Glaube an Christus: Eine Sammlung von Predigten 9783111486840, 9783111120232


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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Druckfehler
A. Das kommende Heil
B. Jahreswechsel
C. Die Wirksamkeit des Erlösers
D. Das Kreuz Christi
E. Die Verherrlichung des Erlösers für feine Gemeine
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Glaube an Christus: Eine Sammlung von Predigten
 9783111486840, 9783111120232

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Glaube au Christus

Eine

Sammlung vou Predigten, gehalten

von

Thomas, evangelischem Prediger an der Nikolaikirche zu Berlin.

Berlin, Druck und Verlag vou Georg Reimer.

1864.

Vorwort. Herausgabe dieser Predigtsammlung ist durch immer wieder ermatte Aufforderung sehr lieber, theurer Zuhörer veranlaßt. Ihnen besonders und zuerst sei denn auch das schriftliche Wort in herzlicher Liebe und aus der Gemeinschaft des Geistes heraus dargebracht. Um dieser Hörer willen hat das Bestreben gewaltet, so viel es irgend möglich war, die Predigten so erscheinen zu lassen, wie sie gehalten wurden. Aus demselben Grunde sind nur Reden aus meiner hiesigen Amtsführung aufgenommen. Die nähere Bestimmung des Jahres für jede einzelne erschien überflüssig. Nur in Betreff der Sylvester- und Neujahrspredigt will ich bemerken, daß jene am Schluß des Jahres 1860, diese beim Beginn des Jahres 1863 gehalten wurde. Ob diese Predigten neben den vielen guten und schlechten, die jährlich aus der Presse kommen, sich auch außer denen, welchm das mündliche Wort lieb geworden, noch ihre Freunde und Leser erwerben werden, das wird, wie von ihrer eigenen Beschaffenheit, so von den geistigen Strömungen der gegenwärtigen *

IV

Zeit abhängen, das sei überhaupt Gott befohlen. Wenn aber auf der einen Seite die Stahl'sche Anklage auf verderblichste Dogmenstürmerei, auf der andern Seite die auf unfreies Dogmatisiren sollte erhoben werden; so wird mich das weder wundern, noch betrüben. Vielmehr werde ich darin von Gegnern die er­ freuliche Bestätigung dessen nehmen, was mir so schon persönlich gewiß ist, daß ich nämlich in Beziehung auf das von mir ge­ predigte Wort getrost sagen darf: „Ich glaube, darum rede ich." Darauf gründet sich auch die Hoffnung, daß es nicht ganz am göttlichen Segen fehlen werde. Giebt Gott Freudigkeit und Kraft, so denke ich in nicht zu langer Zeit dieser ersten eine zweite Sammlung folgen zu lassen, damit sie eben so der kirch­ lichen Zeit, wie dem Inhalt nach die nöthige Ergänzung ge­ währe. Berlin, den 26. Juli 1864.

Thomas.

Inhalt. A. 1. 2. 3. 4. 5 6.

Das kommende Heil.

Seite „Ich will euch erquicken"................................................................................... 1 Johannes der Täufer................................................................................................12 Die rechte Umkehr.......................................................................................................22 Johannes und Jesus................................................................................................33 Die Hoheit des uns gebornenErlösers...................................................................42 Die Leutseligkeit des uns gebornenErlöser-.............................................................51 B.

Jahreswechsel

7. Unser Dank am Schluß deö Jahres..............................................................60 8. Der Ruf des neuen Jahres: „Werdet stark in dem Herrn!" ... 70 C. 9. 10 11. 12 13. 14. 15. 16.

Die Wirksamkeit des Erlösers.

Die Versuchung deö Herrn I................................................... 80 Die Versuchung deö Herrn II......................................................................................92 Der Herr in der Synagoge seiner Vaterstadt 1................................................... 103 Der Herr in der Synagoge seiner Vaterstadt II.................................................. 114 Das Leiden im Christenhause.........................................................................123 Die Predigt de- Erlösers.................................................................................... 131 Des Herrn Herrlichkeit in seiner Lehre........................................................ 142 Christus und ZachäuS.......................................................................................... 155 D.

DaS Kreuz Christi.

17. Die heilige Liebe des Gekreuzigten................................................................... 165 18. Des Gekreuzigten klagende Frage an seinen Gott.................................. ..... 175

VI Seite

19. Die Erquickung des Gekreuzigten.................................................................... 184 20. Die Liebe des Gekreuzigten zu denen, die ihm nach Bluts- und Wahl­ verwandtschaft die Nächsten waren.............................................................. 194 21. Die hohe Kraft des Gekreuzigten......................................................................... 204 22. Der Sieg des Gekreuzigten.................................................................................... 213 23 "Der Heimgang deö Gekreuzigten......................................................................... 223 E. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33 34.

35 36.

Die Die Die Die

Die Verherrlichung des Erlösers für feine Gemeine.

rechte Osterstimmung schließt in stch Wehmuth und Freude . . . 233 Herrlichkeit Gottes in der Auferweckung Christi.................................. 243 Welt gegenüber dem Auferstandenen.........................................................254 Liebe zu Christo, das Letzte in unserer Schwachheit, das Höchste für unser Streben................................................................................................264 Petrus und Johannes in der Nachfolge des Herrn....................................... 275 Die christliche Freude..................................................................................... . 287 Singet dem Herrn!..................................................................................................... 299 Das Gebet im Namen Jesu.................................................................................... 311 DaS Licht, welches uns aus Christi Himmelfahrt leuchtet........................... 323 Die göttliche Erhörung menschlicher Gebete........................................................333 Die Liebe Gottes ausgegossen in unsere Herzen Frucht und Zeugniß von der Ausgießung des heiligen Geistes, Grund und Wesen ächter Begeisterung..................................................................................................... 344 Die christliche Kirche der Tempel GotteS..............................................................353 In Allem Gott die Ehre!......................................................................... * . 363

Druckfehler. S. 6Z. 3 v. u. ist „einmal" zu tilgen S. 16 Z 6 v. u. zwischen „nicht" und „haben" ist „durch uns" einzuschalten S. 31Z. 6 v. o. lieö: „erscheint" statt „erscheinen" S. 52Z. 15 v. u. lies: „Bezeichnung" statt „Bedeutung" S. 91 Z. 3 und 2 v. u. lies: „daß der nicht in Finsterniß wandeln, sondern daLicht des Lebens haben wird" S. 128 Z. 3 v. u. ist „so" zu tilgen S. 151 Z. 16 v. u. lieS: „ermahnt?" für „ermahnte?" S. 192 Z. 1 v. o. lies: „daä paradiesische Genießen, welches" re. für „paradiesisches Genießen, das" rc. S. 210 Z. 5 v. o. lies: „seiner" statt „einer" S. 222 Z. 3 v. o. lies: „Nun" statt „Nur" S. 235 Z. 9 v. u. lies: „Güte Gottes" statt „Gottes Güte" S. 276 Z. 15 v. o. ist hinter „daß du mir" noch „allein" einzuschalten

„Ich will L

euch erquicken."

Advent.

Text: Matth. 11, 27 — 30. Alle Dinge sind mir übergeben von meinem Vater. Und Niemand kennt den Sohn, denn nur der Vater; und Niemand kennt den Vater, denn nur der Sohn, und wem es der Sohn will offenbaren.

Kommt her zu mir Alle,

die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir; denn ich bin sanftmüthig und von Herzen demüthig, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.

Denn mein Joch ist sanft

und meine Last ist leicht. geliebte im Herrn!

Eine doppelte Feier vereint uns heut in stiller

Abendstunde hier vor dem Herrn.

Wir beginnen an diesem Tage das

neue Kirchenjahr, und der Verein für innere Mission in unserer Ge­ meine, deutsch gesprochen, der Verein christlicher Bruderliebe, welcher sich der Armen und Kranken, der Betrübten und Irrenden annehmen, Lieder: Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für evangelische Gemeinen. Berlin. Nr. 8. Nr. 146. Nr. 556, 4. Thema«, Glaube an Christ»«.

2 welcher rathen, trösten, zurechthelfen will, Alles im Namen dessen, von dem allein rechte Hülfe kommt, begeht sein Stiftungs- und Iahresfest. Aufs Beste verknüpft sich Beides und fügt sich schön ineinander.

Als

Bereinsglieder wollen wir danken und preisen für Alles, was im ver­ flossenen Jahre die Liebe des Herrn in uns,

an uns, durch uns ge­

wirkt hat, wollen für den neuen Abschnitt unserer Thätigkeit den Bei­ stand Gottes im Gebet anrufen, wollen uns durch den Aufblick zu der heiligen Gnade und durch das Evangelium dazu erfrischen und beleben, stärken

und stählen.

Und als Glieder der großen Gemeine — was

können wir auf dieser Grenzscheide des alten und neuen Kirchenjahres Anderes thun, als dankerfüllt und heilsbegierig dem Heilande entgegen­ jubeln, von dem im verflossenen Jahre auf maunichfachste Weise reich­ ster Segen uns gekommen ist, der auf der Schwelle des neuen es uns wieder versichert:

Ich bin bei Euch alle Tage bis an der Welt Ende.

So wird uns in beider Beziehung Christus der Mittelpunkt unserer Feier sein, und in beider Beziehung wird uns Freudigkeit, fester Muth gewährt werden.

von ihm allein Trost,

Daher sind die verlesenen

Textesworte gewählt, von ihm selbst gesprochen über seine eigene Per­ son, über sein eigenes Thun. Zusage:

Diese Worte enthalten die freundliche

Ich will euch erquicken!

Diese köstliche Zusage soll das

Adventswort sein, mit dem wir daö neue Kirchenjahr beschreiten, soll das Vereinswort sein, auf welches bauend wir mit neuer Kraft und Liebe wieder in unsere Thätigkeit hineintreten. I.

„Ich will euch erquicken!"

Erquickung, Labsal!

welch Wort

klingt lieblicher und schöner dem, der des Lebens heiße Kämpfe und Nöthe schon erfuhr?

Wer lange brennenden Durst und Hunger, ge­

waltige Ermattung bei mühevollem Ringen, folternden Schmerz empfun­ den hatte, dem, wenn endlich an die Stelle der Last und der Pein Er­ quickung trat, wurde es, als wäre er in eine nette Welt, in ein neues wonniges Leben hineingeboren. Wie ist deshalb dies Wort Christi, das

so

oft schon mit seiner

lieblichen Gewalt uns in die Ohren klang, wie ist es gerade für den Beginn des neuen Jahres, in dem es auch wohl für uns nicht ohne Mühe und Kampf, ohne Leid und Last ab gehen wird, wie ist eS bei

3

einem neuen Abschnitt unserer Vereinsthätigkeit, bei der sich gerade die Schäden unseres Gemeindelebens, die blutenden, brennenden Wunden so vieler Gemeindeglieder den Augen bloslegen, wie ist es da so köst­ lich, wie gern hört man die Zusage: „Ich will euch erquicken!" Aber damit das Wort seine ganze Kraft für uns habe und behalte, erheben wir nothwendig zuerst die Angen zu ihm, der es spricht. Der ist es, welcher sagt: Mir ist Alles übergeben von meinem Vater, der nach seinem Zeugniß allein vom Vater gekannt ist und allein den Vater kennt, und der zugleich sanftmüthig ist und von Herzen demüthig. Alles ist ihm übergeben, das bezieht sich ja natürlich auf seine Aufgabe und auf sein Werk. Seine Aufgabe ist die Erlösung und Versöhnung der Menschen, sein Werk die Einpflanzung, Weiterführung und Vollendung des Gottes-, des Himmelreiches in der Menschheit. Zu diesem Werk ist ihm Alles vom Vater gegeben, die ganze Kraft, die ganze Fülle des göttlichen Wesens, so daß er alle an sich ziehen, alle mit seinem Frie­ den und seinem Leben erfüllen, alle zu dem Reiche, in dem die Freiheit und Seligkeit der Kinder Gottes wohnt, zusammenschließen kann. Alles ist ihm von dem Vater übergeben — die Regierung der Welt und der Einzelnen in dieser Beziehung, die Führung durch des Lebens wechsel­ volle Geschicke. Und wenn wir uns auch die Regierung der Welt als das Werk des Vaters vorstellen, so doch in einer Weise, daß der Vater die Menschheit regiert und führt in Beziehung auf den Sohn und seine Gemeinde, so daß die erlösende Kraft der Gnade, wie sie in Christo leibte und lebte, der innerste Trieb der göttlichen Regierung ist und bleibt, so daß wir deshalb bekennen: Er, Christus, sitzet zur Rechten des Vaters. So aber, als der erwählte König aller zu begnadigenden Seelen, als der große Hohepriester, der Alles, was verloren war und verschuldet, und mit Gott verfeindet, zurückführen, versöhnen kann und soll, so ist er nur dem Vater bekannt, und so konnte und kann er nur deshalb denen bekannt werden, welchen der Vater seinen Geist gibt, die er durch seinen Geist zu ihm zieht. Darum, wo der Glaube bekennt: Du bist Christus, da antwortet der Herr: Fleisch und Blut hat Dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel.*) Niemand *) Matth. 16, 16. 17.

4 kennt den Vater, denn nur der Sohn, und wem es der Sohn offenbaren.

will

Die ewige Kraft und Gottheit des Schöpfers kann an

den Werken, an der Natur von dem wahrnehmenden Geist ersehen werden, die heilige Gerechtigkeit des Ewigen kann aus dem Gewissen geahnet und geschlossett werden, aber das Vatersein der Gottheit, die treue, erbarmende Liebe in der Gottheit,

die hat nur der Sohn ge-

schauet, die schauen nur diejenigen, welche eö sich durch ihn und in und an ihm offenbaren lassen. offenbarend,

spricht-er:

So Eins mit dem Vater, und den Vater „Ich bin sanstmüthig und niedrig vom Her­

zen, von Herzensgrund, so ist er der, welcher das-kranke, verwundete Geschlecht der Menschen nicht noch schwerer verletzen und tiefer hinab­ stoßen will, sondern im sanften Liebesthun seine Wunden zu heilen und es in seine treue Pflege aufzunehmen gekommen ist, der sich hingab in unsere Niedrigkeit, daß er uns erhöhe, in unsere Armuth, daß er uns reich mache.

Als ein solcher spricht er in der Leutseligkeit tiefster Liebe:

Ich will euch erquicken, weil er es allein genügend vermag. gelische Kirchgenossen! — richten wieder allewege unsere Blicke.

So, evan­

wir auf ihn im neuen Kirchenjahre

Ihn sollen uns die Verkündigungen in

der Gemeinde und die Führungen in unserem Leben verklären. hohe, heilige Gestalt voll Gnade und Wahrheit soll uns

Seme

wieder auf

unserem Wege voran ziehen, daß wir folgen seinen Fußtapfen.

Seine

alles überwindende und unüberwindliche Liebe, in der wir die Liebe des Vaters schauen, soll es sein, der wir uns befehlen.

Und wie er ist

der alleinige König seiner ganzen Gemeinde, so ist und soll er auch blei­ ben das einige Haupt unseres Vereins.

Sein Werk ist es, das wir

treiben, seine Glieder sind es, die sich hier zusammenfinden, seine Glie­ der, die unS suchen, die wir suchen, darum sein Wort und sein Geist sollen unS regieren,

nur in seinem Namen werde Alles von uns be­

gonnen und weiter geführt.

Und wären die Werke unseres Vereins

noch so viele, und noch so große, und noch so glänzende, er fehlte aber dabei, sein Wort, sein Geist, seine Liebe;

das „Es wäre uns nichts

nütze", würde sich schnell genug geltend machen, als tönend Erz und klingende Schelle würde bald unser ganzes Wesen verdientem Unsegen und Spott verfallen, Genüge, Erquickung würden wir nicht dabei er-

5 langen.

Nur in seinem Namen wieder an unser Werk, nur in der

Liede des Glaubens und in der Demuth der Liebe, wie sie ihm ent­ stammt;

dann der Segen Gottes mit uns,

allem Schweren helfen

und in allem Widrigen trösten;

unser des Heilandes Wort:

n. seid."

dann bleibt

Ich will euch erquicken!

„Ich will euch erquicken!"

Herr mit solcher Zusage sich wendet? seiner Rede:

dann wird Gott uns in

Wer sind aber die, an welche der Wir hören es ausdrücklich in

„Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen

Die Mühseligen und Beladenen.

Machen wir eö uns klar,

wer eigentlich mit solcher Bezeichnung gemeint ist. Mühselige, es heißt wörtlich, sich Mühende, Arbeitende, und ist an ein Arbeiten gedacht, bei dem die Mühe nicht aufhört, weil, bei vielen oder wenigen Erfolgen, doch eigentlich die gewünschte Befriedigung nicht erreicht wird, bei dem stets in der Ferne bleibt, wonach das Herz bewußt oder unbewußt sich sehnt.

Nun, ans Arbeit sind wir nach gött­

licher Ordnung angewiesen, nur in Folge unserer Arbeit soll unS des Lebens Erhaltung und Genuß, sollen uns die Güter des Lebens wer­ den.

Es ist • ein heiliges Gotteswort:

„Wer nicht arbeitet-

der soll

auch nicht essen"*), und es ist ein reicher Gottessegen, der an treue, gewissenhafte Arbeit sich anzuknüpfen pflegt.

Welches sind nun solche

LebenSgüter, die sich an das treue Arbeiten als Gottes Segen an­ schließen?

ES ist zunächst Geld und Gut,

irdische Habe,

es

ist

ferner die dadurch zu erlangende sinnliche Freude, der Sinnengenuß in seiner mannigfachsten Gestalt, eö ist guter Name, Ehre, Glanz vor den Leuten, es sind auch die Schätze des Wissens, des Schönen, der Kunst it. s. w.

Da, wo nun diese oder ähnliche Güter durch Streben und

Arbeiten gewonnen werden, finden sich einzelne Menschen durch diesel­ ben völlig befriedigt, und sind sie nicht befriedigt, so doch nur deshalb, weil die Masse dieser Güter, die sie haben, ihnen noch nicht genügt; nur mehr davon, und dann fehlte ihnen nach ihrer Meinung nichts. Der Heiland malt uns einen solchen Menschen in jenem, der, als über­ reiche Ernten ihm geworden sind, spricht:

*) 2. Thessalonicher 3, 10.

„Liebe Seele, du hast einen

6 großen Vorrath auf viele Jahre; habe nun Ruhe, iß, trink, und habe guten Muth."*)

Wie dieser im Reichthum, so haben andere im schwel­

gerischen Sinnengenuß, wieder andere im Glanze weltlicher Ehre, noch andere in reichen Schätzen des Wissens, andere in den Genüssen der Kunst ihr Genüge, oder meinen, wenn ihnen nur das, was nach einer dieser Seiten fehlt, nochswird,

dann

wären sie vollständig befriedigt.

Solche nun, die kann der Erlöser nicht zu sich rufen, um sie zu er­ quicken, wenn er auch wollte.

Sie sind zur Zeit noch ganz unfähig,

seine Güter, seine Liebe in sich Aufzunehmen. welche, als über die Reichen, Schmerz sein Wehe spricht.

Satten,

O,

es

Ja, sie sind es, über

Vollen,

er selbst in tiefstem

sind die Güter dieser Erde auch

Güter, es sind die Perlen dieser Welt auch Perlen.

Wahrlich, wir

können und wollen nichts verachten, woniit Gott der Herr diese Welt gesegnet und geschmückt hat.

Aber schon in den genannten Gütern für

sich und allein Frieden und Befriedigung, Heil und Seligkeit der un­ sterblichen Seele suchen, das wollen, das können, das dürfen wir nicht. Da gibt's noch ein Gut aller Güter, da gibt's eine köstliche Perle, ohne die alle ihren Werth und Glanz verlieren,

nämlich

die Gemeinschaft

mit Gott, den Frieden mit ihm, das Leben aus und in ihm.

Wer hierin

ruhet, der ruhet wohl, der darf zu seiner Seele sprechen: „Habe guten Muth."

Nach dem Gesagten sind, laut unseres Textes, diejenigen die

Mühseligen, welche, was ihnen auch an schönen Lebensgütern, Reich­ thum, Sinnengenuß, Ehre, Wissen u. s. w. zu Theil wird, es doch lebendig empfinden:

Bei dem Allen fehlt uns noch Eins, noch

das

Höchste und Beste, das Eine, was Noth thut; welche von allen Perlen dieses Lebens deshalb nicht gefesselt werden können, sondern nach der einen, köstlichsten suchen, um in deren Besitz beseligt zu werden. — „Beladene" — wir denken

dabei gewöhnlich zuerst an sogenannte

Kreuzträger, also an solche,

die unter großem Weh und Leid dieses

Lebens zu seufzen haben.

Nun läßt sich nicht leugnen, daß einmal

Leid und Last dieser Erde in Gottes Hand nicht selten das Mittel wer­ den, Seelen zum Suchen der ewigen Heilsgüter zu erwecken, daß des-

*) Lukas 12, 16

21.



7

halb der Erlöser den Leidtragenden besonders ein durch Mitleid geöff­ netes Herz gezeigt und ihnen Hülse zu bringen gestrebt hat. ' Aber hier kann das Wort nicht so verstanden

werden.

Der Erlöser ladete ja

sonst die Menschen nicht nach ihrer inneren Empfänglichkeit,

sondern

nach ihren äußeren Geschicken zu sich, riefe auch uns nur in der Zeit der Leiden und nicht am guten Tage in seine Nachfolge hinein.

Das

„Beladene" steht vielmehr im engsten Zusammenhange mit dem „Müh­ selige."

Wer bei dem Ringen und Arbeiten um die niederen und höheren

Güter dieses Lebens fühlt und täglich erfährt:

Es

gibt

ein höchstes

Gut, es gibt noch Eins, das bei Allem und neben Allem allein wesent­ lich Noth thut, wer danach hungert und durstet, der wirft auch den Blick in sich hinein und fragt sich prüfend:

Warum bist dn nicht im

Besitz dieses Einen höchsten Gutes, warum nicht ein Kind des Gottesfriedens, der Gottesliebe, der Gottesgemeinschaft, da dich doch der Gott des Friedens und der Liebe für seine Gemeinschaft geschaffen und ge­ bildet hat.

Und

auf solche Selbstfrage und Selbstprüfung bleibt im

Lichte der Wahrheit die Finsterniß unseres Herzens und Lebens uns nicht verborgen', ich meine das eigen- ifnb ichsüchtige Wesen in nns, die eitle, hochmuthsvolle, begehrliche Selbstsucht, die eben von Gott sich ab­ wendend, nothwendig ungöttliches, gottloses Wesen wird. unS so prüfen,

dann

Wenn wir

müssen wir gestehen, diese Selbstsucht zog sich

durch das Sinnen, Treiben und Thun unseres verflossenen Lebens hin und steht deshalb da als schwere Schuld.

Diese Selbstsucht droht für

die Zukunft stets wieder unsere Seele in schwarze Schatten zu hüllen, daß das Licht der Gottesliebe nicht hineindringt; sie droht fort und fort unser Leben und Thun zu hemmen, zu lähmen, zu vergiften, und ist uns eine noch immer offene Quelle des Verderbens.

So als Schuld,

so als Quelle des Verderbens ist die Selbstsucht die Last aller Lasten, unter der alles Heil begraben, alles höhere Leben erdrückt und erstickt wird.

Einige wissen nichts und wollen nichts wissen von dieser Last

aller Lasten.

Unbekümmert um dieselbe möchten sie leicht durch dieses

Leben flattern, wie der Schmetterling von Blume zu Blume, ohne zu bedenken, daß sie so dahinflatternd zuletzt vom Sturm des Lebens er­ griffen und in daS Verderben geschleudert werden.

Aber die Mühseli-

8 gen unseres Textes, deren Ringen und Arbeiten auf das Höchste geht, sie lernen auch diese Selbstsucht, die Schuld und Berderbensquelle zu­ gleich ist, als schwerste Last empfinden, sie sind es, die sich lebendigst sehnen, von derselben erlöst zu werden.

Das Gefühl der ErlösungS-

bedürftigleit, die Sehnsucht, von der Last der Schuld und Sünde be­ freit zu werden, das Ringen nach dem höchsten Gut, Gottseligkeit nach der einen Seite, nach der andern Gerechtigkeit genannt, das ist es, was für den Erlöser und seine Gnade empfänglich macht, die solchen Sinnes sind, ruft er: erquicken! digt,

Kommet, ihr Mühseligen und Beladenen, ich will euch

So wird im neuen Kirchenjahre der Herr durch jede Pre­

durch jedes Gnadenmittel uns mahnen, daß wir das Herz von

den Gütern dieser Erde lösen und ■ den himmlischen Gütern nachdenken und nachstreben, daß

wir vor der Verblendung des Hochmuthes uns

bewahren, und mit klarem GeisteSblick die Selbstsucht als schweres Ver­ derben und drückendste Last empfinden, uns mahnen, als Mühselige und Beladene uns zu wissen, dann für uns sein Wort: erquicken.

Ich will euch

Und was hat uns zusammengeführt in unsern Verein?

O, wir Vereinsgenossen haben ja doch alle unsere achtungswerthen Be­ rufsarten, in denen uns Gott gesegnete Weisen der Thätigkeiten zuge­ wiesen hat, in denen wir auch reichlich des Tages Last und Hitze tragen können.

Warum unö noch diese Thätigkeit aufbürden? Aus dem Gefühl

und Bewußtsein, daß es gilt, das Gut der Güter zu erringen, aus dem Bewußtsein, daß wenn wir nicht in der Liebe Gottes der Liebe Werke schaffen, wir mühselig bleiben in Ewigkeit, immer ohne Frieden und ohne Genüge.

Was hat uns zusammengeführt? Das Bewußtsein, daß,

was an Selbstsucht in und an uns klebt, eine erdrückende, Heil, Leben und Seligkeit vernichtende Last ist,

daß wir, ihrer los und ledig zu

werden, als höchstes Ziel ansehen,

und daß nur Christus solche Last

uns abzunehmen im Stande ist.

O, gehen wir im neuen Jahre der

Bereinsthätigkeit doch wieder in dieser Demuth an'S Werk, als solche, die als Mühselige und Beladene nur von dem Herrn nehmen können Gnade um Gnade; dann wird sich weiter des Himmels Segen an unsere Arbeit knüpfen, dann klingt durch all unser Thun des Erlösers Wort hindurch:

„Ich will euch erquicken."

9

will euch erquicken!" spricht der Herr im neuen Jahre und bei der neuen Vereinsthätigkeit zu unS, als zu Mühseligen und Beladenen. Seine Erquickung aber ist die, daß er uns durch sein Wort und feiten Geist stets neu in die Gemeinschaft seiner versöhnenden Liebe arfnimmt, daß er es unaufhörlich uns versiegelt: Alle eure Schuld ist von meiner Vergebung verschlungen. Seine Erquickung ist die, daß er uns tets neu in die Gemeinschaft seiner Kraft und seines Lebens aufnimnt, daß er sich für uns zum Weinstock und uns für sich zu Reben gestaltet. Da ist er der Gebende und wir die Nehmenden, er der Thätige und wir die Leidenden, d. h. die, welche selig seiner Thä­ tigkeit stll halten. Aber solch Nehmen wandelt sich von selbst wieder um in Geben, und solch Leiden in kräftiges Thun, und wo das nicht geschieht, da könnte seine Erquickung nicht haften und bleiben. Darauf weist bei Herr hin, wenn er spricht: „Nehmet ans euch mein Joch und lernet von mir," und versichert: „Mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht." So die durch ihn erquickt sind, sollen also sein Joch und seine Last nehmen, dann werden sie Ruhe finden für ihre Seelen. Welches ist und war die Last Christi? Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt,*) darin liegt die Antwort. Das ist seine Last gewesen, daß die ihn umgebende Menschheit, die er sich zu Brüdern und Schwestern erwählte, in der Sünde und Selbstsucht lebend, nicht bedachte, was zu ihrem Frieden diente, daß aus der Sünde seinen Brüdern und Schwestern immer neue Uebel, immer neues Weh erwuchs. Es trifft auf ihn ganz das Prophetenwort: Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. **) Und wie er auf sich lud diese Last, sie zu tragen? Es geschah vermöge der tiefinnigen Liebe. In seiner Liebe wurde ihm das Verderben der Mit­ menschen wie das eigene, ging ihm ihr Weh durch seine Seele, als toäre' es das feine. ■—Und sein Joch? — Das Joch ist das Werkzeug, womit das Zugthier an Pflug oder Wagen gefesselt wird, um seine Arbeit zu vollbringen. Das Joch Christi, es ist gewissermaßen auch dasjenige, wodurch innerlich gebunden er an seine eigenthümliche Arbeit geht. m

„Ich

*) J°h. l, 29. **) Jesaias 53, 4.

10

Wissen wir nicht, daß ihm Liebe dieses Joch auferlegte, wissen wir nicht, daß eS die Werke der rettenden Liebe sind, an die er sich bestän­ dig gebunden hielt? In Vollbringung dieser Werke, die ihm des Vaters Liebe zeigte, fand er keine Ruhestätte, um sein Haupt niederzulegen und sich zn erholen. Sind die tiefen Wunden der Menschheit seine Last, das beständige Streben und Ringen, sie zn heilen, trägt er als Joch. Sind seine Last die Sünden, sein Joch besteht darin, daß er nicht anders kann, er muß arbeiten, so lange es Tag ist, von den Sün­ den zn erlösen. Ist der Jammer der Menschheit seine Last, als Joch trägt er die drängende Liebespflicht, den Jammer zu stillen. Nun haben wir uns als Mühselige und Beladene um ihn sammeln gelernt, er trug unsere Sünde als seine Last; aber in der vergebenden Liebe hat er sie getilgt; er trägt unsere Schwachheit als seine Bürde, in der aufrichtenden, stärkenden und heiligenden Liebe nimmt er sie und ab und erquickt unsere Seelen. Aber in dieser Liebe des Herrn Erquickung genießen, ist es möglich, wenn wir dieser Liebe nicht selbst unser Herz eröffnen, dieser Liebe selbst nicht voll werden, dieser Liebe uns nicht unbedingt hingeben? Wo wir das nicht thäten, da würde unö sein Wort gelten: „Ich habe euch noch nie erkannt, weichet alle von mir, ihr Uebelthäter!"*) oder deS Paulus Wort: „Wer Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein."**) Seine Erquickung würde nothwendig von uns weichen. Gewiß nur wer in Christi Liebe bleibt, dem bleibt diese Liebe Christi das Labsal, die Ruhe seiner Seele. Wohlan, als Kirchund Vereinsgenossen gelte uns das Wort: Nehmet auf euch meine Last. Christus hat uns dje Last abgenommen; ach, mit ihm laßt uns die Lasten fühlen, die unsere Brüder und Schwestern tragen. Wenn in einem Hause unserer Parochie Hunger und Frost die Bewohner peinigt, wenn das wärmende Kleid den Alten und den Kleinen gebricht, wenn schwere Krankheit die Arbeit unmöglich macht, und mit heftigen Schmerzen pei­ nigt, wenn so viel Jammer und Elend sich findet — das wälze sich immer von Neuem als schwere Last auf unsere Brust. Aber wie die Seele mehr ist als der Leib, so laßt uns auch hineinblicken in die eigent> *) Matth. 7. 23. **) Röm. 8, 9.

11

lichen Tiefen des Elendes, hinein in Sittenlosigkeit und Sünde, welche das eheliche und häusliche Leben vergiften, heilige Bande lockern und zerreißen, zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern, Brüdern und Schwestern unsäglichen Jammer stiften. Laßt es «ns in der Liebe Christi auf's Tiefste empfinden, daß die Sünde der Leute Verderben ist und bleibt. Tragen wir aber so die Last Christi, dann nur treten wir mit ganzem, festen Willen wieder unter sein Joch. Wir werden wieder nach unsern schwachen Kräften die Hände ausstrecken, um die frierenden Kinder zu bekleiden, um die Hungrigen zu speisen, um die Kranken aus ihrem Schmerzenslager zu laben. Aber alle ir­ dische Handreichung wird uns nur als Unterlage dienen, um das Evan­ gelium den Herzen theuer zu machen, um die Verirrten zu Christo zu führen, um den schwachen Glauben zu stärken, um den Trost der gött­ lichen Gnade in die Herzen und Häuser zu tragen. Es gibt auf der Erde viel Last und manches drückende Joch. Nehmen wir Christi Last in Liebe auf uns; alle Bürden der Erde werden uns leicht oder fallen von unsern Schultern. Tragen wir Christi Joch, wir werden, von jedem Joch, und-jeder Fessel gelöset, -die freien Kinder Gottes; er -der Herr bleibt bei uns und hält sein Wort: „Ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen! Ich will euch erquicken."

Johannes der Täufer, n. Advent. Text:

Matth. 3, 1 — 6.

Zu der Zeit kam Johannes der Täufer und predigte in der Wüste des jüdischen Landes,

und sprach:

Buße, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.

Thut Und Er

ist der, von dem der Prophet Iesaia gesagt hat und ge­ sprochen:

ES

ist

eine Stimme eines

Predigers in

der

Wüste, bereitet dem Herrn den Weg, und machet richtig seine Steige.

Er aber, Johannes, hatte ein Kleid von

Kameelhaaren und einen ledernen Gürtel um seine Lenden; seine Speise aber war Heuschrecken und wilder Honig.

Da

ging zn ihm hinaus die Stadt Jerusalem utib das ganze jüdische Land und alle Länder an dem Jordan, und ließen sich taufen von ihm im Jordan und bekannten ihre Sünden. Als wir vor acht Tagen in gottesdienstlicher Versammlung hier den Anfang des Kirchenjahres feierten

und das Iahresfest unseres

Vereins für christliche Armen- und Krankenpflege, da schien es mir wie nothwendig, daß der Heiland gleichsam unmittelbar selbst vor uns stehe,

Lieder: Nr. 798.

Nr. 140.

Nr. 147, 4.

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daß wir seinen selbsteigenen Worten Gehör schenkten. Jetzt tragen wir mehr der besonderen kirchlichen Zeit, in welcher wir uns befinden, .Rechnung, der Adventszeit also, die uns zur Vorbereitung auf das WeihnachtSfest dienen soll. Feiern wir nun an diesem schönen Feste die Geburt, den Eintritt Christi in diese Welt, so ziemt es sich jetzt wohl, unsere Blicke auf den Mann zu richten, welchen Gott dem Er­ löser zu einem Vorgänger und Bahnbereiter geordnet und ihn vor dem­ selben gesandt hatte, auf Johannes den Täufer. Möge denn der letzte und größeste der Propheten auch bei uns in der Kraft deS EliaS dazu beitragen, daß Alles dahin zurechtgebracht werde, daß der König des Heils immer von Neuem bei uns einkehre, immer ungestörter in uns wohne! Möge es uns aber auch von Neuem klar werden!, daß Jo­ hannes wohl ein Mann wie Elias, aber doch nur ein Vorgänger deS Erlösers ist, damit wir in keinem Punkte bei ihm stehen bleiben, son­ dern uns überall von ihm zu dem Heilande selbst weisen lassen! Unser Text enthält den ersten Theil dessen, was der Evangelist Matthäus über die Person und Wirksamkeit Johannes des Täufers berichtet. Wenn wir dem folgen, so heben sich für die Betrachtung, in der wir uns das Bild Johannes des Täufers zeichnen, besonders zwei Punkte hervor, und zwar 1) Johannes im alten Bunde so groß, und doch für den neuen zu klein! 2) Johannes, dasselbe predigend, wie Christus, und doch nicht dasselbe, darum in ihm die Erfüllung einer prophetischen Weissagung, und er selbst doch nicht die Erfüllung. I. Johannes in der Wüste, wie er seine gewaltige Stimme an die, welche sich ihm nahen, ergehen läßt, steht in den Worten des Matthäus vor uns.. Von der Gemeinschaft der Menschen hat er sich losgelöst, aus dem Leben im Volks- und StaatSverbande ist er heraus­ getreten, auf den trauten Kreis der Liebe, auf die Familie hat er ver­ zichtet, kein Band irgend einer Freundschaft oder Zuneigung hat ihn zu halten vermocht. Ein härenes Gewand, mit ledernem Gürtel gehalten, umhüllt ihn, Alles, was an der Kleidung irgend wie dem Schmuck, der Schönheit dient, ist von ihm verschmäht und weggeworfen. Heuschrecken und wilder Honig, will sagen, nur dasjenige, was die Steppe, und vielleicht oft sparsam genug, darbot, ist seine Speise; jede andere leib-

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liche Erquickung, die nach ernsten, inneren Kämpfen, nach den gewalti­ gen Reden an das Volk, dem erschöpften Manne gewiß so wohl gethan hätte, wurde von ihm verachtet und gemieden^ Warum diese strenge Entsagung? Soll im richtigen Sinne das Kleid nach Gottes Willen uns nicht auch zum Schmuck, wie zum Schutze dienen? Soll nach des Ewigen Willen die Speise neben der Ernährung uns nicht zugleich Labung gewähren? Darf nicht zur rechten Stunde der Wein des Menschen Herz erfreuen? Spricht das Wort Gottes nicht: Schmecket und sehet wie freundlich der Herr ist, und wie voll die Erde seiner Güter? Und ist uns nicht das traute, süße Leben im häuslichen Leben der Familie, sind uns die geistlichen und gemüthlichen Genüsse im Kreise anregender treuer Freunde, ist uns das Vaterland mit seinem Schutz und als die Stätte hoffnungsreichen Wirkens, ist uns das Alles nicht als etwas Gutes in dem göttlichen Urwort begründet: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei? Warum denn flieht und verachtet der gott­ gesendete Mann das Gottgegebene? Ach er, dem die göttliche Wahr­ heit den Blick des Auges geschärft hatte, sah bei seinen Volksgenossen das schützende, schmückende Kleid nur noch als Mittel hohler Eitelkeit und eines armseligen, die Nebenmenschen verachtenden Stolzes. Er sah den Genuß von Speise und Trank beim Mahle verpestet von dem Gift einer gottvergessenen, dem Glauben Iahvehs Hohn sprechenden Lust. Er sah das Familienleben aller wahren Frömmigkeit entbehrend, darum auch heiliger Liebe und Treue baar und ledig. Er sah das Volksleben im Staate von außen her durch fremdländische, heidnische Tyrannei geknechtet, von innen mehr und mehr durch den Ehrgeiz der Parteien und durch niedere Genußsucht angefressen, sah selbst das Religiöse und Gottesdienstliche im Volksleben zu starren Formen verknöchert, nur noch als Larve der Heuchelei gebraucht. So erschien ihm sein ganzes Volk in jeder Gemeinschaft des Lebens von der Sünde nicht nur hier und da befleckt, sondern ganz von ihr durchzogen und erfüllt, so konnte er dies sein Volk nur wiedererkennen in der Schilderung des Iesaias:*) „Das ganze Haupt ist krank, das ganze Herz ist matt. Von der Fuß*) IesaiaS 1, 5. 6.

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sohle an bis auf'S Haupt ist nichts Gesundes an ihm, sondern Wun­ den und Striemen und Eiterbeulen." Wie nun sein Volk mit Iahveh gebrochen hatte, so wird es dem Johannes Pflicht, um Jahveh's willen mit seinem Volke zu brechen, aller unreinen und verunreinigenden Ge­ meinschaft mit demselben sich zu entschlagen. Um Jahveh's willen opfert er Alles, was das menschliche Leben an Gütern bereichert, was es in dieser Welt lieblich und schön macht. Gewiß ein heroischer Ent­ schluß, statt alles Schönen und Erfreuenden in der Gesellschaft die öde, freudenlose Steppe zu wählen, eine heroische Kraft, diesen Entschluß rücksichtslos und unbeirrt im Leben durchzuführen, gewiß eine große Kraft der Frömmigkeit in diesem Sohne Abrahams, so daß er dem Erzvater, welcher Javeh seinen Sohn opfern wollte, ebenbürtig wird! Wir begreifen, wie der Erlöser von ihm sagen konnte, daß er unter allen, welche vom Weibe geboren wurden, der Größeste, daß er mehr noch sei, als ein Prophet. — Aber vergleichen wir mit seiner Lebens­ weise die des Erlösers. Der Heiland bleibt in der Mitte der Welt, in Verbindung mit Mutter, Schwestern und Brüdern, bleibt im Volksleben hem Gesetz Unterthan, auch dem Kaiser gebend, was des Kaisers ist, bleibt in der Gemeinschaft der Gottesverehrung seines Volkes, in den Synagogen und im Tempel. Er trinkt des Weines und geht zum Mahle in die Häuser der vornehmen Oberen und der verachteten Zöll­ ner, wenn er geladen wird; er lebt in jeder Beziehung als Menschen­ sohn unter und mit den Menschenkindern. Erkannte er weniger klar als Johannes das allgemeine Verderben seines Volkes? Der, welcher vor Jerusalem saß und über die Stadt weinte, welcher, nach Johannes Zeugniß, der Welt Sünde trug, durchschaute auch allenthalben auf's Klarste und Tiefste die Macht der Sünde und ihre Verbreitung. Oder besaß der Herr weniger Kraft als Johannes, um sich ganz Iahveh hinzugeben und Allem zu entsagen? Der, welcher zwölf Jahre alt, in dem sich wußte, was seines Vaters war, und welcher in Gethsemane und auf Golgatha, nach des Vaters Willen ergeben, den letzten Tropfen des bitteren, bitteren Kelches trank, er war in seinem ganzen Leben nur Hingabe an Gott, ein beständiges, sich selbst darbringendes Opfer, so daß das volle Wohlgefallen des Vaters auf ihm ruhte. Aber er verließ

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die Welt nicht, weil er in sich die Kraft trug, die Welt und ihre Sünde zu überwinden, weil er in feiner Liebe zu Gott und zu denen, die er sich als Brüder erwählt hatte, stärker war, als jede Versuchung dieser Welt, weil er deshalb auch das Gottesleben in sich hatte, mit welchem er die Welt, das Volks- und das Familienleben zu erlösen und zu heiligen vermochte. Johannes aber , wie groß er war, diese Fülle der Gottesliebe besaß ex nicht, um auch in der Welt die Welt zu überwinden, um auch in der Umgebung der Sünder von der Sünde sich unbefleckt zu erhalten, um selbst die Kraft der Erlösung seinem Volke mitzutheilen. Darum, so lange Johannes blieb, was er war, der größte Prophet des alten Bundes, aber noch nicht in die Nachfolge Christi eingetreten war, noch nicht von ihm Gnade und neues Leben begehrte, so lange blieb er auch für den neuen Bund zu klein, und des Herrn Wort galt von ihm: Der Kleinste im Reiche Gottes ist größer denn er.*) M. G., wir ehren den Johannes, wie er in richtiger Selbsterkenntniß Alles in der Welt opferte, um in der Wüste Iahveh rein zu dienen; wir folgen ihm aber nicht nach. Wir preisen vielmehr Gott, daß er uns die Kreise des häuslichen, bürgerlichen und kirchlichen Lebens verliehen hat, nehmen aus denselben und suchen nach Kräften wiederzugeben. Wir preisen Gott auch da, wo er das irdische Leben uns schmückt und es an Labung und Freude uns reich macht. Haben wir doch den bei uns, und in dieser kirchlichen Zeit wird uns sein be­ ständiges Kommen zu uns wieder besonders lebendig bezeugt, in dessen Gemeinschaft und durch dessen Gnade auch wir die Versuchungen des Lebens zu überwinden vermögen, der auch bei solchen Gelegenheiten sich an uns mit seiner erlösenden Liebe verherrlichen will. Aber laßt uns dabei in Demuth fest daran halten, daß wir solches nicht haben, noch durch eigene Kraft vermögen, sondern durch den, von welchem seine ersten Jünger zeugten: Wir haben von ihm genommen Gnade um Gnade, Wahrheit um Wahrheit. II. Von Jesu haben seine Jünger Wahrheit um Wahrheit ge­ nommen, doch hauptsächlich mit durch seine Rede, durch seine Predigt. ’) Matth. 11, 11.

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Da ist es auffallend, daß Matthäus, indem er den Inhalt der Predigt zusammenfaßt, diesen als den ganz gleichen bei Jesus und bei Johannes darstellt in den Worten: Thut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Es scheint danach, als wäre in diesem Punkt Jo­ hannes und Christus ganz ein und derselbe, als wäre hier in ihren Personen der alte und neue Bund auf der Grenze ineinandergeschmolzen. Darum bezeugt Matthäus auch wohl, daß sich in dem Johannes eine liebliche prophetische Weissagung erfüllt habe, welche in dem Buche Jesaias sich findet *). Er (Johannes), ist die Stimme des Predigers, der da sagt: Bereitet des Herrn Weg in der Wüste, machet eben die Bahn in der Steppe dem Ewigen, Jahveh will führen das Volk in das Land der Väter, er will es sammeln in Jerusalem, daß er sein Gott und sie sein Volk seien, er will ihnen so bereiten das angenehme Jahr, die Zeit des Heils und der Erledigung. Wenn es aber am Schluß dieser weissagenden Rede heißt: „Es offenbaret sich die Herrlichkeit Jahveh's und es siehet alles Fleisch, daß Jahveh's Mund geredet hat;" so er­ kennen wir, daß diese Weissagung in keiner irdischen Zurückführung des Volkes, in keiner äußeren Herstellung des Jahvehdienstes, in keinem erneuten irdischen Königreich ihre Erfüllung gefunden hat. Was Israel nach dieser Seite auch erlebte, es reichte ja lange nicht heran an den Glanz des Davidischen Königreiches und dies selbst war ja nur ein schwaches Bor- und Abbild von dem künftigen Reiche der Gnade ge­ wesen, in dem man erst Jahveh's Herrlichkeit schauen sollte. Es geht also die Weissagung auf die volle Erscheinung des Reiches Gottes, welches nach Paulus Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist ist. Für dieses nun soll Johannes die Wege bereiten. Und erfüllt er nicht diese Weissagung in seiner Persönlichkeit durch die Art seines Wirkens aufs Trefflichste? Eben in den Worten, in welchen sich die Weissagung weiter entfaltet, tritt uns ja, lebendig geschildert, die ganze Größe und Herrlichkeit des Mannes entgegen. Alle Thale sollen nach derselben erhöhet und alle Berge und Hügel erniedriget werden. Ist Johannes nicht der Mann gewesen, die Berge zu erniedrigen? Was *) JesaiaS 40, 1-5. Thomas, Glaube an Christus,

18 war hoch in Israel, wo hinauf nicht sein strafendes Wort gedrungen wäre, wo er nicht vor Gott und der Welt Demüthigung gewirkt hätte? In des Königs Palast schleudert er die scharfen Pfeile seiner Rede, sprechend ***) ): Es ist nicht recht, daß du deines Bruders Weib' hast, da­ mit ihn mahnend statt des königlichen Purpurs das Sackgewand der Buße anzulegen.

Eben so was geistlich glänzte in Israel, vor seinem

durchdringenden Blick konnte es seine Gebrechen

und Schäden nicht

verhüllen und der vernichtenden Gewalt seiner wahrhaftigen Rede sich nicht

entziehen.

,>Jhr

Otterngezüchte!"

so empfängt er Pharisäer

und Sadduzäer, Schriftgelehrte und Priester und verkündigt ihnen, daß ihnen, als schlechten Bäumen, schon die Axt an die Wurzel gelegt sei und daß jeder Baum, der nicht gute Früchte bringe, abgehauen und ins Feuer geworfen werde.

So sehen wir ihn während seiner Wirk­

samkeit in der Thätigkeit begriffen, abzutragen, was hoch war, zu de­ müthigen, was sich selber erhob.

Wie er aber auch als gewaltiger Buß­

prediger die Berge erniedrigte, daß der Stolz der Eigengerechtigkeit zu­ sammenbrach; dennoch sammelte sich um den strengen Mann eine Schaar von Jüngern, die von ihm Führung und Weisung für's Leben begehrte, die ihm voll Vertrauen und Hoffnung anhing, die eben die Pflanz­ schule war, aus welcher der Erlöser seine ersten Apostel gewann.

Das

waren tief gebeugte Seelen, denen um Trost so bange gewesen war. Sie waren Thäler gewesen, von hohen Bergen auf allen Seiten gleich­ sam eingeschlossen, daß sie die erwärmenden und belebenden Strahlen der Sonne nicht gefühlt, sich ihres Lichtes nicht gefreut hatten.

Was

hatte sie doch an den strengen, harten, rauhen Mann gebunden?

Das

war seine Botschaft:

Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen, das

war es, daß er ebenso das Wort, erfüllte, das Wort:

womit die Weissagung beginnt,

„Tröstet, tröstet mein Volk!

Redet Jerusalem

zu Herzen und rufet ihr zu, daß ihre Dienstbarkeit ein Ende hat." Mit der Kunde des nahenden Himmelreiches

stärkte

er ihnen

die

Hoffnung auf die Hülfe des barmherzigen Gottes, hob ihre Herzen aus der Tiefe des Zagens heraus, daß sie getrost bei ihm ausharrten. *) Markus 6, 18. **) Matthäus 3, 7—10.

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bis er ihnen zeugen konnte : Sehet das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünden trägt. So hat er die Thale erhöhet, wie die Berge erniedriget, so mit demselben Wort wie der Erlöser predigend, scheint er wie dieser zum Himmelreich zu führen,. scheint in ihm die prophe­ tische Weissagung volle Erfüllung geworden zu sein. Aber wie Jo­ hannes auch fast in volle Gleichheit mit Jesu hineinzutreten scheint; so ist es eben doch nur Schein, wie es nicht nur der Heiland, sondern der demüthige Mann selbst oft und nachdrücklich genug bezeugt hat. Es ist ein anerkannt richtiges Wort: Wenn zwei dasselbe thun, so ist es nicht dasselbe, und ebenso richtig: Wenn zwei dasselbe sprechen, so ist es nicht dasselbe. Dieselben Worte bei zwei verschiedenen Personen sind verschieden nach ihrem Gehalt, ihrem Sinn und nach ihrer Kraft und Wirksamkeit. „Das Himmelreich ist nahe," spricht der Herr, das will in seinem Munde sagen: Es ist wirklich und wahrhaftig da, eö ist in mir die Gnade und Herrlichkeit Jahveh'S, welche Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist gewährt. Ich kann und will euch erquicken. Sein Wort, wo's aufgenommen wird, ist eben das hervor­ bringende, schöpferische und beseligende. Nicht so bei dem Johannes. „Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen," heißt bei ihm zugleich: Es ist aber noch nicht da, es ist nicht in mir selber, ich kann's euch nicht geben, kann'S euch nicht öffnen, ich muß selber dessen warten, der stär­ ker ist denn ich, welcher allein den Armen in Israel Erlösung und Erledigung bringt. So war auch seine Taufe nicht eine Taufe in's Himmelreich hinein, sondern auf die Hoffnung des Himmelreichs wurde sie von ihm vollzogen. Eben so verhält es sich mit dem Mahnruf: „Thut Buße!" Er ist ein anderer bei Jesus, ein anderer bei Jo­ hannes. Oder wäre diese Ermahnung in jedem Munde dieselbe? Thut Buße! verändert euren Sinn! so sprechen etwa hundert Väter und Mütter zu ihren Kindern und ich möchte behaupten, es hätte die Forderung Bet ihnen einen hundertfach verschiedenen Sinn und Gehalt. Thut Buße! verändert euren Sinn! so tönt es nicht nur im Christen­ thum, der Ruf ist auch schon durch die ganze Geschichte des Judenthums hindurch erklungen, ja hier und dort selbst in ernsten Stimmen unter dem Heidenthum laut geworden. Thut Buße! spricht man eben 2*

20 so gut unter dem römischen Katholizismus, wie in der evangelischen Christenheit. Aber nicht wahr, einen andern Inhalt hat dieser Ruf im Heidenthum, einen andern im Iudenthum, einen andern im Christen­ thum, einen andern unter dem Papst, einen andern unter dem Hellen, freien Licht des Evangelii!

So wenn sich in Johannes und Jesus

der alte und neue Bund fast die Hände reichen, sie scheiden sich doch auch wieder in und an ihnen, so wird auch bei ihnen die Mahnung: „Thut Buße," eine verschiedene sein.

Was giebt doch dem Worte beim

Johannes seinen Inhalt? Zunächst dasjenige,

was bei allen alttesta-

mentlichen Frommen und Propheten der Mittelpunkt war, das Gesetz. Als Prophet des alten Bundes geht Johannes vom Gesetz aus, weckt an demselben die Erkenntniß der Sünde, ruft dadurch die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit der Buße hervor.

Das Gesetz aber ist wie der

kalte Buchstab im harten Stein ohne das warme, frische Leben.

Jeder

Ruf zur Buße aus dem Gesetz heraus , hat etwas Frostiges, ja Erstar­ rendes.

Der Erlöser dagegen hält nicht das Gesetz auf steinernen Ta­

feln uns vor, sondern sich selbst, gleichsam den Fleisch und Blut ge­ wordenen Willen Gottes, stellt er uns dar.

Er, als der sündenlos

Heilige, als die vollendete Liebe gegen Gott und die Brüder, als dieser vollendete Mensch ruft und mahnt: Thut Buße!

Aus seiner Persön­

lichkeit, aus seinem Leben heraus werden mit dieser Mahnung erst alle Berge erniedrigt.

Nicht nur der verbrecherische König, nicht allein die

heuchlerischen Pharisäer, auch Propheten, ja der größeste unter ihnen, müssen sich vor seinem heiligen Glanze beugen.

„Ich bin nicht werth,

daß ich ihm seine Schuhriemen auflöse," bekennt ihm gegenüber Jo­ hannes. Wohl gründet auch dieser seine Bußpredigt mit auf die Ver­ heißung von der Nähe des Himmelreiches; aber bei ihm ist dies^ Verheißung doch noch nicht mehr als ein Zukunstswort, die Gnade ist ihm noch nicht die gegenwärtige, die Barmherzigkeit noch nicht die er­ schienene.

Der Herr aber spricht:

Das Himmelreich ist nahe herbei­

gekommen, weil in ihm selbst die Leutseligkeit und Freundlichkeit Gottes wirklich und wahrhaftig erschienen ist.

Kann aus dem Gesetz die Mah­

nung zur Buße nur als eine frostige fließen; so aus der Weissagung, welche die Liebe und das Leben nur für die Zukunft verkündet, beides

21 noch nicht bringt, kann sie nur als eine mehr oder weniger oberfläch­ liche hervorgehen.

In die Tiefen der Buße steigt nur der hinab, welcher

die ewige Liebe als wirklich versenkt hat.

geschaut und

gefunden und in sie sich

So konnte Johannes in vollkommner Weise weder die

Thale erhöhen, noch die Berge erniedrigen, so konnte er nicht den Weg Iahveh's in der Wüste schassen, daß man durch ihn an dem erlösten Volke die Herrlichkeit Iahveh's erblickt hätte, so konnte er nicht die göttliche Aufforderung erfüllen: Tröstet, tröstet mein Volk; sondern das Alles blieb dem vorbehalten, von welchem er sprach: Er wird euch mit Feuer und mit dem heiligen Geist taufen.

Erfüllte sich in ihm die

Weissagung, daß er sei die Stimme des Predigers, die Jahveh den Weg in der Wüste bereitet, so doch nur in dem Sinne, daß er durch sein ganzes Leben und Wirken die lebendige Erneuerung dieser Weissa­ gung wurde, welche ihre volle Erfüllung in dem gewann, in welchem alle Weissagungen Ja und Amen sind.

Amen.

Die rechte Umkehr.

m. Text:

Advent. Matth. 3, 7—10.

Als er nun viele Pharisäer und Sadducäer sah zu seiner Taufe kommen, sprach er zu ihnen:

Ihr Ottern­

gezüchte, wer hat denn euch gewiesen, daß ihr dem zukünf­ tigen Zorne entrinnen werdet? Früchte der Buße. wollt sagen:

Sehet zu, thut rechtschaffene

Denket nur nicht,

daß ihr bei euch

Wir haben Abraham zum Vater.

Ich sage

euch: Gott vermag dem Abraham aus diesen Steinen Kin­ der zu erwecken. die

Wurzel

Es ist schon die Axt den Bäumen an

gelegt.

Früchte bringt,

Darum

welcher

Baum

nicht

wird abgehauen und in daS Feuer

gute ge­

worfen. „Ä)?achet die Thore weit und die Thüren in der Welt hoch, daß der König der Ehre einziehe!" das ist der Adventsruf, welcher jetzt mah­ nend durch die Christenheit hindurch Engt und auch an uns ergeht. Von Neuem soll aufgenommen werden, von Neuem will mit seiner

Lieder: Nr. 393.

Nr. 131, 6.

23 Gnade und Wahrheit der Erlöser in Herz und Leben einkehren.

Be­

gehrt ihr aber, so ruft man uns von bekannter Seite zu, seine Einkehr bei euch, dann zeigt ihr zuvor eure Umkehr!

Sehr gut, wenn wir

diese Aufforderung in dem Sinne des alten Wortes verstehen*): Na­ het euch zu Gott, so nahet er sich zu euch!

In der That, die Mah­

nung eignet sich trefflich für unsere Adventszeit.

Aber was diese Um­

kehr sei, das wollen wir uns nicht von den Weisen und Klugen dieser Zeit lehren lassen, gleichviel ob sie in den Philosophen- oder Propheten­ mantel sich hüllen, ob sie als Kinder Gottes sich göttlicher Autorität, oder als Kinder der Welt sich menschlicher Weisheit rühmen.

Zu dessen

Füßen setzen wir uns vielmehr heut nieder, welchen Gott in seinem weisheitsvollen Walten einst als den Vorgänger und Bahnbrecher unsers Heilandes sandte.

Er soll uns deuten, welches die Umkehr rechter

Art ist, auf die immer wieder die Einkehr des Sohnes Gottes erfolgt. Er zeigt uns aber in unserm Text das Wovon? das Warum? und das Wohin? der rechten Umkehr.

Gott gebe uns durch das Licht und

die Kraft seiner Gnade das richtige Verständniß und die treue Anwen­ dung seiner Weisung. I.

Zuerst das Wovon?

Johannes ermahnt auch hier zur Buße,

Buße aber ist Umwandlung des Sinnes, ist eine innere Umkehr von einer vorhandenen Gesinnung.

Drückt er seine Forderung in weiterer

Bestimmung dahin aus, daß seine Hörer eine würdige Frucht der Buße schaffen sollen; so heißt das nur: Laßt die innere Umkehr der Gesin­ nung auch in der äußeren Umgestaltung des Lebens sichtbar werden. Um nun über das Wovon? der Umkehr in'S Klare zu kommen, achtet auf diejenigen, an welche Johannes Mahnung erging.

Es sind die

Pharisäer und Sadducäer, welche zu seiner Taufe strömen und gerade sie werden von ihm mit dem Zuruf empfangen:

Ihr Natterngezücht,

wer hat euch gelehrt, dem zukünftigen Zorn, dem kommenden Gericht zu entfliehen?

Ihnen sagt er: Thut Buße oder, kehret um!

sollen sie umkehren?

Wovon

Offenbar von ihrer Gesinnung, von dem, was

Kern und Mittelpunkt ihres Lebens und Wesens war, wir können kurz

*) Jakobus 4, 8.

24 sagen: vom Pharisäismus und Sadducäismus. was in diesen beiden Richtungen liegt.

Entwickeln wir uns,

Beim Sadducäismus sind wir

nach einer gewissen, hergebrachten Ansicht gewohnt, an dasjenige zu denken,

was

Mannes

in

der Erlöser im Gleichniß durch das Bild des reichen wenigen,

lebendigen Zügen

uns

zeichnet:

Genußsucht,

Schwelgerei, so daß darüber im Gemüth für Frömmigkeit und für barmherzige, mitfühlende und thätige Liebe kein Raum, kein geeigneter Boden bleibt.

Gewiß, so lange dergleichen die Seele beherrscht, kann

der Erlöser mit seinem Geist in dieselbe nicht einkehren. zween Herren dienen.

Niemand kann

Willst du essen, trinken, genießen, froh sein

ohne den Gott der Güte und Gnade, dich so an das Irdische hingeben, daß alles Höhere, Ewige, Geistige dir entschwindet, sage, wie erhebst du dich noch über das Thier des Feldes und Waldes in seiner ihm allerdings

wohl anstehenden sinnlichen

Lebenslust?

Welcher andere

Trost kann all' deinem Lichten und Trachten in der Zukunft bleiben, als der in den Worten sich ausspricht: Welt vergehet mit ihrer Lust?

Die Blume verdorrt und die

Wäre jemand unter uns dieser gott-

und lieblosen Genußsucht verfallen, ja der Vorgänger des Erlösers mahnte ihn, von daher umzukehren.

Was also Derartiges noch uns

ankleben sollte, die Adventszeit will, daß wir es völlig von uns thun, damit in immer reicherem Maße der Heiland mit seinem Geiste bei uns einkehre und uns mit höheren Freuden erfülle.

Aber Johannes

hat hier -mehr eine andere Seite des Sadducäismus im Auge. nennt auch die Sadducäer Nattern-, Schlangengeschlecht.

Er

Wie aber

die Natter eine glatte Haut, in glänzenden Farben schillernd, an sich trägt, wie sie im Grün des Grases, wohl unter lieblichen Blumen ver­ borgen ruht und sich windet, wie so ihr äußerer Schein und Aufent­ halt etwas ganz Anderes anzudeuten scheint als das tödtliche Gift unter ihrer Zunge; so ist sie in heiliger Schrift das gewöhnliche Sinnbild der Heuchelei und so werden auch hier mit dieser Benennung die Sad­ ducäer als Heuchler bezeichnet. handen.

Dazu aber war das volle Recht vor­

Sie wollten ja durchaus nicht als Menschen angesehen werden,

welche nach Gott und Gesetz nichts fragend, nur dem irdischen Genusse lebten, sondern, wie es der Name, den sie sich beilegten, sagt, für die

25 ächten Frommen, für Gerechte, welche dem Wort und Willen Iahveh's entsprächen, wollten sie gelten.

Wenn sie die Satzungen der Pharisäer

zum Theil verwarfen; so erklärten sie, das geschähe, um Gottes Gebote reiner zu bewahren.

Wenn sie außer den Büchern, die Mosis Namen

tragen, die übrigen biblischen Bücher nicht für heilige gelten ließen; so sprachen sie ähnlich wie einst die Mitglieder des hohen Rathes in Be­ treff Jesu, nämlich: Wir wissen, daß Gott mit Mosi geredet hat, von den andern, die Propheten genannt werden, wissen wir es nicht.

So

gaben sie sich für die Alt- und Rechtgläubigen in Israel aus, und machten

als

solche auch den Anspruch aus die Leitung des

Volkes.

Wenn wir nun aber von den Anhängern dieser Sekte erfahren, daß sie Alles, was auch bei Moses wie Weissagung auf einen Heiland und auf ein Reich des Heils klang, wegdeutelten oder rein sinnlich faßten, daß sie nichts von einem Vorhandensein geistiger Wesen, nichts von der Auferstehung der Todten, nichts von der Ewigkeit der menschlichen Per­ sönlichkeit wissen wollten; so ist damit auch klar, daß sie in der That keinen Glauben an den in der Geschichte ihres Volkes und der Menschheit lebendig waltenden Gott,

an seine heilige Weltordnung, an die ewige

Verbindlichkeit seines Gesetzes oder Willens, an sein heiliges Gericht in sich hegten.

Kurz der wahre Gehalt der mosaischen Bücher, der

wahre Gehalt alttestamentlichen Glaubens, alttestamentlicher Frömmig­ keit fehlte ihnen völlig, und wenn sie dennoch Gottesfurcht zur Schau zu tragen sich bemühten; so ständige Heuchelei. nicht besaßen?

war das ein leeres Vorgeben, war voll­

Warum suchten sie aber zu zeigen, was ihre Seelen

Wenn ihnen, Geliebte, Glaube und Gottesfurcht an sich

nichts galten; so schienen sie ihnen doch ein geeignetes Mittel zur Lei­ tung und Regierung sowohl im Staate als im Hause.

Für Volk und

Familie, das sahen sie ein, ist Zucht und Ordnung unerläßlich, durch dieselben kann irdisches Wohlergehen gedeihen.

nur

So sollte der

Glaube, den sie selbst nicht glaubten, die Gottesfurcht, welche sie selbst nicht empfanden, Zaum und Zügel für das Volk sein, Zuchtmeister für Knecht und Magd, für Sohn und Tochter.

Ist doch, mochten sie den­

ken, der Kitt in den Mauern der Gebäude eigentlich auch nur Erde, gleichwohl hält er das ganze Gebäude zusammen.

So Glaube

und

26 Gottesfurcht an sich eitel dienen doch vortrefflich als ein Kitt, um das Gebäude des Staats- und Familienwohles zusammenzuhalten.

So war

ihnen Glaube, Gottesfurcht lediglich ein Mittel der Volks- und Fami­ lienregierung, der Staats- und Hauszucht.

Ach dieser Sadducäismns,

der selbst glaubenslos die Religion, welche in sich selbst Zweck, ja der höchste Zweck, die höchste Aufgabe unseres Lebens ist, zu einem Mittel der Staats- und Hauspolizei herabwürdigt, er hat sich auch in der Christenheit immer wieder gezeigt, sich in Schlangenwindungen durch alle Geschlechter hindurchgezogen und auch in unserer Zeit ist er noch lange nicht verschwunden.

Wo er in den Herzen wohnt, da kann der

Erlöser nicht sein, von ihm gilt es mit heiligem, entschiedenem Ernst umzukehren, nur dann kann der König der Ehren einkehren. Das zweite Wovon? ist der Pharisäismus. die Eiferer über das göttliche Gesetz.

Die Pharisäer waren

Wenn aber im Evangelio ein

Schriftgelehrter die Erkenntniß ausspricht, daß das ganze Gesetz in dem einen Gebot der Liebe befaßt sei; so ist er damit über den Pharisäis­ mus hinausgegangen.

Dieser sieht Gottes Gesetz nicht in seiner Ein­

heit an; sondern zerlegt und zertrennt es in eine Vielheit selbstständiger, von einander unabhängiger Satzungen.

Die Einzelgebote als solche

sind ihm die Hauptsache und er steht deshalb in dem Bestreben, die zahlreichen Gebote der Schrift durch immer neue Satzungen zu ver­ mehren.

Dabei wird denn nicht der innere Kern, die Liebe, sondern

das Aeußere der Gebote, nicht die Gesinnung, sondern das äußere Thun beachtet, so daß selbst der Gottesdienst in zahlreichen, langen äußeren Gebeten, in Fasten, Opfern u. bergt. nt. aufgeht, während von einer wirklichen Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit nichts übrig bleibt, auch nichts gefordert wird. das Gebiet der Glaubenswahrheiten;

Richtet sich diese Sinnesweise auf so wird ihr die Masse einzelner

scharf ausgeprägter Glaubenslehren und

Formeln

ihr

Alles.

Den

heiliggehaltenen Buchstaben im Kopf und auf den Lippen zu tragen, gilt nunmehr für das Höchste der Frömmigkeit. ligen Buchstaben,

Aus dem Bann der hei­

der bestimmten, festen Lehren,

irgendwie heraus­

zutreten, wird als Gottlosigkeit verschrieen und verdammt.

An die

Stelle innerer Gemeinschaft mit Gott und des daraus sich alle Tage

27

neugebärenden göttlichen Lebens tritt so eine äußere, ängstliche und doch eben wieder so selbstgerechte Erfüllung vieler Satzungen, ein in sich selbst peinliches, gegen andere hartes und verdammungssüchtiges Kleben an einzelnen Lehren, verbunden mit jenem schlimmen Sinn: Ich danke Dir Gott, daß ich nicht bin wie andere Menschen. Wird aber so der Glaube, das Innerste, in das Aeußere und Aeußerliche verlegt, wird die Form überschätzt, der Geist verachtet; so ist damit schon bis auf einen gewissen Grad eine Aufhebung des Glaubens, der Religion ge­ schehen, so ist das Aeußere der Frömmigkeit mehr oder weniger Heu­ chelei, so ruft Johannes den Trägern solcher Sinnesweise mit Recht zu: Ihr Otterngezücht, thut Buße, kehrt um von diesem, euren Sinn, der Heuchelei. Beiden aber, Pharisäern und Sadducäern sagt er, daß sie sich nicht auf die Abstammung von, auf die Zusammengehörigkeit mit Abraham berufen, sich nicht darauf verlassen sollten, daß sie in die heiligen, heilspendenden oder heilverkündenden Ordnungen ihres Volkslebens eingereiht wären. Beiden also hält er vor, daß sie von dem Sauerteig, vermöge dessen der Glaube in's Aeußere verlegt wird, sich reinigen. Sv gilt,es. auch in unserer Mitte, daß unter uns von jeder trüglichen Einbildung umgekehrt werde, welche das Heil schon im äußern Zusammenhang mit einer bestimmten Kirchengemeinschaft sucht, von jedem Streben, das Höchste und Heiligste, den Glauben, nur als Mittel für sonst ganz gute menschliche Zwecke zu gebrauchen, von dem Satzungswesen in Bezug auf Sitte und Glaube, von der Knechtschaft des Buchstabens, von jeder Veräußerlichung und Verknöcherung des Glaubens, der Frömmigkeit. Nur durch solche Umkehr wird gewonnen die Einkehr des Herrn. II. In dem bisher Gesagten ist eigentlich schon die beste Ant­ wort auf die zweite Frage, auf das Warum? der Umkehr gegeben. Darum ist die Umkehr erforderlich, danlit wir der Wahrheit und Gnade Jesu Christi theilhaftig werden. Johannes drückt aber dies Warum auch nach der Gegenseite, und zwar in schneidender Schärfe, noch be­ sonders aus. „Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel ge­ legt. Jeder Baum nun, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und in'S Feuer geworfen." Kehret um vom Pharisäismus und Saddu-

28 cäiSmus, weil ihr sonst dem heiligen Strafgericht Gottes verfallet! Wo in der heiligen Schrift vom Gericht die Rede ist, da pflegen wir zuerst an die Vollendung des göttlichen Gerichtes, an den jüngsten Tag, wie es gewöhnlich bezeichnet wird, zu denken. unmittelbar vor Gott Pharisäismus und

Freilich, wie könnte je

Sadducäismus und Alles,

was damit zusammenhängt, bestehen? Wie will vor dem Sitz des hei­ ligen Gottes die Augen aufschlagen, wer den Dienst dieses Gottes zu einem armseligen Mittel für weltliche Zwecke entweihte, und in dieser Heuchelei das lebendige Walten und Regieren Gottes verhöhnte?

Wie

will vor dem Einigen, Heiligen bestehen, wer den in sich selbst einigen Willen desselben in tausend Satzungen zerstückt und zerpflückt und die Wahrheit seiner Gnade in Buchstaben- und Formelwesen veräußerlicht, der an die Stelle aufrichtiger, demüthiger Herzensfrömmigkeit todte Stzlbstgerechtigkeit und Rechtgläubigkeit setzt und dem, welcher der Geist ist, die Anbetung im Geist und in der Wahrheit entzieht?

Es kann

da kein anderer Spruch gefällt werden als der des Johannes: Es ist schon den Bäumen die Axt an die Wurzel gelegt. men Triebe des Pharisäismus

Laßt ihr die schlim­

und Sadducäismus

nicht euch

weg­

schneiden, laßt ihr euch das Edelreis des neuen, göttlichen Lebens nicht einpfropfen; ■— nun so müßt ihr mit euren schlimmen Früchten abge­ hauen und in's Feuer geworfen werden. — Aber, Geliebte, das gött­ liche Gericht liegt nicht nur jenseits dieser Ordnung der Dinge, es geht auch schon durch dieselbe hindurch.

Schon hier in diesem Leben

vollziehen sich vielfach Gottes Gerichte und wahr sagt im bekannten Wort unser Dichter: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht."

Dem

stimmt der Erlöser bei, welcher so gut das ewige Leben wie das Ge­ richt Gottes in dieser Zeit gegenwärtig weiß.

Darum schon für das

gegenwärtige Leben ist in Staat, Haus und Kirche dem Sadducäismus und Pharisäismus die Axt an die Wurzeln gelegt, d. h. sie sind dem göttlichen Gericht verfallen.

Wenn die wilde Flamme der Empörung

emporschlägt und sich ausdehnend

nach allen Seiten Verderben und

Verödung verbreitet; dann läßt sich schon die Stunde ankündigen, in welcher die Gottessprüche zu ihrem Recht und ihrer Erfüllung kommen werden: Wer sich wider die Obrigkeit setzet, der widerstrebet Gottes Ord-

29

nung, die aber widerstreben, werden über sich ein Urtheil empfangen *), und: Wer das Schwerdt nimmt, der soll durch das Schwerdt um­ kommen **). Wie gerecht aber auch die Empörer, welche Rrcht und Ge­ setz unter die Füße treten, ihr Urtheil empfangen, wir können meisten« theils nicht ohne lebendige Wehmuth, ohne inniges Mitgefühl auf sie blicken. Sind sie doch so oft Verblendete, vom Wahn Umfangene, welche die Bedeutung ihres Thuns gar nicht begriffen hatten, denen dann das Gebet zu Gute kommt: „Vergieb ihnen, sie wissen nicht, was sie thun." Viel schlimmer steht eö in sittlicher Beziehung mit denen, welchen der Glaube an den König der Könige nur die Maske ist, hinter welcher sie ihre Herrschsucht verhüllen, denen die Gottesfurcht gleichsam nur das Material liefern soll, um Ketten und Stricke daraus zu be­ schaffen, und mit diesen das gescholtene, unsinnige Volk zu bändigen. Mögen sie eine Zeitlang eines scheinbaren Gelingens sich freuen, sich selbst als weise Staatslenker, ja als Staatsretter rühmen; es kommt die Zeit, wo es auch für sie heißt: Wer Wind säet, wird Sturm erndten, wo auch sie erfahren, daß ihnen als schlechten Bäumen die Axt an die Wurzel gelegt ist. Wenn rein weltsinnige Eltern in ihren Kindern das Höhere und Ewige nicht zu pflegen verstehen; so ist das sehr traurig und wir können uns trüber Befürchtungen für die Zukunft nicht gut erwehren. Aber waltet in solchem rein weltlichen Hause nur noch ein gewisser Geist der Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, so daß man nicht scheinen will, was man nicht ist, dann pflegen die natürlichen Gefühle der Achtung und Dankbarkeit gegen die Eltern in den Kindern sich zu erhalten. Wo das aber der Fall ist, da ist auch der Zugang zu dem Herzen für den Heiland noch nicht verschüttet, die Empfäng­ lichkeit für's Evangelium noch nicht erstickt und spätere, ernste Lebens­ führungen werden wohl den Kindern Veranlassung, das zu suchen und zu finden, was ihnen das Elternhaus nicht gewähren konnte. Wo aber Vater und Mutter, im Herzen durch und durch ungläubig, ihrer Fa­ milie gegenüber das Kleid der Heuchelei anlegen und fromm zu scheinen suchen; o, der Kinder Augen durchschauen bald die Lüge und der Kin*). Römer 13, 2. **) Matth. 26, 52.

30 der Herzen verlieren bald Achtung und Vertrauen zuerst gegen die El­ tern, dann gegen Alles, was den Menschen heilig und theuer zu sein pflegt, selbst gegen das Wort der Wahrheit und den Gott der Liebe. Geister aber, die so von Kindheit an mit dem Gift des Mißtrauens erfüllt werden, beben bald vor keinem schmutzigen Pfade des Lasters mehr zurück, machen im Bösen riesenhafte Fortschritte und sind dann ganz geeignet, indem sie ihren heuchlerischen Eltern Herzeleid statt Dank­ barkeit entgegenbringen, an ihnen als die schlimmen Racheengel durch ihr ganzes Thun göttliche Strafen zu vollziehen.

Die Axt liegt auch hier

den Bäumen an der Wurzel. Wenn man endlich die Kirche, die Gemeine des Herrn zu bauen sucht, indem man neue Bündel ihren Gliedern bindet und neue Lasten ihnen auflegt, indem man der Vorschriften über gottesdienstliche Sitten und Bräuche viel macht, indem man das Joch bestimmt ausgebildeter Lehren, das Joch einer korrekten Rechtgläubig­ keit den Jüngern auf die Hälse legt; —• es wird sich da stets das Gericht Gottes in den Folgen offenbaren.

Man zerstört, während man

zu bauen wähnt, man pflanzt an die Stelle des erlösenden Glaubens und der heiligen Liebe hier den finstern Glaubenshaß, dort den' Stolz der Selbstgerechtigkeit in die Gemüther, oder impft vielen Seelen einen Ingrimm ein, der sich nicht nur gegen das pharisäische Wesen, sott* dern, auch gegen die rechte Gemeine Christi, ja gegen den Heiland selbst richtet.

Wenn man aber so gegen die wahre, ewige Kirche des Herrn,

gegen den heiligen Gott der Gnade frevelt, nicht genug daß man sich häuft den Zorn aus den Tag des Zorns, auch hier schon wird man Gottes Gericht so oder anders an sich erfahren.

Darum, weil Phari­

säismus und Sadducäismus die göttlichen Gerichte auf sich herabziehen, lasset uns von Allem, was wir mit ihnen noch gemein hätten, mit aller Entschiedenheit umkehren. III.

Zum Schluß haben wir endlich noch in aller Kürze auf das

Wohin? dieser Umkehr unser Nachdenken zu richten. die zu ihm Gekommenen ermahnt hat,

Nachdem Johannes

ihre Hoffnung nicht auf die

fleischliche Abstammung von Abraham, auf den äußeren Zusammenhang mit ihm und seinem Volke zu setzen, fährt er fort:

Ich sage euch:

Gott vermag dem Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken.

31

Zu diesen Worten ist schon in alter Zeit von den Auslegern bemerkt worden, wie bei den Propheten das Volk Israel unter dem Bilde eines Weinberges dargestellt wird, den Iahveh in seine besondere Hege und Pflege genommen habe, wie dagegen das Heidenthum bei ihnen unter dem Bilde eines wüsten, mit Steinen beworfenen, felsigten Landes erschei­ nen. So, heißt es, verstehe Johannes im Gegensatz zu den Juden als zu den besondern Pfleglingen der göttlichen Güte hier unter den Steinen die Heiden, deren Herzen, was den Glauben an Iahveh an­ ging, ja in der That dem Steine nur zu ähnlich waren. Diese stein­ harten Herzen der Heiden, dahin will Johannes Pharisäer und Sadducäer führen, kann und wird Gott in seine Kinder, in Abrahams Kinder umwandeln. Wohin will er damit seine Hörer leiten? Hin zn der frei waltenden, Alles umfassenden, neuschasfenden Gnade und Liebe Gottes, dieser sich hoffend und sehnsüchtig entgegen zu kehren, dazu will er die Geister erwecken und bewegen. Zeigt doch auch da­ hin Abraham, der Liebling der Gottheit, uns den Pfad. Darum ist er der hochbegnadigte Mann und der erwählte Vater der Gläubigen, .weil in seines Vaters Hause, in götzendienerischer Umgebung seine Seele sich nach dem einen lebendigen Gott sehnte, weil er der göttlichen Stimme so getrost und hoffnungsvoll Ohr und Herz öffnete, weil er auch da an der göttlichen Güte zuversichtlich festhielt, wo das äußere Leben sich hoffnungslos gestaltete. Wollt ihr Abrahams Kinder sein, das ist Johannes Mahnung, wie Abraham kehret eure Herzen der freien, allwaltenden Gnade des Ewigen entgegen. Wir erbitten in dieser Zeit mit neuer Innigkeit die Einkehr des Heilandes bei uns, noch einmal: Laßt uns recht umkehren, dann wird unsere Bitte erfüllt. Wohl auch in unseren Herzen ist immer noch von dem Felsengrund vorhanden, und der Garten der Christenheit ist vielfach recht steinigt. Viele, die Jesu Namen tragen, sind seiner Wahrheit, seiner Versöh­ nung und Erlösung gegenüber wie Steine. Wir mögen und müssen das beklagen, aber nie mit einem Schmerze, welchem die Hoffnung mangelt. Vielmehr wollen wir für uns und für die Gemeine mit immer neuer Zuversicht zu der Gnade und Liebe aufschauen, welche

32 auch aus den Steinen sich Kinder erweckt.

Je mehr Sehnsucht nach

dieser Gnade in uns, desto mehr wird sie uns erfüllen und beseligen, je lebendiger die Hoffnung in unserem Thun und Leben auf sie sich richtet, desto mehr Segen wird von ihr her strömen, je bereitwilliger sich unsere Herzen ihr öffnen, desto herrlicher wird ihr Reich zu uns kommen, desto gewisser und bleibender wird bei uns einkehren der König der Ehren, welcher gelobt sei in Ewigkeit.

