielfalt den Wert des Guten erhöht, nicht aber reduziert. Dass es das Gute und das Schöne nicht nur in einer einzigen Form, sondern in einer Mannigfaltigkeit von Formen gibt, macht das Gute noch besser und das Schöne noch schöner. Warum sollte dies nicht auch für das Wahre und das Heilige gelten?«12

Diese Problematisierung erfolgt vor allem im Rahmen einer Reflexion der standortbedingten Voraussetzungen der verschiedenen theologischen Traditionen: So wird etwa bei John Hick das theologische Erkennen göttlicher Wirklichkeit mit Hilfe einer komplexen Erkenntnistheorie einer konsequenten Kontextualisierung unterzogen.13 Dieser Ansatz, der im Sinne der kant’schen Erkenntniskritik14 die unterschiedlichen Ausprägungen des religiösen Wahrheitsanspruchs als Produkte des jeweiligen kulturellen und historischen Umfelds dekonstruiert, ist in der Folgezeit vor allem mit dem Vorwurf konfrontiert worden, dass das pluralistische Modell gerade die eigene Argumentation von einer solchen Kritik ausnehme und 8 Ebd., S. 2. 9 Vgl. v. a. Reinhold Bernhardt: Der Absolutheitsanspruch des Christentums. Von der Aufklärung bis zur Pluralistischen Religionstheologie. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 21990; Reinhold Bernhardt: Ende des Dialogs? Die Begegnung der Religionen und ihre theologische Reflexion. Zürich: TVZ 2005. 10 Christian Danz: Einführung in die Theologie der Religionen. Wien: LIT 2005, S. 98. 11 Perry Schmidt-Leukel: Warum es zur pluralistischen Religionstheologie keine plausible theologische Alternative gibt. In: Christian Danz/Friedrich Hermanni (Hrsg.): Wahrheitsansprüche der Weltreligionen. Konturen gegenwärtiger Religionstheologie. NeukirchenVluyn: Neukirchener 2006, S. 11–28, hier S. 26. 12 Ebd. 13 Vgl. Hick: Gott und seine vielen Namen, S. 53–59; John Hick: An Interpretation of Religion. Human Responses to the Transcendent. New Haven/London: Yale University Press 22004. 14 Vgl. Hick: Gott und seine vielen Namen, S. 58.

Wahrheit als »Problem des religiösen Pluralismus«

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damit seine eigene Standortbedingtheit unterschlage15. Dieser Umstand mache den religionstheologischen Pluralismus letztlich doch zu einer inklusivistischen »Extremposition«16, indem die aufklärerisch geprägte Religionstheologie hier eine »vermeintlich universelle Vogelperspektive oder Meta-Perspektive«17 einnehme, um sich damit die übrigen (theologischen) Positionen – im völligen Gegensatz zum erklärten Ziel – in ihrem Sinne einzuverleiben.18 Solchen Bestrebungen hat Reinhold Bernhardt daher ein Modell gegenüber gestellt, das die bei Hick zum Ausdruck kommende »religionswissenschaftliche Außenperspektive in die theologische Binnenperspektive integriert«19: »Fernab von allen Superioritätsansprüchen geht [es] davon aus, dass Verstehen immer Integration des zu Verstehenden in den Referenzrahmen des von der eigenen Tradition geprägten Vorverständnisses ist. […] Der religions- bzw. traditionshermeneutische Inklusivismus […] bringt die Traditionsgebundenheit der sich begegnenden Innenperspektiven zu Bewusstsein, beschreibt die Modi ihrer Relationierung in der Spannung von Verstehen und Mitteilen und erinnert alle theologische und religionstheologische Konzeptbildung an ihre religions- und geistesgeschichtliche Kontextualität. Er versteht die Religionen als je von ihren eigenen normativen Bedeutungszentren konstituierte umfassende Traditionsperspektiven, die sich nicht wie einander entgegenstehende logische Wahrheitsansprüche gegenseitig ausschließen müssen, sondern wie unterschiedliche ganzheitliche Weltsichten und Lebensorientierungen unverkürzt und unharmonisiert nebeneinander bestehen, sich gegenseitig überlagern und umfassen können.«20

Indes hat Christian Danz argumentiert, dass auch der mutuale Inklusivismus sein Anliegen, sich »seiner superioristischen Implikationen zu entkleiden«21, nicht vollständig einhalten kann. Zum einen unterstelle auch dieses Modell einen »universalen Transzendenzgrund«22, der letztlich die »Grundlage für die Verständigung der Religionen«23 bilde. Zum anderen werde

15 16 17 18

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Vgl. Danz: Einführung in die Theologie der Religionen, S. 98. Ebd. Ebd. Neuere Ansätze innerhalb der pluralistischen Theologie (hier v. a. Schmidt-Leukel) versuchen dieses Problem durch die Verortung der (Religions-)Theologie im Diskurs zwischen den Religionen im Sinne einer »interreligiösen Theologie« zu umgehen. Vgl. Perry SchmidtLeukel: Wahrheit in Vielfalt. Vom religiösen Pluralismus zur interreligiösen Theologie. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2019. Reinhold Bernhardt: Prinzipieller Pluralismus oder mutualer Inklusivismus als hermeneutisches Paradigma einer Theologie der Religionen. In: Peter Koslowski (Hrsg.): Die spekulative Philosophie der Weltreligionen. Ein Beitrag zum Gespräch der Weltreligionen im Vorfeld der EXPO 2000 Hannover. Wien: Passagen 1997, S. 17–31, hier S. 22. Bernhardt: Ende des Dialogs?, S. 209. Danz: Einführung in die Theologie der Religionen, S. 98. Ebd., S. 100. Ebd.

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Wahrheit

»das Verhältnis zwischen Christentum und nichtchristlichen Religionen im unmittelbaren Rückgriff auf binnentheologische Theologumena wie die Trinitätslehre beschrieben […]. Wie auf diese Weise Vereinnahmungen nicht-christlicher Religionen vermieden werden sollen […], bleibt fraglich.«24

Im Hinblick auf den Verlauf der zuvor angerissenen Diskussion liegt der Schluss nahe, dass, wo es um die Frage letztgültiger und absoluter Wahrheiten geht, eine gewisse Form von Superiorismus unumgänglich ist. Dies liegt in den vorliegenden Fällen möglicherweise vor allem in dem Umstand begründet, dass diese grundsätzlich davon ausgehen, dass eine allgemeingültige Wahrheit, etwa in Form einer universalen Transzendenz, prinzipiell existiere und mithilfe sprachlicher Aussagen in irgendeiner Form repräsentierbar sei. Dies hat zur Folge, dass dementsprechende Aussagen stets universalen Charakter haben und damit freilich zwangsläufig zu einem Ausschluss (oder zumindest zu einer Einverleibung) konkurrierender Äußerungen führen, sodass auch in diesem Fall von einer echten Akzeptanz religiöser Vielfalt nur bedingt die Rede sein kann. Um diesem Problem zu begegnen, bietet sich also eine Problematisierung des den verschiedenen religionstheologischen Ansätzen zugrunde liegenden Wahrheitsbegriffs an. Indes hat Reinhard Leuze zurecht angemerkt, dass eine »Theorie, die auf den Wahrheitsbegriff verzichtet, […] den Gegenstand, von dem sie redet, völlig aus den Augen«25 verliere, denn die »verschiedenen Wahrheitsansprüche sind eine Gegebenheit, mit der man umgehen muss […].«26 Dabei geht Leuze davon aus, dass der »Wahrheitsanspruch einer Religion […] die Folge einer Universalisierung [ist], die gerade den höchsten Religionen als besonderes Merkmal zugesprochen werden muss«27 – und damit das Produkt eines historischen Prozesses, der zu einem bestimmten Zeitpunkt der menschlichen Geschichte irgendwann jene Traditionen erfasst hat, die wir heute als ›Weltreligionen‹ bezeichnen. »Diesen Prozess der Universalisierung kann man im monotheistischen Umkreis an der Entwicklung beobachten, die vom Judentum zum Christentum und zum Islam führt, sie lässt sich aber auch an der östlichen Religionswelt zeigen, wenn wir sehen, wie aus dem hinduistischen Denken der Buddhismus hervorgegangen ist.«28

Das bedeutet freilich, dass eine Religionstheologie, die von der religiösen Landkarte der Gegenwart aus denkt, diese Wahrheitsansprüche aus genannten Gründen als ihre historischen Voraussetzungen akzeptieren sollte, da die

24 25 26 27 28

Ebd. Leuze: Viele Religionen – eine Wahrheit?, S. 30. Ebd. Ebd. Ebd.

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Wahrheitsfrage im heutigen Diskurs der Religionen in der Tat einen breiten Raum einnimmt. Folgt man zunächst der These, dass es sich bei den Wahrheitsansprüchen der verschiedenen Weltreligionen um das Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung handelt, so bedeutet das umgekehrt aber auch, dass die Verbindung zwischen Religion und universalem Wahrheitsanspruch keineswegs prinzipiell notwendig ist – etwa weil die Wahrheit eine essentielle, zeitlose Eigenschaft von Religion verkörpere. Vielmehr kann auch diese Verbindung zwischen dem Religionsbegriff und dem Konzept einer universalen Wahrheit einer historischen Kritik unterzogen werden, um sich dem von John Hick aufgezeigten »Problem des religiösen Pluralismus«29 anzunähern. Im Folgenden möchte ich daher versuchen, eine solche Historisierung des Wahrheitsbegriffes vorzunehmen, um anschließend über Möglichkeiten nachzudenken, wie die Historizität der Idee einer allgemeingültigen Wahrheit im Hinblick auf den aktuellen interreligiösen Diskurs konzeptuell und theoretisch eingefangen werden kann.

1.2. Eine ›kleine Geschichte‹ der Wahrheit Nähert man sich dem Wahrheitsbegriff zunächst aus einer linguistischen Perspektive, so handelt es sich bei dem Ausdruck Wahrheit um eine sprachliche Ableitung, und zwar in Form einer Substantivierung des Adjektivs wahr. Diese Feststellung ist nur auf den ersten Blick banal, ist sie doch mit einer Reihe von Voraussetzungen verbunden, die die nachfolgende Argumentation strukturieren sollen: Die klare Unterscheidung zwischen Substantiv, Verb und Adjektiv ist eine Folge des Subjektzwangs der indoeuropäischen Sprachfamilie; sprachliche Subjekte bilden dabei nach Helmut Fischer stets das Zentrum einer Aussage, die strukturell ein Prädikat erfordert, welches dem Subjekt eine Tätigkeit zuordnet, und die außerdem die Bestimmung des Subjekts durch eine Eigenschaft in Form eines Attributs ermöglicht.30 Das »Grundschema des indoeuropäischen Satzes [nötigt uns] dazu, bei allem, was geschieht, auch zu sagen, durch wen es bewirkt wird.«31 Dadurch »sprechen [wir] in unserer Sprache den Subjekten ein Sein zu, selbst wenn diese gar nicht von dinglich-substantieller Art sind.«32 Und mehr noch, es werden

29 Hick: Gott und seine vielen Namen, S. 98. 30 Vgl. Helmut Fischer: Die eine Wahrheit? Wahrheit in Philosophie, Wissenschaft und Religion. Zürich: TVZ 2015, S. 29–33. 31 Ebd., S. 32. 32 Ebd., S. 31.

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»sogar dort, wo kein Täter für ein Geschehen zu ermitteln ist, fiktive Täter erschaffen und in das Geschehen hineingelesen, um dem Satz-Schema gerecht zu werden. In vielen Sprachen gibt es Verben, die ohne Tätersubjekte eine vollständige Aussage machen. Der Hopi sagt: ›rehpi‹ (blitzen), wo wir sagen müssen: ›Es blitzt‹. […] In anderen indoeuropäischen Sprachen steht die Verb-Endung für dieses Tätersubjekt (lat. fulge-t).«33

Der Subjektzwang hat in einigen indoeuropäischen Sprachen offenbar dazu geführt, dass praktisch jede Wortart durch Substantivierung zu einem sprachlichen ›Ding‹ werden kann; besonders ausgeprägt ist diese Sprachpraxis in Sprachen, die einen bestimmten Artikel aufweisen, wie etwa im Griechischen oder im Deutschen: »Stellt man im Griechischen dem Adjektiv ›agathós‹ (gut) den Artikel ›tó‹ (das) voran, so wird daraus das Substantiv ›tò agathón‹ (das Gute). Aus dem Vorgangsverb ›denken‹ wird das Dingwort ›das Denken‹, aus ›hier und jetzt‹ wird ›das Hier-und-Jetzt‹, aus ›eins‹ wird ›das Eine‹.«34

Dabei stellt Fischer fest, dass es sich bei der Substantivierung keineswegs um einen rein formal-linguistischen Vorgang handelt. Denn »[d]urch die sprachliche Operation […] werden Vorgänge oder menschliches Verhalten und Handlungsweisen zu selbstständigen Phänomenen. Aus ›spielen‹ wird ›das Spielen‹, aus ›lachen‹ wird ›das Lachen‹. Mit der Substantivierung werden aus Qualitäten, Quantitäten, Relationen und Eigenschaften ebenfalls eigenständige Wesenheiten.«35

Ganz offensichtlich handelt es sich bei Wahrheit linguistisch ebenfalls um eine solche ›Verdinglichung‹, sodass es sinnvoll scheint, dem Adjektiv wahr ein wenig mehr Beachtung zu schenken. Dem heutigen Sprachgebrauch folgend wird mit wahr in erster Linie die Eigenschaft einer Aussage bezeichnet. Diese ist (etwa in Form einer Behauptung, einer Drohung oder auch einer Geschichte) »der Wahrheit, Wirklichkeit, den Tatsachen entsprechend; wirklich geschehen, nicht erdichtet, erfunden o. Ä.«36. Wahr sind in diesem Sinne also Aussagen, die »mit dem Tatbestand übereinstimm[en], den [sie] formulier[en]«37, und als ein Adjektiv ist wahr dabei an die solchermaßen charakterisierte Aussage im Sinne eines sprachlichen Attributs gebunden. Anders verhält es sich freilich, wenn wahr zu dem ›Dingwort‹ Wahrheit substantiviert wird: Durch die daraus resultierende Möglichkeit, ein eigenständiges Satzsubjekt zu bilden, mutiert wahr zu einer unabhängigen sprachlichen Entität, zu einer »für sich existierenden Wesenheit«38, zum »Sein desjenigen Seienden, das ›wahr‹ genannt wird«39. 33 34 35 36 37 38

Ebd., S. 32. Ebd., S. 34. Ebd. https://www.duden.de/rechtschreibung/wahr. Fischer: Die eine Wahrheit?, S. 12. Ebd.

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Diese Verdinglichung eines Adjektivs, das in seiner Form als sprachliches Attribut stets mit einer konkreten Aussage verbunden ist, hat die faktische Universalisierung dieser Eigenschaft zur Folge und steckt damit sprachstrukturell die Grenzen eines Gegenstands ab, der erst aus der sprachlichen Operation der Verdinglichung heraus erfolgt und dieser keineswegs vorausgeht. In ein historisches Narrativ gekleidet lässt sich diese ›primäre Taufe‹ des Gegenstands Wahrheit möglicherweise erstmals in der griechischen Antike feststellen, und zwar bei dem ionischen Philosophen Heraklit (ca. 520–460 v. Chr.).40 Eine umfangreiche Charakterisierung im Sinne einer ontologischen Kategorie erhält der Ausdruck indes bei Platon (428/27–348/47 v. Chr.). Dessen Wahrheitskonzept gelangte unter anderem über den Neuplatonismus in die christliche Theologie, deren philosophische Richtung dadurch eine entscheidende Prägung erhielt.

1.2.1. Die Entdeckung der Transzendenz als ontologischer Kategorie Bei Platon erhält das Substantiv Wahrheit (ale¯theia) dadurch ontologischen Status, dass ihm ein Gegenstand in der Wirklichkeit zugeschrieben wird. »Dabei wird ›W[ahrheit]‹ […] primär als Korrelativbegriff zu ›Wissen‹ betrachtet – als Inbegriff der erkennbaren, geistig faßbaren Wirklichkeit.«41 Zentraler Bestandteil von Platons Theorie ist die Ideenlehre: »Die Idee (idéa/eîdos) ist das wahre Seiende. Gegenüber allen veränderlichen Sinndeutungen ist sie zeitlos und unveränderlich. Als dieses Zeitlose und Unveränderliche ist die Idee die eigentliche Wirklichkeit (ónto¯s ón) und damit auch die Wahrheit, die stets mit sich selbst identisch ist.«42 Der Gegenstandsbereich der Wahrheit ist also das »eigentlich Seiende«43, das mit den Sinnen nur unzureichend erfasst werden kann. Wahre Erkenntnis vollzieht sich geistig, im Sinne einer Wiedererinnerung (anámne¯sis) urbildlichen Wissens, das der »Seele des Menschen […] in vorgeburtlicher Existenz«44 eingeschrieben worden ist, und der Gegenstand dieser Erkenntnis kann damit nur ein transzendenter sein. In Platons Verständnis hat also nur unser Denken Zugriff auf die Wahrheit, während der sinnlichen Erkenntnis diesbezüglich lediglich die Funktion der »Weckung der Wiedererinnerung«45 39 Ebd., S. 13. 40 Vgl. ebd. Vgl. auch Jan Szaif: Art. Wahrheit. I. Antike. A. Anfänge bis Hellenismus. In: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 12. Darmstadt: WBG 2004, Sp. 48–54, hier Sp. 47f. 41 Ebd., Sp. 49. 42 Fischer: Die eine Wahrheit?, S. 17f. 43 Gernot Böhme: Platons theoretische Philosophie. Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 244. 44 Helmut Meinhardt: Art. Idee. I. Antike. In: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 4. Darmstadt: WGB 1976, Sp. 55–65, hier Sp. 56. 45 Ebd.

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zukommt. »Gleichwohl gibt es in der platonischen Philosophie neben den Ideen Ausdrücke für etwas, […] was gewissermaßen den Raum der Ideen aufspannt und durchherrscht«46, und zwar in Form der beiden obersten Prinzipien des Einen und der unbestimmten Zweiheit.47 Das Konzept der Prinzipien als Bedingungen allen Seins entfaltete in der neuplatonischen Philosophie Plotins (205–270) große Wirkung. Dieser identifizierte das »Urprinzip alles Seienden«48 mit dem »absolut Eine[n] [hén], jenseits aller Bestimmungen und Aussagemöglichkeiten, wie es Platon […] erwiesen hatte.«49 Im Sinne eines »transzendente[n] Prinzip[s]«50 strahlt es über mehrere Emanationsstufen in die Welt der sinnlich wahrnehmbaren Einzeldinge hinein: »Aus dem Einen geht als erstes der Geist (noûs) hervor. Er ist der Inbegriff aller Ideen im platonischen Sinn und bringt die Welt hervor, zu der die Seele (psyche¯) gehört, die sich mit dem Leib verbindet und damit in die ihr fremde Welt des Körperlichen eingeht.«51 Dieses Modell des ›Herüberquellens‹ im Sinne eines qualitativen Abstiegs des wahrhaft Seienden in die sinnlich erfahrbare Welt verknüpfte Plotin mit einer Lehre der Rückkehr der Seele zu ihrem wahren Seinsgrund. Dabei befreit sie sich »von ihrer Körperlichkeit, um aufsteigend zu dem Einen emporzusteigen«52. Plotin »verstand dieses Eine als Gott im Sinne eines Ersten, eines Überseienden und als Gegenüber zu dem Vielen«53, sodass die Rückkehr der Seele zu ihrem Urgrund einer unio mystica, einer »Vereinigung mit Gott«54, gleichkommt. Auf diese Weise konzipierte Plotin Gott als transzendente Größe,55 die dem Diesseits zeitlos und universal vorausgesetzt ist; damit eröffnete er dem einzelnen Schüler die theoretische Möglichkeit, die Grenze zwischen weltlicher und göttlicher Ebene in Form einer geistigen Schau zu überwinden. Ein zentraler Herkunftsort56 der christlichen Rezeption dieser »philosophische Religion«57 Plotins, der vor allem für die lateinische Welt bedeutsam werden sollte, ist das Werk eines unbekannten christlichen Philosophen, der sich selbst 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56

Böhme: Platons theoretische Philosophie, S. 244. Vgl. Ebd. Meinhardt: Art. Idee., Sp. 63. Ebd. Fischer: Die eine Wahrheit?, S. 18. Ebd. Ebd., S. 19. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Wichtige Einflüsse der (neu-)platonischen Philosophie auf die christliche Theologie lassen sich freilich schon vor dieser Zeit nachweisen. So kombinierten auch andere spätantike Theologen wie Augustin (354–430) oder Boethius (ca. 480–525) neuplatonische Konzepte mit christlichen Gottesvorstellungen. Für das antike Judentum war diesbezüglich vor allem die Septuaginta prägend (vgl. ebd., S. 19; S. 82–86). 57 Ebd.

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als der Dionysius des Areopag aus Apg. 17,34 ausgibt, historisch aber wohl ins frühe sechste Jahrhundert eingeordnet werden muss. Der Autor reagierte damit auf die zeitgenössischen Herausforderungen, die der institutionalisierte Neuplatonismus an die christliche Theologie stellte: Proklus (410–485), der langjährige Leiter der Athener Akademie, hatte der platonischen Metaphysik bereits zu Lebzeiten zu einem solchen Ansehen in der griechisch-sprachigen Welt verholfen, dass diese im fünften Jahrhundert zu einer »ernsthafte[n] Konkurrenz zum Christentum«58 avanciert war. »Der nicht-christliche (Neu-)Platonismus war eine individuelle Erlösungsphilosophie, die den Einzelnen, und nur ihn allein, auf dem Wege von Selbstfindung und Selbstverwirklichung zur Selbsterlösung anleitete. Das […] machte ihn zu einem direkten Konkurrenten zum Christentum, das eine personale Beziehung zwischen Gott und dem einzelnen Menschen lehrte und insofern eine individuelle Erlösungsreligion darstellte.«59

Dionysius begegnete dieser Herausforderung, indem er zum einen »einen christliche[n] Gegen-Entwurf zur Konzeption des Proklus«60 vorlegte; »zum anderen nahm er die individuelle Erlösungsphilosophie des nicht-christlichen (Neu-)Platonismus in das Christentum hinein«61: »Er passte jedoch die philosophischen Elemente des (Neu-)Platonismus nicht nur an das Christentum an, sondern er erweiterte sie auch um religiöse Elemente und Aspekte wie die Offenbarung als Selbstmitteilung des platonischen und gleichsam christlichen Einen, die Erkennbarkeit und Erkenntnis des platonischen und gleichsam christlichen Einen aus dem ontologischen System seiner schöpferischen Selbstmitteilung heraus, das sakramentale Wesen der Kirche und ihrer Hierarchie […], wobei er den schon von Proklus angedachten (neu-)platonischen Hierarchiebegriff zu einem Grundgedanken (neu-)platonisch-christlicher Philosophie weiterentwickelte […].«62

Verbunden mit dieser Philosophie war eine Mystik, die deutliche Züge von Plotins Lehre des Aufstiegs der Seele zum Urprinzip alles Seienden trägt: »Den Sinneswahrnehmungen gib […] ebenso den Abschied wie den Regungen deines Verstandes; was die Sinne empfinden, dem (entsage) ebenso wie dem, was das Denken erfaßt […]. Statt dessen spanne dich auf nicht-erkenntnismäßigem Wege […] zur Einigung mit demjenigen hinauf, der alles Sein und Erkennen übersteigt. Denn nur, wenn du dich bedingungslos und uneingeschränkt deiner selbst wie aller Dinge ent-

58 Beate Regina Suchla: Dionysius Areopagita. Leben – Werk – Wirkung. Freiburg/Basel/Wien: Herder 2008, S. 33. 59 Ebd., S. 33f. 60 Ebd., S. 34. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 35.

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äußerst, wirst du in Reinheit zum überseienden Strahl des göttlichen Dunkels emporgetragen, alles loslassend und von allem losgelöst.«63

Durch die Übersetzung und Kommentierung des Johannes Scotus Eriugena (ca. 815–877) entfaltete Dionysius’ »christliche Erlösungsreligion (neu-)platonischer Färbung«64 auch in der lateinischen Welt eine große Wirkung. Sie wurde besonders in der Scholastik breit rezipiert und gelangte auf diese Weise auch in die universitäre Theologie. Bis in die Neuzeit hinein repräsentierte die (neu-) platonische Metaphysik in Form der via antiqua eine Ontologie, die erst mit dem Aufkommen der empirischen Naturwissenschaften (zumindest vordergründig) allmählich verdrängt wurde. Indes fand die Konzeption, dass es sich bei der ›eigentlichen Wirklichkeit‹ um eine transzendente, zeitlose Größe jenseits der dinglichen Welt handelte, auch schon lange vorher kritischen Widerhall. So geht die »zweite Version«65 des ontologischen Paradigmas ausgerechnet auf Platons größten Schüler zurück, und zwar auf Aristoteles (384–322 v. Chr.). »Während […] Platon das wahrhaft Seiende in der höchsten Abstraktion, nämlich der Idee, sah, erkannte es Aristoteles im Konkreten, also ganz unten, im realen Einzelding.«66 Dabei ist »[ j]edes Seiende, welches durch Veränderung gekennzeichnet ist, […] zusammengesetzt aus F[orm] und M[aterie] […]. F[orm] und M[aterie] sind so die unselbstständigen Prinzipien bewegter Substanzen, d. h. solche Prinzipien, die je für sich allein nicht eigentlich sind, sondern nur zusammen ein Seiendes konstituieren, nämlich das aus ihnen […] zusammengesetzte Einzelding […].«67

Dennoch kennt Aristoteles – ebenso wie Platon – eine »einzige reine Form, die ohne jede Materie allein für sich existiert«68, und zwar »der unbewegte Beweger, Gott. Dieser Gott ist – wie die platonische Idee – zeitlos, unkörperlich, leidenslos, unveränderlich und der Welt gegenüber transzendent.«69 Über den Umweg der arabischen Philosophie in Form der latinisierten Kommentare des Ibn Sina (lat. Avicenna, ca. 980–1037) und Ibn Ruschd (lat. Averroes, 1126–1198) fand die aristotelische Metaphysik schließlich im 13. Jahrhundert Eingang in die christliche Theologie und begründete dort die Denkschule der via 63 Dionysius Pseudo-Areopagita, zitiert nach: Adolf Martin Ritter/Bernhard Lohse/Volker Leppin (Hrsg.): Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen. Band II: Mittelalter. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 52001, S. 14. 64 Ebd. 65 Fischer: Die eine Wahrheit?, S. 19. 66 Ebd. 67 Claus von Bormann/Winfried Franzen/Mieczysław Albert Kra˛piec/Ludger Oeing-Hanhoff: Art. Form und Materie (Stoff). In: Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 2. Darmstadt: WBG 1972, Sp. 977–1030, hier Sp. 980f. 68 Fischer: Die eine Wahrheit?, S. 20. 69 Ebd.

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moderna. Zwar ging die aristotelische Tradition, ebenso wie die via antiqua, von Gott als dem obersten, transzendenten Prinzip allen Seins aus; doch die Frage nach der Art und Weise, wie sich dieses wahre, göttliche Sein in der dinglichen Welt offenbare, wurde von den Vertretern der via moderna grundsätzlich verschieden beantwortet.70 Die aristotelische Sichtweise ging nicht länger davon aus, dass sich die wahre Erkenntnis auf einer rein geistigen Ebene, im Sinne der platonischen Wiedererinnerung urbildlichen Wissens, vollziehe. Vielmehr bezog sie die sinnlich wahrnehmbare Welt in den Erkenntnisprozess mit ein und läutete damit einen Paradigmenwechsel in der philosophischen Konzeption von Wahrheit und (äußerer) Wirklichkeit ein. In diesem Zusammenhang kann ein Blick gerade auf die radikaleren Positionen des sogenannten Universalienstreits hilfreich sein. Dieser Streit drehte sich im Kern um die Frage, ob den Allgemeinbegriffen (im Sinne der platonischen Ideen) ein Realitätsgehalt zukomme, oder ob (im Hinblick auf die Einführung der aristotelischen Metaphysik in der lateinischen Welt) lediglich Einzeldinge im ontologischen Sinne ›existent‹ seien, was freilich mit einer gänzlich unterschiedlichen Bewertung der Rolle der menschlichen Sinne und des Verstandes im Erkenntnisprozess einherging. Zwar bezieht – unter dem Eindruck der aristotelischen Thesen – auch der von John Hick71 hochgeschätzte Thomas von Aquin (1225–1274) den menschlichen Intellekt in den Erkenntnisprozess mit ein: Wahrheit bedeutet für Thomas »die Beziehung des Seienden auf einen Intellekt. ›Wahr‹ heißen also nicht nur Sätze, sondern die Dinge selbst. Sie stehen zwischen zwei Intellekten, dem verursachenden göttlichen und dem rezeptiven menschlichen. […] Wahrheit ist […] nur möglich durch die Selbstreflexion, das Zurückkommen des Denkens auf sich selbst.«72

Im Sinne der aristotelischen Tradition »können auch unsere Sinne Wahres erkennen. Aber die Wahrheit erfaßt nur der Intellekt. Denn er allein kann darüber urteilen, ob eine gedachte Bestimmung […] einem realen Gegenstand […] zukommt.«73 Dabei bekämpft Thomas wie schon vor ihm Albertus Magnus (1200– 1280) die These von der »Einzigkeit des Intellekts für alle Menschen«74: »Gegen Averroes betonte er […], es sei ein individueller Intellekt des Menschen.«75 Dennoch fungiert als Garant für die Urteilskraft der menschlichen Vernunft (intellectus) bei Thomas letztlich »die göttliche Vernunft (intellectus divinus)

70 Vgl. ebd. 71 Vgl. Hick: Gott und seine vielen Namen, S. 53f. 72 Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli. Stuttgart: Reclam 22000, S. 383. 73 Ebd. 74 Ebd., S. 374. 75 Ebd., S. 381.

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und damit die höchste Wahrheit (prima veritas)«76, sodass allein auf den Bezug auf dieses höchste Sein alles Übrige seinen Bestand hat.77 Ähnlich hatte auch Albert argumentiert: »Im Erkennen des Allgemeinen wächst der Mensch über seine zeitliche und räumliche Befangenheit hinaus; er wird göttlich. Gottessohnschaft durch Abstraktion. Durch den Intellekt sind wir nicht mehr Kinder eines Sterblichen, sondern Gottes […].«78 Dagegen vertraten radikalere Denker wie Roscelin von Compiègne (ca. 1050– 1124) einen Nominalismus, der die Allgemeinbegriffe als bloße Namen auffasste und ihnen keinerlei Realitätscharakter zuschrieb. Roscelin stellte (soweit wir das den Schriften seiner Gegner entnehmen können) die These auf, »dass die Begriffe nur sekundär alles Existierende in Gruppen zusammenfassten, dass also die Realität letztlich nur aus Einzelentitäten bestehe«79. In gemäßigterer Form vertrat diesen Standpunkt auch Wilhelm von Ockham (1288–1347), der, schon fast an der Schwelle zur Neuzeit, das Ende des »›objektiven‹ Zeitalters«80 und die »Epoche der Erkenntniskritik und Wissensanalyse«81 einleitete: Ochkam forderte, dass man »[b]ei jeder Vorstellung, die evident zu sein scheint, untersuche, ob sie durch sich selbst evident ist, also durch reine Begriffsanalyse zu erhalten ist, oder ob sie abgeleitet ist. Ist sie abgeleitet, dann entweder aus etwas anderem, das durch sich selbst bekannt ist, oder aus Erfahrung. Die Erfahrung muß zuletzt auf direkter Gegenstandserfassung (notitia intuitiva) beruhen.«82

Diese Priorisierung der sinnlichen Erfahrung im Erkenntnisprozess, die in der aristotelischen Metaphysik begründet lag, verlagerte den Wahrheitsbegriff bald vollständig in den Bereich menschlicher Möglichkeiten; Ockham hielt die thomistische Auffassung, welche die Erkenntnis letztgültiger Prinzipien an die Übereinstimmung mit dem göttlichen Wissen koppelte, gar für »kindisch (puerile)«83. Auf diese Weise rückte die via moderna das menschliche Denken und Erkennen in den Vordergrund, was die philosophischen Debatten um den Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff in der Folgezeit entscheidend verschieben sollte.

76 77 78 79 80 81 82 83

Fischer: Die eine Wahrheit?, S. 20. Vgl. ebd., S. 21. Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter, S. 375. Volker Leppin: Wilhelm von Ockham. Gelehrter, Streiter, Bettelmönch. Darmstadt: Primus 2003, S. 65. Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter, S. 499. Ebd. Ebd., S. 505. Ebd., S. 503.

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1.2.2. Von der Metaphysik zur Erkenntnistheorie Die Grundlagen dieses ontologischen Paradigmenwechsels finden sich freilich bereits in der ›realistischen‹ Position des Thomas von Aquin. Wie John Hick zu Recht betont hat, ist schon hier die erkenntnistheoretische These angelegt, dass nämlich, »wenn wir irgend etwas erkennen, […] es sich immer um eine Erkenntnis [handelt,] wie sie uns, mit unserer spezifischen Natur und der spezifischen Beschaffenheit unseres Erkenntnisapparats möglich ist«.84 Während der klassische (Neu-)Platonismus davon ausgegangen war, dass es dem Menschen aufgrund der göttlichen Natur seines Intellekts möglich sei, die ihm äußerliche Wahrheit unverfälscht und unabhängig von seinen sinnlichen Einschränkungen zu schauen, so weckte die Beschäftigung mit der aristotelischen Metaphysik auch zunehmend Zweifel an dieser Sichtweise: »Mit der Übernahme der aristotelischen Sicht auf die Welt wurde der Blick auf die Dinge dieser Welt gerichtet. Damit gingen die Möglichkeiten und die Aktivität des Erkennens von Wahrheit auf den wahrnehmenden Menschen und dessen Vernunft und Erkenntnisvermögen über.«85 Für Denker wie Albert oder Thomas (und gewiss auch für Ockham) war diese Verschiebung der platonischen Metaphysik noch nicht mit jenen tiefgreifenden theoretischen Konsequenzen späterer Epochen verbunden; solange der Mensch als Ebenbild Gottes galt, war es ihm prinzipiell möglich, göttliche Wahrheit in irgendeiner Weise angemessen zu erfassen. Dies änderte sich grundlegend mit dem »methodische[n]«86 Einwurf René Descartes’ (1596–1650): »Alles nämlich, was mir bisher am sichersten für wahr gegolten hat, habe ich von den Sinnen oder durch die Sinne empfangen; aber ich habe bemerkt, dass diese mitunter täuschen, und die Klugheit fordert, denen niemals ganz zu trauen, die auch nur einmal uns getäuscht haben.«87 Aus diesem Grund erklärte Descartes den Erkenntniszweifel zur Grundlage seines Denkens: »Ich will also annehmen, dass nicht der allgütige Gott die Quelle der Wahrheit ist, sondern dass ein boshafter Geist, der zugleich höchst mächtig und listig ist, all seine Klugheit anwendet, um mich zu täuschen; ich will annehmen, dass der Himmel, die Luft, die Erde, die Farben, die Gestalten, die Töne und alles Äußerliche nur das Spiel von Träumen ist, wodurch er meiner Leichtgläubigkeit Fallen stellt […].«88

84 85 86 87

Hick: Gott und seine vielen Namen, S. 53. Fischer: Die eine Wahrheit?, S. 21. Ebd., S. 22. René Descartes: Untersuchungen über die Grundlagen der Philosophie. Berlin: Holzinger 2 2014, S. 12f. 88 Ebd., S. 15.

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Die einzige Gewissheit sieht Descartes in der eigenen Existenz; diese Gewissheit ist jedoch nicht von einem ihm selbst äußerlichen Garanten abhängig, sondern liegt im Denken begründet. Denn »unzweifelhaft bin ich auch dann, wenn [der boshafte Geist] mich täuscht; und mag er mich täuschen, so viel er vermag, nimmer wird er es erreichen, dass ich nicht bin, so lange ich denke, dass ich Etwas bin. […][D]as Denken ist; dies allein kann von mir nicht abgetrennt werden; es ist sicher, ich bin, ich bestehe.«89

Die Konsequenz dieser Argumentation kann nicht deutlich genug betont werden. Indem Descartes hier das denkende Subjekt – und nicht eine diesem vorgelagerte (göttliche) Wirklichkeit – zum »Kriterium der Wahrheit«90 erklärte, entkoppelte er die Erkenntnistheorie von der Metaphysik als der Lehre vom äußerlichen Sein. Wahrheit war nun das Produkt des selbstreferentiellen Prozesses menschlichen Denkens – und Gott nach diesem Verständnis nicht länger Gegenstand der Philosophie.91

1.2.3. Erkenntnis und Sprache Indes war Descartes (wie auch schon die griechischen Philosophen) davon ausgegangen, dass sich das Denken unabhängig von Sprache vollzieht; so findet auch bei Platon die Wiedererinnerung urbildlicher Ideen (und damit die Wahrheitserkenntnis) ohne Sprache statt und ist dieser damit vorgeordnet; demgemäß enthalten »sprachliche Zeichen lediglich zuvor sprachfrei Gedachtes«92 – eine Annahme, die auch in der scholastischen Rezeption der neuplatonischen und aristotelischen Philosophie prinzipiell unhinterfragt blieb. Was Helmut Fischer als den »Geburtsfehler der abendländischen Philosophie«93 bezeichnet, hatte dort für zwei Jahrtausende »das Nachdenken über die Rolle der Sprache für den Erkenntnisprozess verhindert«94. Die Auseinandersetzung mit der cartesianischen Methode veranlasste zunächst den Neapolitaner Gian Battista Vico (1688–1744) dazu, eine Denkrichtung einzuschlagen, die in gewissem Sinne das Fundament für den späteren sogenannten linguistic turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften legte: Anders als seine Vorgänger vertrat Vico die Auffassung, dass Sprache im Sinne einer

89 Ebd., S. 16f. 90 Fischer: Die eine Wahrheit?, S. 22. 91 Der Verzicht auf die »metaphysische Vorgabe ›Gott‹« (ebd.) war indes eine Konsequenz, die erst die Nachfolger Descartes‹ zogen. Vgl. ebd. 92 Ebd., S. 24. 93 Ebd., S. 23. 94 Ebd., S. 24.

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»kognitive[n] Funktion«95 eine zentrale Rolle »für den geistigen Aufbau unseres Weltverständnisses spielt. Er erfasste, dass sich Gedanken in Sprache manifestieren, und dass dies in den unterschiedlichen Sprachen auf unterschiedliche Weise geschieht.«96 Mit dieser Argumentation ergänzte er die vor allem durch Descartes vorangetriebene Erkenntnistheorie, die den menschlichen Intellekt als Garant für die Wahrheitserkenntnis ansah, um die Komponente der Sprache als dessen maßgebliches Instrument. Das »linguistische Paradigma«97 der Erkenntnistheorie gelangte zunächst bei Johann Gottfried Herder98 und in der Deutschen Romantik zur vollen Blüte. So verstand etwa Wilhelm von Humboldt (1767–1835) die Sprache »als ein ›Organon der Kognition‹ und als ›das bildende Organ der Gedanken‹«99 und unterschied dementsprechend »zwischen den Worten, mit denen wir Dinge bezeichnen, den Vorstellungen von den Dingen, die wir mit diesen Worten verbinden, und den Dingen selbst«100. Über diesen Weg fand das sprachliche Paradigma der Wahrheitstheorie schließlich in der modernen Sprachwissenschaft seine disziplinäre Ausformung.101 Maßgeblich beteiligt war daran der Schweizer Indogermanist Ferdinand de Saussure (1857–1913), der als Begründer der strukturalistischen Semiotik gilt. Dessen Konzept der Arbitrarität (von lat. arbitrarius, ›willkürlich‹) brach endgültig mit der herkömmlichen Idee, dass sprachliche Zeichen ihnen in der äußeren Welt vorgelagerte Gegenstände repräsentierten und damit eine vorgegebene Struktur von Denken und Wirklichkeit abbildeten.102 Und auch im Gegensatz zu den Romantikern sah de Saussure die »Originalität der Sprachkultur […] nicht darin [begründet], eine natürliche Klassifizierung durch eine andere zu ersetzen, die nicht mehr natürlich ist, oder die Dinge der Welt auf ihre Weise zu ordnen; es geht vielmehr darum, neue Objekte in die Welt einzuführen, die vor der Ordnung, die ihnen aufgezwungen wird, unkenntlich und sogar unvorhersehbar sind.«103

In seinem Cours de linguistique générale (1916) vertrat de Saussure demgemäß die Auffassung, dass die Bedeutung den Worten nicht ›von Natur aus‹ innewohnte, sondern vielmehr durch soziale Konvention (im Sinne eines gesetzge95 96 97 98 99 100

Ebd. Ebd. Ebd., S. 23. Vgl. etwa seine Abhandlung über den Ursprung der Sprache (Berlin 1770). Fischer: Die eine Wahrheit?, S. 25. Ebd. Diese klassische Einteilung findet sich prinzipiell bereits in der aristotelischen Metaphysik. Vgl. Samuel Weber: Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-stellung der Psychoanalyse. Wien: Passagen 22000, S. 42. 101 Vgl. Oswald Ducrot: Der Strukturalismus in der Linguistik. In: François Wahl (Hrsg.): Einführung in den Strukturalismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973, S. 13–104, hier S. 26f. 102 Vgl. ebd., S. 16. 103 Ebd., S. 52.

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benden sprachlichen Systems [langue]) zugewiesen werde. So sei etwa »die Vorstellung ›Schwester‹ durch keinerlei innere Beziehung mit der Lautfolge Schwester verbunden, die ihr als Bezeichnung dient; sie könnte ebensowohl dargestellt sein durch irgendeine andere Lautfolge«104. Ähnlich wie Humboldt unterschied er zunächst zwischen dem Signifikanten (frz. signifiant), also der äußeren Form des sprachlichen Zeichens (etwa in Form einer Lautfolge), und dem Signifikat (siginfié), dem bezeichneten gedanklichen Konzept/Begriff bzw. dem Zeicheninhalt, das aufgrund seiner sozialen (»kollektiven«) Konstitution indes prinzipiell dem Wandel unterworfen ist:105 »Da das sprachliche Zeichen beliebig ist, scheint es so, als ob die so definierte Sprache ein freies System sei, das der Wille gestalten kann, das einzig von einem rationalen Prinzip abhängt.«106 »Aber diese Definition läßt die Sprache noch außerhalb der sozialen Tatsachen stehen; sie macht daraus etwas Irreales, weil sie nur eine Seite der Realität umfaßt, nämlich die individuelle Seite; es bedarf einer sprechenden Menge, damit eine Sprache bestehe. Niemals – und dem Anschein zum Trotz – besteht sie außerhalb der sozialen Verhältnisse, weil sie eine semeologische Erscheinung ist. […] Aber gleichwohl ist es nicht das, was uns verhindert, die Sprache als eine bloße Übereinkunft zu betrachten […]; es ist die Wirkung der Zeit, die sich mit der Wirkung der sozialen Kräfte vereinigt […]. Das Fortbestehen [der Sprache in der Zeit] aber trägt notwendigerweise die Umgestaltung in sich, eine mehr oder weniger beträchtliche Verschiebung der Beziehungen.«107

Dieses Modell entkoppelte Sinn und Bedeutung vollständig von der äußeren Welt der Dinge und unterwarf die Möglichkeiten sprachlichen Erkennens den Mechanismen des sprachlichen Systems im Sinne einer historischen Gemeinschaft der Sprechenden. Anders als in der »Denktradition der Metaphysik«108, in der das Wesen der Sprache ausschließlich über ihre »Funktion als Symbol – als Stellvertreter der Dinge […] – bestimmt«109 wurde (und damit selbst kein Ding im eigentliche Sinne war), verstand de Saussure diese nun als einen »autonomen, in sich geschlossenen Gegenstand«110 und wies der Sprache somit einen ontologischen Status zu. Mit der Einführung des linguistischen Paradigmas in die philosophische Erkenntnistheorie ist indes der Name Ludwig Wittgensteins (1889–1951) verbunden. In seinem Tractatus logico-philosophicus (1921) leuchtete dieser – in Ana-

104 Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin: De Gruyter 2 1967, S. 79. 105 Vgl. Ducrot: Der Strukturalismus in der Linguistik, S. 35–64. 106 Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 92. 107 Ebd., S. 91–93. 108 Weber: Rückkehr zu Freud, S. 45. 109 Ebd., S. 44. 110 Ebd., S. 46.

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logie zu Kants Kritik der reinen Vernunft111 – zunächst die Grenzen der Sprache als Mittel der Erkenntnis aus. Zwar erachtete Wittgenstein die Sprache in ihrer alltäglichen Form für wenig geeignet, Sinn im Sinne von Erkenntnis zu transportieren: »Die Sprache verkleidet den Gedanken. Und zwar so, dass man nach der äußeren Form des Kleides nicht auf die Form des bekleideten Gedankens schließen kann; weil die äußere Form des Kleides nach ganz anderen Zwecken gebildet ist als danach, die Form des Körpers erkennen zu lassen.«112

Um diesen Mangel der Sprache zu überwinden, propagierte Wittgenstein die Suche nach einer »idealen Sprache«113, die es dem Philosophen ermögliche, »Sinn« (also »notwendige und apodiktisch gewisse Einsichten in die Art und Weise, wie die Welt aufgebaut ist und wie sie funktioniert«114) auszudrücken, indem »die Sprache […] von den ›ganz anderen Zwecken‹ befreit werden [müsste], die dazu führen, dass sie den ›Gedanken‹ verkleidet«115. Im Zentrum seiner Sprachtheorie steht dabei zunächst die These, nach der der »Gedanke« das »logische Bild der Tatsachen ist«116. Unter Tatsachen versteht Wittgenstein hier alles, »[w]as der Fall ist«117, also das »Bestehen von Sachverhalten«118 im Sinne der Verbindung von Gegenständen in der Wirklichkeit. »Die Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte ist die Welt.«119 Das Verhältnis zwischen Welt und Abbild besteht für ihn nun darin, dass das »Bild mit dem Abgebildeten die logische Form der Abbildung gemein«120 hat, in seiner logischen Struktur also die Struktur des Sachverhalts abbildet. Der so gebildete Gedanke drückt sich schließlich im sprachlichen Satz »sinnlich wahrnehmbar aus«121. Allerdings ist diese Aussage nicht so zu verstehen, dass die Welt in direkter Weise durch Sprache repräsentiert werden könne; denn die Bestandteile des Satzes versteht Wittgenstein im Sinne von »Namen«122 oder »Urzeichen«123, die die Gegenstände im Satz vertreten: »Die Gegenstände kann ich nur nennen. Zeichen vertreten sie. Ich kann nur von ihnen sprechen, sie aussprechen kann ich nicht. 111 Zu Kants Erkenntniskritik vgl. das Kapitel zum Religionsbegriff. 112 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. In: Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe. Band 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 121999, S. 7–85, hier S. 26. 113 Georg Römpp: Ludwig Wittgenstein. Köln [u a.]: Böhlau 2010, S. 8. 114 Ebd., S. 15. 115 Ebd., S. 14. 116 Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, S. 17. 117 Ebd., S. 11. 118 Ebd. 119 Ebd., S. 14. 120 Ebd., S. 16. 121 Ebd. 122 Ebd., S. 19. 123 Ebd., S. 20.

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Ein Satz kann nur sagen, wie ein Ding ist, nicht was es ist.«124 Mit diesem Verständnis kann letztendlich nur der Satz (und damit nicht die Sachverhalte selbst) »Sinn« haben, denn »nur im Zusammenhange des Satzes hat ein Name Bedeutung«125. Diese Idee baute Wittgenstein in seinem zweiten Hauptwerk, den Philosophischen Untersuchungen (1953) weiter aus. Hier vertrat er die Position, dass »Sinn […] die Sprache […] nur durch Beziehungen innerhalb der Sprache [gewinnt], und nur anhand solcher Beziehungen kann entschieden werden, ob ein Satz denk- und sagbar ist«126, wahr oder falsch. In den Untersuchungen verwarf er daher nun auch die Vorstellung, nach der ein sprachlicher Ausdruck einen Gegenstand zumindest im Sinne eines Abbildes repräsentieren könne; tatsächlich sei eine Korrespondenz zwischen Satz und Sachverhalt nicht aus dem sprachlichen Ausdruck heraus ersichtlich, sondern nur im »sprachlichen Zusammenhang, mit welchem dem [sprachlichen] Bild solche Zuordnungen zugewiesen werden«127. Dieser Zusammenhang ist für Wittgenstein jedoch situationsgebunden und orientiert sich an der konkreten Praxis der Sprachverwendung. »Es ist, als erkläre jemand: ›Spielen besteht darin, daß man Dinge, gewissen Regeln gemäß, auf einer Fläche verschiebt …‹ – und wir ihm antworten: Du scheinst an die Brettspiele zu denken; aber das sind nicht alle Spiele. Du kannst deine Erklärung richtigstellen, indem du sie ausdrücklich auf diese Spiele einschränkst.«128

Wittgenstein nennt den »ganze[n] Vorgang des Gebrauchs der Worte« dementsprechend auch »Sprachspiele«129. Zentral ist hier sein Gedanke der »Abrichtung«130 im Sinne eines ›Einpaukens‹ dieser Regeln: Denn die »assoziative Verbindung zwischen dem Wort und dem Ding«131 erfolgt mit dem »hinweisende[n] Lehren der Wörter«132, über das das Kind den Gebrauch der Sprache erlernt; »aber doch nur zusammen mit einem bestimmten Unterricht. Mit einem anderen Unterricht hätte dasselbe hinweisende Lehren dieser Wörter ein ganz anderes Verständnis bewirkt.«133 Sprache wird hier also im Sinne eines kontingenten Werkzeugkastens verstanden, dessen konkrete Praxis erst die Verbindung von Wort und Ding impliziert. Hier zeigt sich (wie vielleicht auch schon bei de 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133

Ebd. Ebd. Römpp: Ludwig Wittgenstein, S. 70. Ebd., S. 71. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. In: Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe. Band 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 121999, S. 225–618, hier S. 239. Ebd., S. 241. Ebd., S. 240. Ebd. Ebd. Ebd.

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Saussure), dass Sinn und Bedeutung einer Aussage prinzipiell nicht mehr dadurch gewährleistet ist, dass diese in irgendeiner Form mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Vielmehr vollzieht sich die Verifikation von sprachlichen Ausdrücken weitgehend sprachlich, und zwar im Sinne ihres konkreten Gebrauchs, was Wahrheit zu einem kontingenten Produkt der notwendigerweise selbstreferentiellen Sprache macht.

1.2.4. Wahrheit und Bedeutung in der (post-)strukturalistischen Theorie Die Sprachphilosophie hat sich seither zu einer umfangreichen Unterdisziplin der (analytischen) Philosophie entwickelt und dem linguistischen Paradigma dadurch zu einem festen Platz in der ›Theorie der Wahrheit‹ verholfen.134 Im Folgenden möchte ich mich auf eine Denkschule beschränken, deren Darstellung für den Verlauf meiner weiteren Argumentation maßgeblich ist, und bei der sich zahlreiche Anknüpfungen an de Saussure und (den späteren) Wittgenstein identifizieren lassen: den sogenannten Poststrukturalismus. Als dessen Gründervater gilt im Allgemeinen der französische Strukturalist Michel Foucault (1926–1984). Dieser nahm mit seinem Diskursbegriff zunächst das wittgenstein’sche Konzept der Sinnkonstitution auf, erweiterte aber die Rolle des Sprachspiels um die konkreten »Macht- und Praxisformen«135 der Gesellschaft. »Das Wort Diskurs (franz. discours: Rede) stammt von lat. discurrere – auseinanderlaufen, zugleich auch ›hin- und herlaufen‹ und bezeichnet damit die Unruhe und Gefährlichkeit, welche Foucault zufolge vom Sprechen der Leute ausgeht. […] Deshalb wird in jeder Gesellschaft zur Sicherung der Macht die Ordnung des Diskurses durch bestimmte Institutionen, Prozeduren, Verfahren organisiert und kanalisiert.«136

134 Auch in Hans-Georg Gadamers (1900–2002) Hauptwerk Wahrheit und Methode (1960) steht die kritische Auseinandersetzung mit dem kartesianischen Modell der Wahrheitserkenntnis im Fokus (vgl. Jean Grondin: Einführung zu Gadamer. Tübingen: Mohr Siebeck 2000, S. 1– 3). In Abgrenzung zu der Idee, Wahrheit ausschließlich durch den reflexiven Prozess des Denkens erkennen zu können, fordert er die »Anerkennung der wesenhaften Vorurteilshaftigkeit alles Verstehens« (Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Band 1). Tübingen: Mohr Siebeck 61990, S. 274), also die methodische Integration der eigenen »Situationsgebundenheit« (ebd., S. 401) in den hermeneutischen Prozess. Dies betrifft nach Gadamer vor allem die Sprache, weil diese ein »zentrales Medium der hermeneutischen Erfahrung« (ebd., S. 387) repräsentierte und daher den »hermeneutischen Vollzug« (ebd., S. 399) maßgeblich bestimme. Denn »[u]m aber die Meinung eines Textes in seinem sachlichen Gehalt zum Ausdruck bringen zu können, müssen wir sie in unsere Sprache übersetzen, d. h. aber, wir setzen sie in Beziehung zu dem Ganzen möglicher Meinungen, in dem wir uns sprechend und aussprachebereit bewegen« (ebd.). 135 Reiner Ruffing: Michel Foucault. Paderborn: Wilhelm Fink 2008, S. 27. 136 Ebd., S. 28.

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Diese das sprachliche System kontrollierenden Instanzen, die die Kräfteverhältnisse innerhalb einer Gesellschaft sichern sollen, stecken für Foucault die Grenzen des Sagbaren ab und sind dabei maßgeblich an der Konstitution von Bedeutung innerhalb einer (sprachlichen) Gemeinschaft beteiligt. »Es ist immer möglich, daß man im Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven ›Polizei‹ gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muss.«137 Foucault spricht dabei einerseits von »diskursinternen Regeln und Erwartungen, bei deren Verletzung [eine Rede] von vornherein disqualifiziert ist«138 (etwa in Form von Kommentaren oder dem Ausschluss aus der Kommunikation). Darüber hinaus sind »Wahrheit und Wissen […] Foucault zufolge nicht von gesellschaftlichen Praktiken zu trennen, da abweichende Gedanken oft als widersinnig, absurd, unvernünftig oder einfach verrückt bezeichnet werden«139. Als Beispiel für solche diskursexternen Faktoren interessierte sich Foucault in seiner frühen Phase vor allem für den institutionellen Ausschluss des Wahnsinns in Form von psychiatrischen Kliniken. Ebenso wie de Saussure und Wittgenstein verwarf er die Annahme, dass der Diskurs im Stande sei, außersprachliche Objekte zu repräsentieren; vielmehr kritisierte Foucault in seiner Archäologie des Wissens (1969) die Vorstellung, durch »in der Zeit verstreute Aussagen«140 auf irgendeine Weise Zugriff auf die Realität zu erlangen: Denn man »würde sich mit Sicherheit täuschen, wenn man dem Sein […] selbst, seinem geheimen Inhalt, seiner stummen und in sich verschlossenen Wahrheit das abverlangen würde, was man zu einem bestimmten Augenblick hat darüber sagen können.«141 So sei das Objekt einer als äußerlich gedachten Wirklichkeit in seiner Einheit und Beschaffenheit vielmehr erst »durch die Gesamtheit dessen konstruiert worden, was in der Gruppe all der Aussagen gesagt worden ist, die [es] benannten, zerlegten, beschrieben, explizierten, [seine] Entwicklungen anzeigten«142. In dieser Form ist es das Ergebnis der oben genannten »Formationsregeln«143 des Diskurses, in dessen Rahmen es verhandelt wird. Wahrheit und Bedeutung sind damit Produkte dieses Diskurses, dessen philosophisches Konzept auf der (schon bei de Saussure angelegten144) 137 138 139 140 141 142 143 144

Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M.: Fischer 102007, S. 25. Ruffing: Michel Foucault, S. 28. Ebd. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. In: Ders.: Die Hauptwerke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 471–700, hier S. 505. Ebd. Ebd. Ebd., S. 513. Die philosophische Grundlage von de Saussures Sprachtheorie ist nicht gänzlich geklärt, zumal es sich bei seinem zentralen Werk, dem Cours de linguistique générale (1916) um eine posthum herausgegebene Sammlung seiner Vorlesungen handelt. Vgl. Ducrot: Der Strukturalismus in der Linguistik, S. 75.

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»Vorstellung gründet, daß es keine Ordnung geben kann, die der Sprache vorhergeht, und daß die Welt, bevor sie gesprochen wird, notwendig eine ›amorphe Masse‹ ist«145. Eines der Hauptprobleme, das bereits den linguistischen Strukturalismus betroffen hatte, offenbarte sich auch in Foucaults Archäologie. Schon de Saussures Ansatz war im Hinblick auf die Stabilität und prinzipielle Geschlossenheit der bilateralen Struktur seines Zeichenkonzepts kritisiert worden. Denn eine »unendlich komplexere Situation herrscht in den natürlichen Sprachen. Jeder Satz, als autonomes Signal betrachtet, ist in der Tat geeignet, je nach den Gelegenheiten, bei denen er gebraucht wird, ganz verschiedene Bedeutungen zu übermitteln. Der Befehl […] [›]Gib mir das blaue Buch, das auf dem Tisch ist[‹] hat fast ebenso viele unterschiedliche Bedeutungen […], wie es Situationen gibt, in denen man ihn formuliert. Das bei jedem Gebrauch gemeinte besondere Objekt wird also mit Hilfe einiger seiner Eigenschaften bezeichnet, derjenigen, die das Signifikat der Botschaft bilden und für ausreichend erachtet werden, um dem Hörer zu ermöglichen, es im Feld seiner Wahrnehmung zu lokalisieren.«146

Mit anderen Worten: Die Situativität sozialer Aushandlungsprozesse bringt es mit sich, dass die Verbindung zwischen Ausdruck (Signifikant) und Begriff (Signifikat) stets im Fluss und schwerlich (im Sinne der Aussage: ein bestimmter sprachlicher Ausdruck hat eine spezifische Bedeutung) fixierbar ist. Auch bei Foucaults Methode der ›Archäologie‹ geht es darum, Wissensstrukturen und Denkmuster historisch zu rekonstruieren, um die Ordnung von Diskursen innerhalb der heutigen Gesellschaft besser zu verstehen – dies freilich, um sie ihrerseits zu dekonstruieren. Dem liegt indes die Annahme zugrunde, dass es »in jedem Kulturzustand eine verborgene (›ungedachte‹) ›Modalität der Ordnung‹ gibt, die das ›positive Fundament‹ bildet, auf deren Hintergrund sich notwendig die Klassifizierung und dann die Interpretation der Erfahrungen entfalten werden; daß diese Ordnung jedesmal als eine ›Möglichkeitsbedingung‹ für die hierarchisierten Formen der Erkenntnis […] auftritt«147.

In Foucaults Idee dieses »historische[n] Apriori«148 offenbart sich also ebenfalls der ›metaphysische Rest‹ der strukturalistischen Theorie, die ihren Ausgangspunkt bei der These nimmt, dem Denken/Sprechen äußerliche Strukturen identifizieren und beschreiben zu können, die unsere geistige und soziale Realität konstituieren.

145 Ebd. 146 Ebd., S. 67. 147 François Wahl: Die Philosophie diesseits und jenseits des Strukturalismus. In: Ders. (Hrsg.): Einführung in den Strukturalismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973, S. 323–480, hier S. 328. 148 Ebd.

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Dieses theoretische Problem hat in konsequenter Weise Jacques Derrida (1930–2004) in sein Denken einbezogen. An der europäischen Philosophie kritisierte er, dass diese »seit Platon darauf aus [sei], die Herrschaft des (gesprochenen) Wortes zu festigen, mit dem ein unveränderbarer Sinn verbunden sein soll. Derrida nennt diese Verbindung Sinnpräsenz.«149 Um diese Tendenz zu problematisieren, radikalisierte er – in kritischer Auseinandersetzung mit de Saussures Zeichenmodell – dessen Konzept der Differentialität; bereits de Saussure hatte die Differenz eines Signifikanten zu anderen (formal nicht identischen) Signifikanten zur alleinigen Bedingung für dessen Identität erklärt – und nicht etwa die (metaphysische) Einheit des diesem Signifikanten zugeordneten Signifikats. An de Saussures Zeichenmodell kritisierte Derrida indes dessen bilaterale Struktur, die ja der Vorstellung entsprungen war, dem sprachlichen Ausdruck ein bedeutungstragendes Signifikat zuordnen zu können. Denn dessen »Sinn konstituiert sich jedenfalls nicht durch sein Verhältnis«150 zu dem ihm zugeordneten Signifikanten; denn das »formale Wesen des Signifikats ist die Präsenz, und das Privileg seiner Nähe zum Logos […] ist das Privileg der Präsenz«151: »Durch das Beibehalten der […] strengen Trennung zwischen signans und signatum sowie der Gleichstellung von signatum und Begriff bleibt von Rechts wegen die Möglichkeit offen, einen Begriff zu denken, der in sich selbst Signifikat ist, und zwar aufgrund seiner einfachen gedanklichen Präsenz und seiner Unabhängigkeit gegenüber der Sprache, das heißt gegenüber einem Signifikantensystem. Indem [de Saussure] diese Möglichkeit offen läßt – was allein schon durch den Gegensatz Signifikant/Signifikat, das heißt durch das Zeichen bedingt ist – […] erfüllt [er] die klassische Forderung nach einem, wie ich es genannt habe, ›transzendentalen Signifikat‹, das von seinem Wesen her nicht auf einen Signifikanten verweist, sondern über die Signifikantenkette hinausgeht.«152

Diese Beobachtung führt Derrida zu der Schlussfolgerung, dass, will man die metaphysische Komponente des de saussure’schen Modells überwinden, ein Signifikat nur mit dem Verweis selbst identifiziert werden kann – und nicht mit einem wie auch immer gearteten ›Sinn‹ anderer Ordnung. Sprache (in Derridas Terminologie Schrift) vollzieht sich also nicht über den Verweis sprachlicher Ausdrücke auf inhaltliche Konzepte, sondern über den steten Verweis von Signifikanten auf andere Signifikanten. Dieses

149 Erich Pruncˇ: Entwicklungslinien der Translationswissenschaft. Berlin: Frank & Timme 3 2012, S. 264. 150 Jacques Derrida: Grammatologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 35. 151 Ebd. 152 Jacques Derrida: Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva. In: Ders.: Positionen. Graz/Wien: Passagen 1986, S. 52–82, hier S. 55f.

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»Spiel der Differenzen setzt in der Tat Synthesen und Verweise voraus, die es verbieten, daß zu irgendeinem Zeitpunkt, in irgendeinem Sinn, ein einfaches Element als solches präsent wäre und nur auf sich selbst verwiese. Kein Element kann je die Funktion eines Zeichens haben, ohne auf ein anderes Element, das selbst nicht einfach präsent ist, zu verweisen.«153

Dies bedeutet zum einen, dass Bedeutung nicht durch den Verweis eines sprachlichen Ausdrucks (Elements) auf ein diesem äußerliches (gedankliches) Konzept konstituiert ist, sondern vielmehr durch den Verweis auf andere sprachliche Ausdrücke. Sinn entsteht somit in der beständigen Zitation/Iteration sprachlicher Elemente; diese Zitierbarkeit ist es auch, welche die Identität eines solchen Elements als sprachliches Zeichen gewährleistet.154 Das derrida’sche Verständnis von Schrift impliziert aber auch, dass Sinn niemals »präsent«, Bedeutung niemals vollständig fixierbar ist, da sie nur in der Spur der Verweise eines Signifikanten auf andere sprachliche Elemente aufscheint. »Es gibt nichts, weder in den Elementen noch im System, das irgendwann oder irgendwo einfach anwesend oder abwesend wäre. Es gibt durch und durch nur Differenzen und Spuren von Spuren.«155 »Das Wort sei durch die Unwägbarkeiten seiner Verwendung und seiner Wiederholungen in einer unendlichen Zahl von Kontexten ›kontaminiert‹. Durch den Wiedergebrauch (Iteration) in Raum und Zeit trete stets eine Sinnverschiebung ein. Jedes Wort verweise so wie jedes Zeichen auf vorangegangene und zukünftige Wörter und Zeichen und bewirke dadurch den Zerfall der Sinnpräsenz. Die Verschiebungen, die dadurch eintreten, nennt Derrida […] différance156.«157

In diesem Sinne ist Bedeutung das prinzipiell prekäre, fluide und instabile Ergebnis von Sprache. Nicht eine Struktur des außersprachlichen Sinns oder des sprachlichen Systems konstituiert den Diskurs; vielmehr ergibt sich dieser aus der fortwährenden Iteration und Translation sprachlicher Ausdrücke in immer neue sprachliche Kontexte – ein Prozess, der das de saussure’sche Signifikat letztlich im Bereich unendlicher Bedeutungsmöglichkeiten auflöst. Es ist genau dieses Feld unendlicher Möglichkeiten der Bedeutung, in dem Derridas Verfahren der Dekonstruktion angesiedelt ist. Seine Annahme, dass es sich bei der Idee, dass dem Menschen in irgendeiner Weise ein fester Sinn in

153 Ebd., S. 66. 154 Vgl. Jacques Derrida: Signatur, Ereignis, Kontext. In: Peter Engelmann (Hrsg.): Jacques Derrida. Limited Inc. Wien: Passagen 2001, S. 15–45, hier S. 32. 155 Derrida: Semiologie und Grammatologie, S. 67. 156 Hierbei handelt es sich um ein Kunstwort in Abgrenzung zu de Saussures Konzept der différence. 157 Pruncˇ: Entwicklungslinien der Translationswissenschaft, S. 264.

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sprachlichen Zeichen »objektiv zugänglich«158 sei, um eine »Illusion«159 handele, bedingt auch seine Ablehnung klassischer hermeneutischer Lektüremethoden: »Texte […] werden nicht mehr als stabile, in sich geschlossene Einheiten verstanden, die mit einer bestimmten Bedeutung, einem bestimmten Sinn ausgestattet sind. Neben der Kohärenz der Texte tritt auch das Gegenteil in den Vordergrund: ihre inneren Widersprüche und Brüche, ihre Lücken und Leerstellen. Der Text erhält seinen Sinn durch seine Beziehung zu anderen Texten.«160

Ein paar allgemeine Erläuterungen müssen hier genügen: Derrida geht es – grob gesprochen – um die Öffnung des Textes über seine behauptete ›transzendentale‹ Bedeutung hinaus; dabei sollen die Spuren sichtbar gemacht werden, die den sprachlichen Elementen durch ihren Verweischarakter auf andere sprachliche Ausdrücke eingeschrieben sind. Da diese Spuren prinzipiell ins Unendliche führen, können die Elemente nicht einfach durch das ›Zuordnen‹ anderer Signifikate erweitert werden; durch die Aufdeckung der Iterabilität sprachlicher Zeichen wird deren Identität (im Sinne eines ›präsenten‹ Signifikats) vielmehr aufgelöst. Im Zuge dieser »radikale[n] Neulektüre […] werden die Perspektiven ständig gewechselt, zentrale durch periphere Perspektiven ersetzt und wird den Spuren, die von der Sprache und anderen Texte[n] im jeweiligen Text hinterlassen wurden, geradezu exzessiv nachgegangen.«161 Auch Foucault widmete sich in seiner späteren (poststrukturalistischen) Schaffensphase vollends der Dekonstruktion von sich in Diskursen offenbarenden Narrativen und ›objektiven‹ Wahrheiten und Sinnkonstruktionen. In seinem Aufsatz Nietzsche, die Genealogie, die Historie (1971) problematisierte er beispielsweise die Praxis der Sinnkonstruktion durch die Suche nach historischen Ursprüngen: »[D]er Ursprung ist der Ort der Wahrheit. Absolut entrückt und aller positiver Erkenntnis vorausliegend, macht er das Wissen möglich […].«162 Diesem Konzept des sinnstiftenden Ursprungs setzte er – in Anlehnung an die Terminologie Friedrich Nietzsches – den Begriff der Herkunft entgegen. Wo auf der einen Seite die sinnhafte Kontinuität historischer Prozesse das ›Wesen‹ geschichtlicher Entwicklungen von ihren Anfängen bis in die Gegenwart transportieren, geht es auf der anderen Seite um die Einschreibung des Zufälligen und Diskontinuierlichen in die Geschichte. »Die Erforschung der Herkunft liefert kein Fundament: sie beunruhigt, was man für unbeweglich hielt; sie zerteilt, was man für eins hielt; sie zeigt die Heterogenität dessen, was man für kohärent 158 159 160 161 162

Ebd. Ebd. Ebd., S. 263. Ebd., S. 265. Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Walter Seitter (Hrsg.): Michel Foucault. Von der Subversion des Wissens. Frankfurt a. M.: Fischer 1987, S. 69–90, hier S. 72.

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hielt«163. Was Foucault hier kritisiert, ist die (metaphysische, strukturalistische) Idee, dass der historischen Realität selbst eine sinnstiftende Kontinuität, ja Bestimmung zuzurechnen sei; was er (freilich ironisch164) mit Nietzsche als die »wirkliche Historie«165 bezeichnet, ist vielmehr als ›nackte‹, vollständig kontingente Serie von Ereignissen zu verstehen, die »weder einer Bestimmung noch einer Mechanik [gehorchen], sondern dem Zufall des Kampfes […] Im Gegensatz zur christlichen Welt, die von der göttlichen Spinne gewoben wird, und im Unterschied von der griechischen Welt, die in ein Reich des Willens und in ein Reich der großen kosmischen Dummheit geteilt ist, kennt die Welt der wirklichen Historie nur ein einziges Reich, in dem es weder Vorsehung noch Finalursache gibt, sondern nur ›jene eisernen Hände der Notwendigkeit, welche den Würfelbecher des Zufalls schütteln‹.«166

Entgegen der historiographischen Methode, die historische Prozesse im Sinne kontinuierlich fortschreitender, sinnstiftender Narrative (re)konstruiert, propagiert Foucault – im Sinne seiner Genealogie – eine Umkehrung der Perspektive. Diese nimmt im Heute ihren Ausgangspunkt und verfolgt das Gewordensein eines Konzepts zurück in die Vergangenheit. Der Unterschied zur ›klassischen‹ Methode liegt auf der Hand: Während letztere von einem bestimmten, gesetzten Ursprungspunkt in der Vergangenheit ihren Ausgang nimmt, um die Verzweigungen eines durch diesen Ursprung ausgelösten Prozesses in dessen Zukunft aufzuzeigen, operiert die Genealogie genau umgekehrt: Sie nimmt einen Sinn nur für ein Konzept des Jetzt an und verfolgt dessen Genese anhand historischer Verknüpfungen zurück ins kontingente Dunkel der Vergangenheit. Durch das Nachspüren der historischen Verzweigungen zurück in der Zeit landet die Genealogie schließlich nicht bei einem sinnstiftenden Ursprung, sondern »bei den Einzelheiten und Zufällen der [unzähligen] Anfänge«167. »Die Analyse der Herkunft führt uns auch zu den unzähligen Ereignissen zurück, durch die (dank denen und gegen die) sich ein Begriff oder ein Charakter gebildet haben. Die Genealogie geht nicht in die Vergangenheit zurück, um eine große Kontinuität jenseits der Zerstreuung des Vergessenen zu errichten. […] Dem komplexen Faden der Herkunft nachgehen heißt vielmehr das festhalten, was sich in [der] Zerstreuung [der Geschichte] ereignet hat: die Zwischenfälle, die winzigen Abweichungen oder auch die totalen Umschwünge, die Irrtümer, die Schätzungsfehler, die falschen Rechnungen, die das entstehen ließen, was existiert und für uns Wert hat. Es gilt zu entdecken, daß an der

163 Ebd., S. 74. 164 Tatsächlich ist seine Charakterisierung der Historie programmatisch (und nicht ontologisch) zu verstehen. Vgl. weiter unten. 165 Ebd., S. 80. 166 Ebd. 167 Ebd., S. 72.

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Wurzel dessen, was wir erkennen und was wir sind, nicht die Wahrheit und das Sein steht, sondern die Äußerlichkeit des Zufälligen.«168

In diesem Sinne dekonstruiert Foucaults genealogisches Verfahren solche Arten von Wahrheit, die im Bezug auf historische Entwicklungen und Ursprünge legitimiert werden. Den Kern der Genealogie identifiziert er dabei mit der »wirklichkeitszersetzende[n] Parodie«169, die »der Historie als Erinnerung oder Wiedererkennung [widerstreitet]«170; »die identitätszersetzende Auflösung stellt sich gegen die Historie als Kontinuität oder Tradition; das wahrheitszersetzende Opfer stellt sich gegen die Historie als Erkenntnis. In jedem Fall geht es darum, die Historie für immer vom – zugleich metaphysischen und anthropologischen – Modell des Gedächtnisses zu befreien.«171

Statt also, wie der ›klassische‹ Historiker, dem gegenwärtigen Diskurs historischmetaphysisch konstituierte, vorgeblich durch methodische Empirizität gesicherte, fixierte Identitäten zu liefern, geht es dem Genealogen gerade darum, diese durch die Einschreibung der Kontingenz jener ›wirklichen Historie‹ zu »entwirklichen«172. Gemäß der poststrukturalistischen Theorie des Sinns und der Bedeutung kann es sich bei diesen metaphysischen Identitäten nur um illusionäre »Maske[n]«173 handeln, deren Plausibilität durch die Konstruktion historischer Narrative (und damit die Einschreibung von Sinn in die [eigentlich kontingente] Vergangenheit) begründet wird. »Der gute Historiker, der Genealoge, weiß, was er von dieser Maskerade zu halten hat. Nicht, daß er sie zurückweist, weil sie ihm zu wenig ernst ist; vielmehr möchte er sie bis zum Äußersten treiben: er möchte einen großen Karneval der Zeit veranstalten, in dem die Masken unaufhörlich wiederkehren.«174

Dem genealogischen Verfahren geht es darum, die Geschichte »zu parodieren, um zu enthüllen, daß sie nur Parodie ist. Die Genealogie ist die Historie als Karneval großen Stils.«175 Auch wenn Foucault im Verlauf seines Denkens das strukturalistische Denken hinter sich gelassen hat, ist sein der Dekonstruktion verschriebener Ansatz dennoch eng mit der Intention seiner Archäologie verbunden. Bereits damals war es ihm ja um die Problematisierung sozialer Ab- und Ausgrenzungen gegangen, die durch (Macht-)Strukturen, die dem gesellschaftlichen Diskurs verborgen/ 168 169 170 171 172 173 174 175

Ebd., S. 73f. Ebd., S. 85. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 86. Ebd., S. 85. Ebd., S. 86.

Annäherungen an den Wahrheitsbegriff

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vorgängig sind, den Anschein objektiver Realität erhielten.176 Die Genealogie konzentrierte sich nun auf solche ›Realitäten‹, die durch die diskursive Konstruktion und Fixierung von historisch begründeten Identitäten einen unhintergehbaren, ›natürlichen‹ Status gewinnen, und damit ebenfalls zu sozialen Ausgrenzungen und (diskriminierenden) Zuschreibungen führen können. Vor diesem Hintergrund dient die genealogische ›Zersetzung‹ historischer Wahrheit keinem Selbstzweck, sondern ist Teil eines politischen Projekts, dem sich Foucault Zeit seines Lebens gewidmet hat. Mit diesem Projekt verbunden bleibt für uns daher auch die Erkenntnis, dass es sich bei Wahrheit keineswegs immer um ein rein philosophisches Werkzeug, sondern häufig ebenfalls um ein politisches Mittel zur Sicherung von Machtverhältnissen handelt.177 Das folgende Zwischenfazit versucht sich dem Wahrheitsbegriff aus den beiden (nicht nur von Foucault eröffneten) Perspektiven, der historischen und der politischen, anzunähern.

1.3. Annäherungen an den Wahrheitsbegriff Auf den ersten Blick scheint unser eigentliches Thema in der vorangegangenen Darstellung etwas aus dem Blick geraten zu sein. Während für die Platoniker Wahrheit als transzendente Idee das Ziel menschlicher Erkenntnis gewesen ist, hatten sich die Strukturalisten und Poststrukturalisten zuletzt nur noch um die Frage gekümmert, wie Sinn und Bedeutung in sprachlichen Äußerungen konstituiert ist und letztendlich dekonstruiert werden kann. Zunächst dienten meine knappen historischen (oder vielleicht auch genealogischen) Ausführungen dem Zweck, plausibel zu machen, inwiefern es sich bei Wahrheit nicht einfach um etwas Fixes, Gegebenes ›da draußen‹ handelt, sondern um ein philosophisches Konzept, das zu verschiedenen Zeitpunkten in der Geistesgeschichte ersonnen wurde, um dem Menschen (im Sinne eines gedanklichen Werkzeugs) sich selbst und seine Welt erschließbar zu machen. Anders als bei Platon und seinen Nachfolgern, für die Wahrheit etwas Zeitloses, Außerweltliches (wenn nicht gar Göttliches) bedeutete, wird Wahrheit hier als ein konzeptuelles Produkt der menschlichen Geschichte verstanden, das zu allen 176 Vgl. Ruffing: Michel Foucault, S. 29f. 177 Es ist sicherlich kein Zufall, dass der Poststrukturalismus besonders in der politischen Theoriebildung breit rezipiert worden ist. Gewiss geht es Denkern wie Foucault und Derrida weniger um die metaphysische Charakterisierung der Welt als unstrukturierter, amorpher Masse; was hier wie eine Ontologisierung der Kontingenz alles Seienden anmutet, kann in diesem Zusammenhang vielmehr als programmatische Grundlegung eines dezidiert politischen Anliegens dienen, was das Verfahren der Dekonstruktion auch theoretisch schlüssig machen soll.

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Zeiten umstritten und mit verschiedenen philosophischen Ideen und theoretischen Konsequenzen verbunden war. Nachdem ich also Wahrheit auf diese Weise von einer ontologischen in eine historische Kategorie umgewandelt habe, will ich nun die Schlussfolgerung ziehen, dass auch die Frage Was ist Wahrheit? auf historischem (und nicht auf ontologischem) Wege zu beantworten ist. Diese Umwandlung ist mit Konsequenzen bezüglich unserer Ausgangsfrage verbunden. Für das hick’sche »Problem des religiösen Pluralismus«178 bedeutet ein historisches Wahrheitsverständnis, dass auch das Problem der konkurrierenden Wahrheitsansprüche historisiert werden kann (und zwar nicht nur in dem Sinne, dass die Ansprüche selbst ein Produkt der Religionsgeschichte sind179). Eine Annäherung an das Problem ist nicht länger durch die ontologische These verstellt, nach der nur ein Anspruch auf Wahrheit legitim sein könne (insofern es nur eine göttliche Wahrheit gebe); vielmehr ermöglicht es ein historisches Konzept von Wahrheit, diese These ebenfalls zu historisieren und damit dem religionstheologischen Diskurs verfügbar zu machen. Im Folgenden möchte ich zunächst die Historisierung dieser These vornehmen. Dabei bediene ich mich des Instrumentariums der poststrukturalistischen Theorie, da diese meines Erachtens nach die bislang konsequentesten Bestrebungen zu diesem Unterfangen an den Tag gelegt hat. Verbunden mit der Historisierung im Sinne Foucaults oder Derridas ist freilich auch eine Dekonstruktion des Wahrheitsbegriffs – eine Operation, die weitreichende Konsequenzen für das Denken von Gott und Religion im Allgemeinen nach sich zieht, wie sich im weiteren Verlauf zeigen wird.

1.3.1. Historisch: Wahrheit als sedimentierter Name Wie die anfänglichen Ausführungen zur Wahrheit als »Problem des religiösen Pluralismus« gezeigt haben, scheint die Beobachtung, dass eine religiöse Positionierung in der Regel mit einem spezifischen Wahrheitsanspruch verbunden ist, weitgehend Konsens unter (Religions-)Theologinnen und Praktikern des interreligiösen Gesprächs. Auch Fischer bemerkt – nachdem er das griechische Ideal des Dialogs als »Gespräch gleichberechtigter Partner«180 mit dem Ziel »eine gemeinsame Erkenntnis zu gewinnen oder etwas Strittiges zu klären«181 bestimmt hat – beinahe konsterniert: »Ein interreligiöses Gespräch wird von anderen Voraussetzungen her geführt.«182 Während für die Griechen der Dialog 178 179 180 181 182

Hick: Gott und seine vielen Namen, S. 98. Vgl. ebd., S. 50f. Fischer: Die eine Wahrheit?, S. 79. Ebd. Ebd.

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(zumindest nach dieser Lesart) dem Zweck diene, die Wahrheit im »Austausch der Argumente«183 zu suchen und diese schließlich, im Sinne einer Übereinkunft, zu finden, so bildeten im Falle des interreligiösen Gesprächs das »eigene […] Weltverständnis und [die] darin enthaltene […] eigene […] Wahrheit«184 der verschiedenen Religionen gerade die Voraussetzung. »In der nicht verhandelbaren Grundwahrheit jeder Weltreligion liegt bereits ihr Absolutheitsanspruch.«185 Vor diesem Hintergrund ist nicht weiter verwunderlich, dass theologische, den praktischen Dialog der Religionen forcierende, Abhandlungen häufig bemüht sind, zunächst die eigenen Grundlagen im Sinne eines inhaltlichen ›Absteckens‹ des eigenen Wahrheitsfeldes zu identifizieren. So stellt beispielsweise die EKD in ihrer Handreichung Klarheit und gute Nachbarschaft. Christen und Muslime in Deutschland (2006) gleich zu Beginn unmissverständlich klar: »Christliche Mission […] umfasst das Zeugnis vom dreieinigen Gott, der den Menschen durch Jesus Christus zu wahrer Menschlichkeit befreit. […] Die evangelische Kirche redet dabei von Gott in der Gewissheit, dass er der Menschheit durch Jesus Christus in Wahrheit offenbart ist. Auf Gottes Wahrheit im biblischen Sinn können sich Menschen unbedingt verlassen. Auch Menschen, die vom dreieinigen Gott reden, können diese Wahrheit weder besitzen noch über sie verfügen. Sie bleiben Sünder, die darauf angewiesen sind, dass diese Wahrheit sie von Sünde und Schuld frei macht. Zu anderen Menschen – also auch Muslimen –, die von dieser Wahrheit nicht berührt sind, reden sie von dem Gott, der sündige Menschen rechtfertigt, in der Erwartung, dass Gott auch ihnen die Gewissheit ihrer Rechtfertigung durch seine Gnade schenkt.«186

Diese theologischen Grundlegungen werden anschließend mit Glaubenssätzen des muslimischen Gegenübers konfrontiert, um (trotz der Feststellung einiger Gemeinsamkeiten) letztlich doch deren prinzipielle Inkompatibilität herauszustellen:187 »Von den Muslimen wird Jesus als Prophet hoch verehrt, nicht jedoch als Erlöser und Gottessohn anerkannt. So sind die Person Jesu und seine Verehrung im Islam Anknüpfungspunkte für das Gespräch zwischen den Angehörigen beider Religionen, nicht aber Inhalt des gemeinsamen Glaubens.«188 Aus einer synchronen Perspektive, die den gegenwärtigen Stand des interreligiösen Diskurses in den Blick nimmt, sind diese Feststellungen zum Teil sicherlich zutreffend. Zieht man aus dieser These indes den hier implizierten Schluss, dass die dargestellten theologischen Aussagen das substantielle Wesen 183 184 185 186

Ebd. Ebd. Ebd. Rat der EKD (Hrsg.): Klarheit und gute Nachbarschaft. Christen und Muslime in Deutschland. Hannover: Kirchenamt der EKD 2006, S. 15f. 187 Eine völlig gegenläufige Herangehensweise offenbart indes die Handreichung aus dem Jahr 2000: Rat der EKD (Hrsg.): Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland. Gestaltung der christlichen Begegnung mit Muslimen. In: epd-Dokumentation 38 (2000). 188 Ebd., S. 18.

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der verschiedenen Religionen im Allgemeinen bestimmen, so ergibt sich in der Tat die von Fischer beschriebene Ausgangssituation des interreligiösen Gesprächs: Die Ontologisierung der Differenz durch die Festschreibung der theologischen Positionen verhindert dabei prinzipiell die Verständigung im Sinne eines (idealisierten) griechischen Dialogmodells. Eine andere Ausgangssituation ergäbe sich, wollte man, statt sich des zeitlosen Wesens der eigenen Identität zu vergewissern, den Blick auf das historische Gewordensein des eigenen Verständnisses und der eigenen Sicht auf das jeweilige Gegenüber lenken. Ein solcher, durch die oben umrissene historisierende/ dekonstruierende Perspektive begründeter Ansatz könnte enthüllen, dass die Verhältnisbestimmung der verschiedenen Positionen (wie auch deren inhaltliche Füllung) das Ergebnis eines historischen Prozesses gewesen ist – und daher keineswegs, im Sinne einer metaphysischen Wahrheit, für alle Zeiten fix und unverändert. Denn auch wenn der unter diesem Vorzeichen durchgeführte Dialog freilich an die im Diskurs vorgenommenen Positionierungen anknüpfen würde, so eröffnete eine solche Herangehensweise dennoch die grundsätzliche Perspektive, dass Annäherung und Verständigung nicht prinzipiell unmöglich sind. Anders als in dem in der EKD-Handreichung vertretenen Ansatz stünde dadurch das Ergebnis des Dialogs – ganz im Sinne des ›griechischen Ideals‹ – nicht von vornherein fest. Aus poststrukturalistischer Sicht ist das auch in der EKD-Handreichung vollzogene Abstecken von Grenzen durch die inhaltliche Konstruktion von Identitäten ein im höchsten Maße politischer Prozess. Denn tatsächlich ist eine solche Praxis in der Lage, Positionen im gesellschaftlichen Diskurs zu fixieren, die fortan die Aushandlungsprozesse im gesellschaftlichen Miteinander prägen und dabei möglicherweise Hierarchien und Verhältnisse begründen, die als quasi-natürliche einen unhintergehbaren Status erhalten. So gewinnt beispielsweise die Charakterisierung der prinzipiellen Andersartigkeit von christlicher und muslimischer Religion eine existentielle Bedeutung, wenn sie mit jenem historiographischen Narrativ in Verbindung gebracht wird, das in nicht geringen Teilen der Öffentlichkeit geradezu identitätsstiftenden Charakter hat – die Erzählung von Europa als dem ›christlichen Abendland‹. Hier leistet nicht allein die Feststellung, dass sich Muslime und Christen in ihren theologischen Grundwahrheiten fundamental unterscheiden, der Annahme Vorschub, dass dem Islam keinerlei Rolle in der historischen Genese Europas zufällt;189 vielmehr bedeutet auch der Umstand, dass die Unvereinbarkeit der beiden Religionen im interreligiösen Gespräch von vornherein feststeht, dass Muslime (zumindest 189 Dass diese Geschichte auch anders erzählt werden kann, zeigt etwa Peter Antes: Dialog mit dem Islam. In: Peter Graf/Peter Antes (Hrsg.): Strukturen des Dialogs mit Muslimen in Europa. Frankfurt a. M.: Peter Lang 1998, S. 19–49.

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implizit) auch in Zukunft niemals Teil dieses ›christlichen Abendlandes‹ werden können. Das politische Ethos der poststrukturalistischen Theorie besteht nun gerade darin, den Status der Quasi-Natürlichkeit solcher fixierender Zuschreibungen zu ent-ontologisieren und damit die vermeintlich unaufhebbaren Positionen dem gesellschaftlichen Spiel ein weiteres Mal preiszugeben. Eine Denkrichtung, die dieses Ethos in besonderer Weise verkörpert, ist dabei die feministische Spielart der poststrukturalistischen Theorie. In ihrem Buch Körper von Gewicht (1993) widmet sich etwa die US-amerikanische Philosophin Judith Butler den gesellschaftlichen Diskursen um den weiblichen Körper, der häufig als der ›natürliche‹ Ankerpunkt weiblicher Identität identifiziert wird, welcher die Möglichkeiten und Grenzen von Frauen in letzter Instanz konstituiere. Demgegenüber argumentiert Butler, dass der weibliche Körper keineswegs dem Diskurs (im Sinne einer metaphysischen Größe) vorgängig ist, und daher auch nicht den ›wahren‹ Charakter von Weiblichkeit repräsentieren könne; das durch den Körper konstituierte weibliche Wesen ist vielmehr das Produkt eines Diskurses, in dessen Verlauf der weibliche Körper »als vorgängig gesetzt oder signifiziert [wird]. Diese Signifikation produziert als einen Effekt ihrer eigenen Verfahrensweise den gleichen Körper, den sie nichtsdestoweniger zugleich als denjenigen vorzufinden beansprucht, der ihrer eigenen Aktion vorhergeht.«190 Einfacher gesprochen: Die im Diskurs konstruierte Entität der Frau geht dem Konzept des diese Entität limitierenden Körpers voraus: Der Körper ist nicht deshalb weiblich, weil Weiblichkeit ein ›natürliches‹, außersprachliches Faktum ist; Weiblichkeit ist vielmehr ein Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlungen, und die Weiblichkeit des Körpers kann daher erst im Rahmen dieses Prozesses plausibel werden – ein Umstand, der durch die permanente Behauptung des weiblichen Körpers als äußerliches Faktum verschleiert wird. Freilich geht es Butler hier nicht darum zu bestreiten, dass Frauen einen Körper haben oder dass es überhaupt so etwas wie materielle Realität gibt, denn über deren ›Wesen‹ trifft sie (in der oben umrissenen Konsequenz der poststrukturalistischen Theorie) prinzipiell keinerlei Aussage. Worum es ihr geht, deckt sich vielmehr mit dem politischen Anliegen, das sich schon bei Foucault und Derrida gezeigt hat: der Dekonstruktion diskursiver, die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse strukturierender Identitäten, die Butler als die Materialität des Diskurses versteht.191 So dekonstruiert sie im weiteren Verlauf die diskursive Praxis, das Konzept des Körpers (und damit Materialität) als einen unhintergehbaren, quasi-natürlichen Fixpunkt zu behaupten – mit dem Ziel, die Aushandlungsprozesse um das ›Wesen‹ von Weib190 Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 56. 191 Vgl. ebd., S. 55–57.