Amen.

Johannes und Jesus. IV.

Advent.

Text: Matth. 3, 11. 12. Ich taufe euch mit Wasser zur Buße; der aber nach mir kommt, ist stärker denn ich, dem ich auch nicht genug­ sam bin, seine Schuhe zu tragen; der wird euch mit dem heiligen Geiste und mit Feuer taufen. Und er hat seine Worfschaufel in seiner Hand; er wird seine Tenne fegen und den Weizen in seine Scheune sammeln; aber die Spreu wird er verbrennen mit ewigem Feuer. 9(uch in unserer letzten Adventsbetrachtung wollen wir uns an den Vorgänger des Herrn, an Johannes den Täufer halten. Der ver­ lesene Text' enthält eben das Letzte seiner Reden, wie sie ihrem Inhalt nach und in zusammenfassender Kürze von Matthäus uns aufbewahrt sind. In diesem letzten Theile spricht sich Johannes über seine eigene Person im Verhältniß zum Erlöser aus und stellt weiter fortschreitend die Wirksamkeit des nach ihm kommenden Heilandes in weissagender Rede dar. „Johannes und Jesus" dürfen wir deshalb den In­ halt des Textes näher bezeichnen und denken jetzt diesem Inhalt nach den beiden angegebenen Seiten weiter nach. Gott schenke uns dazu Lieder: Nr. 120.

Nr. 147, 4.

Thomas, Glaube an Christus.

3

34 das Licht seines Geistes, damit wir auch heut aus seinem Wort den Segen seiner Gnade nehmen. I.

Der Täufer spricht hier von sich selbst, daß er mit Wasser

taufe, und daß er nicht genugsam, nicht werth sei, dem Kommenden die Schuhe nachzutragen, d. h. sein Diener zu sein. ist ein köstliches Ding,

Christenthums, wie alles menschlich Guten. Thätigkeit,

Demuth, Geliebte,

Demuth ist die nothwendige Grundlage des Das Beste menschlicher

wenn es der Demuth entbehrte,

würde znm Schlechten.

Aber eben deshalb kann die Demuth auch nicht ohne volle Wahrhaftig­ keit bestehen.

Demuth ist Selbsterniedrigung, aber nur so weit, als

diese mit der Wahrheit im Einklang, als sie in der Wahrheit begründet ist.

Eine falsche, lügenhafte Selbsterniedrigung ist nicht mehr Demuth,

sondern knechtisches Wesen, Kriecherei.

Wenn nun Johannes, der grö-

ßeste aller alttestamentlichen Propheten, von sich sagt, er sei nicht ein­ mal werth, des Heilandes geringster Diener zu sein, ihm die Schuhe nachzutragen, thut er da nicht in der Selbsterniedrigung zu viel, fällt er da nicht aus der rechten Demuth heraus, in den niedrigen Knechtes­ sinn hinein? neinen lassen.

Eine genauere Untersuchung wird uns diese Frage ver­ Von Johannes heißt es, Gott habe ihn vom Mutter­

leib her mit dem heiligen Geist erfüllen wollen und das scheint uns gewiß aus der Wahrheit geredet zu fein. er von sich selbst:

Im Gegensatz dazu bezeugt

„Ich taufe mit Wasser," das will sagen, ich taufe

und kann nicht taufen mit dem heiligen Geist, kann ihn und das aus demselben hervorgehende Leben nicht mittheilen. nicht?

Weshalb kann er das

Offenbar, weil er selbst den heiligen Geist nicht hat.

einigen wir diesen scheinbaren Widerspruch?

Wie ver­

Sicherlich giebt sich uns

die Person des Täufers als eine solche, welche unter dem beständigen Einfluß der göttlichen Gnade und Heiligkeit steht und deren Thätigkeit aus einer fortwährenden Einwirkung des heiligen Geistes mit hervor­ geht.

Aber das können wir auch bei ihm nur in einer Weise anneh­

men,

wie bei den alttestamentlichen Frommen überhaupt.

In ihre

sehnenden Seelen wirft der heilige Geist die Strahlen seines Lichtes hinein, regt sie an und treibt sie durch Erweckung der Kraft zu höherer Thätigkeit; aber er kommt nicht, um in ihnen zu wohnen, um in ihrem

35 Innern die beständige Quelle des neuen Lebens zu werden.

So wirkt

auch auf den Johannes der heilige Geist mit seinem Licht und mit seiner Kraft; aber er wohnt nicht in ihm, ist nicht der bleibende Grund eines neuen, ursprünglichen Lebens in ihm geworden.

Warum aber,

fragen wir, begnadigte der Gott der Liebe den Täufer nicht auch bis auf diese Stufe?

Es giebt keine andere Antwort als die, daß das Wesen

des alten Menschen, die ungetilgte Sündigkeit, welche auch dem Jo­ hannes noch anklebte, für ihn das Hinderniß eines Einwohnens des heiligen Geistes, einer völligen, seligen Gottesgemeinschaft war und blieb.

Also auch Johannes trotz seiner Größe noch ein sündiger Mensch

und weil er ein solcher Noch war, darum konnte und mußte er der Wahrheit gemäß sich dahin aussprechen, daß er nicht werth sei, des Kommenden letzter Diener zu sein.

Sehet, es wird auf Erden so viel­

fach über die Verhältnisse des Dienens geklagt, sowohl von Seite der Dienenden, wie von Seite der Leitenden. Dienen an und für sich liegen.

Das kann aber nicht im

Wer ist mehr zum mannichfachsten,

gegenseitige« Dienen und Sichdienenlassen berufen als Mann und Frau im ehelichen Bunde?

Steht es aber sonst zwischen ihnen, wie es soll,

so werden sie nie darüber klagen; sondern sie schöpfen gerade aus die­ sem gegenseitigen Dienstverhältnisse ihre süßesten und ihre edelsten Freu­ den.

Nicht also in den Verhältnissen des Dienens an sich, sondern

in dem,

was die Menschen hineinbringen,

kann

kann ein vernünftiger Grund der Klage liegen.

etwas Schlimmes,

Dieses Schlimme ist

nichts Anderes als die Sünde in ihren mannichfachen Erscheinungen. Ist ein Grund, über die Leitenden zu klagen, so nur deshalb, weil in ihnen das Böse noch irgendwie eine Macht ist.

Umgekehrt sind dann

die Dienenden ihren Leitern zum Schmerz, wenn sie der Sünde Raum geben.

Ist nun der Heiland der Sündenlose, der Heilige Gottes, an

welchem der Vater ein ungetrübtes Wohlgefallen hat; verdient er es dann, Diener zu finden, bereiten?

die ihm mit ihrer Sünde Last und Leid

Können solche, die noch das Bewußtsein der Sünde und

Schuld in sich tragen, sich zu ihm drängen und sprechen:

Ich bin es

werth, dir diese und jene Dienste zu leisten und als dein Diener deine Haus- und Lebensgemeinschaft zu theilen?

Deshalb, wenn Johannes

3*

36 sich noch als ein sündiger Mensch fühlte; so war es nicht nur volle Demuth, sondern auch tiefste Wahrheit, vermöge welcher er sprach: Ich bin nicht werth, seine Schuhe ihm nachzutragen.

Ruft uns nun,

Geliebte, wie es täglich geschieht, der Herr in seinen Dienst, wir wollen gehen, wohin er sendet, wollen thun, was er gebietet.

Aber Gott be­

hüte uns, daß wir nicht wähnen, als thäten wir damit etwas Sonder­ liches, als könnten wir ihm, dem Herrn, damit etwas Großes gewähren. Gott gebe und erhalte uns das klare Auge, daß wir auch in Betreff unsrer es behalten: Wir sind nicht werth, ihm seine Schuhe zu tragen. Dann werden wir um so mehr die unverdiente Gnade fühlen und preisen, welche uns ohne unser Verdienst und Würdigkeit zu ihren Werkzeugen erwählte. Johannes sagt ferner von sich:

Ich taufe mit Wasser zur Buße,

also nicht mit Feuer und mit dem heiligen Geist.

Daraus folgt, daß

er gewissermaßen auch nicht anders als mit Wasser getauft ist.

Wenn

nämlich Johannes auch nicht außerhalb des göttlichen Lichtes und der göttlichen Gnade steht; so ist er doch, da er den Erlöser noch nicht hat und die Versöhnung noch nicht besitzt, rein unter dem Gesetz und von diesem Standpunkt aus blickt er gleich dem Moses nur wie aus der Ferne in das künftige, verheißene Land der erlösenden Liebe.

Unter

dem Gesetz sein heißt aber mehr oder weniger auf eigene Füße gestellt, auf die eigene Kraft angewiesen sein.

Es ist das dieselbe Stellung,

welche auch viele im Christenthum einnehmen wollen, und zwar sind es nicht die Schlechtesten, sondern vielfach ernste, sehr achtungswerthe Geister.

Die

göttliche Offenbarung leuchtet ihnen allein als Gesetz.

Selbst Christus wird von ihnen allein als ihr hohes Vor- und Muster­ bild betrachtet.

Diesem Lichte des Gesetzes, diesem Vorbilde gegenüber

halten sie sich für berufen und für befähigt, aus eigener Kraft, aus selbsteigener Anstrengung ihres Lebens heilige Aufgaben zu lösen.

Aber

wie Johannes spricht, so findet dasselbe Wort bei ihnen seine Stätte: „Ich taufe mit Wasser zur Buße," — nicht weiter. Siehe das Wasser reinigt wohl, aber nur von außen her, soll das Innere rein werden, so bedarf es der Ausschmelzung wie durch's Feuer.

Auf dem Stand­

punkt und in dem Lichte des Gesetzes wird durch das eigene sittliche

37 Streben und Ringen auch wohl eine gewisse Reinigung erreicht, es weichen wohl manche Flecken schlimmer Gewohnheiten, es wird der äußere Wandel vor einem zuchtlosen Wesen bewahrt, eine gewisse Recht­ lichkeit wird wie ein anständiges Kleid angelegt. Allen nicht sein Werth abgesprochen werden.

Gewiß soll auch dem

Aber die wahre, gründ­

liche Umwandlung des Innern wird aus diesem Wege nicht erlangt. Saulus der strengste Pharisäer wird mit allem Gesetzeseifer kein Paulus, Kornelius mit allem Gebet

und Almosen kein beseligtes Gotteskind.

Eins fehlt dir noch, lautet es da immer wieder, nämlich die Erlösung von der Selbst- oder Ichsucht, welche auch bei dem äußerlich besten Leben sich noch erhält.

Da kann denn dieser Reinigung Letztes auch

nicht die rechte Gesetzeserfüllung, die Liebe, die volle Hingabe an die Gottheit sein.

„Ich taufe zur Buße," — das Bewußtsein, dem alten

Leben noch nicht entstiegen und entwachsen zu sein, das Gefühl der Erlösungsbedürftigkeit, die Sehnsucht nach der erlösenden Gnade, das bleibt auf diesem Standpunkt das Höchste.

Das aber ist gerade die

rechte Vorbereitung zu der Einkehr des Herrn in die Seele.

Wolle

eS uns denn Johannes von Neuem sagen, daß er nur mit Wasser zur Buße tauft, daß man unter dem Gesetz und durch das Gesetz mit eigener Kraft nicht zur wahren, inneren Heiligung und Beseligung hin­ durchdringt, auf daß wir mit neuer, verstärkter Sehnsucht den wieder bei und in uns aufnehmen, welcher auch in uns allein die Weissagung der Gnade erfüllt.

n.

Das Zeugniß des Johannes über den Kommenden faßt ein

Dreifaches zusammen.

Er ist stärker, spricht er, denn ich, erlauft

mit dem heiligen Geist und mit Feuer, er hat die Worfschaufel zur Sichtung in seiner Hand. ist stärker denn Johannes.

Zuerst der Kommende

Der Heiland selbst aber sagte, Johannes

sei nicht wie ein Rohr, das der Wind hin und her wehet, unter allen, die von Weibern geboren sind, sei keiner größer als der Täufer.

So

ist demnach von dem Heiland hier gesagt, daß er stärker sei als alle Starken der Erde.

Es hat vor und nach dem Herrn gegeben, welche

wir als Starke, als Helden in geistiger Beziehung bewundern, sowohl wenn wir das Festhalten an einmal gefaßten Entschlüssen, als auch

38 wenn wir das Erreichte und Gewirkte ansehen. dem Johannes weissagt, stärker denn alle?

Warum ist der, von

Geliebte, alle diejenigen,

welche als Kämpfer auf geistigem Gebiet aufgetreten sind, alle Streiter gegen irgend welche böse Mächte, — sie haben nicht nur ihre schwachen Stunden gehabt, sondern haben auch irgendwie im Kampfe so gelitten, daß das Böse, welches sie bekämpften, irgendwie in etwas in.sie ein­ drang, irgendwie einen Einfluß auf sie gewann, daß sie, wo sie Herren des widerstrebenden Bösen wurden, ihnen dies selbst Hülfe ward, d. h. daß sie gute Zwecke nicht durch ganz reine Mittel, durch ganz reines Thun erreichten, daß sie eben deshalb auch als Sieger noch theilweise unterlagen.

Darin aber bestand die alle überragende Stärke Jesu,

daß, wie er später es selber ausdrückte, der Fürst dieser Welt nichts, auch gar nichts an ihm hatte.

Seiner Hingebung an Gott ist die

Welt mit allen ihren zerstreuenden Einflüssen, mit ihren Reizen und Drohungen, mit ihren Freuden und ihrem Leid, mit allen lebendigen Bildern der Hoffnung und der Befürchtung entgegengetreten; aber weit davon entfernt, ihn aus seiner Gotteinheit und Gottinnigkeit heraus­ zureißen, ist vielmehr von ihm auch den Seinen die Kraft des Glau­ bens mitgetheilt, in welcher auch sie die Welt überwinden.

An seiner

überschwänglichen Liebe hat sich die Welt mit ihrem Haß, mit dem Gift ihrer Wuth gleichsam erschöpft, hat alles, was sie nach dieser Seite vermochte, über ihn ausgeschüttet, aber nicht um eines Haares Breite hat sie ihn auf den Pfad des Hasses und der Rache zu ziehen vermocht, hat nichts ihm einflößen können, was die Reinheit, Innig­ keit und Kraft seiner Liebe gemindert hätte, hat ihn mit ihrem Thun nur dahin geführt, daß er den ganzen Reichthum seiner Liebe im Thun und Leiden entfalten konnte, so daß sich seitdem an seiner Liebe auch die der Seinen entzündet und nährt.

Das ist es, wodurch sich die

Weissagung, daß er stärker sei als jede menschliche Größe, in ihrer Wahrheit bewährt. Als dieser Starke, der das Böse völlig mit Gutem überwindet, als dieser heilige vollendete Mensch ist er sodann es auch, der mit Feuer und mit dem heiligen Geist taufet.

Die Wirkung des heiligen

Geistes ruht vornehmlich in dem innern Zeugniß, daß man Versöhnung

39 gefunden hat, daß man in die Gemeinschaft mit Gott wieder aufge­ nommen, daß man ein Gotteskind geworden ist.

Der heilige Geist

solches wirkend kann nur die Gottheit selber sein, aber die Gottheit, wie sie nicht fern von der Menschheit, wie sie mit ihr und in ihr ist. Wo aber könnte in dem Bereich der Menschheit der Punkt sein, auf welchem die Gottheit in ihrer heiligen Liebe wirksam gegenwärtig zu sein, von dem ans sie ihre Gaben und Gnaden mitzutheilen vermöchte? Nur da, wo die Menschheit die reine und heilige, wo sie in Kraft ihrer Heiligkeit auch stark ist, das Böse zu überwinden.

Nur im reinen,

heiligen Menschen kann die Gottheit wohnen, nur aus fernem- Munde ihr großes Wort sprechen:

Sei getrost, deine Sünden sind dir ver­

geben, nur in ihm wieder aufnehmen in das rechte Kindesverhältniß, nur von ihm aus sich mittheilen, also taufen mit dem heiligen Geist. — Diese Geistestanse ist zugleich die Taufe mit Feuer.

Ist die thätige

Feindesliebe in menschlichen Verbindungen schon dasjenige, was feurige Kohlen auf das Haupt des Feindes sammelt, d. h., welche diesen zur Erkenntniß seiner Schuld führt; so wird die Erfahrung von der Liebe Gottes in Christo, von der Begnadigung in und durch den heiligen Geist noch vielmehr zu einer heiligen, mächtigen Gluth in der Seele, welche das selbstische, ungöttliche Wesen ausschmilzt, welche in heiliger Schaam alle Niedrigkeit und Gemeinheit der Gesinnung verzehrt, welche an der innern Reinigung fortarbeitet und damit im Gemüth der Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit und der lauteren Liebe Raum verschafft. Das Dritte endlich, was Johannes weissagend von Jesu spricht, ist, daß er seine Tenne fegen, mit der Wurfschaufel Weizen und Spreu von einander sondern, jenen in seine Scheunen sammeln, diese mit unauslöschlichem Feuer verbrennen werde.

Gewöhnlich wird das von

jener Thätigkeit des Herrn verstanden, in welcher er von den From­ men die Gottlosen sondert und über diese den Spruch seines Gerichtes fällt.

Damit würde aber eigentlich dasselbe wiederholt, was er kurz

vorher unter dem Bilde der Axt, welche den Bäumen schon an die Wurzeln gelegt sei, ausgesprochen hatte. holung dürfen

wir dem

Johannes

nicht

Eine solche müßige Wieder­ wohl

aufbürden.

Aller­

dings ist auch hier von einer sichtenden und damit auch von einer

40 richtenden Thätigkeit des kommenden Messias die Rede; aber in einem anderen Sinn, nach einer anderen Seite hin.

Sehen wir die einzelnen

Ausdrücke genauer an, dann werden wir den Sinn dieser Rede klarer auffassen.

Die Tenne bezeichnet doch unwidersprechlich die bereitete

Stätte der Wirksamkeit, der Arbeit.

Welches war denn die für den

Herrn bereitete Stätte- seines Wirkens?

Das waren Israels gottes­

dienstliche Ordnungen, Alles was in Lehre und Verfassung der An­ betung Gottes zu dienen bestimmt war.

Auf dieser Stätte also sollte

der Erlöser Spreu und Weizen von einander sondern. hier die Spreu darstellen?

Was kann nun

Das Wort des Grundtextes bezeichnet das­

jenige, was nach dem Ausdreschen "und Aussondern der Körner von Stroh und Aehren zurückbleibt.

Nun dieses Stroh, diese Halme haben

früher die Aehre und damit auch die Körner getragen, die Aehre hin­ wiederum hat die Körner ihrer Zeit schützend umhüllt.

Danach ist hier

die Spreu, danach sind die früheren Halme und Aehren Alles, was in Israels Ordnung, Verfassung und Lehre den Gehalt ewiger Wahr­ heit als Form umschlossen, gehalten und getragen hat, der Weizen da­ gegen ist dieser ewige Wahrheitsgehalt selbst, Spreu sind die mensch­ lichen Formen und Formeln der Lehre und Ordnung, Weizen ist der eigentliche Inhalt der göttlichen Offenbarung.

Wie für den sich bil­

denden Weizen in der Natur Halm und Aehre nöthig sind, so war für die sich herausbildende Offenbarung einst die Form in mannichfachen Satzungen, der volksthümliche mit dem Charakter seiner Zeit gefärbte Ausdruck der Lehre nothwendig.

Wie aber nach erlangter Reife

der Weizen, soll er die kräftige Nahrung geben oder neue Frucht er­ zeugen, ausgedroschen und gesondert werden muß, daß Halm und Aehre als Spreu zurückbleibt; so schlägt auch die Stunde, wo auf dem Ge­ biet des gottesdienstlichen Lebens die Sonderung der Form und des Inhalts, der göttlichen Offenbarung nothwendig gefordert wird, wenn der ewige Inhalt seine nährenden und befruchtenden Wirkungen auf die Gemüther ausüben soll.

Diese Stunde schlug, diese Zeit erfüllte

sich, das ist die Weissagung des Johannes, mit dem Kommen des Er­ lösers, und nur er konnte diese Sonderung vollziehen.

Das hat denn

auch in Wahrheit zu der Thätigkeit Jesu wesentlich gehört.

Er hat,

41 was in den Gesetzen Israels der ewige heilige Gotteswille war, her­ ausgestellt sowohl mittelst seiner Lehre, als noch mehr durch sein ganzes Leben. gab,

Wie er den ewigen Wahrheitsgehalt als Geist und Leben wieder»so

ist vor seiner sichtenden Thätigkeit eine ganze Menge von

Satzungen aufgehoben.

Er hat durch die Erscheinung seiner Person

den heiligen, ewigen Kern prophetischer Weissagung rein und vollendet herausgebildet, dagegen das Un- und Mißverständliche, was als ein Ausfluß menschlicher Schwachheit an ihr haftete, abgestreift. wir das auf uns an.

Wenden

Auch in unserer und in jeder Zeit kann der

ewige Wahrheitsgehalt göttlicher Offenbarung nicht anders als in mensch­ lichen, damit auch in mehr oder weniger unvolllommenen Formen des Lebens und LehrenS dargestellt und mitgetheilt werden.

Da liegt die

belebende und beseligende Kraft nicht in der Form; sondern im In­ halt.

Groß aber ist stets unter den Menschen die Neigung gewesen,

sich ängstlich, ja oft krampfhaft an die Form zu halten, so sehr, daß man darüber den eigentlichen Inhalt übersieht und in den Hintergrund stellt, ja daß man sich damit den Inhalt selbst gleichsam in Spreu, wenigstens in tauben, marklosen Weizen umwandelt.

Geliebte, da

wird einem das lebendige Brod des Himmels zum Stein der Wüste, dabei muß der innere Mensch verkommen und verderben.

Hier kommt

eS darauf an, daß wir uns davor schützen und daß wir bei der nö­ thigen Sonderung von Spreu und Weizen, von Inhalt und Form nicht fehl greifen. führenden Weg?

Wo haben wir den sichernden Schutz, wo den sicher Es gilt auch

Wurfschaufel in seiner Hand.

heute noch:

Christus allein hat die

An ihn, an seine heilige Person, wie

er in seinem Worte sich uns giebt, lasset uns sorgsam und treulich halten.

Eben seine Persönlichkeit, sein heiliges Thun, sein Leiden aus

und in der Liebe, sein Leben und Sterben deutet uns allein klar und sicher den ewigen Inhalt göttlicher Offenbarung, sichert uns allein, daß wir nicht als Formselige des ewigen Lebensbrodek verlustig gehen, daß wir den Weizen, den Gottes Gnade uns bietet, mit Danksagung nehmen und nicht an der Spreu uns halten, die doch immer wieder im Fmer des Gerichtes verzehrt werden muß. Christus Alles in Allem.

Amen.

Auch hier unser Schluß:

Jesus

Die Hoheit des uns gebornen Erlösers. I.

Weihnacht.

Text: Johannes 1, 14. Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. beliebte im Herrn, die Geburt unseres Erlösers sammelt uns heut in andächtiger Betrachtung als seine Gemeine vor Gottes Angesicht. Es ist natürlich, daß es uns da ist, als strahle vom Himmel her ein Licht, vor dem die hellsten Strahlen unserer Sonne erbleichen, als töne Himmelsgesang höherer Wesen, um uns die Thatsache zu verkün­ den, die zu beschreiben kein menschlicher Mund würdig ist, es ist natür­ lich, daß das besonders Wunderbare, welches die ersten Capitel unseres ersten und dritten Evangelii im Einzelnen über die Vorgänge vor, bei und nach der Geburt Christi uns bringen, uns als besonders entspre­ chend dem bedeutungsreichsten Ereigniß der Geschichte erscheint, zugleich auch als die erste, nothwendige Grundlage evangelischer Verkündigung. Und doch, als er selbst auftritt, auf's Weiteste ist er entfernt, irgend etwas dieser wunderbaren Begebenheiten für den Glauben, zu der Be­ gründung desselben, geltend zu machen.

Lieder: Nr. 121.

Nr. 158, 6. 7.

Als der Mann aus dem dun-

43 kelen Nazareth,

als der Zimmermann, des schlichten ZimmermannS

Sohn, als der einfache Lehrer derer, die ihn hören wollen, kam er ■— nichts von dem Glanz, nichts von Wundern seiner Geburt und Kind­ heit, nichts über seine Abstammung macht er geltend.

Sein Wort des

Lebens, sein Leben der Heiligkeit, sein überwindendes Leiden der Liebe, — das, nur das allein ist es, worauf er sich stützend spricht: Kommet und sehet!

Und wie er nur aus dem Anschauen seines Lebens und

seiner Persönlichkeit bei den ersten Jüngern den Glauben sich ent­ wickeln ließ, so bestimmte er seine Jünger auch nur als Zeugen seines öffentlichen Lebens von seiner Taufe an bis dahin, wo er sichtbar von ihnen geschieden war.

Von ihm stammt keine Nachricht über seine Kind­

heitsgeschichte und genug Grund ist vorhanden, daß auch seine Mutter, wie während seines Lebens, so nach seinem Heimgang keine Kunde dar­ über gegeben hat.

Eine sinnbildlich geschichtliche Einkleidung tief christ­

licher Wahrheit werden wir in diesen Erzählungen des Matthäus und Lukas haben, immer tief ansprechend, wenn wir sie von dieser Seite auffassen, zur Schaale ohne Kern werdend, wenn wir meinen, sie ent­ hülle uns in Einzelheiten die geschichtlichen Vorgänge der geheimnißvoll wirkenden, schöpferischen Liebe Gottes.

Darum die Hauptapostel Jo­

hannes, Petrus, Paulus, sie bringen das ganze, volle Evangelium, ohne dieser Einlleidung in Betreff der Geburt Jesu zu bedürfen.

Und doch

spricht sich Johannes darüber aus, aber es ist das Aussprechen nicht dessen, was ihm berichtet war, sondern dessen,

was er von seinem

Glauben aus als nothwendiges Licht über den ganzen Gehalt des ein­ zigen Lebens Jesu gewonnen hat, was der Glaube, den das bekannte Leben und Sterben Christi wirkt, durch alle Zeitalter hindurch immer wieder als eignes gewinnt.

In dem kurzen Wort unseres Textes ist

das Alles zusammengefaßt und es wird damit auf die Frage:

„Wer

ist uns in Jesu von Nazareth geboren?" treffend geantwortet: Zweierlei dürfen wir aus dem Gesagten über die Person des Erlösers hervorheben: einmal seine Hoheit und sodann seine Leutseligkeit.

Während ich die

zweite Seite unserer morgenden Festbetrachtung vorzubehalten gedenke, folget mir heut im Nachdenken über die Hoheit Christi, wie unser Text «ns dazu leitet.

44 I.

Johannes der erste mtb mannichfach ausgezeichnete Jünger

des Herrn, der beim letzten Mahle der Liebe an Jesu Busen lag, dem vom Kreuz herab der Erlöser die eigene Mutter zur kindlichen Für­ sorge an's Herz -legte, von dem der Herr vor den übrigen Jüngern gesprochen, daß er bleiben solle, bis daß er komme, daß er gleichsam den Abschluß und die Krone des schönen apostolischen Zeitalters bilde, ■— et mußte durch sein ganzes Wesen Veranlassung und Grund geben, daß ihn der Erlöser so auszeichnete.

Fragen wir nach dem Grunde,

so werden wir nur den finden, daß er wie kein anderer die Worte des ewigen Lebens, wie sie aus Jesu Munde strömten, in ihrer ganzen Tiefe in sich aufgenommen, daß er wie kein anderer durch die Hülle der leiblichen Erscheinung hindurchschauend, das Wesen Jesu erkannt hatte, daß er wie kein anderer dasselbe sich aneignend aus dem Donners­ kinde in ein so recht eigentliches Kind Gottes, in ein Kind der ewigen Liebe umgewandelt war.

Aus seiner Anschauung und Aneignung Christi

ist der Ausspruch geflossen:

„Das Wort ward Fleisch," so nur

schien ihm das Wesen Christi

erklärlich.

Was will der geheimniß­

volle Ausdruck Wort sagen? der Ausdruck,

der in engste Verbin­

dung mit der Gottheit und ihrem Wesen gesetzt ist? möglich sei unsere Deutung.

So einfach wie

Dein eigentliches Wesen, die Gesinnung,

trägst du in Dir, das ist, wie man sagt, dein inwendiger Mensch. Niemand vermag dir ohne dein Zuthun in die Seele zu schauen, zu ergründen dein Empfinden, Denken und Wollen, du bist in dir ver­ borgen.

Aber dein Wesen ist angelegt auf Gemeinschaft, auf Leben in

der Gemeinschaft, auf Liebenehmen und Liebegeben und da ist ja vor Allem nothwendig, daß du aus dir heraustrittst, daß du irgendwie die Gestalt deines inneren Wesens ausschließest und den Mitmenschen zeigst. Wohl mögen Mienen und Geberden, Thun und Lassen Mittel dafür sein, aber sehr unzulängliche.

Das eigentliche Mittel, dich den Neben­

menschen zu offenbaren, dich darin ihnen gewissermaßen zu geben, ist dir im Wort gewährt.

So weit Wahrheit in dir ist, ist die Summe

deiner Worte die Verkündung deines Empfindens und Wollens, deines Denkens und Strebens. dein Sein und Leben,

Ist Wahrheit in dir, in deinem Wort tritt trittst du selbst an's Licht der Offenbarung.

45

Wenden wir es an auf Gott. Von ihm gilt es erst recht, daß er in einem Lichte wohnt, dahin niemand kommen kann, daß er für das Ge­ schöpf, auch für das vernunftbegabte der Unerreichbare, Unerforschliche, Unbegreifliche ist. Aber wie es der ganze Weltgang bezeugt, in feinem innersten Wesen ist es begründet, daß er sich an seine Geschöpfe mit­ theilt, so weit sie's zu fassen und sich anzueignen fähig sind; darum in seinem innersten Wesen ist es begründet, daß er aus seiner unerforschlichen und unergründlichen Tiefe gleichsam heraustritt, daß er in seiner Herablassung sich selbst ausschließt, sich seiner vernünftigen Creatur offenbart. Die Summe seiner Offenbarungen, dürfen wir sie nicht sein Wort nennen? Und weiter, der Mensch und seine Offenbarung, die lassen sich bis auf einen gewissen Punkt von einander lösen, nicht so der vollkommene Gott, Er ist in seiner Offenbarung nothwendig uud wesentlich, wie ihm es wesentlich ist von Ewigkeit her aus seiner un­ endlichen Tiefe, sich selbst offenbarend, herauszutreten. Darum spricht Johannes vorher von dem Einssein Gottes und des Wortes von An­ fang an, d. h. von Ewigkeit her. Das Wort ist die Ausstrahlung Gottes, ist Gott inseiner Offenbarung. Es (das Wort), wie der Jünger sagt, ist von Anfang in der Schöpfung, strömt das Leben von sich aus und in dem ausströmenden Leben war und ist es das Licht der Menschen. So als Licht hat es von jeher in die Finsterniß ge­ schienen, in die dem Göttlichen so mannigfach abgewandten Menschen­ herzen, aber die Finsterniß hat das Licht, hat das Wort nicht begriffen. Auch da wo von dem Licht des göttlichen Wortes angestrahlt unter den Völkern sich hervorragende Denker erheben und auf das Eine und den Einen deuten, auch da, wo in Israel in 'besonderer Weise durch Gesetz und Verheißung mächtige Lichtstrahlen des Wortes in hohe prophetische Männer dringen und zu köstlichen Zeugnissen erhebender Hoffnung begeistern; ein großer Rest der Dunkelheit bleibt selbst in ihren Herzen, vermöge deren auch sie immer wieder seufzen, daß die Nacht noch nicht hin sei, vermöge deren auch auf sie das Wort noch immer Anwendung findet: Die Finsterniß hat das Licht des Lebens, hat das ewige Wort nicht begriffen, nicht in seiner ganzen Klarheit und seiner ganzen Fülle in sich aufgenommen. Nun steht vor Johannes entzückter Seele Jesus,

46 wie er ihn in seinem Leben geschaut hatte, steht vor uns, wie er auch unS durch sein Leben sich bezeugt hat und Johannes und wir mit ihm rufen anbetend:

Das Wort das Leben gebende scheinet nicht mehr blos

in die Finsterniß, die eS doch nicht begreift, sondern: Das Wort ward Fleisch, trat ein in die Hülle des Menschen, des Menschensohnes.

Die

Himmel erzählen die Ehre Gottes und die Veste verkündigt seiner Hände Werk*), denn an den Werken, an der Schöpfung der Welt wird er­ sehen die ewige Kraft und Gottheit**).

Ja als Kraft, als allerzeu­

gende wird die Gottheit ersehen, aber das eigentliche Wesen und Leben der Gottheit schließt sich nicht auf im ganzen Gebiet der natürlichen Schöpfung.

Des Menschen Herz mit dem in dasselbe

geschriebenen

Gesetzeswerk, das Gewissen in der Vernunft, die Vernunft im Gewissen, zeugt vom Gesetzgeber,

von seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit;

aber

dies Zeugniß, nach dem über die Menschheit das Todesurtheil gespro­ chen wird, es kann die Tiefen der Gottheit nicht erschlossen haben und nicht erschließen.

Das, was Gott allein als einen Gott der Todten

erscheinen ließe, kann ihn nicht offenbaren.

Erst aus Jesu heraus,

wie er Schöpfer eines neuen, seligen, ewigen Lebens ist, spricht zu uns die Fülle der Gottheit, leuchtet sie als das ewige Licht der Welt.

Was

die tiefsten Denker und Forscher der Menschheit über das Eine und den Einen in der vorchristlichen Zeit uns brachten,

es

ist nur ein

schwaches Ringen hin nach der Fülle des Lichtes, die in ihm erst auf­ gegangen ist.

Was die tiefsten Forscher in der christlichen Zeit uns

als Ergebnisse ihres Denkens über das Höchste und Letzte bringen, es sind mittelbar oder unmittelbar entlehnte Strahlen seines Lichtes.

Wo

aber die Männer der Wissenschaft ohne irgend eine Verbindung mit ihm die Bahnen des Forschens durchschreiten, wo sie ihn von sich sto­ ßen, da, mit all' ihrem Wissen werden sie des Lebens Pfade und der Gottheit Wesen nicht erhellen, sondern wieder verdunkeln, werden sie immer von Neuem in die Nacht des Zweifels und der Gedankenver­ wirrung verführen.

Was aber der Verstand der Verständigen ohne

chn über das Wesen der Gottheit nimmer ergründet, das nimmt das

*) Psalm 19, 1. **) Römer 1, 20.

47

kindliche Gemüth, welches zu ihm aufschaut, in sein Leben und Wesen hinein. Die Sonne der vollen Gottesoffenbarung geht fortwährend in ihm von Neuem uns auf, in ihm ist es Tag geworden: Das ist seine Hoheit und Herrlichkeit daß wir von seinem Eintreten in die Mensch­ heit sagen dürfen: „Das Wort ward Fleisch." II. Seine Hoheit und Herrlichkeit —■ der Text schildert diese weiter mit der Bezeichnung „der eingeborne Sohn vom Vater." Ja wie er der rechte Gottesoffenbarer ist, so muß er auch wohl in einem ganz einzigen, wenn ich so sagen darf, sittlichen Verhältniß zu Gott, zum Vater stehen. Wie wir Menschen auch zu Kindern Gottes bestimmt sind, so ist ja diese Bestimmung bei uns durch Verirrung und Versündigung in volle Nacht gestellt, so ist von dem Bewußtsein der Schuld der Friede und die Freude der Gotteskindschaft aufgehoben, so findet zwischen uns und Gott eine entschiedene Trennung und Schei­ dung statt. Er (Christus), ist uns freilich gleich geworden in allen Dingen, aber in Einem nicht, nicht in der Sünde. Er ist auch als der Versuchte stets als der Heilige bewährt und nur als der Reine und Heilige konnte er das menschliche Gefäß sein, welches die Fülle der Gottheit, die Fülle der göttlichen Offenbarung in sich barg, nur so eben war er damit der Sohn Gottes wie kein anderes Menschenkind, der eingeborne Sohn vom Vater, angethan mit dieser eigenthümlichen Würde und Hoheit. Freilich spricht der Apostel zu den Christen, und wir nehmen mit so großer Freude das Wort in Anspruch: „Ihr seid alle Gottes Kinder *)," und scheint damit die Erlösten auf eine Linie mit dem Erlöser zu stellen. Aber vergessen wir nicht, er setzt hinzu: „durch den Glauben an Christum Jesum." Das Recht, das Wesen dieser Kindschaft, es ist bei uns ein abgeleitetes, ein gegebenes, in Christo ein ureigenthümliches, ein ursprüngliches. Unsere Kindschaftsfreudigkeit und unser Kindschaftsrecht an Gott, es ist ja eigentlich nur das Sein und Leben Christi in uns, wie er es ausdrückt durch sein Gleichniß von dem Weinstock und den Reben. Bilden wir als Glieder den heiligen Leib, er ist und bleibt das über uns thronende, weil in uns regierende *) Galater 3, 26.

48 und uns belebende Haupt.

Darin liegt's, daß wie sich die Christen

ihres Kindesrechtes getrosten, doch keiner unter ihnen, auch kein Apostel als der gleiche Sohn sich neben den Sohn Gottes in Ebenbürtigkeit zu stellen wagt.

Darum wird er der Eingeborne genannt, die Erlösten

die Kinder, worin zugleich der Sinn liegt, daß er als der Mündige, als der in des Vaters Sinn vollständig Hineingetauchte, mit des Vaters Geist und Leben ganz Erfüllte, mit vollster Freiheit in des Vaters Hause waltet, daß ihm darin gegeben ist alle Gewalt, daß er nie die königliche Natur des hochgebornen, einigen Königssohnes zu verläugnen vermag.

Darin liegt, daß wir als die in GotteS Liebe Hineingerückten

doch noch immer die Unmündigen sind, durch den Sohn des Vaters geleitet, genährt, durch den Sohn des Vaters allein geworden zu Gottes Kindern und Gottes Kinder nur bleibend, wenn wir im Sohn bleiben, wenn wir fortwährend von ihm nehmen Kindesrecht und Kindesfreudig­ keit.

Das ist die Hoheit, die aus seinem ganzen Leben strahlte, daß

er wußte, wie die Engel Gottes von ihm zum Vater, vom Vater zu ihm beständig hinauf und hinab stiegen, oder daß die innigste, engste Verbindung zwischen ihm und dem Vater walte, daß er stets sei im Himmel, in des Vaters Schooß, daß ihn der Vater stets höre und er­ höre, ja auch den Seinen alle Gebete erhöre, die sie vor Gott in sei­ nem Namen bringen, daß er, der stets vom Vater Ausgegangene auch stets zum Vater komme.

Da ist die Liebe in ihrer unendlichen Voll­

kommenheit, die Liebe des Vaters sich ihrem ganzen Umfange nach ergießend in den heiligen Sohn, die Liebe des Sohnes, Allem genü­ gend und alle Gerechtigkeit erfüllend, hinaufsteigend zum Vater.

Das

ist diese einzige Verbindung, daß der Vater alle seine Heilspläne in der Menschheit nur durch den Sohn zur Vollendung führt, daß er, der Sohn, nichts thut, als des Vaters Reich in der Menschheit ausrichtet und ausbreitet.

Der ist uns geboren, der, ob er gleich wie wir ein

armer Mensch geworden, doch ewig in dem Licht erhabenster Hoheit leuchtet, als der eingeborne Sohn vom Vater. ID.

Den Inhalt dieser Herrlichkeit und Hoheit stellt uns end­

lich der Apostel durch das Wort „voll Gnade und Wahrheit" vor Augen.

Natürlich ist das aber schon im Vorigen begriffen, ist nur

49 nähere Erklärung des Vorigen.

Ist in Jesu das Wort Fleisch ge­

worden, GotteS Wesen in menschlicher Erscheinung abgebildet und sich mittheilend, so muß die Wahrheit auch in ihm ruhen und von ihm ausgehen, wie der erste Theil unserer Betrachtung schon hinreichend andeutete.

Was ist die Wahrheit?

Wenn du ganz anders als einst

Salomo zu sprechen verstehst von allen Pflanzen, von den Arten der Thiere und ihren Eigenthümlichkeiten, von deö Erdkörpers Beschaffen­ heit und dem waS er birgt in seinen Tiefen, von den wechselnden Er­ scheinungen an und auf ihm, von den mannichfachen Stoffen und ihren Bestandtheilen, von den glänzenden Himmelskörpern, von ihrer Gestalt, von ihren Bahnen, von der engen Beziehung derselben unter einander, von den Geschicken, den Thaten und den Erfindungen der Menschheit, kurz, wenn du die reichsten Kenntnisse der Welt, das umfassendste Wissen dir angeeignet hast, besitzest du damit und dadurch schon die Wahrheit? Dein Wissen kann wahr sein, aber für sich allein ist es noch nicht die Wahrheit.

Die Wahrheit als ewige kann sich nicht allein auf vergängliche

Dinge beziehen, sie würde selbst mit in die Vergänglichkeit versinken.

Wie

hoch wir das Wissen schätzen, es muß zuni höchsten Wissen werden, wenn es die Wahrheit sein soll.

Und dies höchste Wissen es kann

nichts Anderes sein, als das Hineinschauen des Geistes in die ewige Gottheit, das Schauen aller Dinge, vor Allem das Schauen der Mensch­ heit, ihrer Bestimmung und ihres Heiles in Gott.

Dies ewige Schauen

Gottes das ist durch Christum, in Christo gegeben, darum steht er für uns auf höchster Höhe, er ist voll Wahrheit, er ist die Wahrheit. — Gnade ist das Zweite, was als Inhalt der Herrlichkeit, der Hoheit Christi genannt wird.

Gnade ist Liebe, wie sie scheinbar Entgegen­

gesetztes in sich vereinigt.

Bei Gnade denken wir stets an Herablassung,

an Vergebung, Versöhnung, darum an Hingabe.

Aber die Gnade ist

zugleich die Liebe, wie sie sich selbst allem ungöttlichen Wesen gegen­ über bewahrt, wie stets alles ^Gemeine, alles Böse tief unter ihr liegt, wie sie, die Liebe, auch nicht ein Sonnenstäubchen des Unreinen in und an sich dulden kann.

Ja, „dieser nimmt die Sünder an und ißt

mit ihnen, wäre er ein Prophet, dann wüßte er auch, welch' ein Weib das ist, die ihn anrührt, denn sie ist eine Sünderin," dann könnte er Thomas. Glaube an Christus.

4

50 sie in seiner Nähe nicht dulden;

so und ähnlich wird er angeklagt.

Er aber malt seine Liebe, als die suchende, heilende, rettende ab in den unvergleichlich schönen Gleichnissen vom verlornen Schaf, vom verlornen Groschen, vom verlornen Sohn. hinzugeben, um sie zu gewinnen.

Seine Lust ist es, sich den Sündern Aber wie sehr er sich hingiebt, nie

giebt er der Sünde nach, nie neigt er sich dem ungöttlichen Wesen zu. Selbst dem Jünger, der einst das erste Bekenntniß des Glaubens unter den Zwölfen ihm brachte und darob selig von ihm gepriesen wurde, klang, als er ihn in die Bahnen, wie sie dem Fleisch gefallen, hinein­ ziehen wollte, sein zürnendes Wort entgegen: Hebe dich von mir, Sa­ tanas, du bist mir ärgerlich, du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist*).

Bei allem Hingeben der Liebe an die Süyder bleibt

er von den Sündern abgesondert, so daß ihn niemand einer Sünde zeihen kann, und darum, wie ein heiliger Schriftsteller sagt, höher denn der Himmel ist.

Und nur so kann er Heiland sein, nur die Liebe, die

sich in ihrer Göttlichkeit und Heiligkeit selber bewahrt, kann auch andere bewahren.

Wo die Liebe aufhört, heilig zu sein, ist es auch mit ihrer

erlösenden Wirksamkeit zu Ende.

Gnade ist Christi Liebe, stets in der

Heiligkeit Schranken sich bewegend, stets den reinen Willen Gottes als ihren Inhalt bewahrend.

So glänzt durch diese des Sohnes himm­

lische Klarheit, wir schauen in ihm die Hoheit, vor welcher alle mensch­ liche Hoheit Niedrigkeit wird.

Nur er, der hoch ist, kann die Niedrigen

erhöhen, nur er, der die Herrlichkeit Gottes gleichsam trägt auf dem menschlichen Scheitel, kann Herrlichkeit den demüthigen Herzen gewähren, nur er, der so mit dem Vater in innigster Einheit verbunden, kann mit dem Vater verbinden, kann versöhnen und erlösen.

Darum lautet

eS bei seiner Geburt: Euch ist der Heiland geboren, darum sind unsere Seelen voll Dankes und Lobes, darum soll in tiefer Anbetung unser sein und bleiben des Evangelisten tiefsinniger Ausspruch:

Das Wort

ward Fleisch und wohnete unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, als eine Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.

Amen.

*) M-tth. 16, 23.

Die Leutseligkeit des uns ge-ornen Erlösers. II. Weihnacht.

Text: Johannes 1, 14. Und das Wort ward Fleisch und wohnete unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. beliebte im Herrn, nach demselben Texte haben wir gestern die Ho­ heit unsers Erlösers uns deuten lassen. Er, Christus ist eS, in dem wir, so weit wir es zu fassen vermögen, die reine und volle Offen­ barung Gottes schauen. Er, unser Herr, steht zu Gott, seinem Vater, in einem Verhältniß wie keiner vor ihm und keiner nach ihm, da wir ja erst durch ihn zu Gott kommen. Dies sein Verhältniß läßt sich nicht besser bezeichnen als mit dem Wort unsers Textes „eingeborner Sohn." Von ihm ergießt sich deshalb der Strom des Heils in zwei Armen, nämlich als Wahrheit und Gnade, in die Menschheit. Darin ist nach den Worten unseres Textes die Hoheit und Herrlichkeit Christi befaßt. Der letzte Zug in dem Bilde seiner Hoheit, den wir anschauten, war Gnade. Gnade drückt allerdings die Liebe in ihrer Erhabenheit aus, nämlich die Liebe, wie sie sich allem Bösen gegenüber unverletzt Lieder: Nr. 154.

Nr. 129, 6.

52 und unbefleckt erhält.

Gnade bezeichnet aber eben so sehr die Liebe

in ihrer Hingabe, in ihrem thatkräftigen Bestreben, die Verlornen zu suchen, die Sünder wieder zu reinigen und sich zu gewinnen, sie zu­ gleich mit ihrem Leben und ihrer Seligkeit zu erfüllen.

Damit wurden

wir von der Hoheit Christi schon zu dem hinübergeleitet, was unsere heutige Festepistel so bezeichnend

„Leutseligkeit" nennt.

Unser Text

möge, wie er uns gestern die Hoheit des Herrn enthüllte, uns heut die Leutseligkeit Christi vor unsere Seelen stellen. I.

„Das Wort ward Fleisch," heißt es im Text.

Ist das

wahr; so dürfen wir auch wohl das Wort, indem wir es auf Jesum anwenden, umkehren und sagen: „Das Fleisch ward Wort."

In

der That, sein ganzes Leben bezeugt uns auf's Mannichfachste diese Wahrheit.

Doch machen wir uns zuerst noch klarer, was der Inhalt

dieser Wendung ist. barung Gottes.

„Wort" haben wir uns erklärt als die Offen­

Der Ausdruck „Fleisch" kommt in der heiligen Schrift

wohl auch so vor, daß er alles sinnlich Lebendige bedeutet; in der Regel aber wird er auf die Menschen bezogen und bezeichnet die Menschheit oder die menschliche Natur, das menschliche Wesen.

Aber diese Be­

deutung hat in sich noch eine besondere Bedeutung oder Färbung.

Die

menschliche Natur wird mit diesem Wort in ihrem Unterschiede und Gegensatze zur Gottheit aufgefaßt.

Danach wieder bildet sich eine zwie­

fache nähere Bedeutung heraus, von denen bald die eine, bald die an=i dere, je nach dem Zusammenhang vorkommt.

Einmal ist Fleisch die

menschliche Natur in ihrer Schwachheit, Gebrechlichkeit, Hinfälligkeit gegenüber der unwandelbaren Allmacht Gottes.

Dann wieder kommt

Fleisch für die nienschliche Natur vor, sofern sie die Sünde in sich hat eindringen taffen und Sitz

wie Werkzeug der Sünde geworden ist.

Diese letzte Bedeutung kann in unserem Text von Christo angewendet^ unmöglich statt haben.

Vom Fleisch in diesem Sinne trug Christus^

nichts an sich, so daß sein Wort*): „Was vom Fleisch geboren wird,! das ist Fleisch," von allen Menschen gesagt ist, nur nicht von ihm^ selber.

Also nur die erste Bedeutung ist möglich.

*) Johannes 3, 6.

Das menschliche!

53 Wesen nach seiner sinnlichen Seite ist nun allerdings schwach, gebrech­ lich, hinfällig.

Dennoch, wir sollen es nimmer gering schätzen.

Es ist

das irdene Gefäß, welches einen köstlichen Schatz, das Ewige, in sich trägt.

ES ist der Diener des Geistes, durch den dieser allein die ganze

umgebende Welt zu erfassen und aus derselben sich hohes Gut anzu­ eignen vermag.

Es ist

prägen und

der ganzen

wenn

in

bestimmt, ewige Gedanken in Thaten auszu­ Erscheinung abzuspiegeln.

Aber freilich,

in der Menschheit das Licht selbst, der Geist in Vernunft und

Gewissen, so vielfach Finsterniß war, wie mußte nicht die an sich licht­ lose Seite, das Sinnliche, ganz der Finsterniß verfallen?

Aber bei

allem Verfallen dieser sinnlichen Natur in der Geschichte der Mensch­ heit ist sie an sich nichts Schlechtes und nichts Erniedrigendes, sondern ist eben bestimmt, erhöht und verklärt zu werden.

So stoßen wir uns

nicht an dem sinnlich leiblichen Leben Christi, sondern freuen uns, daß er darin aller Dinge uns, die er Brüder zu nennen gewürdigt hat, gleich geworden ist.

Ja, wir freuen uns, denn in ihm ist, was an

sich finster war, Licht, in ihm ist das Irdische himmlisch, in ihm ist das Fleisch Wort geworden, das sinnlich Leibliche ist in ihm auf'S Herrlichste verklärt.

Das Hohe, Königliche, Himmlische in Christo, es

ist der Menschengeist, der mit der Gottheit sich geeinigt hat, dessen Leben eben in einem beständigen sich Einigen mit der Gottheit besteht. Nun, diesem Königlichen, Hohen dient bei Christo durchweg daS Leib­ liche als Werkzeug, ja, es ist stets der klare Spiegel, aus dem das Bild seiner geistigen Herrlichkeit uns entgegengestrahlt wird. — Laßt mich nur auf Einzelnes hindeuten.

Der Apostel Jakobus gedenkt eines

kleinen Gliedes des Menschen, das, von der Hölle entzündet, große Dinge anrichtet, unzähmbar, ein unruhiges Uebel, voll tödtlichen Giftes. Ja die Zunge, von der Hölle entzündet, wie kann sie in ihrer unge­ zügelten Thätigkeit dem Scheußlichsten die kräftigste Offenbarung wer­ den!

Wie

ist

sie

umgekehrt bei

dem Erlöser die Offenbarung des

Gotteslichtes und der Gottesliebe, wie ist sie es, mittelst der er das Heil in die Menschheit sich ergießen läßt, von der allein Worte des ewigen Lebens strömen!

Das Alltäglichste im sinnlich-leiblichen Leben

ist daS Nehmen der Nahrung, Essen und Trinken, gleichsam nur zur

54 Erhaltung der Leiblichkeit, des Fleisches bestimmt, scheinbar etwas, worin der Mensch mit den vernunftlosen Thieren ganz gleich steht.

Der Er­

löser, wie erscheint er doch nothwendig so eigenthümlich groß selbst in dem Kleinen des sinnlich natürlichen Lebens, wie eigenthümlich groß darin, wie er die Speise nimmt und wie er sie unter bestimmten Um­ ständen zurückweist.

Als er hungrig und durstig am Iakobsbrunnen

die von den Jüngern dargebotene Speise abweist, weil er seine Speise, seinen Genuß zur Zeit darin hat, die nach dem Heile durstigen Seelen mit dem Wasser des ewigen Lebens zu tränken, welchen Eindruck gött­ licher Würde mußten die Anwesenden dadurch erfahren!

Wenn es in

jener Erzählung, die uns in die Tage nach seiner Auferstehung versetzt, heißt, daß Jünger, die ihn zur Seite hatten und hörten, ihn, ob bei seinem Wort auch ihr Herz brannte, doch nicht erkannten, daß sie aber, als er nachher mit ihnen zu Tisch saß, in der Art, wie er ihnen das Brod reichte, inne wurden, es ist der Herr, der Heiland, der Fürst des Lebens, wie mußte auch dieses gewöhnlichste Thun des Fleisches bei ihm himmlisches, göttliches Gepräge tragen, wie mußte darin sich die tiefste Einheit seiner dankenden und liebenden Seele mit Gott aus­ drücken! — Vergegenwärtigt euch, wie er das Leiden am Fleische, die Martern der Leiblichkeit bis in die letzten Augenblicke erduldet!

Ist

es nicht gerade diese tiefste Entstellung des Leiblichen durch äußere Ge­ waltthat der sündigen Menschen,

wodurch die ganze erhabene Kraft

seines Geistes erst recht hervortritt und sich verherrlicht? weint das

Fleisch,

Schwachheit!

Thränen,

ein Zeichen und Zeugniß

Thränen fleischlicher

Nun, auch Jesus weint dort am Grabe des Lazarus,

und wieder als er auf seiner letzten Reise nach Jerusalem vor der Stadt noch ausruht und auf sie schaut! Was spricht aus diesen Thrä­ nen als eben das Höchste, Heiligste, die Gottgleichheit, was anders als die reinste und vollendetste Liebe?

Ja denken wir an die ganze äußere

Gestalt des Erlösers, an das Fleisch bei ihm in seiner bestimmten Er­ scheinung; einer .wunderbar erhabenen und lieblichen Schönheit Spiegel mußte dieselbe sein.

Ein Wort bedarf's: „Kommet und sehet," oder:

„Folget mir nach," und die Empfänglichen sind sofort an ihn gefesselt. Wenn es heißt, er trieb die bösen Geister aus; die Kraft himinlischen

55 Friedens, die aus Miene und Auge leuchtete, gab seinem Worte die wunderbare Wirkung, daß die in tiefster Verwirrung oder Verzagtheit versunkenen Gemüther zur geistigen Ruhe, Klarheit und Gesundheit zurückgeführt wurden. Ergrimmt wollen die Bewohner Nazareths ihn vom Felsen stürzen, es wollen die im Tempel zu Jerusalem ihn Hö­ renden ihn steinigen, auf den strengen Befehl ihrer Oberen wollen die Knechte des hohen Rathes ihn greifen; aber ihnen sämmtlich, die zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten sich an ihm vergreifen wollen, versagt, wie er sie anschaut, die Hand. So zeigt seine leib­ liche Erscheinung bis an den letzten Tag, als rohe bewaffnete Schaaren vor ihm dem Waffenlosen zurückbeben, die heiligste Erhabenheit. So ist die sinnlich menschliche Erscheinung bei ihm von dem Wort, von der Ausstrahlung der Gottheit verklärt, so ist auch das an sich Finstere in ihm völlig Licht geworden, so, wenn uns die Wendung erlaubt ist, ist in ihm das Fleisch gewissermaßen durchgottet. Meine Geliebten, unsere Natur hat er auch in ihrer Schwachheit verklärt, die königliche Hoheit seines Geistes hat sich an das Niedrige in unserem Wesen hin­ gegeben und es erhöhet. Indem so bei ihm das Fleisch, durch das er ganz in unsere Aehnlichkeit getreten ist, Wort geworden ist, hat sich darin seine herablassende Liebe zu uns, seine Leutseligkeit bekundet. II. Das Zweite, was wir für unsere heutige Festbetrachtung aus unserem Text hervorheben, ist das „Und wohnete unter uns," er zeltete unter uns, hatte fein Zelt unter unseren Zelten. Darin liegt offenbar, daß er eben mit uns, mit unserem Geschlecht in die allerinnigste Verbindung getreten, ganz einer der Unsern, damit Eigen­ thum der Menschheit selber geworden ist, daß, wie ihm nichts Mensch­ liches ein Fremdes, ein ihm Außernatürliches blieb, so in ihm nichts war, das nicht uns gehören sollte, das er uns nicht mittheilen wollte. In dem Wohnen liegt zugleich der Begriff des ©tätigen, des Bleibens. Ist die göttliche Ausstrahlung, Offenbarung, Herrlichkeit in diesem Menschen erschienen, so ist das Inwohnen Gottes in ihm ein bestän­ diges. „Gott in Christo," — um dieses Wort als um die Quelle des Trostes und Heiles hat sich früh die Christenheit gesammelt. Aber das „Gott in Christo" ist auch schon früh abenteuerlich und magisch

56 aufgefaßt.

Man stellte es sich in einer Weise vor, daß dabei die mensch­

liche Natur nicht bestehen konnte, daß dabei alles Menschliche in Christo in einen Schein, in ein Blendwerk umgewandelt wurde.

Davon ist es

nur eine besondere Folgerung nach der einen Seite hin, wenn be­ stimmte Jrrlehrer der ersten Jahrhunderte nur eine vorübergehende, darum nur äußerliche Vereinigung des göttlichen Wesens mit dem Men­ schen Jesus, nämlich von seiner Taufe bis an seine Gefangennehmung, lehrten.

Danach aber gäbe es keine wesentliche Verbindung der Gott­

heit mit dem Menschen Jesus und mit der Menschheit durch ihn, da­ nach hätte das große Wort des neuen Bundes:

„Gott ist die Liebe,"

noch keine in Leben und Wirklichkeit gegründete Wahrheit.

Es ist für

uns ein und dasselbe, abzuweisen alle Vorstellungen von der Einheit Gottes und Jesu, bei denen die wirkliche, ganze menschliche Natur in ihm nicht ihr volles Recht und ihre wirkliche Wahrheit behält, abzu­ weisen alle Vorstellungen, nach denen die Verbindung des Göttlichen und Menschlichen, die Durchstrahlung des Menschen durch das Gött­ liche nur eine vorübergehende, also auch keine wesenhafte wäre.

Durch

das „und wohnete untg: uns" wird der Ausdruck „das Wort ward Fleisch" dem ganzen Leben Jesu und -seiner Entwickelung zugeeignet, uüd sein ganzes irdisches Leben besteht danach in dem fortgehenden, immer klarer und vollkommner

sich entwickelnden Fleischwerden des

Wortes, Wortwerden des Fleisches.

Das Jnwohnen der Ausstrahlung

der Gottheit beginnt mit dem Beginn seiner Entwickelung, vollendet sich mit seinem letzten Odemzug.

Aber das Er „wohnte unter uns,"

wir dürfen auch übersetzen „in uns," ist für den Evangelisten, wie schon gesagt, nicht nur etwas Vergangenes, sondern reicht für ihn fort­ während in die Gegenwart hinein, wie das eben so recht in seinem späteren Wort *): „Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade" der Fall ist.

Er wohnete unter uns eben um unsert­

willen, für uns, damit er nicht nur unser König, unser führender Hirt, sondern auch das Brod des Lebens für unsern inwendigen Menschen würde, daß er sich uns als seine Reben einpfropfte, damit er uns mit

*) Johannes 1, 16.

57 seiner eignen Natur erfülle und durchdringe.

So geht von ihm in die,

die sich um ihn sammeln und an ihn hingeben, das Göttliche Uber, so daß er dem Petrus bezeugt: Fleisch und Blut hat dir das nicht offen­ baret, sondern mein Vater im Himmel.

So spricht er am Ende seines

Lebens zu seinem Vater über seine Jünger: „Ich habe ihnen die Herr­ lichkeit gegeben, die du mir gegeben hast" *). sinnbildlich sie anhauchend, zu**):

So ruft er den Seinen,

„Nehmet hin den heiligen Geist."

Deshalb wohnete er unter uns, daß, wie er im Vater und der Vater in ihm war, er so auch in uns leben wollte, auf daß wir lebten in ihm.

Meine Geliebten, in dem „und wohnete unter uns" ist begründet

seine letzte Zusage an seine sich bildende Gemeine: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende"***).

Das ist sein heiliger

Liebeswille, daß das göttliche Wesen, wie er es in seinem Leben zur Erscheinung gebracht hat, sich nie wieder aus der Menschheit zurück­ ziehe.

Das ist sein fortwährendes Wirken der Liebe, daß der göttliche

Geist durch ihn vermittelt fortwährend in die Menschheit hineinströme, daß er denen, die ihn aufnehmen, die Macht gäbe, Gottes Kinder zu .fein und zu heißen.

Und wenn er in unser Leben getreten ist, um

für uns unsäglich zu leiden; so hat er doch allein in diesem Leiden für uns seinen Frieden bewahrt, allein darin seiner Natur, seiner Liebe genügt.

Er konnte nur selig bleiben in fortgesetzter, erlösender Thätig­

keit, in fortdauernder Hingabe an die, welche er Brüder und Schwestern nennt, er konnte nur selig sein als der Leutselige.

In diesem Lichte

seiner Erscheinung lasset uns auch unsere Zeit und unsere Verhältnisse betrachten, daß wir stets frohe Hoffnung und getrosten Muth uns be­ wahren, ohne die eine gedeihliche und segensvolle Führung unsers Le­ bens und Erfüllung unsers

Berufes unmöglich wäre.

In unserem

öffentlichen Leben, in Staat und Kirche, in den Kreisen unsers Ver­ kehrs und unserer Geselligkeit werden so manche Erscheinungen

und

Thatsachen, dir von tiefer Unsittlichkeit zeugen, uns nicht selten tief betrüben.

Der Blick in manche Familie ist ein Blick hinein in viel

*) Johannes 17, 22. **) Johannes 20, 22. ***) Matthäus 28, 20.

58 Elend, das schweren Verschuldungen entspringt.

Wo sind, fragt man

bei dergleichen, wo sind hier die gerühmten Fortschritte unsers Ge­ schlechtes?

Laßt uns bedenken, daß, wie häufig ungöttliches Wesen sich

hervorwagt, das doch eben nicht der Gemeinschaft, die von Christo aus­ geht und in seinem Geiste fortwährend sich bildet, angehört, daß es vielmehr, wie groß die Menge derer, die Aergerniß geben, auch sei, doch eben nur von den Einzelnen, die sich von seiner eigentlichen Ge­ meine verirren, ausgeht.

Die geistige Gemeine des Herrn aber, die

wirklich um ihn gesammelt, seinen Worten lauscht, ist noch immer die Stätte, von der man sagen darf: „Er wohnet in ihr."

Sein Wesen

als die Wiedervereinigung des Göttlichen und Menschlichen theilt sich in der Kraft des heiligen Geistes fortwährend an diejenigen mit, die seine Erscheinung lieb haben.

Und wer ihn hier kennen lernt als den,

der sich an unser Geschlecht hat hingegeben, um in demselben zu woh­ nen; der wird auch inne werden, wie er in unserem Leben der Gesell­ schaft und Gemeinschaft erlösend, heiligend, verklärend fortwährend ge­ wirkt hat und nicht aufhören wird, so auch weiterhin fortzuwirken. In diesem Lichte laßt uns auch in Beziehung auf unser eigenes Leben immer von Neuem Muth und Hoffnung fassen.

Je klarer unser Blick

und unser Urtheil in sittlichen und religiösen Dingen wird, desto mehr sehen wir in uns selbst noch immer wieder Ausbrüche ungöttlichen We­ sens und je ernster wir, wie eö ja billig und recht ist, es mit uns nehmen, desto leichter überkommt uns Zagen, ja wohl Verzagen in Be­ treff unserer Heiligung. uns wohnen.

„Er wohnete unter uns"; so will er auch in

Ja öffnen wir ihm, wenn wir so in uns mit unserem

selbstischen Wesen zu ringen haben, immer wieder verlangend unsere Herzen, er kehrt mit seines Geistes Kraft auch immer von Neuem bei uns ein, er führt in der Kraft seiner Liebe das gute Werk in uns weiter.

Wie in seiner Person das Fleisch Wort wurde, so will er

dasselbe in uns bewirken, will allmählig auch uns in sein heiliges Bild verklären.

Für uns ist das Wort Fleisch geworden, damit das Fleisch

Wort werde, unter uns hat er, in dem alles Menschliche von der Aus­ strahlung der Gottheit durchleuchtet und verklärt war, gewohnt, auf daß er so in seiner herablassenden Liebe bei uns alle Tage bleibe, um uns

59 zu sich zu erheben. Noch ist nicht erschienen, was wir sein werden, aber das ist das Ziel und die Frucht seines Wesens in der Menschheit, daß, wenn eS erscheinen wird, wir ihm gleich sein werden und ihn sehen werden wie er ist*). Das unsere köstliche Weihnachtsfreude, in welcher wir aus unserem Texteswort dankend sprechen: Es ist uns erschienen der Heiland nicht nur in seiner Hoheit sondern auch in seiner Leutseligkeit. Er sei gelobt in Ewigkeit. Amen. *) 1. Johannes 3, 2.

Unser Dank am Schluß des Jahres. Shlvesterabend.

Text:

Psalm 65.

einmal haben wir uns, theure Freunde, am Schlüsse des Jahres hier in stiller Abendstunde versammelt. Welches ist der Zweck, die Absicht unseres Zusammenkommens? Haben wir schon als Christen in der Stille zurückgeblickt auf dieses verflossene Jahr, was es uns ein­ zelnen auch gebracht haben mag, wir haben Gott gelobt für seine Treue und in dem stillen Lobe zugleich gelobt, versprochen, für die Zeit, die er uns noch verleihen wird, ihm zu geben und zu opfern alles, was sein ist, wie er es von uns fordern wird. Wir haben ihn gelobt, weil wir wissen er höret Gebet und alles Fleisch, alles was Mensch ist, kann nur von ihm nehmen alle gute und alle vollkommene Gabe. Lob und Anbetung das war es, was aus unsern Seelen in der Stille emporstieg. Nun was so jeder für sich darzubringen hatte, das wollen wir jetzt noch in frommer Gemeinschaft darstellen, daß wir uns selbst im Lob und in der Anbetung klarer werden, daß wir uns durch unsere Gemeinschaft am Worte läutern und reinigen, uns darin noch leben­ diger erwärmen und kräftigen. Laßt uns nun an einzelne Aussprüche unsers Psalmes anknüpfend, das hervorheben, wofür wir am Schlüsse dieses Jahres besonders loben und danken. Lieder: Nr. 653.

Nr. 23.

61 I.

V. 4—6.

„Unsere Missethat drücket uns hart; du

wollest unsere Sünde vergeben.

Wohl dem, den du

erwählest und zu dir lässest, daß er wohne in deinen Höfen, der hat reichen Trost von deinem Hause, dei­ nem heiligen Tempel.

Erhöre uns nach der wunder­

lichen Gerechtigkeit, Gott unser Heil, der du bistZuversicht aller auf Erden und ferne am Meer." An Missethat, an Sünde werden wir hier erinnert. unS darüber nicht wundern.

Wir wollen

Ist es nicht eine sehr gewöhnliche Sitte

rechtschaffener Leute, daß sie am Schluffe eines Zeitabschnittes ihrer Schulden und nicht gelösten Verpflichtungen gedenken, daß sie jene zu tilgen, diese wo möglich noch zu lösen suchen?

Moralische Schulden

und ungelöste sittliche Verpflichtungen wiegen schwerer als diejenigen, die dem Geschäftsverkehr angehören.

Unser Lob und Dank ist unser

Opfer, wie wir es nach dem vernünftigen Gottesdienst des neuen Bun­ des bringen.

Da spricht ja unser Heiland*):

Wenn du deine Gabe

auf dem Altar opferst und wirst allda eindenken, daß dein Bruder et­ was wider dich habe, so laß allda vor dem Altar deine Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder.

Siehe der Gottes­

dienst, in dem wir dem Herrn uns nahen, das Lob, welches wir ihm darbringen, nach dem Willen des Erlösers sollen sie uns zuerst zur Selbstprüfung mahnen, daß wir uns darauf ansehen, ob und wie Sünde und Schuld auch an uns hafte. in dies und jenes Einzelne. etwas wider dich habe."

Und nun folgt mir nur Beispielshalber „Du wirst eindenken, daß dein Bruder

Wer ist dein Bruder? dein Nächster, wie

dir der Erlöser ihn so oft bezeichnet. Allernächsten!

Also zu den Nächsten, zu den

Männer und Frauen in der Ehe!

steht es mit euren gegenseitigen, heiligen Gelübden?

Prüft euch!

Wie

Habt ihr sie ge­

halten, d. h. nicht äußerlich blos den Treubruch vermeidend, sondern innerlich frei bleibend von jeder Erkältung, Erbitterung, innerlich wah­ rend die ganze Innigkeit der Liebe, daß ihr so auch äußerlich euer ge­ meinsames Leben gestaltetet entsprechend dem Biblischen:

*) Matthäus 5, 23. 24.

Ein Fleisch,

62 ja Ein Herz und eine Seele?

Habt ihr Männer euch als das Haupt

der Frau rot biblischen Sinne gezeigt durch die Kraft der Aufopferung und durch die Hoheit, den Adel, die Reinheit der Gesinnung, wie da­ durch Christus das Haupt der Gemeine geworden ist und bleibt? Habt ihr Frauen euch stets mit dem ächten Schmuck des verborgenen Men­ schen des Herzens, mit stillem, sanftem Geist, mit dem zarten, sinnigen Wesen der Liebe, mit der innern und äußern Sauberkeit geziert, daß ihr eben der schöne Stolz eurer Gatten, die schönste Zier eures Hauses wäret?

Habt ihr Eltern im Ernst und Scherz, bei Arbeit und Erho­

lung, im Genuß und in der Entbehrung eitern Kindern gegenüber, euch so dargestellt, daß sie in euch die Stellvertreter Gottes erkennen konnten, aus denen der Geist seiner heiligen Liebe sie anwehte?

Ihr heran­

wachsenden und erwachsenen Söhne und Töchter war immer das Herz voll Dank und Ehrerbietung, das Benehmen voll Lieblichkeit und Hold­ seligkeit gegen Vater und Mntter?

Waltete die neidlose,

unter euch Schwestern und Brüdern?

treue Liebe

Ehrtet ihr Herren und Haus­

frauen in den Dienenden solche, die Gottes Kinder sind wie ihr, denen der Erlöser gehört wie euch?

Ihr Dienenden war euer Gehorsam

gegen die Herren ein Gehorsam gegen Gott und seine Ordnung und so'frei von aller schnöden Augendienerei, frei von Kriecherei? nach außen!

Hinaus

Haben wir uns stets das Herz offen gehalten für frem­

den Schmerz und unsere Lust gehabt an ftemder Freude?

Waren wir

stark in der Liebe, Uebelthat mit Gutthat zu vergelten, zu vergeben und mit sanftmüthigem Geist zurecht zu helfen?

Haben wir als Bürger

unsers Gemeinwesens in Stadt und Staat uns stets vom rechten Ge­ meinsinn beseelt gezeigt?

Haben die an Leitung und Regierung unter

uns Theil nehmen den Grundsatz behalten, je höher du stehest, desto mehr demüthige dich, je mehr du berufen bist, ein Handhaber und Wächter der Rechte und Gesetze zu sein, desto gewissenhafter stelle dich ohne Willkür und Eigensucht, ohne jede feige Menschengefälligkeit und Menschenfurcht selbst unter das Gesetz?

Haben wir, sammt und son­

ders berufen, regiert zu werden, im vollen Bewußtsein christlicher Frei­ heit uns edlen Freimuth bewahrt und doch zugleich fteudig und demü­ thig dem Kaiser gegeben, was des Kaisers ist?

Endlich, wie ist unsere

63 Gesinnung gegenüber dem König der Könige gewesen?

Dir sandte er

Freude und Glück, überströmte dich mit Segen, hast du's genommen als seine Gabe, mit Dank, als sein Gut, das du in seinem Geist zu verwalten hast?

Dich hat er nach seiner Weisheit in mancherlei Trüb­

sal und Weh geführt, hast du auch das als vom Vater kommend in stiller, demüthiger Ergebung getragen?

Wenn wir vor Gott uns da

in unserem Innern Rechenschaft und Antwort geben, ich denke, es ist jeder weit genug von jenem Pharisäer entfernt, der vermessen dafür dankt, daß er nicht sei tpie andere sündige Menschen.

Vielmehr wer­

den unsere Gefühle ihren Ausdruck in den Worten unseres Psalmes suchen:

„Unsere Missethat drücket uns hart, du wollest un­

sere Sünden vergeben." — Doch der Psalmist fährt fort: „Wohl dem, den du erwählest und zu dir lässest, daß er wohne in deinen Höfen, der hat reichen Trost von deinem Hause, dei­ nem heiligen Tempel." im Tempel?

Was für einen Trost sucht der Sänger

Es sind all' die mannichfachen Reinigungen, Opfer, Ge­

bräuche, welche Sühnung und Vergebung vor Gott bildlich darstellten, es sind die mannichfachen Weissagungen von der rettenden,

erlösenden

Gnade Iehovah's aus dem göttlichen Worte, das im Tempel für Israel niedergelegt war.

Sinnbild und Weissagung dort, — wir Haben die

Sache selbst, wir das lebendige Haus Gottes, die Gemeine der Gläu­ bigen und Erlösten, wir in diesem Hause Gottes den ewigen Hohen­ priester, der fürbittend uns vertritt, wir in ihm die Versöhnung, die Reinigung durch sein Blut von allen unseren Sünden.

Wenn und

wie uns im verflossenen Jahre das Gefühl unserer Verfehlung und Verschuldung drückte, sicherlich hier in der Gemeine war uns der Hei­ land mit seinem Erbarmen bereit, hier in Wort und Sakrament bot er seine Versöhnung, seinen Trost der Vergebung!

Und wenn heut

alle Vergehungen des ganzen Jahres vor uns treten, die ganze Macht seiner Liebe steht auf der anderen Seite, und ist unsere Sünde mächtig, seine Gnade ist noch viel mächtiger.

Freilich nicht als sanftes Polster

für unsere Sünde, nicht als einschläferndes Opiat für unser ungöttlicheS Wesen nehmen wir diesen Trost des Evangelii.

Wer Christum

in- diesem Sinne zum Sündendiener machen wollte, der hätte noch nicht

64 die ersten Elemente göttlicher Heilserkenntniß erfaßt und frevelte in unverantwortlichster Weise. Seine Versöhnung, seine Vergebung kehrt nur in Herzen ein, die über ihre Sünde Leid tragen und sie hassen, seine Versöhnung und Vergebung ist damit zugleich selbst die Kraft der Heiligung. Ohne Versöhnung keine Besserung; aber ohne den Anfang und den Fortgang der Besserung keine Versöhnung. Das ist die Kraft der Gnade in Christi Leben und Sterben, daß sie Frieden giebt und von der Untugend reinigt. dZun uns ist diese „wunderliche Gerechtig­ keit" Gottes, die selbst gerecht macht, in Christo offenbart und gegeben. Gott ist als unser Heil erschienen und er ist die Zuversicht für alle auf Erden, die auf ihn hoffen. Darum am Schluffe des Jahres, selbst im Bewußtsein mannichfacher Verschuldung haben wir nichts als Preis und Anbetung, rühmen*): „Lobe den Herrn meine Seele und was in mir ist, seinen heiligen Namen, lobe den Herrn meine Seele und vergiß nicht, was er dir Gutes gethan hat, der dir alle deine Sünden vergiebt und heilet alle deine Gebrechen." II. B. 7—9. „Der die Berge festsetzet in seiner Kraft und gerüstet ist mit Macht; der du stillest das Brau­ sen des Meeres, das Brausen seiner Wellen und das Toben der Völker, daß sich entsetzen die an denselben Enden wohnen vor deinen Zeichen. Du machest fröh­ lich, was da webet, beides des Morgens und des .Abends." Die festen Berge, sie waren einst nicht fest, sie waren überhaupt nicht. Ihr Dasein erinnert an das mächtige Gähren gewaltiger Natur­ kräfte in unserm Weltkörper, an ihr ungeheures Ringen und Bewegen, vor dem die größesten Massen waren wie ein leichter Ball im Kpiele. „Du stillest das Brausen des Meeres." — Noch heut tönt's, in allen Donner weit übertönender Gewalt, das Brausen des Meeres, wenn es aufgewühlt in seinen Tiefen hier Wellen von Thurmeshöhe empor­ treibt, dort tiefste Abgründe augenblicklich aufthut. Siehe da werden wir erinnert an die Kräfte, an die Elemente auf dem Gebiet der Natur, ■)

Psalm 103, 1-3.

65

an ihre ungeheure Gewalt, an ihre ungeheuren Wirkungen. Siehe diese Kräfte gleichsam entfesselt, zügellos walten, die Flamme wie sie verzehrend und zerstörend durch der Menschen Wohnungen rost, den Sturm, wie er in andern Welttheilen Alles niederschmetternd daher­ braust, die Fluthen des austretenden Stromes, wie sie Alles mit sich fortreißen, die unterirdischen Gluthen, wie durch ihre Gewalt die Erde in ihren Grundfesten erbebt, siehe im Geist sich eine oder die andere dieser Kräfte erheben — nichts als das vernichtende Gefühl der Ohn­ macht hat der Mensch ihnen gegenüber. Aber mit dem Brausen des Meeres und seiner Wellen stellt der Dichter zusammen das Toben der Völker, als wären die Ausbrüche der ihre Grenzen durchbrechenden Menschheit nicht minder schrecklich und schaurig. Und hat er dazu nicht ein vollkommenes Recht? Wenn Geister mit hohen Naturgaben ausgerüstet, durch den Gang ihrer Geschicke auf höchste, einflußreichste Punkte gestellt, von ihrer Herrschsucht und ihrem Ehrgeiz wie von wil­ den Dämonen getrieben Alles aufbieten, um ein Volk nach dem an­ dern ihrer Macht zu unterwerfen und ihnen das eherne Joch der Knechtschaft auf den Nacken zu legen, wenn ihnen gegenüber, um ihr Recht, ihre Freiheit, ihr volksthümliches Wesen, alle ihre Güter zu schützen, die Völker nicht nur ihre Männer und Jünglinge, sondern ihre Knaben aufbieten müssen, um auf dem Schlachtfeld sich zu stellen und zu opfern, wie auch die eisernen Würfel fallen, die entfesselten Mächte wilder Kriegeswuth, ach wie zerstörend und zermalmend treten sie auf und zertreten an wer weiß wie viel Orten Freude, Glück, Wohlergehen und Leben! Und eben so wenn die Machthaber dieser Welt, die Gott berufen hat Hirten der Völker zu sein, gleichsam in die Gewalt eines bösen, finstern Geistes dahingegeben, Macht über Recht erheben, in der Willkür der Selbstsucht Grausamkeit üben, Gerechtigkeit mit Füßen treten, mit dem Wohlergehen, mit dem heiligen Recht ihres Volkes übermüthig spielen, und dann wieder umgekehrt, wenn Völker diese Ketten zerreißend wie ein aus dem Ufer gebrochener Strom alle Wälle heiliger Ordnung, ehrwürdiger Gesetze, wahrer Sitte durch­ brechen und sich im vergossenen Blut der Unschuldigen gleichsam be­ rauschen; wem dünkt das nicht entsetzlicher als das Auftreten zerstöThomai, Blaute a» (U'nsiuS. 5



66

render Naturgewalten? Nun auch im verflossenen Jahre haben diese Kräfte der Natur, die so gewaltig zerstörend hervorbrechen können, wie im Hintergründe geruht. Wer hat sie gezügelt, daß gefestigt blieben die Berge, daß sich stillte das Brausen des Meeres, daß dasjenige, was immer im Begriff scheint, wild gegeneinander zu toben, zur erhaltenden, segnenden Harmonie zusammenwirken mußte? Es ist die Weisheit, die schirmende Liebe des ewigen Gottes gewesen. ES ist nicht ausgestorben dämonischer Ehrgeiz, der in diesem oder jenem Machthaber anwohnen­ den, friedlichen Völkern Verderben brütet und drohet und dem gegen­ über es zu seiner Zeit gelten kann, das Blut der edelsten Söhne des Vaterlandes als Opfer darzubringen! Noch ist nicht von allen Thro­ nen Europa's Willkür, Herrschsucht, Tyrannei gewichen, welche mit dem Recht und Wohlergehen des Volkes Spott treiben. Ebenso ist in Europa'S Völkern noch nicht ausgestorben der Geist wilder Empörungs­ sucht, dem, wenn er zur Macht kommt, nichts heilig bleibt, dem nichts widerwärtiger ist als Sitte, Recht und Gottesfurcht. Woher, daß wir ruhig und sicher im verflossenen Jahre wohnen konnten? Die Weis­ heit und Macht Gottes, welche in der Natur waltete, hat auch für uns gestillet das Toben der Völker, hat gesprochen zu allen drohenden Gewalten*): „Bis hierher und nicht weiter, hier sollen sich legen deine stolzen Wellen," hat uns den theuren, werthen, edlen Frieden gnädiglich erhalten, hat mit seiner mächtigen Regierung die Regierungen der Völker bald gelähmt, durchkreuzt, ja gelöst, bald gefestigt, mächtig erhalten und mit Segen gekrönt. Dafür preisen wir in der Stille unsern Gott, dafür rühmen wir laut**): „Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewiglich!" M. V. 10—14. „Du suchest das Land heim und wässerst es unb. machst es sehr reich. GotteS Brünnlein hat Wassers die Fülle. Du lässest ihr Getreide wohl gerathen; denn also bauest du das Land. Du tränkest seine Furchen und feuchtest sein Gepflügtes, mit Re­ gen machst du es weich und segnest sein Gewächs. *) Hiob, 38, 11. **) Psalm 107, 1.