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lichkeit zum Erliegen zu bringen (ein Unternehmen, dessen Erfolg in gehöriger Weise von der Deutungsmacht seiner Urheber abhängig ist). Möglich ist dies nach Butler, weil Körperlichkeit (allgemeiner: Materialität) als Platzhalter für eine Vielzahl von Diskursen dient, die zu allen Zeiten über den Charakter des (weiblichen) Körpers und um Weiblichkeit im Allgemeinen geführt worden sind: »Es ist von Anfang an klar, daß Materie eine Geschichte hat (sogar mehr als eine) und daß die Geschichte der Materie zum Teil bestimmt ist von der Aushandlung der sexuellen Differenz. Wir können versuchen, zur Materie als etwas dem Diskurs Vorgängigen zurückzukehren, um unseren Thesen hinsichtlich der sexuellen Differenz eine Grundlage zu geben. Wir könnten dann allerdings entdecken, daß Materie vollständig erfüllt ist mit abgelagerten Diskursen um das biologische Geschlecht und Sexualität, die die Gebrauchsweisen, für die der Begriff verwendbar ist, präfigurieren und beschränken.«192

Indem Körper nun (im Rückgriff auf »Materie als etwas dem Diskurs Vorgängigen«) als unumstößlicher, quasi-natürlicher, ›biologischer‹ Fixpunkt, als Garant für die äußere, nichtsprachliche Wirklichkeit gesetzt wird, werden gleichzeitig diese vorangegangenen (und gewiss noch andauernden) Aushandlungsprozesse um das Wesen der Frau und ihren Körper überdeckt. Der Körper wird damit als ein ontologisches ›Ding‹ behauptet, das dem Diskurs enthoben ist, weil es als unverhandelbare, nur empirisch erfahrbare Wirklichkeit ein unveränderliches ›Außen‹ repräsentiert. Diesen Vorgang, der einen Begriff als ontologische Kategorie etabliert, indem er die Geschichte seines eigenen Diskurses mit all den Gegenkonzepten und Bestreitungen vergessen macht, versteht Butler als die Sedimentation/Ablagerung dieses Diskurses. Diese Ablagerung hat zur Folge, dass der auf diese Weise verkörperte Signifikant nun nicht länger auf ein inhaltlich bestimmtes Signifikat verweist, denn »[w]enn der als der Signifikation vorgängig bezeichnete Körper ein Effekt der Signifikation ist, dann ist der mimetische oder darstellende Status der Sprache, demzufolge die Zeichen als zwangsläufige Spiegelungen auf die Körper folgen, überhaupt nicht mimetisch. Der Status der Sprache ist dann vielmehr produktiv, konstitutiv, man könnte sogar sagen performativ, insoweit dieser signifizierende Akt den Körper abgrenzt und konturiert, von dem er dann behauptet, er fände ihn vor aller und jeder Signifikation vor.«193

Die Sedimentation ist also, aufgrund des fehlenden Darstellungscharakters des Signifikanten, zwangsläufig mit einer inhaltlichen Beliebigkeit oder Leere verbunden. In diesem Zusammenhang erfüllt ein sedimentierter Diskurs die Funktion eines Namens, der weniger auf ein inhaltliches Signifikat verweist als

192 Ebd., S. 55. 193 Ebd., S. 56.

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vielmehr die Funktion hat, eine ontologische Kategorie oder einen diskursiven ›Körper‹ zu konstituieren. Im folgenden möchte ich das Konzept der (religiösen) Wahrheit im Sinne eines sedimentierten Namens verstehen. Denn wenn die Beobachtung Fischers, dass nämlich die Idee der jeweiligen religiösen Akteure, die Wahrheit bereits zu besitzen, in der Regel den Ausgangspunkt des interreligiösen Gesprächs bildet, zutrifft, dann liegt auch die Vermutung nahe, dass die behauptete Wahrheit der jeweils eigenen Position in der gegenwärtigen historischen Situation des Dialogs der Religionen (und auch ganz allgemein) zu einer ontologischen Kategorie sedimentiert ist, die, aufgrund ihrer Signifikation als dem Diskurs vorgängig, prinzipiell unhinterfragbar ist. Die Markierung der eigenen theologischen Position als wahr würde dabei (im Zuge eines performativen Aktes) bereits den Verlauf des Gesprächs strukturieren – und nicht deren inhaltliche Füllung, über deren Richtigkeit ja, im anderen Falle, diskutiert werden könnte. Durch diese Markierung erhalten auch die in dieser Position enthaltenen theologischen Aussagen ontologischen Status, da die Zuordnung derselben zum Bereich der religiösen Wahrheit deren Gültigkeit auch ohne den Verweis auf die vorausgegangenen Auseinandersetzungen des historischen Diskurses sicherstellt. Dass es sich so verhalten kann, lässt sich etwa anhand der bereits zitierten EKD-Handreichung zeigen. Wahrheit dient hier zunächst ganz allgemein der metaphysischen Absicherung der eigenen Identität: In dem mit Die Wahrheit und die Toleranz der christlichen Mission überschriebenen Abschnitt wird gleich zu Beginn des ersten Kapitels der eigenen Position unmissverständlich der Status religiöser Wahrheit zugewiesen.194 Bezeichnenderweise finden sich in dem genannten Abschnitt nur äußerst vage inhaltliche Bestimmungen dieser Wahrheit; so wird lediglich davon gesprochen, dass Gott »der Menschheit durch Jesus Christus in Wahrheit offenbar ist«195, und sich die Menschen auf »Gottes Wahrheit im biblischen Sinne […] unbedingt verlassen«196 können. Dieser Umstand weist darauf hin, dass die Signifikation der eigenen Position als Wahrheit (und damit der anderen als »von dieser Wahrheit nicht berührt«197) in der Tat eine rein performative, identifikatorische Funktion hat und diese Setzung dem angestrebten interreligiösen Dialog unverhandelbar vorausgesetzt ist. Die Tatsache, dass eine inhaltliche Charakterisierung oder gar Begründung dieses Anspruchs (etwa in inhaltlicher Auseinandersetzung mit jenen, die erklärtermaßen nicht daran teilhaben) an dieser Stelle gar nicht erfolgt, deutet darauf hin, dass die Wahrheit der eigenen Position in dem von der EKD-Handreichung 194 195 196 197

Vgl. Rat der EKD (Hrsg.): Klarheit und gute Nachbarschaft, S. 15–17. Ebd., S. 15. Ebd. Ebd., S. 16.

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adressierten Diskurs in der Tat quasi-natürlichen Status genießt; Wahrheit stützt demgemäß als Signifikant lediglich den ontologischen Status der ihm zugewiesenen Identität und ist strukturell nicht an ein inhaltliches Signifikat gebunden, weshalb Wahrheit hier im Sinne eines bloßen Namens als sedimentiert betrachtet werden kann. Dieser Eindruck wird gar noch durch die Bemerkung verstärkt, dass auch die »Menschen, die vom dreieinigen Gott reden, […] diese Wahrheit weder besitzen noch über sie verfügen«198 können. Mit anderen Worten: Obgleich die Wahrheit der eigenen Position für unverfügbar erklärt wird, besteht an ihrer Gültigkeit dennoch kein Zweifel, da diese Setzung selbst der Erkenntnis ihrer Unverfügbarkeit vorausgeht. Eine inhaltliche Charakterisierung von Wahrheit findet sich erst im Anschluss: Im zweiten Abschnitt, der mit Chancen und Grenzen des Glaubens an den ›einen Gott‹ betitelt ist, werden zentrale christlich-theologische Konzepte (Trinitätslehre, Christusbekenntnis, christliche Heilslehre)199 verschiedenen, auf den ersten Blick ähnlich anmutenden Ideen im Islam gegenübergestellt. Dies geschieht jedoch nicht im Sinne einer argumentativen Auseinandersetzung; vielmehr bestätigt sich an dieser Stelle die weiter oben aufgestellte These, dass die im Vorfeld erfolgte diskursive Verkörperung der eigenen christlichen Identität als Wahrheit die inhaltlichen Bestimmungen dieser Identität bereits ebenfalls ontologisiert hat. Vor diesem Hintergrund ist eine inhaltliche Auseinandersetzung der verschiedenen Positionen schon deshalb unnötig, weil mit der Ontologisierung der eigenen theologischen Lehrsätze auch die Differenz zum anders argumentierenden Gegenüber zementiert ist. Demgemäß können die theologischen Thesen der ›Gegenseite‹ (auch ohne eine inhaltliche Auseinandersetzung mit ihnen) von vornherein als unwahr (»von dieser Wahrheit nicht berührt«200) angesehen werden: Die oberflächlichen Ähnlichkeiten (etwa der »Glaube[…] an den einen Gott«201) tragen »nicht sehr weit«202 und sind lediglich »Anknüpfungspunkte für das Gespräch zwischen den Angehörigen beider Religionen, nicht aber Inhalt gemeinsamen Glaubens«203. Will man diese Vorstrukturierung des interreligiösen Gesprächs überwinden, wird man nicht umhin kommen, jene metaphysischen Setzungen aufzuheben, die zur Limitierung der diskursiven Möglichkeiten geführt haben. Im Sinne des dekonstruierenden Ethos’ der poststrukturalistischen Theorie bedeutet dies, die Historizität der vermeintlich fixen Identitäten zu erweisen und damit die sedimentierten Diskurse als solche zu entlarven. Auf einer grundlegenden Ebene 198 199 200 201 202 203

Ebd. Vgl. ebd., S. 18. Ebd., S. 16. Ebd., S. 18. Ebd. Ebd.

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kann dies erfolgen, indem die Verkörperung von Wahrheit in der christlichen Position selbst einer genealogischen Analyse unterzogen wird. Es ist klar, dass die Sedimentation des christlichen Wahrheitsdiskurses nicht erst mit der EKD-Handreichung oder dem Aufkommen der Theologie der Religionen als akademischer Disziplin erfolgt ist. Das Konzept einer religiösen Wahrheit ist vielmehr seit sehr langer Zeit im kirchlichen Diskurs verkörpert und garantiert damit zumindest formal die Identität der Angehörigen einer ›weltweiten Christenheit‹, sodass es der religionstheologischen Argumentation in Form einer metaphysischen Größe bereits zur Verfügung steht (und von dieser Seite aus auch keiner weiteren Begründung bedarf, wie die EKD-Schrift ja demonstriert hat). Indes macht die Bestimmung des Zeitpunkts, ab dem die Diskurse um den christlichen Wahrheitsbegriff allmählich sedimentiert sind, um eine ontologische Kategorie zu konstituieren, eine umfangreiche genealogischhistorische Aufarbeitung der historischen Aushandlungsprozesse um den christlichen Wahrheitsbegriff nötig, die an dieser Stelle nicht zu leisten ist. Im Folgenden möchte ich daher – im Sinne der Historisierung von Wahrheit als theologischem Konzept – exemplarisch einige historische Ereignisse herausgreifen, die illustrieren sollen, dass das Konzept der christlichen Wahrheit in seiner heutigen Verkörperung nicht immer im Sinne einer quasi-natürlichen Tatsache prinzipiell unhinterfragbar und dementsprechend unumstritten war. Die zitierte Handreichung Klarheit und gute Nachbarschaft liefert bereits deutliche Hinweise auf den Charakter des heutigen christlichen Wahrheitsbegriffs. Wahrheit wird hier als objektiv und »absolut[…]«204 verstanden, und zwar in dem Sinne, dass diese eben nicht »subjektiv«205 an die »beliebige Überzeugung«206 derjenigen gebunden ist, »die sie vertreten«207. Wie bereits ausgeführt, können Menschen »diese Wahrheit weder besitzen noch über sie verfügen«208, da sie der diesseitigen Welt prinzipiell enthoben ist. Sie ist nicht von der »Ebene bloß menschlicher Gewissheiten«209 abhängig, sondern ist der menschlichen Welt transzendent und in menschlichen Zeugnissen nur in »Begrenztheit und Unvollkommenheit«210 repräsentiert. Dieses Verständnis von Wahrheit als einer transzendenten Kategorie wurde auch von der römisch-katholischen Kirche im Ersten Vatikanischen Konzil festgelegt. In der Dogmatischen Konstitution Dei Filius betonte sie das thomistische Konzept von der Erkenntnis göttlicher Wahrheit, und zwar im Rahmen 204 205 206 207 208 209 210

Ebd., S. 16. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 17. Ebd.

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zweier Erkenntnisordnungen, »nämlich die der Vernunft und die des Glaubens. […] Da beide Erkenntnisordnungen ihren Ursprung in demselben Gott haben, kann die natürliche Vernunft den einen und wahren Gott erkennen, bleibt aber der Wahrheit in Gott völlig unterworfen.«211 Zwar wird, im Sinne der gemäßigten Aristoteles-Rezeption der scholastischen Theologie, der menschlichen Vernunft zugestanden, »die ontologisch vorgegebene Wahrheit zu suchen und zu erkennen«212; doch die »Erkenntnis der ganzen Wahrheit ist nur über die der Vernunft übergeordnete Erkenntnisordnung des Glaubens zu gewinnen«213. Das in den beiden genannten Zeugnissen zutage tretende Verständnis göttlicher Wahrheit, das im Kern an die Philosophie der via antiqua anknüpft, kommt nicht von ungefähr. »Die Weichen [dafür] wurden bereits in den ersten Jahrhunderten gestellt, als das ontologische Wahrheitsverständnis des Neuplatonismus das existentielle Verständnis als Wagnis einer Lebenshaltung überlagerte und schließlich dominierte.«214 Diese Dominanz war indes nicht immer ungebrochen; wie oben dargestellt, führte die ›Entdeckung‹ der aristotelischen Metaphysik in der mittelalterlichen Scholastik zu Jahrhunderte andauernden Kämpfen um die Deutungshoheit im Bereich der (göttlichen) Wahrheit. So war die neuplatonische Metaphysik, wie sie der ›Kirchenlehrer‹ Anselm von Canterbury (1033–1109) noch konsequent gegen den ›Häretiker‹ Roscelin verteidigt hatte, als philosophische Grundlage der amtskirchlichen Theologie durch die Rezeption der aristotelischen Philosophie etwa im Verlauf des 12. Jahrhunderts gehörig unter Druck geraten. Die Situation verschärfte sich zu Beginn des 13. Jahrhunderts, als Michael Scotus (ca. 1175–1235) mit seiner lateinischen Übersetzung der Averroes-Kommentare dem europäischen Kontext nun den ›gesamten Aristoteles‹ zugänglich machte. Die ›Bedrohung‹ ging zunächst von Paris aus, weshalb der dortigen Universität 1210 die Lesung der naturphilosophischen Schriften und 1215 schließlich auch die Lektüre der metaphysischen Texte des Aristoteles verboten wurde.215 Die Universität von Toulouse nahm dieses Verbot 1229 zum Anlass, sich selbst mit dem Argument zu bewerben, dass hier möglich sei, was in Paris verboten, und zwar das Studium der aristotelischen (naturkundlichen) Schriften.216 1255 nahm schließlich auch »die Pariser Artistenfakultät die […] neuen Aristoteles-Texte in ihr offizielles Programm auf. Die Professoren dieser Fakultät erhielten die Aufgabe, den gesamten Aristoteles zu erklären«217, und bedienten sich dabei der genannten Averroes-Übersetzung des 211 212 213 214 215 216 217

Fischer: Die eine Wahrheit?, S. 87. Ebd., S. 88. Ebd. Ebd., S. 89. Vgl. Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter, S. 408. Vgl. ebd. Ebd.

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Michael Scotus. Kurt Flasch nennt dieses Ereignis eine »eingreifende kulturpolitische Wende: Es gab von nun an im Zentrum der christlichen Welt eine Institution rein profanen Wissens, in der die griechische Philosophie und ihre arabische Auslegung Heimatrecht hatten.«218 In Paris hatten für etwa zwei Jahrzehnte auch radikalere Geister wie Siger von Brabant (ca. 1240–1284) oder Boethius von Dacien (gest. 1284) die Möglichkeit, dem Ideal des muslimischen Kommentators nachzugehen, wonach der »konsequente[…] Vernunftgebrauch von theologischen Interventionen frei[ge]halten«219 werden müsse. Dass dieses Selbstbewusstsein bald zu Konflikten führen musste, liegt auf der Hand. So prägte bereits der mit Siger in Paris lehrende Thomas von Aquin, dem es ja gerade um die Auflösung des Gegensatzes zwischen menschlicher und göttlicher Vernunft ging, den Schmähbegriff der Averroisten.220 Die amtskirchliche Reaktion erfolgte denn auch mit solcher Wucht, dass sie selbst noch ›gemäßigte‹ Ausleger des Aristoteles wie Thomas betraf, auch wenn dieser die Verurteilung einiger seiner Thesen nicht mehr miterleben musste: Im März 1277 verurteilte der Pariser Bischof Étienne Tempier (gest. 1279) insgesamt 219 Thesen der (seiner Kenntnis nach) an der Sorbonne betriebenen Metaphysik. Eine große Gruppe an Lehrsätzen betraf dabei »den Widerspruch von Metaphysik und Theologie. Die Metaphysik, sonst meist als Stütze der Theologie angesehen, hatte um 1275 einen Stand erreicht, daß sie, auf Aristoteles und die Araber gestützt, gegen die Theologie offensiv werden konnte. Sie bestritt im Namen der Einfachheit des göttlichen Weltgrundes die christliche Lehre von der Trinität […]. Im Namen der Allumfassendheit […] des philosophischen Gottes bestritt diese Metaphysik, daß Gott etwas erkenne, was von ihm verschieden wäre [Monismus]. Diese Metaphysik verbietet es, die ewigen Gründe der Welt phantasiemäßig auszumalen und zu verzeitlichen [Ewigkeit der Welt]. Gott anzusinnen, er begnadige willkürlich einige Auserwählte und verwerfe den Rest der Menschen, ist unvernünftig […], die Glückseligkeit ist das eigene Werk des Menschen, sie kann einem denkenden Wesen nicht von außen eingegossen werden […].«221

Die Tragweite dieses auf den ersten Blick eher lokal bedeutsamen Ereignisses darf nicht unterschätzt werden; zum einen strahlte das Ende des Pariser ›Averroismus‹ nach ganz Europa aus und stellte eine konsequente Aristoteles-Rezeption »fortan unter öffentlichen Häresieverdacht«222. Zum anderen kann die Pariser Lehrverurteilung als ein zentraler Herkunftsort für die spätere Unterscheidung zwischen Philosophie und Theologie interpretiert werden, indem sie die Arbeitsteilung zwischen Artisten- und theologischer Fakultät sanktionierte und 218 219 220 221 222

Ebd., S. 408f. Ebd., S. 410. Vgl. ebd., S. 411. Ebd., S. 427f. Ebd., S. 430.

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zementierte. So war es den Lehrern der ersteren ab 1280 verboten, theologische Fragen wie etwa die Trinität zu diskutieren.223 Auch wenn diese Praxis zunächst auf Paris und Oxford224 beschränkt blieb, so hatte Tempier durch die Auflistung der 219 ›averroistischen‹ Thesen dennoch unfreiwillig einen möglichen Kern nicht-theologischen Wissens über ›Gott und die Welt‹ formuliert. »Eine ›Philosophie des Christentums‹ sollte es danach nicht mehr geben.«225 Macht man diese These bezüglich unseres Anliegens einer Historisierung des Wahrheitsbegriff fruchtbar, so lässt sich die Pariser Lehrverurteilung als ein maßgeblicher Ort der Sedimentation eines theologischen Wahrheitsbegriffs interpretieren; während vorher das Nachdenken über die Wahrheit Gottes in die unterschiedlichen Ansätze der (antiken) Metaphysik integriert war, gab es nun eine höchst-amtliche Festsetzung von Thesen, die das Wahrheitsverständnis der Kirche von einem dezidiert gegen-kirchlichen, häretischen Verständnis abgrenzte. Nach dieser Festsetzung war Gott ein transzendenter Schöpfergott, welcher der vergänglichen Welt in Ewigkeit und Trinität gegenübergestellt war. Diese Festsetzung, die in der Folgezeit auch in zunehmender Härte mithilfe der Inquisition verteidigt wurde, führte letztlich zu einer Aufspaltung des Wahrheitskonzepts; während die kirchliche Konzeption von Gott und Schöpfung seither weitgehend unangetastet blieb, verlagerte sich die Lebendigkeit und Vielfältigkeit des Wahrheitsdiskurses allmählich in die neu entstehenden, autonomeren Disziplinen der Philosophie und Naturforschung. »Die Kontraste wurden insgesamt stärker. Die kirchlich konforme Mentalität wurde ärmer; der intellektuelle Formenreichtum wuchs.«226 Dies geschah umso mehr, als die Papstkirche seit dem Spätmittelalter (und spätestens mit Beginn der Reformation) ihre politischen Herrschaftsansprüche stark einschränken musste: Während Siger und Boethius von der Inquisition noch durch halb Frankreich verfolgt worden waren, so verlief das Verfahren gegen den ›Nominalisten‹ Ockham wenige Jahrzehnte später, trotz seiner Gefangenschaft in Avignon bei Johannes XXII. (1245–1334), im Sande. Zwar bestätigte Johannes 1323, aufgrund der in Südfrankreich grassierenden »Fülle von Häresien«227, nochmals die kirchliche Linie durch die Heiligsprechung des ›Averroisten‹-Gegners Thomas, um sich des Wohlwollens der dominikanischen Inquisitoren zu versichern;228 damit konnte er indes nicht verhindern, dass sich Ockham zusammen mit Michael von Cesena (1270–1342), immerhin dem Ordensgeneral der Franziskaner, nach München

223 224 225 226 227 228

Vgl. ebd. Der Erzbischof von Canterbury hatte Tempiers Vorlage übernommen. Vgl. ebd. Ebd., S. 431. Ebd. Leppin: Wilhelm von Ockham, S. 177. Vgl. ebd.

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absetzte, wo er fortan vor allem als politischer Schriftsteller am Hof Ludwigs des Bayern gegen den Papst agitierte. Die sich spätestens seit der Renaissance etablierende Sphäre der sich von der (scholastischen) Theologie emanzipierenden universitären Disziplinen hat seither sicherlich ihre ganz eigenen sedimentierten Wahrheitsdiskurse hervorgebracht, von denen das Konzept einer konsequent materialistischen Weltsicht möglicherweise das eingängigste Stereotyp repräsentiert. Für unser Anliegen bedeutsam ist jedoch die Sedimentierung von Wahrheit in der theologischen Diskussion im Sinne der weitgehend neuplatonisch geprägten via antiqua, die gewiss auch über die zahllosen ›Stellvertreterkriege‹ zu theologischen Einzelkonzepten erfolgt ist. Und während viele dieser Einzelthemen (etwa die Trinität) bereits lange vor 1277 im Sinne einer amtskirchlichen Lesart ›gelöst‹ wurden, sind andere Diskurse, wie etwa der Abendmahlsstreit, in der Reformationszeit wieder aufgebrochen. Die hier thematisierte Pariser Lehrverurteilung kann also allgemein eher als ein konzeptueller Container verstanden werden, der die theologische Dimension von Wahrheit formell fixiert hat. Doch trotz (oder gerade aufgrund) dieser Funktion hat die grundlegende substantielle Ausrichtung dieses Containers die Zeiten auf wundersame Weise überdauert. Denn dass es sich bei der religiösen (göttlichen) Wahrheit um etwas Transzendentes, dem (unzulänglichen) menschlichen Begreifen Enthobenes und damit Objektives handelt, ist gewiss nicht nur der zitierten EKD-Handreichung oder den Akten des Ersten Vatikanums zu entnehmen, sondern vielmehr ganz allgemein zu einem quasinatürlichen Grundstein des christlich-theologischen Diskurses in Europa verkörpert.229 Diese Verkörperung plausibilisiert auch den unmittelbar einleuchtenden Charakter der These John Hicks von der Wahrheit als dem Grundproblem der religiösen Vielfalt. Denn dass religiöse Wahrheit nur im Sinne einer transzendenten und objektiven Größe gedacht werden kann (und dass eine Pluralität von Ansprüchen, über diese Größe in irgendeiner Weise zu verfügen, damit prinzipiell nicht vereinbar ist), liegt ja ›auf der Hand‹.

1.3.2. Politisch: Wahrheit als leerer Signifikant Der (beinahe sprichwörtliche) Vorwurf der ›postmodernen Beliebigkeit‹, der sicherlich auch und gerade an die Adresse der poststrukturalistischen Theorie gerichtet ist, bezeichnet – in theoretisch etwas differenzierterem Gewand – 229 Dass die durch diese Verkörperung implizierte Ahistorizität der Idee einer transzendenten göttlichen Wahrheit keineswegs ›natürlicherweise‹ zutrifft, lässt sich auch dadurch bestätigen, dass sich etwa im Neuen Testament nur an wenigen Stellen, etwa im JohannesEvangelium, ein solches durch die griechische Philosophie geprägtes Verständnis von Wahrheit findet (vgl. Fischer: Die eine Wahrheit?, S. 84f.).

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durchaus ein Problem, das vor allem die ›klassischeren‹ Ansätze dieser Denkrichtung betrifft. Zunächst waren die strukturalistischen Entwürfe (wie etwa de Saussures, aber auch die frühen Werke Foucaults) ja davon ausgegangen, dass das ›Spiel‹ der Bedeutungskonstitution durch äußere Strukturen im Sinne einer Systemgrenze beschränkt sei, was die Möglichkeit einer zumindest partiellen Fixierung von Bedeutung (etwa die temporäre Zuordnung eines Signifikats zu einem Signifikanten) theoretisch möglich machte. Diese Idee eines äußerlich begrenzten (Sprach-)Spiels war nun (wie oben gezeigt) von Derrida als »transzendental« verworfen worden, weil die Voraussetzung eines dem sprachlichen Diskurs Äußerlichen eine Metaphysik voraussetze, »deren tatsächlicher Referenzcharakter unklar bleibe und lediglich behauptet werde«230. Indes ist der oben dargestellte Ansatz Derridas, die de saussure’sche Idee der Differentialität zu radikalisieren und damit das Spiel der Zeichen ins Unendliche zu treiben, mit dem theoretischen Problem verbunden, dass aufgrund des »Abhandenkommen[s]«231 des »sprachlichen Systems [als] Garant der Bedeutungsfixierung«232 nicht mehr erklärt werden kann, wie Zeichen überhaupt »Bestimmtheiten«233 ausdrücken können – was ja die Voraussetzung für eine zumindest halbwegs erfolgreiche Kommunikation ist (auch Derridas Idee der Spur ist in diesem Zusammenhang als unzureichendes Erklärungskonzept aufgefasst worden234). Mit anderen Worten: Ohne eine zumindest partielle/temporäre Fixierung von Bedeutung ist Kommunikation nicht möglich, weil der Diskurs (das ›sprachliche Spiel‹) im Sinne eines kontingenten (›beliebigen‹) Signifikationsprozesses vollends ›zerfließen‹ würde. Infolge dieses Problems haben besonders der slowenische Philosoph Slavoj Zˇizˇek, die oben vorgestellte Judith Butler und der argentinische Politikwissenschaftler Ernesto Laclau (zum Teil in gegenseitiger Auseinandersetzung miteinander) Theorien entworfen, die das Problem der partiellen Fixierung von Bedeutung im Sinne der poststrukturalistischen Theorie, also ohne die Vorstellung eines dem Diskurs enthobenen Außen, zu lösen versuchen. Diese Ansätze schließen sich der de saussure’schen These, dass das Sprachspiel zur Bedeutungskonstitution (hier durch das sprachliche System) begrenzt werden müsse, prinzipiell an, versuchen jedoch, die Begrenzung ›von innen‹ heraus, also als Mechanismus, der durch den Diskurs selbst begründet ist, zu verstehen. Die Grundlage für eine solche Herangehensweise hat Zˇizˇek bereits 1989 in seinem Buch The Sublime Object of Ideology gelegt. Hier nimmt er eine Idee des 230 Michael Bergunder: Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft. In: ZfR 19/1–2 (2011), S. 3–55, hier S. 29. 231 Ebd., S. 30. 232 Ebd. 233 Ebd. 234 Vgl. ebd.

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US-amerikanischen Philosophen Saul Kripke auf, der das Signifikat als einen Effekt des Signifikanten verstanden hatte, und zwar durch das Ereignis der erstmaligen Benennung. Zˇizˇek sprich in diesem Zusammenhang von einer primären Taufe (»primal baptism«235), die zur Folge habe, dass die Identität des bezeichneten sprachlichen Objekts erst retroaktiv durch dessen erstmalige Benennung konstituiert werde und durch die fortgesetzte Benennung mit demselben Signifikanten als Entität scheinbar erhalten bleibe: »Es ist der Name selbst, der Signifikant, der die Identität des Objekts stützt.«236 Das Signifikat existiert also nur in Abhängigkeit des Signifikanten, »und diese Verbindung bleibt bestehen, auch wenn sich die Anhäufung deskriptiver Eigenschaften, die die Bedeutung des Wortes zu Anfang bestimmt haben, vollständig ändert«237. Die Identität des Signifikanten (und damit die Stabilität der bilateralen Zeichenstruktur) ist also hier nicht inhaltlich bedingt, sondern durch das Mehr (»surplus«238) des Namens im Sinne der »Objektwerdung einer Lücke«239 durch die (primäre) Benennung, die als Effekt Versuche der inhaltlichen Schließung auslöst. Einfach gesprochen: »Ein Name bezieht sich auf ein Objekt, weil dieses Objekt so benannt wird.«240 Während Butler gegen Zˇizˇeks Theorie (gewiss nicht ganz zu Unrecht) den Vorwurf des »funktionalen Essentialismus auf der Ebene der Sprache«241 erhoben hat, knüpfte Laclau an das performative242 Potential von Zˇizˇeks Auslegung des kripke’schen »Antideskriptivismus«243 an. Dabei interessierte er sich weniger für die philosophische Reflexion der Konstitution von Wahrheit, sondern konzeptionalisierte das Konzept der diskursiven Fixierung von Bedeutung im Rahmen seiner politischen Theorie des Populismus’. Weil auch Laclau die (strukturalistische) Idee einer äußerlichen Begrenzung des Diskurses ablehnte, versuchte er sich (in Anknüpfung an Zˇizˇek) an der Konzeption eines diskursiven Mechanismus’, der das sprachliche Spiel bzw. das permanente ›Fließen‹ der Differenzen nun ›von innen‹ zum Erliegen bringt, um somit Bedeutung und ›Wahrheit‹ (zumindest temporär) zu fixieren. Dieser Mechanismus ist für Laclau nur in Form einer diskursiv bedingten Unterbrechung des Signifikationsprozesses denkbar, und zwar im Sinne einer »Blockade der fortgesetzten [durch das permamente Fließen der Differenzen bedingten] Ausweitung des Bezeichnungs235 Slavoj Zˇizˇek: The Sublime Object of Ideology. London/New York: Verso 2008, S. 98. 236 »[I]t is the name itself, the signifier, which supports the identity of the object.« Ebd., S. 104. 237 »[…] and this link maintains itself even if the cluster of descriptive features which initially determined the meaning of the word changes completely.« Ebd., S. 98. 238 Ebd. 239 »[…] objectivation of a void […].« Ebd., S. 104. 240 »[A] name refers to an object because this object is called that«. Ebd., S. 103. 241 Butler: Körper von Gewicht, S. 289. 242 Zu Laclaus (und Butlers) Performativitätsbegriff vgl. Bergunder: Was ist Religion?, S. 39. 243 »[…] antidescriptivism«. Zˇizˇek: The Sublime Object of Ideology, S. 97.

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systems«244. Es ist klar, dass nicht eine einfache Differenz, also eine innerhalb des Diskurses ausgehandelte Grenze, einen solchen Zusammenbruch bedingen kann, weil hier nur einmal mehr eine weitere Differenz im Sprachspiel erzeugt würde. Nach Laclau muss die Diskursgrenze vielmehr formal zum Ausschluss aus dem ›System‹ führen und damit antagonistisch sein: »Es stellt eine gewisse Herausforderung dar, die Grenzziehung als ›Unterbrechung‹, ›Zusammenbruch‹ oder ›Subversion‹ des unendlichen Spiels der Differenz weiterzudenken. Laclau tut dies, indem er der Logik der Differenz, welche die Signifikation bestimmt, eine ›Logik der Subversion von Differenzen‹ entgegenstellt, die er als eine ›Logik der Äquivalenz‹ charakterisiert.«245

Der Antagonismus wird also durch die (temporäre) Äquivalentsetzung von Signifikanten (nicht: Signifikaten!) im sprachlichen Diskurs erzeugt; damit ist keine inhaltliche Fixierung der Grenze von Bedeutung verbunden, weil die Äquivalenz auf der formalen Ebene des sprachlichen Ausdrucks angesiedelt ist. Die Logik der Differenz ist dadurch also nicht aufgehoben, »denn die Signifikanten, die äquivalent gesetzt werden, sind und bleiben voneinander verschieden […]. Ihre Differentialität lässt es nicht zu, dass eine von der Signifikation selbst vorgegebene, immanente Systemgrenze in einem System entsteht.«246 Wie nun kann eine Systemgrenze entstehen, wenn die Äquivalenz nicht durch den Verweis auf ein gemeinsames (positives) Signifikat gewährleistet werden kann? »Der entscheidende Punkt ist […], dass [die] Ausschließung eine negative Operation ist […]. Laclau spricht in Bezug auf die Äquivalenz nur von einem ›Prinzip‹ der Positivität […]. Genauso ist das, was ›jenseits der Grenze der Ausschließung liegt‹, nur ›reine Negativität‹, denn ›um Signifikanten des Ausgeschlossenen zu sein, müssen die verschiedenen ausgeschlossenen Kategorien ihre Differenzen auslöschen durch die Bildung einer Äquivalenzkette von dem, was vom System dämonisiert wird, um sich selbst zu bezeichnen‹. Zur Fixierung eines Diskurses fallen demnach positive und negative Äquivalenzketten zusammen und bilden eine beständige Opposition, so dass ›Bedeutungsproduktionen‹ über ›oppositionserzeugende Inklusions- und Exklusionsmechanismen‹ erfolgen.«247

Einfach gesprochen: Weil die Äquivalenz der beteiligten Signifikanten nicht inhaltlich hergestellt werden kann, muss sie auf formaler Ebene erfolgen, und zwar durch den Ausschluss des Nicht-Äquivalenten: »Die einzige Möglichkeit eines wahren Außen besteht darin, dass dieses Außen nicht einfach ein weiteres, neu244 Ernesto Laclau: Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun? In: Mesotes – Zeitschrift für Ost-West-Dialog 2/1994, S. 157–165, hier S. 158. 245 Bergunder: Was ist Religion?, S. 31. 246 Ebd. 247 Ebd., S. 32. Bergunder zitiert hier aus Laclau: Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun?, S. 158.

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trales Element ist; vielmehr ist es ein ausgeschlossenes, etwas, das die Totalität sich selbst austreibt, um sich selbst zu konstituieren.«248 Die Totalität der ›wahren‹ Bedeutung ist also nur im Verweis der äquivalent gesetzten Signifikanten auf ein nicht-äquivalentes Außen repräsentierbar, dessen Existenz die Privilegierung der Signifikanten stützt. Und weil die äquivalent gesetzten Signifikanten dabei ihrer Differentialität sozusagen ›entleert‹ werden, spricht Laclau in diesem Zusammenhang vom leeren Signifikanten. Wodurch aber wird die Äquivalentsetzung einer (prinzipiell kontingenten) Kette von Signifikanten plausibel, und zwar insofern, als sie im Sinne der Etablierung einer diskursiven Grenze tatsächlich Bedeutung konstituiert? Im Rahmen seiner Populismustheorie reflektiert Laclau diesen Vorgang als politischen Prozess, und zwar (im Sinne einer Logik des Sozialen249) als konstitutiv für die Identität gesellschaftlicher Gruppen. Dabei erläutert er seinen Gedankengang anhand eines einfachen, hypothetischen Beispiels: Gesetzt ist eine Gesellschaft, deren Bevölkerung mit zahlreichen existentiellen Mängeln wie Hunger, Arbeitslosigkeit, mangelhafter Infrastruktur etc. konfrontiert ist. Gesetzt ist weiter der Fall, dass die der Bevölkerung übergeordnete staatliche Struktur nicht in der Lage ist, diese Mängel in nennenswerter Weise aus der Welt zu schaffen. Die Frustration über die unbefriedigten Bedürfnisse führt in der Folgezeit zu einer diskursiven Dichotomie zwischen Staat und Bevölkerung. Dies geschieht dadurch, dass die verschiedenen sozialen Bedürfnisse gegenüber der staatlichen Ordnung äquivalent gesetzt werden. Die Folge dieser Äquivalentsetzung pluraler und zunächst singulär geäußerter Bedürfnisse besteht in der Benennung der dadurch identifizierten Gruppe durch einen leeren Signifikanten, in Laclaus Beispiel Volk.250 Auch Beispiele aus tagespolitischen Debatten finden sich zuhauf: Freiheit (vs. Diktatur, Terrorismus); Aufklärung (vs. Religion, Islam); deutsch (vs. ausländisch, fremd) oder eben Volk (vs. Regierung, Establishment, Elite). Der hypothetische Fall unterstreicht zunächst die von Laclau aufgestellte These, dass die jeweiligen Signifikanten (hier Volk) im Prozess der Identitätsbildung auf einer rein formalen Ebene äquivalent gesetzt werden. Die in diesem Prozess erfolgende ›Entleerung‹ ihrer Differentialität setzt jedoch voraus, dass die Signifikanten nicht länger den inhaltlichen Aushandlungsprozessen in den jeweiligen politischen Gruppen ausgesetzt sind, weil ihre Äquivalentsetzung ansonsten nicht plausibel erfolgen könnte. Mit anderen Worten: Um seiner Differentialität ›entleert‹ zu werden, muss ein Signifikant auch immer sedi248 »[T]he only possibility of having a true outside would be that the outside is not simply one more, neutral element but an excluded one, something that totality expels from itself in order to constitute itself.« Ernesto Laclau: On Populist Reason. London/New York: Verso 2007, S. 70. 249 »[…] logics operating within the social […].« Ebd., S. 73. 250 Vgl. ebd., S. 73f.

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mentiert sein; damit erfüllt er, wie im letzten Abschnitt ausgeführt, die Funktion eines Namens, der nicht auf ein inhaltliches Konzept verweist, sondern allein der Konstitution eines diskursiven Gegenstands dient. Die »intersubjektive Plausibilität«251 der durch den leeren Signifikanten bezeichneten eigenen Identität kann also nur dadurch gesichert werden, »dass sich Menschen mit dem Namen identifizieren. Laclau spricht deshalb davon, dass die Namensgebung ein ›Volk‹ (people) erschafft, und versteht sie damit als einen gesellschaftlichen Akt. Dies hängt damit zusammen, dass der Name als leerer Signifikant eine hegemoniale Schließung des Diskurses durch Äquivalentsetzung vornimmt. […] Namensgebung ist [daher] mit der Ausübung von Macht verbunden. Der die Äquivalentsetzung begrenzende Antagonismus schließt notwendig ein anderes kategorisch aus und ist damit ein Mechanismus der Macht.«252

In diesem Sinne ist die »Bildung von Äquivalenzketten durch Namensgebung […] für Laclau ein komplexer Prozess des Kampfes um politische Hegemonie.«253 Auf diese Weise überwindet die laclau’sche Theorie auch den von Butler gegenüber Zˇizˇek erhobenen Vorwurf des formalen Essentialismus, weil die Identität des Signifikanten nicht durch die einmalig erfolgende ›Taufe‹ in Form einer bestimmten Zeichenkette gestützt wird, welche die diskursive Entität fortan als solche am Leben erhält; vielmehr wird die Identität des ›Namens‹ durch die Performanz der Entleerung und Äquivalentsetzung im politischen Aushandlungsprozess gewährleistet. Das im Diskurs markierte ›Objekt‹ wird also nicht zwangsläufig durch ein bestimmtes Wort repräsentiert; seine materiale, äußere Erscheinungsform ist vielmehr prinzipiell variabel, und seine prekäre Identität verdankt sich der temporären, stets umstrittenen Stabilität der diskursiv ausgehandelten Äquivalenzkette(n). Einfach gesprochen: Nicht das Wort selbst bedingt die Identität der Sache, sondern die äquivalente Verwendung eines oder mehrerer Wörter im politischen Prozess. Die bisherigen Überlegungen legen es nahe, die politische Funktion des leeren Signifikanten auch für das Konzept der (religiösen) Wahrheit zu untersuchen. Diese Funktion wäre gegeben, wenn zum einen die identitätsstiftende Verwendung des Wahrheitsbegriffs im größeren Rahmen nachgewiesen und zum anderen dessen gleichzeitige diskursive Sedimentiertheit aufgezeigt werden könnte. Widmen wir uns zu diesem Zweck der Einfachheit halber nochmals der bereits weiter oben herangezogenen EKD-Handreichung Klarheit und gute Nachbarschaft. Hier dient Wahrheit (wie bereits im letzten Abschnitt dokumentiert) gleich zu Beginn unmissverständlich der Konstitution der eigenen Gruppen-

251 Bergunder: Was ist Religion?, S. 36. 252 Ebd. (eigene Hervorhebung.) 253 Ebd., S. 37.

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identität: Dem Bereich von »Gottes Wahrheit«254 zugeschrieben werden dabei »Evangelische Christen«255 bzw. die »evangelische[…] Kirche«256. Demgegenüber werden Muslime als »von dieser Wahrheit nicht berührt«257 bezeichnet, was bereits einen ersten Hinweis auf die politische, identitätskonstituierende Verwendung des Wahrheitsbegriff darstellt, indem der Ausdruck dazu genutzt wird, einen Antagonismus zwischen ›uns‹ und ›denen‹ zu begründen. Im Anschluss an die formale Fixierung der Differenz erfolgt, wie bereits oben dargestellt, eine Gegenüberstellung theologischer Positionen, die die beiden Bereiche (Wahrheit und Nicht-Wahrheit) inhaltlich charakterisieren sollen (Trinitätslehre, Christusbekenntnis, christliche Heilslehre)258 – ein Umstand, der bei ungenauem Hinsehen zunächst gegen die Sedimentiertheit des Signifikanten sprechen könnte. Auf den zweiten Blick ist die formale Abfolge der Argumentation indes sprechend und deckt sich weitgehend mit der laclau’schen (und vor allem zˇizˇek’schen) Theorie. Denn wie bereits angemerkt, orientiert sich die konzeptuelle Füllung des Wahrheitsbegriffs anhand der bereits a priori konstituierten Differenz der beiden Gruppen, die in einem zweiten Schritt durch die Heranziehung ausschließlich solcher theologischer Positionen illustriert wird, die diese Differenz in besonderem Maße zu verkörpern scheinen. Vor diesem Hintergrund lässt sich also in der Tat von der diskursiven Sedimentiertheit des ›Namens‹ Wahrheit sprechen: Dieser erzeugt zunächst im Rahmen einer »primären Taufe«259 den Gegenstandsbereich seines Signifikats; diese rein formale Operation bedingt die oben ausgeführte »Objektwerdung einer Lücke«260, die nach inhaltlicher Schließung verlangt. In diesem Sinne handelt es sich bei der (argumentativ sekundär erfolgenden) konzeptuellen Füllung des Namens Wahrheit in der genannten EKD-Schrift um den »retroaktiven Effekt der Benennung«261, der als Folge der identitätskonstituierenden Funktion des leeren Signifikanten auftritt.

254 255 256 257 258 259 260 261

Rat der EKD (Hrsg.): Klarheit und gute Nachbarschaft, S. 15. Ebd. Ebd. Ebd., S. 16. Vgl. ebd., S. 18f. »[…] primal baptism […].« Zˇizˇek: The Sublime Object of Ideology, S. 98. »[…] objectivation of a void […].« Ebd., S. 104. »[…] retroactive effect of naming […].« Ebd.

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1.4. Fazit: Was ist Wahrheit? Vor dem Hintergrund der bisher angestellten Überlegungen liegen folgende grundsätzliche Konsequenzen für das Verständnis von (religiöser) Wahrheit nahe: Allgemein: (1) Bei Wahrheit handelt es sich nicht um etwas ›da draußen‹, eine zeitlose, in sich ruhende Entität außerhalb der durch Sprache konstituierten Welt; vielmehr kann sie nur als durch Sprache erzeugtes Objekt verstanden werden, das den Prozessen des sprachlichen Diskurses unterworfen ist. (2) Als Produkt des sprachlichen Diskurses hat Wahrheit eine Geschichte, in deren Verlauf sie ihren Charakter oftmals radikal verändert hat; zudem ist eine historische Zeit denkbar, in der es kein sprachliches Objekt Wahrheit gegeben hat, etwa weil ein entsprechendes Wort nicht zur Verfügung stand. (3) Als Objekt des sprachlichen Diskurses fungiert Wahrheit als Instrument der verschiedenen diskursiven Interessen; diese Interessen können philosophischer, theologischer, aber auch politischer Natur sein und zuweilen auch Hand in Hand gehen. In den ersten beiden Fällen ist Wahrheit vor allem als ein gedankliches Werkzeug zu verstehen, um Theorien über die von uns als äußere Welt aufgefasste (göttliche) Wirklichkeit zu entwickeln; im letzteren Fall dient Wahrheit aber auch der Konstitution sozialer Identitäten und ist dabei als Mittel zu verstehen, mit dem soziale Realität aktiv gestaltet werden kann. Spezifisch (in der Terminologie der poststrukturalistischen Theorie): (1) Im Sinne des kripke’schen Konzept des Antideskriptivismus handelt es sich bei Wahrheit um einen sprachlichen Ausdruck (Signifikant), der seinen Gegenstandsbereich (Signifikat) als Effekt seiner Iteration/Zitation im Diskurs erst erzeugt. Ursache für diesen Effekt ist ein konzeptueller Mangel, der durch die Zitation des reinen Signifikanten Wahrheit aufscheint, was augenblicklich Versuche der inhaltlichen Schließung nach sich zieht. Diese Versuche vollziehen sich im Rahmen des sprachlichen Diskurses. Sie stehen dabei nicht für Repräsentationen einer ›wahren‹ äußeren Wirklichkeit, sondern sind in ihrer Objektivität an die formale Existenz des Signifikanten gebunden und nur durch ihren Bezug auf diesen als stabile Entitäten wahrnehmbar. Das Signifikat zu Wahrheit (also gewissermaßen der Gegenstand Wahrheit) ist daher das prinzipiell prekäre Produkt der Aushandlungsprozesse, welche über die inhaltliche Füllung des (reinen) Signifikanten geführt werden. (2) Im Sinne einer zeitlichen Abfolge sprachlicher Handlungen ist von einer Geschichtlichkeit des Diskurses auszugehen. Geschichte ist gemäß der foucault’schen Genealogie als eine bloße Serie kontingenter (Sprach-)Ereignisse zu verstehen, in deren Verlauf sich die iterierten sprachlichen Zeichen beständig wandeln: bezüglich des Signifikats durch die permanente Verschiebung ihrer konzeptuellen Füllung; bezüglich des Signifikanten dadurch, dass auch Zeit-

Fazit: Was ist Wahrheit?

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räume und Orte262 denkbar sind, in denen ein entsprechender Ausdruck gar nicht oder nur vereinzelt artikuliert wird – und Wahrheit damit auch objektiv nicht vorhanden sein kann. Zusätzlich ist es möglich, dass Wahrheit zeitgleich auf ganz unterschiedliche Arten artikuliert wird, etwa als religiöse Wahrheit, oder (dem scheinbar263 entgegenstehend) als materielle, ›wirkliche‹, ›naturwissenschaftliche‹ Wahrheit. Die Geschichtlichkeit des Diskurses ist in diesem Zusammenhang auch der Grund, weshalb bestimmte Signifikanten quasi-natürlichen (›naturwissenschaftlichen‹) Status erhalten können, indem sie breit und über einen längeren Zeitraum als valide Repräsentationen der äußeren, nicht-sprachlichen Wirklichkeit angesehen werden. Als Ursache dafür hat Butler den Begriff der Sedimentierung ins Spiel gebracht; im Bezug auf Wahrheit bedeutet dies, dass die Mechanismen des Diskurses (etwa die besondere Deutungshoheit einzelner Akteure) dazu geführt haben, dass der umstrittene Charakter des Signifikanten (beispielsweise im Rahmen philosophischer und theologischer Debatten) ›vergessen‹ wurde und die entsprechenden Aushandlungsprozesse abgelagert sind. Vor diesem Hintergrund markiert der Signifikant Wahrheit die butler’sche Materialität des (religions-)theologischen Diskurses. Dadurch ist Wahrheit zu einem konstitutiven Element des religionstheologischen Denkprozesses geworden, indem sie die entsprechenden Debatten und Aushandlungsprozesse a priori strukturiert, ohne selbst Gegenstand der Aushandlung zu sein. (3) Die intersubjektive Plausibilität (und damit objektive Gültigkeit) des sprachlichen Gegenstandes Wahrheit wird (neben der formalen Operation der Zitation) durch seine politische Funktion gestärkt, die er im Diskurs erfüllt. Im Sinne Laclaus kann Wahrheit dabei als leerer Signifikant konzeptionalisiert werden, der die Identität einer religiösen Gruppe konstituiert und im weiteren zeitlichen Verlauf ihrer Existenz maßgeblich stützt. Diese Funktion ist zwar weniger in der religionstheologischen Theorie, dafür aber umso stärker in der konkreten Praxis des interreligiösen Dialogs gegeben; hier führt die Einbettung der Dialogpartner in ihren jeweiligen (diskursiven) Kontext häufig zu einer deutlich artikulierten Positionierung im Bezug auf diesen Kontext, die in der Regel auch mithilfe des Wahrheitsbegriffes erfolgt. Die Globalität der interreli262 Der ghanaische Philosoph Kwasi Wiredu (geb. 1931) illustriert am Beispiel der AkanSprachen, dass die Übersetzung des englischen Terminus truth hier mit gewissen Schwierigkeiten verbunden ist, die u. a. dadurch begründet seien, dass das üblicherweise herangezogene Wort nokware eher moralisch (im Sinne von Wahrhaftigkeit) konnotiert sei als metaphysisch. »There is a fairly obvious lesson that can be drawn from the foregoing observations. If some philosophical and logical problems […] are relative to particular natural languages, then they cannot be as fundamental as those that are universal to all natural languages.« Kwasi Wiredu: The Concept of Truth in the Akan Language. In: Emmanuel Chukwudi Eze (Hrsg.): African Philosophy. An Anthology. Oxford: Blackwell 1998, S. 176–180, hier S. 179. 263 Vgl. dazu das Kapitel zur Universalität.

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giösen Begegnung, die im Rahmen des weltweiten Kolonialismus ab dem Ende des 18. Jahrhunderts aufgekommen ist, hat darüber hinaus dazu geführt, dass Wahrheit als leerer Signifikant inzwischen im Rahmen eines globalen Diskurses verhandelt wird, was dem Anschein der Quasi-Natürlichkeit (im Sinne einer universalen Kategorie) dieses philosophischen/theologischen Konzepts nur weiter Vorschub geleistet hat. Das folgende Kapitel soll diesen Prozess untersuchen.

2.

Universalität

Die Idee der Universalität ist dem Wahrheitsbegriff bereits aufgrund seiner Verwendungsweise als philosophisches Konzept eingeschrieben: Da Wahrheit besonders in der (neu-)platonischen Philosophie mit der (universalen) Wirklichkeit schlechthin identifiziert wurde, liegt auch der Schluss nahe, dass die philosophische Konzeptionalisierung dieser Wirklichkeit den theoretischen Anspruch universaler Gültigkeit (eben im Bezug auf das Sein selbst, im Gegensatz zum nachgeordneten Einzelnen) beinhaltete. Zu diesem ontologischen Anspruch des philosophischen Konzepts Wahrheit gesellt sich indes ein zweiter Aspekt von Universalität; denn mit der historischen Sedimentierung des Wahrheitsdiskurses, die ich oben skizziert habe, hat darüber hinaus auch die Universalität selbst ontologischen Status gewonnen: Im Prozess der diskursiven Ablagerung der Debatten um die inhaltliche Füllung des Ausdrucks Wahrheit ist im Laufe der Zeit der konzeptuelle, philosophische Charakter des Begriffs verloren gegangen; Wahrheit ist damit zu einem ›Ding‹ geworden, zu einer gegenständlichen, materiellen Entität der äußeren Wirklichkeit. Die Folge dieser Materialisierung des Wahrheitsbegriffs ist, dass auch die mit ihm verbundene Universalität nicht länger als bloße, an diesen Begriff gekoppelte, gedankliche Kategorie thematisiert wurde, sondern ebenso – im Sinne einer eigenständigen Entität – als zeitlose Eigenschaft der äußeren Welt. Wie im Falle des Wahrheitsbegriffs, so lässt sich auch die Verselbstständigung der Universalität im Rahmen einer (groben) Historisierung plausibilisieren. Diese Historisierung ist keinesfalls (und ebensowenig wie meine oben aufgezeichnete ›kleine Geschichte der Wahrheit‹) im strengen Sinne einer historiographischen Darstellung zu verstehen. Vielmehr soll die Konstruktion eines historischen Narrativs (oder besser: Erzählung) zum Konzept der Universalität lediglich zum Zweck der (genealogischen) Problematisierung einer Kategorie erfolgen, die im heutigen religionstheologischen, aber auch im allgemeinen wissenschaftlichen, Diskurs quasi-ontologischen Status erlangt hat (und zwar in dem Sinne, dass sie als Kategorie wissenschaftlicher Theoriebildung in der Regel prinzipiell unhinterfragt bleibt). Ziel dieser Unternehmung ist es, wie auch im

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Universalität

Fall von Wahrheit, alternative Denkmöglichkeiten aufzuzeigen, die jenseits der scheinbar fixen Grenzen interreligiöser Verständigung aufscheinen.

2.1. Universalität als ›unreine‹ Denkform? In seiner Vorlesung zum Gottesdienst der Griechen (1875/76) bringt Friedrich Nietzsche – konträr zum üblichen Duktus seiner Zeit – den antiken griechischen Kultus in Verbindung mit einem Denken, das er als unwissenschaftlich (und in diesem Sinne als »unrein«264) bezeichnet, um einen allgemeineren »Maasstab für das [zu bekommen], was in religiösen Culten barbarisch ist«265. Dieses Denken »der magie- und wundergläubigen Menschen geht dahin, der Natur ein Gesetz aufzulegen,«266 ohne sich für »natürliche Causalität«267, also empirisch beobachtbare, singuläre Zusammenhänge zu interessieren. An anderer Stelle spricht Nietzsche dann auch expliziter von der Metaphysik, die die Natur »pneumatisch«268 erklärt und damit die Grundlage aller Religion geschaffen habe. So argumentiert er im ersten Teil von Menschliches, Allzumenschliches (1878) im Kontext seiner »historischen Philosophie«, welche die theoretische Praxis der Universalisierung der Welt in Form der »ersten und letzten Dinge«269 radikal verwirft. Der überkommenen Philosophie bescheinigt er in diesem Zusammenhang einen »Mangel an historischem Sinn«270, weil deren »Teleologie […] darauf gebaut [sei], dass man vom Menschen der letzten vier Jahrtausende als von einem ewigen redet, zu welchem hin alle Dinge in der Welt von ihrem Anbeginne eine natürliche Richtung haben. Alles aber ist geworden; es giebt keine ewigen Thatsachen; sowie es keine absoluten Wahrheiten giebt.«271

Den Ursprung für diesen Irrtum verortet Nietzsche nun in der »barbarischen« Frühzeit des Menschen, und zwar im »Missverständnis des Traumes«272: Denn »[i]m Traume glaubte der Mensch in den Zeitaltern roher uranfänglicher Cultur eine zweite reale Welt kennen zu lernen; hier ist der Ursprung aller Metaphysik. Ohne den Traum hätte man keinen Anlass zu einer Scheidung der Welt gefun264 Friedrich Nietzsche: Der Gottesdienst der Griechen. In: Friedrich Nietzsche: Gesammelte Werke. Fünfter Band. München: Musarion 1922, S. 321–463, hier S. 324. 265 Ebd., S. 323. 266 Ebd., S. 328. 267 Ebd., S. 327. 268 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I und II (kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari). Berlin/New York: De Gruyter 62012, S. 28. 269 Ebd., S. 23. 270 Ebd., S. 24. 271 Ebd., S. 25. 272 Ebd., S. 27 (im Original hervorgehoben).

Universalität als ›unreine‹ Denkform?

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den«273, und zwar zwischen einer geistigen Sphäre zeitloser, universaler Prinzipien bzw. Ideen und der diesseitigen Ebene der materiellen Einzeldinge. Indem sich die Philosophie nun ausschließlich der ersten Ebene gewidmet habe, »schied [sie] sich von der Wissenschaft […]. Diess geschah in den sokratischen Schulen […].«274 Denn deren Fokussierung auf das glückliche Leben, vor allem aber der Glaube »an die Begriffe und Namen der Dinge als aeternae veritates«275 habe zu dem »ungeheuren Irrthum«276 geführt, dass die Erkenntnis der Welt durch Sprache möglich sei277. So beruhe letztlich »[a]uch die Logik […] auf Voraussetzungen, denen Nichts in der wirklichen Welt entspricht«278. Demgegenüber bescheinigt Nietzsche der Metaphysik für die Zukunft keinerlei Bedeutsamkeit für die (wissenschaftliche) Erkenntnis der Welt, die für ihn wie gesagt nur mithilfe einer historisierenden (»genealogischen«) Perspektive erfolgen kann: »Sobald die Religion, Kunst und Moral in ihrer Entstehung so beschrieben sind, dass man sie vollständig sich erklären kann, ohne zur Annahme metaphysischer Eingriffe am Beginn und im Verlaufe der Bahn seine Zuflucht zu nehmen, hört das stärkste Interesse an dem rein theoretischen Problem vom ›Ding an sich‹ und der ›Erscheinung‹ auf.«279

Im Folgenden möchte ich an diese aphoristischen Ausführungen Nietzsches anknüpfen und dessen Argumentation in ähnlicher Weise – und unter Heranziehung historischer Beispiele – fortführen, um die Genese und Etablierung der Metaphysik im Sinne einer ›universalen Denkform‹ plausibel zu machen. Gleichzeitig soll das nietzscheanische Argument mithilfe poststrukturalistischer und postkolonialer Konzepte weiter entfaltet werden, um es so auch in das übergreifende Narrativ des vorliegenden Textes einzubetten. In diesem Zusammenhang könnte ein weiterer (vor allem für die christliche Theologie bedeutsamer) Ort der Sedimentierung des Universalitätskonzepts in der oben bereits ausführlicher dargestellten Etablierung des Neuplatonismus im Sinne einer »individuelle[n] Erlösungsphilosophie«280 gesehen werden. Mit Plotins Identifizierung der platonischen Idee des wahren Seienden mit dem »absolut Eine[n] [hén]«281, das der Vielfalt der Einzeldinge als transzendentes Universales gegenübersteht, war ja ein Modell der Emanation alles Seienden aus diesem wahren Seinsgrund verbunden, das umgekehrt den Aufstieg der indivi273 274 275 276 277 278 279 280 281

Ebd. Ebd., S. 28. Ebd., S. 30. Ebd., S. 31. Vgl. ebd., S. 30f. Ebd., S. 31. Ebd., S. 30. Suchla: Dionysius Areopagita, S. 33. Meinhardt: Art. Idee., Sp. 63.

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duellen Seele zu ihrem Ursprung ermöglichte. Wie die christliche Umdeutung dieses Modells durch den Neuplatoniker Dionysius zeigt, ist dieser Aufstieg in der Folgezeit vor allem im Sinne einer mystischen Praxis interpretiert worden, der die unio mystica mit dem transzendenten Gott dezidiert von einer Abkehr von den Sinneswahrnehmungen und jeglicher Verstandestätigkeit abhängig machte. Damit vollzog die neuplatonisch geprägte Theologie eine konzeptuelle Aufspaltung des Wahrheitsdiskurses, und zwar im Sinne der Abtrennung des metaphysischen Diskurses von der mystischen Erfahrung. Nichtsdestotrotz setzte sie das »transzendente Prinzip«282, das ja ein Ergebnis des metaphysischen Diskurses gewesen war, weiterhin als Grundlage ihres ontologischen Modells voraus und entzog auf diese Weise ihre eigene Voraussetzung der theoretischen Begründung. An deren Stelle trat nun die göttliche Offenbarung. Denn »was Gottes verborgenes Wesen selbst und an sich sei, ›hat niemand gesehen‹, noch kann er es sehen; wohl aber sind Gotteserscheinungen den Heiligen widerfahren im Rahmen der gottgemäßen Offenbarungen mittels gewisser heiliger, den Schauenden fassbarer (›analoger‹) Gesichte […]. Oder ist es etwa nicht so, daß die biblische Überlieferung zwar besagt, die heilige Gesetzgebung sei unmittelbar von Gott Mose übergeben worden, um uns wahrhaft darin einzuweihen, daß sie die Abbildung (Skizze) einer göttlichen und heiligen (Gesetzgebung) sei, daß uns andererseits aber die Gotteskunde unmißverständlich darüber belehrt, sie sei durch Vermittlung von Engeln zu uns gelangt? Schreibt doch die von Gott gesetzte Ordnung vor, daß (nur) durch Vermittlung der Ersten die Zweiten zum Göttlichen emporgeführt werden.«283

Das von Dionysius vertretene Prinzip, dass die Wahrheit nicht erschlossen werden könne, sondern sich vielmehr selbst offenbare, kann zunächst als ein Versuch der diskursiven Fixierung der Transzendenz interpretiert werden, und zwar in Gestalt eines ontologischen Bereichs, der dem unmittelbar erfahrbaren (und aufgrund dieser Erfahrbarkeit evidenten) Sein nicht nur gleich-, sondern sogar (gegen-)übergeordnet ist. Dem Versuch war (nicht zuletzt durch die Autorität, die von der behaupteten Herkunft des Autors herrührte) durchaus Erfolg beschieden. Denn schließlich führte das »quasi-apostolische[…] Ansehen«284 der pseudo-dionysischen Theologie und ihr dementsprechender Einfluss in der christlichen Welt (etwa in Form der breiten Rezeption durch die scholastische Philosophie285) dazu, dass sich die neuplatonische ›Demarkationslinie‹ zwischen weltlichem und transzendentem Sein zu einem Fixpunkt der christlichen 282 Fischer: Die eine Wahrheit?, S. 18. 283 Dionysius Pseudo-Areopagita, zitiert nach: Ritter/Lohse/Leppin (Hrsg.): Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen. Band II, S. 13. 284 Ebd., S. 12. 285 Vgl. Edward P. Mahony: Pseudo-Dionysius’s Conception of Metaphysical Hierarchy and its Influence on Medieval Philosophy. In: Tzotcho Boiadjiev/Georgi Kapriev/Andreas Speer (Hrsg.): Die Dionysius-Rezeption im Mittelalter. Turnhout: Brepols 2000, S. 429–475.

Universalität als ›unreine‹ Denkform?

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Theologie entwickelte, der das Gottesverständnis auch heute noch entscheidend prägt, wie oben bereits ausgeführt wurde. Worin besteht nun aber der genauere Zusammenhang zwischen der Sedimentierung des (transzendenten) Wahrheitsbegriffs mit dem der Universalität? Hier lässt sich argumentieren, dass die genannte Demarkationslinie zwischen sinnlich/gedanklich fassbarer Welt und der nur durch Offenbarung (ggf. im Rahmen einer unio mystica) zugänglichen Transzendenz im Zuge dieses Sedimentationsprozesses ebenfalls ›abgelagert‹ wurde und die daraus resultierenden philosophischen/theologischen Aushandlungsprozesse dadurch eine grundlegende Strukturierung erfuhren. Ausdruck dieser Struktur ist die (scholastische) Dichotomie zwischen dem Allgemeinen (universale) und Einzelnen (singulare),286 die sich seither wie ein roter Faden durch die europäische Philosophie zieht: von Thomas Hobbes, David Hume oder Descartes über die Aufklärungsphilosophie bis hin zur Phänomenologie Edmund Husserls oder zur analytischen Philosophie:287 Auch in der Neuzeit »bleiben die U[niversal]ien ›der eigentliche Kampfplatz der Metaphysik‹, auf dem ›gegen die Möglichkeit der Metaphysik gefochten wird‹ und ›die verschiedenen Standpunkte innerhalb der Metaphysik gegeneinander fechten‹. Der U[niversal]ien-Streit dauert unvermittelt an.«288 Es ist klar, dass über Charakter und ontologischen Status des Universalen dabei intensiv debattiert wird: »Die Meinung, seit dem 14. Jh. habe der Nominalismus seinen Siegeszug angetreten, erweist sich an den Quellen als Legende; bis in die Gegenwart finden sich alle wesentlichen seit Antike und Mittelalter vertretenen Positionen wieder: vom extremen Realismus über moderatere Formen bis zum Konzeptualismus und Nominalismus.«289

Demgegenüber erscheint die Vorstellung, dass Universalität in Form der Bildung von Allgemeinbegriffen eine (wenn nicht die) fundamentale Figur menschlichen Denkens darstellt, hier weitgehend als Fixum. Dabei hatte bereits Aristoteles Sokrates als den »Erfinder des ›Allgemeinen‹«290 bezeichnet, weil »der nicht mehr 286 Der Einfluss der neoplatonischen Philosophie (insbesondere bzgl. des Universalienproblems) auf das europäische Mittelalter ist freilich nicht allein auf Dionysius Areopagita zurückzuführen; als ›Vermittler‹ der griechischen Philosophie in die lateinische Welt genoss der römische Denker Boethius (ca. 480–426) bereits unter (christlichen) Zeitgenossen großes Ansehen. Seine Schriften wurden ab dem 9. Jahrhundert verstärkt rezipiert. Vgl. Kurt Flasch: Art. Allgemeines/Besonderes II. In: Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 1. Darmstadt: WBG 1971, Sp. 169–177, hier Sp. 169f. 287 Vgl. Richard Schantz: Art. Universalien II. Neuzeit. In: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/ Gottfried Gabriel (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 11. Darmstadt: WBG 2001, Sp. 187–199. 288 Ebd., Sp. 187. 289 Ebd. 290 Christos Axelos: Art. Allgemeines/Besonderes I. In: Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 1. Darmstadt: WBG 1971, Sp. 164–169, hier Sp. 164.

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danach suchte, woraus ein Ding zu dem geworden ist, was es ist, oder wie es entstanden ist, sondern danach ›was ein Ding [ist]‹«291. Wie auch im Falle von Wahrheit kommt hier wieder Platon das Verdienst zu, »die entschiedene Verlegung des Schwerpunktes der auf Begriffsdefinitionen ausgerichteten Bemühungen auf den Bereich von Vorstellungen«292 vollzogen zu haben, »deren Inhalt moralische (oder ästhetische) Prädikate ausmachen, wie ›gerecht‹, ›gut‹, ›fromm‹, ›schön‹, oder auch mathematische Prädikate wie ›gleich‹, ›größer‹, ›kleiner‹, ›eins‹, ›zwei‹«293. Auch linguistisch lässt sich eine Parallelität zur ›Entdeckung‹ der Wahrheit konstruieren, die ja (wie oben vermutet) zunächst vielleicht auf eine Substantivierung des Adjektivs wahr zurückzuführen war. Denn »als Folge dieser Verlegung hat sich zunächst die Substantivierung der als Prädikat des Satzes fungierenden Eigenschaftswörter ergeben und im Gefolge: erstens die Hypostasierung der zuvor substantivierten und somit verdinglichten (oder realisierten) Eigenschaften und zweitens die Möglichkeit, das in der Definition, das heißt in der Antwort auf die ›Was ist das?‹-Frage festgelegte Wesen als Leitbild, Maßstab und Kriterium für die Beurteilung von zunächst divergierende Auslegungen zulassenden Einzelfällen und einzelnen nicht ganz eindeutigen Verhaltensweisen (z. B. die fromme und die gottlose) zu benutzen und auf diese Weise das ›Allgemeine‹ als einen Grund im Sinne des Erkenntnisgrundes (ratio cognoscendi) anzuerkennen.«294

Zusammenfassend kann also auch hier zunächst festgehalten werden: Bei Universalität handelt es sich keineswegs um eine dem menschlichen Intellekt zeitlos eingeschriebene Denkform, denn als Produkt des sprachlichen (philosophischen) Diskurses hat auch Universalität eine Geschichte; zudem ist eine historische Zeit denkbar, in der es keine Denkform bzw. kein sprachliches Objekt Universalität gegeben hat, etwa weil entsprechende philosophische Konzepte noch nicht entwickelt waren.

2.2. Von der Naturphilosophie zur Naturwissenschaft Wie die bisher angestellten Überlegungen gezeigt haben dürften, ist das Universalienproblem bei Weitem kein Thema, das auf den disziplinären Rahmen der Philosophie/Theologie beschränkt geblieben ist; mit der in der frühen Neuzeit einsetzenden Pluralisierung und Liberalisierung der akademischen Disziplinen gelangte auch das Konzept der Universalität über die Metaphysik in die sich neu entwickelnden Fächer. Einen zentralen Schnittpunkt bildet dabei das Werk des 291 292 293 294

Ebd. Ebd., Sp. 165. Ebd. Ebd.

Von der Naturphilosophie zur Naturwissenschaft

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englischen Philosophen und Naturforschers Isaac Newton (1643–1727). Newton studierte ab 1660 in Cambridge, das zu jener Zeit eine der letzten scholastischen Hochburgen Europas darstellte, und zwar im Sinne der via antiqua. Maßgeblicher Initiator dieser auch als Cambridger Platoniker bekannten Schule war Henry More (1614–1687), der sich ab 1639 vor allem mit der neuplatonischen Philosophie Plotins befasste.295 Und auch wenn Newton seine bereits früh entwickelten Grundthesen in intensiver Auseinandersetzung mit den Texten des Aristoteles gewonnen zu haben scheint,296 so trägt sein späteres Konzept der Natur dennoch (oder vielleicht gerade deswegen) deutliche Züge der platonischen Philosophie: »Charakteristisch ist […] für Newton […] die Betonung der grundlegenden strukturellen Ordnung der Natur«297, und zwar in einem zweifelsfrei metaphysischen Sinne; dies wird umso deutlicher in seinem Anliegen einer »mathematischen Behandlung der Natur, die ebenfalls auf der Grundannahme aufbaut, dass der Natur trotz aller augenscheinlichen Komplexität eine einfache Struktur zugrunde liegt.«298 An diesem Punkt zeigt sich besonders die Abweichung von Aristoteles, hatte dieser doch die Beschreibung der Natur durch die Mathematik entschieden abgelehnt299, und zwar mit der Begründung, dass sie ein »reines Gedankengebäude«300 sei und damit »nicht zur Erklärung der Natur herangezogen werden«301 dürfe. Demgegenüber entsprach die (freilich schon von da Vinci vertretene) Idee Newtons, die Natur durch den Einsatz des mathematischen Systems zu entschlüsseln, der Vorstellung, dass dieses dazu geeignet sei, die natürliche Ordnung adäquat302 zu repräsentieren. In Kombination mit seinen (ersten) beiden Grundsätzen der Einfachheit sowie der Gleichgesetzmäßigkeit der Natur entwickelte Newton die These, dass »durch Verallgemeinerung und Induktion Wissen über die Welt erlangt werden kann. Aufgrund der beiden ersten Leitsätze sind Verallgemeinerung, Induktion und sogar Analogie legitime Operationen des Erwerbs wissenschaftlichen Wissens. Unter der

295 Vgl. Graham Alan John Rogers: Die Cambridger Platoniker. In: Jean-Pierre Schobinger (Hrsg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Band 3: England. 1. Halbband. Basel: Schwabe 1988, S. 240–282, hier S. 249–252. 296 Vgl. James Gleick: Isaac Newton. Die Geburt des modernen Denkens. Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler 2004, S. 34–38. 297 Lioba Wagner: Alchemie und Naturwissenschaft. Über die Entstehung neuer Ideen an der Reibungsfläche zweier Weltbilder. Gezeigt an Paracelsus, Robert Boyle und Isaac Newton. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 190. 298 Ebd. 299 Vgl. Gleick: Isaac Newton, S. 31. 300 Fischer: Die eine Wahrheit?, S. 62. 301 Ebd. 302 Der philosophische Hintergrund ist dabei die sogenannte Korrespondenztheorie, die bereits Thomas von Aquin als »adaequatio rei et intellectus« charakterisiert hatte. Vgl. Ebd.

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Annahme, dass die Natur immer den gleichen Gesetzen folgt, ist die Analogie bei Newton eine gerechtfertigte Erkenntnisform.«303

Die durch die via antiqua geprägte newton’sche Metaphysik war wegweisend für das wissenschaftliche Weltverständnis der nachfolgenden Jahrhunderte. Besonders einflussreich war dabei die Idee der Absolutheit von Raum und Zeit. In seinen Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1687) lieferte der Engländer dafür folgende Definition: »Die absolute, wahre und mathematische Zeit an sich und ihrer Natur nach ohne Beziehung zu irgend etwas Äußerem, fließt gleichmäßig dahin und wird auch als Dauer bezeichnet. […] Der absolute Raum, seiner Natur nach ohne Beziehung zu irgend etwas Äußerem, bleibt immer gleichartig und unbeweglich.«304

Anders als Aristoteles, der sein zyklisches Zeitverständnis von der periodischen Bewegung der Fixsterne abgeleitet hatte, verstand Newton Zeit als linear.305 Und im Gegensatz zu der vom Menschen wahrnehmbaren »relativen, scheinbar gewöhnlichen Zeit«306 entzog sich sein Konzept der absoluten Zeit völlig der Erfahrung und ließ sich auch nicht anhand der (auf den ersten Blick) gleichförmigen Bewegungen irgendwelcher Gegenstände (etwa des Fixsternhimmels oder eines Uhrpendels) messen: »Alle Bewegungen könnten beschleunigt oder verzögert sein. Der Strom der absoluten Zeit könne jedoch nicht geändert werden. […] Der absolute Raum und die absolute Zeit existieren unabhängig von allen Körpern.«307 Diese metaphysische Setzung bildete den Rahmen für den neuzeitlichen Begriff der Physik als einer »messenden, experimentierenden und mathematischen Naturwissenschaft«308, wie sie etwa bereits Francis Bacon (1561–1626) propagiert hatte. »Raum und Zeit werden damit gleichermaßen zu Behältnissen, in denen sich jegliches Geschehen abspielt.«309 Die physikalischen Vorgänge vollziehen sich dabei – gleich einer universalen Mechanik – selbsttätig im Rahmen grundlegender Gesetze der Bewegung, die nur mithilfe der Mathematik beschrieben werden können.

303 Wagner: Alchemie und Naturwissenschaft, S. 191. 304 Ebd., S. 192. 305 Vgl. Thomas de Padova: Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit. München [u. a.]: Piper 2 2015, S. 202. 306 Ebd. 307 Ebd., S. 202f. 308 Fischer: Die eine Wahrheit?, S. 62. 309 Padova: Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit, S. 203.

Die Säkularisierung des Universums im 19. Jahrhundert

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2.3. Die Säkularisierung des Universums im 19. Jahrhundert Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Physik als empirische Leitwissenschaft alternative Weltentwürfe aus den meisten akademischen Disziplinen verdrängt, insbesondere solche, die auf den (theologischen) Systemen der mittelalterlichen Scholastik basierten. Denn obgleich die Physik, wie gezeigt, prinzipiell auf ähnlichen Voraussetzungen fußte, kam sie ohne die Vorstellung eines Gottes aus310 und konnte sich dadurch dezidiert von der Theologie abgrenzen. Diese ›Abschaffung‹ Gottes als Garant für die Ordnung der Welt erzeugte eine konzeptuelle Leerstelle, die offensichtlich dadurch kompensiert werden konnte, dass man die universale Gleich- und Gesetzmäßigkeit der Prinzipien der Natur (bei Newton etwa Zeit, Raum, ›Korpuskeln‹ und Kraft) im Sinne einer universalen ›Mechanik‹ ontologisierte. Die Universalität Gottes wich damit der Universalität der Naturgesetze. Deutlicher Ausdruck dieser neuen Universalität ist der sogenannte Materialismusstreit, der sich maßgeblich an den Thesen des deutsch-schweizerischen Zoologen und Geologen Carl Vogt (1817–1895) entzündet hatte. Dieser behauptete nicht nur, dass die »›Schöpfung‹ der Pflanzen und Tiere […] ›nichts anderes‹ gewesen [sei] als die ›Bildung neuer Formen aus vorhandener Materie.‹«311 Größeres Aufsehen erregte seine Theorie, dass auch »alle jene Fähigkeiten, die wir unter dem Namen der Seelenthätigkeiten begreifen, nur Funktionen der Gehirnsubstanz sind; oder, um mich einigermaßen grob hier auszudrücken: daß die Gedanken in demselben Verhältniß etwa zu dem Gehirne stehen, wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren.«312 Demgegenüber hielt Vogt die Vorstellung von der Seele als »immaterielles, von dem Körper trennbares Princip«313 für einen »Trick der Theologen […], die auf diese Weise versucht hätten, ihr Arbeitsfeld zu sichern.«314 Die radikale Sichtweise Vogts fand, sicherlich nicht zuletzt auch aufgrund seiner dezidierten Abgrenzung gegenüber der Theologie, entschiedenen Widerspruch, und zwar zunächst in Person des Göttinger Medizinprofessors und bekennenden Christen Rudolf Wagner (1805– 1864). Dieser führte 1854 ins Feld, dass die empirische Naturwissenschaft bislang keinerlei Beweise für die von Vogt aufgestellten Thesen erbracht habe, weshalb

310 Dies gilt freilich noch nicht für den durch die scholastische Theologie geprägten Newton, der die absolute Zeit als ein »Sensorium Gottes« bezeichnete. Vgl. ebd., S. 202; Wagner: Alchemie und Naturwissenschaft, S. 197–199. 311 Annette Wittkau-Horgby: Materialismus. Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, S. 82. 312 Zitiert nach: Ebd., S. 85. 313 Ziziert nach: Ebd., S. 86. 314 Ebd.

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diese »keineswegs notwendig zu einer materialistischen Weltdeutung führe«315. In besonderer Weise kritisierte Wagner die politischen Implikationen316, die der demokratische Politiker Vogt mit seiner materialistischen Weltsicht verbunden hatte. Demgegenüber betonte Wagner, »daß das christliche Weltbild […] im Gegensatz zu Vogts Materialismus die Möglichkeit bot, Recht, Moral und staatliche Ordnung zu begründen.«317 Der Frage nach der Entstehung des Lebens schienen die Naturwissenschaften indes durch die Arbeiten des Engländers Charles Darwin (1809–1882) ein großes Stück näherzukommen. Und obgleich dieser die Frage nach der Existenz Gottes für »das Fassungsvermögen des menschlichen Geistes übersteig[end]«318 hielt, bedeutete sein erstmals 1859 publiziertes Werk On the Origin of Species das weitgehende Ende der christlichen Schöpfungslehre in ihrer wissenschaftlichen Form, die der Physiologe Wagner nur wenige Jahre zuvor noch so vehement verteidigt hatte. Anders als die biblischen Texte lieferte Darwins Theorie »eine weltimmanente Erklärung für die Entstehung der Arten«319; die Natur wurde dabei – ganz im Sinne der newton’schen Metaphysik – »als ein Gefüge materieller Ursachen und Wirkungen aufgefasst, das festen Gesetzen folgte«320, und zwar in Form einer natura naturans: »Die Gesamtheit der belebten Natur ähnelte einem Baum, der sich immer mehr verzweigte und neben lebenden auch tote Äste und Zweige kannte.«321 Dabei ging Darwin von einem »Überschuß an Nachkommen aus, der die Chancen steigen ließ, daß einige unter ihnen sich besser als andere an natürliche Bedingungen anpassen würden. Die Zuchtwahl, ihm gut aus der englischen Viehzucht bekannt, war dabei sein Modell.«322 In dieser Form bestätigte Darwin scheinbar die bereits durch die Geologie herbeigeführte Vermutung, dass das Alter der Welt (anders als in der biblischen Chronologie) »unermeßlich hoch«323 sei – und ihre biologische Vielfalt das Ergebnis langsamer Transformation. Die Umwälzungen, die die naturwissenschaftlichen Entdeckungen und Theorien bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ausgelöst hatten, fasste der britische Geologe Charles Lyell (1797–1875) 1863 in einem treffenden Satz zusammen: »Jedesmal, wenn ein neues und verblüffendes Faktum ans Licht der Wissenschaft gebracht wird, sagen die Leute erst: ›Es ist nicht wahr‹, dann ›Es steht im Wi315 316 317 318 319 320 321

Ebd., S. 96. Vgl. dazu ebd., S. 89–95. Ebd., S. 101. Zitiert nach ebd., S. 137. Ebd., S. 144. Ebd. Hans Gerhard Kippenberg: Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne. München: C. H. Beck 1997, S. 57. 322 Ebd. 323 Ebd., S. 56.

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derspruch zur Religion‹ und zum Schluß ›Jeder wußte es schon‹.«324 Die Erforschung der Natur war daher auch nicht die einzige akademische ›Spielart‹, die mit dem Siegeszug des newton’schen Weltbildes eine tiefgreifende Wandlung erfuhr und sich im Rahmen der Naturwissenschaften entsprechend institutionalisierte. Wie Darwin so eindrücklich vor Augen geführt hatte, war ja auch und gerade der Mensch lediglich als ein weiteres Produkt der sich selbst reproduzierenden Natur zu verstehen und daher aus der übrigen (belebten) Materie auch prinzipiell nicht herausgehoben. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der Siegeszug des von der newton’schen Metaphysik abgeleiteten materialistisch-mechanistischen Weltbildes auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Menschen eine neue Herangehensweise bedingte, und zwar in Form der ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommenden historischen, anthropologischen und sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Und anders als in der Physik, wo in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (initiiert durch die Arbeiten von Werner Heisenberg und Albert Einstein) ein Paradigmenwechsel vollzogen wurde, bildet das newton’sche Universum zum Teil noch heute die ungeschriebene Basis der historischen und sozialwissenschaftlichen Disziplinen.

2.4. Universalität und Geschichte Die später den ›Geisteswissenschaften‹ zugerechnete Historiographie hatte die Entwicklungen in den naturkundlichen Disziplinen zum Teil bereits antizipiert, zum Teil aber auch reflektiert und gebündelt. Der Beginn dieses Umwälzungsprozesses kann bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verortet werden, und zwar im Rahmen des geschichtsphilosophischen Programms der (späten) Aufklärung – eine Periode, die den Anfang der von Reinhart Koselleck als »Sattelzeit«325 bezeichneten »fundamentalen Transformation im Geschichtsverständnis«326 markiert. Dabei führte nicht allein das aufklärerische Programm zu einer Abkehr von »ausschließlich jenseitsbezogenen, endzeitlich-apokalyptisch orientierten [Geschichts-]Begriffen«327. Denn die Geschichtsphilosophie »betrat zu einer Zeit die Bühne, als religiöse Erklärungsmodelle und heilsgeschichtliche Deutungen allmählich verblassten. […] Die Frage nach dem Sinn, der hinter all den Veränderungen [der sich wandelnden Welt] steckte, konnte nicht mehr überzeugend 324 Zitiert nach: Ebd., S. 54. 325 Reinhart Koselleck: Einleitung. In: Reinhart Koselleck/Werner Conze/Otto Brunner (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Band 1. Stuttgart: Klett-Cotta 1972, S. XIII–XXVII, hier S. XV. 326 Franziska Metzger: Geschichtsschreibung und Geschichtsdenken im 19. und 20. Jahrhundert. Bern/Stuttgart/Wien: Haupt 2011, S. 114. 327 Ebd., S. 115f.

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durch den Verweis auf die göttliche Vorsehung beantwortet werden. […] An die Stelle Gottes war nun ›die Geschichte‹ getreten, die aufgrund der ihr inhärenten Sinnhaftigkeit und Zielstrebigkeit einen Prozess abspulen ließ, der […] einen sinnhaften Ablauf nachvollziehbar machte.«328

Spürbaren Ausdruck fanden die hier charakterisierten lebensweltlichen Veränderungen in der allgemeinen Erfahrung der Beschleunigung im Rahmen der Industrialisierung, »die durch technische Erfindungen rasch mehr und mehr Lebensbereiche erfasste«329. Dies führte ab Ende des 18. Jahrhunderts allmählich zu einem abstrakteren Zeitbegriff 330, und zwar im Sinne der newton’schen Konzeption von Linearität und absoluter Gleichförmigkeit331, wodurch die zunehmende ›Mechanisierung‹ der sich globalisierenden Welt gedanklich plausibel und in der gesellschaftlichen und politischen Praxis verwaltbar gemacht wurde:332 »Keine andere Epoche sah eine ähnliche Vereinheitlichung der Zeitmessung«333, was vor allem durch die sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts rasant ausbreitenden Technologien der Eisenbahn, der Dampfschifffahrt sowie der Telegraphie forciert wurde. Die an die zunehmende Technisierung der Lebenswelt gekoppelte temporale Vereinheitlichung und Synchronisierung fand ihren unmittelbaren Ausdruck in der umfassenden chronometrischen Durchdringung der europäischen Gesellschaften durch die »Demokratisierung der Taschenuhr«334 und gipfelte 1884 schließlich in der Einführung der Weltzeit. Der Übergangscharakter der Periode um 1800 lässt sich beispielhaft an dem Werk Johann Gottfried Herders (1744–1803) demonstrieren, der in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit das Konzept »innerzeitlicher Kontinuität«335 mit einem »transzendenten Ziel der Geschichte«336 verband. Zentrale Kennzeichen des ersteren Prinzips sind dabei das (newton’sche) Ver328 Achim Landwehr: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2016, S. 11. 329 Ebd., S. 115. 330 Vgl. ebd. 331 Im Gegensatz dazu hatte sich Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) ein Jahrhundert zuvor noch vehement gegen das newton’sche Verständnis der absoluten Zeit ausgesprochen. Gerade die von Newton aufgestellte These, dass selbst Kalender und Uhren nur die ›gewöhnliche‹, subjektive Zeit repräsentierten, hielt Leibniz für einen Hinweis darauf, dass die absolute Zeit nur eine »Idee des reinen Verstandes« und eine gedankliche Konstruktion sei: »Was meine Meinung betrifft, so habe ich mehr als einmal gesagt, dass ich den Raum ebenso wie die Zeit für etwas rein Relatives halte.« Zitiert nach: Padova: Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit, S. 289. 332 Vgl. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München: C. H. Beck 2016, S. 118–126. 333 Ebd., S. 119. 334 Ebd., S. 122. 335 Metzger: Geschichtsschreibung und Geschichtsdenken im 19. und 20. Jahrhundert, S. 117. 336 Ebd.

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ständnis der Linearität und Universalität der historischen Zeit sowie die dadurch bedingte Konzeption einer allgemeinen Menschheitsgeschichte, und zwar in Form einer »Abfolge von individuellen Epochen, die [Herder] als prinzipiell gleichwertig erachtete, die jedoch aufeinander aufbauten«337. Den linearen Fortgang der Geschichte begründete er dabei vor dem Hintergrund der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit: »Jahrtausende durch hielt man unsre Sonne und alle Fixsterne für stillstehend; ein glückliches Fernrohr läßt uns jetzt an ihrem Fortrücken nicht mehr zweifeln. So wird einst eine genauere Zusammenhaltung der Perioden in der Geschichte unseres Geschlechts uns diese hoffnungsvolle Wahrheit [des Fortschritts des Guten] nicht nur obenhin zeigen, sondern es werden sich auch, trotz aller scheinbaren Unordnung, die Gesetze berechnen lassen, nach welchen kraft der Natur des Menschen dieser Fortgang geschiehet.«338

Dieser Fortgang der allgemeinen Menschheitsgeschichte war dennoch ausgerichtet auf »ein transzendentes Ziel entsprechend dem ›göttlichen Plan‹«339, dessen Realisierung indes gänzlich innerweltlich gedacht war, und zwar durch die »im Begriff der Humanität ausgedrückte Vorstellung einer zu erreichenden menschlichen und menschheitlichen Vollkommenheit«340. »Ihr lag die Vorstellung von der universellen Geschichtlichkeit der Welt mit genetischorganischem Auf- und Umbau ebenso zugrunde wie eine optimistische Anthropologie: Die Menschheit als Einheit war auf ein ›progressives Ganzes‹ ausgerichtet. Die Geschichte der [aufklärerischen] Bildung der Völker und der ganzen Menschheit konzeptionalisierte Herder als kulturelle Fortschrittsgeschichte.«341

Nachdem die transzendente Begründung der allgemeinen und teleologischen Natur der Geschichte im deutschen Idealismus nochmals zur vollen Blüte gelangt war, wurde dieser quasi-religiöse Charakter des universalhistorischen Narrativs im Verlauf des 19. Jahrhunderts (zumindest an der Oberfläche342) zugunsten ›weltlicherer‹ Konzepte überdeckt. So argumentierte Leopold von Ranke (1795– 1886) zunächst gegen Hegels universalgeschichtliches Programm, »dass man das Allgemeine nur vom Besonderen, vom Gang der Geschichte und von ihren empirischen Erscheinungen her erkennen könne«343. Für ihn war die Universalität der Geschichte eine Ableitung, weshalb der »Blick auf das Besondere […] in 337 Ebd. 338 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Berlin: Holzinger 2013, S. 488. 339 Metzger: Geschichtsschreibung und Geschichtsdenken im 19. und 20. Jahrhundert, S. 117. 340 Ebd., S. 119. 341 Ebd. 342 Landwehr spricht in diesem Zusammenhang von »Gottersatz«. Vgl. Landwehr: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit, S. 9–30. 343 Metzger: Geschichtsschreibung und Geschichtsdenken im 19. und 20. Jahrhundert, S. 120.

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der Nachfolge Rankes zu einem eigentlichen Diskurs der [historiographischen] Selbstbeschreibung«344 wurde. »Darin lag jene Tendenz der Geschichtsschreibung begründet, welche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine positivistische Richtung annehmen konnte, die sich ausschließlich auf die Sammlung, Kritik und Herausgabe von Quellen konzentrierte […].«345 Diese »empirische Wendung«346 schloss die »Teildiskurse der Objektivität, der Wahrheit, der Unparteilichkeit [sowie] der Quellenbasiertheit«347 ein und diente damit der Begründung des wissenschaftlichen Charakters der Geschichtsschreibung »unter gleichzeitiger Abgrenzung zu anderen Wissenschaften.«348 Denn anders als Herder, der die Universalität der Geschichte aus dem allumfassenden Universum ableitete349 und damit zur Grundlage seiner historisch-philosophischen (und erklärtermaßen aufklärerischen) Betrachtungen machte, hielt Ranke umgekehrt die Ableitung des Allgemeinen aus dem zuvor empirisch erhobenen Besonderen für die Aufgabe des objektiven und unparteilichen Historikers, und zwar im Sinne der sogenannten »Anschauung«350, die eine »Vergegenwärtigung von Wahrheit«351 aus der konkreten historischen Wirklichkeit ermögliche. Philosophische Grundlage dieses Konzeptes bildete dabei seine »Ideenlehre«352; »die Idee [ist] das ›bildende, gestaltende Element‹, das in der Erscheinung hervortritt, das aber auch transzendent ist. Die Idee ist sowohl in der Geschichte wie auch außerhalb der Geschichte und bleibt dadurch unveränderliches Sein.«353 In diesem Sinne waren »Staat, Religion, Sprachen […] für Ranke Ausdruck von Ideen und ihrerseits im Kampf mit anderen Ideen.«354 Vor allem die Staaten verstand er dabei – neben der Kirche – »als diejenigen tragenden Instanzen, die ordnende Kontinuität stiften und damit das immer wieder auftretende Unheil integrieren in eine sinngetragene Menschheitsentwicklung. […] Auf dem gegenwärtigen Stand der Kultur bedürfen sie, um wirklich geschichtsmächtig zu sein, eines notwendigen Substrats, des Volks oder der Nation.«355

Der scholastische Charakter dieser Debatte darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die von Ranke propagierten historischen ›Universalien‹ in der Folgezeit 344 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355

Ebd., S. 121. Ebd. Ebd., S. 124. Ebd. Ebd., S. 125. Vgl. Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, S. 13–39. Metzger: Geschichtsschreibung und Geschichtsdenken im 19. und 20. Jahrhundert, S. 126. Ebd. Ebd., S. 126. Ebd., S. 131. Ebd., S. 126f. Wolfgang Hardtwig: Deutsche Geschichtskultur im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg 2013, S. 67.