67 Du krönest das Jahr mit seinem Gut und deine Fuß­ tapfen

triefen von

Fett.

Wüste sind auch fett, sind umher lustig.

Die Wohnungen in

der

daß sie triefen und die Hügel

Die Anger sind voll Schafe und

die Auen stehen dick mit Korn, daß man jauchzet und singet." Was ist lieblicher als das Erwachen des Frühlings, wenn er Feld und Wald in frisches saftiges Grün wieder kleidet, wenn er aller Orten tausend und aber tausend Knospen ausschließt, daß die schönen duftigen Kelche als Blumen und Blüthen

prangen?

Nicht die gegenwärtige

Schönheit ist es aber allein, die in jener Jugendzeit des Jahres unS ergötzt-, wir sehen vielmehr dann im Geist aus dem Grün der Felder emporsprossen die Halme, sehen sie sich füllen mit Körnern und das Getreide zur Reife bringen.

Wir sehen in den Blüthen schon die an­

setzende, wachsende, zeitigende Frucht, die den Menschen erquickt.

Des

Frühlings Lieblichkeit ist das verheißende Wort unsers Gottes an uns, daß er seine milde Hand aufthun wolle und sättigen im ganzen Jahre Alles, was lebt, mit Wohlgefallen, mit seinem Gut. sagt, das hält er gewiß.

Nun was er zu­

Auch im verflossenen Jahr ließ er unS her­

vorbrechen den Frühling mit aller

seiner Lieblichkeit,

ließ ihn unS

weissagen von seiner väterlich nährenden Milde und Güte, und was er der treue Gott weissagte, er hat's erfüllt, er hat den treuen Fleiß und Schweiß des Landmanns gesegnet, er hat dieFurchen des Lan­ des getränket und sein Gepflügtes gefeuchtet, er hat gekrönt daS Jahr mit seinem Gut und seine Fußtapfen troffen von Fett, die Anger waren voll Schafe und die Auen standen dick mit Korn, daß man jauchzte und sang.

Wir sind an der

Hand des Dichters damit hineinversetzt in die einfachste, erste, natür­ lichste menschliche Thätigkeit, durch welche Gott der Herr aus der von ihm geschaffenen und getragenen Natur der Menschheit reicht, was sie ernährt, die zugleich die Grundlage aller übrigen menschlichen Thätig­ keit bleibt, wie auch die Grundlage alles übrigen irdischen Wohlergehens durch Befriedigung unserer Bedürfnisse.

Was aber innerhalb dieses

Bereiches Gott im verflossenen Jahre gethan und gegeben hat, er hat's

5*

68 nicht minder gethan und gegeben in allen Zweigen menschlichen Thuns, in allem Gewerbe und Verkehr, in Handwerk und Handarbeit, in Kunst und Wissenschaft.

ES ist ein kühnes Wort, aber nicht zu kühn:

Wo

es unter uns im verflossenen Jahr der Mensch nicht an sich fehlen ließ, da fehlte auch nicht Gottes versorgende Liebe, da krönte sie das Jahr mit ihrem Gut.

Laßt

uns

dabei das Wort nicht übersehen:

„Die Wohnungen in der Wüste sind auch fett," haben auch Theil am Segen Gottes.

Wie es auf der Fläche der Erde so steht,

daß hier sich ausdehnt fruchtbares, reichliche Erndten tragendes Land, dort wieder uns begegnen sandige, öde, unfruchtbare Strecken; so auch in dem äußern Loose der Menschheit.

Hier wohnt der Reichthum und

die Behaglichkeit des Lebens, dort haust Armuth und Entbehrung. Aber auch der Palast'des Reichen kann eine Wüste ihm sein, oft noch schlimmer als dem Armen seine Hütte.

Wenn die Krankheit ihm jede

Fähigkeit, seine Güter zu genießen, raubt, was hat er dann an diesen Gütern?

Was sind ihm Silber, Gold und Edelstein? Dem, welchem

gewaltiger Schmerz durch die Glieder tobt und die Sinne umflort, ist das Paradies eine Wüste.

Wiederum wird manches Haus zur Oede,

— wenn sich schließen liebe Augen, wenn treue Herzen still stehen, wenn der Gatte scheidet, wenn Vater oder Mutter oder liebe Kinder heimgehen — o wie öde wird einem da Alles, wie weit und unheim­ lich die sonst so trauten Räume des Hauses, wie wird einem das ganze Haus zur Wüste.

Es haben auch in diesem Jahre nach dem Rathschluß

der ewigen Weisheit manche der Brüder und Schwestern das Leben auf dieser Erde als ein Leben in -der Wüste kennen gelernt, haben die Ar­ muth

und

allen ihren harten Druck getragen, ihnen ist in schwerer

Krankheit das Bett, sonst den Müden die Stätte süßer Ruhe und Er­ holung, das bitterste Schmerzenslager geworden, treue Augen haben sich ihnen geschlossen und innigst Verbundene sind von ihnen geschieden! Jammervoll, trostlos mußte wie immer, so auch in diesem Jähre ein Leben in solcher Verödung denjenigen werden, deren Herz und Seele selbst zur Wüste geworden ist, d. h. die Gewissen und Glauben und Frömmigkeit verloren haben, die sich selbst verkauft haben und alle Tage wieder sich verkaufen an und in die Sünde, in die Gottlosigkeit.

Da

69

ist, ehe sie dieser Wüste des innern Lebens den Rücken wenden und zum Vater umkehren, kein Rath und kein Trost zn finden. Mer wo bei solcher Verödung, die Gott im verflossenen Jahre dem oder jenem unter unS auflegte, das Fünklein des Glaubens nicht erlosch, wo sich die Seele an Gott anschloß und das Evangelium zu seinem Licht und Trost wählte; da galt gewiß auch in diesem Jahre das Wort: Die Wohnungen in der Wüste sind auch fett, d. h. Gott hatte sein Walten darin und seine Tröstungen erquickten die Herzen. Wie er der Wittwe zu Zarpath den EliaS als seinen Boten sandte; so hat er auch in diesem Jahre manche christliche Seelen erweckt, daß sie von ihrem Ueberfluß in die Hütten der Armen trugen und schickten und so Engel seiner helfenden Liebe wurden, wenn eben die Armen mit ihrem Herzen an dem Herrn hingen. Wo die Kranken zu ihm Herz und Sinn kehrten, zu seinem Worte, da haben auch in diesem Jahre seine Tröstungen die Seelen erquickt. Wo man unter den bittern Thränen über den Verlust geliebter Menschen mit seiner Liebe nur den nicht ließ, der als der Todte zum Leben erstand, da hat man auch in ihm, der die Auferstehung und das Leben ist, den Seelenfrieden gewonnen. Wir können getrost für uns, für alle Gläubige heut sprechen: Auch im verflossenen Jahre waren die Wohnungen in der Wüste fett, hat der Herr ernährt, getröstet, er­ quickt die Armen in ihrem Mangel, die Kranken in ihrem Schmerz, die Beraubten, Verwittweten und Verwaisten in ihrer tiefsten Traurig­ keit. Wohlan mit bewegter, dankerfüllter und anbetender Seele schlie­ ßen wir das Jahr und rühmen freudig*): „Herr Gott, du bist unsere Zuflucht für und für; ehe denn die Berge waren nnd die Erde und die Welt erschaffen worden, bist du Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit." Ja wir wollen den Herrn loben, so lange wir leben, und unserm Gott lobsingen, dieweil wir sind. Amen! *) Psalm 90, 2.

Der Ruf des neuen Jahres: „Werdet stark in dem Herrn!" Neujahr.

Text: Epheser 6, 10. Zuletzt, meine Brüder, seid stark in dem Herrn und in der Macht seiner Stärke. (§in neues Jahr, Geliebte im Herrn, ein neuer wichtiger Abschnitt unseres Lebens liegt vor uns.

Bei solcher Gelegenheit geht der Blick

vorwärts in die Zukunft, zurück in die Vergangenheit.

Vergegenwärtigen

wir uns aber das vergangene Jahr mit seinem Inhalt für uns, mit allen seinen Gütern,

allen schönen

Freuden, allen Genüssen, allen

Labungen und eben so mit all seinen getäuschten Hoffnungen, seinen Sorgen, seinen Beraubungen, seinen Leiden und Lasten: o wohnt uns Frömmigkeit und Weisheit bei, wir erkennen schon heute, alle diese wechselvollen Schickungen desselben waren zu unserm Heile geordnet und unsre Gefühle und Gedanken nehmen in Beziehung auf die Vergan­ genheit ihren Auögang in Lob und Danksagung.

Der rechte Dank

aber hat als erste Frage die zu stellen: was bin ich dem Geber allerguten und vollkommnen Gabe schuldig, welches ist seine heilige For­ derung an mich? — Bei dem Blick in die Zukunft nehmen unsre

Lieder: Nr. 831.

Nr. 296, und Nr. 528, 5. 6.

71

Befürchtungen, Wünsche, Hoffnungen, Ahnungen mehr oder weniger bestimmte Gestalten an, kleiden sich in mehr oder weniger lebendige Bilder; aber wohnt uns Weisheit und Frömmigkeit bei, wir sagen uns einmal, was auch Befürchtung und Wunsch in Hoffnung und Ahnung für Gestalten annimmt, wir sind auf völlig dunklem Gebiet, diese Bil­ der sind Bilder im Nebel, ob und welcher Gegenstand der Wirklich­ keit in ihrer Hülle sich birgt, ist uns verschlossen. Wir sagen uns aber weiter, was uns auch treffen wird, Leichtes oder Schweres, Freud oder Leid, Gewinn oder Verlnst, es wird uns geordnet sein von der ewigen Weisheit und deshalb bestimmt zu unserm Heil. Ob aber die kommenden Geschicke in Wirklichkeit heil- und segenbringend oder im Gegentheil verderblich sein werden, das wird allein von unserm Verhalten abhängen. Wo Liebe und Gehorsam gegen Gott waltet, da müssen alle Dinge zum Besten dienen. Deshalb in Beziehung auf die Zukunft, auf dies neue Jahr, wir werden nicht fragen: Was wird uns treffen (dies hat der Vater seiner Macht vorbehalten); sondern eben so wie vorher: Welches ist bei Allem was uns trffit, die heilige Forderung Gottes an uns? So vereinen wir in rechter Weise unsern Dank für die Vergangenheit mit der Hoffnung für die Zukunft. Die Antwort auf unsere so gestellte Frage: Was fordert Gott im neuen Jahre von uns? giebt unS unser Text: „Werdet stark in dem Herrn." Zuerst laßt uns in unsrer Neujahrsbetrachtung dieses Stark­ werden selbst genauer zergliedern und dann uns fragen, wie wir dazu ermahnt werden können, da nach dem Text alle Kraft und Erstarkung vom Herrn kommt? I. Also des neuen Jahres Forderung an uns ist der apostolische Zuruf: „Zuletzt, meine Brüder, seid stark in dem Herrn." Das „zuletzt" will nach dem Grundtext zusammenfassen, will als das Letzte hervorheben, was zugleich das Erste ist, und das „Seid stark" dürfte genauer in der Uebersetzung lauten: Werdet stark, erstar­ ket! Wie denn nun? worin erstarken? Legen wir zunächst Gewicht auf die Anrede: „Meine Brüder." Zu Brüdern bestimmt wußte sich der Apostel das ganze menschliche Geschlecht, aber als in der Gegen­ wart schon wirkliche Brüder und Schwestern, durch den gleichen Bru-



72



dergeist zusammengeschlossen, kannte er nur diejenigen, von denen er sagte*): „Hier ist kein Jude und Grieche, hier ist kein Knecht noch Freier, hier ist kein Mann noch Weib; denn ihr seid allzumal Einer in Christo Jesu," oder**): „Also ist nun hier kein Knecht mehr, sondern eitel Kinder; denn ihr seid alle Gottes Kinder durch den Glauben an Christum Jesum."

Diese Brüder sind also die Gotteskinder durch den

Glauben und „werdet stark" heißt, als solche Gotteskinder. geschieht?

Erinnern wir uns

Wie das

an den Ausspruch des Erlösers***):

Ihr sollt euch nicht Rabbi, nicht Meister nennen lassen, Einer ist euer Meister, Christus, ihr aber seid alle. Brüder, und an des Apostels Sßcrtt): Der Gerechte wird seines Glaubens leben.

Die Erstarkung

als Gotteskinder kann demnach nur sein eine Erstarkung in der Hin­ gabe an den einigen Meister, eine Erstarkung im lebendigen Glauben an ihn.

Wie Simon diesen Glauben ausspricht fl-), da nennt ihn der

Herr den Petrus, den Felsenmann, da sagt er, auf diesen Felsen will ich meine Gemeine bauen, da weiß er die so gegründete und gebaute Gemeinde stark und spricht: überwältigen.

Die Pforten der Hölle sollen sie nicht

Von Christo, dem heiligen Menschensohn, aus dem und

durch den Gottes Gnade uns zuströmt, immer lebendiger, kräftiger neh­ men Wahrheit um Wahrheit, Gnade um Gnade, das, was unserm in­ nern Leben, Mark und Blut gewährt, das ist das Erstarken.

Zu dem

Herrn, meine Freunde, sind und wurden wir alle mehr oder weniger geführt, durch Eltern, Freunde, Glieder der Gemeine, wir kommen zu ihm, bewogen durch den geistigen Einfluß anderer,

durch Autorität.

Auch ist es zunächst etwas Schönes, Vertrauen darzubringen, wo Ver­ trauen von selbst erweckt wird, es ist z. B. etwas Köstliches, von front« • men Eltern als das schönste Erbtheil den Glauben zu überkommen oder ihn zuerst vertrauend in die Seele aufzunehmen durch die geistige Hand­ reichung rechtschaffener Lehrer

und Glieder der Gemeine.

Aber gilt

eö dem Vater und Christo gegenüber ohne Aufhören: Werdet und blei*N **) ***) t) ft-)

Galater, 8, 28. Galater 4, 7. und 3, 26. Matthäus 23, 8-10. Römer, 1, 17. Matthäus 16, 16 18.

73 bet wie die Kinder, d. h. nehmet hier Wahrheit und Gnade, jeder an­ dern Autorität, den besten frommsten Eltern, den erleuchtetsten Lehrern und Gliedern der Gemeine, ja der gesammten Gemeine gegenüber gilt das Ziel: Kommt zum Mannesalter, zur mannhaften Selbstständigkeit. Wie das Licht der Wahrheit und Gnade, die in Christo ist, in deiner Seele sich wiederspiegelt, in deinem Gewissen und deiner Vernunft die Pfade der Erleuchtung und Heiligung zeigt, so wandle diese Pfade. Dahin müssen wir alle, daß wir gern hören und lernen, aber Alles prüfen, und nach unserm Gewissen das Gute behalten, daß wir unsers persönlichen Glaubens

leben

und aus unserm persönlichen Glauben

heraus unsre Anschauungen, unsere Art zu sein und zu handeln, unsre ganze Sitte gestalten. der Menschen Knechte,

Ihr seid theuer erkauft, werdet und bleibet nicht nennt Niemand euren Meister als Christum

allein, das gehört zudem apostolischen: Erstarket im Herrn.

Das also

unsere Aufgabe im neuen Jahr, daß wir immer völliger uns binden an den Erlöser und immer freier für unser Glaubensleben nach innen und außen von allem werden,

was binden möchte,

daß wir gegen unsre

Brüder und Schwestern immer bereiter werden, ihnen durch Wort und That das Evangelium anzudienen; aber immer mehr davon abstehen, sie an unsre Glaubenseigenthümlichkeit zu fesseln. der Gebundenheit durch das eigne Gewissen,

Diese Freiheit in

diese Gebundenheit an

Gnade und Wahrheit des Herrn und darin die Freiheit von Allem, das ist die Mannhaftigkeit

im Christenthum,

Wesen, dies uns anzueignen,

das das evangelische

wird der rechte Glaubensgehorsam sein,

den Gott im neuen Jahre von uns fordert mit dem Worte: Erstarket im Herrn. Christus in der Fülle seines herrlichen Wesens ist nicht von dieser Welt, aber für diese Welt, so auch sein Reich nicht von dieser Welt aber str dieselbe.

Gerade das ist der Wille und das Werk Christi,

das himmlische Wesen in das irdische hineinzupflanzen, alle menschli­ chen Verhältnisse so zu heiligen und zu verklären.

Wir treten als Chri­

sten nicht heraus aus dem Verbände von Vaterland, Gemeine, Beruf; sonderr erst recht hinein.

Auch nach

dieser Seite ergeht fürs neue

Jahr He Aufforderung: Erstarket im Herrn.

Unser Volks-, Staats-

74 und Gemeineleben hat in den letzten Iahrzehenden nach und nach wesentliche Umgestaltungen gewonnen und wir stehen mitten in diesen Umgestaltungen, in den Erschütterungen und Kämpfen, die sie nothwendig mit sich führen. ES ist das oft lastend und schwer und man sehnt sich wohl hier und da in eine frühere Zeit zurück. Daß diese Sehnsucht sich hier und da ein­ mal regt, ist, wie es grade jetzt bei uns sich verhält, in der gegenwärttgen Verstimmung zwischen Regiment und Volk, recht erklärlich.

Es ist

aber diese Sehnsucht nichts anderes, als wenn einen Mann, wie er grade von den heißen Kämpfen des Lebens besonders angegriffen sich fühlt, ein inbrünstiges Verlangen, in die Kindheit zurückzukehren, über­ kommt.

ES bedarf eines kurzen Besinnens, um der Thorheit und Eitel­

keit einer solchen Sehnsucht inne zu werden.

Was ist das innerste

Wesen der Umgestaltung in dem Leben der Völker? Die aus dem soge­ nannten patriarchalischen Staat in den Rechtsstaat. des patriarchalischen Lebens,

Das ist das Wesen

daß wohl Gesetze vorhanden sind, aber

wesentlich^ nur für die Regierten , für die Unterthanen, daß bei den Regierenden an Stelle des Gesetzes das eigene Ermessen, die eigene Ueberzeugung von dem was gut und recht ist, waltet.

Das ist das

Wesen des Rechtsstaates, daß das Gesetz alle Schichten des Volkes, Regierende und Regierte, umschlingt, verpflichtet, bindet. damit,scheinbar mehr gebunden die Regierenden, die Regierten, es ist eben nur Schein.

Sind aber

scheinbar mehr frei

Man waltet in seinem Kreise

um so freier, je mehr man sich bindet an heilige Ordnung.

Und die

Unterthanen freier gestellt, erst recht sind sie nun sittlich dem Ganzen verpflichtet, ihren Beruf, welcher es auch sei, in Selbstverleugnung mit für das Ganze zu üben.

Wenn aber so heilige Ordnungen und Gesetze

das" Ganze des Volkslebens von den niedersten

bis

zu den höchsten

Schichten durchziehen und Alles binden, damit jedem Unterthan die hei­ lige Pflicht auferlegt wird, nicht nur in seinem Volke, sondern auch für sein Volk zu leben; so ist das .wahrlich ein Fortschritt aus der Tiefe des christlichen Geistes herausgeboren, für den wir Gott zu danken, die gerechtesten Gründe haben.

Nicht zurück in die alte Zeit, sondern

hinein in dch nach Gottes Regierung anders gewordene, aber mit dem: „Erstarket in dem Herrn."

Was ist hier das Erstarken? Gewiß,

75 das Stehen zu Recht, Gesetz und heiliger Ordnung mit dem Muth männlicher Ueberzeugung, das Ablegen jeder Feigheit, jedes Eigennutzes, jedes Ehrgeizes, jeder Menschengefälligkeit, die gewissenlose, widerwär­ tige Heuchelei erzeugen.

Auf der andern Seite, der demüthige Gehor­

sam, die aufopfernde Hingebung, die Treue bis ans Ende. die Christen der ersten Jahrhunderte.

Schaut an

Ein sklavisches Geschlecht brachte

den Kaisern den Weihrauch der Opfer, als wären sie Götter; — die schlichten Bekenner des Erlösers standen aufrechten Hauptes vor allen Gewaltigen der Erde, weder Kerker noch Scheiterhaufen entlockte ihrem Munde ein Wort unwahrer Schmeichelei. Dasselbe sclavische Geschlecht damaliger Zeit ist stets, wo das Gelingen in Aussicht steht, zur Empö­ rung, zu aller Gesetzlosigkeit in List und Gewaltthat bereit; die Christen, wie Unrecht ihnen auch mag geschehen, sind unter den Gesetzlosen nim­ mer zu finden, geben stets nach dem Wort ihres Meisters dem Kaiser, was des Kaisers ist, sind Unterthan aller menschlichen Obrigkeit, so weit nicht

eingegriffen

wird

in das

heilige Gebiet des Gewissens.

O daß weniger im Lande würde des unwahren Schmeichelns, des eigen­ nützigen Heuchelns und mehr sich verbreitete der männliche Gehorsam verbunden mit dem Muth, unerschütterlich zu stehen zu heiligem Recht, wo's Noth thut, für dasselbe zu zeugen, sich selbst zu verleugnen, und ist eS erforderlich, auch zu dulden und zu leiden.

Das ist es, was Gott

im neuen Jahre von uns fordert, wenn es heißt: „Erstarket im Herrn." Für alle menschliche Ordnung und Gemeinschaft ist der Herr gekom­ men, gewiß recht eigentlich für die Familie, für das häusliche Leben, wie uns daran so nachdrücklich das heilige Weihnachtsfest gemahnt hat. Ach es giebt im Schooße des Familienlebens die schönsten, süßesten und zugleich edelsten Freuden; aber nur da können sie gedeihen, wo die Liebe immer jung und mächtig bleibt, die Liebe, welche jeden Dienstes, jeder Selbstverleugnung, jeder Aufopferung fähig ist, nicht nur stärkt Hand

und Fuß fürs thätige Leben,

wo diese Liebe wo sie vielmehr

auch den hohen Muth erzeugt, in voller Gottergebung die harten Ge­ schicke zu tragen, welche eine ewige Weisheit sendet.

Die Familie ist

das gottgeordnete Heiligthum, wohinein er durch Christum den Strom seiner Liebe leitet,

die er zur Pflanzstätte seiner Liebe erkoren, zur

76

Schule der Selbstverleugnung und Aufopferung, der geistigen Tapfer­ keit und ausharrenden Geduld im Leiden erwählt hat. Von hier aus sollen die Ströme der Liebe und der Geduld und des gottergebenen Muthes die Gebiete der Gemeine, des Vaterlandes, der Kirche immer von Neuem durchströmen und befruchten. „Seid stark in dem Herrn" als die Gotteskinder in diesem schönsten und ehrwürdigsten Heiligthum der Menschheit. Hier lernet täglich ablegen was aller Schwäche Ur­ grund ist, das selbstische, eigensüchtige Wesen, hier als Eltern, als Kinder, als Geschwister u. s. w. lernet anziehen, was das innerste Wesen der Weiblichkeit bildet und zugleich den höchsten Schmuck des ächten Man­ nes, was stark ist zum Handeln, wie zum Leiden, stark zum Leben und zum Sterben, was stärker ist als der Tod, auch die Hölle überwindet; „ziehet an die Liebe, das Band [ber Vollkommenheit," so erfüllet ihr Gottes Forderung im neuen Jahre, so werdet ihr stark in dem Herrn. U. Aber wie ist es doch mit solcher Ermahnung ein eigenes Ding? Wie Gott der Herr in der Thierwelt dem Löwen die Kraft gegeben, ist so die Stärke in der Menschenwelt nicht auch seine Gabe? Was aber Gott gegeben, das braucht doch der Mensch nicht erst zu werden, darnach nicht zu ringen? Sagt doch auch die Schrift:*) „Sei­ nen Freunden giebt er es schlafend." Darin ist freilich Wahrheit, ver­ stehen wir'S nur recht. Als jener erste erwählte König Israels vor dem Volke erschien, da überragte er alle um eines Hauptes Länge und man jauchzte ihm entgegen. Nun wohlan, diese Länge hatte ihm Gott im Schlafe gegeben. Aber daß bei dem hervorragenden Haupt zugleich auf seinem Antlitz die Kraft des Geistes sich spiegelte, daß ihm That­ kraft, Weisheit, entschlossener Muth, Tüchtigkeit beiwohnte, daß er so den Zauber königlicher Würde an sich trug, das hatte er nicht schlafend gewonnen, dazu war ihm nothwendig gewesen eignes festes Wollen und Streben, eigene geistige Kraft und Energie zur Ausbildung und Ent­ faltung seines Wesens. Wohl ist es Gottes schöpferische Gnade, aus der alle Kraft und alle Kräfte des geistigen und gemüthlichen Lebens geworden sind und werden. Der Ewige ist es, der in diese Natur *) Psalm 127, 2.

77 hineinpflanzte den Grundzug des tiefen Gemüthes, welcher jenem ver­ lieh die Kraft klaren, scharfen Verstandes, er ist es, von dem die reichste Mannichfaltigkeit besonders eigenthümlicher Begabung entspringt.

Aber

daß die gottgegebene Kraft in und auS ihren Keimen sich entfaltet, daß der Mensch ihrer Herr wird, daß es zur gesegneten Wirksamkeit kommt, das ist nicht möglich, wenn der Mensch nicht im Ringen, im Arbeiten sie sich gleichsam erst erwirbt.

Im Gleichniß des Erlösers wird der

seines Pfundes nicht froh, hat im Besitz desselben keinen Genuß, der's im Schweißtuche verbirgt oder vergräbt, sondern nur der, welcher rüstig damit arbeitet und das doppelte damit gewinnt, erfreut sich als der treue Knecht des Gegebenen und Gewonnenen, ist selig, daß so ihn sein Herr über viel setzt.

Eben weil Gott in dem Reichthum seiner

Liebe uns Kraft und Kräfte verliehen, darum können wir stark werden in ihm und in der Kraft seiner Stärke und sind fähig solche Ermah­ nung zu hören,

Mer eben deshalb, weil wir nach seinem Bilde ge­

staltet, gleichsam unsere Selbstschöpfer werden sollen; müssen wir noth­ wendig auch hören und befolgen seinen Ruf:

Erstarket, werdet stark

in dem Herrn. Doch, meine Geliebten, die Beobachtung, daß in der beständigen Uebung, in dem Einsetzen der Kraft erst die Kraft erstarkt, verleitet manche, alles Gewicht allein auf diese Seite zu legen, d. h. überflüssig zu finden, wenn der Apostel sagt, im Herrn, in der Kraft seiner Stärke. Der Mensch ist sich auch ohne Gott seines Glückes Schmied, auch ohne die Gemeinschaft mit Gott kann der Mensch, was er will, werden durch selbsteigene Kraft.

Geliebte, des Menschen eigentlichstes Wesen

ist Vernunft und Gewissen. — Die Vernunft ist der Ausfluß der ewi­ gen Urvernunft, das Gewissen, die Stimme des Heiligen, muß Aus­ fluß ewiger Heiligkeit sein.

Wie diese aber von Gott stammen; so wer­

den sie sich auch nur in der Gemeinschaft mit Gott herausbilden und zur wahren Kräftigkeit gelangen.

Ja, im Ringen die ewige Urvernunft

zu finden, ihr nachzudenken und zu ihr sich zu erheben, hat sich von jeher alles, was als wahrhaft menschliche Vernunft hervortrat, ent­ wickelt.

Rur im Gefühl und Bewußtsein einer heiligen Weltordnung

und darum einer allwaltenden

Heiligkeit sind

die Forderungen

des

78 Gewissens irgendwie verwirklicht, hat sich wahre Sittlichkeit herausge­ bildet.

Wo Gott nicht gesucht wurde, da wurde auch nicht gefunden,

weder Licht noch heiliges Leben.

Was Gott gegeben, im Aufschauen

zu ihm, im Licht seiner Gnade, im Beistand seiner heiligen Kraft allein werden wir es herausgestalten, darum: in der Kraft seiner Stärke."

„Erstarket in dem Herrn und

Wer stark werden will ohne den Herrn,

ja der Gewissenlosigkeit wird er anheim fallen und in der Gewissen­ losigkeit der Spielball bald der wechselnden Launen des eigenen trüge­ rischen Herzens, bald der wetterwendischen Strömungen schnell aufge­ regter und leicht bewegter Massen werden, heute

dem das Kreuzige

rufend, welchem gestern sein Hosiannah erklang, ein schwankendes, ohn­ mächtiges Rohr von jedem Winde hin und herbewegt, bald nach dieser,bald nach jener Seite auf den Boden gestreckt.

Aber wohl, sagt man,

ist die Frömmigkeit die Amme, die Pflegerin ächter Sittlichkeit, ächter Tugend;

so,

wenn das Kind groß geworden, bedarf es der Amme,

der Pflegerin nicht mehr.

So lange die Sittlichkeit und Tugend noch

wachsen muß, mag sie aus der Frömmigkeit, aus dem Glauben ihre Kraft ziehen; ist sie wirklich in's rechte Mannesalter gekommen, zur rechten Erstarkung,

dann

kann

möchte ich zunächst fragen:

Wo

sie der Frömmigkeit entbehren.

Da

denn wohl unter unS Menschen die

volle Sittlichkeit und Tugend zu finden sei, die des Wachsthums und also auch der Pflege nicht mehr bedürfte? — Aber weiter, jedes Leben, auch wenn es vollendet wäre, erhält als Leben sich nur durch das Aufneh­ men von Lebenskräften.

Also die ausgebildete Sittlichkeit bedürfte der

Frömmigkeit, der Zuflucht zum Herrn nicht mehr?

Siehe, stelle dich

im Geist mit mir an die Ufer eines mächtigen, gewaltigen Stromes. Sprichst du, ja als er als kleiner Bach sich zeigte, da bedurfte er der mannichfachen Quellen, die ihre Gewässer ihm sendeten, der Zuflüsse von allen Seiten, der Regengüsse von oben — jetzt ist er ein Strom ge­ worden — die Quellen am Ursprung mögen versiegen, die Nebenflüsse abgeleitet werden, des Regens, des

Schnees bedarf es nicht, dieser

Strom ist ja mächtig, er treibt nach wie vor dahin in majestätischer Kraft seine Wellen!

Würde nicht im Gegentheil in kürzester Zeit der

ganze, herrliche Strom verschwinden und nichts übrig lassen als sein

79 ödes Bett, dessen Sand die Stürme aufwühlten?

So entziehe dich

mit deiner Sittlichkeit und Tugend der Gemeinschaft mit dem Höchsten, und öde und unfruchtbar wird der Verlauf deines Lebens, Tugend und Sittlichkeit verschwinden zugleich und lassen wüste die Stätte deines Herzens.

Die Götterlehre der alten Griechen erzählt, wie jener Heros,

der zum Heile der Menschheit manch' Ungeheuer überwältigte und manche schwere Arbeit vollbrachte, mit einem Riesen zu ringen hatte, der, wie oft auch niedergeworfen, sich doch stets in neuer Kraft erhob, weil der mütterliche Boden der Erde dem Erdensohn die eingebüßten Kräfte er­ setzte.

Das ist Fabel, die Erde vermag nicht solches.

nicht nur Erdenkinder, sondern Gotteskinder.

Wir aber sind

Wir kennen einen mütter­

lichen Boden, der giebt seinen Kindern überschüssige Kraft, so lange sie von ihm sich nicht trennen, das ist der Boden der uns offenbarten göttlichen Gnade und Wahrheit.

So lange wir mit unserm Glauben

auf diesem Boden stehen, strömt uns aus ihm die Himmelskraft, kann uns keine als nur menschliche Versuchung betteffen und Gott schafft, daß wir sie können ertragen, daß wir dürfen rühmen: In dem Allen überwinden wir weit.

Von diesem Boden aber kann uns niemand

trennen als allein unser eigener Wille, wenn er sich selber verkehrt. Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes, die da ist in Christo Jesu unserm Herrn.

Gott sei gepriesen, er ist in Christo Immanuel,

„der Gott mit uns," als solcher wird er uns geleiten im neuen Jahre, als solcher fordert er:

Seid stark im Herrn, als solcher wird er selbst

mit seiner Kraft stark sein in uns Schwachen!

Amen.

Die Versuchung des Herrn (L). I

Epiphanienzeit.

Text:

Matth. 4, 1 — 11.

Da ward Jesus vom Geiste in die Wüste geführt, auf daß er von dem Teufel versucht würde.

Und da er

vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn.

Und der Versucher trat zu ihm und sprach: Bist du

Gottes Sohn, so sprich, daß diese Steine Brod werden. Und er antwortete und sprach: Es steht geschrieben: Der Mensch lebt nicht vom Brod allein,

sondern von einem

jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht.

Da

führte ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels, und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so laß dich hinab, denn es steht geschrieben: Er wird seinen Engeln über dir Befehl thun, und sie werden dich auf den Händen tragen, auf daß du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.

Da sprach Jesus

zu ihm: Wiederum steht auch geschrieben: Du sollst Gott, deinen Herrn, nicht versuchen.

Lieder:

Nr. 541.

Nr. 449, 4.

Wiederum führte ihn der

81

Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit, und sprach zu • ihm: Dieß Alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest. Da sprach Jesus zu ihm: Hebe dich weg von mir, Satan; denn es steht geschrieben: Du sollst an­ beten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen. Da verließ ihn der Teufel; und siehe, da traten die Engel zu ihm und dienten ihm. beliebte im Herrn, gewiß sind wenige unter uns geneigt, diese evan­ gelische Erzählung als buchstäblich so geschehene Geschichte aufzufassen. Abgesehen von der leibhaftigen Erscheinung des Teufels, in die wir uns nicht zu finden verstehen; fragen wir: Wo war doch der Berg, von dem man alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit überschaute? oder: Wie wurde es doch dem Satan und dem Heiland, der ja kein Priester war, gestattet, die Zinne des Tempels zu betreten? Der Hauptanstoß aber liegt in der Frage: Wie ist es irgendwie denkbar, daß der Erlöser vom Teufel sich herumführen ließ, wie denkbar, daß er ihm gefolgt ist wie das Lamm dem Hirten? Kannte ihn der Herr, so hätte er ihn sofort abgewiesen; kannte er ihn nicht, so wäre er auch einem Unbekannten nicht gefolgt, wenn er das Ziel und die Absicht des Gehens nicht wußte und billigte. Können wir aber die buchstäb­ liche Wirklichkeit dieser Geschichte nicht annehmen, ich denke doch, keiner ist unter uns, der sie in der Bibel missen möchte, keiner, dem sie in ihrer Stellung unmittelbar vor dem Antritt des öffentlichen Lehramtes Jesu nicht höchst bedeutsam und höchst bedeutend wäre. Da ist denn gesagt worden: Ja diese Erzählung ist ansprechend und bedeutend wie eine Mythe, wie eine dichterische oder philosophische Sage. Doch ich denke, auch das will mit unserm christlichen Bewußtsein nicht recht zusammen­ stimmen. Endlich ist diese Erzählung in die Reihe der Parabeln Jesu gestellt. Der Herr, so sagt man ^theilte das ganze als Parabel mit, um die Jünger vor künftigen Versuchungen in ihrem Beruf für'S Reich Gottes zu warnen und damit zu schützen. Was der Herr so als Thomas. Glaube an Christus.

6

82 Gleichniß gegeben, das habe eine, spätere irrthümliche Auffassung in Geschichte umgewandelt.

So viel ist gewiß und wahr, daß, wenn der

Herr diese Erzählung gab, er dabei denselben Zweck wie bei seinen Parabeln hatte, nämlich anschaulich und ergreifend zu lehren und zu warnen.

Aber wir fühlen doch wohl alle, wie der Herr unmöglich sich

selbst als Lehr- und Vorbild hinstellen konnte, ohne daß er es der Wirk­ lichkeit nach war.

Wir fühlen daß hier mehr ist als Parabel, nämlich

wahre wirkliche Geschichte, aber freilich von dem, was in dem Geiste Jesu innerlich vorgegangen war, kurz vorher, ehe er predigend auftrat in Judäa.

Was aber innere Geschichte war, das hat der Herr oderseine

Jünger in die Gewandung äußerer Begebenheiten gekleidet, um eben der Lehre halber anschaulicher zu werden.

Laßt uns im frommen Nach­

denken Klarheit über unsere Erzählung suchen, und zwar so, daß wir heut mehr bei dem Allgemeinen verweilen, das nächste Mal uns mit den drei einzelnen Versuchungen beschäftigen. I.

Der Herr geht nach

unsern evangelischen Berichten in die

Wüste, nachdem er eben durch Johannes

die Taufe erhalten hatte.

Die Taufe war aber für ihn die äußere Handlung, durch welche er für sein Amt geweiht erschien. gangene.

Blicken wir zurück auf das Vorange­

Als volles, wirkliches Menschenkind, aber doch als der ein­

zige Menschensohn, hatte sich Jesus entwickelt, einzig, weil ohne Sünde, weil nie durch irgend eine Kluft vom Vater getrennt, als wirkliches Menschenkind, weil das, was in ihm angelegt war, sich nur allmählig entfaltete, weil darüber ihm selbst nur allmählig das klare, volle Be­ wußtsein wurde.

„Wisset ihr nicht, daß ich fein muß in dem, das mei­

nes Vaters ist" *) ? hatte dort die verwunderungsvolle Frage des zwölf­ jährigen Knaben im Tempel gelautet.

Wir fühlen, meine Freunde, wie

aus diesem Wort uns ein schmerzliches Gefühl entgegenklingt, wenn dasselbe auch noch mehr oder weniger dunkel war.

Es war das Ge­

fühl, daß selbst Vater und Mutter trotz ihrer höheren Erfahrung und Einsicht, und ihrer gereisten Vernunft nicht wie er mit seinem kind­ lichen Gemüth immer im Vater lebten.

*) Lukas 2, 49.

So spricht derjenige, welcher

83 ein Fremdling im elterlichen Hause, ein einer anderen Welt Angehö­ riger selbst unter Eltern und Geschwistern wird. aber zum vollsten,

Je weiter er sich

klarsten Selbstbewußtsein entwickelte,

desto mehr

mußten sich diese Gefühle eines Fremdlings unter seinen Umgebungen steigern, es mußte ihm die klare Einsicht in seine Einzigkeit unter den Menschen aufgehen, daß nämlich er allein immer in vollster Einheit mit dem Vater sich befand, während alle anderen mehr oder weniger mit ungöttlichem Wesen behaftet waren, daß er deshalb, nicht blos ein Sohn, sondern der eingeborne Sohn, vom Vater ausgegangen sei und gekommen in die Welt.

Damit ging aber ein Zweites in seinem

innern Bewußtsein Hand in Hand.

Je mehr er sich nämlich selbst

über sein eignes Wesen, über seine einzige, volle Einheit mit Gott klar wurde, desto weniger konnte er es für einen Raub halten, Gott gleich zu sein*), d. h. für etwas, was er sich selbst mit eigner Kraft ange­ eignet hätte und darum nur für sich besäße, desto mehr mußte er inne werden, daß er vom Vater in der Welt zugleich für die Welt bestimmt sei, daß er als der Heilige gesandt sei zu heiligen, als der Sohn zu versöhnen, als der Selige zu beseligen.

Wie es nun ist bei der schwel­

lenden Knospe, — aus dem Innern der Pflanze treibt die eigne Fülle der Kraft, vom Himmel her wirket die Kraft des Sonnenlichtes und der Sonnenwärme; in dieser gegenseitigen Wirkung bricht sie, die Knospe, ihre Hülle, und in der ganzen Pracht, dem ganzen Schmelz der Farben leuchtet uns die Blume entgegen und labt uns mit ihrem würzigen Duft, — so mit Jesus.

Die Fülle heiliger Kraft in ihm selber läßt

immer mehr und mehr schwellen die Knospe seines eigentlichen Lebens, dieser innern Kraft begegnet, von oben, vom Vater her, das Licht und die Wärme seiner Liebe, und dort bei der Taufe konzentrirt diese Liebe äußerlich alle ihre Strahlen in der himmlischen Erscheinung und in dem Wort**):

„Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlge­

fallen habe," und in demselben Augenblick hat auch die Knospe seines eigentlichen Lebens die Hülle gesprengt und ist in voller Herrlichkeit zur Blume erschlossen, *) Philipper 2, 6. **) Matthäus 3, 17.

in dem Augenblick

steht er vor den Augen

84 seiner eigenen Seele sich selbst ganz klar da, als der Einzige unter den Menschenkindern in seinem Verhältniß zu Gott, darum als der Sohn der Menschen, in dem die Menschheit ihre Bestimmung erreicht hat, ganz Gottes Sohn zu sein; aber auch als solcher bestimmt und berufen, ein Heiland der Menschheit zu werden.

Die ganze Fülle der

Seligkeit, Gottes eingeborner Sohn zu sein und in der Liebe der Welt das Leben bringen zu können, durchzieht nun ungehemmt seine Seele. Damit sind wir bei dem Anfang unserer Geschichte angekommen.

n. Geist."

„Da ward Jesus vom Geist in die Wüste geführt."

„Vom

Das ist kein anderer Geist als der heilige, der Geist Gottes

wie er als ewiges Lieben beständig in die geschaffenen Geister einzu­ dringen strebt, wie er die Menschheit in seinen Tempel umwandeln und durch sein Einwohnen sie mit göttlichem Seligsein erfüllen will. Dieser heilige Geist, diese Liebe Gottes, wie sie die beseligende Eini­ gung mit den Menschen zu bewirken strebt, ist fortan der Geist, der Jesum allein bei allen Worten und Werken regiert, ihn allenthalben hinführt, in das Festgewühl Jerusalems und in die friedliche Stille zu Bethanien, von Galiläa nach Judäa, von Judäa nach Galiläa.

Geht

er deshalb vor dem Beginn seiner Thätigkeit in die Wüste, er geht, weil derselbige Geist ihn dorthin führt.

Wie aber führt ihn gerade

dieser Geist, der Geist der die Seelen und ihr Heil suchenden Liebe in die Wüste?

Meine Freunde, wo ein großes Unternehmen vorliegt

und ein großes Werk hinausgeführt werden soll, da ist zuerst ein sorg­ fältig Bedenken und Ueberlegen nach allen Seiten hin nothwendig, wie der Herr selbst spricht*): „Wer ist unter euch, der einen Thurm bauen will und sitzt nicht zuvor und überschlägt die Kosten, ob er es habe hinauszuführen?"

Wenn der Herr im heiligen Geiste es jetzt als seine

Aufgabe erkannte, den Menschen und zunächst seinem Volk seine eignen ewigen Heilsgüter darzureichen, das Heil, die Erlösung zu stiften, und das Reich Gottes, welches ist Gerechttgkeit, Friede und Freude im hei­ ligen Geist, zu gründen; so war es auch für ihn geboten, die ganze Lage der Welt und namentlich seines Volkes zu erwägen, alle Bedürf-

*) Lukas 14, 28.

85 nisse und Gebrechen zu durchschauen, alle wahren Mittel der Hülfe zu bedenken, den rechten Weg des Heils und die Anknüpfungspunkte für dasselbe ungetrübt zu erkennen; den ganzen Plan des großen Werkes in seinem Wesen und in seinen Grundzügen sich festzustellen.

Nur aus

gesammelter, besonnener, weisheitsvoller Ueberlegung wird jedes gute, gottgefällige und den Menschen segensreiche Werk geboren.

Der hei­

lige Geist führt ihn in die Wüste, in die stille Einsamkeit, damit aus seinem heiligen Sinnen und Denken sein Werk heilig und thatkräftig hervorgehe. — Wenn wir ein Werk, das mit seinem Heil zusammen­ hängt, vor uns haben, da werden wir auch die stille Sammlung suchen und uns verschaffen; aber auch ein Anderes wird als Bedürfniß sich bei uns geltend machen.

Haben wir eine uns gestellte Aufgabe

in

der Stille erwogen, dann, um je größer dieselbe, um je wichtiger und folgenreicher ihre Ausführung, je mehr wir dabei die Hülfe anderer bedürfen, desto weniger genügt uns unser alleiniges Nachsinnen.

Wo­

nach wir uns alsbald umschauen, das sind mit überlegende, mit bera­ thende Freunde. schon

in

der

Sie, die mit ausführen sollen, wir sehnen uns sie

geistigen,

sinnenden

Vorbereitung

als

Genossen

und

Stützen an unserer Seite zu sehen, nicht nur, damit uns selbst hier und dort mehr Klarheit und Ermuthigung werde; sondern daß auch unsere Genossen und Helfer mit uns von Anfang an im rechten Geist, in klarer Erkenntniß an's Werk gehen. Erlöser hier keine Spur.

Davon haben wir bei dem

Mit sich allein war

er in der Wüste in

langanhaltender Berathung, so daß er über dem geistigen Sinnen und Denken selbst die leiblichen Bedürfnisse vergaß und in denselbigen Tagen nichts aß.

Sein völliges Abgeschlossensein von allen Menschen, so daß

er allein auf sich angewiesen blieb, will ja Markus wohl eben mit der Wendung: „er war bei den Thieren" ausdrücklich hervorheben.

Warum

nun berathet er nicht auch mit Freunden und Genossen das große Werk? Etwa, weil er derselben dazu nicht bedurfte?

Wie sehr er sich selber

genügen mochte, allezeit hat er für sein Thun und damit gewiß auch für seine geistige Ueberlegung sich nach Genossen gesehnt. Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte sende*).

*) Matth. 9, 38.

„Bittet den Vielmehr

86 ist das der Grund, daß er berathende Freunde und Genossen für das große, auszuführende Wert göttlicher Liebe unter den Menschen nicht fand.

Da werden wir schon hier gemahnt, wie der Heiland alle Zeit

von Anfang seines Wirkens an zugleich zu leiden hatte, wie sich das durch sein ganzes Leben hindurchzog.

So oft er nach Jerusalem ge­

kommen war, hatte er wohl immer wieder auf die Priester und Schrift­ gelehrten, auf die berufenen Träger und Pfleger des Heiligen, auf die von Gott für den Bau seines Reiches angestellten Bauleute geschaut. Aber das ist ihm gewiß, in ihrer Mitte ist für ihn kein Rath und keine Hülfe, sie sind vielmehr solche, die den Schlüssel des Himmelreiches in Händen haben und niemand hineinlassen, noch selbst eintreten, sie sind die blinden Leiter der Blinden, die Bauleute, die in ihrer gewissenlosen Thorheit selbst den Grund und Eckstein des Baues verwerfen werden. Dann ist er zu Johannes gegangen und hat wohl den Größesten seines Geschlechtes, den ersten Propheten in ihm erkannt, hat gewußt, daß er weder zu dem wankelmüthigen Geschlecht, welches der Wind jeder öffent­ lichen Meinung hin und her bewegt, noch zu den Genußsüchtigen, die der Könige Häuser suchen, gehört.

Ja er sieht in ihm gleichsam den

alten Bund auf seinem Gipfel, wie er im Begriff zu sein scheint, in den neuen überzugehen, sich in dem neuen aufzulösen.

Und doch kann

ihm auch dieser größeste Prophet des alten Bundes kein Berather und Helfer für den neuen werden.

Sein Auge drang in das innere Wesen

des großen Mannes und es ward sogleich inne, daß eben der Kleinste int Reiche Gottes doch größer sei denn er, daß £V zu klein sei, wenn es galt, die Stiftung des neuen Bundes berathend zu beschließen, aus­ führend zu beginnen.

Wie Elias, der Mann der Kraft und des Gei­

stes, in der Größe der Anfechtung dennoch zusammenbrach, daß er unter dem Wachholder in tiefer Verzagtheit an Gott und seinem Reich rief *): „Ich bin allein übrig geblieben;" so erkannte der Herr auch an Jo­ hannes den, der bei aller seiner sittlichen Kraft doch ähnlichen Anfech­ tungen nicht gewachsen sein, der im ähnlichen Verzagen des KleinglaubenS fragen würde **): *) 1. Könige 19, 20. **) Matth. 11, 3.

„Bist du es der da kommen soll?"

Auch er,

87

das war dem Herrn klar, war nicht Manns genug in völlizster Selbst­ verleugnung und Selbstopferung den gottgezeigten Weg dcS Heils zu erkennen und zu gehen, darum nicht Manns genug, ihm, dem Erlöser, berathend und helfend zur Seite zu stehen. Ein seliger Gang in die Wüste, um sich in sein Heilswerk zu vertiefen und doch auch dieser schon ein SchmerzenSgang, indem er schon hier voraussah, wie er für alle schweren Kämpfe des künftigen Lebens von den Menschen insge­ sammt verlassen sein werde. Es ist hier ebenso im Vorgefühl seines Innern all' das Weh von dem Herrn getragen, wie er e§ später im äußeren Zusammenleben mit seinen Jüngern erfuhr.. Sie «ollten seine Freunde sein, die Träger seines Geistes, die Säulen seiner Gemeine. Wie erfährt er immer wieder, daß er in ihrer Mitte so allein, mit seinem Geist und Leben von ihrem Sinn so verlassen ist. Immer von Neuem tönt deshalb seine Klage: „Wie lange soll ich bei euch sein, wie lange soll ich euch dulden" *)! „Wisset ihr nicht, wes Geistes Kinder ihr seid" **)? „Ihr wisset nicht was ihr bittet" ***). Ja er muß' in heiligem Unwillen zu dem Ersten ihres Kreises sprechen f): „Hebe dich Satanas von mir, du bist mir ärgerlich, denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist." Er muß vor seiner Gefangennahme ihnen klagen: Ihr werdet euch alle an mir ärgern" und zu Petrus: „Ehe der Hahn krähet, wirst du mich dreimal ver­ leugnen." Ja in dunkelster, schwerster Stunde lassen ihn die drei bevorzugten, Johannes, Petrus, Iakobus allein im heißen Kampfe ringen, können auch nicht eine Stunde mit ihm wachen. Dieser Schmerz, wie er sich durch'S ganze öffentliche Leben hindurchzieht, wie er sich auf Golgatha, wo er der Verstoßene der ganzen Menschheit ist, vollendet, der umdunkelt hier schon beim Beginn seiner Heilsthätigkeit seine Seele. Sein ist die tiefe Wehmuth, daß er zur Berathung und Beschließung seines Heilswerkes keine einzige mitfühlende, reine Seele findet, daß ihm zu diesem Zweck nichts bleibt als die einsame Wüste, in der die *) **) ***) t) . ft)

Matth. 17, 17. Lukas 9, 55. Matth. 20, 22. Matth. 16, 23. Matth. 26, 31—34.

88

Thiere Hausen, in der kein Mensch ihn stört, aber auch kein Mensch ihm ermuthigend und tröstend zur Seite steht! Hl. ES heißt in unserm Text: „Auf daß er vom Teufel versucht würde." Wollten wir die Versuchung des Herrn als eine überirdische, außerhalb der Grenzen des Menschlichen liegend, auffassen, wir wären im großen Irrthum. Es giebt für «nS keine etwa überirdische, rein teuflische und keine außerhalb des Menschlichen liegende Versuchung, darum aber auch nicht für den Herrn. Er ist versucht wie wir, sagt die Schrift;*) den Christen aber wird gesagt:**) „Es hat euch noch keine, denn menschliche Versuchung betreten." Auch die Versuchungen Christi, wie sie hier als vom Teufel ausgehend dargestellt werden, kön­ nen ihm wesentlich nur aus der Menschheit gekommen sein. Wie ver­ hält es sich damit, wie traten sie Jesu, ehe er seine Thätigkeit begann, entgegen? Wenn Christus als Heiland erlösende und versöhnende Kräfte der Menschheit thatsächlich gewähren wollte, so mußte diese ihm Eins, nämlich Empfänglichkeit, Verlangen, Sehnsucht entgegenbringen. Ohne Empfänglichkeit für das Heil ist jeder Heiland überflüssig und vergeb­ lich. Wie der Herr also in der Betrachtung nach den Punkten sich umschaut, wo er seine Gnade anknüpfen und Heil wirken könne, schaut er eben aus, wo die Empfänglichkeit dafür vorhanden sei. Diese hatte Gott in geschichlicher Leitung und Regierung in seinem Volke erweckt, indem er durch der Propheten Stimme, durch die immer sich erneuende Weissagung das Bewußtsein von der allgemeinen Verderbniß und damit von der Nothwendigkeit der Umgestaltung und Wiedergeburt, darin zu­ gleich die Hoffnung auf einen Messias und auf das von ihm zu grün­ dende Gottesreich hervorrief. Diese messianische Hoffnung war es, worin die Empfänglichkeit sich aussprach, war das göttlich Gewirkte, das wahrhaft Gute, was der Erlöser in Israel vorfand, woran er mit seiner Heilsthätigkeit allein anknüpfen konnte. Und mächtig, wir wissen es, war das Volk von messianischen Erwartungen durchzogen, oft von ihnen aufs Tiefste bewegt und erregt und es erschien nach der Seite vollständig die Zeit für Christum erfüllet, vollständig der Boden im *) Hebräer 4, 15. **) 1. Korinther 10, 13.

89

Volke vorbereitet, um die Saat des Heilandes in sich aufzunehmen. Aber diese messianischen Hoffnungen hatten ihre bestimmten Färbungen, ihren ganz bestimmten Gehalt angenommen, hatten sich nicht nach dem heiligen Willen göttlicher Gnade, sondern nach den Gelüsten des eigen­ willigen, fleischlichen Herzens ausgebildet. So war das einzig Gute für die Zukunft in Israel vergiftet, so hatte die Hoffnung des Heils selbst mit bösem Inhalt sich erfüllt. Was diese Hoffnung war, das zeigte sich später im jüdischen Kriege, der Jerusalems Zerstörung, des Volkes Zersprengung, des Landes Verwüstung nach sich zog. Dämo­ nische, finstere Mächte beherrschten in Gestalt messianischer Hoffnungen die Massen des Volkes, erzeugten entsetzliche Greuel und stürzten das Volk in den Abgrund des Verderbens. In dieser verderbten, messia­ nischen Hoffnung herrschte der Geist der Finsterniß als der Fürst die­ ser Welt. Als der Herr in sinnender Betrachtung damals in der Wüste mit sich selber berieth, als so die messianischen Hoffnungen sei­ nes Volkes als dasjenige, woran er sich mit seiner ganzen Heils- und Liebesthätigkeit anschließen konnte, vor seine Seele traten, da verhießen sie ihm ja den größesten und schnellsten Erfolg, wenn er sie, wie sie mit ungöttlichem, weltlichem, fleischlichem Wesen durchzogen waren, be­ friedigte, da drohte ihm aber auch von dieser Seite, wenn er dem Verderbten, dem Sündigen in diesen Hoffnungen sich bestreitend ent­ gegensetzte, der Haß, die Mißhandlung, die Dornenkrone, das Kreuz. Wie Anders konnte eö sein, als daß aus den messianischen Hoffnun­ gen seines Volkes, aus den Messiasbildern, die es sich gemacht hatte, den Erlöser gleichsam der Versucher, der Fürst der Finsterniß und des Verderbens anschaute, daß, während er vorausschauend und erkennend alle die Versuchungen seines künftigen Lebens gleichsam innerlich schon durchlebte, daß er da wie vom bösen Geist, vom Teufel sich versucht fühlte! So war er auch hier der Mann der Schmerzen, schon beim Beginn seines Amtes das Lamm Gottes, welches der Welt Sünde trug!*) Nun unsre Erzählung berichtet: Er hat hier innerlich den Sieg errungen, wie später den äußeren Versuchungen gegenüber bis zu dem *) Johannes 1, 29.

90 großen Wort: „Es ist vollbracht."

Er ist und hier wieder vor Augen

gestellt als der, welcher, weil er gelitten hat und versucht ist, auch hel­ fen kann uns, als denen, die versucht werden.

Sind wir aber damit

ans Ende unsrer heutigen Betrachtung, gestattet mir zum Schluß eine kurze Anwendung auf uns.

Des Heilandes Entwicklung zeigte ihn, je

mehr sie fortschritt, desto mehr wie einen Einzigen, wie einen Fremd­ ling in seiner Umgebung — so allein in Reinheit und Gotteinigkeit -— alle andern vom ungöttlichen Wesen befleckt.

Wir in unsrer Entwick­

lung, ja es war von Kindheit an ein Fremdes in uns, das dem Geist unsrer christlichen Eltern und Lehrer widerstrebte, von ihnen erst über­ wunden werden mußte und so weit wir ihrer Zucht und Leitung folg­ ten, wurden wir allmählig heimisch nicht nur in ihrer geistigen Ge­ nossenschaft, sondern es wurde uns zugleich damit Heimats- und Bür­ gerrecht im Himmelreich, so daß es auch für uns lautet*):

„Ihr seid

nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Bürger mit den Hei­ ligen und Gottes Hausgenossen."

Wem haben wir das zu danken?

Gewiß doch ihm, der in seinem Gehorsam gegen den Vater, in seiner heiligen Liebe als ein Fremdling groß wurde in seinem Hause, in sei­ nem Volk. ■— Der Herr, als eö galt an die Erlösung und Versöhnung der Welt zu gehen, mußte allein für sich in der Wüste neben den Thie­ ren Berathung Pflegen, kein irgendwie ebenbürtiger Freund, der ihm zur Seite stand.

Wir, wo es sich handelt um das Kommen des Rei­

ches, um Gerechtigkeit, Friede und Freude für uns und die uns irgend­ wie Verbundenen, wo Sorgen in dieser Beziehung auf uns lasten, wo wir Trostes, Rathes, wo wir der Kräftigung und Ermuthigung bedür­ fen ■— nicht wahr, wir alle finden, wenn wir nur finden wollen, schon im häuslichen oder

im weiteren Kreise lieber treuer Menschen solche,

aus denen der Geist Gottes zu uns redet und uns gewährt, wonach wir verlangen! Wem danken wir es? Ihm, der in seiner Liebe für uns die tiefste Armuth des Lebens trug, auch in dem Sinne, daß er nicht eine Seele fein

nennen konnte, um sich irgendwie auf sie zu

stützen. — Ans dem Besten,

*) Epheser 2, 19.

was sein Volk in sich trug, aus der

91

messianischen Hoffnung blickte den Heiland der Versucher, der Fürst der Finsterniß an und auch hier hatte er ihn zu überwinden. Die Hoffnungen des Bessern auf allen unsern sittlichen Lebensgebieten, die Sehnsucht danach, laßt es uns nicht verkennen, es ist allein der An­ knüpfungspunkt für alles künftige Heil. Aber gewiß sind wir nicht blind, eö zieht sich auch in unsern Tagen durch solche Hoffnungen, und durch solche stille oder oft recht laut werdende Wünsche Selbstsüchtiges, Fleischliches, Ungöttliches und darum Unheilschwangeres hindurch, es redet oft daraus der Versucher zu unsern Herzen. Aber auf der einen Seite, aus der Vergangenheit und in der Gegenwart, wenn manches Ungöttliche und Sündige mit unterläuft, in dem Streben nach der besseren Zukunft haben unter uns gestanden und stehen unter uns Gotteöringer, die wahrhaft das Heil im Auge habend sich weder durch Gunst noch Furcht im treuen, gewissenhaften Streben, in gottgewollter Thätigkeit, beirren lassen. Wem haben wir'S zu danken? Ihm, der in seiner Liebe für uns die ganze Verderbniß feines Volkes und der Welt wie eine Versuchung deS bösen Feindes über sich^ ergehen ließ und überwand. Und dazu, was im Gewirr sich bekämpfender TageSmeinungen, im Getreibe aufregender Leidenschaften auch uns ver­ suchen, auch verdunkelnd und verwirrend auf uns wirken möchte; wir haben ihn, der in dunkelster Versuchung als das Licht der Welt für uns strahlt und uns die Bürgschaft gibt, daß wer auf ihn schaut und an ihm sich hält, daß der nicht wandeln in Finsterniß, sondern haben das Licht des Lebens wird. So kein anderer Schluß, alö: „Gelobt feist du o Christus." Amen.

Die Versuchung des Herrn (II.)« II. Epiphanienzeit.

Text: Matth. 4, 1 — 11. beliebte in Christo! Die verlesene evangelische Erzählung war schon neulich Gegenstand unserer Betrachtung, aber so, daß wir sie mehr in ihrer Allgemeinheit ins Auge faßten. Als Grundlage für diese Ver­ suchung des Erlösers erkannten wir es, daß seine Entwicklung sich bis dahin vollendet hatte, wo er sein Amt als Heiland antreten konnte. Indem er aber im Begriff steht, läßt ihn der heilige Geist, d. i. der Geist der Gottesliebe, welcher die Wiedervereinigung mit der Mensch­ heit erstrebt, in die stillste Einsamkeit gehen, nm das heilige Werk und seine Ausführung, um den Plan, wie sich die Erlösung und des Rei­ ches Stiftung verwirklichen lasse, im stillen Sinnen vor Gott und mit Gott zu überlegen. Hierbei mußte ihm nothwendig dasjenige Gottge­ wirkte in seinem Volke, woran allein die Erlösung sich anknüpfen konnte, vor die Seele treten, die messianische Hoffnung. Diese messianische Hoffnung durch Gottes Geist mittelst Prophetenwort in Israel erweckt, immer wieder belebt und gestärkt, hatte indeß aus der Selbst­ sucht der fleischlichen Herzen sich mit viel Eitlem, Sündigem, Fleisch­ lichem durchzogen, so daß in dem Besten, Gottgegebenen,, was Israel Lieder: Nr. 488.

Nr. 449, 4.

93 besaß, dennoch die Sünde, der Fürst der Finsterniß, sein Werk hatte. Aus Israels verderbten Messiashoffnungen wendet sich die Macht der Finsterniß, die Macht der Versuchung, der alte, böse Feind, Luther im Liede bezeichnet, an den Herrn.

wie's

Wie Adam einst im Para­

diese, so wird der zweite Adam, Christus, in der Wüste versucht; wie Adam dort fiel, so überwand hier der Heiland.

Heut bleibt uns übrig,

die einzelnen Versuchungen unserm Nachdenken zu unterziehen. noch zwei Bemerkungen. wie es gewissermaßen aus

Vorher

Was der Erlöser hier in seinem Geiste, so der Gestalt und Beschaffenheit des damali­

gen Volkslebens ihn anhauchte und versuchend nahe trat, siegreich zu­ rückwies, das ist in seiner Berufsthätigkeit aus dem wirklichen Leben ihm im Einzelnen immer wieder als Versuchung nahegekommen, aber von ihm stets in gleicher Kraft und Reinheit, obgleich nie ohne tiefes Weh überwunden.

Das Zweite:

Der Herr hat darum seinen Jün­

gern und durch sie uns die Erzählung in ihrer jetzigen Gestalt gege­ ben, damit er als Vorbild uns vorleuchte, damit wir dann in allen Versuchungen des Lebens ihm nach, durch ihn falls überwinden.

Indem wir dies behalten,

und in ihm gleich­ gehen wir nun zum

Einzelnen. I.

Den Herrn, wie er hungert, fordert der Versucher auf: „Bist

du Gottes Sohn, so sprich, daß diese Steine Brod werden."

„Bist

du Gottes Sohn," will eben sagen, bist du als solcher der Messias, welcher dem Volke bringt, wonach fein Verlangen steht, das Heil und Leben; zeige dich als solcher, d. h. so,

daß an dich nicht die Bedürf­

nisse der armseligen Menschennatur heranreichen, daß du

den aus

Nichtbefriedigung dieser Bedürfnisse hervorgehenden Leiden dich nicht unterwirfst, daß du in der vollen Gotteskraft des Messias stets im Vollgenuß des Lebens erscheinst.

Messias

und Gottessohn

sein und

doch hungern und dursten, entbehren und leiden, das wäre ein Wider­ spruch in sich selber.

Wer will einem Heiland glauben und sich hin­

geben, der selbst darben und dulden muß? Darin liegt ein weiter ver­ suchender Gedanke für das künftige Handeln des Messias, ungefähr so: Willst du dir die Deinen als dies erwählte Volk Gottes sammeln, tritt hinein in die hungrigen Massen und spende ihnen das Brod, befriedige

94 allenthalben die irdischen Bedürfnisse derselben und wende von ihnen die irdischen Leiden.

Gieb du den Genuß dieses Lebens; sie werden

jubelnd dich umschaaren, dein Volk wird zu seinem Könige stehen und dein Reich wird kommen und wachsen in herrlicher Macht.

Begegnen

dem Herrn im künftigen, thätigen Leben nicht immer wieder diese ver­ suchenden Gedanken und Mächte? Bereit wären sie schon, ihn als Hei­ land anzunehmen; aber Moses, heißt es, hat ihnen Brod vom Himmel gegeben, was thust du? Als der Herr einst in der Wüste mit seinem Erbarmen die von ihrer Heimat fernen, hungernden Schaaren gesättigt hat, ja da soll er ihr König werden, der immer so ihrem Bedürfniß mit Wunderhülfe entgegenkommt.

Selbst aus der Schaar der Jünger

kommt ihm diese Lockung, als er ihnen verkündigt, daß er den schweren Leidensgang nach Jerusalem im Gehorsam gegen Gott antrete, um so im Sterben sein Werk zu vollenden.

„Das widerfahre dir nur nicht,"

„schone dein selbst," ruft Petrus und will doch offenbar sagen: kannst du der Heiland nicht sein.

So

Ja am Kreuze noch klingt aus der

Frechheit und Rohheit des bittern Hohnes ihm dieselbe Stimme des versuchenden Geistes entgegen in den Rufen*): „Andern hat er gehol­ fen und kann ihm selber nicht helfen!" „Ist er der König Israels, so steige er nun vom Kreuz, so wollen wir ihm glauben!" Das waren die Gedanken, wie sie die messianischen Hoffnungen seiner Zeit durchzogen. Der Herr aber sah darin nicht mehr das Gute, sondern den Teufel, das Grundböse.

In der That mit diesen Aufforderungen aus jenen

Hoffnungen heraus wird er gelockt, seinen Messiasberuf zu verderben und das Heil, das er bringt, zu vernichten.

„Wenn ich nnr dich habe,

so frage ich nichts nach Himmel und Erde; wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Theil**), hatte schon der fromme Sänger des alten Bundes ausgerufen.

Einigung mit Gott ist das Heil, nur wer Eini­

gung mit Gott bringt, ist der Messias.

Kann er das nicht,

ohne die

Gotteskraft und die Gottesliebe in sich zu tragen, er kann'S sicherlich

*) Matth. 27, 42. **) Psalm 73, 25. 26.

95 nicht, ohne die volle, ganze, innige und enge Verbindung mit den Men­ schen einzugehen , ohne ganz Mensch die Menschen zu seines Gleichen und zu seinen Brüdern zu haben.

Ist er göttlicher Natur, weil Got­

tes Liebe in ihm wohnt, so hört er auf dieser Natur zu sein, wo er aufhört ganz Mensch zu sein.

Nur theilend der Menschheit volle Ar­

muth, ihr Hungern und Diirsteu, ihre Noth und ihr Elend, ihr Leiden und Sterben, ist er der, welcher die Seinen liebet bis ans Ende.

Wie

es mit dem Geheimniß seiner Wunderkräste auch stand, das ist gewiß, er konnte sich ihrer nie zur Befriedigung seiner persönlichen Bedürf­ nisse, zur Abwendung seiner persönlichen Leiden bedienen. that, hörte er auf mit uns ein Mensch zu sein,

Wie er es

wurde seine ganze

menschliche Erscheinung ein Schein voll Lug und Trug, die kraft- und lebenslose Nachäffung von dem Urbilds des Heilandes. that, hörte er auf,

Wie er es

in heiliger überschwänglicher Gottesliebe unserm

Geschlechte verbunden zu sein, hörte er aber auch auf, die Wege des Gehorsams gegen den Vater zu gehen, der unsere Erlösung durch die sich bewährende und vollendende Liebe beschlossen hatte.

Daß sein Volk

ihn aber so begehrte, daß es in seinem fleischlichen Sinn schon vorher gleichsam in seinem Herzen seinen Messias kreuzigte und sein Heil von sich stieß; das ist es, was hier in der Stille ihm schon der bittere Leidenskelch war, aus dem er trank, von dem er wußte, daß er ihn durch sein ganzes thätiges Leben hindurch werde trinken müssen.

Aber

schon hier das entschlossene Gotteslamm, der entschiedene Dulder, be­ reit zu gehen den Weg, den der heilige Gott ihm vorzeichnete, schon hier überwindend Versucher und Versuchung und diesen Sieg ausprä­ gend in dem großen Wort:

„Der Mensch lebt nicht vom Brod allein,

sondern von einem jeglichen Wort, das aus dem Munde Gottes geht." Das rechte Leben hat nicht in der Stillung irdischer Bedürfnisse, son­ dern im Wort, das ist im ausgesprochenen Willen Gottes seine Quelle, seine erhaltende, nährende Kraft.

Der Wille Gottes ist heilige Liebe,

ist darum der Wille des Lebens; wenn man in ihm das Leben verliert, so wird man's gewinnen, wenn man ohne und wieder ihn das Leben erhält, so wird man's verlieren.

So hungert, durstet, leidet, stirbt

Christus, wie der Vater es will und trinkt den Kelch, den ihm der

96

Vater reicht, von der Wüste bis zu Golgatha hin und so ist und wird er der Fürst des Lebens, welcher in dem, darin er gelitten hat und versucht ist, helfen kann denen, die versucht werden*). Die versucht werden, sind wir und die Versuchung hat wohl ein ander Gewand, wie die des Herrn, ist aber wesentlich dieselbe. Dieselbe Versuchung, wie sie an den Herrn herantritt, beunruhigt schon die Frommen des alten Bundes. DaS ist es ja, woran sie nach den Ergüssen der heiligen Lieder immer wieder Anstoß nehmen und straucheln wollen, daß sie die Gottlosen im irdischen Glück sehen, daß sie als Fromme, als Kinder Iahveh's gerade Leid und Trübsal erfahren. In dieser Anfechtung bricht selbst eine der größesten Gestalten des alten Testamentes zusam­ men, Elias unter dem Wachholder. So noch heute bei den Christen und zwar den wirklichen Christen. Wir haben Vergebung, wir sind Kinder Gottes, wir Gegenstände der treusten Liebe Jesu, der treusten Liebe Gottes, wir sind selig in dem Bewußtsein, daß die Gnade uns trägt und führt. Da trifft es sich aber, daß wir einmal mit der Sorge um die Bedürfnisse dieses Lebens, mit Entbehrung, mit Last und Leid ringen sollen; sofort die zweifelnde Frage: Kann der Gott der Liebe solches seinen wirklichen Kindern zumuthen? sofort die Neigung, zu zagen, zu zweifeln, zu murren. Den Kindern Gottes sollte doch nicht Stein statt Brod, nicht eine Schlange statt eines Fisches, nicht Leid und Weh statt Erquickung vom Angesicht des Vaters gewährt werden! Für die Christen müßte das Brod des Weltgenusses, wenn es ihnen fehlt, ihnen selbst aus Steinen gewährt werden! Der Heiland in De­ muth und Liebe hungert und durstet, leidet und trägt und lebt so das ewige Leben von dem Wort aus Gottes Munde, von dem Willen der heiligen Liebe. Auch wir, wenn die Prüfungen uns kommen, wollen an und in dem Herrn feststehen. Auch wir haben unser Leben nicht im Brod und Weltgenuß, sondern in dem heiligen Liebeswillen Gottes, wie er auch uns sich offenbart. II. Nach der Darstellung unseres Textes wird Jesus vom Ver­ sucher auf die Zinne des Tempels gestellt und die Versuchung lautet: *) Hebräer 2, 18.

97

„Bist du Gottes Sohn, so laß dich hinab." Welches ist darin der eigentlich versuchende Gedanke? Die Vorstellung wäre die, daß unten die Schaaren des Volkes stehen, daß, wenn von schwindelnder Höhe Jesus vor ihnen sich herablassend wohlbehalten in ihrer Mitte anlangt, sie. in ihm sofort den von Gottes Gnade Getragenen, mit Gottes Gnade Erfüllten, den Gottessohn, den messianischen König erkennen würden. Der Gedanke also der: Nimm durch außerordentliche Thaten, durch in die Augen fallende Schauwunder das Reich ein, welches dir als Gottes­ sohn gebührt. Offenbare deine gewaltige Macht, für die es keine Ge­ fahr geben kann, und damit wird dir die Herrschaft gegründet sein. Und, wenn der Herr doch offenbar die Umwandlung, die Neugeburt der Menschen, Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geiste er­ strebte; so dürfen wir uns diese Versuchung nicht allzu plump und allzu grob vorstellen, etwa so, daß es hieße: Gieb auf den Plan, der doch nur ein Plan der Schwärmerei ist, die Menschen zu bessern, und erwähle statt dessen dir den süßen Besitz der Herrschaft. Vielmehr ist das wohl die Vorspiegelung: Erst, wenn du dir durch Wundermacht die äußere Herrschaft erworben hast, dann brauche die Mittel der Herr­ schaft und Gewalt, um Gerechtigkeit hervorzurufen. Bist du König, dann laß Krone und Scepter, Schwerdt und Richterwaage wirken, daß in Scheu vor denselben oder im Suchen der königlichen Gunst sich deine Unterthanen gedrungen fühlen, sich auch im Innern ihres Ge­ müthes zu erneuern. Es ist die Versuchung, durch äußere Schau­ wunder das innere Wunder der neuen Geburt, durch äußere Macht und Herrschaft die Kraft und Herrschaft des göttlichen Geistes zu be­ wirken. Wir finden diese Versuchung immer wieder im Leben deHerrn. Zeichen vom Himmel soll er thun, so sich als Heiland aus­ weisen und in den Besitz der Heilandömacht versetzen. Ist nicht sein großer Vorgänger, der ihm den Weg zu bahnen hatte, zu seiner Zeit selbst das Werkzeug dieser Versuchung geworden? Im heiligen Eifer für heilige Sitte ist der große Prophet des Herrn ein mit Ketten Be­ lasteter, im Kerker Schmachtender geworden. Jesus lebt fort, gerade wie vorher. Das Evangelium bringt er den Armen und vollzieht einige heilende Wunder an Kranken als Zeichen, daß er eben dem Thomai, Glaub« an Christus. 7

98

kranken Geiste das rechte Gesicht, Gehör, die Reinheit, das wahre Leben geben will. „Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten" *)? läßt im halben Zürnen der zweite Elias aus seinem Kerker heraus fragen. Ist eS jetzt, wo Ungerechtigkeit, Frevel und Gewalt­ thätigkeit herrschen, Zeit, als Messias in dieser schlichten Niedrigkeit einherzugehen? Bedarf es nicht vielmehr dessen, daß du den starken Arm deiner Gotteskraft offenbarest, von der Zinne des ■ Heiligthums herab dich stürzest auf die, welch? das gottgegebene Amt der Obrigkeit gebrauchen, um alles göttliche Recht mit Füßen zu treten? Kannst du hoffen, ein Reich der Gerechtigkeit aufzurichten, wenn du die Diener der Gerechtigkeit den Ketten und dem Tode überlässest und die unge­ rechte Gewalt nicht vernichtest? Aber auf alle derartige Versuchungen hat der Herr nur die Antwort: „Du sollst Gott, deinen Herrn, nicht versuchen." Mein Reich ist nicht von dieser Welt, spricht er vor Pi­ latus. Nichts will ich mit den Mitteln und Mächten der Welt für dasselbe wirken. Seine Waffenrüstung war allein die Wahrheit hei­ liger Liebe, „wer aus der Wahrheit ist," ruft er deshalb, „der höret meine Stimme" **). Immanuel ist er und will er sein. Gott ist mit ihm, aber nur wo er wandelt die Wege Gottes. Wenn er es nicht für einen Raub hält, Gott gleich zu sein, sondern sich im Ge­ horsam erniedrigt in alles Leiden, ja in's Sterben hinein; dann ist Gottes Gnade mit ihm und erhöhet ihn über alle Höhen. Verlassen diesen gottgewiesenen Weg und hoffen auf Gottes Schutz ist eine Ver­ suchung des Höchsten und ihr Erfolg das Versinken in den Abgrund. Wie geht doch auch diese Versuchung noch stets durch die Christenheit und wie viele sind ihr unterlegen und unterliegen ihr immer wieder. Ja das Reich Gottes wollen sie bauen, das Christenthum fördern, die Gerechtigkeit Gottes als heilsames Joch den Seelen auflegen. Aber die Mittel dazu? Der Zwang des Gesetzes, die Furcht vor dem Schwerdte der Macht, die Hoffnung und Aussicht auf irdischen Lohn, auf Ehre ■— die sollen es sein, wodurch die Menschen in die neue *) Matth. 11, 3.

**) Johanne« 18, 37.

99 Geburt gezogen werden.

Gebt der Kirche eine kraftvolle Autorität, die

Macht, die Widerspänstigen zu strafen, verknüpft mit Per willigen Unter­ werfung unter das Regiment der Kirche Vorrecht, Gewinn, Ehre, Genuß; dann wird eine bessere Zeit anbrechen.

Die wunderbare Entfaltung

äußerer Macht wird auch der Macht der umwandelnden Gottesgnade nachhelfen und ein neues Heil wird erblühen.

Verwegene, Gott wider­

strebende Wege, frevelndes Versuchen des Höchsten, das nur Verderben erzeugen kann!

Formen, welche das Reich Gottes nachäffen, kann man

so aufrichten; aber nicht das Reich GotteS selbst.

Die Kirche Gottes

meint man zu bauen und es wird nichts als eine Kapelle des Teufels, die ihrer Zeit zusammenstürzt und unter ihrem Schutt und Geröll die frevelnden

Bauherren selber

begräbt.

Die Selbstdarstellung seines

Wpsens, der Liebe und Wahrheit im Gehorsam gegen den Vater, die Offenbarung der Gnade und Gerechtigkeit waren

die einzige Macht,

womit der Herr die Welt bekämpfte um sie zu überwinden und zu be­ seligen.

Nur so ist er der Heiland geworden und geblieben.

Das ist

noch heute die allein neu schaffende, Leben gebende, Frieden stiftende Gottesmacht, wodurch das Reich Gottes kommt, jedes andere Mittel ist vom Teufel.

Wer da beten und arbeiten will, daß Gottes Reich

komme; dem bleibe in der Seele das Wort Christi:

Aber du sollst

Gott, deinen Herrn, nicht versuchen, nimmer mit roher, äußerer Macht in das Heiligthum der Gesinnung eingreifen

um durch Zwang ein

Neues zu schaffen. in.

Zuletzt heißt es: Der Teufel, Jesum auf einen Berg füh­

rend, zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm:

Dies Alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich

anbetest.

Nach den Reichen der Welt steht in gewisser Beziehung Jesu

Sinn.

Er wollte die Herrschaft über die Menschen und Völker, auf

daß sie unter seinem sanften Joch Ruhe fänden für ihre Seelen. spricht auch vor dem Pilatus:

„König bin ich."

Er

Und der Geist, wel­

cher damals das Volk in allen Schichten durchdrang, der Geist des SehnenS und HoffenS war geneigt, Jesum als König anzuerkennen, sich selbst und damit daö Reich der Welt ihm zu übergeben. bei eine Bedingung:

Aber da­

„So du niederfällst und mich anbetest."