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verselbstständigten und als Quasi-Entitäten zu mächtigen Identifikationspunkten im politischen Diskurs entwickelten. Dies war sicherlich auch auf die politische Aktivität zahlreicher führender Vertreter des Historismus zurückzuführen; so gab bereits Ranke von »1832 bis 1836 im Auftrag der Regierung seine etatistisch-konservativ orientierte ›Historisch-politische Zeitschrift‹ heraus«356. Auch der 1860 an Rankes Fakultät in Berlin berufene Johann Gustav Droysen (1808–1884) hatte sich bis dato als Politiker der Nationalbewegung einen Namen gemacht »und etablierte sich vor allem mit seinen Editionen und Publikationen zur Frankfurter Nationalversammlung als langfristig einflussreicher Geschichtspolitiker«357. Zwar lehnte der hegelianisch geprägte Droysen den Objektivitätsbegriff Rankes strikt ab und betonte demgegenüber die erzieherische und identitätsstiftende Funktion der Geschichtsschreibung.358 Zugleich aber blieb er wie Ranke »der Vorstellung von einem substanzhaften, göttlich geordneten Kosmos verpflichtet.«359 Statt von überzeitlichen Ideen sprach er – in der Terminologie Hegels – vom »endlichen Geist«360, im Unterschied zum absoluten Geist, der »empirisch nicht zu erforschen«361 sei. Beiden Entwürfen gemein ist indes die Analog- bzw. »Gleichsetzung von Wahrheits- und Wirklichkeitsdiskurs«362, was (zusammen mit der empirisch-methodologischen Begründung) die »Legitimationsbasis«363 der historischen Wissenschaft bildete: Obgleich diese methodisch ja auf die quellenbasierte Darstellung des historisch Individuellen ausgerichtet war, schrieb sie sich durch die metaphysische Absicherung ihrer Wissenschaftlichkeit dennoch das »Monopol auf universale Sinndeutung«364 zu. Parallel zu diesem Anspruch etablierten Zeitgenossen wie Karl Marx (1818– 1883) oder Friedrich Engels (1820–1895) universalgeschichtliche Entwürfe, die aus einer ökonomischen und soziologischen Perspektive heraus konzipiert waren. Dabei ersetzten sie (in dezidierter »Kritik an idealistischen Grundannahmen in der Geschichtsforschung«365) die religiöse Färbung ihrer metaphysisch-teleologischen Grundlage durch die Idee einer immanenten »Gesetzlichkeit des Geschichtsprozesses«366, was den universalen Charakter der Geschichte auch im Hinblick auf die fortschreitende Säkularisierung und ›Materialisierung‹ des 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365

Ebd., S. 62. Ebd. Vgl. ebd., S. 72–74. Metzger: Geschichtsschreibung und Geschichtsdenken im 19. und 20. Jahrhundert, S. 132. Ebd. Zitiert nach ebd. Ebd., S. 130. Ebd. Ebd., S. 129. Lutz Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart. München: C.H. Beck 22010, S. 118. 366 Ebd., S. 133.

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Wissenschaftsbetriebs plausibilisierte367; »Marx’ Masternarrativ war geprägt von der Vorstellung einer in Abfolge und Form zwar kontingenten, doch unausweichlichen Abfolge von Gesellschaftsformationen, welche durch Revolutionen ausgelöst wurde.«368 Mit dem englischen Philosophen Herbert Spencer (1820– 1903) gelangte schließlich auch das mechanistisch-materialistische Weltbild Darwins in die Sozialgeschichtsschreibung, »um die Entwicklung menschlicher Gesellschaften durch das ›Überleben der Tüchtigsten‹ zu erklären«369, was Spencer später den Status des Begründers des Sozialdarwinismus’ einbringen sollte. In ähnlicher Weise konzeptionalisierte auch der bedeutendste historische Roman des 19. Jahrhunderts, Tolstois Krieg und Frieden (1869), den Gang der Geschichte als durch kontingente, naturgesetzartige Kräfte bedingt, denen der Mensch schicksalhaft ausgeliefert sei: »Die Bauern behaupten, der späte, kühle Frühlingswind käme daher, daß um diese Zeit die Knospen der Eiche aufbrächen. […] Die Ursache des kalten Windes zur Zeit des Aufblühens der Eiche ist mir unbekannt; trotzdem kann ich den Bauern nicht darin zustimmen, daß die Ursache des kalten Windes eine Folge des Aufbrechens der Eichenblüten sei. Die Kraft des Windes liegt außerhalb der Knospen. Es ist nur ein Zusammentreffen von Umständen, weiter nichts.«370

Vor allem in Deutschland verdrängte die gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmende Essentialisierung und »Sakralisierung«371 von Nation (und deren Verbindung mit dem Volksbegriff nach dem Ersten Weltkrieg) weitgehend die religiös-metaphysische Grundierung der universalen Geschichte. »Dies geschah über eine Kulturalisierung und eine Annäherung an und Aneignung von organizistischen Semantiken bis hin zu Rassendiskursen mit expansionistischem Bezug.«372 In Abgrenzung dazu (und als Reaktion auf den »fachlichen Konservatismus der französischen Historikerzunft«373) gründete sich in Frankreich Ende der 1920er-Jahre die dezidiert an der Sozialgeschichte orientierte Annales-

367 Für die von Marx als klassische Nationalökonomie bezeichnete Schule war die Immanenz der universalen Gesetzlichkeit indes keinesfalls neu, sondern lässt sich bereits bei dem englischen Philosophen und Aufklärer Adam Smith (1723–1790) mit seiner Metapher der unsichtbaren Hand nachweisen. Zur Sozialgeschichtsschreibung und historischen Ökonomie im 19. Jahrhundert vgl. darüber hinaus Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 1058–1064. 368 Metzger: Geschichtsschreibung und Geschichtsdenken im 19. und 20. Jahrhundert, S. 133. Zur marxistischen Strömung der Geschichtswissenschaft vgl. Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme, S. 117–137. 369 Christopher A. Bayly: Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914. Frankfurt a. M./New York: Campus 2008, S. 389. 370 Leo N. Tolstoi: Krieg und Frieden. Band 2. Gütersloh: Bertelsmann 1952, S. 243f. 371 Metzger: Geschichtsschreibung und Geschichtsdenken im 19. und 20. Jahrhundert, S. 213. 372 Ebd., S. 214. 373 Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme, S. 96.

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Schule (École des Annales). Diese durch den Durkheim-Schüler Marc Bloch (1886–1944) sowie Lucien Febvre (1878–1956) begründete Denkrichtung bündelte auf exemplarische Weise die im 19. Jahrhundert angestoßenen wissenschaftlichen Entwicklungen, allen voran die Idee eines nach absoluten (Natur-) Gesetzen strukturierten zeitlichen und räumlichen Universums, welches den historischen Prozessen quasi als ›Gefäß‹ diente. Bloch und Febvre strebten die »Überwindung der philologischen Selbstgenügsamkeit«374 der Geschichtsschreibung an, indem sie die Historiographie den ›Materialwissenschaften‹ öffneten: »Luftbildgeographie, Siedlungsforschung, Kartographie, Katasterauswertung, schließlich mittelalterliche Archäologie und volkskundliche Forschungen sollten in den Annales präsent sein, um die Forschungsgewohnheiten der Fachkollegen zu verändern.«375 Leitend war in diesem Zusammenhang die Idee der »historischen Synthese«376: »Febvre und Bloch orientierten sich dabei an den Umbrüchen in den modernen Naturwissenschaften, um für eine dringende Revision auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften zu plädieren: Statt der alten objektivistischen Ideen gelte es durch klare Fragestellungen und Mobilisierung aller verfügbaren Methoden und Quellen zu ihrer Beantwortung ähnlich günstige Bedingungen wie im naturwissenschaftlichen Labor oder Experiment zu schaffen.«377

Internationales Ansehen erlangte die Annales-Schule spätestens mit dem Werk Fernand Braudels (1902–1985), der das schon von Febvre entworfene Konzept der histoire totale konsequent umsetzte. In seinem monumentalen Werk Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. (1949/1966) entwarf er das Konzept der longue durée als der wichtigsten Ebene historischer Zeit im Sinne der universalen Rahmenbedingung für menschliche Geschichte: »Das ›Kellergeschoss‹ der materiellen Kultur, der naturgeographischen und biologischen Grundlagen historischen Geschehens wurde als Reich dauerhaft wirksamer Trägheitsgesetze, als Bereich der ›immobilen‹ Geschichte, der unmerklichen und äußerst langsamen Veränderungen konzipiert.«378

Die durch den Fokus auf empirische (naturwissenschaftliche) Methodik überdeckten metaphysischen Grundlagen379 der Annales hat einer ihrer späteren Vertreter, Roger Chartier (geb. 1945), in einem selbstkritischen Essay offengelegt. 374 375 376 377 378 379

Ebd., S. 98. Ebd. Ebd. Ebd., S. 98f. (Hervorhebung durch mich.) Ebd., S. 105. Vgl. ausführlicher: Yan Suarsana: Pandita Ramabai und die Erfindung der Pfingstbewegung. Postkoloniale Religionsgeschichtsschreibung am Beispiel des »Mukti Revival«. Wiesbaden: Harrassowitz 2013, S. 53–55.

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Demgemäß »ging [es] darum, durch Quantifizierung der Phänomene, Erstellung von Serien und mittels statistischer Verfahren die strukturellen Beziehungen zu erfassen, die zum eigentlichen Gegenstand der Geschichte geworden waren.«380 Dabei sei es – ganz im Sinne der newton’schen Metaphysik – die Annahme der Historiker gewesen, »die gesellschaftliche Welt sei ›in mathematischer Sprache geschrieben‹ und [ihre] Aufgabe bestehe darin, ihre Gesetze zu konstruieren«381. Daher rühre »die strukturalistische These, daß der Gegenstand der historischen Erkenntnis und das subjektive Bewußtsein radikal voneinander getrennt seien«382. Dem intensiven Wechselspiel zwischen Geschichtswissenschaft und Politik im 19. und 20. Jahrhundert383 ist es zu verdanken, dass historiographische Konzepte weit über den akademischen Kontext hinaus Verbreitung fanden und dabei auch ganz konkrete gesellschaftliche Verwirklichung erfuhren. Dies betrifft nicht nur die Manifestation und Materialisierung historiographischer Konzepte wie Nation, Volk, Religion oder Kultur im politischen und sozialen Diskurs, sondern auch und gerade die in der Annales-Schule besonders prominent vertretene Idee, dass die historische Welt prinzipiell deckungsgleich zu setzen sei mit dem (absolut gedachten) Universum der Naturwissenschaften. In Deutschland war die in diesem Zusammenhang artikulierte These, dass nämlich gesellschaftliche (und ökonomische) Strukturen im Sinne der Sozialgeschichtsschreibung als die universalen Triebfedern der menschlichen Geschichte anzusehen seien, zuerst von Karl Lamprecht (1856–1915) vertreten worden. Lamprecht kritisierte vor allem die »Politik- und Personenzentriertheit«384 der zeitgenössischen Geschichtsschreibung und propagierte im Gegenzug einen kultur- und ökonomiegeschichtlichen Ansatz, der später die Gründung der École des Annales maßgeblich mitbedingen sollte. Diese »kulturgeschichtlichen Richtungen«385 machten ab 1900 »neue Konzepte wie Kultur, Erfahrung und Leben(swelt) stark und substantialisierten diese in der Tendenz, 380 Roger Chartier: Zeit der Zweifel. Zum Verständnis gegenwärtiger Geschichtsschreibung. In: Sebastian Conrad/Martina Kessel (Hrsg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion. Stuttgart: Reclam 1994, S. 83–97, hier S. 83f. 381 Ebd., S. 84 382 Ebd., S. 83. 383 Dies betrifft freilich nicht nur vermeintlich ›konservative‹ Kräfte: Gerade die marxistische Geschichtsschreibung war zutiefst politisch motiviert, und auch die frühen Gelehrten der Annales positionierten sich deutlich im politischen Kontext ihrer Zeit. So engagierte sich Marc Bloch ab 1942 aktiv gegen die Nationalsozialisten und das Vichy-Regime und wurde 1944 von der Gestapo ermordet. »Blochs politisch-militärisches Engagement und sein Tod im Widerstand ließen ihn posthum noch weiter aus der Reihe seiner Kollegen heraustreten und zu einer der markantesten Historikerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts werden« (Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme, S. 101f.). 384 Metzger: Geschichtsschreibung und Geschichtsdenken im 19. und 20. Jahrhundert, S. 234. 385 Ebd.

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ja verbanden sie mit organizistischen Diskursen und Semantiken«386, ehe sie nach dem Ersten Weltkrieg und im Nationalsozialismus schließlich »im Dienst der Volkstumsgeschichte instrumentalisiert«387 wurden. Ihren Nachhall fand diese Entwicklung teilweise388 in dem historiographischen Topos von der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹, wie er prominent etwa in dem 1955 erschienenen Buch Theorie des gegenwärtigen Zeitalters von Hans Freyer (1887–1969) vertreten wurde.389 Doch auch darüber hinaus erfreut sich diese Wendung – nicht nur in der Geschichtswissenschaft – »seit geraumer Zeit großer Beliebtheit«390. Und obgleich dabei die ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹ besonders in jüngeren Publikationen als ein »wertneutraler Differenzbegriff«391 verteidigt wird, »der die jeweiligen Eigenzeiten unterschiedlicher kultureller und religiöser Traditionen ernst nimmt«392, hält Achim Landwehr dennoch ein »normatives Modell, das fraglos große Wirkkraft ausstrahlt«, für die Grundlage entsprechender historiographischer Ansätze: »Das Problem der historischen Verwendung des Topos ist, dass damit ›kein Problem einer zeitlichen Koordination von Ereignissequenzen‹ identifiziert wird, ›sondern ein Problem der Anwesenheit dessen, was von unterschiedlicher Zeitqualität erscheint‹. Es geht demnach um unterschiedliche Entwicklungsphasen, um differente Herkunft oder um abweichende Zeitstrukturen. Der Bezugspunkt, von dem etwas als ungleichzeitig identifiziert werden kann, muss nahezu zwangsläufig die historische Gegenwart als qualitativ ausgezeichnetes Jetzt sein […].«393

Anders als in den Narrativen der Annales-Schule besteht die Normativität dabei also nicht allein in der Konzeption einer universalen historischen Zeit. Denn mit der Identifikation des gegenwärtigen Kontextes (des Historikers) mit der allgemeinen Gleichzeitigkeit allen geschichtlichen Seins ist ebenso eine Hierarchisierung parallel ablaufender, zueinander (aber besonders im Bezug auf die Gegenwart des Historikers) ungleichzeitiger, historischer Prozesse verbunden – und zwar in dem Sinne, »dass alle, die nicht mit dem Blick auf die [universale] Uhr dem Pfad des Fortschritts folgen, auch nicht ›dabei‹ sind, sich nicht im Hier und Jetzt befinden – mit anderen 386 Ebd. 387 Ebd. 388 Der Topos von der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹ wurde auch von der marxistischen Geschichtsschreibung aufgegriffen, etwa von Ernst Bloch (1885–1977). 389 Freyer war 1933 zum Direktor des Instituts für Kultur- und Universalgeschichte in Leipzig berufen worden, das 1909 von Lamprecht in Abgrenzung und Konkurrenz zur ›etablierten‹ Geschichtsschreibung gegründet worden war. 390 Achim Landwehr: Von der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹. In: Historische Zeitschrift 295/2012, S. 1–34, hier S. 2. 391 Ebd., S. 5. 392 Ebd., S. 5f. 393 Ebd., S. 9.

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Worten ›ungleichzeitig‹ sind. […] Die Fortschrittsidee benötigt die Identifizierung von bremsenden oder gegenläufigen Bewegungen, um sichtbar zu werden.«394

Bei Freyer, der in der jungen Bundesrepublik als »Aushängeschild des Konservatismus«395 auch politisch großes Ansehen genoss, werden diese Tendenzen besonders deutlich. Unter Rückgriff auf (neu-)hegelianische und aufklärerische Geschichtsmodelle identifizierte er in seiner bereits genannten, einflussreichen Theorie des gegenwärtigen Zeitalters die »gegenwärtige Erde«396 mit den »aufgeklärten Völkern Europas«397, während die übrige Welt (im Sinne des »NichtGleichzeitigen«398) »alle Stufen der Wildheit, alle Grade der Barbarei, alle Abschattungen der Halbkultur«399 offenbare. Wie auch Koselleck angemerkt hat, verbindet sich hier – »von der arroganten Warte einer zivilisatorischen Superiorität aus[gehend]«400 – die Idee einer universalen Fortschrittsgeschichte mit den historiographischen (ranke’schen) Entitäten von Volk, Staat und Kultur, die sich – in ihren jeweiligen geschichtlichen Ausformungen – als anderen, vergleichbaren Entitäten unter- oder überlegen erweisen.401

2.5. Universalität und Kolonialismus Es braucht sicherlich nicht gesondert betont zu werden, dass das fortschrittsorientierte Modell der universalen Weltgeschichte Freyers als ein Kulminationspunkt von Diskursen betrachtet werden kann, die bereits lange zuvor durch den europäischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts aufgekommen und globalisiert worden waren. Zentrales Konzept dieser Diskurse ist der Terminus der Zivilisation, der im späten 18. Jahrhundert »zu einer zentralen Selbstbeschreibungskategorie europäischer Gesellschaften geworden war«402. In der Folgezeit ließen »die Erfolge Europas bei der Schaffung von materiellem Reichtum, bei der wissenschaftlich-technischen Meisterung der Natur und bei der militärisch und wirtschaftlich gestützten Ausweitung von Herrschaft und Einfluss über die Welt […] ein Überlegenheitsgefühl entstehen, das seinen symbolischen Ausdruck in der Rede von Europas

394 395 396 397 398 399 400 401 402

Ebd., S. 9. Ebd., S. 15. Zitiert nach ebd. Zitiert nach ebd. Zitiert nach ebd. Zitiert nach ebd. Ebd., S. 17. Vgl. ebd. Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 1175.

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universeller ›Zivilisation‹ fand. Gegen Ende des Jahrhunderts bürgerte sich dafür eine neue Bezeichnung ein: die ›Moderne‹.«403

Jürgen Osterhammel hält das zugrunde liegende Modell für eine »besondere Variante«404 der aus der Aufklärung übernommenen, oben thematisierten Fortschrittsidee einer universalen Menschheitsgeschichte, und zwar im Rahmen einer »Ethnologisierung des Zivilisationsbegriffs«405: Im Vordergrund stehe dabei die »Anordnung von Völkern, Ländern und Zivilisationen auf einer Stufenleiter kultureller Wertigkeiten«406, die die Zivilisation der Europäer als das »natürliche Telos der menschliche[n] Gattungsgeschichte«407 versteht: »Der in ganz Europa und in Nordamerika in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einflussreich werdende evolutionistische Begriff der Zivilisation geht von einem langfristigen Naturprozess aus, der durch allmähliche Reifung auch die jetzigen ›Primitiven‹ einst in den Zustand der Zivilisiertheit versetzen wird.«408

Dies setzt freilich die Annahme voraus, dass nur die Europäer bisher eine solche universale »Vollkultur«409 besitzen: »Die anderen sind wie Kinder oder Jugendliche, die zu der Weisheit des Alters aufschauen müssen.«410 Der Europäer »kommt dadurch in die Position des Lehrers«411, weshalb mit der Etablierung des evolutionistischen Zivilisationsbegriffs auch der Beginn der sogenannten Zivilisierungsmission verbunden war412 – ein Projekt, das auf dem »Vertrauen der späten Aufklärung in Pädagogik [basierte], also de[m] Glauben, dass Wahrheiten, einmal erkannt, dazu da seien, gelehrt und angewendet zu werden«413. Es ist das Verdienst der sogenannten Postcolonial Studies, die ideologischen Grundlagen der in dem Konzept der Universalität der europäischen Zivilisation verkörperten kolonialen Weltsicht umfangreich herausgearbeitet zu haben. Im Anschluss an Edward Saids (1935–2003) einflussreiches Buch Orientalism (1978)414 entwickelten ihre Vertreter zunächst die These, dass die militärische, 403 Ebd., S. 1186. 404 Jürgen Osterhammel: »The Great Work of Uplifiting Mankind«. Zivilisierungsmission und Moderne. In: Boris Barth/Jürgen Osterhammel (Hrsg.): Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert. Konstanz: UVK 2005, S. 363–425, hier S. 365. 405 Ebd., S. 367. 406 Ebd., S. 364. 407 Ebd., S. 365. 408 Ebd., S. 366. 409 Ronald Daus: Die Erfindung der Kolonialismus. Wuppertal: Hammer 1983, S. 177. 410 Ebd. 411 Ebd. 412 Vgl. Yan Suarsana: Worte der Macht. Der Kolonialismus in Texten protestantischer Missionare des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In: ZKG 122/2–3 (2011), S. 233–256, hier S. 249–254. 413 Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, S. 1175. 414 Vgl. Edward W. Said: Orientalismus. Frankfurt a. M.: Fischer 42014.

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politische und administrative Dominanz der Europäer im Zuge des weltweiten Imperialismus im 19. Jahrhundert dazu geführt habe, dass europäische Denkmuster auch in außereuropäischen Kontexten hohe Deutungsmacht erlangten. Als formale Ursache für diese Entwicklung sahen sie die Etablierung eines globalen Diskurses im Rahmen des Aufbaus einer weltweiten Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur an, die es erstmals ermöglichte, dass gedankliche Konzepte in einem globalen Kontext relativ synchron rezipiert und damit weltweit verhandelbar wurden. In diesem Zusammenhang spricht der indische postkoloniale Theoretiker Homi K. Bhabha von Meister-Diskursen, also der diskursiven Dominanz »europäischer Repräsentationsstrukturen«415 im globalen Kontext der Kolonialzeit. Doch anders als der frühe Said versteht Bhabha die Rezeption dieser dominanten Konzepte durch nicht-europäische Akteure in den kolonialen Kontexten nicht einfach im Sinne einer passiven Aneignung bzw. einer mehr oder weniger direkten Übernahme dieser Konzepte in das eigene Denken; vielmehr macht sein Modell der Mimikry die »(an)geeigneten Objekte einer kolonialistischen Kommandokette«416 als »Figuren einer Verdoppelung«417 sichtbar, als »Teil-Objekte einer Metonymie des kolonialen Begehrens, das die Modalität und Normalität jener dominanten Diskurse […] verfremdet. […] Dieses Begehren kehrt die koloniale Aneignung ›zum Teil‹ um, indem es nun eine partielle Vision der Präsenz des Kolonialherren produziert; einen Blick der Andersheit, der dieselbe Schärfe besitzt wie der genealogische Blick, der, wie Foucault es beschreibt, marginale Elemente befreit und das einheitliche Sein des Menschen, durch das dieser seine Souveränität ausbreitet, zertrümmert.«418

Diese »Nachahmung europäischer Repräsentationsstrukturen […], die niemals die Kopie des europäischen Originals sind«419, bedeuten eine »permanente Unterbrechung des ›Meister-Diskurses‹, die die Ambivalenzen orientalistischer Texte offenbart.«420 Bedrohlich ist diese Unterbrechung aufgrund ihrer »doppelten Sicht, die durch Enthüllung der Ambivalenz des kolonialen Diskurses gleichzeitig dessen Autorität aufbricht«421: Im Gegensatz zu Said, der durch die Zuschreibung der Passivität an die nicht-europäischen Rezipienten die durch 415 Andreas Nehring: Zwischen Monismus und Monotheismus. Hinduismus und indische Aneignungen des Religionsbegriffes. Ein poststrukturalistischer Versuch. In: Christoph Schwöbel (Hrsg.): Gott – Götter – Götzen. XIV. Europäischer Kongress für Theologie (11.– 15. September 2011 in Zürich). Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013, S. 792–821, hier S. 801. 416 Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 131. 417 Ebd. 418 Ebd. 419 Nehring: Zwischen Monismus und Monotheismus, S. 801. 420 Ebd. 421 Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 130 (Hervorhebung durch mich).

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den ›Meister-Diskurs‹ repräsentierte Hierarchie zwischen Kolonialherren und Kolonisierten prinzipiell reifiziert, entspringt Bhabhas Konzept der Mimikry der These, dass auch die Kolonisierten eine Agenda (und eine Handlungsmacht) haben, die auch und gerade in der Rezeption der europäischen Denkstrukturen durchscheint. »Was ich Mimikry genannt habe, ist nicht das vertraute Durchexerzieren abhängiger kolonialer Beziehungen über narzißtische Identifikation, bei der, wie Fanon beobachtet hat, der Schwarze aufhört, eine handelnde Person zu sein, weil nur der Weiße sein Selbstwertgefühl repräsentieren kann.«422 Die »doppelte Vision ist [vielmehr] ein Resultat dessen, was ich als die partielle Repräsentation/Anerkennung des kolonialen Objekts beschrieben habe«423. Einfach gesprochen: Die Rezeption und Re-Artikulation europäischer Konzepte in nicht-europäischen Kontexten bringt prinzipiell eine subtile Veränderung dieser Konzepte mit sich, die an der Oberfläche zunächst nicht sichtbar ist, durch ihre Nicht-Sichtbarkeit jedoch die scheinbare Dominanz europäischer Denkmuster quasi ›von innen‹ aushöhlt. Der von Bhabha beschriebene Prozess der Mimikry lässt sich vorzüglich (und in seiner ›Bedrohlichkeit‹ geradezu prototypisch) an den kolonialen Diskursen zum Konzept der Universalität illustrieren. So hat beispielsweise Wilhelm Halbfass in seinem 1981 erschienenen Klassiker Indien und Europa für den indischen Kontext nachgewiesen, wie die »Konfrontation mit den europäischen universalistischen Ansprüchen im Bereiche der Religion, Wissenschaft und Philosophie«424 dortselbst zu einer »Neubesinnung auf dieses Potential und zur Weckung und Öffnung«425 eines scheinbar »ruhenden, introvertierten, in sich selbst verschränkten Universalismus«426 des ›indischen Denkens‹ geführt habe. Halbfass’ Argumentation entspricht im Kern einer Historisierung der These des Indologen Paul Hackers (1913–1979), welcher den (religiösen) Inklusivismus als die »indische Denkform«427 schlechthin behauptet und damit das dieser ›Denkform‹ zugrunde liegende Konzept der Universalität zur zentralen Größe indischen Denkens erklärt hatte: Erst im späteren Verlauf seines Lebens sei Hacker demnach, wie er selbst sagt, zu der Erkenntnis gelangt, dass die »mit dem indischen Denken und der indischen Religiosität so häufig assoziierte ›Toleranz‹ […] durchweg auf diesen Inklusivismus zurückzuführen«428 sei. Diese »dem indi422 Ebd. 423 Ebd. 424 Wilhelm Halbfass: Indien und Europa. Perspektiven ihrer geistigen Begegnung. Basel/ Stuttgart: Schwabe 1981, S. 430. 425 Ebd. 426 Ebd. 427 Paul Hacker: Inklusivismus. In: Gerhard Oberhammer (Hrsg.): Inklusivismus. Eine indische Denkform. Wien: Institut für Indologie 1983, S. 11–28. 428 Halbfass: Indien und Europa, S. 430.

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schen Geist besonders gemäße Form der Selbstbehauptung«429 charakterisiert er wie folgt: »[D]er Inklusivismus [ist] Zeichen einer geistigen Auseinandersetzung. Man polemisiert nicht direkt gegen die gegnerische Weltanschauung, sondern man anerkennt ihre wichtigen Begriffe […]. Aber man ordnet die Zentralbegriffe gleichzeitig der eigenen Weltanschauung unter. Diese Methode der Auseinandersetzung […] bekundet eine außerordentliche geistige Geschmeidigkeit und Flexibilität […].«430

Denn »[d]ie Anerkennung einer relativen Gültigkeit in den fremden Weltanschauungen bedeutet nicht nur, daß man diese abwertet, sondern indem man sie in Beziehung zum eigenen Standpunkt setzt, will man sie in dessen Licht rücken, damit sie wie spiegelnde Körper den Glanz des im Mittelpunkt gedachten monistischen Dogmas zurückstrahlend erhöhen.«431

In Reaktion auf diese, das ›indische Denken‹ essentialisierende, Zuschreibung betont Halbfass zunächst die Historizität der Begegnung zwischen Indien und Europa. Diese sei eine zwar wechselseitige, aber dennoch von Anfang an ungleiche und strukturell asymmetrische gewesen. Indien sei »vom Westen gesucht, entdeckt und erobert worden. Es ist dem Westen aus dem Entdecktwerden heraus begegnet, als Gegenstand westlicher Forschungs-, Herrschafts- und Bekehrungsinteressen […]. Im Lichte westlicher Begriffe und Erwartungen deuten die modernen indischen Denker sich selbst, an ihrem Maßstab wollen sie die eigene Tradition bewähren.«432

Gerade die »Konfrontation mit den europäischen universalistischen Ansprüchen«433 im Rahmen des oben umrissenen Zivilisationsdiskurses habe zu einer entsprechenden Re-Lektüre philosophischer und religiöser Traditionen in Indien geführt: »Gegen die von Hegel und anderen Autoren vorgetragenen Ansprüche geschichtlicher Aufhebung Indiens durch Europa wenden sich wiederum hinduistische Denker in explizitem oder implizitem Rückgriff auf den traditionellen ›geschichtslosen‹ Inklusivismus […].«434 Vertreter des Neohinduismus wie Swami Vivekananda (1863–1902) argumentierten dabei, dass die philosophische Tradition des Advaita Vedanta, die er als die Grundlage der indischen Religion verstand, »durch die Begegnung mit dem Westen in keiner Weise er429 430 431 432 433 434

Ebd. Hacker: Inklusivismus, S. 14. Zitiert nach: Halbfass: Indien und Europa, S. 430. Ebd., S. 429. Ebd., S. 430. Wilhelm Halbfass: »Inklusivismus« und »Toleranz« im Kontext der indisch-europäischen Begegnung. In: Gerhard Oberhammer (Hrsg.): Inklusivismus. Eine indische Denkform, Wien: Institut für Indologie 1983, S. 29–60, hier S. 59.

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schüttert oder gefährdet«435 sei; der Vedanta sei vielmehr »immer schon bereit […] für alles, was diese Begegnung mit sich bringen mag, für Entwicklungen und Entdeckungen jeder Art: Sie werden ihren Platz finden in seinen ›unendlichen Armen‹.«436 In diesem Sinne werde »der geschichtlichen Botschaft und dem Herrschafts- und Aufhebungsanspruch des Westens […] die Idee der zeitlosen Bereitschaft als ein überlegenes Prinzip gegenübergestellt«437. Mit anderen Worten: Die historische Universalität der europäischen Zivilisation sah sich in der ahistorischen Universalität Indiens aufgehoben. Trotz dieser ›Umkehrung‹ des Universalitätskonzepts und der damit verbundenen konzeptuellen ›Herabsetzung‹ Europas durch indische Intellektuelle plädiert Halbfass dafür, die inklusivistischen (und damit nur scheinbar ›toleranten‹) Tendenzen des Neohinduismus nicht ausschließlich als Abwehrreaktion und gezielte Abwertung europäischer Selbstkonzepte zu werten: Denn im Sinne des von Hacker angeführten Spiegels der ›eigenen‹ Tradition in der ›fremden‹ reflektiere der Neohinduismus, »insofern [er] dem westlichen Denken als Herausforderung oder Frage, als Gegengewicht oder Alternative gegenübertritt, […] dessen […] in sich fragwürdige und brüchige Gegenwärtigkeit«438. Und mit Blick auf den von Ernst Troeltsch (1865–1923) gegen Ende des 19. Jahrhunderts proklamierten »unaufhebbaren Universalismus Europas […] im Angesicht des Historismus und Kulturrelativismus«439 konstatiert Halbfass abschließend: »Troeltsch beschwört hier Europa gegen die Geister, die es selber rief; er beschwört Europa im Namen eines Universalismus, dessen Folgen sich nun gegen es kehren. […] Sicher ist, daß die Universalität, die Europa heraufgeführt hat, nicht mehr Europas eigene Universalität ist.«440 Rekonzeptionalisiert man diese Überlegungen nun mithilfe der postkolonialen Theorie Homi K. Bhabhas, so könnte man sagen, dass das dem kolonialen ›Meister-Diskurs‹ entstammende Konzept der Universalität im mimetischen Akt der kolonialen Aneignung gleichsam ›verdoppelt‹ wird, und zwar, indem der behaupteten (historischen) Universalität Europas die vermeintliche (ahistorische) Universalität Indiens gegenübergestellt wird. Wie Bhabha argumentiert, ist es gerade nicht die Präsenz einer alternativen Repräsentation, die die Brüchigkeit der europäischen Denkmuster des ›Meister-Diskurses‹ demonstriert; vielmehr besteht die ›Bedrohung‹ dieser Denkmuster in ihrer mimetischen Verdopplung durch die Brille der ›kolonialen Subjekte‹, die in einer Art konzeptuellen ›Pha-

435 436 437 438 439 440

Halbfass: Indien und Europa, S. 432. Ebd. Ebd. Ebd., S. 433. Ebd., S. 435. Ebd., S. 436.

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senverschiebung‹ die behauptete Essenz und absolute Gültigkeit ad absurdum führt.

2.6. Universalität und (post-)strukturalistische Theorie Die ontologischen Welt- und Wirklichkeitsmodelle der Wissenschaften des 19. Jahrhunderts wurden ab der Jahrhundertwende von verschiedenen Seiten der Kritik unterzogen; für die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften prägend war der oben bereits ausführlich thematisierte Strukturalismus, wie er zunächst von dem Schweizer Linguisten de Saussure vertreten worden war. Dieser hatte ja in seinen zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehaltenen Vorlesungen die These vertreten, dass sprachliche Bedeutung eben nicht durch den Verweis des sprachlichen Zeichens auf eine sinnstrukturierte äußere Welt konstituiert werde, sondern ausschließlich im Rahmen des Systems der selbstreferentiellen Sprache. Neu an dieser Argumentation war (neben der weiter oben thematisierten konstruktivistischen Sicht auf Sprache), dass de Saussure nicht länger davon ausging, dass der Sinn des sprachlichen Zeichens auf jene Entität zurückzuführen sei, die es repräsentiere, sondern dass die Identität dieses Zeichens ausschließlich durch seine Relation zu anderen Zeichen gebildet werde. Während also beispielsweise die Historiker des 19. Jahrhunderts den historischen Sinn mit der Ontologisierung von inhaltlichen Konzepten begründet hatten, war es bei de Saussure die Struktur des sprachlichen Systems – und nicht das sprachlich bezeichnete Konzept – welche den sprachlichen Sinn (und damit die Identität des Zeichens) bedingte. Die (im Bezug auf die zu vermutende441 Intention de Saussures) bestehenden Inkonsequenzen seiner Theorie sind vor allem mit der Lektüre seines Cours de Linguistique générale durch Jacques Derrida aufgedeckt worden.442 Wie ich bereits dargestellt habe, war de Saussures De-Ontologisierung der linguistischen Modelle der Romantik nach Derrida mit dem Problem verbunden, dass die aus der älteren Sprachwissenschaft übernommene Trennung zwischen Signifikant und Signifikat dazu führe, dass auch bei de Saussure das Vorhandensein eines »transzendentalen Signifikats«443, welches unabhängig von der Verweisstruktur der Sprache existiere, theoretisch nicht ausgeschlossen sei. In der Konsequenz löste Derrida die Bilateralität des sprachlichen Zeichens auf und identifizierte das Signifikat mit dem formalen Akt des Verweises, um den metaphysischen ›Rest‹ des de saussure’schen Modells zu tilgen. 441 Vgl. Ducrot: Der Strukturalismus in der Linguistik, S. 75. 442 Vgl. dazu auch Weber: Rückkehr zu Freud, S. 39–61. 443 Derrida: Semiologie und Grammatologie, S. 56.

Universalität und (post-)strukturalistische Theorie

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Indes könnte meiner Ansicht nach argumentiert werden, dass die von Derrida beabsichtigte ›Reinigung‹ der linguistischen Theorie de Saussures von der Metaphysik der Spätromantik von ihm möglicherweise nicht vollständig vorgenommen wird. Denn während er zwar den Essentialismus des de saussure’schen Signifikats auslöscht, behält er ihn auf einer formalen, strukturellen Ebene dennoch bei, und zwar in seinem Festhalten am Konzept des Signifikanten – ein Umstand, den man hier vielleicht als den ›strukturalistischen Rest‹ der derrida’schen Theorie bezeichnen könnte: Der Signifikant, der durch den Verweis auf andere Signifikanten die Iterabilität (und damit die Bedeutungsspur) von sprachlichen Handlungen bedingt, ist bei Derrida (wie freilich auch bei de Saussure) im weiteren Sinne einer Kategorie gebraucht – ein Konzept, das in seiner theoretischen Grundform letztlich der (neu-)platonischen Philosophie (und damit der universalistischen Metaphysik) entstammt. Zwar gelingt es Derrida also, den metaphysischen Charakter des de saussure’schen Zeichens auf einer substantiellen Ebene zu überwinden; der strukturelle Überrest dieses Modells, der auf der formalen Grundlage der Metaphysik – dem Universalitätsprinzip – beruht, bliebe so auch bei Derrida unangetastet. Ähnliches lässt sich beobachten, wenn man sich mit der Genealogie Michel Foucaults befasst. Diese war ja dem Bestreben entsprungen, den ontologisierenden Narrativen und Konzepten der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts eine Form der Historiographie entgegenzustellen, die gerade nicht daran interessiert ist, historische ›Wirklichkeit‹ im Rahmen eines identitätsstiftenden Unterfangens zu rekonstruieren und damit sprachlich zu repräsentieren. Vielmehr war es Foucault wie erwähnt gerade um eine Dekonstruktion, eine DeEssentialisierung und De-Ontologisierung der Geschichte gegangen, und zwar mithilfe der parodierenden Konstruktion alternativer Narrative, die methodisch durch das akribische Nachzeichnen sämtlicher historischer Verknüpfungen begründet werden sollten, um die Kontingenz historischer Ereignisse gegen die sinnstiftenden Narrative der ›klassischen‹ Historie in Stellung zu bringen. Indes gelingt auch Foucault die Eliminierung der Metaphysik aus der Geschichtsschreibung meines Erachtens nach nicht vollständig. Denn auch wenn er die Geschichte ihrer bedeutungsgenerierenden, identitätsstiftenden Substanz beraubt, so entledigt er sich dennoch nicht der Geschichte selbst als dem »einzige[n] Reich, in dem es weder Vorsehung noch Finalursache gibt, sondern nur ›jene eisernen Hände der Notwendigkeit, welche den Würfelbecher des Zufalls schütteln‹«444. Einfach gesprochen: Inhalt und Sinnhaftigkeit verschwinden zwar, doch das Gefäß bleibt – und dieses Gefäß wird durch eben jenes neuplatonisch begründete Modell geformt, welches bereits die allgemeingeschichtlichen Mo-

444 Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, S. 80 (Hervorhebung durch mich).

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Universalität

delle des 19. Jahrhunderts mit ihrer Idee der universalen historischen Zeit geprägt hatte: das newton’sche Universum.

2.7. Fazit: Universalität als sedimentiertes ›Hintergrundrauschen‹? (1) Dass Universalität ein Problem für die poststrukturalistische Theorie darstellen könnte, lässt sich begründen, wenn man sie im Sinne einer diskursiven Sedimentierung konzeptionalisiert, wie ich es oben mit Wahrheit getan habe. Dort hatte sich ja gezeigt, dass Wahrheit in dem Sinne diskursiv sedimentiert ist, dass die permanente, zitatförmige Wiederholung dieses Signifikanten in den theologischen und politischen Aushandlungsprozessen der Gegenwart die Ablagerung und Verschleierung seiner geschichtlichen Konstitution bedingt haben, sodass die Vorstellung eines zeitlosen, außerdiskursiven Referenzpunktes dieses Ausdrucks fixiert werden konnte. Wendet man dieses Modell nun auf Universalität an, so stößt man zunächst auf den Umstand, dass diese als Signifikant – ganz anders als Wahrheit – im sozialen Diskurs gar nicht explizit artikuliert wird; nichtsdestotrotz ist kaum zu bestreiten, dass Universalität fester Bestandteil des Diskurses ist, weil sie die implizite Basis wohl der meisten (wenn nicht aller) sich im Widerstreit befindlichen Konzeptionalisierungen von Welt und Gesellschaft (inklusive der poststrukturalistischen Modelle) bildet. Einfach gesprochen: Universalität bildet – zumindest im alltäglichen und/oder politischen Diskurs, aber teilweise etwa auch in wissenschaftlichen Debatten – selten bis niemals in direkter Form den Gegenstand der verschiedenen Aushandlungsprozesse und Debatten; und dennoch verweisen eine Vielzahl von Konzepten dieser Debatten beständig darauf, weil ihre Legitimität, also die Plausibilität ihres Status’ im Diskurs, über den ›mitschwingenden‹ Verweis auf ihren ontologischen (oder zumindest kategorialen) Charakter im Sinne ihrer prinzipiell allgemeinen Gültigkeit gestützt wird: Wäre es plausibel und zielführend, sich mit Fragen von Moral, Humanität oder Gerechtigkeit auseinanderzusetzen, wenn diesen nicht ein gewisser Status in der Wirklichkeit zukäme? Worüber unterhielte man sich, wenn dem Konzept der Leitkultur nicht eine mehr oder weniger zeitlose Substanz einer europäischen Art zu leben zugrunde läge? Und weshalb sollte wissenschaftliche Kategorienbildung betrieben werden, wenn nicht um der Dienlichkeit des allgemeinen Verstehens willen? Aus poststrukturalistischer Perspektive könnte man argumentieren, dass die Iteration, welche die Sedimentierung von Diskursen am Leben erhält, im Falle von Universalität also nicht an der Oberfläche, nämlich durch die Artikulation des Signifikanten, gedacht werden müsste, sondern nur performativ, und zwar

Fazit: Universalität als sedimentiertes ›Hintergrundrauschen‹?

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durch den permanenten, unartikulierten Rückgriff auf ihr ›Prinzip‹. Hier ergäbe sich also der Fall, dass nicht die Iteration eines leeren Signifikanten (etwa Wahrheit) die Identität eines diskursiven Gegenstands stützt, sondern eine diskursive Entität (hier das Prinzip der Universalität) ohne explizite Signifikation iteriert wird, und zwar in Form der permanenten (in der Regel unartikulierten) ›Anwendung‹ eben dieses Prinzips. Man könnte auch sagen: Bei Universalität handelt es sich um das sedimentierte ›Hintergrundrauschen‹ des Diskurses. Während Wahrheit also im Sinne von Laclaus Theorie als leerer Signifikant konzeptionalisiert werden kann, scheint eine entsprechende Theoretisierung von Universalität nur schwer möglich zu sein. Denn strukturell unterscheidet sich der Wahrheitssignifikant nicht von anderen artikulierten Ausdrücken, die im politischen Diskurs im laclau’schen Sinne ihrer Differenz ›entleert‹ werden. Ganz anders im Falle der Universalität: Ihre Nicht-Artikulation ist womöglich dem Umstand geschuldet, dass es sich hier um ein zugrundeliegendes Prinzip des zeitgenössischen Diskurses handelt, welche die sprachlichen Aushandlungsprozesse umschließt und damit gesellschaftlich nicht thematisiert werden kann, weil sonst auch die von Laclau beschriebene universalisierende Äquivalentsetzung diskursiv privilegierter Signifikanten im politischen Aushandlungsprozess nicht plausibel vollzogen werden könnte. Die Unmöglichkeit der Artikulation von Universalität im Sinne der laclau’schen Theorie führt dazu, dass (anders als im Falle von Wahrheit) der ontologische Charakter der Universalität niemals zur Disposition steht, weil dieses Prinzip offenbar die weitgehende Basis des zeitgenössischen Diskurses bildet. Dass dies so sein könnte, darauf weist auch die Beobachtung hin, dass freilich auch die laclau’sche Theorie die Praxis der Universalisierung betreibt, da es sich bei dem Konzept des (leeren) Signifikanten wie gesagt ebenfalls um eine Kategorie handelt, die (zumindest formal, also innerhalb ihres theoretischen Rahmens) den Anspruch auf allgemeine Gültigkeit erhebt. Und auch wenn sein Prinzip der politischen Performanz den statischformalen Essentialismus des ›reinen Signifikanten‹ Saul Kripkes überwindet, so liegt diesem Ansatz dennoch das Konzept einer prozessualen Struktur zugrunde, die als eine allgemeine Theorie des Politischen (oder gar als »Eckpunkt einer allgemeinen Ontologie des Seins«445) gelesen werden kann. Dieses Paradoxon, dass nämlich eine Theorie, deren Zweck in der Dekonstruktion von Ontologien liegt, selbst als Ontologie interpretierbar ist, könnte meines Erachtens auf ein Problem zumindest dieser Spielart446 des Poststrukturalismus hinweisen: dass er die Re-Iteration der Universalität nicht dekonstruieren kann, weil er sie selbst betreibt. 445 Bergunder: Was ist Religion?, S. 32. 446 Auf poststrukturalistische Versuche, eine ›Ontologie‹ ohne den Verweis auf eine kategoriale Ebene des Seins zu entwickeln, werde ich am Ende des Buchs eingehen.

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Darüber hinaus müsste, wie ich erläutert habe, auch die foucault’sche Genealogie im Kern als eine Fortsetzung gerade jener historiographischen Diskurse interpretiert werden, die zu kritisieren sie im Sinn hat: Während Foucault mit seinem dekonstruierenden Ansatz zwar die ontologisierenden Kategorien und Narrative der ›klassischen‹ Geschichtsschreibung zu de-essentialisieren sucht, bildet nichts desto trotz die Annahme, dass Diskurse in einer universalen historischen Zeit ablaufen, die implizite Basis seiner Argumentation – eine Annahme, die letztlich mit dem newton’schen Universum der (Geschichts-)Wissenschaften des 19. Jahrhunderts korrespondiert. In diesem Sinne könnte die Historizität als der ›metaphysische Rest‹ in der foucault’schen Theorie bezeichnet werden. (2) Freilich geht es an dieser Stelle nicht darum, die Universalität bzw. Kategorialität als Grundstruktur allen (diskursiven) Seins zu ontologisieren. Im Gegenteil: Die Feststellung, dass es sich bei Universalität um das unartikulierte, sedimentierte ›Hintergrundrauschen‹ des zeitgenössischen Diskurses handelt, bedeutet ja gerade, dass dieses Prinzip historisiert werden kann, wie ich oben zu zeigen versucht habe. Die dieser Historisierung zugrunde liegende These impliziert, dass Diskurse prinzipiell auch ohne eine universalistische Grundlage existieren können, wie wir sie theoretisch beispielsweise für verschiedene nichteuropäische Kontexte vor der Globalisierung dieser Denkform im 18. und 19. Jahrhundert ableiten können. In diesem Zusammenhang lässt sich die Globalisierung von Universalität mit einem Virus vergleichen, das, nachdem es die engen Mauern der Klöster und Universitäten überwunden hatte, das durch den globalen Diskurs der Kolonialzeit vernetzte Denken und Sprechen infizierte – eine Infektion, die deshalb weitgehend unbemerkt blieb, weil sie quasi das ›Erbgut‹ des Denkens selbst veränderte. Diese grundlegende Neujustierung wurde plausibilisiert, indem die Globalität der dadurch vorgenommenen Modifikation die Universalität sozusagen selbst ›universalisierte‹ – und zwar dadurch, dass die globale Anwendung des Universalitätsprinzips den Eindruck einer allumfassenden Seinsstruktur erweckte, deren Derivate – die Kategorien im Sinne der ranke’schen ›Ideen‹ – anschließend in allen Kontexten der Welt ihre Materialisierung erfuhren. Mit anderen Worten: Die globale Artikulation (und Manifestation) universaler Kategorien wie Nation oder Religion ab der Kolonialzeit stützte auch äußerlich deren Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. In Ergänzung dazu bildete das Universalitätsprinzip die Basis jener beiden Positionen, die in den großen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts im Zuge des Materialismusstreits aufeinandertrafen: Während sich die erbittert geführte Debatte um den ontologischen Status des Universums an Kategorien wie Gott, Evolution oder Naturgesetzen abarbeitete, blieb ihre gemeinsame (neuplatonische) Grundlage – die Metaphysik der Universalität im Sinne ordnungsgebender Strukturen und Kategorien – trotz (oder gerade wegen) der

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antagonistischen Positionierung der beiden Parteien gänzlich unthematisiert. Die unumstrittene Voraussetzung des Universalitätsprinzips sowohl in den theologischen als auch in den naturwissenschaftlichen bzw. materialistischen Systemen stützte ebenfalls den ontologischen Anschein dieser globalen ›Denkform‹, weil sie das konzeptuelle ›Erbgut‹ beider Positionen grundlegend bestimmte und somit (gerade aufgrund der antagonistischen Frontstellung) unhintergehbar schien. (3) Die Globalität des Diskurses sowie die in diesem Zusammenhang erfolgte Etablierung neuplatonisch geprägter Wirklichkeitsmodelle (allen voran das sogenannte ›naturwissenschaftliche Weltbild‹) seit dem 19. Jahrhundert haben bis heute zu dem Ergebnis geführt, dass Universalität wie gesagt zu einem Grundprinzip des durch diesen Diskurs geprägten Denkens und Sprechens sedimentiert ist. Betroffen sind von dieser Prägung nicht allein der wissenschaftliche Kontext, sondern auch und vor allem politische Debatten im Rahmen einer breiten medialen Öffentlichkeit, was den Schluss nahelegt, dass es sich bei Universalität um ein allgemein verbreitetes Charakteristikum zeitgenössischen Denkens handelt. Wenn es sich so verhält, dann verlangt die Historisierung der Universalität nach wesentlich weitreichenderen theoretischen Konsequenzen als die Historisierung von Wahrheit; denn während die Konzeptionalisierung von Wahrheit im Sinne des laclau’schen leeren Signifikanten lediglich die essentialisierenden Schließungen des dieses Konzept verhandelnden Diskurses sichtbar machen will, so kommt die Historisierung der Universalität beinahe einer Historisierung des Denkens selbst gleich, was sowohl die Kategorien betrifft, welche die Universalität repräsentieren, als auch die Theorien, mit denen sich diese Kategorien konzeptionalisieren lassen. Dies betrifft freilich gleichermaßen die aus der (post-) strukturalistischen Theorie Foucaults abgeleitete Historisierung selbst, mit deren Hilfe der ontologische Status von Universalität zwar dekonstruiert werden kann, die jedoch (aufgrund ihrer oben beschriebenen eigenen universalistischen Praxis) selbst keinen Lösungsansatz bezüglich des erkenntnistheoretischen Problems liefern kann, welches da lautet: Wie kann man sich – als ein am universalistischen Denken ›geschulter‹ Mensch – einen Diskurs vorstellen, dem diese Performanz fremd ist? Bevor ich dieser Frage (zuletzt auch im Rückgriff auf anders gelagerte Ansätze aus dem Bereich des Poststrukturalismus) weiter nachgehe, möchte ich zunächst jenen Ort näher beleuchten, an dem die in den vorangegangenen beiden Kapiteln thematisierten Ausdrücke Wahrheit und Universalität für das Thema des vorliegenden Buches unmittelbar relevant werden: Religion.

3.

Religion

Es kann gewiss kein Zweifel darin bestehen, dass der Religionsbegriff zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch abseits der akademischen Diskussionen große Verbreitung in der Öffentlichkeit gefunden hat. Auch und gerade in politischen Auseinandersetzungen hat sich Religion (in Ergänzung zu ähnlich gelagerten Konzepten wie Kultur oder Nation) als eine jener Kategorien etabliert, die von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen im Sinne einer Identitätsmarkierung zur gezielten Aus- und Abgrenzung in den (zuweilen heftig geführten) gesellschaftlichen Auseinandersetzungen verwendet werden. Parallel dazu dient Religion als (wissenschaftliches) Erklärungsmuster für eine Vielzahl von Phänomenen menschlicher Existenz und Gesellschaft, sei es Gemeinschaftsbildung, Sinnstiftung, Angst- und Krisenbewältigung, aber auch Intoleranz oder Gewalt – ein Umstand, der die sprichwörtliche Rückkehr des Religiösen in der heutigen Welt zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden lässt.447 In diesem Zusammenhang ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass die offenkundige Allgegenwärtigkeit des Religiösen mit dem Paradoxon einhergeht, dass eine inhaltliche Bestimmung dessen, was mit dem Ausdruck Religion gemeint sein könnte, nicht ohne weiteres (geschweige denn im Sinne eines breiteren gesellschaftlichen oder gar wissenschaftlichen Konsens‹) vorgenommen werden kann. Interessanterweise scheint dieses Problem, wie Michael Bergunder anmerkt, in der alltäglichen Sprachpraxis nicht als solches wahrgenommen zu werden: »Wenn im Alltag das Wort ›Religion‹ fällt, dann scheint klar zu sein, was damit gemeint ist. ›Religion‹ ist normalerweise kein Wort, das permanent hinterfragt wird, und ›Religionen‹ werden als real-existierende Erscheinungen betrachtet.«448 Auch Brent Nongbri hat festgestellt, dass der diskursive Status von Religion im allgemeinen ungefährdet sei und in erster Linie in der formalen

447 Vgl. Ulrich Dehn: Annäherungen an Religion. Religionswissenschaftliche Erwägungen und interreligiöser Dialog. Berlin: EB-Verlag 2014, S. 59–65. 448 Bergunder: Was ist Religion?, S. 3.

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Übereinkunft aller am Diskurs Beteiligten begründet liege, dass nämlich Religion als »etwas da draußen«449 schlichtweg existiere, und zwar im Sinne »einer allgemeinen menschlichen Erscheinung, eines Teils der ›natürlichen‹ menschlichen Erfahrung, die über die Kulturen und historischen Kontexte hinweg im Kern diesselbe bleibt. Individuelle Religionen, so hört man, mögen sich je nach Zeit und Ort unterscheiden – doch es gibt ein Element, das wir Religion nennen, und das zu allen Zeiten in allen Kulturen nachweisbar ist.«450

In seinem umfangreichen Aufsatz Was ist Religion? hat Bergunder daher – im Anschluss an die weiter oben dargestellten Theorien Ernesto Laclaus und Judith Butlers – den Ausdruck Religion als leeren Signifikanten konzeptionalisiert, der im zeitgenössischen gesellschaftlichen Diskurs sedimentiert sei und daher (wie auch Nongbri konstatiert) eben quasi-natürlichen Charakter besitze. »›Religion‹ ist zwar immer nur in einer konkreten sprachlichen Artikulation […] fassbar, aber zugleich ist sie ein sedimentierter Name. […] Als sedimentierter Name tritt uns ›Religion‹ zugleich als real-existierende, materialisierte Erscheinung entgegen, die das Soziale tiefgreifend strukturiert. Diese Materialisierung macht verständlich, warum Religion […] auch in [inhaltlich] unerklärter Form eine so kraftvolle und überzeugende Wirkung […] entfalten kann.«451

Trotz (oder, in der Theorie Laclaus, gerade aufgrund) seiner inhaltlichen Unbestimmtheit erscheint das Religionskonzept also »als eine universale Gegebenheit, in allen Kulturen in der einen oder anderen Form präsent, und zwar seit der Zeit, als der Mensch zum ersten Mal … nunja, menschlich wurde.«452 Aus den bisherigen Kapiteln dieses Buches sollte deutlich geworden sein, dass die (in der Folge vorzunehmende) Historisierung des Religionsbegriffs, die seit einigen Jahrzehnten in Teilen der religionswissenschaftlichen Forschung (etwa in der als Critical Religion bekannt gewordenen Richtung453) umfangreich geleistet wurde, nur zu dem Ergebnis führen kann, dass es sich bei Religion (wie auch bei Wahrheit und Universalität) um das Produkt eines konkreten historischen Diskurses handelt – und also keineswegs um eine zeitlose, dem Diskursiven enthobene, Kategorie menschlicher Existenz. Nichtsdestotrotz haben diese 449 »[…] something ›out there‹ […]«. Brent Nongbri: Before Religion. A History of a Modern Concept. New Haven/London: Yale University Press 2013, S. 151. 450 »[…] a universal human phenomenon, a part of the ›natural‹ human experience that is essentially the same across cultures and throughout history. Individual religions may vary through time and geographically, so the story goes, but there is an element that we call religion to be found in all cultures in all time periods.« Ebd., S. 1. 451 Bergunder: Was ist Religion?, S. 41. 452 »[R]eligion appears as a universal given, present in some form or another in all cultures, from as far back as the time when humans became … well, human.« Nongbri: Before Religion, S. 2. 453 Zu einer detaillierteren Darstellung dieser Strömung vgl. Kap. 4.

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Erkenntnisse die Sedimentation bzw. Ontologisierung von Religion weder im breiteren wissenschaftlichen Kontext noch in den zeitgenössischen gesellschaftlichen und politischen Debatten in nennenswertem Umfang aufbrechen können. Dieser Umstand führt dazu, dass auch und gerade in (religions-)wissenschaftlichen Arbeiten noch häufig die erstmals von Wilfred Cantwell Smith (1916–2000) festgestellte »Reifizierung«454 von Religion vorgenommen wird, und zwar in dem Sinne, dass eine »moderne Erfindung«455 (also ein Produkt der oben geschilderten Debatten des 19. Jahrhunderts) im Sinne einer »objektiven systematischen Entität«456 verwendet wird – eine Praxis also, die der Sedimentierung von Religion gerade Vorschub leistet. Im Rahmen dieser universalisierenden Praxis wird Religion auch zur Erforschung und Systematisierung von Kontexten genutzt, die mit den genannten Diskursen historisch nicht in Verbindung stehen, seien es nun antike europäische Kontexte – oder aber die vorkolonialen Gesellschaften außerhalb Europas. Aus der Sicht des Althistorikers Nongbri ist dieses Vorgehen deshalb problematisch, weil es ein Konzept zum Verständnis von historischen Kontexten bemüht, das in diesen Kontexten selbst nicht vorkommt. So habe sich in den religionswissenschaftlichen Debatten der letzten drei Jahrzehnte »herausgestellt, dass die Isolierung von etwas, das als ›Religion‹ bezeichnet wird, im Sinne eines Lebensbereiches, der im Idealfall abgetrennt ist von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, kein universales Merkmal menschlicher Geschichte darstellt. Tatsächlich handelt es sich dabei, wenn man einen breiteren Blick auf menschliche Kulturen wirft, um eine recht merkwürdige Art und Weise, die Welt aufzufassen. In der antiken Welt waren die Götter in alle Aspekte des Lebens eingebunden. Das heißt jedoch nicht, dass man sagen könnte, dass alle Menschen der Antike irgendwie einheitlich ›religiös‹ gewesen seien, sondern vielmehr, dass die Unterscheidung zwischen ›religiös‹ und ›säkular‹ eine jüngere Entwicklung ist. Die Menschen der Antike haben die Welt schlichtweg nicht auf diese Weise zergliedert.«457

Mit anderen Worten: Nicht nur hilft das Konzept Religion beim Verständnis antiker Kontexte nicht weiter, sondern es verhindert geradezu die adäquate 454 »[…] reification«. Wilfred Cantwell Smith: The Meaning and End of Religion. Minneapolis: Fortress Press 1991, S. 51. 455 »[…] modern invention […].« Nongbri: Before Religion, S. 3. 456 »[…] objective systematic entity.« Smith: The Meaning and End of Religion, S. 51. 457 »More generally, it has become clear that the isolation of something called ›religion‹ as a sphere of life ideally separated from politics, economics, and science is not a universal feature of human history. In fact, in the broad view of human cultures, it is a strikingly odd way of conceiving the world. In the ancient world, the gods were involved in all aspects of life. That is not to say, however, that all ancient people were somehow uniformly ›religious‹; rather, the act of distinguishing between ›religious‹ and ›secular‹ is a recent development. Ancient people simply did not carve up the world in that way.« Nongbri: Before Religion, S. 2f.

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historische Rekonstruktion antiker gesellschaftlicher Zusammenhänge und Diskurse – eine These, die so freilich auch auf die Analyse vorkolonialer nichteuropäischer Kontexte ausgeweitet werden kann.

3.1. Religion und Religionstheologie Es ist klar, dass die gegenwärtige Religionstheologie ihren Ausgangspunkt in den heutigen Debatten um Religion und Religionen nimmt – Debatten, die Religion im Sinne eines explizit artikulierten sprachlichen Gegenstands zweifellos verhandeln. Denn schließlich ist kaum zu bestreiten, dass Religion im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs zweifellos ›existiert‹, und die Theologie der Religionen kann als direkte Reaktion auf diese Gegebenheit verstanden werden – im Sinne einer wissenschaftlichen Disziplin, welche die zeitgenössischen kontextuellen Ausprägungen des Religionsdiskurses in Form der verschiedenen (Welt-)Religionen reflektiert und konzeptionalisiert. Dieser historischen Plausibilisierung der Disziplin458 stehen indes die teilweise essentialisierenden Tendenzen in der Konzeptionalisierung von Religion in den verschiedenen Richtungen der Religionstheologie gegenüber. Um hier zunächst einen groben Überblick zu erhalten, teilt Christian Danz die schier unüberschaubare Zahl an entsprechenden Ansätzen in zwei Gruppen ein, die er mithilfe der Genitivverbindung im Terminus ›Theologie der Religionen‹ charakterisiert:459 Zur ersten Gruppe (im Sinne eines genitivus subjectivus) gehören demnach solche Positionen, die »die Religionen und die Stellung des Christentums innerhalb der Religionsgeschichte […] im Ausgang von einem allgemeinen Religionsbegriff«460 thematisieren – ein Zugang, der ziemlich exakt dem im letzten Abschnitt dargestellten (von Bergunder und Nongbri kritisierten) Konzept von Religion entspricht. »Ein derartiges Verständnis einer Theologie der Religionen oder einer Theologie der Religionsgeschichte ergibt sich aus dem von Ernst Troeltsch konzipierten Programm einer religionsgeschichtlichen Theologie. Es ist in unterschiedlicher und gegenüber Troeltsch modifizierter Form aufgenommen worden von Wolfhart Pannenberg, Carl Heinz Ratschow, Reinhard Leuze und von den sogenannten pluralistischen Religionstheologen.«461

Ich möchte an dieser Stelle exemplarisch zwei prominente Vertreter der letzteren Gruppe thematisieren, und zwar den bereits eingangs ausführlicher zitierten 458 459 460 461

Vgl. etwa Danz: Einführung in die Theologie der Religionen, S. 9–12. Vgl. ebd., S. 32f. Ebd., S. 32. Ebd., S. 33.

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John Hick sowie den (in einem erweiterten Sinn als Hick-Schüler zu bezeichnenden462) Religionswissenschaftler und Theologen Perry Schmidt-Leukel. Deren Religionskonzept kann nicht nur als besonders einschlägig gelten, sondern ist darüber hinaus dazu geeignet, theoretische Anfragen an den pluralistischen Ansatz herauszuarbeiten, die prinzipiell auch auf die übrigen, auf einem allgemeinen Religionsbegriff basierenden, Modelle übertragen werden können. In einigen seiner Texte scheint Hick die verschiedenen (Welt-)Religionen als relativ klar abgrenzbare Gebilde mit ihren jeweils ganz eigenen Symbolsystemen und Narrativen zu verstehen: »Wir [Christen] gleichen einer Gruppe von Menschen, die ein langes Tal hinunterwandern, dabei ihre eigenen Lieder singen und im Laufe der Jahrhunderte ihre eigenen Geschichten und Slogans entwickelt haben, ohne sich der Tatsache bewusst zu sein, dass jenseits des Hügels ein anderes Tal liegt, das von einer weiteren Gruppe von Menschen durchwandert wird, die in derselben Richtung unterwegs sind und ebenfalls ihre eigene Sprache, ihre eigenen Lieder, Geschichten und Gedanken haben, und dass es jenseits eines weiteren Hügels noch eine Gruppe gibt. Keine dieser Gruppen weiß von der Existenz der anderen.«463

Grundlage dieser These ist vor allem die Annahme, dass die Entstehungszeit heutiger ›Weltreligionen‹ in der sog. »Achsenzeit«464 im ersten Jahrtausend v. Chr. anzusiedeln sei – einer Zeit, in der »die Kommunikationswege zwischen den Zivilisationen Chinas, Indiens und des Nahen Ostens fast so dürftig und langsam [waren], als hätten sich diese Zivilisationen auf unterschiedlichen Planeten befunden. […] Von diesem Standpunkt aus erscheint es nur natürlich, dass die Offenbarung vielfältig gewesen sein muss, das heißt, dass sie auf unterschiedliche Weise in den verschiedenen Zentren der menschlichen Kultur geschah.«465

Den Umstand, dass sich Religion in den verschiedenen Kontexten der Welt jeweils weitgehend unabhängig materialisiert hat, begründet Hick hier also zunächst damit, dass sich das göttliche »Ewig Eine«466 auf pluralem Wege dem Menschen offenbart hat, um das Problem der mangelnden Vernetzung der verschiedenen Kontexte zu umgehen. Theoretisch plausibilisiert wird dieses Modell anschließend durch die Erkenntnistheorie des (frühen) Immanuel Kant, und zwar in dem Sinne, dass das Ewig Eine mit dem transzendenten »göttlichen Noumenon, dem Ewig einen an sich, das die Reichweite menschlichen Denkens 462 Vgl. Perry Schmidt-Leukel: Gott ohne Grenzen. Eine christliche und pluralistische Theologie der Religionen. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2005, S. 15. 463 Hick: Gott und seine vielen Namen, S. 44f. 464 Ebd., S. 50. 465 Ebd. 466 Ebd., S. 52.

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übersteigt,«467 identifiziert wird, während die kontextuellen Ausprägungen des Göttlichen als »Phainomena«468 verstanden werden, die dem menschlichen Erkennen (etwa in Form der »göttlichen personae der theistischen Religionen«469) prinzipiell zugänglich sind. Vor diesem Hintergrund greift Hick auf sein (aus Wittgenstein entwickeltes) hermeneutisches Konzept des »Erfahren-als«470 als breitere theoretische Basis zurück: Damit ist gemeint, dass die Gegenstände menschlicher Erkenntnis »ihre Bedeutung [stets] innerhalb situationsabhängiger Zusammenhänge«471 gewinnen und sich damit erst in diesem Sinne als Objekte religiöser Erfahrung konstituieren; die Erfahrung und die daraus abgeleitete Erkenntnis des Göttlichen können also nur in einem spezifischen kontextuellen (religiösen) Zusammenhang erfolgen, weshalb es zwangsläufig zu einer Vielfalt der kulturellen Repräsentationen des Göttlichen komme.472 Stellt man diesen Ansatz dem oben charakterisierten, (im weiteren Sinne) neuplatonisch geprägten Wirklichkeitsmodell gegenüber, so lassen sich durchaus gewisse Parallelen aufzeigen. Denn trotz seiner komplexen Theorie zur kontextuellen Konstitution religiöser Bedeutung läuft Hicks Modell letzten Endes darauf hinaus, dass sich das transzendente, universale Göttliche in seinen partikularen Repräsentationen der dinglichen Welt konzeptuell ›manifestiert‹, wodurch es der äußeren Erkenntnis prinzipiell (im Sinne einer substantiell ›wahren‹ Erfassung der göttlichen Wirklichkeit) zugänglich wird. Dem entspricht denn auch Hicks Religionsverständnis, indem die historischen Religionen als »die Antwort des Menschen auf eine transzendente, von uns verschiedene göttliche Realität«473 konzipiert werden: »Jede dieser Formen, in denen das Ewig Eine von Menschen wahrgenommen wurde, ist Bestandteil eines komplexen Ganzen, nämlich dessen, was wir eine Religion nennen, mit ihren spezifischen Formen religiöser Erfahrung, ihren eigenen Mythen und Symbolen, ihren theologischen Systemen, ihren Liturgien und ihrer Kunst, ihrer Ethik und ihren Lebensstilen, ihren Schriften und Traditionen, wobei sich all diese Elemente gegenseitig beeinflussen und verstärken.«474

Demgegenüber argumentiert Hick, wie häufig festgestellt wurde, selbst nicht im Rahmen einer solchen historischen Religion. Vielmehr nimmt er hier eine Art »Metaperspektive«475 ein, indem er nicht etwa ein historisches phainomenon, 467 468 469 470 471 472 473 474 475

Ebd., S. 58. Ebd. Ebd. Ebd., S. 89. Ebd. Vgl. ausführlicher: Hick: An Interpretation of Religion, S. 127–230. Hick: Gott und seine vielen Namen, S. 46. Ebd., S. 58. Schmidt-Leukel: Gott ohne Grenzen, S. 184.

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sondern das göttliche noumenon selbst zum primären Gegenstand der religiösen Erkenntnis (und damit der Theologie) macht – und dadurch, wie Leuze argumentiert hat, mit der kant’schen Erkenntniskritik nicht vollständig in Deckung gebracht werden kann.476 Indem er dies tut, positioniert er seine theologischen Aussagen de facto im Rahmen einer dem Historischen enthobenen »metaphysischen Religion an sich«477, die damit im Sinne einer ontologischen Kategorie in den verschiedenen historischen Kontexten ihre Ausprägung findet.478 Ähnliche Passagen lassen sich auch bei Schmidt-Leukel finden. In explizitem Verweis auf John Hick teilt Schmidt-Leukel mit diesem zunächst seine »philosophischen und theologischen Voraussetzungen«479: »(1) Die metaphysische Voraussetzung, wonach die transzendente Wirklichkeit eine alles menschliche Begreifen übersteigende Wirklichkeit ist; (2) die epistemologische Voraussetzung, wonach die Erkenntnis dieser Wirklichkeit in Gestalt von religiöser Erfahrung zuteil wird; (3) die hermeneutische Voraussetzung, wonach die Interpretation transzendenzbezogener religiöser Rede bei den konkreten Formen ihres jeweiligen Erfahrungsbezugs ansetzen sollte; (4) die soteriologische Voraussetzung, wonach Heil in einer Umwandlung von der Selbstbezogenheit zur Ausrichtung auf die transzendente Wirklichkeit und zur liebenden Zuwendung zum Mitmenschen besteht; (5) die chris-

476 Vgl. Reinhard Leuze: Gott und das Ding an sich – Probleme der pluralistischen Religionstheologie. In: NZSTh 39/1 (1997), S. 42–64, hier S. 50–53. Tatsächlich hat auch Hick selbst explizit darauf hingewiesen, dass sein Modell im Resultat auf eine »nicht-Kantische These« hinauslaufe, und zwar in dem Sinne, »dass das Göttliche erfahren (statt, wie Kant glaubte, postuliert) wird, dass es jedoch erfahren wird innerhalb der Grenzen unseres menschlichen Erkenntnisapparats, und zwar in Analogie zu jener Weise, wie Kant sie für unsere Erfahrung der physikalischen Welt zu belegen versuchte.« Hick: Gott und seine vielen Namen, S. 92. 477 Christian Danz: Jesus von Nazareth zwischen Judentum und Christentum. Tübingen: Mohr Siebeck 2020, S. 66. Vgl. auch Christian Danz: Religionsbegriff und Religionskritik in der Theologie der Religionen. In: Ingolf U. Dalferth/Hans-Peter Grosshans (Hrsg.): Kritik der Religion. Zur Aktualität einer unerledigten philosophischen und theologischen Aufgabe. Tübingen: Mohr Siebeck 2006, S. 259–284, hier S. 273. 478 Ich möchte hier nicht die verbreitete Kritik aufgreifen, die dem pluralistischen Ansatz vorwirft, schlichtweg eine »neue Religion« zu propagieren, denn wie Schmidt-Leukel gezeigt hat, geht es Hick vielmehr »implizit [um] eine Weiterentwicklung innerhalb jeder dieser [religiösen] Traditionen«, sodass es Pluralismus nur »als christlichen Pluralismus, jüdischen Pluralismus, muslimischen Pluralismus und so weiter« geben könne (Schmidt-Leukel: Wahrheit in Vielfalt, S. 27, vgl. auch z. B. Hick: An Interpretation of Religion, S. 1–3). Dagegen wäre mein Argument hier, dass auch dieser konfessionell geprägte Pluralismus nicht ohne die Tendenz zur universalisierenden, kategorialen Schließung auskommt, was in gewissem Sinne durchaus als eine Positionierung jenseits der historischen Religionen (im Sinne kultureller/sozialer Phänomene) interpretiert werden könnte. Im folgenden möchte ich daher versuchen, die Theologoumena der pluralistischen Theologie so zu verschieben, dass diese Tendenz durchbrochen wird, gleichzeitig aber an deren Grundprogramm festgehalten werden kann (s. Kap. 7). 479 Schmidt-Leukel: Gott ohne Grenzen, S. 191.

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tologische Voraussetzung, wonach Jesus weder der einzige, noch der allen anderen überlegene Mittler heilshafter Transzendenzerkenntnis ist.«480

In dieser Form könnte das hier skizzierte Programm durchaus auch im Sinne einer neuplatonisch (oder vielleicht hegelianisch) geprägten, abstrakten ›Universalreligion‹ – oder zumindest als ideale Repräsentation von Religion – gelesen werden: Das transzendente, göttliche Universale manifestiert sich im individuellen Erfahrungshorizont des Menschen, der sich umgekehrt entlang dieser ontologischen ›Emanation‹ des Göttlichen ausrichtet, um Erlösung zu finden. Dass die Christologie nur exemplarisch als eine dieser kontextuellen menschlichen Reaktionen herausgehoben werden kann, ist als theoretische Konsequenz dieses Ansatzes praktisch unvermeidlich. Indes geht es mir hier keineswegs darum, den alten, von Schmidt-Leukel im Gewand des buddhistischen Gleichnisses vom sehenden König, der ein paar Blinde denselben Elefanten berühren lässt,481 paraphrasierten Vorwurf zu wiederholen, dass sich die pluralistische Religionstheologie zu eben jenem sehenden König erhebe, der den ganzen Elefanten im Blick habe, während die verschiedenen Theologien der historischen Religionen nur dessen unterschiedliche Teile erfassten; vielmehr möchte ich argumentieren, dass – um im Bildnis zu bleiben – auch die pluralistische Option in dieser Form (zumindest aus einer poststrukturalistischen Perspektive heraus) nur einen bestimmten Teil des Elefanten in den Blick bekommt, und dies liegt m. E. zu einem Gutteil an ihrem Konzept von Religion und der diesem Konzept zugrunde liegenden ontologischen Struktur begründet. Erste Hinweise darauf liefert die bereits weiter oben angesprochene, von Leuze identifizierte letztendliche Inkonsistenz in der Anwendung der kant’schen Erkenntniskritik bei John Hick. Denn während dieser die Unterscheidung zwischen dem noumenon (als dem ›wahren‹, der menschlichen Erkenntnis prinzipiell unzugänglichen Sein) und den (intuitiv und verstandesgemäß erfassbaren) phainomena zwar auf den Bereich der historischen Religionen anwendet, unterzieht er seine eigenen Aussagen nicht in gleichermaßen konsequentem Maße einer diesbezüglichen Erkenntniskritik, sodass seine ›Evolutionsgeschichte‹482 der (universalen) Religion in der Tat den Eindruck erwecken kann, als sei sie aus einer erkenntnistheoretischen Vogelperspektive erzählt. Dieser ›blinde Fleck‹ bezüglich der eigenen argumentativen Position bedingt es meines Erachtens, dass auch Schmidt-Leukel seinen Anspruch nur bedingt einhalten kann, dass nämlich allein die pluralistische Option »zu einer genuinen Wertschätzung re-

480 Ebd., S. 191f. 481 Vgl. ebd., S. 174. 482 Vgl. Hick: Gott und seine vielen Namen, S. 47–53.

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ligiöser Vielfalt in der Lage«483 sei, und zwar in dem Sinne, dass »die anderen Religionen sowohl in dem zu würdigen [sind], was sie mit dem Christentum gemeinsam haben, als auch in ihrer vom Christentum verschiedenen, je eigenen Gestalt«484. Denn die von ihm im Rahmen seiner theoretischen Voraussetzungen vorgenommene Definition einer allgemeinen Kategorie von Religion ist ebenfalls einem spezifischen historischen Kontext geschuldet und in fundamentaler Weise von philosophischen und theologischen Konzepten abhängig, die (wie ich zu zeigen versucht habe) vor allem die christlichen Traditionen Europas geprägt haben: Demnach gehe es »in den Religionen erstens um die Überzeugung, dass eine […] alles Endliche transzendierende Wirklichkeit tatsächlich existiert. Zweitens wird diese Wirklichkeit als der höchste Wert beziehungsweise als das höchste Gut angesehen und drittens bemisst sich richtiges Handeln oder Leben daran, ob es sich an der Existenz und höchsten Werthaftigkeit dieser transzendenten Wirklichkeit orientiert.«485

Indem Schmidt-Leukel dieses vor allem durch die christliche Theologie überlieferte Modell in die Gestalt einer allgemeinen, ›idealen‹ Kategorie Religion überführt, vereinnahmt er die von ihm in diesem Sinne als Religionen identifizierten und charakterisierten Traditionen m. E. in vergleichbarer Weise wie die offen inklusivistisch argumentierenden Ansätze der Religionstheologie. Die für die pluralistische Religionstheologie gemachten Beobachtungen lassen sich ähnlich auch für die zweite, von Danz im Sinne des genitivus objectivus charakterisierte, Gruppe innerhalb der Theologie der Religionen aufzeigen. Gemeint ist damit ein »Verständnis von Religionstheologie, welche die nichtchristlichen Religionen aus der Perspektive der christlichen Theologie und damit aufgrund bestimmter dogmatischer Vorgaben und Voraussetzungen in den Blick nimmt. In dieser Lesart der Genitivverbindung werden die Religionen zu einem Gegenstand einer solchen theologischen Untersuchung, die ausdrücklich von der Voraussetzung des christlichen Glaubens ausgeht.«486

Diese (heute in der Regel inklusivistischen) Modelle basieren in ihren Grundsätzen prinzipiell auf denselben theoretischen Konzepten wie die Ansätze der ersten Gruppe. Als Beispiel möchte ich hier kurz auf Karl Rahners berühmten Text Das Christentum und die nichtchristlichen Religionen eingehen. Rahners Argumentation ist dem pluralistischen Modell strukturell recht ähnlich; wie

483 484 485 486

Schmidt-Leukel: Gott ohne Grenzen, S. 190. Ebd. (Hervorhebung durch mich.) Ebd., S. 198. Danz: Einführung in die Theologie der Religionen, S. 32.

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letzteres geht diese von der Annahme eines »Pluralismus der Religionen«487 aus, wobei Religion als der geschichtliche, kontextuelle Rahmen verstanden wird, in dem die göttliche Gnade »ein Gestaltungsmoment des konkreten Lebens wird, [und] wo dieses Leben die Beziehung auf das Absolute thematisch macht«488. Demnach erreiche das »von Gott [dem Menschen] heilschaffend Zugedachte«489 diesen »in der konkreten Religion seines konkreten Daseinsraumes, seiner geschichtlichen Bedingtheit«490. In diesem Zusammenhang geht auch Rahner von einem religionsgeschichtlichen Fortschrittsmodell aus: So spricht er von einem »terminus ad quem […], bis zu welchem hin [die] Einschätzung der außerchristlichen Religionen [als legitime Religionen] gilt: es ist der Zeitpunkt, in dem das Christentum eine geschichtlich reale Größe für die Menschen dieser Religionen wird.«491 »[D]ann hört in diesem Sinn durch das jetzt geschehene Aufbrechen des [christlichen] Abendlandes in eine planetarische Weltgeschichte hinein, in der jedes Volk und jeder Kulturkreis zum inneren Moment jedes anderen Volkes und jedes anderen Kulturkreises wird, das Heidentum auf zu existieren oder vielleicht besser gesagt: es kommt langsam in eine ganz neue Phase […].«492

Demgemäß erkennt Rahner an, dass »[a]uch die außerchristlichen und außertestamentlichen Religionen […] durchaus Momente übernatürlichen Gnadeneinflusses«493 enthalten, weshalb »das Christentum dem Menschen außerchristlicher Religionen nicht einfach als dem bloßen und schlechthinnigen Nichtchristen gegenüber[tritt], sondern als einem, der durchaus schon als ein anonymer Christ betrachtet werden kann und muß.«494 Nichtsdestotrotz stellt er klar, dass es sich aus »katholisch-dogmatische[r]«495 Sicht nur beim Christentum um die »für alle Menschen bestimmte, absolute Religion«496 handeln kann. Denn »[w]enn Religion […] nicht dasjenige Verhältnis des Menschen zu Gott ist, das der Mensch autonom stiftet, […] sondern die Tat Gottes an ihm, die freie Selbstoffenbarung in Selbstmitteilung Gottes an ihm, […] wenn dieses Verhältnis Gottes zu allen Menschen grundlegend das eine und selbe ist, weil es auf der Inkarnation, dem Tod und der Auferstehung des einen fleischgewordenen Gottes beruht, […] dann kann nur das 487 Karl Rahner: Das Christentum und die nichtchristlichen Religionen. In: Ulrich Dehn (Hrsg.): Handbuch Dialog der Religionen. Christliche Quellen zur Religionstheologie und zum interreligiösen Dialog. Frankfurt a. M.: Lembeck 2008, S. 75–96, hier S. 76. 488 Ebd., S. 88. 489 Ebd., S. 90. 490 Ebd. 491 Ebd., S. 82. 492 Ebd. 493 Ebd., S. 92. 494 Ebd., S. 92f. 495 Ebd., S. 78. 496 Ebd., S. 79.

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Christentum sich als die wahre und legitime Religion für alle Menschen schlechthin […] anerkennen.«497

Vielleicht kommt Rahner schon allein aufgrund der katholischen Tradition nicht umhin, seiner Religionstheologie ein thomistisches Weltmodell zugrunde zu legen. Insofern ist auch in seinem Entwurf die nicht nur bei einigen pluralistischen Vertretern zu findende ontologische Kategorie von Religion fester Bestandteil der Argumentation: Das universale »Absolute«498, »Göttliche[…]«499 manifestiert sich in den »Objektivationen«500 und »konkreten Religion[en]«501 der verschiedenen historischen Kontexte. Im Unterschied zu Hick und SchmidtLeukel erfolgt diese Manifestation jedoch in qualitativ gestufter Form, indem der christlichen bzw. katholischen Religion vor allen anderen Religionen zugeschrieben wird, eine »deutlichere und reine reflexe Erfassung«502 des Göttlichen »in einem gesellschaftlich verfaßten Bekenntnis, in Kirche,«503 zu repräsentieren, was letztlich »die größere Heilschance für den einzelnen Menschen bietet, als wenn er nur ein anonymer Christ wäre«504. Die qualitative Abstufung der Manifestation des universalen Gottes in Religion bedingt (im Gegensatz zum pluralistischen Modell) die unmittelbare Sichtbarkeit der inklusivistischen Perspektive bei Rahner, und zwar in der Form, dass der Standpunkt des Theologen eben nicht auf der Ebene des Universalen, Absoluten angesiedelt ist, das dem Historischen (und damit der Kontextualität der theologischen Position) argumentativ enthoben ist; vielmehr positioniert sich der Dogmatiker explizit im Rahmen eines Modells, das sich erklärtermaßen aus seiner eigenen katholischdogmatischen Tradition speist, und das allein die Plausibilität seiner Sicht auf die nichtchristlichen Religionen stützt. Diese explizite Positionierung bedingt aber auch, dass das oben problematisierte Potential einer ontologischen Religionskategorie nun deutlich zutage tritt: Denn wenn das Konzept Religion seine Plausibilität aus einer katholischen Position (und aus einer Bezugsetzung zu dieser Position) heraus erhält, welche Geltungskraft und Akzeptanz entfaltet diese Kategorie dann in nicht- oder vorkatholischen Kontexten? Diese Frage stellt sich m. E. auch bei der dritten Variante, die von Danz selbst als Vorschlag zur Behebung der Probleme der beiden anderen Konzeptionen von

497 498 499 500 501 502 503 504

Ebd. Ebd., S. 88. Ebd., S. 83. Ebd., S. 92. Ebd., S. 88. Ebd., S. 94. Ebd., S. 93. Ebd., S. 94.

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Religion in seiner Einführung in die Theologie der Religionen ins Spiel gebracht wird.505 Dabei knüpft er seine Überlegungen zunächst an die Feststellung, dass »[d]ie begriffliche Fassung des Religionsbegriffs […] der Problemgeschichte des Religionsbegriffs selbst Rechnung zu tragen [hat]. Dies impliziert vor allem auch eine methodische Berücksichtigung des Umstands, daß der Religionsbegriff selbst einer bestimmten religiösen und kulturellen Tradition entstammt. […] Der Religionsbegriff kann also von einer Theologie der Religionen nicht umstandslos als kontextfreier Allgemeinbegriff verwendet werden.«506

Darüber hinaus bemängelt Danz die Ausblendung der »Unbedingtheitsdimension religiösen Bewußtseins«507 in den religionsphilosophischen Konzepten der Pluralisten, in denen die »für das religiöse Bewußtsein konstitutive Form von unbedingter Gewißheit zum Verschwinden gebracht wird«508. Um nun diesen Bedingungen gerecht zu werden, entkoppelt Danz sein Konzept von Religion zunächst von jeglichen kontextbedingten (inhaltlichen) Charakterisierungen, indem er es ganz allgemein als eine »lebensweltliche Deutung der Faktizität menschlicher Selbstbestimmung«509 definiert. Die Definition wird sodann auf jene »fundamentalen Differenzerfahrungen«510 zurückgeführt, »wie sie mit jedem menschlichen Leben unweigerlich verbunden sind, etwa die Erfahrung der Differenz von Leben und Tod, Selbst und Anderem oder grundsätzlich, die Differenz zwischen dem Sichgegebensein der endlichen Selbstbestimmung und deren aktualem Vollzug«511. Gerade aufgrund dieser Unbedingtheitsdimension religiöser Lebensdeutung, die durch die Konfrontation des Individuums mit der »Faktizität seiner selbst«512 verursacht ist, unterscheide sich diese »fundamental von anderen Deutungen des Lebens, etwa wissenschaftlichen oder moralischen«513. In diesem Sinne handele es sich bei den historischen Religionen um »geschichtlich vermittelte Selbstdeutungen von Individuen und religiösen Gemeinschaften«514, wobei die »Aussagen der geschichtlichen Religionen […]

505 In jüngeren Schriften hat Danz seinen Vorschlag an entscheidenden Stellen zugunsten einer »pluralismusoffenen Theologie« modifiziert, sodass sich meine Ausführungen nicht mehr auf diese späteren Texte beziehen. Vgl. etwa Danz: Jesus von Nazareth zwischen Judentum und Christentum; Christian Danz: Nochmals: Monistischer Pluralismus oder pluralismusoffene Theologie? Eine Duplik auf Perry Schmidt-Leukel. In: ThR 86/1 (2021), S. 106–119. 506 Danz: Einführung in die Theologie der Religionen, S. 45. 507 Ebd. 508 Ebd. 509 Ebd., S. 45f. 510 Ebd., S. 46. 511 Ebd. 512 Ebd. 513 Ebd., S. 47. 514 Ebd.

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symbolische Deutungen von grundlegenden Sinnerfahrungen«515 repräsentierten. Indem der Religionsbegriffs auf diese Weise »methodisch an geschichtliche Formen der Religion zurückgebunden«516 ist, »wird erst dem Umstand Rechnung getragen, daß es keinen neutralen Zugang zum Religionsthema gibt. Beschreibungen von Religion sind stets beobachterrelativ und damit unhintergehbar kontingent. […] Die Anwendung des Religionsbegriffs stellt daher immer eine Fremddeutung dar, die methodisch berücksichtigt werden muß. In dieser religionsphilosophisch reflektierten Weise bietet der vorgeschlagene Religionsbegriff ein geeignetes Instrument zur Analyse religiöser Phänomene, die nie rein als solche auftreten, sondern stets in einer Vielzahl kultureller Brechungen.«517

Die danz’sche Konzeption von Religion ist zweifellos eine geeignete Antwort auf die von ihm ausgemachten Schwierigkeiten des universalen Religionsbegriffs in den kritisierten religionstheologischen Modellen. Indes lässt sich sein Ansatz meines Erachtens nichtsdestotrotz mit den Problemen konfrontieren, die ich zu Beginn dieses Kapitels aus dem unhinterfragten ontologischen Status der Religionskategorie sui generis abgeleitet habe. Denn während Danz zwar durch die »rein funktionale«518 Bestimmung von Religion als »menschliche Selbst- und Weltdeutungen zum Zwecke der Sinnorientierung«519 die aus bestimmten Geistestraditionen übernommenen substantialistischen Charakterisierungen anderer religionstheologischer Entwürfe vermeidet, so bleibt doch die Kategorie Religion selbst (etwa in Abgrenzung zu den von Danz exemplarisch angeführten Begriffen von Wissenschaft oder Moral) als Produkt historischer Entwicklungen und Aushandlungsprozesse hier weitgehend unreflektiert. Zwar ist aus poststrukturalistischer Perspektive dem Vorwurf, dass die Vertreter der pluralistischen Option den Religionsbegriff als kontextuelle Manifestation einer universalen Transzendenz ontologisieren,520 vorbehaltlos zuzustimmen; in derselben Art und Weise muss sich der hier präsentierte Ansatz jedoch dem Einwand aussetzen, dass auch mit der Funktionalisierung von Religion als Resultat einer »fundamentale[n]«521 menschlichen Erfahrung eine Ontologisierung verbunden ist, welche die Historizität des Religionsbegriffs überdeckt – denn dass Religion als eine allgemeine Eigenheit menschlichen Daseins existiert, scheint mir auch hier

515 516 517 518

Ebd., S. 48. Ebd., S. 46. Ebd. Reinhold Bernhardt: Die Differenz macht den Unterschied: Differenzhermeneutische Ansätze in der Religionstheologie. In: Christian Wiese/Stefan Alkier/Michael Schneider (Hrsg.): Diversität – Differenz – Dialogizität. Religion in pluralen Kontexten. Berlin/Boston: De Gruyter 2017, S. 29–47, hier S. 42. 519 Danz: Einführung in die Theologie der Religionen, S. 49. 520 Vgl. etwa ebd., S. 43f. 521 Ebd., S. 46.