7*

ES ist

100

auch hier wohl kein ausdrückliches Anbeten gemeint; sondern die Worte wollen etwa sagen: So du auch mich, wie ich nun bin, in meiner Be­ rechtigung anerkennst, so du mich unter deinem Scepter gewähren läßt. In dem glänzenden Gewände der Satzungsgerechtigkeit und der äußern frommen Uebungen in Opfer, Fasten und Gebet suchten die Pharisäer ihrer Herrschsucht und ihrem Ehrgeiz gemäß die Herrschaft über die Gemüther und Massen des Volkes sich zu bewahren. So du uns an­ erkennst als die heiligen, frommen Führer Israels, wir stehen dir zu Gebote, das Reich aufzurichten auch gegen die Macht Roms, Satzungen nach deinem Gutdünken zu mehren, um einen noch strengeren heiligen Wandel zu erzwingen. In das Irdische sind die Massen des Volkes versunken. So du uns in diesem unsern Begehren trägst, so du be­ reit bist, immer mit Brod uns zu speisen, mit Weltgenuß das fleisch­ liche Sehnen zu stillen — wir sind dein, wir folgen dir! Das ist der Kern der Versuchung, daß Jesus abstehen möge von der strengen For­ derung der neuen Geburt, daß er, anstatt die sündlichen Neigungen, wie und wo er sie findet, zu bekämpfen, sich derselben vielmehr klug und weise bediene, um so durch die Hülfe derselben sein Ziel zu er­ reichen. Der ganze heilige Unwille des Erlösers steht diesem ver­ suchenden Geist seiner Zeit gegenüber. „Hebe dich weg von mir Sa­ tanas, du sollst anbeten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen." Rückhaltlos ist und bleibt er begriffen in dem heiligen Kampfe gegen das sittlich Böse jeglicher Art, jede Larve der Heuchelei zerhaut er mit dem schonungslosen Schwerdt der Wahrheit, jeder Entweihung des göttlichen Heiligthums, so gut int Tempel, wie im Hause, wie im Her­ zen flechtet er die Geißel und treibt den Gräuel an heiliger Stätte hinaus. Ehe er nur einen Finger breit in den Dienst sündiger Mächte sich hingiebt, läßt er sich schlagen an's Kreuz. Das aber war die Kreuzigung für seinen innern Menschen, die er erduldete von der Wüste bis er endlich siegend rief: Es ist vollbracht, daß diejenigen, die Gott zu Pflegern des Heiligen in Israel bestellt hatte, daß sie als blinde Leiter der Blinden sich in den Dienst des Bösen begeben hatten und im Bösen walleten und schalteten als die Haushalter in Gottes Reich, daß sie durch Böses das Reich Gottes bauen wollten. Das war der

101

tiefe Schmerz des Herrn, daß er wohl wußte, wie das Böse in dieser Gestalt sich auch nach seinem Heimgänge in späteren Zeiten wieder in der Christenheit zeigen werde! Und ist es nicht so? Wird nicht für den schmählichen Grundsatz: „Ein guter Zweck heilige auch böse Mittel," selbst der heilige Name Jesu noch heute entweiht, wird derselbe nicht noch heute, der Geschichte gemäß, mit dem Namen Iesuitismus bezeichnet? Ich will hier nicht hinsehen auf die römische Kirche, nicht über die Grenzen der evangelischen Christenheit hinaus. Auch in unserer Ge­ meinschaft giebt es genug Iesuitismus für kirchliches, staatliches, häus­ liches und geselliges Leben! Setzen wir von jedem Staats- und Kirchen­ regiment voraus, setzen wir voraus von den Parteien auf staatlichem und kirchlichem Gebiet, sie erstreben nach ihrer Meinung das Rechte und Gute. Wie oft heißt es dort thatsächlich: Auf etwas Unwahrheit und Lüge kann es nicht ankommen. Ohne solche Nachsicht gegen das Böse hier oder dort ist eS unmöglich zu regieren, oder unmöglich, dem Guten und Rechten zum Siege zu verhelfen. Schmählicher Unglaube an die Macht des Guten, an den heiligen Geist! Schmählicher Aber­ glaube an die Kraft des Bösen, als wäre wahr das Wort der Lüge: Alles dieses ist mein! Und laßt uns nur recht genau unsere näheren Verbindungen, unser Geschäfts- und Umgangsleben betrachten. Will da nicht auch manchmal etwas der Lüge und der Heuchelei Verwandtes hervortreten, ein Zustimmen zu bösen Grundsätzen und Reden, ein feiges Zurücktreten von Wahrheit und Gerechtigkeit? Man meint auf diese Weise auch das Böse und die Bösen dem Reiche Gottes, der Liebe und der Wahrheit dienstbar zu machen. Reinige uns davon, bewahre uns davor der Herr! In Gottes Weltregiment muß freilich auch der Teufel an Gottes Reich bauen helfen, müssen Judas, Kaiphas und Pilatus die Werkzeuge werden, daß in Jesu Leiden und Sterben sich das Gotteswerk der Erlösung vollendet. ES müssen Aergernisse in der Welt kommen, um durch Gottes Gnade Prüfungen und Förderungen des Reiches Gottes zu werden. „Aber wehe dem Menschen, durch welchen Aergerniß kommt!" „Wehe dem, der BöseS thut um Gutes hervorzurufen!" Er selbst kann damit nur der Herrschaft des Bösen, dem Verderben verfallen. Hebe dich von mir Satanas ■— du sollst

102 Gott allein anbeten, das ist daS Leben des Erlösers, das ist das in­ nerste Wesen seines Leidens und Sterbens. Wir sind sein! Darum wenn noch so schmeichlerisch, noch so glückverheißend, ja scheinbar Gutes verkündend Unwahrheit, Ungerechtigkeit, Lüge, überhaupt Sünde sich an uns herandrängt — in Christo und mit Christo laßt auch uns stehen auf dem Wort: Du sollst Gott, deinen Herrn, anbeten und ihm allein dienen. Amen.

Der Herr in der Synagoge seiner Vaterstadt (L). in. Epiphanienzeit. Text:

Lukas 4, 16 — 30.

Und er kam gen Nazareth, da er erzogen war, und ging in die Schule nach seiner Gewohnheit am Sabbath­ tage, und stand auf und wollte lesen. Buch des Propheten Jesajas gereicht.

Da ward ihm das Und da er das Buch

herum warf, fand er den Ort, da geschrieben steht:

Der

Geist des Herrn ist bei mir, derohalben er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Ar­ men, zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollen, und den Blinden das Gesicht, und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen, und zn predigen das angenehme Jahr des Herrn. Und als er das Buch zuthat, gab er es dem Diener und setzte sich.

Und Aller Augen, die in der Schule waren,

sahen auf ihn.

Und er fing an zu sagen zu ihnen: Heute

ist diese Schrift erfüllt vor euren Ohren.

Und sie gaben

alle Zeugniß von ihm und wunderten sich der holdseligen

Lieder:

Nr. 110.

104 Worte, die aus seinem Munde gingen, und sprachen: daS nicht Josephs Sohn?

Und er sprach zu ihnen:

Ist Ihr

werdet freilich zu mir sagen dieß Sprüchwort: Arzt, hilf dir selber; denn wie große Dinge haben wir gehört zu Capernaum geschehen? Baterlande.

Thue auch

Er aber sprach:

also

hier

sage

euch:

Kein Prophet ist angenehm in seinem Baterlande.

Aber

in der Wahrheit sage ich euch:

Wahrlich, ich

in deinem

Es waren viele Wittwen

in Israel zu Elias Zeiten, da der Himmel verschlossen war drei Jahre und sechs Monden, da eine große Theuerung war im ganzen Lande; und zu deren Keiner ward Elias gesandt, denn allein gen Sarepta der Sidonier, zu einer Wittwe.

Und viele

Aussätzige waren in Israel

zu des

Propheten Elisa's Zeiten, und deren Keiner ward gereinigt, denn allein Naeman

aus Syrien.

Und sie wurden voll

Zorn Alle, die in der Schule waren, da sie das hörten, und standen auf und stießen ihn zur Stadt hinaus und führten ihn auf einen Hügel des Berges, darauf ihre Stadt gebaut war, daß sie ihn hinab stürzten.

Aber er ging

mitten durch sie hinweg. Andächtige Freunde, der Heiland im Anfang seiner öffentlichen Wirk­ samkeit stehend kann die natürlichen Verbindungen, in welche ihn sein Vater gesetzt hatte, nicht vergessen und nicht verleugnen, er ist der Treue und muß nach allen Seiten volle Treue üben.

So zieht ihn, wie er sein

Heilswerk begonnen hat, das Herz sehr bald nach Nazareth, dem Orte, an welchem er die Jahre der Kindheit und des Jünglingsalters ver­ lebt hatte und zum Manne herangereift war.

Wir sehen ihn durch

unsern Text heut an diesem Ort und offenbar in der Absicht, der lieben Heimath das himmlische Gut zu bringen, über welches zu ver­ fügen ihm vom Vater gegeben war.

Er geht, das war, wie wir hören,

105

seine Gewohnheit gewesen, am Sabbath in die Synagoge. Hier er­ hebt er sich gegen den Schluß des Gottesdienstes, das war das Neue, was er that, um selbst den Versammelten aus den heiligen Schriften vorzulesen und daran für sie seine eigenen Worte des Lebens zu knüpfen. Von dem, was er selbst gesprochen, ist uns nur der Inhalt, der Kern in Andeutungen gegeben, nicht die ausführliche Rede. Aber es genügt, auch darin wieder die Herrlichkeit des Menschensohnes zu erkennen, um sie auf unser Gemüthsleben versöhnend, heiligend, verklärend wir­ ken zu lassen. Die Einwirkung auf die Nazarethaner blieb sich freilich nicht gleich, sondern zeigt sich sogar von entgegengesetzter Seite. Zu­ erst fühlen sich die Hörer angesprochen und angezogen, dann werden sie mit Zorn gegen ihn erfüllt, beschließen selbst seine Ermordung. Ist nun das Wesen Jesu selbst auch stets in sich einig und sich selbst gleich, so zeigt es sich doch nach Verhältnissen und Stimmungen in der Erscheinung verschieden. Und so mögen wir auch hier zwei Seiten in der Erscheinung seines Wesens unterscheiden. Die eine läßt nach dem Texte selbst als seine Holdseligkeit sich bezeichnen, die andere mögen wir nach dem Eindruck, den-sie hervorruft, als seinen heiligen Ernst charakterisiren. Laßt uns heut den Herrn, wie er in der Synagoge zu Nazareth auftritt, in seiner Holdseligkeit anschauen. In einer fotzenden Betrachtung stellen wir, so Gott will, ihn in seinem heiligen Ernst uns vor.Augen. I. Wie der Herr zu lesen begehrt, so reicht man ihm den Pro­ pheten Jesajas und er schlägt, indem er das Buch umwirst, das ein­ undsechzigste Kapitel auf. Ob er es gleich auf den ersten Griff oder nach längerem Suchen fand, das bleibt gleichgültig; aber jedenfalls hat der Herr in freier Absichtlichkeit dieses Wort gewählt, weil es eben seinem Zwecke entsprach. „Der Geist deS Herrn ist bei mir," be­ ginnt die prophetische Rede. Nachdem aber der Erlöser sie gelesen, ruft er: „Heute ist diese Schrift erfüllet vor euren Ohren," offenbar, meint er, durch seine Erscheinung in ihrer Mitte, durch ihn und in ihm selber. Wie ist es doch aber mit diesen Worten des Pro­ pheten in ihrer Ursprünglichkeit? Nach dem Zusammenhang hatte sie der Prophet offenbar von sich selbst gesprochen. Der Herr dagegen



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erklärt, nicht in jenem Propheten, sondern erst in seiner Person wären sie erfüllt, wären sie zur Wirklichkeit geworden. Wie steht, es damit? Um das rechte Verständniß zu gewinnen, kommt es uns zunächst auf die rechte Einsicht an, waS unter dem Geist des Herrn zu verstehen, und welches das Verhältniß desselben zu dem Menschengeiste sei. ' Wenn gesagt wird, Geist des Herrn und heiliger Geist sei gleichbedeutend, so stimmen wir gern bei, sind aber hier genöthigt, den Ausdruck mehr im allgemeinen Sinne zu nehmen. Der Geist des Herrn oder der heilige Geist ist danach der Geist der Gottheit, aber so wie er als Geist des Schöpfers zugleich die Schöpfung mit sich einigt, wie er der Geist der Schöpfung gewissermaßen selber wird. Nun dieser Geist Gottes, wie über den Wassern, so überhaupt, schwebt er über der physischen, der natürlichen Welt. Aber wo nur Natur ist, da kann er seinem eigent­ lichsten Wesen nach nicht darin wohnen. Erst wo der Geist selbst der Natur eingehaucht ist und in ihr als Vernunft und Gewissen, als freier Geist hervortritt, da kann auch der Geist Gottes in der That als sol­ cher einkehren und darin wohnen und walten, nämlich als der heilige Geist, der die Liebe: aus Gott und zu Gott als das wahrhaft Gute erzeugt und pflegt, das Selbstische als das Arge von sich stößt und in dem Menschen das volle, schöne Gottesbild herausbildet. Wie die Menschheit darauf angelegt war und ist, so ging und geht bei allem Verderben doch immer wieder eine Sehnsucht darnach kt ihr auf und vor Allen geschah es in Israel bei den tieferen, ernsteren Naturen dieses Volkes. Wo aber Gott wahrhaft gesucht wird, da läßt er sich finden, wo wahrhaft ernst gebeten wird, da giebt Gott seinen. Geist. Wie die Propheten in heiligem Ernst um den Geist Gottes rangen/ so hat ihnen Gott denselben auch in Erleuchtung, in Liebe zum Gesetz, in Hoffnung des Heiles gegeben und der große Prophet, dessen Worte der Herr hier lieft, durste sprechen: „Der Geist des Herrn ist bei mir," er durfte sagen: „Derhalben" (eben zu diesem Zwecke) „hüt er mich gesalbt" (hat mich erwählt). Wenn aber der Geist (SotteS- durch die selbstische, ungöttliche Macht der Sünde in den Menschenseelen ver­ scheucht oder wenigstens betrübt wird; so dürfen wir nicht vergeffen, daß auch die herrlichsten Männer des alten Bundes noch nicht ohne



Sünde tonten.

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So weit aber auch ihre Herzen noch Theil an der

Selbstsucht hatten, Jo weit konnte auch der Geist der Gottheit sie nicht ganz; durchdringen, nicht in seiner ganzen Licht-, Liebes- und Lebens­ fülle in ihnen wohnen, so weit konnten sie noch nicht im vollen Sinne des Wortes sagen: „Der heilige Geist ist bei mir."

Vielmehr wurde

solch« Rede in ihrem Munde von selbst Deutung aus einen Kommenden, das was wir Weissagung nennen.

Wie in ihnen der Geist Gottes

nicht in seiner ganzen Fülle, Reinheit und Kraft war, so waren auch sie- nicht völlig mit der Gottheit geeinigt, so konnten sie auch ihre Brü­ der nicht zu der rechten Einheit mit Gott führen, konnten ihnen nicht den rechten, vollen Trost bringen; so mußte trotz ihrer herrlichen Re­ den das Volk in tiefwehmüthiger Sehnsucht eines andern harren, der nach Gottes Rathschluß kommen sollte und mußte. ein Recht zu sagen:

„Heut ist die Schrift erfüllet."

Da hat der Herr Er weiß sich als

das reine Menschenkind und deshalb erwählt als das erste, ewige Gotteskind.

Aus der Tiefe seines Bewußtseins fließt das Wort in

vollster Geltung: „Der Geist des Herrn ist bei mir" wie nirgend in dieser Welt, in mir ist Schöpfer und Schöpfung, Gott und Mensch vollständig geeinigt.

Ist aber in ihm der heilige Geist ohne Maaß,

so kann er auch die, welche er Brüder und Schwestern zu heißen ge­ würdigt hat, zu Gott führen, mit Gott vereinigen.

So in Nazareth

auftretend ist er der Holdselige, den Seelen bringend ihrer tiefen, hei­ ligen Wünsche Befriedigung, ihnen bereitend das angenehme Jahr des Herrn von ewiger Dauer.

II. Und nun lasset uns die einzelnen Züge des prophetischen Bildes, wie sie der Herr auf sich anwendet, in'S Auge fassen. hebt er hervor:

Zuerst

„Derhalben er mich gesalbt hat und gesandt

zu verkündigen das Evangelium den Armen."

Wer waren

denn die Armen? Der Prophet, als er so sprach, lebte unter seinem Volke in der babylonischen Verbannung, wo sie an den Wassern saßen und weineten, wenn sie an Zion gedachten.

Aber auch in dem Exil

gab es Reiche unter Israel, die vergessend des Vaterlandes, des vater­ ländischen Gottesdienstes, des vaterländischen Gottes selbst sich ein Le­ ben nach Babels Gesinnung und Sitte, d. h. in heidnischer Weise, in.

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heidnischem Weltgewand und heidnischem Weltgenuß einrichteten. Wie es ihnen irgendwie damit gelang, war ihnen die Fremde nicht fremd, dünkten sie sich im Exil nicht arm. Aber diejenigen, bei denen es lautete*): „Vergesse ich dein Jerusalem, so werde meiner Rechten ver­ gessen, meine Zunge müsse an meinem Gaumen kleben, wo ich deiner nicht gedenke, wo ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein," das waren die Armen. Ihnen fehlte nicht nur das Vaterland, son­ dern es war ihnen, als habe Gott selbst sich vor ihnen verborgen und sich ihnen entzogen, der einst den Vätern die Verheißung geschenkt; ihnen fehlten die schönen Gottesdienste im heiligen Tempel, welche die künftige göttliche Versöhnung in Aussicht stellten, ihnen fehlte der gleich­ sam mit Händen zu greifende und zu haltende Bund mit Jahveh. Diesen, die so sich arm wußten, wurde die frohe Kunde von ihrer Rück­ kehr in's Vaterland, damit von ihrer Rückkehr zu Gott und der Rück­ kehr GotteS zu ihnen! Gerade weil dies allein ihnen Gut und Reich­ thum dünkte, weil sie ohne dies arm blieben, darum kam ihnen die frohe Botschaft**): „Tröstet, tröstet mein Volk." „Es offenbaret sich die Herrlichkeit Jahveh's, er kommt und sein Lohn mit ihm!" „Wie ein Hirte wird er seine Heerde weiden und in seinen Arm die Lämmer fassen und an seinem Busen tragen." Heute, sagt der Herr, ist diese Schrift erfüllet. Israel war einst zurückgekehrt, hatte wieder die Feste in Zion gefeiert, und doch die ächten Israeliten fühlten sich arm, fühlten sich in der äußern Heimath wie in der Fremde, denn Gottes Gnaden­ bund hatte noch nicht Wurzeln in ihren Herzen geschlagen, sein Er­ barmen war noch nicht ihr seliger Besitz geworden. „Heut ist diese Schrift erfüllet": Ich bringe den Armen die frohe'Botschaft, die Bot­ schaft von der euch gewordenen Liebe Gottes, die euch die Heimath des Himmelreiches im Diesseits und Jenseits bereitet, ich gebe euch den Genuß dieser göttlichen Gnade, die allein das Gemüth reich macht. Ja so bot er sich später dar als der rechte Weinstock des Lebens, der unzähligen Reben das ewige Gottesleben gewährt, so ladete er zu dem Reiche als zum ewigen Abendmahl, zur ewigen seligen Hochzeitfeier, so *) Psalm 137, 5. 6. **) IesaiaS 40, 1-11.

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sprach er: Selig die geistlich Armen, denn das Himmelreich ist ihr. Und wer durch chn der göttlichen Liebe versichert wird, der ist reich für immer, dem dienen alle Dinge zum Besten. Gewiß doch holdselig für alle geistlich Arme der Herr, wie er spricht: „Heut ist diese Schrift erfüllt, der Herr hat mich gesandt zu predigen das Evangelium den Armen." „Zu heilen die zerschlagenen (verwundeten) Herzen." Ja wund im Herzen mußten sie sein, als ihnen das Vaterland verwüstet und entrissen war. Aber recht wund; denn bei allem äußern Elend mußten sie mit dem großen Propheten, in dessen Worte Israels Jam­ mer zum berühmten Klageliede wurde, bekennen*): „Der Herr ist ge­ recht, denn ich bin seinem Munde ungehorsam gewesen." „Wie mur­ ren denn die Leute im Leben also? Ein jeglicher murre wider seine Sünde." Die vielfache Vergehung, das Schuldbewußtsein war und blieb der eigentliche, nagende Wurm, der die Herzen wund und zer­ schlagen erhielt. Wohl geschah, was der große Prophet verkündigt hatte. Die Tage der Gefangenschaft nahmen für sein Volk ein Ende. Es durste wieder nach Palästina zurückkehren, wieder im Lande der Väter wohnen, sich des Feigenbaums und Weinstocks auf väterlichem Boden erfreuen. Und doch, der Prophet, der solches Wort brachte, hatte die wunden Herzen nicht heilen können. Sie nahmen sie mit auch in das gelobte Land, sie blieben die Trauernden auch in der Heimath. Wohl mochte es ihnen ja gelingen ihre verwilderten Gefilde von Disteln und Dornen zu reinigen; aber die Disteln und Dornen wuchsen fort auf dem geistigen Boden Israels, in ihren Herzen. Wohl schien ihnen wieder die Sonne in Kanaan, die nirgend so lieblich er­ quickend und erfreuend ihre Strahlen aussendet als auf dem heimischen Boden, und doch die Strahlen der Gottheit selbst wollten nicht er­ quickend und beseligend in die Herzen dringen, die Atmosphäre, in der sie sich befanden, das Bewußtsein unversöhnter und unvergebener Sünde hielt mit seinen dichten, düstern Nebeln sie umfangen. So hatte der Prophet, selbst als jene Zusage sich äußerlich verwirklichte, keine Hei­ lung den Herzen gebracht. „Heute ist diese Schrift erfüllt," jetzt ist *) Klagelieder 1, 18.

3, 39.



110

das angenehme Jahr der Gnade,. spricht der Herr. Ich heile die ver­ wundeten Herzen. Wie denn? So wie er's that dem Gichtbrüchigen mit dem Wort: Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind dir'ver­ geben. So wie er der Magdalena die schwere Schuld vom Gewissen nahm und ihr wieder gab die Klarheit des Geistes und in derselben den Reichthum der Liebe. So wie er. dem Schächer ausfüllte die Kluft zwischen ihm und seinem Gott, zwischen dem Kreuz und des Himmels Frieden mit dem Wort: „Heut wirst du mit mir im Paradiese sein." So, wie von der Fülle seiner Liebeshuld den angefochtenen Seelen Versöhnung, Vergebung, Friede zuströmt und darin allein auch die Himmelskraft, die wirklich reinigt und mit göttlichem Leben erfüllt. „Zu heilen die verwundeten Herzen," dazu, bezeugt er den Nazarethanern, sei er gesandt. Sie mußten seiner Holdseligkeit, die sich in den Worten seines Mundes ausprägte, ja nothwendig zustimmendes Zeugniß geben. „Den Gefangenen, den Zerschlagenen, daß sie los und ledig sein sollten" Freiheit zu bringen! O köstliches Gottesgeschenk! Wie jubelten die Herzen gewiß dem Prophetenwort einst entgegen, wie jubelten sie wohl erst, als nun wirklich der Riegel ihres Gefängnisses weggeschoben war und der Weg frei vor ihnen lag! Aber auch der Freiheit waren sie nie recht froh geworden! Bald verkümmerten gerade die Kämpfe im Innern, welche die Feinde von Außen herbeilockten, das hohe Gut. Zu Jesu Zeiten aber waren fremde Gewalthaber im Lande und das römische Joch lag schwer auf dem Nacken des Volkes. Das Prophetenwort war eben wieder Prophetenwort, Zukunftswort, geworden, ein solches, woran allein die Hoffnung künftiger, besserer Tage sich knüpfte. Da Christus in Nazareth: „Heut ist diese Schrift erfüllet vor euren Ohren," hier steht er vor euch, der euch die Frei­ heit bringt. Gewiß die Holdseligkeit lächelte sie an, wie diese Worte über seine Lippen stoffen. Aber war er denn auch der Mann, der dieses, sein Wort, wahr machen konnte und wollte? Wir wissen, denke ich, das Gegentheil. Jeden Wunsch, jede Hoffnung, daß er als König und Führer das Vaterland Befreie, wies er entschieden zurück, gebot im Gegentheil: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist und sein Apostel sagt in seinem Sinn: Jedermann sei Unterthan der Obrigkeit, die

111

Gewalt über ihn hat. Aber der Herr kennt einen andern Feind der Freiheit als die Römer,, eine andere Knechtschaft als die, über welche seine Volksgenossen seufzten, eine andere Freiheit als die, welche allein ihre Herzen, begehrten. Er ruft *): Wer Sünde thut, der ist der Sünden Knecht. .Oder sind die Eitlen, die Lüstlinge, die Ehrgeizigen u. w. nicht ein niederes sklavisches Geschlecht, in ihrem Sündendienst schmachvolle Ketten tragend? Nun: „So euch der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei" **). Die Erlösung von der Sünde Macht be­ dingt die Freiheit der Kinder Gottes, welche niemand ihnen zu rauben vermag. Diese Freien des Geistes können nicht anders als sich unter­ ordnen aller menschlichen Ordnung, Gehorsam leisten dem Gesetze und den Verwaltern des Gesetzes. Und doch, meine Geliebten, wie stehen sie. aüch hier, so ganz anders durch Christum da als. die Kinder der Welt. „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist," hätte Jesus gesagt, aber auch zugesetzt: „Und Gotte, was Gottes ist." Wohlan, so giebt's etwas, was dem Kaiser nicht gehört, was dem Kaiser zu geben himmel­ schreiende Sünde und Frevelthat ist. Gehorsam gegen die Obrigkeit, dse von Gott geordnet ist, um an Gottes Stelle Recht und Gerechtig­ keit zu handhaben, aber ein bestimmt beschränkter Gehorsam! Wie das zu verstehen, das mag uns das Leben jener Zeit sagen, das der Rö­ mer, welche die Herrscher der Welt, das der damaliger Christen, welche die Geringsten unter den Geringen waren. Wie stunden die stolzen Römer zu ihrem Kaiser? Der Kaiser ihr Gott, dem sie Weihrauch und göttliche Verehrung brachten! Zwar nur deshalb war er äußerlich ihr Gott, weil sie in ihren Herzen andere Götter hatten: Ehrgeiz, Welt­ lust, Herrschsucht u. s. w. Deshalb waren sie .Sklaven vor dem Throne, stets bereit ihre Religion, ihre Ueberzeugung, ihr Rechtsbewußtsein, die Wahrheit in jeder Gestalt zum Opfer zu bringen. Nichts in ihnen, was einem heiligen Gotte gehörte, was ein heiliger Gotteswächter, das Gewissen, zu schirmen hatte. O wahrlich ein armseliges, niederes Sklavengeschlecht, während es im ungemessensten Stolze sich wiegte. Und . die Christen? Die schlichten Galiläer erfüllten mit dem Zeugniß

s.

*) Johanne« 8, 34. **) Johanne« 8, 36.

112 von dem Gekreuzigten und Auferstandenen Jerusalem und Judäa. Die hohe Obrigkeit, der hohe Rath verbietet und verbietet*): Ihr sollt nicht reden in diesem Namen, sollt sein Blut nicht so auf unsere Häupter bringen, sollt so nicht thatsächlich unS, die Obrigkeit, der Gewaltthat und des Unrechtes zeihen. Man droht ihnen, man legt sie in den Kerker, man läßt sie geißeln. Sie aber? '•— Im Gebet heißt es bei ihnen **): „Herr, siehe an ihr Drohen und gieb deinen Knechten mit aller Freudig­ keit zu reden dein Wort," und der Obrigkeit gegenüber: „Man muß Gott mehr gehorchen, denn den Menschen." Sie wußten Gott zu er­ halten, was Gott gehört. Eben so die alten Christen durch drei Jahr­ hunderte allen schweren Verfolgungen, aller Gewaltthat und Macht des HeidenthumS gegenüber! Das sind die Freien gewesen in jener unfreien Zeit, frei durch ihn, der recht frei macht. Glaube, Gewissen, Ueberzeugung, das offene Wort für diese heiligsten Güter der Mensch­ heit, das offene Wort für Wahrheit, Gerechtigkeit und Recht — das kann sich kein freier Mensch nehmen lassen, dafür setzt er sein Alles ein, denn in diesem wurzelt er selbst, hierin lebt er allein das Le­ ben einer gottebenbildlichen Persönlichkeit, einer wahren menschlichen Würde. Diese Würde wahrer Freiheit zu gewähren, war und ist die Zusage Jesu; gewiß holdselig die Worte, welche seinem Munde ent­ strömten. „Den Blinden das Gesicht." Israel hatte ja vielfach wie blind gehandelt. Die, welche noch sahen, die Propheten wurden mit ihren Weisungen und Rathschlägen von Königen und Machthabern, von Priestern und Volk verachtet. Wie Blinde waren die Kinder Israels von dem Heile hinweg dem Verderben und Untergange entgegengestürzt. Wohl wußte der Prophet, daß er verhältnißmäßig der Sehende auch seinem Volke bis auf einen gewissen Punkt das Augenlicht wieder geben konnte. Aber nur bis'auf einen gewissen Punkt. Jesus spricht zu seinen Jüngern, Propheten und Könige hätten nicht gesehen, was sie sähen, darum preist er erst ihre Augen selig. So auch in der Synagoge seiner Vaterstadt: „Heute ist diese Schrift erfüllet vor euren Ohren!" *) Apostelgeschichte 4, 18. 5, 28. **) Apostelgeschichte 4, 29. 5, 29.

113

Wer sich ihm zuwandte, dem wurde nicht nur die Nacht heidnischen Wahns und heidnischer Gräuel, sondern auch die Decke Mosis, die Decke des Gesetzes, von den Augen genommen. Durch Jesum lernte er durch alle Hüllen des Priesterthums und der Opfer Israels, durch den Vorhang vor dem Allerheiligsten hindurchdringen, hineinschauen in das Wesen der Gottheit selbst und im anbetenden Erkennen preisen: Gott ist die Liebe. Durch ihn wurde seinen Jüngern das Auge ge­ öffnet, daß sie nun erst recht sahen die Wunder am Gesetz Gottes, nun sahen, wie Alles, was sittlich und edel ist, ausgehe von dem ewigen Gebot der Liebe und darin sich wieder vereinige. Durch ihn ging den Seinen das Licht auf, in dem sie die göttliche Weltordnung als unter dem Rathschluß versöhnender und erlösender Liebe stehend inne wurden! Durch ihn finden alle, die sich ihm einfältigen Herzens anschließen, den Weg des Heils in Buße und Glaube, in Demuth und Zuversicht, in Hingabe an Gott und in dienender Liebe gegen die Brüder, in gott­ seliger Freude und Ergebung für das Diesseits und in der Ge­ wißheit eines unvergänglichen Erbes! Gewiß, wie der Heiland so mit seinem lebendigen und Leben schaffenden Wort den Bewohnern seiner Vaterstadt die Heilsbotschaft für die Armen, die Heilung für die wunden Herzen, die Freiheit für die Gefangenen, Licht und Erleuchtung für die Blinden darbot, da mußten sie in Verwunderung seine Hold­ seligkeit bezeugen. Geliebte im Herrn, als der Holdselige ist er allezeit bei uns und bezeugt uns, daß diese und jede Gottesweissagung sich durch ihn erfüllt, daß durch ihn für uns in Ewigkeit währt das ange­ nehme Jahr des Herrn. Wohlan, wir rufen im Gegensatz zu den Be­ wohnern seiner Vaterstadt: „Bleibe bei uns," laß uns wandeln im Lichte deiner Huld irnd erfülle auch uns mit deinem holdseligen Wesen. Amen.

Der Herr in der Synagoge seiner Vaterstadt (II.)« IV.

Epiphanienzeit.

Text: LukaS 4, 16 — 30. (geliebte im Herrn, wir haben schon einmal das erste Auftreten Jesu in der Synagoge seiner Vaterstadt Nazareth, wie es hier berichtet ist, zum Gegenstand gemeinsamer Betrachtung gemacht.

Besonders fesselte

der erste Theil unseres Textes unsere Aufmerksamkeit und zeigte uns den Erlöser in seiner Holdseligkeit.

Es war aber unsere Absicht

in dem folgenden Gottesdienst an diesem Orte auch den letzten Theil unsers Textes mehr in's Auge zu fassen und wir sprachen uns dahin aus, daß dabei der Herr uns besonders in seinem heiligen Ernst entgegentreten werde.

Woher aber dieser heilige Ernst schon im An­

fang der Lehrthätigkeit Christi?

Wir können nur antworten: Aus der

tiefen Wehmuth die ihn durchzog und durchziehen mußte,

aus

dem

Schmerz, der ihm aus der näheren Berührung mit den Bewohnern des Städtchens erwuchs.

Was uns schon die Erzählung von der Ver­

suchung Christi andeutete, das tritt hier Meder klar an den Tag, daß nämlich das ganze Wirken des Erlösers in der Menschenwelt stets von Leiden durchdrungen war.

Wie diese tiefe Wehmuth und

damit der

heilige Ernst in dem Erlöser durch die Bewohner Nazareths hervor­ gerufen wurde, das soll unser Text uns heut klar machen.

Lied: Nr. 92.

Wir haben

115 dabei zu beachten, wie der Herr den Seelenzustand der Bewohner Na­ zareths findet und zwar 1) in Beziehung auf das, was sie bewegt und erfüllt, 2) in Beziehung auf das was ihnen gebricht. I.

Also welches ist der Seelenzustand, die Gemüthsbeschaffenheit,

die Christus in seinen früheren Mitbürgern wahrnehmen muß, sofern sie von einer bestimmten Gesinnung beherrscht werden.

„Heute

ist

diese Schrift erfüllet vor euren Ohren," mit diesem Ruf hatte er be­ zeugt : Ich in der Fülle des göttlichen Geistes bin da, um den Armen die frohe Kunde des Heils, den zerschlagenen Herzen Heilung,

den

Gefangenen Befreiung, den Blinden Erleuchtung, allen das angenehme Jahr des Herrn zu bringen, in mir ist die den Vätern verheißene Gottesliebe erschienen, die sich euch hingiebt, die euch beseligen will. Da mußten sie sich über die köstlichen Worte verwundern. seine ganze Erscheinung athmete nur Holdseligkeit. er Huld gewährt und selig macht.

Seine Rede,

Er ist selig, indem

Aber wie klingt sobald seine Rede

wie aus ganz anderem Tone: Er ruft ihnen zu: „Ihr werdet frei­ lich dies Sprichwort zu mir sagen: Arzt hilf vir selber, mit anderem Wort:

Wir können nichts von dir erwarten.

phet ist angenehm in seinem Vaterlande."

„Kein Pro­

Es ist der von

Schmerz durchzogene heilige Ernst Jesu, welcher seiner Umgebung es vorhält, daß sie, wie sie zur Zeit waren, sich seiner nicht freuen, keine Gemeinschaft des Heils mit ihm haben konnten.

Der in seiner Hold­

seligkeit sich eben noch Hingebende zieht sofort in seinem heiligen Ernste sich von ihnen zurück, versagt sich ihnen. begründet?

Worin ist diese Erscheinung

Wir haben dafür keinen andern Erklärungsgrund als der

in den Worten der Nazarethaner sich ausspricht:

„Ist das nicht Jo-

seph's Sohn," wie's bei Markus weiter lautet:

Ist er nicht der

Zimmermann? Kennen wir nicht seine Mutter, seine Brüder, seine Schwestern?

Der Gedankengang

darin ist dieser:

Holdselig klingen

wohl seine Worte; aber welches Thun könnten wir von ihm hoffen? Er, dieser schlichte, in niederen Verhältnissen lebende Bewohner unserer Stadt, er, der Zimmermannssohn, und selbst nur Zimmermann!

Ja

wollte er uns auch alles mögliche Heil zuwenden, er würde es nimmer vermögen.

Eine Thorheit,

irgend etwas von ihm zu erwarten. —

8*

116

Wer wie kommen sie zu solchen Gedanken? Auf geistigem Gebiete dürfte doch äußerer Rang und Stand, irdische Gewalt und Herrlich­ keit, weltlicher Glanz und Reichthum nicht zu viel gelten! Und nun gar auf sittlichem, religiösem Gebiet hätte ja wohl dies Alles gar nichts zu sagen! Sittlichkeit und Frömmigkeit sollte es doch wohl allein sein, wodurch ein frommes, sittliches Leben erzeugt werden kann! Aber das war das Verderben in Israel, daß eine trübe Vermischung der Fröm­ migkeit, und sagen wir's gerade heraus, der Weltlust, des Reiches Gottes und des Reiches der Welt der Gemüther sich bemächtigt hatte, daß man eben Gott und dem Mammon dienen wollte. Je mehr man seiner Frömmigkeit sich rühmte, desto lüsterner und begehrlicher blickte man nach Weltmacht, Weltehre, Weltgut, Weltlust. Mächtiger als je lebte zu jener Zeit die Hoffnung auf den Messias in dem ganzen Volke. Der Offenbarung und Verherrlichung Jahveh's, der Erfüllung aller Weissagungen sah matt' mit gewaltiger Sehnsucht entgegen. Aber zu­ nächst, meinte man, werde der Messias das Reich Israel zu einer nie gekannten Macht und zu einem unerhörten Glanz erheben, werde sein Volk mit allen möglichen Glücksgütern, mit den reichsten Lebensgenüssen überschütten. Weil danach die Herzen lechzten, darum waren sie bereit und begierig einen Heiland zu empfangen, der solche Wünsche befrie­ digen konnte, aber eben so bereit, jeden als Heiland zu verwerfen, der dasjenige, was ihr sinnliches Herz begehrte, nicht verleihen konnte oder wollte. Der Glaube an Jahveh, der Gottesdienst, die Frömmigkeit sollten ihnen deshalb Mittel sein, um irdischen Lohnes und irdischer Herrlichkeit theilhaftig zu werden. Nicht allein in den rohen Massen lebte dieser Sinn, auch in dem besseren, in dem sittlicheren Theile des Volkes. Selbst seine eigenen Jünger kann der Herr so schwer davon lösen, daß noch am Ende seines Lebens seine hervorragenden Jünger um die höchste Ehre in dem kommenden Reiche streiten, daß dieses Begehren nach Macht, Ehre, Gut, Freude im Reiche Gottes, welches sich getäuscht fühlte, in der Seele des Judas die Triebfeder zum Ver­ rathe seines Heilandes wurde, daß diese Gesinnung selbst nach seiner Auferstehung noch einmal in jener Frage der Jünger anklingt*): *) Apostelgeschichte 1, 6.

117

„Herr, wirst du auf diese Zeit wieder aufrichten das Reich Israel?" — Aber, meine Geliebten, findet denn nicht diese Denkungsweise selbst in einzelnen Stellen des neuen Testamentes ihre Billigung und Nahrung? „Die Sanftmüthigen," sagt der Herr*), „werden das Erdreich besitzen," und Paulus ruft**): „Die Gottseligkeit ist zu allen Dingen nütze und hat die Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens." Wird damit nicht auch das, was dieser Welt an Gut und Freude angehört, der Frömmigkeit gewissermaßen als Lohn in Aussicht gestellt? —• Zunächst müssen wir sagen: Nur nicht als Lohn. Ihren Lohn hat die Frömmig­ keit in sich selber, bedarf keines andern, sucht als die ächte keinen an­ dern, ist solcher Natur, wie sie sich schon in jenen Gläubigen des alten Bundes anssprach***): „Wenn ich nur dich habe, frage ich nichts nach Himmel und Erde; wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Theil." Aber allerdings verknüpft sich in gewissem Sinn als naturgemäße Folge mit rechter, gesunder Frömmigkeit auch erst der rechte Besitz und Genuß des Gutes und der Freude dieser Erde. Nur der Fromme nimmt Alles aus seines Gottes Hand und wird darin erst recht des Lebens froh. Nur er weiß sich stets unter Gottes Schutz und Führung und fürchtet deshalb kein Unglück. Nur er nimmt immer neue geistige Kraft und Tapferkeit aus der Liebe seines Gottes und trägt deshalb getrosten Muthes alles scheinbar Schwere. Die Erde ist des Herrn. Er freuet sich deshalb an Allem, was auf der Erde ist und ihm wird, er besitzt das Erdreich. Werfen wir auch einen Blick auf die Art, wie der Be­ sitz und damit der Genuß dem Menschen wird. Wohl ist die Erde voll der Güter des Herrn und zwar so gut der niederen, die mehr mit der Sinnlichkeit zusammenhängen, wie der höheren, die mehr geistiger Natur sind. Aber das Worts): „Im Schweiß deines Angesichtes sollst du dein Brod essen," verlangt die weiteste Anwendung. Nur durch treue Arbeit, durch gewissenhaftes Ringen im Beruf, durch sorgsame Pflicht­ erfüllung sollen nach Gottes Weltordnung die höheren und niederen *) **) ***) t;

Matthäus 5, 5. 1. Timotheus 4, 8. Psalm 73, 25. 26. 1. Mose 3, 19.

118

Güter uns in den Schooß fallen, soll der schöne, ftohe Genuß dieses Lebens, wie er Gottes Kindern ziemt, uns werden und bleiben. Darum 'Tüchtigkeit, heilige Sittlichkeit,, die unverdrossen an den Aufgaken des Lebens arbeitet- ist die unumgängliche Bedingung für alles wahrhafte, irdische LebenSglück. Tüchtigkeit aber, die auf's Engste mit wahrhafter Sittlichkeit verwachsen ist, wird allein aus dem mütterlichen Schooße ächter, gesunder . Frömmigkeit geboren. Demgemäß ist es ein vahres Wort, daß die Gottseligkeit auch die Verheißung dieses Lebers hat. Aber es ist ein Anderes, wenn wir der natürlichen Folge der Fröm­ migkeit erwähnen, ein Anderes, wenn wir ihre Ziele in's Auge fassen, den Beweggrund, um dessentwillen ein Mensch sich zur Frömmigkeit entschließt. Hier nun gilt es, daß nimmer was der Erde angehört als Lohn der Frömmigkeit erstrebt, damit das Irdische zum Zweck erhöht, die Frömmigkeit zum Mittel herabgesetzt werden soll. Wo das geschieht, wo man nur mit dem nach dem Irdischen begehrlichen Auge zugleich nach Gott hinanfschielt, da ist in die Frömmigkeit schon ihr Gegentheil, ein tödtlich Gift, hineingetreten, durch welches sie als heilige Ehrfurcht vor Gott nothwendig untergeht. Wenn deshalb die. Bewohner Naza­ reths nur einen Heiland begehren, der ihnen die weltlichen Güter und Freuden schenkt, wenn sie aus diesem Grunde eine gewisse Fr-mmigkeit zeigen; — der Herr kann nur mit tiefstem Schmerz ans sie schauen, nur aus tiefstem Ernst heiliger Liebe klagend sprechen: „Ihr werdet zu mir sagen: Arzt hilf dir selber," werdet meiner Hülfe nicht be­ gehren und darum wahrhaft hülflos sein. Der Herr, wie er des Va­ ters Rathschluß erkannte, hat sich als seinen Thron das Kreuz, als seinen Freudenbecher den bittern Todeskelch erwählt. Eben. so bereitet er seine Jünger vor, daß auch sie dürften die Dornenpfade zu erwarten haben und mahnt: Wer sein Jünger sein wolle, der müsse bereit sein sich selbst zu verleugnen und das Kreuz auf sich zu nehmen. Aber hat. seine Gemeine behalten, was er sprach: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt?" Sehen wir nicht im Gegentheil in späteren Jahrhun­ derten im Namen christlicher Frömmigkeit Anspruch gemacht auf alles Gut, auf allen Glanz, auf alle Macht der Welt? Sehen wir nicht im Namen Christi eine stattliche, gewaltige Weltmonarchie, der Alles

119

dienen soll, im Papstthum aufgerichtet?

Und wie manchmal sollte auch

jn unserer evangelischen Kirche eine so oder anders im äußern Leben geltend gemachte Frömmigkeit zu allem Möglichen berechtigen!

Pochend

auf seine Frömmigkeit fordert und erstrebt man Amt, Ehre und Gut. Seine Frömmigkeit vorschützend begehrt der Bettler sein Almosen, gleich­ sam einen geringen Lohn für das,

was des reichsten würdig wäre.

So hat man auch da, wo Einfluß und Macht herrschen, oft, wie man sich vorstellte, in bester Meinung Frömmigkeit durch in Aussicht ge­ stellte Belohnungen oder durch Strafen, die man dem Unglauben drohte, zu fördern gesucht.

O das Alles ist dem Geiste Jesu Christi, dem

Geist ächter Frömmigkeit entschieden zuwider!

Wer um irdischer Zwecke

willen fromm sein will, der ist der schlimmsten Gottlosigkeit, der Lüge und Heuchelei verfallen.

Und wer durch vorgehaltenen äußeren Lohn

die Leute zu Christen machen will, der arbeitet nicht an der Aufer­ bauung,

sondern an der Zerstörung des Himmelreiches.

Wo solche

Gesinnung sich regt, da kann deshalb der Erlöser bei aller Holdselig­ keit doch allein den heiligen Ernst hervorkehren, in dem er zürnend spricht*): „Ich habe euch noch nie erkannt, weichet alle von mir, ihr Uebelthäter."

n.

Dieser heilige Ernst des Erlösers zeigt sich aber auch zwei­

tens dem gegenüber, was er an den Bewohnern Nazareths schmerzlich vermißt.

Er erinnert dieselben an zwei hehre Prophetengestalten aus

früherem Jahrhundert, an Elias und Elisa, die in ausgezeichneter Krafl des Geistes gegen den Baalsdienst in Israel, für den Dienst des einigen, lebendigen Gottes geeifert hatten.

Er erinnert, wie beide Männer bei

all' ihrem flammenden Eifer doch auch Werke rettender Liebe geübt hätten, wie durch Elias der armen phönizischen Frau in Sarepta Ret­ tung vom Hunger, Rettung ihres Sohnes vom Tode, wie durch Elisa dem an schwerer,

verderblicher

Heilung geworden wäre. Verschmachtende,

Krankheit leidenden Syrer Naeman

Wie aber, fragt der Herr, waren nicht viel

nicht viel Aussätzige in jenen Tagen

in Israel?

Warum brachten diese Propheten Gottes der heidnischen Frau und dem heidnischen Mann und nicht den Gliedern ihres Volkes Rettung und *) Matthäus 7, 23.

120 Hülfe?

Er brauchte es nicht ausdrücklich zu sagen, da es alle sofort

nothwendig

von selbst begriffen.

Die Wittwe

und

jener Naeman

brachten den Propheten den Glauben entgegen, welcher den Gliedern des Volkes Gottes fehlte.

Darum wurden jene gerettet, darum ver­

schmachteten diese in ihrem Elend. für seine Zuhörer klar.

Damit war auch die Anwendung

Sie hörten heraus:

Hier ist allerdings vor

euch, der mehr ist denn ein Prophet, der, in dem alle rettende Liebe der Gottheit euch naht, der in dieser Liebe selbst die am Tiefsten ver­ sunkenen Samariter, Zöllner, Sadducäer, Heiden selig machen wird. Aber für euch' ist er umsonst da, ihr, wie ihr jetzt seid, gehet unter in eurem Verderben, denn euch fehlt der Glaube.

Weil ihnen aber

der Glaube fehlte, darum konnte er in Betreff ihrer dem Zuge seiner Leutseligkeit nicht folgen, mußte vielmehr sich ihnen im heiligen Ernst entziehen.

Aus seinen Worten tönt uns aber hier schon die Klage ent­

gegen, die er später über Jerusalem ausspricht*):

„Wie oft habe ich

deine Kinder sammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel und ihr habt nicht gewollt!"

Wie der Herr aber stets aus

seiner Zeit in die Zukunft hinausschaut, wie er mit dem Herz und dem Auge der Liebe eben die Menschheit zusammenschließt, das sagt uns in diesem Punkte ein ausdriickliches Wort, das er seiner Zeit gesprochen hat: „Meinest du, daß des Menschen Sohn auch werde Glauben finden, wenn er kommen wird"**)?

Mit dieser Frage sieht er offenbar in

seine künftige Gemeine hinein, zu der er ja fortwährend durch sein Wort und seinen darin wohnenden Geist kommt.

Ach er weiß eS von

dieser Gemeine, daß sie in vielen Gliedern so gut wie die Nazarethaner das Heil seiner Liebe verscherzen werde, weil es ihnen am Glauben gebrechen wird. . Aber wie? Hatten denn die Leute in Nazareth keinen Glauben? Bewiesen sie ihn nicht schon durch ihr Zusammenkommen im Bethause, durch ihr Hören des Wortes,

durch ihre Feier aller

gottesdienstlichen Ordnungen, durch ihre Hoffnungen auf den Messias? Und heute? — Es wird wohl zugegeben, ja sehr stark geklagt, daß viele völlig ungläubig wie Heiden seien, weil sie entweder die uralten, *) Matthäus 23, 37. **) Lukas 18, 8.

121 ehrwürdigen Glaubensbekenntnisse nicht mehr als die ihrigen annehmen, oder sich auch dem kirchlichen Leben entziehen.

Aber, wir Gläubigen,

so nennt man sich so gern mit besonderem Accent, wir, die wir die Formeln der Kirche bekennen und streng kirchlich leben, nun, das ver­ steht sich von selbst:

Wir haben den Glauben.

Aber der Herr hat

auch hier seine Wurfschaufel in seiner Hand, und sondert die Spreu vom Weizen, hat auch hier das beschämende':

Nicht alle, die zu mir

Herr, Herr sagen, werden in's Himmelreich kommen.

Ach es ist oft

genug geschehen, daß Christus nach den Formeln als der ewige Gottes­ sohn gepriesen und angebetet wurde, während man den heiligen Men­ schensohn voll Liebe und Wahrheit an's Kreuz schlug.

Im kirchlichen

Leben ist er mit Psalmen gefeiert worden, um ihn aus dem häuslichen, geselligen und bürgerlichen Leben

desto entschiedener zu

verbannen.

Der Glaube ist ja wahrlich nicht ein Annehmen von Lehrformeln, nicht ein strenges Innehalten kirchlicher Bräuche.

Zur Grundlage des Glau­

bens gehört das tiefe Bedürfniß des Friedens mit Gott im Innersten des Gemüthes, die lebendige Sehnsucht nach Einigung und Gemeinschaft mit Gott.

Wo solch Bedürfniß gefühlt wird,

da ist es ferner nur

möglich auf Grund des Göttlichen, was der Schöpfer in uns angelegt hat, auf Grund des Gewissens und der Vernunft.

Darum das Be­

dürfniß mit der Gottheit in Friede und Einheit zu sein, es ist eins mit dem Bedürfniß den Forderungen des Gewissens und der Vernunft zu genügen, d. h. mit dem Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit und Wahrheit, mit dem ernsten Verlangen, ein ächt sittliches, lauteres, gottwohlgefälliges Leben zu führen, alle die Aufgaben unsers allgemeinen und besondern Berufes in allen unsern Lebenskreisen zu erfüllen.

Wo

dies Bedürfniß in den Seelen erwacht ist, da, wenn die Stimme Christi erschallt: „Heut ist diese Schrift erfüllt, das Jahr des Heils ist erschienen;" saugt man die Strahlen seiner vergebenden, erleuch­ tenden und erlösenden Liebe durstig in sich, man ergreift mit Freu­ den die wahre menschliche Gerechttgkeit, wie er sie bietet, mau ist selig, eine Rebe an ihm, dem Weinstock des Lebens, zu werden.

Dann ist

er und kann er sein der Holdselige, der sich selbst, seine Herrlichkeit in Gnade und Wahrheit den Seinen mittheilt.

Wo jenes Bedürfniß

122 in den Seelen noch schlummert,

von anderen Neigungen und Inter­

essen noch wie verschüttet ist; — da, und ob man alle kirchlichen Glau­ benssätze bekennt und den strengsten Regeln irgend einer bestimmt aus­ geprägten Kirchlichkeit sich unterwirft, fehlt doch nichts mehr als gerade der Glaube.

Weder wird das Licht der göttlichen Gnade die Seele

durchstrahlen, noch eine Kraft der Erneuerung und Heiligung des in­ nern Lebens, wie sie von Christo ausgeht, aufgenommen werden.

Bei

solcher Gemüthsbeschaffenheit ist eine Gemeinschaft mit dem Erlöser unmöglich, vielmehr muß dieser im heiligen Ernst, in tiefer Trauer sich zur Zeit solchen

glaubensöden Seelen

entziehen.

Theure

Freunde,

wie der Herr seinen heiligen Ernst in tiefer Wehmuth bekundet, da gerathen die Bewohner Nazareths in Grimm und wollen ihn vom Felsen stürzen.

Wo der Herr seinen heiligen Ernst ihren Gesinnungsgenossen

offenbart, da wird auch heute der gleiche Grimm sich regen, natürlich heute nicht gegen seine irdische Person, aber gegen die heiligen Grund­ sätze seines Geistes und Lebens und gegen die, welche sie geltend machen. Es wird solcher Zorn im Richten und Verdammen sich anssprechen. Der wehmüthig bewegte, tief leidende Erlöser geht in stiller Ruhe und Erhabenheit durch ihre Mitte, und wie sie auch zürnen, wagt sich an ihn.

keine Hand

Er aber, wie Elias zu jener Wittwe, Elisa zu jenem

Syrer, trägt so das Heil der göttlichen Liebe in andere Grenzen, zu andern Seelen und legt dennoch fest den Grund des Himmelreiches auf Erden, daß es die Pforten der Hölle nicht überwältigen.

Laßt unS

den Schluß unserer Erzählung zu dem Ende zu unserer Erhebung mit beherzigen.

Auch heute wird dem Herrn gezürnt, wenn er in heiligem

Ernst den Glauben fordert, die Früchte des Glaubens, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, heilige Liebe. des Christenthums tödten.

Man sucht ihn oft unter dem Scheine

durch Vernichtung jener heiligen Forderungen zu

Er aber geht durch ihre Mitte, wenn auch als der Leidende,

doch als der Siegreiche.

Er bringt das Heil, wo der Glaube ist, wo

die Seelen der phönizischen Wittwe und dem syrischen Feldhauptmann gleichen.

Nicht wahr, wir öffnen mit neuer Hingebung ihm unsere

Herzen, daß mit neuer Kraft sein Geist uns erfülle! heilige, gnädige Gott!

Amen.

Das walte der

Das Leiden im Christenhause. V.

Epiphanienzeit.

Text:

Matth. 8, 14 — 17.

Und Jesus kam in Petrus Haus und sah, daß seine Schwieger lag und

hatte das Fieber.

Da griff er ihre

Hand an, und das Fieber verließ sie.

Und sie stand auf

und diente ihnen.

Am Abend aber brachten sie viele Be­

sessene zu ihm, und er trieb die Geister aus mit Worten und machte allerlei Kranke gesund.

Auf daß erfüllt würde,

das gesagt ist durch den Propheten Jesaia, der da spricht: Er hat unsere Schwachheit auf sich genommen, und unsere Seuche hat er getragen. Üheure Freunde, unsere Erzählung ist ans der ersten Zeit der Lehrund Heilsthätigkeit des Herrn gewählt, weil das der Zeit des Kirchen­ jahres, in der wir jetzt stehen, entsprechend erscheint.

Es konnte noch

nicht lange her sein, daß Jesus die ersten seiner zwölf Jünger und unter den ersten auch den Petrus an sich gefesselt, in seine Nachfolge hineingezogen hatte.

Wenige klare und tiefe Reden hatte Petrus von

seinem Meister gehört, in wenigen Werken

fieder : Nr 608.

Nr. 41, 1.

einen Abdruck seiner Ge­

124 sinnung und seines Geistes geschaut.

Da, wie der Freund mit dem

Freunde, so zieht Jesus mit Petrus in das Haus des Letzteren, läßt sich von ihm in seine Familie hineinführen.

Aber Petrus, wie er nach

längerer Abwesenheit, von dem Heiland begleitet, in sein Hans zurückkehrt, kommt ein anderer als er daraus hinweggegangen war.

Er hatte

den gefunden, von dem Moses und die Propheten geschrieben hatten, und in ihm die Zuversicht seines Heils.

Sein Haus findet er freilich

auch wahrscheinlich anders wieder als er es verlassen hatte, findet näm­ lich die Mutter seiner Frau im schweren Fieber daniederliegend.

Mer

vorauszusetzen ist auch das, daß nach anderer Seite dieses Haus mit seiner Rückkehr ein anderes wird, als es gewesen. wohl, den Herrn mit zu nehmen?

Was bewegt ihn

Wir dürfen es nnS wohl denken,

daß, wie er selbst zu denen gehört hatte, die auf den Trost Israels hofften, so auch seine ihm verbundene Frau diese Hoffnung und Sehn­ sucht der Frommen Israels theilte und daß auch deren Mutter dem nicht fern stand.

Für solche Gemüther bedarfö aber nur der Erschei­

nung und damit der Offenbarung des Heilandes, und sie sind für den­ selben gewonnen, sie fühlen sich in seine Gemeinschaft gezogen und be­ ginnen mit dieser Gemeinschaft die Laufbahn eines neuen Lebens.

Wir

dürfen von der Stunde an, wo der Heiland eintrat, Petri Hans als ein christliches Haus betrachten, wenn auch nur erst als ein entstehendes und werdendes.

Durch die wirksame Kraft Christi wird dies Haus

ein christliches und ist damit zu der Stätte geweiht, in welcher Christi Wirksamkeit nicht wieder aufhört.

Unser Text zeigt uns dies Haus

aber als vom Leiden erfüllt und wie der Erlöser hier dem Leiden gegen­ über sich verhält.

Deshalb, indem wir den Herrn anschauen, wird

uns das Leiden im Christenhause in dem Lichte seines Geistes und seiner Wirksamkeit gezeigt.

Darauf richten wir jetzt unser gemein­

sames Nachdenken. I.

Das, Christenhaus, — welches ist ein solches?

Des Petrus

Haus, wie wir es uns denken, war es bisher noch nicht gewesen; aber es hatte in der Vorbereitung gestanden, ein solches zu werden.

Diese

Vorbereitung war der gemeinsame Zug zu dem Gott Israels in den Gemüthern, die gemeinsame Sehnsucht nach dem Heile Gottes, nach

125

dem, der mit Gott vereinigt. Wie Petrus den Erlöser einführt, da wird der Eindruck seiner Person auf die Gemüther sie dessen gewiß gemacht haben, daß in ihm das Heil und der Heiland erschienen sei, so daß auch sie mit ihrem Glauben sich ihm anschlossen. Das ist ein Christenhaus, wo die Glieder desselben, zunächst Vater und Mutter, in der Zuversicht stehen, daß ihnen in Jesu die Gnade Gottes er­ schienen und gewährt sei, wo sie darum ihm sich innerlich verbinden. Im Hause des Petrus war das Leiden schon eingekehrt ehe der Herr kam, und dieser fand eS bei seinem Eintritt vor. Aber das Leiden nimmt jedenfalls mit dem Kommen des Erlösers eine andere Gestalt an und das Haus zeigt sich in Beziehung auf das Leiden sofort in anderem Lichte. Der Evangelist wendet auf den Erlöser die Weissa­ gung des Propheten an: „Er hat unsere Schwachheit auf sich genom­ men und unsere Seuche hat er getragen." Wie auch sonst die Herr­ lichkeit und Hoheit in der Erscheinung Jesu sich kund gab, daß die Menschen in ihm den Heiland erkannten, — eins trat auf's Mächtigste in ihm hervor, — die mitfühlende, die mittragende Liebe. Wer ihn im klaren Lichte erkannte, der wurde zugleich dessen intte, daß sich ihm die Krankheit der Leidenden auf die Seele legte, als wenn er selbst im Frost und in der Hitze des Fiebers zu dulden hätte. Auf ihm lastete das Geschick des Hauses als wäre es eben sein Hans. Indem die Kranke und die andern Genossen des Hauses ihm das anfühlten, ge­ staltete sich schon vor der Heilung Alles bei ihnen so anders. Das mußte wie himmlische Labung in ihre Seelen dringen, daß sie so der hingebenden, mittragenden Liebe dessen gewürdigt wurden, in dem sie den Messias, in dem sie so die heilige Offenbarung der Gottheit, die Abspiegelung Gottes und seines Wesens selber, erkannten. Auch Gottes Liebe, das ging als seliges Bewußtsein ihnen auf, trage gleichsam ihr Leid, trage sie in ihrem Schmerz, in ihrer Noth und darin gewannen sie einen Frieden, der alles Denken übersteigt. Wo im Christenhause das Leiden eingekehrt ist, da wissen die Glieder desselben auch den Hei­ land gegenwärtig. In ihm ist ihnen die Liebe Gottes gewiß und dieser sich ergebend, haben sie darin ein köstliches, himmlisches Gut. Bleibt auch das äußere Leiden, durch den gegenwärtigen Herrn, durch seine

126



tragende, mitfühlende Liebe fühlen sich die Kranken wie innerlich ge­ heilt, werden die Leidtragenden getröstet.

II.

Wie kam aber der Heiland in's HauS des Petrus?

Ich

möchte fast halten an dem Text, daß Petrus, das Haupt des HaufeS, den Heiland hineinführte und daß es jetzt noch immer so ist, daß er der Herr durch die einzelnen Glieder, vorzugsweise durch Vater und Mutter, in's christliche Haus gleichsam beständig eingeführt werden muß.

Ihr versteht es schon, daß hier von der geistigen Gegenwart

des Herrn, darum auch von einer geistigen Art, ihn einzuführen, die Rede ist.

Wie das geschieht? — Ihr werdet zuerst an das Wort des

Evangelii und an das Gebet denken.

Sind Glieder des Hauses lei­

dend; so werdet ihr sagen, ergeht an die gesunden und namentlich an die vorstehenden Genossen des Hauses ganz besonders die Mahnung *): „Lasset das Wort Christi unter euch reichlich wohnen," und die des Jakobus, über die Kranken zu beten**).

Also:

Haltet den Kranken

aus dem Evangelio vor, was besonders gerade paßt, betet mit ihnen und über sie!

Gewiß knüpft sich an Wort und Gebet wie die Ver­

heißung deS heiligen Geistes, so auch damit das Kommen des Erlösers; denn der Glaube kommt aus der Predigt. Aber dabei.

Aber es ist doch noch ein

Wir können nicht leugnen, daß in unsern Gemeindegottes­

diensten unsere Predigten manchmal ihres Zweckes verfehlen, d. h. daß sie eben nicht erwärmend und belebend wirken, auch solche unserer Predigten, die in ihrer Lehrentwickelung des evangelischen Gehaltes nicht entbehren.

Wenn da die Schuld nicht an der mangelnden Empfäng­

lichkeit der Zuhörer, sondern an dem Verkündiger liegt, welches werden solche Predigten sein?

Meine Geliebten, diejenigen, bei denen uns, den

Verkündigern des Evangelii, das lebendige Dnrchdrungensein von der heiligen Liebe und Wahrheit des Erlösers mangelt, wo er nicht lebendig in uns ist.

Ihr merkt, sollen wir auch hier Christum bringen, es thut

bei der Predigt noch etwas Anderes Noth als die regelrechte Lehre. Gerade so ist es im Hause.

Es giebt in der Christenheit Häuser, da

wird wie überhaupt, so auch bei Trübsalen viel Gottes Wort gelesen *) Kolosser 3, 16 **) Jakobus 5; 13. 14.

127 und gehört, viel laut und im Verein gebetet, und doch geht daneben her ein finsterer, mürrischer, unzufriedener, harter, mißtrauischer Geist, ein solcher, durch den der Geist Christi betrübt wird, daß er trotz alles Gottes-Wortes und alles BetenS sich immer wieder ans den vier Wän­ den zurückziehen muß.

Um Christum wirklich in's Haus zu führen,

dazu ist auch hier noch etwas Anderes Noth.

Was das sei?

Offen­

bar das, daß die Leidenden irgendwie durch die nichtleidenden Glieder der Familie des Herrn Antlitz schauen, wie er unsere Schwachheit auf sich nimmt und unsere Krankheit trägt.

Darauf kommt's an, daß

Vater und Mutter, oder Bruder und Schwester, oder Freund und Freundin an's Krankenbett und zu

sonstigem Leid ihrer Lieben mit­

bringen die mitfühlende, mittragende Liebe ihres Erlösers und davon Zeugniß geben in Sanftmuth, Geduld, Freundlichkeit, im lieblichen hold­ seligen Dienen.

Dadurch wird es den Leidenden thätsächlich gepredigt,

daß es eine wahrhaftige, treue Liebe Christi und >tne wahrhaftige, treue Liebe Gottes giebt, daß der Herr auch in ihrem Leiden bei ihnen bleibt alle Tage bis an der Welt Ende.

in.

Doch folgen wir dem Herrn in seinem Verhalten gegenüber

der Kranken!

Er ergreift die Hand der vom Fieber geplagten Frau.

Was will er ihr damit aussprechen und gewähren?

Ein Zeichen giebt

er ihr, daß er mit seiner Kraft aufhelfen wolle ihrer Schwachheit, mit seiner Stärke in Gott ihr geben wolle, was ihr gebrach und was ge­ rade die Macht des Fiebers vernichten sollte, — eine Aufrichtung ihrer Seele in lebendiger, muthiger Zuversicht. bringt und gewährt.

Sie versteht's, was er ihr

Wie äußerlich ihre Hand die seine, welche er

darbietet, nimmt, so umschließt innerlich ihre Seele ihn, als den geistes­ kräftigen Helfer.

Auf ihn setzt sie ihr ganzes Vertrauen und an der

von ihm ausströmenden

und

von

ihr ergriffenen Kraft des Geistes

bricht sich das Fieber und stellt sich ihre Gesundheit wieder her, so daß sie aufzustehen und ihm fröhlich zu dienen vermag.

Nun auch wir

sollen in unsern Häusern Werkzeuge des Herrn werden, er will durch uns wirken.

Es ist der Mensch ein leiblich geistiges Wesen, in dem

sich Geistiges und Leibliches auf's Innigste geheimnißvoll durchdringen, Geistiges und Leibliches durch einander leiden, durch einander sich kräf-

128 tigen. Wo nun ein Glied des Hauses von leiblicher schwerer Krank­ heit, wie hier die Schwieger des Petrus, ergriffen wird und länger daran zu tragen hat, da findet sich sehr leicht auch geistige Verstim­ mung, Kleinmuth, Zaghaftigkeit, und diese Mißstimmung wirkt wiederum zurück auf den Körper, daß auch dessen Zustand, anstatt besser zu wer­ den, sich verschlimmert. In solcher Zeit, wo im Verhältniß des Gei­ stigen und Leiblichen, Eins immer auf das Andere nachtheilig einwirkt, offenbart sich so recht die menschliche Schwachheit, wie sie der Hülfe bedarf und nach Hülfe verlangt. Auf Wunderkraft dürfen wir freilich in solchen Fällen nicht hoffen. Dennoch können wir im Namen des Herrn und durch seinen Beistand ihm ähnlich uns zeigen, können den Schwachen, Zagenden die Hand zur Aufrichtung reichen. Ich meine, woran die Leidenden so leicht Einbuße erfahren, das sollen ihnen die andern Glieder der Familie entgegentragen, — den Muth, die Kraft des Gottvertrauens. Wo sich die gesunden Glieder diese herrlichen Gaben wahren, wo sie in hohem Glaubensmuthe und starker Glaubens­ zuversicht mit ihren leidenden Lieben verkehren, und, wenn diese auch körperlich nicht gesunden, eine geistige Stärkung, eine Kraft zu dulden, zu glauben, zu hoffen, eine Kraft die höchste Tapferkeit in der Erge­ bung zu beweisen, werden sie unbewußt nehmen und dadurch wird's besser mit ihnen werden. Wie auch äußerlich der Verlauf ihres Lei­ dens sein mag, die Kraft Christi durchströmt von seinen Jüngern her ihre Seelen und sie getrosten sich ihres Gottes der sie nimmer verläßt. So wird bei allem Leiden im Christenhause die Hülfe nicht fehlen. IV. Wie so im Hanse des Petrus durch die Liebe und geistige Kraft des Erlösers das Leiden seine Erledigung und Abhülfe gewann, so ist es noch heut im Christenhause durch den lebendigen Glauben an den Erlöser, durch das Gefühl seiner Nähe. Weicht aber wirklich die Krankheit, weicht anderes Leid, die Glieder des Hauses schauen lobend und dankend auf zu der Liebe der Gottheit, die ihnen in Christo er­ schienen ist. Bleibt aber auch länger das äußere Leiden, in der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, so haben des Hauses Glieder dennoch ihren täglichen Trost, somit innerlich auch ihre tägliche Hülfe. Was aber das Christenhaus so erfährt und empfängt oder erfahren und

129

empfangen hat, das will es irgendwie auch («nebet geben, will auch an­ dern Häusern in Christo die Hülfe gewähren. Ohne einen solchen Trieb christlichen Lebens wäre es kein Christenhaus. In dem Hause des Petrus ist die Mutter geheilt, ist Freude und seliges Behagen durch die rettende Liebe des Herrn wiedergekehrt; siehe da öffnen sich Abends seine Pforten, daß hereinströmen die Besessenen und Kranken, daß auch sie hier den gemeinsamen Retter gewinnen und Heilung erlangen. Was gehen mich diese an? so hätte es in einem Hause gelautet, wo noch die Selbstsucht regiert, und die Thüren wären den Leidenden ver­ schlossen geblieben. Gewiß auch heut, wenn in einem Hause alle er­ fahrene Rettung aus dieser oder jener Noth, aus diesem oder jenem Schmerz des Lebens auf die ewige Liebe der Gottheit in Christo zurück­ geführt wird, wenn man im gegenwärtigen Leiden zu dem Herrn betend seine Zuflucht nimmt, wenn man nach der Ueberwindung desselben lo­ bend singt: „In wie viel Noth hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet?" dann erheben sich die Gemüther zu frischer, thä­ tiger Liebe, in der sie streben, dasjenige, was ihnen Errettung schaffte, auch in andere Häuser als Heil, als Segen und Hülfe hineinzutragen. Ist es nicht das, was Väter und Mütter in dem Verein unserer Parochie zusammengeführt hat und sie verbunden hält? Sie haben die Liebe Gottes ihres Heilandes im eigenen Hause erfahren, mit dieser Liebe Gottes ihres Heilandes wollen sie auch in andern Häusern des Elendes Quellen versiegen machen und Hülfe und Tröstung bringen. Doch, meine Geliebten, wir thun wahrlich wohl, wenn wir zum Schluß auch noch einen Zug in unserm Texte beachten. Der Heiland, heißt es, heilte diejenigen, welche in Petrus Haus kamen, aber, er thut es nicht, indem er ihnen, wie der Schwiegermutter des Petrus die Hand reicht; sondern nach Matthäus Bericht trieb er die Geister aus durch das Wort und Lukas sagt*): Er bedrohete sie und ließ sie nicht reden. Dies verschiedene Verfahren des Herrn hat seinen Grund in den ver­ schiedenen Gemüthszuständen der Leidenden. Die Kranken die zu ihm in das Haus des Petrus kamen, sind meistentheils sogenannte Besessene. Erwartet da nicht eine ausreichende, tiefgehende Erklärung der GemüthS*) LukaS 4, 41. Thoma», Glaube an Christu«.

130 zustände, itt denen sich diese Unglücklichen befanden. Nur Eins hebe ich hervor. ES war wohl unzweifelhaft, daß das Leiden, die Krank­ heit dieser Armen irgendwie mit dem sittlich Bösen, mit der Sünde zusammenhing. Da, um zu helfen, reicht der Herr ihnen nicht die Hand, sondern das Wort, das bedrohende, das strafende wendet er zuerst an, strafend die sittliche Verderbniß, erweckend das Gewissen und dann erst gewährend die Hülfe seines Gottesfriedens und seiner Gotteskraft. Sieht sich ein Christenhaus um, wo es helfen, wie es den Heiland als Retter bringen kann; so werden sich viele Häuser zeigen, die der Hülfe und des Heilandes bedürfen. Aber ist es ange­ wandt, sogleich immer zuerst, immer allein die Hand zu reichen, d. h. irdische Mittel zu gewähren? Oft macht solche schnelle, unbedachte Hülfe das Elend größer, Almosen macht ärmer, indem Hülfe und Al­ mosen nur dasjenige bestärken, aus dem das irdische Elend entstand, — die Trägheit, den Leichtsinn, die Liederlichkeit eines sündigen, von Gott, Gewissen und Gottes Wort losgerissenen Lebens. Da kommt es darauf an, daß von einem Christenhause auch in der Weisheit des Herrn geholfen werde, d. h. unterschieden werde, wo hingehört die ermuthigende, aufrichtende Hand, und wohin das strafende Wort heiliger Liebe, wo, wie und wann beides zu verbinden und so wirkliche Ret­ tung zu gewähren sei. Ja das wird den Gliedern eines christlichen Hauses ziemen, daß sie in ihrer christlichen Liebesthätigkeit auch fragen, forschen und untersuchen, welches sind die Gründe des Elendes, das hier und dort um Hülfe schreit, daß sie mit dem ernsten Wort des Erlö­ sers eben so zur Buße mahnen, wie mit seiner Rechten, d. i. mit ihrer unterstützenden, helfenden Hand, erquicken. Dazu bedarf's des Hauses noch in erweitertem Sinn, nämlich der Gemeinschaft, darin der Herr selbst gegenwärtig ist, indem seine Liebe in vielen und dann auch an vielen sich wirksam erzeigt. Wir haben dies erweiterte Haus in unserm Parochialverein. O kennet ihr die Liebe Gottes in Christo, die auch bei Trübsalen tröstend, helfend, segnend im Christenhause, darum auch in dem euren weilt, kommt in unsern Verein mit dem Dank der That, da­ mit sich dieser als ein Haus des Herrn für viele Leidende öffne und vielen aus ihm heraus der Herr Hülfe und Kraft gewähre! Amen.

Die Predigt des Erlösers. VI.

Epiphanienzeit.

Text:

Lukas 8, 1—3.

Und es begab sich darnach, daß er reiste durch Städte und Märkte, und predigte und verkündigte das Evangelium vom Reiche Gottes; und die Zwölfe mit ihm.

Dazu et­

liche Weiber, die er gesund hatte gemacht von den bösen Geistern und Krankheiten, nämlich Maria, die da Magda­ lena heißt, von welcher waren sieben Teufel ausgefahren, und Johanna, das und Susann«

Weib Chusa, des Pflegers Herodis,

und viele

andere,

die ihm Handreichung

thaten von ihrer Habe. (Deliebte im Herrn, nicht eine einzelne Begebenheit, die sich eben nur einmal zugetragen hätte, wird uns hier in dem gelesenen Text aus dem Leben des Erlösers berichtet;

sondern der Evangelist faßt in diesen

Worten die Gewohnheit, die Weise seines Lebens und Thuns zusammen, wie sie sich in vielen einzelnen Handlungen täglich darzustellen pflegte. Der Inbegriff davon aber ist, daß der Heiland reisend predigte und predigend reiste.

Die Thätigkeit des Herrn, sein heiliges Handeln,

Lieder: Nr. 28, 1—4.

Nr. 94.

Nr. 14.

132

suchen wir uns besonders in dieser kirchlichen Zeit zu vergegenwärtigen. Vergessen wir nicht, daß der Mittelpunkt seiner Thätigkeit die Rede ist, daß seine Predigt stets war, was sie sein soll, die höchste That. Wesentlich in seiner Predigt und durch seine Predigt hat er seinen Messiasberuf verwaltet. Nach dieser Seite möchte ich heut, theure Freunde, eure Aufmerksamkeit und euer Nachdenkeu richten. Also die Predigt des Erlösers ist der Gegenstand unserer Betrachtung. Da­ bei bitte ich euch zuerst auf die verschiedenen Kreise zu achten, in welche er. das Wort seiner Predigt hineinträgt, zweitens laßt uns das über den Inhalt seiner Predigt Gesagte beherzigen und zuletzt auch des Dankes gedenken, den seine Predigt sucht und findet. I. Ein zwiefacher Kreis ist es, in den der Herr seine Predigt hineingehen läßt. Der eine ist ein um ihn bleibender, beharrlich fester. Es sind theils die Zwölf, theils die Frauen, welche, wie die hier ge­ nannten sich ihm als beständige Begleiterinnen angeschlossen hatten. Der andere Kreis ist ein wechselnder, alle Tage, ja manchmal vielleicht alle Stunden des Tages ein anderer. Wenn der Herr so von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf zieht, da, bald in einem Hause, bald an einem Brunnen, bald am See u. s. w. sammeln sich Leute um ihn, die eine Zeit lang ihm zuhören, und ihn dann wieder verlassen. ■— Ja in dem ersten Kreise können wir es uns denken, mit welcher Freude der Herr da seine Worte des ewigen Lebens redete. Seine Lust in diesem Beruf bricht manchmal in der Rede hervor, wie wenn er spricht*): „Selig sind die Augen, die da sehen, das ihr sehet; denn ich sage euch viele Propheten wollten sehen, daß ihr sehet und haben es nicht ge­ sehen und hören, das ihr höret und haben es nicht gehöret," oder wenn er betet**): „Ich preise dich Vater und Herr Himmels und der Erde, daß du solches den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen geoffenbaret," oder wenn er auf die Jünger, die um ihn im Kreise saßen blickt und ruft***): „Siehe das ist meine Mutter und meine Brüder; denn wer Gottes Willen thut, der ist mein *) Lukas 10, 23. 24. **) Matthäus 11. 25. ***) Markus 3, 34. 35.

133

Bruder und meine Schwester und meine Mutter." Diesem Kreise, der so beständig an ihm hielt und hing, konnte er Alles sein und wer­ den, was derselbe bedurfte. Die Glieder dieses Kreises konnte er täg­ lich tiefer hineinführen in Erkenntniß und Weisheit, sie täglich mehr läutern an seiner Heiligkeit, sie täglich mehr erwärmen und beleben durch seine Liebe, sie so immer näher bringen dem vollkommenen Man­ nesalter in ihm. Welche herrliche Aussicht für die Zukunft! In diesem Kreise legte der Herr den festen Grund für das ihm vom Vater auf­ getragene Werk, daß es darauf sicher ruhe. In den Zwölfen zog er sich die Säulen seiner Gemeine heran, welche das schützende Dach seiner Huld tragen sollten, auf daß unter demselben sich von allen Seiten her die Mühseligen und Beladenen sammelten, um sich zu erquicken. In den grauen aber bildete er sich die ersten, tiefinnigen Pflegerinnen des Evangelii, welche ihm die heimische Stätte am traulichen Heerde, in der Famjlie vorzugsweise bereiten, welche gleichsam ununterbrochen das heilige Leben seiner Liebe empfangen sollten, um es täglich in ihr Haus hinein zu gebären. Die Gemeine und das Haus, — das sind die rechten Grundstätten für das Werk des Herrn! Die Männer voll des Geistes und der Kraft, daß sie eben damit die Gemeine zusammenhalten und leiten, die Frauen voll tiefer, sinniger Frömmigkeit und Liebe, daß sie in der Stille mit zarter Hand all' das Schöne und Gute, wie es zum Reiche Gottes gehört, in den Ihrigen pflegen! So bildet er sich hier die wahrhaft gesegneten Werkzeuge seiner Liebe. Das ist die Weisheit des Herrn,, daß er so von Anfang an diesen beständigen Kreis um sich sammelte. Nun es ergeht an uns sein Wort*): „Gleichwie mich der Vater gesandt hat, so sende ich. euch." Ihr werdet, theure Freunde, das nicht ans die Lehrer beschränken, sondern es auf alle, die schon Männer im Christenthum sein wollen und sollen, besonders auf Väter und Mütter in den Häusern anwenden. In eurer Familie ist auch euch ein solcher Kreis christlicher Wirksamkeit schon durch das natürliche Leben angewiesen. O eure heiligschöne Aufgabe ist es, diesen Kreis immer mehr zu einer Pflanzstätte des Reiches Gottes zu machen, *) Johanne- 20, 21,

134

täglich die heiligende Liebe des Herrn hineinzutragen, täglich zu sorgen, daß Alles auferzogen und zugerichtet werde in der Zucht und Vermah­ nung zum Herrn. — Haben wir aber so nach der einen Seite des Herrn Weisheit erkannt, nach der andern will sie sich uns scheinbar verhüllen. Von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt zieht er und die in Eile versammelte und dann flüchtig sich wieder zerstreuende Menge wird ihm auch die Gemeine, welcher er predigend das Wort mittheilt. Wie schnell und leicht verschwindet das nur einmal gehörte Wort wie­ der aus den Herzen und läßt weder Eindruck noch Einfluß zurück. Und wenn der Herr bei solchen Gelegenheiten seine Heilswahrheit in zusammenfassender Weise vortrug, mußte es nicht den einmaligen Hörern schwer werden, es aufzufassen, wenn er es nicht in lebendigen Einzelnheiten auseinanderlegte? Ging er aber bei einem solchen Vortrage in. Einzelnes ein, so machte es sich eben so schwer, vom Einzelnen zur Einheit, zum Ganzen aufzusteigen. Außerdem durfte er nicht darauf rechnen, in Dorf um Dorf, in Stadt um Stadt, allenthalben schon vorbereitete, empfängliche Gemüther zu treffen. Klagt er doch selbst einzelne solcher Ortschaften, wie Bethsaida, Chorazim, mit harten Wor­ ten um ihres Unglaubens willen an. Da waren die Zuhörer denn nach seinem Gleichniß wohl viel seltener ein gutes Land, als vielmehr Dornenfeld, steinigter Boden, hart betretener Weg. Warum zieht der Herr sich nicht so schnell wie möglich aus diesen zufällig zusammenge­ kommenen großen Kreisen in die stille Gemeinschaft schon erweckter, empfänglicher Gemüther zurück? Mit nicht undeutlicher Rede wird er deshalb von einem großen Mann unsers Volkes getadelt, welcher sagt, man müsse nicht sein wie ein thörichter Säemann, der seinen Saamen auch auf den Fels und unter die Dornen wirft. Aber solcher Tadel entspringt selbst aus dem Mangel an rechtem Verständniß. Es fehlt da die Einsicht, daß das Natürliche wohl nach manchen Seiten ein Bild für das Geistige bietet, daß aber neben der Aehnlichkeit zwischen beiden immer Verschiedenheit bleibt. Thörigt der Ackersmann, der draußen in der Natur auf Felsen und Wege und unter die Dornen den guten Saamen streut und vergeudet. Aber diejenigen in der Menschheit, die ihrer jetzigen Gemüthöbeschaffenheit nach noch wie felsigtes, dornigteS

135 Land, wie hartgetretener Weg sind, sollen sie es bleiben?

Ist eS nicht

vielmehr gerade des Heilandes Wille, Aufgabe und Arbeit, solch un­ fruchtbares in ein fruchtbares Land, unempfängliche Herzen in empfäng­ liche umzuwandeln? Und wie kann das geschehen?

Eben nicht anders

als durch die von ihm gelegentlich ausgestreuten Worte und Reden. Wohl ging seine Rede oft scheinbar spurlos an der Menge vorüber. Aber was heute gesäet noch der Frucht zu entbehren schien, das ist des­ halb nicht immer fruchtlos geblieben.

Hier dies, dort jenes Wort blieb

als ein unverstandenes im Gedächtniß; gleichsam wie ein Saamenkorn in einem zur Zeit noch dürren Erdreich..

Aber in späterer Zeit durch

diese oder jene Veranlassung in die lebendige Erinnerung gebracht, hat es seine sauerteigartige, durchdringende Natur bewiesen oder ist selbst die scharfe Pflugschaar geworden, die den harten Boden des Herzens lockerte und dem Dornengestrüpp in der Seele an die Wurzeln kam und sie hinwegschnitt.

Wenn nach dem Heimgänge des Erlösers seine

Apostel hunderte und tausende so leicht in die Gemeinschaft des Him­ melreiches durch ihre Predigt bleibend hineinzogen, der Heiland hatte sicherlich durch sein früheres scheinbar erfolgloses Wirken

vorbereitet.

Sie entbieten und sammelten, weil er den Saamen gestreut hatte. Auch hier ist er als der Säemann in seiner Predigt der wahrhaft Weise, der allerdings auch wo er keinen augenblicklichen Erfolg erwartet und sieht, doch getrost arbeitet, von der Zukunft den Segen und die Frucht hoffend.

So stellt auch der Heiland den Seinen die gleiche

Aufgabe, wenn er ihnen z. B. sagt*):

„Habt Salz bei euch."

Vom

Wort und Geist des Evangelii laßt euch durchdringen und tragen, auf daß euch unter den verschiedenen Verhältnissen und den wechselnden Umgebungen des Lebens zur rechten Zeit die Worte gegeben werden, mit denen ihr hier eine niedrige Gesinnung und Handlung beschämt, dort den Spott und Hohn gebührend abweist, mit denen ihr, je nach­ dem es Noth thut, die Lüge und Heuchelei entlarvt, ans der Trägheit anftüttelt, aus der Zaghaftigkeit aufrichtet, zur Liebe reizt.

War für

solche Worte auch noch nicht der Boden bereitet, laßt euch das nicht

*) Markus 9, 50.

136 kümmern, stammen sie anS dem Geist des Herrn, sie sollen und werden selbst Empfänglichkeit erzeugen.

Wort und Geist Christi soll auch bei

uns und durch uns wirken hier in dem heimischen Kreise unsers Le­ bens, dort in den flüchtig sich bildenden und wieder sich trennenden Zirkeln, hier in der Beständigkeit, dort mehr in vorübergehender Zu­ fälligkeit.

Das Gelingen, den Segen giebt allein Gott und den lassen

wir walten.

n.

Wir kommen jetzt zu dem Inhalt seiner Predigt.

von derselben: Gottes."

Es heißt

„Er verkündigte das Evangelium vom Reiche

Ein Zwiefaches tritt nach diesen Worten über den Inhalt

hervor: Das Reich Gottes und die Kunde desselben als ein Evan­ gelium, als eine frohe Botschaft.

Reich Gottes wollte gewissermaßen

der alte Bund schon sein, wird deshalb so gewöhnlich als Theokratie, Gottesherrschast bezeichnet.

Diese Gottesherrschaft aber hat ihren Aus­

gang, ihren Ausdruck und ihre Vermittlung im Gesetz. spricht sich der Gotteswille aus.

In diesem

Die Offenbarung des Gotteswillens

im Gesetz ist deshalb Israels köstliches Gut, darin besitzt es seinen eigenthümlichen Vorzug vor allen Völkern der Erde.

Dieser Gottes­

wille nun soll von ihm erfüllt werden und dadurch soll das Volk sich als dasjenige darstellen, in dem Jahveh herrscht, das also eine Theo­ kratie, ein Gottesreich bildet. Israels.

Wir verkennen nicht den hohen Vorzug

Wie auch heidnische Völker, Griechen und Römer, in Kunst,

in weltlichem Wissen, in scharfem, folgerichtigen Denken das jüdische Volk weit überragten, es fehlte ihnen die Erkenntniß des heiligen Gottes, des heiligen göttlichen Willens, an den die Menschheit gebunden ist und damit fehlte ihnen doch das Tiefste und Höchste, was es in der alten Welt gab, was eben Israel als sein Erbtheil vom Ewigen em­ pfangen hatte.

Wie lieblich auch Griechenlands Kunst und Bildung

war, wie sehr durch dieselben auch der Zauber der Schönheit über das menschliche Leben sich ergoß, das Gesetz in Israel steht dem tiefsten Wesen des menschlichen Geistes doch näher, birgt Höheres und Erhab­ neres in sich, ist nothwendiger für das Heil der menschlichen Seele. Der schwere Dienst unter dem Gesetz ist besser als die leichte Freiheit in heidnischer, die Weltordnung der Heiligkeit nicht kennender Bildung.

137

Darum hatten die heiligen Männer Israels Recht, wenn sie die Herr­ lichkeit ihres Volkes ans dem Besitz ihres Gesetzes herleiteten und ihre Freude an Gottes Gesetz aussprachen. Dennoch fehlte auch hier das Höchste und Beste, das Evangelium. Ja die Erfahrung unter dem Gesetz ist für jeden aufrichtigen, ernsten Geist die: „Das Gesetz ist geist­ lich, ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft," die, daß wenn unser Gewissen dem Gesetz Gottes zustimmen muß, wir ein ander Gesetz, eine andere Macht in unsern Gliedern finden, welche widerstreitet dem Gesetz Gottes im Gemüth*), oder, daß man eben nicht durchdrungen von dem heiligen Gotteswillen auch das göttliche Gesetz nicht wirklich erfüllt. So konnte bei dem Gesetz Gottes doch kein Himmelreich in Israel sich gestalten. Das Gottesreich steht da, aber nur als eine Forderung im Buchstaben, als etwas, was der Mensch leisten soll und nicht leistet, aber nicht, als Wirklichkeit, als Leben. Der Heiland pre­ digt das Reich Gottes als Evangelium, als frohe, beseligende Kunde, damit als das, was zunächst nicht der Mensch leistet, sondern was Gott giebt und wirkt, was die Menschen von ihm empfangen. Was ist das? Christus spricht**): „Ich bin das Brod, das vom Himmel gekommen ist," im Gegensatz nämlich zu dem Manna, welches Moses gegeben hatte. Waö ist denn in ihm das, was ihn zum Brode des Lebens macht? Das, daß er steht in unmittelbarster, engster Gemein­ schaft mit dem Vater im Himmel, und er im Vater und der Vater in ihm ist, daß in ihm die erlösende Liebe der Gottheit wohnet. So bietet er sich als Brod, so will er gegessen, so will er in die Seelen aufgenommen werden, daß eben die göttliche Liebe in ihm und durch ihn die Sünden vergiebt, in ihm und durch ihn die Seelen in ihre Gemeinschaft zieht und sich verbindet. Da heißt es denn in köstlichem Wort ***): „Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingebornen Sohn gab, auf daß Alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Was Christus gepredigt, ist dasselbe, was er in dem Worte erfleht si): „Daß sie alle Eins seien, gleichwie *) **) ***) t)

Bergl. Römer 7, 14 25 Jobanne« 6, 41. Johannes 3, 16 Johannes 17, 21.

138

btt, Vater, in mir, itttb ich in btt, baß auch sie in unS Eins seien." Das ist ber Inhalt seiner Prebigt, baß er bie frohe Botschaft von bem Sein Gottes, von bem Wesen ber ewigen Liebe in ihm, von ber Mittheilung seiner göttlichen Liebe an bie Seinen, von bem daraus sich bildenden Himmelreich verkündigt. Haben wir aber bett Inhalt bet Prebigt Christi, wie er so beseligend ist, erwogen, so drängt sich uns von selbst die Frage auf: in. Wie können wir dafür danken? Ja giebt der Herr mit seiner Prebigt so viel, er fordert und, wir setzen hinzu, er muß auch finden den rechtschaffenen Dank. Von den Jüngern wirb nichts im Text erwähnt; aber es versteht sich eben aus ihrer nachfolgenden Geschichte von selbst. Hatten sie im Reiche Gottes durch Christum ihr Heil gewonnen; so war der künftige thatsächliche Dank ihre apostolische Prebigt, bie Verkündigung beS Erlösers. Das Hohe und Eigenthümliche bei ihnen ist, daß ihre Pre­ bigt Leben und ihr Leben Predigt war, b. h. daß, wassie der Welt von dem Erlöser verkündeten, der treue Ausfluß und Abdruck ihres Glau­ bens und ihrer Liebe, ihres innern Lebens war, daß umgekehrt ihr Wandeln und Handeln bis in den Märthrertod, bett viele leiden mußten, klar und stark von der in ihre Seelen ausgegossenen Liebe Christi zeugte. Was aber wir eine Prebigt nennen, bas wirb allerdings nur vom Lehrstanbe gefordert. Aber, meine Freunde, ihr müßt doch auch das wieder in seiner Art euch alle aneignen. , Hat der Herr euch das Reich der Gnade, das Reich Gottes durch die Prebigt seines Lebens und Sterbens in die Seelen gesenkt, predigen, wie man das so ge­ wöhnlich versteht, braucht und sollt ihr freilich nicht. Aber das könig­ liche Priesterthum, das geweihte Gottesvolk sollt ihr alle sein, daß ihr verkündigt die Tugenden dessen, der euch berufen hat von der Finster­ niß zu seinem wunderbaren Licht*). Ihr werdet hier oder dort wohl veranlaßt, ja genöthigt, Christi und Gottes zu gedenken, o daß dann einfach und schlicht itttb doch warm und kräftig das Zeugniß von Eurem Heiland über eure Lippen ströme, warm und kräftig, deshalb wahr itttb gerade nach eurer Ueberzeugung, nach eurem Glauben, nach eurem *) 1. Petri 2, 9.

139 Gewissen.

O daß vielmehr noch euer Leben in aller Natürlichkeit und

Unbefangenheit eine Predigt Christi fei, ein Zeugniß, daß seine heilige Gnade euch trägt und beseelt.

Das ist der Dank, den will der Herr

von unS, den brachten die Apostel. — Nach anderer Seite wird solchen Dankes in unserm Texte noch besonders gedacht, indem es von jenen Frauen heißt:

Sie thaten ihm Handreichung von ihrer Habe.

Was aber diese Frauen dem Herrn erzeigten, das thaten sie zugleich seiner um ihn sich bildenden geistigen Familie, dem werdenden Gottes­ reiche.

Meine Freunde, wie der Herr seinen Beruf antritt, so lebt

er in der Weise demselben, daß er. für seine Unterhaltung durch eigene Thätigkeit fortan nichts erwirbt.

Die Jünger, welche er zu Aposteln

heranbildet, müssen ebenfalls Schiff, Netz und Zoll, dasjenige, wovon sie irdisch leben, verlassen, um ganz sich dem neuen Beruf zu weihen. Woher das Brod für ihn und für sie?

Der Herr sucht und findet

bei denen, die durch seine Predigt das Ewige gewannen, von denen die Teufel ausführen, will sagen, welche durch sein Wort beseligt, sich er­ löst fühlten, er findet bei ihnen den Dank, der als ein thatsächlicher sich durch die Handreichung von ihrer Habe beweist.

Wie wirklich voll

des treuen Dankes solche Seelen waren, zeigt sich darin, daß es dem Heilande nie an dem fehlte, was zur Befriedigung der irdischen Be­ dürfnisse erforderlich war, daß er seine Jünger fragen konnte*), ob sie in seiner Nachfolge je Mangel gehabt hätten und sie antworten mußten:

„Herr nie keinen."

Wem Christi Predigt vom Himmelreich

die Kraft Gottes wird, die ihn selig macht, den wird, wie es der Er­ löser fordert, auch sein eignes Innere treiben, ihm auf dieselbe Art zu danken, wie jene Frauen eS thaten, nämlich ihm Handreichung, ihm Dienste zn leisten von der irdischen Habe, natürlich ein jeder nach sei­ nem Vermögen.

Wie wir das können?

Die alte Kirche that es, in­

dem sie mit den Gaben der Liebe das Lehramt in den Gemeinen erhielt. Das ist bei uns jetzt in fester Ordnung Orten?

geregelt.

Aber^auch aller

Ach, meine Freunde, der Leib des Herrn, seine Gemeine, ist

in manchen Gegenden in tiefster Bedürftigkeit.

*) Lukas 22, 36.

Ihr wißt, wohin mein

140 Wort zielt. Ich habe die namentlich unter römisch katholischer Bevöl­ kerung zerstreuten und zersprengten evangelischen Brüder und Schwe­ stern int Auge, die, welche aus schwerem Druck und oft harter Verfol­ gung hergekommen heut wenigstens noch die Noth bitterster Armuth tragen. Hier fehlt ihnen das Haus des Herrn als gemeinsame Stätte der Erbauung,, dort die evangelische Schule für ihre Kinder, hier man­ gelt der Diener des Wortes, Große und Kleine als Christi Lämmer zu weiden, dort stehen zerrissenen Herzens Kinder an dem Bette eines todtkranken Vaters, einer sterbenden Mutter, die noch einmal die gei­ stige Speise, den Trost des nach dem Evangelio gereichten Sakramentes begehren, und sie können es ihnen nicht gewähren, so gern sie wollten; denn Meilen und Meilen weit sucht man umsonst nach einem evange­ lischen Diener des Wortes. Aus diesen leidenden Gliedern der Kirche ruft der Heiland diejenigen, welche er durch sein Evangelium beseligt: Dienet mir in euren Brüdern und Schwestern mit eurer Habe. Bor acht Tagen gedachte ich hier unsers schönen Parochialvereins und wir ermahnten uns auch in diesem unsere Christentreue zu beweisen. Heut laßt mich zum Schluß des Vereins gedenken, welcher die evangelische Kirche in ihrer länder- und völkerumspannenden Ausdehnung in's Auge faßte und auf dem Herzen trägt, ich meine den Gustav-Adolph-Verein. Wo die Predigt vom Himmelreich mächtig geworden ist, da sind die beseligten Herzen zu dem Bewußtsein erwacht, daß sie dem Herrn auch mit ihrer Habe an seinen leidenden Gemeinen zu dienen haben, da sind sie zusammengetreten in jenen gesegneten Verein, welcher die Evangelischen in der Zerstreuung sammelt, ihnen einigende Stätten der Andacht, evangelische Schulen und Confirmandenhäuser bauet, ihnen Lehrer und Diener des Wortes sendet. Meine Geliebten seid ihr ein­ getreten in diesen Verein, habt ihr euch angeschlossen seiner herrlichen Thätigkeit? O wer erfahren hat die Liebe Gottes durch Christi Evan­ gelium vom Himmelreich, wer darin seinen Trost für's Leben und Sterben gewonnen hat, ach er vergesse nicht, mit der That und mit der Wahrheit zu danken wie jene Frauen, nur dann bleibt ihm die Verheißung: Dein Glaube hat dir geholfen. Du, der du schon ange­ hörest dem Kreis wackerer Frauen und Männer, welche den Brüdern

141 und Schwestern in der Zerstreuung fürbittend von ihrer Habe reichten, o bleibe treu in den Herrn.

dieser Thätigkeit des Dankes und der Liebe gegen

Du aber, der du noch fern dich hieltest, und kalten Her­

zens an der Noth deiner evangelischen Brüder wie Priester und Levit an dem Todtwunden vorübergingst, laß dir heut die Frauen aus des Erlösers Begleitung vor die Seele gestellt sein und siehe an ihnen, wie der Herr auch von dir den wohlverdienten Dank für seine Predigt des Heiles fordert und auch dir sagt: „Gehe hin und thue desgleichen." Amen.

Des Herrn Herrlichkeit in seiner Lehre. VH. Epiphanienzeit. Text: Matth. 13, 24 — 30. und 36 — 43. Er legte ihnen ein anderes Gleichniß vor und sprach: Das Himmelreich ist gleich einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säete. Da aber die Leute schlie­ fen, kam sein Feind und säete Unkraut im Weizen und ging davon. Da nun das Kraut wuchs und Frucht brachte, da fand sich auch das Unkraut. Da traten die Knechte zu dem Hausvater und sprachen: Herr, hast du nicht gu­ ten Samen auf deinen Acker gesäet? Woher hat er denn das Unkraut? Er aber sprach zu ihnen: Das hat der Feind gethan. Da sprachen die Knechte: Willst du denn, daß wir hingehen und es ausgäten? Er sprach: Nein, auf daß ihr nicht zugleich den Weizen mit ausraufet, so ihr das Unkraut ausgätet. Lasset beides mit einander wachsen bis zu der Erndte; und um die Erndtezeit will ich zu den Schnittern sagen: Sammelt zuvor 'das Unkraut und bindet es in Bündlein, daß man es verbrenne; aber den Weizen Lieder: Nr. 38. 99. 14.

143 sammelt

mir in

meine Scheuern.

Volk von sich und kam hinein.

Da

ließ Jesus das

Und seine Jünger traten

zu ihm und sprachen: Deute uns dieses Gleichniß vom Unkraut auf dem Acker. ihnen: säet.

Er

antwortete und sprach zu

Des Menschen Sohn ist es, der da guten Samen Der Acker ist die Welt.

Kinder des Reichs. Bosheit.

Das Unkraut sind die Kinder der

Der Feind, der sie säet, ist der Teufel.

Schnitter sind die Engel. ausgätet,

Der gute Same sind die

Die

Gleich wie man das Unkraut

und mit Feuer verbrennt, so wird es auch am

Ende dieser Welt gehen.

Des Menschen Sohn wird seine

Engel senden, und sie werden sammeln aus seinem Reiche alle Aergernisse, und die da Unrecht thun; und werden sie in den Feuerofen werfen; da wird sein Heulen und Zähn­ klappen.

Dann werden

die Gerechten leuchten, wie die

Sonne, in ihres Vaters Reich.

Wer Ohren hat zu hören,

der höre. Freunde, wir haben zwar das letztemal in unserem Ge­ meindegottesdienst die Predigt des Erlösers schon zum Gegenstand unse­ res Nachdenkens gemacht.

Aber diese Seite der Thätigkeit ist so sehr

Hauptsache bei ihm und tritt so sehr in den Vordergrund, daß es wohl gerechtfertigt ist, wenn wir noch einmal auf diesen Punkt eingehen.

Aber

alle Thätigkeit unseres Heilandes können wir nur im Lichte des Johannei'schen Wortes: „Er der Herr offenbarete seine Herrlichkeit," anschauen. Bei ihm entspricht sich vollkommen Handeln Lehxe.

und Reden,

Leben und

Gewiß, auch die Lehrthätigkeit des Herrn leuchtet ganz beson­

ders in dem Lichte dieses Wortes und grade unser schönes Gleichniß wird uns dafür den thatsächlichen, schlagenden Beweis geben.

Also des

Herrn Herrlichkeit in seiner Lehre ist es, worauf ich eure Auf­ merksamkeit richte.

Nur noch eine Vorbemerkung.

Wir sahen schon neu­

lich in Betreff der Apostel, wie innig ihr Lehren und Leben mit einan-

144 der verwachsen war. bei Jesu der Fall.

Im höchsten

und vollsten Maaße aber ist dies

Was in seinem Wort als lichtvollste Klarheit und

Wahrheit uns entgegenleuchtet, das ist in seinem Handeln wirklichstes, lebendigstes Leben,

Nur wenn wir das im Auge behalten, wird alles

Einzelne für uns seine rechte Bedeutung gewinnen.

Gehen wir nun

zum Einzelnen seiner Lehre, wie es sich in unserm Gleichniß darstellt, über, so dürfte darin seine Herrlichkeit sich offenbaren, daß auch seine Lehre das Erzeugniß und der Abdruck seiner Liebe, seiner Weisheit und seiner Heiligkeit ist. . I.

Der Heiland beginnt sein Gleichniß: Das Himmelreich ist

gleich einem Menschen, der guten Saamen auf seinen Acker säete" und erklärend spricht er: „Des Menschen Sohn ist es, der da guten Saamen säet."

Von dem guten Saamen aber sagt er,

es seien die Kinder des Reiches.

Da ist der Saame nicht mehr,

wie in einem früheren Gleichniß, als Saame gefaßt, sondern als leben­ dig gewordene, wachsende, fruchtbare Saat.

Eben aus dem unmittel­

bar vorhergehenden Gleichniß wissen wir, daß der Herr sonst unter dem Saamen als solchen das Wort vom Reich, wie er selbst es redete, ver­ stand.

Eben so sprechen Petrus und JakobuS von dem Saamen der

Wiedergeburt, dem unvergänglichen Saamen, aus dem in dem Men­ schen und in der Menschheit das neue Leben hervorwächst.

Wenn der

Herr aber sein Wort redet, so redet er es und kennt es auf das Be­ stimmteste als Wort Gottes.

„Die Worte die ich zu euch rede, die

rede ich nicht von mir selbst*)."

Er weiß sich, indem er sie spricht,

als der Eingeborne Gottes, als der mit Gott völlig Einige: „Glaubet mir, daß ich im Vater und der Vater in mir ist**).

Dennoch, wie

er bei vorigem Gleichniß das Wort nicht betont als Gottes Wort, son­ dern nur schlechthin als das Wort vom Reich, so sagt er hier von sich nicht der Gottessohn, der in. Gottes Vollmacht Redende, sondern der Menschensohn.

Wir wissen, er liebt es, sich überhaupt so zu be­

zeichnen und dafür kann nicht allein der Grund sein, daß ein Prophet mit diesem Ausdruck den Heiland verhieß, sondern ein tieferer, inner*) Johannes 14, 10. **) Johannes 14. 11.

145 licherer.

Der ist es, daß, wie er sich Eins wußte mit dem Vater, er

diese Einheit nicht anders besaß und immerwährend erwarb, als eben wie er war, der volle, ganze Mensch, darum eben der Mensch, der mit ganzem Herzen

und ganzer Seele

Gott suchte.

Und das liegt mit

darin, daß seine Worte Gottes Worte nur waren als Worte des Men­ schensohnes,

d. h.

daß

sie

auch

ganz

waren

das

menschlichen Vernunft, seines menschlichen Denkens,

Erzeugniß seiner jenes Denkens,

das eben so ausging von dem lebendigen, der Gottheit und des Lebens in der Gottheit gewissen Glauben, wie auch aufging in diesen Glau­ ben.

Damit ist aber weiter gegeben, wenn Gott so dem Heiland das

Gotteswort nur als Menschenwort mittheilte,

daß Gott so sich auch

wirklich und voll und ganz niemand als grade dem Menschen vereinigte oder daß er gegen den Menschensohn grade ist die volle, die ganze Liebe und

Christi Lehre ein Erzeugniß und damit nothwendig ein Abdruck

seiner Liebe. Saamen, so

Wenn er also sagt:

Gabe vollster, göttlicher Liebe. dehnen.

Der Menschensohn säet den guten

erscheint dieser Saame, seine Lehre recht eigentlich als Aber wir dürfen das noch weiter aus'

Der Herr schaut so auch rückwärts in die Vergangenheit und

vorwärts in die Zukunft.

Wir wissen, er beruft sich auch auf Moses

und der Propheten Wort als auf ein Gotteswort und er verheißt den Seinen den in die Wahrheit leitenden heiligen Geist, so daß sie nicht zagen sollten wegen ihrer Rede, ber. Geist Gottes werde zu seiner Zeit und an seinem Ort schon geben,

was sie zu reden hätten, kurz ihre

menschlichen Worte sollten so auch gottgegebene sein, auch Gottesworte. Freilich hat der Herr sich auch in Gegensatz gestellt zu den hohen Ge­ stalten des alten Bundes, hat es ausgesprochen, daß keiner von ihnen mit Gott eins gewesen sei wie er und was darin liegt, daß keiner so Gottes Wort geredet wie er. Jünger aller Zeiten.

So ist es auch in Beziehung auf seine

Paulus unterscheidet wohl:

Das rede ich und

das redet der Herr, das dünkt mir recht und gut und das ist gewisse Wahrheit, das ist mein Rath und Wort.

das

ist des Herrn verpflichtendes

Aber Gotteswort ist durch Propheten und Seher geredet, Got­

teswort kommt von den Gliedern des Reiches Christi, von denen nach seiner Verheißung Ströme des lebendigen Wassers fließen sollen. ThomaS, Glaube an Christus.

10

Die-

146 seS Gotteswort haben

jene und diese zugleich als Menschenwort und

nie anders, d. h. es ist und wird auch ihnen gegeben von Gott aber zugleich als Erzeugniß ihres Sinnens, Forschend, Denkens,

wie ein

solches Denken geboren wird aus dem Schooße des gläubigen Gemü­ thes.

Kurz wo Gott gesucht wird, das liegt mittelbar in dem, wie

Jesus lehrt, da läßt er sich finden. gesprochen

Sein Wort, wie es weissagend

von den Propheten wurde,

wie es im Lichte Christi die

Gläubigen der Christgemeine reden, wie es in ihm, dem vollen, reinen Menschensohn als vollendetes, klares, lebendiges Wort göttlicher Offen­ barung geboren und von ihm in die Welt geströmt wird, — es ist die Lehre, die aus der Liebe Gottes entquillt, die nicht vom hohen Himmel herab,

aus

weiter Ferne, darum als fremde ertönt,

sondern die in

nächster Nähe, im Heiligthum des menschlichen Geistes und Herzens, lebendig und wirksam

sich mittheilt und

ihr Wesen ausschließt.

Das

ist die Herrlichkeit Christi des Lehrers, daß er so als Menschensohn seine Worte redet als Gotteswort, als Wort, wie die Gottesliebe es in die ahnende, gläubige, denkende Seele hineinlegt. — Es heißt aber weiter: Der Acker ist die Welt. hatte geliebt die Seinen, ans Ende."

Johannes sagt*): „Wie der Herr

die in der Welt waren, so liebte er sie bis

Das sind die Jünger mit den sich ihm ausschließenden

Seelen, die in seine Nachfolge getreten waren, sich ihm zugesagt hatten. Treu ist seine Liebe gegen die, welche ihn lieben lernten.

Aber liebt

er nur die, welche sich als seine Gemeine, als sein Volk um ihn ge­ sammelt haben? Ihr wißt, wie er alle Mühseligen und Beladenen ruft, sie zu erquicken,

wie er um Jerusalems Kinder in ihrem Verderben

weint, wie er selbst für seine Feinde und Mörder noch betet. aber nennt er

Hier

in seiner Lehre die Welt als den Gegenstand seiner

Liebe, als das Eine große Gebiet seiner Heilsthätigkeit.

Alles umfaßt

sein liebender Geist, was irgendwie der Menschheit angehört, die Völ­ ker und Menschen aller Lande, aller Zungen, aller Zeiten.

„Der Acker

ist die Welt" lehrt er und das ist des Scheidenden Wort an die Jün­ ger**): Gehet in alle Welt und machet zu Jüngern alle Völker.

*) Johannes 13, 1. **) Matih. 28, 19.

Er

147

hatte für sein menschlich beschränktes Leben seinen menschlich abgeschlosse­ nen Berns: Ich bin nicht gesandt, denn mir zu den verlornen Schafen vom Hause Israel")*. Aber wie fest er auch hält an der menschlichen Beschränktheit seines persönlichen Wirkens, dennoch sein Herz hat nur Genüge in der Liebe, diealler gedenkt, die auch lehrend allen das Heil stiftet. Der Acker ist die Welt, — die Menschheit mit dem WortWelt genannt, soll damit auch immer von ihrer sündigen Seite bezeichnet werden. Ja wie mannichfach die Menschen verderbt sind, zu seinem Wort sich oft verhalten, wie der harte Weg, das Dprnenfeld, das felsigte Land — dennoch der Acker ist die Welt. — Er kann keinen der Sünder verstoßen. Ihnen allen bringt er das Wort, daß sie Kin­ der des Reiches werden. Ihre Sünde hebt seine Liebe nicht ans, hin­ dert seine Liebe nicht, in seinem Wort ihnen das Leben zu bieten. Er der Lehrende ist der Allliebende und so offenbart er seine Herr­ lichkeit. II. Guten @(tönten heißt es, streut der Mensch. Wohin? In die Welt, in die Menschheit, sie ist der Acker. Wir wissen wohl, sie ist von der Sünde durchzogen, aber wir wissen auch, sie trägt allent­ halben noch Gottes Bild in sich. In der Welt — wie da irdisch Wärme und Licht und befruchtendes Naß für die irdischen Saaten vom Himmel kommt, so Licht, Lebenswärme, befruchtende Kraft Gottes von allen Seiten in die Menschenwelt für die geistige Aussaat des Wortes. Erzählen doch die Himmel Gottes Ehre und die Veste verkündigt sei­ ner Hände Werk. Greift doch durch alle Begebenheiten der Weltt fühl­ bar und erkennbar die Hand göttlicher, weiser, gnädiger Vorsehung hin­ durch. Wenn der gute Saamen ausgestreut wird, dann, so scheint es, müssen ohnfehlbar nur gute Saaten aufgehen, gedeihlich wachsen und reifen, es müssen, so scheint es, die Menschen sich insgesammt in Kin­ der des Reiches umwandeln und als solche sich vollenden. Es ist in der That dieses zuversichtliche Hoffen bei Männern, die in Kirche, Staat, in allen Gemeinschaften des Lebens nach Besserung ausschauen und, eS treu meinend, darauf hinarbeiten, immer wieder übermächtig. *) Matth. 15, 24.

148 Nur noch diese und jene Uebelstände abgestellt, nur diese und jene heil­ same Einrichtung gemacht und sicher gestellt — dann ist das Heil der Welt unfehlbar! Nur Einzelne, die stehen hier und dort im Wege, sie auS dem Wege geräumt und das Reich, da eitel Friede und Freude lacht, ist angebrochen! — Der Herr hat nie den Reich auf Erden aufgegeben.

Glauben an sein

Die Pforten der Hölle sollen die Ge­

meine, die er mittelst seines Wortes, gepflanzt hat, nicht überwältigen*).

durch sein Leben und Sterben

Aber nie hat er sich mit trüge­

rischen und eitlen Hoffnungen verblendet.

Er kennt und behält stets

alles seinem Reiche Gegenüberstehende im Auge, weiß, daß dies Reich auf Erden mir unter schwersten äußern und innern Kämpfen bestehen wird, weiß, wie er es hier ausspricht, daß auch die böse Saat neben der guten aufgeht, wächst und wuchert,

die Kinder des Argen.

wie er es gewußt und wie er es ausgesprochen in seiner Lehre, es bis auf heute geschehen.

Und so ist

Die gewaltigsten Kräfte und Mächte des

schlimmsten Verderbens haben von außen und viel mehr von innen die Gemeine des Herrn bekämpft, daß es kein größeres Wunder giebt als das Bestehen einer wirklichen Christusgemeine — aber sie besteht, wie ers gesagt.

Und immer wieder ist der gute Saame in die Menschheit

gestreut und ist aufgegangen und es ist froh gehofft auf den vollen Sieg des Reiches — aber siehe, immer wieder das Unkraut unter dem Wei­ zen, immer wieder wachsen neben und

unter einander die Kinder des

Reiches und die Kinder des Argen, wie es der Erlöser lehrend ausge­ sprochen.

Das ist seine eben so tief wie weit hin schauende Weisheit,

die hier zu Tage tritt. — Dies Unkraut aber, die Kinder des Argen, führt der Herr auf den Teufel zurück.

Ist darin auch seine Weis­

heit offenbar? Der Teufel, oder wenn wir so sagen sollen, die Lehre vom Teufel, wird zur Zeit von vielen gemieden und als eine verkehrte verworfen.

Darüber können wir uns auch nicht wundern, das finden

wir im Gegentheil den mannichfachen Lehrweisen über diesen Punkt ge­ genüber völlig gerechtfertigt.

Will man mit dem Zurückgehen auf den

Teufel klar machen, wie das Böse einst entstand, so bekundet man nur

*) M-tth. 16, 18.

149 seine Kurzsichtigkeit, die das Dunkle und Geheimnißvolle durch ein An­ deres, was viel dunkler ist,

zu erhellen strebt.

Die Finsterniß wird

aber nicht durch Finsterniß, sondern nur durch's Acht erleuchtet.

Den­

ken wir ferner an den Teufelsglauben, wie derselbe als widerwärtigster Aberglaube, auch in evangelischer Kirche die Männer auf Kanzel'und Richtstühl beherrschte und sie zu entsetzlichen Gräueln führte, wie der Teu­ felsspuck in den Köpfen wirklich die ärgsten, schmachvollsten Teufeleien im Leben hervorrief;

so ist es wahrhaftig erllärlich, daß derselbe mit

edlem Abscheu verworfen wird.

Erwägen wir nach anderer Seite, wie

mit dem Teufelsglauben die Menschen so oft sich der Verantwortlich­ keit für die Sünde entziehen, diese als eine Nothwendigkeit, von dem übermächtigen Geist ihnen aufgedrängt, ansehen und so in schmähliche sittliche Schlaffheit verfallen, sittlichem Ernst heraus, weisen.

so kann man auch das, aus heiligem,

nur mit Unwillen und Entrüstung von sich

Nur dürfen wir das, was wir so wegstoßen, nie ansehen, als

ob es dom Herrn ausgegangen wäre.

Er braucht in seiner Lehre nie

den Tmfel, nm den Ursprung der Sünde uns zu erklären. zeigt sich bei ihm, durch Hinweis

Keine Spur

auf den Teufel den Menschen

die

Verantwortlichkeit ihrer Sünde, das Bewußtsein eigenster, schwerer Verschuldmg abzunehmen.

Jenem finsteren Aberglauben

von einer Ein­

wohnung des Teufels tritt er, wenn wir mit Verständniß die evange­ lischen Berichte lesen, entschieden entgegen.

„Er trieb die Teufel aus,"

heißt ei so oft, und sicherlich liegt das mit darin, daß vor dem klaren Licht seines Geistes und seiner Liebe schwand.

jener finstre Wahnglaube ver­

Der Herr nimmt diese Vorstellung vom Teufel aus seiner Zeit

nur so in sich aus, daß er das Irrige darin von sich fern hält.

Wenn der

Erlöser sich bei seinem Lehren gelegentlich der Vorstellung vom Teufel be­ dient, fi geschieht es im Dienste der Wahrheit. Folgendes dürfte darin das Wesentliche sein. bösen Geist;

Denken wir uns den Teufel als Teufel, als höchsten

so ist dieses das widerspruchsvollste, in sich völlig uner­

klärliche Wesen.

Mit dieser Vorstellung vom Teufel will der Herr

uns aus die Natur des sittlich Bösen hinweisen.

Das Böse, wie es

nicht auf Gott und nicht auf die sinnliche Natur sich zurückführen läßt, und

gllichwohl

als

versuchende Weltmacht

uns

entgegentritt,

als

150 schlimmer Saame, der sich stets in unser Gemüth senken will, es ist seinem Ursprung nach unerklärlich, aber es ist das uns Fremde, Feind­ selige, Verderbliche.

Es soll vielmehr unsre Sorge sein, dasselbe sieg­

reich von uns fern zu halten und uns davon zu reinigen, als über sei­ nen Ursprung zu grübeln.

Und indem in diesem Sinne der Herr

lehrend sich der Vorstellung vom Teufel bedient, werden wir Ursach haben, auch darin seine praktische Lebensweisheit anzuerkennen. ■— End­ lich bleibt uns Eins zu beherzigen.

Als zwischen dem Weizen das Un­

kraut erscheint, fragen die Knechte, ob sie das Unkraut auSgäten sollen. Der Herr antwortet: „Lasset beides mit einander wachsen bis Zur der Erndte."

Gewiß ist es uns, daß der Herr hier nicht die

Handhabung bürgerlicher Gesetze und staatlicher Ordnungen hemmen will, so weit die Strafgerechtigkeit dazu gehört.

Er giebt auch hierin

und lehrt geben dem Kaiser, was des Kaisers ist.

Gewiß will er fer­

ner nicht die Thätigkeit aufheben, in der wir reinigend an uns selbst und an unsern Brüdern arbeiten, damit auf dem Gebiet des innern und äußern Lebens wir das Unkraut sündlicher Neigungen und Ge­ wohnheiten entfernen. christlichen Lebens.

Darin grade besteht eine Hauptaufgabe des

Verworfen kann hier nur werden, daß man entwe­

der die Gottlosen aus dem Staate und zuletzt aus dem Leben stoßen will, wie die Jünger vor dem famaritifchen Flecken, oder daß man doch eine völlig reine Kirchengemeinschaft begehrt,

worin kein unreines,

irriges, fündiges Glied mehr geduldet wird.

Es ist der Eifer der

Donnerskinder, gegen welche der Herr spricht: „Lasset beides mit ein­ ander wachsen."

Dieser Eifer, der hier schon die reine Kirche begehrt,

ist, wenn auch ursprünglich wohl gemeint, doch ein thörigter und blin­ der.

Nur in der milden Duldung des Herrn,

wie

sie in dem

Wort: Lasset beides mit einander wachsen, hervortritt, bethätigt sich die rechte Weisheit.

So etwa mahnt der Erlöser: Unternehmt es nicht,

das Unkraut auszugäten, ihr habt ja keine Augen zum klaren, vollen Unterscheiden.

Hier thätet ihr etwa einen Gottlosen aus der Gemein­

schaft, aber zehn vielmal ärgere, Meister in Heuchelei, bleiben in eurer Mitte, indem sich ihr sündiges Wesen eurem Blicke entzieht. wäre das Geringste.

Aber das

Lasset es wachsen, damit ihr nicht den Weizen

151

ausrauft. In unsrer kirchlichen Gemeinschaft sind wahre und falsche Christen oft so mit einander verwachsen, daß vielfach nicht gegen diese eingeschritten werden könnte, ohne die zarten Lebenswurzeln, mit denen jene aus der Gemeine ihr Leben saugen, zu verletzen und zu vernich­ ten. „Damit ihr nicht den Weizen ausrauft." So manches Mal halten wir noch für Unkraut, für Kinder des Argen, was schon den guten Saamen in sich aufgenommen hat, waö vor Gott schon wer­ dender Weizen ist, werdende Kinder des Reiches, oder waS doch über kurz oder lang, berufen, erwählt, bestimmt erscheinen wird, sich zum Weizen, zu Reichskindern auszugestalten. Lasset es mit einander wach­ sen, damit ihr so nicht eures Gottes, eures Vaters Pflanzen ausreißt und sein Ackerfeld verwüstet! Lasset es wachsen, bedenkt doch beson­ ders, wer ihr seid, die ihr die reine Kirche schon hier begehrt. Er­ reichtet ihr das noch Unerreichbare, die reine Kirche, gehörtet ihr denn hinein? Und was thut uns Noth? Hätten wir die völlig reine Kirche, wo bliebe der allerdings uns nicht schmeichelnde, aber nur zu treue Spiegel, der in den offenbaren Sünden einzelner Gemeineglieder uns das Unkraut zeigte, wie es auf dem geheimen Grunde unseres Herzens noch wuchert und uns zur Selbstreinigung ermahnte? Wo bliebe in der reinen vollendeten Kirche die Gelegenheit, uns in der Demuth, der Ge­ duld, der Sanftmuth, der sich selbstverleugnenden Liebe, der Versöhn lichkeit, worin wir noch so schwach sind, zu üben? Wo die Schule, in der wir der Herrlichkeit allein entgegenreifen können? Um unsers Heils willen sagt der Herr: „Lasset beides mit einander wachsen" und bekundet sich als der Lehrer tiefster Lebensweisheit, die freilich da­ durch und darin Lebensweisheit ist, daß sie eins ist mit der milden, tra­ genden Liebe. Gewiß der Herr als Lehrer ist der allein Weise und offenbart so seine Herrlichkeit. III. Zur Zeit der Erndte soll, so lehrt der Herr, durch Got­ tes Diener gesondert werden Unkraut und Weizen, die Kinder des Reiche« und die Kinder des Argen, jene sollen aufglänzen gleich der Sonne im Reiche des Vaters, diese übergeben werden der Feuerpein, dem Heulen und Zähnklappen. Die Zeit der Erndte das ist die Zeit der Reife, also, wenn die Kinder des Reiches ihre Vollendung erreicht

152

haben, wenn die Einzelnen zum vollkommnen Mannesalter in Christo, die Gemeine zum vollen Abglanz seiner Herrlichkeit gekommen .sind, dann sollen die Einzelnen sein wie die Sonne, sich gegenseitig ganz und rein durchstrahlend mit dem beseligenden Licht ungefärbter Liebe. Zur Zeit der Erndte, wenn's solche für die Gottlosen giebt, d. h., wenn sie reif geworden sind in der Bosheit, dann sind sie auch völlig geschieden von Gott und seinem Reich, sind sich selbst überlassen, dem gräßlichen Elend verfallen, wie es ans ihrem Wesen hervorwächst und fort und fort in ihnen keimt. Damit spricht der Herr in seiner Lehre als sein und seines Vaters Wesen die Heiligkeit aus, die eben nur mit den voll­ endeten Reinen volle Gemeinschaft hat, die das vollendete Böse von sich ausscheidet, daß das Gottlose vor ihr nicht bleibt. Aber ich habe wohl schon manchmal ausgesprochen, daß die wirkliche Heiligkeit nur eins sein kann mit vollster Liebe. Ist das auch hier der Fall? Gewiß! Zunächst wenn die Liebe vollständig heiligen und vollständig beseligen will, so ist auch als ihr Ziel die volle Erlösung von aller Gemeinschaft mit dem und mit den Bösen für die Erwählten festzuhalten. Wo noch Sünde in ihre Gemeinschaft hineinragt und hineinwirkt, da auch Trü­ bung für ihre Seligkeit, da auch entwickelt sich für sie finstrer Nebel, daß ihr Licht nicht ungehemmt strahlen kann, wie die Sonne in ihres Vaters Reich. Die Liebe, welche die Ihren im Reich der Herrlichkeit vollenden will, muß eben in der Vollendung die Heiligkeit selbst sein, die alle Aergernisse scheidet und sondert. — Aber nun die Ausgeschie­ denen, ihrem Verderben Anheimgegebenen? Wo bleibt für sie die Liebe? Ja wollen wir Gottes Liebe anklagen und verkennen, wenn die Er­ fahrung uns täglich auf Erden zeigt, wie Gottlose durch ihre Sünde in ^ ihr Leben, in ihre Häuser und Gemeinschaften namenloses Elend hineinziehen oder wenn in Einzelnen schon hier eine Glüth im Gewissen brennt, die unerträglich wird, wie wir am Judas, das schauerliche Bild davon, vor Augen haben? Die Liebe kann nur Freie beseligen. Wo die in Vernunft und Gewissen zur Freiheit Berufenen sich betn Gegentheil zukehren und übergeben, wirkliche Liebe kann sie nicht selig machen! Und doch, wenn sie der Freiheit mißbrauchend dem Argen sich völlig ergeben, ja das Elend, was sie sich zuziehen und die Gewissens-

153

quälen, die einmal in ihnen erwachen, es sind gewaltige Schläge der Heiligkeit, aber auch eben so dringende Weckrufe der erbarmenden Liebe, die zur Rückkehr ermahnen. Es zucken in dieser Weltordnung, die das strafende Feuer im Innern des Sünders emporflammen und um ihn Elend sich ansammeln läßt, die Blitze der göttlichen Heiligkeit, aber zugleich als Engel Gottes, als Boten der rettenden Liebe. Doch unser Gleichniß führt uns über diese Weltordnung hinaus und spricht, wie es scheint, von einer ewigen Verdammniß der vollendeten Bösen und hier will uns doch wohl die Liebe in der Heiligkeit untergehen. M. Fr., sagte ich früher, geheimnißvoll sei der Ursprung des Bösen und nicht zu erklären, wir wollen auch hier still stehen und bekennen, geheimniß­ voll und unergründlich ist uns der AuSgang desselben. Die heilige Schrift nimmt an verschiedenen Stellen anch verschiedene Gesichtspunkte und mahnt uns damit, anch hier nicht zu viel wissen zu wollen, son­ dern den letzten Ausgang demüthig in die unergründlich tiefe, heilige Gottesgnade zu befehlen. Nur das sei uns gewiß: — Gottes Heilig­ keit kann nicht anders als in der Liebe wohnen und von der Liebe aus retten. Darum zuerst: Wo Verworfene ihren Qualen überlassen sind, da ist es so, nicht allein weil sie es einmal in ihren Sündeu so wollten, sondern weil sie es noch so wollen, nicht allein, weil sie ehmals frevelten, sondern weil sie das Unrecht thun, wie in unserem Text ausdrücklich die Gegenwart steht. Da nun, wie lange sie in ihrer Bosheit verharren, — wie lange das sein wird, wer will's sagen? — denn nicht nur die Tiefen der Gottheit, sondern auch die Tiefen eines Menschenherzens sind, wie die Schrift sagt, nicht zu er­ gründen, — wie lange sie in Abkehr und Haß gegen den Ewigen blei­ ben, so lange kann die Heiligkeit und die Liebe anch ihren Wurm nicht sterben und ihre Flamme nicht erlöschen lassen. — Aber eben so: Wenn und wo in den Kindern des Argen, und wären sie noch so ver­ derbt gewesen, wirkliche Buße, wirkliche göttliche Traurigkeit über die Sünde, wirkliche Rückkehr zu Gott in Christo in dem kindlichen, ver­ trauenden, flehenden Glauben entstehen, da ist die Heiligkeit Gottes die Liebe, welche dem Verlornen die Arme öffnet und spricht: Er war todt und ist wieder lebendig geworden, durch welche auch selige Freude ist

154 bei den Kindern Gottes.

Diese Liebe in der Heiligkeit, diese Heiligkeit

in der Liebe durchziehet wie alles Lehren des Herrn, so auch unser Gleichniß und wir bekennen: Er hat uns darin seine Herrlichkeit offen­ baret und wir glauben an ihn, er aber ruft unS mit mahnender Bitte der Liebe zu: Bleibet in meiner Lehre, dann seid ihr meine rechten Jünger.

Amen.

Christus und Zachäus. VIII. Epiphanienzeit.

Text: Lukas 19, 1 —10. Und er zog hinein und ging durch Jericho. Und siehe, da war ein Mann, genannt Zachäus, der war ein Oberster der Zöllner und war reich; und begehrte Jesum zu sehen, wer er wäre, und konnte nicht vor dem Volke, denn er war klein von Person. Und er lief vorhin und stieg auf einen Maulbeerbaum, auf daß er ihn sähe; denn allda sollte er durchkommen. Und als Jesus kam an die­ selbe Stätte, sah er auf und ward seiner gewahr und sprach zu ihm: Zachäe, steig eilend hernieder; denn ich muß heute zu deinem Hause einkehren. Und er stieg eilend hernieder und nahm ihn auf mit Freuden. Da sie das sahen, murrten sie Alle, daß er bei einem Sünder einkehrte. Zachäus aber trat dar und sprach zu dem Herrn: Siehe, Herr, die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen; und so ich Jemand betrogen habe, das gebe ich vierfältig wieder. Jesus aber Lied: Nr. 521,

156 sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, sintemal er auch Abrahams Sohn ist.

Denn des Men­

schen Sohn ist gekommen zu suchen und selig zu machen, das verloren ist. Im Herrn Geliebte, schon am nächsten Sonntage stehen wir mit un­ sern gemeinsamen kirchlichen Betrachtungen wieder vor dem Erlöser in seinen Leiden.

Deshalb ist heut dies ansprechende Bild aus seinem

Leben gewählt, welches den Tagen, die seiner Gefangennahme und Kreuzigung vorangehen, angehört.

Jericho, die Stadt, die in der Ge­

schichte des alten Bundes als mit dem Fluche belegt uns erscheint, hier in dieser neutestamentlichen Erzählung wird sie die Stätte, wo der gött­ liche Segen sich mittheilt, eine kräftige Bezeugung, daß aller Fluch, den menschliche Sünde je heraufbeschworen hat, vor dem Gesegneten Gottes weichen muß.

Wie das Haus der bekannten Geschwister in Bethanien,

so ist auch das Haus des Zachäus in Jericho der Art, daß es uns anzieht, daß wir mit dem sinnenden Geiste gern dort verweilen.

Wo­

hin aber, auf welchen Mittelpunkt der Gedanken, richtet sich dabei unser Geist?

Fassen wir mehr die Person des Zachäus oder mehr sein Haus,

als Familiengemeinschaft,

oder aber allein den Erlöser in's Auge?

Geben wir dem Ganzen etwa die Ueberschrift „Suchen und Finden," oder nach dem letzten Theil der Erzählung

„Nehmen und Geben?"

Oder ist es der Glaube und seine Bewährung, dessen Darstellung wir zu gewinnen suchen?

Laßt uns einmal davon abstehen, solch bestimmtes

Thema für unser Nachdenken uns aufzustellen.

Wir wollen vielmehr

die einzelnen Züge unserer Erzählung sinnend durchgehen, um unter dem Beistand des göttlichen Geistes aus dem Einzelnen zu schöpfen, was unserm inwendigen Menschen Erhebung, Nahrung und Kräftigung gewährt.

Wir fürchten dabei keine Zerstrejprng der Gedanken, sondern

sind der guten Zuversicht, daß unser Text uns bei dem Einen was Noth thut festhalten wird. I.

Von dem Oberzöllner Zachäus heißt es:

Er war reich.

Der Erlöser aber in ernster Warnung von den Gefahren des Reich-

157 thunis sprechend hatte gesagt*): daS Reich Gottes kommen!

„Wie schwer werden die Reichen in

Es ist leichter, daß ein Kameel gehe durch

ein Nadelöhr, denn daß ein Reicher in das Reich Gottes komme."

In

dem bekannten Gleichniß läßt er den Reichen der Verwerfung und der Qual verfallen und bettet den Armen und vielfach Geplagten zuletzt in Abrahams Schooß.

Gewiß liegt darin viel ernste Warnung und

unter Umständen viel erhebender Trost, aber auch alle Ursach ist vor­ handen, uns vor Mißverständniß zu hüten.

Zachäus ist reich, dennoch

wird er gewürdigt, den Erlöser als Gast aufzunehmen, dennoch wird ihm das Heil zugeeignet.

Gewiß nicht im Reichthum und in der Ar­

muth an sich liegen die Gründe von Beseligung und Verwerfung, nicht durch den Reichthum an sich war jener in die Qual gestoßen, nicht durch seine Geschwüre, seine Krankheit, sein Hungern nach den Bro­ samen von des Reichen Tische war der andere zur seligen Erquickung gelangt.

Achten wir auf den nur leise angedeuteten Unterschied zwi­

schen dem Reichen im Gleichniß und dem Zachäus.

Jener ist befrie­

digt in seinem Reichthum, in den Freuden, die derselbe gewährt; dieser hat nicht Genügen daran, sondern will Jesum sehen, offenbar- weil Bedürfnisse in seinem Innern sind, die kein Gold der Erde und kein durch Gold erkaufter Genuß befriedigen kann.

Ja, wo Reichthum und

waö mit ihm zusammenhängt, wo Herrschaft und Herrlichkeit, wo Glanz und Ehre dieser Welt der unsterblichen Seele das einzige Begehrnngswerthe geworden sind, da ziehen sie wie eine schwere Last dieselbe in den Abgrund des Verderbens, da sind sie der Mammon, der Götze ge­ worden, welcher den Geist Sklavenfesseln tragen läßt, sowohl wenn der äußere Besitz gegeben, als auch wenn er genommen wird, sowohl beim Schwelgen der Lust,

als bei

den zerreißenden Qualen der Sorge.

Zachäus hat nicht im Gut der Erde sein Genügen, er ist der Suchende geblieben.

Und wohin das Suchen seines Geistes zielt?

Jesum zu sehen.

Er begehrte

Man kann sagen, er kannte ihn noch nicht; aber

man muß hinzufügen, er hatte von ihm gehört und das Gehörte ist es, was ihn aufmerksam, begierig, sehnsüchtig macht.

*) ?»ka« 18, 24, 25.

Wie viel Unze-.

158 naueS auch durch die Gerüchte über Jesum sich hindurchziehen mochte, daS mußte doch der Kern darin fein, daß er in rastlosem Thun lie­ bend der leidenden Menschheit diene, daß er die Gebeugten und Zer­ schlagenen milde und leutselig tröste, daß er mit großer, geistiger Ge­ walt das Eintreten des Himmelreiches verkünde und mit schneidender Schärfe an den hervorragenden Führern des Volkes

eine engherzige

und kaltherzige Rechtgläubigkeit und Werkgerechtigkeit geißele und auch von ihnen eine neue Geburt, eine innere Umwandlung des Herzens verlange.

Den Mann, der so Recht und Gerechtigkeit und das Heil

Gottes verkündigte, den wollte Zachäus sehen und hören und erfahren, ob er bei diesem finde, was ihm fehle.

Ein Oberzöllner, in den Dienst

der heidnischen Römer getreten, dadurch wohl vielfach die Satzungen des Zeremonialgesetzes verletzend und deshalb mit seinen Genossen als Sünder betrachtet, wie sehnt er sich dennoch im tiefsten Herzen nach dem Reiche Gottes, nach der Offenbarung seines Rathschlusses und Willens.

Siehe der Reiche arm in sich, sucht und begehrt ewige Schätze,

sucht und begehrt das Himmelreich.

War es auch noch nicht in die

volle Klarheit des Denkens bei ihm getreten, das Gefühl war ihm ge­ worden, nicht äußere Bräuche, nicht Fasten, Opfer, Speise, Reinigungen führen zu Gott, sondern eine innerliche durchgreifende Umwandlung des Gemüthes.

Dies tiefe Gefühl hatte seinen Gott suchenden Geist

eben fern gehalten von den wegen ihrer Frömmigkeit so hochgepriesenen Pharisäern und ihn von der Scheu frei gemacht, sich in die Reihe der als gottlos verachteten Zöllner zu stellen.

Geliebte, nicht die äußere

Lage, nicht die irdischen Verhältnisse machen geschickt und ungeschickt für's Reich Gottes, sondern alles hängt ab von der Stellung und Rich­ tung des Gemüthes.

Ist tief im Innersten lebendiges Verlangen nach

der Gemeinschaft mit Gott, ernstes Sehnen nach dem Aufschluß seines Wesens und Willens; dann, ob reich oder arm, krank oder gesund, hoch oder niedrig, — tote sichern Grundbedingungen für das Heil sind vorhanden, es wird das gute Theil erwählt und niemand soll es wieder nehmen.

n.

Der Herr sieht den spähenden ZachäuS und:

„ZachäuS,

steig eilend hernieder; denn ich muß heute zu deinem Hause

159

einkehren." Wie kommt der Herr zn diesen Worten? Gewiß nur, weil er mit klarem Blick das Innerste des Zachäus durchschaute. „Er wußte wohl, was im Menschen war" *), sagt Johannes. — Man hat auf solche Stellen sich gründend dem Erlöser während seines zeitlichen Lebens göttliche Allwissenheit zugeschrieben. Man hat, geliebte Freunde, nicht gewußt, was man that. Abgesehen davon, daß Jesus selbst das auf's Bestimmteste leugnet, es würde damit die ganze Wahrheit und Wirklichkeit seines menschlichen Lebens zerstört, er würde in ein phan­ tastisches Schein- und Zanberwesen verwandelt, es würde völligst auf­ gehoben, was der Apostel ausspricht**), daß er uns gleich geworden ist und versucht worden allenthalben gleich wie wir. Aber sein Wissen ist doch ein höheres gewesen als das unsere? Gewiß. Zunächst schon deshalb, weil demselben nie eine Thorheit anhaftete, die dem unsern so leicht anklebt, nämlich die, auch das wissen zu wollen, was jenseits der Grenzen liegt, die Gott unserm Geiste gesteckt hat. Der Herr, wie richtig gesagt, wollte nie wissen, was er nicht wissen konnte. Die Hauptsache aber wird uns klar durch sein Wort***): „Selig sind die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen." Er, der allein Reine, der Sündenlose, er allein hat den klaren Blick in das Wesen der Gottheit, das rechte Wissen von ihr. Er konnte sprechen: „Nie­ mand kennet den Vater, denn nur der Sohn" f). Nach dieser Seite hin ist auch sein Wissen tun die Menschen ein klares und ungefälschtes. In demselben Spiegel seines sündlosen Geistes erscheint sofort die wahre Gestalt der ihn umgebenden Menschen. Dieses helle Licht läßt die Finsterniß auch hinter allen Hüllen der Scheinheiligkeit und Heu­ chelei nicht verborgen, läßt eben so in der Zöllner- und Sündererschei­ nung den innern Menschen sichtbar werden, der da hungert und durstet nach dem lebendigen Gott. So sieht der Herr auch hier nicht nur den äußeren Menschen sondern liest auf dem Antlitz, was die Seele redet. — Und nun: „Ich muß zu deinem Haufe einkehren." Was ist das für ein Muß? Es ist die Nothwendigkeit seiner eignen *) **) ***) t)

Johanne« 2, 25. Hebräer 2, 17. und 4, 15. Matthäus 5, 8. Matth仫 11, 27.

160 Natur.

Es ist die Nothwendigkeit, welche allem Gebundensein durch

eine fremde Gewalt entgegengesetzt ist. Freiheit.

Es ist die Nothwendigkeit der

Wir haben hier das Wort der Liebe , in welcher der schnei­

dende Gegensatz von Freiheit und Nothwendigkeit seine herrliche, schöne Auflösung findet.

Ja dies' ist das Muß der Liebe, unter dem er

hungernd, dürstend und ermattet am Jakobsbrunnen Speise, Trank und Erholung vergessend nur lebt und webt in dem Ausströmen des Heils an die empfänglichen samaritischen Gemüther.

Dies war das

Muß der Liebe, das ihn durch alle Gauen und Städte Judäas führte, daß er ohne Rast das Evangelium vom Reich verkündigte.

Dies Muß

der Liebe zog ihn immer wieder hinauf in die Mitte seines Volkes nach Jerusalem bis hinein in den Tod.

Aufgeschlossen liegt die verlangende,

heilssehnsüchtige Seele des Zachäus vor dem Auge Christi, da muß sich auch der Born der Liebe in Christo öffnen, um in diese Seele Heil hinüberzuströmen.

Das unser Trost und unsere Zuversicht!

Es

ist das Gesetz der uns offenbaren Gottesliebe, nicht das äußere, son­ dern das innere, denn es ist ihr Wesen und ihr Leben selbst, daß sie sich heiligend, tröstend, erhebend hingiebt, wo die Geister nach ihr und nach der Gerechtigkeit hungern

und

dürsten.

Jedem Zachäusherzen

wird noch heute das Heilandswort: Ich muß zu deinem Hause einkehren. . III.

Als die beiden ersten Jünger zum erstenmal bei Jesus ein­

traten, da, erzählt der Evangelist*), blieben sie denselbigen Tag bei ihm.

ES war das Bedürfniß des gläubig werdenden, Heil schöpfenden

Herzens, welches sie fesselte.

Nach dem Zusammenhang und der Aus­

drucksweise unserer Erzählung blieb der Herr, wie er bei ZachäuS ein­ getreten war, gleichfalls denselbigen Tag bei ihm und zog erst am mor­ genden Tage weiter.

Es war das Bedürfniß seiner Heil und Friede

und erlösende Gotteskraft spendenden Liebe, welches ihn so lange hielt. Die Worte des Lebens, die Worte voll Wahrheit und Gnade, welche der Herr da gesprochen hat, sind uns nicht aufbewahrt; wohl aber, was sie auf das Genchth des heilsbegierigen Mannes gewirkt haben. Am andern Morgen geht durch die Schaaren des Volkes, die vom

*) Johanne« 1, 39.

161

pharisäischen Einfluß beherrscht sind, ein Murren, daß Jesus, der ein Prophet sein wolle, im Hause eines Zöllners, eines Sünders, sein Haupt niedergelegt habe. Zachäus der so Begnadigte aber tritt auf mit heiligen Gelübden: „Die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen, und so ich Jemand betrögen habe, das gebe ich vierfaltig wieder." Auf dies Bekenntniß giebt ihm der Herr das schöne Wortzurück: „Heute ist diesem Hause Heil widerfahren," wo­ mit er ihn offenbar in die volle Gemeinschaft seiner rettenden und be­ seligenden Liebe aufnimmt. Wir schließen mit Zuversicht, daß der Er­ löser klar erkannte, wie bei dem Zachäus die Erfüllung seiner Gelübde nicht ausbleiben, wie sein Thun seinem Wort entsprechen werde. Also weil er so handelte, gilt Zachäus für einen Geretteten. Da erinnern wir unS unwillkürlich, wie der Herr und seine Apostel, mit Ausnahme des Iakobus, das Heil nicht an das Thun, sondern an das Glauben, nicht an die äußern Werke, sondern an die Gesinnung des Herzens knüpfen. Was ZachäuS hier gelobt, das Aehnliche rühmten etwa die Pharisäer von sich. Wenn sie auch nicht sagten: Ich gebe wieder, wo ich betrog, so viel­ mehr sprachen sie zuversichtlich: Ich bin nicht, wie andere Leute, wie Diebe u. s. w.; sondern erfülle Gottes Gesetz. Reichlich flössen !ja von ihnen die Gaben in'S Heiligthum, reichlich die Almosen zu den Armen. Von ihnen aber sagt der Herr*): „Sie haben ihren Lohn dahin." Die Fülle ihrer Almosen konnte sie nicht vor dem vielfachen Wehe bewahren, das aus dem Munde der Wahrheit sie verurtheilte. Tritt Jesus hier etwa mit sich selbst in Widerspruch, hebt er die tiefe Wahrheit auf, die Paulus ausgesprochen und die Reformation sich angeeignet hat, daß der Mensch nicht durch des Gesetzes Werke, sondern durch den Glauben gerecht werde? Im Gegentheil, er sägt uns hier nur: Wenn zwei dasselhige thun, so ist es deshalb noch nicht dasselbe. Er urtheilt über das Thun des . Zachäus eben anders als über das der Pharisäer, weil es bei beiden einer andern Gesinnung entsprang. Gerade die Gesin­ nung war es, wonach der Herr urtheilte. Die Pharisäer gaben aus dem kalten Stolze der Selbstgerechtigkeit, der nur das Eigene sucht, *) Matthäus 6, 2. Thomas, Glaube an Christus.

162 ihre klingenden Almosen. O wie verwerflich in ihrer Lüge, indem sie Mitleid heuchelten, von dem sie nichts fühlten. Von ZachäuS wird berichtet, daß er Jesum mit Freuden aufnahm. Warum? Erfühlte sofort, daß dieser Mann voll stiller Erhabenheit Und milder Leutselig­ keit wirklich in sich trage, was er bedürfe und in den Stunden, in welchen er mit dem herrlichen Gast verkehren durfte, o es wurde ihm durch Wort und Wesen desselben vergönnt, in die Tiefe deö göttlichen RathschlusieS zu schauen, inne zu werden, daß die heilige Liebe sich seiner erbarme, daß sie ihm die Rettung aus den Irrwegen des Lehens bereitet habe, daß Jesus auch ihm sei der Christ, der Hochgelobte Gottes. So hat er seines Heilandes und seines Gottes heilige Liebe mit durstender Seele in sich gesogen, so ist der Friede und dieFreude Gottes über ihn gekommen. Dieses sich Hingeben an die Liebe, dieses Nehmen von der Liebe ist das, was Glaube in heiliger Schrift ge­ nannt wird. Das war der feste, sichere Grund seines Heils, durch diesen Glauben wurde er gerecht und selig. Aus diesem Glauben aber entsprang sein Thun. Die heilige Liebe Gottes hatte sich seiner er­ barmet, so mußte er alles was unheilig an ihm war, mit aller Kraft von sich stoßen. „Habe ich Jemand betrogen, so gebe ich eS ihm viel­ fältig wieder." Die Gnade des Ewigen hat ihn auf's Tiefste erfreut und beseligt; so muß er diese seine Freude und Seligkeit im Thun der Liebe hinaustragen unter Brüder und Schwestern. „Die Hälfte Meiner Güter gebe ich den Armen." Es bleibt dabei tmb unsere Erzählung bestätigt es uns: Der Glaube, d. i. die kräftige Ergreifung der heiligen GotteSliebe; wie sie in Christo uns ruft und zieht, das Sichhingeben des Gemüthes an Christum an diese heilige, unö erlösende Liebe, be­ gründet das Heil, Macht gerecht und selig auch diejenigen, welche wie der Schächer am Kreuz nichts mehr zu thun vermögen. Aber auch dabei bleibt-: Wo diese Hingabe an Gottes Liebe lauter, Mo der Glaube rechtschaffen ist, da, so lange Gott Kräfte und Gelegenheit, gewährt. Muß' er heraustreten in kräftige Wirksamkeit. Das Licht der Liebe in deinem Herzen, das dich beseligt, es ist eben das, von dem der Erlöser sagt*): Lasset euer Licht leuchten. Du wirst dadurch gerettet, *) Matth. 5, 16.

163 daß dir das Edelreis des LebenS Christi eingesenkt wird, und du um­ gewandelt wirst zum guten Baum; aber als guter Saum' mußt du dich dadurch bewähren, daß du gute Früchte trägst. — IV.

Diesem Hause ist Heil widerfahren, sagt der Erlöser;

sollte es denn nicht richtiger heißen: Diesem Mann? „Der Sohn soll nicht tragen die Missethat des Vaters," spricht der Prophet**); so kann, sollten wir meinen, auch der Sohn, so kann das Glied eines Hauses auch nicht um deswillen schon das Heil haben, weil es der Hausvater in seinem lebendigen Glauben sich aneignete.

Das ist gewiß,

und doch spricht der Herr nicht ohne Grund: Diesem Hause.

Es

steht damit, wie mit der Menschheit, als der Heiland in. sie eingetreten war,

Noch ist keine Seele durch gläubige Ergreifung Besitzerin des

Heiles, und doch gilt von dem Augenblick an die Erde als die gesegnete, die Menschheit als die begnadigte.

Es kommt hier zur Anwendung

die Wahrheit, welche Christus ausspricht, wenn er das Himmelreich mit dem Sauerteig vergleicht.

Wie dieser hineingethan in die Masse

Mehls dieselbe allmählig mehr und mehr durchzieht, so kann die in das Menschliche gekleidete Gottesliebe nicht anders, sie muß mehr und mehr die Menschheit durchdringen, sie muß mehr und mehr das gegenüber­ stehende Selbstische überwinden.

„Ja Christi Liebe sieget, am Ende

fühlt man sie, weint bitterlich und schmieget sich llndlich an sein Knie." So ist es des frommen Glaubens Zuversicht, daß, wenn christliches Glauben, und Leben erst ein Gemüth in einer Hausgemeinschaft wirk­ lich erfaßt hat, daß es nothwendig auch in die andern Gemüther ein­ dringt.

Nur zweierlei laßt uns dabei behalten.

Erstens es muß der

Menschensohn in seinem Leben und Wesen, in seiner Liebe und Wahr­ heit sein, von dem ergriffen der Gläubige wieder in heiliger Lebens­ weise Göttliches mittheilt.

Formen, Formeln, Satzungen , welcher Art

sie auch sind, thun's freilich nicht.

Das Zweite: Auch für'S Reich

Gottes heißt es vielfach: „Gut Ding will.Weile haben." auch hier oft einer Zeit des Wartens und der Geduld. SäenS ist hier noch nicht, der Tag der Erndte. **) Hesekiel 18. 20.

Es bedarf

Der Tag .deS

Aber -säest du in

164 deinem Leben wirklich unvergängliche Saat des Lebens, hoffe, sie wird aufgehen. Nicht dir allein, deinem Hause wird Heil widerfahren. V. Wenn auch nur in der Kürze, doch einen Blick noch auf das womit der Herr schließt. „Sintemal er auch Abrahams Sohn ist; denn des Menschen Sohn ist gekommen zu suchen und selig zu machen, das verloren ist." Das Heil, welches Gott giebt,' zu. umschränken, war stets eine Neigung in Israel, wie sie sich auf's Vollste bei den Pharisäern ausprägte. Zunächst Israel allein, das Volk der göttlichen Wahl — Samariter und Heiden sind, die sich draußen befinden, die Verstoßenen. Sodann innerhalb Israel. Nur die, welche die engen Satzungen der Priester und Schriftgelehrten halten — die Zöllner und Sünder haben sich selbst ausgeschlossen. JUnb nicht nur sie, sondern auch der wird verworfen, der nur mit ihnen isset und trinket, mit ihnen noch Umgang pflegt. Endlich heißt das ganze niedere Volk, das vom Gesetz nichts weiß, verflucht. So gilt denn auch hier Zachäus, weil er Zöllner ist, von vornherein als der Ausgeschlossene. Christus dagegen: Er ist Abrahams Sohn, ihm ge­ hören Abrahams Verheißungen, und war er verirrt oder verloren, ich bin kommen zu suchen und selig zu machen die verlornen Abrahams­ kinder. Gewiß, wir behandeln die Worte des Herrn nicht gewaltthätig, wenn wir daran erinnern, wie gerade beim Abraham alle göttliche Zusage nicht allein auf seine Nachkommen, sondern auf alle Völker der Erde hingerichtet ist, wie deshalb Paulus alle Gläubige, für wirk­ liche, alle noch nicht Gläubige für berufene Kinder Abrahams ansieht. Das ist's, womit der Herr schließt, daß er der engherzigen Lieblosigkeit der pharisäisch Gesinnten gegenüberstellt seine allumfassende Liebe, die alle Verirrten sucht und allen Mühseligen Und Beladenen ruft: Kommt, ich will euch erquicken! Nur diese Liebe, welche dem ganzen Geschlecht gilt, konnte den Einzelnen beseligen, nur sie, die alle umspannte- konnte sprechen: „Diesem Hause ist Heil widerfahren." Diese allumfassende Liebe, wie sie eben deshalb jedem einzelnen nach seinem Bedürfniß sich hingiebt, strahlt uns aus dem Hause zu Jericho, sie strömt den Frie­ den in daS Herz des Zachäus, o auch uns fei und bleibe sie das Licht deS Lebens für unsere Herzen, für unsere Häuser. Amen.

Die heilige Liebe des Gekreuzigten gegen seine Feinde. I. PassionSzeit.

Text: LukaS 23, 34. Jesus aber sprach: „Vater vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun." 2ßir sind, andächtige Freunde, wieder in die Fastenzeit eingetreten, in welcher wir vorzugsweise auf die Leidensgeschichte des Erlösers im engeren Sinn Hinblicken, d. h. auf die Zeit, in welcher der Herr nicht nur im Herzen über der Menschen Sünde und Verderben trauerte, sondern auch äußerlich von der Menschheit selbst mit allen mög­ lichen Martern bis in den Tod hinein überhäuft wurde.

Schmerz,

Schmach und Erniedrigung in ungewöhnlichem Maaße war sein LooS, aber grade in tiefster Schmach und tiefstem Leid entfaltete sich erst recht seine Herrlichkeit in ihrer ganzen Reinheit und Fülle, so daß grade von dem Gekreuzigten her in vorzüglicher Weise Gnade und Wahrheit in die empfänglichen Seelen fließen.

Für unsere diesmalige PassionS­

zeit bitte ich euch deshalb, in unseren gemeinsamen Betrachtungen mit mir unmittelbar unter das Kreuz des Herrn zu treten.

Die kurzen

und doch so reichen Worte, die als seine letzten uns aufbewahrt sind, sollen es sein, in die wir uns mit gläubigem Denken vertiefen. Lieder: 802, 1—4. 201, 1-5. 202, 4.

Unter

166

diesen sieben Worten ist aber das verlesene Wort unstreitig das erste und zugleich ein solches, waS, wenn es von uns einmal gehört wurde, kein fühlendes Herz je wieder vergessen konnte. Ist eS doch der Aus­ druck der heiligsten, treusten Liebe. Nach kirchlicher Lehre aber hat man in Gott einen Zwiespalt zwischen Liebe und Heiligkeit gesetzt, der nnr durch die Verdammniß eines Unschuldigen ausgeglichen - werden kann. Das ist freilich irrig, aber das, was zur Berichtigung gesagt werden muß, lag vielleicht selbst bei falscher Lehrweise als Ahnung im Hinter­ gründe des Bewußtseins, nämlich das, daß Gottes Liebe nothwendig eine heilige ist und bleibt. So stellt sie sich in der That in Christo, in welchem wir den Vater schauen, dar, so besonders nach unserm köstlichen Text. Nun denn die heilige Liebe des Gekreuzigten, die zugleich ist der Spiegel der Gottesliebe und das Vorbild für die unsere, sei es, worauf wir unser Nachdenken richten und zwar so, daß wir zuerst die Liebe in der Heiligkeit, sodann die Heiligkeit in der Liebe und zuletzt die thatsächliche Grundlage für diese heilige Liebe nach unse­ rem Texteswort betrachten. I. Der Herr ist zum Kreuz geführt und an das Holz des Fluches geheftet. Fragen wir nach dem, was in des Erlösers Leben und Thun die Feinde dazu veranlaßte, so können wir nichts Anderes als seine Heiligkeit nennen. Als der Heilige Gottes hat er das schwach- und schmexzenSvolle Ende sich erworben. Welch mächtiges Gähren der Hoff­ nung in den Gemüthern als der Herr auftrat, alle Herzen nach dem Messias und seinem Reiche sich sehnend, alle Augen nach ihm aus­ schauend, alle bereit, dem Erscheinenden mit dem Ruf entgegenzujubeln : „Gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn." Warum fand den­ noch der Erlöser statt der Annahme die allgemeinste Verwerfung? Ja man hoffte auf den mächtigen, gewaltigen König, der ein Reich irdi­ scher Herrlichkeit aufrichten, der mit irdischen Gütern und Freuden sein Volk beglücken sollte. Unter solchem König ist man bereit, in sol­ ches Reich sofort hineinzutreten. Er aber fordert die neue Geburt, Buße, Sinnesänderung, verlangt für den Eintritt die Gemeinschaft seines Geistes und Lebens, Selbstverleugnung, das Daransetzen aller Perlen des Lebens, wenn es gilt, die eine köstliche Perle des Himmel-

167

reiches zu gewinnen oder zu bewahren. Da ist der Bruch geschehen. Wohl sammeln sich wieder die Volksschaaren, die ihn anstaunen, ohne seinen Sinn begriffen zu haben. Sie wollen ihm gehören, sie wollen ihn zum König machen. Ach wie hat er sich gesehnt, Jerusalems und Judäas Kinder zu sammeln, wie eine Henne sammelt die Küchlein un­ ter ihre Flügel. — Nun sind die Schaaren da und der Herr? ■— er entzieht sich ihnen. Sie wollten aus Gottesreich ein Reich nach ihrem Herzen machen, Gottes Willen unter ihren Willen beugen. Er bleibt in dem Willen des Vaters, darum aber verwandeln sich die ihm zu­ jauchzenden Schaaren in jene Haufen, welche schreien: „Kreuzige, kreu­ zige ihn." Als er zu seinen Jüngern sprach: „Wir gehen hinauf gen Jerusalem" und seinen Tod dort als im Willen Gottes beschlossen verkündete, rief Petrus: „Herr, das widerfahre dir nicht! schone dein." Er aber im ernsten Unwillen weist den Jünger wie einen bösen Ver­ sucher ab. Festen Sinnes und Schrittes bleibt er auf dem vom Vater vorgezeichneten Wege, bleibt in seiner Heiligkeit. Und in Jerusalem, ob das Wort: „Der Eifer um dein Haus hat mich gefressen," an ihm sich erfülle, er muß dem Drange der Heiligkeit genügen, er muß mit dem Geiste der Wahrheit und Kraft den Tempel von schnöder Ent­ weihung reinigen. Wie auch die Pharisäer und Schristgelehrten schon gegen ihn eingenommen, auf Verderben sinnen, er kann als der Heilige nicht anders, er muß das zweischneidige Schwerdt der. Wahrheit gegen sie schwingen, er muß die Hüllen der Heuchelei von ihrem Antlitz reißen, er muß dem Willen seines Gottes getreu bleiben, ob er auch immer mehr ihren ganzen giftigen Grimm auf sich ladet. Seht auf ihn, wie er vor KaiphaS und vor Pilatus steht, dort wird er angeklagt, sich für den Christ Gottes, hier, sich für einen §önig ausgegeben zu haben. Eine Ableugnnng hätte beide Anklagen sofort aufgehoben. Aber er weiß sich dazu geboren und in die Welt gekommen, er weiß sich dazu vom Vater bestimmt und dem schwersten Leiden gegenüber bleibt er unerschütterlich in deS Vaters Willen mit dem Bekenntniß*): „Du sagest eS, ich bin Christus und ich bin ein König. In diesem Sich völlig hingeben an *) Matth. 26, 64.

Johannes 18, 37.