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schlichtweg vorausgesetzt. Erste Hinweise darauf, dass auch diese Konzeption von Religion an Diskurse anknüpft, die einem spezifischen historischen Kontext entspringen, liefert der Umstand, dass der von Danz (zumindest in der herangezogenen Publikation präsentierte522) Entwurf augenscheinlich Züge einer (letzten Endes auf Schleiermacher und Troeltsch zurückgehenden) Kategorie der religiösen Innerlichkeit trägt, deren Allgemeingültigkeit argumentativ durch die ›menschliche Natur‹ gewährleistet wird.523 Dass eine solche Konzeptionalisierung von Religion möglicherweise als das Ergebnis eben derselben historischen Aushandlungsprozesse bezeichnet werden kann, die auch den universalen Religionsbegriff hervorgebracht haben, möchte ich im Folgenden darlegen.

3.2. Die Geschichte der Religion aus kultur- und religionswissenschaftlicher Perspektive 3.2.1. Religion als sedimentierter Name und leerer Signifikant Zweifellos ist das Konzept von Religion als ›etwas da draußen‹ – im Sinne eines allgemeinen Elements menschlicher Existenz – mit einer hohen Plausibilität verbunden. Denn schließlich genügt ein Blick aus dem sprichwörtlichen Fenster, um festzustellen, dass Religion nicht nur ein fixer Bestandteil der uns unmittelbar umgebenden Gesellschaft ist, sondern auch in sämtlichen Kontexten und Kulturen der heutigen Welt einen prägenden Einfluss ausübt. Darüber hinaus lässt sich der Gebrauch von Religion augenscheinlich auch für frühere Zeiten nachweisen, was nicht allein durch die Etymologie des Wortes, sondern auch durch die Kontinuität von Institutionen wie etwa der römisch-katholischen Kirche belegt zu sein scheint. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen lässt sich jedoch argumentieren, dass der Blick aus dem Fenster nicht zwangsläufig zu einer Kategorie von Religion sui generis führen muss. Denn genaugenommen lässt sich aus den 522 Wie weiter oben bereits angemerkt, hat Danz in jüngeren Publikationen seine Kritik an der pluralistischen Option reformuliert und in diesem Zusammenhang – nicht zuletzt »vor dem Hintergrund der religionstheoretischen Debatten im 20. und 21. Jahrhundert« – einem allgemeinen Religionsbegriff eine klare Absage erteilt (Danz: Jesus von Nazareth zwischen Judentum und Christentum, S. 66). 523 Ähnlich kritisiert auch Bernhardt: »[D]er hier vorgelegte Entwurf (auf der Linie Ernst Troeltschs) [läuft] auf die Behauptung einer Höherwertigkeit des (protestantischen) Christentums gegenüber anderen Religionsformen hinaus[…]. Denn in dieser Religionsform ist das von Danz geforderte aufgeklärte und reflektierte Religionsverständnis mit dem Freiheitsgedanken im Zentrum systembildend geworden, so seine Überzeugung« (Bernhardt: Die Differenz macht den Unterschied, S. 43). Zur Entgegnung Danz’ vgl. Danz: Jesus von Nazareth zwischen Judentum und Christentum, S. 244f.

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gemachten Beobachtungen nur schließen, dass Religion zum einen als ein in der heutigen Zeit weltweit verbreitetes Phänomen menschlichen Zusammenlebens gelten kann, und dass zum anderen das Konzept Religion eine Geschichte hat. Gewiss sprechen diese beiden Schlussfolgerungen noch nicht gegen Religion als eine allgemein-menschliche Eigenschaft. Was aber zu bedenken steht, ist, dass sich in einigen diesbezüglich untersuchten nicht-europäischen Kontexten ein vergleichbares Konzept für die vorkoloniale, vor-globale Zeit nur sehr schwierig oder überhaupt nicht nachweisen lässt524 (ganz zu schweigen von den von Nongbri thematisierten antiken Kulturen). Darüber hinaus garantiert die historische Verwendung des Wortes Religion, das als religio in der Tat bereits in antiken Texten zu finden ist, keineswegs, dass damit auch etwas bezeichnet wird, das dem heutigen Gebrauch des Wortes substantiell entsprechen würde. Nimmt man diese Bedenken zum Anlass, sich dem Konzept Religion auf eine historisierende Art und Weise anzunähern, so ergeben sich daraus einige theoretische und methodische Vorbedingungen, die sich von denen der herkömmlichen (auf einem eher kategorialen Verständnis basierenden) Religionsgeschichtsschreibung unterscheiden. Denn in dem durch die genannten Bedenken initiierten Ansatz kann die Historisierung von Religion gerade nicht an dem sprachlichen Ausdruck festgemacht werden: Es ist also nicht möglich, die historisch erstmalige Verwendung von religio ausfindig zu machen und diese zum Einstiegspunkt in eine Geschichte der Religion zu nehmen. Der Beginn von Religion wäre vielmehr dort auszumachen, wo sich zum ersten Mal in nennenswertem Maße ein Konzept nachweisen ließe, das der heutigen Verwendungsweise von Religion weitgehend entspräche und sich dabei gleichzeitig von früheren Verwendungsweisen des Ausdrucks signifikant unterschiede. Da dieser Zeitpunkt (anders als die erstmalige Verwendung von religio) nicht unmittelbar evident ist, kann er methodisch auch nicht als Einstiegspunkt in die Historiographie der Religion fungieren; denn dafür kommt nur ein Zeitpunkt in Frage, für den die äquivalente Verwendungsweise von Religion bezüglich des gegenwärtigen Religionsbegriffs zweifelsfrei und auf den ersten Blick festgestellt werden kann: heute. Die Folge dieser Veränderung ist, dass die Geschichte der Religion (zumindest methodisch) nur rückwärts (re-)konstruiert werden kann, und zwar in der Art, dass die Geschichtsschreibung sich von heute aus in der Zeit 524 Ein anschauliches Beispiel bildet die erst Anfang des 20. Jahrhunderts kolonisierte Insel Bali, wo die ›Einführung‹ des Religionsbegriffs als heuristische und soziale Ordnungskategorie durch die Niederländer in wenigen Jahrzehnten zu tiefgreifenden Veränderungen und identitären Neujustierungen der balinesischen Gesellschaft geführt hat. Vgl. Michel Picard: From Agama Hindu Bali to Agama Hindu and Back. Toward a Relocalization of the Balinese Relgion? In: Michel Picard/Rémy Madinier (Hrsg.): The Politics of Religion in Indonesia. Syncretism, Orthodoxy, and Religious Contention in Java and Bali. London/New York: Routledge 2011, S. 117–141.

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zurücktastet, bis sie schließlich zu jenen in der Vergangenheit verstreuten Orten gelangt, an denen Religion (oder ein vergleichbarer Ausdruck) in seiner konzeptuellen Verwendungsweise allmählich der heutigen gleicht. Indes ist dieses Verfahren nicht so einfach zu bewerkstelligen, wie es auf den ersten Blick scheint. Denn wie ich zu Beginn des vorliegenden Kapitels darzustellen versucht habe, ist eine substantielle Bestimmung dessen, was unter Religion verstanden werden soll, nicht einmal für den heutigen Zeitpunkt sinnvoll möglich. Vor diesem Hintergrund hat Bergunder vorgeschlagen, sich Religion nicht länger mithilfe analytisch-typologischer, ›essentialistischer‹ Begriffsdefinitionen anzunähern. Stattdessen plädiert er für eine »[h]istorische Gegenstandsbestimmung aus kulturwissenschaftlicher Perspektive«525 im Sinne eines Ansatzes, der »in besonderer Weise die Diskursivität und Sprachlichkeit historischer Phänomene reflektiert, wodurch eine große Nähe zu poststrukturalistischen Theoriebildungen gegeben ist. In einer solchen kulturwissenschaftlichen Perspektive ist es selbstverständlich, dass ein historischer Gegenstand zugrunde gelegt wird, denn in kulturwissenschaftlich orientierten Ansätzen erfolgt die Bestimmung eines Forschungsgegenstandes generell an der aktuellen diskursiven Praxis einer Gesellschaft, also am zeitgenössischen Alltagsverständnis.«526

Der bergunder’sche Ansatz entspricht den oben angeführten Bedingungen religionsgeschichtlichen Arbeitens also in der Form, dass er zum einen seinen Ausgangspunkt in der heutigen Verwendungsweise von Religion nimmt. Zum anderen umgeht die Fokussierung auf die diskursive Konstitution von sprachlichen und sozialen Gegenständen im Sinne der poststrukturalistischen Theorie die Notwendigkeit einer substantialistischen Bestimmung des Religionsbegriffs als Grundlage der historiographischen Analyse: In diesem Zusammenhang konzeptionalisiert Bergunder Religion wie gesagt mithilfe der im Kapitel zum Wahrheitsbegriff bereits ausführlich dargestellten philosophischen Ansätze Judith Butlers und Ernesto Laclaus: (1) Religion als sedimentierter Name: Der auch in den verschiedenen religionstheologischen Modellen zutage tretende quasi-natürliche Status von Religion wird durch die performative »Objektivierung«527 des Konzepts im Diskurs erklärt. Denn Religion zählt für Bergunder zu den »performativ ›kraftvolle[n]‹ Namen, die das Soziale strukturieren und als reifizierte, identifikatorische Allgemeinbegriffe fungieren. Diese Allgemeinbegriffe strukturieren das Soziale in einer Weise, dass ihr umkämpfter Charakter nicht mehr deutlich wird

525 Bergunder: Was ist Religion?, S. 19. 526 Ebd., S. 19f. 527 Ebd., S. 40.

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und die ihnen zugrundeliegende hegemoniale Schließung und der damit verbundene Ausschlusscharakter verschleiert wird.«528

Dabei bedingt die permanente, zitatförmige Wiederholung des Signifikanten in den sozialen und politischen Aushandlungsprozessen der Gegenwart die Ablagerung und Verschleierung der geschichtlichen Konstitution von Religion. Durch diesen Vorgang werden »im Diskurs scheinbar unumstößliche materiale Referenzen geschaffen […], also Signifikanten, die für sich beanspruchen, auf ein reales Außen zu verweisen«529 – und damit zeitlose Gültigkeit zu besitzen. (2) Religion als leerer Signifikant: Die diskursiven Mechanismen, die zur Sedimentierung von Religion führen, charakterisiert Bergunder nun mithilfe der laclau’schen Theorie. Demnach ist eine letzte Fixierung des sprachlichen Gegenstands Religion zwar prinzipiell ausgeschlossen; um dennoch das Problem der vollständigen Entgrenzung (und damit Auflösung) des Diskurses theoretisch in den Griff zu bekommen, geht Laclau (wie in Kap. 1 ausgeführt) von der Möglichkeit einer »partiellen Fixierung von Bedeutung«530 aus, deren Konstitution jedoch von innen, aus dem Diskurs heraus (und nicht etwa durch äußere Strukturen), erfolgt. Und weil durch die konzeptuelle Eliminierung des diskursiven ›Außen‹ der sprachliche Gegenstand Religion nicht positiv durch ein »transzendentales Signifikat«531 (etwa das religiöse Bewusstsein) konstituiert werden kann, muss die partielle Fixierung auf der Ebene des Signifikanten angesiedelt sein, der nach poststrukturalistischem Verständnis indes allein dadurch gekennzeichnet ist, dass er sich von anderen Signifikanten unterscheidet. Vor diesem Hintergrund ist einzusehen, dass eine Bedeutungsfixierung von Religion nicht über eine einfache sprachliche Differenz (etwa zu Atheismus) hergestellt werden kann, weil sich prinzipiell alle Signifikanten (also auch Religion vs. Religion) voneinander unterscheiden. Daher stellt Laclau die These auf, dass die partielle Fixierung von Bedeutung (im Sinne einer temporären Schließung des Diskurses) nur durch eine Unterbrechung des permanenten »Fließen[s] der Differenzen«532 erfolgen kann – die Begrenzung des Diskurses setzt also den »Zusammenbruch […] des Signifikationsprozesses«533 voraus. Diese »›Unterbrechung‹ […] oder ›Subversion‹ des unendlichen Spiels der Differenz«534 wird von Laclau (wie oben ausgeführt) als eine ›Logik der Äquivalenz‹ konzipiert, welche die Logik der Differenz aufhebt.

528 529 530 531 532 533 534

Ebd., S. 41. Ebd., S. 40. Zitiert nach: Ebd., S. 30. Ebd., S. 31. Der Terminus geht auf Jacques Derrida zurück (vgl. Kap. 1). Zitiert nach: Ebd., S. 30. Ebd., S. 31. Ebd.

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Wenn nun aber die Eliminierung des ›substantiellen Essentialismus‹ in Form des »transzendentalen Signifikats« nicht durch den »funktionalen Essentialismus«535 des zˇizˇek’schen Ansatzes vom reinen Signifikanten aufgehoben werden soll, stellt sich die Frage, wie die Äquivalenz kontingenter Signifikanten (und damit die Sedimentierung des Diskurses) überhaupt hergestellt werden kann; Laclau ermöglicht dies (wie bereits in Kap. 1 dargestellt) durch sein Konzept der Performanz, in deren Verlauf die beteiligten Signifikanten ihrer Differentialität »entleert«536 werden, und zwar durch die diskursive Konstruktion einer ausschließenden und antagonistischen Diskursgrenze. Schließt man sich der bergunder’schen Konzeption von Religion als leerem Signifikanten an, so besteht die Historisierung von Religion gerade nicht darin, eine Geschichte des Begriffs (also der Kombination aus Signifikant und Signifikat) zu rekonstruieren; auch geht es nicht darum, eine ›Wortgeschichte‹ (wie sie etwa von Ernst Feil für religio vorgelegt worden ist537) zu schreiben, weil man damit am besagten »funktionalen Essentialismus« Slavoj Zˇizˇeks festhalten würde. Vielmehr müsste man eine Geschichte der Performanz der Äquivalentsetzung von Signifikanten zur Fixierung des diskursiven Gegenstands Religion nachzeichnen, was zuallererst die Rekonstruktion politischer und sozialer Aushandlungsprozesse in den Fokus der Untersuchung rücken würde, während die inhaltliche Charakterisierung von Religion lediglich sekundär als deskriptive Wiedergabe historischer Äußerungen erfolgte, die durch die Äquivalentsetzung der beteiligten Signifikanten bedingt sind. Was also Religion zu einem bestimmten Zeitpunkt ›ist‹, wird nur in der Analyse der historischen Aushandlungsprozesse sichtbar, die zu diesem Zeitpunkt über Religion geführt werden; der Gegenstand Religion ist dadurch substantiell völlig fluide und nur im unmittelbaren Kontext, in dem er ausgehandelt wird, verständlich. Indes sollte – im Hinblick auf das im Kapitel zum Universalitätskonzept skizzierte mögliche Problem der poststrukturalistischen Theorie – die auf diese Weise vorgenommene Historisierung von Religion meiner Meinung nach nicht in dem Sinne verstanden werden, dass es sich hierbei nun um eine Form der religionsgeschichtlichen Analyse und Darstellung handelt, die in irgendeinem Maße dazu geeignet wäre, Religion ihrer ›Natur‹ nach adäquat(er) zu konzeptionalisieren, um damit ihre ›wahre‹ geschichtliche Genese nachzuvollziehen. Diese einschränkende Feststellung leitet sich auch daraus ab, dass das herangezogene »formale Modell«538 Ernesto Laclaus von diesem in erster Linie in der Absicht entwickelt wurde, den »ökonomischen Essentialismus des Marxismus zu 535 536 537 538

Butler: Körper von Gewicht, S. 289. Zur Erläuterung des theoretischen Problems vgl. Kap. 1. Bergunder: Was ist Religion?, S. 32. Vgl. Ernst Feil: Religio. Band 1–4. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986–2007. Bergunder: Was ist Religion?, S. 33.

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überwinden und in eine postfundamentalistische Theorie zu überführen«539; »[i]n seinen Schriften thematisiert Laclau seine Theorie [daher] ausschließlich im Hinblick auf ihre politikwissenschaftlichen Implikationen und interessiert sich offensichtlich nicht näher für ihren allgemeineren ontologischen Status«540. In diesem Zusammenhang merkt Bergunder dennoch zurecht an, »dass die von Laclau vorgelegte formale Signifikationstheorie in einem ›streng philosophischen‹ Sinne [durchaus] eine ›Theorie der Konstitution des Seins in seiner Gesamtheit‹ darstellt«541 und damit sehr wohl als eine »nicht-essentialistische Ontologie«542 gewertet werden könne, was aber immerhin ihre analytische Anwendung auch außerhalb der Politikwissenschaft, etwa im Rahmen einer kulturwissenschaftlich argumentierenden Religionswissenschaft, rechtfertige. Doch könnte man Laclau möglicherweise auch umgekehrt interpretieren – und damit die hier ebenfalls durchscheinende Wahrnehmung eines ›strukturalistischen Rests‹ in der laclau’schen Theorie abfangen: Denn indem dieser den Anspruch auf Allgemeingültigkeit augenscheinlich selbst nicht explizit erhebt, sondern die Implikationen seines Ansatzes nur innerhalb seines theoretischen und disziplinären Kontextes reflektiert, dockt er auf eine spezifische und singuläre Art und Weise an Debatten an, die innerhalb eines bestimmten (wissenschaftlichen) Rahmens geführt werden, ohne jedoch in einem allgemeineren, ›ontologischen‹ Sinn Aussagen über die weitere (gesellschaftliche) Wirklichkeit zu treffen.543 Interpretiert man den laclau’schen Ansatz auf diese Weise, so diente die poststrukturalistische Historisierung von Religion weniger dem (kulturwissenschaftlich begründeten) Vorhaben, in Form einer »politischen Ontologie […] jede Bedeutungsfixierung als Teil konfliktiver gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse«544 zu konzeptionalisieren. Vielmehr würde diese Konzeptionalisierung nur instrumentell und gänzlich ohne hypothetische Implikationen erfolgen, um Ontologisierungen, die im Zusammenhang der Artikulation von Religion vorgenommen werden, zu dekonstruieren. Damit wäre »die Theorie nicht der Ausdruck, die Übersetzung, die Anwendung einer Praxis; sie [wäre] selbst eine Praxis. Aber eine lokale und regionale Praxis, die […] nicht totalisiert. […] Ja, eine Theorie ist ein Instrumentarium: sie hat nicht zu bedeuten, sie hat zu funktionieren.«545 Eine solche Unternehmung knüpfte also an eine spezifische 539 540 541 542 543

Ebd. Ebd. Ebd., S. 33f. Ebd., S. 34. Vgl. auch Michael Bergunder: Soziologische Religionstheorie nach dem cultural turn. In: Detlef Pollack/Volkhard Krech/Olaf Müller/Markus Hero (Hrsg.): Handbuch Religionssoziologie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2018, S. 203–230, hier S. 215. 544 Ebd. 545 Michel Foucault/Gilles Deleuze: Gespräch zwischen Michel Foucault und Gilles Deleuze. Die Intellektuellen und die Macht. In: Walter Seitter (Hrsg.): Michel Foucault. Von der Sub-

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Ontologisierung (in unserem Falle der von Religion) an, um diese zu de-ontologisieren – ohne dabei jedoch, wie gesagt, den Schritt zu allgemeineren Hypothesen und Implikationen zu gehen. Und dennoch (oder gerade deshalb) ermöglicht ihre werkzeughafte Anwendung im Sinne einer historiographischen (historisierenden) Methode gleichzeitig einen breiten, interdisziplinären Einsatz, weil sich entsprechende Anknüpfungspunkte (genauer: Ontologisierungen) in allen Bereichen des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurses finden lassen. Das Anliegen einer entsprechend konzeptionalisierten Historisierung von Religion bestünde dann nicht in der Rekonstruktion der Geschichte dieses Konzepts, sondern in der bloßen Konstruktion eines historiographischen Narrativs, das allein dem Zweck diente, die Ontologisierungen der Diskurse um den Religionsbegriff zu dekonstruieren – wie es in vergleichbarer Art und Weise auch die vorausgegangenen Historisierungen von Wahrheit und Universalität versucht haben. Im Falle der diskursiven Verwendung von Religion als Allgemeinbegriff kann dies erstens über den Erweis erfolgen, dass dieses Konzept mithilfe historiographisch-wissenschaftlicher Methoden überhaupt plausibel historisiert und damit dekonstruiert werden kann; im Falle essentialistischer Schließungen im Bereich der klassischen Religionsgeschichtsschreibung erfolgt dies zweitens über die (im Sinne der foucault’schen Genealogie verstandene) historiographische (Re-)Konstruktion alternativer historischer Narrative, welche die vermeintlich ›adäquaten‹ Darstellungen der Geschichte der Religion konterkarieren und deren Entitäten de-essentialisieren. Im Folgenden möchte ich daher, wie bereits in den vorhergehenden Kapiteln, eine ›kleine Geschichte‹ präsentieren, die allein dem genannten Ziel der Dekonstruktion ihres Gegenstands dienen soll. Es kann hier also (schon aus Gründen des Umfangs und des Aufwands) nicht darum gehen, eine vollständige und auf irgendeine Weise ›wahrere‹ oder adäquatere Geschichte von Religion zu erzählen; vielmehr setzt meine Historisierung exemplarisch an Stellen an, die meines Erachtens besonders dazu geeignet sind, essentialisierende Strukturen des Religionsdiskurses aufzubrechen und zentrale Konzepte über Religion zu dekonstruieren. Dabei beginne ich, gemäß den oben angestellten Überlegungen, in der historischen Gegenwart: heute.

version des Wissens. Frankfurt a. M.: Fischer 1987, S. 106–115, hier S. 108 (Hervorhebungen durch mich).

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3.2.2. Religion und Säkularität Als Einstieg in die Beschäftigung mit dem zeitgenössischen gesellschaftlichen Diskurs um Religion (unserem historiographischen Ausgangspunkt) bietet sich zunächst ein Blick auf ihre erklärten Gegner an. So lesen wir auf der Website des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD), einer »Weltanschauungsgemeinschaft«546, in der sich nach eigenen Angaben Menschen mit »säkulare[n] ethische[n] Lebensauffassungen«547 zusammengeschlossen haben: »Der Humanistische Verband vertritt eine säkulare Auffassung vom Leben und von der Welt. Er versteht sich als Interessenvertretung religionsfreier Menschen. Er beteiligt sich am ethischen Diskurs in allen gesellschaftlichen Bereichen und setzt sich für Menschenrechte, Frieden und Gleichberechtigung der Geschlechter ein. Humanisten setzen auf wissenschaftliche Welterklärung und bewusste ethische Reflexion. Sie kritisieren jeden Dogmatismus, bemühen sich selbst um rational nachvollziehbare Begründungen und erwarten dies auch von anderen. Die Prinzipien[,] an denen sich Mitglieder des HVD orientieren[,] sind: Weltlichkeit, Selbstbestimmung, Individualität, Solidarität und Toleranz.«548

›Humanismus‹ wird hier also als »säkular« im Sinne einer Freiheit von Religion konzipiert und mit spezifischen Attributen (Menschenrechte, Gleichberechtigung der Geschlechter, Wissenschaftlichkeit, Rationalität [im Sinne von Dogmatismus- und damit Ideologiefreiheit], Selbstbestimmung, Toleranz) versehen, die damit den als religiös aufgefassten Weltanschauungen implizit abgesprochen werden. Diese Selbst- und indirekten Fremdzuschreibungen werden durch die historische Verortung des Verbands noch verstärkt und legitimiert. Denn »[d]ie Wurzeln des Humanismus reichen zurück in die Denktradtionenen des antiken Griechenlands und Roms sowie des konfuzianischen Chinas und des klassischen Indiens. Der moderne Humanismus entstand in der Renaissance. Er führte zur Entwicklung der heutigen Wissenschaft und regte neue Ideale gesellschaftlicher Gerechtigkeit an.«549

Bezeichnenderweise entbehrt die Liste der den ›Humanismus‹ charakterisierenden Attribute solcher Bestandteile, die man aufgrund des Hinweises auf die Religionsfreiheit der Anhänger erwarten würde, etwa die Absage an ein Gotteskonzept, die Ablehnung von Spiritualität oder metaphysischer Spekulationen. Und mehr noch: Wirft man einen zweiten Blick auf die präsentierte Liste, so findet sich kaum ein Merkmal, das nicht auch von den meisten übrigen Menschen in Deutschland (inklusive der sich selbst als religiös bezeichnenden) für 546 547 548 549

http://www.humanismus.de/wir-ueber-uns (Abruf am 26. April 2017). Ebd. http://www.humanismus.de/leitbild (Abruf am 26. April 2017). Ebd.

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sich in Anspruch genommen würde. Diese Beobachtung legt den Schluss nahe, dass die Identität der sich unter dem Schlagwort ›Humanismus‹ versammelnden Menschen weniger durch die substantielle Füllung dieses Konzepts mithilfe gemeinsamer positiver Selbstzuschreibungen garantiert wird, wodurch sie inhaltlich klar von der übrigen Gesellschaft unterscheidbar wären; vielmehr erfolgt die Selbstidentifikation durch die formale, negative Operation der Grenzziehung mithilfe des von Laclau propagierten formalen Antagonismus, und zwar in Form des diskursiven Ausschlusses des ›ganz Anderen‹ – der ›Dämonisierung‹ der (verfassten) Religion. ›Humanismus‹, Säkularität, Aufklärung550 etc. können hier also als leere Signifikanten konzeptionalisiert werden, mit deren Hilfe die verschiedenen, sich unter dem Banner dieser Ausdrücke versammelnden, durchaus heterogenen551 Akteure äquivalent gesetzt werden. Die enorme Plausibilität dieser leeren Signifikanten für die Identitätsbildung ist auch deshalb gegeben, weil der Antagonismus Religion – Säkularität nicht nur von einzelnen Gruppen wie dem HVD konstruiert wird, sondern vielmehr über einen längeren Zeitraum gesamtgesellschaftlich ausgehandelt und diskursiv sedimentiert ist. Dieser Befund erweist sich etwa darin, dass auch Gruppen, die sich selbst als dem religiösen Spektrum zugehörig definieren, ihre Identität ebenfalls plausibel über diesen Antagonismus konstruieren, jedoch die dadurch hergestellten Äquivalenzen inhaltlich völlig konträr zu den ›Humanisten‹ begründen. So versteht die EKD unter Säkularisierung »den Prozeß, in dem die öffentliche Bedeutung der Religion und ihrer Institutionen zurückgeht […], zu deutsch: Verweltlichung.«552 Dieser Prozess wird als der eigenen Identität entgegengesetzt verstanden, denn »[a]m Säkularisierungsprozeß müssen zwei Momente unterschieden werden: Entkirchlichung und Entchristlichung«553. Im Sinne der laclau’schen ›Dämonisierung‹ des durch den Antagonismus ausgeschlossenen ›absoluten Anderen‹ beklagt die Darstellung anschließend das gefährliche Potential des »atheistischen Humanismus«554, der sich in der Vergangenheit nicht nur gegen Religion im Allgemeinen, sondern vor allem gegen die christlichen Kirchen im Speziellen gewandt habe. Als Folge dieser »weltanschauliche[n] 550 Vgl. etwa http://www.humanismus.de/aktuelles/unaufgeklaerte-religion-problem (Abruf am 27. April 2017). 551 So richtet sich der Verband an »alle Konfessionsfreien, Atheistinnen und Atheisten, Agnostikerinnen und Agnostiker, Freidenkerinnen und Freidenker sowie freigeistigen Menschen« (http://www.humanismus.de/wir-ueber-uns; Abruf am 27. April 2017), und integriert unter seinem Dach nach eigenen Angaben auch solche Gruppen, die sich auf freireligiöse oder freichristliche/deutschkatholische Bewegungen zurückführen. 552 Kirchenamt der EKD (Hrsg.): Gestaltung und Kritik. Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert. EKD-Texte 64, 1999 (http://www.ekd.de/EKD-Texte/ge staltung_1999_kultur1.html (Abruf am 28. April 2017). 553 Ebd. 554 Ebd.

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Kämpfe zwischen formierten Lagern«555 habe die »›postmoderne‹ Entwicklung […] traditionelle Sicherheiten, Bindungen und Gewohnheiten weltlicher und religiöser Art geschwächt. Verschiedenheits- und Zufälligkeitserfahrungen wurden zur allgegenwärtigen Signatur des postmodernen Alltags«556 – ein Zustand, der zur Überforderung des sozialen Individuums geführt habe und damit als geradezu gesellschaftsbedrohend aufgefasst werden müsse: »Der Zielverlust wird als Sinnverlust erlebt. Jetzt erst erreichen die Folgen der Modernisierung im alltäglichen Leben ein solches Ausmaß, daß die traditionellen Sinnstützen der individuellen Existenz aus Familie, Kirche, Beruf und Kultur strukturell gefährdet sind.«557 Und mehr noch: »Auf dem Markt der [unbegrenzten] religiösen Möglichkeiten kommt es zu offensichtlichem Mißbrauch der Religion mit dem Ziel, im Namen eines Heiligen andere an sich zu fesseln oder sogar auszubeuten: ›Jugendsekten‹. Hier und da wird auch mit lebensfeindlicher Religiosität experimentiert, die unumwunden die Nachtseiten des Lebens verehrt, wie Satanskulte, schwarze Messen.«558

Vor diesem Hintergrund stellt Religion für die EKD »eine unverzichtbare Dimension humaner Bildung dar.«559 Denn »[a]ngesichts der Globalisierung und der multikulturellen und multireligiösen Lebenszusammenhänge wird religiöse Bildung immer wichtiger – für die eigene Verwurzelung und Identität der Kinder und Jugendlichen, für religiöse Urteilsfähigkeit, für Sinnfindung und Orientierung in der Welt sowie für Verständigungsfähigkeit und Toleranz.«560

Auch bezüglich ihrer historischen Verortung steht für die EKD (sicherlich nicht zuletzt im Hinblick auf die Legitimität ihres Anspruchs) der »kraftvolle[…] Beitrag des Protestantismus zu den Zentralsymbolen der modernen Kultur«561 außer Frage. »Unter ihnen steht die Unbedingtheit der Würde aller Menschen als der Freien und Gleichen vorne an. Dabei geht es vor allem darum, in welchen konkreten Formen sich die Anerkennung der Menschenwürde Ausdruck verschafft hat. Sie hat seit der Re-

555 556 557 558 559

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. http://www.ekd.de/EKD-Texte/10_thesen_reliunterricht_these1.html (Abruf am 28. April 2017). 560 Ebd. 561 Kirchenamt der EKD (Hrsg.): Räume der Begegnung. Religion und Kultur in evangelischer Perspektive. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Vereinigung Evangelischer Freikirchen. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2002, S. 18.

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formation nicht nur im Recht, sondern in anderer Weise auch in der protestantischen Bildungstheorie und Bildungsbewegung Gestalt gewonnen.«562

An den herangezogenen Beispielen lässt sich also die von Bergunder geforderte Anwendung der laclau’schen Theorie auf den Religionsbegriff vorzüglich illustrieren: Bei Religion handelt es sich nicht deshalb um eine (sprachliche oder soziale) Entität, weil es ein gemeinsames, allgemein anerkanntes inhaltliches Verständnis davon gäbe. Vielmehr ist Religion als Gegenstand deshalb stabil, weil dieser Gegenstand durch die diskursive Praxis des Ausschlusses als Teil eines formalen Antagonismus’ konstruiert wird, der die Identität des Signifikanten Religion stützt, was wiederum die diskursive Praxis legitimiert und am Leben erhält (dasselbe gilt freilich für Säkularität). Weil also die Performanz – und nicht die Substanz – die Existenz von Religion bedingt, erfolgt die substantielle ›Füllung‹ dieses leeren Signifikanten kontextabhängig und damit kontingent, wie die oben herangezogenen Quellen zeigen. Einfach gesprochen: Dass sich Religion und Säkularität diametral gegenüberstehen, darüber sind sich alle Beteiligten einig; wie dieser Gegensatz inhaltlich begründet ist, wird jedoch völlig unterschiedlich bewertet.

3.2.3. ›Wissenschaft‹ und Religion im 19. Jahrhundert Sucht man nun nach Äquivalenzketten in der Vergangenheit, die jenen des oben dargestellten Antagonismus zwischen Religion und Säkularität ähneln, so stößt man unweigerlich auf den bereits im Kapitel zur Universalität thematisierten sogenannten Materialismusstreit im 19. Jahrhundert. Diese Debatten können sicherlich als Herkunft des im heutigen gesellschaftlichen Diskurs verhandelten Antagonismus interpretiert werden, und zwar nicht allein aufgrund der Ähnlichkeit in der substantiellen Füllung der verhandelten Signifikanten, sondern auch aufgrund der vielfältigen historischen Rezeptionslinien, die sich aus den akademischen und öffentlichen Diskussionen des 19. Jahrhunderts zu heute ziehen lassen. Während ich im vorangegangenen Kapitel den Schwerpunkt auf die Etablierung der newton’schen Metaphysik im Sinne einer ›Säkularisierung‹ (oder »›Verweltlichung‹, wie die Theologen es nennen«563) des Universums gelegt habe, soll an dieser Stelle nun vor allem die Reaktion der Theologie auf diese fundamentale Herausforderung ihres Weltbildes einer näheren Analyse unterzogen werden. Bergunder schätzt, dass die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 562 Ebd. 563 Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Iserlohn/Leipzig: Baedeker 41887, S. 836.

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aufkommenden Naturwissenschaften »eine völlig neue Gefährdung für das Christentum [darstellten], die mit den Herausforderungen des 18. Jahrhunderts nicht vergleichbar waren […]«564. In diesem Zusammenhang identifiziert er zwei sich ergänzende Prozesse, und zwar zum einen die Reaktion der liberalen Theologie, die das Christentum im Rahmen der Kategorie Religion dezidiert von der Naturwissenschaft abzugrenzen suchte, »und dabei ihren eigenen Anspruch auf das Wissen über die Natur aufgab«565; zum zweiten die mit dieser Kategorisierung Hand in Hand gehende Einbettung des Christentums in die allgemeine Religionsgeschichte, die sich vor allem im Rahmen der neuen Religions- und Geschichtswissenschaften etablieren konnte.566 (1) In der deutschen Philosophie wurde der Materialismusstreit ab 1860 im Rahmen des sogenannten Neukantianismus aufgenommen, der als »die führende philosophische Denkschule der nachfolgenden Jahrzehnte die materialistischen Ansprüche auf unbegrenztes Wissen mittels einer kritischen Epistemologie eindämmen konnte«567. Auslöser dieser neuen Entwicklung war das monumentale Werk zur Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart (1866) durch den »Apostel der Kantischen Weltanschauung«568 Friedrich Albert Lange (1828–1875). Dieser verstand den Materialismus als »die niedrigste, aber auch vergleichsweise festeste Stufe der Philosophie. Im unmittelbaren Anschluss an das Naturerkennen schliesst er sich zum System, indem er die Schranken desselben übersieht.«569 Worin für ihn diese Schranken bestehen, stellt Lange unmissverständlich klar: »[E]in absolut festes, von uns unabhängiges und doch von uns erkanntes Dasein – eine solche Wirklichkeit giebt es nicht und kann es nicht geben, da sich der synthetische, schaffende Factor unserer Erkenntniss in der That bis in die ersten Sinneseindrücke und bis in die Elemente der Logik hinein erstreckt. Die Welt ist nicht nur Vorstellung, sondern auch unsre Vorstellung: ein Product der Organisation der Gattung in den allgemeinen und nothwendigen Grundzügen aller Erfahrung; des Individuums in der frei mit dem Objekt schaltenden Synthese.«570

564 »[…] a completely new plight for Christianity, which was not comparable to the challenges of the eighteenth century […].« Michael Bergunder: »Religion« and »Science« within a Global Religious History. In: Aries 16 (2016), S. 86–141, hier S. 87. 565 »[…] removing its own claims for natural knowledge.« Ebd. 566 Vgl. ebd. 567 »[…] the leading school of philosophical thought for subsequent decades, could rebuke the materialist claims for unlimited knowledge by menas of critical epistemology.« Ebd., S. 94. 568 Hermann Cohen: Biographisches Vorwort. In: Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Iserlohn/Leipzig: Baedeker 41887, S. V–XIII, hier S. VIII. 569 Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, S. 821f. 570 Ebd., S. 822f.

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Und während »[a]lle Naturwissenschaft […] analytisch [ist] und […] beim Einzelnen [weilt]«571, so komme »die Aufgabe, Harmonie in den Erscheinungen zu schaffen und das gegebene Mannigfaltige zur Einheit zu binden, […] nicht nur den synthetischen Factoren der Erfahrung zu, sondern auch denen der [metaphysischen] Speculation.«572 Doch »[s]o weit auch die umgestaltende Wirkung [dieser] psychischen Synthesis bis in unsre elementarsten Vorstellungen von Dingen, von einem Objekt herabreicht, so haben wir doch die Ueberzeugung, dass diesen Vorstellungen und der aus ihnen erwachsenden Welt etwas zu Grunde liegt, das nicht aus uns selbst stammt. Diese Ueberzeugung stützt sich wesentlich darauf, dass wir zwischen den Dingen nicht nur einen Zusammenhang entdecken, der ja eben der Plan sein könnte, nach dem wir sie entworfen haben, sondern auch ein Zusammenwirken, welches unbekümmert um unser Denken seinen Weg geht, und welches uns selbst ergreift und seinen Gesetzen unterwirft. […] Wir haben [also] in den Naturgesetzen nicht nur Gesetze unsres Erkennens vor uns, sondern auch Zeugnisse eines Andern, einer Macht, die uns bald zwingt, bald sich von uns beherrschen lässt.«573

Der hier geäußerte Einwand, dass dieses »Fremde, dies ›Nichtich‹«574, im Sinne einer äußeren Wahrheit eben nicht allein durch die Erfahrung der naturwissenschaftlichen Methode, sondern zuletzt »in den allgemeinen und nothwendigen Erkenntnisformen der Gattung von jedem Einzelnen erfasst wird«575, fand in der Folgezeit nicht nur bei einigen prominenten Naturwissenschaftlern positive Aufnahme, sondern wurde vor allem in der Theologie und den neuen Geisteswissenschaften breit rezipiert. Besonders der liberale Protestantismus in Deutschland griff die von Naturwissenschaftlern wie Hermann von Helmholtz (1821–1894) vertretene »neue wissenschaftliche Selbstbeschränkung im Geiste des Neukantianismus und Agnostizismus«576 auf und propagierte eine »klare Abgrenzung zwischen den Bereichen der Wissenschaft und der Religion«577. In diesem Sinne fasste Martin Rade (1857–1940) den Stand der Diskussion am Ende des 19. Jahrhunderts in einer knappen Bestandsaufnahme zusammen. In seinem Büchlein Die Religion im modernen Geistesleben (1898) nahm er eine »Gegenüberstellung von Naturwissenschaft und Religion [vor], um zu zeigen, daß wir es da mit zwei ganz verschiedenen geistigen Interessen zu thun haben. Je verschiedenar-

571 572 573 574 575 576

Ebd., S. 826. Ebd., S. 823. Ebd., S. 825. Ebd. Ebd. »[…] new scientific self-restraint in the spirit of Neo-Kantianism and agnosticism […]«. Bergunder: »Religion« and »Science« within a Global Religious History, S. 95. 577 »[…] clear demarcation between the domains of science and religion.« Ebd.

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tiger aber Interessen sind, desto mehr sind sie ihrer Natur nach für ein friedliches Nebeneinander, zu gegenseitiger Ergänzung prädestiniert.«578

Um diese Koexistenz der beiden Bereiche zu begründen, greift er in deutlicher Weise auf die etwa von Lange vorgetragene neukantianische Argumentation zurück, wenn er konstatiert: »Die Naturwissenschaft […] hält sich an das Einzelne der Erscheinungswelt. Davon geht sie aus. Auf die Summe der Beobachtungen baut sie ihre Erkenntnisse, davon abstrahiert sie ihre Gesetze. […] Dagegen Religion hat ihre Tendenz aufs Ganze. […] Kein Stäublein der geschaffenen Welt, daß sie nicht zu diesem Weltganzen [gemeint ist Himmel und Erde] in dienende Beziehung setzte. Keine Regung und Bewegung im Verlaufe der Zeiten, die der Glaube nicht in das nie ermüdende, nichts auslassende Regiment Gottes einordnete.«579

Demgemäß habe es die Naturwissenschaft »mit der Erscheinungswelt zu thun. […] Die Religion dagegen hat es zu thun mit der unsichtbaren Geisteswelt, die hinter, über und in der sichtbaren Erscheinungswelt sich aufbaut und mit ganz anderen Mitteln erkannt wird. […] Denn Gott ist Geist, unsichtbar,«580 und damit den empirischen Methoden der Naturwissenschaft entzogen. In diesem Sinne fragt sie, anders als die Theologie, auch »nicht nach dem realen Sein hinter dieser mit den Sinnen wahrnehmbaren Welt, wie etwa die Metaphysik thut, sondern hält sich an das, was vor Augen ist«581. In theologisch ausgefeilterer Weise hatte zuvor schon ein weiterer prominenter Vertreter des liberalen Protestantismus, Albrecht Ritschl (1822–1889), eine ›Arbeitsteilung‹ zwischen Religion und (Natur-)Wissenschaft propagiert. So war der Einfluss des Neukantianismus bereits in seinem Hauptwerk Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung (1870) deutlich zu spüren gewesen. Hier nahm er – in Auseinandersetzung mit Kants Kritik der praktischen Vernunft – seinen Ausgangspunkt bei der These, dass »[i]n aller Religion […] mit Hilfe der erhabenen geistigen Macht, welche der Mensch verehrt, die Lösung des Widerspruches erstrebt [wird], in welchem der Mensch sich vorfindet als Theil der Naturwelt und als geistige Persönlichkeit, welche den Anspruch macht, die Natur zu beherrschen. Denn in jener Stellung ist er Theil der Natur, unselbstständig gegen dieselbe, abhängig und gehemmt von den anderen Dingen; als Geist aber ist er von dem Antriebe bewegt, seine Selbstständigkeit dagegen zu bewähren.«582

578 Martin Rade: Die Religion im modernen Geistesleben. Freiburg/Leipzig/Tübingen: Mohr Siebeck 1898, S. 26. 579 Ebd., S. 24f. 580 Ebd., S. 21. 581 Ebd. (eigene Hervorhebung.) 582 Albrecht Ritschl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung. Band 3: Die positive Entwickelung der Lehre. Bonn: Marcus 31888, S. 189f.

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Dementsprechend sei das »wissenschaftliche Erkennen […] durch ein Urtheil über den Werth des unparteiischen Erkennens aus Beobachtung begleitet oder geleitet. Das religiöse Erkennen im Christentum besteht [hingegen] in selbstständigen Werthurtheilen, indem es sich auf das Verhältnis der von Gott verbürgten und von dem Menschen erstrebten Seligkeit zu dem Ganzen der durch Gott geschaffenen und nach seinem Endzweck geleiteten Welt richtet.«583

Wie Peter Harrison festgestellt hat, handelte es sich bei den von Theologen wie Rade oder Ritschl vorgetragenen Positionen keineswegs um ein bloßes ›Zurückstecken‹ religiöser Wissensansprüche gegenüber den empirischen Wissenschaften. Vielmehr zeige sich hier, dass die liberale Theologie auf die (ab der Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgende) dezidierte Zurückweisung theologischer Aussagen durch die Naturwissenschaft bezüglich ihres Gegenstandsbereichs ihrerseits eine Abwehr gleichlautender Ansprüche der ›Wissenschaft‹ auf die Domäne der Metaphysik artikulierte. Vor diesem Hintergrund spricht Harrison vom 19. Jahrhundert als einer »weiteren Stufe in der Entwicklung von ›Religion‹«584, die letztlich unser heutiges Verständnis des Gegenstands bedingt habe: »Denn wenn es sich dabei um den Zeitraum handelt, in dem sich ›Wissenschaft‹ schließlich als eine von religiösen und theologischen Interessen unberührte Disziplin entwickeln konnte, dann ist es nur logisch, dass ›Religion‹ nun als ein Unterfangen verstanden wurde, dass seinerseits das Wissenschaftliche ausschloss. Die Geburt der ›Wissenschaft‹ war also ein Teil der andauernden Geschichte der Konzeption von ›Religion‹.«585

Mit anderen Worten: Der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierende diskursive Antagonismus zwischen (Natur-)Wissenschaft und Religion kann als einer der Orte verstanden werden, an denen die Äquivalenzketten, welche den heutigen leeren Signifikanten Säkularität und Religion ihre Plausibilität und identifikatorische Kraft geben, zum ersten Mal auf breiter Ebene artikuliert wurden.

583 Ebd., S. 197. 584 »[…] further stage in the development of ›religion.‹« Peter Harrison: »Science« and »Religion«. Constructing the Boundaries. In: The Journal of Religion 86/1 (2006), S. 81–106, hier S. 93. 585 »For if this is the period during which ›science‹ was eventually to emerge as a discipline evacuated of religious and theological concerns, logically ›religion‹ was itself now understood as an enterprise that excluded the scientific. The birth of ›science‹ was part of the ongoing story of the ideation of ›religion‹.« Ebd.

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3.2.4. Die Entdeckung der Religionsgeschichte (2) Die im letzten Abschnitt skizzierte Konstituierung des heutigen Religionsverständnisses vollzog sich im Kontext komplexer historischer Verflechtungen, die seit Kippenberg als die ›Entdeckung der Religionsgeschichte‹ umschrieben werden.586 Diese Verflechtungen sind charakterisiert durch die politischen Entwicklungen im Rahmen des europäischen Imperialismus sowie der damit einhergehenden zunehmenden globalen Vernetzung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts – ein Prozess, vor dessen Hintergrund zentrale Kategorien und Weltmodelle des 18. Jahrhunderts aufgenommen und oftmals eine Neuinterpretation im Lichte der zeitgenössischen Umwälzungen erfuhren. Sebastian Conrad hat ausführlich dargestellt, dass sich das oben umrissene liberal-theologische Verständnis von Religion als klar »abgegrenzte[m] Wirklichkeitsbereich«587 Hand in Hand mit der Auffassung herausbildete, dass es sich dabei um einen »großen Teilbereich[…] der Gesellschaft«588 handelte, und zwar im Sinne einer »ausdifferenzierte[n] und teilautonome[n] Sphäre[…] des Denkens und Handelns«589 – vergleichbar mit Wirtschaft, Politik, Kultur oder eben Wissenschaft. Diese ›Säkularisierung‹ des Religionsbegriffs in Form einer sozialund geschichtswissenschaftlichen Kategorie führte dazu, dass Religionen über die verschiedenen Kontexte der Welt zu vergleichbaren Größen mutierten und gleichzeitig auch als allgemeine Erscheinungen der menschlichen Geschichte konzeptioniert werden konnten. Die Historisierung der Religion bedeutete für das Christentum des 19. Jahrhunderts gewiss eine ebenso große Herausforderung wie das Aufkommen der Naturwissenschaften. Denn auch wenn das neue Verständnis noch immer im Gewand eines Universalbegriffs daherkam, so unterschied es sich als analytischer Ordnungsbegriff doch von den älteren allgemeinen Religionsbegriffen, wie sie etwa die Aufklärung oder der Idealismus hervorgebracht hatten. Hatte Hegel noch die Überlegenheit des Christentums als die vollkommenste Manifestation des absoluten Weltgeistes gegenüber den anderen Religionen behaupten können, so führte die Konstitution von Religion jenseits metaphysischer Deutungsmuster im Rahmen der neuen Sozial-, Religions- und Geschichtswissenschaften dazu, dass das Christentum sich nunmehr als paris inter pares auf der religiösen

586 Vgl. Kippenberg: Die Entdeckung der Religionsgeschichte. 587 Sebastian Conrad: Religion in der globalen Welt. In: Sebastian Conrad//Jürgen Osterhammel (Hrsg.): Die Geschichte der Welt. 1750–1870. Wege zur modernen Welt. München: C. H. Beck 2016, S. 559–625, hier S. 595. 588 Ebd. 589 Ebd.

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Weltbühne vorfand. Ernst Troeltsch590 hat diese Entwicklung in seiner Absolutheitsschrift von 1902 anschaulich zusammengefasst: »Das Christentum hatte von Hause aus wie alle grossen geistigen Bewegungen die naive Zuversicht zu seiner normativen Wahrheit […], wobei das [Nichtchristliche] immer mehr zu einer gleichartigen Masse menschlichen Irrtums und das [Christliche] immer mehr zu einer am äusseren und inneren Wunder erkennbaren göttlichen Stiftung wurden. […] Die apologetische Scheidewand ist von der [modernen] Historie langsam abgetragen worden. Denn, wie man auch über Wunder denken möge, ist es der Historie unmöglich die christlichen Wunder zu glauben und die nichtchristlichen zu leugnen, und […] es giebt kein Mittel, die Erhebung des Christen über die Sittlichkeit als übernatürlich und die Platons oder Epiktets als natürlich zu konstruiren. Damit aber ist jedes Mittel weggefallen, das Christentum gegen die übrige Historie zu isoliren und es gerade durch diese Isolirung und deren formale Merkmale als schlechthinige Norm zu bestimmen […].«591

Auch Martin Rade stellte unmissverständlich (und mit Nachdruck) klar, dass das Christentum wie die anderen Religionen »vor allen Dingen als geschichtliche Erscheinung zu begreifen sei«592, und bewies damit, dass der liberale Protestantismus am Ende des Jahrhunderts das neue ›säkularisierte‹ Religionsverständnis adaptiert hatte. Indes deutet schon der Titel von Troeltschs Buch an, dass das Vorhaben, die Absolutheit des Christentums vor den anderen (Welt-)Religionen zu behaupten, auch von den Vertretern der liberalen Theologie keineswegs vollständig aufgegeben wurde. Doch anders als Hegel, der die Höchststellung des Christentums im Rahmen seiner universalen Religions- bzw. ›Geistesgeschichte‹ noch im Sinne einer ›objektiven‹ Absolutheit zu erweisen gedachte, verlagerte sich das Anliegen allmählich593 auf eine ›subjektive‹ Ebene – in Anknüpfung an das innerliche Religionsverständnis der Romantik. In diesem Zusammenhang ist es also kein Zufall, dass sich Friedrich Schleiermacher (1768–1834) als einer der prägendsten Theologen des 19. Jahrhunderts (und sicherlich auch darüber hinaus) etablieren konnte, wie schon Ritschl in seiner Abhandlung zu dessen (erstmals im Jahre 590 Zur Genealogie von Troeltschs Christentums- und Religionskonzept vgl. Mathias Thurner: Die Geburt des ›Christentums‹ als ›Religion‹ am Ende des 19. Jahrhunderts. Ernst Troeltschs Theologie und ihre Quellen im Kontext einer globalen Religionsgeschichte. Berlin/Boston: De Gruyter 2021. 591 Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte. Tübingen/ Leipzig: Mohr Siebeck 1902, S. 4f. 592 Rade: Die Religion im modernen Geistesleben, S. 9 (im Original gesperrt). 593 In seiner Absolutheitsschrift glaubte Troeltsch etwa noch, die Vorrangstellung des Christentums (trotz der Einwürfe der zeitgenössischen Historiographie) historisch belegen zu können – ein Ansinnen, das er am Ende seines Lebens widerrief. Zur Genese des Religionsbegriffs im liberalen Protestantismus vgl. Yan Suarsana: Religionizing Christianity. Towards a Poststructuralist Notion of Global Religious History. In: Method and Theory in the Study of Religion 33/3–4 (2021), S. 259–288.

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1799 erschienenen) Reden Über die Religion konstatierte594. Schleiermacher reagierte damit in erster Linie auf die »von Kant vollzogene vollständige Destruktion der abendländischen Metaphysik«595. »Kant hatte entdeckt, daß das Problem der objektiven Gültigkeit von Erkenntnis weder im englischen Empirismus noch im deutschen Rationalismus bewältigt worden war. Seine eigene Lösung bestand in einer umfassenden bewußtseinstheoretischen Konstitutionstheorie von Objektivität. Das bedeutete, daß die allgemeinen subjektiven Bedingungen von Erfahrung […] nun zu Kriterien von Gegenständlichkeit überhaupt wurden.«596

Diese Bedingungen betrafen nicht allein die sinnliche Wahrnehmung, sondern ebenso »die Kategorien als Bestimmtheitsformen von Gedanken«597 – eine These, die für die metaphysische Grundlage der zeitgenössischen Theologie »nachgerade tödlich«598 war: »Denn der Gottesgedanke, das generierende Prinzip der klassischen Ontotheologie, wurde nun aus dem Bereich möglicher Erkenntnis ausgeschlossen. Wohl ließ er sich noch als Grenzbegriff formulieren, aber als solcher blieb er einerseits gänzlich inhaltsleer, andererseits ließ sich die Existenz des so Gedachten niemals mit Gründen erweisen.«599

Die kant’sche Erkenntniskritik hatte auch große Auswirkungen auf den Christentums- bzw. Religionsbegriff. Denn wenn Religion nicht länger als Manifestation des transzendenten Universal-Gottes verstanden werden konnte, musste man ihren Charakter innerhalb der von Kant gesetzten Grenzen der Erkenntnis re-konzeptionalisieren. In diesem Sinne verstand Kant Religion als einen »Ableger«600 der menschlichen Moral, indem er das Glücksbedürfnis des Menschen mit der »Frage nach dem Endzweck des Handelns«601 verband, um der Religion »durch den Begriff des höchstens Guts der Ethikotheologie eine tragfähige Unterlage zu verschaffen«602. Moral führe »unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige End-

594 Vgl. Albrecht Ritschl: Schleiermachers Reden über die Religion und ihre Nachwirkungen auf die evangelische Kirche Deutschlands. Bonn: Marcus 1874, S. 1. 595 Ulrich Barth: Aufgeklärter Protestantismus. Tübingen: Mohr Siebeck 2004, S. 270. 596 Ebd. 597 Ebd. 598 Ebd., S. 271. 599 Ebd. 600 Ebd., S. 272. 601 Ebd. 602 Ebd.

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zweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll.«603

Demgegenüber suchte Schleiermacher nun die »Eigenwürde der Religion«604 zu bewahren, indem er sie als »ein wie der Metaphysik so auch der Moral gegenüber völlig selbstständiges anthropologisches Phänomen«605 verstand: »Denn was sind doch diese [metaphysischen und scholastischen] Lehrgebäude für sich betrachtet anders, als Kunstwerke des berechnenden Verstandes […]; worin alles auf ein kaltes Argumentieren hinausläuft, und auch das Höchste nur im Ton eines gemeinen Schulstreites kann behandelt werden? Und dies wahrlich, ich berufe mich auf Euer eigenes Gefühl, ist doch nicht der Charakter der Religion. […] Aber warum seid Ihr nicht tiefer eingedrungen bis zu dem, was das Innere dieses Äußeren ist? […] Warum betrachtet Ihr nicht das religiöse Leben selbst? Jene frommen Erhebungen des Gemüts vorzüglich, in welchen alle anderen Euch sonst bekannten Tätigkeiten zurückgedrängt oder fast aufgehoben sind, und die ganze Seele aufgelöst in ein unmittelbares Gefühl des Unendlichen und Ewigen und ihrer Gemeinschaft mit ihm? Denn in solchen Augenblicken offenbart sich ursprünglich und anschaulich die Gesinnung, welche zu verachten Ihr vorgebt.«606 »Dass [also] die Frömmigkeit aus dem Inneren jeder besseren Seele notwendig von selbst entspringt, dass ihr eine eigene Provinz im Gemüt angehört, in welcher sie unumschränkt herrscht […]; das ist es, was ich behaupte […].«607

Ulrich Barth zufolge müssen Schleiermachers Reden vor dem zeitgenössischen »Hintergrund der abendländischen Krise des Theismus«608 gelesen werden, die sich zum einen in der oben skizzierten (kant’schen) Erkenntniskritik, zum anderen aber auch im Atheismusstreit609 und der sogenannten Pantheismusdebatte610 manifestiert hatte, und deren Grundproblem im »inneren Plausibilitätsverlust der theistischen Fassung von Religion«611 bestand. In diesem Zusammenhang suchte der schleiermacher’sche Ansatz die Frage zu beantworten, »ob es möglich ist, den vom transzendentalen Idealismus übernommenen bewußtseinstheoretischen Ansatz mit dem spinozistischen Gedanken einer un603 Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft. Leipzig: Meiner 5 1922, S. 4. 604 Barth: Aufgeklärter Protestantismus, S. 272. 605 Ebd. 606 Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. 1799 | 1806 | 1821 (Studienausgabe, hrsg. von Nikolaus Peter/Frank Bestebreurtje/Anna Büsching). Zürich: TVZ 2012, S. 23. Ich zitiere hier aus der im 19. Jahrhundert breit rezipierten 3. Auflage. 607 Ebd., S. 30. 608 Barth: Aufgeklärter Protestantismus, S. 279. 609 Vgl. ebd., S. 273–276. 610 Vgl. ebd., S. 276–279. 611 Ebd., S. 279.

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veräußerlichen Unendlichkeitsdimension von Wirklichkeit in widerspruchsfreier Form miteinander zu verbinden«612. Um dies zu verwirklichen, konzeptionalisierte Schleiermacher Religion als einen »vorprädikative[n] Akt«613, welcher nicht der »Sphäre der begrifflichen Vorstellung«614 zuzurechnen und damit auf eine »vorreflexive Weise selbstbezüglich«615 sei. »Das religiöse Bewußtsein […] ist seiner Grundstruktur nach Gefühl oder […] unmittelbares Selbstbewußtsein. Das Gefühl ist der zugleich anthropologische und subjektivitätstheoretische Ort der Religion.«616 Die Pointe dieses Konzepts ist nun, dass die Normativität religiöser Dogmen nicht länger durch externe Faktoren, etwa in Form einer göttlich-universalen Offenbarung, gewährleistet wird; denn »[a]n die Stelle dieses doktrinalen Offenbarungsbegriffs setzt Schleiermacher vielmehr mit Fichte – und zuvor schon Herder – ein geschichtsphilosophisches Verständnis. Offenbarung ist die intersubjektive Mitteilung ursprünglicher Darstellungen subjektiv-religiösen Erlebens.«617 Die ›Verinnerlichung‹ des Religionsbegriffs führt also dazu, dass sich Religion zwar in den unterschiedlichsten Formen und Systemen verobjektivieren kann – ihre Absolutheit aber aus dem subjektiven, individuellen »Gefühl des Unendlichen«618 gewinnt. In der Konsequenz »verstand Schleiermacher alle positiven religiösen Gemeinschaften als sekundär und als äußerlichen Ausdruck derselben religiösen Erfahrung«619. Denn in all diesen unterschiedlichen Manifestationen des Religiösen »liegt etwas von diesem geistigen Stoff gebunden, denn ohne ihn hätten sie gar nicht entstehen können; aber wer es nicht versteht ihn zu entbinden, der behält, wie fein er sie auch zersplittere, wie genau er auch alles durchsuche, immer nur die tote kalte Masse in Händen.«620 Indes hat Bergunder darauf hingewiesen, dass die Rezeption des schleiermacher’schen Religionsverständnisses in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter veränderten Vorzeichen stattfand, als sie Schleiermacher am Ende des 18. Jahrhunderts vorgefunden hatte: Zum einen unterschieden sich die Autoren des späten 19. Jahrhunderts deutlich sowohl kontextuell als auch in ihrem »Konzept von Religion, und zwar insofern, als diese Religion fest im Rahmen der neuen Dichotomie zwischen Natur und Geist, dem Konflikt zwischen Chris612 613 614 615 616 617 618 619

Ebd. Ebd., S. 275. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 275f. Schleiermacher: Reden über die Religion, S. 63. »As a result, Schleiermacher considered all positive religious communities secondary and external expressions of the same religious experience.« Bergunder: »Religion« and »Science« within a Global Religios History, S. 97. 620 Schleiermacher: Reden über die Religion, S. 27f.

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tentum und Wissenschaft sowie der allgemeinen Religionsgeschichte verorteten.«621 Zum anderen »betrafen diese konzeptuellen Neuorientierungen nicht allein die liberale Theologie und die aufkommenden Religionswissenschaften in Europa und Nordamerika, sondern vollzogen sich global«622. Die veränderten kontextuellen und konzeptuellen Bedingungen lassen sich etwa bei Troeltsch zeigen. In seinem 1897 erschienenen Aufsatz Christentum und Religionsgeschichte sieht dieser die neuen Herausforderungen an die Theologie ebenso klar vom 18. Jahrhundert abgehoben wie Bergunder. Zwar habe »die neue mit der Aufklärung entsprungene Spekulation, die an Stelle der aus neuplatonischen, aristotelischen und biblischen Elementen erbauten Philosophie der Kirche eine neue, die antike Überlieferung selbstständig aufnehmende und zugleich die Anfänge einer prinzipiell modernen Natur- und Geschichtswissenschaft verarbeitende Metaphysik setzte«623,

eine gewisse Erschütterung der Theologie bedingt. Doch »weil Spekulation und Theologie bei allem Gegensatze wahlverwandt sind, hat sie auch zu Friedensschlüssen und Kompromissen zwischen beiden geführt […]. Das Zeitalter Schleiermachers und Hegels schien diesen Friedensschluß nur zu vertiefen und auf eine prinzipiellere Basis zu stellen.«624

Der eigentliche Grund für die gegenwärtige »Zersetzung der kirchlichen Religion«625 sei daher vielmehr in den im Verlauf des 19. Jahrhunderts aufgekommenen Wissenschaften in Gestalt der »mathematisch-mechanische[n] Naturwissenschaft und [der] kritisch vergleichende[n] Geschichtswissenschaft«626 zu suchen, die beide zu einer »ungeheure[n] Veränderung des Welt- und Geschichtsbildes«627 geführt hätten. Besonders letztere habe »den christlichen Glauben vor ganz neue Probleme gestellt, und die Entstehung einer vergleichenden Religionsgeschichte ist es, die ihn im Grund zutiefst erschüttert hat«628. Dabei habe die durch »konkrete, philologisch-historische Methoden«629 abgesicherte Historio621 »[…] concept of religion were decisively different as they saw religion firmly within the new dichotomy of nature and spirit, the conflict of Christianity and science and a general religious history.« Bergunder: »Religion« and »Science« within a Global Religios History, S. 98. 622 »Moreover, these conceptual reorientations did not only concern liberal theology and the emerging religious studies in Europe and North America, but happened globally. » Ebd. 623 Ernst Troeltsch: Christentum und Religionsgeschichte. In: Ernst Troeltsch: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (Gesammelte Schriften 2). Tübingen: Mohr Siebeck 1913, S. 328–363, hier S. 330. 624 Ebd. 625 Ebd., S. 328. 626 Ebd., S. 331. 627 Ebd. 628 Ebd., S. 333. 629 Ebd., S. 335.

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graphie nicht allein »die anderen großen Religionen der alten Welt mit ihren analogen theologischen Lehren«630 dem Christentum beigeordnet und der christlichen Welt »eine unermeßliche ›heidnische‹ Welt in den neu dem Verkehr erschlossenen und von vielbewunderten Reisebeschreibungen dargestellten Erdteilen«631 eröffnet; vielmehr habe vor allem die »Anwendung der neuen pragmatischen und kritischen Methoden […] an der eigenen Geschichte des Christentums seine Wandelbarkeit [gezeigt], […] die katholische Fiktion [zerstört], als stelle die Kirche die einfache Fortsetzung des Urchristentums dar, nicht minder als die protestantische, nach der die Reformation die Wiederherstellung desselben sei.«632

Doch die ›Entdeckung der Religionsgeschichte‹ ist für Troeltsch noch mit weit tiefgreifenderen Konsequenzen verbunden. Denn »[n]icht bloß die Geltung und Wahrheit des Christentums, sondern auch die der Religion überhaupt als eines selbstständigen und eigentümlichen Lebensgebietes wird von diesem Strudel geschichtlicher Mannigfaltigkeit fortgerissen. Wie kann überhaupt eine Wahrheit in dem religiösen Gottesglauben sein, der in tausend verschiedenen, deutlich von Lage und Verhältnissen abhängigen Formen sich kundgibt […]? Wie kann es bei der unübersehbaren Vielheit und den tiefen Unterschieden der Religionen überhaupt noch Religion geben?«633

Die Lösung dieses Problems liegt für Troeltsch nun darin, dass »[w]ir […] nur lernen [müssen] die Religion immer liebevoller, immer freier von doktrinären, rationalistischen und systematisierenden Voraussetzungen zu betrachten […]. Dann enthüllt sich uns als tiefster Kern der religiösen Geschichte der Menschheit ein nicht weiter zu analysierendes Erlebnis, ein letztes Urphänomen, das ähnlich wie das sittliche Urteil und die künstlerische Anschauung eine einfache letzte Tatsache des Seelenlebens, von beiden aber ganz charakteristisch verschieden ist.«634

In der Erforschung dieser »einheitliche[n] Grundwirklichkeit, nämlich [der] Religion, [der] unableitbare[n], rein tatsächliche[n], immer wieder erlebte[n] Berührung mit der Gottheit«635, könne man »von einer Religion zur andern übergehen«636, gar die »entgegengesetztesten Religionen können bei einiger Sorgfalt ihre religiöse Sprache verstehen«637. Und wie Schleiermacher betont auch Troeltsch, dass 630 631 632 633 634 635 636 637

Ebd., S. 334. Ebd. Ebd. Ebd., S. 337. Ebd., S. 339. Ebd., S. 340. Ebd. Ebd.

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»diese Einheit […] nicht die starre der natürlichen Religion [ist], wie die Geschichtsauffassung des achtzehnten Jahrhunderts geglaubt hatte, und […] nicht auf der Uebereinstimmung bewußter Verstandesoperationen [beruht], sondern diese Einheit ist begründet in einer gemeinsamen, verschieden vorwärtsdringenden Bewegungstendenz des menschlichen Geistes […].«638

Doch wie bereits angedeutet, ist auch der liberalen Theologie daran gelegen, die Absolutheit des Christentums zumindest im Rahmen ihrer Kategorie der Subjektivität des Religiösen zu erhalten. Bei Troeltsch zeigt sich dies in der thematisierten Schaffensphase in Gestalt des Versuchs, die ›vollkommene‹ Manifestation der von ihm identifizierten innerlichen Religion als einer »nicht weiter aufzulösenden, immerdar geheimnisvoll und inkommensurabel bleibenden Grunderscheinung des geistigen Lebens«639 im Christentum zu erweisen – und dieses damit als den übrigen Religionen überlegen darzustellen. Zwar »bilden die Religionen eine im Ganzen aufsteigende Einheit und ist eine allgemeine Tendenz erkennbar, die auf die zunehmende Vergeistigung, Verinnerlichung, Versittlichung und Individualisierung […] gerichtet ist. […] Durch Ablösung von den Naturerscheinungen vergeistigt [diese Tendenz] die Gottheiten bis zum Untergang aller Einzelgötter in einem göttlichen Allwesen, in dem sie Formen seines Wirkens sind […]. Nur eine Religion hat den Bann der Naturreligion völlig durchbrochen und steht insofern einzigartig da: die Religion Israels und das Christentum. Angesichts des bevorstehenden Untergangs des Volkes hat die Religion Israels sich von ihren partikularistischen und naturreligiösen Grundlagen prinzipiell gelöst […]. Aus diesem Kerne ist in der Person Jesu das Christentum hervorgebrochen […]. Indem es nicht bloß vom Leid der Endlichkeit und dem Druck der Natur erlöst, sondern vor allem von dem Trotz und der Verzagtheit des menschlichen Herzens […], ist es eine Erlösungsreligion höherer Ordnung […]. Durch diesen prinzipiellen Bruch mit jeder Art von Naturreligion vollendet es allein unter allen Religionen die Tendenz auf Erlösung, wie es im Zusammenhang damit allein die Tendenz auf rein innerliche Allgemeingültigkeit vollendet hat.«640 638 Ebd. 639 Ebd., S. 344. 640 Ebd., S. 353–355 (zweite Hervorhebung durch mich). Interessanterweise hat Troeltsch den ›hegelianischen Rest‹ seiner historiographischen ›Rettung‹ der christlichen Absolutheit später selbst erkannt und noch zu Lebzeiten hinter sich gelassen. In einem seiner letzten Texte verwirft er 1923 den Gedanken der Höchstgeltung vor dem Hintergrund seiner historiographischen Überlegungen fast vollständig, und zwar durch die konsequente Anwendung seines Begriffs der historischen »Individualität«, also der Kontextualität und Kontingenz alles Geschichtlichen: »Weitere Untersuchungen […] haben mir gezeigt, wie durch und durch individuell doch das historische Christentum selber ist und wie seine verschiedenen Perioden doch jedesmal in anderen Zeitumständen und Lebensbedingungen begründet sind. Es ist als Ganzes und im Einzelnen doch eine vollkommen historisch-individuelle Erscheinung. […] Das heißt aber: die Religion ist jedesmal von dem Boden und den geistigen, sozialen und nationalen Grundlagen abhängig, auf denen sie lebt. […] Wer also will hier wagen, wirklich entscheidende Wertvergleichungen zu machen. Das könnte nur

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3.2.5. Religion und Globalisierung Indes geriete die historiographische Darstellung der Herausbildung des heutigen Religionsbegriffs im 19. Jahrhundert etwas einseitig (und mithin eurozentrisch), wollte man sie ausschließlich auf Zeugnisse wie die des liberalen Protestantismus stützen. Denn wie in den zitierten Ausführungen Bergunders bereits angedeutet wurde, waren es nicht allein europäische (geschweige denn christliche) Denker, die den schleiermacher’schen Religionsbegriff in den geistesgeschichtlichen Kontext des späten 19. Jahrhunderts integrierten; vielmehr erfolgte diese Rezeption im Rahmen eines globalen Diskurses durch Akteure in der gesamten (religiösen) Welt – ein Umstand, der es europäischen Theologen wie Troeltsch erst ermöglichte, die »rein humane und innerliche Religiosität«641 des Buddhismus oder Brahmanismus als dem Christentum weitgehend ebenbürtig zu würdigen. Denn die oben am Beispiel des Christentums illustrierten ›Herausforderungen‹ in Gestalt der Naturwissenschaft und modernen Historiographie wurden zeitgleich auch in anderen, nicht-christlichen Kontexten aufgenommen. Diese weltweite Rezeption erfolgte indes nicht isoliert in den verschiedenen Kontexten, sondern war eingebettet in den globalen Diskurs, den der Kolonialismus in seiner ›Hochzeit‹ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etabliert hatte – ein Umstand, der die zuweilen recht ähnlichen Tendenzen der Debatten in den unterschiedlichen Kontexten erklärt, was letztlich die Herausbildung eines globalen Religionsbegriffs ermöglichte.642 Fulminanten Ausdruck fand diese globale Entwicklung auf dem ersten Weltparlament der Religionen, das 1893 im Rahmen der Weltausstellung in Chicago abgehalten wurde. Diese Veranstaltung kann gewissermaßen als die Bündelung jener Prozesse angesehen werden, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts zur Herausbildung des globalen Religionsbegriffs geführt haben.643 Deutlich wird Gott selbst […].« Und weil das historische, »völlig entorientalisierte[…] Christentum« fest mit dem europäischen Kontext verbunden sei, habe es »eben doch nur seine Geltung für uns [Europäer]«. Ernst Troeltsch: Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen. In: Ulrich Dehn (Hrsg.): Handbuch Dialog der Religionen. Christliche Quellen zur Religionstheologie und zum interreligiösen Dialog. Frankfurt a. M.: Lembeck 2008, S. 28–43, hier S. 37–39. 641 Ebd., S. 37. 642 Der Einfluss des globalen Kolonialdiskurses auf die europäische Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts ist bezeichnenderweise insgesamt deutlich weniger erforscht als die globale Verflechtung der sogenannten kontextuellen Theologien. Vgl. R. S. Sugirtharajah: Complacencies and Cul-de-sacs. Christian Theology and Colonialism. In: Chatherine Keller/ Michael Nausner/Mayra Rivera (Hrsg.): Postcolonial Theologies. Divinity and Empire. St. Louis: Chalice Press 2004, S. 22–38, hier 22–27. 643 Vgl. ausführlicher: Yan Suarsana: Hindus – Heiden – Sarazenen. Religionswissenschaftliche Anmerkungen zur Geschichte des interreligiösen Dialogs. In: Johannes Eurich/Fritz Lienhard/Manfred Oeming/Philipp Stoellger/Hendrik Stoppel (Hrsg .): Phänomene und Dis-

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dies bereits in den zehn Punkten, die das Organisationsteam um den Presbyterianer Henry Barrows (1847–1902) als Ziele des Weltparlaments formuliert hatte. Es betrifft zum einen das Konzept von Religion als einer allgemeinen historischen Erscheinung der menschlichen Welt, deren verschiedene Manifestationen letztlich nur Verkörperungen einer einzigen, höheren Wahrheit darstellten: »1. Das erste Mal in der Geschichte die führenden Repräsentanten der großen historischen Religionen der Welt auf einer Konferenz zusammenzubringen. 2. Der Menschheit auf eindrückliche Weise zu demonstrieren, welche und wie viele wichtige Wahrheiten die verschiedenen Religionen gemeinsam vertreten und lehren.«644

Zum anderen war dieses Anliegen explizit auch als Machtdemonstration des Religiösen gegen die zeitgenössischen ›Gegner‹ formuliert: »5. Die unangreifbaren Grundlagen des Theismus darzulegen […] und dadurch jene Kräfte zu bündeln und zu stärken, die sich gegen eine materialistische Philosophie des Universums stellen.«645

Der universale Anspruch dieser Zusammenkunft äußerte sich indessen nicht nur in deren Programm; aus allen Teilen der Welt reisten Vertreter der sogenannten Weltreligionen in die Vereinigten Staaten, darunter Repräsentanten des Christentums, des Hinduismus, Jainismus, Buddhismus, des Judentums, des Konfuzianismus und Shintoismus sowie des Islam und der Theosophie.646 Einer der Delegierten, der später als die »bedeutendste Persönlichkeit«647 des Parlaments bezeichnet wurde, war der Inder Narendranath Datta (1963–1902), besser bekannt unter dem Namen Vivekananda, der vielen als einer der Väter der »indischen Moderne«648 gilt. Als Sohn eines indischen Kolonialbeamten hatte er die besten britischen Colleges in Kalkutta besucht, besaß Verbindungen zu Vertretern des Reformhinduismus und Anhängern des Brahmo Samaj, schloss sich jedoch ab 1881 zunächst dem Mystiker und Vertreter des Advaita Vedanta Ra-

644

645 646 647 648

kurse des Interreligiösen. Beiträge aus christlicher Perspektive. Tübingen: Mohr Siebeck 2021, S. 85–102, hier S. 94–97. »1. To bring together in conference, for the first time in history, the leading representatives of the great Historic Religions of the world. 2. To show to men, in the most impressive way, what and how many important truths the various Religions hold and teach in common.« Zitiert nach: Dorothea Lüddeckens: Das Weltparlament der Religionen von 1893. Strukturen interreligiöser Begegnung im 19. Jahrhundert. Berlin/New York: De Gruyter 2002, S. 175. »5. To indicate the impregnable foundations of Theism, […] and thus to unite an strengthen the forces which are adverse to a materialistic philosophy of the universe.« Zitiert nach: Ebd. Vgl. Martin Kämpchen: Kommentar. In: Sva¯mı¯ Viveka¯nanda: Wege des Yoga. Reden und Schriften (hrsg. von Martin Kämpchen). Frankfurt a. M.: Verlag der Weltreligionen 2009, S. 175–245, hier S. 193. Ebd., S. 197. Makarand R. Paranjape: Introduction. In: Swami Vivekananda: A Contemporary Reader (hrsg. von Makarand R. Paranjape). Neu Delhi: Routledge 2015, S. xvii–xliii, hier S. xxxi.

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makrishna (1836–1886) an. 1893 brach er zu einer Reise in den ›Westen‹ auf, »um für sein Land und seine Religion zu werben, Geld zu sammeln, um, zurückgekehrt, ein soziales Werk zu beginnen«649. Das Programm dieser Reise war dabei durch die Idee bestimmt, »daß das politisch unterworfene und materiell benachteiligte Indien seine Unterwerfer spirituell dominieren würde«650, wodurch einmal mehr »der Same jener ›fragwürdigen Typologie‹ ausgestreut [wurde], die Viveka¯nandas restliches Leben antreiben sollte: der ›spirituelle Osten‹ und der ›materialistische Westen‹«651. Obgleich gar nicht eingeladen, erntete der charismatische junge Mann mit seinen Ansprachen auf dem Parlament sogleich Stürme der Begeisterung; und auch während seiner dreieinhalb Jahre andauernden Reise durch Nordamerika, England, Deutschland und die Schweiz wurde er als Vertreter der ›indischen Religion‹ – des Hinduismus – gefeiert, deren Einheit und spirituelle Kraft er in Chicago so eindrucksvoll beschworen hatte. Vivekanandas Vorträge auf dem Weltparlament der Religionen stehen geradezu prototypisch für den Stand der weltweiten Debatten über Religion im späten 19. Jahrhunderts, ebenso wie sie die Etablierung eines globalen Religionsbegriffs in dieser Zeit illustrieren. Als Vertreter einer neuen, kosmopolitischen Elite in den Kolonien konnte er an zeitgenössische Konzepte anknüpfen, die von Gelehrten und Wissenschaftlern in aller Welt diskutiert wurden, während er gleichzeitig auf eine lange indische Rezeptionsgeschichte europäischer Philosophie und Theologie in der Tradition Rammohan Roys (1772–1833) Zugriff hatte. In seinem Denken konfrontierte er dementsprechend zentrale Ideen des sogenannten Reformhinduismus (allen voran die monistische Philosophie des [Neo-] Vedanta) mit zeitgenössischen Konzepten von (Natur-)Wissenschaft, Erfahrung, Innerlichkeit und Geschichte. Exemplarisch ist diesbezüglich sein Referat über den Hinduismus, das er 1893 in freier Rede und ohne Notizen zum Besten gegeben haben soll. Leitend ist für ihn hier zum einen die (auch in den Zeugnissen des Neukantianismus oder der liberalen Theologie zu findende) Idee zweier »parallele[r] Existenzebenen«652, welche sich diametral gegenüberstehen und zugleich gegenseitig ergänzen: »die des Geistes, und die andere die der Materie«653. Während sich also die Naturwissenschaften mit den Gesetzen des Materiellen auseinandersetzen, seien die Veden (als die Offenbarung der »Religion

649 650 651 652

Ebd., S. 192. Ebd. Ebd. Sva¯mı¯ Viveka¯nanda: Referat über den Hinduismus. In: Sva¯mı¯ Viveka¯nanda: Wege des Yoga. Reden und Schriften (hrsg. von Martin Kämpchen). Frankfurt a. M.: Verlag der Weltreligionen 2009, S. 14–29, hier S. 16. 653 Ebd., S. 16f.

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der Hindus«654) als der »angesammelte Schatz der geistigen Gesetze«655 zu verstehen.656 In diesem Kontext dienen sie dem besonderen Zweck, »meine Existenz zu begreifen – ›ich‹, ›ich‹, ›ich‹ –, welche Vorstellung habe ich […] von mir? Die Vorstellung eines Körpers. Bin ich also nichts als eine Zusammensetzung von materiellen Substanzen? Die Vedas verkünden: ›Nein.‹ Ich bin ein Geist, der in einem Körper wohnt. Ich bin nicht der Körper. Der Körper wird sterben, doch ich werde nicht sterben. […] Die Seele ist [also] nicht von dem Zustand der Materie abhängig. In ihrem eigentlichen Wesen ist sie frei, ungebunden, heilig, rein und vollkommen.«657 »Kommen Sie herzu, o Löwen, und schütteln Sie die Täuschung von sich, daß Sie Schafe sind! Sie sind unsterbliche Seelen, Sie sind Geist – frei, gesegnet und ewig. Sie sind nicht Materie, Sie sind nicht der Körper. Die Materie ist Ihre Dienerin, Sie sind nicht die Dienerin der Materie.«658

Dieser (im Sinne der monistischen Philosophie Vivekanandas hierarchischen) Dualität zwischen Seele und Körper werden nun die Bereiche der Wissenschaft und der Religion zugeordnet: »Die Naturwissenschaften haben mir bewiesen, daß die physikalische Individualität eine Täuschung ist, daß in Wirklichkeit mein Körper ein kleiner, sich ständig verändernder Körper in einem unendlichen Ozean der Materie ist. Und ›Advaita‹ (›Einheit‹) ist die notwendige Verbindung mit meinem Gegenpart, der Seele.«659

Die Begrenzung des Gegenstandsbereichs des Religiösen bedingt zum anderen auch das ›innerliche‹ (später von Troeltsch gerühmte660) Religionsverständnis, und zwar in der Form, dass es sich bei der religiösen Erkenntnis um eine »unmittelbar[e]«661 handelt, die sich (im Sinne einer Gottesschau) von anderen Arten des Erkennens unterscheidet. Denn »Hindus wollen sich nicht auf Worte und Theorien verlassen. Wenn es Existenzmöglichkeiten jenseits der gewöhnlichen sinnlichen Existenz gibt, möchten sie sie von Angesicht zu Angesicht erleben. […] Den besten Beweis, den ein Hindu-Weiser darum von der Seele, von Gott gibt, ist [zu sagen]: ›Ich habe die Seele geschaut. Ich habe Gott geschaut.‹«662 654 Ebd., S. 14. 655 Ebd., S. 15. 656 An anderer Stelle notiert Viveka¯nanda: »Religion deals with the truth of the metaphysical world just as chemistry and the other natural sciences deal with the truth of the physical world.« Sva¯mı¯ Viveka¯nanda: Religion and Science. From Class and Lecture Notes. In: Sva¯mı¯ Viveka¯nanda: A Contemporary Reader (hrsg. von Makarand R. Paranjape). Neu Delhi: Routledge 2015, S. 113f., hier S. 113. 657 Sva¯mı¯ Viveka¯nanda: Referat über den Hinduismus, S. 16–18. 658 Ebd., S. 20. 659 Ebd., S. 23. 660 Vgl. Troeltsch: Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen, S. 37. 661 Sva¯mı¯ Viveka¯nanda: Referat über den Hinduismus, S. 22. 662 Ebd.

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Noch deutlicher wird dieses Verständnis eines eigenen, abgetrennten Erkenntnisbereichs des Religiösen in einem Vortrag aus dem Jahre 1894. Hier erhebt der Inder den Anspruch, »dass Religion nicht auf äußeren Glaubensaussagen beruht, sondern vielmehr eine Sache der inneren Erfahrung«663 sei. So »basiert die verstandesmäßige Argumentation […] auf Fakten, die den Sinnen evident sind. Dagegen hat Religion nichts mit den Sinnen zu tun. Die Agnostiker sagen, dass sie Gott nicht erkennen können, und sie behalten recht darin, denn sie haben den Bereich ihrer Sinne ausgeschöpft und kommen nicht weiter in der Erkenntnis Gottes. […] Wir müssen [daher] die Erkenntnis der Sinne überwinden. Alle großen Propheten und Seher beanspruchen, ›Gott geschaut‹ zu haben – mit anderen Worten: sie hatten eine direkte Erfahrung. Es gibt keine Erkenntnis ohne [diese] Erfahrung, und [ jeder] Mensch muss Gott in seiner eigenen Seele schauen.«664

Drittens konzeptionalisiert auch Vivekananda Religion im Rahmen einer universalen Religionsgeschichte, deren ›Entdeckung‹ ja Troeltsch später als die Herausforderung der (christlichen) Theologie im 19. Jahrhundert herausstellen sollte. Der Grundriss dieser Geschichte liest sich wie folgt: »Drei Religionen gibt es heute in der Welt, die seit vorhistorischen Zeiten bestehen – den Hinduismus, den Zoroastrismus und das Judentum. Sie alle haben starke Erschütterungen erlebt und alle beweisen durch ihr Überleben ihre innere Stärke. Doch das Judentum vermochte das Christentum nicht in sich aufzunehmen und wurde aus dem Land seiner Geburt von seiner alles erobernden Tochter vertrieben. Und eine Handvoll Parsen ist alles, was geblieben ist […].«665

Dementsprechend beansprucht Vivekananda für die »Religion der Veden«666 einen herausgehobenen Status, da diese nicht nur als die älteste aller Religionen anzusehen sei – eine Ansicht, die er mit führenden europäischen Indologen seiner Zeit teilte, mit denen er teilweise persönlich befreundet war667; vielmehr hebt er hervor, dass nach all den erwähnten Erschütterungen der Hinduismus »in einer alles überflutenden Welle tausendmal kraftvoller«668 zurückgekehrt sei, 663 »[…] that religion does not rest on external assertions of faith but is rather a matter of internal experience […].« Bergunder: »Religion« and »Science« within a Global Religious History, S. 110. 664 »Intellectual reasoning is based on facts evident to the senses. Now religion has nothing to do with the senses. The agnostics say they cannot know God, and rightly, for they have exhausted the limits of their senses and yet get no further in knowledge of God. […] [W]e have to go beyond the knowledge of the senses. All great prophets and seers claim to have ›seen God‹, that is to say, they have had direct experience. There is no knowledge without experience, and man has to see God in his own soul.« Zitiert nach: Ebd., S. 111. 665 Sva¯mı¯ Viveka¯nanda: Referat über den Hinduismus, S. 14. 666 Ebd. 667 So etwa mit Paul Deussen und Friedrich Max Müller. Vgl. Kämpchen: Kommentar, S. 195– 197. 668 Sva¯mı¯ Viveka¯nanda: Referat über den Hinduismus, S. 14.

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indem er die verschiedenen religiösen Gemeinschaften in Indien »sämtlich aufgesogen und integriert [habe] in den immensen Leib des Mutterglaubens«669. Dieser Tendenz folgend äußert sich der Swami auch bezüglich des zukünftigen End- und Höhepunktes der universalen Fortschrittsgeschichte der Religionen. Dieser bestehe in einer »universale[n] Religion«670, deren Sonne »auf die Anhänger von Krishna und Christus, auf Heilige wie Sünder scheinen«671 solle und »nicht in Zeit und Raum vertreten sein«672 dürfe. Zwar betont er eindringlich, dass »[d]iese Religion […] nicht brahmanisch oder buddhistisch, christlich oder islamisch sein [werde], sondern die Summe von ihnen allen«673; nichtsdestotrotz schließt er seinen Vortrag mit der selbstbewussten Aussage, dass der Stern dieser ewigen Religion »im Osten auf[ging], und […] stetig gen Westen«674 gewandert sei. »Manchmal war er trüb, manchmal strahlend, bis er die Welt umrundet hatte. Nun geht er an demselben östlichen Horizont, am Ufer des Sanpo [gemeint ist der indische Fluss Brahmaputra], wieder auf, und zwar tausendmal strahlender als je zuvor«675 – eine These, die sein Programm einer ›Erleuchtung‹ des geistig degenerierten, materialistischen Westens durch den spirituellen Osten deutlich zum Ausdruck bringt.676 Ähnliche Entwicklungen lassen sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch für zahlreiche andere, heute als ›Weltreligionen‹ verstandene Traditionen nachweisen. Als »islamischer Gegenpart zu Vivekananda«677 kann beispielsweise Ahmad Khan (1817–1898) angeführt werden, der die Ansicht vertrat, dass »das einzige Kriterium für die Wahrheit der Religionen«678 darin zu sehen sei, ob diese »mit der natürlichen Beschaffenheit des Menschen oder der Natur selbst in Einklang«679 stünden – etwas, das für ihn bezüglich des Islam außer Frage stand. In diesem Zusammenhang propagierte er (dem Diskurs seiner Zeit entsprechend) ein ›innerliches‹ Verständnis von Religion im Sinne einer menschlichen Fähigkeit zur »Erfahrung der Einheit mit Gott«680 und stellte die These auf, dass 669 670 671 672 673 674 675 676 677 678 679 680

Ebd. Ebd., S. 28. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 29. Ebd. Zum Diskurs zur indischen Religion im Kontext des Kolonialismus im 19. Jahrhundert vgl. v. a. Richard King: Orientalism and Religion. Postcolonial Theory, India and ›The Mystic East‹. London/New York: Routledge 1999. »Islamic counterpart to Vivekananda«. Bergunder: »Religion« and »Science« within a Global Religious History, S. 112. »[…] the only criterion for the thruth of the religions […].« Zitiert nach: Ebd. »[…] in correspondence with the natural disposition of man, or with nature.« Zitiert nach: Ebd. »[…] experience of unity with God […].« Ebd., S. 113.

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sich ein solches Konzept auch in anderen historischen Religionen nachweisen lasse, »angefangen bei den Ägyptern, ebenso in den Veden bis hin zu Abraham, und in modernen Zeiten etwa bei Calvin, Luther, Keshab Chandra Sen681 und Dayanand Saraswati682«683. Auch der Streit zwischen dem französischen Intellektuellen Ernest Renan (1823–1892) und dem im heutigen Iran geborenen islamischen ›Modernisten‹ Dschamal ad-Din al-Afghani (1838–1897) drehte sich um die Frage, ob der Islam mit der Wissenschaft in Einklang stehe. Während Renan 1883 die (auch im weiteren kolonialen Kontext verbreitete) These von der allgemeinen »GeistesBeschränktheit eines wahrhaft [muslimischen] Gläubigen«684 vertrat, welche einer »Art eisernen Reifens [gleiche], der um sein Haupt geschlagen ist und dasselbe der Wissenschaft geradezu verschliesst, es unfähig macht, irgend etwas zu lernen, irgend eine neue Idee in sich aufzunehmen«685, bestritt al-Afghani die Zulässigkeit dieser verallgemeinernden Festschreibung der muslimischen Religion. Dazu führte er ins Feld, dass nicht nur der Islam, sondern »[a]lle Religionen […] intolerant [sind], jede auf ihre Weise«686: Auch das Christentum habe versucht, »die Wissenschaft zu ersticken […], und die verehrten Häupter der katholischen Kirche haben meines Wissens die Waffen noch nicht niedergelegt«687. Entgegen Renans ontologisierendem Stereotyp vertrat al-Afghani ein historisches Religionsverständnis, das es ihm ermöglichte, die Hoffnung zu äußern, dass auch der gegenwärtige Islam in naher Zukunft seine wissenschaftliche Größe wiedererlangen könne, die er während der »ersten Jahrhunderte«688 seiner Existenz bewiesen habe. Mit seinem Ideal eines ›ursprünglichen‹ Islam wird alAfghani häufig als ein Vordenker des modernen Islam rezipiert, der nicht nur von liberalen Intellektuellen wie dem Ägypter Mohammed Abduh (1849–1905),

681 Keshab Chandra Sen (1838–1884) war ein prominenter Vertreter des von Rammohan Roy gegründeten Brahmo Samaj, der 1866 seine eigene Organisation gründete, um fortan an der Verwirklichung seiner Vision der Harmonie aller Religionen zu arbeiten. 682 Dayananda Saraswati (1824–1883) war ein Vertreter des ›radikaleren‹ Flügels des Reformhinduismus. 1875 gründete er den Arya Samaj, der zeitweise mit der Theosophischen Gesellschaft verbunden war. Dayananda gilt als ein wichtiger Impulsgeber der indischen Nationalbewegung. 683 »[…] ranging from the Egyptians through the Vedas all the way to Abraham, and in modern times including Calvin, Luther, Keshab Chandra Sen and Dayanand Saraswati.« Bergunder: »Religion« and »Science« within a Global Religious History, S. 113. 684 Ernest Renan: Der Islam und die Wissenschaft. Vortrag gehalten in der Sorbonne am 29. März 1883. Kritik dieses Vortrags vom Afghanen Scheik Djemmal Eddin und Ernest Renan’s Erwiderung. Basel: M. Bernheim 1883, S. 5. 685 Ebd. 686 Ebd., S. 35. 687 Ebd., S. 36. 688 Ebd., S. 39.

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sondern auch von Strömungen wie der Neo-Salafiyya aufgenommen worden sei.689 Auf konzeptuell ähnlicher Basis entwarf der Singhalese Anagarika Dharmapala (1864–1933) den Buddhismus als »wissenschaftliche Religion«690, und zwar in dem Sinne, dass die »Botschaft des Buddha […] frei ist von Theologie, Priestertum, Ritualen, Zeremonien, Dogmen, Himmeln, Höllen und anderen theologischen Plattitüden«691. Zusammen mit Vivekananda trat Dharmapala 1893 (als Vertreter des Theravada-Buddhismus692) auf dem Weltparlament der Religionen in Chicago auf; und wie dieser war er in der Folgezeit als Redner und Exponent ›östlicher Spiritualität‹ international gefragt und gilt heute als einer der Väter des sogenannten Neo-Buddhismus (häufig auch als »protestantischer Buddhismus«693 bezeichnet). Dharmapala arbeitete dabei eng mit führenden Vertretern der Theosophischen Gesellschaft zusammen, die mit ihren Aktivitäten im kolonialen Ceylon, in Indien und in Japan ebenfalls maßgeblich zum heutigen Bild einer Weltreligion des Buddhismus beigetragen haben. Überhaupt darf der Einfluss der Theosophie auf die Herausbildung eines globalen Religionsbegriffs nicht unterschätzt werden. Nicht allein, dass diese in Form der Theosophischen Gesellschaft weltweit institutionell organisiert und vernetzt war; in mehreren Kolonien (v. a. in Indien und Niederländisch-Indien), aber auch in den USA und in einigen Ländern Europas, waren Theosophinnen und Theosophen zum Teil bis ins 20. Jahrhundert hinein Teil des intellektuellen und politischen Establishments. Die wichtigsten Gründungsgestalten der Theosophie, die russisch-amerikanische Okkultistin Helena Petrovna Blavatsky (1831–1891) und der US-Amerikaner Henry Steel Olcott (1832–1907), strebten mit ihrer 1875 gegründeten Gesellschaft die Überwindung der Grenze zwischen Wissenschaft und Religion an, deren globale diskursive Etablierung sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abzuzeichnen begonnen hatte. Ihre Theorien propagierten eine Synthese von Wissenschaft, Religion und Philosophie, und zwar in Form einer »wissenschaftlichen Religion«694. Die Hinwendung Steel Ol689 Zur historischen Einschätzung/Problematisierung dieser These und der Bedeutung al-Afghanis für den modernen Salafismus-Diskurs vgl. Henri Lauzière: The Making of Salafism. Islamic Reform in the Twentieth Century. New York: Columbia University Press 2016, S. 1– 25; 233f. 690 »[…] scientific religion.« Bergunder: »Religion« and »Science« within a Global Religious History, S. 114. 691 »The Message of Buddha […] is free from theology, priestcraft, rituals, ceremonies, dogmas, heavens, hells and other theological shibboleths.« Ebd., S. 126. 692 Als weiterer Repräsentant des (Mahayana-)Buddhismus war u. a. der Japaner Hirai Kinzo vertreten, der die Vereinbarkeit des Buddhismus mit der Wissenschaft (im Gegensatz zum Christentum) herausstellte. Vgl. ebd., S. 114. 693 »Protestant Buddhism«. Stephen Prothero: The White Buddhist. The Asian Odyssey of Henry Steel Olcott. Bloomington: Indiana University Press 1996, S. xvi. 694 Bergunder: »Religion« and »Science« within a Global Religious History, S. 120.

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cotts zum Buddhismus, der in den USA gegen Ende des 19. Jahrhunderts einige Popularität genoss, führte zur Neuorientierung der Theosophie gen ›Osten‹ und ab 1879 zu einer Verlagerung der Theosophischen Gesellschaft nach Indien.695 »Die theosophischen Theorien hatten [dort] weitreichenden Einfluss auf den Buddhismus und Hinduismus. Entscheidend für das Verständnis dieser Entwicklung ist der Blick auf die anti-koloniale Ausrichtung der Theosophischen Gesellschaft. Die Theosophen verbündeten sich mit lokalen Eliten in Indien und Ceylon und unterstützten sie darin, soziale und politische Reformen einzuführen, die gegen die Kolonialherren gerichtet waren.«696

So war die Theosophie bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein wichtiger Teil der Nationalbewegungen in Britisch- und Niederländisch-Indien, fand aber auch zahlreiche Anhänger unter den Angehörigen der Kolonialmächte.697 In Ceylon, wo orientalistische Diskurse bereits zuvor zur Konzeption des Buddhismus als einer ›wissenschaftlichen Religion‹ (etwa in Gestalt des oben erwähnten Dharmapala) geführt hatten, bot sich dem Anliegen der Theosophie ein fruchtbarer Boden.698 Ab 1880 hielten sich Blavatsky und Steel Olcott regelmäßig auf der Insel auf, wo sie maßgeblichen Anteil an dem (gegen die starke Ausbreitung des Christentums gerichteten) Buddhist Revival hatten, das letztlich zu einer (Re-) Etablierung des Buddhismus als der vorherrschenden Religion Sri Lankas führte; die Theosophische Gesellschaft bot nicht nur eine institutionelle Plattform für die reformerischen, antikolonialen Kräfte; sie errichtete außerdem zahllose Bildungseinrichtungen und ›Missionsschulen‹, die zum Teil bis heute bestehen. 1881 erschien erstmals der Buddhist Catechism aus der Feder Steel Olcotts, der den Schulen als Lehrbuch diente, und inzwischen als eines der Gründungswerke des ›protestantischen Buddhismus‹ gilt.699 Noch heute feiern Schülerinnen und Schüler in ganz Sri Lanka den Todestag ihres »amerikanisch-stämmigen buddhistischen Helden«700, und im indischen Madras, dem ehemaligen Wohnort

695 Vgl. Prothero: The White Buddhist, S. 62–84. 696 »The theosophical theories had a far-reaching influence on Buddhism and Hinduism. Key to understanding this is appreciating the anti-colonial orientation of the Theosophical Society. The theosophists aligned themselves with local elites both in India and in Ceylon, and helped them introduce social and political reforms directed against colonial overlords.« Bergunder: »Religion« and »Science« within a Global Religious History, S. 123. 697 Vgl. Mark Bevir: Theosophy and the Origins of the Indian National Congress. In: International Journal of Hindu Studies 7, 1–3 (2003), S. 99–115; Herman de Tollenaere: The Theosophical Society in the Dutch East Indies, 1880–1942. In: Martin Ramstedt (Hrsg.): Hinduism in Modern Indonesia. A Minority Religion Between Local, National, and Global Interests. London/New York: RoutledgeCurzon 2004, S. 35–44. 698 Vgl. Bergunder: »Religion« and »Science« within a Global Religious History, S. 125. 699 Vgl. Prothero: The White Buddhist, 85–115. 700 »American-born Buddhist hero.« Ebd., S. 1.

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Steel Olcotts, wird dieser mit einem Jahrestag geehrt, der an seine Geburt am 2. Februar erinnert. Die Aktivitäten der Theosophischen Gesellschaft, aber auch die weiter oben angeführten Beispiele, demonstrieren eindrücklich, dass der Diskurs über Religion gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch und durch globalisiert war. Heerscharen von (religiösen) Akteuren aus allen Kontexten der Welt verkehrten und kommunizierten auf internationaler Ebene – eine Entwicklung, die durch die moderne Infrastruktur, die maßgeblich durch den europäischen Imperialismus etabliert worden war, erst möglich gemacht wurde. »Die Quellen zeigen, dass es nicht allein das Christentum war, das sich mit der wissenschaftlichen Herausforderung und dem Problem der universalen Religionsgeschichte auseinandersetzte. Zur gleichen Zeit fanden ähnliche Debatten innerhalb des Islam, des Hinduismus und Buddhismus statt. Führende Repräsentanten dieser Traditionen begannen ebenfalls, sich als Teil einer universalen Religionsgeschichte zu verstehen, und proklamierten sowohl Harmonie als auch Unterscheidbarkeit bezüglich der Wissenschaft. Es war von Anfang an ein globaler Diskurs, und er ist in seinen Grundzügen noch immer derselbe.«701

Im Kontext dieses globalen, durch den Kolonialismus bedingten Diskurses spricht Christopher Bayly von einer Uniformierung religiöser Traditionen im Sinne der »so genannten ›Weltreligionen‹«702 – ein Begriff, der ausdrücken solle, »dass diese Formen des Glaubens in ihrer Reichweite mehr oder weniger global waren«703. Die neuen Religionen des 19. Jahrhunderts charakterisiert Bayly als weltweite imagined communities, die sich durch den »unbeschränkten Gebrauch [der] neuen Reise- und Kommunikationsmöglichkeiten«704 entwickelten: »Religiöse Literatur stand an der Spitze der Druckrevolution, als sie sich über die europäischen, amerikanischen, chinesischen und japanischen Führungsschichten hinaus ausweitete. Mit der Ausbreitung von Moscheeschulen, hinduistischen und buddhistischen Tempelschulen und christlichen Sonntagsschulen wurde die religiöse Unterweisung auf eine breitere institutionelle Basis gestellt.«705

701 »Sources show that is was not only Christianity that addressed the scientific challenge and the problem of general religious history. At the very same time, similar discussions took place within Islam, Hinduism, and Buddhism. Leading representatives of these traditions also started to understand themselves as part of a general religious history, and they proclaimed harmony with and difference from science. It was a global discourse from the start, and the settings are still in place.« Bergunder: »Religion« and »Science« within a Global Religious History, S. 117. 702 Bayly: Die Geburt der modernen Welt, S. 408. 703 Ebd. 704 Ebd., S. 410. 705 Ebd.

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Zusätzlich erweiterten und rationalisierten religiöse Autoritäten ihre »Verwaltungen und Ausbildungseinrichtungen, die sie aus dem 18. Jahrhundert übernommen hatten«706. Dieser »Aufschwung der Religion«707 habe demnach zu einer Formalisierung religiöser Autorität708 sowie von Lehren und Riten709 geführt – eine Entwicklung, die durch den »Ausschluss der Religion aus der politischen Sphäre«710, wie er etwa in republikanischen Verfassungen seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, aber auch durch die im 19. Jahrhundert verbreitete Verwaltungspraxis in vielen Kolonien verkörpert war, maßgeblich befördert wurde: Indem Religion in den verschiedensten Kontexten der Welt ein eigener Gesellschaftsbereich jenseits des (säkularen) Politischen zugewiesen wurde, gewann der zunächst akademisch ausgehandelte Status von Religion im oben dargestellten Sinne weltweit auch politisch und gesellschaftlich an Plausibilität. All diese Prozesse und Verflechtungen führten bis zum Ende des Jahrhunderts schließlich dazu, dass (Welt-)Religionen als inhaltlich und institutionell strukturierte, globale Entitäten wahrgenommen werden konnten – eben in der Form, in der sie uns heute erscheinen.

3.2.6. Religion bei Martin Luther? Um die zuletzt gemachten Ausführungen nochmals zu verdeutlichen, möchte ich sie an einem Kontext ›prüfen‹, der zuweilen (vor allem von protestantischer Seite711) als »folgenschwere Akzentverschiebung in der Verwendung des Begriffs religio«712 angesehen wird, welche »eine Tendenz zur Verallgemeinerung des Religionsbegriffs«713 eingeleitet habe, die schließlich »mit der Aufklärung nach und nach zum Durchbruch kommt«714 – die Zeit der Reformation. In diesem Zusammenhang wird zu untersuchen sein, ob für diese Zeit Äquivalenzketten existieren, die denen des späten 19. Jahrhunderts ähneln, und ob diese möglicherweise durch einen oder mehrere leere Signifikanten konstituiert werden, die mit Religion identisch oder in seiner Funktion vergleichbar sind. Diesem Zweck 706 707 708 709 710 711

Ebd. Ebd., S. 411. Vgl. ebd., S. 414–419. Vgl. ebd., S. 419–424. Ebd., S. 414. Ganz anders dagegen z. B. Ernst Feil: Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs vom Frühchristentum bis zur Reformation. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1986, S. 271–273; Gregor Ahn: Art. Religion I. Religionsgeschichtlich. In: TRE (Band 28), S. 513–522. 712 Klaus Hock: Einführung in die Religionswissenschaft. Darmstadt: WBG 2002, S. 11. 713 Ebd. 714 Ebd.

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soll die Streitschrift Vom Kriege wider die Türken (1529) aus der Feder Martin Luthers dienen, die auch deshalb für unser Thema von besonderem Interesse ist, weil ihr historischer Anlass, die erste Belagerung Wiens durch den osmanischen Sultan Süleyman II. (um 1495–1566), in öffentlichen Diskursen der Gegenwart häufig als ein für die europäische (Religions-)Geschichte prägendes Ereignis artikuliert wird, und zwar im Sinne eines bedeutenden Siegs des Christentums über den Islam. Zunächst impliziert bereits ein näherer Blick auf die historischen Umstände, dass diese populäre Interpretation historisch kaum haltbar ist. Denn die Belagerung Wiens war keineswegs dem ›muslimischen Bestreben‹ geschuldet, das Christentum zu bekämpfen; vielmehr war sie das Ergebnis einer Koalition zwischen Süleyman und dem ungarischen König Johannes Zápolya (1487–1540), um die Ansprüche des österreichischen Erzherzogs, des Habsburgers Ferdinand (1503–1564), auf den ungarischen Thron abzuwehren.715 Ähnlich verhält es sich, wenn man diesbezüglich den erwähnten Text Luthers heranzieht. Gewiss besteht kein Zweifel darin, dass sich an dieser Stelle eine klare Selbstpositionierung des Reformators als Vertreter der »Christenheit«716 finden lässt; indes wird der Antagonismus, der diese Positionierung nach der Theorie Laclaus diskursiv konstituiert und fixiert, nicht in der Weise konstruiert, wie man es im Sinne der populären Interpretation erwarten könnte: dass nämlich die Osmanen als Repräsentanten einer dem Christentum diametral gegenüberstehenden Größe, des Islams, verstanden werden. Vielmehr ist ›der Turck‹ für Luther zunächst nicht mehr als ein gewöhnlicher Räuber: »Denn er streit nicht aus not odder sein Land im fride zu schutzen, […] sondern er sücht ander land zu rauben und zu beschedigen, die ihm doch nichts thun oder gethan haben, wie ein meer reuber oder strassen reuber.«717 Gewiss verliert der Reformator nicht wenige Worte über den in seinen Augen irrigen Glauben der Anhänger von »Mahometes Alkoran«718: »[D]ie Türcken [halten] viel höher und grösser von ihrem Mahomet denn von Christo […]. Daraus kan nu ein iglicher wol mercken, das der Mahometh ein verstörer ist unsers herrn Christi und seines reichs.«719 Allerdings dienen diese Ausführungen nur der Illustration jenes Antagonismus, der für Luther den eigentlichen Ort seiner Selbstzuschreibung als Christ bildet: der zwischen dem Reich Gottes und dem des Teufels. Die von ihm formulierten Äquivalenzen weisen dem ersten Bereich dabei keineswegs (wie man erwarten könnte) ›das Christentum‹ als Re715 Vgl. Bertrand Michael Buchmann: Österreich und das Osmanische Reich. Eine bilaterale Geschichte. Wien: Wiener Universitätsverlag 1999, S. 68–92. 716 Martin Luther: Vom Kriege wider die Türken. In: WA 30/II, S. 107–148, hier S. 126. 717 Ebd., S. 116. 718 Ebd., S. 121. 719 Ebd., S. 122.

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ligion Europas zu, während der zweite mit den einstürmenden Muslimen identifiziert würde. Denn letztere »faren [eben]so daher auff solchen heiligen werken, wie unser Münche eines teils und hoffen das ewige leben am Jüngsten tage. Denn sie gleuben dennoch die aufferstehung der todten, das heilig volck, welchs doch wenig Bapisten gleuben. […] Aber wie der Bapst der Endechrist, so ist der Türck der leibhafftige Teuffel. Widder alle beide gehet unser und der Christenheit gebet.«720

Der Antagonismus besteht also in der Positionierung der »frumen Christliche[n]«721 auf der einen Seite und des Arms des Teufels auf der anderen, zu der für Luther die Türken als »feinde Christi«722 ebenso gehören wie die Papstkirche723. Begibt man sich auf die Suche nach Ausdrücken in Luthers Schrift, die als leere Signifikanten die oben skizzierten Äquivalentsetzungen stützen, so stößt man recht bald auf einen Terminus, der am ehesten dazu geeignet ist, in eben dieser Funktion gelesen zu werden, auch wenn Luther ihn insgesamt recht uneinheitlich verwendet: Glaube. So spricht er von den »recht gleubigen«724 auf der einen Seite und den »schülern des türckisschen glaubens«725 auf der anderen, welcher »zu samen geflickt [ist] aus der Juden, Christen und Heiden glauben«726; ebenso ist von »ungleubigen und unchristen«727 die Rede, die Luther mit »dem Bapst, Bisschoffen und geistlichen«728 identifiziert. Die (auf den ersten Blick naheliegende) Gleichsetzung von Luthers Glaube mit dem heutigen Religionsbegriff ist dabei meines Erachtens aus mehreren Gründen problematisch. Denn zum einen handelt es sich dabei für den Reformator in erster Linie um eine theologischdogmatische Kategorie, die weder dazu dient, eine historische Größe zu bezeichnen, noch eine zusammenhängende gesellschaftliche Gruppe (etwa im Sinne eines mit einem soziologischen Religionsbegriff zu vergleichenden Verständnisses) – ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die heute als Religionen identifizierten Größen bestenfalls bezüglich des Judentums deckungsgleich sind mit den verschiedenen, von Luther ausgemachten ›Glaubensrichtungen‹. Vielmehr markiert (Un-)Glaube für den Reformator die beiden Sphären Gottes bzw. des Teufels, die zeitlos (im Sinne einer göttlichen Ordnung) und damit nicht an politische Strukturen gebunden sind: 720 721 722 723 724 725 726 727 728

Ebd., S. 123–126. Ebd., S. 123. Ebd. An anderer Stelle zählt er etwa auch Thomas Müntzer dazu. Ebd., S. 124. Ebd., S. 122. Ebd. Ebd. S. 131. Ebd.

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»Es sind unter uns Türcken, Juden, Heiden, unchristen alzu viel, beide mit offentlicher falscher lere und mit ergerlichem schendlichem leben. Las den Turcken gleuben und leben wie er wil, gleich wie man das Bapstum und ander falsche Christen leben lest. Des Keisers schwerd hat nichts zuschaffen mit dem glauben, Es gehört inn leibliche, weltliche sachen, Auff das nicht Gott auff uns zornig werde, so wir seine ordnung verkeren und verwirren […].«729

Zum anderen gibt es für Luther keinen Nicht-Glauben in dem Sinne, dass für ihn ein (gleichsam säkularer) Bereich denkbar wäre, der nicht einer der beiden Sphären Gottes oder des Teufels zuzuordnen wäre. Denn auch wenn der Kaiser von Amts wegen mit dem Glauben nichts zu schaffen hat, so handelt er dennoch in Gottes Auftrag, indem er und seine Fürsten »ihre unterthanen zu schützen von Gott befehl haben und schuldig sind«730 – ganz zu schweigen davon, dass »Gott gebe sie weren Christen fur sich selbs«731.

3.3. Fazit: Was ist Religion? Da ich die Frage, worum es sich nach meinem Verständnis bei Religion handelt, bereits zu Beginn des vorliegenden Kapitels ausführlich behandelt habe, sollen hier einige zusammenfassende Bemerkungen genügen. Zunächst wurde die populäre Sichtweise abgelehnt, dass es sich bei Religion um eine ontologische Kategorie im Sinne von ›etwas da draußen‹ handelte, das sich – da es ja schlichtweg ›existiere‹ – substantiell eindeutig bestimmen ließe. Ausgehend von der Beobachtung, dass es sich bei Religion nichtsdestotrotz um ein zentrales Konzept heutiger gesellschaftlicher Diskurse handelt, welches in diesem Kontext ›quasi-natürlichen‹, also ontologischen Status erlangt hat, wurde Religion zum einen als sedimentierter Name im Sinne der butler’schen Theorie konzeptionalisiert: Damit ist gemeint, dass die permanente, zitatförmige Wiederholung des Signifikanten in den sozialen und politischen Aushandlungsprozessen der Gegenwart die ›Ablagerung‹ und Verschleierung der diskursiven Konstitution von Religion bedingt hat – ein Prozess, der dem Konzept Religion den Anschein von zeitloser und objektiver Gültigkeit zugewiesen hat. Zweitens wurde Religion als leerer Signifikant im Sinne der politischen Theorie Ernesto Laclaus verstanden. Leitend war dabei die Idee, dass Religion nicht deshalb als diskursiver Gegenstand zu einem bestimmten Zeitpunkt fixiert (also sozusagen ›existent‹) ist, weil der entsprechende Signifikant durch ein substantiell bestimmbares, zu diesem Zeitpunkt allgemein anerkanntes Signifi729 Ebd. 730 Ebd. 731 Ebd.

Fazit: Was ist Religion?

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kat gestützt würde. Vielmehr wurde die These aufgestellt, dass die Fixierung von Religion eine rein formale Operation ist, die mithilfe einer Unterbrechung des ›Spiels der Differenzen‹ im Diskurs zu einem antagonistischen Ausschluss, einer ›Dämonisierung‹ dessen führt, was nicht Religion ist. Im Zuge dieses Ausschlusses werden formale Äquivalenzketten der gegenüber gesetzten Signifikanten ausgebildet, die den Status einer gemeinsamen Identität konstituieren. Als Konsequenz dieses Religionsverständnisses für die geschichtliche Erforschung von Religion wurde die Folgerung gezogen, dass sich die historiographische Analyse in erster Linie an den Äquivalentsetzungen orientieren muss, die in Folge des (in einem bestimmten Kontext nachzuweisenden) antagonistischen Ausschlusses aufscheinen. Die Identität von Religion als historischem Gegenstand wäre nur dann gegeben, wenn sich eine weitgehende Ähnlichkeit der Äquivalenzketten nachweisen ließe, die zu verschiedenen, historisch verknüpften Zeiträumen ausgebildet werden. Die Bestimmung eines historischen Gegenstands Religion wäre dabei zum einen von inhaltlichen Kriterien entkoppelt, da diese stets nur als das prekäre, sekundäre Produkt jener historischen Aushandlungsprozesse greifbar werden, die Religion verhandeln. Zum anderen hinge die Bestimmung von Religion nicht länger an der materiellen Zeichenfolge »Religion«, weil der leere Signifikant Religion prinzipiell auch durch andere Zeichenfolgen ausgedrückt werden kann. Denn wie gesagt ist es allein die Performanz der formalen Operation des diskursiven Ausschlusses, die für die Bestimmung eines diskursiven Gegenstands im Sinne der laclau’schen Theorie konstitutiv ist. Im Rahmen einer nach diesen Maßgaben durchgeführten historiographischen Untersuchung konnte argumentiert werden, dass es sich bei dem heutigen Konzept von Religion im Kern um ein Produkt globaler Diskurse aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts handelt. Als zentrale Orte hatten sich dabei der (spätestens bis 1900 sedimentierte) Antagonismus zwischen (Natur-)Wissenschaft und Religion erwiesen, der zur weltweiten Rezeption des innerlichen Religionsverständnisses der Romantik geführt hatte – eine Entwicklung, welche die bis heute allgemein akzeptierten gesellschaftlichen Bereiche des Religiösen und Säkularen maßgeblich mitkonstituiert hat; zum anderen die im Kontext dieses Prozesses erfolgende Äquivalentsetzung verschiedener Religionen im Rahmen einer universalen Religionsgeschichte, die nicht nur dazu geführt hat, dass sich Religion im heutigen Sinn am Ende des 19. Jahrhunderts in den meisten Kontexten der Welt konzeptuell etabliert hatte, sondern auch dazu, dass sich verschiedene, nun religiöse Traditionen maßgeblich am universalhistorischen Narrativ orientierten und als ›Weltreligionen‹ globalisierten, darunter nicht nur Hinduismus und Buddhismus, sondern ebenso der Islam – und freilich auch das Christentum732. 732 Vgl. ausführlicher: Suarsana: Religionizing Christianity, hier S. 269–280.

4.

Exkurs: Theologie oder Religionswissenschaft? Zum disziplinären Ort

Vor dem Hintergrund der Neuordnung der universitären Disziplinen, die sich im Rahmen des Aufkommens der Naturwissenschaften ab der Mitte des 19. Jahrhunderts vollzog, ist die disziplinäre ›Abspaltung‹ der Religionswissenschaft von der Theologie sicherlich eine der (nach außen hin) weniger spektakulären Entwicklungen.733 Aus religionswissenschaftlicher Sicht galt der Kongress der International Association for the History of the Religions, der 1960 in Marburg stattfand, vielen Vertreterinnen und Vertretern des Fachs lange als eine wichtige inhaltliche Festschreibung der disziplinären Trennung zwischen Religionswissenschaft und Theologie. Dieser wurde dabei als ein »Wendepunkt«734 im »Prozess der Selbstvergewisserung und […] Abgrenzung gegenüber der Theologie«735 interpretiert – eine Entwicklung, die seit der Einrichtung der ersten religionswissenschaftlichen Lehrstühle an europäischen und US-amerikanischen Universitäten ab 1873 heftig debattiert worden war (und gewiss auch bis heute nicht zum Stillstand gekommen ist). »Seither besteht unter den meisten Fachvertretern ein weitgehender Konsens darüber, dass es in der Religionswissenschaft ›um überprüfbare religiöse Vorgänge, Haltungen und Systeme, um das Verstehen der Gläubigen der verschiedenen Religionen ihrem Selbstverständnis gemäß‹ geht, ›nicht aber um Gültiges‹«736 wie in der Theologie. Dieser konzeptuellen Aufteilung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Religion entspringt auch die noch immer vielgehörte Aussage, dass die Theologie mit der Rede von Gott befasst sei, während er in der Religionswissenschaft nur im Zitat erscheine. Gewiss sind die bis heute andauernden Debatten um die disziplinäre Abgrenzung auch dem zuweilen recht prekären institutionellen Status der Reli733 Ähnliches gilt vermutlich auch für die Konsolidierung und Neuausrichtung der Philosophie als moderner akademischer Disziplin in Abgrenzung zu den neuen Natur- und Gesellschaftswissenschaften sowie zur Theologie. 734 Hock: Einführung in die Religionswissenschaft, S. 165. 735 Ebd. 736 Ebd.

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Exkurs: Theologie oder Religionswissenschaft? Zum disziplinären Ort

gionswissenschaft geschuldet, die seit Adolf von Harnacks symptomatischer Rektoratsrede im Jahre 1901 besonders in Deutschland für Jahrzehnte den vereinnahmenden Zugriffen der Theologie ausgesetzt gewesen ist. Lässt man diese politische Dimension jedoch außer Acht, so stellt sich trotz allem die Frage nach der theoretischen Belastbarkeit dieser Grenzziehung, die hier – dem allgemeinen Duktus des Buches entsprechend – aus einer poststrukturalistischen Perspektive beleuchtet werden soll. In der Religionswissenschaft wird eine entsprechende Debatte seit mehr als zwei Jahrzehnten ausgiebig geführt und hat sich inzwischen u. a. unter dem Terminus Critical Religion etabliert.737 Einflussreich war hier zunächst etwa Russell T. McCutcheons – unter Rückgriff auf Theoretiker wie Foucault, de Certeau oder Said – formulierte These, dass es sich bei der »allgemeinen Annahme, dass Religion als solche, insbesondere die persönliche religiöse Erfahrung, ein einzigartiger und sozialgeschichtlich autonomer Gegenstand sui generis sei, selbst um eine akademische Repräsentation handelt, die im Rahmen einer recht spezifischen Ansammlung diskursiver Praktiken operiert und diese gleichzeitig kontinuierlich stützt – ebenso wie die Institutionen, die diese Diskurse artikulieren und reproduzieren«738.

Erst die Institutionalisierung dieser Diskurse um Religion als ein Gegenstand sui generis habe zur »Notwendigkeit ausgeprägter oder einzigartiger Methoden für die Interpretation der religiösen Daten sowie zu Rufen nach der institutionellen Unabhängigkeit der akademischen Erforschung der Religion geführt«739 – ein Prozess, der »Variation, Geschichte und den soziopolitischen Kontext zugunsten abstrakter Essenzen und Homogenität«740 vernachlässigt habe. In ähnlicher Form hat auch Timothy Fitzgerald diese im wesentlichen als Kritik an phänomenologischen und essentialistischen Zugängen positionierte741 Argumentation weitergeführt. In seinem einflussreichen Buch The Ideology of Religious Studies (2000) formulierte er die These, dass die Annahme von Religion 737 Vgl. z. B. https://criticalreligion.org (Zugriff am 18. Januar 2021). 738 »[…] the common assertion that religion per se or private religious experience in particular, is sui generis, unique, and sociohistorically autonomous, is itself a scholarly representation that operates within, and assists in maintaining, a very specific set of discursive practices along with the institutions in which these discourses are articulated and reproduced.« Russell T. McCutcheon: Manufacturing Religion. The Discourse on Sui Generis Religion and the Politics of Nostalgia. Oxford/New York: Oxford University Press 1997, S. 3. 739 »[…] need for distinct or unique methods for the interpretation of religious data and scholarly calls for the institutional autonomy of the scholarly study of religion.« Ebd. 740 »[…] deemphasizes difference, history, and sociopolitical context in favor of abstract essences and homogeneity.« Ebd. 741 Vgl. auch Richard King: The Copernican Turn in the Study of Religion. In: Richard King (Hrsg.): Religion, Theory, Critique. Classic and Contemporary Approaches and Methodologies. New York: Columbia University Press 2017, S. 1–22, hier S. 2f.

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als »einem universellen Phänomen, das im Prinzip in allen Kulturen und jeglicher menschlicher Erfahrung vorhanden ist«742, nicht ohne theologische Implikationen geäußert werden könne. Zwar sei der gegenwärtige Diskurs zweifellos von Religion im Sinne einer »authentischen kulturübergreifenden Kategorie«743 geprägt; doch tatsächlich handele es sich bei dieser Kategorie um das Ergebnis eines »historischen Prozesses«744, an dessen Beginn »verschiedene Autoren, beispielsweise die Vertreter des Deismus, seit dem 18. Jahrhundert in selbstbewusster Weise versucht haben, die Bedeutung von Religion zu transformieren, sich besonders ihrer christlichen Elemente zu entledigen und sie zu einer kulturübergreifenden Kategorie zu erweitern.«745

Mit diesem historischen Verständnis kritisiert Fitzgerald explizit solche Fachvertreterinnen und -vertreter, die zwar die Position beziehen, dass es sich bei der Religionswissenschaft explizit um eine säkulare Wissenschaft (und damit nicht um eine Form der Theologie) handele, gleichzeitig aber das Fach nicht auf eine rein sozial- oder kulturwissenschaftliche Disziplin beschränken wollten746: Denn diese betrieben in Wahrheit nur das Geschäft einer unzureichend bemäntelten »ökumenischen liberalen Theologie«747: »In diesem Zusammenhang wird ein im Kern theologisches Unterfangen in das Gewand einer wissenschaftlichen Analyse von Gegenständen gepackt, die in der Welt vorkommen – Gegenstände, die mal als Religionen, religiöse Systeme, Glaubensgemeinschaften etc. betitelt werden. […] Manchmal werden diese Gegenstände auch als Organismen oder als Saat dargestellt, die gepflanzt und verpflanzt werden kann […]. Der Grund für die Fähigkeit, in verschiedenen [kulturellen] Böden Wurzeln zu schlagen, liegt darin, dass diese Art der Theorie glaubt, dass alle Menschen die natürliche Fähigkeit besitzen, sich das Unendliche vorzustellen, und dass es sich bei ›den Religionen‹ um besondere Formen oder Ausdrucksweisen handelt, durch welche diese Kognitionen oder besonderen Gefühle handfesten Ausdruck finden. Dieses Motiv geht von Max Müller aus – und vor ihm vielleicht von Friedrich Schleiermacher.«748 742 »[…] a universal phenomenon to be found in principle in all cultures and all human experience.« Timothy Fitzgerald: The Ideology of Religious Studies. New York/Oxford: Oxford University Press 2000, S. 3. 743 »[…] genuine crosscultural category.« Ebd., S. 4. 744 »[…] historical process […].« Ebd., S. 5. 745 »[…] various writers such as the deists since at least the eighteenth century have selfconsciously attempted to transform the meaning of religion, reduce its specifically Christian elements, and extend it as a crosscultural category.« Ebd. 746 Vgl. ebd., S. 7. 747 »[…] ecumenical liberal theology […].« Ebd. 748 »In this context, an essentially theological enterprise has been repackaged as an academic analysis of things that can be found in the world, objects called variously religions, religious systems, faith communities, and so on. […] Sometimes they are imagined to be organisms or seeds that can be planted and replanted […]. The reason they can take root in these different soils is that all humans everywhere are believed on this kind of theory to have a natural

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Diese Kritik bettet Fitzgerald an anderer Stelle749 in das prominent etwa von Tal Asad vorgebrachte Argument ein, dass es sich auch bei dem Konzept der Säkularität, das der oben genannten wissenschaftlichen Religionsforschung dennoch erklärtermaßen zugrunde liege, tatsächlich um die historische Kehrseite von Religion handele – und die Unterscheidung zwischen beiden Größen damit ein und demselben historischen Diskurs entstamme. In diesem Zusammenhang hat auch Richard King angemerkt, dass solche »säkularistischen Herangehensweisen an Religion daher in der konstitutiven Präsenz dessen verhaftet sind, woran sie nicht teilhaben dürfen (ganz offensichtlich ›das Religiöse‹). Dieser Umstand konstituiert in gewissem Sinne eine unterdrückte disziplinäre Erinnerung an ihre eigene Zwillingsgeburt und wechselseitige Abhängigkeit [von Religion].«750

Bezieht man diese Beobachtungen nun auf die 1960 auf dem IAHR-Kongress in Marburg prototypisch gezogene Linie zwischen den beiden Disziplinen der Religionswissenschaft und der Theologie, so lässt sich ebenfalls argumentieren, dass diese recht genau an dem weiter oben skizzierten Antagonismus orientiert ist, der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen den Bereichen Religion und Wissenschaft/Säkularität herausgebildet hatte. Während die Theologie also dem ersten Bereich zugeordnet wird, deren Aussagen nur aufgrund einer a priori aus der Religion hergeleiteten Normativität (im Wortsinne ›übernatürliche‹) Gültigkeit erhalten, so begründet die Religionswissenschaft die Validität ihrer Aussagen mit Hilfe der empirischen Methoden historischer und sozialwissenschaftlicher Forschung im Rahmen des säkularen, (natur-)wissenschaftlichen Universums. Wie schon die Critical Religion-Debatte gezeigt hat, verblasst der fundamentale Anschein dieser Differenzierung, wenn man sie mit den bisher angestellten Überlegungen in diesem Buch konfrontiert: (1) Erstens legt die Historisierung des Religionsbegriffs, wie sie im letzten Kapitel vorgenommen wurde, nahe, dass der durch die ›klassische‹ disziplinäre Grenzziehung konstituierte Antagonismus zwischen Religion und Säkularität

faculty for cognizing the Infinite, and ›the religions‹ are particular forms or expressions by which these cognitions or special feelings are given tangible expression. This theme runs from Max Mueller and perhaps before him from Friedrich Schleiermacher.« Ebd. (Hervorhebung durch mich). 749 Vgl. z. B. Timothy Fitzgerald: Encompassing Religion, Privatized Religions and the Invention of Modern Politics. In: Timothy Fitzgerald (Hrsg.): Religion and the Secular. Historical and Colonial Formations. New York: Routledge 2007, S. 211–240. 750 »Secularist accounts of religion, therefore, remain dogged by the constitutive presence of that which they dare not partake – most obviously ›the religious,‹ which in that sense constitutes a repressed disciplinary memory of their twin birth and mutual dependence.« King: The Copernican Turn in the Study of Religion, S. 12.

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ausgerechnet durch den zentralen Gegenstand beider Wissenschaften, die Religion, durchkreuzt wird. So hatte sich ja einerseits ergeben, dass die Herausbildung des heutigen Religionsbegriffs maßgeblich durch die Einordnung von Religion in den Kontext einer universalen (Religions-)Geschichte charakterisiert war – ein Prozess, der nicht nur von frühen Religionswissenschaftlern wie dem von Fitzgerald genannten Friedrich Max Müller (1823–1900), sondern vor allem auch von führenden Vertretern der Theologie des späten 19. Jahrhunderts (etwa im Rahmen der Religionsgeschichtlichen Schule) vorangetrieben worden war, und der die inhaltliche Ausrichtung der modernen Theologie (vor allem im Bereich der historischen, exegetischen und missionswissenschaftlichen Fächer) entscheidend mitgeprägt hat. Indes zeigt sich nicht nur an der Etablierung dieses ›säkularen‹ historischen Religionsverständnisses, dass der Gegensatz zwischen Religion und Säkularität auch über die Gründerjahre der Religionswissenschaft hinaus quer durch die verschiedenen Disziplinen verlief. Denn umgekehrt vertraten eben auch viele Religionswissenschaftlerinnen und Religionswissenschaftler bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein ein innerliches Verständnis des Religiösen, welches ja auch in der liberalen Theologie zentralen Stellenwert eingenommen hatte – ein Umstand, der sicherlich auch der theologischen Herkunft zahlreicher früher Fachvertreter geschuldet sein dürfte. So entwickelte etwa der in England wirkende Indologe Max Müller, der im Allgemeinen als Begründer der Religionswissenschaft gilt, ab etwa 1880 ein dezidiert innerliches Religionsverständnis. Auslöser für diese Entwicklung war offensichtlich seine Übersetzung von Kants Kritik der Reinen Vernunft ins Englische, deren Epistemologie er als eine theoretische Möglichkeit der »Verbindung zwischen ›Materialismus‹ und ›Spiritualismus‹«751 ansah. Müller hatte die im letzten Kapitel skizzierten Debatten um Religion und Wissenschaft in Deutschland genau verfolgt und in der Folgezeit zu einem Konzept gefunden, welches der religiösen Erfahrung einen eigenen Ort »in der Sphäre des Spirituellen«752 zuwies. Vor diesem Hintergrund kann Müller als ein »schönes Beispiel [für die] Verkörperung des fließenden Übergangs zwischen theologischen, philologischen und historischen Religionsdefinitionen dieser Zeit«753 dienen. Großen Einfluss erlangte in der Folgezeit auch ein ähnliches Konzept von Religion, wie es zunächst Nathan Söderblom (1866–1931), vor allem aber Rudolf Otto (1869–1937) vertrat: In seinem Werk Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (1917) stellte dieser die These auf, 751 »[…] link between ›materialism‹ and ›spiritualism‹«. Bergunder: »Religion« and »Science« within a Global Religious History, S. 103. 752 »[…] in the realm of the spiritual.« Ebd., S. 104. 753 »[…] fine example because he embodies the fluid transition between theological, philological and historical definitions of religion at the time.« Ebd., S. 103.

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»dass mit dem ›Göttlichen‹ ein Erfahrungsbereich gegeben ist, der zwar häufig mit ›rationalen Prädikaten‹ beschrieben wird, tatsächlich jedoch jenseits des Rationalen steht (ohne allerdings ›antirational‹ zu sein). […] Um sich dem ›Irrationalen‹ der Gottheit bzw. des transzendenten Anderen nähern zu können, präzisiert Otto seine Begrifflichkeit weiter. Das Heilige abzüglich der Elemente des Ethischen und des Rationalen nennt der das Numinose: Es kann nicht rational begriffen, sondern nur ›erlebt‹ werden im ›Gefühl der Kreatur […]‹ – ein Gedanke, der sich, wenngleich in völlig anderer Terminologie, bereits bei Schleiermacher findet […].«754

Ottos innerliches Religionskonzept ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prominent etwa durch den bedeutenden rumänischen Religionswissenschaftler Mircea Eliade (1907–1986) aufgenommen worden, der diesem Ansatz auch weit über (religions-)wissenschaftliche Kreise hinaus, etwa in der New Age-Bewegung, große Popularität bescherte.755 (2) Gewichtiger noch als die disziplinübergreifenden Konzeptionen von Religion scheint mir die ontologische Verwandtschaft von Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften mit dem Wirklichkeitsmodell der klassischen Theologie zu sein, wie ich sie in den Kapiteln zum Wahrheits- und Universalitätsbegriff herausgestellt habe. Hier war ja argumentiert worden, dass die Grundlage für das neue Wissenschaftsverständnis im 19. Jahrhundert auf das Konzept eines mechanistischen, materialistischen Universums zurückgeführt werden kann, welches im Kern auf dem metaphysischen Weltmodell Isaac Newtons basierte. Dieser hatte die ontologische Struktur des (christlichen) Neuplatonismus weitgehend beibehalten, an die Stelle des Göttlichen allerdings Zeit und Raum als selbstständige Grundprinzipien gesetzt, die er selbst zwar noch von Gott herleitete, die jedoch der Notwendigkeit Gottes grundsätzlich entbehrten. Die Neukonstituierung des wissenschaftlichen Systems im 19. Jahrhunderts führte schließlich dazu, dass die newton’sche Metaphysik zunächst von den Naturwissenschaften und später auch von den Sozial- und Geschichtswissenschaften (und zum Teil auch von der Theologie) aufgenommen wurde, die ihre methodischen und konzeptuellen Grundlagen im Kontext dieses ›säkularisierten‹ Universums begründeten. Folgt man dieser These, dann kann auch der im 19. Jahrhundert etablierte Antagonismus zwischen Religion und Wissenschaft bzw. Säkularität nicht darüber hinwegtäuschen, dass die metaphysischen Grundlagen der neuen materialistischen Weltsicht den neuplatonischen Modellen der christlichen Theologie der Vergangenheit strukturell sehr ähnlich waren: Die Universalität göttlicher Ideen wich der Universalität der Gesetze in Natur und Gesellschaft, welche die materielle, beobachtbare Welt strukturierten. Diese substantielle ›Verwandtschaft‹ betrifft freilich auch die im Rahmen der 754 Hock: Einführung in die Religionswissenschaft, S. 62f. 755 Vgl. ebd., S. 66f.

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Frontstellung zwischen Religion und Wissenschaft/Säkularität verorteten Disziplinen von Theologie und Religionswissenschaft. Denn während erstere ihre Legitimität in der Regel aus einem transzendenten, dem Neuplatonismus entstammenden, universalen Gotteskonzept ableitet, so sind auch die universalen historischen und sozialwissenschaftlichen Konzepte und Strukturen der ›klassischen‹ Religionswissenschaft im vergleichbaren Maße ›transzendent‹ – und zwar insofern, als beide im Kontext eines neuplatonisch fundierten Wirklichkeitsverständnisses verankert sind. In diesen Zusammenhang lässt sich auch die oben skizzierte methodische Differenzierung einordnen, welche der Religionswissenschaft die Überprüfbarkeit ihrer Aussagen über die von ihr erforschte Wirklichkeit zubilligt, während die Gültigkeit theologischer Aussagen durch die göttliche Offenbarung a priori (und empirisch nicht überprüfbar) begründet sei. Denn trotz dieser Unterscheidung liegt beiden Zugängen die (im weitesten Sinne neuplatonische) Idee zugrunde, dass eine (religiöse) Wirklichkeit gleichwohl existiert – und zwar in der Form, dass diese Wirklichkeit im Sinne einer äußeren Wahrheit (sei sie nun göttlich oder nicht) wissenschaftsmethodisch prinzipiell eingefangen und in ihren Grundstrukturen repräsentiert werden kann. Vor diesem Hintergrund kann die etwa in Marburg vorgenommene Identifikation der beiden Fächer mit den verschiedenen Sphären von Religion und Säkularität als eine antagonistische Zuschreibung im laclau’schen Sinne gedeutet werden, die sich nicht so sehr auf inhaltliche, substantielle Kriterien zurückführen lässt, sondern vielmehr auf politische Aushandlungsprozesse, in deren Rahmen die disziplinären Identitäten mithilfe des leeren Signifikanten Religion fixiert werden. (3) Liest man zumindest die älteren Debatten um die Grenzziehung zwischen Religionswissenschaft und Theologie vor dem Hintergrund des im 19. Jahrhundert etablierten Antagonismus, so lässt sich die Entstehung der Religionswissenschaft freilich nicht länger als bloße ›Abspaltung‹ einer neuen, dem Universum der Sozial- und Geschichtswissenschaften zuzuordnenden, Disziplin deuten. Vielmehr legen die oben angestellten Überlegungen zur Herausbildung des modernen Religionsbegriffs in dieser Zeit nahe, dass auch die heutige Theologie als ein Produkt jener Diskurse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts interpretiert werden kann, und zwar insofern, als die Theologie nicht nur ihren disziplinären Ort, sondern auch ihre zentralen inhaltlichen Konzepte im intensiven Austausch mit den neuen ›Wissenschaften‹ einer grundlegenden Neujustierung unterzogen hat – ein Prozess, der zeitgleich die konzeptuelle und institutionelle Herausbildung der Religionswissenschaft bedingt hat. Einfach gesprochen: Wie die Religionswissenschaft wäre auch die Theologie (im Sinne der heutigen wissenschaftlichen Disziplin) erst im 19. Jahrhundert entstanden, weil beide als verschiedene Produkte ein und desselben Diskurses um Religion angesehen werden können.

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Was aber sind nun die Folgen dieser Erkenntnis bezüglich des disziplinären Ortes des Nachdenkens über Gott bzw. das Göttliche? Zunächst legt die Historisierung und Dekonstruktion einer substantiellen Grenzziehung zwischen Theologie und Religionswissenschaft nahe, dass die oben erwähnte statische Zuordnung der Rede von Gott an die Theologie und der Anspruch auf eine nur indirekte, ›zitathafte‹ Bezugnahme auf dieses Konzept in der Religionwissenschaft ebenso hinfällig sind wie die inhaltliche und methodische Festschreibung der beiden Disziplinen entlang der Differenzsetzung zwischen Religion und Säkularität. Zieht man daraus die Konsequenz, dass das Nachdenken über Gott in beiden (heute im Sinne dieser Grenzziehung institutionalisierten) Wissenschaften in gleicher Weise seinen Platz hat, so muss man konsequenterweise aber auch die Art und Weise dieser Reflexion einer grundlegenden Revision unterziehen: Diese sollte sich eben nicht länger an der klassischen (konzeptuellen und methodischen) ›Arbeitsteilung‹ orientieren, die sich im Rahmen der Aushandlungsprozesse um die Grenzziehung zwischen Religionwissenschaft und Theologie etabliert hat; das gemeinsame Nachdenken über Gott in beiden Disziplinen sollte vielmehr im Kontext jenes Ansatzes vollzogen werden, mit dessen Hilfe die Grenze zwischen den Disziplinen gerade dekonstruiert worden ist, und zwar unter Anwendung der Konzepte und Verfahrensweisen der poststrukturalistischen Theorie.756 Es ist klar, dass eine solche Neujustierung des Nachdenkens (und freilich Redens) über Gott die disziplinäre Grenze zwischen Religionswissenschaft und Theologie auf eine rein formale Ebene reduzieren würde – eben in der Gestalt, wie sie sich vor dem Hintergrund der historischen Aushandlungsprozesse institutionell etabliert haben. Im Hinblick auf ihren zentralen Forschungsgegenstand und ihre Methodik zöge die Anwendung eines durch die poststrukturalistische Theorie inspirierten Ansatzes in beiden Disziplinen eine substantielle ›Verschmelzung‹ derselben nach sich, deren Ergebnis in einer ›anderen‹ Art von Religionswissenschaft bestehen würde – und zwar im Sinne einer allgemeinen Wissenschaft von der Religion, die dieses Konzept (und ihm zugeordnete weitere Kategorien wie Gott oder Schrift/Offenbarung) wie oben dargestellt als Produkt diskursiver Aushandlungsprozesse begreift und diese Erkenntnis in ihren weitergehenden Forschungen konsequent zur Anwendung bringt. Diese Forschungen erschöpfen sich freilich nicht allein in historiographisch oder kultur-/sozialwissenschaftlich ausgerichteten Studien, wie sie in der herkömmlichen Religionswissenschaft betrieben werden; ebenso können klassisch-theologische 756 Diesem Anliegen kommt auch die seit einiger Zeit geführte Debatte um eine kulturwissenschaftliche Prägung der Interkulturellen Theologie entgegen. Vgl. Claudia Jahnel: Interkulturelle Theologie und Kulturwissenschaft. Untersucht am Beispiel afrikanischer Theologie. Stuttgart: Kohlhammer 2016, hier besonders S. 307–311.

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Fragestellungen und Herangehensweisen wie Gotteslehre, Christologie, Bibelexegese etc. den Fokus der ›religionswissenschaftlichen‹ Analyse bilden – Themen, die sich (aufgrund des poststrukturalistischen Theoriekontextes, in dem sie erörtert werden) ja weder konzeptuell noch methodisch von den eher als ›klassisch-religionswissenschaftlich‹ zu bezeichnenden Forschungsfeldern unterscheiden. Während ich in den bisherigen Kapiteln dieses Buches vor allem Fragestellungen der herkömmlichen Religionswissenschaft abgehandelt habe, soll es im Folgenden um eine poststrukturalistisch motivierte Reflexion solcher Themen gehen, die nach einschlägigem Verständnis in den Bereich der (Religions-) Theologie gehören. Mit den folgenden Ausführungen hoffe ich zeigen zu können, dass diese Aufteilung im Rahmen eines religionswissenschaftlichen Ansatzes im oben skizzierten Sinne ihrer Gültigkeit weitgehend verlustig geht.

5.

Der ›eine Gott‹ der Religionstheologie

Zweifellos handelt es sich bei der Frage nach der Natur der göttlichen Wirklichkeit um das zentrale Thema, wenn es um die Verhältnisbestimmung zwischen den verschiedenen Religionen im Rahmen der Religionstheologie geht. Denn schließlich bildet die Frage, ob die zur eigenen Religion ins Verhältnis gesetzten Glaubenstraditionen sich auf dieselbe Größe berufen können oder nicht, in der Regel den Ausgangspunkt der Reflexion und lässt sich in dieser Form auch im Kontext der verschiedenen religionstheologischen Modelle verorten. So lassen etwa Positionen, die dem pluralistischen Modell zugeordnet werden können, keinen Zweifel daran, dass die verschiedenen Religionen alle von demselben göttlichen ›Einen‹ sprechen. Am deutlichsten äußert sich dies gewiss bei John Hick, der mithilfe seines oben charakterisierten Konzepts des »Ewig Einen« die verschiedenen, von ihm als solche identifizierten, Gottesideen abstrahiert und als den Ursprung der kontextuellen Manifestation des einen Gottes in den historischen Religionen versteht. Auch klassische inklusivistische Ansätze wie der Karl Rahners gehen von der These aus, dass sich der ›eine Gott‹ mehr oder weniger in allen verfassten Religionen äußert, dass jedoch nur das (katholische) Christentum in der Lage ist, eine vollumfänglich zum Heil führende Gottesbeziehung zu ermöglichen. Demgegenüber vertreten Theologien, die eher im Spektrum des exklusivistischen Modells anzusiedeln sind, den Standpunkt, dass allein die eigene Tradition in der Lage ist, die göttliche Wirklichkeit zu repräsentieren, sodass die Rede von Gott, wie sie in anderen Religionen erfolgt, zwangsläufig zu einem falschen Verständnis des Göttlichen führen muss, was schließlich in der Schlussfolgerung mündet, dass es sich bei der göttlichen Wirklichkeit, die in diesen Religionen verehrt wird, nicht um dieselbe handeln kann wie die eigene. Als Beispiel lässt sich hier die oben angeführte EKD-Schrift Klarheit und gute Nachbarschaft heranziehen, die aus theologischen Lehrsätzen wie der Trinität oder der christlichen Heilslehre die prinzipielle Nicht-Identität des christlichen Gottes mit dem Gott der Muslime ableitet.757 757 Vgl. Rat der EKD (Hrsg.): Klarheit und gute Nachbarschaft, S. 18f. Dass die Grenzen zum

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Der ›eine Gott‹ der Religionstheologie

Auch wenn die unterschiedliche Beantwortung der Frage, ob alle Religionen von derselben Gottheit oder göttlichen Realität reden, den Eindruck einer fundamentalen Differenz der verschiedenen Konzeptionierungen dieser Wirklichkeit erweckt, die den verschiedenen religionstheologischen Positionen zugrunde liegen, so relativiert sich diese Sichtweise nicht erst im Hinblick auf den historisierenden Ansatz der vorliegenden Arbeit. Denn auch wenn etwa exklusivistische Theologien die Idee des Göttlichen in anderen Religionen für Repräsentationen eines ›falschen Gottes‹ halten, so setzen sie – durch die Operation des Vergleichs dieses ›falschen‹ Gottes mit dem eigenen, ›wahren‹ – die verschiedenen Konzepte dennoch auf einer formalen Ebene äquivalent – ähnlich, wie es ja auch John Hick in seiner Abstraktion der verschiedenen Götter in Gestalt des »Ewig Einen« praktiziert758. Indem (exklusivistische) Theologien nun von dem ›wahren‹ und ›falschen‹ Gott reden, beziehen sie sich zwar nicht inhaltlich auf dieselbe Größe, sprechen aber von demselben Konzept im Sinne einer dem eigenen Bild in irgendeiner Form vergleichbaren Gottheit – eine Praxis, die sie mit den anderen religionstheologischen Positionen teilen. Vor diesem Hintergrund wird die historisierende Dekonstruktion des ›einen Gottes‹ moderner religionstheologischer Entwürfe, wie sie in diesem Kapitel versucht werden soll, ihren Ausgangspunkt bei der Äquivalentsetzung der Konzepte des Göttlichen nehmen müssen, die ja nicht nur die Basis für die klassische pluralistische und inklusivistische Rede von dem ›einen Gott‹ bildet, sondern auch die exklusivistische Gegenüberstellung des ›wahren‹ und ›falschen‹ Gottes bedingt. Denn schließlich tragen beide Positionen im gleichen Maße dazu bei, ein formales Konzept Gott (freilich zunächst nur im Sinne einer einzigen göttlichen Wirklichkeit) über die verschiedenen religiösen Kontexte hinaus übersetzbar zu machen – oder, mit anderen Worten, den ›einen Gott‹ bzw. die göttliche Wirklichkeit als leeren Signifikanten zu etablieren, der im globalen Diskurs artikuliert wird. Blickt man mit diesem Verständnis nun auf das heutige (nicht nur in der Religionstheologie zur Debatte stehende) Konzept einer göttlichen Wirklichkeit, so stellt sich – wie auch im Falle der im ersten Teil thematisierten Konzepte – die Frage nach dessen historischer Herkunft. Setzt man dabei die oben aufgestellte These voraus, dass es sich bei Gott oder dem Göttlichen heute um global ausgehandelte leeren Signifikanten handelt, mit dessen Hilfe religiöse Identitäten konstruiert werden, so wäre der Anfangspunkt des historiographischen Narrativs des ›einen Gottes‹ just in dem Zeitraum zu verorten, in dem sich ein verInklusivismus hier freilich fließend sind, zeigt etwa das Zugeständnis, dass »[d]ie evangelische Kirche […] ›Spuren‹ […] oder Zeichen erkennen [kann], dass sich der Gott der Bibel auch Muslimen nicht verborgen hat.« Ebd., S. 19. 758 Nicht zufällig ist ja auch Hicks Modell von verschiedenen Seiten als eine dem Exklusivismus vergleichbare »Extremposition« bezeichnet worden. Vgl. Danz: Einführung in die Theologie der Religionen, S. 98.

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stärkter globaler (und damit freilich auch interreligiöser) Diskurs über diese ›höchste Wirklichkeit‹ nachweisen lässt; und ähnlich wie im Fall des Religionsbegriffs deutet einiges darauf hin, dass es sich bei diesem Diskurs um die weltweiten Aushandlungsprozesse im Zuge des weltweiten Kolonialismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts handelt – eine Vermutung, der ich im Folgenden nachgehen möchte.

5.1. (Innerliche) Religion und Gotteskonzept Obgleich die Frage nach der Natur des Göttlichen (anders als die nach dem Status von Religion) ein klassisches Proprium der Theologie bildet, sind beide Problembereiche nichtsdestotrotz untrennbar miteinander verbunden. Denn die Debatten darum, welche der Strömungen, die im 19. Jahrhundert der Sphäre des Religiösen zugeordnet wurden, das Phänomen Religion im vollumfänglichen Sinne verkörperten, war für Zeitgenossen in der Regel zunächst an die Frage geknüpft, ob (und in welchem Umfang) die einzelnen Strömungen über ein Gotteskonzept verfügten.759 Während die Verbindung von Religion und einer göttlichen oder transzendenten Wirklichkeit freilich auch in den älteren religionsphilosophischen Entwürfen, etwa im Kontext des deutschen Idealismus, breiten Raum eingenommen hatte, lässt sich zeigen, dass trotz der substantiellen Reformulierung des Religionsbegriff in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Sinne einer ›Verinnerlichung‹ desselben zunächst auch außerhalb der christlichen Theologie nicht wesentlich von dieser inhaltlichen Bestimmung von Religion abgewichen wurde. Prominentes Beispiel für diese Praxis ist einmal mehr der als Vater der Religionswissenschaft gehandelte Friedrich Max Müller. Dieser strebte danach, in seinen linguistischen Analysen zum Ursprung aller Religion vorzudringen, um sich in jene »stille[…] Krypta«760 zu begeben, die »einen Zufluchtsort für jene böte, die nach etwas Besserem, Reinerem, Älterem und Wahrerem trachteten, als sie in Tempel, Moschee, Synagoge und Kirche fänden«761: »Wie sollen wir das entdecken, was allen Religionen gemeinsam, wie das, was einer jeden eigen-

759 Dies änderte sich (zumindest äußerlich) ab Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Popularisierung des Konzepts des Heiligen, wie es etwa von Söderblom oder Otto vertreten wurde, indem die Figur des göttlichen Absoluten in einer allgemeineren Theorie re-plausibilisiert wurde. Vgl. Dehn: Annäherungen an Religion, S. 12–15. 760 Kippenberg: Die Entdeckung der Religionsgeschichte, S. 64. 761 Ebd.

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thümlich ist? Wo finden wir den tiefsten Grund ihres Ursprungs, ihrer Entwickelung, ihres Verfalls? Wo endlich ihren höchsten Zweck?«762 In diesem Sinne konzipierte Müller – der (indologischen) Tradition der deutschen Romantik folgend – die Geschichte der menschlichen Religion als eine der Degeneration, in deren Verlauf sich die verschiedenen Religionen von ihrem ›wahren‹ Ursprung entfernt hätten. »Ist der Mensch einmal so weit vorgeschritten, dass er irgend Etwas, sei es Eins oder Vieles, Gott oder göttlich nennen kann, so hat er ja schon mehr als die Hälfte des Weges hinter sich; er hat das Prädicat ›Gott‹ gefunden und sucht nur noch nach dem wahren Subject, auf welches er dieses Prädicat anwenden darf. Was wir [als Religionswissenschaftler] wissen wollen, ist, wie der Mensch zuerst zu diesem Prädicat gelangte, aus welchen Elementen er den Begriff des Göttlichen sich bildete.«763

Um nun Einblick in diese Frühgeschichte der Religion zu nehmen, entwickelte er seinen Ansatz der Komparativen Mythologie (Comparative Mythology764): »Er verglich Worte der indoeuropäischen Sprachfamilie miteinander und rekonstruierte auf diesem Wege die gemeinsame soziale und natürliche Welt aller Arier vor ihrer Trennung in einzelne Völker.«765 Von besonderem Interesse waren für ihn dabei die Namen, die die verschiedenen mythologischen Texte solchen sprachlichen Gegenständen zuschrieben, die Müller als ›Götter‹ konzeptuell äquivalent setzte. Indem Müller etwa die sprachhistorische Verwandtschaft von lat. deus mit sanskr. deva aufzeigte, propagierte er gleichzeitig, dass mit diesen Worten im wesentlichen dasselbe inhaltliche Konzept reartikuliert werde. Dementsprechend seien diese Namen allesamt »ursprünglich Bezeichnungen für natürliche Phänomene wie Sonne, Morgendämmerung, Himmel und andere gewesen. Die Etymologien [dieser Namen] waren für Müller der Weg zum wahren Ursprung menschlichen Denkens«766 – ein Zeitpunkt, an dem der Mensch ein »poetisches«, intuitives Verhältnis zu der ihn umgebenden Natur gepflegt habe. Indem Müller nun die Etymologie der Götterbezeichnungen in der indogermanischen Sprachgeschichte zurückverfolgte, gelangte er schließlich zur ältesten gemeinsamen Form (dyau pitar), die er folgerichtig (entsprechend seiner Gleichsetzung von gemeinsamer sprachlicher Vorform mit einem gemeinsamen inhaltlichen Konzept) als ursprüngliche, wahrhaftige Bezeichnung des einen Gottes interpretierte – ein Name »so geistig und erhaben, wie ihr damaliges 762 Friedrich Max Müller: Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft. Strassburg: Trübner 21876, S. 111. 763 Friedrich Max Müller: Vorlesungen über den Ursprung der Religion. Mit besonderer Rücksicht auf die Religionen des alten Indiens. Strassburg: Trübner 21881, S. 296. 764 So der Titel eines Textes, der erstmals 1856 erschienen war. Vgl. [Friedrich] Max Müller: Comparative Mythology. An Essay. London: Routledge [1909]. 765 Kippenberg: Die Entdeckung der Religionsgeschichte, S. 66f. 766 Ebd., S. 67.

(Innerliche) Religion und Gotteskonzept

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Wörterbuch ihn nur liefern konnte, de[r] Name[…] für Himmel und für Licht«767. Der Vorstoß zu den Anfängen des menschlichen Denkens mithilfe der Sprachgeschichte gab für Müller »die Elemente einer ›authentischen Religion‹ frei. Sie besteht aus einer intuitiven Erkenntnis des Göttlichen, einem Gefühl der Abhängigkeit, einem Glauben an die Herrschaft Gottes über die Welt, einer Unterscheidung von Gut und Böse sowie der Hoffnung auf ein besseres Leben.«768 Diesem Verständnis der Urreligion des Menschen als einer intuitiven, ›innerlichen‹ Erkenntnis des Göttlich-Absoluten verdankt sich auch Müllers Neuinterpretation der indischen Religion. Während letztere etwa bei Hegel noch im Sinne einer Vielgötterei als die niedrigste Stufe der Religion klassifiziert wird, bringt Müller ihr im Rahmen seiner Theorie aufgrund ihres hohen Alters, das sie vor allen anderen noch existierenden Religionen auszeichne, besondere Wertschätzung entgegen. Um diese Wertschätzung zu begründen, führt Müller mit dem Henotheismus zunächst eine neue religionswissenschaftliche Klassifikationskategorie ein, die sich in »ihrem tiefsten Wesen nach von de[r] polytheistischen«769 unterscheide: Die indische Religion sei deswegen nicht als polytheistisch aufzufassen, weil sie historisch noch vor dieser Degenerationsstufe menschlicher Religion anzusiedeln sei. Denn »[o]bgleich verschiedene Gottheiten in verschiedenen [vedischen] Hymnen angerufen werden, […] so erscheinen sie doch meistens ohne in ein gegenseitiges Verhältnis zu treten, und wir sehen noch deutlich in den alten einfachen Liedern der Vedischen Rischis wie es, je nach den wechselnden Erscheinungen der Natur, und dem wechselnden Verlangen des menschlichen Herzens, bald Indra, der Gott des hellen Himmels, bald Agni, der Gott des Feuers […] ist, der als höchster und einziger Gott gepriesen wird, ohne dass ein Gedanke an andere Götter, seien es höhere, niedere oder gleichberechtigte zum Vorschein käme. Diese eigenthümliche Phase des Gottesbewusstseins, diese Verehrung einzelner Götter, scheint mir überall die erste Periode in der Entwicklung des Polytheismus zu bilden […].«770

An anderer Stelle liefert Müller nun eine Erklärung für die wechselnden Bezeichnungen dieser höchsten und einzigen Gottheit im Sinne einer einheitlichen, transzendenten Größe: »Die alten Arier fühlten von Anfang an, ja im Anfange weit mehr als später, die Gegenwart von einem Jenseits, von einem Ueberendlichen, einem Göttlichen, oder wie wir es nun nennen wollen. Sie wollten es ergreifen und begreifen, indem sie einen Namen nach dem anderen für das Ewig-Unbekannte versuchten. Sie glaubten es in den Bergen und Flüssen, in der Morgenröthe, der Sonne, der Luft, dem Himmel-Vater gefunden zu 767 768 769 770

Zitiert nach ebd., S. 71. Ebd., S. 69. Müller: Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft, S. 127. Ebd.

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haben. Aber nach jedem Namen kam das Nein! Das, was sie suchten, war wie die Berge, wie die Flüsse, wie das Frühroth, wie der Himmel, wie der Vater: aber es war doch eben nicht die Berge, nicht die Flüsse, nicht das Frühroth, nicht der Himmel, nicht der Vater. Es war etwas von ihnen allen, aber es war mehr, es war über und jenseits von allem.«771

Die Folge dieser Erkenntnis sei nach Müller nun nicht etwa die Übernahme einer fremden, monotheistischen Religion wie der des Christentums gewesen, sondern habe zur Entwicklung eines monistischen, universalen Gotteskonzeptes geführt, wie es etwa in der brahmanischen Religion verkörpert sei: Anders als »die Griechen, Römer und Deutschen, schritten sie weiter vorwärts auf ihrer alten Strasse […]. Sie liessen die alten Namen fallen, aber ihr Glaube an das, was sie nennen wollten, blieb. Nachdem sie mit eigener Hand die Altäre ihrer Götter zerstört, bauten sie aus den zerstreuten Steinen einen neuen Altar für den unbekannten Gott, unbekannt, ungenannt, und dennoch immer gegenwärtig: wenn auch nicht mehr in Bergen und Flüssen, im Himmel und in der Sonne, im Regen oder im Donner, doch selbst dann noch immer gegenwärtig, ja ihnen näher als sonst, und sie umschliessend, nicht mehr wie Varuna, der allumfassende Aether, nein enger und wärmer, als wäre es, wie sie es nannten, der Aether im eigenen Herzen: vielleicht das ›stille, sanfte Sausen‹, das einst Elia hörte.«772

Man sieht, wie in Müllers Augen die indische Religion im Laufe ihrer Entwicklung schließlich wieder zu jenem »poetischen«, wahrhaft innerlichen Verhältnis zum Göttlichen zurückfand, das für ihn schon die ideale Frühzeit menschlicher Religion ausgezeichnet hatte. Die Verbindung des innerlichen Religionsverständnisses mit einem universalen Gotteskonzept lässt sich (wenngleich in abgewandelter Form) etwa auch bei einem dezidierten Gegenentwurf zu Müllers Religionstheorie finden. Dessen Oxforder Kollege Edward Burnett Tylor (1832–1917) lehnte Müllers These von der arischen Hochkultur als einem maßgeblichen Ursprungskontext heutiger Religionen ab; stattdessen vertrat er die Ansicht, dass nicht in den überkommenen antiken Texten, sondern vielmehr in den zeitgenössischen ›primitiven Kulturen‹ (primitive cultures) die textlosen Überreste alter Stufen menschlicher Zivilisation (und damit Religion) zu finden seien. Um diese frühe Form menschlicher Religion zu charakterisieren, führte Tylor seine Kategorie des Animismus ins Feld: »Die Seelenkonzeption ist im Denken Tylors ein durchlaufendes Element menschlicher Kultur. Daß der Mensch sie hervorgebracht habe, sei das Ergebnis von induktiven Beobachtungen der Natur gewesen.«773 Der Animismus war von Tylor dabei explizit gegen eine ausschließlich materialistische Weltsicht ins Feld geführt worden, und zwar insofern, als die Seele zum 771 Müller: Vorlesungen über den Ursprung der Religion, S. 348f. 772 Ebd., S. 357. 773 Kippenberg: Die Entdeckung der Religionsgeschichte, S. 92.

(Innerliche) Religion und Gotteskonzept

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einen als »Organ des naturwissenschaftlichen Erkennens«774 verstanden wurde, zum anderen aber »auch bei ihm Träger von Emotion und Phantasie war«775. Der Animismus verkörperte für Tylor dabei ein Bindeglied zwischen Naturwissenschaft und Theologie im Sinne eines »universale[n] Grundprinzip[s] menschlichen Erkennens«776, weshalb er ihn »abwechselnd als Religion, rohe Philosophie (crude philosophy) oder wilde Theologie (savage theology)«777 bezeichnete. Die These, dass der in zeitgenössischen ›primitiven‹ Kontexten existierende Animismus als intuitives Grundprinzip menschlicher Erkenntnis allen Kulturen zugrunde liege (und dabei auch in ›zivilisierten‹ Kulturen in Form von survivals nachzuweisen sei778), kombinierte Tylor mit einer entwicklungsgeschichtlichen Komponente von Religion: »Zuerst habe Seele das belebende Prinzip im Menschen selber bezeichnet, sei dann auch auf Tiere und Gegenstände übertragen worden und habe sich schließlich zu der Vorstellung von Geistern und Göttern weiterentwickelt. Geister hatten die Aufgabe übernommen, Erscheinungen der äußeren Natur zu erklären. Daraus sei die Gottesvorstellung entstanden.«779

Bezüglich unseres Arguments bedeutet dies: Auch wenn Tylor mit seinem Konzept des Animismus zunächst daran gelegen war, das ›ursprüngliche‹ Erkenntnisprinzip ›primitiver‹ Kulturen für die zeitgenössischen Auseinandersetzungen zwischen Theologie und Naturwissenschaft fruchtbar zu machen, so musste seine Entwicklungsgeschichte der Religion, in deren Verlauf sich die Konzeption der Beseelung aller Natur zur Idee eines oder mehrerer Götter gewandelt habe, dennoch zwangsläufig zu der Schlussfolgerung führen, dass die Gottesvorstellung zum festen Bestandteil der Religionen moderner »höherer Nationen«780 gehöre – und zwar im Sinne eines natürlichen Produkts der »allgemeinen Evolution der Zivilisation«781. In diesem Zusammenhang wurde Gott (wie auch bei Müller) als eine universale Kategorie gefasst, die in allen ›zivilisierten‹ Religionen gleichermaßen verkörpert sei und damit über alle Kontexte hinweg vergleichbar wurde. Die Beispiele Müllers und Tylors legen nahe, dass die im ersten Teil skizzierte konzeptuelle Neuformierung verschiedenster kultureller Traditionen als Religi774 775 776 777 778 779 780

Ebd., S. 93. Ebd. Ebd. Ebd., S. 92. Vgl. ebd., S. 85–87. Ebd., S. 93. »[…] higher nations«. Edward Burnett Tylor: Primitive Culture. Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Language, Art and Custom (Band 2). London: John Murray 21873, S. 442. 781 »[…] world-long evolution of civilization«. Ebd., S. 443.

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on im 19. Jahrhundert im selben Atemzug zu einer parallelen Äquivalentsetzung bestimmter konzeptueller Größen in diesen Traditionen führte, die fortan im Rahmen eines globalen Diskurses um das Konzept einer höchsten göttlichen Entität oder Wirklichkeit neu ausgehandelt wurden – eine Vermutung, der ich im folgenden Abschnitt weiter nachgehen werde. Mit diesem Verständnis könnte der ›eine Gott‹ bzw. das Göttliche – ebenso wie Religion – in letzter Konsequenz als ein Produkt des globalen Diskurses des späten 19. Jahrhunderts verstanden werden – und zwar im Sinne einer konzeptuellen Neujustierung und weitgehenden Normierung dieser oder vergleichbarer Kategorien im Kontext der sich als äquivalente Größen etablierenden Weltreligionen. Dieser Entwicklung geben auch die durch Gelehrte wie Müller782 im Sinne (religions-)wissenschaftlicher Kategorien popularisierten (z. T. aus der älteren Theologie und Philosophie übernommenen) Konzepte des Monotheismus, Henotheismus und Polytheismus Ausdruck: Während in zeitgenössischer missionarischer Literatur der Hauptunterschied zwischen Christentum und nicht-christlicher Religion vielfach noch darin gesehen wurde, dass ersteres den einen, wahren Gott verehre, während letztere bloßen Götzendienst an materiellen Bildnissen verrichte, so verschob die neue religionswissenschaftliche Kategorisierung den Unterschied (zumindest tendenziell) hin zur bloßen Anzahl göttlicher Entitäten, die in einer Religion verehrt würden, ohne eine weitere qualitative Abstufung vorzunehmen. Diese Praxis half das allgemein übertragbare Konzept Gott in alle Religionen gleichermaßen zu ›implantieren‹ – und zwar in dem Sinne, dass das Göttliche als eine kontextübergreifende Kategorie die verschiedenen dieser Sphäre zugeordneten Größen zumindest formell vergleichbar machte. Darüber hinaus aber führte die Etablierung dieser Konzepte im Sinne wissenschaftlicher, allgemeingültiger Klassifikationskategorien dazu, dass den abrahamitischen Religionen der Monotheismus als bisheriges Alleinstellungsmerkmal quasi ›abhanden‹ kam, indem dieser nun auch zunehmend bezüglich anderer Religionen Anwendung fand. Prägend auf diesen Prozess wirkte (neben prominenten Einzelentwürfen wie dem Max Müllers) sicherlich auch der Streit um die sogenannte Urmonotheismus-Hypothese. Diese bereits von Gerhard Vossius (1577–1649) vertretene Position783 wurde ab dem Ende des 19. Jahrhundert im Rahmen der neuen Religions- und Sozialwissenschaften ›wiederentdeckt‹ und verstärkt debattiert. Den Anfang machte 1898 der schottische Ethnologe und Dichter Andrew Lang (1844–1912), der einige Jahre zuvor bereits maßgeblich an der wissenschaftlichen Widerlegung von Müllers Komparativer

782 Vgl. Müller: Vorlesungen über den Ursprung der Religion, S. 291–355. 783 Vgl. Åke V. Ström/Werner H. Schmidt/Esther Starobinski-Safran/Christoph Schwöbel: Art. Monotheismus. In: TRE (Band 23), S. 233–262, hier S. 234.

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Mythologie beteiligt war.784 Gegen Müllers Mythendeutung, vor allem aber gegen evolutionistische Religionstheorien wie die Tylors oder Herbert Spencers785, vertrat er die These, dass sich die Gottesvorstellung gerade nicht aus Vorformen wie Geistern oder beseelten Gegenständen entwickelt habe und somit der Monotheismus, also der Glaube an einen einzigen Gott, die ursprüngliche Form menschlicher Religion repräsentiere. In seinem Buch The Making of Religion (1898) rekurrierte er – ähnlich wie Tylor786 – auf den »Bereich südostaustralischer Stammeskulte, die seinerzeit gerade bekanntgemacht wurden«787. Doch anders als dieser glaubte er deutliche Anhaltspunkte dafür zu finden, dass es »[b]ei diesen Stämmen […] keine Anbetung von Geistern [gebe], dagegen überall die Vorstellung von einem im Himmel lokalisierten höchsten Wesen«788. Vor diesem Hintergrund handele es sich bei Animismus und Polytheismus um allgemeine Degenerationserscheinungen des ursprünglichen Gottesglaubens, die sich im Laufe der Religionsgeschichte in praktisch allen (und nicht nur den »wilden« [savage]) Kulturen gezeigt hätten. Mit dieser Argumentation geht Lang in seiner ›Entthronung‹ des Christentums (und damit freilich auch der übrigen abrahamitischen Religionen) als der monotheistischen Speerspitze der religiösen Evolution noch hinaus: Zwar »ist in der Religion unseres Herrn und der Apostel der […] Glaube an den gerechten Gott […] in Reinform verkörpert […]. [Doch] wir wissen, wie diese Lehre einmal mehr durch den Animismus verdorben wurde, und zwar durch die Opfer- und Ritualpraxis der mittelalterlichen Kirche. Begierig darauf, ›Allen alles zu werden‹ [1 Kor 9,22], ließ die erhabene und gütige Mutter des Christentums den überwundenen Animismus in neuen Formen von Heiligenverehrung, Wallfahrt und beliebten zeremoniellen Praktiken wieder zu – Dinge, die von einem Leben in Gerechtigkeit und Selbstlosigkeit, wie sie in den wilden [savage] Mysterien verwirklicht werden, weit entfernt sind, obgleich sie im Allgemeinen als Ersatz dafür angesehen werden.«789

784 Vgl. Kippenberg: Die Entdeckung der Religionsgeschichte, S. 77f. 785 Vgl. Andrew Lang: The Making of Religion. London [u. a.]: Longman, Green and Co. 31909, S. IX. 786 Auch Tylor versuchte, »theological beliefs of the lower tribes of mankind which point more or less distinctly toward a doctrine of Monotheism« nachzuweisen. Tylor: Primitive Culture, S. 331; vgl. ebd., S. 331–361. 787 Ström [u. a.]: Art. Monotheismus, S. 234. 788 Ebd. 789 »In the religion of our Lord and the Apostles the […] faith in one righteous God […] were purified […]. We know how this doctrine was again disturbed by the Animism, in effect, and by the sacrifice and ritual of the Medieval Church. Too eager to be ›all things to all men,‹ the august and beneficent Mother of Christendom readmitted the earlier Animism in new forms of saint-worship, pilgrimage, and popular ceremonial-things apart from, but commonly supposed to be substitutes for, righteousness of life and the selflessness enjoined in savage mysteries.« Lang: The Making of Religion, S. 303.

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Die von Lang neu belebte Urmonotheismus-Hypothese wurde in der Folgezeit vor allem durch den bedeutenden Völkerkundler und Steyler Missionar Wilhelm Schmidt (1868–1954) in seinem zwölfbändigen Werk Der Ursprung der Gottesidee (1912–1955) fortgeführt und war damit (freilich in abgewandelter Form) zuletzt auch im Herzen des von Lang verhöhnten ›mittelalterlichen‹ Christentums angekommen. Die in diesem Abschnitt angeführten Beispiele aus Religionswissenschaft, Anthropologie und Theologie zeigen, dass der eine, einzige Gott der abrahamitischen Religionen seit dem späten 19. Jahrhundert in arge Bedrängnis geraten war, und zwar insofern, als dessen Konzept – in Kombination mit dem Religionsbegriff – von Wissenschaftlern aller Couleur im Rahmen der neu entdeckten, allgemeinen Religionsgeschichte universalisiert und in die unterschiedlichsten Kontexte der Welt implementiert wurde. Einfach gesprochen: Aus dem einen (christlichen) Gott der europäischen Missionare, der sich allerhöchstens von Götzen umgeben wusste, wurde (im Rahmen der Etablierung der Religions- und Sozialwissenschaften sowie der damit einhergehenden Neuaufstellung der wissenschaftlichen Theologie) allmählich ein Gott, der andere Götter neben sich dulden musste. Der Schritt zu der später in der Religionstheologie vertretenen These, dass die verschiedenen Gottesnamen sich letztlich alle auf dieselbe göttliche Wirklichkeit beziehen, ist damit gewiss bereits zur Hälfte getan.

5.2. Die Globalisierung des göttlichen ›Einen‹ Die angeführten Beispiele der frühen Religionswissenschaft zeigen, dass die enge Verbindung des (innerlichen) Religionskonzepts mit einem universalen Gotteskonzept am Ende des 19. Jahrhunderts auch außerhalb der christlichen Theologie im akademischen Kontext verbreitet war – ein Paradigma, das auch mit der ›Entdeckung‹ des Heiligen durch Nathan Söderblom oder Rudolf Otto zu Beginn des 20. Jahrhunderts prinzipiell re-iteriert wurde. Und auch wenn besonders Müllers Mythentheorie bereits zu seinen Lebzeiten als wissenschaftlich überholt galt,790 so entfaltete sein Religionskonzept vor allem im globalen religiösen Kontext eine kaum zu unterschätzende Wirkung. Durch die Aufnahme des von Religionswissenschaftlern wie Müller und Tylor propagierten, aber teilweise auch schon von christlichen Theologen (etwa im Rahmen der liberalen Theologie) vertretenen, universalen Gotteskonzepts durch religiöse Akteure in aller Welt erfuhr diese Kategorie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – im Rahmen der weltweiten Rezeption des innerlichen Religionsbegriffs – eine globale Ausbreitung. In diesem Zusammenhang diente der ›eine Gott‹ bzw. das 790 Vgl. Kippenberg: Die Entdeckung der Religionsgeschichte, S. 77–79.

Die Globalisierung des göttlichen ›Einen‹

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göttliche Absolute den verschiedenen Protagonisten als gemeinsamer Identifikationsmarker, über den sie sich im globalen Religionsdiskurs positionierten. Die Folge davon war eine konzeptuelle Angleichung und Normierung der verschiedenen, am Diskurs beteiligten religiösen Traditionen: Der globale Religionsdiskurs bedingte, dass sich das ›eine‹ göttliche Absolute zur zentralen konzeptuellen Größe entwickelte, an der sich die neu aufkommenden ›Weltreligionen‹ ausrichteten, wodurch ihre Vergleichbarkeit gewährleistet wurde, wie ich im Folgenden skizzieren möchte. Die Verbindung eines solchen Gottesbegriffs mit dem Konzept von innerlicher Religion lässt sich auf vorzügliche Weise erneut am Beispiel Vivekanandas illustrieren. Dieser hatte 1896 während seines England-Aufenthaltes Max Müller getroffen, mit dem ihn bis zu dessen Tod im Jahre 1900 eine enge Freundschaft verband. Die hohe Wertschätzung, die der Inder dem deutsch-britischen Indologen zollte, äußert sich etwa in einem Ausspruch, in dem er Müller als Reinkarnation des bedeutenden Veden-Kommentators Sayana (gest. 1387) bezeichnete: »Hat irgendwer in diesem Zeitalter, hier in diesem Land, je ein solch umfassendes Bedürfnis nach Wissen und solch eine gewaltige monetäre Investition um der Suche nach Erleuchtung und Erkenntnis willen gesehen? Max Müller schreibt selbst im Vorwort [zur Übersetzung des Rigveda], dass er sich 25 Jahre allein mit den Manuskripten befasst hat und der Druckprozess weitere zwanzig Jahre gedauert hat! Für einen gewöhnlichen Mann ist es unmöglich, sich 45 Jahre mit einer einzigen Publikation herumzuplagen. Bedenke das! Ist es daher eine bloße Laune von mir, ihn für Sayana selbst zu halten?«791

Die Hochschätzung von Müllers Werk durch einen der Väter des modernen Indiens kam sicherlich nicht von ungefähr. Denn vergleicht man die Konzeption der indischen Religion Vivekanandas mit den im vorangegangenen Abschnitt skizzierten Thesen Müllers, so ist eine (zumindest indirekte) Beeinflussung des ersteren durch das wissenschaftliche Werk des letzteren durchaus in Betracht zu ziehen. Dieser Zusammenhang ist auch deshalb naheliegend, weil bereits Müller mit seinen Thesen zur indischen Religion an Konzepte eines globalen Diskurses angeknüpft hatte, die zum Teil aus der älteren Indologie und Orientalistik792, zum Teil aber auch aus dem (mit diesen europäischen Zugängen verflochtenen) 791 »Has anybody seen in this age, here in this country, such profound yearning for knowledge, such prodigious investment of money for the sake of light and learning? Max Müller himself has written it in his preface, that for twenty-five years he prepared only the manuscripts. Then the printing took another twenty years! It is not possible for an ordinary man to drudge for fortyfive years of his life with one publication. Just think of it! Is it an idle fancy of mine to say he is Sayana himself ?« Swami Vivekananda: The Complete Works of Swami Vivekananda (Band 6). Calcutta: Advaita Ashrama 1933, S. 496. 792 Vgl. dazu Halbfass: Indien und Europa, S. 70–136.

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neohinduistischen Kontext Vivekanandas793 stammten. Ziehen wir dazu noch einmal jenes »Referat« heran, das Vivekananda anlässlich des Weltparlaments der Religionen im Jahre 1893 in Chicago gehalten hatte. Gegen das in seinen (und Müllers) Augen gängige Stereotyp betont er zunächst, »daß es keinen Polytheismus in Indien gibt. Wer beobachtet und lauscht, wird finden, daß die Betenden den [Gottes-]Bildern sämtliche Eigenschaften Gottes zusprechen, einschließlich der Allwissenheit. Das ist nicht Polytheismus, auch der Begriff Henotheismus würde die Situation nicht beschreiben.«794 Und er fügt, fast schon in der Terminologie Müllers, hinzu: »›Die Rose würde, mit einem anderen Namen bezeichnet, ebenso süß duften.‹ Namen sind keine Erklärungen.«795 Der weitere Verlauf der Argumentation entspricht denn auch weitgehend der müller’schen Charakterisierung der brahmanischen Religion. Wie bereits im Kapitel zum Religionsbegriff ausführlicher dargestellt, versteht Vivekananda den brahmanischen Advaita Vedanta als die am höchsten entwickelte Stufe aller indischen Religion. Dementsprechend sei die »Verehrung von Gottesbildern«796 in Indien, die auf den ersten Blick für polytheistisch gehalten werden könnte, »nicht die Mutter von Freudenmädchen«797, sondern »der Versuch von Menschen mit einem unentwickelten Geist, hohe geistige Wahrheiten zu erfassen.«798 Die »höchste Stufe ist [erreicht], wenn Gott, der Herr verwirklicht ist«799, und zwar im Sinne einer universalen, monistischen Religion, die ganz auf das Vollkommene, Absolute ausgerichtet ist. Demgemäß sei das »einzige Ziel«800 der indischen Religion, »Gott zu erreichen und Gott zu schauen«801; und anders als das Stereotyp impliziert, handele es sich bei dem Gott der Inder um nur einen einzigen, denn »das Absolute kann es nicht zwei- oder dreimal geben«802. Die These, dass es sich bei der indischen Religion in Wahrheit um eine monotheistische (monistische) handele, die ganz auf die Erkenntnis des einen, göttlichen Absoluten ausgerichtet sei, wird bei Vivekananda – ganz wie bei Müller – mit der Idee einer universalen Religionsgeschichte verbunden. An deren Anfang und Ende steht für ihn jene »universale Religion«803, die »nicht in Raum und Zeit vertreten«804 ist und damit gleichzeitig alle historischen Religionen in 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804

Vgl. ebd. S. 222–279. Sva¯mı¯ Viveka¯nanda: Referat über den Hinduismus, S. 24. Ebd. Ebd., S. 27. Ebd. Ebd. Ebd., S. 26. Ebd., S. 22. Ebd. Ebd. Ebd., S. 28. Ebd.

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sich trägt; in ihr ist Gott in reiner Form verwirklicht – ganz wie in jener »stillen Krypta«, die Müller am Ursprung des menschlichen Denkens entdeckt hatte, als dem Menschen eine direkte, intuitive Erkenntnis des Göttlichen zuteil geworden war, – und ganz wie das »stille, sanfte Sausen, das einst Elia hörte«, welches er in der brahmanischen Religion zu vernehmen glaubte: »Für Hindus ist also die ganze Welt der Religionen nur eine Reise, ein Aufwärtsstreben unterschiedlicher Männer und Frauen, die verschiedene Umstände und Gegebenheiten durchschreitend dasselbe Ziel erreichen. Jede Religion entfaltet lediglich einen Gott aus dem Menschen aus Fleisch und Blut; und derselbe Gott inspiriert alle Menschen. Warum gibt es dann so viele Widersprüche? Die Hindus sagen, es seien nur scheinbare Widersprüche. Sie entstehen, weil sich die eine Wahrheit den unterschiedlichen Gegebenheiten verschiedener Veranlagungen anpaßt. Dasselbe Licht scheint durch verschieden getöntes Glas.«805

Während der Auftritt Vivekanandas auf dem Weltparlament der Religionen das Bild des Hinduismus als einer Weltreligion in dieser Form zum festen Bestandteil des globalen Religionsdiskurses werden ließ, so re-artikulierte der gemeinsam mit ihm in Chicago auftretende Anagarika Dharmapala das universale Gotteskonzept auf gänzlich andere Art und Weise: Die von Vivekananda hochgehaltene intuitive Erkenntnis des einen Gottes interpretierte der als Vertreter des Theravada-Buddhismus angereiste Singhalese als eine zentrale Schwäche der übrigen Religionen; im Gegensatz dazu positionierte er den Buddhismus – als die angeblich älteste Religion der Menschheit – wie bereits dargestellt im Sinne einer »wissenschaftlichen Religion« (scientific religion), die auf ein Gotteskonzept gerade nicht angewiesen sei.806 Mit dieser Platzierung des Buddhismus im Spannungsfeld zwischen Religion und Wissenschaft (im Sinne einer Überwindung dieser Trennung) knüpfte Dharmapala an ein Konzept an, das zu jener Zeit vor allem in theosophischen Kreisen propagiert wurde, die in seiner Heimat Ceylon ja maßgeblich zur ›Wiedererweckung‹ des buddhistischen Erbes beigetragen hatten. Dementsprechend hatte Henry Steel Olcott (1832–1907) in seinem erstmals 1881 (auf englisch und singhalesisch) erschienenen, bis heute verwendeten, Buddhistischen Katechismus den Buddhismus explizit als »Gegengift zum Christentum«807 bezeichnet, und zwar mit dem Argument, dass dieser »das höchste Gute ohne einen schöpfenden Gott [lehre]; eine Kontinuität des Lebens, ohne der abergläubischen und selbstsüchtigen Lehre einer ewigen, metaphysischen

805 Ebd., S. 27. 806 Vgl. Bergunder: »Religion« and »Science« Within a Global Religious History, S. 114. 807 »[…] antidote to Christianity«. Zitiert nach: Prothero: The White Buddhist, S. 102.

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Seelensubstanz anzuhängen […]; Glückseligkeit ohne Himmel; eine Methode der Erlösung ohne stellvertretenden Erlöser, sondern nur durch Selbsterlösung«808.