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den Willen des Vaters, in dieser vollendeten Heiligkeit wird er verurtheilt, als der Heilige Gottes gekreuzigt. Und das erste Wort, das aus seinem Munde quillt, geht nach Oben, ist das Wort: Vater. Auch die Verstoßung der Welt, auch der grimmste Schmerz, der in seinen Gliedern rast, kann ihn aus der innigsten und engsten Einheit mit Gott nicht herausreißen, seine völligste Ergebung nicht mindern — auch hier noch Vater! — Im tiefsten Leid entwickelt die Heiligkeit des Erlösers die größte, die Alles überwindende Kraft; wie sie aller Welt, Feinden und Freunden gegenüber, im Willen des Vaters ruht und eher Alles aufgiebt als sich selbst. — Aber wie die vollste Heiligkeit in ihm, daß er als der Verstoßene und in den Tod Hineingemarterte in Gottes Willen ruht und sich zn Gott als dem Vater erhebt, so doch bleibt diese Heiligkeit der Liebe voll, hat diese Liebe zu ihrem Inhalt und Leben. Nur das Verderben der ihn Umgebenden liegt ihm im schmerz­ lichsten Mitleid beängstigend und drückend auf der Seele. Nur für sie seufzt er nach Heil und in ihrer Erlösung möchte sich seine Seele erquicken. Nur für sie will er den ihnen verschloßnen Himmel öffnen, um auf sie den Segen des Vaters herabzuziehen. Das ist die Liebe in der Heiligkeit. Doch fassen wir diese Liebe unter den eigenthüm­ lichen Umständen noch näher ins Auge, um sie in ihrer ganzen Stärke und Tiefe zu ergründen und zu erkennen, daß auch sie bei aller Innig­ keit und Stärke wiederum die heilige bleibt. II. „Bergieb ihnen." Daß der Herr unter dem Vergeben nicht ein Wegnehmen äußerer Sündenstrafen, äußerer Uebel und Schmerzen versteht, ist jedem klar, der irgendwie in sein Wort und seinen Geist eingedrungen ist. Seinen Jüngern hat er in der Welt mancherlei Leid vorausgesagt, aber sie nie darüber Mlagt, hat ihnen im Gegentheil sich zu freuen zugemnthet, wenn sie um seinetwillen leiden würden. Als er zum Tode geht und fein Kreuz trägt und Frauen um ihn weinen, ruft er ihnen zu: „Weinet nicht über mich" *). Er kennt ein anderes Fürchterliche, das aus der Sünde entsteht, das Schuldbewußtsein, das HinauSgestoßenfein aus der Gemeinschaft mit Gott, aus dem Anschauen und Genuß der *) Lukas 23, 28.

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göttlichen Liebe, das Verfallensein an den Wurm und die Flamme des Ge­ wissens, an das die innerste Seele treffende göttliche Gericht. „Vergieb," kann nur heißen: Nimm von ihren Seelen den eigentlichen Fluch ihrer Sünde, tilge die Trennung von dir, ziehe sie in deine Gemeinschaft, in das Anschauen deiner wieder aufnehmenden Liebe, so daß dein Friede auS der Höhe in ihrer Brust wohnen kann. Die Liebe des Erlösers, die hier betet, ist nicht jenes weichliche Mitleid der Welt, das wohl des Körpers Weh empfindet, aber um den Schaden der Seele sich nicht kümmert, so schon wesentlich in Unheiligkeit versunken; sie ist die voll­ kommen heilige, der es vor Allem um die Errettung des göttlichen Ebenbildes im Menschen zu thun ist, um die Erlösung dessen, was im Menschen das ursprünglich Heilige ist, damit eS wieder Gott geheiligt werde. — Doch weiter in unsern Text hinein! Ihnen, heißt eS. Wer ist damit gemeint? Die vier Kriegsknechte, die ihn ans Kreuz schlugen, sagen die einen, die ganze Menschheit, so deuten die andern. Die erste Erklärung ist wohl die falscheste. Freilich wußten diese recht wenig was sie thaten, aber was sie thaten, war auch recht wenig. Wer weiß wie viel milder und freier sind seit jenen Tagen die Menschen in ihren Sitten geworden. Aber noch heut gilt doch für den Soldaten vor Allem der Gehorsam. Man fordert von ihm, daß er am wenigsten über das klage, was ihm auszuführen geboten wird. Hat aber das Gericht das Urtheil gefällt, hat der Regierende die Ausführung befoh­ len, dann soll der Soldat am wenigsten noch einmal zu Gericht sitzen. Gewiß diese Kriegsknechte sind hier am wenigsten verantwortlich, es fällt auf sie die geringste Schuld. Die eigentlich Handelnden und Schuldigen waren doch die, von welchen das Bluturtheil gekommen, durch welche die Vollziehung desselben geboten war, und der Herr mit feinem klaren Geiste schaut gewiß und vornehmlich in seinem Gebet auf sie. Freilich dem hohen Rath, dem Anstifter des grauenhaftesten Mor­ des, der je in der Menschheit geschah, stand als feine Stütze und Kraft das verblendete Volk zur Seite, das in seinem aufgeregten Fa­ natismus schrie: „Kreuzige, kreuzige!" Hinter dem Pilatus, der als Oberrichter wider Wissen und Gewissen den Unschuldigen dem Kreuz überlieferte, stand jener zum sittlichen Scheusal gewordene Kaiser Roms,

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stand das römische Volk in seiner tiefen Berderbniß. AuS dem Kreise der Jünger aber hatte der Verrath den Herrn an die gottlosen Rich­ ter überliefert und die bittersten Tropfen in dem Kelch des Krenzesleidens bereitete ihm unstreitig das, daß alle Jünger durch ihr Aergerniß an ihm thatsächlich, daß der erste unter den Jüngern ihn ausdrücklich mit schweren, schweren Worten verleugnete, daß alle seine Freunde ihn verließen, ach, wie ferne von ihm traten! Alle, die so mit verschuldet haben, was über den Herrn gekommen, faßt er in dies Wort: „Ver­ gieb ihnen" zusammen. Ja nicht nur jene Zeitgenoffen, sondern alle die in künftigen Zeiten sich irgendwie an seinem Wort, an feinem Geist, an feinem Leben, an seinem Werk, an seiner Gemeine versündigen wür­ den, er stellt sie unter das milde hoffnungsreiche Licht seines Wortes: „Vergieb ihnen." ES ist also die Menschheit, sofern sie ihm jemals Haß und in dem Haß schnöden Undank entgegenträgt, in dies Gebet Christi eingeschlossen. Laßt uns bedenken, daß dieser Undank und die­ ser Haß sich damals in seiner stärksten Zusammenfassung, in seiner schauerlichsten Höhe, iti seiner grimmigsten Gluth bekundete und dem gegenüber die Liebe des Herrn in ihrer UnÜberwindlichkeit beharrte; gewiß wir schauen eine Tiefe und Stärke der Liebe, vor der wir in Bewunderung verstummen, in deren Anschauen zuletzt alle unsre Gefiihle in Anbetung übergehen. — Aber diese Liebe bleibt die heilige. Der Herr betet: Vergieb! Sonst hat er dagegen auch tief Gesunknen gegenüber gesprochen: „Sei getrost, deine Sünden sind dir vergeben." Warum nicht auch hier so? Hatte seine Vollmacht, Sünden zu verge­ ben, aufgehört, weil er nun ein Opfer am Kreuz hing? Das Wort zu dem Schächer gesprochen, belehrt uns vom Gegentheil. Wie er hier mit reinem Herzen hingegeben blieb an die Liebe des Vaters, so trug er auch im festen Bewußtsein die Liebe des Vaters selbst und damit die Vollmacht, zu vergeben. Die verschiednen Personen, mtt denen er zu thun hat, bewirken vielmehr die Verschiedenheit seines Verfahrens. Sehet sie euch an, denen er Vergebung spendet, Errettung und Erlö­ sung zusagt. Sie können nach Stand, nach Bildung, nach äußern und innern Lebenserfahrungen sehr verschieden sein, in Einem gleichen sie sich alle bis aufs Haar d. i. in der Selbstverdammüng, in Betreff

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ihrer eignen Sünde, in der göttlichen Traurigkeit, mit der sie ihr er­ kanntes ungüttliches Wesen von sich stoßen, in der Hoffnung und Zu­ versicht auf die vergebende Macht der ihnen in Christo nahe getretenen Liebe. In ihnen allen ist das vorhanden, was der Erlöser in den Worten forderte: „Thut Buße und glaubet an das Evangelium." Aber diejenigen, welche ihm hier gegenüberstehen, ach deren Seelen sind zur Zeit gegen die Buße unempfänglich, sie wissen nichts von ErlösungSbe.bürftigfeit, nichts davon, wie Noth ihnen thue vergebende, rettende und heilige Liebe. So ist das Eigentlichste und Innerlichste in ihnen das zähe Festhalten an ihrer Sünde und ihrem ungöttlichen Wesen. Da, wie der Herr die Sünder suchte um sie zu retten, ist er doch stets abgesondert geblieben von den Sündern*), ihnen gegenüber höher als der Himmel, kann keine Vergebung spenden, kann als der Heilige auch in keine Gnadengemeinschaft mit ihnen treten. So ist der Inhalt des kurzen Gebetes der, daß er sie, die zur Zeit für die Vergebung noch unfähig sind, der weisen Regierung des Vaters befiehlt. Auf des Vaters ttinftige Lebensführung hofft er, daß durch diese den Verblen­ deten einst die Augen werden geöffnet, den Verhärteten die Herzen er­ weicht werden, daß sie dann sehen werden, in wen sie gestochen**), wen sie gehaßt haben, und in demüthigem Flehen von der göttlichen Liebe, die chnen im Sohne leuchtet, die Vergebung suchen und finden werdeu. Ja die Liebe in ihrer ganzen Stärke und Tiefe betet: „Vater vergieb ihnen"; aber zugleich die Liebe, die, indem sie den Unbuß­ fertigen noch keine Vergebung gewährt, sich selbst in ihrer Heiligkeit bewahrt. III. Die heilige Liebe am Kreuz fleht um Vergebung für alle, die sich an ihr versündigt haben. Die volle Liebe muß die volle Wahr­ heit neben und in sich haben. Wir fragen demnach: War und ist denn auch noch eine wirkliche Grundlage für die Vergebung da? Bestimmter: War und ist das Bedürfniß der Vergebung, war und ist noch die Fähigkeit, Vergebung zu nehmen, vorhanden? Die Antwort liegt in dem Urtheil des Erlösers: „Sie wissen nicht, was sie thun." * Hebräer 7, 8. **) Johannes 19, 87.

172 Sie wußten es in der That nicht, was sie vollbrachten.

Wie weit auch

schon ein böseS Gewissen in den einzelnen sein mochte, wie sie auch schon ein Unrecht, dessen sie sich schuldig machten, etwa im tiefsten In­ nern fühlten und solch Gefühl nur mit großer Anstrengung niederkämpf­ ten; — wie weit ihr Unrecht ging,

wie ungeheuer ihre Sünde, das

kam ihnen damals noch nicht ins Bewußtsein. in seiner wahren Gestalt.

Sie sahen Jesum nicht

Konnten sie auch kein Verbrechen ihm nach­

weisen, die hohe Reinheit, die unbefleckte Heiligkeit seines ganzen Thuns und Lebens war ihnen noch nicht aufgegangen.

Sie konnten ihm nicht

nachweisen, daß er irgendwie ihnen Böses gethan, feindselig sich gegen sie verhalten habe; aber daß er nur Liebe, die innigste Liebe für sie hegte, daß sein Lehren

und Mahnen, sein Rufen und Strafen, sein

Thun und Leiden die wärmste Liebe für sie athmete, war ihnen ver­ borgen geblieben.

Daß seine Rede gewaltig, daß seine Weisheit mäch­

tig, mochten sie wohl erfahren haben; aber daß in ihm die heilige Liebe der Gottheit ihnen und der ganzen Menschheit das Heil bereitet habe, zu der Ueberzeugung waren sie nicht hindurchgedrungen.

Hätten sie's

in voller Klarheit geschaut, daß sie den allein Heiligen und Gerechten, daß sie die Liebe selbst, daß sie GotteS Sohn, den Träger aller Got­ tesgnade, anö Kreuz schlugen, dann wäre ihre Entschiedenheit in der Sünde nicht mehr menschlich, sondern was wir mit dem Wort teuflisch bezeichnen, gewesen, d. h. eine solche, in der nicht abzusehen, wie jemals eine Hoffnung auf Sinnesänderung eintreten konnte, es wäre damit zugleich die Möglichkeit der Vergebung abgeschnitten gewesen.

Sie wuß­

ten nicht, was sie thaten; darum trugen sie die Fähigkeit in sich, einst Vergebung zu empfangen.

Es kam nur darauf an, daß die Nebel, die

auf ihrem Geist sich lagerten, sich zerstreuten, daß die Decke von ihren Augen genommen wurde und die zuversichtliche Hoffnung galt, daß ihre Herzen sich öffnen würden, um Vergebung und Gottes Frieden in sich aufzunehmen.

Aber wenn die Fähigkeit, war auch das Bedürfniß der

Vergebung vorhanden? Dies scheint durch'Christi Wort geleugnet zu werden.

Eine Sünde, in voller Unwissenheit begangen, hört doch wohl

auf Sünde zu sein, ner Vergebung.

zieht keine Schuld nach sich, bedarf also auch kei­

Das ist richtig, einmal wenn

die Unwissenheit eine

vollkommne und dann, wenn sie eine unverschuldete ist. Aber weder das Eine noch das Andre war und ist bei den Feinden Christi der Fall. Daß sie nicht daS Bewußtsein der Unschuld hatten, sprach eS sich nicht aufS Deutlichste in ihren Führern aus? Ist es nicht klar, daß der höchste weltliche Richter wider sein Wissen und Gewissen nur aus der Furcht der Anklage bei dem Kaiser den Schuldlosen verurtheilte? Eben so der höchste geistliche Richter im hohen Rath beweist durch die Begründung, welche er für Jesu Verdammung geltend macht, seine Sünde. Auf kein Verbrechen des Erlösers kann er sich berufen; sondern stützt sich auf das staatskluge Wort*): „Lassen wir ihn also, so werden sie alle an ihn glauben, so kommen dann die Römer und nehmen uns Land und Leute----------- Es ist uns besser, ein Mensch sterbe für das Volk, denn daß das ganze Volk verderbe." Sie wußten zum Theil, wenn auch nicht ganz, was sie thaten, sie handelten «ttSdem von uns mit Recht tief verabscheuten Grundsatz: . Der Zweck hei­ ligt das Mittel. Auf der andern Seite, wie manche schlichte Seelen in Israel schauten in Jesu sofort den Heiligen, erkannten in ihm die tiefe Liebe, ja die Liebe des Vaters, die Heil und Erlösung bereitet! Warum denn nicht diese Pharisäer, Priester, Schriftgelehrten, denen der Blick des Geistes doch durch die heilige Schrift geschärft und geklärt sein mußte? Der Grund dazu lag allein in ihrem Herzen. Weil Un­ reinheit, weil .der Schmutz geistlichen Stolzes und selbstsüchtiger Herrschsucht ihr Gemüth erfüllte, darum wurde ihr inneres Auge ein Schalk-der sie betrog, darum waren sie diejenigen, welche mit sehen­ den Augen nicht sahen und. mit hörenden Ohren nicht hörten. Kurz ihre Unwissenheit ruhte in ihrer Selbstverschuldung wie mehr oder we­ niger bei aller Verwerfung und Befeindung Christi. So war es damit auch für sie das tiefste, dringendste Bedürfniß, Vergebung zu empfan­ gen. Ja die Liebe, die wir verschlungen sahen mit der Heiligkeit, sie ist auch eins mit der Wahrheit und das ist es, was uns aus dem herrlichen Gebet: „Vater vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun," entgegenleuchtet. Wenden wir noch, indem wir zum Schluß' gekommen *) Johannes 11, 48.

50.

174

sind, das Wort, wenn auch nur andeutend und in der Kürze, auf uns selbst an. Prüfen wir unS in unserm Leben, wird nicht Manches in Gefühl, Wort und That im Gegensatz ja wie in Feindschaft zu Christo, zu seinem Wort und Geist gestanden haben? Der Herr spricht wohl: Wir wußten nicht, was wir thaten. Aber bei seiner Milde ist es zu­ gleich sein Ernst, der so redet. Gewiß auch unsere Unwissenheit war eine verschuldete und wir bedürfen dringend der Vergebung und in der Vergebung der Heiligung. Aber wir wußten nicht, was wir thaten, eS ist die Liebe, die so spricht. Wir stehen unter dem milden Glanze seines Gebetes: „Vater vergieb ihnen" und wenn wir abstoßen in Reue daS sündige Wesen und uns vertrauend der Liebe GotteS übergeben, dann haben wir Vergebung, Leben und Seligkeit. Sehen wir uns um in unserem Lebenskreise! Da sind vielleicht Brüder und Schwestern, die durch ihren sündigen Wandel leichteren und schwereren Anstoß geben. O eine äußere hochmüthige Absonderung, die da spricht: Ich danke dir Gott, daß ich nicht bin wie diese, die kannte der Herr nicht, die hat er aufs Tiefste verabscheut, die will nie seinen Jüngern geziemen. Aber alle Freundlichkeit und Leutseligkeit hat eine Grenze. Wenn Sünder in ihrem gottlosen Wesen als in ihrem eigentlichen Leben sich fühlen und beharren, daß wir nie durch irgend ein Zeichen des Beifalls oder sonst wie in die Gemeinschaft ihrer Sünde, in die Gemeinschaft ihrer Verachtung der heiligen Gottesliebe eintreten! Aber endlich, wie schwer wir selbst persönlich verletzt sein mögen, wie schlimm uns zur Zeit der und jener erscheint, o beben wir davor zurück, jemals den Stab zu brechen. Auch die Schlimmsten sollten sie schlimmer sein als die Mör­ der des Herrn? Wie seine Liebe und Geduld unsere Seligkeit ist, so lasset uns die Hoffnung wahren für jeden und jeden mit beschließen in das Gebet des Herrn, das der Geist uns aneignen möge, in das Gebet: „Vater vergieb ihnen, sie wissen nicht, waS sie thun." Amen,

Des Gekreuzigten klagende Frage an seinen Gott. II. Passionszeit. Text: Matth. 27, 46**). Und um die neunte Stunde schrie Jesu- laut und sprach: Eli, Eli, lama asabthani! das ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.

„SDiein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!"

Ein

dunkles Wort, Geliebte im Herrn, aus dem Munde dessen, der sich selbst das Licht der Welt nennt, gewiß doch irgendwie geflossen aus der Tiefe seines Herzens. Dunkle Nacht rings umher in den Herzen, den Werken und den Worten derer, die sein Kreuz umstehen. Dunkel wird'S draußen am hohen Mittag, indem Dünste und Nebel, dem Erdboden entsteigend, die Sonne verfinstern, gleichsam als ob auch die Erschei­ nungen in der Natur den Vorgängen in der Menschheit entsprechen sollten. Aber das schlimmste Dunkel, die finsterste Nacht hat so manch­ mal die Auslegung erzeugt, welche dies Wort des Herrn von christlichen Schriftgelehrten erleiden mußte. Hier in diesem Wort ist greifbar der Moment gegeben, sagt man, in dem die Versöhnung Gottes zu Stande kam. Entsetzlich ist ja des Heiligen Zorn über die Sünden der Mensch­ heit, unaufhaltsam sind die ewigen zermalmenden Strafen, ohnmächtig Lieder: Nr. 161. 206, 7. *) Für da« Verständniß ist der ganze Psalm 22 unentbehrlich.

176

ist die Liebe zu vergeben und zu erlösen, so lange die unendlichen Strafen des sündigen Geschlechtes nicht abgebüßt sind! Da schüttet hier der heilige Gott die Schaalen seines Grimms auf das unschuldige Haupt seines Sohnes, verstößt ihn hinab van sich, hinein in die Gott­ verlassenheit, hinein in die unendliche Qual der Verdammniß. Wenn aber diese Verdammniß nur auf Stunden sich ausdehnt, so trägt sie Christus vermöge seiner Vereinigung mit Gott unendlich verstärkt und vervielfacht, so daß es doch die Gesammtstrafe, die das menschliche Ge­ schlecht aller Zeiten verdient hat, ist, welche sich an ihm vollzieht. So wurde hier der Gotteszorn beschwichtigt, so der göttlichen Heiligkeit und Gerechtigkeit Genüge gethan; daß nun erst die Liebe, die da vergiebt, hervortreten und Versöhnung und Erlösung den Mühseligen dar­ bieten konnte. Indem wir so, heißt es, dies Wort des Herrn deuten, ist uns in der Gottheit Liebe, Heiligkeit, Gerechtigkeit in gleichem Maaße unverletzt erhalten. Wäre dem wirklich so? Gerade das Gegentheil! Schüttet Gott in seinem Zorn die Strafen, welche das sündige Ge­ schlecht verdiente, über den Sündlosen aus, dann wäre in ihm die Heiligkeit und die Gerechtigkeit verschwunden und seine Liebe wäre eine ohnmächtige Regung, aber nicht die königliche, sein ganzes Wesen be­ herrschende Kraft. Wo man so von Gott hält, da sieht man ihn nicht, wie es allein dem Christen geziemt, in dem Lichte des Evangelii, sieht nicht den Vater in dem Sohn, sondern nach den Begriffen eines ver­ wirrten Rechtsbewußtseins oder, was schlimmer, in der Verdunklung eines Herzens, in dem Haß und Rache der Liebe noch nicht weichen wollen, macht man sich selbst, ein verzerrtes Phantasiegebilde von der Gottheit, einen Gedankengötzen zurecht. Darum, für wie heilig diese Auslegung sich ausgebe, wir weisen sie mit heiligem Unwillen als Ent­ weihung des Heiligsten zurück. Wir wollen und dürfen aus dem Worte des Herrn nichts herausnehmen, aber wollen und dürfen auch nichts hineintragen. ES ist wahr, der Erlöser klagt, und seine Klage wird zur Frage an seinen Gott; aber indem er mit dem ersten Worte des zweiundzwanzigsten Psalmes ausspricht, waS ihm die Seele erfüllt und erschüttert, wird auch nur auö dem ganzen Psalm heraus sein Wort sich deuten lassen und wird, damit auch die Antwort auf die klagende

177

Frage gegeben sein. So denn bie1 ftogenbe F»age des Gekreu­ zigten an seinen Gott, wie sie in sich ihre Lösung und Be­ antwortung trägt, ist heut der Gegenstand unserer Betrachtung. Möge der Geist des Herrn uns erleuchten! I. „Warum hast du mich verlassen?" Wie sehr wir unS halten an dem Wort: „Gott in Christo;" so ist er uns in seinem ganzen Leben doch stets der volle Menschensohn, in dem nirgend dem Menschlichen durch die Inwohnung Gottes oder des Göttlichen Abbruch geschieht. Nur in der Form des menschlichen Bewußtseins und Wesens sprach er deshalb dort sein Wort*): „Ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir." Ganz als Mensch lebend und fühlend hängt er hier am Kreuz und läßt unser Texteswort seinen Lippen entströmen. Als Menschensohn weiß er dort den Vater allezeit bei sich, als Men­ schensohn fragt er hier klagend: „Warum hast du mich verlassen?" Wir fragen zuerst: Wie kann der Mensch Gott bei sich haben und die Einheit mit ihm als mit seinem Vater besitzen? Dreierlei laßt mich hervorheben. Johannes sagt**): DaS Leben war das Licht der Men­ schen. Ja aus dem Leben, wie es fortwährend das All durchströmt, wie eS uns selbst als Kraft und Freude erfüllt, wie es in uns, in der Menschheit das religiös-sittliche wird; so leuchten aus demselben in uns hinein die Lichtstrahlen der Gottheit, so schließt in demselben sich Gott unS auf als Vater des Lebens, als der, welcher zu uns spricht***): „Meine Gnade soll nicht von dir weichen, der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen." Das Zweite: „ES ist nicht gut, daß der Mensch allein sei" f), dies Wort als das schöpferische hat in die Menschenseelen Liebefähigkeit und Liebeempfänglichkeit gepflanzt, stellt fortwährend den Einzelnen in die Menschheit hinein, daß, wie er Liebe üben soll, er von den verschiedensten Seiten Liebe empfange und gleichsam nur von Liebe, aus Liebe lebe. Und was außer der eignen Liebesthätigkeit kann uns köstlicher sein als das Bewußtsein und die stete Erfahrung, treue Herzen zu besitzen, die in Liebe für unS schlagen. *) **) ***) , t)

Johanne« 16, 32. Johanne« 1, 4. Jesaia« 54, 10. 1. Most« 2, 18.

Thomas, Glaube an Christus.

178 Diese Liebe ist das eigentliche Leben der Menschheit und damit zugleich daS eigentliche Offenbarungslicht der Gottheit.

Aus ihr heraus spricht

es zu uns: Gott ist die Liebe, und diese seine Liebe wird uns nicht verlassen noch versäumen.

Und wie der Mensch drittens nach Gottes

Bild geschaffen, bestimmt und berufen ist, die Natur zu beherrschen und göttliche Gedanken im Irdischen auszuprägen, Gottes Willen in seinen Werken auszuführen und Gottes Reich zu verwirklichen; so hat er dabei die Verheißung des göttlichen Beistandes und Segens.

Wo

dann diese Werke gelingen, wo unter des Menschen Thun das Reich Gottes kommt, da erfährt er lebendig Gottes Nähe, erfährt, der Mensch ist nicht allein.

Wie hoch wir Christum auch stellen, es waren den­

noch dies die Wege, auf denen Gottes Licht, Gottes Liebe und Gottes Wesen auch ihm sich mittheilte, auf welchen fortwährend

die Engel

Gottes auf ihn hinabstiegen, fortwährend Gott mit ihm sich einte. Jetzt am Kreuze schaut er um sich! — Wie steht es mit seinem Werk? Wo ist die Gemeine, welche er zu gründen, gelebt hatte und welche die Pforten der Hölle nicht überwältigen sollten? in alle vier Winde, sie ist vernichtet. und Zuversicht der Erlösung.

Sie ist zersprengt, wie

Keiner hat jetzt die Hoffnung

Die Gegner können höhnen:

„Pfui

dich, wie fein zerbrichst du den Tempel und bauest ihn in dreien Tagen." „Ist er der König Israels, so steige er nun vom Kreuz, so wollen wir ihm glauben." zu bekennen.

Keine Seele wagt sich zu ihm, zu seinem Reiche

Diejenigen, welche Säulen seiner Gemeine sein sollten

sind sämmtlich wie das geknickte, zerbrochene Rohr.

Und die Liebe,

die ihm sonst gedient, wohl mag sie als heiliger Funken noch in man­ chen Herzen glühen; aber sie ist fern von ihm getreten, ist gefesselt von der Furcht, ist in voller Ohnmacht, so daß bei seinen heißen Kämpfen keine Hand bereit ist, ihm den Angstschweiß von der Stirn zu trocknen. Dagegen jubelt der Haß um sein Kreuz herum.

„Wie böse Hunde,

wie große Farren und reißende Löwen hat, nach den Worten jenes Psalmes, ihn der Bösen Rotte umgeben, ihm Hände und Füße durch­ graben und schauet ihre Lust an ihm."

Wie die vom Habicht gejagte

Taube so ist die Liebe geflohen und der Haß hat das Feld behalten. Und nun die Schauer der letzten Stunden alle seine Nerven durch-

179 ziehend und durchzuckend, so daß ihm wird, als „zertrennten sich seine Gebeine, als wäre sein Herz in seinem Leibe wie geschmolzenes Wachs," so daß „alle seine Kräfte vertrocknen wie ein Scherben."

ES greift

deS Todes starre Eiseshand nach dem warmen, noch schlagenden Her­ zen, um das Leben auszulöschen.

Wie so in jenen Augenblicken das

Werk seines Lebens zertrümmert, er jeder Liebe beraubt erscheint, wie der Tod ihm das Leben zu entringen im Begriff steht, da, wie ihm verlöschen jene Strahlen sich offenbarender, mittheilender Gottesliebe, da müssen auch ihn Gefühle anwandeln, als wolle Gott selbst von ihm weichen, als sollte er in Gottverlassenheit versinken, und aus dem An­ drang

solcher Gefühle bricht die klagende

hast du mich verlassen?"

Frage

hervor:

„Warum

Ach war er sich doch bewußt, nur des Va­

ters Werke nach dem Worte des Vaters gethan, nur für düS Kommen des Reiches Gottes in reinster Weise gewirkt zu haben! so

scheinbar mit seiner Kreuzigung

Alles,

Alles

Warum muß

zusammenbrechen?

Hatte er doch die heiligste, umfassendste, innigste Liebe nach allen Seiten geübt, durch solche Liebesübung alle seine Umgebung zur Dankbarkeit, zur hingebenden Gegenliebe verpflichtet!

Warum

muß er gerade in

schwerster Stunde jedes geringsten Liebesdienstes, jeder kleinsten Liebes­ äußerung anderer entbehren?

War er doch stets in dem Thun nach

seines Vaters Willen begriffen, stets von reinster und vollster Liebe erfüllt, zugleich der, welcher das Leben im höchsten Sinne in sich trug, so daß er lebendiges Wasser und Himmelsbrod, so daß er seine ganze Erscheinung in Fleisch und Blut als Nahrung des ewigen Lebens den empfänglichen Seelen darbieten konnte!

Und er, der so das höchste

Leben ist, warum muß er gerade in den Tod und in diesen Tod der entsetzlichsten, qualvollen Art versinken? dende Widerstreit zwischen

dem Sein,

Ja es ist der scharfe, schnei­ dem Leben,

dem

Thun

und

Wesen Jesu Christi und dem, was jetzt an ihm geschieht, es ist dieser schreiende Widerstreit, welcher sich mit der ganzen beengenden, zusam­ menschnürenden Gewalt auf seine Seele legen und sie in nächtliches Dunkel hüllen will, eS ist dieser schneidende Widerstrett, aus dem her­ aus das klagende, fragende Wort ertönt: „Warum hast du mich verlaffen?"

Dennoch, wie dichte Finsterniß gegen seine Seele heranzieht,

12*

180 das Acht und die Klarheit derselben wird nicht überwunden; ja mag sich alles verdunkeln, sein Haupt erglänzt umstrahlt im himmlischen Acht.

Laßt uns daS erkennen aus der Art, wie der Herr fragt, denn

darin liegt die Lösung, daraus tritt seine selbsteigene Antwort hervor, in der keine Finsterniß bleibt. II.

Zuerst achten wir dessen, wie diese Frage und Klage an die

Gottheit selbst - sich richtet, und wie der Fragende und Klagende trotz des drohenden Versinkens dabei festhält an seinem Gott.

„Mein

Gott," so tönt'S in finsterster Stunde hinauf zum ewigen Acht. auch über ihn ergeht, Gott bleibt sein Gott, den er Nicht läßt.

Was Ob

ihm auch Leib und Seele verschmachten, ob sich ihm der Himmel ver­ finstert und der Hölle Finsterniß und Weh ihn umrauscht, Gott bleibt seines Herzens Trost und fein Theil. in's Auge!

Fassen wir das noch sorgsamer

In die Anfangsworte des erwähnten Psalmes

Herr seine Frage und Klage.

faßt der

Wahrlich nicht ohne Absicht und gewiß

nicht, ohne daß der ganze Gedankengang dieses köstlichen Liedes seiner Seele gegenwärtig war, ohne daß der ganze Inhalt desselben sein Ge­ müth

erfüflte.

Wir mögen wohl einen solchen herrlichen Erguß eines

frommen Gemüthes, wie diesen Psalm, in seine Einzelnheiten zerpflücken, dem Herrn blieb jedenfalls das Ganze eben ein Ganzes.

Darum nicht

das einzelne Wort, sondern das ganze, heilige Lied giebt den Ausdruck für den Zustand, für die Stimmung seines Gemüthes, sonst hätte er der Worte desselben sich nimmer bedient.

Ist dem aber so, dann, wie

der Herr diese fragende Klage an seinen Gott richtete, gab er damit zugleich sich selbst und denen die es hörten, die Alles lösende Antwort. Wie auch nach allen den Leiden, in welche er hineingestürzt ist, die Kanäle, durch welche seines Gottes Liebe stets in ihn strömte,

ge­

schlossen erschienen, wie er so im Dunkel der Gottverlassenheit zu hän­ gen schien, mit jenem Psalm greift er hinein in die innersten Tiefen seines Selbstbewußtseins und Gottesbewußtseins, und es giebt ihm dasselbe daS Zeugniß: „Du Gott bist heilig, du wohnest mit Recht unter dem Lobe Israels."

Er greift mit dem Psalm hinein in

die Vergangenheit, in die Geschichte der Väter.

Auch für sie war auf

Erden viel Prüfung, viel Trübsal, viel harter Kampf; aber „sie hofften

auf dich und da sie hofften, halfest du ihnen.

Zu dir schrieen

sie und wurden errettet; sie hofften auf dich und wurden nicht zu Schanden."

Er greift zurück mit dem Psalm in sein ganzes

bisheriges Leben, und allenthalben ist der Vater bei ihm und mit ihm gewesen: „Du wärest meine Zuversicht, da ich noch an meiner Mutter Brüsten war.

Ans dich bin ich geworfen aus meiner

Mutter Leibe, du bist mein Gott von meiner Mutter Leibe an."

So zurückgreifend in sein eignes ganzes Leben, in die Geschichte

der Väter, in die Tiefe seines Selbstbewußtseins, kann ihm Gott nicht aufhören sein Gott zu sein, hält er ihn fest und im schwersten Kampfe,, im dunkelsten Leiden dringt fortwährend die betende Seele nach oben: „Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe; du, Herr, sei nicht ferne, meine Stärke, eile mir zu helfen, errette meine Seele vom Schwert, meine Einsame von den Hunden.

Hilf

mir aus dem Rachen des Löwen und errette mich von den Einhörnern."

Wie glänzt doch da ein mildes, sanftes Licht in dem

nächtlichen Dunkel!

Wie auch der Herr verlassen erscheint, er kann sich

noch immer mit ganzer Seele auf seinen Gott werfen, er kann zu ihm mit aller Inbrunst beten.

Wo noch solch Gebet, da ist keine Gottver­

lassenheit, da ist das Herz und Gott, da ist die Erde und der Himmel noch nicht von einander gerissen.

Und sollte der so Betende nicht zum

vollen Siege in seinem Kampfe, nicht zur Gewißheit der Erhörung hin­ durchgedrungen sein? O sicherlich und er sagt es uns durch den Psalm, dessen Worte er als Einkleidung seiner Gefühle gebraucht.

Sinkt er

hinab in des Todes eisige Schauer, das Leben strömt doch fortwährend vom Vater in seine betende Seele, er weiß sich erhört, wie der Psalm es bekundet.

Es gilt das Wort: Er (Gott) hat nicht verachtet

noch verschmähet das Elend des Armen und sein Antlitz vor ihm nicht verborgen und da er zn ihm schrie, hörete er es. Wie ihm selbst noch, als das Herz im Tode brechen will, das Leben und die Erquickung von Gott zufließt, so kann er tröstend allen Elenden, die nach dem Herrn fragen, zurufen: euer Her; soll

ewiglich

leben."

„Ihr werdet ihn preisen, Auch bei tiefster Erniedri­

gung und Qual behält er am Kreuz im Kampf das siegreiche Bewußt-

182

fein*): Ich habe Macht mein Leben zu lassen, und habe Macht es wieder zu nehmen. Sind von ihm gewichen, haben ihn verlassen und verleugnet die, welche allertreueste Liebe ihm schuldig waren, sollte er, da er im Gebet sich während seines Kampfes fortwährend zu der Liebe Gottes emporringt, die treue Liebe für die Erde, für die Menschen verloren geben, sollte er mit dem trostlosen Bewußtsein von hinnen gehen, daß in unserm Geschlecht „treue Liebe" nur als ein eitler Traum sich finde? — Nein, in seines Gottes Liebe wird und bleibt er gewiß, daß auch im menschlichen Geschlecht die Liebe das allein Siegreiche und Unvergängliche sein muß. In seines Gottes Liebe weiß er die Gemeine der Brüder gewahrt. Dieser seiner Gemeine ist er gewiß, wie die Worte des Psalmes, die seine Empfindung ausdrücken, dies aussprechen: „Ich will deinen Namen predigen meinen Brüdern, ich will dich in.der Gemeine rühmen." Brüder, die als solche ihn lieben, eine Gemeine der Liebe wird er haben, so lange Menschen auf Gottes Erdboden wohnen. Und damit verschwindet auch der letzte schwarze Schatten der Gottverlassenheit, der, daß sein Wort, sein Reich an sei­ nem Kreuze zertrümmert sei. Betend sich emporhebend zu seinem Gott bleibt ihm auf seine klagende Frage allein die labende beseligende Ant­ wort, daß der Herr ein Reich hat und herrschet unter den Völkern, daß alle Fetten auf Erden werden essen, und an­ beten und ihre Kniee beugen, daß sie werden kommen und predigen seine Gerechtigkeit dem Volk, das geboren wird. So hat der Herr mit dem Worte des Psalmes seine Klage und Frage ausgesprochen, um zugleich die lösende Antwort zu gewinnen und zu geben, so sein Gebetsringen ausgedrückt, um zu zeugen von der Er­ quickung durch göttliche Erhörung. So wird dies Wort ein Zeugniß, daß in Jesu dem Gekreuzigten das schwärzeste Dunkel sich in Licht auflöst, daß sein heißestes Kämpfen fortwährend in Sieg aufgeht, daß aus allen seinen Schmerzen Seligkeit hervorwächst, daß bei und in ihm jeder schreiende und schneidende Widerstreit sich in vollste Harmonie umsetzt. Und darum ist er uns das Licht geworden, daß wir an ihm *) Johannes 10, 18.

183

haltend nie der Finsterniß Beute werden. Ja verstehen wir eS recht, er hat gefragt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlaffen, auf daß wir nie von Gott verlassen würden. Der Herr ist versucht wie wir, wir werden versucht wie er, nur daß in ihm die Kraft wohnt und durch ihn die Kraft kommt, mit der auch wir ihm nach die Ver­ suchung überwinden können. Wie dort in Jesu Tod die Gerechtigkeit, daS Recht, die Wahrheit mit Füßen getreten wurde und die Ungerech­ tigkeit und Lüge triumphirte; so können auch wir noch Aehnliches er­ leben, können Zeuge werden wie schnöde Gewaltthat Recht und Wahr­ heit vernichtet und unterdrückt. Wie der Herr am Kreuz aller Liebe in ihren Erweisungen beraubt erschien, so kann es auch uns gehen, daß, wo wir Liebe erwarteten, wir theilnahmlose Kälte erfahren, ja daß Selbstsucht, Feindschaft, Haß verwüstend in unserer Umgebung wirken. Und wenn auch nicht gerade in derselben Gestalt, dennoch wie über unsern Herrn, werden die eisigen Wogen des Todes auch über unserm Haupte zusammenschlagen. Wie sich dann vor uns das Reich Gottes durch der Menschen Ungerechtigkeit verbirgt, wie sich die Liebe von unS zurückzieht, wie daS Leben uns entweicht; so erheben sich da­ mit die Gefühle, als weiche der gnädige Gott selbst von uns, als sollten wir von ihm verlassen werden. Ach haben wir Gemeinschaft deS Glaubens und Lebens mit ihm, dann für solche Stunden und solche Versuchungen wollen wir das Haupt zu ihm erheben, wie er am Kreuz hängt und wie er zu seinem Gott fragend und betend ruft: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Gerade aus diesem Wort wird auch uns Kraft und Friede fließen. Hier ist uns die Gewißheit verbürgt: Recht muß Recht bleiben und das Reich Gottes kann nimmer wieder vernichtet werden. Hier ist verbrieft die feste Zuversicht, daß aller Selbstsucht, ja allem Haß und aller Feindschaft gegenüber zuletzt doch in der Menschheit die Liebe das Feld behauptet und den Sieg da­ von trägt. Hier überwindet das Licht des Lebens jede Verdunkelung und giebt die Gewißheit, daß der Tod verschlungen ist in den Sieg. Durch die Art, wie der Gekreuzigte betete: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, ist den Seinen das Pfand gegeben, daß GotteS Liebe sie nimmer verläßt. Amen.

Die Erquickung des Gekreuzigten. III.

Passionszeit.

Text: Lukas 23, 39 — 43. Aber der Uebelthäter einer, die da gehenkt waren, lästerte ihn und sprach: Bist du Christus, so hilf dir selbst und uns. Da antwortete der andere, strafte ihn und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Berdammniß bist? Und zwar wir sind billig dar­ innen, denn wir empfangen, was unsere Thaten werth sind; dieser aber hat nichts Ungeschicktes gehandelt.

Und sprach

zu Jesu: Herr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst.

Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage

dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein. geliebte im Herrn, das letzte Wort des Herrn, welches wir mit ein­ ander betrachteten, das Wort:

„Mein Gott, mein Gott, warum hast

du mich verlassen," führte uns aus dem Dunkel zum Licht, indem wir sahen, wie der im tiefsten Weh ringende Heiland von seinem Gott nicht ließ, von seinem Gott Erhörung, Friede und Zuversicht nahm. Wer wie es hieß, daß eine Finsterniß auf der Erde sich lagerte, so Lieder: Nr. 23.

164.

206, 4.

185

sahen wir auch die Menschheit um das Kreuz herum versunken in Fin­ sterniß, die Gegner des Herrn in die tiefschwarze Nacht ihres frech spottenden Hasses, die, welche irgendwie dem Herrn anhingen, in das Dunkel des Verzagens, sahen nirgend eine Spur von einer Gemeine, einem Reiche Gottes auf Erden hervortreten. Hier stellte es sich im vollsten Maaße dar, wie der Herr auf Erden nicht hatte, wo er geistig sein Haupt hinlegte, sondern seinen Frieden nur darin behielt, daß er in des Vaters Schooß war. Aber seine ganze Entäußerung, sein vollstes Entbehren und Dulden muß doch zuletzt in der Menschheit Früchte tragen. Am Kreuz kämpft er den letzten Entscheidungskampf, hier muß der Sieg wieder beginnen, hier für Christum auch der feste Boden und die Freude in der Menschheit wieder gewonnen werden. Und so ist es in der That. In dem Wort, auf welches heut unser Nachdenken sich richtet, leuchtet uns mildes himmlisches Licht entgegen. Zunächst werden wir in der Auslegung jenes dunklen Wortes, die wir vor acht Tagen gewonnen, befestigt. Nicht ein von Gott Verworfener, in den Fluch der Höllenqualen Verstoßener, sondern nur der auch in tiefster Schmach und Trübsal mit seinem Gott in heiliger Liebe Einige, kann als der Gekreuzigte dem nach Hülfe Rufenden die Gnadenhand dar­ reichen und ihn an sich ziehen, nur ein solcher kann das Wort sprechen: „Wahrlich ich sage dir, heute wirst btt mit mir im Paradiese sein." Aber nicht nur der Erlöser erscheint uns so aus seinem Wesen heraus lichtumstrahlt, sondern, wenn auch nur auf kleinstem Punkte, auch in der Menschheit dämmert uns wieder das Licht entgegen. Ist es auch nur der erste, geringe Anfang, die Gemeine der Erlösten tritt uns wieder vor das Auge, die Stätte, wo der Herr in feinem Geiste Ruhe findet auf Erden. So ist denn unser Wort so recht geeignet, labend und erhebend auf unsern Geist zu wirken, indem es uns anschauen läßt die Erquickung des Gekreuzigten und zwar sowohl 1) die, welche er empfängt, als auch 2) die, welche er gewährt. I. Wenn wir zunächst der Erquickung gedenken, welche Jesus empfing, so wollen wir uns daran erinnern, daß es für die Liebe nichts Schöneres, Höheres und-Erquickenderes geben kann, als wenn ihr ge­ währt wird, sich selbst zu bethätigen. Von der Liebe her stammt das

186 Wort und von der Liebe allein wird es verstanden: „Geben ist seliger denn nehmen." Wie war nach dieser Seite dem Gekreuzigten alle Er­ quickung versagt gewesen! An das Kreuz geheftet, den brennendsten Schmerz in seinen Wunden, blickt er um sich. Große Schaaren um's Kreuz versammelt; aber niemand unter ihnen, der nach dem heilenden Trank der Wahrheit und Liebe begehrt, niemand da, der etwa ge­ glichen hätte jenem Gichtbrüchigen, jenem kananäischen Weibe, jenem Hauptmann von Capernanm, jener Magdalena, die ihre Sünden be­ weinend himmlischen Trost verlangt. Alle zur Zeit für das Heil ver­ schlossen, so daß die Liebe Christi keinen Weg hat, thätig in die Men­ schen einzudringen, daß ihr nur übrig bleibt, dem Vater im Flehen die verhärteten Gemüther für die Zukunft zu befehlen. Ja dieser Liebe, die auf der Erde suchte und nicht fand, wo der Fuß ruhen konnte, ihr steht nicht nur Verschlossenheit, sondern selbst die bitterste Feind­ schaft, der grimmste Haß gegenüber. An seinen Martern sehen sie ihre Lust; ihre gräßliche Freude ist es, ihn zu verspotten und zwar gerade wegen seiner Frömmigkeit: „Er hat Gott vertrauet, der helfe ihm," gerade wegen seiner Liebe: „Er hat andern geholfen und kann ihm selber nicht helfen." Ach das war die eigentliche Dornenkrone, die er zu tragen hatte, die Nägel, welche ihm seine Gebeine durchgruben, die Lanze, welche ihm sein Herz durchbohrte, — diese Sünde der um ihn versammelten Menschen in ihrer ganzen Schwärze und Tiefe, in ihrer Feindschaft gegen ihn und damit gegen die Wahrheit, Frömmigkeit, Liebe, gegen die Heilswege Gottes. Dies auf Golgatha zu schauen, das war die eigentliche Ausleerung jenes bittern Kelches, vor der er in tiefster Angst gezittert und gezaget hatte. Während so unter'ihm Alles ihn verspottet. Alles seine heilige Liebe in schnöder Verachtung hinwegstößt; da muß noch ein Elender zu seiner Seite, ein gekreuzigter Verbrecher, gleichsam das Maaß voll machen. In der Wuth, in der Raserei seines Schmerzes sinkt er, wie es bei rohen Naturen vorkommt, geistig noch tiefer, und auch er lästert und verspottet den, welcher Israels, welcher der Menschheit Hoffnung und Heil ist und bleibt. Jetzt war, dürfen wir behaupten, der bitterste Augenblick für den Er­ löser gekommen. Und siehe, jetzt gerade soll auch aus der Menschheit

187 her ein Strahl des Trostes milde sein ringendes Herz durchleuchten. Zur andern Seite ist noch Einer gehenkt und der erhebt sich in seiner Erniedrigung zu einer Höhe, die ihm ans ewig in der Gemeine der durch göttliche Gnade Erlösten und Geheiligten die Krone des Lebens sichert. Im zurechtweisenden, bekennenden und bittenden Wort schließt er das Innerste seiner Seele auf und eine himmlische Freude ist eö dem Herrn, hineinzuschauen, ja sein sonst von der Menschheit hier so schwer gemarterter Geist kann endlich mit Wohlgefallen auf dem armen Schächer ruhen. „Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammniß bist?" Das menschliche Gericht hatte geurtheilt, hatte den Spruch vollzogen und wie wenig es immer beim Rechtsprechen Gottes Recht vor Augen gehabt hatte, das war wenigstens an Jesu auf's Schreiendste klar geworden. Aber, wie mensch­ lich und ungerecht es dabei auch zugegangen sein mochte, der Schächer sieht in dem, was ihn und seinen Genossen getroffen, den Finger der Gottheit, das Walten seiner Heiligkeit. Wie verirrt und verblendet er früher in seinem Denken gewesen sein mochte, zu herrlicher, geistiger Klarheit hat er sich emporgeschwungen. Er kennt kein blind waltendes Geschick, das er anklagen könnte, sondern allein das Walten des Ewigen, der in fester Hand die heilige Waage des Rechtes hält- Er weiß, wie Menschen ihn verurtheilt und gekreuzigt haben; aber er ist dessen sicher, daß sie mit ihrem Hassen und Lieben, mit ihrem Recht und Unrecht, mit ihrem Loslassen und Verdammen nichts vermögen wider Gottes Regieren; sondern daß sie selbst mit ihrer Gottlosigkeit nur Gottes Rathschluß verwirklichen müssen. Wie der Heiland den Kelch seiner Kreuzigung aus des Vaters Hand genommen hatte, so hatte auch dieser es jetzt begriffen, daß er nach Gottes Willen am Kreuze ende. Ach es ist etwas Hohes und Großes, wenn wir bei allem Schweren, was uns trifft, nicht allein auf die natürlichen Gründe und Veran­ lassungen zurückgehen, nicht bei dem Wollen und Thun unserer Neben­ menschen stehen bleiben, sondern von da aufsteigen zu dem, ohne den kein Haar von unserm Haupte fällt. Diese fromme Anschauung un­ seres etwaigen Leidens wird uns allein eine nie versiegende und ver­ sagende Quelle des Trostes und der sittlichen Lebenskraft bleiben.

188

„Und zwar wir sind billig darinnen, denn wir empfangen, was unsere Thaten werth sind." Wenn sonst Menschen sündigen nnd sich selbst ihrer Sünden bewußt werden, wie sind sie gewöhnlich eifrig und geschickt. Entschuldigungsgründe im reichlichsten Maaße für sich aufzufinden. Hätte dieser nicht auch dergleichen gehabt? Wir ver­ muthen wohl nicht falsch, wenn wir in ihm einen ähnlichen sehen wie in jenem Barabbas, d. h. einen solchen, der von messianischen Hoff­ nungen aufgeregt sich zu einem Verbrechen, vielleicht zu einem Morde hatte fortreißen lassen. Lag diesem Gewoge messianischer Hoffnungen in den Gemüthern Israels nicht mit das Edelste zum Grunde? War es auf der einen Seite nicht die Liebe zu dem angestammten Volke, zu dem Vaterlande, auf der andern Seite nicht das Glühen für die Verehrung des einigen Gottes im Gegensatz zu dem die Menschheit entwürdigenden Götzendienst? Konnte jener nicht sprechen: Allerdings, meine That erscheint verbrecherisch; aber das, was mich trieb und ver­ blendete, war edel, war selbst fromm? Sollte nicht der ursprünglich gute Wille und der gute Zweck den größten Theil meiner Schuld auf­ heben? Aber nichts weiß er mehr von dergleichen. Nichts ist ihm ge­ blieben, als die entschiedene Selbstverurtheilung des Sündlichen an ihm, gleich viel, ob es an der Absicht oder am Thun, am Zweck oder an den Mitteln haftet. Es ist sittlich schön, es ist der lauteren Frömmig­ keit angemessen, gegen Brüder und Schwestern milde zu sein, aus der Liebe heraus in ihrer Beurtheilung zu entschuldigen und Alles zum Besten zu kehren, so weit eö nur die Wahrheit gestattet. Aber in un­ serer Selbstprüfung kann nur die ernsteste Strenge, die bis in die verborgensten und feinsten Windungen des Herzens und Lebens hinein jedes Sündige verurtheilt, die gesunde, feste Grundlage ächter Heili­ gung bilden. — „Dieser hat nichts Ungeschicktes gehandelt." Welche Beschuldigungen und Lästerungen und mit welcher Einstimmig­ keit waren gegen den Herrn laut geworden! Und wer weiß nicht, welche Gewalt in der erregten, allverbreiteten Stimmung eines Volkes liegt! Wie werden selbst ruhige und besonnene Männer oft von den Leidenschaften, die ein Volk durchziehen, mit fortgerissen und in ihrem Urtheil irre geleitet! Eine hohe, geistige, sittliche Kraft gehört dazu,

189

solchen Strömungen und Stimmungen gegenüber sich die Selbstständig­ keit seines Geistes zu wahren. Hier beim Kreuze Jesu erhebt sich zu derselben allein der gerichtete Schächer. Noch Eins nehmt hinzu. Nur im reinen Gewässer spiegelt sich hell und klar und in himmlischer Schöne der Sonne Bild, nur das reine Herz schaut Gott, nur auf dem Grunde des gereinigten Herzens sieht das geistige Auge den Er­ löser im klaren Lichte der Wahrheit. In dem Ergreifen lebendiger Gottesfurcht, in der Uebung seines strengen Selbstgerichtes ist der Schächer zu der Freiheit und Klarheit des Blickes gelangt, daß er, während Alles um ihn in geistiger Blindheit Jesum verdammt, allein das Auge hat, seine Reinheit und Heiligkeit zu schauen und an der­ selben sich zu erheben. Endlich seine Bitte: „Herr gedenke an mich, wenn du in deinem Reiche kommst," so lautet es nämlich wört­ lich und will sagen, wenn du nun offenbar wirst als der, in dessen Hand Gott das Regiment gelegt hat, wenn du dein Reich zum Siege führst. Es ist möglich, daß in diesen Worten sich noch irrige Vor­ stellungen der Zeit verhüllen; aber ein herrlicher Kern ist jedenfalls in dieser Hülle. Er hat in Jesu erkannt den Heiligen, erkannt seine Liebe, Gerechtigkeit, Wahrheit, den, der um Liebe, Gerechtigkeit und Wahrheit willen in des Todes Staub gelegt wird. Diesem Gekreuzigten gegen­ über ist er zu der Zuversicht hindurchgedrungen, daß dem sittlichen Bösen, daß der Ungerechtigkeit nimmer bleiben kann die Palme des Sieges, daß vielmehr trotz des entgegenstehenden Scheines Liebe, Ge­ rechtigkeit und Wahrheit doch das Feld behalten müssen, daß er der große, heilige Träger und Vertreter der Wahrheit und Liebe zuletzt triumphiren muß, daß er kommen wird und muß wie in den Wolken des Himmels zur Rechten der Kraft. Und wie er sicher ist, daß den heiligen, sittlichen Mächten zuletzt allein die Menschheit gehört: so ist ihm auch der beseligende Glaube aufgegangen, daß in dem, in welchem Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe das Tiefste leidet und darum zum herrlichsten Siege sich erhebt, daß in ihm die Liebe der Gottheit wohnt, die mS helfen kann und will zu ihrem himmlischen Reich. Dieser Glaube, der da weiß, daß der Fürst dieser Welt, daß alles Söfe. ge­ richtet ist und daß die sittlichen Mächte auch im Unterliegen siegen,

190

dieser Glaube, der durch den heiligen Menschensohn die in der Mensch­ heit gegenwärtige aufnehmende Gottesliebe umschlungen hält, er ist der mütterliche Schooß, aus dem alles Schöne, Große, Edle für's Diesseit und Jenseit geboren wird. Wollten wir thöricht fragen: Was hat dieser Mensch gethan, daß der Erlöser ihn so an sich zieht? Ist er, der frühere Verbrecher, denn reif für den Eintritt in's Reich Gottes? O zu dem höchsten sittlichen Thun, das künden seine Worte, hat sich sein inwendiger Mensch emporgeschwungen. Er ist, wir wissen nicht durch welche und durch wie lange Vorbereitung, aber er ist recht reif geworden, nicht wie die Frucht, deren Leben mit ihrer Reife abschließt, sondern wie der Baum, dessen Reife in der erlangten Kraft besteht, fort und fort Früchte zu erzeugen. Siehe hier das nun geheiligte Ge­ fäß, in welches die Liebe Christi sich ergießen kann. Siehe hier das Lamm, welches die Stimme des guten Hirten kennt und ihr folgt. Siehe hier die Liebe des Erlösers selig, weil sie selig machen, siehe hier den Gekreuzigten erquickt, weil er erquicken kann. II. Richten wir nun den Blick auf die Erquickung, wie sie vom Erlöser ausging. Ja schwer mochten die Martern des armen Schächers sein, und wieder mochte er in heißen Gewissenskämpfen und Gewissens­ schmerzen gerungen haben als er so bekannte und flehte. Nun tönte es aus des Heilandes Munde: Heute wirst du mit mir im Pa­ radiese sein. Wahrlich da drang Himmelsfriede in seine Seele, da, in diesem Frieden, wie er aus dem Himmel, dessen Mittelpunkt der Heiland war, ihn überströmte, kam auch über ihn Linderung für die körperlichen Qualen und stählende Kraft, sie bis an'S Ende zu tragen. Doch gehen wir noch etwas näher an die Erwägung dieses Wortes heran. Es deutet ja hin auf das Jenseits, auf den Zustand der Vollen­ deten nach dem Tode dieses Leibes. Des Fegfeuers und all der Satzun­ gen die als fabelnde Schlingpflanzen dasselbe umzogen hatten, wären wir wohl in der evangelischen Kirche ledig. Aber so manches im Ein­ zelnen Ausgeprägte lehren uns doch diese und jene evangelische Theo­ logen über die zukünftige Welt. Sie wissen sehr genau über das Jen­ seits Auskunft zu geben. Sie kennen ein unteres und oberes Paradies als von einander unterschieden, den Schooß Abrahams als besondere

191 Stätte, darüber erhaben den Himmel in verschiedenen Abtheilungen. Dem­ gemäß wissen sie denn ganz bestimmt, daß der hier Begnadigte zunächst nicht in den Himmel, auch nicht in das obere Paradies, sondern erst in das untere Paradies aufgenommen wird.

Wie steht's mit der­

gleichen? Nun, es ist das Alles eigentlich rabbinischer, talmudischer Weisheit entnommen und von da in das Evangelium hineingetragen. Wer darauf Werth legen will, der thue es.

Wer aber einfältigen

Sinnes die neutestamentischen Schriften, besonders die Aussprüche des Herrn liest, wer überbeut eine bildliche Rede verstehen und deuten ge­ lernt hat, der wird sicherlich keine Geographie und Naturwissenschaft über die jenseitige Welt in seiner Bibel finden.

Vielmehr wird man

mit nüchternem Sinn erkennen, wie der Herr in seiner heiligen Lehr­ weisheit eS vermeidet, uns das jenseitige Leben im Einzelnen auszu­ malen.

„Mit mir" daS ist der Mittelpunkt des Wortes und fällt

dem Gehalt nach mit dem „im Paradiese" wesentlich zusammen. Was ist doch auch das Eigentliche in der Vorstellung des Paradieses? Wohl wird dabei an die äußere Lieblichkeit der Umgebung gedacht; aber daS ist Neben- und nicht Hauptvorstellung.

Das ist das Eigentliche,

daß eS dort in kindlicher Sprache heißt: Gott wandelte mit den Men­ schen, will sagen, Gott pflegte die Gemeinschaft des Lebens mit ihnen. Weil diese Gemeinschaft mit Gott zerrissen und so in Nacht versunken war, erschien das Paradies als ein verlornes. 'Du wirst im Para­ diese sein, der Gehalt des Wortes ist kein anderer, als: Die Ge­ meinschaft mit dem heiligen, gnädigen Gott ist wieder dein Eigenthum. Und das hat seine Begründung in dem „Mit mir," sofern der Herr der Mittler ist zwischen Gott und den Menschen, sofern der Sohn in seiner Liebe die Seele des Verlornen als die wiedergefundene zum Va­ ter führt.

„Mit mir" und durch mich in der Gemeinschaft des Vaters.

Nimmt er so auf, der da kommen will in seinem Reiche, weil er Eins ist mit des Vaters Liebe, so gewährt er, wonach der Arme geschmachtet hatte, die Vergebung aller Schuld.

In den streitenden Zwiespalt der

anklagenden und verdammenden Gedanken läßt er den Frieden der Alles bedeckenden Huld hineindringen. Schächer bei Christo.

Versöhnung mit Gott hat der

DaS ist die paradiesische Luft, welche den Dulder

192

umweht, paradiesisches Genießen, das ihn erquickt. Nach dem so schwülen Tage wird es ihm, als käme die liebliche Kühle des Abends, als wäre das Kreuz schon das Paradies, wo Gott wieder mit ihm wandelt. Ja mit ihm Gott; denn ist die Schuld aufgehoben, so ist auch die Scheidewand zwischen ihm und der Gottheit gefallen, ist die Sünde vergeben, dann treibt die vergebende Liebe auch die Furcht aus. Wenn er bis dahin Gott gekannt hatte, so nur als der Knecht den gestrengen Herrn, und auch als der Gottesknecht war er zugleich der Knecht des Todes gewesen. Aus dieser Knechtschaft erlöst, ist ihm durch die Ge­ meinschaft mit Christus wiedergegeben das ursprüngliche Verhältniß göttlicher Bestimmung, nämlich das, aus der Fremde als Sohn in das Vaterhaus zurückzukehren, als das begnadigte Kind sich wieder an des Vaters Busen zu bergen. Die vergebende Liebe Gottes durch Christum wird ihm zu dem Geiste, in dem er fortan beten kann*): „Abba, mein Vater." So „mit Christo" sein und durch ihn als Gotteskind in des Va­ ters Gemeinschaft treten zu dürfen, das ist es, wodurch sich ihm des Para­ dieses Pforten öffnen, so daß keine Macht ihm den Eingang verwehrt. Ist aber so Vergebung, Gotteskindschaft da; mag er jetzt noch äußerlich völlig gebrochen am Kreuze hängen, mag er schon vom Arm des Todes umschlungen sein, der Gott des Lebens kann sein Kind nicht lassen, er wird ihm geben die geeignete Stätte in seinem Reich, um hier zu wirken und auszurichten seinen Willen. So drang paradiesisches Leben in den armen Mann voller Martern hinein, schon jetzt, ehe er vollendet hat, denn das Heute, wenn es auch das erst beginnende ist, es ist zugleich das der ewigen Gegenwart. O wenn der Psalmist schon in der Hoffnung allem Leid der Erde gegenüber so köstlich jubeln konnte, wie viel mehr dieser Sohn Abrahams, der mit Jesu im Paradiese, in der Gemeinschaft Gottes sein sollte ewiglich. Auch aus bett Kreuzes­ qualen hieß es bei ihm nun mit froher Zuversicht**): Herr „wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde; wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, bist du doch Gott allezeit *) Römer 8, 15. »*) Psalm 73, 25. 26.

193

meinte« Herzens Trost und mein Theil," und *): „du thust mir kund den Weg zum Leben; vor dir ist Freude die Fülle und liebliches Wesen zu deiner Rechten ewiglich." Ja beseligt in vollstem Maaße dieser Gekreuzigte, himmlisch und für die Ewigkeit erquickt von seinem Heiland und -Erlöser! Wohlan, das ist das Hocherhabene, Unvergleichliche in Christo, daß er derselbe ist in den Tagen seines Lehrens und Wirkens, derselbe in seinem Leiden, daß er in vollster Lebenskraft und schon nahe darum, im Todesschaner das Haupt zu neigen, der sich völlig Gleiche bleibt, daß er darum wie er frei herumwandelnd den Gichtbrüchigen, den Zachäus, die Maria von Bethanien und andere, gerade so an das Kreuz geheftet den armen Schächer auf's Seligste erquickt. Darin liegt uns die Bürgschaft**): „Er, Jesus Christus, gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit." Wohlan denn, er will auch heut noch alle Mühseligen und Beladenen erquicken. Gerade seine Selbstopferung am Kreuz verbürgt uns die nie zu schwächende und nie zu erschöpfende Kraft feiner versöhnenden Liebe. Aber sind wir seiner Liebe geöffnet, kann er mit seinem erquickenden Geiste in uns wohnen? Gewiß nur dann, wenn wir nicht äußerlich, aber innerlich dem Schächer am Kreuz gleichen. Werden wir in allem Leid, was uns trifft, die Regierung, das Walten des weisen gnädigen Gottes verehren, werden wir immer ernster in der Prüfung unseres Selbst und in der Verurtheilung alles dessen, was in uns mit der Sünde zusammenhängt, wird dadurch im­ mer klarer unser Auge für die Heiligkeit und Vollkommenheit des Er­ lösers, wächst damit unsere Zuversicht zu der in ihm uns erschienenen göttlichen Liebe, daß wir allein zu ihr in aller Noth unsere Zuflucht nehmen; dann wird er mit seiner Erquickung uns überflnthen, dann für unser ganzes Leben, wie für unsere letzte Stunde gehört auch uns sein Wort: Wahrlich ich sage dir, heute wirst du mit mir im Para­ diese sein. Amen. *) Psalm 16, 11. **) Hebräer 13, 8.

Die Liebe des Gekreuzigten zu denen, die ihm nach Bluts- und Wahlverwandtschaft die Nächsten waren. IV. Passionszeit.

Text: Johannes 19, 25 — 27. Es standen aber bei dem Kreuze Jesu feine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, CleophaS Weib, und Maria Magdalena.

Da nun Jesus seine Mutter sah und

den Jünger dabei stehen, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Weib, siehe, das ist dein Sohn.

Darnach

spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter. Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. (geliebte Freunde, die heilige Liebe des Gekreuzigten gegen diejenigen, welche sich so schwer an ihm verschuldet hatten,

hat in einer früheren

Betrachtung aus dem ersten Wort von Golgatha her zu uns gesprochen. Wenn ehr, in welcher Reihenfolge dasjenige aus seinem Munde ertönte, was unser jetzt verlesene Text enthält, wollen wir nicht genau bestimm men.

Nur so viel steht fest: Es hatte sich der tobende Haß und Spott

vom Kreuze in etwas zurückgezogen, die Wogen des Grimmes und der Lästerung flutheten nicht mehr in erster, starker Höhe um den Herrn.

Lieder: Nr. 202

169, 4.

195

Da sammelten sich tief liebende Frauenseelen in innigstem Mitgefühl um den Dulder, unter ihnen natürlich in erster Stelle die, welche ihn einst geboren, deren mütterlicher Busen ihm einst die erste Nahrung gereicht hatte. Nach den Banden der Blutsverwandtschaft war sie ihm die Nächste auf der Erde. Aber mit ihr ist zugleich der erschienen, von dem es in bezeichnender Weise heißt, er habe in der Nacht vor­ her bei jenem letzten heiligen Mahle an Jesu Busen gelegen, der einst mit dem Bruder des Petrus als der erste Jünger zu ihm getreten war, der von den übrigen als der Jünger genannt wird, welchen Jesus lieb hatte. Ein vom Herrn erwählter Jünger, in dem vorzugsweise sein Wesen sich wieder abspiegelte, der deßhalb ihm besonders nahe stand. Wie Maria nach der Blutsverwandtschaft so dürfen wir sagen, war Johannes nach den Banden der Wahlverwandtschaft dem Erlöser der Nächste. An diese beiden wendet sich der Gekreuzigte jetzt mit sei­ nem Wort. Und gewiß, es darf kaum ausgesprochen werden, die Liebe blickt von Golgatha auf sie herab und spricht zu ihnen. So werden wir denn heut durch unsern Text veranlaßt, die Liebe des Gekreu­ zigten gegen diejenigen, welche ihm durch Bande derBlntSund Wahlverwandtschaft die Nächsten auf Erden waren, zu betrachten und fassen diese Liebe 1. nach ihrer Treue, 2. nach ihrer Weisheit ins Auge. I. Welch Herz ist es doch, das so bald auf Golgatha brechen sollte? Wo ihm ein gleiches an Größe? Dieser Reichthum und diese Erhabenheit der Liebe, wie läßt sie AlleS, was es sonst nach dieser Seite Schönes, Edles und Großes in der Menschheit giebt, weit hin­ ter sich zurück! Der reichen, starken Liebe dieses Herzens genügt nur die Welt. Gewiß entfaltete sich einst die Liebe in diesem kindlichen Herzen zuerst als Liebe zu Mutter und Vater, zu den Gliedern des en­ gen Familienkreises. Als aber dem Kinde die Bewohner der Vater­ stadt bckannt wurden, erweiterte sich auch seine mitfühlende Liebe und erstreckte sich auf sie alle, so daß wir einem Wort kirchlicher Ueberlie­ ferung gern glauben mögen, nach welchem die Bewohner Nazareths, wenn sie ihn zu sehen gegangen wären, gesagt hätten: Lasset uns zur Freundlichkeit gehen. Und weiter, als der Knabe zuerst in umfassen13*

196 der Weise zu Jerusalem das eigne Volk in seiner Gesammtheit schaut; da ist's dies Volk, dem gilt seines Herzens lebendiger Liebesschlag, da begründet sich in ihm, was er später spricht: Ich bin gesendet zu den verlornen Schafen Israels. Endlich als ihm später in den Heiden, die im Lande verkehren, die Vertreter aller Völker vor Augen treten, er kann mit seinem Herzen nicht allein an seinem Volke haften bleiben. Mit der Sehnsucht und Hoffnung der Liebe sieht er im Geiste die Schaaren kommen aus Nord und Süd, aus Ost und West, um mit Abraham, Isaak und Jakob ins Reich Gottes einzugehen. Im heili­ gen Drange der Liebespflicht ruft er*): „Ich habe noch andre Schafe, die sind nicht aus diesem Stall, die muß ich herführen und sie werden meine Stimme hören und wird eine Heerde und ein Hirte werden. Und diese Liebe, die Alles, was Mensch heißt, an ihrem heiligen, ver­ söhnenden Busen zu betten sucht, mußte sie nicht grade im Tode auf ihrer höchsten Höhe sich verklären, mußte sie nicht grade hier so ganz sein Herz ausfüllen? In der That das ist der Sinn, in welchem er zum Tode ging, wie er sich ausspricht in seinem Wort*): „Wenn ich erhöhet werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen" oder in dem Bekenntniß vor Pilatus***): „Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich die Wahrheit zeuge, wer aus der Wahr­ heit ist, der höret meine Stimme" oder in seinem Gebet für die, welche sich gegen ihn verschuldeten und verschulden: „Vater vergieb ihnen, sie wissen nicht, was sie thun." Nun in dieser Liebe, welche das ganze menschliche Geschlecht umfaßt, ist da auch noch Raum und Gedächtniß für die Einzelnen geblieben? Sollte die Liebe gegen den einzelnen Freund, gegen den engen Kreis der Familie, gegen die Mutter nicht in jener allgemeinen Liebe aufgehen und verschwinden, wie aufgehen und ver­ schwinden die einzelnen Wassertropfen in dem unendlichen Meere? O nein, wie er hatte geliebet die Seinen, die in der Welt waren, so liebte er sie bis ans Endef). Die Seinen, die ihm durch Bluts- oder *) **) ***) t)

Johannes Johannes Johannes Johannes

10, 12, 18, 13,

16. 32.. 37. 1.

197

Wahlverwandtschaft näher standen, blieben bis in den Tod der Gegenstand seiner Zuneigung und Fürsorge. Auch am Kreuz, wo es der ganzen Menschheit Erlösung gilt, er hat das tröstende, helfende Wort der Liebe an Mutter und Jünger: „Weib, siehe das ist dein Sohn! siehe bai ist deine Mutter." O laßt uns von dieser Liebe rechter Art lernen, laßt uns lernen, in rechter Weife Liebe üben. Allgemeine Menschenliebe strömt dort stets von gewissen Lippen und den Worten mögen auch einzelne Geld­ spenden entsprechen! Aber dieser aller Menschen Freund, wie kennt man ihn im eignen Hause nicht wieder, wie ist er hart und roh gegen die Glieder der Familie, wie versäumt er gewissenlos das wahre Recht und Heil derselben! Hier, wie geht so Alles auf im Bangen, im Rin­ gen, im Streben für die eigne Familie, wie ist so weich das Herz, jede Bitte zu erfüllen, jede nur mögliche Freude zn gewähren, wie so gren­ zenlos und trostlos der Schmerz, wenn einmal ein Glied des Hauses vom schweren Leide ergriffen wird! Und derselbe wird durch keines Armen Weh ergriffen! Seine Mitchristen um ihn herum«'mögen sich zu Werken der helfenden Liebe an den Kranken des eignen Kreises, an den unter schwerem Druck der Noth seufzenden fernen Glaubensge­ nossen, an den für Vaterland und Recht sich opfernden Kämpfern ver­ bünden, er steht kalten Herzens und träger Hand von Ferne! Was ist aber allgemeine Liebe ohne die Liebe zu denen, die uns Gott aufs In­ nigste verband? Was ist Familienliebe in ihrer verschiedenen Gestalt ohne helfende, dienende Bruderliebe nach Außen? Jene ein tönend Erz, diese erweiterte Selbstsucht. Das ist die Treue der Liebe des Gekreuzig­ ten, daß, wie er gleichsam für die gesammte Menschheit die Arme aus­ gebreitet hat, er doch zugleich die geliebte Mutter, den besonders er­ wählten Jünger in seinem Herzen trägt. Noch Eins heben wir dabei hervor. Die Liebe im Kindesherzen bewährte sich einst bei ihm in der allein lauteren, thatkräftigen Weise, wie's in dem Wort evangelischer Ueberlieferung heißt*): „Er war ihnen (den Eltern) Unterthan." Aber als er herangewachsen war znm vollen Mannesalter, als in seinem Gemüth und seiner Vernunft die Liebe der Gottheit in vollem Glanze :) Mae 2, 51.

198 aufgegangen war, daß er sich ganz als der einige Sohn des einigen Vaters im Himmel wußte; da kannte er es auch nur als seinen Beruf, zu thun den Willen dessen, der ihn gesandt hatte und zu vollenden sein Werk.

Wie stolz das Mutterherz auf ihn fein mochte, es vermochte doch

nicht des Sohnes Wesen und Wege zu begreifen.

Von den beschränkten

Brüdern Jesu läßt sich auch Maria fortreißen, bethätigt sich so an ihrer Rede*): „Er wird von Sinnen kommen," hält seine allein dem Him­ mel gewidmete Thätigkeit für Schwärmerei und versucht ihn auf die breiten Wege des gewöhnlichen platten Lebens zurückzuziehen.

Da gilt

dem Herrn die Mutter mit solchem Sinn und Streben nichts. Mutter und meine Brüder sind thun.

diese,

Meine

die Gottes Wort hören und

Nie hat er die männliche Freiheit, die auf seiner völligen Ge­

bundenheit an den Willen des Vaters ruhte, irgendwie beschränken oder verkümmern lassen, auch nicht durch die Liebe zur Mutter.

Aber wie

frei er auch als der Eingeborne Gottes einherging, wie er die Mutter selbst, wenn sie in seinen göttlichen Beruf irgendwie eingreifen wollte, in ihre Schranken zurückwies, das, was er ihr als Sohn schuldete, ist dabei nie aus dem Herzen des Mannes gewichen.

Die herzliche, dank­

bare Liebe, die der Mutter in jeder Noth und Angst des Lebens sich anzunehmen bereit war, hat ihn stets erfüllt, so daß er auch am Kreuz noch ihr die neue Heimath schuf mit dem Wort: „Siehe das ist dein Sohn!" Ja das ist die rechte, treue Liebe, die nie eine Pflicht nach andrer Seite verletzt, und sich dennoch frisch und für die rechte Stunde thatkräf­ tig erhält.

Darum, wenn sein Tod das irdische Band zwischen ihm

und den Seinen löste, gewissermaßen die eigne Familie trennte, seine Liebe, die als die treue im Tode sich bewährte, knüpfte auch sofort ein neues heiliges Band, ersetzte den Verlust, gab der Mutter den Sohn, gab dem betrübten Jünger die Mutter.

Das ist der treuen Liebe Art,

daß sie auch wo der Tod scheidet, neue heilige Bande knüpft und von Neuem über die Ihrigen das Dach des Friedens und Segens wölbt.

n.

So aber in der Liebe auch für die Zukunft den Seinen gleich­

sam die Segensstätte friedenvollen Wohnens zu gründen, dazu gehört

*) Markn« 3, 21.

199

nicht nur die Treue, sondern auch die Weisheit. Bewährt sich des Er­ lösers Liebe auch nach dieser Seite? Wir wissen es, er hat ziemlich vom Beginn seines öffentlichen Auftretens an seinen frühen Tod und damit die schwere Beraubung seiner Mutter vorausgesehen. Wenn er nun die (Kindes-) Pflicht fürsorgender Liebe in sich fühlte, wäre eS nicht der Weisheit entsprechend gewesen, daß er neben seinem öffentlichen Beruf einen Theil seiner Zeit etwa in der väterlichen Arbeit verwandt hätte, um der Mutter einen kleinen, aber festen Wohnsitz, ein ihren bescheidnen Anforderungen entsprechendes Vermögen zu erwerben? Aber nein. Er hatte einst die Regel gegeben, alle Zeit, so weit nur möglich, zuerst dem Reich Gottes nachzutrachten und was er lehrte, das hat er gelebt. Für ihn, der aller GotteSgnade und aller Gotteswahrheit voll war, gab es allenthalben und allezeit Gelegenheit und Aufforderung den Saamen des göttlichen Reiches auszustreuen, zu wirken des Vaters Werke, indem er Glaube, Liebe, Gerechttgkeit in die Gemüther pflanzte. In diesem seinem Beruf war er in einer Weise zur Thätigkeit aufge­ rufen, daß er nicht fand, wo er sein Haupt hinlegte, um sich zu erho­ len. Seiner Aufforderung, immer zuerst nach dem Reiche Gottes zu trachten, hatte er die Zusage zugefügt: So wird euch solches Alles, das Irdische nämlich, zufallen. Ist solche Verheißung in der Wahrheit be­ gründet, ist sie rechter Lebensweisheit entsprungen? Nun der Herr hatte nichts des Irdischen, das er seiner Mutter zurückließ, und dennoch fiel ihm Alles zu, was er in dieser Hinsicht bedurfte. Bon der Stunde an, heißt es, nahm sie der Jünger zu sich. Wie der aber, o so wären gewiß auch die übrigen bereit gewesen, der Mutter ihres Herrn alle möglichen Liebesdienste fürs Leben zu gewähren. Siehe die Liebe, die der Herr in ihre Herzen auSgegoffen hatte, war der reiche Schatz, den er als Vermächtniß der Mutter zurückließ, viel mehr ihr als die todten Güter der Erde! Gewiß an ihm bewährte sich die Wahrheit seines Wortes: „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes, so wird euch alles Andere zufallen" und indem er diesen Worten selbst folgte, offen­ barte sich die Weisheit seiner Liebe im Verhältniß zu seiner Mutter. Sind uns auf die Seele gebunden die Glieder der Familie, fühlen wir die Pflicht für sie zu sorgen, entspricht dieser Pflicht auch die Innig-

200

feit und Kraft unserer Liebe; gilt es nicht auch für uns in rechter Weisheit zu verfahren? Da laßt uns doch beherzigen, der Hauptgrund^ satz aller wirklichen, sich bewährenden Lebensweisheit ist und bleibt bet unseres Heilandes, wonach allezeit das Reich Gottes in erster, das Irdische in zweiter Stelle zu stehen kommt. Es wäre thörigt, daß bei uns unter rauherem Himmel und in so mannichfach gewundenen und gespannten Verhältnissen, wo man oft für die Erhaltung des Lebens alle Kraft einsetzen muß, es wäre thörigt, wenn wir das Streben, auch im irdischen eine verhältnißmäßig feste Grundlage des häuslichen Lebens zu legen, tadeln wollten. Aber das als das Einzige, Erste, Höchste ansehen, das ist des stärksten Tadels werth, weil's die größte Thorheit ist. Und wenn du aus der Welt gehend den Deinen alle Schätze die. seS irdischen Lebens hinterließest, du wüßtest sie aber nicht eingeweiht in die Bürgerschaft des himmlischen Reiches, mit andern Worten, sie selbst wären leer an Glaube und Liebe, an Gerechtigkeit und Geistes­ stärke, und sie hätten und fänden in ihrer Umgebung keine Herzen, die sich ihnen in Liebe öffneten, die zur rechten Zeit für sie Rath, Trost, Mahnung, Warnung hätten, o mit allen Reichthümern der Erde ließest du die Deinen als die am übelsten Versorgten, als die Aermsten und Verlassensten auf der Erde zurück. Umgekehrt, ist es uns einst zu ge­ hen bestimmt, und wir wissen dann, in den Herzen der Unsern lebt die.Kraft wahrer Gottseligkeit, aus der ja zugleich alle wahrhaft segens­ reiche Thätigkeit entspringt, und die Liebe Christi, die so gern dient, waltet in ihren Kreisen, dann haben sie ein ewiges Kapital, das nicht aufhören wird, seine reichlichen Zinsen zu tragen, dann sind sie unter allen Umständen wohl versorgt. Wie der Heiland in seiner Liebe auch gegen die Mutter diese Weisheit übte und die Früchte derselben am Kreuze noch erndtete; so laßt auch uns von ihm in der Liebe ge­ gen die Unsern diese rechte Lebensweisheit lernen. Wir schauen diese Weisheit des Herrn in seiner Liebe noch von einer andern Seite mehr im Einzelnen an. Wir sagten, gewiß auch die übrigen Jünger hätten mit großer Freude die kindlichen Liebesdienste für die Mutter Jesu übernommen. Da fragen wir wohl natürlich: Warum überträgt diesen besondern Beruf der Herr grade dem Johan-

201

nes? Werfen wir schnell einige Blicke auf die Persönlichkeiten der Maria und des Johannes. Wir können nach der evangelischen Geschichte die Maria unmöglich als die Mutter Gottes, als die Himmelskönigin, die Weltbeherrscherin feiern, wie's in römischer Kirche geschieht. Aber die in ihrer Frömmigkeit so ganz von Liebe gegen den Sohn erfüllte Mut­ ter, die in ängstlichster Gewissenhaftigkeit nie aufhören konnte, für ihtt zu sorgen und ihn auf dem Herzen zu tragen, ist sie gewesen. Wir können nicht in ihr die geistige Erhabenheit und Klarheit erkennen, ver­ möge deren sie dem Erlöser als Rathgeberin zur Seite getreten wäre und Einfluß auf seine Heilsthätigkeit ausgeübt hätte. Vielmehr ist schon hervorgehoben, daß sie in einer gewissen geistigen Beschränktheit sich in die Weise und in die Wege der hohen, freien Liebe Christi nicht zu finden vermochte. Wir erkennen darum durchaus nicht in ihr die Führerin der Gläubigen, sie die mit ihrer Glaubenskraft, wie gesagt ist, nun auch unterm Kreuz Christi in den Wehen der Liebe die Ge­ meinde geboren habe. Vielmehr, weil sie den hohen Sohn überhaupt nicht begriff, blieb ihr auch die Höhe und Tiefe seines Todes ver­ schlossen, darum für sie ein Unbegreifliches, darum die Quelle eines zur Zeit trostlosen Schmerzes, so daß sie die völlig Geknickte und Zer­ tretene auf Golgatha stand, daß sie eben so ganz nur als die erschien, welcher nach dem Worte des Simeon das Schwert das Herz durch­ bohrt hatte. Mit dem strömenden Herzblut ihres Sohnes schien auch für sie das Leben dahinzuströmen. — Und Johannes? Er lag in der letzten Nacht, beim letzten Mahle der Liebe an Jesu Busen. Das ist genug gesagt. Er hatte in Jesu Gemeinschaft es verlernt, ein Donnerskind zu sein. Das Feuer seines Geistes war zur Gluth der sich ganz an den Holdseligsten der Menschenkinder verlierenden Liebe geworden. Er lag an Jesu Busen. — Gewiß, es deutet sich damit ein ähnlicher Zug des Gemüthslebens an, wie wir ihn in dem Bilde der Maria von Bethanien gezeichnet finden. So hat sich sein Geist in den Erlöser, in die Klarheit und Tiefe seiner heiligen Liebe versenkt, daß er darüber Alles um sich herum vergißt, daß er mit dem Tiefsinn seines Gemüthes allein noch denkender Anbetung und anbetendem Denken zu leben ge­ neigt ist. Und wie in seinem Gemüth sich zuerst im Allgemeinen aufs

202 Klarste die Herrlichkeit Christi wiederspiegelte,

so ist er ähnlich der

Maria von Bethanien auch wohl der gewesen, dem zuerst und aufs hellste der Heiland im Kreuzestode als der Verklärte erschien, der diesen Tod begriff und aus ihm für sich schöpfte Gnade um Gnade, Wahr­ heit um Wahrheit. — Das die beiden Persönlichkeiten.