Mit dieser Lesart reflektierte Olcott nicht nur »typische christlich-missionarische Pamphlete«809 jener Zeit, sondern ebenfalls populäre zeitgenössische Konzeptionalisierungen von Wissenschaft und Religion: ›Reformbuddhisten‹ wie Dharmapala und Olcott lösten das Problem der Überordnung der eigenen Religion über die übrigen Traditionen – anders als etwa Vivekananda – nicht dadurch, dass sie letztere in den Buddhismus integrierten, sondern vielmehr durch die konzeptuelle Auskopplung desselben aus dem Religionsbegriff, was sie vor allem durch die Ausgrenzung Gottes aus ihrer explizit als Wissenschaft titulierten Religion bewerkstelligten. Demgemäß hatte auch der deutsch-amerikanische Buddhist Paul Carus (1852–1919), der ebenfalls in Chicago sprach und sich bis zu seinem Tod als einer der profiliertesten Verbreiter des Konzepts der scientific religion hervortat, Gott als »das universale System unabdingbarer Gesetze definiert, die von der Wissenschaft entdeckt werden müssten«810, was den Buddhismus als eine empirische Form der Erkenntnis gegen die subjektiv-innerlichen Bestimmungen anderer Religionen positionierte. Solchen Konzeptionen des Buddhismus als einer gewissermaßen aus dem Rahmen fallenden, atypischen Form von ›Religion ohne Gott‹ entsprachen dabei ähnliche Deutungen in der zeitgenössischen Religionswissenschaft. So hatte schon Max Müller den Buddhismus als eine »atheistische Religion« bezeichnet, und diesen vermeintlichen Widerspruch811 damit erklärt, dass die buddhistische Religion zu einer Zeit entstanden sei, als die »Idee der Gottheit«812 in Indien bereits »durch mythologische Verderbnisse so verunstaltet und erniedrigt worden [war], dass Buddha sie nur verwerfen, und für eine Zeit wenigstens aus dem Heiligthume des menschlichen Herzens verbannen konnte. Das, was die Welt vor ihm Gott oder Götter genannt hatte, hatte Buddha in seiner Nichtigkeit anerkannt […].«813 Auch Ernst Troeltsch hielt den Buddhismus (neben dem Kon-

808 »[…] the highest goodness without a creating God; a continuity of life without adhering to the superstitious and selfish doctrine of an eternal, metaphysical soul-substance […]; a happiness without an objective heaven; a method of salvation without a vicarious Savior; redemption by oneself as the Redeemer […].« Zitiert nach: Ebd., S. 103. 809 Ebd. 810 Bergunder: »Religion« and »Science« Within a Global Religious History, S. 120. 811 »Atheistische Religionen möchten endlich von rein theoretischem Standpunkte aus, wohl als sich selbst widersprechend und unmöglich erscheinen […].« Müller: Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft, S. 127. 812 Ebd., S. 128. 813 Ebd. Die These, der Buddhismus sei »agnostisch«, findet sich auch bei Vivekananda: Sva¯mı¯ Viveka¯nanda: Referat über den Hinduismus, S. 28.

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fuzianismus) für »mehr Philosophie[…] als Religion[…]«814 – eine Ansicht, die auch heute zuweilen noch vertreten wird. Wie stark sich die Verbindung von Religion mit einem universalen Konzept des Göttlichen in den verschiedenen Kontexten der Welt etabliert hat, will ich kurz noch an einem weiteren Beispiel illustrieren, und zwar anhand der Religionspolitik der Republik Indonesien ab Mitte des 20. Jahrhunderts. In den berühmten fünf Prinzipien der indonesischen Verfassung, der sogenannten Pancasila, ist das religiöse Fundament des Staates an erster Stelle festgeschrieben, und zwar in Form des Bekenntnisses zu einer »einzige[n] große[n] Gottheit (ketuhanan yang maha esa)«815 – eine Formulierung, welche die Basis der indonesischen Religionspolitik bildet. Zwar war die Festschreibung des Glaubens an den einen Gott als eine der Grundfesten des Staates ursprünglich durch den starken Einfluss muslimischer Akteure auf den Prozess der Verfassungsbildung geprägt worden, doch die Verwendung des Wortes tuhan (Herr) statt allah öffnete die dadurch begründete Kategorie der Religion (agama) gezielt für die zahlreichen weiteren religiösen Tradition in dem Inselstaat.816 Während Religionen wie der Islam und das Christentum von Anfang an den Status von agama zugebilligt bekamen, so gestaltete sich die offizielle Anerkennung für andere Gruppen zunächst als schwierig. Als prominentes Beispiel ist in diesem Zusammenhang der vor allem auf der Insel Bali verbreitete ›Hinduismus‹ zu nennen, dem die Anerkennung als Agama Hindu erst 1965, also zwei Jahrzehnte nach Staatsgründung, zuteil wurde.817 Vorausgegangen war dem eine substantielle Neukonzeptionierung der balinesischen Religion, die bereits in der Kolonialzeit ihre Wurzeln hatte – was auch deswegen kaum verwunderlich ist, weil die indonesische Religionspolitik ab 1945 maßgeblich an ältere politische Strategien der niederländischen Besatzer anknüpfte. In diesem Prozess positionierten sich die balinesischen Akteure nicht nur erstmals unter dem Banner einer gemeinsamen, kohärenten Religion, sondern passten die inhaltliche Ausformung dieser Religion sukzessive an die von der Zentralregierung in Jakarta vorgegebenen Anerkennungskriterien an. Besonders hervorstechend (und freilich unserem Argument dienlich) war dabei die Festschreibung einer »höchsten Gottheit«818 – ein Vorgang, der bereits durch die Auseinandersetzungen mit christlichen und muslimischen Missionaren ab der Kolonialzeit (und in Verbindung zu reform814 Troeltsch, Ernst: Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen, S. 36. 815 Edith Franke/Katrin Gotterbarm: Kritik durch Anpassung? Aluk to dolo und Christentum im Pancasila-Staat Indonesien. In: Manfred Hutter (Hrsg.): Religionsinterne Kritik und religiöser Pluralismus im gegenwärtigen Südostasien. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2008, S. 215–230, hier S. 219. 816 Vgl. ebd. 817 Vgl. Picard: From Agama Hindu Bali to Agama Hindu and Back, S. 127. 818 »[…] supreme deity«. Ebd., S. 124.

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hinduistischen Kreisen in Indien) eingeleitet worden war: 1952 einigten sich die wichtigsten religiösen Repräsentanten Balis auf den Namen Sang Hyang Widhi, um das hinduistische Äquivalent zum Universalgott der indonesischen Verfassung zu bezeichnen.819 Das Ergebnis dieser Entwicklung lässt sich noch heute an der populären, zum Teil bis in die wissenschaftliche Welt vorgedrungenen, These ablesen, dass »die Vielzahl der auf Bali beschriebenen ›Götter‹ […] leicht den Eindruck erweckt, dass die Balinesen Anhänger eines Polytheismus seien […]. Im Gegensatz dazu sehen sich die Balinesen jedoch als klare Monotheisten […]. Alle anderen ›Götter‹, ›Göttinnen‹ und auch Dämonen sind nichts anderes als ›Manifestationen‹ dieses einzigen Gottes.«820

5.3. Der ›eine Gott‹ der Religionen Die angeführten Beispiele von Religionswissenschaftlern, aber auch von religiösen Akteuren des 19. und 20. Jahrhunderts zeigen, dass Gott – ähnlich wie Religion – als zentrales Konzept der europäischen (christlichen) Selbstverständigung und -identifikation den theologischen und philosophischen Denkern Europas bis zur Jahrhundertwende zusehends abhanden gekommen war. Im Zusammenhang mit der Etablierung des globalen Religionsbegriffs im späten 19. Jahrhundert erhob sich gleichzeitig der ›eine Gott‹, der bislang in der Regel den abrahamitischen Religionen vorbehalten war, (zumindest im Kontext des hier thematisierten globalen Religionsdiskurses!) zum universalen Bezugspunkt jener Menschen, die über eine ›voll ausgeprägte‹ Religion verfügten. Damit war freilich nicht automatisch die These verbunden, dass letztlich alle Religionen denselben Gott verehrten, wie sie im 19. Jahrhundert beispielsweise in den im weiteren Sinne deistisch geprägten Strömungen (etwa Theosophie, Neohinduismus oder Transzendentalismus) vertreten wurde; was jedoch zur allgemeinen, globalen Denkfigur avancierte, war die Vorstellung, dass hinter den (zum Teil äußerst vielfältigen) Glaubensströmungen der eigenen Religion letztlich ein einziges, göttliches Prinzip stehe. Einfach gesprochen: Nicht der ›eine Gott‹ selbst, doch seine äußerliche Gestalt erlangte im Rahmen des globalen Religionsdiskurses weltweite Verbreitung, wodurch die verschiedenen Gottheiten zwar nicht in persona, jedoch zumindest auf einer formalen Ebene äquivalent gesetzt werden konnten. Die in der Religionstheologie vor allem im Rahmen der inklusivistischen und pluralistischen Position artikulierte These, dass es sich bei allen religiösen Traditionen letztlich nur um die (mehr oder weniger legitimen) Manifestationen des ›einen Gottes‹ bzw. desselben göttlichen Absoluten handele, 819 Ebd. 820 Thomas Moog: Bali. Götter, Geister und Dämonen. Bergheim: Mackinger 2013, S. 17.

Der ›eine Gott‹ der Religionen

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konnte somit erst ab diesem Zeitpunkt einigermaßen plausibel formuliert werden. Schickt man sich an, dieses globale Gotteskonzept anhand der oben gegebenen Exempel inhaltlich zu charakterisieren, so erweist sich einmal mehr die enge konzeptuelle Verwobenheit dieser Idee mit den übrigen Denkfiguren und Kategorien des globalen Religionsdiskurses im breiteren Kontext der geistesgeschichtlichen Entwicklungen des späten 19. Jahrhunderts (allen voran der durch die Naturwissenschaften ausgelösten ›Revolution‹), die ich in den vorangegangenen Kapiteln behandelt habe. Der eine Gott, wie er sich ab der zweiten Hälfte des Jahrhunderts vor allem auch in den sich neu als ›Religionen‹ formierenden Traditionen der Welt821 in der oben herausgearbeiteten Form zeigte, ist erstens universal im Sinne des neuplatonischen, newton’schen Universums und zweitens transzendent im Sinne der dieses Universum begründenden via antiqua. Die Universalität dieses Göttlichen äußert sich darin, dass selbiges als ein Prinzip aufgefasst wird, welches hinter allen historischen Formen (lokaler) religiöser Anschauung und Praxis steht, die selbst als partikulare Manifestationen dieses Prinzips gedeutet werden. Das in dieser Konzeption des Göttlichen zutage tretende neuplatonische Wirklichkeitsmodell ist verbunden mit dessen Transzendenz im Sinne einer substantiellen Verschiedenheit der göttlichen Natur und der Natur der Welt. Der dadurch konstituierte Antagonismus zwischen ›Gott und Welt‹ wird (zumindest in den thematisierten Kontexten) im Rahmen des innerlichen Religionsbegriffs artikuliert: Die göttliche Wirklichkeit ist nicht durch empirische Methodik oder rationale Reflexion objektiv erfassbar, sondern nur im Rahmen einer subjektiven, intuitiven Erkenntnis in Gestalt einer innerlichen Anschauung. Der Antagonismus zwischen ›Gott und Welt‹ wird äquivalent gesetzt zu den weiteren zentralen Gegensätzen des globalen Religionsdiskurses: dem zwischen Religion und (Natur-)Wissenschaft sowie dem in diesem Zusammenhang artikulierten Gegensatz zwischen Geist und Materie. Vor dem Hintergrund seiner Universalität und Transzendenz steht das Göttliche oder der ›eine Gott‹ also als das Absolute hinter allen Erscheinungen der materiellen, historischen Wirklichkeit und ist dennoch dem äußerlichen/ wissenschaftlichen Zugriff dieser Wirklichkeit (in Form rationaler und empirischer Erkenntnis) unzugänglich. Sein Wesen äußert sich jedoch in seiner Ema821 Diese Hypothese gilt sicherlich in dieser Form nur eingeschränkt für die abrahamitischen Religionen (Islam und Judentum) oder auch die katholischen Strömungen des Christentums. Zum einen, weil hier die Aushandlungsprozesse um das Wesen und die Wahrheit Gottes bereits deutlich früher und damit auch unabhängig vom kolonialen Religionsdiskurs des 19. Jahrhunderts geführt wurden. Zum anderen, weil der Diskurs um die ›Entdeckung der Religionsgeschichte‹ auf christlicher Seite vor allem durch liberale, zumeist protestantisch geprägte Denker rezipiert wurde, wie die herangezogenen Beispiele ja zum Teil auch zeigen.

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Der ›eine Gott‹ der Religionstheologie

nation in diese Welt; und weil sein Wesen daher auch im Menschen als Teil dieser Welt manifestiert ist, ist dem Menschen die Gotteserkenntnis intuitiv, im Sinne einer innerlichen Gottesschau, möglich. Lassen wir zum Abschluss dieses Abschnitts nochmals Vivekananda zu Wort kommen, in dessen Jnana Yoga (1899)822 dieses Verständnis anschaulich dokumentiert ist. In prototypischneuplatonischer Terminologie belegt der Inder dabei die im ersten Teil charakterisierte konzeptuelle Verwandtschaft der via antiqua mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild des 19. Jahrhunderts, indem er sein Konzept des göttlichen Absoluten (Atman) explizit in das newton’sche Modell des Universums einschreibt: ¯ tman darzu»Ich versuche, Ihnen einige Schlußfolgerungen über [das Wesen des] A stellen. Die verschiedenen Philosophien scheinen darin übereinzustimmen, daß dieser ¯ tman, was er auch sein mag, keinerlei Form besitzt; und daß etwas, das keinerlei Form A besitzt, allgegenwärtig sein muß. Die Zeit hat im Geist ihren Ursprung, der Raum stammt auch vom Geist. Kausalität kann ohne Zeit nicht vorkommen. […] Zeit, Raum ¯ tman jenseits von Geist und und Kausalität sind daher im Geist vorhanden. Da der A Form ist, muß er auch jenseits von Zeit, jenseits von Raum und jenseits von Kausalität sein. Er muß also auch unendlich sein.«823 »Das Absolute ist das Universum geworden. Damit ist nicht nur die materielle Welt gemeint, sondern auch die mentale und die geistige Welt: Himmel und Erde und in der Tat alles, was existiert. Dieses Absolute ist das Universum geworden, indem es durch Zeit, Raum und Kausalität hindurchgegangen ist. Das ist der zentrale Gedanke von Advaita. […] Wir müssen verstehen und uns einprägen, daß die sogenannte Kausalität nach der […] ›Degeneration‹ des Absoluten in das Phänomenale beginnt, nicht vorher […].«824

822 Das Buch (dessen Titel etwa mit Pfad der Erkenntnis zu übersetzen ist) geht auf Vorträge zurück, die Vivekananda während seiner Aufenthalte in England und den USA gehalten hat. 823 Sva¯mı¯ Viveka¯nanda: Jña¯na Yoga. In: Sva¯mı¯ Viveka¯nanda: Wege des Yoga. Reden und Schriften (hrsg. von Martin Kämpchen). Frankfurt a. M.: Verlag der Weltreligionen 2009, S. 85–130, hier S. 95. 824 Ebd., S. 107.

6.

Zur Natur der Schrift

6.1. Offenbarung als Konzept des globalen Religionsdiskurses Die historisierende Dekonstruktion, die ich in den vorangegangenen Kapiteln bezüglich der heutigen Konzepte von (universaler) Wahrheit, Religion und dem ›einen Gott‹ der Religionen vorgenommen habe, lässt sich freilich in derselben Form ebenfalls für das Konzept eines oder mehrerer ›heiliger Texte‹ durchführen, die heute üblicherweise als verschriftlichte Offenbarung des Göttlichen verstanden werden. Dass die Historisierung auch in diesem Fall ähnlich gelagerte Konsequenzen für das theologische Denken nach sich ziehen dürfte, verwundert kaum, handelt es sich doch bei solchen Texten um jene diskursive Größe, über die das Wissen um die Wahrheit des Göttlichen zuallererst begründet wird. Und auch wenn sich allgemein als Offenbarungstexte bezeichnete Größen wie Bibel, Tora oder Koran (etwa aus literaturwissenschaftlicher Sicht) in ihrer materiellen und textuellen Erscheinungsform zunächst nicht substantiell von anderen Textgattungen unterscheiden, so kann ihnen aus historischer Perspektive dennoch eine herausgehobene Stellung im Diskurs zugeschrieben werden, und zwar insofern, als sie in den verschiedenen historischen Kontexten (etwa im gegenwärtigen) als Offenbarung im Sinne einer textuellen Repräsentanz der göttlichen, universalen Wahrheit signifiziert und damit gegenüber nicht als solchen aufgefassten Artikulationen herausgehoben wurden (und werden). Diese Signifizierung erfolgt freilich nicht allein in theologischen Kontexten; auch die allgemeine/ alltägliche Identifizierung ausgewählter Texte als bestimmten religiösen Gruppen als Offenbarung dienende Größen sowie die (religionsphänomenologische) These, dass es sich bei Offenbarung (bzw. deren textueller Repräsentation) um ein universales »Strukturelement«825 menschlicher Religion handele, tragen zur diskursiven Privilegierung bei:

825 Gernot Wießner/Horst Dietrich Preuß/Brigitte (Rivka) Kern-Ulmer/Horst Balz/Eilert Herms: Art. Offenbarung. In: TRE (Band 25), S. 109–210, hier S. 110.

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Zur Natur der Schrift

»Offenbarung ist die Vermittlung religiösen Wissens, die dieses durch ihren Bezug auf das nicht-menschliche religiöse Gegenüber als Wissen über eine wahre Wirklichkeit und daher als autoritativ, als allgemein verbindlich legitimiert. […] Offenbarungsurheber ist in allen Religionen lebendiges Nicht-Menschliches. Nur durch den Verweis auf ein derartiges Gegenüber als Ursprung des für das ›Heil‹ notwendigen Wissens kann dieses von der Erfahrung allgemein menschlicher Relativität distanziert und in einer verbindlichen Autorität legitimiert werden.«826

Begreift man – im Kontext unseres übergreifenden Arguments – das Modell solch autoritativer Schriften mit Offenbarungscharakter nun nicht im tatsächlichen Sinne als eine Form göttlicher Vermittlung oder als allgemeines Element von Religion, sondern vielmehr als ein historisch ›gewordenes‹ Konzept des (heutigen) Religionsdiskurses, so lassen sich daraus mehrere Hypothesen ableiten, wie ich sie in vergleichbarer Form auch schon für Wahrheit, Religion und Gott aufgestellt habe: (1) Bei Offenbarung handelt es sich ganz allgemein um das Produkt eines historischen Diskurses, das aufgrund bestimmter diskursiver Konstellationen im Sinne einer quasi-natürlichen Entität sedimentiert ist. Dies betrifft (bezüglich des weiteren Verlaufs der Argumentation) vor allem das aus dem Christentum erwachsene schriftzentrierte Offenbarungsverständnis, dessen zentraler, prototypischer Gegenstand – die Bibel – seinen herausgehobenen Status im Verlauf der (antiken) Kirchengeschichte erlangen konnte. (2) Die Verbindung christlich-theologischer Kategorien mit dem globalen (innerlichen) Konzept von Religion im 19. Jahrhundert führte dazu, dass die Existenz einer vor allem schriftlichen Offenbarung (neben dem ›einen Gott‹) in der Kolonialzeit zu einer fixen Größe im weltweiten Religionsdiskurs avancierte. Die im Rahmen dieses Diskurses erfolgende Globalisierung eines entsprechenden Offenbarungsverständnisses führte zeitgleich zu dessen kategorialer Universalisierung, und zwar in dem Sinne, dass das Konzept nun von solchen Traditionen adaptiert wurde, die sich im Kontext des globalen Religionsdiskurses rekonstituierten. Diese Entwicklung begründet das heute zu beobachtende Phänomen, dass sich praktisch alle (Welt-)Religionen in irgendeiner Weise zu Offenbarung verhalten, was umgekehrt wiederum den Eindruck bestärkt, dass es sich dabei um einen ›natürlichen‹ Bestandteil verfasster menschlicher Religion handele. (3) Die starke Fokussierung auf den schriftlichen Charakter der Offenbarung ist – neben der allgemeinen Dominanz christlich-theologischer Denkmuster im kolonialen Diskurs – auch und vor allem der zunehmenden globalen Verbreitung wissenschaftlicher Perspektiven auf Religion zu verdanken. Dies betrifft zum einen gewiss die zunächst stark philologisch geprägte Religionswissenschaft, die 826 Ebd.

Offenbarung als Konzept des globalen Religionsdiskurses

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sich in erster Linie für die schriftlichen Quellen außereuropäischer Religionen interessierte.827 Es betrifft zum anderen aber ebenso das Aufkommen der historisch-kritischen Bibelwissenschaft im Kontext der liberalen Theologie, die ja historisch zum Teil mit der Religionswissenschaft verflochten war. Als Ergebnis dieses Prozesses kann das globale Konzept eines ›heiligen Kanons‹ interpretiert werden, der das substantielle ›Wesen‹ der damit jeweils begründeten Religion repräsentierte, legitimierte und als je universales Zeugnis göttlicher Wahrheit normierte – und damit sozusagen festschrieb. Das unter (1) umrissene Verständnis von Offenbarung bezeichnet also zuallererst eine diskursive Praxis, in deren Rahmen vor allem bestimmte Texte in einem spezifischen historischen Kontext als Offenbarungsträger signifiziert worden sind. Im Laufe der Zeit sedimentierte diese Signifizierung (aufgrund der konkreten Beschaffenheit dieses historischen Diskurses) zu einer ›allgemeingültigen Wahrheit‹ im Sinne einer quasi-natürlichen Tatsache, was schließlich dazu führte, dass die betreffenden Texte durch ihre derart privilegierte Stellung über mehr oder weniger lange Zeiträume re-iteriert und tradiert wurden. Judith Gruber beschreibt diese Prozesse der Kanonisierung als »prekäres Verhandeln differenter Deutungsversuche […], in dem in machtvoll vorgenommenen Grenzziehungen und Demarkationen […] Identität bestimmt wird […]. Texte und ihre Zusammenstellung im Kanon sind damit entscheidende Angelpunkte in der Konstruktion von Identität. In ihnen kristallisieren sich die diskursiven Verhandlungen, in denen Identität formiert wird. Sie stehen nicht außerhalb dieser Prozesse, sondern sind Fixierungen, Festschreibungen, die diese Diskursivität in sich austragen, sichtbar machen und greifbare Positionen bieten, an denen sich die fortwährenden Interpretationen abarbeiten können.«828

Während einige dieser Texte, wie etwa die Bibel oder der Koran, über viele Jahrhunderte daher praktisch unverändert überliefert und dabei immer wieder (nicht zuletzt durch die Praxis des muslimisch-christlichen Dialogs) in ihrem Status resignifiziert wurden, sind andere Texte erst in jüngerer Zeit auf diese Weise zu Offenbarungstexten geworden – und zwar, wie unter (2) skizziert, im Kontext des globalen Religionsdiskurses des 19. Jahrhunderts. Prominentes Beispiel dafür ist die Bhagavadgita, die sich erst im 19. Jahrhundert (im Zuge der konzeptionellen Herausbildung des Hinduismus als Weltreligion) als die maßgebliche Offenbarungsschrift der indischen Religion im Sinne des »Evangeliums

827 Fulminantes Zeugnis dieses Interesses sind bspw. die ab 1879 von Max Müller herausgegebenen Sacred Books of the East. 828 Judith Gruber: Theologie nach dem Cultural Turn. Interkulturalität als theologische Ressource. Stuttgart: Kohlhammer 2013, S. 210.

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Zur Natur der Schrift

des Hinduismus«829 etablieren konnte:830 Während dieser wohl bereits Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung entstandene Text vor dem 19. Jahrhundert lediglich in bestimmten geistigen Strömungen wie der Vedanta-Philosophie hochgeachtet wurde, führte die begeisterte Rezeption durch die europäische und US-amerikanische Orientalistik, den Transzendentalismus oder die Theosophie zu einer Popularisierung dieser Schrift auch im indischen Kontext – vor allem im Zusammenhang des mit all diesen Denktraditionen verflochtenen Neohinduismus.831 So bezeichnete der wichtigste Repräsentant des Advaita Vedanta im späten 19. Jahrhundert, Vivekananda, die Bhagavadgita auf dem Weltparlament der Religionen als »den einzigen autoritativen Kommentar der Veden«832, und setzte in weiteren Vorträgen die Gita mit dem Neuen Testament parallel.833 Auch Mahatma Gandhi (1869–1948), der wichtigste Vertreter des Neohinduismus im 20. Jahrhundert, betrachtete »das Buch par excellence für die Erkenntnis der Wahrheit«834 und ließ den Text (in einer theosophischen Übersetzung) 1905 »zur religiösen Unterweisung der indischen Jugend« in Südafrika drucken. Spätestens um 1910 galt die Bhagavadgita auch bei Hindus »außerhalb des Vedanta als zentrale und populäre Schrift des Hinduismus«835, wie der indische Jurist und Reformer Lala Baijnath konstatiert: »Die Gita ist frisch wie immer und genau das, was dem Christen die Bibel ist […].«836 An diesem Beispiel lässt sich anschaulich zeigen, wie die Beschaffenheit eines spezifischen Kontextes (hier des kolonialen) die diskursive Sedimentation des zuvor eher marginalen Status’ der Gita im Sinne eines zentralen textuellen Trägers universaler religiöser Wahrheit bedingt hat: zum einen durch die prominente Rezeption der Vedanta-Philosophie durch europäische und US-amerikanische Akteure, deren diskursive, durch Wissenschaft und universitäre Theologie geprägte Deutungsmacht (nicht zuletzt unter Vermittlung der Theosophie) auch auf indische Gelehrte wie Vivekananda und Gandhi großen Einfluss ausübte; zum zweiten aber auch durch die globalen Konzeptionen von (Welt-)Religion und ›östlicher‹ Spiritualität, welche der koloniale Kontext hervorgebracht hatte, und die in der Folgezeit die Idee eines 829 »Gospel of Hinduism«. P. M. Thomas: 20th Century Indian Interpretations of Bhagavadgita. Tilak, Gandhi & Aurobindo. Delhi: Indian Society for Promoting Christian Knowledge 1987, S. 9. 830 Vgl. Michael Bergunder: Die Bhagavadgita im 19. Jahrhundert. Hinduismus, Esoterik und Kolonialismus. In: Michael Bergunder (Hrsg.): Westliche Formen des Hinduismus in Deutschland. Eine Übersicht. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2006, S. 187–216. 831 Vgl. ebd., S. 203–211. 832 Zitiert nach: Ebd., S. 205. Die Veden stellen für Vivekananda keine Schrift im Sinne eines heiligen Textes dar, sondern repräsentieren die ewigen Gesetze der Welt, vergleichbar mit den Naturgesetzen. Vgl. Viveka¯nanda: Referat über den Hinduismus, S. 15. 833 Vgl. Bergunder: Die Bhagavadgita im 19. Jahrhundert, S. 206. 834 Zitiert nach: Ebd., S. 209. 835 Ebd., S. 210. 836 Zitiert nach: Ebd.

Offenbarung als Konzept des globalen Religionsdiskurses

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›Hinduismus‹ und seiner zentralen Lehren, wie sie die Bhagavadgita vermeintlich am besten repräsentierte, entscheidend prägte. Die Etablierung der Bhagavadgita im Rahmen der (Advaita) Vedanta-Philosophie in Indien sollte später auch Auswirkungen auf den oben bereits als Beispiel angeführten balinesischen Kontext haben. Denn zu den Kriterien, über die die indonesische Verfassung den Status einer Religion (agama) festlegte, gehörte (neben dem Glauben an den einen Gott) gemäß den Konzepten des globalen Religionsdiskurses auch das Vorhandensein eines »heiligen Buches«837. Es verwundert kaum, dass die 1952 einberufene Versammlung der wichtigsten religiösen Repräsentanten Balis, die schon Sang Hyang Widhi zu ihrem höchsten Gott bestimmt hatte, im selben Atemzug nun die Veden, als deren autoritativer Kommentar ja die Gita galt, zur heiligen Schrift erkor – obgleich diese vor Beginn des 20. Jahrhunderts auf Bali weitgehend unbekannt gewesen waren und erst in die lokale Sprache übersetzt werden mussten.838 Prinzipiell verhält es sich freilich auch mit der biblischen Überlieferung wie mit den Veden oder der Bhagavadgita, auch wenn die Sedimentierung der Diskurse um den Status dieser Texte wesentlich länger andauerte und viel weiter zurückliegt als im Fall des indischen Pendants. Während die Aushandlungsprozesse um den biblischen Kanon spätestens mit der Reformationszeit und dem Konzil von Trient weitgehend zum Erliegen gekommen sind, entspinnt sich seither vor allem auf hermeneutischer Ebene der Disput, auf welche Weise diese Texte, deren Status als Offenbarung inzwischen unbestritten scheint, zu deuten sind. Vor diesem Hintergrund können (heilige) Schrift und Offenbarung im butler’schen Sinne auch als die Materialität des christlich-theologischen Wahrheitsdiskurses bezeichnet werden: So handelt es sich beispielsweise bei der argumentativen Praxis, theologische Aussagen bezüglich ihres Wahrheitsgehaltes mit dem Verweis auf Bibelstellen zu belegen, zum einen um den Verweis auf abgelagerte Diskurse über den Status dieser Überlieferung: Indem diese als Träger universaler Wahrheit resignifiziert wird, sollen die ausgewählten Textzitate als diskursive Fixpunkte positioniert und der Diskurs um die auf diese Weise belegten Aussagen zum Erliegen gebracht werden. Zum anderen erzeugt diese Zitationspraxis den Status der Bibel als Offenbarung beständig neu, da der Versuch einer Fixierung der eigenen theologischen Aussagen ja auf der Resignifikation von Offenbarung als rein formaler Operation beruht: So ist es etwa 837 »[…] holy book«. Picard: From Agama Hindu Bali to Agama Hindu and Back, S. 124. 838 Vgl. ebd., S. 124f. Bezeichnenderweise gelang den Balinesen die Anerkennung ihrer Religion durch die indonesische Regierung, obgleich diese ein weiteres Kriterium von agama, nämlich das Vorhandensein eines Propheten, nicht erfüllte (vgl. ebd., S. 125). Es scheint, dass der globale Religionsdiskurs, der ja den einen Propheten als universales Merkmal von Religion gerade nicht verhandelte, die Plausibilität der lokalen, durch muslimische Konzepte dominierten, Diskurse in Indonesien sozusagen ›übertrumpfte‹.

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Zur Natur der Schrift

nicht der Inhalt der herangezogenen Zitate, der die Wahrheit der eigenen Aussagen konstituiert, sondern die Tatsache, dass diese Textstellen als zu Offenbarung zugehörig behauptet werden. Offenbarung ist in diesem Sinne als Signifikant völlig entleert und fungiert lediglich als ›Platzhalter‹ für die (zum Teil abgelagerten) Diskurse, die über göttliche Wahrheit und Wirklichkeit geführt wurden und noch werden. Wie bereits unter (3) angedeutet, reproduziert nicht zuletzt die historischkritische Exegese diesen Status der Bibel im Sinne einer textuellen Repräsentation göttlicher Wahrheit beständig neu: Dies geschieht zum einen durch die in deren konzeptueller Vorgehensweise zu Tage tretende Implikation eines biblischen ›Urtextes‹, gepaart mit der (möglicherweise ebenso impliziten) Vorstellung einer (im Sinne einer methodisch kontrollierbaren) ›richtigen‹ Auslegung desselben – eine Praxis, die diesen Text potentiell als die Basis zur Erkenntnis der göttlichen Offenbarung positioniert;839 zum anderen durch den herausgehobenen Status der historisch-kritischen Exegese als einer wissenschaftlichen Disziplin an den christlich-theologischen Fakultäten, wodurch die biblische Überlieferung in ihrer Schriftlichkeit auch strukturell/institutionell privilegiert wird – gerade auch im Austausch mit anderen Religionen, die zum Teil ebenfalls begonnen haben, historisch-kritische Methoden in ihre theologischen Diskurse zu integrieren. Im Folgenden möchte ich daher den Versuch wagen, die historischkritische Exegese so zu verschieben, dass die ihr potentiell inhärente Tendenz zur oben thematisierten Normativsetzung der biblischen Texte ausgehöhlt wird, bevor ich zum Schluss die Konsequenzen aus den zahlreichen dekonstruierenden Historisierungen (religions-)theologischer Topoi ziehe. Im Zuge dieses Exkurses soll die historisch-kritische Methode selbst zu einem Werkzeug der Dekonstruktion umgeformt werden, um mit ihrer Hilfe den identitätsfixierenden, potentiell essentialisierenden Duktus des herkömmlichen Schriftverständnisses aufzubrechen. Damit soll Schrift bzw. Offenbarung, ebenso wie Wahrheit, Religion und der ›eine Gott‹, dem poststrukturalistisch motivierten religionstheologischen Gespräch verfügbar gemacht werden, wie es in Grundzügen im letzten Kapitel dieses Buches niedergelegt ist.

839 Vgl. Judith Gruber: Der Cultural Turn als erkenntnistheoretischer Paradigmenwechsel. Theologische Stellprobe in einer epistemologischen Rekartografierung. In: Judith Gruber (Hrsg.): Theologie im Cultural Turn. Erkenntnistheologische Erkundungen in einem veränderten Paradigma. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2013, S. 21–44, hier S. 29f.

Exkurs: Historisch-kritische Exegese als Dekonstruktion

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6.2. Exkurs: Historisch-kritische Exegese als Dekonstruktion840 Prinzipiell gilt die (am Beispiel der eklektischen, zu ›Beweiszwecken‹ durchgeführten, Bibelzitation illustrierte) Re-Iteration von Offenbarung im Sinne eines leeren Signifikanten für jeden diskursiven Akt der formalen Markierung eines Textzitats als Teil der göttlichen Wahrheit. Diese Feststellung betrifft freilich auch und gerade die Autoren der (biblischen) Texte selbst: Deren Textproduktion stellt ja prinzipiell nichts anderes dar, als die Zusammenstellung von Aussagen über göttliche Wirklichkeit, die ihnen einerseits bereits als Offenbarung überliefert waren, und weiteren Traditionen, die sie andererseits selbst als autoritative Fixpunkte des theologischen Diskurses positionieren wollten. Im Folgenden möchte ich daher, am Beispiel der neutestamentlichen Überlieferung, den Entstehungskontext der christlichen Offenbarungstexte im historisch-diskurstheoretischen Sinne konzeptionalisieren, um den Prozess der Genese von ›göttlicher Wahrheit‹ vor allem im Medium der ›Schrift‹ zu analysieren, die heute im Allgemeinen als Beleg für die Autorität der biblischen Texte als Offenbarung herangezogen wird. Der Einsatz der historisch-kritischen Methode bietet sich auch deshalb an, weil dieser – ebenso wie unserem Anliegen – die Annahme zugrunde liegt, dass es sich bei den als Offenbarung bezeichneten Texten keineswegs um das zeitlose Wort Gottes handelt, sondern vielmehr um das Produkt eines oder mehrerer historischer Kontexte. Was aber nun die oben durchgeführte Dekonstruktion eines der Sprache (und damit den historischen Texten) äußerlichen Wahrheitsund Wirklichkeitsbegriffs zur Folge hat, ist freilich das Ende einer (möglicherweise impliziten) Hoffnung, in den Quellentexten überhaupt ein wie auch immer geartetes ›authentisches‹ Zeugnis der universalen göttlichen Wirklichkeit zu enthüllen. In diesem Sinne würde man wie gesagt die historisch-kritische Methode in ihrer Intention ›verschieben‹ müssen, und zwar von dem Ansinnen der Rekonstruktion eines Urtextes hin zu einer konsequenten Dekonstruktion des Endtextes. Das Ziel bestünde dabei darin, die Genese von heiliger Schrift und/ oder Offenbarung als Produkt der biblischen Texte sowie der Diskurse, in die sie eingebettet sind, nachzuvollziehen. Wie das funktionieren kann, will ich im Folgenden unter anderem am Beispiel von Mk 3,1–6 parr. illustrieren. Dabei wird sich zeigen, dass eine solchermaßen bestimmte Form der Exegese sich methodisch zu keinem Zeitpunkt von der ›klassischen‹ Weise der Auslegung unterscheidet. Vielmehr geht es mir darum, die einschlägigen, in jeder Einführung

840 Bei diesem Text handelt es sich um einen überarbeiteten Auszug aus: Yan Suarsana: Die Sagbarkeit Gottes. Poststrukturalistische Theorie, historisch-kritische Methode und die Theologie der Religionen. In: ZMiss 2–3/2015, S. 224–260, hier S. 230–245.

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Zur Natur der Schrift

nachzulesenden Methodenschritte unter einer ›verschobenen‹ poststrukturalistischen Perspektive zu beleuchten.841

6.2.1. Hermeneutische Vorentscheidungen 6.2.1.1. Wir leben in Geschichten – Narrativität und Wirklichkeitsverständnis »Wer die Frage nach der Beschaffenheit von Narrativität aufwirft, nötigt zwangsläufig zu einer Reflexion der Beschaffenheit unserer Kultur und, so scheint es, gar der menschlichen Natur als solcher.«842

Hayden White, neben Foucault einer der großen Demaskierer der vermeintlich ›objektiven‹ Geschichtsschreibung, hat uns in The Content of the Form vor Augen geführt, dass es sich ausgerechnet bei der Narrativität, die er den Historikern des 19. Jahrhunderts zum Vorwurf gemacht hatte, um eine Art »Metacode«843, ein »menschliches Prinzip«844, handelt: So hatte White zunächst moniert, dass sich wirkliche, als historisch gedachte Ereignisse »nicht in Form von Geschichten darbieten«845, und dass einem Irrtum, ja einer Fantasie verfalle, wer glaube, »dass wirkliche Ereignisse angemessen repräsentiert werden, wenn gezeigt werden kann, dass sie die formale Kohärenz einer Geschichte abbilden«846. Auch Foucault hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die ›nackte‹ (historische) Realität keineswegs in Form kontinuierlicher Abläufe und logischer Verknüpfungen ›objektivierbar‹ sei; das, was er, wie weiter oben ausgeführt, als die »wirkliche Historie«847 bezeichnet, folge keinen erzählerischen Kategorien und Kontinuitäten, sondern sei vielmehr durch Diskontinuität und Zufall geprägt. Denn am »historischen Anfang der Dinge findet man nicht die immer noch bewahrte Identität ihres Ursprungs, sondern die Unstimmigkeit des Anderen«848. Und dennoch (oder gerade deswegen) ist es nach White eben die erzählerische Kohärenz, »nach der wir trachten«849, denn nur in der Erzählung können die Er841 Ich verwende hier exemplarisch: Udo Schnelle: Einführung in die neutestamentliche Exegese, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 52000. 842 »To raise the question of the nature of narrative is to invite reflection on the very nature of culture and, possibly, even on the nature of humanity itself.« Hayden White: The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Representation. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1987, S. 1. 843 »[…] meta-code […].« Ebd. 844 »[…] human universal […].« Ebd. 845 »[…] real events do not offer themselves as stories […].« Ebd., S. 4. 846 »[…] that real events are properly represented when they can be shown to display the formal coherency of a story?« Ebd. 847 Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, S. 79. 848 Ebd., S. 71. 849 »[…] to which we ourselves aspire […].« White: The Content of the Form, S. 21.

Exkurs: Historisch-kritische Exegese als Dekonstruktion

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eignisse ›zu uns sprechen‹, und nur in der tröstenden »Schließung«850 einer Geschichte erscheint, wonach wir uns sehnen: »In dieser Welt trägt die Wirklichkeit die Maske der Bedeutung, der Vollständigkeit und Fülle, die wir uns nur vorstellen, doch niemals erfahren können.«851 Diesem Umstand sei es zu verdanken, dass die Schließung einer Geschichte als nichts anderes als »ein Verlangen […] nach moralischer Bedeutung«852, als eine Moral von der Geschicht’, gedeutet werden könne – »ein Verlangen, dass Sequenzen wirklicher Ereignisse gemäß ihrer Bedeutung als Bestandteile eines moralischen Dramas beurteilt werden«853. 6.2.1.2. Bibelhermeneutische Modelle als kontextuelle Plausibilisierung göttlicher Wirklichkeit Auch wenn die Narrativität an dieser Stelle gewiss nicht als ein universales Grundprinzip menschlicher Existenz behauptet werden soll, so kann doch kein Zweifel darüber bestehen, dass es sich bei der von ihm charakterisierten narrativen Kohärenz historiographischer Texte zumindest um eine Artikulationsform handelt, die in den von uns thematisierten Kontexten als diskursive Praxis gleichsam sedimentiert ist. Dem (dieser Sedimentierung zu verdankenden) Bedürfnis nach narrativer Geschlossenheit tragen im besonderen Maße die erzählenden Texte der Bibel Rechnung, die das heilsgeschichtliche Handeln Gottes im Alten und Neuen Testament in Form von mehr oder weniger umfangreichen erzählerischen Einheiten darstellen. Dass solche Texte freilich keineswegs als fixe, inhaltlich geschlossene Repräsentationen einer äußeren, historischen Wirklichkeit interpretiert werden können, möchte ich darlegen, indem ich diese im Rahmen des derrida’schen Verständnisses von ›Schrift‹ konzeptionalisiere. Was für Derrida ein bestimmtes sprachliches Zeichen als Schrift konstituiert, ist der Umstand, dass die Möglichkeit seines Funktionierens »an einem gewissen Punkt von seinem ›ursprünglichen‹ Sagen-Wollen […] getrennt wurde«854 – aufgrund der Tatsache, dass sein Referent (also der Autor) sowie sein Signifikat im Laufe der Iteration des Zeichens ›abhanden‹ gekommen sind855. Im Falle biblischer Texte trifft freilich beides zu: Einerseits sind uns die Autoren (wenn überhaupt!) höchstens in Form einer Signatur (etwa der Evangelist, der im all850 »[…] closure […].« Ebd. 851 »In this world, reality wears the mask of a meaning, the completeness and fullness of which we can only imagine, never experience.« Ebd. (Hervorhebung durch mich.) 852 »[…] a demand […] for moral meaning […].« Ebd. 853 »[…] a demand, that sequences of real events be assessed as to their significance as elements of a moral drama.« Ebd. 854 Derrida: Signatur, Ereignis, Kontext, S. 32. 855 Vgl. dazu ebd. S. 29.

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Zur Natur der Schrift

gemeinen als Markus bezeichnet wird) bekannt, die ja »per definitionem die aktuelle oder empirische Nicht-Anwesenheit des Unterzeichners«856 impliziert. Zweitens ist natürlich auch das dem Zeichen innewohnende Verhältnis zwischen Signifikant (etwa λεγιών in Mk 5,9) und dem so bezeichneten Signifikat (hier: der Dämon) kein fixes; mag der Dämon zu markinischen Zeiten noch als realer teuflischer Geist gedacht sein, so bezeichnet λεγιών für die historisch-kritische Exegese vermutlich eher die Vorstellung eines solchen Geistwesens. Was also hier das Zeichen identisch mit sich selbst macht, ist nicht, dass es auf ein fixes Signifikat verweist, sondern vielmehr als Einheit in immer neuen Kontexten (in der markinischen Gemeinde oder dem Studierzimmer der Exegetin/des Exegeten) zitiert werden kann; »von dort aus kann es mit jedem gegebenen Kontext brechen und auf absolut nicht-sättigbare Weise unendlich viele neue Kontexte zeugen. Das heißt nicht, daß das Zeichen außerhalb eines Kontextes gilt, sondern ganz im Gegenteil, daß es nur Kontexte ohne absolutes Verankerungszentrum gibt.«857 Derridas Theorie lässt sich vorzüglich anhand des bereits erwähnten, Jahrhunderte währenden Streits um die biblische Hermeneutik illustrieren. So war Luthers sola scriptura, das in der Orthodoxie (und später vor allem im Pietismus) gar zur Idee der Verbalinspiration des biblischen Textes führte, zunächst seinem »Kampf gegen eine Überformung der ursprünglichen biblischen Intentionen durch sekundäre philosophische Lehren der katholischen Kirche«858 geschuldet. Was hier als eine konsequente Anwendung augustinischer Hermeneutik anmutet, indem die Verknüpfung des Signifikanten mit dem Signifikat auf einer vermeintlich ›wörtlichen‹ Ebene fixiert wird, ist tatsächlich auf den reformatorischen Kontext mit seinen Abgrenzungen zu altgläubigen Verstehenskategorien zurückzuführen. Demgegenüber haben »die moderne Welterkenntnis und die Einsicht in die geschichtliche Bedingtheit der biblischen Zeugnisse, wie sie im Verlaufe der Aufklärung geltend gemacht wurden«859, ein neues Modell der Bibelhermeneutik hervorgebracht, welches die Signifikate des biblischen Textes zunächst an ihrer historischen Plausibilität zu messen gedachte, »um alle bloß zufälligen Geschichtstatsachen auszuschneiden und den Kern herauszupräparieren, der die ewigen Grundwahrheiten […] enthält«860. Vor allem die liberale Theologie hat (in der Reaktion auf die aufstrebenden Naturwissenschaften) den Historismus schließlich zum Programm biblischer Exegese erhoben. So bedeutet Verstehen nach Troeltsch etwa, »auf der Basis von genetischem Denken ein geistiges Phänomen in geschichtliche Entwicklungslinien einordnen zu kön-

856 857 858 859 860

Ebd., S. 43. Ebd., S. 32. Manfred Oeming: Biblische Hermeneutik. Eine Einführung. Darmstadt: WBG 22007, S. 12. Gerhard Maier: Biblische Hermeneutik. Wuppertal/Zürich: SCM R. Brockhaus 1990, S. 96. Oeming: Biblische Hermeneutik, S. 14.

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nen«861. Die so formulierte Verknüpfung biblischer Aussagen mit den Kategorien und Konzeptionen der Religionsgeschichtsschreibung, wie sie etwa in der historisch-kritischen Exegese zutage tritt, steht dabei im klaren Widerspruch zur Idee der Verbalinspiration der lutherischen Orthodoxie, indem zwar beide Positionen auf der Ebene des Signifikanten auf denselben Gegenstand (den materiellen biblischen Text) rekurrieren, auf der Ebene des Signifikats jedoch eine deutliche Verschiebung vornehmen (wie ich oben am Beispiel von λεγιών gezeigt habe), die ihrem jeweiligen Kontext geschuldet ist. Dem konnte auch die Idee einer Personalinspiration biblischer Autoren nicht abhelfen, wie sie seit Schleiermacher »an Terrain gewonnen«862 hat. Zwar tritt hier das romantische Ideal des »geistigen Erlebens eines Individuums«863 insofern hervor, als die göttliche Inspiriertheit des biblischen Autors immerhin durch einen »kongenialen Geist«864 entschlüsselt werden könne; der historisierende Impetus des aufklärerischen Kontextes wird jedoch weiterhin beibehalten, indem die »sprachliche[n] Äußerungen durch philosophische Analyse objektiv und intersubjektiv nachvollziehbar auf ihre Struktur hin«865 beleuchtet werden. Fassen wir zusammen: Zwar handelt es sich bei dem biblischen Text, den wir als Ausgangspunkt jedweder Exegese ansehen, auf der (materiellen) Ebene des Signifikanten um eine kohäsive Einheit, die seit annähernd zwei Jahrtausenden mit größter Bemühung um absolute Unveränderlichkeit tradiert wird. Diese Bemühungen haben indes nicht verhindern können, dass die ›Bedeutung‹ dieses Textes, das Signifikat, stets fließend und niemals fix war; die inhaltliche ›Füllung‹ dieses ›reinen Signifikanten‹ Bibel war nicht gegeben, sie wohnte dem Text nicht inne, sondern war stets das Produkt der Diskurse, die die biblischen Texte verhandelten. Die Konsequenz aus diesen Überlegungen geht über rezeptionsästhetische Schlussfolgerungen noch hinaus: Das, was traditionell als den biblischen Texten vorausgehend gedacht ist und von diesen literarisch interpretiert wird – die Wirklichkeit Gottes in der Geschichte –, ist mit Derridas »Bruch der Anwesenheit«866, der zur Abtrennung des »›ursprünglichen‹ Sagen-Wollens«867 vom überlieferten Textgebilde geführt hat, nurmehr als Folge, als Produkt der verschiedenen Rezeptionskontexte zu denken. Diese durch die Exegese produzierte ›historische Realität‹, die als Wirken Gottes in der Welt verstanden wird, ist dabei eingebettet in die Plausibilitätsketten der sie verhandelnden Diskurse,

861 862 863 864 865 866 867

Ebd., S. 15. Maier: Biblische Hermeneutik, S. 89. Oeming: Biblische Hermeneutik, S. 15. Ebd. Ebd. Derrida: Signatur, Ereignis, Kontext, S. 25. Ebd., S. 32.

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Zur Natur der Schrift

indem sie von diesen antizipiert und strukturiert und selbst wiederum als geschlossene Erzählung repräsentiert wird.

6.2.2. Historisch-kritische Exegese als Genealogie Wer unter einer poststrukturalistischen Perspektive den Umgang mit biblischen Texten pflegen will, kann diese freilich nicht länger als Zeugnisse einer Realität verstehen, die auf irgendeine Weise ›dahinter‹ liegt, die ihnen vorgängig ist, und die es zu entschlüsseln gilt. Daher rücken auch die Verfasser der Texte nicht länger als Deuter und Überlieferer göttlicher Wirklichkeit ins Blickfeld, sondern vielmehr als Leser der ihnen überkommenen Traditionen, die in ihren ›Rezeptionen‹ diese Realität (unter den Bedingungen ihres jeweiligen Kontextes) erst erschaffen haben. Die Exegese leistet in diesem Sinne keine Annäherung an das ›Geschichte gewordene‹ Handeln Gottes an der Welt, sondern zeichnet (gemäß der foucault’schen Genealogie) die Genese von Wissen über dieses später als historisch gedachte Heilshandeln nach: Die Exegese ließe sich nicht von dem Anliegen leiten, etwas zu enthüllen, »›was schon war‹, […] ein wesenhaftes und zeitloses Geheimnis«868; »die Genealogie muß [ihre] Historie sein: die Geschichte der Moralen, der Ideale, der metaphysischen Begriffe […] als der verschiedenen Interpretationen, welche auf dem Theater der Handlungen […] auftreten.«869 6.2.2.1. Die Zweiquellentheorie als genealogischer Stammbaum Das genealogische Verständnis der Exegese soll am Beispiel der synoptischen Evangelienlektüre veranschaulicht werden. Gerade die Zweiquellentheorie ist in hervorragender Weise dazu geeignet, die Fixierung der zumeist in losen Textund Spruchsammlungen überlieferten frühchristlichen Tradition als historisierende Narrative zu illustrieren. Dabei lässt sich die zunehmende erzählerische Verdichtung, die sich bei Matthäus und Lukas gegenüber dem Markusevangelium findet, als Versuch deuten, eine in der Jesus-Tradition konzeptionalisierte Wirklichkeit Gottes in kohärenten literarischen Texten zu plausibilisieren und weiterzugeben. Während Mk als das älteste Evangelium in seinem »einfache[n] und volkstümliche[n] Griechisch«870 noch an vielen Stellen die Zusammenstellung ursprünglich lose überlieferter Einzeltexte kaum durch redaktionelle Überleitungen zu verbergen vermag, so sind Mt und vor allem Lk sichtlich bemüht, den Text des Mk, den sie zu großen Teilen in ihre eigenen Evangelien 868 Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, S. 71. 869 Ebd., S. 78. 870 Schnelle: Einführung in die neutestamentliche Exegese, S. 69.

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übernommen haben, durch »sprachliche und sachliche Verbesserungen«871, durch Glättung und Übersetzung der in Mk enthaltenen aramäischen Fremdworte an ihr eigenes Werk anzupassen. Entscheidender für den Versuch, die Tradition als ›historische‹ Realität erzählerisch zu plausibilisieren, dürfte darüber hinaus jedoch der Umstand gewesen sein, dass beide Evangelisten die Chronologie des Mk zwar im Großen und Ganzen übernehmen,872 diesen jedoch an ihre spezifischen erzählerischen und theologischen Konzeptionen anpassen: Während Mt (ganz anders als Mk) Jesus von Anfang als »Gottes Sohn öffentlich ›proklamiert‹ (Mt 3,17)«873 und durch die Vorschaltung des Stammbaums (Mt 1,1–17) und der Geburts- und Kindheitsgeschichten (Mt 1,18–2,23) diesen als »Nachkommen der Erzväter und als Davididen«874 und damit als bedeutende Persönlichkeit der jüdischen Heilsgeschichte inszeniert, so findet sich bei Lk das erklärte Ziel, dem Leser »Gewissheit«875 über die geschilderten Vorgänge zu verschaffen (Lk 1,4). Sein Evangelium trägt deutliche Züge einer historiographischen Darstellung, die (zusammen mit der Erweiterung durch die Apostelgeschichte) möglicherweise in der Absicht verfasst ist, die ›Geschichte Jesu‹ als historische Realität zu fixieren und damit als ›tatsächlich so geschehen‹ in den Köpfen seiner Leser zu platzieren. Auch die übrigen durch Mt und Lk rezipierten Quellen stützen diesen Befund. Sowohl die von beiden Evangelisten verwendete Logienquelle als auch das jeweilige Sondergut können als Sammlungen weitgehend unzusammenhängender Texte charakterisiert werden,876 die erst durch die narrative Verarbeitung Eingang in die (früh)christliche Tradition gefunden haben. Ähnlich wie etwa im Falle des apokryphen Thomasevangeliums scheint deren inkohärente literarische Form einer weiter reichenden Überlieferung ansonsten eher hinderlich gewesen zu sein. 6.2.2.2. Transformation im Detail – Der synoptische Vergleich Was sich anhand der übergreifenden textuellen Genese in Gestalt der Evangelien demonstrieren lässt, tritt freilich auch auf mikrotextueller Ebene zutage. Hier zeigt sich im Detail, auf welche Weise die Evangelisten als Leser der Tradition das 871 Ebd. 872 Vgl. Gerd Theißen: Das Neue Testament. München: C. H. Beck 22004, S. 23. Zu Parallelen und Abweichungen vgl. im Detail: Heinz Conzelmann/Andreas Lindemann: Arbeitsbuch zum Neuen Testament. Tübingen: Mohr Siebeck 142004, S. 71f. 873 Ebd., S. 327. 874 Ebd. 875 Ebd., S. 338. 876 Vgl. Schnelle: Einführung in die neutestamentliche Exegese, S. 72–84; Theißen: Das Neue Testament, S. 24.

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ihnen überkommene Material rezipiert und repräsentiert haben. Als Beispiel soll hier (wie auch im folgenden) Mk 3,1–6 parr. dienen, eine Perikope, die den Höhepunkt in einer längeren Reihe von Auseinandersetzungen Jesu mit seinen Gegnern um die Einhaltung pharisäischer Vorschriften bildet.877 Hier entzündet sich an der Frage, ob Jesus am Sabbat die gelähmte Hand eines Mannes heilen soll, der ihn in der Synagoge aufsucht, ein Streit, ob »man am Sabbat Gutes tun oder Böses tun« (Mk 3,4)878 solle, der letztendlich zum Beschluss der Pharisäer (und Herodianer) führt, Jesus zu töten. Der Text findet sich ebenfalls bei Mt (12,9–14) und Lk (6,6–11). Die Perikope Mk 3,1–6 ist im Wesentlichen in drei Teile gliederbar. »Die Exposition stellt die handelnden Personen vor«879, und »läßt beides erwarten, den Streit mit den Gegnern und die Heilung des Kranken«880 (V. 1f.): Jesus geht am Sabbat in die Synagoge, in der sich zufällig ein Kranker befindet (V. 1), was mit der Anwesenheit der Pharisäer, deren Absicht Jesus zu erahnen scheint, den Konflikt heraufbeschwört (V. 2). Es folgt der Hauptteil, in dem der Akt der Heilung (V. 3 und V. 5 ab »λέγει«881) den Konflikt mit den Schriftgelehrten (V. 4 und V. 5 bis »αὐτῶν«) gleich einer Ringkomposition umrahmt: Jesus fordert den Kranken auf, hervorzutreten, spricht dann zu den Pharisäern, über deren Verstocktheit er verstimmt ist, und heilt anschließend die gelähmte Hand. Der Schluss (V. 6) schließlich stellt die Folge der (nach Ansicht der Jesusgegner) Missachtung des Sabbats dar: Sie beschließen, ihn zu töten. Dabei handelt es sich gleichzeitig um die verspätete Reaktion der Pharisäer, die in der Gegenwart des Messias schweigen (V. 4: »ἐσιώπων«). Lk entspricht im Wesentlichen der Gliederung des Mk-Textes: V. 6 und V. 7 eröffnen zunächst das Szenario. Die Erwähnung, dass dem Kranken die rechte Hand gelähmt sei (»ἡ χεὶρ αὐτοῦ ἡ δεξιά«), findet sich indes bei Mk nicht und rührt möglicherweise aus einem Umstand her, der sich in einem apokryphen Evangelium ausgeführt findet: Der Kranke ist Maurer und verdient sich mit seinen Händen sein Brot882, womit der Verlust der rechten Hand in diesem Falle eine besonders schwere Einschränkung darstellte. V. 8–10 schildern sodann den Konflikt und die Heilung in einer ähnlichen Ringkomposition wie bei Mk. V. 8 allerdings enthält wieder eine ausführlichere Beschreibung, denn dass Jesus das 877 Vgl. Walter Grundmann: Das Evangelium nach Markus. Berlin: Evangelische Verlagsanstalt 1984, S. 94. 878 Übersetzung nach: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Revidierter Text. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 1981. 879 Joachim Gnilka: Das Evangelium nach Markus. Zürich: Benziger 1978, S. 125. 880 Ebd. 881 Sämtliche griechischen Zitate nach: Kurt Aland/Barbara Aland [u. a.] (Hrsg.): Nestle-Aland. Novum Testamentum Graece, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 271993. 882 Vgl. Gnilka: Das Evangelium nach Markus, S. 127.

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Ansinnen der Lauernden kennt, kann bei Mk lediglich erschlossen werden, während es bei Lk ausdrücklich erwähnt wird: »ἤδει τοὺσ διαλογισμοὺσ αὐτῶν«. Die Aufforderung »ἔγειρε και στῆθι« weist noch deutlicher darauf hin, dass der Kranke im Raum sitzt, was bei Mk nicht explizit betont wird, vermutlich, weil es zu jener Zeit ohnehin so üblich war883. Es wird auch durch »καὶ ἀναστὰσ ἔστη« das Aufstehen des Kranken noch einmal hervorgehoben, auch, um die Erzählung vollständiger erscheinen zu lassen, denn bei Mk muss das Aufstehen des Mannes wieder erschlossen werden. Eine stärkere Gewichtung erhält sodann das Jesuswort durch die Erwähnung seines Namens »Ἰησοῦσ« in V. 9 sowie den belehrenden Beginn der direkten Rede: »ἐπερωτῶ ὑμᾶσ«. Dafür entfällt die emotionale Reaktion Jesu auf die Verstocktheit der Pharisäer, was zusätzlich die Erhabenheit des Christus impliziert, die ihn vom zornigen Menschen bei Mk distanziert. In V. 11 schließlich erzählt Lk die Reaktion der Pharisäer in abgeschwächterer Form als Mk: Zunächst erklärt »ἐπλήσθησαν ἀνοίασ« die Reaktion der Jesusgegner und grenzt sie durch ihren Unverstand noch weiter von Jesus ab. Doch ihre Beratung untereinander endet nicht mit der Absicht, ihn zu töten, sondern lediglich »τί ἄν ποιήσαιεν«. Offensichtlich liest Lk Mk hier nicht in dem Sinne, dass die Heilung am Sabbat den Höhepunkt einer Reihe von Konflikten mit den Schriftgelehrten darstelle, obwohl Lk dieselbe Reihenfolge der vorangehenden Perikopen aufweist wie Mk. Unter diesem Aspekt scheint ein Todesurteil als Folge der Sabbatmissachtung in der Tat unangemessen, zumindest insofern, als es im vorhergehenden Fall (Lk 6,1–5) nicht erfolgt. Die Anwesenheit der Herodianer bei Mk deutet Joachim Gnilka als dessen Interesse, selbige als Gegner Jesu zu nennen.884 Diese Intention findet sich bei Lk durch das Fehlen der Erwähnung der Anhänger des Herodes ebenfalls nicht. Auch bei Mt leiten V. 9 und V. 10 (bis »ξηράν«) das Szenario ein, indem sie Ort und Personen vorstellen. »μεταβὰσ ἐκεῖθεν« stellt, anders als Mk, den Bezug zur vorhergehenden Perikope her: Auch im Gegensatz zu Lk spricht Mt ausdrücklich von demselben Tag, dessen Erwähnung allerdings wegfällt, da sich ja V. 1–8 bereits am Sabbat ereignen. Auch die Anwesenheit der Pharisäer wird nur durch »συναγωγὴν αὐτῶν« angedeutet, deren explizite Erwähnung Mt auch hier im Gegensatz zu Mk und Lk weglässt, da sie ebenfalls Akteure der vorangehenden Perikope sind. Doch weder lauern noch schweigen sie, sondern fragen Jesus direkt nach dem Gebot des Sabbats (V. 10). Mt stellt die Pharisäer also nicht derart hinterhältig dar, wie sie bei Mk und Lk inszeniert werden; die Absicht, ihren Gegner anzuklagen, schildert jedoch auch Mt in V. 10: »ἵνα κατηγορήσωσιν αὐτοῦ«. Jesus antwortet hier auf die Frage der Schriftgelehrten aber nicht mit dem Herrenwort, welches bei Mk und Lk zu finden ist: Keine Frage ist es, die die 883 Vgl. ebd. 884 Vgl. ebd., S. 126.

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Gegner Jesu durch beredtes Schweigen bejahen, und die diese belehren soll; vielmehr begründet Jesus seine Position mit dem Vergleich seiner beabsichtigten Heilung mit der Rettung eines Schafs (V. 11f.) und kommt selbst zu dem Schluss: »ὣστε ἔξεστιν τοῖσ σάββασιν καλῶσ ποιεῖν«. Die Aufforderung an den Kranken, hervorzutreten, entfällt, was darauf schließen lässt, dass sich außer Jesus, dem Kranken und den Pharisäern niemand in der Synagoge befindet. Der Hauptteil wird nun in V. 13 mit der Heilung des Kranken abgeschlossen. Wie bei den anderen Synoptikern verlassen die Jesusgegner schließlich in V. 14 die Synagoge, wobei Mt wie Mk auf die Erwähnung des Unverstandes verzichtet. Überhaupt stimmen die beiden parallelen Schlussverse bei Mk und Mt fast wörtlich überein, wobei bei Mt die Erwähnung der Herodianer fehlt (vermutlich aus ähnlichem Grunde wie bei Lk). Von der Tötungsabsicht (»ἀπολέσωσιν«) der Pharisäer spricht jedoch auch Mt, was insofern verwunderlich ist, da dieser zu keinem Zeitpunkt der Absicht des Mk zu folgen scheint, die Heilung am Sabbat als Endpunkt einer Klimax zu setzen, da der Mikrokontext bei Mt offensichtlich einer anderen Intention folgt, und die entsprechenden Perikopen anders angeordnet sind. Letztlich spricht der synoptische Vergleich von Mk 3,1–6 parr. eindeutig für eine Markuspriorität: Lk und Mt lassen sich aus Mk am plausibelsten herleiten, bleibt seine Kohärenz doch aufgrund der genannten Lücken in der Handlungsschilderung hinter den anderen Synoptikern zurück, die die Texte in dieser Hinsicht nach ihrer Übernahme bearbeitet haben. Gegen eine Matthäuspriorität spricht zudem das abweichende Herrenwort aus dem Mt-Sondergut, weshalb die Variante der anderen Evangelisten als besser bezeugt und damit als genealogisch ›älter‹ gelten kann, wobei eine mögliche Lukaspriorität durch die Abschwächung der Tötungsabsicht, die bei Mk und Mt vorhanden ist, ausgeschlossen werden kann. Zudem ist bei Mt und Lk die Absicht auszumachen, Jesus eher als geduldigen denn als zornigen Lehrer darzustellen, der zumindest bei Lk den Pharisäern in jeder Hinsicht überlegen ist. 6.2.2.3. Kontext und Kon-Text – Motivgeschichte und ›Sitz im Leben‹ Die Iterabilität eines biblischen Textes geht (wie oben beschrieben) zunächst mit dessen Einbettung in die (unendlich vielen) Kontexte einher, mit denen er brechen/die er erzeugen kann. Daraus folgt, dass ein biblischer Text wiederum nur in dem Sinne zitiert werden kann, dass auch sein Kontext als Kon-Text im wörtlichen Sinn zitiert wird, der dadurch freilich ebenso wie der Text selbst einer permanenten semantischen Verschiebung unterliegt. Insofern dürfte die Sagbarkeit eines Textes einerseits durch den Versuch gewährleistet sein, seinen Entstehungskontext zu lesen; auf der anderen Seite verschwimmt hier der »auf

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absolut nicht sättigbare Weise«885 gedachte zeitgeschichtliche Kontext mit den unendlich vielen Kontexten, die die Rezeption dieses Textes begleitet haben. In diesem Sinne gehen freilich auch zeitgeschichtlicher Kontext und Kontext des Rezipienten ineinander über – ein Umstand, der nicht nur die semantische Verschiebung eines Textes bei jedem Versuch seiner Rezeption bedingt, sondern umgekehrt auch den unmittelbaren Kontext der Rezeption selbst konstituiert. Knüpfen wir an die zuvor gemachten exegetischen Überlegungen zu Mk 3,1–6 an. Hier relativiert sich die offenkundige Annahme, dass der Streit um den Sabbat sich an der beabsichtigten Heilung eines »nicht lebensgefährlich Behinderten«886 entzündet, dahingehend, dass das Motiv der Hand in zeitgenössischer wie auch in rezenter Lesart keineswegs nur ›irgendein‹ Körperteil repräsentiert, sondern sehr wohl lebenswichtige, wenn nicht gar lebenserhaltende Funktion hat. So spricht etwa Aristoteles von χείρ als dem ›ὄργανον ὀργάνων‹,887 durch das »Kraft und Anstrengung«888 des Menschen zur Wirkung kommen, Heilung und Segen von den Göttern auf die Menschen übergehen, aber auch Macht und Kontrolle ausgeübt werden. Über die Bedeutung der griechisch-paganen Hand hinaus findet sich in der LXX vor allem die rituelle Verwendung der Hände. Bei der Segnung ist die rechte Hand der linken vorzuziehen, vermittelt erstere doch den stärkeren Segen (Gen 48,14), ferner gilt sie als die eigentlich wirkende (Ex 15,6); eine erhobene Hand spricht einen Schwur aus (Ex 6,8).889 In der Tradition der LXX finden sich auch im NT der Schwur (Apk 10,5f.) und der Segen (Lk 24,50) durch die Hand ausgedrückt, ebenso gewöhnlich mit der Hand vollzogene Tätigkeiten, wie etwa zu beten (1 Tm 2,8) oder alltägliche Arbeit zu verrichten (1 Th 4,11).890 Besonders letztere Tätigkeit ist auch in der heutigen Zeit maßgeblich für die zentrale Bedeutung der Hand verantwortlich, als freilich die tätliche Arbeit nach wie vor die Lebensgrundlage vieler Menschen unserer Gesellschaft darstellt. Doch auch einige weitere der genannten Aspekte des markinischen Kontextes sind über Jahrtausende hindurch bis in unsere Epoche tradiert worden – ein Umstand, der gewiss nicht unerheblich durch die Iteration biblischer Texte bedingt ist. In diesem Sinne prägt die permanente Erzeugung neuer Kontexte durch die Rezeption biblischer Texte auch insofern die Lesbarkeit von Mk 3,1–6, als der unmittelbare Kontext des Rezipienten und sein Ver885 Derrida: Signatur, Ereignis, Kontext, S. 32. 886 Ludger Schenke: Das Markusevangelium. Literarische Eigenart, Text und Kommentierung. Stuttgart: Kohlhammer 2005, S. 97. 887 Vgl. Eduard Lohse: Art. χείρ. In: Gerhard Friedrich (Hrsg.): Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament (Band 9). Stuttgart: Kohlhammer 1973, S. 413. 888 Fritz Laubach/Siegfried Wibbing: Art. χείρ. In: Lothar Coenen/Klaus Haacker (Hrsg.): Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament (Band 2). Wuppertal: SCM R. Brockhaus 2000, S. 1285. 889 Vgl. Lohse: Art. χείρ, S. 415. 890 Vgl. ebd., S. 419.

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ständnis des Motivs der Hand als eines lebenswichtigen Körperteils in diesem Zusammenhang selbst maßgeblich durch den biblischen Text konstituiert ist. Ähnlich verhält es sich auch mit der zentralen Frage, die in Mk 3,1–6 verhandelt wird, nämlich ob »man am Sabbat Gutes tun oder Böses tun« (Mk 3,4) soll; hier ermöglicht das Verständnis der Hand als eines lebenswichtigen Organs erst die ›Übersetzung‹ der bereits im antiken Judentum diskutierten (und von Jesus in Mk 3,1–6 bejahten) Frage, ob »die Lebensrettung den Sabbat [verdrängt]«891 (Joma 85 a/b). Insofern hinterlässt der ›Sitz im Leben‹ von Mk 3,1–6 auch im heutigen Kontext seine Spuren, als auch die Sabbatfrage im rezenten Judentum freilich noch immer kontrovers diskutiert wird. 6.2.2.4. Tradition liest – Formgeschichtliche Überlegungen Die Vorstellung einer Iteration des Kontextes, die die Plausibilität biblischer Texte stützt, kann auch für solche Überlegungen fruchtbar gemacht werden, die traditionell als Formgeschichte bezeichnet werden. So handelt es sich bei den Texten zunächst ganz allgemein um die narrative Fixierung religionsgeschichtlicher Wirklichkeit, indem die jeweiligen Autoren die lose überlieferten ›Traditionsfetzen‹ im Sinne ihrer eigenen Verstehenskategorien zu literarischen Komplexen verbunden haben. Dass dieses ›Lesen‹ der Überlieferung keine unabhängige und gänzlich eigenständige Leistung der Autoren jener neuen literarischen Tradition gewesen ist, wird deutlich, wenn man sich dem zeitgenössischen textuellen Diskurs zuwendet, der die genannten Verstehenskategorien verhandelte: So findet sich im Falle der Perikope aus Mk 3,1–6 etwa in den Historien des Tacitus ein Stück (IV 81892), das dem wundergeschichtlichen Element aus Mk 3 (der Heilung der Hand) im erzählerischen Aufbau äußerst ähnlich ist, und zwar gleichermaßen in der »Schilderung des Gebrechens, Annäherung an den Wundertäter, Erwähnung der Manipulation, Schilderung der Öffentlichkeit des Vorgangs (Menge als Zeuge), Erfolg des Heilers«893. Ganz im Sinne Foucaults fungiert der Autor hier nurmehr als ›Schnittpunkt der Diskurse‹,894 indem er erstens der frühchristlichen Tradition die kontextuellen, narrativen Kategorien eines Heilungswunders einschreibt, und zweitens diese mit einer weiteren literarischen Formtradition verknüpft – dem sog. Apophthegma. Tatsächlich handelt es sich bei dieser Gattung der »kurzen Anekdote über Philosophen, Heilige oder Mönche, die in einem pointierten Ausspruch gipfeln«895, nach Klaus Berger 891 Joma 85 a/b (2. Jh.). Zitiert nach Klaus Berger/Carsten Colpe: Religionsgeschichtliches Textbuch zum Neuen Testament. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987, S. 38f. 892 Vgl. ebd. S. 37f. 893 Ebd., S. 38. 894 Vgl. Pruncˇ: Entwicklungslinien der Translationswissenschaft, S. 262f. 895 Conzelmann/Lindemann: Arbeitsbuch zum Neuen Testament, S. 97.

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keineswegs um eine »alttestamentlich-altjüdische Gattung«896, sondern um eine vor allem im hellenistischen Kulturraum geprägte literarische Form. Ähnlich wie in dem oben erwähnten, thematisch verwandten Stück aus Joma sind in Mk 3,1–6 also jüdische Theologie (Sabbatfrage) und hellenistische Erzähltradition (Apophthegma/Chrie) zu einer literarischen Einheit verwoben. In diesem Sinne können die strukturellen Ähnlichkeiten biblischer Texte, die in der modernen Exegese als literarische Formen kategorisiert sind,897 als Iterationen zeitgenössischer kontextueller Kategorien verstanden werden, die die jeweiligen Autoren den einzelnen Texten eingeschrieben haben. Damit haben sie nicht nur den Diskurs jener losen frühchristlichen Überlieferung kategorial konzeptionalisiert, sondern diesen auch mit den übergreifenden kulturellen Diskursen und deren Verstehenskategorien verschweißt.

896 Klaus Berger: Formen und Gattungen im Neuen Testament. Tübingen/Basel: A. Francke 2005, S. 142. 897 Ich folge hier Conzelmann/Lindemann: Arbeitsbuch zum Neuen Testament, S. 91–113.

7.

Konsequenzen für das Reden vom ›einen Gott‹

7.1. Konzeptuelle Grundlagen Die konzeptuellen Grundlagen einer poststrukturalistisch motivierten Rede von dem ›einen Gott‹ der Religionen, die – im Sinne einer Religionstheologie – im interreligiösen Diskurs angesiedelt ist, ergeben sich aus den in den ersten beiden Kapiteln skizzierten theoretischen Modellen der poststrukturalistischen Theorie sowie aus der mithilfe dieser Modelle durchgeführten Dekonstruktion zentraler Konzepte dieses Diskurses (Wahrheit, Universalität, Religion, ›der eine Gott‹, Schrift/Offenbarung), die diesen in seiner aktuellen Form im Sinne sedimentierter, ›quasi-natürlicher‹ Entitäten strukturieren. Diese Grundlagen lassen sich im Rahmen zweier zentraler Themenkomplexe beschreiben, die ich als die beiden Grundsätze einer poststrukturalistisch motivierten Theologie der Religionen bezeichnen möchte:898 (1) Den ersten Grundsatz bildet dabei die Annahme, dass eine dem Sprachlichen vorgelagerte, als äußerlich gedachte Wirklichkeit oder Wahrheit zu keinem Zeitpunkt im Diskurs repräsentierbar ist – eine Erkenntnis, die sich vor allem aus dem Kapitel zum Wahrheitsbegriff ergibt. Der Grundsatz erfordert ein Ernstmachen mit der Einsicht, dass sämtliche vom Diskurs als theologische Wahrheiten signifizierte Konzepte vielmehr Produkte historischer Aushandlungsprozesse sind, die damit – in poststrukturalistischer Lesart – als kontingent aufgefasst werden müssen: Theologoumena wie die Trinität oder die Transzendenz Gottes sind demnach nicht deshalb wahr, weil Gott ›tatsächlich‹ trinitarisch oder transzendent ist, sondern weil die Konzepte der Trinität und der Transzendenz im theologischen Diskurs sedimentiert sind. Ernstmachen bedeutet in diesem Zusammenhang zweierlei: (a) Zum einen, dass ein poststrukturalistisches Sprechen von Gott nur in der Form erfolgen kann, dass es die Sedimentierung dieser Konzepte durch das Werkzeug der de-essentialisierenden Dekonstruktion entschleiert, um damit der Wahrheit ihre diskursstrukturierende, hegemoniale 898 Vgl. Suarsana: Die Sagbarkeit Gottes, S. 247–252.

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Konsequenzen für das Reden vom ›einen Gott‹

Macht zu entreißen; dies möchte ich als die de-konstruktive Seite der poststrukturalistisch motivierten Religionstheologie bezeichnen. (b) Zum anderen sollte sich die in diesem Sinne betriebene Rede von Gott nicht darauf beschränken, hegemoniale Schließungen und Sedimentierungen aufzubrechen, sondern ebenso neue Wege des Sprechens aufzeigen. Dieses Sprechen muss sich – mit einer konstruktiven Intention betrieben – dadurch auszeichnen, dass es zwar neu von Gott redet, aber nun seinerseits keine neuen diskursiven Fixierungen und Ontologisierungen vornimmt. Während ich die erste, de-konstruktive Form ausführlich in den bisherigen Kapiteln meines Buchs illustriert habe, wird sich der weitere Verlauf (ab Kap. 7.3) zum Schluss noch skizzenhaft mit der zweiten Form befassen. (2) Der zweite Grundsatz einer poststrukturalistisch motivierten Theologie der Religionen ist unmittelbar aus dem ersten abgeleitet und betrifft die religiöse Identität der jeweiligen Position jedweder Person, die sich im Rahmen des religionstheologischen Diskurses artikuliert. Diese Position ist keineswegs (aus einem herkömmlichen Verständnis heraus) als substantiell ›eigen‹ oder von sich aus fix zu konzeptionalisieren, während die gegenüber gesetzten Positionen als ›andere‹, im essentialistischen Sinne ›fremde‹, Identitäten charakterisiert werden können. Vielmehr hat die oben vorgenommene Historisierung des Religionsbegriffs gezeigt, dass Religion (und damit auch die diskursive Positionierung als eine solche) ein Produkt des globalen Religionsdiskurses seit dem 19. Jahrhundert darstellt, sodass die Differenzen und diskursiven Antagonismen, die die religiöse Identität stützen, prinzipiell nicht als die Voraussetzungen, sondern vielmehr ebenfalls als prekäre Produkte des interreligiösen Gesprächs gelten müssen. Bezogen auf die herkömmliche Religionstheologie bedeutet dies, dass sie m. E. teilweise von falschen Voraussetzungen ausgeht: Die heutige ›multireligiöse‹ Beschaffenheit der Welt, deren verschiedene religiöse Positionen und Identitäten sie miteinander ins Gespräch bringen wollen, ist nicht das Ergebnis uralter, im Kern differenter religiöser Bewegungen, die sich Jahrhunderte lang weitgehend unabhängig voneinander entwickelt haben; vielmehr ist sie das historische Produkt eines globalen Diskurses, der in den letzten 200 Jahren aufgekommen ist, und der den verschiedenen Akteuren ihre jeweilige Position auf der religiösen ›Landkarte‹ zugewiesen hat. Es ist klar, dass dieser Diskurs in seinen Konzeptionalisierungen auf Entwicklungen in verschiedenen Kontexten zurückgreift, die zum Teil lange zurückliegen, doch die Markierung, Äquivalentsetzung und substantielle Füllung dieser Traditionen als Religion war die Folge eines globalen Aushandlungsprozesses um das jeweils ›Eigene‹ und ›Andere‹, den ich im Kapitel zum Religionsbegriff umrissen habe. Wie sich etwa am Beispiel des Neohindusimus gezeigt hat, werden die in diesem Diskurs getätigten Aussagen über das ›Eigene‹ stets im Bezug auf das jeweilige ›andere‹ Gegenüber

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getätigt899 und sind insofern davon abhängig, sodass es sich bei der globalen Religionsgeschichte (ganz im Gegensatz zu der oben angeführten Annahme) um eine entangled history oder »Verflechtungsgeschichte«900 handelt, »denn die miteinander in Beziehung stehenden Entitäten sind selbst zum Teil ein Produkt ihrer Verflechtung […]. Die zahlreichen Abhängigkeiten und Interferenzen, die Verflechtungen und Interdependenzen bilden so den Ausgangspunkt eines transnationalen Geschichtsbildes«901. Dabei sind die »Einheiten einer ›Verflechtungsgeschichte‹ […] keineswegs vorgegeben, sondern selbst historische Konstrukte, die vom jeweiligen Thema und Kontext abhängen.«902 Auf diese Weise erzeugt die Begegnung zwischen den verschiedenen Religionen diese (vor allem an den konkreten Orten der Interaktion) beständig neu, indem sie Grenzen und Gemeinsamkeiten aushandelt sowie neue und vermeintlich alte theologische Inhalte (re-)produziert und im Diskurs positioniert. Sigrid Rettenbacher spricht gerade von diesem ›inter‹ der Interaktion, dem Zwischenraum, als einer »wesentliche[n] Kategorie zur Verhandlung von Identitäten«903 und betont, »dass Identitäten nie als reine Entitäten vorliegen. Identitätszuschreibungen sind vielmehr das Produkt diskursiver Aushandlungsprozesse, die sich an den Grenzen zwischen Kulturen, Nationen, Religionen, Geschlechtern, etc. abspielen«904. Der zweite Grundsatz einer poststrukturalistisch motivierten Theologie der Religionen widerspricht also in gewissem Sinne der von John Hick geäußerten Hypothese, »dass unsere eigene Religion nur eine unter vielen ist«905. Vielmehr entspricht er der Erkenntnis, dass gerade auch die ›eigene‹ religiöse Identität das Produkt eines globalen Diskurses ist und insofern von den als ›anders‹ abgegrenzten religiösen Identitäten abhängig. Mit anderen Worten: Jede Religion ist immer auch das Produkt der jeweils anderen, was zur Folge hat, dass sich alle Identitäten, die im Bezug auf Religion artikuliert werden, zumindest in ihrer diskursiven Konstitution aufs Haar gleichen. Die Überlegungen zum zweiten Grundsatz einer poststrukturalistisch motivierten Religionstheologie bedingen eine Reflexion des diskursiven Ortes, von 899 S. auch ebd., S. 249–252. 900 Bergunder: Was ist Religion?, S. 53; s. auch: Sebastian Conrad/Shalini Randeria: Einleitung. Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt. In: Sebastian Conrad/Shalini Randeria/Regina Römhild (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M.: Campus 22013, S. 32–70, hier S. 40. 901 Ebd., S. 39 (Hervorhebung durch mich). Vgl. auch Bergunder: Was ist Religion?, S. 53f. 902 Conrad/Randeria: Einleitung, S. 40. 903 Sigrid Rettenbacher: Interreligiöse Theologie – postkolonial gelesen. In: Reinhold Bernhard/ Perry Schmidt-Leukel (Hrsg.): Interreligiöse Theologie. Chancen und Probleme. Zürich: TVZ 2013, S. 67–111, hier S. 68. 904 Ebd. 905 Hick: Gott und seine vielen Namen, S. 44.

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dem aus die Rede von dem ›einen Gott‹ unter solchen Vorzeichen betrieben werden kann. Gleichzeitig entscheidet sich an dieser Stelle, ob die im ersten Grundsatz aufgestellten Forderungen nach einem neuen Sprechen konsequent eingehalten werden, und zwar insofern, als dieses Sprechen nur in direkter theoretischer Konsequenz aus der Konzeption seines Ortes seine Plausibilität und Glaubwürdigkeit erhält. Daher werde ich mich zunächst diesem Thema zuwenden.

7.2. Der diskursive Ort des Sprechens 7.2.1. Das religiöse ›Gewordensein‹ als Kontext Wie der zweite Grundsatz impliziert, führt die De-Essentialisierung der verschiedenen religiösen Identitäten durch ihre Sichtbarmachung als Produkte diskursiver Aushandlungsprozesse auch zu einer Dekonstruktion von Religion als konstitutiver Grenze zwischen den unterschiedlichen (christlichen, muslimischen, hinduistischen etc.) Theologien. Vor dem Hintergrund der These, dass es sich bei dem heutigen Religionsbegriff um ein globales Konzept handelt, dessen Genese sich bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt, gewinnt die Erkenntnis Wilfred Cantwell Smiths von der Einheit der Religionsgeschichte neue Bedeutung. Das Konzept der oben genannten ›Verflechtungsgeschichte‹ antizipierend, forderte Smith (als welttheologische Konsequenz dieser These) eine Überwindung der »parochialen Ära«906, die auch »die Anerkennung des intrareligiösen Pluralismus in den einzelnen Religionsgemeinschaften [beinhaltet], der die Vorstellung eines festen ›Wesens‹ oder ›Systems‹ verbietet«907: »Für den Historiker bedeutet Einheit nicht, dass A gleichwertig ist zu B, oder dass sich beide auch nur ähneln. Vielmehr besagt sie, dass beide historisch miteinander vernetzt sind […], dass die offensichtliche Vielfalt des religiösen Lebens real ist und sich dennoch in einem historischen Kontinuum ereignet. […] Sie besagt […], dass [A und B] mit denselben Gegenständen oder miteinander interagiert haben, oder dass das eine aus dem anderen ›erwachsen‹ oder vom anderen ›beeinflusst‹ worden ist.«908

906 Andreas Grünschloß: Religionswissenschaft als Welt-Theologie. Wilfred Cantwell Smiths interreligiöse Hermeneutik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994, S. 281. 907 Ebd. 908 »For the historian, then, unity is not all to suggest that A equals B, or even resembles it. Rather, it is to affirm that they are historically interconnected; […] It is, rather, to discern that the evident variety of their religious life is real, yet it is contained within an historical continuum […]; that they have interacted with the same things or with each other, or that one has ›grown out of‹ or been ›influenced by‹ the other […].« Wilfred Cantwell Smith:

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Indes geht es Smith an dieser Stelle nicht darum, nun einen Standpunkt jenseits der historisch gewachsenen inter- und intrareligiösen Differenzen einzunehmen, um einen objektiven Blick auf den ›wahren Kern‹ aller Religion zu erhaschen. Denn »interreligiöses Verstehen«909 bedeutet für ihn stets eine »Form intrareligiösen Verstehens«910 – eine Einsicht, der er im Rahmen seiner »personalistische[n] ›Symboltheorie‹«911 religionswissenschaftlichen Verstehens Ausdruck verleiht: »Die objektive (›wissenschaftliche‹) Wahrnehmung beschreibt die Dinge nicht, wie sie an sich sind, sondern wie sie in gegenständlicher Beziehung zum Menschen stehen. […] Und von den vielen nicht-gegenständlichen Beziehungen zwischen der natürlichen und der menschlichen Welt ist eine die symbolische.«912 Symbolisches Verstehen ist hier jedoch explizit gegen eine positivistische Form der Symboltheorie gewendet. Denn »ich habe den Eindruck, dass einige (zumindest von denen, die sich selbst Phänomenologen nennen) sich zu der Ansicht versteifen, dass Symbole ihre Bedeutung irgendwie in sich selbst tragen – beinahe so, als ob sie einen platonischen Idealismus symbolischer Formen vertreten würden. Mein eigener Eindruck als Historiker ist dagegen, dass kein Gegenstand auf objektive Weise ein Symbol ist, sondern Dinge nur als Symbole in Beziehung zu einer bestimmten Person fungieren, und nicht in Beziehung zu anderen.«913

In diesem Sinne meint Verstehen nicht die »Untersuchung von Gegenständen an sich«, sondern »in ihrer Beziehung zu Personen – zu besonderen Personen und Gruppen; und diese Beziehung ist immer historisch, spezifisch, kontingent.«914 Diese Impulse durch einen der Väter der pluralistischen Religionstheologie lassen sich auch im Rahmen einer poststrukturalistisch motivierten Theologie der ›vielen Religionen‹ fruchtbar machen. Zunächst lässt sich sein Ansatz (gewiss nicht nur in unserem Sinne) als der Versuch lesen, die klassische ›Arbeitsteilung‹ zwischen Theologie und Religionswissenschaft zu überwinden. Zugleich ist ihm

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Towards a World Theology. Faith and the Comparative History of Religion. Philadelphia: Westminster Press 1981, S. 5. Grünschloß: Religionswissenschaft als Welt-Theologie, S. 282. Ebd. Ebd. »The objective (›scientific‹) awareness describes things not as they are in themselves, but as they stand in objectivist relation to man. […] Of the many non-objectivist relations between the natural world and the human, the symbolic is one.« Smith: Towards a World Theology, S. 86. »I get the impression that some, at least, among those who call themselves phenomenologists are inclined to hold that symbols somehow carry their meaning in themselves. They might be seen almost as positing a Platonic idealism of symbolic forms. My own observations as an historian suggest rather that, as I have stated, no object is objectively a symbol: that things are symbols only in relation to certain persons, and not in relation to others.« Ebd. »[…] the study of things […] not in themselves but in their relation to persons – to particular persons and groups; so that the relation is always historical, specific, contingent.« Ebd., S. 87.

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daran gelegen, (inter-)religiöses Verstehen nicht abseits des »religiösen Lebens«915 auf einer Art apositionalen Metaebene anzusiedeln; vielmehr ist dieses Verstehen stets an den konkreten historischen, diskursiven Kontext der Verstehenden gekoppelt. Dieser Hinweis passt zu dem bereits oben angedeuteten Umstand, dass die poststrukturalistische Herangehensweise keineswegs die Auflösung sämtlicher (religiöser) Identitäten und Standpunkte nach sich zieht. Im Gegenteil: zwar gehen diese – als Ergebnis der Dekonstruktion – der Möglichkeit ihrer essentialisierenden Festschreibung vollständig verlustig; diese DeEssentialisierung geschieht allerdings in Form der (Re-)Konstruktion ihrer historischen Genese, die ihre Plausibilität in dem Diskurs, in dessen Rahmen sie als solche artikuliert werden, begründet. Das bedeutet, dass auch im Prozess einer poststrukturalistischen Argumentation (religiöse) Identitäten (wie etwa ›christliche‹ oder ›muslimische‹, aber auch völlig anders gelagerte) keineswegs beliebig oder austauschbar werden, eben weil sie durch den historischen Kontext, in dem sie geäußert werden, ihre Gültigkeit erhalten. Was eine solche Herangehensweise indes beabsichtigt, ist, die historische Kontingenz aller identitätsbezogenen Positionierungen aufzuzeigen, um ontologische Setzungen, die mit der Artikulation von Identität häufig verbunden sind, aufzubrechen. Weil aber nun – wie Smith konstatiert, und wie die bisherigen Überlegungen in diesem Buch nahelegen – Verstehen und Sprechen nur im Rahmen eines historischen (d. h. diskursiven) Kontextes möglich ist, kann sich der/die Verstehende (und damit freilich auch eine unter poststrukturalistischem Vorzeichen betriebene Theologie bzw. Religionswissenschaft) niemals der eigenen kontextuellen Position (und damit Identität) vollständig ›entledigen‹, um damit eine hermeneutische Vogelperspektive einzunehmen. Gleichzeitig muss die Erkenntnis stets in alle Überlegungen miteinbezogen werden, dass auch die eigene (christliche, muslimische, gewiss auch atheistische) Identität weder vollständig selbstgewählt noch notwendig ist, sondern wie gesagt kontingent und geworden – und damit keineswegs Ausdruck einer zeitlosen Möglichkeit der Positionierung –, was eine entsprechend betriebene Theologie wie gesagt dennoch nicht daran hindert, diese historische Identität zum Ausgangspunkt ihrer (religions-)wissenschaftlichen Arbeit zu erklären. Nimmt man diese Überlegungen zum Anlass und Ausgangspunkt einer poststrukturalistisch motivierten Rede von Gott, so bedeutet dies konkret, dass diese Rede stets nur in solchen Kategorien und Figuren vollzogen werden kann, die den Sprechenden in ihrem jeweiligen konkreten, individuellen historischen Kontext zur Verfügung stehen; gleichzeitig muss dieses Sprechen unter Verwendung von aus dem historischen Diskurs entnommenen Konzepten dem Umstande Rechnung tragen, dass diese Konzepte – ganz wie die identitäre Positionierung, von 915 Ebd., S. 281.