Beide ver­

knüpfte der scheidende Herr durch heiliges Band, weil sie beide sich ge­ genseitig bedurften, gegenseitig sich gewähren konnten, was ihnen ehv zeln fehlte.

„Das ist dein Sohn," gewiß nicht, daß er allein für

die Bedürfnisse ihres leiblichen Lebens sorgte, sondern vor Allem, daß er sich des blutenden Mutterherzens annähme.

Und nur an dem Leben

und Wesen, wie das des Johannes war, in welchem das Spiegelbild der sanften, hingebenden Liebe Christi erglänzte, nur aus seinem Wort und seiner Gemüthsstimmung heraus konnte Maria einen freieren Blick in den Geist, in den Beruf, in den Tod ihres Sohnes gewinnen, nur so konnte ihr wieder Trost und heilender Balsam für ihr wundes Herz werden, nur so wandelte sich ihr die Kreuzigung Christi, jenes Gräß­ lichste, in einen Quell göttlichen Friedens um.

Johannes aber mit sei­

ner sich in Liebe versenkenden Betrachtung, mit dem Tiefsinn seines Gemüthes hatte die Neigung sich eben in sich und damit für die Welt zu verlieren.

Er war wie die Knospe einer schönen Blume.

Wohl wohnt

im Innern aller Farbenschmelz und aller würzige Duft, aber die ge­ schlossenen Außenblätter lassen Schönheit und Duft nicht in Kraft und Leben treten.

Da bedarfs des warmen lichten Sonnenstrahls, sonst

wird das Herrliche

sich im Innern fruchtlos verzehren.

Siehe die

warmen Strahlen der ewigen Liebessonne, sie fallen in dem Wort: Siehe das ist deine Mutter auf den Johannes.

Die in sich ver­

senkte Natur wird durch diesen Beruf aus sich selbst herausgehoben, hineingeführt ins thätige Leben, damit sie ihren köstlichen Reichthum verwerthe, sich selbst und andern zur Beseligung.

So wollte der Herr

die verschiednen Naturen, die praktisch verständigen, die für religiöse Tiefe oft eine gewisse Beschränktheit haben und dann so leicht in schwe­ rer Stunde des rechten Trostes und Haltes entbehren, und die mit befonderm Tieffinn begabten, die so leicht sich in sich selbst versenken und für sich und die Welt verloren gehen, verbinden.

So kamen beide in

203 ihrer gegenseitigen Ergänzung auch zu ihrem Recht und zu sich selber. ES ist die Weisheit der Liebe, die so auch im Einzelnen einigt, ergänzt, beseligt.

O möchten auch wir hier lernen.

Möchten wir nicht, wie's

die Neigung des natürlichen Herzens ist, anders geartete Naturen ver­ ächtlich oder scheel ansehen, sondern, grade sie ehrend, uns gen Ergänzung ihnen anschließen. der Fall ist,

zur nöthi­

Je mehr in Christi Gemeine das

desto mehr wird sich das Heil in ihr entfalten und ver­

wirklichen, desto mehr wird allen eintretenden Mängeln die rechte Abhülfe und allen unvermeidlichen Schmerzen der rechte Trost werden, ja bis dahin, daß wir auch in den schwersten Stunden des Lebens wie­ der Ersatz gewinnen, daß selbst die Mutter den Sohn, der Sohn die Mutter wiederfindet.

Gieße Gott reichlich aus die Liebe Christi in un­

sere Herzen und gebe uns Treue und Weisheit in derselben!

Amen.

Die hohe Kraft des Gekreuzigten. V. Passiv n s zeit.

Text; Johannes 19, 28. 29. Darnach, als Jesus wußte, daß schon Alles vollbracht war, daß die Schrift erfüllt würde, spricht er: Mich dürstet. Da stand ein Gefäß voll Essig.

Sie aber füllten einen

Schwamm mit Essig und legten ihn um einen Mop und hielten es ihm dar zum Munde. theure Freunde, dies kürzeste Wort, welches der Herr vom Kreuze herab gesprochen hat, ist seinem natürlichen Laute und Verstände nach, von jeher, wenn man den Ausdruck gebrauchen darf, unter den sieben als das dürftigste angesehen worden.

Und es ist ja in gewisser Be­

ziehung eine Berechtigung dazu vorhanden, insofern es allein auf das Leibliche sich bezieht.

Eben deshalb hat man aber auch geglaubt, es

gleichsam über sich selbst hinausschrauben zu müssen und um das zu können, hat man es bildlich gefaßt und auf das Geistliche bezogen.

Der

Gegenstand des Dürstend Christi soll danach die Erlösung und Beseligung aller Menschen gewesen sein. sein

Dahin habe sich jetzt, indem sich

genugthuendes Leiden vollendete, das

seiner Seele gerichtet.

Lied: 169, 5—12.

ganze glühende Verlangen

Daß Jesus diese Sehnsucht in sich getragen,

205 wer, der ihn irgend wie kennt, wollte es leugnen? Aber wer sagt sich Nicht zugleich, daß dieser Seelendurst nach dem Heile der Menschheit, nach dem Kommen des Himmelreiches nicht nur am Kreuz ihn durch­ drang, sondern daß er vielmehr während seines ganzen Wirkens alle­ zeit die bewegende Kraft seines Lebens war? Es fragt sich nur, ob er grade hier mit diesem Wort solcher Gesinnung und solchem Gefühl habe Ausdruck gegeben? Wäre das der Fall, dann, wie schon gesagt, müßte das Wort: „Mich dürstet"

bildlich verstanden

werden.

Nun spricht

der Herr sehr oft im Bilde oder Gleichniß, aber wo es geschieht, da muß durch die Umstände, durch den Ton des Ganzen, durch die Ver­ knüpfung des Einzelnen es klar sein, daß hier bildliche Rede sei und eine geistige Deutung des Sinnlichen fordere.

Davon hier keine Spur.

.Der Herr redete gewiß, um von denen, die ihn hörten, verstanden zu werden. Sicherlich aber hat keiner von denen, die sein Kreuz umgaben, bei dem Wort „Mich dürstet" an einen geistigen Durst gedacht. stehen sie's,

Vielmehr ver­

wir wir's Wohl auch verstanden hätten, reichen ihm im

Schwamm den Essig, den sauren Wein, das gewöhnliche Getränk der Kriegsknechte, und der Erlöser genießt den letzten irdischen Labetrunk. Bei jenem Streben, ein Tieferes in dem Wort zu suchen, als das der natürliche Wortlaut gewährt, hat man wohl vergessen, daß die rechte Größe und Hoheit nicht allein

im scheinbar Großen,

auch im Kleinen und Kleinsten sich bewährt.

sondern grade

Wahrlich das ist bei un­

serem Erlöser im vollsten Maaße der Fall, das, denke ich, werden wir auch hier wieder inne werden.

Das Wort „Mich dürstet" ist ein Aus­

ruf, der einem leiblichen Bedürfniß entspringt, der also von leiblicher Bedürftigkeit Zeugniß giebt.

Machen wir es uns klar, unter welchen

Umständen und in welchem Sinn Jesus so rief, dann wird auch dies kleine Wort seine Herrlichkeit bekunden.

Ja unsere Betrachtung wird

uns in diesem Worte zeigen die hohe Kraft des Gekreuzigten Und zwar 1. als eine Kraft des Duldens, 2. als eine Kraft des Glaubens, 3. als eine Kraft des Liebend. I.

Wie wir sonst uns hauptsächlich in die geistige Seite des Lei­

dens Christi vertiefen, so müssen wir jetzt, durch unser Wort genöthigt zunächst das Leibliche dabei ins Auge fassen, um dann mittelbar darin

206 die Kraft des Geistes zu erkennen.

Die Todesart, welche unserm Er­

löser auferlegt war, ist, was daS Sinnliche angeht, wie sich jeder leicht vorstellt, eine der quäl- und grauenvollsten. 'Die gräßliche Lage oder Stellung des Körpers, das Ausgesetztsein der Sonnengluth ohne jeden Schutz, die an sich nicht tödtlichen aber

die Glieder in ihrem Inner­

sten zerreißenden und durch die Nägel offen gehaltenen Wunden wirken zusammen und erzeugen ein solches entsetzliches Maaß der Schmerzen, daß, wie uns Beobachter versichern, unter denselben den unglücklichen Opfern meistentheils das klare Bewußtsein schwindet, daß sie in wildeste Rasereien verfallen.

Sind diese Schmerzen auf ihren

Gipfel gekom­

men, dann tritt mit ihnen der brennendste, verzehrendste Durst ein, ebenso ein Zeugniß namenloser, Erhöhung derselben. klagenden Worte

körperlicher Qual,

wie eine gewaltige

Jesus, anS Kreuz geheftet, hat bisher mit keinem

seines Körperleidens gedacht.

erste und einzige in dieser Beziehung und

Unser Wort ist das

ist nach dem Gesagten die

Ankündigung, daß in diesen Augenblicken grade die körperlichen Qualen ihre größte, wir möchten sagen, über alles Maaß hinaus gehende fürch­ terliche Höhe erreicht hatten. aus.

Aber in

Ja nun spricht sich Jesus auch darüber

welcher Weise? „Mich dürstet" klingt eS so einfach

auS seinem Munde.

Ist es nicht, als ob wir ein Kind hörten, das

in seinem' fröhlichen Spiel eben erst an das Bedürfniß des Trinkens durch

seinen Durst erinnert, auf Augenblicke

das Spiel unterbricht,

ohne doch eigentlich in seiner Fröhlichkeit unterbrochen zu sein, von der Mutter den stillenden Trank zu fordern? Wo andere bei der Wuth der Schmerzen in die nächtliche Tiefe der Raserei oder der Bewußtlo­ sigkeit versinken, da bleibt über Jesus den Gekreuzigten himmlische Ruhe ausgegossen.

Wahrlich das

ist eine Kraft des Geistes seltenster Art.

Bis an das Ende hin gewinnt der Schmerz in der Sinnlichkeit keine Macht über den Geist, wie früher niemals Lust und Freude über ihn solche Gewalt geübt hatten! Und welches ist der tiefste Grund dieser Kraft, das Schwerste des irdischen Schmerzes in himmlischer Ruhe zu tragen? Wir können uns den Erlöser, wie er seinem innern Menschen nach der aufs Feinste und Zarteste Fühlende war, auch nach der leiblichen Seite kaum anders vorstellen.

Aber hat er etwa durch stete Uebung

207 und Abhärtung seine Sinnlichkeit wider den Schmerz gestählt oder ab­ gestumpft ? Wir wissen von solchen, die in mißverstandner Frömmigkeit durch tägliche Büßungen, Geißelungen, Selbstqualen das Unerträgliche tragen lernten,

als wäre es das Gewöhnliche, zum Leben Gehörige.

Ist der Herr auch ein solcher Heiliger gewesen? Nichts lag ihm fer­ ner.

Gewiß hat er sich keinen Uebungen für Geist und Körper, welche

das Leben im natürlichen Gange mit sich brachte, jemals entzogen. Gewiß, er war stets bereit, jedes Schwere, welches sein Vater ihm auflegte, mit vollster Ergebung zu tragen. int Leiden,

Nie aber hat er Uebungen

im Entbehren selbstwillig sich erwählt, nie durch'Selbst­

martern sich abgehärtet, als könne er so erst vollkommen werden und sich Verdienste vor Gott erwerben. die Herrschaft des Geistes

Auf diesem Wege hat er sich nicht

über die Sinnlichkeit erworben.

Vielmehr

liegt auf dem rein geistigen Gebiet das Geheimniß und die Quelle sei­ ner Kraft.

Wie er im zwölften

Jahre schon das Wort sprach*):

„Wisset ihr nicht, daß ich sein muß in dem das meines Vaters ist," so ist er allerdings allezeit in dem gewesen, was des Vaters ist, hat ge­ lebt in seinem Gott, ungeschieden und untrennbar, gelebt in seines Vaters Liebe.

Allein in dieser seligen Einheit mit seinem Gott hat er die

hohe Kraft besessen, auch die gewaltigsten, sinnlichen Schmerzen in hoher Seelenruhe zu tragen, mit stillster, an sich vollziehen zu lassen.

kindlicher Ergebung die Bluttaufe

Wir sind jetzt ja wohl weit entfernt, uns

selbst Leiden aufzulegen in dem Sinn,

damit entweder Sünde ab­

zubüßen oder Verdienste vor Gott zu erwerben.

Wir halten derglei­

chen nicht mehr in einer gesunden Frömmigkeit, sondern in krankhafter Verdunkelung des Geistes begründet.

Aber wenn

wir doch alle der

Wahrscheinlichkeit nach einmal hineingeführt werden in Schmerz und Weh, sollen wir uns nicht darauf rüsten, daß

wir dann als Tapfre

erfunden werden? Und ist solche Rüstung nicht grade darin zu suchen, daß wir schon vorher aus der Freiwilligkeit heraus uns Leiden aufle­ gen, damit wir so allmählig stärker werden zum Tragen? Gewiß das Erste, gewiß nicht das Zweite.

*) Lukas 2, 49.

Sofern eine pebung unserer natür-

208 lichen Kräfte Roth thut, wird Gott der Herr in dem Gange und Be­ rufe unseres Lebens uns hinreichende Veranlassung dazu geben, wenn wir sie nur treu benutzen.

Selbst aber uns 'Leid und Last als Tugend-

übung bereiten, hängt mehr oder weniger schon mit geistlichem Hoch­ muth zusammen, ist wider unsere uns von Gott gebildete Natur, darum wider Gottes Willen, ist ein vorwitziges, vermessenes Hineingreifen in die göttliche Regierung.

Die rechte, wirkliche Rüstung wird die sein,

daß wir in der Lebensgemeinschaft mit dem, welcher am Kreuz für die schwersten Schmerzen keinen andern Ausdruck als das „Mich dür­ stet" hatte, daß wir durch den Glauben an ihn den beständigen Zu­ gang zum Vater uns bewahren, um betend von ihm heilige Kräfte neh­ men zu können, um kindlich uns seiner Liebe und Treue getrosten zu dürfen.

Das

allein ist

die Vorbereitung und Rüstung rechter Art,

welche uns stärkt und schützt, daß auch wir im tiefen Leide nicht unter­ gehen.

Sind wir so gerüstet, dann wird uns die Hand Gottes über

den Fluthen erhalten.

Unser Glaube wird auch nach dieser Seite der

Sieg sein, der die Welt überwindet. II.

Das Wort „Mich dürstet" ist aber nicht allein ein Ausdruck

für das körperliche Leiden des Herrn, sondern mittelbar wenigstens zu­ gleich eine Bitte gewesen, nämlich die, seinen Durst zu stillen und da­ mit seine Qualen zu lindern, wohl auch abzukürzen.

An wen wendet

sich diese Bitte? Nicht etwa an Johannes und die befreundeten Frauen in seinem Geleit.

Waren diese auch noch zugegen, so durften sie einem

so als Verbrecher Gerichteten doch leichterung gewähren.

nicht das Mindeste zn seiner Er­

Es kann das bittende Wort des Erlösers nur

an die gerichtet sein, von welchen so recht eigentlich sein Kreuzesleiden bewirkt war.

Welche Blicke haben sich uns aber da schon früher in

die finstre Tiefe menschlichen Verderbens geöffnet, welche Fühllosigkeit, welche Unempfindlichkeit gegenüber der Heiligkeit uud Wahrheit, welche Verstocktheit gegenüber der lautersten Liebe ist uns da sichtbar gewor­ den! Ja da schien es doch, als wären die letzten Reste ächt menschli­ chen FühlenS, damit die letzten Reste des göttlichen Bildes in ihnen vernichtet! Versetzen

wir uns im

Geist in die Lage des Erlösers.

Gewiß, wir hätten solchen rohen und verhärteten Gemüthern gegenüber

209

geurtheilt, sie wären für immer der feindseligen Gewalt der Sünde und damit dem göttlichen Gericht verfallen. Gewiß wir hätten von ihnen nicht das geringste Gute mehr erwartet und an ihr menschliches Mitleid uns zu wenden, wäre uns zu thörigt, weil völlig hoffnungslos und überflüssig erschienen. Nicht so der Herr. Wie schwarz ihm auch die Sünde seiner Mörder gegenüber steht, ein bestimmtes Maaß des Vertrauens hat er auch ihnen bewahrt, das Vertrauen, daß bei aller ihrer Sünde und Rohheit auch ihnen noch menschliches Gefühl, im Mitleid noch die letzten Reste der Liebe, damit auch die letzten Reste des göttlichen Bildes verborgen in der Seele ruhten. Dahin richtet sich sein Wort, seine Bitte: „Mich dürstet." Wollte und sollte Jesus Erlöser der Menschheit sein, ein unbedingter, in seiner Kraft unzer­ störbarer Glaube mußte ihn erfüllen. Nicht allein der Glaube an den Vater, daß nämlich die Liebe des Vaters allein die Kraft sei, welche nie ermatten und erlahmen kann, das unendliche Meer, das nie erschöpft, ja nie nur um Tropfen verringert wird. Sein Eigenthum mußte auch der Glaube an die Menschheit sein, nämlich der Glaube, daß bei aller Befleckung und Verderbniß immer noch das Gottesbild in den Men­ schen sich fände, irgendwie in der Empfänglichkeit für die Liebe auch noch die Anknüpfung für die Erlösung. Nur bei diesem unerschütter­ lichen Glauben war es möglich, daß er im Erlösungswerk beharrte bis zu dem letzten Athemzuge des Lebens. Und hier am Kreuz bestand er sicherlich die schwerste Versuchung, wenigstens in Betreff eines Theiles der Menschen diesen Glauben aufzugeben. Aber auch hier die unüber­ windliche Kraft des Glaubens, selbst in Beziehung auf die Verhärtetsten und Rohsten. „Wenn ich erhöhet werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen"*); in solchem Worte hatte früher der Heiland sei­ nen Glauben ausgedrückt. Die unüberwindliche hohe Kraft desselben bewähret sich und spricht sich am Kreuze aus in der Bitte: „Mich dürstet." Laßt uns das unS wenden einmal zum Trost, dann zur be­ schämenden Mahnung. Je ernster es Christen oft mit sich nehmen, je schärfer sie sich prüfen, je reiner ihnen daS Bild eines ächt christli*) Johannes 12, 32.

ThomaS, Vlaube an Christus.

210 chen Lebens vor den Augen leuchtet, desto leichter gerathen grade sie in Gemüthsstimmungen hinein, in welchen sie nichts Gutes an sich mehr erkennen wollen, in welchen es ihnen ist, als sollten sie alle Hoffnung für sich aufgeben.

Wahrlich, ich möchte niemand veranlassen, daß er

in einer Selbstbeurtheilung weniger ernst werde und es weniger genau mit sich nehme.

Aber wenn solche Prüfung sich in diese Stimmung

umsetzt, dann ist etwas Einseitiges darin, nämlich, wir vergessen über dem Hineinschauen ins eigne Herz, hineinzublicken in die Liebe Christi, in die Liebe der Gottheit und im Lichte dieser Liebe unsere Selbst­ prüfung zu vollziehen.

Geschieht uns das, dann klinge uns die Bitte

deS Erlösers „Mich dürstet,"

mit welcher er Liebesdienste von seinen

Mördern fordert und ein Vertrauen zu ihnen, damit auch einstigen Erlösung ausspricht, in die Seele.

zu ihrer

Der Herr fordert in un­

serem häuslichen, in unserem Gemeindeleben mannichfache Dienste der Liebe von uns und wenn er sie von uns fordert, ist darin nicht das Vertrauen zu dem, was Gott als fein Bild auch in

uns pflanzte, zu

unserer Empfänglichkeit für sein Heil, zu unserer Erlösung enthalten? Und wenn der Herr uns nicht aufgiebt, sollten wir je verzagen oder nur zagen, sollten wir nicht getrost zu der festen Hoffnung uns erhe­ ben, daß der, welcher sein gutes Werk in und begonnen hat, es auch vollenden wird? —

Das Andere.

Es treten ja leider noch immer

Beispiele schmählicher Entartung, tiefer Versunkenheit, zäher Herzen?härtigkeit auch in christlicher Gemeine hervor.

Wie schnell ist man da

mit abschließendem Urtheil bereit, mit dem Wort der Verdammung: Hier ist Alles umsonst! Wir sollen Träger der erlösenden Liebe und Thätigkeit Jesu Christi sein.

O treffen wir uns auch einmal in sol­

chem schnellen Urtheil, in solchem schnellen Wegwerfen alles Vertrauens und jeder Hoffnung in Betreff eines Nebenmenschen,

dann

wieder

dringe tief beschämend das Wort stärksten Glaubens „Mich dürstet" in Unser Ohr und führe aus der Beschämung uns zu der Kraft der Liebe Christi zurück, die Alles glaubt, Alles hofft. Alles duldet. III.

Ja nicht nur die hohe Kraft des Tragens und des Glau­

bens, auch die des Liebens ist es, welche wir in dem kurzen Wort des Erlösers anschauen und verehren.

Das Wort „Mich dürstet" scheint

211 im Gegensatz zu stehen zu einem früheren allerdings bildlichen Worte deS Herrn*): „Wen da dürstet, der komme zu mir und träfe.• Wer an mich glaubet, wie die Schrift sagt, von des Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen." Hier handelt es sich um die Fülle, die andre tränkt, in unserem Text um die Bedürftigkeit, die selbst um den Trunk bitten muß. Und doch wie gehören beide Worte so ganz zusammen. Die Ströme des lebendigen Wassers, die vom Leibe d. i. vom ganzen leiblichen, irdischen Leben der Gläubigen sich ergießen sol­ len, sind offenbar die Uebungen der Liebe, mit denen sie ihre Umge­ bung leiblich und geistig laben. Christus giebt das lebendige Wasser den Durstenden, weil die Fülle unerschöpflicher Liebe in ihm wohnt. Grade aber, wie er das Wort „Mich dürstet" als Bitte ausspricht, so bewährt sich darin die hohe, unverwüstliche Kraft seiner Liebe. Fasset es noch einmal ins Auge, an wen der Herr mit diesem Wort bittend sich wendet. Es waren nicht überhaupt nur rohe, verhärtete Sünder, eö waren zugleich die unmittelbaren Feinde des Herrn, welche ihm das nur mögliche Weh angethan hatten. Wie ihre Grausamkeit ihn mar­ terte, so hatte ihre rohe Herzlosigkeit den körperlichen Qualen noch die Galle bittersten Spottes hinzugefügt. Und der Herr? — Wer kennt nicht und nennt nicht mit hoher Bewunderung sein Gebot, auch die Feinde zu lieben? Noch mehr, wer geht nicht auf gegen ihn in Vereh­ rung, der diese Feindesliebe nicht nur fordert, sondern auch bis ans Kreuz hin aufs Glänzendste übt? Aller Beleidigung und Verfolgung setzt er das fürbittende Gebet, allem Haß Wohlthat, allen Flüchen Seg­ nungen entgegen. In dieser thättgen Feiudesliebe hat ihn uns ja schon das erste Wort vom Kreuz her bewundern lassen. Unser kurzes Wort zeigt dieselbe Liebe, nur, wenn es möglich ist, noch in erhöhter Kraft, in noch klarerem Glanze. Nicht wahr, es ist eine hohe Kraft der Liebe, wenn man dem Feinde die Uebelthat mit Wohlthat, die Flüche mit Segnungen vergilt? Aber es giebt ein noch Höheres, das besteht darin, daß man dem Feinde gegenüber auch von dem geringsten Groll und Stolz das Herz rein bewahrt, daß man auch ihm noch Vertrauen *) Johannes 7, 37. 38.

212 schenkt und von ihm Gutes hofft, daß man darum bei etwaiger Gele­ genheit es nicht verschmäht, auch ihn als seinen rechten Bruder um brü­ derliche Dienstleistung zu bitten.

Den Feind speisen und tränken, sam­

melt nach der heiligen Schrift glühende Kohlen auf seinem Haupte. Von dem Feinde in Vertrauen und Hoffnung Dienste erbitten, daö ist geeignet, eine heilige Gluth in seinem Herzen wieder anzufachen.

Jenes

sind die glühenden Kohlen der Selbsterkenntniß, dieses ist die heilige Gluth der Liebe selbst.

Wie leicht hätte der Herr,

wenn irgendwie

sein Gemüth von seinen Feinden in Unwillen abgewendet worden wäre, wie leicht hätte er das einzige Wort, das sein körperliches Leiden an­ deutet, ganz unterdrückt!

Aber seine Liebe erleidet keine Verdunklung,

sie steigt zur tiefsten Erniedrigung willig herab, indem er wie ein Bett­ ler von den Mördern den Trunk begehrt, steigt zu dieser Tiefe herab und zeigt sich damit in ihrer ganzen erhabnen Kraft, glänzt damit auf höchster Höhe, in unüberragbarer Herrlichkeit.

Die Frucht dieser star­

ken Liebe war'S, daß, während bis dahin der wilde Spott roher Wuth das Kreuz umtobt hatte, jetzt sich wieder die Spuren der Menschlich­ keit regen, daß seine Mörder ein menschlich Rühren empfinden und sich beeilen ihm den erquickenden Trunk zu reichen.

Ja die Frucht dieser

starken Liebe wars, daß, als er das Haupt neigte, auf der einen Seite Bußfertige an ihre Brust schlagend heim gingen*), auf der andern Seite der Glaube selbst von einem heidnischen Herzen Besitz nahm und bekannte**): „Wahrlich dieser ist Gottes Sohn gewesen."

Nicht wahr,

das Wort: „Mich dürstet" auch in seinem natürlichen Verstände hört es uns auf, ein dürftiges zu sein.

Wir haben vielmehr das völligste

Recht, grade in demselben die hohe Kraft des Duldens, Glaubens und Liebend zu bewundern.

Ja wir sehen hier in Jesu von Neuem den,

der unS das Wasser des ewigen Lebens zu geben vermag. lobt in Ewigkeit.

Amen.

*) L«kaS 23, 48. **) Matth, 27, 54.

Er sei ge­

Der Sieg des Gekreuzigten. VI.

Passionszeit.

Text:

Johannes 19, 30.

Da nun Jesus den Essig

genommen hatte, sprach

er: „Es ist vollbracht." beliebte

im Herrn, ans dem

Schmachten, in das Ende nahen.

Gipfel

der

Schmerzen,

im

tiefsten

völligster Entäußerung fühlte der Erlöser am Kreuz Noch einmal hat er mit dem Worte: „Mich dürstet"

sich bittend, nicht nur die Gabe sondern auch die Geber suchend, nicht nur für sich den Trunk begehrend,

sondern

auch

das schlummernde

Mitleid in den Verhärteten weckend, an die Menschen gewendet.

Floß

dies Wort aus tiefster Bedürftigkeit, so war es doch zugleich, wie wir neulich sahen, das Zeugniß höchster geistiger Kraft.

Man hat ihm den

Trunk gereicht und wie er ihn genommen, spricht er das hochherrliche Wort, das wir eben hörten:

„Es ist vollbracht."

Wort unter den übrigen sieben das

Wir möchten dies

königliche nennen, indem darin

Jesus vor seinem Erbleichen thatsächlich jenes Bekenntniß vor PilatuS wiederholt**): „Ich bin ein König."

Der Sieg des Gekreuzigtenist es,

der in demselben sich ausspricht und diesen Sieg des Gekreuzig­ ten machen

wir deshalb heute zum Gegenstand unserer Betrachtung.

Lieder: Nr. 173. 162, 7. *) Johanne» 18, 37.

214

Zuerst sei es der Sieg selbst, sodann die Grundlage desselben, worauf wir unser Nachdenken richten. I. „Es ist vollbracht," es ist vollendet! Was denn? Müssen wir denken an das schmerzliche Dulden oder an das kräftige Wirken im Leben? Wir haben wohl kein Recht, das Eine oder das Andere auszuschließen. Aber noch ein Drittes ist beidem voran in den Vor­ dergrund zu stellen. Der Erlöser hatte seinen Jüngern als Lebensauf­ gabe vorgehalten, vollkommen zu werden, er hatte ihnen gesagt, sie soll­ ten sich nicht freuen über das, was sie ausrichten, sondern darüber, daß ihre Namen im Himmel angeschrieben wären. Nun im Himmel angeschrieben sein, ist dasselbe, wie das Einverleibtsein in die Gemeine Gottes. Aber ein Glied dieser Gemeine sein, das schließt die Aufgabe in sich, an ihm hinanzuwachsen, dem vollkommnen Mannesalter in ihm entgegenzureifen, ein fester, christlicher Charakter zu werden, die Per­ sönlichkeit in sich immer mehr zu vollenden. Christus aber hat nie etwas gefordert, was nicht in ihm selbst als Leben und Wirklichkeit hervorgetreten wäre. So wird bei seiner Vollendung auch weder Lei­ den noch Thun, sondern die Persönlichkeit selbst, die sich im Leiden und Thun herausgestaltet, die erste Stelle einnehmen. „Es ist vollbracht," ich selbst bin der Vollendete! Wollten wir uns daran stoßen? Ist Christus wirklich Mensch gewesen, — und war er nicht voller, wirllicher Mensch, dann war er am wenigsten unser Erlöser, — ist er Mensch gewesen, dann ist seine Persönlichkeit auch eine gewordene, war eine sich bildende und erst die Vollendung erringende. Allerdings stellen wir ihn immer hoch über uns. Der wunderbare Hauch vollster Reinheit, Gotteinigkeit und Gottinnigkeit ist stets über seine Person ausgegossen. Die wunderbarste Harmonie durchzieht unter allen Verhältnissen und Umgebungen sein ganzes Wesen. Wir können deshalb nur innigst ver­ ehrend zu ihm hinaufschauen. So, wie sich sein menschliches Bewußt­ sein zur Klarheit entwickelt hat, ruhte auch das Gute in seiner Zusam­ menfassung als Gehorsam gegen den Vater, als Liebe gegen die Neben­ menschen, unverletzt und unbefleckt in seinem Innern. Aber was gei­ stige Kraft im Innern ist, das muß im Gegensatz zu gegenüberstehen­ den Mächten sich bewähren und erst in solcher Bewährung entwickelt

215 und vollendet es sich.

Bei dem Gehorsam gegen Gott und der Liebe

gegen die Nebenmenschen kommt eS zur Vollendung darauf an, daß sie den natürlich sinnlichen

Trieben gegenüber, wie

die Natur und die

Menschenwelt lockend und drohend auf dieselben einwirken, das volle Recht behalten und keine selbstische Regung anflommen lassen.

Nur in

diesem Bestehen des Kampfes, nur in dieser Ueberwindung der Ver­ suchung gewinnen

sie ihre Vollendung.

Darum jetzt erst,

nachdem

Christus nicht nur treu in seinem Thun bis ans Ende geblieben war, sondern bis zu diesem Augenblick, wo er in die Hand des Todes sank, wo das Leiden dieser Welt jegliche mögliche Versuchung

an ihm voll­

zogen hatte, und er in keiner Weise, auch nicht auf das Leiseste, aus dem „Nicht mein sondern dein Wille geschehe," herausgefallen war, wo er in kindlichster Ergebung und Freudigkeit auch die letzten Tropfen des bitteren Kelches getrunken hatte, jetzt im Gehorsam vollendet.

erst erscheint seine Persönlichkeit

Und eben so, nachdem alle mögliche Reizung

zum Hasse, zur Verachtung des Menschengeschlechtes bis hin ans Kreuz und unter dem Kreuz, ihn bestürmt hatte und er doch ganz in der Liebe geblieben war, wie wir es noch beim Worte: „Mich dürstet," hervor­ hoben, erscheint er auch hier erst als der unvergleichliche vollkommne Heros der Liebe.

„Es ist vollbracht," alle möglichen Versuchungen deS

Lebens bis in den Tod sind überwunden.

Vollendet in Gehorsam und

Liebe strahlt er fortan als der ewig gekrönte Sieger, als der ewig siegreiche Fürst des neu zu sammelnden und zu schaffenden Menschengeschlechtes. Eben deshalb, weil so die Person des Erlösers im letzten Leiden sich vollendet hat, ist damit auch ihr hohes Ziel erreicht.

Können wir

dieses, sein Ziel, besser bezeichnen, als mit seinem Wort*): „Kommet her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken" oder mit dem**): „Meinen Frieden gebe ich euch"? Vollendet ist das Werk,

das fortwährend

der

geängsteten Menschheit Trost,

Gott zerfallnen Versöhnung gewährt.

der mit

Freilich will man auf das Ver­

dienst seines eigenen Thuns sich verlassen, will man in seiner eignen Selbstgerechtigkeit sich wiegen, oder wieder, will man seinen Frieden *) Matth. 11, 28. **) Johannes 14, 27,

216 auf irgend welche Gestaltung des äußern Lebens gründen, dann wird ein solches Ruhe suchen am Kreuz Christi aufs Gründlichste vernichtet. Die Hoffnungen der zwölf auf den Herrn waren noch immer mehr oder weniger vom Irdischen durchzogen, auf ein Reich irdischer Herrlich­ keit gerichtet gewesen.

Am Kreuz sind alle diese Hoffnungen zerstört,

vom Kreuz Christi sind sie auf immer für diese Ordnung der Dinge gerichtet.

Auch der Selbstgerechtigkeit waren die Jünger noch nicht

völlig enthoben; denn nur aus dem selbstgerechten Wesen entsprang ihre Lohnsucht, in der sie fragten*): „Was wird uns dafür" oder ihr Ehrgeiz, in welchem sie stritten um das Sitzen zur Rechten und Linken des Gottessohnes**).

Er, der Heilige Gottes, ist aber, wie es in hei­

liger Schrift aufgefaßt wird, nicht durch einzelne Menschen, er ist durch die Menschheit gekreuzigt.

Vielgestaltig ist, was ihn ans Kreuz bringt,

aber unter den vielen Gestalten waltet nur das eine Wesen der Selbst­ sucht, gleichviel, ob wir der Selbstgerechtigkeit der Pharisäer, dem Hän­ gen an Weltlust und Weltehre des Pilatrks, dem irdischen Sinn des Volkes, der Menschenfurcht des Petrus und der übrigen Jünger nach­ denken.

Ebenso welcher Handlungen wir uns rühmen mögen, selbstisches

Wesen, was einst Christum kreuzigte, war immer noch unter dieser oder jener Gestalt in uns.

Mit dem, was das Innerste unseres Handelns

mit bestimmte, stehen wir noch immer in einer gewissen Verwandtschaft mit denen, auf welchen die schwere Schuld von Golgatha her lastete. Wie möchten wir Ruhe finden für unsere Seelen, wenn wir gleichsam mit der Friedenspalme in der Hand wie auf Lorbeeren auf unserem eigenen Thnn, aus unserer Selbstgerechtigkeit ruhen

wollten? Vom

Kreuz her wird jede Selbstgerechtigkeit und jede Behaglichkeit in und an derselben gründlich zerstört.

Mer die Liebe Christi,

die an der

Menschheit und ihrem Heil nicht verzweifelt, die darum nie ihr Suchen aufgiebt, die auch in der sündigen Menschheit das göttliche Ebenbild erkennt, liebt und zu reinigen strebt, die es nimmermehr aufgeben kann, die ist auf Golgatha, wie wir'S uns vorhin sagten, vollendet.

Diese

Liebe bleibt für die Verhärteten in der Fürbitte, für die Reuigen und

*) Matth. 19, 27. **) Markn« 10, 35-37,

217

Suchenden im Troste, für die Gottlosen in der Bitte thätig und wirk­ sam. Diese Liebe ist eins mit der Liebe der Gottheit und die spricht hier mit der Hingabe des Lebens zu jedem von uns: Du bist mein! Die Liebe des Menschensohnes, wie sie die Liebe des Vaters offenbart und seinen Namen auf Erden verklärt, so ist und bleibt sie fortan die Quelle, aus welcher das Wasser des ewigen Lebens für uns sündige Menschen entspringt, die allen Bußfertigen, sich selbst Richtenden die Schuld bedeckt und durchstreicht. Diese Liebe die hat auf Golgatha ge­ siegt, die Versöhnung des Menschengeschlechtes ist in ihr vollendet, darum spricht der Herr: „Es ist vollbracht." Aber nicht nur einzelnen Seelen Frieden zu gewähren, war des Erlösers Aufgabe, sondern das Streben seiner Liebe ging aufs Sam­ meln, aufs Vereinigen und Verbinden. Darum spricht er von den Schafen aus zwiefachem Stall (Judenthum und Heidenthum), die er her- und zusammenführen müsse, auf daß Eine Heerde unter ihm, dem Einen Hirten, werde. Darum vergleicht er sich mit der mütterlichen Henne, welche die Küchlein unter ihren Flügeln sammelt. Darum stellt .er die Einheit seiner Jünger mit ihm unter dem Bilde des Weinstocks und der Reben dar, denn durch ihre Einheit mit dem Weinstock sind die Reben auch unter sich selber verbunden, bilden ein in sich geschlosse­ nes, lebendiges Ganze. Darum fleht er im letzten Gebete, daß alle an ihn Gläubigen vollkommen Eins seien. Darum, wie seine Lehre sich bewegt um das Reich Gottes als ihren Mittelpunkt, so ist die Grün­ dung dieses Reiches allein der Gegenstand seines Strebens und Wir­ kens gewesen. Dies Reich in die Menschheit zu pflanzen war das Werk, das ihm sein Vater aufgetragen hatte, nach dem vor allen Din­ gen zu trachten, er deshalb auch die Seinen ermahnt. „Es ist vollen­ det" gewiß, dies Werk seines Lebens, die Pflanzung des Himmelreiches im menschlichen Geschlecht. O wunderbares Wort! Früher waren manchmal Schaaren des Volkes jubelnd um ihn zusammengeströmt, man hatte ihm zugejauchzt und ihn gepriesen, man wollte ihn zum König machen, da aber entzieht er sich ihnen und freuet sich nicht des Sieges, sondern sieht nur vor sich den Kelch, welchen er noch trinken, die Seerose, mit welcher er noch getauft werden muß, die Stunde, vor wel-

218 cher ihm so Langte. Jetzt ist er der am Kreuz Gebrochene, in der Gestalt deS schwersten Verbrecher- Sterbende, jetzt haben ihn alle seine Jünger, auf denen die Hoffnung des sich bildenden Himmelreiche- be­ ruhte, verlassen und verleugnet, jetzt steht die Masse des Volke- ein­ stimmig ihn verwerfend ihm gegeuüber, jetzt sind seine Feinde ihres vollen Triumphes gewiß, sind dessen gewiß, daß mit seinem Tode auch sein Vorhaben vereitelt, sein Werk vernichtet, seine Gemeine von der Erde hinweg getilgt sei. Da grade das Wort des Sieges aus dem Munde des Sterbenden: „Es ist vollbracht," darin sich aufs Kräftigste die Verheißung seines Lebens wiederholt, daß auch die Pforten der Hölle seine Gemeine nicht überwältigen sollten. Wie sehr in jener Stunde das auch ein Wort der Schwärmerei zu sein schien, wie sehr der damalige Anschein wider den Herrn und für seine Gegner sprach; wir wissen aus der Geschichte: Jesus hatte vollkommen Recht. Wie über Nacht trat seine Gemeine mit weltüberwindender Kraft wieder ins Leben und welche Gewalten von außen und innen sie auch bekämpften, sie war nicht wieder von dem Erdboden zu tilgen. Jedem scheinbaren Unterliegen folgten über kurz oder lang neue Siege. Und so wird's fortgehen bis an das Ende der Tage: „Das Reich Gottes muß uns bleiben." Worauf aber beruhte es, daß er, der damals der Aermste, Ohnmächtigste und Verlassenste erschien, im hohen Bewußtsein des Sieges rief: „Es ist vollbracht," welches war die Grundlage seines Sieges? II. Wenn wir zunächst die Vollendung seiner Persönlichkeit ins Auge fassen, so mögen wir keine andere Grundlage auffinden, als sie selbst. Wie der Herr einmal war, so trug er in sich die Gewähr, Alles zu entwickeln, was in ihm ruhte, Alles im Kampfe des Lebens in sich auszubilden, wozu der Vater die Anlagen in ihm gepflanzt hatte. Er hat nichts, was ihm nicht vom Vater gegeben ist. Aber wieder, was ihm gegeben ist, darüber schaltet er mit unverletzter, heiliger Treue, die eben so sehr Treue gegen den Vater, wie Treue gegen sich selber war. Der Vollendung kann ihm nach nur derjenige entgegen gehen, welcher das Pfund das sein Gott in ihn legte, auch treulich verwendet, welcher ringt, in sich selbst das schönste Kunstwerk auszubilden, nämlich

219 ein irdisches Leben von ewigen Gedanken durchzogen und getragen, ein menschliches Leben durch göttlichen Beruf und göttlichen Geist bestimmt. Wie der Herr aber, sich selber treu, im Thun und Leiden sich vollen­ dete, so lag darin auch die Bürgschaft des allein rechten Wirkens nach außen, die Bürgschaft, daß das Gebäude, welches er auszuführen gekommen war, nicht auf trügerischem Sande, sondern auf festem Fels seinen Grund fand und deshalb allen Stürmen trotzend, unerschütterlich fest stehen mußte. Nur einige Blicke auf die Art seines Wirkens.

Das war die Eigenthüm­

lichkeit seines Wirkens, dürfen wir vielleicht bezeichnend sagen, daß es ausging aus der

rechten Höhe und hineindrang

in die rechte Tiefe.

Der Friede und die Seligkeit der Menschen, dem entsprechend nur mehr zusammenfassend, das Himmelreich auf Erden, das Reich Gottes in der Menschheit,

dessen

Grundzüge

der

Apostel ja als Gerechtigkeit,

Friede und Freude im heiligen Geist uns zeichnet, war das Ziel seines StrebenS, in der Begründung desselben sah er die Aufgabe, das Werk seines Lebens.

Diesem Reiche Gottes sehnte mit heißem Verfangen sich

ganz Israel entgegen.

Wo jemaud auftrat, dies Reich irgendwie an­

zukünden, da sehen wir nach der Geschichte auch sofort das Volk auf­ lauschend, aufgeregt, bereit, sich unter den führenden Gesandten Gottes zu stellen.

Aber dies GotteSreich hatte bei fast allen in ihren Vorstel­

lungen eine besondre Gestalt

eben nach

den Wünschen ihres Herzens.

Die heilige Gottesidee hatten sie in sich aufgenommen, aber nicht in ihrer Reinheit, sondern in sittlicher Verzerrung.

Nach ihrem verzerr­

ten Bilde vom Reiche Gottes sollte es auch für sie Gestalt gewinnen und nur in ein solches wollten sie eintreten.

Daher weder an Johan­

nes dem Täufer, noch an Jesu selbst finden sie Gefallen, sondern in kindischem Wesen wenden sie sich von diesen ächten Herolden des Him­ melreiches ab. reich

Hätte der Herr bei seinem Wirken für das Himmel­

irgendwie jenen Bildern und Vorstellungen

in

den Gemüthern

seiner Zeitgenossen nachgegeben, gewiß der äußere Erfolg wäre zunächst ein großer, ein glänzender gewesen.

Er aber wirkt allein heraus auS

der Höhe d. h. wie er sich ausdrückt, er redet nur die Worte, die er vom Vater hört und thut nur die Werke, wie sie ihm der Vater zeigt, er hält rein den Gedanken des Gottesreiches von aller irdischen Ver-

220 unreinigung, bleibt so vollständig in des Vaters Willen und darum stirbt er als der Verlassene und Verworfene am Kreuz.

Mer, m. G.,

hätte er jenen ersten Weg gewählt, wie groß auch der nächste Erfolg gewesen wäre, ein wenig nüchterne Weltbeobachtung und Weisheit hätte ihm sagen müssen, seine menschlich großen Erfolge würden den Weg alles Menschlichen gehen.

Und wäre er äußerlich geschieden als König,

so daß ein Weltreich zu seinen Füßen lag, die Zeit vor ihm hätte ihm gepredigt: „Auch dieses Weltreiches Größe fällt in Trümmer imb sinkt in Staub."

Dagegen in des Vaters Willen geblieben und allein nach

diesem bauend und wirkend, ist er, wie auch Alles darnieder zu liegen scheint, dessen gewiß, daß dies Werk nun und nimmermehr untergeht, hat er auf diesem Grunde die Sicherheit des Sieges und spricht, indem schon das Haupt sich neigen will, ttiumphirend: „Es ist vollbracht." Daß sein Wirken aber so aus rechter Höhe her seinen Ursprung nimmt, hat nothwendig zur Folge, dringt.

daß es auch in die rechte Tiefe

Die unreinen Bilder und Vorstellungen vom Messiasreiche in

den Köpfen der Zeitgenossen Jesu hatten ihren Grund in den unrei­ nen Trieben und Begierden ihrer Herzen, in Ehrgeiz, Habsucht, Stolz, Herrschsucht, Genußsucht.

Wie gewöhnlich ist der Weg, Einfluß, Macht,

Herrschaft in bestimmten Lebenskreisen, über ganze Völker, selbst über Fürsten zu gewinnen, indem klüglich alle die mannichfachen, menschli­ chen Schwächen, Leidenschaften und Sünden berechnet werden, indem man der Eitelkeit, der Lust, der Willkür und Laune, der Habsucht schmei­ chelt oder Gespenster und Schreckbilder für kleinliche Furcht heraufzu­ beschwören versteht.

Ja hätte der Herr sich an das wenden wollen,

was überall auf der Oberfläche des menschlichen Lebens ihm entgegen­ trat, an die menschlichen Leidenschaften und hätte er ihnen irgend wie Befriedigung in Aussicht gestellt, o er wäre für das Volk der rechte Messias nach ihrem Sinn gewesen, sie hätten ihn jubelnd auf den Thron Davids hinaufgeführt.

Aber auf das Entschiedenste ist der

Herr stets davon entfernt geblieben. fläche nicht haften, es sucht die Tiefe

Sein Wirken kann an dieser Ober­ uud dringt in die Tiefe.

Nach

Gottes Bild weiß er die Menschen geschaffen, nach dem Bilde dessen, der da ist das ewige Licht, von dem allein Wahrheit strömt, der da ist

221



der Urborn des Rechtes, von dem alle Gerechtigkeit entspringt, der da ist die unendliche, heilige Liebe und von sich aus in unzähligen Adern durch daS All hindurch sich das LebenSbtut der Liebe ergießen läßt. Er weiß deshalb die Menschheit, wie befleckt sie sich auch zeigen möge, an­ gelegt auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe, weiß in ihr, wie sehr auch gebunden und gehemmt, den Sinn für Wahrheit, Gerechttgkeit und Liebe als ihr Ursprünglichstes, darum auch als ihr Unverlierbares. Dahin, in diese heilige Tiefe allein richtet sich sein Streben, sein Wir­ ken, wie er denn sagt*): „Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme." Freilich, die Frucht seines Wirkens das stets in diese Tiefe drang, war zunächst sein Kreuzestod, wie Aehnliches auch heut noch sich wiederholt, wie immer noch wieder einmal Wahrheit, Gerechttgkeit und Liebe, wenn sie in wirksamen, menschlichen Gestalten sich verkörpern, gekreuzigt, verworfen werden. Aber eben deshalb, weil er so nur in diese Gottestiefe der menschlichen Natur hineingewirkt hatte, darum ist er sich seines Sieges so unerschütterlich bewußt. Grade in diesem Werke gekreuzigt weiß er, daß er auch nothwendig ist der Aufer­ stehende. Es müssen auf sein Wort, auf das schöpferische Wort von seinem Leben, Leiden und Sterben nothwendig die gefesselten Mächte der gottebenbildlichen Menschheit sich lösen. ES müssen in den Gemü­ thern Licht, Leben, Liebe lebenskräftig sich erheben. Ja eS läßt sich Ein­ fluß, Macht, Herrschaft in der Welt durch schlaue Benutzung dessen, was auf der Oberfläche des Lebens als sündliche Leidenschaft dahin treibt, gewinnen, aber das ist und bleibt die jämmerlichste Macht, die kläglichste Herrschaft, die sich denken läßt. Was sie baut, es trägt den Stempel der Vergänglichkeit und Nichtigkeit an sich, sie selbst zerrinnt als Ohnmacht in den Wind. Wohl mag zu Zeiten unterdrückt wer­ den, was an die ursprüngliche sittliche Natur deö Menschen sich wen­ det und aus derselben dann wieder hervorwächst; aber das Licht der Wahrheit vertreibt doch zuletzt die Finsterniß der Lüge, Recht muß doch Recht bleiben und dem fallen zu alle fromme Herzen und die Liebe allein hört nimmer auf, sie überwindet alle widerstehende Gewalt, sie *) Johannes 18, 37.

222 ist stärker als der Tod. Darum der Herr, der aus der rechten Höhe heraus und in die rechte Tiefe hinein wirkte, geht als der Gekreuzigte mit dem Siegesruf aus der Welt: „Es ist vollbracht." Nur der Herr ist vollendet, auf daß wir in ihm vollendet werden. Er hat vollbracht, auf daß auch wir in ihm vollbringen. Er ist siegend aus der Welt gegangen, auf daß durch ihn sein Wort: „Es ist vollbracht" auch unser letztes Wort werde. Wohlan, ihm nach! Möge unser Thun seine Richt­ schnur nehmen aus der Höhe vom Willen des Vaters. Mögen wir selbst, was als Oberflächliches uns fortreißen möchte, die selbstischen Leidenschaften immer mehr abstreifen und nach Befriedigung und Kräf­ tigung suchen für das, was Gott als das Ursprüngliche in uns an­ legte, für Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe. Mögen wir nie auf anderm Grunde einen Einfluß und eine Wirksamkeit auf die Gemüther unserer Nebenmenschen suchen, dann werden unsere Werke in Gott gethan sein, dann werden auch wir durch Gottes Gnade einst gehen können mit dem Siegesruf: „Es ist vollbracht." Das walte an uns die Gnade des Höchsten. Amen.

Der Heimgang des Gekreuzigten. VH.

Passionszeit.

Text: Lukas 23, 46. Und Jesus rief laut und sprach: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände.

Und als er das gesagt,

verschied er. (Geliebte im Herrn, so haben wir sechs Worte unsers Erlösers, vom Kreuz herab gesprochen,

in unsern gottesdienstlichen Versammlungen

betrachtet und in jedem offenbarte sich uns eine Herrlichkeit, wie die des eingebornen Sohnes vom Vater voll Gnade und Wahrheit.

Für

diese unsere Festbetrachtung zur Gedächtnißfeier seines Todes ist uns das letzte Wort noch übrig geblieben: „Mein Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände."

Unmittelbar auf dasselbe erfolgt ja die Sen­

kung des Hauptes, das Brechen des Herzens. schiedswort.

Es ist also das Ab­

Kommt einst uns die^letzte Stunde dieses Lebens, o möchte

dann auch uns dieses Wort gegeben sein, daß es quille aus unserm brechenden Herzen und als ein wahrhaftiges fließe über unsere blassenden Lippen! sein segnen!

er­

Wolle Gott dazu auch unser heutiges Zusammen­

Was ist es aber, das nach unserm Text hent als Gegen-

Lied: Nr. 191.

224 stand für unser frommes Nachdenken sich aufdrängt? Ich meine, es ist der Heimgang

des Gekreuzigten.

Zuerst wollen wir das

Wesen dieses Heimganges uns anschaulich machen, sodann aber beson­ ders erwägen, wie dieser Heimgang des Erlösers der unsere werden kann und soll. I.

Der Erlöser geht mit dem Wort:

„Mein Vater, ich be­

fehle meinen Geist in deine Hände!" aus dieser Welt, und in dem Lichte dieses Wortes erscheint uns sein Gang aus der Welt als sein Heimgang.

Heimgang ist ein Gang in das Heim, in die Heimat.

Heimat schließt in sich den sichernden Schutz und Schirm, ein liebes, trautes Verbundensein, Friede und Freude für das Gemüth durch das Empfangen und Geben der Liebe.

Wie viel des Süßen und Schönen

liegt deshalb in dem Wort, wie spricht darum für das Herz nichts eine gewaltigere Sprache als gerade die Heimat!

Heimatlos sein ist

„unstät und flüchtig" sein, ist das BejammernSwertheste. liche Heimat haben, ist Seligkeit.

Eine wirk­

Hast du sie? —> O wohl dir, wenn

dein eigenes Haus dir in Wirklichkeit eine solche geworden ist!

Wohl

dir, wenn bei jedem Wechsel und jeder Trennung dieses Lebens, nach jedem Hinausgerissensein in den Kampf der Welt, dir die Thür und die Rückkehr zu einer wahren Heimat geöffnet bleibt.

Dreimal selig

du, wenn du bei dem Zerfallen der Hütte deines Leibes, bei dem Abschied von Allem, was in gegenwärtiger Weltgestaltung dich lieb und süß umgab, einer unvergänglichen Heimat gewiß bist.

Wie so vielen will

der AuSgang aus diesem Leben so ganz anders sich darstellen, wie muß er es nothwendig nach ihrer ganzen Auffassung des Lebens, des Seins, der Welt.

Hineinblickend in die Welt, in ihre wechselnden Erschei­

nungen, in ihre unaufhörliche Wandelbarkeit wollen manche nichts An­ deres in ihr erkennen als eine unendliche Menge feinster und kleinster Stofftheile, die in unaufhörlichem Flusse rein nach dem Zufall in un­ begreiflicher Weise sich zusammenballen und wieder zerstreuen, sich trennen und wieder verbinden. der es leitet.

Ein zweckloses Spiel, dazu ohne jeden Spieler,

Ein sinnloses Getreide, ohne jeden Regierer!

Hinein­

blickend in die Welt, in immer wieder sichtbar werdende unerbittlich sich vollziehende Naturgesetze wollen Andere als Grund und Höchste-

225 nichts Anderes erkennen, als ein sich selbst und jeder Vernunft unbe­ greifliches Geschick, dessen herzlosem, starrem, eisigem Walten Alles ver­ fallen ist und verfallen bleibt. Und da ist es vor Allem die tägliche Erscheinung in der Welt, welche wir Tod nennen, auf welche diese zwiefache Art des Denkens sich stützt und zurückgeht. Im Tode behält für letztere dem was blüht, was lebt, was liebt gegenüber diese finstere, blinde, erbarmungslose Gewalt des Geschickes in so gewaltiger Weise Recht, daß ihre Anhänger eben dadurch sich genöthigt glauben, bei diesem blinden Geschick als der ewigen Alles gebärenden, Alles zermalmenden Allherr­ scherin stehen zu bleiben. Im Tode wird für die andere Art des Denkens die Verwesung als Zerfallen, als ein sich Auflösen in unendlich kleine Theile, die in sich bedeutungslos das Spiel regellos brausender Stürme werden, so recht sichtbar und dieses Sichtbarwerden, dieser Schein be­ herrscht nun allein und völlig Sinn und Vernunft. Hat so aber der Mensch sich gegenüber entweder nur die unendliche, wirre, zufällig sich verbindende und wieder sich trennende Masse kleinster Stofftheilchen, oder auf der andern Seite die durch alles Einzelne des Alls hindurchgrei­ fende, Alles bestimmende Gewalt eines blinden, sich selbst unbewußten, aller Gerechtigkeit und Liebe, aller hohen und heiligen Zwecke baaren Geschickes; dann ist er selbst in seinem ganzen menschlichen Sein auch nichts Anderes als entweder ein flüchtig Verbundenes, was eben so schnell wieder bedeutungslos zerstiebt und zerstäubt, oder ein trüge­ risches Scheinbild des Lebens, bestimmt, in kürzester Frist in dem Grabe der Alles verschlingenden Nothwendigkeit unterzugehen. Nach beiden Seiten verlieren Vernunft, Gewissen, Persönlichkeit jede wesentliche Bedeutung, hat das Gute, Wahre, Schöne kein anderes Sein und Le­ ben als die Blume, die heute blüht und morgen verdorrt. Man klagt, daß ein solches Denken nnd eine danach sich bildende Gesinnung dieser jetzigen, gottlosen Zeit angehöre als ihr eigenthümliches Erzeugniß und gerade als ihr eigenstes Eigenthum. Die Wendungen und die Art, worin sich dergleichen ausspricht, mögen neu sein, das Denken selbst, wir möchten es ein gedankenloses Denken nennen, die damit verbundene Gesinnung, sie sind so alt wie Gottentfremdung, Selbstsucht, fleischliches Wesen in der Menschheit, so alt wie die Entwicklung der Menschheit, Thoma», Glaube an Christus. 15

226 von der wir wissen. Wenn die älteste Urkunde unsers Geschlechtewie in Wehmuth sagt *): die Menschen wollen sich vom Geiste Gottes nicht strafen lassen, wenn der Psalmist ruft**): „Die Thoren sprechen in ihrem Herzen: Es ist kein Gott;" so geht das vollständig auf die bezeichnete Art des Denkens und der Gesinnung. Ja allem wirklichen Heidenthum liegt sie recht wesentlich zum Grunde, obgleich durch dasselbe sich auch noch andere Regungen hindurchziehen. Wie aus solcher Sinneöweise mit Folgerichtigkeit das Leben sich gestalten müßte und sich stets gestalten würde, wenn nicht andere sittliche Mächte, welche in der Gemeinschaft wirksam sind, einen Gegendruck, ein Gegengewicht auch auf die Prediger dieses Unglaubens ihnen unbewußt ausübten; davon schweigen wir heute. Aber was kann der Ausgang aus dieser Welt bei denen bedeuten, die solcher Sinnesweise huldigen? Ach das menschliche Gemüth mit seinen unauslöschlichen Bedürfnissen macht sich auch bei den Vertretern solcher die Welt der Gottheit entleerenden An­ schauung geltend. O auch sie lieben es, die schreckliche Gestalt des Todes mit dem Schleier der Schönheit zu umhüllen. Auch sie sprechen davon, daß die Seele im Tode zur Ruhe käme, daß der Mensch im Sterben heimgehe zum Frieden. Wie? Ein Hineingewirbeltwerden aller Theilchen des Menschen in die unendliche stürmische Bewegung, so daß nichts von der Persönlichkeit bleibt, ist das ein Kommen zur Ruhe? Ein Verfallen des denkenden Geistes an die unwiderstehliche Gewalt des unbegreiflichen und des von sich selbst unbegriffenen Ge­ schickes, ist das ein Eingehen in die Heimat, der alle Sehnsucht des Herzens gilt? Im Gegentheil es ist ein Hinausgeschleudertwerden in die kalte, todte Heimatlosigkeit, es ist ein dunkler, nächtiger Gang in das absolute Dunkel, in die absolute Nacht. Hebt aus dieser Finsterniß eure Augen empor zu dem Kreuz auf Golgatha, hört, wie der Gekreu­ zigte aushaucht mit dem Ruf: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!" und ein hohes, heiliges, seliges Licht durchbricht die Finsterniß, bringt den bleibenden Tag herauf. DaS erste Wort, welches *) 1. Mose 6, 3. **) Psalm 14, 1.

227 UNS von Jesu aus seinem Knabenalter aufbewahrt ist, lautet*): „Wisset ihr nicht, daß ich sein muß in dem, das meines BaterS ist?"

Und mit das erste Wort, welches der Herr nach dem vierten

Evangelisten in der Mitte seines Volkes öffentlich lehrend aussprach, heißt**): „Machet nicht meines Vaters Haus zum Kaufhaus." Siehe hinter allen wechselnden Erscheinungen der Welt und über allen Ge­ setzen der Natur erhaben und doch wieder in ihnen gegenwärtig und wirksam weiß er die Gottheit als die selbstbewußte, freie, persönliche, als die Urvernunft, die Alles denkt und trägt mit kräftigem Wort, als die Urheiligkeit, der alles Heilige in der Menschheit entstammt, weiß die Gottheit als Vater, als Liebe.

Und die Gottheit so schauend wird

ihm der Mensch so unendlich viel mehr als die Lilie des Feldes und der Vogel des Himmels, verschwindet ihm der Werth aller Weltschätze gegen die Seele des Menschen!

Im Lichte der Gottheit als der Ur-

persönlichkeit und der Urliebe ist ihm der Mensch, zur freien bleibenden Persönlichkeit bestimmt, trotz all' seiner Flecken, Fehler und Sünden, werth, geliebt und erlöst zu werden.

So endlich als der heilige Men­

schensohn ist' er sich dessen gewiß, durch den Vater das Leben zu haben in ihm selber, selbst das Leben zu sein.

Die freie Persönlichkeit der

ewigen Urpersönlichkeit Gottes, das geliebte Kind dem liebenden Vater gegenüber, so hat er als der heilige Menschensohn sich allezeit gewußt und gefühlt.

Und ob der Tod jetzt auch sein leibliches Leben knickt

und die Bilder der Verwesung seiner Seele vorzaubert, ob diese starre Gewalt des Naturgesetzes sich auch an ihm vollzieht; dennoch, wie im Leben, so auch im Sterben befiehlt er seinen Geist, seine Persönlichkeit, in die Hände Gottes!

Und wenn er zu diesem letzten Ausruf sich

wieder eines Psalmwortes bedient, er setzt hinzu, wandelt damit es um, hebt es auf höhere Höhe.

Der Ausdruck „Vater" gehört nicht dem

Psalmisten, sondern unserm Erlöser.

Mit diesem Ausdruck versenkt er

sich sterbend in die Liebe der Gottheit, birgt vom letzten Kampf des Lebens ermüdet und ermattet sein Haupt an dem Busen des Vaters,

*) Luka« 2, 49. **) Johannes 2, 16.

228 weiß sich durch den Tod so wenig vom Vater geschieden, wie je durch's Leben. — Meine Geliebten, die Evangelisten berichten von einer Fin­ sterniß in der Natur, die sich an drei Stunden während der Kreuzes­ leiden Jesu dort auf das Land gelagert habe, und nach ihren Berichten hat während dieser finstern Stunden der Herr wohl wenig oder nichts gesprochen. hüllt?

War da auch seine Seele mit Nacht und Finsterniß um­

War er herausgefallen aus dem Lichte der Liebe des Vaters,

hineinversunken in das Verzagen an dem Gott der Weisheit und Liebe? Wären die letzten Worte, namentlich das unsere und das: „Es ist voll­ bracht," uns nicht aufbehalten, wir könnten darüber im Zweifel sein. Aber nun haben wir das Zeugniß, auch in den finstersten Stunden ist der Sohn in des Vaters Schooß geblieben und hat des Vaters Friede in seiner Seele gewohnt.

Es geschieht an Sommertagen wohl,

daß am hohen Mittage schwere Gewitterwolken heraufziehen, sich vor die Sonne lagern, zuletzt sie ganz verhüllen und jeden Lichtstrahl abschneiden. Wer das zum erstenmal erlebte, ohne von den Gesetzen solcher Erschei­ nungen zu wissen, der könnte meinen, die schwarzen Wolken hätten die Lichtnatur der Sonne aufgezehrt und vernichtet.

Aber plötzlich am

Abend bricht sie hinter dem Gewölk noch einmal siegreich in ihrem vollen Glanze hervor, selbst den Rand der schwarzen Wolken mit Purpur­ streifen umsäumend, und sinkt so in voller Herrlichkeit herab, dadurch mit Gewißheit ihr Wiederkommen in gleicher Majestät für den folgen­ den Tag verkündend.

Solcher Untergang müßte es dem Unkundigen

auf's klarste sagen: Auch als die Wolken vor dem himmlischen Gestirn sich lagerten und dasselbe unsern Blicken entzogen, war es in sich selbst doch das volle Licht, hatte es in sich selbst die vollste Herrlichkeit.

So

auch für die dunklen Stunden, in denen kein Wort aus des Gekreu­ zigten Munde kam, bürgt uns sein Abschiedsgruß, daß er ungetrübt geblieben war das Licht der Welt!

Ihm, der sterbend sprach: „Vater,

in deine Hände befehle ich meinen Geist," war der Tod gleich dem Sonnenuntergang, der eigentlich zugleich Sonnenaufgang ist, war sein Abschied aus dieser Welt der selige Heimgang in die Verklärung beim Vater.

So hat er als der Fürst des Lebens den Tod überwunden,

auf daß er auch von uns des Todes Gewalt nähme, ans daß auch wir

229

seines Lebens theilhaftig würden. Da kommt es darauf an, daß wir uns für unsern dereinstigen Abschied seinen Heimgang aneignen und wir fragen also jetzt noch: Wie geschieht das? n. Auf die Frage, wie wir uns die Kraft des Todes Christi aneignen können, also daß auch unser Ausgang aus dieser Welt unser Heimgang werde; antwortet die heilige Schrift unbestritten: „Durch den Glauben," und zwar durch den Glauben an Christus. Aber wir wissen auch, wie viel Mißverständniß und Mißbrauch sich gerade mit diesem Ausdruck: „Glaube an Christus" so oft verknüpft, wie viel Selbsttäuschung aus solchem Mißverständniß oft erwächst. Hören wir darum den Erlöser einmal, wie er in scheinbar dunkler Rede darüber spricht; so Gott will, wird gerade durch diese uns lebensvolle Klarheit. Der Herr weist in jener wohlbekannten Rede *), an die Versammelten in der Synagoge zu Capernaum gerichtet, hin auf eine Speise und einen Trank, die zum ewigen Leben nähren. Diese Speise und dieser Trank seien sein Fleisch und sein Blut und zwar so, wie er sie hin­ gebe für das Leben der Welt. Wer dieses sein in den Tod zu geben­ des Fleisch essen werde, der werde leben in Ewigkeit, während man ohne solch' Essen kein wahres Leben in sich trage. Was will das sagen? An jenes sogenannte capernaitische Mißverständniß, d. h. an das buchstäbliche, fleischliche Verständniß dieser Worte hält sich doch wohl keiner mehr. „Das Fleisch ist kein nütze," sagt Jesus bei sel­ biger Gelegenheit, seine Worte sind „Geist und Leben." Ist das also geistig zu deuten, so kann der Herr doch nur sprechen von einer gei­ stigen Aufnahme seines eigentlichen Lebens, wie sich dasselbe in seiner ganzen Kraft, Reinheit und Herrlichkeit gerade in seinem Versöhnnngstode für die Welt bewährte. Essen müßt ihr mich, wie das vom Him­ mel euch gegebene Brod, d. h. wie ihr leiblicher Weise das Brod esset, daß es in euch wird euer eignes Fleisch und Blut, Kraft und Wesen eures Lebens; so müßt ihr mich, mein Leben in euch aufnehmen, daß es wird das Leben eures inwendigen Menschen, oder daß ihr lebet in mir und ich in euch. Ja ein Aufnehmen des Lebens Christi, wie er es *) Johannes 6, 48 — 63.

230 gelebt und hingegeben hat für das Leben der Welt, das ist es, was der Heiland selbst, was Paulus und Johannes im höchsten und eigentlichsten Sinne des Wortes „Glauben an Christus" nennen. — So blicken wir von dem Wort „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände" noch einmal auf die früheren Worte vom Kreuze herab ge­ sprochen und damit mittelbar auf das ganze frühere Leben Jesu zurück. „Es ist vollbracht," das vorletzte Wort des Herrn hatte nach unserer letzten Betrachtung das ganze Werk seines Lebens im Auge.

Bis in

die letzten Augenblicke hat der Erlöser sich allein dem ihm vom Vater aufgetragenen Werk und Beruf der Stiftung des Himmelreiches auf Erden mit aller seiner Kraft gewidmet, hat es von Anfang an bis in die letzten Augenblicke zu seiner Speise gehabt, zu thun den Willen dessen, der ihn gesandt hat.

Darum aber, wie das Wort:

Eli, Eli,

lama asabthani uns belehrte, hat er zugleich alles Leiden als den Kelch aus des Vaters Hand ihm gereicht mit Ergebung trinken und auf jede klagende Frage, die das Herz aussprechen wollte, sogleich die stillende, beruhigende, beseligende Antwort von oben her nehmen können. aber, in

Wie

welchem Sinn und Geist er des Vaters Willen stets voll­

brachte und in dem Werke seines Berufes gearbeitet hat, dafür zeugten die Worte:

„Vater, verzieh ihnen, sie wissen nicht, was sie thun."

„Mich dürstet,"

„Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im

Paradiese sein,"

„Siehe, das ist dein Sohn, siehe, das ist deine Mutter."

Die Liebe hat sich darin bekundet als die Alles durchziehende, erfüllende, regierende Kraft seines Lebens, diese Liebe hat sich

auf's Vollste be­

währt und vollendet in seiner Hingabe, an seinem Kreuz, die Liebe, welche allem Haß gegenüber sich selbst festhält und selbst vom Haß den Liebesdienst erbittet, die Liebe, die jedem aus der Tiefe Rufenden die rettende und erlösende Hand darreicht, die Liebe, welche den Ihrigen Treue hält bis an das Ende.

So in des Vaters Beruf, so in der

Uebung der Liebe bis in den Tod beharrend, konnte er scheiden mit dem Wort:

„Mein Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände,"

war ihm sein Ausgang aus diesem Leben sein seliger Heimgang zum Vater.

Wie er so in seiner Berufstreue gegen den Vater, in seiner

Liebe gegen die Menschen sich opfert, so auch ist er das Brod das vom

231 Himmel gekommen ist, so ihn essen und trinken, das wird, wie es das Leben neu macht und heiligt, auch die Kraft und den Frieden für den AuSgang aus dem Leben gewähren.

Sehet da, meine Geliebten, wer

in seinem Leben nicht achtet den heiligen Beruf, wie denselben Gott durch das Gewissen, durch seine Offenbarung in der Schrift und in der Welt ihm vorzeichnet, wer sich dagegen regieren und bestimmen läßt durch das Fleisch und seine Lüste, durch das, was als Stoff in fortwährendem Sichauflösen und Sichverbinden begriffen ist, dem muß dieser zusammenhanglose Stoff sein Götze "werden, der muß ihm ver­ fallen, dem erscheint sein Ausgang aus der Welt nothwendig als eine Auflösung in die Unendlichkeit fühlloser, nichts denkender Atome.

Und

wer in seinem Leben keinen Raum der Liebe ließ, sondern der kalten, todten und tödtenden Selbstsucht sich ergab, dem muß diese Selbstsucht als Regentin seines Herzens sich zum herzlosen Alles niedere und hö­ here

Leben

in

seine

Erstarrung hinabreißenden

Geschick. erweitern.

So weit man nicht kennt Gewissenhaftigkeit im Beruf, Liebe im Leben, so weit kann man auch nicht haben Trost und Friede im Tode, so. weit kann der Ausgang aus der Welt nicht ein Heimgang sein, son­ dern ein Verfallen an trostlose Heimatlosigkeit. Apostel ruft*):

Meine Geliebten, der

„Er (Christus) ist darum für alle gestorben, auf daß

die, so da leben, hinfort nicht ihnen selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist."

Das Wort hängt nothwendig zu­

sammen mit allem Trost, den wir für's Sterben aus Jesu Tod schöpfen. Wohlan, durch Christum sei und werde immer mehr rein, klar, stark das Gewissen in unserer Brust, daß durch dasselbe und mit demselben wir stets an den unö vorgezeichneten Pflichten halten und immer treuer werden in der Erfüllung derselben, in dem Wirken, so lange e8. Tag für uns bleibt.

Durch Christum

strahle

die Liebe immer mehr in

unser Gemüth hinein, daß wir in derselben geistig und leiblich zu dienen bereit bleiben jedem, der unser bedarf, daß sie in Sorge und Für­ sorge sich an allen bethätige, die Gott uns näher stellte und verband, daß sie in edelster Weit- und Hochherzigkeit durch Versöhnlichkeit und

*) 2. Kor. 5, 15.

232 Vergebung die feurigen Kohlen auf das Haupt derer fammlen, die uns verletzten.

Nur, wenn wir in dieser Weise Christum essen, dann wird

unS das geistige Auge hell bleiben, daß wir durch

den Strom des

Wandelbaren in der Welt und hinter den starren, unerbittlichen Ge­ setzen der Natirr die ewige Urpersönlichkeit Gottes, die heilige Ur- und Allliebe des Vaters schauen.

Nur dann wird es uns eben so gegeben

sein, in uns selbst die gottebenbildliche, ewige Persönlichkeit festzuhalten, nur dann wird in dieser lebendigen Gemeinschaft mit Christo auch für uns der Tod verschlungen sein in den Sieg.

Essen nnd Trinken das

Fleisch und Blut des Menschensohnes, in kraftvollem Glauben sein hei­ liges Leben sich aneignen, das nimmt dem Tode den Stachel, das macht den Ausgang aus der Welt zum seligen Heimgang, dadurch wird für die Sterbestunde der scheidenden Seele Christi Wort gewonnen: „Mein Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!"

Amen.

Die rechte Ofterstimmung schließt in sich Wehmuth und Freude. I. Ostern.

Text: Apostelgeschichte 3, 15. Aber den Fürsten des Lebens habt ihr gelobtet; den hat Gott auferweckt von den Todten, deß sind wir Zeugen. beliebte Freunde, die Nacht ist vergangen der Tag ist herbeigekommen, die Finsterniß ist verschlungen vom strahlenden Glanze des hellsten Lichtes, Traurigkeit und Schmerz ist verwandelt in selige Freude, so lautet es heut am Osterfeste, das klingt auf mannichfachste Weise ans dem alten, immer neuen Wort uns entgegen: „Christus ist wahrhaftig auf­ erstanden." Ja wie Alles, was an Schmerz und Wehmuth das Chri­ stenthum erzeugt und in sich birgt, wie das unter unsern Festen seinen vollsten Ausdruck am Charfreitag findet; so alle Freude und alles Jubeln, durch Gottes Gnade in Christo in der Jünger Seelen gelegt, es findet unter den christlichen Festen seine lebenvollste Darstellung in Ostern. Demnach liegen das Fest tiefster Wehmuth und das Fest höchster Freude für uns nah an einander, ein Zeichen und Zeugniß, wie überhaupt im Christenleben Freude und Schmerz, Wehmuth und himmlische Lust oft aneinander grenzen. Aber es besteht nicht nur das Lieder: Nr. 46.

222.

228, 6.

234 Nebeneinander der Traurigkeit und der Freude; sondern auch ein In­ einander.^ Der hätte Charfreitag und die Tiefe seines Ernstes nie wahr­ haft begriffen, der hätte nie die wehmüthigen Stimmungen, wie sie aus Jesu Todesleiden seinen Jüngern kamen, sich angeeignet, der nicht hindurchgefühlt hätte seligen Trost, himmlischen Frieden, dem in dieser Wehmuth nicht die Freude keimte und erwuchs.

Aber umgekehrt giebt's

keine wirklich selige Osterfreude, die nicht auf dem Grunde des Ernstes vom Charfreitag her ruht, die nicht innig mit der göttlichen Traurig­ keit, zu der Jesu Leiden die Menschheit erweckt, zusammenhängt.

Wie

wir darum am Charfreitag schon das Herz zur Osterfreude erheben; so durchziehen in Ostern uns noch Charfreitagsstimmungen. spricht unser kurzes, inhaltreiches Texteswort.

Dem ent­

Wehmuth und Freude

ist nach demselben in einander verschlungen und beide fordern in und mit einander ihr Recht für unser Fest.

Wir blicken dem ent­

sprechend am offnen Grabe des Erlösers heut einmal rückwärts, hinein in das, was dahinten lag, wir schauen vorwärts in das, was werden sollte, was geworden ist und alle Tage werden wird. wird mehr die christliche Wehmuth, im

Im ersten Theile

zweiten mehr die christliche

Freude die ihr gebührende Geltung finden. I.

Gilt heute des Paulus Wort *): Christus ist auferwecket durch

die Herrlichkeit des Vaters; so, wenn wir rückwärts schauen, ist we­ nigstens die geschichtliche Grundlage dafür das Petrinische Wort in unserm Text:

„Den Fürsten des Lebens habt ihr getödtet."

Wird aber Christus genannt der Fürst des Lebens; so geschieht das im Gegensatz zu dem übrigen menschlichen Geschlecht vor ihm, ohne ihn.

Sein Fürstenthum wird ja

müssen.

ein Fürstenthum

des Lebens sein

Aber er fand das Leben' nicht in der Menschheit, er wollte es

erst bringen, erst in ihr gründen, in sie hineinpflanzen.

Das Geschlecht

der Menschen ohne ihn besteht demnach aus Kindern des Todes.

Dem

entspricht es, wenn der Verfasser des Hebräerbriefes von den Men­ schen ohne Christum sagt**), sie müssen aus Furcht vor dem Tode im ganzen Leben Knechte sein, wenn Paulus ganz im Allgemeinen den *) Römer 4, 4. **) Hebräer 2, 15.

235 Tod als der Sünden Sold bezeichnet *).

Erwägen wir das ein wenig

genauer, indem wir uns an das Wort eines großen, alten Kirchen­ lehrers anschließen, nach welchem er dieses Leben, und das kann eben nur das sein,

welches wir das natürliche zu nennen gewöhnt sind,

nämlich das Leben ohne die Gemeinschaft mit Christo,

außerhalb der

erlösenden, göttlichen Gnade, den lebendigen Tod und das todte Leben nennt.

Was ist der Tod für den Menschen, was ist das Leben? Ist

der Tod im eigentlichen Sinne die Auflösung dieses Leibes?

Dann

sind wir beständig im Tode, wie umgekehrt auch das Leben nicht auf­ hört.

Die irdischen Stoffe dieses Leibes wechseln und wandeln

ohne Aufhören.

sich

Fortwährend giebt ab dieser Körper an die ihn Um­

gebende Welt.

Was aber auch abgegeben wird, es ist oder bleibt nicht

todter Stoff.

Irgendwie kehrt es zu seiner Zeit in das Gebiet des

Lebens zurück und tritt unter die Herrschaft des Lebens.

Das Leben

für die Menschen ruht aber vielmehr in der selbstbewußten, freien Per­ sönlichkeit des Geistes.

Diese freie Persönlichkeit

ist

nicht aus

sich

selber und durch sich selber, sondern ist aus der ewigen Urpersönlichkeit, aus Gott.