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der aus sie artikuliert werden, – historisch gewachsen und damit ebenfalls kontingenter Natur sind. Dies impliziert freilich, dass auch das Gegenüber in seiner Rede von Gott in dieser Kontingenz verortet werden kann und muss – eine Erkenntnis, die die viel gepriesene ›Augenhöhe‹ des Gesprächs bereits in seiner theoretischen Konzeptionierung absichert. Selbstredend zieht dieser Ausgangspunkt keineswegs die theoretische Konsequenz nach sich, dass ein Christ oder eine Christin ausschließlich in christlichtheologischer Terminologie zu sprechen hat, während sich ein Muslim/eine Muslima prinzipiell nur im Bezug auf islamische Kategorien und Argumentationsmuster äußern kann. Ganz im Gegenteil: Schließlich stehen die Terminologien und Kategorien sämtlicher theologischer Traditionen (ebenso wie die Figuren und Denkformen der neuplatonischen und kant’schen Philosophie etc.) sowohl Christen als auch Muslimen prinzipiell gleichermaßen zur Verfügung – ein Umstand, der durch die Globalität des Religionsdiskurses gewährleistet ist, in den alle, die in der heutigen Zeit von Gott reden, eingebettet sind.916 Was allerdings das Reden von Gott in der Terminologie der jeweils ganz konkreten Positionierung meines Erachtens zur bevorzugten Option macht, ist der Umstand, dass ein solches Sprechen seinen Ausgangspunkt in dem nimmt, was Heidegger als die »Geworfenheit«917 des menschlichen Lebens bezeichnet. Diese Figur beschreibt die pure Faktizität und Kontingenz des »In-der-Welt-seins«918, was wir in unserem Sinne vielleicht als ›(Im-)Diskurs-sein‹ verstehen können, also als der bloße Umstand, genau so geworden zu sein, wie man eben wurde. »Das Verständnis des In-der-Welt-seins als Wesensstruktur des Daseins ermöglicht erst die Einsicht in die existenziale Räumlichkeit des Daseins«919 – eine Figur, die in unserem Sinne vielleicht am ehesten mit dem durch die genealogische Vorgehensweise Foucaults aufgespannten Raum der kontingenten Verflechtung verstanden werden könnte. Die ›Geworfenheit‹ in diesen Raum impliziert nun zum einen das positionale Dasein-müssen, das sich im konkreten Diskurs ereignet, zu dem man sich aber zu keinem Zeitpunkt vollständig entschieden hat – ganz zu schweigen davon, dass auch die konkrete Positionierung ›in der Welt‹ zuallererst keine selbstgewählte oder gar notwendige ist, sondern die kontingente Folge des Geworfen- und Gewordenseins; zum anderen aber auch, dass dieses ›In-der916 Vor diesem Hintergrund wird auch mein Versuch plausibel, die Arbeitsweise einer poststrukturalistisch motivierten Religionstheologie anhand des Werkes des Inders Sathya Sai Baba zu demonstrieren. Voraussetzung für die Möglichkeit eines solchen Sprechens scheint mir allerdings die besondere Form der Rede, die einer poststrukturalistischen Theologie der Religionen zu eigen ist (s. unten). Vgl. Yan Suarsana: Im Spiegel des Guru. Postkoloniale Religionstheologie am Beispiel Sathya Sai Babas. In: ZMiss 4/2017, S. 336–367. 917 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer 111967, S. 175. 918 Ebd., S. 104. 919 Ebd., S. 56.

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Welt‹- oder ›Im-Diskurs-sein‹ in den meisten Teilen als vor-reflexives, in Heideggers Worten »alltägliche[s] Selbstsein«920 charakterisiert werden kann. Das bedeutet, dass mit der diskursiven Position, die in der Hauptsache wie gesagt das Ergebnis der ›Geworfenheit‹ ist, eine Vielzahl von Konzeptionierungen des Selbst und der Welt verbunden sind, die niemals explizit reflektiert und artikuliert werden (vielleicht, weil sie nicht das Ergebnis einer bewussten Entscheidung sind), die aber die explizit artikulierten Konzeptionen implizit prägen – ein Grund, weshalb sich der/die Sprechende der jeweiligen Position niemals vollständig entledigen kann.921 Als Beispiel lässt sich hier etwa die oben thematisierte substantialistische Grundlage der hick’schen Religionstheologie nennen, die zwar als solche von ihm nicht expliziert wird, die gesamte Argumentation jedoch an vielen Stellen strukturiert, und zwar gemäß der ›alltäglichen‹ Wissensmaxime Religion existiert. Indem nun eine solchermaßen bestimmte Religionstheologie die mit ihrer kontingenten diskursiven Positionierung verbundene Terminologie aufgreift, verwendet sie diese als eine Art theologische ›Muttersprache‹, die zunächst dazu geeignet ist, das ›Im-Diskurs-sein‹ der einzelnen Religionstheologin oder des einzelnen Religionstheologen dezidiert zu reflektieren und zu artikulieren. Andererseits verbleibt dadurch das Unartikuliert-Alltägliche des Diskurses im ›In-der-Welt‹ der Sprechenden, was die leichtere Auffind- und Thematisierbarkeit des Unartikulierten gewährleistet. Dieser Umstand verhindert, dass positionale Voraussetzungen in Form impliziter Konzeptionen durch die Aneignung von solchen Begriffen verschleiert werden, die dem/der Sprechenden als fremd gegenübergesetzt werden. Einfach gesprochen: ›Christen‹ können damit zwar äußerlich als ›Muslime‹ sprechen, begeben sich dabei jedoch in die Gefahr, die impliziten Voraussetzungen ihrer ›Geworfenheit‹ in eine christliche Positionierung zu übersehen.922 Das Sprechen in Form einer Terminologie, die der vielleicht von einer christlichen Warte aus argumentierenden Religionstheologie ›überkommen‹ ist, scheint mir daher die unproblematischere Praxis zu sein, zumal sie dem jeweiligen Gegenüber diese Positionierung und historische Verortung auch auf den ersten Blick transparent macht – ebenso wie sie auch den Sprechenden selbst jederzeit ins Bewusstsein ruft, die Genese und Kontingenz des eigenen Standpunktes zu thematisieren, den sie gleichzeitig niemals voll-

920 Ebd., S. 126. 921 Mit diesem Aspekt wird auch ein oft geäußerter Vorwurf entkräftet, dass eine allzu pluralistische Perspektive auf andere Religionen mit einer Aufgabe des eigenen Standpunktes verbunden sei. An dieser Stelle wird deutlich, dass die eigene Position im religiösen Diskurs schwerlich verlassen werden kann und somit entscheidenden Anteil am eigenen Reden von Gott hat. 922 Damit wird auch klar, weshalb ich mich auf die oben angeführten Gedanken Wilfred Cantwell Smiths beschränkt habe, ohne weitere Impulse aus seinem Ansatz aufzunehmen.

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ständig hinter sich lassen können.923 Gleichzeitig wird die Gefahr minimiert, Figuren und Symbole des Gegenübers in einem Sinne zu verwenden, der möglicherweise nicht dessen Vorstellungen und Verwendungsweisen entspricht, weil diese durch implizit vorausliegende Konzepte strukturiert sein können, die von den Gesprächsbeteiligten nicht reflektiert werden. Zusammenfassend: Da aus poststrukturalistischer Sicht jegliches Sprechen ohnehin nur im Rahmen eines historischen und kontingenten Diskurses geschieht und damit das Gesagte selbst niemals als Repräsentation einer äußeren Wahrheit oder Wirklichkeit aufgefasst werden kann, ist es (aus rein pragmatischer Sicht) von Vorteil, wenn die Sprechenden ihre jeweilige Artikulation mithilfe jenes (Sub-)Diskurses plausibilisieren, in den sie selbst unmittelbar eingebettet sind. Dennoch ist klar, dass diese diskursive Einbettung (und damit auch die Artikulation, die an sie zurückgebunden ist) historisch geworden und damit kontingent ist – ein Umstand, den eine poststrukturalistische Herangehensweise nicht nur aufnehmen, sondern vielmehr zur Voraussetzung ihres Sprechens machen muss. Bevor ich mich allerdings diesem Punkt zuwende, möchte ich noch auf einen weiteren zentralen Aspekt der diskursiven Positionierung einer poststrukturalistisch motivierten Theologie der Religionen eingehen.

7.2.2. Poststrukturalistische Religionstheologie als postkoloniale Theologie Es liegt auf der Hand, dass die Reflexion der Positionierung einer poststrukturalistischen Theologie der Religionen (neben ihrer religiösen Herkunft) ein weiteres Element betrifft, und zwar das ihrer theoretischen Grundlage. Denn schließlich ist die philosophisch-konzeptuelle Basis einer solchermaßen betriebenen Religionstheologie ebenso ihrer ›Geworfenheit‹ geschuldet wie ihre religiöse Verortung als christlich oder muslimisch (oder auch dazwischen oder als nichts dergleichen). Dies impliziert nicht nur, dass ihre theoretische Basis kei923 Dass besonders der letzte Punkt vor allem dann ein Problem darstellen kann, wenn der dezidierte Versuch unternommen wird, bewusst außerhalb der eigenen Tradition zu sprechen, zeigt sich etwa im Falle einer (pluralistischen) Religionstheologie, welche die historische Bedingtheit (und damit Kontingenz) ihrer eigenen Positionierung theoretisch an zentralen Stellen nicht einholt. Das heißt nicht, dass sich nicht auch eine poststrukturalistische Herangehensweise anderer Kategorien und Figuren als jener der historischen Theologien bedienen kann; das angesprochene Beispiel zeigt jedoch, dass die Reflexion der Kontingenz des eigenen Sprechens dadurch nicht unerheblich erschwert wird. Ein ähnliches Problem liegt m. E. etwa auch im Falle religionswissenschaftlicher Argumentationsmuster vor, die sich von der Theologie dadurch abzugrenzen suchen, dass sie beanspruchen, Religion quasi ›von außen‹ zu thematisieren; wie die Debatten um die Religionsphänomenologie gezeigt haben, führt eine solche argumentative Objektivierung der eigenen Position häufig zu einer theoretischen Ausblendung der Diskursivität der eigenen Konzeptionen über Religion.

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neswegs notwendig, sondern freilich kontingent ist; es bedeutet außerdem, dass sie von bestimmten Voraussetzungen ausgeht, die ihr implizit sind, und die auch in diesem Buch bislang noch nicht ausführlicher thematisiert wurden. Diese Feststellung betrifft vor allem die Herkunft der poststrukturalistischen Theorie in bestimmten politischen und gesellschaftlichen Diskursen der Vergangenheit sowie ihr dadurch geprägtes politisches Ethos. Zunächst in Frankreich bildete sich – in Anknüpfung an Theorien aus dem Umfeld des Marxismus und Strukturalismus – ab den 1960er-Jahren eine Art Denkschule, die in den folgenden Jahrzehnten großen Einfluss besonders in solchen wissenschaftlichen Disziplinen gewinnen sollte, die sich der Kritik an totalitären oder anderweitig ›naturalisierten‹ Strukturen verschrieben hatten (als Beispiele sind hier etwa Teile der Geschlechter- und Queertheorie924, der [post-marxistischen] Politikwissenschaft925 oder auch der Psychoanalyse926 zu nennen). Besonderen Einfluss und globale Verbreitung fand die poststrukturalistische Theorie indes in den sogenannten Postcolonial Studies. Diese Geistesströmung wurde durch marxistische Intellektuelle begründet, die nach dem Zweiten Weltkrieg in den entkolonisierten Gebieten der sogenannten ›Dritten Welt‹ eine intensive Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen, die der europäische Kolonialismus in ihren Ländern bedingt hatte, initiierten. Ihre Vordenker, wie etwa der aus Martinique stammende Politiker und Dichter Aimé Césaire (1913–2008) und sein Schüler Frantz Fanon (1925– 1961), der zunächst als Arzt und später als Unabhängigkeitskämpfer in Algerien wirkte, thematisierten den Kolonialismus nicht nur als ein brutales politisches und administratives System der Ausbeutung, sondern konzeptionalisierten diesen darüber hinaus als eine Ideologie, die die »kolonialen Subjekte«927 degradiert und verdinglicht habe; demgemäß beschränkt sich die antikoloniale Kritik hierbei »nicht auf die gewalttätige Geschichte der kolonialen Ausbeutung, denn die tiefgreifendsten Auswirkungen des Kolonialismus liegen darin, dass die Eingeborenen durch die Haltung der Europäer ihnen gegenüber enthumanisiert worden sind«928. Als eigentlicher Begründer der postkolonialen Studien gilt indes 924 Am prominentesten ist hier vor allem die oben bereits zitierte US-amerikanische Philosophin Judith Butler zu nennen, aber auch Theoretikerinnen wie die belgische Psychoanalytikerin Luce Irigaray oder die bulgarische Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva. 925 Hier können vor allem der argentinische Politikwissenschaftler Ernesto Laclau und seine belgische Kollegin Chantal Mouffe angeführt werden, aber auch der Wiener Soziologe Oliver Marchart. 926 Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan (1901–1981) gilt gar als einer der Väter des Poststrukturalismus. 927 Andreas Nehring/Simon Tielesch: Theologie und Postkolonialismus. Zur Einführung. In: Andreas Nehring/Simon Tielesch (Hrsg.): Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge. Stuttgart: Kohlhammer 2013, S. 9–50, hier S. 15. 928 Ebd., S. 16.

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der palästinensisch-stämmige Literaturwissenschaftler Edward Said (1935– 2003). In seinem Buch Orientalism (1978) analysierte er ausgewählte Werke der britischen und französischen Orientalistik unter Anwendung der Theorien Michel Foucaults und stellte dabei die These auf, dass die wissenschaftliche Anhäufung von »systematische[m] Wissen über den Orient, gefördert sowohl durch den Kolonialismus als auch durch das wachsende Interesse am Fremden und Ungewöhnlichen«929, im 19. und 20. Jahrhundert unter der maßgeblichen »Grundannahme [erfolgte], den Orient insgesamt wenn nicht als zutiefst minderwertig, so doch als korrekturbedürftig aufzufassen«930. Denn der Orientalismus »ging […] mit dem sicheren Wissen einher, dass Europa (oder der Westen) den weitaus größten Teil der Erdoberfläche beherrschte. So fiel der institutionelle und ideologische Vormarsch des Orientalismus genau mit der beispiellosen Expansion Europas zusammen, als die direkte Kolonialherrschaft von 1815 bis 1914 ihren Anteil von etwa fünfunddreißig auf knapp fünfundachtzig Prozent der Erde ausbaute.«931

Die These, dass das europäische Wissen über die Kulturen außerhalb Europas zutiefst mit der kolonialen Herrschaft und deren Ideologie verflochten sei, prägte in der Folgezeit zahllose Intellektuelle mit Wurzeln in ehemaligen Kolonien, wie etwa die bereits erwähnten, aus Indien stammenden Denker Homi Bhabha932 und Dipesh Chakrabarty933, aber auch den jamaikanisch-britischen Soziologen Stuart Hall934, der als Mitbegründer der Cultural Studies gilt, oder die in den USA lehrende Inderin Gayatri Spivak, eine wichtige Vertreterin der Subaltern Studies935. All diesen Arbeiten ist gemein, dass sie – in (zuweilen kritischer) Anknüpfung an Saids Orientalism – die bereits bei Fanon zu findenden Grundlinien postkolonialistischen Denkens in intensiver Auseinandersetzung mit poststrukturalistischen Theorien rekonzeptualisierten. Wie die ersten drei Kapitel des vorliegenden Buches gezeigt haben, kann das von den Postcolonial Studies identifizierte, mit kolonialen Ideologien verflochtene Wissen über die außereuropäischen Kontexte als fundamentaler Bestandteil auch und gerade einer solchen Theologie bezeichnet werden, die sich der Reflexion des Verhältnisses der verschiedenen Religionen der Welt untereinander verschrieben hat – was im Falle des zeitgenössischen akademischen Diskurses 929 930 931 932 933

Said: Orientalismus, S. 53. Ebd., S. 54. Ebd. Vgl. v. a. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Vgl. Dipesh Chakrabarty: Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung. Frankfurt a. M./New York: Campus 2010. 934 Vgl. etwa Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg: Argument 2012. 935 Vgl. v. a. Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak?

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zumeist die Verhältnisbestimmung der christlichen (häufig als europäisch verstandenen) Religion zu den nicht-christlichen Religionen umfasst. Dies betrifft (wie oben dargestellt) nicht allein Religion als zentrale Kategorie des kolonialen Diskurses zur Signifizierung von Differenz zwischen ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹, sondern ebenfalls das Konzept der Universalität, mit deren Hilfe etwa die Überlegenheit der eigenen (europäischen, indischen) Zivilisation über die jeweils anderen behauptet wurde. Vor dem Hintergrund dieser Argumentation können als zweiter Ort einer poststrukturalistischen Religionstheologie die Postkolonialismusstudien identifiziert werden, weshalb ich meine Argumentation hier im disziplinären Kontext der (christlichen) Postkolonialen Theologie positionieren möchte. Mit dieser (im deutschsprachigen Kontext noch recht wenig beachteten936) Strömung verbindet die poststrukturalistisch motivierte Theologie der Religionen nicht allein ihre theoretische Grundlage, sondern – wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben – auch ihr erklärtes Ethos im Sinne einer radikalen Ideologiekritik. Als Ideologie soll an dieser Stelle (und in postkolonialer Lesart) zunächst ganz allgemein ein Diskurs verstanden werden, der zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem historischen Kontext sedimentiert ist, sodass seine inhaltlichen Konzepte über die Welt als realitätsstiftende, ›quasi-natürliche‹ Entitäten fungieren. Während alltägliche ›Ideologien‹ (etwa Kleidung zu tragen) Bestandteil des heidegger’schen ›Geworfenseins‹ sind und damit in zumeist unproblematischer Weise unser ›In-der-Welt-sein‹ plausibilisieren, ist für die postkoloniale und poststrukturalistische Arbeit eine Ideologie (im engeren Sinne) dann kritikwürdig, wenn sie mit der Ausübung von Macht verbunden und damit zu einer hegemonialen Praxis wird. Dies geschieht dann, wenn mit der ideologischen Artikulation eine implizite (oder zuweilen auch explizite) Normativität signifiziert wird, die im Gegenzug diskursive Ausschlüsse durch die Identifizierung des Nicht-Normativen (etwa im Sinne des laclau’schen Antagonismus) produziert und damit gesellschaftsstrukturierend wirkt. Mit diesem Verständnis knüpft die postkoloniale Theorie an den italienischen Philosophen und Kommunisten Antonio Gramsci (1891–1937) an, der Ideologien als »Orte des sozialen Kampfes und sozialer Auseinandersetzungen«937 bezeichnet hat. »Wie werden Menschen dazu gebracht, eine ganz spezifische Ansicht der Dinge zu entwickeln? Die Frage, die Gramsci an die Ideologie stellt, ist daher nicht, ob eine Ideologie richtig oder falsch ist, sondern wie Ideologien ausgetragen werden und wie Menschen dazu gebracht werden, eine Ideologie zu übernehmen.«938

Indes ist nicht jede Ideologie als solche erkennbar, insbesondere dann nicht, wenn sie auch in einem breiteren diskursiven Kontext sedimentiert ist; Ideologie 936 Vgl. Nehring/Tielesch: Theologie und Postkolonialismus, S. 9. 937 Ebd., S. 20. 938 Ebd.

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erscheint dann als eine Ontologie, deren Diskurscharakter nicht mehr sichtbar ist, was eine Kritik daran zunächst unplausibel erscheinen lässt. Beispiele für eine solche Onto-Ideologie sind freilich nicht allein die oben thematisierten Konzepte von Religion oder Universalität, sondern prinzipiell unser gesamtes Wissen über die Welt, insoweit ganz allgemein davon ausgegangen wird, dass es die Welt repräsentiere, ›wie sie wirklich ist‹. Umgekehrt heißt das, dass das ideologiekritische Ethos der poststrukturalistischen Theorie auf die Entschleierung der hegemonialen Praktiken abzielt, die in sämtlichen Ontologien sedimentiert sind (und damit prinzipiell auch in unseren ›alltäglichen‹), sodass dieses Ethos ganz allgemein auch als ontologiekritisch bezeichnet werden kann.939 In einem seiner letzten Texte hat sich Foucault diesem kritischen Ethos nochmals pointiert zugewandt. Das Ethos, das von ihm auch als »Haltung der Moderne«940 bezeichnet wird, ist für ihn vor allem dadurch geprägt, dass es das Interesse am Zustand der Gegenwart zum Ausgangspunkt hat, um die »historische Seinsweise und die Konstitution seiner selbst als autonomes Subjekt«941 einer permanenten Kritik zu unterziehen. Dabei geht es freilich »nicht darum, den vergänglichen Augenblick zu sakralisieren, um ihn bewahren oder verewigen zu wollen«942. Vielmehr charakterisiert Foucault das kritische Ethos als eine »Grenzhaltung«943: »Kritik besteht gerade in der Analyse der Grenzen und ihrer Reflexion. Aber wenn es die Kantische Frage war zu wissen, welche Grenzen die Erkenntnis nicht überschreiten darf, scheint es mir, daß die kritische Frage heute in eine positive gekehrt werden muß: Welchen Ort nimmt in dem, was uns als universal, notwendig und verpflichtend gegeben ist, das ein, was einzig, kontingent und das Produkt willkürlicher Beschränkungen ist? Alles in allem geht es darum, die in Form der notwendigen Begrenzung ausgeübte Kritik in eine praktische Kritik in Form einer möglichen Überschreitung zu transformieren.«944

Mit ›praktisch‹ meint Foucault, »daß Kritik nicht länger als Suche nach formalen Strukturen mit universaler Geltung geübt wird, sondern eher als historische Untersuchung der Ereignisse, die uns dazu geführt haben, uns als Subjekte

939 Vor diesem Hintergrund sollte das ›post‹ der postkolonialen (und freilich auch poststrukturalistischen) Theorie nicht im Sinne eines zeitlichen ›nach‹, sondern vielmehr als ein konzeptuelles ›jenseits‹ gelesen werden, weil diese Theorie die koloniale Ontologie der Universalität (Europas) zu überwinden sucht, ohne ihr eine neue Ontologie folgen zu lassen. 940 Michel Foucault: Was ist Aufklärung? In: Eva Erdmann/Rainer Forst/Axel Honneth (Hrsg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Frankfurt/New York: Campus 1990, S. 35–54, hier S. 42. 941 Ebd., S. 45. 942 Ebd., S. 43. 943 Ebd., S. 48. 944 Ebd.

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dessen, was wir tun, denken und sagen zu konstituieren und anzuerkennen«945 – ein Aspekt, den ich oben bereits als den de-konstruktiven Aspekt der poststrukturalistisch motivieren Religionstheologie bezeichnet habe. Der zweite, konstruktive Aspekt wird indes sichtbar in der Bemerkung Foucaults, dass die von ihm charakterisierte »praktische Kritik« (anders als die kant’sche) gerade »nicht transzendental«946 sei, weil ihr Ziel nicht in der »Ermöglichung einer Metaphysik«947 bestehe. Denn »sie ist in ihrer Absicht genealogisch«948, und zwar insofern, »als sie nicht aus der Form unseres Seins das ableitet, was wir unmöglich tun und wissen können; sondern sie wird in der Kontingenz, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, die Möglichkeiten auffinden, nicht länger das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken.«949 Die de-essentialisierende Historisierung ist für Foucault also nicht allein ein Instrument, um zu verstehen, wie wir als Subjekte des Diskurses historisch konstituiert sind; vielmehr eröffnet die genealogische Herangehensweise für ihn die Perspektive darauf, wie es auch plausibel ›hätte sein können‹ (oder vielleicht sogar war) – und damit verbunden das Aufzeigen von alternativen Möglichkeiten, diskursive Konzepte auch abseits ihrer onto-ideologischen Sedimentierungen zu denken. Die historisierende Dekonstruktion, die die Kontingenz aller diskursiven Wahrheiten herausstellt, dient somit der Plausibilisierung alternativer Deutungsmöglichkeiten, die bisher durch die ontologischen Schließungen überdeckt oder verhindert wurden. Demgemäß versucht diese Form von Kritik »nicht, eine Metaphysik zu eröffnen, die schließlich zur Wissenschaft wurde; sie versucht, so weit und so umfassend wie möglich, der unbestimmten Arbeit der Freiheit einen neuen Impuls zu geben.«950 Es ist gewiss kein Zufall, dass sich auch die postkoloniale Theologie diesem zweiten Aspekt der poststrukturalistischen Theorie widmet. Denn neben der Frage, wie etwa »Menschen anderer Religionen und Kulturen ein missionarisches Christentum der Europäer für sich annehmen konnten, [und] was sie davon übernommen haben«951, steht auch der Aspekt im Fokus, an welchen Stellen des Diskurses »sie Formen entwickelt haben, in denen Widerstand gegenüber den westlichen Missionaren möglich geworden ist. Solche hegemonialen Transformationsprozesse werden inzwischen zunehmend als ein zentraler Aspekt kolonialer Macht angesehen und die Analyse kolonialer Strukturen verlagert sich von einer [dekonstruierenden] Kritik am 945 946 947 948 949 950 951

Ebd., S. 49. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Nehring/Tielesch: Theologie und Postkolonialismus, S. 21.

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Eurozentrismus und Orientalismus hin zu Fragen nach Dialog, Austauschmechanismen und transkulturellen Neuformulierungen von Strukturen, Institutionen und Ideen.«952

Diese Lesart erklärt sich auch aus dem oben genannten Ideologiekonzept Gramscis, das in der postkolonialen Theorie großen Einfluss entfaltete. Denn es »war nicht Gramscis Intention, nur die Bedeutung von Ideologie neu zu definieren, vor allem wollte er verstehen, wie durch Ideologien auch ein sozialer Bereich entsteht, in dem Menschen sich bewegen können, in dem sie ein Bewusstsein von ihrer Position bekommen können und in dem sie auch ein Bewusstsein für Widerstand entwickeln können.«953

In diesem Sinne kann eine poststrukturalistische, sich als postkolonial verstehende Religionstheologie nicht darauf beschränkt sein, das ihr zugrunde liegende Wissen (etwa über die Religionen der Welt oder den einen Gott) als kontingentes Produkt historischer Diskurse zu thematisieren. Ihr kritisches Ethos ist kein Selbstzweck, der allein dem Ende diente, das dekonstruierte Wissen als kontingent, falsch oder (im schlimmsten Fall) ›ideologisch‹ zu brandmarken. Die Dekonstruktion fungiert vielmehr als Schlüssel zu Räumen der (theologischen und religionswissenschaftlichen) Erkenntnis, zu denen der Zugang bislang durch Sedimentierungen, die im historischen theologischen Diskurs als Wahrheit markiert wurden, verstellt war. Diese Räume werden nun durch die genealogische (Re-)Konstruktion alternativer Plausibilitätskontexte erschlossen, indem die Produkte des sedimentierten Wahrheitsdiskurses in ihrer Kontingenz sichtbar gemacht und anschließend durch andere, ebenfalls kontingente Produkte eines alternativen Diskurses verschoben oder ersetzt werden – mit dem erklärten Ziel, die von Foucault benannten Grenzen des Sagbaren (und damit perspektivisch auch die des interreligiösen Dialogs) aufzubrechen. Während die bisherigen Kapitel des vorliegenden Buchs wie gesagt die Dekonstruktion und De-Essentialisierung des herkömmlichen religionstheologischen Wissens in den Fokus gerückt haben, um die Grenzen des Nachdenkens und Sprechens über Gott zu erweitern, möchte ich mich abschließend der Art und Weise zuwenden, wie in Räumen, die der Religionstheologie dadurch neu erschlossen wurden, nun konkret gesprochen werden könnte.

952 Ebd. 953 Ebd.

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7.3. Sprechen von dem ›einen Gott‹ 7.3.1. Poststrukturalistische Religionstheologie als (post-)pluralistische Theologie Die ›Geworfenheit‹ der poststrukturalistischen Religionstheologie, die deren Positionierung im religiösen Kontext sowie in der poststrukturalistischen bzw. postkolonialen Theorie bedingt, legt nahe, den Ausgangspunkt eines konkreten Denkens und Sprechens von Gott unter Heranziehung dieser beiden Aspekte zu bestimmen. (1) Bezüglich ihrer Positionierung in konkreten (religiösen) Diskursen der Gegenwart, etwa im christlich-theologischen, bedeutet dies, dass die poststrukturalistisch motivierte Religionstheologie zunächst ganz konkret an die im Rahmen dieser Diskurse sedimentierten Konzepte vom ›einen Gott‹ anknüpft, die, wie ich oben zu zeigen versucht habe, als das kontingente Produkt historischer Aushandlungsprozesse (nicht zuletzt des langen 19. Jahrhunderts) zu verstehen sind. Um hier die Anknüpfbarkeit auch auf einer ›praktischen‹ Ebene zu gewährleisten, muss die Position des hier diskutierten Ansatzes noch weiter präzisiert werden, und zwar durch dessen Verortung im akademischen Diskurs der Theologie der Religionen. In ihrem durch die postkoloniale Theologie geprägten (politischen) Ethos entspricht eine poststrukturalistisch motivierte Religionstheologie meines Erachtens dabei am ehesten der pluralistischen Option, wie sie etwa von Wilfred Cantwell Smith, John Hick oder Perry Schmidt-Leukel vertreten wird, zu der sich (wie ich ja auch schon verdeutlicht habe) zahlreiche Bezüge argumentativer Natur herstellen lassen. Vor diesem Hintergrund schlage ich vor, den theologisch-diskursiven Ausgangspunkt des hier skizzierten Vorgehens mithilfe zentraler Theologoumena der pluralistischen Religionstheologie zu bestimmen, die diesem als ihm historisch überkommene (zum Teil sedimentierte), kontingente Grundlagen der Konzeptionierung Gottes dienen. Der konzeptuelle Ausgangspunkt des ›einen Gottes‹ lässt sich im Bezug auf den theologischen Diskurs daher wie folgt beschreiben: »Erstens die Erkenntnis, dass wenn die transzendente Wirklichkeit als eine unbegreifbare und unbeschreibbare Wirklichkeit gedacht werden soll, die konkreten personalen und impersonalen Vorstellungen von dieser Wirklichkeit, die wir in den Religionen finden, nicht den Status unmittelbar zutreffender Beschreibungen haben können […]. Die zweite theologische Voraussetzung besteht darin, Offenbarung im Sinne göttlicher Selbsterschließung zu deuten. Das heißt, dass es nichts anderes ist als die unendliche transzendente Wirklichkeit selbst, die sich dem Menschen erschließt. […] Die unterschiedlichen Offenbarungszeugnisse und Urkunden der Religionen lassen sich dann als

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menschliche Reaktionen auf eine universale Selbsterschließung der transzendenten Wirklichkeit deuten.«954

Im Bezug auf die bisherige Argumentation des Buchs sowie den im Folgenden zu skizzierenden zweiten Aspekt des konzeptuellen Ausgangspunkts der poststrukturalistisch motivierten Rede vom ›einen‹ Gott möchte ich diese Zusammenstellung wie folgt operationalisieren: (a) Gott existiert wahrhaft und wirklich; er ist in Wahrheit. (b) Gott ist transzendent und damit von der immanenten Welt des Menschen grundsätzlich verschieden. (c) Die verschiedenen Religionen der Welt und deren Offenbarungstexte sind der Versuch des Menschen, sich die transzendente Wirklichkeit Gott mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln der Erkenntnis zu erschließen. (d) Gott ist daher der eine Gott, der allen Religionen gleichermaßen zugrunde liegt. (2) Indes unterscheidet sich eine poststrukturalistisch motivierte Religionstheologie substantiell von ihrer pluralistischen ›Schwester im Geiste‹ – ein Umstand, der freilich ihrer Herkunft in der poststrukturalistischen und postkolonialen Theorie geschuldet ist. Diese Herkunft bedingt eine entscheidende Modifikation der angeführten Theologoumena des pluralistischen Ansatzes, und zwar im Sinne einer konzeptuellen Verschiebung hin zu einer ›post-pluralistischen‹ Sichtweise, die durch die abweichenden erkenntnistheoretischen Grundlagen bedingt ist. (a) Bezüglich der Prämisse, dass Gott wahrhaft und wirklich, also in Wahrheit, existiert, vollzieht sich die konzeptuelle Verschiebung vor dem Hintergrund der in Kapitel 1 vorgenommenen Dekonstruktion des Wahrheitsbegriffs und der Neubestimmung desselben mithilfe der poststrukturalistischen Theorie. Hier wurde Wahrheit (im Sinne eines sedimentierten Namens) als ein Produkt historischer Diskurse verstanden, dessen Historizität und Diskursivität durch die allmähliche Ablagerung dieser Diskurse verschleiert wurde. Die Verschleierung hatte zur Folge, dass Wahrheit als unveränderliches, zeitloses ›Außen‹ erscheinen und damit (im Sinne eines leeren Signifikanten) diskursstrukturierende Wirkung entwickeln konnte. Ersetzt man nun den ›klassischen‹ Wahrheitsbegriff der pluralistischen Theologie durch dieses poststrukturalistische Verständnis, so führt dies zu einer fundamentalen Bedeutungsverschiebung der Aussage Gott existiert in Wahrheit. Gott existierte dann nicht in dem Maße, dass er dem Diskurs der Religionen als ein absolutes, ewiges und höchstes Außen, als zeitlose Wirklichkeit vorgängig wäre; vielmehr besagte die Figur des wahrhaften Exis954 Schmidt-Leukel, Gott ohne Grenzen, S. 216.

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tierens, dass diese Existenz als das Ergebnis einer kontingenten historischen Genese gedacht werden müsste, und dass – mit anderen Worten – Gott deshalb in Wahrheit ist, weil seine Existenz als ›quasi-natürliches‹ Faktum im Diskurs sedimentiert ist. Das Verständnis, dass Gottes Existenz durch die diskursive Sedimentierung von Wahrheit gestützt wird, bedeutet dabei keineswegs, dass der Theologie damit ihre alles entscheidende Grundlage genommen würde, weil Gott ja nun gar nicht mehr (im herkömmlichen Sinne) wirklich existierte, sondern ›nur‹ als das Produkt eines durch Menschen getragenen Diskurses verstanden werden könnte. Denn schließlich ist ›Wirklichkeit‹ nach poststrukturalistischem Verständnis ausschließlich historisch und diskursiv zu denken – und niemals als zeitlos ›hinter allen Dingen‹ stehend, sodass es mit einem solchen Verständnis gar nicht möglich wäre, Gottes Wirklichkeit anders zu denken als oben dargestellt. Aus poststrukturalistischer Perspektive ist die Existenz Gottes damit nicht weniger ›wahr‹ oder ›wirklich‹ als etwa aus der Perspektive einer neuplatonisch oder kantisch geprägten Theologie; was sich indes fundamental unterscheidet, ist das den verschiedenen Positionen zugrunde gelegte Verständnis von Wahrheit und Wirklichkeit. Die Folge einer solchen, poststrukturalistisch motivierten, Konzeptualisierung der Wirklichkeit Gottes läge nun darin, dass die Frage nach der Wahrheit des einen Gottes hier nicht bloß als eine des Glaubens im Sinne eines schlichten, subjektiven ›Für-wahr-haltens‹ gestellt werden müsste; ebensowenig handelte es sich bei der Existenz Gottes um ein reines Philosophem als eine von mehreren logischen Optionen des Denkens.955 Die Frage nach der Wahrheit des einen Gottes wäre vielmehr eine Frage der Positionierung in einem historischen Diskurs, und das Geschenk des Glaubens an diese Wahrheit fiele mit der heidegger’schen ›Geworfenheit‹ des/der Einzelnen in die Welt zusammen, die diese Positionierung bedingt. Die Annahme der Wahrheit Gottes wäre also das konkrete Ergebnis des jeweils eigenen, spezifischen ›Weges‹ (im Sinne des Gewordenseins) im Diskurs, der zu dieser Begegnung geführt hat. (b) Wenn mit den soeben skizzierten Überlegungen der Ausgangspunkt einer post-pluralistischen Religionstheologie durch die Bejahung der (in ihrem Sinne konzeptionalisierten) wahrhaften Existenz Gottes begründet ist, so kann im Anschluss daran die Art und Weise dieser Existenz einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Aus der konkreten Positionierung einer Religionstheologie etwa im christlich-theologischen Kontext ergibt sich dabei die Transzendenz Gottes als entscheidendes Beschreibungskriterium seiner Existenz, welches allerdings im Sinne der zweiten Positionierung im Kontext der poststrukturalistischen und postkolonialen Theorie ›gebrochen‹ wird. Wie im Kapitel zur Uni955 Vgl. Holm Tetens: Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie. Stuttgart: Reclam 5 2015, S. 9.

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versalität umrissen, war die Transzendenz in der neuplatonischen Metaphysik der den Menschen unmittelbar umgebenden, sinnlich wahrnehmbaren, dinglichen Welt als eine zeitlose, universale und geistige Wirklichkeit gegenüber gestellt; gleichzeitig enthielt diese höhere Realität die ewigen, abstrakten Prinzipien und substantiellen Ideen, die sich in der dinglichen Welt manifestierten und dieser damit ihren (freilich qualitativ niederrangigen) Realitätsgehalt verliehen. Im Gegensatz dazu bestreitet ein poststrukturalistisches Verständnis die Existenz zeitloser, universal gültiger Prinzipien, die den Raum einer unveränderlichen, abstrakten und dennoch äußerlichen Realität aufspannen; stattdessen werden universale Strukturen und Konzepte als Sedimentierungen eines historischen Diskurses verstanden, die sehr wohl eine zeitliche und singuläre, eben historische, Dimension besitzen, welche jedoch durch die Sedimentierung verschleiert wurde. Leitet man also aus der unter (a) gesetzten Bejahung der Wahrheit Gottes die Art und Weise seiner Existenz als transzendent ab, so kann diese Transzendenz aus einer poststrukturalistischen Perspektive nur als das prinzipiell unverfügbare ›Außen‹ des Diskurses konzeptionalisiert werden, über dessen Beschaffenheit keinerlei Aussage getätigt werden kann, weil es zu keinem Zeitpunkt im Diskurs in irgendeiner Form repräsentierbar ist. Vor diesem Hintergrund wäre der Raum, der der historischen Welt als transzendent, absolut und zeitlos gegenüber gesetzt ist, gänzlich unstrukturiert, amorph und (im metaphysischen Sinne) ›existenzfrei‹, weil es sich bei den als universal behaupteten Konzeptionen über Welt und Wirklichkeit lediglich um kontingente, diskursive Versuche der Repräsentanz und Fixierung dieser als ›Außen‹ gesetzten Welt handelte. Das, was im metaphysischen Sinne also als die substantielle Existenz und Wahrheit Gottes zu verstehen ist, würde nach poststrukturalistischem Verständnis lediglich durch die Performativität des Diskurses konstituiert, die sich etwa mithilfe von Laclaus Figur des radikalen Antagonismus’ beschreiben lässt. Die universale und zeitlose Existenz Gottes wäre damit als das prekäre Produkt der Äquivalenzketten des (religions-)theologischen Diskurses zu verstehen – und die Transzendenz Gottes damit lediglich mit dem radikal Ausgeschlossenen des Diskurses identifizierbar, das zwar die temporäre Stabilität der leeren Signifikanten stützt, sich diesem jedoch als »reine Negativität«956 selbst völlig entzieht. Der transzendente (oder besser: transdiskursive) Gott wäre nach diesem Verständnis also tatsächlich gänzlich ›entrückt‹ und jeglichem Sprechen vollständig enthoben.957 956 Laclau: Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun?, S. 158. 957 Als einzige Ausnahme davon wäre vielleicht die Proposition von der reinen Existenz dieses ›Außen‹ im Sinne eines es gibt denkbar, welche der Geworfenheit des Aussagenden geschuldet ist, und zwar in der Form, dass das es gibt der als äußerlich gedachten Wirklichkeit mit dem es gibt des Sprechenden (als Bestandteil seiner Geworfenheit) zusammenfällt. Daran könnte sich zeigen, dass das Moment der Geworfenheit als der prekäre Berüh-

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(c) Auf den ersten Blick ist eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit des zuletzt umrissenen Gotteskonzepts mit dem ›ganz anderen‹ Gott der dialektischen Theologie nicht von der Hand zu weisen. Als weiteres Indiz für diese Feststellung kann auch deren Religionsverständnis dienen, das mit dem in diesem Buch vertretenen Konzept von Religion in grundlegenden Aspekten übereinzustimmen scheint. So ist für Karl Barth unter Religion zunächst der »Versuch[…] des Menschen [zu verstehen], Gott von sich aus zu erkennen«958; die verschiedenen Gottesbilder repräsentierten dabei »immer diejenige angeschaute oder gedachte Wirklichkeit, in der der Mensch jenseits oder auch in seiner eigenen Existenz ein Eigentliches, Letztes, Entscheidendes annimmt und behauptet, von dem her er wiederum sich selbst für gesetzt oder doch für bestimmt und bedingt hält«959 – ein Satz, der in dieser Form auch aus einer poststrukturalistischen Perspektive geäußert werden könnte. In diesem Sinne können die verschiedenen Religionen (wie oben ausgeführt) als Elemente eines historischen, globalen Diskurses verstanden werden, in dessen Rahmen Konzepte wie Wahrheit, Gott, Glaube und Innerlichkeit ausgehandelt werden. Die in diesem Diskurs getätigten Äußerungen über den ›einen Gott‹ oder Wahrheit können dabei – ganz im Sinne der dialektischen Theologie – als Versuche der jeweiligen Protagonisten gedeutet werden, das prinzipiell Unverfügbare zu fixieren und dadurch sagbar zu machen. Auf diese Weise manifestieren sich in den unterschiedlichen Religionen das Göttliche gegen das Weltliche, das Universale gegen das Spezifische, das Transzendente gegen das Immanente, das Wahre gegen das Unwahre auf spezifische Weise, und zwar durch die in den verschiedenen Aushandlungsprozessen produzierten konzeptuellen Antagonismen und diskursiven Sedimentierungen. Um es mit Barth zu sagen: In der Religion wagt der Mensch das »Greifen nach Gott«960. Indes lässt sich bei näherer Betrachtung des barth’schen Religionskonzepts ein fundamentaler Unterschied zwischen dialektischer und poststrukturalistisch motivierter bzw. post-pluralistischer (Religions-)Theologie aufzeigen, welcher die letztere aufgrund ihrer theoretischen Basis deutlich von der ersteren absetzt. Denn der Religion als dem Versuch des Menschen, Gott »aus eigenen Mitteln«961 zu erkennen, ist bei Barth die Offenbarung als Selbsterschließung Gottes gegenübergesetzt: Wenn der Mensch »Gott wirklich erkennen kann, dann gründet

958 959 960 961

rungspunkt mit dem ›Außen‹ des Diskurses gelten kann, an dem das Unsagbare und Unverfügbare in der Gebrochenheit des Historischen aufscheint. Karl Barth: Kirchliche Dogmatik: Religion als Unglaube; Die wahre Religion. In: Ulrich Dehn (Hrsg.): Handbuch Dialog der Religionen. Christliche Quellen zur Religionstheologie und zum interreligiösen Dialog. Frankfurt a. M.: Lembeck 2008, S. 44–60, hier S. 49. Ebd., S. 51. Ebd. Ebd.

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dieses Können darin, daß er ihn wirklich erkennt, weil Gott sich ihm zu erkennen gegeben, weil Gott sich ihm selbst dargeboten und dargestellt hat«962. Für die Religion bedeutet das, dass diese »wirklich Unglaube ist«963, und dass die in ihr vollzogenen »Versuche, Gott von sich aus zu erkennen, zwar nicht auf Grund einer prinzipiellen, wohl aber auf Grund einer praktisch faktischen Notwendigkeit allgemein und gänzlich – umsonst sind«964. Auch wenn nach Barth also eine Erkenntnis der ›wahren‹ göttlichen, äußeren Wirklichkeit im Rahmen von Religion nicht gegeben ist, so ist diese Erkenntnis dennoch durch die Selbsterschließung dieser Wirklichkeit prinzipiell möglich und gesichert: »Die Wahrheit, daß Gott Gott und unser Herr ist und also auch dies, daß wir ihn als Gott und Herrn erkennen könnten – diese Wahrheit kann nur durch die Wahrheit selbst zu uns kommen. Dieses Zu-uns-Kommen der Wahrheit ist eben die Offenbarung.«965 Auf den Punkt gebracht: Während die poststrukturalistische Theorie davon ausgeht, dass die äußere Wirklichkeit (und damit auch göttliche Wahrheit) im Diskurs prinzipiell nicht verfügbar und damit repräsentierbar ist, geht Barth hier davon aus, dass diese Wirklichkeit den Diskurs eben von Außen selbstständig und von sich aus durchbrechen kann, um sich dem Menschen als Wahrheit zu erkennen zu geben. Anders als eine poststrukturalistisch motivierte Theologie der Religionen geht die Dialektische Theologie also davon aus, dass eine universale, transzendente (das heißt außerdiskursive) Wahrheit ›tatsächlich‹ existiert und in irgendeiner Form dem Diskurs auch verfügbar gemacht werden kann – und zwar durch die Selbsterschließung dieser Wahrheit in Offenbarung. Im Gegensatz dazu sind nach unserem Verständnis keinerlei allgemeingültige Aussagen über ein wie auch immer geartetes ›Außen‹ (sei es nun universal, zeitlos oder im metaphysischen Sinne existent) möglich, was zu dem Schluss führt, dass auch die Offenbarung nicht als eine Bewegung des unverfügbaren Gottes hin zur verfügbaren Lebenswelt des Menschen gedacht werden kann. Wie im entsprechenden Kapitel gezeigt, kann es sich bei der Offenbarung vor diesem Hintergrund nur um eine Funktion des Diskurses handeln, die dem hauptsächlichen Zweck dient, bestimmte, im historischen Diskurs privilegierte Konzepte über Gott und die Welt, zu fixieren und als ›quasi-natürliches‹ Wissen – eben als Wahrheit – zu etablieren. Diese Schlussfolgerung lässt auch das barth’sche Offenbarungskonzept als eine Reifizierung jener sedimentierten Diskurse erscheinen, und zwar als ein Versuch, den Gott Jesu Christi als universale, äußerliche Wirklichkeit in Wahrheit (etwa gegen den Amida-Buddha966) zu fixieren. Offenbarung entpuppt sich aus dieser Perspektive also als ein zentrales hege962 963 964 965 966

Ebd., S. 50. Ebd., S. 49. Ebd. Ebd., S. 50. Vgl. ebd., S. 53–59.

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moniales Moment des religiösen Diskurses, und zwar in dem Sinne, dass solche Aussagen, die den Anspruch auf universale Gültigkeit und Wahrheit artikulieren, in der Regel mit dem Verweis auf Offenbarung getätigt werden, was diese zu einem entscheidenden diskursstrukturierenden Faktor werden lässt. Soll die poststrukturalistische bzw. post-pluralistische Religionstheologie nun im Sinne des weiter oben umrissenen postkolonialen Ethos’ als Ideologiekritik betrieben werden, so stellt der Diskurs um Offenbarung (auch und gerade in Gestalt der Dialektischen Theologie) einen idealen Einstiegspunkt dar. (d) Nach dem in den letzten Abschnitten (a) bis (c) ausgeführten Verständnis ist Gott also das unverfügbare ›Außen‹, das insofern als transzendent bezeichnet werden kann, als es dem historischen Diskurs – im Sinne einer »reinen Negativität« – vollständig enthoben ist. Seine Existenz ist durch seine diskursive Konstituierung und Signifizierung als Wahrheit gesichert, eine Proposition, die jedoch – wie alle anderen Aussagen über Gott – nicht im Sinne einer allgemeingültigen Aussage oder zeitlosen Tatsache zu verstehen ist, sondern als das kontingente Produkt eines historischen Diskurses, der über die Konzeption einer gegenüber ihm selbst als äußerlich gesetzten Wirklichkeit geführt wird. Identifiziert man diesen Diskurs mit dem globalen Religionsdiskurs, so leitet sich daraus die Schlussfolgerung ab, dass die verschiedenen Religionen als Bestandteile dieses Diskurses mit ihren scheinbar je eigenen Konzeptionen über die göttliche Wirklichkeit dennoch ein und dasselbe ›Außen‹ im Blick haben, weil diese Konzeptionen – ebenso wie die religiösen Identitäten, in deren Kontext sie artikuliert werden, – durch die Globalität des Diskurses verflochten und damit voneinander abhängig sind. Diese Verflechtung lässt sich (im laclau’schen Sinne) mit der permanenten Produktion von Äquivalenzketten leerer Signifikanten beschreiben, welche die (prekäre) Begrenzung und Stabilisierung des Diskurses (und damit die temporäre Fixierung eines Signifikats ›Gott‹) stützen, dieses ›transzendente Außen‹ jedoch freilich niemals einholen können. Wenn wir also davon ausgehen, dass die verschiedenen Äquivalenzketten des globalen Religionsdiskurses ein gemeinsames antagonistisches ›Außen‹ konstituieren, kann auch aus einer post-pluralistischen Perspektive die These aufgestellt werden, dass alle Religionen, insofern sie Anteil am globalen Religionsdiskurs haben, von demselben Gott reden. Indes muss der (möglicherweise noch nicht gänzlich getilgte) Eindruck abgewehrt werden, dass die in dieser Form bestimmte transzendente Wirklichkeit nun am Ende doch mit dem ›einen Gott‹ der pluralistischen Option identisch sei. Denn wenn, wie unter (b) ausgeführt, diese Wirklichkeit nach poststrukturalistischem Verständnis nicht anders gedacht werden kann als gänzlich amorph, unstrukturiert und vollständig eigenschaftslos, so kann die Einheit Gottes nur in dem Sinne aufrechterhalten werden, dass diese Einheit aus den im Zusammenhang mit dessen Unstrukturiertheit gebrauchten Adjektiven gänzlich und voll-

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ständig hergeleitet wird. Gott ist deswegen nur einer, weil er als das diskursive, rein negative Außen prinzipiell und ganz und gar unrepräsentierbar ist und jede Form von Repräsentanz (auch in Form des ›Einen‹) nur als das Produkt eines sedimentierten Diskurses angesehen werden kann. Anders als im Rahmen der neuplatonischen Theologie, in der die Einheit Gottes durch dessen Eigenschaft als der eine, universale Ausgangspunkt allen Seins begründet ist, muss Gott nach unserem Verständnis völlig konträr bestimmt werden. Während er hier durch die höchste Fülle und Vollkommenheit aller sich in der Welt manifestierenden Eigenschaften gedacht wird, ist er dort nur als der Ort schlechthinniger Eigenschaftslosigkeit denkbar – ein Zustand, der wie gesagt auch die Abwesenheit seiner eigenen (metaphysischen) Existenz einschließt. (3) Führen wir nun die in diesem Kapitel vorgenommenen Modifikationen der vier pluralistischen Theologoumena zusammen, um diese für die konkrete Ausgestaltung eines post-pluralistischen Gesprächs über Gott fruchtbar zu machen. Als Quintessenz dieser Überlegungen hatte sich dabei ergeben, dass der ›eine Gott‹ hinter allen Religionen, dessen Setzung in der pluralistischen Theologie tendenziell zur Absorption der verschiedenen partikularen religiösen Positionen in eine höhere, abstraktere Universaltheologie geführt hatte, nach unserem Verständnis vielmehr als das Produkt eines historischen Diskurses zu denken ist, in den der einzelne Theologe bzw. die einzelne Theologin qua seiner/ ihrer Geworfenheit eingebettet ist. Dies hat zur Folge, dass der Ausgangspunkt eines post-pluralistischen Redens von Gott nur in dieser kontingenten, konkreten Positionierung der Religionstheologie, welche durch ihre Geworfenheit bedingt ist, liegen kann, von der aus sich zunächst die (diskursive) Welt und schließlich – ›dahinter‹ – die Unverfügbarkeit Gottes aufspannt. Im Gegensatz zu einer Theologie, die bei der Universalität des einen Gottes ihren Ausgangspunkt nimmt, um die verschiedenen historischen Konzepte über diesen Gott als gleichwertige Teile einer übergeordneten Position zu konzeptionalisieren, nimmt die post-pluralistische Theologie der Religionen – ähnlich der foucault’schen Genealogie – im unmittelbaren Hier und Jetzt des/der einzelnen Sprechenden (und damit in einer konkreten Positionierung) ihren Anfang, um sich jenem Horizont anzunähern, an dem sich die ›eine‹, absolute, vollständige Unverfügbarkeit des ›Dahinter‹ abzeichnet: der sich permanent entziehenden Grenze des (religionstheologischen) Diskurses. Die denkerische Bewegung, die eine solchermaßen bestimmte Theologie vornimmt, ist äußerlich mit der eines (neuplatonischen) Mystikers vergleichbar – wenn auch unter gänzlich umgekehrten Vorzeichen: Während sich dieser von der Ebene der dinglichen Welt, deren Entitäten ihm als Spezifitäten der universalen Quelle allen Seins gelten, zu eben dieser Quelle emporschwingt, so liegt der Startpunkt der post-pluralistischen Theologie nicht in der Spezifität, sondern in der Singularität und Kontingenz allen Seins (und damit auch ihrer eigenen Positionierung). Während also der

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Mystiker auf seinem Weg der Erkenntnis eine Reduktion der Vielfalt der (unvollkommenen) Einzeldinge zugunsten einer immer vollkommener und allgemeiner werdenden Realität erfährt, bis er schließlich bei dem Einen, Vollkommensten und Allgemeinsten angelangt ist, so entdeckt die post-pluralistische Religionstheologie im Zuge ihrer Genealogie, in deren Verlauf sie akribisch auch noch der kleinsten Verbindung einer Singularität hinaus ins Unbekannte folgt, dass sich die Vielfalt und Anzahl der Singularitäten, die mit ihrer eigenen Position verflochten sind, immer weiter erhöht, je weiter sie sich auf den Horizont, der hier im Dunkel der (zumindest im Sinne einer poetischen Figur konzeptionierten) ›Vergangenheit‹ liegt, zubewegt. Und je größer die Vielfalt der historischen ›Gewordenheiten‹, die sie auf ihrer Reise ›zurück in die Zeit‹ entschleiert, desto geringer wird der Grad ihrer globalen Verflochtenheit (nicht zuletzt mit der eigenen Positionierung), bis sie schließlich im bizarren, strukturlosen, verflechtungslosen Dunkel der Kontingenz verfliegt. Während also der Mystiker in seiner Schau eins wird mit der höchsten Einheit, besteht die Erkenntnis der postpluralistischen Religionstheologie darin, dass sie Gott als Vollendung einer bizarren Vielheit und Pluralität erahnen kann, die in ihrer höchsten Stufe nur als reine Amorphität, Eigenschaftslosigkeit und Negativität gedacht werden kann. Es ist klar, dass auch ihr dieser Zustand niemals vollständig verfügbar sein kann, sondern nur in der Zusammenhanglosigkeit der (schier) endlosen Vielfalt aufscheint, die sich am Horizont der genealogischen Forschungsreise abzeichnet. In gewisser Weise kann die post-pluralistische Religionstheologie daher auch als ›post-mystisch‹ bezeichnet werden.

7.3.2. Formen des Sprechens Die im letzten Abschnitt skizzierte Standortbestimmung und genealogische Denkbewegung der poststrukturalistisch motivierten ›post-pluralistischen‹ Religionstheologie kann freilich nur als eine erste, grobe Charakterisierung ihres Sprechens vom ›einen Gott‹ dienen. In dieser Form liefert sie die Bedingungen für die konkrete Ausgestaltung und die verschiedenen möglichen Formen des Gesprächs. Diese Bedingungen lassen sich in zwei Aspekten bestimmten: (1) Der Ausgangspunkt der ›Geworfenheit‹ der Sprechenden bedingt zwangsläufig die Anknüpfung an die Konzeptionen und Terminologien jener (Sub-) Diskurse, in die diese qua ihrer jeweiligen Positionierung konkret eingebettet sind. Wie oben dargestellt, empfiehlt es sich dabei aus pragmatischen Gründen, sich bevorzugt solcher diskursiver Konzepte zu bedienen, die mit der sichtbaren und reflektierten Positionierung der Sprechenden im Sinne einer explizit artikulierten Identität verbunden sind – im vorliegenden hypothetischen Fall also der Identität als christliche, postkoloniale Theologinnen und Theologen. Eine von

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dieser Warte aus bestimmte Religionstheologie spricht also erstens in ihrer Hauptsache weder vom jüdischen oder muslimischen Gott, noch vom Gott der Philosophen oder einer anderen Denktradition wie etwa des Hinduismus oder der Theosophie. Die post-pluralistische Religionstheologie spricht im gesetzten Fall vom Gott Jesu Christi. Dabei überlässt sie es der möglicherweise aus einer jüdischen oder muslimischen Positionierung sprechenden (postkolonialen, post-pluralistischen) Theologie, von Gott im Rahmen der ihr jeweils ganz konkret überkommenen Terminologie zu reden, wohl wissend, dass diese – trotz der äußerlichen Unterschiede ihres Sprechens – von ihrer spezifischen, singulären Positionierung im globalen Religionsdiskurs aus demselben Horizont (der sich stets entziehenden Diskursgrenze) zustrebt. (2) Die so bestimmte Identität der Sprechenden bedingt zweitens deren Anknüpfung an die Denkmuster und Figuren der poststrukturalistischen Theorie sowie das Ethos der postkolonialen Studien. Diese Anknüpfung bedingt, dass eine solchermaßen grundierte Religionstheologie zwar von dem Gott Jesu Christi redet, dies im Vergleich zur ›herkömmlichen‹ christlichen Theologie jedoch unter völlig verändertem Vorzeichen tut. Im Ansinnen einer radikalen Ideologiekritik muss sie die Historizität, Kontingenz und Singularität nicht nur in den Aussagen der von ihr kritisierten Ideologien herausstellen, sondern diese Aspekte stets auch als Eigenschaften ihres eigenen Sprechens sichtbar machen. Dieses Ziel kann sie nur erreichen, wenn sie eine Sprache findet, die jeglichen Versuchen, eine diskursive Schließung (im Sinne der Signifizierung eines ›wahren Außen‹ im Rahmen einer Äußerung) herbeizuführen, prinzipiell widerstrebt – ein Vorhaben, das nur gelingen kann, wenn sich diese Sprache jeglicher metaphysischer Kategorisierung und Ontologie vollständig entledigt. Gewiss ist ein Sprechen, das weder auf ontologischen Setzungen fußt, noch selbst solche Setzungen vornimmt, nicht leicht zu denken (und noch schwieriger in die Praxis umzusetzen). Auch aus einer poststrukturalistischen Sicht ist das Sprechen ohne kategoriale Figuren nicht unmittelbar plausibel, lassen sich doch, wie ich im bisherigen Verlauf argumentiert habe, zentrale Konzepte dieser Denkrichtung (Diskurs, Signifikant, Historie, Antagonismus) im Sinne kategorialer Prinzipien lesen, die das Funktionieren des Diskurses im Allgemeinen absichern. Die eine Möglichkeit, die sich der post-pluralistischen Religionstheologie bezüglich dieses Problems bietet, ist nun, die derartig begründete theoretische Grundlage ihres Sprechens implizit beizubehalten, auf die Terminologie der ihr zugrunde liegenden poststrukturalistischen Philosophie jedoch vollständig zu verzichten und ihr Heil in anderen, dem Universalen eher zu entziehenden Formen des Sprechens zu suchen. Diese Möglichkeit, die mir im Vergleich mit der zweiten, sogleich vorzustellenden Option die ungleich schwierigere zu sein scheint, möchte ich im Folgenden nur kurz umreißen, weil sie zum Großteil aus dem Gebiet der wissenschaftlichen Arbeit hinausführt und

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weitaus umfassenderer Kompetenzen und Talente bedarf.967 Die andere Möglichkeit, mit der die Religionstheologie den oben herausgestellten ›metaphysischen Rest‹ der poststrukturalistischen Theorie überwinden kann, besteht darin, sich deren Sprache und Terminologie sehr wohl zu bedienen, in ihrem Sprechen aber auch die letzten ›transzendentalen‹ Überreste zu überwinden, die in den Figuren der Theorie zumindest potentiell verborgen liegen. Dazu muss sie es, wie oben ausgeführt, gerade vermeiden, die poststrukturalistische Terminologie im Sinne einer nicht-essentialistischen Ontologie zu verwenden; vielmehr sollte sie diese als ein bloßes, ihr selbst in ihrer Geworfenheit gänzlich zufällig überkommenes Werkzeug zur De-Ontologisierung begreifen, um die artikulierten Konzepte und Narrative in ihrer radikalen Kontingenz und Singularität ins Licht zu rücken. Dass dieses Unterfangen einfacher zu bewältigen sein wird, ist dem Umstand zu verdanken, dass die poststrukturalistische Terminologie – anders als die Sprache der ersten Option – selbstredend zur ›Grundausstattung‹ der postpluralistischen Religionstheologie gehört, weshalb davon im bisherigen Verlauf des vorliegenden Buches auch schon an zentralen Stellen Gebrauch gemacht wurde. Zudem liegen bereits Entwürfe nicht-ontologisierenden Sprechens aus der Feder verschiedener, im Bereich der poststrukturalistischen Philosophie anzusiedelnder, Autorinnen und Autoren vor, weshalb wir im Folgenden auch auf bestehende Ansätze zurückgreifen können. 7.3.2.1. Negatives und uneigentliches Sprechen Wenn ontologisierendes Sprechen – in einfachen Worten – darin besteht, auszudrücken, wie es um Gott und die Welt ›eigentlich‹ bestellt ist, so kann eine Rede, die auf die De-Ontologisierung solcher Äußerungen abzielt und damit also ohne fixierende Intention artikuliert wird, auf zweierlei Art und Weise erfolgen: Zum einen kann sie darauf abzielen, zu zeigen, wie göttliche Wirklichkeit ›eigentlich nicht‹ ist (a), indem sie sich rein verneinender Aussagen bedient. Zum anderen kann sie sich einer gänzlich ›uneigentlichen‹ Ausdrucksweise bedienen (b). 967 Claudia Jahnel dokumentiert diese Form des Sprechens im Sinne eines »epistemischen Pluralismus« am Beispiel des postkolonialen Films (Claudia Jahnel: »Das universale Wort spricht nur Dialekt.« Postkoloniale Impulse für eine Ökumene der sinnlichen Einheit und eine ästhetische ökumenische Theologie. In: Ökumenische Rundschau 70 (1/2021), S. 42–56, hier S. 49). »Hand in Hand mit der postkolonialen Kritik an der kolonialen Privilegierung des in Schriftform vorliegenden [und damit Einheitlichkeit einfordernden] Textes« (ebd.) propagiert sie alternative Kommunikationsweisen auf »sinnlich-aisthetischer Ebene« (ebd., S. 52), die hier quasi als ›Verlängerung‹ jener Artikulationsformen angesehen werden können, die im Folgenden kurz skizziert werden sollen. »Die Feier in Gebet, Lied, Tanz oder auf dem Pilgerweg will eine Begegnung ›nearby‹ ermöglichen, die berührt, affiziert, Distanz und othering abbaut […]« (ebd.).

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(a) Mit ersterer Form des vollständig verneinenden Sprechens sind wir etwa durch die negative Theologie vertraut, die auch Schmidt-Leukel (unter Verweis auf die »vom Großteil der christlichen Tradition affirmierten Unsagbarkeit Gottes«968) für unverzichtbar hält. Die berühmteste Form dieser Art von Gottesrede stammt aus der Feder des bereits weiter oben zitierten Dionysius PseudoAreopagita; zwar ist dessen Verortung Gottes im »Dunkel des Nichtwissens«969 aus der neuplatonischen Grundlage seines Denkens abgeleitet, doch lassen sich zentrale Passagen seines Werkes auch unter einem poststrukturalistischen Vorzeichen (und in dieser Interpretation als ein Paradebeispiel für die erste Option einer post-pluralistischen Rede von Gott) lesen: »Noch höher aufsteigend (als das sinnlich Wahrnehmbare) sagen wir von ihr (der Allursache) aus, daß sie weder Seele ist noch Geist; ihr ist auch weder Einbildungskraft, Meinung, Vernunft oder Denken zuzuschreiben, noch ist sie mit Vernunft und Denken gleichzusetzen, noch wird sie ausgesagt, noch gedacht. Sie ist weder Zahl noch Ordnung, weder Größe noch Kleinheit, weder Gleichheit noch Ungleichheit, weder Ähnlichkeit noch Unähnlichkeit. […] Sie ist weder lebendig noch mit Leben identisch. Auch ist sie nicht Sein, nicht Ewigkeit, nicht Zeit. Sie kann aber auch nicht gedanklich erfaßt, noch gewußt werden. Auch ist sie weder mit Wahrheit, noch mit Herrschaft oder Weisheit gleichzusetzen. Sie ist weder Eines noch Einheit, weder Gottheit noch Güte.«970

Der zitierte Ausschnitt zeigt deutlich, dass es nicht das Ziel negativen Sprechens ist, die Existenz Gottes als ›nicht eigentlich‹ zu verneinen, sondern vielmehr zu betonen, dass über Gott schlichtweg nichts ›Eigentliches‹ ausgesagt werden kann. Genau genommen handelt es sich bei der negativen Theologie ja auch nicht um ein ›reines‹ verneinendes Sprechen, sondern – wie hier deutlich zu sehen – um ein Sprechen in Widersprüchen und Paradoxa, um die »Transkategorialität«971 und damit die (zumindest im Rahmen der neuplatonischen Theologie) prinzipielle Undenkbarkeit Gottes anzudeuten. In diesem Sinne lassen sich auch die folgenden Ausführungen des Dionysius’ verstehen: »[Die Allursache] gehört weder dem Bereich des Nichtseienden noch dem des Seienden an. […] Sie entzieht sich jeder (Wesens-)Bestimmung, Benennung und Erkenntnis. Sie ist weder mit Finsternis noch mit Licht gleichzusetzen, weder mit Irrtum noch mit Wahrheit. Man kann ihr überhaupt weder etwas zusprechen oder absprechen. […]

968 Schmidt-Leukel: Warum es zur pluralistischen Religionstheologie keine plausible theologische Alternative gibt, S. 25. 969 Zitiert nach: Ritter/Lohse/Leppin (Hrsg.): Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, S. 15. 970 Zitiert nach: Ebd. 971 Schmidt-Leukel: Warum es zur pluralistischen Religionstheologie keine plausible theologische Alternative gibt, S. 25.

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Denn sie […] ist ebenso jeder Bejahung überlegen, wie keine Verneinung an sie heranreicht, sie, die jeder Beziehung schlechthin enthoben ist und alles übersteigt.«972

(b) Während die negative Theologie bestrebt ist, die Unsagbarkeit Gottes mithilfe präziser, wissenschaftlicher Propositionen zu markieren, bedient sich die ›uneigentliche‹ Rede von Gott einer gänzlich anderen Art zu sprechen. Ermöglicht wird dies durch Formen, die auch im breiteren öffentlichen Diskurs große Verbreitung (im Sinne ihrer Sedimentierung als Textgattungen) erfahren haben und daher auch und vor allem außerhalb des überschaubaren Kontextes der poststrukturalistischen Theorie ›verstanden‹ werden können. Das sind zum einen Poesie und Literatur und zum zweiten das ironische Sprechen in Form der Parodie, die freilich ebenfalls häufig in literarischer Form vorzufinden ist. Beiden Sprechweisen ist gemein, schon anhand ihrer sprachlichen Gestalt zu markieren, dass die durch sie getätigten Aussagen nicht im Sinne von ›wahr‹ oder ›unwahr‹ zu verstehen sind; ihr poetisches bzw. ironisches Sprechen strebt im Idealfall jeglicher Fixierung von Bedeutung vielmehr entgegen – eine Intention, die den Lesenden durch die diskursive Sedimentierung dieser Textgattungen auch unmittelbar plausibel ist. Ich möchte mich an dieser Stelle auf ein kurzes, zumindest in einem poststrukturalistischen Sinne interpretierbares, Beispiel aus der Lyrik beschränken, zum einen, weil diese Form des Sprechens wie gesagt aus dem Bereich der wissenschaftlichen Theologie hinausführt, und zum zweiten, weil es sich bei der anderen Form ›uneigentlichen Sprechens‹ – der Parodie – um eine Möglichkeit handelt, die auch mithilfe der poststrukturalistischen Terminologie verwirklicht werden kann, weshalb ich im nächsten Abschnitt noch darauf zurück kommen werde. Im Jahre 1788 veröffentlichte der in pietistischen Verhältnissen aufgewachsene Schiller sein Gedicht Die Götter Griechenlandes, was einen unmittelbaren Sturm der Entrüstung ob seiner Positionierung im Bezug auf die christliche Religion auslöste. In diesem Text verherrlicht das lyrische ›Ich‹ den Olymp der griechischen Mythologie als zentralen, sinngebenden Aspekt einer künstlerischen, poetischen Konzeption von Schöpfung und Natur: »Da ihr noch die schöne Welt regieret, An der Freude leichtem Gängelband Glücklichere Menschenalter führtet, Schöne Wesen aus dem Fabelland! […] Da der Dichtung malerische Hülle Sich noch lieblich um die Wahrheit wand, – 972 Zitiert nach: Ritter/Lohse/Leppin (Hrsg.): Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, S. 15.

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Durch die Schöpfung floß da Lebensfülle, Und was nie empfinden wird, empfand. An der Liebe Busen sie zu drücken, Gab man höhern Adel der Natur, Alles wies den eingeweihten Blicken, Alles eines Gottes Spur.«973

Demgegenüber hätten die philosophischen, rationalistischen Theorien der Aufklärungstheologie den solchermaßen konzeptionalisierten Kosmos von Gott geradezu ›befreit‹: »Schöne Welt, wo bist du? – Kehre wieder, holdes Blüthenalter der Natur! Ach, nur in dem Feenland der Lieder lebt noch deine goldne Spur. Ausgestorben trauert das Gefilde, keine Gottheit zeigt sich meinem Blick, ach, von jenem lebenwarmen Bilde blieb nur das Gerippe mir zurück. Alle jene Blüthen sind gefallen von des Nordes winterlichem Wehn; Einen zu bereichern unter Allen, mußte diese Götterwelt vergehn.«974

Wo Gott lediglich als universale, in der Transzendenz entrückte Figur zu denken sei, sei der Mensch »verloren«975; wo die Schöpfung den Gesetzen des sich selbst genügenden newton’schen Universums folge, sei die Welt wie »[a]usgestorben«976: »Wo jetzt nur, wie unsre Weisen sagen, seelenlos ein Feuerball sich dreht, lenkte damals seinen goldnen Wagen Helios in stiller Majestät. Diese Höhen füllten Oreaden, eine Dryas starb mit jenem Baum, aus den Urnen lieblicher Najaden sprang der Ströme Silberschaum.«977

Der Text lässt sich (vielleicht nicht nur in unserem Sinne) als ein Plädoyer des Dichters dafür interpretieren, von Gott nicht länger in der bestimmenden, fi973 Friedrich Schiller: Die Götter Griechenlandes. In: Der Teutsche Merkur 3/1788, S. 250–260, hier S. 250. 974 Ebd., S. 257. 975 Ebd., S. 256. 976 Ebd., S. 257. 977 Ebd., S. 251.

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xierenden Sprache der (zeitgenössischen) Wissenschaft und Theologie zu sprechen. Nach diesem Verständnis entzöge sich Gott auch für Schiller den Versuchen der Ontologisierung im Zuge der (Re-)Konstruktion ewiger, allgemeingültiger Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten seiner Natur und Schöpfung. Zweifellos geht es ihm nicht darum, die griechischen Götter nun zum Zentrum einer ›neu-heidnischen‹ Theologie zu machen, was ihm von Zeitgenossen zuweilen vorgeworfen wurde; vielmehr begreift er die Mythologie offenbar als eine Form des poetischen, ›uneigentlichen‹ Sprechens, welche die (derrida’sche) »Spur«978 des Göttlichen in ihrer Konzeption von Welt und Wirklichkeit sichtbar werden lässt – eben darum, weil sie nicht die Absicht hegt, Gott so auszusagen, wie er ›wirklich ist‹. Und dass die poetische, mythologische Sprache auch außerhalb der griechischen Antike, in seiner Zeit, zum Träger der göttlichen ›Spur‹ werden kann, illustriert der Dichter selbstredend schon allein durch die äußere Form seines Vortrags: »Himmlisch und unsterblich war das Feuer, das in Pindars stolzen Hymnen floß, niederströmte in Arions Leier, in den Stein des Phidias sich goß. Beßre Wesen, edlere Gestalten kündigten die hohe Abkunft an. Götter, die vom Himmel niederwallten, sahen hier ihn wieder aufgethan.«979

7.3.2.2. Variationen poststrukturalistischer Rede Im Gegensatz zu einer poststrukturalistisch motivierten (oder zumindest in diesem Sinn interpretierbaren) religionstheologischen Lyrik bedient sich die zweite Option einer stärker konventionalisierten, im Rahmen eines spezifischen philosophischen Diskurses sedimentierten Sprache, und zwar jener der poststrukturalistischen Terminologie, weshalb in diesem Fall nicht nur von einer poststrukturalistisch motivierten, sondern in der Tat von einer poststrukturalistischen Religionstheologie im engeren Sinn gesprochen werden kann. Im Folgenden möchte ich zwei der poststrukturalistischen Theorie entnommene Arten der Rede skizzieren, und zwar (a) die bereits im letzten Abschnitt angedeutete Form, die in der Parodie ihren Ausgangspunkt nimmt, und (b) das sogenannte rhizomatische Sprechen, wie es die beiden französischen Theoretiker Gilles Deleuze (1925–1995) und Félix Guattari (1930–1992) entworfen haben, und das möglicherweise in unserem Sinne interpretier- und verwendbar ist. 978 Ebd., S. 250; S. 257. 979 Ebd., S. 252.

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(a) Als »Parodie und Possenspiel«980 bezeichnet Foucault (im Rahmen seiner bereits im ersten Teil ausführlicher besprochenen Genealogie) eine der »Arten der Historie, die sich jeweils deren platonischen Spielarten entgegensetzen«981. In ihrer »wirklichkeitszersetzende[n]«982 Kraft dient sie dem Zweck, die Festschreibung einer ›wahren‹ Geschichte durch die klassische (etwa hegelianische) Geschichtsschreibung zu dekonstruieren, indem sie deren artikulierte Identitäten als ›Masken‹ enttarnt, die jeglicher metaphysischer Substanz entbehren: »Der gute Historiker, der Genealoge, weiß, was er von dieser Maskerade zu halten hat. Nicht, daß er sie zurückweist, weil sie ihm zu wenig ernst ist; vielmehr möchte er sie bis zum Äußersten treiben: er möchte einen großen Karneval der Zeit veranstalten, in dem die Masken unaufhörlich wiederkehren. Anstatt unsere blasse Individualität mit den starken Identitäten der Vergangenheit zu identifizieren, geht es darum, uns in so vielen wiedererstandenen Identitäten zu entwirklichen. Indem wir diese Masken aufgreifen – etwa die von Friedrich von Hohenstaufen, Cäsar, Jesus, Dionysos, Zarathustra –, indem wir das Possenspiel der Geschichte von neuem beginnen, nehmen wir in unsere Unwirklichkeit die noch unwirklichere Identität Gottes hinein.«983

Zweifellos lässt sich eine solchermaßen bestimmte Parodie auch auf Bereiche des Denkens und Sprechens ausweiten, die nicht im herkömmlichen Sinn der ›Historie‹ zugeordnet werden. Versteht man mit Foucault die Vergangenheit als einen Effekt der Gegenwart, der mithilfe der genealogischen Vorgehensweise transparent gemacht und dekonstruiert werden kann, so ist klar, dass diese Vorgehensweise ganz allgemein für alle Arten von Funktionen und Konzeptionen zeitgenössischer Diskurse fruchtbar gemacht werden kann. Während die Genealogie als Perspektive des »gute[n] Historiker[s]«984 die fixierenden Narrative und Identitäten der klassischen Geschichtsschreibung durch die penible, historiographisch fundierte (Re-)Konstruktion alternativer Narrative konterkariert, so kann diese parodistische ›Methode‹ auch im Bezug auf theologische Topoi Anwendung finden, die im zeitgenössischen Diskurs als Repräsentationen göttlicher Wahrheit signifiziert werden oder sedimentiert sind. Diese Anwendung kann etwa in der Form erfolgen, dass den herkömmlichen ›Wahrheiten‹ alternative Konzeptualisierungen und Lesarten göttlicher Wirklichkeit zur Seite gestellt werden, die ebenfalls plausibel aus den (religiösen) Diskursen und Artikulationen der Vergangenheit hergeleitet werden können (und müssen!). Hieran erweist sich, dass eine unter poststrukturalistischem Vorzeichen betriebene Parodie nichts von jener Respektlosigkeit enthält, die zuweilen mit klassischen Parodien verbunden ist; vielmehr handelt die genealogische Parodie aus 980 981 982 983 984

Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, S. 85. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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dem größten Respekt für ihren Gegenstand heraus – indem sie bestrebt ist, die ihr zugrunde liegenden diskursiven Artikulationen noch intensiver und genauer, aus immer wieder neuen, alternativen Blickwinkeln heraus zu lesen, um ihnen auch noch den letzten Sinn einzuschreiben, der im Rahmen ihrer eigenen ›Geworfenheit‹ in die sie umgebende Welt plausibel ist. Ziel dieser Unternehmung ist es, nicht nur die zu parodierende Position als ›uneigentlich‹ zu de-ontologisieren, sondern freilich ebenso die neu präsentierten, alternativen Deutungsmöglichkeiten in ihrer Kontingenz und Diskursivität zu erweisen, um dadurch die Sedimentierungen und Wahrheiten des Diskurses aufzubrechen. Mit diesem Verständnis können auch die bisherigen Kapitel im Sinne einer poststrukturalistisch motivierten Parodie auf klassische religionstheologische Argumentationsmuster gelesen werden. Eine verwandte, wenngleich weniger eng an Foucaults genealogischer Haltung orientierte Praxis poststrukturalistischen Sprechens ist die bei mehreren Vertreterinnen und Vertretern dieser Denkrichtung verbreitete Praxis der sogenannten Re-Lektüre, wobei Texte, die bezüglich eines bestimmten Themengebiets als einschlägig und als den entsprechenden Diskurs dominierend gelten können, mit der dezidierten Intention einer inhaltlichen Umdeutung gelesen werden.985 Im Unterschied zur ersten Variante der (genealogischen) Parodie geht es hier weniger darum, aus den zugrunde gelegten Aussagen des historischen Diskurses auch noch die letztmögliche plausible alternative Deutungsmöglichkeit abzuleiten; vielmehr ist es die Absicht dieser Re-Lektüre, einer in den Mittelpunkt gerückten Artikulation (etwa in der Form eines theologischen Traktats oder auch eines Offenbarungstextes) die poststrukturalistische Perspektive einzuschreiben, um diese Artikulation in einem neuen, nun poststrukturalistischen Diskurs zu positionieren. Generelles Ziel dieser Operation ist es, aus der inhaltlichen ›Verschiebung‹ der Texte neue Impulse für das poststrukturalistisch motivierte (hier ›post-pluralistische‹) Denken und Sprechen zu gewinnen. Darüber hinaus trägt eine solche Re-Lektüre durch ihr bewusstes ›Gegen-den-StrichLesen‹ nicht nur zur Dekonstruktion der in den jeweiligen Texten selbst ausgesagten Konzeptionen von Welt und Wirklichkeit bei, sondern dient vor allem dazu, heutige, ganz allgemein als ›wahr‹ signifizierte, diskursive Konzepte zu problematisieren, da diese Signifizierungen ja in der Regel gerade von jenen Texten wirkungsmächtig (re-)iteriert werden, die Gegenstand der Re-Lektüre sind. Als grobe exemplarische Annäherungen an ein solches Sprechen lassen sich bereits die Ausführungen deuten, die ich im letzten Abschnitt bezüglich der 985 Vgl. etwa ebd.; Judith Butler: Subjects of Desire: Hegelian Reflections in Twentieth-Century France. New York: Columbia University Press 1987; Chakrabarty: Europa als Provinz, S. 115–147.

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negativen Theologie des Dionysius’ sowie des schiller’schen Gedichts getätigt habe. Indem ich beide Texte im Sinne eines post-pluralistischen Sprechens von Gott positioniert habe, habe ich sie aus ihrem herkömmlichen Interpretationszusammenhang herausgelöst und ihnen die poststrukturalistische Perspektive eingeschrieben, mit der sie in den klassischeren Lesarten bislang nicht verbunden waren.986 Anders als im letzten Abschnitt, in dem besagte Quellentexte als (fiktive) Beispiele für die dortselbst charakterisierte Art zu sprechen gedient haben, illustrieren nun meine interpretativen Anmerkungen dazu das in diesem Unterkapitel skizzierte poststrukturalistische bzw. post-pluralistische Sprechen von Gott im engeren Sinn.987 (b) Eine radikale Zuspitzung des diesem Buch zugrunde gelegten Ansatzes lässt sich in dem Werk Gilles Deleuzes sehen, der bisweilen auch als das enfant terrible der poststrukturalistischen Theorie bezeichnet wird. Seine Texte sind von einer Art Basisprogramm durchzogen, die Adkins als eine Metaphysik der Kontinuität bezeichnet.988 In Abgrenzung zu einer an der Diskontinuität orientierten Philosophie wie etwa der platonischen oder hegelianischen spricht Deleuze von der Univozität allen Seins: Während etwa die (neu-)platonische Metaphysik – aufgrund ihrer Unterscheidung einer geistigen Realität und einer körperlichen, in der die geistige sich manifestiere – eine Differenz zwischen gedanklicher und sinnlicher Wirklichkeit konstruiere, lehnt Deleuze den dadurch implizierten Hylemorphismus (also die Annahme, dass alles Sein sich letztlich aus [transzendentaler] Form und Materie zusammensetze) zugunsten eines Hylozoismus ab. Das heißt für Deleuze, dass ›Materie‹ nicht von einem anderen Ort aus ihre Form erhält, also ›belebt‹ wird, weil die Univozität allen Seins impliziert, dass es keine dem ›immanenten‹ Sein transzendenten Prinzipien gibt, die diesem irgendwie vorgelagert sind.989 Demgegenüber hält er – grob gesagt – die Figur der Analogie zwischen sinnlicher und geistiger Realität für 986 Im breiteren theologischen Kontext lassen sich etwa poststrukturalistische, postkoloniale und zum Teil auch befreiungstheologische Entwürfe zur Bibelexegese als hervorragende Beispiele für eine solche Re-Lektüre einschlägiger Texte unter verändertem Vorzeichen anführen. Vgl. dazu bspw. Henning Hupe: Lukas’ Schweigen. Dekonstruktive Relektüren der »Wir-Stücke« in Acta. Wien: Passagen 2008; R. S. Sugirtharajah: Exploring Postcolonial Biblical Criticism. History, Method, Practice. Oxford: Wiley-Blackwell 2012. Im Bereich der systematischen Theologie ist im deutschsprachigen Bereich vor allem die bereits an verschiedenen Stellen in diesem Buch zitierte Judith Gruber zu nennen (vgl. bspw. Judith Gruber: Heil/-ung dekolonisieren. Grenzgänge zwischen Theologie und Postkolonialer Theorie. In: Ökumenische Rundschau 70 [1/2021], S. 7–27). 987 Auf dieselbe Art ist mein bereits erwähnter Text zu Sathya Sai Baba zu verstehen, in dem ich den Guru als postkolonialen Religionstheologen re-positioniere. Vgl. Suarsana: Im Spiegel des Guru. 988 Vgl. Brent Adkins: Deleuze and Guattari’s A Thousand Plateaus. A Critical Introduction and Guide. Edinburgh: Edinburgh University Press 2015, S. 1. 989 Vgl. ebd., S. 2f.

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gänzlich ungeeignet, etwas über das Sein eines Dings auszusagen, weil in der Analogie Affirmation (›etwas ist schön im Sinne von Schönheit‹) und Negation (›das Schönsein eines Dings ist nicht identisch mit Schönheit‹) in eins fallen und letztlich nur in die oben erwähnten Paradoxien der negativen Theologie münden können.990 Was auf den ersten Blick den Eindruck einer Art von Ontologie erweckt, ist auf den zweiten Blick vielmehr nur als konsequent nicht- oder gar anti-ontologisch zu verstehen. Denn was die deleuze’sche Konzeption einer radikalen ›Immanenz‹ von Ontologien herkömmlicher Art (im Sinne der Propagierung einer der kontingenten Realität übergeordneten, formgebenden Struktur) unterscheidet, ist, dass sie prinzipiell ohne die Figur der Universalität auskommt. Immanenz bedeutet hier also nicht, dass damit eine kategoriale Aussage über alles Sein getroffen würde, weil es sich nicht über den universalen Antagonismus zur Transzendenz bestimmen lässt. Es bedeutet vielmehr, dass über einen Gegenstand im metaphysischen Sinne nicht mehr ausgesagt werden kann als ›es ist‹. Die Frage, die sich daraus im Unterschied zur klassischen Ontologie ergibt, fragt daher nicht nach der Art dieses Gegenstandes, weil das eine »Frage nach der Essenz ist, nach dem, was sich nicht ändert. Kurzum, es handelt sich dabei um Fragen nach dem Intelligiblen als eine vom sinnlich Erfassbaren unterschiedene Form.«991 Dementsprechend lautet die aus dem deleuze’schen Ansatz abgeleitete Frage also nicht ›Was ist …?‹, sondern ›Wer/Welches?‹: »Man muß auf Platon zurückgehen, um einsehen zu können, in welchem Ausmaß die Frage ›Was ist…?‹ eine spezifische Art des Denkens voraussetzt. Dieser fragt: Was ist das Schöne? Was das Gerechte? […] Platon stellt Sokrates ebenso jungen Leuten, starrköpfigen Alten wie berühmten Sophisten gegenüber. Ihnen allen scheint gemeinsam zu sein, auf jene Frage mit dem Zitieren dessen zu beginnen, was schön ist: eine Jungfrau, eine Stute, ein Kessel… Sokrates triumphiert: Man antwortet auf die Frage ›Was ist das Schöne?‹ nicht, indem man zitiert, was schön ist. Von daher erklärt sich die Platon so teure Unterscheidung zwischen schönen Dingen, die nur beispielhaft, akzidentiell und je nach ihrem Werden schön sind – und dem nur und notwendig Schönen, dem, was das Schöne gemäß seinem Sein und seinem Wesen ist.«992

Im Gegensatz zu Sokrates hält Deleuze nun nicht die von dessen Gesprächspartnern gegebenen Antworten, sondern vielmehr die Frage ›Was ist das Schöne?‹ für »einfältig«993 und schlecht gestellt; in diesem Sinne sei der Sophist

990 Vgl. ebd., S. 2; S. 6f. 991 »[…] questions about essence, about what does not change. In short, they are questions about the intelligible as distinct from the sensible.« Ebd., S. 3. 992 Gilles Deleuze: Nietzsche und die Philosophie. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2002, S. 84. 993 Ebd.

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Hippias gerade nicht (wie Platon anzudeuten scheint) mit einem Kind vergleichbar, »das auf die Frage ›Was ist…?‹ sich damit begnügte, mit ›Wer [schön ist]‹ zu antworten. Er meinte vielmehr, daß die Frage ›Wer?‹ die beste aller möglichen und am geeignetsten sei, das Wesen zu bestimmen. Denn diese Frage verwies nicht, wie Sokrates annahm, auf diskrete Beispiele, sondern auf die Kontinuität der in ihrem Werden erfaßten Gegenstände, auf das Schön-werden aller in Beispielen zitierbaren oder zitierten Gegenstände.«994

Anders als die von Sokrates aufgeworfene Frage ›Was ist…?‹ sucht Hippias also nicht nach den universalen, intelligiblen Essenzen der Dinge hinter der erfahrbaren Realität. Die Frage ›Wer/Welches?‹ »bedeutet nach Nietzsche [vielmehr]: etwas [konkretes] sei gegeben, welche Kräfte bemächtigen sich seiner, wessen Willen ist es untertan?«995 Vor diesem Hintergrund ist Deleuze nun bestrebt, das ›Wesen‹ eines Dings nicht im sokratischen, sondern im sophistischen Sinne zu bestimmen, was freilich die konzeptuelle Tilgung des universalen ›Dahinter‹ impliziert: »Stellen wir die Frage: ›Was ist…?‹, fallen wir darin nicht nur der schlimmsten Metaphysik anheim; tatsächlich stellen wir ebenfalls nur die Frage ›Wer?‹, aber auf ungeschickte, blinde, auf konfuse und unbewußte Weise: ›Das ›was ist das?‹ ist eine SinnSetzung von etwas anderem aus gesehen. Die ›Essenz‹, die ›Wesenheit‹ ist etwas Perspektivisches und setzt eine Vielheit schon voraus. Zugrunde liegt immer ›was ist das für mich?‹ (für uns, für alles, was lebt, usw.)‹.996 Fragen wir, was das Schöne sei, so fragen wir, von welchem Blickwinkel aus uns die Dinge als schön erscheinen; und was uns nicht schön erscheint, unter welchem Blickwinkel wird es das? Und in Hinsicht auf dieses oder jenes Ding: Welche Kräfte verschönen oder verschönten es, indem sie es in Besitz nahmen, welche anderen Kräfte unterwarfen sich diesen, oder im Gegenteil, welche widersetzten sich?«997

Diese Aufwertung des (im weiteren Sinne diskursiven) kontingenten Werdens (in Abgrenzung zur Fokussierung auf das notwendige Sein in der klassischen Metaphysik) kann vor dem Hintergrund der in diesem Buch propagierten Historisierung allen Seins als ein Versuch gewertet werden, Sein nicht als im Kern Seiendes, sondern als im Wesen Werdendes – und damit als radikal historisches Sein – zu denken. Dieses (historische) Werden ist indes nicht im Gegensatz zum (zeitlosen) Sein zu denken, weil dadurch die (neu-)platonische Diskontinuität lediglich re-iteriert würde; das Werden ist vielmehr ein stets präsenter Aspekt des einen, seienden Seins – und umgekehrt. Adkins hat dieses Paradoxon im 994 995 996 997

Ebd., S. 84f. Ebd., S. 85. Deleuze zitiert hier aus Nietzsches Umwertung aller Werte. Ebd., S. 85.

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Bezug auf Deleuzes Hauptwerk A Thousand Plateaus (1980, zusammen mit Félix Guattari) als die »Schwierigkeit mit ›Dingen‹«998 veranschaulicht. Diese bestehe darin, dass ein Ding scheinbar zwei sich widersprechende Eigenschaften besitze, und zwar Stabilität und Wandel. »Die Identifikation eines Gegenstands als Tisch beinhaltet sowohl die Erkenntnis, dass dieser Gegenstand eine gewisse Permanenz besitzt, als auch, dass er der Veränderung unterworfen ist.«999 Platon habe auf dieses Problem eben dadurch reagiert, dass er die beiden sich widersprechenden Eigenschaften des Dings in die Diskontinuität des Sinnlichen und Geistigen überführt habe, und zwar in dem Sinne, dass die zeitlose, intelligible Form Tisch (der Gegenstand der Frage ›Was ist…?‹) der vergänglichen Materie temporäre Seinsqualität als Tisch (›Wer/Welches?‹) verleiht. Die Positionierung der deleuze’schen Philosophie der Kontinuität (und damit der Univozität alles Seienden) gegenüber der Diskontinuität dieses (neu-)platonischen Universums zieht damit eine entsprechende Neubestimmung der Beschaffenheit eines ›Dings‹ nach sich. Denn anders als bei Platon können Stabilität und Wandel nur auf derselben Ebene (und nicht auf unterschiedlichen Seinsebenen) angesiedelt sein. ›Wahres‹ Sein ist damit nicht der unveränderliche Kern des Werdenden, das diesem selbst äußerlich ist, sondern vereint beide Aspekte gleichermaßen in sich. Um diese Prämisse zu konkretisieren, schlagen Deleuze und Guattari vor, Gegenstände in Form von »Gefügen«1000 [agencement] zu konzeptionalisieren. Darunter verstehen sie Orte in einem »Feld der Interaktion«1001, die »stets die Tendenz zu Stasis und Wandel als die abstrakten Pole eines singulären Kontinuums besitzen. Wie für Spinoza der Körper die Beziehung zwischen Bewegung und Ruhe ist, so ist ein Gefüge das Verhältnis seiner Tendenzen zu Stabilität und Wandel.«1002 Ihre Unternehmung, Gegenstände im Sinne von Gefügen zu (re-)artikulieren, realisieren Deleuze und Guattari nun mithilfe eines aus der Ethnologie entlehnten Konzeptes – dem Plateau: »Gregory Bateson [1904–1980] benutzt das Wort ›Plateau‹, um etwas ganz Spezielles zu bezeichnen: eine zusammenhängende, in sich selbst vibrierende Intensitätszone, die sich ohne jede Ausrichtung auf einen Höhepunkt oder ein äußeres Ziel ausbreitet.«1003 Die Natur eines Pla-

998 »The trouble with ›things‹ […].« Adkins: Deleuze and Guattari’s A Thousand Plateaus, S. 10. 999 »Identifying a thing as a table entails both the recognition that the object possesses some kind of permanence but also that it is also subject to modification.« Ebd., S. 10f. 1000 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Berlin: Merve 1992, S. 12. 1001 »[…] field of interaction.« Adkins: Deleuze and Guattari’s A Thousand Plateaus, S. 13. 1002 »[…] always possesses tendencies toward both stasis and change as the abstract poles of a single continuum. Just as for Spinoza a body is a ratio of motion and rest, an assemblage is a ratio of its tendencies toward both stability and change.« Ebd. 1003 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 37.

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teaus (im Sinne einer Visualisierung oder Intelligibelmachung eines Gefüges) umfasst nach Adkins also zwei Aspekte: »Erstens: Ein Plateau ist aus Intensitäten zusammengesetzt. […] Intensitäten existieren als kontinuierliche Gradierungen und nicht als einzelne Punkte. […] Zweitens: Plateaus sind nicht-teleologisch. Es gibt kein richtiges Ende, dem Plateaus zustreben. Weder suchen Plateaus auf natürliche Weise ihre Form vollständig auszudrücken, noch werden sie daran gemessen, ob sie diese Form erreicht haben oder nicht. Der Grund, warum Plateaus nicht-teleologisch sind, liegt darin, dass sie hylozoisch, also selbst-organisierend sind; sie bilden ihre eigene Form aus – nicht als eine ewige [platonische] Essenz, sondern in Form eines stabilen Zustands.«1004

Diese Stabilität ist jedoch prinzipiell temporär und beliebig, und zwar in der Form, dass es sich dabei lediglich um eine »Zusammenballung intensiver Prozesse«1005 zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem kontingenten Ort handelt. Plateaus sind daher immer mit unermesslich vielen (»tausend«) anderen Plateaus verbunden, die auf verschiedenen zeitlichen und räumlichen Ebenen existieren. Die Verknüpfung dieser Plateaus entspricht am ehestens dem, was man das Historische nennen könnte, unterscheidet sich aber fundamental von der von Foucault propagierten Genealogie und wird von Deleuze und Guattari daher auch als »Anti-Genealogie«1006 bezeichnet. So hatte Foucault ja das Konzept der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts (dass sich historische Entwicklungen auf einen Ursprungspunkt in der Vergangenheit zurückführen lassen, von wo aus sie sich unter Verzweigungen und Verästelungen entfaltet haben) durch die Umkehrung dieses baumartigen Modells konterkariert – und zwar im Sinne eines Stammbaums, dessen ›Ursprung‹ ja in der Gegenwart liegt, weshalb seine Verzweigungen zurück in die Vergangenheit führen. Deleuze und Guattari gehen noch einen Schritt weiter. Für sie ist der Baum prinzipiell mit dem Denken in Strukturen verbunden, und zwar deshalb, weil es sich dabei um das »Wunderwerk einer stabilen, hierarchischen Organisation [handelt]. Herkunftslinien sind immer eindeutig, ebenso wie der Prozess der Differenzierung. Die Logik verwendet Bäume. […] Bäume legen die Tiefenstruktur hinter dem Chaos of-

1004 »First, a plateau is constructed of intensities. […] Intensities exist as continuous gradations rather than discrete points. […] Second, plateaus are non-teleological. There is no proper end toward which plateaus tend. Plateaus do not naturally seek the complete expression of their form, nor are they judged by whether or not they have achieved that form. The reason that plateaus are non-teleological is that they are hylozoic, self organizing, they generate their own form, not as an eternal essence but as a stable state.« Adkins: Deleuze and Guattari’s A Thousand Plateaus, S. 15. 1005 »[…] coagulation of intensive processes […].« Ebd. 1006 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 21.

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fen.«1007 Um nun die Eindeutigkeit der Verzweigungen und Verästelungen zu überwinden, schlagen die beiden vor, die Verknüpfung der Plateaus in Form eines ›Anti-Baums‹ zu denken, und zwar als ein Rhizom. »Ein Rhizom ist als unterirdischer Strang grundsätzlich verschieden von großen und kleinen Wurzeln. Zwiebel- und Knollengewächse sind Rhizome. Pflanzen mit großen und kleinen Wurzeln können in ganz anderer Hinsicht rhizomorph sein […]. Sogar Tiere sind es, wenn sie eine Meute bilden, wie etwa Ratten. Auch der Bau der Tiere ist in all seinen Funktionen rhizomorph: als Wohnung, Vorratslager, Bewegungsraum, Versteck und Ausgangspunkt. Das Rhizom selber kann die unterschiedlichsten Formen annehmen, von der verästelten Ausbreitung in alle Richtungen an der Oberfläche bis zur Verdichtung in Zwiebeln und Knollen. Wenn Ratten übereinander hinweghuschen.«1008

Anders als Bäume (oder Wurzeln) »breiten sich Rhizome [also] nicht in Form eindeutig darstellbarer Hierarchien aus, sondern durch unterirdische Stränge, wobei jeder Teil weitere Triebe nach oben, unten oder zur Seite bilden kann. Es gibt keine Hierarchie. Es gibt keine klare Herkunftslinie. Ein Rhizom hat keinen Anfang und kein Ende. Es ist immer in der Mitte.«1009

Wie diese Charakterisierung impliziert, ähnelt die rhizomatische Verknüpfung der verschiedenen Plateaus selbst einem Gefüge oder Plateau, weshalb man sich diese Verknüpfung auch als ein um neunzig Grad verdrehtes Gefüge vorstellen kann, das sich darüber hinaus in einer dritten Dimension ausbreitet. Und ebenso wie ein einzelnes Plateau ist auch dieses verdrehte, dreidimensionale Gefüge gänzlich selbstorganisierend und damit unberechenbar, weil es in seiner Ausbreitung und der Ballung seiner Intensitäten prinzipiell unvorhersehbar ist. ›Sein‹ könnte man sich mit Deleuze und Guattari also als ein rhizomatisches Gewebe mit kontingenten, horizontalen und vertikalen Zusammenballungen von Intensitäten vorstellen, das sich selbst organisiert und damit lebendig, hylozoisch ist. Die größte Schwierigkeit bei der Lektüre von Tausend Plateaus (die gleichzeitig die große Stärke des Buchs ausmacht) ist, dass Deleuze und Guattari ihr Werk in Form eines Rhizoms verfasst haben. Obgleich der Zugang zu ihrem Denken dadurch zunächst deutlich erschwert wird, liefern sie damit eine Art 1007 »The tree is a marvel of stable, hierarchical organization. Lines of descent are always clear, as is the process of differentiation. Logic uses trees. […] Trees reveal the deep structure that lies behind the messiness of reality.« Adkins: Deleuze and Guattari’s A Thousand Plateaus, S. 23. 1008 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 16. 1009 »Rhizomes do not propagate by way of clearly delineated hierarchies, but by underground stems in which any part may send additional shoots upward, downward, or laterally. There is no hierarchy. There are no clear lines of descent. A rhizome has no beginning or end. It is always in the middle.« Adkins: Deleuze and Guattari’s A Thousand Plateaus, S. 23.

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Blaupause (wenn nicht gar Methode!) für ein nicht- oder anti-ontologisches Sprechen. In ihrer konzeptuellen Einführung legen die beiden Autoren daher auch die konkrete Vorgehensweise ihres Schreibprozesses offen, was gleichzeitig als ein Schlüssel zur Lektüre ihres Buchs dient: »Wir schreiben dieses Buch wie ein Rhizom. Es ist aus Plateaus zusammengesetzt oder komponiert. Wir haben ihm eine zirkuläre Form gegeben, aber nur zum Spaß. Jeden Morgen nach dem Aufstehen hat sich jeder von uns gefragt, welche Plateaus er sich vornehmen würde, um hier fünf oder dort zehn Zeilen zu schreiben. Wir haben halluzinatorische Experimente gemacht, wir haben beobachtet, wie Linien ein Plateau verlassen haben, um wie kleine Ameisenkolonien zu einem anderen weiterzuziehen. Wir haben Konvergenzkreise gezogen. Jedes Plateau kann von jeder beliebigen Stelle aus gelesen und mit jedem anderen in Beziehung gesetzt werden. Für das Mannigfaltige braucht man eine Methode, mit der man es tatsächlich herstellen kann.«1010

Eine kurze ›exemplarische Durchführung‹ dieser Form der nicht-ontologisierenden Rede, die diesen Ansatz (als einen unter mehreren) für eine poststrukturalistisch motivierte, post-pluralistische Theologie der Religionen fruchtbar machen will, ist im Anhang abgedruckt und folgt in wesentlichen (aber nicht allen) Punkten der soeben zitierten ›Anleitung‹.

1010 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 37.

Nachwort

Im Rückblick auf das in den vorangegangenen Kapiteln Gesagte muss recht schnell die Erkenntnis reifen, dass sich das Einreißen von Grenzen zur Erschließung neuer Räume deutlich einfacher gestaltet als die aktive Erkundung und anschließende ›Anfüllung‹ derselben. Dies ist sicherlich nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass die mit Hilfe der poststrukturalistischen Theorie erfolgte Dekonstruktion althergebrachter Kategorien und Konzepte der religionstheologischen Debatte sich nicht nur einer breiten Vielfalt an Vorbildern in sämtlichen kultur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen bedienen kann; vielmehr hat diese (gegenüber der konstruktiven ›Anfüllung‹ der neu erschlossenen Räume) den Vorteil, dass sie im Modus herkömmlicher wissenschaftlicher Vorgehensweise und Sprache operiert, während zweitere, nachdem sie nicht nur besagte Operationsweisen, sondern eben auch die herkömmliche Art des (wissenschaftlichen) Sprechens dekonstruiert hat, gänzlich neue Formen des Sagens finden muss, für die es bislang deutlich weniger Vorbilder gibt als im Falle der Dekonstruktion. Dennoch hoffe ich, mit den in Kapitel 7 skizzierten Ansätzen in Sachen nichteigentlicher und poststrukturalistischer Redeweise zumindest in Grundzügen gezeigt zu haben, welche Richtungen eine entsprechend motivierte Sprache einschlagen könnte, die bestrebt ist, nicht nur die Kontingenz und Historizität der eigenen Aussagen herauszustellen, sondern gleichzeitig zu demonstrieren, dass Wahrheit – sollte sie denn irgend anders verstanden werden als als Produkt geschichtlicher Aushandlungsprozesse – nur jenseits dessen zu finden ist, über das wir in irgendeiner Form verfügen können. Mit diesem Verständnis könnte auch von dem ›einen Gott‹ (wollte man ihn überhaupt als ›transzendent‹ verstehen) prinzipiell nur als dem ›ganz anderen‹, dem allen historischen Diskursen vollständig enthobenen und damit prinzipiell und ausnahmslos unverfügbaren diskursiven Außen gesprochen werden – eine Figur, die man in einem gewissen Sinne als post-barthianisch bezeichnen könnte. Doch anders als auf den ersten Blick ersichtlich, leistet eine solche Redeweise keinesfalls der völligen Beliebigkeit ihrer Aussagen Vorschub – ein Vorwurf, der nicht selten an Theorien der

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sogenannten Postmoderne herangetragen wird. Denn die Historizität dessen, was wir als Wissen über Gott und die Welt erachten, bedingt auch deren Status als Realität im Rahmen des einen Seins – und diese Realität erscheint mir (als von den konkreten geschichtlichen Aushandlungsprozessen ausnahmslos abhängige) ein deutliches Stück ›härter‹ zu sein als jene diskursiven Setzungen, die als transzendent, allgemein gültig – und damit ohne jede kontextuelle Verflechtung als zeitlos wahr – behauptet werden. Wahrheit ist, auch wenn sie historisch bedingt und damit prinzipiell kontingent ist, nicht bedeutungslos oder gar beliebig, eben weil sie das ganz konkrete, ›reale‹ Produkt jener Welt und gesellschaftlichen Wirklichkeit ist, in die wir als Einzelne eingebunden und verwoben sind. So gesehen ist diese Form von Wahrheit für uns (im Vergleich zu den abstrakten Universalien klassischer Theorien) von geradezu herausragender Relevanz, weil sie ganz unmittelbar mit uns selbst als in dieser Welt Verwurzelte – und dadurch mit unserem In-der-Welt-Sein und unserer Geworfenheit – verknüpft ist. Im Kontext dieser (deleuze’schen) Ontologie der radikalen Immanenz kann die ›harte‹ Realität der Existenz des ›einen Gottes‹ kaum bestritten werden. Denn anders als in dem oben genannten, eher hypothetischen, ›post-barthianischen‹ Sinne ist Gott in der Metaphysik des einen Seins, das aufgrund seiner ontologischen Struktur prinzipiell nicht von einem ›Außen‹ oder einem Jenseits ausgeht, nicht zu übersehen: Was ich oben als das allgegenwärtige Produkt eines globalen historischen Diskurses konzeptionalisiert habe, lässt sich im Verständnis Deleuzes als eine wahrhaft gigantische ›Knolle‹, ja als gordischer Knoten im Rhizom des Seins denken, das zu allen Seiten und Zeiten seine Stränge und Verästelungen ausbildet und daher auf mannigfaltige Weise mit uns selbst als ebensolchen (freilich ungleich schwächer ausgeprägten) Seinsknoten verbunden ist. Mit diesem Verständnis kann auch von einem fernen, unnahbaren und unverfügbaren Gott keine Rede mehr sein; indem Gott ( je nach unserer eigenen Positionierung im Diskurs) auf so vielfältige und engmaschige Weise mit uns selbst verknüpft sein kann, ist er uns nah und geht uns unmittelbar an. Gleichzeitig sind wir über ihn auch mit Anderen verbunden, und zwar mit allen, die (auf welche Weise auch immer) mit dem globalen ›Gottesknoten‹ verflochten sind. Und weil dieser Gott (aufgrund der Abwesenheit eines seine Absolutheit absichernden ›Außens‹) substantiell nicht fixiert werden kann, hängt sein ›Wesen‹ stets von den konkreten, kontingenten Strängen und Verästelungen ab, die er mit einer bestimmten Position im Diskurs eingeht, weshalb es sich bei den oben genannten ›Anderen‹ nicht nur um Christinnen und Christen, sondern auch um Angehörige aller weiteren religiösen Positionierungen handelt, die Verknüpfungen zu dem ›einen Gott‹ ausgebildet haben. Vor diesem Hintergrund wäre eine so bestimmte, poststrukturalistisch motivierte, Theologie der Religionen als Variante der pluralistischen Option (eben als ›post-pluralistisch‹) zu charakte-

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risieren, und zwar im Sinne der einfachen Aussage, dass alle Religionen in der Tat an den einen, wahren Gott glauben.1011 Doch worin könnten nun die Konsequenzen dieser theoretischen Grundierung der Theologie der Religionen für den interreligiösen Dialog bestehen? Es ist klar, dass diese Frage in ihrer Breite ebenfalls erst in umfangreichen weiteren Arbeiten beantwortet werden kann, die im Idealfall (und ganz anders als der vorliegende Text) aus einer praxisorientierten Perspektive konzipiert sind und damit aus den »theologischen Rückzugsräumen«1012 der Religionstheologie oder auch -philosophie im engeren Sinne hinausführen. Ich möchte daher zum Abschluss nur ganz grob einige allgemeinere Implikationen skizzieren, die meines Erachtens durch die poststrukturalistische bzw. post-pluralistische Variante religionstheologischer Rede im Bezug auf das konkrete theologische Zwiegespräch zwischen Angehörigen der verschiedenen Religionen nahe gelegt werden. (1) Anders als ein interreligiöser Dialog, der durch komparative Theologien mit »konfessionelle[r] Verankerung«1013 oder vergleichbare Ansätze geprägt ist, die den Fokus im Sinne einer »mikrologischen Vorgehensweise«1014 eher auf das sorgfältige Ausloten religiöser Gemeinsamkeiten und Unterschiede legen1015, so impliziert ein post-pluralistisch ausgerichteter Dialog der Religionen m. E. das genaue Gegenteil davon. Denn hier muss Wahrheit nicht erst gesucht1016, festgeschrieben und gegebenenfalls ›verteidigt‹ werden; sie ist bereits ›da‹ und allgegenwärtig und muss und kann daher nur gemeinsam erkundet werden. Mit diesem Verständnis besteht das Ziel also nicht in der Bündelung und ggf. Abgrenzung bestimmter Konzepte und Aussagen über die Wahrheit Gottes, sondern darin, die Mannigfaltigkeit des Seins, in das die an einem solchermaßen 1011 Um hier den Eindruck zu vermeiden, dass es sich bei dieser Option nun doch wieder um eine (klassisch-)inklusivistische handelt, sei darauf verwiesen, dass die Wahrheit Gottes hier selbstredend nicht von einem metaphysischen ›Außen‹ abzuleiten ist – eine Hypothese, die ja die Grundlage der inklusivisitschen Position (zumindest in der Tradition Rahners) bildet. Der ›Gottesknoten‹ ist nur deshalb wahr, weil seine Wahrheit diskursiv ausgehandelt ist. Damit sind die Geltungsansprüche der verschiedenen religiösen Positionierungen nicht das Produkt der vielfältigen Manifestation einer höheren Entität, sondern tragen vielmehr in ihrer gegenseitigen Verflechtung zur Sedimentierung des wahren Gottes bei. 1012 Reinhold Bernhardt: Inter-Religio. Das Christentum in Beziehung zu anderen Religionen. Zürich: TVZ 2019, S. 304. 1013 Klaus von Stosch: Komparative Theologie. In: Ulrich Dehn/Ulrike Caspar-Seeger/Freya Bernstorff (Hrsg.): Handbuch Theologie der Religionen. Freiburg: Herder 2017, S. 317–337, hier S. 321. 1014 Ebd., S. 326. 1015 Vgl. bspw. auch Werner Schatz: Streite mit ihnen auf die beste Art. Praktische Anleitung zum christlich-muslimischen Dialog. Würzburg/Zell a. M.: Religion & Kultur 2010; Christian W. Troll: Unterscheiden um zu klären. Orientierung im christlich-islamischen Dialog. Freiburg: Herder 2008. 1016 Vgl. von Stosch: Komparative Theologie, S. 323f.

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bestimmten Dialog Partizipierenden eingewoben sind, genealogisch zu entschleiern und so die Wirklichkeit des einen, gemeinsamen Gottes zu vergegenwärtigen. An dieser Stelle könnte sich auch eine übereinstimmende Grundtendenz mit bestimmten Ansätzen aus dem Bereich der (religionstheologischen) Differenzhermeneutik offenbaren, deren interreligiöses Verstehen nicht durch »Defiziterfahrungen […], sondern die Erfahrung gemeinsamen Lebens«1017 begründet ist. In diesem Zusammenhang könnte besonders Theo Sundermeiers Figur des osmotischen Austauschs einer poststrukturalistischen Re-Interpretation oder Verschiebung unterzogen werden,1018 indem die Idee der gegenseitigen Durchdringung bei gleichzeitiger Beibehaltung ›prekärer‹ und kontingenter, identitätsbezogener Grenzen als Plausibilisierung der substantiellen Paradoxien des ›einen Seins‹ gelesen werden könnte:1019 »Bei sich selbst und gleichzeitig beim Fremden sein; Fremdheit akzeptieren, die dennoch Vertrautheit nicht unmöglich macht; Distanz halten, die Nähe ist und ein Mitsein mit dem anderen einschließt.«1020 (2) Vor diesem Hintergrund bildet auch nicht die Festigung der scheinbar eigenen Positionierung mithilfe der ›klärenden‹ Fixierung theologischer Wahrheiten den Ausgangspunkt des Dialogs. Vielmehr geht es darum, diese gerade als ein kontingentes Produkt des (inter-)religiösen Diskurses zu begreifen – ein Status, den die eigene Position mit der des jeweiligen Gegenübers gemeinsam hat. Auch in diesem Punkt lassen sich Gemeinsamkeiten mit Sundermeiers Konzept der »Xenologie« entdecken, deren Potential durch eine poststrukturalistische Re-Lektüre weiter ausgeleuchtet werden könnte. Denn auch hier wird »auf ein Verständnis von Identitätsbildung zurück[gegriffen], das von einer wechselseitigen Konstitution von Identität und Alterität ausgeht. Das Eigene (Selbst) bildet sich am Anderen und bleibt so auf dieses angewiesen«1021: »Das Ego ist hier wirklich entmachtet, aber nicht aufgelöst. Es existiert durch den anderen und mit ihm.«1022 Davon ausgehend würde hier also nicht die Klärung des eigenen Standpunktes, sondern vielmehr dessen konzeptuelle ›Ent-Eignung‹ in der 1017 Theo Sundermeier: Erwägungen zu einer Hermeneutik interkulturellen Verstehens. In: Theo Sundermeier/Werner Ustorf (Hrsg.): Die Begegnung mit dem Anderen. Plädoyers für eine interkulturelle Hermeneutik. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1991, S. 13–28, hier S. 20. 1018 Die Kritik an der unzureichenden theoretischen Fundierung des sundermeier’schen Entwurfs sei hiervon unberührt. Vielleicht öffnet sich ja gerade an dieser Stelle ein Fenster für eine poststrukturalistisch theoretisierende Re-Lektüre. Vgl. Danz: Einführung in die Theologie der Religionen, S. 223–228; Bernhardt: Die Differenz macht den Unterschied, S. 31f. 1019 Vgl. Theo Sundermeier: Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996, S. 135f. 1020 Ebd., S. 132. 1021 Bernhardt: Die Differenz macht den Unterschied, S. 31. 1022 Sundermeier: Den Fremden verstehen, S. 134.

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Kontingenz und konstitutiven Differentialität des historischen Diskurses die prinzipielle Grundhaltung des Zwiegesprächs bilden, indem das vermeintlich Eigene in den Tiefen der (möglicherweise rhizomartigen) Verästelungen des Seins verortet und damit letztlich substantiell entkernt würde – aber (aufgrund der jeweils spezifischen diskursiven ›Gewordenheit‹ der am Dialog Partizipierenden) niemals vollumfänglich aufgelöst. (3) Demgegenüber (oder vielleicht gerade deshalb) scheint es mir möglich und sinnvoll, an dem Verständnis festzuhalten, dass der interreligiöse Dialog auch stets mit Bekenntnis und Verkündigung verbunden ist. Zum einen, weil beides das Geworfen- und Gewordensein der jeweiligen Gesprächspartner transparent macht, was einer prinzipiell gleichberechtigten Dialogsituation sicherlich nicht abträglich ist. Zum anderen, weil die Wahrheit, die es zu entschleiern gilt, ohnehin mannigfaltiger Natur ist; die verschiedenartigen Zeugnisse der Dialogführenden markieren dadurch ideale Einstiegspunkte, um die (anti-)geneaologische Erforschung der vielfältigen Verflechtungen der einen göttlichen Wirklichkeit, die sich in den verschiedenen religiösen Positionierungen zeigt, in Angriff zu nehmen und von dort aus den Strängen und Verästelungen ins unendliche Dunkel des Unbekannten nachzuspüren.1023 Dem Dialog kommt damit letztlich die zentrale Rolle im Rahmen einer poststrukturalistisch motivierten, post-pluralistischen Religionstheologie zu, weil nur hier der Ort ist, an dem die Verwobenheit der unterschiedlichen Positionierungen (in unmittelbarer Anknüpfung an die sich historisch zeigenden, mannigfaltigen Manifestationen der einen Wirklichkeit Gottes) unmittelbar sichtbar gemacht werden kann.

1023 Auch hier könnte sich eine poststrukturalistische Perspektive in Sundermeiers Stufenmodell zum Verstehen des Fremden einschreiben, wobei sich im Detail an dieser Stelle sicherlich deutlichere Ansätze zur Modifikation ergeben dürften. Vgl. ebd., S. 155.

Anhang: Christus, ein Gefüge

Den Ausgangspunkt des folgenden Experiments bildet die kontingente Geworfenheit des Verfassers, die mit Deleuze vielleicht als Knoten oder Knolle im Wurzelwerk des ›einen Seins‹ beschrieben werden kann. Dieser Umstand bringt es mit sich, dass das präsentierte Ergebnis aus einer Positionierung heraus, die nicht mit der des Verfassers absolut identisch ist, nicht vollständig entschlüsselt werden kann und umso rätselhafter erscheint, je weiter sich die ›Platzierung‹ des oder der Lesenden im Rhizom von der des Verfassers wegbewegt. Dennoch soll der Text hier abschließend Berücksichtigung finden, um eine mögliche Vorgehensweise zu illustrieren, wenn es darum geht, (religions-)theologische Aussagen im Sinne der deleuze’schen Anti-Ontologie zu tätigen. Die Komplexität der konkreten, rhizomatischen Verflochtenheit einer solchermaßen konzeptualisierten Positionierung kann hier nur kurz angedeutet werden – nicht allein deshalb, weil sie dem Verfasser selbst nur unzureichend bewusst ist, sondern vor allem auch, um nicht den Eindruck eines konkreten ›Schlüssels‹ zu schaffen, der in irgendeiner Form eine Bedeutungsfixierung der folgenden Passagen ermöglichen würde. Die Verflechtungen lassen sich zum einen immerhin als ›Karriere‹ oder wuchernde Fortbewegung im Gewebe des ›einen Seins‹ beschreiben, umfassen nach herkömmlicher Terminologie also beispielsweise fachliche, (forschungs-)biographische oder familiäre Herkunft, aber auch alle anderen Arten kontextueller Prägungen, die hier als stärkere oder schwächere Stränge zum identitären ›Geschwür‹ verstanden werden können. Zum anderen betreffen sie aber auch die ganz konkreten situativen Umstände der Abfassung, etwa in Form des verfügbaren Arbeitsmaterials oder des konkreten Ortes und Zeitraums der Abfassung (in diesem Fall das Wintersemester 2018/19, zur Zeit des Lehrbetriebs, am Institut für Religionswissenschaft und Religionspädagogik an der Universität Bremen) – Aspekte also, die für die substantielle Prägung der unterschiedlichen Plateaus gleichermaßen ausschlaggebend zeichnen. Die folgenden Stücke repräsentieren also zunächst Themen, die mir im Verlauf des Lehrbetriebs (zum Teil nur in Nebensätzen, zum Teil auch als Fragen von Studierenden) begegnet sind, und die spontan Ver-

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Anhang: Christus, ein Gefüge

bindungen zum Christus-Rhizom ausgebildet haben. In Anknüpfung an diese thematischen Anlässe wurden ausschließlich solche Quellen direkt rezipiert, die mir unmittelbar durch einen Griff in den Bücherschrank meines Büros zur Verfügung standen.1024 Manche Passagen sind am Schreibtisch entstanden, andere etwa unter dem unmittelbaren Eindruck eines Waldspaziergangs oder bei anderen Gelegenheiten. Dennoch (oder gerade deshalb) sind alle Plateaus unweigerlich verknüpft mit den weiter ausgreifenden Dimensionen meiner diskursiven (genealogischen) Existenz, die zum Teil explizit sichtbar gemacht wurden, zum Teil aber auch nur implizit (und vielleicht auch nur für mich selbst [un-]sichtbar) zu Tage treten. Die folgenden Ausführungen sind daher in ihrer inhaltlichen Zusammensetzung rein kontingenter Natur und können keineswegs als irgendeine Art ›Gesamtcharakterisierung‹ der Gestalt Jesu gelesen werden.

2018: Predigt zum Fest Das Christkind ist nicht eines. Denn wenn es das wäre, könnte es nicht bei so vielen Kindern an einem einzigen Abend seine Geschenke unter den Baum legen. Es ist aber auch nicht viele. Denn dann wäre nicht sichergestellt, dass in diesem Jahr dasselbe Christkind die Geschenke brächte wie im letzten. Oder man würde von einer ganzen Schar an Christkindern vom Himmel aus beobachtet, oder es müsste im Himmel eine Art Ordnungssystem existieren, das gewährleistete, dass jedes Kind von ein- und demselben Christkind beschützt und beschenkt würde. Das ist sicher nicht der Fall. Die Lösung ist: Das Christkind ist ein Rhizom. Es ist auch nicht viele (weil das nur im Bezug auf das ›Eine‹ möglich wäre, das klar 1024 Mirza Ghulam Ahmad: Jesus in India. An Account of Jesus’ Escape from Death on the Cross and His Journey to India. Amsterdam: Fredonia 2004; Helena Petrovna Blavatsky: Isis entschleiert. Ein Meisterschlüssel zu den Geheimnissen alter und neuer Wissenschaft und Theologie (Adyar-Reprint). Burgh-Haamstede: Editions 3 Masques 1999; Constanza Cordoni: Barlaam und Josaphat in der europäischen Literatur des Mittelalters. Darstellung der Stofftraditionen – Bibliographie – Studien. Berlin: De Gruyter 2014; Das Neue Testament. Revidierte Elberfelder Übersetzung. Wuppertal: R. Brockhaus 1975; Alexander Demandt: Sieben Siegel. Essays zur Kulturgeschichte. Köln: Böhlau 2005; Christian Lange: Einführung in die allgemeinen Konzilien. Darmstadt: WBG 2012; I Wayan Mastra: Das Evangelium im Kontext. In: Karl-Christoph Epting (Hrsg.): Bali ist mein Leib, Christus ist mein Leben. Der Künstler I Nyoman Darsane. Karlsruhe: Hans Thoma Verlag 1999, S. 23– 29; Raymondo Panikkar: Christus der Unbekannte im Hinduismus. Luzern/Stuttgart: Räber 1965; Adolf Martin Ritter (Hrsg.): Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen. Band I: Alte Kirche. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1977; Klaus Schatz: Allgemeine Konzilien – Brennpunkte der Kirchengeschichte. Paderborn: Schöningh 22008; Keshub Chunder Sen: Lectures in India. London [u. a.]: Cassell 1901; Josef Wohlmuth (Hrsg.): Dekrete der ökumenischen Konzilien. Band I: Konzilien des ersten Jahrtausends. Vom Konzil von Nizäa (325) bis zum vierten Konzil von Konstantinopel (869–70). Paderborn: Schöningh 1998.

1877: Trimurti

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abgrenzbare ›Eine‹ und ›Wahre‹, das wir nicht denken wollen). Es kann also nur mannigfaltig sein. Daher kann man das Christkind auch nicht richtig sehen. Es ist nicht einfach anwesend, es ist aber auch nicht nicht-anwesend. Manchmal, etwa in Kinderzeichnungen, hat es Flügel wie ein Engel, dann wieder liegt es als Säugling in der Krippe. Es wohnt im Himmel, aber nicht hinter den Wolken, wenn man nachschauen würde. Aber es schaut von einer Wolke auf uns herab, wie meine Tochter sagen würde. Es ist also nicht dort, aber es ist da. Etwas Christkind. Daher war die Krippe auch nicht leer, als die Weisen des Ostens (von denen es später heißen wird, es habe sich um ungefähr drei gehandelt) sie zu Bethlehem aufsuchten. Denn obgleich der Knabe zur selben Zeit in Nazareth hinter einem Schleier (und vielleicht in einem Haus aus Stein) das Licht der Welt erblickte, steht das keineswegs im Widerspruch zu Berichten, wonach der Erlöser den Magiern Indiens in einem Stall in Judäa erschienen sein soll. Gewiss ist das Kind nicht geflogen, obwohl es das zuweilen hätte können, wie wir wissen. Vielmehr ist klar, dass sowohl in Bethlehem als auch in Nazareth etwas Christkind anwesend war, dies jedoch nicht im gleichen Maße (im Sinne einer buchstäblichen Gleichzeitigkeit), aber eben doch in gleichwertiger Weise. Denn während die Mahatmas, wären sie rechtzeitig in Nazareth eingetroffen, den Knaben gewiss in ihren Armen hätten wiegen können, so erschien er ihnen aufgrund seiner Natur in Gestalt eines Strangs von oben, von einem anderen Plateau, aus einer anderen Zeit – gleich einer Projektion oder eines Echos aus der Zukunft. Er erschien ihnen aber auch als eine Gestalt von unten (falls Plateaus in zeitlicher Abfolge aufsteigend angeordnet sind, was natürlich nicht zutrifft), als der Messias und Sohn Davids, mit dem er seinen Geburtsort nicht zwangsläufig teilen muss, es schließlich aber tut. In dieser Form ist Jesus (Friede sei mit ihm) von Anfang an der Christus und Messias, der Sohn Gottes, und zugleich auch das hilflose, neugeborene (Christ-)Kind zweier Menschen, indem er an beiden Orten (und in beiderlei Gestalt) in gleichwertiger (obschon ungleichmäßiger) Weise anwesend ist. Und er ist es auch heute (und war es prinzipiell immer), an allen Orten, unter und über dem Baum.

1877: Trimurti »Die gnostischen Orphiten lehrten die Lehre der Emanationen […]. Die unbekannte Gottheit hatte bei ihnen keinen Namen; aber ihre erste weibliche Emanation wurde Bythos oder Tiefe genannt. Es entsprach der Shekinah der Kabbalisten, dem Schleier, der die ›Weisheit‹ in dem Cranium des Höchsten der drei Häupter verbirgt. Wie die Pythag. Monade war die namenlose Weisheit die Quelle des Lichtes, und Ennoia oder Verstand ist das Licht selbst. […] So sind: Das Namenlose und Ungeoffenbarte, ferner Bythos, seine weibliche Reflexion und

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Anhang: Christus, ein Gefüge

schliesslich Ennoia der geoffenbarte Verstand, der aus beiden hervorgeht, oder ihr Sohn, die Gegenstücke der chaldäischen ersten Triade sowohl, als auch jene der brahmanischen Trimurti.« »Mit den Orphiten und anderen Gnostikern […] zeugt die ungeoffenbarte Bythos und ihr männliches Gegenstück Ennoia, und die drei bringen ihrerseits Sophia [ind. Nari] hervor u. vervollständigen auf diese Weise die Tetraktys, die Christos emanieren wird, die eigentliche Essenz des Vatergeistes. Wie der ungeoffenbarte Eine oder verheimlichte Logos in seinem latenten Zustand, hat er von aller Ewigkeit in dem Arba-Il existiert, das die metaphysische Abstraktion ist; deshalb ist er Eins mit allen anderen, eine Einheit, welch letztere (alle einschliessend) verschiedentlich: Ennoia, Sigè (Schweigen)[,] Bythos etc. genannt wurde. Als der geoffenbarte Eine ist er androgyn, Christos und Sophia (göttliche Weisheit), die in den Menschen Jesus herabsteigt. Irenäus zeigt, dass beide, Vater und Sohn, die Schönheit (formam) des ursprünglichen Weibes geliebt haben […]. Befruchtet von dem göttlichen Lichte des Vaters und Sohnes bringt der höchste Geist und Ennoia – Sophia – ihrerseits zwei andere Emanationen hervor, eine vollkommne, ›Christos‹, eine unvollkommne, ›Sophia Achamoth‹, […] die die Mediatrix zwischen der intellektuellen und materiellen Welt wird. Christos war der Mediator und Führer zwischen Gott (dem Höhern) und allem Spirituellen im Menschen; Achamoth – die jüngere Sophia – erhielt dieselbe Aufgabe zwischen dem ›ursprüngliche Menschen‹ Ennoia [Adam Kadmon] und dem Stoff. Dies wurde mysteriös durch den allgemeinen Ausdruck ›Christos‹, den wir soeben erklärt haben, ausgedrückt.« »Aber um zu unserer Sophia Achamoth und dem Glauben der ursprünglichen Christen zurückzukehren. Nachdem sie Ilda Baoth erzeugt hatte […], litt Sophia Achamoth so sehr von der Berührung mit der Materie, dass sie nach ausserordentlichem Kampfe endlich aus dem schmutzigen Chaos entfloh. Obgleich unbekannt mit dem Pleroma, der Region ihrer Mutter, erreichte sie den mütterlichen Raum und fuhr fort, die stofflichen Teilchen abzuschütteln, die ihre spirituelle Natur eingekerkert hatten. Danach formte sie sofort eine kräftige Schranke zwischen der Welt der Intelligenzen (Geister) und der Welt des Stoffes. Ilda Baoth ist so der ›Sohn der Dunkelheit‹, der Schöpfer unserer sündhaften Welt (der physikalische Teil derselben).« »Achamoth, geängstigt von den Übeln, die die Menschheit trotz ihres Schutzes befallen hatten, fleht, um die unbekannte Tiefe zu überwinden, ihre himmlische Mutter Sophie – ihre Antitype – an, Christos (Sohn und Emanation ›der himmlischen Jungfrau‹) zur Hilfe für die verderbende Menschheit herabzusenden. Ilda Baoth und seine sechs Söhne der Materie schneiden das göttliche Licht vom Menschenkinde ab. Der Mensch musste gerettet werden. Ilda Baoth hatte schon seinen eigenen Vermittler, Johannes den Täufer, aus der Rasse des Seth, die er beschirmt, gesendet – um als Prophet für sein Volk zu gelten; aber nur ein

1899: Der Reisende

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geringer Teil horchte auf ihn […]. Achamoth hatte ihrem Sohne, Ildo [sic] Baoth versichert, dass die Herrschaft Christi nur vorübergehend sein wird und veranlasste ihn, so den Vorläufer oder Herold zu entsenden. Nebenbei liess sie ihn die Geburt des Menschen Jesus aus der Jungfrau Maria verursachen, ihrer eigenen Type auf Erden […]. Sobald Jesus geboren war, stieg Christos, der vollkommene, sich mit Sophia (Weisheit und Geistigkeit) vereinigend, durch die sieben planetarischen Regionen herab, indem er in jeder eine analoge Form annahm […]. So trat Christos in dem Augenblicke seiner Taufe im Jordan in den Menschen Jesus ein. Von dieser Zeit an begann Jesus Wunder zu wirken; vor dem war er völlig unbewusst seiner Mission.« »Ilda Baoth, der entdeckte, dass Christos seine eigene Herrschaft der Materie dem Ende nahe brachte, stachelte die Juden gegen ihn auf und Jesus wurde getötet. Am Kreuze verliessen Christos und Sophia seinen Körper und kehrten in ihre eigene Sphäre zurück. Der materielle Körper des Menschen Jesus wurde der Erde überlassen, aber ihm selbst wurde ein Körper gegeben, der aus Äther gemacht war. […] Darnach bestand er aus reiner Seele und Geist, aus welchem Grunde ihn die Jünger nach der Wiedererweckung nicht wieder erkannten. In diesem geistigen Zustande eines Similaerums verblieb Jesus auf Erden achtzehn Monate, nachdem er erhöht worden war. […] Sodann, in den Mittelraum emporsteigend, sitzt er zur rechten Hand Ilda Baoth’s, aber unbemerkt von ihm und vereint hier alle Seelen, die durch die Erkenntnis Christi gereinigt worden sind. Wenn er das ganze spirituelle Licht, das in der Materie vorhanden ist[,] aus Ilda Baoth’s Königreich gesammelt hat, wird die Erlösung vollendet sein und die Welt zerstört werden. Das ist die Bedeutung der Wiederaufsaugung des ganzen spirituellen Lichtes in das Pleroma oder die Fülle, der es ursprünglich entsprang.«

1899: Der Reisende Vielleicht, so dachte er, als er sich noch einmal umdrehte, war er doch etwas zu lange in diesem Wald geblieben. Der Weg, über den er hineingelangt war, existierte nicht mehr (hatte es ihn je gegeben?). Vor ihm entspann sich ein schier unendliches Geflecht und Gewirr aus Pfaden, die dem in der Ferne flimmernden Horizont zustrebten; mal aufsteigend, mal abfallend, dort schmal wie Bindfäden, hier breit wie Flüsse, an manchen Stellen sich überkreuzend, an anderen fest verknotet – zum Teil unter Bildung gewaltiger Wucherungen, die mal am Himmel zu schweben schienen und mal halb oder auch fast vollständig in der Erde steckten wie Tulpenzwiebeln. Schon spürte er, wie er sich allmählich aufzulösen begann, je weiter er voranschritt. Überhaupt war es nicht das erste Mal, dass er diesen Wald verließ; schon oft war er ihm entschlüpft, meist ungesehen. Einst (es mochten seither gut und gerne

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Anhang: Christus, ein Gefüge

zweieinhalbtausend Jahre vergangen sein) war er den Pfaden Richtung Süden gefolgt, nachdem er eine unbestimmte Zeit unter einem Feigenbaum verbracht hatte. Er war erwacht, hatte sich erhoben und war einfach hinausgegangen. Auf dem Weg, der sich unter seinen Füßen ebnete, hatte man ihn daher Budasaf oder Bodisav, den Erwachten, genannt. Ein anderes Mal, vielleicht tausend Jahre später, muss er etwas weiter westlich herausgekommen sein. Vor seinem Aufbruch hatte er sich an einer Quelle ausgeruht, bevölkert von bunten Vögeln, die von den Ästen des gewaltigen Baumes herabgeflattert kamen, in dessen Schatten er sich niedergelassen hatte. Vier von ihnen schienen von menschlicher Gestalt gewesen zu sein, fast wie Engel oder große Seelen, die vom Himmel (oder auch nur von den Höhen der Berge) herabgestiegen waren, um ihn in das Geheimnis der Natur einzuweihen und ihren Schleier zu lüften. Nach dieser Erfahrung hatte er sich erhoben und war hinausgegangen. Einer der Pfade, die sich vor ihm auftaten, hatte ihn in das Königreich seines Vaters Gunaysar geführt, der ihn einmal Yudasaf genannt hatte. Hier verkündigte er die wahre Hingabe. Am Ende hatte er sich in die Einsamkeit zurückgezogen und war als Bodhisattva gestorben. Dies war, soweit er sich erinnerte, in Srinagar geschehen, wo sein Grab seither gleich einer Tulpe gedieh. Etwa zur selben Zeit war er auch an mehreren anderen Orten erschienen, als Sohn seines Vaters Abenner, jenes heidnischen Fürsten, der damals die Herrschaft über Indien innehatte. Zu diesen Gelegenheiten pflegte man ihn mit Josaphat anzusprechen, besonders sein Gefährte Barlaam, der ihn in der wahren Hingabe unterwies. Wie schon seinem Vater prophezeit worden war, wandte er sich damals der Lehre des heiligen Apostels Thomas zu und herrschte als weiser König an seines Vaters statt. Jetzt schien es ihm, als ob die Mannigfaltigkeit der Pfade und Stränge vor ihm sich im endlosen Dunkel einer lichtlosen Kammer oder Gruft verlöre. Seine Füße und Hände schmerzten, doch nach drei Tagen und Nächten in der Finsternis erhob er sich schließlich wie damals unter dem Feigenbaum und ging hinaus. Unterwegs traf er Maria Magdalena, die sein Erwachen und seinen Abschied unter den Anhängern verbreitete. Mit elf seiner engsten Freunde lag er ein letztes Mal zu Tisch, ehe er sich am nächsten Tag gen Osten aufmachte. Sein Weg führte ihn zunächst durch Emmaus, wo er sich von zwei weiteren Freunden verabschieden konnte; dann nach Galiläa, wo Thomas, dem er die weisen Tage seiner einstmaligen Königsherrschaft zu verdanken hatte, nun als Fischer lebte; schließlich nach Mossul, von wo aus er seine Unternehmung zu starten gedachte. Noch vor seiner Zeit im Wald hatte er Kunde von den verlorenen Stämmen Israels erhalten, die dereinst vor Salmanassar, dem König von Assur, nach Tibet und Kaschmir geflohen waren. Und auch wenn sein Weg nun wieder im Wirbel des Geflechts zu verschwinden schien, so berichteten später Zeugen, ihn in Teheran, Merat und Kabul gesehen zu haben, bevor er in Kaschmir von seinen verlorenen Brüdern empfangen wurde, die ihn seit alters her als Bodhisattva verehrten. So

451: Teuerster Bruder!

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geschah es, dass er zuletzt wieder nach Srinagar gelangte, wo die Tulpe noch immer in voller Blüte stand. Hier fand er schließlich, Yuz Asaf, der Mann aus dem fernen Nazareth, seine letzte Ruhestatt, bevor der Herr ihn zu sich aufnahm. Friede sei mit ihm.

451: Teuerster Bruder! Unserem gesegneten Papst und Bischof Alexander wünschen die Presbyter und Diakonen Heil im Herrn. Wir glauben an einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer Himmels und der Erden, all des, das sichtbar ist und unsichtbar, allein ungeworden, allein ewig, allein anfangslos, allein wahrhaftig, allein unsterblich, allein weise, allein gut, unveränderlich und unwandelbar. Und an einen Herrn Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, aus Gott geboren vor aller Zeit, Licht von Licht, wahrer Gott von wahrem Gott, geboren, nicht geschaffen, mit dem Vater eines Wesens, unveränderlich und unwandelbar, als ein vollkommenes Geschöpf Gottes, aber nicht wie eines der Geschöpfe, als Erzeugnis, aber nicht wie eines der Erzeugnisse, der um uns Menschen und um unseres Heiles willen herabgestiegen und Fleisch geworden ist, der Mensch ward, litt und am dritten Tage auferstand, aufgefahren ist gen Himmel und kommen wird, um Lebende und Tote zu richten. Er ist durch den Willen Gottes vor Zeiten und Äonen geschaffen worden und hat vom Vater Leben, Sein und Herrlichkeit empfangen, welche der Vater gleichzeitig mit ihm hat ins Dasein treten lassen. Denn der Vater hat sich, als er ihm alles zum Erbe gab, nicht selbst dessen beraubt, was er ohne Werden in sich trägt; ist er doch die Quelle allen Seins. Jesus (Friede sei mit ihm) kam von Nazareth in Galiläa und wurde von Johannes im Jordan getauft. Und sobald er aus dem Wasser heraufstieg, sah er die Himmel sich teilen und den Geist wie eine Taube auf ihn herniederfahren. Und eine Stimme kam aus den Himmeln: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden. Dies muss allen genügen, welche nicht das Wort des wahren Glaubens verkehren wollen; ist er doch sehr alt, entspricht dem Taufbefehl und lehrt uns, zu glauben an den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, so nämlich, dass eine Gottheit, Macht und Wesenheit Vaters und Sohnes und Heiligen Geistes und eben so gleiche Ehre, Würde und gleichewige Herrschaft geglaubt wird in drei ganz vollkommenen Hypostasen oder drei vollkommenen Personen. Und zwar ist Gott, sofern er Grund allen Seins ist, absolut allein ursprungslos. Der Sohn, erzeugt vom Vater außerhalb der Zeit, geschaffen und konstituiert vor allen Äonen, war nicht, bevor er erzeugt ward; aber er allein ist, als außerhalb der Zeit vor allen erzeugt, vom Vater ins Dasein gebracht. Er ist weder ewig noch gleichewig mit dem Vater, noch teilt er mit ihm das Ungezeugtsein; auch hat er nicht mit dem Vater zusammen das Sein. Vielmehr ist Gott als Einheit und

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Anhang: Christus, ein Gefüge

Ursprung allen Seins vor allen Dingen. Wir folgen also den heiligen Vätern und lehren alle übereinstimmend: Zwei Vollkommene können unmöglich eine Einheit bilden. Folglich hat der Logos nicht eine menschliche Seele angenommen, sondern nur den Samen Abrahams; denn den Tempel des Leibes Jesu bildete im voraus der unbeseelte, vernunft- und willenlose Tempel Salomos ab. Aber man darf jene einzigartig wunderbare und wunderbar einzigartige Zeugung nicht so verstehen, dass durch die Neuheit der Schöpfung die Eigentümlichkeit des Geschlechts beseitigt worden wäre. Die Fruchtbarkeit der Jungfrau gewährte der Heilige Geist, der wirkliche Leib aber wurde vom Leib genommen, und indem die Weisheit sich ein Haus gebaut hat, ist das Wort Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt. O neue Schöpfung und göttliche Mischung: Gott und Fleisch haben eine Natur gebildet. Nicht ist an sich Gott, was im Mutterleib gebildet, nicht ist an sich Gott, was im Grabe bestattet ward, denn dann wären wir offensichtlich Menschenanbeter und Totenverehrer. Weil vielmehr in dem Angenommenen Gott ist, trägt der Angenommene, da mit dem Annehmenden geeint, von dem Annehmenden her mit ihm zusammen die Bezeichnung ›Gott‹. Der Logos hat auf unaussprechliche und unergründliche Weise mit einer Vernunftseele beseeltes Fleisch mit sich hypostatisch geeint, ist so Mensch geworden und hat den Namen ›Menschensohn‹ erhalten, aber nicht bloß nach Willen und Wohlgefallen, sondern beide zu einer wirklichen Einheit zusammengeschlossenen Naturen sind wohl verschieden, und doch ist aus beiden ein Christus und Sohn geworden. Soll also, weil die Empfängnis der Jungfrau ein göttliches Werk war, das Fleisch des Empfangenen nicht aus der Natur der Empfangenden gewesen sein? Unter Wahrung der Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen und durch ihre Einigung zu einer Person wurde von der Hoheit die Niedrigkeit, von der Kraft die Schwachheit, von der Ewigkeit die Sterblichkeit angenommen, und zur Tilgung der Schuld unseres Zustandes wurde die unverletzliche Natur mit der leidensfähigen Natur vereint, damit, wie es den Heilmitteln für uns entsprach, der eine und selbe Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Jesus Christus, sowohl sterben aufgrund des einen als auch nicht sterben konnte aufgrund des anderen. Christus ist unteilbar in dem Christussein, er ist aber doppelt in dem Gott- und Menschsein; er ist einfach in der Sohnschaft, aber wie mit zwei Augen, geschieden in den Naturen der Menschheit und Gottheit. Also ist in der unversehrten und vollkommenen Natur eines wahren Menschen der wahre Gott geboren worden, ganz im Seinen, ganz im Unsrigen. Wir bekennen, daß derselbe Sohn Gottes und Gott sei nach dem Geist, Menschensohn hingegen nach dem Fleisch; daß der eine Sohn nicht zwei Naturen habe: eine anbetungswürdige und eine nicht anbetungswürdige, sondern eine Natur des Gott-Logos, wie sie fleischgeworden ist und angebetet wird zusammen mit seinem Fleische in einer Anbetung. Unser Herr Jesus Christus ist als ein und derselbe Sohn zu bekennen, vollkommen derselbe in der Gottheit, vollkommen derselbe in der Menschheit,

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wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch derselbe, aus Vernunftseele und Leib, wesensgleich dem Vater der Gottheit nach, wesensgleich uns derselbe der Menschheit nach, in allem uns gleich außer der Sünde, vor Weltzeiten aus dem Vater geboren der Gottheit nach, in den letzten Tagen für uns und um unseres Heils willens aus Maria, der jungfräulichen Gottesgebärerin, der Menschheit nach, ein und derselbe Christus, Sohn, Herr, Einziggeborener, in zwei Naturen, unvermischt, unverändert, ungeteilt und ungetrennt zu erkennen. Gott erhalte dich unversehrt, teuerster Bruder!

1866: Predigt auf dem Berg Als ich vor einiger Zeit den Altenberg hinaufging, bemerkte ich, dass der Herr und Erlöser, der dort seit jeher am Rande des Waldes weilt, verändert war. Sein sonst so leidvolles und von Moos und Flechten bewachsenes Gesicht erstrahlte hell, und sein Gewand, das vorher einen ähnlichen Anblick wie sein Antlitz geboten hatte, war ebenso sauber wie trocken. Das kam daher, dass jemand dem Heiland ein Dach errichtet hatte, unter dem er nun, frisch gereinigt und üppig geschminkt, in stiller Kontemplation unter der Last seines Kreuzes kauerte. Er, der bis dato auf dem Dach der Welt zum Schutze des ihm zu Füßen liegenden Tals gesessen, war nun selbst bedacht, bedürftig des Schutzes vor den Launen des Berges (und der Welt, die er bewachte), durch eines Menschen Hand. Man hätte dies für Anmaßung halten können, doch liegt es nicht näher, das Errichten des Daches als eine Geste der tiefsten Verehrung, der Zuneigung und des innigsten Danks zu verstehen, die dem zugeeignet wären, der sein Wohl und Leben um des Menschen Heils willen gab, und dennoch, obgleich dieser ihn verstoßen, so geduldig, tagein tagaus, am Rande des Waldes verbrachte, um uns nah zu sein? Oder war es in einem Akt der Barmherzigkeit geschehen, sich des Einsamen, des Geschundenen, des Menschen Jesus (Friede sei mit ihm) in seiner Natur, seinem einen Sein, anzunehmen und ihm dienlich zu sein, von Mensch zu Mensch? Christus gehört nicht dem Menschen, sondern Gott allein, wie Raymondo Panikkar sagen würde, und der Mensch ebenso(wenig). Aber nur die Bedachung Gottes wäre eine Inbesitznahme, nicht die eines Menschen, weil sich Mensch und Mensch von Angesicht zu Angesicht in ihrem Wesen barmherzig begegnen, ohne sich selbst zu erhöhen (und damit Gott zu erniedrigen). Wenn man den Altenberg erklommen hat, gelangt man zu einer Kastanie, die Manifestation und Urbild ihrer selbst zugleich ist, weil letzteres in jeder Epoche aufs Neu (zuletzt vor siebeneinhalb Jahren) in ersterem inkarniert. Daher handelt es sich bei der Kastanie auch strenggenommen nicht um einen Baum, sondern um ein Rhizom, einen Repräsentanten des einen Seins. Demgemäß kann man sagen, dass an diesem Ort Einzelding und Universalie, Zeit und Ewigkeit in eins

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fallen. In diesem Bewusstsein hat man also auch hier dem Heiland und Erlöser ein Denkmal gesetzt und den Ort das Wetterkreuz genannt. Es wird erzählt, dass früher (was an diesem Ort wohl auch das Heute umfasst) die Gipfel des Himalaja zu sehen gewesen seien, was zumindest möglich scheint, weil dereinst noch keine Straße die Hochebene durchzog. Als sicher gilt aber, dass es sich bei den am Horizont sichtbaren Umrissen zumindest um das Heilige Land handelt. Dort lebte und starb vor etwas mehr als achtzehnhundert Jahren Jesus Christus, der größte und wahrhaftigste Wohltäter der Menschheit. Diese ächzte unter einem tödlichen Leiden und befand sich am Rand des Untergangs; ein Heilmittel zu ihrer Errettung war nötiger denn je. Daher war Jesus Christus eine Notwendigkeit seiner Zeit (und, so muss man von diesem Ort aus feststellen, auch der unsrigen, und aller anderen Zeitalter). In Israel berief er, wie Bischof Wayan Mastra sagt, »einheimische Männer und Frauen in seinen Jüngerkreis. Nach Johannes 15 verglich er sie mit Reben an einem Weinstock. Wäre Jesus statt in Israel auf Bali Mensch geworden, hätte er vermutlich auf diesen Vergleich verzichtet, weil es Weinreben bei uns erst seit wenigen Jahren gibt. Er hätte sich und seine Jünger eher mit dem Mangobaum verglichen«, vielleicht auch mit einem Kastanienbaum. »Der tiefere Sinn des Erwähltseins liegt schließlich nicht im Vergleich mit einem bestimmten Gewächs, sondern im Fruchtbringen.« Es kann nicht bestritten werden, dass er allein seiner allumfassenden Hingabe zur Wahrheit und der Anteilnahme am Leid der Menschheit wegen geduldig all die Einschränkungen und Hindernisse ertrug, die seinen Weg säumten, und sich dem grimmigen Sturm der Verfolgung aussetzte, den seine wütenden Gegner auf seinem geneigten Haupte niedergehen ließen. (Hört, hört.) Schon immer war mir die Kastanie ein hübsches Sinnbild der Selbstaufopferung zur Ehre Gottes, eines, das dazu bestimmt ist, die höheren Gefühle und Bestrebungen des Herzens zu bestärken und die Seele zu reinigen. Man kann nicht sagen, dass wir in Indien nichts mit Christus zu tun haben. »Christus gehört nicht dem Christentum, sondern Gott allein«, wie Raymondo Panikkar sagt. Und war nicht Jesus (Friede sei mit ihm) ein Asiate? (Tosender Applaus.) Ja, und seine Schüler waren Asiaten. Tatsächlich ist das Christentum von Asiaten gegründet und fortentwickelt worden, und zwar in Asien. Insofern ist auch klar, dass es sich bei den am Horizont aufragenden Umrissen um Asien handeln muss, auch wenn es zu diesem Zeitpunkt nur schemenhaft wie unter einem Schleier zu sehen ist. Das Christentum entgegnet daher dem Hindu: »Weil wir alle gleich sind – obwohl noch nicht ganz, wie die Erfahrung beweist –, laßt uns diesen ma¯ya¯-Schleier abwerfen, der von einer enormen historischen Dichte ist, laßt uns einander umarmen und nicht länger einander fernbleiben, sondern in der Einheit aufgehen, die wir alle ersehnen.« Ich möchte euch bitten, Brüder und Schwestern, statt Zeit Ewigkeit, statt lokaler Traditionen universale Prinzipien, statt Nationalität Menschlichkeit gelten zu lassen, damit ihr Kinder eures Vaters seid, der in den Himmeln ist. Wo,

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wenn nicht an diesem Ort, fallen diese alle in eins? Denn die Nachsicht und Barmherzigkeit Christi ist nicht bloße, diesseitige Sentimentalität; seine Liebe zum Nächsten ist weder passiv noch sektiererisch: Seine Milde zeugt von tiefer Seelenruhe; seine Nächstenliebe ist gleichzeitig zugewandt und universal und kann insofern als Rhizom-artig, als alle Ebenen des Seins durchwuchernde Wirklichkeit, beschrieben werden. Das ist auch der Grund, weshalb das Kreuz bei der Kastanie errichtet wurde. Christi Zuneigung gilt allen Menschen und strebt nach dem Glück und Wohlbefinden aller – und noch mehr: sie gilt auch dem Fremden. Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr? Tun nicht auch die Zöllner dasselbe? Und wenn ihr allein eure Brüder grüßt, was tut ihr Besonderes? Tun nicht auch die von den Nationen dasselbe? Nun, wer kann solch wuchernde Liebe schon ernsthaft fassen und verstehen: Am eindrucksvollsten manifestiert sie sich in dem süßen und zärtlichen Gebet, das der Gekreuzigte unter den Qualen der Hölle ausstieß: »Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.« (Lauter Jubel.) Demgemäß ist es nur recht und billig, dieser selbstlosen Zuneigung durch ebensolche Zuneigung und Fürsorge zu begegnen. Denn spricht nicht der Herr auf dem Berg, wo Zeit und Ewigkeit, Abbild und Urbild zusammenfallen, dem, der mit dir vor Gericht gehen und deinen Leibrock nehmen will, dem lass auch den Mantel? Und wer, Brüder und Schwestern, wollte euch je euren Mantel nehmen?

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Personenregister

Abduh, Mohammed 137 al-Afghani, Dschamal ad-Din 137f. Albertus Magnus 25 Anselm von Canterbury 50 Aristoteles 24, 50f., 67, 69f., 191 Averroes 24f., 50 Avicenna 24 Bacon, Francis 70 Barth, Karl 83, 125f., 214f. Bayly, Christopher 78, 140 Bergunder, Michael 14, 54–56, 58, 91, 95f., 98, 110–113, 118–120, 127f., 131, 135– 140, 151, 169f., 178, 197 Bernhardt, Reinhold 16f., 107f., 237f. Bhabha, Homi K. 84f., 87, 205 Blavatsky, Helena 138f., 242 Bloch, Ernst 81 Bloch, Marc 79f. Boethius von Dacien 51 Braudel, Fernand 79 Butler, Judith 45f., 54f., 58, 61, 96, 110, 112, 204, 226 Calvin, Johannes 137 Carus, Paul 170 Césaire, Aimé 204 Chakrabarty, Dipesh 205, 226 Chartier, Roger 79f. Danz, Christian 15–17, 98, 101, 103, 105– 108, 158, 238 Darwin, Charles 72f., 78 Dayanand Saraswati 137

Deleuze, Gilles 113, 224, 227–233, 236, 241 Derrida, Jacques 36–38, 41f., 45, 54, 88f., 111, 183–185, 191 Descartes, René 27–29, 67 Dharmapala 138f., 169f. Dionysius Areopagita 23, 65, 67 Droysen, Johann Gustav 77 Durkheim, Émile 79 Einstein, Albert 73 Eliade, Mircea 152 Engels, Friedrich 77 Fanon, Frantz 85, 204f. Febvre, Lucien 79 Fitzgerald, Timothy 148–151 Foucault, Michel 33–35, 38–42, 45, 54, 84, 89, 92f., 113, 148, 182, 186, 192, 201, 205, 207–209, 225f., 231 Freyer, Hans 81f. Gadamer, Hans-Georg 33 Gandhi, Mohandas Karamchand 178 Gramsci, Antonio 206, 209 Guattari, Félix 224, 227, 230–233 Hacker, Paul 85–87 Halbfass, Wilhelm 85–87, 167 Hall, Stuart 178, 205 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 75, 77, 86, 123f., 128, 161 Heidegger, Martin 201f. Heisenberg, Werner 73

266

Personenregister

Helmholtz, Hermann von 120 Heraklit 21 Herder, Johann Gottfried 23, 29, 74–76, 127, 237 Hick, John 15–17, 19, 25, 27, 42, 53, 99– 102, 105, 157f., 197, 210 Hobbes, Thomas 67 Humboldt, Wilhelm von 29f. Hume, David 67 Husserl, Edmund 67 Jesus von Nazareth 101, 106, 108 Johannes Scotus Eriugena 24 Kant, Immanuel 31, 99, 101, 121, 125f., 151 Khan, Ahmad 136 King, Richard 136, 148, 150 Laclau, Ernesto 54–58, 61, 91, 96, 110–113, 116, 142, 144, 204, 213 Lamprecht, Karl 80f. Lang, Andrew 11, 44, 119, 121, 164–166, 171, 180, 242 Lange, Friedrich Albert 118f. Leuze, Reinhard 15, 18, 98, 101f. Luther, Martin 137, 141–144, 184, 188 Lyell, Charles 72 Marx, Karl 77f. McCutcheon, Russell T. 148 Michael Scotus 50f. Michael von Cesena 52 More, Henry 69, 97 Mouffe, Chantal 204 Müller, Friedrich Max 113, 135, 149, 151, 159–170, 177 Newton, Isaac 69–71, 74, 152 Nietzsche, Friedrich 38f., 64f., 89, 182, 186, 225, 228f. Nongbri, Brent 95–98, 109 Otto, Rudolf

73, 151f., 159, 166

Panikkar, Raimondo 242, 249f. Platon 21f., 24, 28, 36, 41, 68, 124, 228–230

Plotin

22f., 65, 69

Rade, Martin 120–122, 124 Rahner, Karl 103–105, 157, 237 Ramakrishna 133 Ranke, Leopold von 75–77 Renan, Ernest 137 Rettenbacher, Sigrid 197 Ritschl, Albrecht 121f., 124f. Roscelin von Compiègne 26 Roy, Rammohan 133, 137 Said, Edward 83f., 148, 205 Saussure, Ferdinand de 29f., 33–37, 54, 88f. Schiller, Friedrich 222–224 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 108, 124–129, 149f., 152, 185 Schmidt, Wilhelm 164, 166 Schmidt-Leukel, Perry 11, 16f., 99–103, 105f., 197, 210f., 221 Sen, Keshab Chandra 137, 242 Siger von Brabant 51 Smith, Wilfred Cantwell 78, 97, 198–200, 202, 210 Söderblom, Nathan 151, 159, 166 Sokrates 67, 228f. Spencer, Herbert 78, 165 Spivak, Gayatri Chakravorty 205 Steel Olcott, Henry 138–140, 169 Sundermeier, Theo 238f. Tempier, Étienne 51f. Thomas von Aquin 25, 27, 51, 69 Tolstoi, Leo 78 Troeltsch, Ernst 87, 98, 108, 124, 128–131, 134f., 170f., 184 Tylor, Edward Burnett 162f., 165f. Vico, Gian Battista 28 Vivekananda 86, 132–136, 138, 167–170, 174, 178 Vogt, Carl 71f. Vossius, Gerhard 164 Wagner, Rudolf

69–72

267

Personenregister

White, Hayden 138f., 169, 182 Wilhelm von Ockham 26, 52 Wiredu, Kwasi 61

Wittgenstein, Ludwig Zˇizˇek, Slavoj

30–34, 100

54f., 58f., 112

Sachregister

Abendland 44f., 104 Abgrenzung 33, 37, 71, 76, 78, 81, 95, 107, 120, 147, 184, 227, 229, 237 Ablagerung 46, 63, 90, 111, 144, 211 Absolutheit 18, 22, 38, 49, 64f., 70f., 74, 77, 79f., 88, 104f., 116, 119, 123f., 127, 130, 159, 161, 167f., 172–174, 184f., 191, 211, 213, 217, 236, 241, 247 Achsenzeit 99 Advaita Vedanta 86, 132, 168, 178 Allgemeinbegriff 25f., 67, 106, 110, 114 Allgemeingültigkeit 15, 18f., 108, 113, 130, 164, 177, 215f., 224 Animismus 162f., 165 Annales-Schule 79–81 Antagonismus 56, 58f., 93, 112, 116, 118, 122, 142f., 145, 150, 152f., 173, 206, 213, 216, 219, 228 Antike 21f., 52, 64, 67, 97f., 109, 115, 128, 162, 176, 192, 224 Äquivalenz 13, 56–58, 109, 111f., 116, 142, 158, 160, 164, 172f. Archäologie 34f., 40, 79 Atheismus 111, 116, 170, 200 Aufklärung 16f., 57, 73, 75f., 82f., 116, 123, 128, 141, 184f., 207 Ausgrenzung 40f., 170 Aushandlungsprozess 12, 35, 44–46, 49, 57f., 60f., 67, 90f., 107f., 111–113, 144f., 153f., 159, 173, 179, 195–198, 210, 214, 235f. Autorität 66, 84, 141, 176, 181 Bali

109, 171f., 179, 242, 250

Begriff 26, 30, 35f., 38f., 46, 61, 63, 65, 70, 73, 75, 83, 86, 107, 112, 125, 130, 140f., 152, 160, 168, 186, 202 Bekenntnis 105, 239 Bhagavadgita 177–179 Bibel 43, 47, 66, 72, 128, 158, 175–181, 183– 186, 188, 190–193 Brahmanismus 131, 136, 162, 168f., 244 Brahmo Samaj 132, 137 Buddhismus 18, 102, 131f., 136, 138–140, 145, 169f. Ceylon 138f., 169 China 99, 115 Christentum 11, 13, 16, 18, 21–24, 39, 43– 45, 47–49, 51–53, 59, 65–67, 72, 98f., 101, 103–106, 108, 116, 119, 121–125, 128– 132, 134–140, 142f., 145, 149, 152, 157, 159, 162, 164–166, 169–173, 176f., 179– 181, 187, 198, 200–203, 206, 208, 210, 212, 214, 218f., 221f., 237, 250 Christologie 102, 155 Christus 43, 47, 136, 189, 241–243, 247–250 Critical Religion 96, 148, 150 Dekonstruktion 13f., 37f., 40–42, 45, 89, 91, 114, 154, 158, 175, 180f., 195, 198, 200, 208f., 211, 226, 235 Denkform 64f., 68, 85f., 92f., 201 Denkmuster 35, 84f., 87, 176, 219 Deutungshoheit 12, 50, 61 Dialog 12, 14, 16f., 42–44, 47, 56, 61, 95, 104, 131, 177, 209, 214, 237–239 Dichotomie 57, 67, 127

270 Différance 37 Differenz 15, 36f., 44, 46, 48, 55f., 59, 91, 106–108, 111, 145, 158, 196, 199, 206, 227, 238 Differenzhermeneutik 238 Diskontinuität 182, 227, 229f. Diskurs 11–14, 17, 19, 33–35, 37f., 40–49, 53–63, 66, 68, 76f., 80–82, 84f., 87, 90– 93, 95–98, 108, 110–112, 114–116, 118, 122, 131f., 136, 138–140, 142, 144f., 148– 150, 153f., 158f., 164, 167, 173, 175–181, 183, 185, 192f., 195–198, 200–206, 208– 219, 222, 224–226, 229, 235–239, 242 Dogma 49, 86, 103–105, 138, 143 Dominanz 50, 84f., 176 Einzelding 22, 24f., 65, 218, 249 Emanation 65, 102, 174, 243f. empirisch 24, 46, 64, 71, 75–77, 79, 121f., 150, 153, 170, 173, 184 Erfahrung 26, 33, 35, 66, 70, 74, 80, 96, 100f., 106f., 119f., 125, 127, 133, 135f., 148f., 151, 176, 238, 246, 250 Erkenntniskritik 16, 26, 31, 101f., 125f. Erkenntnistheorie 13, 16, 27–30, 93, 99, 102, 180, 211 Erlebnis 129 Erlösung 102, 130, 170, 245 Essentialismus 55, 58, 89, 91, 110, 112–114, 148, 196, 220 Ethik 100, 115, 128, 152 Ethos 45, 48, 204, 206f., 209f., 216, 219 Europa 12, 36, 44, 50f., 53, 67, 69, 74, 82– 87, 90, 92, 97f., 103, 109, 123, 128, 131, 133, 135, 138, 140, 142f., 147, 166f., 172, 178, 197, 204–207, 226, 228, 242 Eurozentrismus 131, 197, 209 Evangelische Kirche in Deutschland 43f., 47, 49, 53, 58f., 116f., 157 Evangelium 53, 177, 186–188, 242 Evolution 92, 163, 165 Exegese 180–182, 184–187, 193 Exklusivismus 16, 157f.

Sachregister

Fixierung 14, 40f., 53–56, 59, 66, 90, 111f., 142, 144f., 153, 177, 179, 184, 186, 192, 196, 213, 216, 222, 236, 238 Fortschritt 75, 81 Frömmigkeit 68, 126 Gefüge 72, 230–232, 241 Gefühl 126f., 149, 152, 161, 250 Gegenwart 18, 38, 67, 77, 81, 90, 111, 114, 118f., 142, 144, 161, 188, 207, 210, 225, 231 Geist 22, 27f., 51, 72, 77, 86–88, 120f., 127, 130, 133f., 137, 163, 168, 172–174, 184f., 211, 221, 244f., 247f. Geisteswissenschaft 11, 73, 79, 120, 152 Gemüt 126 Genealogie 38–41, 49, 60, 63, 65, 84, 89, 92, 114, 124, 182, 186, 190, 201, 208f., 217f., 225f., 231, 238, 242 Geschichtsschreibung 73–81, 89, 92, 109, 182, 205, 225, 231 Geschichtswissenschaft 73, 77–81, 89, 109, 119, 123f., 128f., 131, 152f. Geschlecht 45f., 75, 115, 204, 248 Gewalt 15, 95 Geworfenheit 201–203, 210, 212f., 217f., 220, 226, 236, 241 Glaube 48, 65, 83, 121, 124, 128, 142–144, 161f., 165, 179, 182, 214, 237, 244, 247 Globalisierung 92, 117, 131, 166, 176 Globalität 11–13, 61f., 84, 92f., 109, 119f., 123f., 127f., 131, 133, 135–141, 145, 151, 158f., 164, 166f., 169f., 172f., 175–179, 196–198, 201, 204, 214, 216, 218f., 236 Gott 12–16, 19, 22–28, 42f., 47f., 50–52, 59, 66, 71f., 74, 84, 92, 99–105, 121f., 125, 131, 134–136, 142–144, 147, 152, 154, 157f., 160–166, 168–173, 175f., 179–181, 183, 185–187, 195–198, 200–202, 209– 225, 227, 235–239, 243f., 247–250 Grenze 14, 21f., 31, 34, 44f., 48, 56f., 64, 99–101, 103, 125f., 138, 154, 157, 197f., 207, 209, 211, 217, 235, 238 Grenzziehung 56, 116, 148, 150, 153f., 177

Sachregister

Gültigkeit 15, 47f., 61, 63, 86, 88, 90–92, 111, 125, 144, 147, 150, 153, 155, 200, 213, 216, 236 Häresie 52 hegelianisch 77, 82, 102, 130, 225, 227 Hegemonie 58, 111, 195f., 206–208, 216 heilig 16, 66, 117, 134, 136, 143, 151f., 159, 166, 175, 177–179, 181, 192, 246–248, 250 Henotheismus 161, 164, 168 Herkunft 12f., 38f., 66, 81, 118, 151, 158, 203f., 211, 241 Herrschaft 36, 82, 86f., 161, 205, 221, 245– 247 Heterogenität 38 Hinduismus 13, 18, 84, 86, 132–135, 139f., 145, 168–172, 177–179, 198, 219, 242 Historisierung 13f., 19, 42, 49, 52, 63, 85, 92f., 96, 109, 112–114, 123, 150, 154, 175, 180, 196, 208, 229 Historismus 77, 87, 184 Humanismus 115f. Identität 11f., 36–38, 40f., 44f., 47–49, 55, 57f., 60f., 88, 91, 116–118, 145, 153, 157f., 177, 182, 196–198, 200, 205, 216, 218f., 225, 238 Ideologie 12, 83, 204–209, 219 Immanenz 56, 77f., 211, 214, 227f., 236 Indien 84–87, 99, 115, 132f., 136–139, 160– 162, 167f., 170, 172, 177–179, 205f., 243, 246, 250 Indologie 85f., 167 Indonesien 171, 179 Inklusivimus 13, 16f., 87, 103, 105, 157f., 172, 237 Inklusivismus 16f., 85f., 158 Innerlichkeit 108, 124, 130f., 133f., 136, 145, 151f., 159, 161f., 166f., 170, 173f., 176, 214 Interreligiosität 15, 17, 19, 42–44, 47f., 61f., 64, 95, 104, 131f., 159, 195–199, 209, 214, 237–239 Islam 18, 43f., 48, 51, 57, 101, 132, 136f., 140, 142, 145, 171, 173, 177, 179, 198, 200, 203, 219, 237

271 Judentum 18, 22, 101, 106, 108, 132, 135, 143, 173, 187, 192f., 219 Katholizismus 49, 104f., 108, 129, 137, 157, 173, 184 Kirche 23f., 43, 49, 52, 59, 66, 76, 105, 108, 116f., 125, 128f., 137, 158f., 165, 184, 214, 221f., 242 Kirchengeschichte 176, 242 Kolonialismus 12f., 62, 82–85, 87, 131, 136–140, 159, 173, 176, 178, 204–208, 220 Komparative Theologie 237 Konfuzianismus 132, 171 Konservatismus 77f., 80, 82 Kontingenz 32f., 39–41, 54, 57, 60, 78, 89, 107, 112, 118, 130, 195, 199–204, 207– 210, 212f., 216–220, 226, 228f., 231f., 235f., 238f., 241f. Kontinuität 38–40, 74, 76, 108, 169, 182, 227, 229f. Konzeptualismus 67 Konzil 49, 179, 242 Koran 175, 177 Körper 22, 31, 45–47, 55, 70f., 86, 112, 134, 227, 230, 245 Kritik 12f., 16, 19, 24, 31, 33, 36, 64, 76f., 88, 101, 108, 116, 118f., 121, 128f., 137, 148, 150f., 171, 177, 180f., 184–186, 204f., 207–209, 220, 238 Kultur 12, 15f., 75f., 79–84, 95–97, 99–101, 106–109, 116f., 123, 149, 154, 162f., 165, 182, 193, 197, 205, 208, 235, 237 Kulturwissenschaft 11f., 14, 54, 110, 113, 149, 154, 197, 204 Lehre 22f., 28, 32, 51, 121, 129, 132, 141, 165, 169, 179, 184, 190, 243, 246, 248 Linearität 74f. Logik 56f., 65, 111, 119, 231 Longue durée 79 Macht 16, 23, 30, 33, 38, 40, 43, 46, 49f., 52, 54, 58, 66, 74, 76, 80, 83f., 96, 101, 104, 107f., 113, 120f., 137, 164, 184, 191, 196, 201f., 206, 208, 238f., 247

272 Manifestation 80, 92, 105, 107, 123, 125, 127, 130, 132, 157, 172f., 237, 239, 249 Mannigfaltigkeit 16, 120, 129, 233, 236f., 239, 243, 246 Markierung 47, 181, 196 Marxismus 78, 80f., 112, 204 Materialismus 53, 71–73, 78, 93, 118f., 132f., 136, 151f., 162 Materie 24, 45f., 61, 63, 65, 71–73, 79, 82, 133f., 145, 152, 164, 173–175, 185, 227, 230, 244f. Mathematik 69f. Mechanik 39, 70f., 128 Metaphysik 14, 23–30, 35f., 39–41, 44f., 47–52, 54, 61, 64–70, 72f., 77–80, 88f., 92, 101, 115, 118, 120–123, 125f., 128, 152, 169, 186, 208, 213, 215, 217, 219f., 225, 227–229, 236f., 244 Methode 11, 28, 33, 35, 39, 77, 79, 86, 114, 120f., 128f., 148, 150, 170, 180f., 225, 233 Mimikry 84f. Mission 43, 47, 245 Missionar 83, 166, 171, 208 Mittelalter 24–26, 50, 66f., 71, 79, 165f., 242 Moderne 29, 69, 72, 78f., 83, 86, 96f., 115, 117, 120f., 123f., 128, 131f., 137–140, 147, 150f., 153, 158, 163, 167, 184, 193, 207 Monismus 51, 84, 86, 106, 133f., 162, 168 Monotheismus 18, 84, 162, 164f., 168 Mystik 23, 66, 132, 218 Mythologie 160, 165, 222, 224 Name 15f., 19, 25–27, 30–32, 42, 51, 55, 58, 65, 71, 77, 87, 96, 99–102, 108, 110, 117, 132, 144, 160–162, 168, 172, 197, 243, 247f. Nation 76, 78, 80, 92, 95, 130, 139, 163, 197, 251 Nationalsozialismus 81 Natur 27, 29, 60, 64, 69–73, 75, 79, 82, 108, 112, 119, 121f., 127f., 130, 133, 136, 145, 147, 150, 152, 157, 159–163, 173, 175, 182, 201, 210, 222–224, 230, 239, 242– 244, 246, 248f.

Sachregister

Naturgesetz 71, 92, 120, 178 Naturwissenschaft 24, 61, 68–73, 75, 79f., 93, 119–123, 128, 131, 133f., 147, 152, 163, 173f., 184 Negative Theologie 221f., 227f. Neohinduismus 86f., 172, 178 Neukantianismus 119–121, 133 Neuplatonismus 21–23, 28, 50, 53, 65f., 69, 89, 92f., 100, 102, 128, 152f., 173f., 201, 212f., 217, 221 Nominalismus 26, 67 Normativität 17, 81, 124, 127, 150, 206 Noumenon 99, 101f. Objektivität 12, 26, 38, 41, 49, 53, 60f., 76, 97, 124f., 144, 173, 182, 185, 199 Offenbarung 12, 14, 23, 66f., 99, 127, 133, 153f., 175–177, 179–181, 195, 210, 214– 216 Ökonomie 78 Ontologie 21, 23–25, 27, 30, 39, 42, 46–50, 63, 66f., 88, 90–93, 101f., 105, 107, 113, 144, 152, 200, 207f., 219f., 228, 233, 236, 241 Ordnung 29, 33–36, 57, 66, 69, 71f., 130, 143f., 221 Orientalismus 83f., 139, 205, 209 Pantheismus 126 Parodie 40, 222, 224–226 Performanz 58, 91, 93, 112, 118, 145 Phainomenon 100 Phänomen 20, 80, 95, 101, 107, 109f., 126, 131, 149, 159f., 176, 184 Phänomenologie 67, 148 Philosophie 17, 19, 21–24, 27f., 33, 35f., 50–53, 63–69, 74–76, 85, 89, 119, 128, 132–134, 138, 147, 163f., 171, 174, 178f., 201, 219f., 227f., 230, 237 Physik 70f., 73 Plateau 227, 230–233, 241–243 Plausibilität 40, 58, 61, 90, 105, 108, 116, 122, 141, 179, 184, 192, 198, 200 Pluralismus 13, 15–17, 19, 42, 98f., 101– 108, 157f., 171f., 198f., 202f., 210–212, 214, 216–221, 226f., 233, 236f., 239

Sachregister

Poesie 222 Politik 12f., 41, 44f., 52f., 55–61, 72–74, 77, 80, 82, 84, 90f., 93, 95, 97, 111–113, 123, 133, 138f., 141, 143f., 148, 153, 171, 204, 210, 213 Polytheismus 161, 164f., 168, 172 Position 14, 17, 25, 27, 32, 36, 44f., 47–49, 59, 67, 83, 92f., 98, 102, 105, 122, 149, 157f., 164, 172, 177, 185, 190, 196, 200, 202f., 209f., 212, 217f., 226, 236–238 Positionierung 11f., 42, 44, 61, 93, 101, 105, 142f., 196, 200–203, 210, 212, 217– 219, 222, 230, 236–239, 241 Postkolonialismus 11–13, 65, 79, 84, 87, 197, 201, 203–212, 216, 218–220, 227 Poststrukturalismus 13f., 33, 38, 40–42, 44f., 48, 53f., 60, 65, 84, 90f., 93, 102, 107, 110–113, 148, 154f., 180–182, 186, 195–197, 199–201, 203–216, 218–222, 224–227, 233, 235–239 Praxis 32, 38, 44f., 52, 61, 64, 66, 74, 91, 93, 97, 110, 113, 118, 158f., 164, 173, 177, 179f., 183, 202, 206, 219, 226 Produkt 12, 16, 18, 28, 33f., 41f., 45, 60, 68, 73, 96f., 107, 145, 153f., 163f., 176, 181, 185, 195–198, 207, 209–213, 216f., 235– 238 Prophet 43, 135, 179, 244 Protestantismus 83, 108, 116–118, 120f., 124–126, 129, 131, 138f., 141, 173 Rationalität 30, 115, 151f., 173, 212 Realismus 67 Realität 26, 30, 34f., 39, 41, 45, 60, 100, 158, 182, 185–187, 213, 218, 227–229, 236 Reformation 52, 118, 129, 141 Reformhinduismus 132f., 137 Religionsbegriff 19, 31, 84, 95f., 98f., 101, 106–110, 114, 118, 123–125, 127, 131, 133, 138, 141, 143, 150f., 153, 159, 166, 168, 170, 172f., 196, 198 Religionsdiskurs 98, 114, 167, 169, 172f., 175–177, 179, 196, 201, 216, 219 Religionsgeschichte 42, 72, 98, 104, 110, 112, 119, 123f., 128f., 135, 140f., 145, 159f., 162, 165f., 168, 173, 192, 197f.

273 Religionsgeschichtliche Schule 151 Religionstheologie 11, 13–18, 42, 49, 61, 63, 98, 101–105, 107, 110, 131, 157f., 166, 172, 180, 195–197, 199, 201–203, 206, 208–212, 214, 216–221, 224, 226, 235, 237–239 Religionswissenschaft 12, 14, 17, 54, 72, 95–97, 108, 113, 128, 131, 141, 147–155, 159–161, 164, 166, 170, 176f., 198–200, 203, 209, 241 Renaissance 53, 115 Repräsentation 12, 60f., 85, 87, 100, 102, 148, 158, 175, 180, 183, 203, 225 Rezeptionsgeschichte 133 Rhizom 232f., 236, 241f., 249, 251 Romantik 29, 88, 124, 145, 160, 185 Säkularität 97, 115f., 118, 122, 141, 144f., 149–154 Salafiyya 138 Sattelzeit 73 Sayana 167 Scholastik 24, 28, 50, 53, 66f., 69, 71, 76, 126 Schöpfer 244, 247 Schöpfung 52, 71, 222–224, 248 Sedimentierung 42, 46–49, 53, 58, 61, 63, 65, 67, 90–93, 96f., 108, 110–112, 116, 144f., 176f., 179, 183, 195f., 206–215, 217, 222, 224–226, 237 Seele 21–23, 66, 71, 126, 134f., 162f., 221, 245f., 248, 250 Semantik 78, 81 Signifikant 30, 35–37, 46, 48, 53–62, 88–91, 93, 96, 108f., 111f., 116, 118, 122, 141, 143–145, 153, 158, 180f., 184f., 211, 213, 216, 219 Signifikat 30, 35–38, 46, 48, 54–56, 59f., 88f., 111f., 145, 183–185, 216 Sozialwissenschaft 28, 113, 164, 166 Spiritualität 115, 133, 136, 138, 151, 178, 244f. Sprache 18–21, 28–38, 41, 46, 54–56, 60f., 65, 68, 73, 76, 80, 88f., 91, 96, 98f., 109– 111, 118, 129, 160, 179, 181, 183, 185, 187, 195, 219f., 222, 224, 235

274 Spur 37f., 54, 158, 192, 223f. Staat 57, 72, 76, 82, 132, 171 Stabilität 35, 38, 55, 58, 60, 118, 213, 230f. Standort 17, 218 Standpunkt 26, 67, 86, 99, 105, 157, 170, 199f., 202, 238 Stereotyp 53, 137, 168 Struktur 29, 31, 35–37, 40, 44, 54, 57, 67, 69, 80, 88, 91f., 102, 111, 114, 132, 143, 152f., 185, 204, 207–209, 213, 228, 231, 236 Strukturalismus 29f., 33–35, 39f., 54f., 80, 88f., 93, 113, 204 Subjektivität 49, 74, 80, 124f., 127, 130, 170, 173, 212 Substanz 19, 24, 43, 53, 89f., 100, 107, 109f., 112, 116, 118, 134, 144, 152–154, 159, 171, 173, 175, 177, 196, 202, 211, 213, 225, 236, 238f., 241 Superiorität 82 Symbol 30, 82, 100, 107, 199, 203 System 23, 30, 34, 37, 54, 56, 69, 71, 88, 93, 100, 119, 127, 147, 149, 152, 170, 198, 204 Teleologie 64, 75, 77, 231 Telos 83 Theologie der Religionen 12, 16f., 49, 98f., 101, 103, 106f., 158, 181, 195–197, 201, 203, 206, 210, 215, 217, 233, 236–238 Theosophie 132, 137–140, 169, 172, 178, 219 Toleranz 47, 85–87, 115, 117 Tora 175 Tradition 15–18, 25, 40, 81, 86f., 100f., 103, 105f., 117, 133, 136, 140, 145, 157, 160, 163f., 167, 170–173, 176, 181, 185– 187, 191f., 196, 201, 203, 221, 237, 250 Transzendentalismus 172, 178 Transzendenz 18, 21f., 24f., 41, 49, 52f., 65–67, 74–76, 99–103, 107, 125, 152f., 159, 161, 173, 195, 210–216, 223, 227f., 235f. Trinität 51–53, 157, 195 Uniformierung 140 Unio mystica 22, 66f. Universalisierung 15, 18, 21, 64, 91, 176

Sachregister

Universalität 14, 61, 63f., 67f., 71, 73, 75f., 82f., 85, 87f., 90–93, 96, 114, 118, 152, 173, 195, 206f., 213, 217, 228 Universität 50, 92, 147, 241 Universum 71, 73, 76, 79f., 90, 92, 118, 132, 150, 152f., 173f., 223, 230 Urprinzip 22f. Ursprung 29, 38f., 50, 64, 66, 157, 159f., 162, 164, 166, 169, 174, 176, 182, 231, 248 Veden 133, 135, 137, 161, 167, 178f. Verflechtung 12f., 123, 131, 141, 197, 201, 216, 236f., 239, 241 Vergangenheit 39f., 74f., 110, 116, 118, 152, 204, 218, 225, 231 Vernunft 25, 27, 31, 50f., 121, 126, 151, 221, 248 Via antiqua 24f., 50, 53, 69f., 173f. Via moderna 25f. Volk 24, 26, 57f., 76, 80, 82, 104, 130, 244 Wahrheit 12–15, 17–22, 24–29, 33f., 38, 40–44, 47–50, 52f., 55, 58–64, 66, 68–70, 75–77, 83, 90f., 93, 96, 101, 114, 120, 124, 129, 132, 136, 149, 152f., 168f., 173, 175– 181, 195, 203, 208f., 211–216, 221f., 225f., 235–239, 250 Weltanschauung 86, 115, 119 Weltparlament der Religionen 131–133, 138, 168f., 178 Weltreligion 15–19, 43, 99, 131–134, 136, 138, 140, 145, 164, 167, 169, 171, 174, 177 Westen 13, 86f., 133, 136, 178, 205, 208, 246 Wirklichkeit 12, 15f., 20f., 24f., 28f., 31, 33f., 46, 60f., 63, 76, 89f., 100f., 103, 113, 119, 127, 134, 153, 157–159, 164, 166, 173, 176, 180f., 183, 185f., 192, 195, 203, 210–216, 220, 224–227, 236, 238f., 251 Wirtschaft 97, 123 Wissen 12, 21, 25f., 34, 38, 51f., 69, 114, 119, 137, 160, 165, 167, 175f., 186, 205, 207–209, 215, 236, 243, 251 Wissenschaft 12, 19, 63, 65, 69–73, 76f., 79, 82, 85, 88, 90, 92f., 95, 97f., 106f., 113– 115, 118, 120–123, 128, 133f., 137–140, 145, 147, 149–154, 164, 166f., 169f.,

Sachregister

172f., 176, 178, 180, 199f., 204f., 208, 219, 222, 224, 235, 242 Zeichen 28–31, 36–38, 46, 54, 60, 86, 88f., 158, 183f.

275 Zeugnis 43, 177, 181 Zivilisation 82f., 87, 99, 162f., 206 Zufall 38–41, 89, 124, 158, 182, 184, 188, 208, 220 Zweiquellentheorie 186