Das rechte Leben des Menschen kann darum auch allein

ein Leben aus Gott und in Gott sein, kann nur sein ein Leben in der Menschheit und für die Menschheit, sofern dieselbe mit göttlicher Eben­ bildlichkeit geschmückt zu einer großen Familie der Gotteskinder bestimmt ist, kann nur sein ein Leben in der natürlichen Welt, sofern diese die Stätte der ewigen Gottesoffenbarung ist und Gottes Ehre verkündet, von der Gottes Güte voll ist und in der Regierung der heiligen Gottes­ weisheit schwebt.

Das wahre menschliche Leben ist das Leben der be­

trachtenden und thätigen Anbetung Gottes im Geist und in der Wahr­ heit, das Leben in der heiligen, innigen Liebe zu den Menschen als zu Gotteskindern, in der Freude und der Ergebenheit in Beziehung auf Alles, was dieser Welt angehört, in der Freude und Ergebenheit, die den Charakter der Gottseligkeit trägt.

Wie hatte sich aber die Mensch­

heit bis auf Christum hin entwickelt?

Im Heidenthum hatte der Un­

glaube mächtig um sich gegriffen und was vom Glauben geblieben war,

*) Römer 6, 23.

236 es war Wahn- und Aberglaube.

An der Stelle der Liebe zu den

Nebenmenschen waltete mit ungescheuter Frechheit die Selbstsucht oft in ihren widerwärtigsten Gestalten.

In Beziehung auf die Welt gab's

wohl eine Weltlust, die oft im vollsten Rausche, oft in tiefster Gemein­ heit sich darstellte; aber eben nur die Welt als Welt wurde geliebt, und darum trat in die Stelle der Lust am Ende der Haß gegen die Weltordnung, weil diese zuletzt dem Frevler Jammer, Weh und Ver­ wesung zeigt; dagegen fehlte völlig die Gottseligkeit in der Freude und int Weh.

Un- und Aberglaube, Weltlust und Weltverzweiflung zehrten

an dem eigentlichen Leben der Menschheit, darin offenbarte sich der lebendige, der immer weiter um sich fressende Tod.

Diesem lebendigen

Tode wehrte im Großen und Ganzen auch der Iahvehglaube in Israel nicht, da er meistentheils in äußerlicher pharisäischer Satzungsgerechtig­ keit verknöchert war, in gottentfremdetem geistlichem Stolz sich verderbte. Das todte Leben, drückt sich jener Lehrer der Christenheit aus. Ein Leben bildeten freilich die heidnischen Völker aus, dort bei den Griechen das in Schönheit und Kunst, in Forschen und Wissenschaft, hier bei den Römern das in welterobernder Tapferkeit, in Rechtsord­ nungen und Gesetzen als Grundlagen aller Gemeinschaft und Verkehrs.

alles

Aber hier wie dort fehlte die heilige Verbindung mit der

ewigen Gottheit, fehlte die Liebe, fehlte die gottselige Betrachtung und Nießung der Welt,

darum es fehlte

das

Leben des Lebens.

Es

war die Kunst und das Wissen bei den Hellenen, die Kraft und der Rechtssinn bei den Römern, es war selbst die veräußerlichte, verknö­ cherte Gottesanbetung in Israel nur die trügerische Röthe auf den Wangen des Schwindsüchtigen, kein Zeugniß des gesunden Lebens, son­ dern eines Lebens, das dem Tode angehört. Welt ein todtes Leben.

Jenes Leben der alten

In diese Menschheit ist nach dem Rathschluß

des Gottes, der ein Gott nicht des Todes, sondern des Lebens ist, als die Zeit der Vorbereitung erfüllet war, Christus eingetreten, der hei­ lige Mensch.

Siehe in ihm das reine, volle Leben der freien gotteben­

bildlichen Persönlichkeit, in ihm die lebendige Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit, die tiefe Liebe zu den Menschen als den ver­ irrten und wiederzufindenden Gotteskindern,

in ihm die Gottseligkeit

237 bei Freud und Leid der Welt. So aber ist

Er war und ist deshalb das Leben.

er in die Menschheit getreten,

um

der Anfänger

und

Vollender dieses neuen Lebens nicht für sich, sondern für die Menschen überhaupt zu sein.

So wird er der Menschheit das Licht der Welt,

daß, die ihm nachfolgen, das Licht des Lebens haben.

So bringt er

in seiner Rede, in seiner Selbstoffenbarung die Worte des ewigen Le­ bens, daß wer sein Wort höret und glaubet an den, der ihn gesandt hat, daß der auch das ewige Leben hat.

Kommend in die Welt ist er

stark für die, so ihn aufnehmen, und dadurch das Recht der GotteSkindschaft empfangen, den lebendigen Tod zu vernichten und das todte in das lebendige Leben zu verwandeln.

Aber dem Fürsten des Lebens

gegenüber nimmt die Menschheit die feindseligste Stellung ein.

Kaiphas

und Pilatus im Namen des Judenthums und Heidenthums, im Namen der ganzen Menschheit schlagen ihn an's Kreuz, gleichsam ihrer letzten Lebenskräfte sich entleerend, gleichsam krampfhaft im Gegensatz zu diesem Leben aus Gott festhaltend das todte Leben, den lebendigen Tod.

Aber

nicht allein die Menschheit, wie sie im Großen und Ganzen dem Menschen­ sohn sich feindlich gegenüber gestellt hatte, stieß das neue, wahre Leben da­ mit von sich.

Auch der damals so kleine Bruchtheil des menschlichen Ge­

schlechtes, die Jünger Jesu, wurden durch jene That wieder des Lebens­ fürsten beraubt, auch sie schienen aus dem Himmelreich wieder in das todte Leben, in den lebendigen Tod verstoßen zu sein.

Freudig und selig hatten

die Jünger in Jesu den Heiland erkannt, hatten ihn gepriesen als den Christ Gottes, als den, von dem ihnen die Worte des Lebens kamen. Nun ist der Lebensfürst getödtet, nun ist für sie dahin die Hoffnung auf die Erlösung Israels.

Mit Christo ist ihnen das Leben gekreuzigt,

ist ihnen das Heil begraben.

Der Hirt war geschlagen, die Heerde

wurde zersprengt hinein in die Wüste des Todes. des Lebens habt ihr gekreuzigt!"

„Den Fürsten

O daß dies Wort nicht noch

heute als bittere Schmerzensklage, als schwere Anklage vor Gott durch die Christenheit hindurchklänge!

Nicht so, wie's Petrus aussprach, daß

die Angeklagten außerhalb der Gemeine Jesu standen; sondern so etwa, wie einst Paulus zu der Gemeine in Galatien sprach*): „O ihr un*) Galater 3, 1.

238 verständigen Galater, wer hat euch bezaubert, daß ihr der Wahrheit nicht gehorchet?

Welchen Christus Jesus vor die Augen gemalet war

und jetzt unter euch gekreuzigt ist." malt als der Lebendige

Bor die Augen ist Christus ge­

der gestimmten Christenheit,

besonders der

evangelischen Gemeine durch das lebendige Gotteswort, vor die Augen gemalt, wie er die Anbetung im Geist und in der Wahrheit, die mit­ fühlende, thätige Bruderliebe, die Gottseligkeit vom Himmel auf die Erde, aus der Gottheit gewissermaßen in die Menschheit hineinträgt. Siehe die Sklaven des Stoffes, die knechtischen Anbeter der Materie, der reinen Sinnlichkeit, wie sie dem Unglauben fröhnen!

Siehe die

Knechte des Buchstabens und des Gesetzesdienstes, der äußern Werk­ gerechtigkeit, wie sie unter dem Namen des Glaubens von Wahn- und Aberglauben erfüllt sind!

Siehe die Macht der Selbstsucht, wie sie

bei so vielen Herz und Gemüth besitzt und in Geiz, in weltlichem und geistlichem Stolz verhärtet!

Siehe, wie in so vielen die Weltlust als

solche keine Freude an Gott, weder an seiner Herrlichkeit in der Schöpfung, noch an seiner Gnade in der Erlösung, noch an seiner reichen Güte in des Lebens Führungen aufkommen läßt!

Sie alle

rufen thatsächlich, den lebendigen Tod und das todte Leben in sich fest­ haltend: „Hinweg mit dem, der sich das Leben nennt!" es, an die das klagende und anklagende Wort ergeht: des Lebens habt ihr getödtet.

Sie alle sind Den Fürsten

Mit dieser ernsten Anklage, nicht

nach Außen, sondern recht in das Innere, d. h. in das eigene Herz und Leben hinein!

Hat jenes Wort gar keinen Bezug auf uns?

Die

Frage ist die andere: Haben wir durch Jesu Leben, Wort und Geist in Folge unserer lebendigen Sehnsucht uns erfüllen und durchströmen lassen von der Anbetung im Geist und in der Wahrheit, von der hei­ ligen Liebe, von der Gotffeligkeit im Weltgenuß und Weltschmerz? So weit es nicht der Fall, fällt ein dunkler Schatten der Anklage auch mit auf uns.

Ist das der Fall, so muß diese Anklage uns mit Traurig­

keit erfüllen.

Aber wir wehren dieser Traurigkeit nicht, sie ist die

göttliche, welche das Leben, welche die Freude gebiert.

Als die Jünger

in dieser Traurigkeit klagten, ihnen sei der Herr genommen, als sie mit dem Schmerz der Liebe nach ihm sich sehnten, siehe da trat er zu

239 ihnen und erfüllte sein Wort *): „Ich will euch wieder sehen und euer Herz soll sich freuen und eure Freude soll niemand von euch nehmen." II. Für alle, die den Jüngern gleich mit liebendem Herzen die Ge­ meinschaft Jesu begehren, ist es das Wort des Trostes, der Freude und der Seligkeit: Diesen getödteten Fürsten des Lebens hat Gott aufer­ wecket. Gott hat es an's Licht gebracht, daß gerade die Dahingabe in den Tod die vollste Kraft des Alles überwindenden Lebens war, daß gerade der von der Menschheit Gekreuzigte das Opfer der Gottheit an und für die Menschheit ist und bleibt, daß gerade durch den Tod hin­ durch er Leben und unvergängliches Wesen an's Licht bringt. Unglaube und Aberglaube haben den Heiligen Gottes getödtet. Siehe er lebt, der todt war und siegreich gehet von ihm und durch ihn aus Anbe­ tung Gottes im Geist und in der Wahrheit. Auferwecket ist Christus und durch ihn bildet sich die Gottesgemeine, das Gottesvolk auf Erden. Die Selbstsucht hat Christum als einen Fluch am Kreuz erhöht, Gott hat ihn auferwecket. Nun ist er es, durch den das Gefilde der Todten­ gebeine wieder voll wird lebendiger schöner Gottesmenschen, durch wel­ chen heilige, vergebende, dienende Liebe ausgegossen wird in die Herzen, daß aus ihm, dem ewigen Haupte, gleichsam der heilige Leib hervor­ wächst, an welchem die ächten Jünger als Glieder ihre Gaben ver­ wenden zum gemeinsamen Nutzen. Die schnöde Weltlust in den Massen des Volkes und in dem genußsüchtigen römischen Landpfleger hat den Fürsten des Lebens in's Grab gestreckt, Gott hat ihn auferwecket. Nun durchströmt von ihm her die stille, selige Freude die Seinen, wenn ihnen aus den Gütern dieser Welt die Stimme des Vaters tönt**): „Alles ist euer." Nun kommt von ihm her den Seinen die getroste Ergebung, wenn in schweren Tagen durch bittere Schmerzen ihnen die väterliche, göttliche Zusage hindurchkliugt ***): „Denen die Gott lieben müssen alle Dinge zum Besten dienen," und: „Die Leiden dieser Zeit sind nicht werth der Herrlichkeit, die an uns soll offenbaret werden." Gott hat ihn auferwecket; so wird er als der verklärte, verherrlichte *) Johannes 16, 22. **) 1. Korinther 3, 22. ***) Römer 8, 28 und 8, 18.

240

Fürst des Lebens auch sein Werk in aller Zeit zum Siege führen; so wird er, wie die einzelnen Seelen aus den Banden des lebendigen Todes lösen und mit seinem Leben erfüllen, so auch die Familie, die kirchliche Gemeine, die Volksgemeine mit dem neuen Geist der Le­ bens durchdringen, die sittliche Fäulniß aufheben und neues bleibendes Heil stiften. Wohl hat eben in der geschichtlichen Entwicklung der kirch­ lichen Gemeinschaft sich oft unter christlichem Namen und kirchlichen Formen wieder das todte Leben und der lebendige Tod weit verbreitet. Aber wie damals aus dem Grabe der Herr mit dem Lichte der Mor­ gensonne erstand, so ist er, wie das Licht des göttlichen Wortes wieder aufging, auch stets in der Christenheit wieder als der auferstandene Fürst des Lebens mit wirksamer Kraft hervorgetreten. Läuternde Gottes­ kräfte haben die Gottesdienste gereinigt, haben getilgt den pharisäischen Sauerteig der äußern Werk- und Satzungsgerechtigkeit, haben die Ver­ weltlichung der Kirche und Gemeine, ihr Schwelgen und Trunkensein in Weltmacht und Weltlust gerichtet, haben hineingeleitet in die Ge­ rechtigkeit aus dem Glauben, in die innerliche Aneignung seines gott­ menschlichen Wesens und Lebens. So wird, wenn und wo das Evan­ gelium von ihm verkündigt wird, er als der ewige Fürst des Lebens, wahres Leben, aus der Gottheit selbst geschöpft, in die erlöste Gemeine sich ergießen lassen. Gott hat ihn auferwecket, auf daß er in ihm auf­ erwecke alle aus dem lebendigen Tod und dem todten Leben in das ewige Leben. — Wir sind deß Zeugen, sagt der Apostel, gerade wie der Herr es voraus erklärt hatte*): „Und ihr werdet auch zeugen." Aber waren sie Zeugen, wie von einer vor ihren Augen geschehenen, doch ihnen äußerlichen Geschichte? Nicht also, sondern von dem, was sie als eigenste Erfahrung in ihrer Seele mit sich trugen, von dem, was das Leben ihrer Seelen geworden war. Er war ihnen aufer­ standen, er hatte ihnen seinen Geist und in seinem Geist seinen Frie­ den und seine Gerechtigkeit mitgetheilt, er hatte sie mit seinem Leben erfüllt, daß Paulus spricht**): „Ich lebe nicht mehr, sondern Christus lebet in mir." Wir sind deß Zeugen. In ihren Worten lag zugleich *) Johannes 15, 27. **) Galater 2, 20.

241 ihr Neben, mit ihrem Wort setzten sie fortan für den Fürsten des Le­ bens ihr Gut und Blut ein, standen ihm und seinem Reiche stets als willige Opfer bereit.

So traten sie hinein in die Welt, durch den

Fürsten des Lebens von jüdischer Enge und heidnischer Weite erlöst, und doch zugleich den Juden Juden, den Griechen Griechen werdend, um ihnen insgesammt in der Liebe das ewige Leben anzudienen, um so mit ihrem Glauben die Welt zu besiegen.

Ja das war ihre selige

Freude, daß sie kraft des auferstandenen Erlösers auch im Tode des ewigen Lebens gewiß blieben, daß auch unter den heftigsten Stürmen und Verfolgungen sie fest darin gewurzelt waren, auch die Pforten der Hölle könnten die Gemeine Christi nicht vernichten.

Schwach waren

sie alle gewesen, alle gewichen; aber die Liebe und Sehnsucht nach dem Heiligen Gottes war nicht geschwunden, damit auch nicht das Verlangen nach dem Reiche Gottes, der Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit. So blieben ihre Seelen für die Offenbarung des Auferstandenen em­ pfänglich, so konnte durch ihn, der den Tod überwunden hat, das Leben in sie dringen, so wurden sie stark mit Wort und That, mit Leben und Tod seine Zeugen, die Zeugen des Lebens zu werden.

„Wir sind

deß Zeugen," das ist nicht allein ein Wort der Vergangenheit, sondern der beständigen Gegenwart in Christo.

Wie ist es mit den evange­

lischen Berichten über die Auferstehung Jesu eine so Sache!

eigenthümliche

So einstimmig die Thatsache bezeugt, und doch so manches

Widersprechende im Einzelnen!

So fest die Zuversicht: „Er ist wahr­

haftig auferstanden und uns erschienen," und doch so geheimnißvoll sein Erscheinen, fein Kommen und Gehen!

Darum auf der einen Seite,

der Zweifel, die Leugnung glaubt sich nirgend so berechtigt wie hier; auf der andern Seite hält der Glaube dafür, keine besser und sicherer beglaubigte Thatsache in der Geschichte zu kennen als die Auferstehung des Herrn!

Alle treue gewissenhafte Forschung in Ehren.

Aber an

ihrer Hand allein wird man nie über ein gewisses Schwanken bald mehr nach rechts, bald mehr nach links, hinaus kommen.

Aber hat

der heilige Menschensohn unsere Seelen an sich gezogen, daß wir gleich­ sam mit ihm gegessen und getrunken haben, d. h. daß wir liebend und verehrend ihn ans seinem Lebenswege im Geiste begleiteten, liebend und Thoma», Glaube an Christus.

16

242 verehrend sein Thun und Lehren betrachteten, haben wir uns mit auf­ geschlossenem Gemüth in die Art seines Leidens und Duldens, in seinen Tod auf Golgatha versenkt, siehe das geschichtliche Zeugniß wird ein lebendiges, göttliches in unsern Seelen, an und in uns offenbart der Auferstandene seine Geisteskraft und sein ewiges Leben.

„Der Herr

ist wahrhaftig auferstanden," jubelt es in unserm Innern und klingt es von unsern Lippen.

Wir sind deß Zeugen; denn uns erhebt er

hinein in die Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit, in un­ sere Herzen gießt er aus seine Liebe, die stärker war und ist als der Tod, uns erfüllt er mit der Freude der Gottseligkeit an dem Walten Gottes in der Welt und ihrer Regierung, uns macht er die Hoffnung fest in der Brust, daß das Himmelreich von ihm gegründet, siegreich in der Menschheit sich verbreitet und allen widerstrebenden bösen Mächten gegenüber immer mehr Herzen sich gewinnt, immer mehr Finsterniß und Sünde und Tod überwindet.

Den Fürsten des Lebens, den

ihr getödtet habt,'so sprechen wir allem ungöttlichen Wesen inner­ halb und außerhalb der Kirche gegenüber, ob es sich als offenbare Gottlosigkeit oder als Frömmelei, Heuchelei, priesterliche Herrschsucht und dergleichen zeige, den hat Gott anferwecket, deß sind wir Zeugen.

So wird auch unter uns des Herrn Vornehmen durch feine

Hand fortgehen und unsere Osterwehmuth geht auf und über in selige Osterfreude!

Gott sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch

unsern Herrn Jesum Christum.

Amen.

Die Herrlichkeit Gottes in der Auferweckung Christi. II. Ostern.

Text: Apostelgeschichte 3, 15. Aber den Fürsten des Lebens habt ihr gelobtet; den hat Gott auferweckt von den Todten, deß sind wir Zeugen. üDieg Wort des Petrus, meine andächtigen Freunde, hat gestern un­ serer andächtigen gemeinsamen Betrachtung züm Grunde gelegen. Haben wir uns in dem Gange unseres Nachdenkens auch nicht buchstäblich an die Worte des Textes geklammert, so hat doch alles Einzelne in dem­ selben Erwägung gefunden. Wiefern Christus im menschlichen Geschlecht der Fürst des Lebens ist, welche Bedeutung in der That liegt, daß die Menschen ihn tödteten, was aus der Thatsache seiner Auferweckung durch Gott sich für die Menschen ergiebt, in welcher Weise die Jün­ ger Zeugen seiner Auferstehung sich nannten, das ist mehr oder weni­ ger eingehend behandelt worden. Nun von diesen einzelnen Momenten kehren wir heute gewissermaßen zum Mittelpunkte unseres Textes zu­ rück, zu dem Wort: „Den hat Gott auferwecket." Und wenn ich euch bitte, hierauf eure Gedanken mit mir zu richten, so wollen wir unS eines Paulinischen Ausdrucks erinnern, nämlich dessen, wie er zu

Lieder: Nr. 234. 231, 2.

244 den Römern spricht*): „Christus ist auferwecket durch die Herrlichkeit des Vaters."

Die Auferstehung Christi, wir führen sie mit Petrus und

Paulus auf das Thun der Gottheit, auf das Walten des Vaters zurück. Wo wir aber Gott in seinem Thun anschauen, da erblicken wir, wenn es nach unserer Fassungskraft auch noch nicht anders möglich sein sollte, wenigstens theilweise, bruchstückweise die sich ausschließende Herrlichkeit GotteS, die Majestät des Vaters, da werden von dem Lichte, in dem Gott thront und wohin kein geschaffnes Wesen dringt, wenigstens ein­ zelne gebrochne Strahlen auch dem Auge unseres Geistes sichtbar und erkennbar.

Das muß vor allem in dem Thun der Gottheit der Fall

sein, welches den Gegenstand unseres Festes bildet, in der Auferweckung Jesu Christi. aufschließt, baret,

Wohlan wie sich das Wesen

der Gottheit

uns darin

wie sich die Herrlichkeit des Vaters darin offen­

daß er den getödteten

Fürsten des

Lebens

aufer­

weckte, daS ist näher bestimmt der Gegenstand, der unser gemeinsa­ mes Nachdenken beschäftigt.

Dazu verleihe die Gnade Gottes selbst uns

ihren Beistand! I.

Das Erste aber, was in der Thatsache der Auferweckung Jesu

Christi als Sttahl himmlischer Offenbarung uns entgegenleuchtet, das ist die durch alle Begebenheiten der Welt,

durch alle Geschichte

des

Menschengeschlechtes hindurchgreifende, Alles überwindende, Alles nach ihrem Rathschluß hinausführende Macht des Vaters.

Ihr habt ge-

tödtet, Gott hat auferweckt! Da ist gleichsam ein Streit verschiedener Mächte uns vor die Augen gestellt, Menschenmacht und Gottesmacht. Ja das ist das Wohlgefallen der göttlichen, schaffenden Weisheit, daß sie dem vernünftigen Geschlecht selbst sich selbst gegenüber Macht verlieh und daß sie ihm auch während überläßt.

eine gewisse Macht zu wollen und zu handeln fort­ Darum kann in den Begebenheiten der einzelnen

Menschen und in der Geschichte der Völker überhaupt von einem Ge­ gensatz menschlichen und göttlichen Wollens, menschlichen und göttlichen Thuns die Rede sein, selbst von einem Gegensatze zwischen Gotteskin­ dern und Weltkindern,

*) Römer 6, 4.

ja zwischen einem Reiche des Bösen und der

245

Finsterniß, und einem Himmelreich, einem Reich Gottes. Schon im alten Bunde lautet es*): „Ihr gedachtet es böse mit mit zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen" oder**): „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege." Wenn aber Gott in der Geschichte der Menschheit und der einzelnen Menschen menschlicher Macht es erlaubt, seiner Macht gegenüber zu treten, in welcher Gestalt, in welchem Gewände zeigen sich da GotteSmacht und Menschenmacht? Wir^ haben im alten Bunde hocherhabene Schilderun­ gen der göttlichen Macht und Allmacht, indem auf die gewaltigen, Alles zerschmetternden Kräfte des Blitzes, wie sie aus dem Dunkel der Wol­ ken herabfahren, als auf göttliche Kundgebungen hingewiesen wird. Wohl das hat sein Recht auf dem Gebiete der Natur. An den Herrn der Natur wandte sich der große Prophet Israels, als er Feuer vom Himmel herabbeschwor auf die Knechte Ahabs, als er die Baalspfaffen zu schlachten gebot. Aber schon in jener Geschichte des EliaS ist es, als wollte Gott seinen großen Zeugen aus seiner Verirrung herausziehn, wenn er im Gesichte ihn erfahren läßt, daß der Herr in seiner eigenthümlichen Herrlichkeit und Macht nicht im Sturm, nicht im Feuer, nicht im Erdbeben erscheine, ob auch die Felsen zerreißen und die Festen der Erde wanken, wohl aber im füllen, sanften Sausen sich bekunde. So wollen Jesu Jünger im Feuer, das seine Verächter ver­ zehrt, die Macht Gottes sehen und erfahren und der Herr, der von sich zeugt: „Wer mich siehet, siehet den Vater," spricht strafend***): „Wisset ihr nicht, welches Geistes Kinder ihr seid? Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu er­ halten." In dem Menschensohn sehen wir abgebildet die göttliche Macht, wie sie in der Menschheit aufzutreten pflegt. Auch den un­ göttlichen Menschen, die sich wider Gott, seinen Willen und Rathschluß setzen, gestattet sie es eine Zeit lang, im Aeußern ihre Macht zu zei­ gen. Sie gewährt ihnen das Heft des Regimentes, selbst Krone und Scepter, Rosse und Reisige, Feuer und Schwert. Sie selbst die göttliche *) 1 Moses 50, 20. **) Jesaias 55, 8. ***) LukaS 9, 55. 56.

246 Macht bekundet sich dagegen als das stille, sanfte Sausen d. i. als das geistige Wehen, wie es vom Schöpfer des Alls ausgeht und prophetische Geister erregt, durchdringt und erfüllt, wie die Gedanken seines Geistes gleichsam

in

den Geist

seiner Diener hineingehaucht werden,

wie ei­

fein ewiges Wort, die Offenbarung seines Wesens, Fleisch werden läßt in der schlichten Gestalt, in dem einfachen Wesen des Menschensohnes. Seine Gedanken in Betreff der Menschen für die Menschen bilden seine Gottesmacht, wie sie gegen die Weltmacht kämpfend auftrat in Prophe­ ten und Weisen, wie sie in ihrer ganzen Reinheit und Hoheit in Jesu von Nazareth erschien.

Der Gottesgedanken, der sich offenbarenden

Gottesvernunft voll weiß Jesus sich gesandt vom Vater in die Welt, daß er vollende sein Werk.

Diese Gottesgedanken, die ewige Wahr­

heit, war ihm das Schwerdt, um, wie Johannes sagt, damit die Werke des Teufels zu zerstören*), war ihm die Gotteskraft, vermöge deren er sprach**): „Der Vater hat den Sohn lieb und zeiget ihm Alles, was er thut,"

„Alle Dinge sind mir übergeben von meinem Vater,"

möge deren

er

vor

dem Hohenpriester bekannte***):

ver­

„Von nun an

wird es geschehen, daß ihr sehen werdet des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen in den Wolken des Himmels."

Diese

Gottesgedanken waren ihm die Gotteskraft, vermöge deren er den Sei­ nen verheißend und ermuthigend zurief-s): „Fürchte dich nicht du kleine Heerde, denn es ben."

ist eures Vaters Wohlgefallen euch das Reich zu ge­

Wenn bei den alttestamentischen Propheten Gedanken Gottes als

Gotteskräfte in Israel erschienen, die menschliche Macht ihnen gegen­ über war im Volke der Arm des Fleisches, das Schwerdt, die irdische Gewalt.

Und wie verlief der Kampf? Der Heiland, in die Geschichte

seines Volkes zurückblickend, Kagteff): „Jerusalem, Jerusalem, die du tödtest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt werden!"

Die

Träger der Gottesgedanken, der Gottesmacht sanken in den Tod.

So

sah er, wie dieselben Mächte dieser Welt auch gegen ihn den Streit

*) **) ***) t) tt)

1 Johannes 3, 8. Johannes 5, 20. Matth. 11, 27. Matth. 26, 64. Lukas 12, 32. Lukas 13, 34.

247 zurüsteten

und

weissagte*):

„Des

Menschen Sohn

wird

überant­

wortet werden den Hohenpriestern und Schristgelehrten und sie werden ihn verdammen zum Tode." geschlagen.

Und so wird er auch zuletzt ans Kreuz

Wie so ähnlich scheint

es mit

seinem Werke zu

Christus vergleicht das Reich Gottes dem Sauerteige. artig ist das Wirken seiner Kraft.

gehen.

Ja sauerteig­

In der Geschichte gehen immer wie­

der seine Gottesgedanken von ihm aus, wollen das Herz in der Brust, das Leben in der Familie,

die sittlichen Ordnungen im bürgerlichen,

staatlichen und kirchlichen Leben umgestalten

und neu machen.

immer von Neuem zeigt es sich bald hier bald dort,

Und

daß menschliche

Macht der Gottesmacht solcher Gedanken sich gegenüber stellt, daß sie besorgt um sich selber den verzweifelten Krieg gegen diese Gottesgedan­ ken mit Schwerdtern und mit Stangen, mit allen Mitteln menschlicher Gewalt zu führen unternimmt. daß Träger

dieser

und ein Opfer Macht

Auch das wiederholt sich manchmal,

Gottesgedanken

derselben werden.

der

weltlichen Macht unterliegen

Da scheint es,

von Menschenmacht überwunden.

habt, den hat Gott Geschichte,

an der

auferwecket,

es offenbar ist,

das

als

wäre Gottes

Aber den ihr getödtet ist die Thatsache in der

daß jeder Sieg menschlicher und

jedes Unterliegen göttlicher Macht nur trügerischer Schein ist, der bald verschwindet.

Getödtet haben sie ihn, daß er Gottes Werk nicht hin­

ausführe und grade als

der Gekreuzigte und Auferstandene

ist er der

unerschütterliche Grund der ewigen, erlösten Gottesgemeine, ist er der, durch den mit unwiderstehlicher Kraft das Reich Gottes sich aufbaut, ist er der, der da kommt, wie in den Wolken des Himmels. ihn gekreuzigt.

Nun erst müssen

sie

Sie haben

im bittren Ingrimm,

Gefühl ihrer geistigen Ohnmacht, die Zähne knirschen.

weil im

Nun müssen sie,

ob sie auch hier und da einen seiner Jünger chdten, doch im Ganzen rath- und thatlos

sich zeigen.

einen aus ihrer Mitte,

Ist das Werk aus Gott,

so

hören sie

so könnt ihr es nicht dämpfen, sehet zu, daß

ihr nicht erfunden werdet als die wider Gott streiten**).

*) Mark»« 10, 33. **) Apostelgeschichte 5, 39.

Nun begleitet

248 sie aus der ihnen so widerwärtig klingenden Kunde von seiner Aufer­ stehung her die Ahnung, daß sie an diesem Eckstein zerschellen müssen. Allerdings mit dem Hervortreten und Wachsen der Gemeine erhob sich auch die menschliche Macht zu aller Anstrengung und Kraftanwendung, die ihr möglich war.

Das Heidenthum löste seiner Zeit das Juden­

thum ab und die allgewaltigen, weltbeherrschenden Kaiser verfolgten die Christen als den „Haß des menschlichen Geschlechtes"

mit Feuer und

Schwerdt, mit Allem, was fürchterlich und entsetzlich ist.

Aber auf­

schauend zu dem, der als von Menschen gelobtet, von Gott wieder auf­ erwecket ist, sprechen wir getrost*):

„In dem Allen überwinden wir

weit," „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat," „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?"

Im Hinblick auf den Auf­

erstandenen rühmen sie als die Sterbenden**): „Siehe wir leben." An der Gotteskraft der ewigen Gedanken, wie sie der Vater

wie sie im Sohn waren,

durch den Sohn seiner Gemeine gegeben, ist die

Macht jenes ungeheuren, römischen Reiches zu Schanden geworden, vor ihr haben sich zuletzt die Herrscher der Erde gedemüthigt und gebeugt. Was in der Auferweckung Jesu thatsächlich von Gott verkündet ist, in der Geschichte der Gemeine hat es sich durch alle Jahrhunderte bewährt: Gottes Macht greift siegreich durch alle Begebenheiten und alle Geschicke der Welt. II.

An Gottesmacht zerschellt alle Menschenmacht. Diese Gottesmacht, an welcher alle Menschenmacht zu Schan­

den wird, wie erglänzt sie uns ferner im Lichte der Heiligkeit und der Gerechtigkeit! Wo Menschenmacht im Widerspruch zur Gottesmacht tritt, da ist sie nothwendig eine unheilige, da ist sie bestimmt durch Augen­ lust oder Fleischeslust oder hoffärtiges Wesen.

Wo Menschenmacht im

Widerspruch und Gegensatz gegen Gottesmacht zu handeln unternimmt, da ist sie nothwendig eine ungerechte.

Die heiligen Grundlagen ewigen

Rechtes in menschlichen und göttlichen Gesetzen und Ordnungen werden von ihr verachtet, verletzt, aufgehoben.

Wie sind die Lieder der Psal-

misten so voll der Klagen über die Zirnahme der Gottlosen, über ihre Frevel, die aller Gerechtigkeit Hohn sprechen! *) Römer 8, 37. 1 Johannes 5, 4. **) 2 Korinther 6, 9.

„Wie lange sollen die

Römer 8, 31.

249

Gottlosen prahlen und so trotziglich reden und alle Uebelthäter sich so rühmen? Herr, sie zerschlagen dein Volk und plagen dein Erbe. Witt­ wen und Fremdlinge erwürgen sie und tobten die Waisen und sagen: Der Herr siehet es nicht und der Gott Jakobs achtet es nicht" *). Wie Hingen' aus so vielen Psalmen die Schmerzensrufe der Unschuldigen über die Fülle der Leiden, womit sie von den Ungerechten überhäuft werden! Wie erscheint endlich bei dem großen Propheten der fromme, gehorsame Gottesknecht als der, welcher aller Trübsal hingegeben ist, welcher zerschlagen, gemartert und in den Tod gelegt wird**)? Das ist die schwere Frage, welche die frommen Gemüther in Israel so hef­ tig bewegt und beunruhigt: Warum doch die Gottlosen oft gutes Leben und Gelingen ihrer Anschläge sehen? Warum den Frommen es oft so übel ergeht? Warum so oft Heiligkeit und Recht zu unterliegen scheint und die Ungerechtigkeit triumphirt? Da ist eS als wenn der Herr ferne tritt und sich verbirgt, da ist es, als wäre Heiligkeit und Gerechtigkeit nicht in der waltenden Gottesmacht. Das scheint seinen Gipfel zu er­ langen in Christo. Wie in ihm das Ringen der Frommen Israels nach Heiligkeit sein Ziel erreicht, wie er der vollendete Heilige, Schuld­ lose, Gerechte wird, wie er als solcher in allem Thun und Reden klar sich darstellt, so Alles was Feindschaft gegen ihn ist, muß in der Gott­ losigkeit wurzeln, so Alles, was gegen ihn geschieht, muß höchster Fre­ vel der Ungerechtigkeit sein. Und er wird von seinem Volk und von den Heiden gehaßt ohne Ursach und dem schmählichsten Verbrechertode überliefert. Da steht die Gottlosigkeit und die Ungerechtigkeit um das Kreuz und im Uebermuth niedrigster Gemeinheit jubelt sie mit Spottund Schmachreden über ihren Sieg. Der Gegensatz zwischen seiner fleckenlosen Heiligkeit und dem Entsetzlichsten, dem er von gottloser Un­ gerechtigkeit Preis gegeben ist, wird zu dem schrillendsten, schreiendsten Mißton in der ganzen Geschichte der Menschheit. Unwiderstehlich drängt sich die zweifelnde Frage hervor: Wo in aller Welt giebt's noch eine Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes? Nimmer waltet ein Heiliger im Himmel, wenn dergleichen auf Erden geschieht. Die Lösung giebt un*) Psalm 94, 3—7. **) JesaiaS 53.

250

ser Text: Den hat Gott auferwecket. So hat der Vater sich thatsächlich bekannt zu seinem Heiligen, so hat er der Gerechtigkeit ge­ nügt, indem fx ihn krönte mit Preis und Ehre. Aber auch die Bürg­ schaft liegt darin, daß wie der Heilige und Gerechte vom Vater ver­ klärt ist, daß so auch Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes auf Erden walten. Im Achte der Auferstehung Christi ist es klar, daß sein Lei­ den und Sterben selbst die Verklärung heiliger Gerechtigkeit ist, daß in seinem Leiden und Sterben selber die größeste Kraft ruht, die Un­ heiligkeit und Ungerechtigkeit auf Erden zu besiegen, daß grade dies Leiden und Sterben den festen Grund des Reiches Gottes legt, welches ist Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist. In der Aufer­ stehung Jesu Christi lag die Bürgschaft, daß dies Reich siegen werde über die Mächte des Heidenthums und des Judenthums und daß durch die Geschichte hindurch sich darin Gottes Heiligkeit und Gerechtigkeit verherrlichen werde. Wohl kanns immer wieder geschehen, daß Un­ heiligkeit und Ungerechtigkeit sich rühmend erheben, daß die Gerechten unter frevelnder Gottlosigkeit leiden. Der Auferstandene aber verbürgt es: Unwiderstehlich waltet der Heilige und Gerechte. Die hier um Ge­ rechtigkeit willen dulden, der Herr wird sie krönen mit Gnade und Barmherzigkeit. Was sie aber erdulden, es wird das nicht vergeblich sein, es ist in diesem Erleiden des Unrechts Gotteskraft, welche die Welt und ihre Sünde überwindet. Recht muß Recht bleiben und dem werden alle frommen Herzen zufallen*). Weihen wir uns in der Nach­ folge des Herrn ohne Menschenfurcht und Menschengefälligkeit dem ewi­ gen göttlichen Recht, auch wir werden im Besondern erfahren, was im Allgemeinen uns die Auferweckung Christi verbürgt: Heilig und gerecht ist der Ewige. Unter seiner Regierung wird zuletzt alles Unrecht ge­ sühnt, wird alle Heiligkeit und Gerechtigkeit zuletzt gekrönt. BOL Aber, meine Geliebten, warum tritt die Gottesmacht in der Menschheit vielfach nur wie verhüllt auf? Warum nur in der Fülle der Gottesgedanken, mit denen sie ihre Diener begnadigt, ohne die Er­ scheinung der äußern Gewalt? Ebenso: Warum verbirgt sich in gleicher *) Psalm 94, 15.

251

Weise die Gerechtigkeit und. Heiligkeit Gottes in bestimmten, oft nicht kurzen Zeiträumen? Warum muß zeitweise Unschuld und Gerechtigkeit auf Erden leiden und erst späteren Sieges und späterer Verklärung harren? Weil, wie es bei dem Propheten lautet, Gott mit den Men­ schen Gedanken des Friedens hat und weil er sie die Wege des Heils führen will. Wollte aller ungöttlichen Menschenmacht gegenüber Gottes Macht unverhüllt mit äußerer Gewalt und Majestät wirkend hervortreten, wollte Gott in seiner heiligen Gerechtigkeit nirgend das ungerechte und unheilige Wesen auf eine Zeit übersehen und geduldig tragen, dann flösse alles sein Thun zusammen in dem zermalmenden, vernichtenden Gericht, dann in unserem sündigen Menschengeschlecht hätte er nie sein Reich gründen, nie Versöhnung und Erlösung stiften können. Aber auf sein Himmelreich in der Menschheit, auf die Erlö­ sung der Menschen laufen alle seine Gedanken und Wege hinaus. Mit andern Worten: Der Gott alles regierender Macht, der Gott der Heiligkeit und Gerechtigkeit ist vor Allem, ist seinem tiefsten, eigentlich­ sten Wesen nach die Liebe. Und eben die Liebe, wie sie von Golgatha her leuchtet, sie tritt strahlend im vollsten Glanze aus der offnen Gruft Jesu uns entgegen, sie spricht sich vor Allem aus in dem Osterwort: Den Fürsten des Lebens, den ihr getödtet habt, den hat Gott auferwecket. Wie war es doch mit den Jüngern nach Jesu Vollendung am Kreuz oder wie hätte es mit ihnen stehen sollen? Wenn Christus, als er unter ihnen leibte und lebte, durch sein Wort, sein Thun, durch die ganze Weise seines Seins ihnen der Weg, die Wahr­ heit und das Leben war, ihnen den Vater verllärte und sie zum Vater führte, ihnen alle Kraft der Erlösung brachte, wie vielmehr in der Art, wie er für sie, durch sie, um ihretwillen litt, wie vielmehr durch die Art, wie er am Kreuze erblich! Ja in seinem Leben und Sterben ruht alle Gotteskraft der Versöhnung und der Erlösung und billig sollte jeder, der hineinschaut in dieses Leben und in diesen Tod nichts weiter für seine Seele und deren Heil bedürfen und vor Allem dessen gewiß sein, daß, wer so lebte und starb, daß der auch lebet und mit Leben begnadigen kann alle, die es bei ihm suchen. Aber der erlösenden

252 Gotteskraft in Christi Leben und Tod entsprach nicht die Glaubenskraft in den Gemüthern der Jünger.

Sie schauen mit äußerem Auge wohl

die äußere Schmach und das äußere Leiden Christi an, aber nicht mit innerem Glaubensauge die innere Herrlichkeit des heiligen, seligen Dul­ ders.

Da ist ihnen die Hoffnung zerronnen, da ist ihr Glaube in

Kleinmuth und Verzagen versunken, da fühlen sprengte Heerde allem Verderben ausgesetzt, lornen.

sie sich als die zer­

fühlen sich als die Ver­

Nur die Liebe als Sehnsucht nach dem Herrn glimmt noch,

ein schwaches Fünklein, in ihrem Herzen.

Gott erwecket Christum,

nicht allein so, daß er ihn überhaupt verherrlicht, sondern so, daß er ihn

den Jüngern wieder erscheinen

läßt, sie von seiner Verherr­

lichung gewiß macht, daß sie von ihm hören die Liebesrufe: „Maria," „Simon Jonas Sohn," von ihm hören den Trost: von ihm diej Zusage: Gott."

„Friede mit euch,"

„Ich fahre auf zu meinem Gott und zu eurem

Indem Gott so seinen Sohn auferweckt, erblicken wir da nicht

die Liebe, welche nach prophetischem Wort das zerknickte Rohr nicht zerbricht und das glimmende Docht nicht auslöscht, welche als Hirten­ treue die Lämmer in ihre Arme sammelt und an ihrem Busen trägt, welche das Verirrte wiederbringt und das Kranke stärkt? Der Welt freilich erscheint er nicht

als der Auferstandene, aber seine Jünger

sendet er als die Zeugen seiner Auferstehung an sie. Welt könnte der

Herr

Richter erscheinen.

in

seiner

Der feindseligen

Verherrlichung wiederum mir als

Durch seiner Jünger Mund, durch deren Zeugniß

bringt er auch ihr die Predigt der Buße und der Vergebung der Sün­ den und darin das Heil.

Auch dieser ihm feindseligen Welt läßt er

sagen: Euch zuvörderst hat Gott auserwecket sein

Kind Jesum und

hat, ihn zu euch gesandt euch zu segnen, daß ein jeglicher sich bekehre von seiner Bosheit.

So aus der Auferweckung Christi leuchtet die

Herrlichkeit Gottes und verkündet sich mit dem Wort: Liebe.

Ich bin die

Diese Liebe will in Christi Gemeine pflegen, was schwach ist,

arm und zerbrochenen Herzens.

Uebergeben wir uns, so oft wir uns

schwach und arm fühlen, ihr mit neuer Zuversicht. ihre Feinde geistig überwinden. dar, indem

Diese Liebe will

Stellen wir uns ihr als Werkzeuge

wir durch unser Leben die Tugenden

des Gekreuzigten

253 und Auferstandenen verkünden, dann wird der Botschaft Gottes immer weniger der Glaube fehlen, dann wird immer mehr alles was Mensch heißt, einstimmen in das selige Bekenntniß: Christus ist wahrhaftig auf­ erstanden, dann werden wir eine Gemeine erlöster Gotteskinder in der Auferwecknng des Sohnes anbetend preisen die Macht, Heiligkeit, Ge­ rechtigkeit und Liebe des Vaters.

Amen.

Die Welt gegenüber dem Auferstandenen. I. Text:

Nach O st e r n. Matthäus 28, 11—15.

Da sie aber hin gingen, siehe, da kamen Etliche von den Hütern in die Stadt und verkündigten den Hohen­ priestern alles, was geschehen

war.

Und sie kamen zu­

sammen mit den Aeltesten und hielten einen Rath und gaben den Kriegsknechten Geld genug, und sprachen: Saget: Seine Jünger kamen des Nachts und stahlen ihn, dieweil wir

schliefen.

Und

wo

es würde auskommen

bei dem

Landpfleger, wollen wir ihn stillen und schaffen, daß ihr sicher seid.

Und sie nahmen das Geld und thaten, wie

sie gelehrt waren.

Solches ist eine gemeine Rede geworden

bei den Juden bis auf den heutigen Tag.

2öie die Auferstehung Jesu seine Jünger von der schwer lastenden und beengenden Furcht erlöste und sie mit seligem Frieden erfüllte, darauf sind wir wohl alle mehrfach, wie durch unser eigenes Nach­ denken, so durch unsere Gottesdienste in den schönen Festtagen hinge­ wiesen worden.

Der Herr ist aber allerdings nur den vorerwählten

Lieder: Nr. 46.

300.

255 Zeugen, nur den geschlossenen Kreisen seiner Jünger erschienen.

Doch

mußte die Kunde von seiner Auferstehung auch in die Welt dringen, in die Welt, d. h. in die Kreise derjenigen Menschen, welche sich abund ausschließend, zurückstoßend und feindlich Christo, seiner Gnade und Wahrheit gegenüberstellten.

Wie hat sich nun die Welt der

Kunde von der Auferstehung Jesu gegenüber verhalten, wie verhält sie sich zu derselben alle Zeit?

Das scheint mir eine

Frage, die für die Betrachtung am Sonntag nach Ostern sich so recht eignet.

Deshalb ist unser verlesener Text gewählt.

demselben die Welt,

die Christum

und

sein

Wir haben

Evangelium

in

abstoßende

Menschheit, nach zwei Seiten vor Angen, einmal in den Hütern des Grabes, den römischen Kriegsknechten, als Heidenthum, dann in den Aeltesten, d. h. im Hohenrath als Heiligherrschaft der Inden.

Nach

die Hierarchie, beiden Seiten

die Priester- die fassen

wir

unsere

Frage jetzt genauer in's Auge. I.

Auch am Kreuze des Herrn hatte ein römischer Hauptmann,

also ein Heide, gestanden und nicht nur gesehen, was man Jesu ge­ than, sondern wie Jesus Alles getragen, wie er ausgeduldet, hatte vor Allem wohl gehört, was Jesus in den letzten Stunden gesprochen und wie er so im Sterben die ganze Fülle und Kraft seines Lebens offen­ bart hatte.

Da ruft er: „Fürwahr, dieser ist Gottes Sohn gewesen!"

Der Heide wird zum Christen und Gottes hinein.

tritt aus der Welt in das Reich

Es hat ein Kirchenvater gesagt:

geborene Christin.

Die Seele sei eine

Ja das Urwesen der Seele ist von Gott auf und

für Christum den vollendeten Menschensohn, der eins mit der Gott­ heit ist, angelegt, und wenn die Seele sich auf sich selbst, auf ihr Ur­ wesen besinnt, so kann sie auch im Heidenthum nicht anders, der Offen­ barung Christi gegenüber muß sie-bekennen: das der Heiland der Welt."

„Das ist Gottes Sohn,

Aber so haben wir das Heidenthum oder

die Menschen im Heidenthum, wie sie dem Christenthum entgegenstreben und in dasselbe eingehen, hier nicht; sondern wie sie, in Vergessenheit des menschlichen Urwesens sich dem Evangelio verschließen.

Die KriegS-

knechte hatten, wenn sie auch nicht am Kreuze zugegen gewesen wären; doch sicherlich Alles gehört, was ganz Jerusalem in jenen Tagen be-

256 »egte, wo, wie jene zwei nach Emmaus Wandelnden es aussprachen, auch kein Fremdling in der Stadt sein konnte, der diese Geschichten von Jesu nicht erfahren hätte.

Nun sind sie an's Grab desselben ge­

stellt, und sie wußten sicherlich, aus welchem Grunde. plötzliches Erdbeben sie vor Schreck erstarren.

Da läßt ein

Als sie zu sich kommen,

ist die schwere Felsenthür vom Grabe gewälzt, das Grab selbst ist leer, der Gekreuzigte ist verschwunden.

Die äußern Umstände erscheinen als

Bestätigung, daß sich Jesu Vorhersagung von seiner Auferstehung er­ füllt habe.

Aber außer dem, daß die Gewalt der natürlichen Erschei­

nung, des Erdbebens, sie augenblicklich so zu sagen natürlich erschüttert hatte, ließ das Alles keinen Einfluß auf sie zurück.

Weder auf ihre

Ueberzeugung, noch auf ihr Gemüthsleben, noch auf die Richtung ihres Willens wird ein Eindruck sichtbar.

Froh würden sie das Geld des

hohen Raths nehmen, wenn nicht eine gewisse Furcht, daß sie vom Landpfleger doch noch zur Rechenschaft gefordert werden könnten, ihre Freude an dem unerwarteten Lohn getrübt hätte.

Was ist es, das

jeden Einfluß der Auferstehung auf ihre Seelen hindert?

Das ist die

Macht des Heidenthums, welcher sie verfallen waren und ergeben blieben. Wie viele der Götter die Römer damals verehrten,

wie schön und

theilweise menschlich die Gestalten dieser Götter, namentlich so weit sie dieselben von den Griechen überkommen hatten, auch erschienen; es ist der ganze Götterdienst doch nur Verehrung des Sinnlichen, Natürlichen, der irdischen Welt.

Alle ihre Götter sind erdgeborene, wesentlich ir­

discher Beschaffenheit, und auch das Menschliche in ihnen erhebt sich nicht über das Natürliche, ist gleichsam nur die Blüthe des Natürlichen. Von diesem Heidenthum umfangen und gefangen können die Seelen das Licht der Auferstehung Jesu Christi nicht in sich aufnehmen, kann die Kunde von derselben höchstens ein dumpfes Staunen in ihnen er­ wecken. — Bei wie so vielen steht es in jetziger Zeit nicht anders. Christus ist erstanden, tönt eö laut, sie aber fühlen keinen Frieden von ihm aus in's Gemüth strömen, empfinden keinen Reiz, nun auch im neuen Leben des Geistes zu wandeln!

ES ist das, was den segens­

reichen und erhebenden Einfluß der Osterbotschaft auf menschliche Ge­ müther hindert, sehr oft auch nichts Anderes als das Heidenthum.

257 Oder ist es nicht ein wesentlich heidnischer Zug, wenn das ganze Stre­ ben, Wollen, Handeln, darum auch Denken und Empfinden allein dem Materiellen, dem irdischen Gewinn, dem irdischen Genuß dienstbar ist? Wie aber im praktischen Leben so manche nur in der Sinnlichkeit und für die Sinnlichkeit leben; so gehen jetzt in gleicher Weise Lehren durch die Welt, daß es nichts gebe, daß nichts wirklich sei als die Materie, der sinnliche Stoff, daß jede Kraft nur diesem anklebe.

Auch mensch­

liches Fühlen, Empfinden, Denken, Urtheilen, Wollen seien Erzeugnisse dieses irdischen Stoffes, seien das für den menschlichen Körper und in Beziehung auf ihn, was der Duft für und in Beziehung auf die Blume. Wo nun solche Gesinnung, solche Anschauungsweise, die im Grund­ wesen mit der

des

alten Heidenthums zusaminenfällt,

entweder

im

praktischen Handeln oder im Denken die Menschen beherrscht, da wird nie die Auferstehung Jesu Christi, das- über den Tod siegreiche Leben des Menschensohnes, das Gemüth mit Frieden erfüllen und zu einem verklärten, neuen Leben erheben, da klingt die Osterkunde und Alles, waö mit ihr zusammenhängt, wie eine grundlose Fabel. köstlich Ding um das Osterwort:

„Friede mit euch,"

O es ist ein um das selige

Bewußtsein, daß in dem Auferstandenen die Seele ihre Versöhnung mit Gott, ihr Kindschaftsrecht an.dem, welcher der rechte Vater ist, ihre über alles Vergängliche dieser Welt erhabene himmlische Herrlich­ keit gewonnen hat.

Es ist ein köstlich Ding, so als ein Himmelsbürger

im Glanze des Auferstandenen durch dieses Leben zu wandeln.

Aber

eS gilt auch hier das Wort*): „Wer da hat, dem wird gegeben, und wer nicht hat, dem wird man nehmen auch das er hat."

Wer in

heidnischen Anschauungen und Gesinnungen verloren und begraben hat das Bewußtsein seines Ursprunges aus Gott, das Bewußtsein seines -geistigen Wesens und seines himmlischen Berufes, das Bewußtsein des Gottes, der als Geist Himmel und Erde regiert; bei dem, wenn die Osterkunde ihm erklingt, ist allerdings das Höchste der Schmerzensruf: „Die Botschaft hör' ich wohl, doch ach mir fehlt der Glaube."

Daß

wir im Gegensatz dazu doch immer reichere Schätze aus der Auferste-

*) Markus 4, 25. Thomas, Glaube an CbnstuS.

258 hung des Herrn nehmen möchten! Dazu aber laßt uns darauf bedacht sein, daß wir jenem wesentlich heidnischen Treiben und Denken nicht Macht über unsere Seelen einräumen!

Nicht dem praktischen Heidenthum

unserer Tage, wo man nur Auge und Sinn und Begehren für das materielle Gut, für den materiellen Genuß behält!

O nur einen Blick

auf das Leben derer, die diesem goldnen Kalbe dienen!

Ihr überzeugt

euch bald, daß nichts rein Materielles die Seele jemals befriedigt, den Menschen jemals wahrhaft beglückt, daß im Gegentheil am Ende der Laufbahn der rein sinnliche Mensch in Beziehung auf das Vergangene nur den Ruf hat: „Alles ist eitel," in Beziehung auf die Zukunft nichts übrig behält als ein Versinken in Grauen und Entsetzen.

Laßt uns fern

von uns halten das Heidenthum, wie es in der Gestalt, im Namen des höchsten und letzten Wissens und Erkennens unsern Geist gefangen zu nehmen strebt.

Siehe, spricht man,

unsere Vergrößerungsgläser

haben unendliche Fernen uns erschlossen und unendlich viele Welten uns gezeigt; aber mit keinem dieser Gläser haben wir Gott geschaut. Unsere Messer haben den menschlichen Körper zerlegt und wir haben nicht nur jedes Glied, sondern jede Fiber, Faser, jeden Nerv unter­ sucht und bestimmt; aber was man Geist und Seele nennt, haben wir nicht gefunden.

Darum ist es Thorheit an die Gottheit, Thorheit an

die Existenz, daS Leben des Geistes und geistiger Mächte und Wesen zu glauben.

Nur Stoff, nur Materie ist da, die zufällig zusammen

sich ballend in mannichfachen Gestalten alle die Krastäußerungen be­ wirkt und das wunderbare Spiel, was wir Leben flennen, erzeugt.

So

sagt's die Forschung, so lehrt's die Wissenschaft unserer Tage! — Wirklich das ächte Wissen, die wahre Wissenschaft? Man beruft sich auf die Naturkunde vor Allem.

Als ob nicht alle großen Naturkun­

digen nur das als wahres Wissen anerkannt hätten, vermöge dessen es ihnen gelang, Stätigkeit im Vergänglichen, wunderbare Einheit in dem unendlich Vielen, eine geistige, Alles zusammenfassende und ordnende Macht in dem scheinbar Zufälligen nachzuweisen, vermöge dessen sie eben die Welt als Welt, als wohlgeordnetes und wohlregiertes, darum in sich harmonirendes Ganze erfaßten.

Jene heidnische Weise, die Dinge

anzuschanen, sagt sich loS, nicht vom Glauben allein, sondern eben so

259 sehr vom wahren Wissen und Erkennen, von wirklicher Wissenschaft. Und die geordnete, die regierte Welt ist sie nicht das immer lebendige, unwiderstehliche, kräftige Zeugniß von dem allmächtigen Regierer und Ordner derselben? Die Vernunft in dir, die urtheilt, schließt, denkend zusammenfaßt, weist sie nicht zurück auf eine ewige Ur- und Allver­ nunft? Das Gewissen, das doch immer einmal wieder sich geltend macht, diese gebietende Stimme, die Heilig und Unheilig, Böse und Gut unterscheidet, könnte es sein und Kraft haben ohne eine ewige Urheiligkeit? Und sieh die rührende, schöne, reiche Liebe in Mutterund Vaterbrust bezeugen sie nicht nothwendig und zwingend das Da­ sein einer ewigen Ur- und Vaterliebe, aus der sie entstammten? O nur wirklich mit offnem, unbefangenem Auge in's Leben geschaut, nur klar die Welt, ihre Dinge und ihre Erscheinungen, uns und unser Leben betrachtet, und wir erheben uns von dem heidnischen Un- und Aberglauben zu der Gewißheit: Gott ist nicht ferne von einem jeglichen unter uns, in ihm leben, weben und sind wir*). Gerade der Ernst des Wissens löst uns von der heidnischen Welt und je gewissenhafter wir forschen, je unbefangener wir anschauen, desto geeigneter werden wir, dem Kreise der Gläubigen anzugehören. Wir werden mit Freuden das Wort hören: „Christus ist wahrhaftig auferstanden," und seine trostreiche und umwandelnde Kraft an unserm Herzen und Leben er­ fahren. II. Den Heidnischgesinnten klang das Wort von der Auferstehung Christi mehr wie ein gleichgültiges Mährchen. Was ist Wahrheit? fragt der Heide Pilatus, was geht mich die an, was habe ich damit zu schaffen? Den Griechen, den Heiden, ist das Evangelium eine Thor­ heit, sagt Paulus, die sie verlachen. Erst besondere Umstände, erst eine besondere Kraft, mit der der Auferstehungsglaube und was dasselbe ist, das Christenthum auftritt und weltumbildend sich äußert, regt solche Heiden zur Feindschaft auf. Ganz anders mit der Welt, wie sie nach der zweiten Seite unseres Textes als Hierarchie in den Aeltesten, im Hohenroth auftritt. Den Juden ist das Evangelium ein Aergerniß, *) Apostelgeschichte 17, 27. 28.

260 sagt Paulus, und die Hierarchie des Judenthums ist die geschworene Feindin des Auferstandenen. Aeltesten, im Hohenrath?

Was ist und war diese Hierarchie in den Das ist Hierarchie, wenn Menschen sich

stützend auf ein Vorrecht der Geburt, des Standes und Amtes, der besonderen Weihe, des besonderen Wissens als Stellvertreter der Gott­ heit die Herrschaft über das Heilige in einem Volk, in einer religiösen Gemeinschaft sich aneignen, wenn sie also über Glauben, Ueberzeugung, Gewissen gebieten wollen, wenn sie das Reich Gottes ansehen als ihre Domäne, darin sie nach ihrem Gutdünken zu schalten und zu walten berufen sind.

Solche Hierarchie mag zu besondern Zeiten und unter

besondern Verhältnissen eine nothwendige und darum auf eine Zeit in göttlicher Ordnung begründet sein.

Große, edle Männer mögen nur

durch Hierarchie in Zeiten noch sehr geringer Bildung besonders den rohen Massen gegenüber Segensreiches und Heilsames zu wirken ver­ mögen.

Jminer aber kann dieselbe

nur ein Durchgangspunkt sein,

nur etwas, was nach Gottes Willen bestimmt ist, sich selbst überflüssig zu machen und aufzuheben.

So sehnte sich Moses nach dem Zeitpunkt

des Aufhörens der Hierarchie, wenn er rief*): „Wollte ich doch, daß das ganze Volk des Herrn weissagte."

Wo sich aber solche Hierarchie

als ein Bleibendes festsetzen, als ewige göttliche Ordnung behaupten will, da ist sie Abfall von Gott, Feindschaft wider Gott.

Ist's doch

schon ein schreiender Widerspruch in sich selbst, wenn der sündige, kurz­ sichtige Mensch in den heiligsten und innersten Angelegenheiten der Menschheit sich anmaaßt, Stellvertreter des allerheiligsten und Alles durchschauenden Gottes zu sein.

So in Judäa zur Zeit des Herrn.

Pharisäer und Schriftgelehrten, sich gründend auf ihr Satzungswesen und ihre besondere Art Schristerkenntniß übten im Priesterthnm und namentlich im hohen Rath die Herrschaft über das Heilige unbedingt aus.

Nach des Ewigen Rathschluß, in dessen Namen sie zu herrschen

vorgaben, trat Jesus auf voll Gnade und Wahrheit.

Mcht mit äußern

Geberden kommt das Himmelreich, sondern es ist inwendig in den Men­ schen, nicht äußere Reinigungen und Bräuche, nicht die Erfüllung dieser

') 4. Moses 11, 29.

261 und jener Satzungen, sondern gründliche Buße und lebendiger Glaube an heilige rettende Liebe führt

zur -Gemeinschaft mit Gott

und zur

Seligkeit, nicht mit Waffen dieser Welt gilt es, ein äußeres messianisches Reich aufzurichten, sondern allein durch die Macht der Wahrheit und Liebe wird ein Reich gegründet, das nicht von dieser Welt ist, das waren die Grundgedanken seiner Lehre, die Grundlagen seines Wirkens. Die Hierarchie in Pharisäern, Schriftgelehrten, Priestern, im hohen Rath, — mit bitterster Feindschaft verfolgt sie den Heiligen Gottes und schlägt ihn an's Kreuz.

Als aber die Kriegsknechte die Kunde von

seiner Auferstehung bringen, Kunde nicht.

eine Aenderung erzeugt bei ihnen diese

Es ist dieselbe Herrschsucht und Selbstsucht in ihnen ■—

diese hatte unter heiligen Formen den Herrn gekreuzigt, sie hätte ihn gern zum zweitenmal an's Holz geheftet. Wie verfährt sie nun weiter?

Aber sie fühlt ihre Ohnmacht.

Als die Kriegsknechte die Kunde aus-

sprachen, da wär's für ein gerechtes Gericht und für ein gewissenhaftes Regiment das Erste gewesen, genau und sorgfältig sich zu erkundigen, zu prüfen, zu untersuchen. die Lüge.

Statt dessen greifen sie zur Lüge, verbreiten

Saget seine Jünger stahlen ihn, rufen sie und suchen so

viel an ihnen ist, Prüfung und Erforschung der Wahrheit zu unter­ drücken.

Saget, sprachen sie zu den Kriegsknechten.

Diese sollten

sagen, wovon sie selber keine Ueberzeugung hatten, sie sollten gewissen­ los genug zum Schutze des Glaubens, den der hohe Rath verlangte, ohne eigenen Glauben sprechen und handeln.

Und was sie den Kriegs­

knechten zumutheten, das auch den Massen des jüdischen Volkes, die eben auch ohne Ueberzeugung nachsprechen sollten und mußten, so daß, wie es heißt, jenes Mährchen bei den Juden eine gemeine Rede wurde bis auf diesen Tag.

Damit die Kriegsknechte ihnen zu Willen waren,

gaben sie ^chnen Geld genug.

Lockenden Lohn dieser Welt verwenden

sie, um ihre Herrschaft zu stützen-, natürlich, daß, wenn die Umstände es erforderten, sie zu demselben Zweck irdische Strafmittel gebrauchten. So bedrohen sie später die Apostel, stäupen dieselben, um durch Dro­ hung und Strafe die Verkündigung des Gekreuzigten und Auferstandenen zum Schweigen zu bringen.

Ist die Hierarchie eine Feindin des Auf­

erstandenen, so sucht sie sich ihm gegenüber auf die Lüge, die Unter-

262 drückung freier Prüfung, auf gedankenloses Nachsprechen gewissenloser Masten, auf irdischen Lohn und irdische Strafe zu stützen und damit die Botschaft der Auferstehung zu unterdrücken, sich und die Welt um den Frieden des Auferstandenen zu bringen.

Nun auch nach dieser

Seite kommt eS darauf an, daß wir uns entschieden von der Welt scheiden.

Soll unter uns als lebendige, göttliche Botschaft daS Evan­

gelium von dem Auferstandenen

wirken und beseligen,

aus unserer

Mitte muß hinweggeräumt werden, was mit dem Thun und Wesen jener Hierarchie zusammenhängt.

Sie unterdrückt Forschung, Prüfung,

Untersuchung, setzt damit an die Stelle der Wahrheit die Lüge. uns gelte als heiliger Grundsatz:

„Prüfet Alles."

Bei

Bei uns sei vor

Allem frei das Wort der heiligen Schrift, das von dem Herrn zeugt, frei die Forschung in demselben, anerkannt das Recht, daß jeder Christ nach der Gabe die Gott ihm verleiht und nicht nach fremder mensch­ licher Auslegung, selbstständig aus der Schrift und seinem Gewissen seine Ueberzeugung sich bildet.

Aber wo Recht, da ist auch Pflicht.

Haben wir das königliche Vorrecht der Gotteskinder, frei die Vernunft zu gebrauchen und selbst in der Schrift zu forschen; so ist auch unser die Pflicht, im heiligen Ernst, in unbefangener Wahrheitsliebe den ge­ wissen Grund unsers Glaubens uns zu gewinnen. — Jene Hierarchie sucht sich auf das gedankenlose Nachsprechen gewissenloser Massen zu stützen.

Es kommt aller Hierarchie nie auf lebendigen Herzensglauben,

sondern nur auf stets dienstwilligen Mundglauben an.

Unter uns darf

dagegen nichts gelten ein Glaube, der nicht im eignen Gewissen, in eigner Ueberzeugung und Erfahrung seinen Grund

hat.

Nicht weil

andere glauben, sondern weil ich glaube, darum rede ich, das ist hei­ liger Grundsatz im Reiche Gottes.

Nur da, wo nach des Apostels

Ausdruck Christus selbst Gestalt in den Herzen gewonnen hat und in ihnen lebet, nur da ist der sichere feste Grund gelegt, nur da sollen die Pforten der Hölle die Kirche nicht überwältigen.

Die Hierarchie

endlich sucht mit dem Lohn und der Strafe dieser Welt ihr Reich zu stützen, bietet Geld oder Staupenschlag, Gefängniß und Tod.

In un­

serer Mitte nie etwas von irdischem Gewinn für den, der sich zu Christo bekennt, nichts von irdischem Nachtheil für den, welcher Christo den

263 Rücken kehrt.

Nur die Wahrheit und Liebe Gottes, die in Christo sind,

sollen die Welt überwinden.

Auf wen das Wort, das

heilige Leben,

daS großartige Dulden, das Sterben der Liebe im Sohne Gottes keinen Eindruck macht, der bleibe fern, der halte sich zu der gemeinen Rede der Juden, Jesu Jünger hätten seinen Leichnam gestohlen.

Je mehr

wir allein auf seine Wahrheit und Gnade, auf die Kraft des Geistes bauen, desto größer und wirkungsreicher unsere Zuversicht, unser Glaube: Christus ist wahrhaftig auferstanden, desto mehr unser Glaube mit dem auch wir die Welt überwinden.

Amen.

der,

Die Liebe zu Christo das Letzte in unserer Schwach­ heit, das Höchste für unser Streben. II. Text:

Nach Ostern. Johannes 21, 15 — 17.

Da sie nun das Mahl gehalten hatten, spricht Jesus zu Simon Petrus: Simon Johanna, hast du mich lieber, denn mich diese haben?

Er spricht zu ihm:

du weißt, daß ich dich lieb habe. Weide meine Lämmer.

Spricht er zu ihm:

Spricht er zum andernmal zu ihm:

Simon Johanna, hast du mich lieb?

Er spricht zu ihm:

Ja, Herr, du weißt, daß ich dich lieb habe. zu ihm:

Weide meine Schafe.

mal zu ihm:

Spricht er

Spricht er zum dritten­

Simon Johanna, hast du mich lieb?

trus aber ward traurig, daß sagte:

Ja, Herr,

Pe­

er zum drittenmal zn ihm

Hast du mich lieb? und sprach zu ihm: Herr, du

weißt alle Dinge, du weißt, daß ich dich lieb habe. Jesus zu ihm:

Spricht

Weide meine Schafe.

(Se ist sehr natürlich, Geliebte im Herrn, daß wir in dieser kirchlichen Zeit uns gern mit den wenigen Berichten beschäftigen, die uns über die Erscheinungen des Auferstandenen aufbewahrt sind, und ihr werdet

Lieder:

Nr. 525. 530, 8.

265 deshalb die Wahl unsers verlesenen Textes gern billigen.

Die Er­

scheinungen des Herrn nach seiner Auferstehung galten nach unserer heiligen Schrift aber nicht mehr der Welt, d. h. nicht dem Theile der Menschen, der von Christo entweder noch nichts wußte, oder ihn feind­ selig von sich stieß, sondern allein denen, die sich mit stärkerem oder schwächerem Glauben vor seinem Kreuzestode um ihn gesammelt hatten. Aber alle diese seine Jünger hatten die schwere,

über sie hereinge­

brochene Prüfung nicht bestanden, sie alle hatten sich irgendwie an ihm geärgert, waren mehr oder weniger gesunken.

Da ist das Eigenthüm­

liche des Herrn, daß er einmal bei ihren Vergehungen in seiner Nebe gewissermaßen den Rest deS Guten aufsucht,

der ihnen im Fall ge­

blieben war um daran aufhelfend, tröstend, reinigend anzuknüpfen, daß er dann aber zugleich für ihr künftiges Leben ihnen das Höchste vor­ hält.

So nach der ersten Seite nahet er sich herablassend dem Thomas,

den Jüngern die nach Emmaus gehen, den elfen, den

Frauen, hier

den Liebesruf hören lassend, dort die Schwachgläubigkeit strafend, da mit dem „Friede mit euch" tröstend, selbst auf seine Wunden als Zeugnisse seiner in der Aufopferung verklärten Liebe hinzeigend.

Aber

eben so spricht er nach der andern Seite: „Gehet in alle Welt, taufet, lehret." — „Wie

mich der Vater gesandt hat,

Das Gleiche finden Petrus

gegenüber

wir nach beiden Seiten

in

der

Frage:

„Hast du mich lieb?" und in

dem Aufträge: „Weide meine Schafe." schon beides enthalten.

so sende ich euch."

in unserm Texte dem

Ja in der Frage selbst ist

Der Herr fragt nach dem, was als Letztes

dem Petrus in tiefem Fall geblieben war.

Er hält eben so in dieser

Frage ihm das Höchste vor, dem nachzustreben, das seinen ganzen heiligen Beruf fortan umschließen

und

sich anzueignen, erfüllen sollte.

Wir als Jünger Christi haben ein Recht und eine Pflicht, eine solche Frage unsers Erlösers auch auf uns zu beziehen.

In dieser Ansicht

blicken wir auf die Liebe zu Christo als auf das Letzte, was uns in unsern Verirrungen und Vergehungen blieb, aber eben so als auf das Höchste, dem wir alle unsere Kräfte zu widmen haben, um so hinanzuwachsen zu dem vollkommenen Mannes­ alter in Christo Jesu unserm Herrn.

266

I. „Hast du mich lieb?" so nicht einmal, sondern dreimal fragt der Herr den Jünger, und als er zum drittenmal fragt, da, heißt es, wird Petrus traurig. Nicht das ist es allein, daß in der Wiederholung der Frage ein Zweifel an der Zuverlässigkeit der Ant­ wort durchzuschimmern schien, sondern dies dreimal wiederholte „Hast du mich lieb?" führt den Petrus in die nächste Vergangenheit zurück, erinnert ihn an das warnende Wort, welches einst an sein Ohr er­ klungen war: „Ehe der Hahn krähet, wirst du mich dreimal verleugnen," erinnert ihn an sein schmachvolles Thun, durch welches sich die war­ nende Voraussagung des Herrn als wahr erwiesen hatte. Da ist es nicht zu verwundern, daß er traurig wurde. Schwere Verschuldung tritt ihm vor die Seele, wälzt sich auf sein Gewissen. Oder war die Sünde nicht schwer, daß er sich von dem lossagen konnte, in dem er den Christ Gottes erkannt hatte, sich scheiden von dem, der, um seine Jünger als die Erlösten nicht zu verlieren, den bittersten Kelch zu trinken sich nicht gescheut hatte? War es denn etwas Anderes als das Verlassen der erkannten Wege Gottes, damit der bewußte Abfall von Gott? War es auf der andern Seite nicht der häßliche, schwarze Undank gegen die innigste Liebe, der Undank in der That? „Er be­ kannte und leugnete nicht," das wird stets der schönste Preis des Täu­ fers bleiben. Er verleugnete, das ist der schwarze, schlimme Fleck im Leben des Petrus. Verleugnen ist Lügen, und Lüge ist die eine Spitze der menschlichen Bosheit und Sünde, wie der Haß, der dem Leben feindlich ist, die'andere bildet. So spricht wenigstens der Erlöser, der Teufel sei ein Menschenmörder und ein Vater der Lüge. Und wie hatte Petrus verleugnet? Er hob an sich zu verfluchen und zu schwören: „Ich kenne den Menschen nicht" *). Den heiligen Gottes-Namen ent­ weiht er im Dienst der Lüge, den Eid mißbraucht er auf's Frevel­ hafteste, in die Sünde stürzt er, die auch selbst in der bürgerlichen Gerechtigkeitspflege als eine der schwersten gebrandmarkt zu werden pflegt. Und wenn ihm dieser Fall vor die Augen trat, mußte er nicht auch in tiefer Beschämung seiner früheren, vermessenen Zusagen ge*) Matth. 26. 74.

267 denken?

Ja gemahnt nicht daran die Weise, wie der Herr das erste­

mal die Frage stellt: ben?

„Hast du mich lieber denn mich diese ha­

Du meintest, wenn sich alle an mir ärgerten, du nimmermehr!

Mit seinem Verschulden in dem äußern Fall kam zugleich sein geist­ licher Hochmuth, seine lieblose Verachtung der Mitjünger ihm in's Ge­ dächtniß.

Wir werden gestehen müssen, wie wir auch gewohnt sind,

die ersten Jünger Christi hoch zu halten, des Petrus Sünde war eine schwere, vielgestaltige, seine Verschuldung höchst drückend, tief, gar tief sein Fall.

Da fragt der Erlöser: Hast du mich lieb?

strafend, aber doch zugleich so liebreich herablassend.

Wohl ist es

Wohl will der

Herr ihm sagen: Es ist mit deiner Liebe zu mir zwar nicht so bestellt, wie du selbst dir dünkelhaft einbildetest, aber sie hat doch wohl nicht auf­ gehört?

Bei deinem Abfall von dem erkannten Gotteswege, bei deinem

schnöden Undank, bei der Lüge, der du verfallen, bei dem Hochmuth ist doch wohl Nicht-der letzte Rest des Guten vernichtet?

Auch in und

nach diesem tiefen Fall, sicher du kannst nicht anders,

du hast mich

noch lieb, mein Bild, das Bild des heiligen Menschensohnes, das Bild der heiligen Liebe, es konnte nicht aus betnAt Herzen gerissen werden, es konnte nicht durch die Masse der Schuld verschüttet werden!

Und

wie der Herr so fragt, so konnte und durfte Petrus in der That ant­ worten:

„Ja, Herr, du weißt, daß ich dich lieb habe."

Diese

Liebe zu seinem Erlöser war der Rest des Guten bei dem gesunkenen Jünger.

Hierhin wendet sich deshalb des Heilandes Treue, um den

Gefallenen aufzurichten und dem von seiner Schwachheit Ueberzeugten neue Kräfte des Lebens einzuflößen.

Die Liebe zu dem Herrn, die

übrig geblieben, in ihr ruhte die Hoffnung neuer Auferstehung.

Die

jetzige Gemeine, wie auch wir zu ihr gehören, besteht aus lauter solchen Gliedern, auf welche Christus mit seinem Wort, mit seinem Leben, mit seinem Sterben irgendwie eingewirkt hat,

die

in ihrer Weise selbst

feierlich vor der Welt das bekennende Wort gesprochen haben: Du bist auch uns Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, auch wir wollen uns von dir nicht scheiden!

Sagen wir aber auch nicht alle, so müssen

wir doch zugeben, viele, viele Glieder der Gemeine haben den. Erlöser immer wieder einmal verleugnet.

Oder wenn die Ehre dieser Welt

268 so manchen vollständig in Besitz nimmt, daß er bereit ist, dem eitlen Ruhme fast jedes Opfer zu bringen, daß er darüber mehr und mehr der Herzlosigkeit verfällt, ist das nicht Verleugnung Christi?

Wenn

andere, die als Bekenner zu dem Erlöser getreten waren, mit ihren Neigungen so ganz sich an den irdischen Reichthum hängen, daß Verlust oder Besitz des irdischen Mammons allein noch ihr Handeln bestimmt und beseelt, sind sie da nicht auf dem Wege aus einem verleugnenden Petrus ein verrathender Judas zu werden?

Wenn wiederum andere

dem Rausche sinnlicher Lust sich hingebend, tiefer und tiefer in den Schlamm derselben sinken, geben sie damit in thatsächlicher Verleug­ nung nicht ihren Heiland auf?

Wenn bei dem bewegten Leben und

Kämpfen kirchlicher und politischer Parteien Genossen derselben nicht sich genügen lassen, das Wahre und Recht auf ihrer Seite zu vertreten, sondern im Haß, in ungerechter Berurtheilung und Verleumdung gegen die Genossen der andern Seiten aufzugehen, wird der Heilige und Ge­ rechte Gottes damit nicht verleugnet?

Ja wo an die Stelle stiller

Gottergebenheit unter Last und Leid unruhiges Sorgen und, wenn auch verhaltenes, Murren, an die Stelle der zurechthelfenden Geduld und Sanftmuth fleischlicher, polternder Eifer, an die Stelle zurechthelfender Versöhnlichkeit ein abstoßendes Zürnen, an die Stelle der Wahrhaftig­ keit in Wort und Werk irgend ein unwahres Wesen trat, da wurde der Herr verleugnet.

O wer wagt es, zu sagen: Ich war nie in des

Petrus Fall! Da fragt der Herr in unsere Mitte hinein immer wieder einen jeden: Hast du mich lieb? nicht sagen:

Fände sich da jemand, (wir dürfen

Es ist jemand der Art da, wir kennen.nicht die geheim­

nißvollen Tiefen des Bösen, in die ein menschliches Auge hineinzubrin­ gen nicht im Stande ist), fände sich jemand unter uns, die wir den Herrn kennen gelernt haben und denen einmal von ihm das Herz be­ wegt wurde, der nicht mehr oder

nur als Lügner sprechen könnte:

Du weißt, Herr, daß ich dich lieb habe; ach mit dem wäre es auf's Traurigste bestellt.

Sein Herz wäre ansgeschmolzen nicht im Feuer

der Gottesgnade, daß das edle Metall des höhern Lebens gereinigt in ihm blieb, sondern es wäre ausgeschmolzen durch die Gluth der welt­ lichen, fleischlichen Leidenschaften und hätte nichts mehr in sich als die

269 todten Schlacken der Selbstsucht.

Wir wenden uns von diesem Ab­

grunde des Verderbens mit der Bitte: Gott bewahre unS, mit der be­ ständigen Hoffnung, daß niemand unter unsern Brüdern und Schwe­ stern in denselben versunken ist.

Nicht wahr, wir haben alle gefehlt,

aber seine hochheilige und himmlisch schöne Gestalt sie ist uns im Herzen geblieben?

Er,

der so gewaltig und doch so holdselig lehrte, der so

heilig und doch

so leutselig handelte, der so tieffühlend und doch so

gottselig duldete, der so zweischneidig alle Sünde strafte und doch so barmherzig allen Sündern Vergebung erflehte, der so ganz dem Vater gehörte und doch so ganz sein Leben und ihrem Heile

bis in den Tod den Menschen

weihte — nicht wahr er hat uns nicht nur einst das

Herz bewegt, sondern wie wir seiner nur recht gedenken, bewegt er es uns noch immer.

Gedenken wir denn lebhaft sein!

Ach hören wir recht

oft in unserer Brust wieder klingen seine Frage: Hast du mich lieb? Er streckt in derselben seine heilige helfende Hand uns entgegen, er umfaßt mit derselben das bessere, edlere Selbst in uns, um uns empor­ zuheben über unsere jeweiligen Verirrungen und Verfehlungen, er strömt durch dieselbe die heilige Gottesflnth von Neuem in uns, daß sie unsere Seele reinige, daß sie uns befruchte zu einem neuen kräftigen Leben in der Heiligung.

Ja bei den Verirrungen unsers Lebens die Liebe zu

Christo ist das übrig gebliebene Gute, mittelst dessen unser Gott allein uns zunächst führen kann und will zu seinem'Licht, zu seinem Frieden, zu seiner Heiligkeit. II.

Wie Petrus sagen kann:

Du weißt, daß ich dich lieb habe,

da giebt der Erlöser ihm dreimal feierlich den Auftrag: Weide meine Schafe, weide meine Lämmer.

Er der Jünger soll an die Stelle

des Meisters treten, soll das selbsteigene Werk des Meisters fortsetzen, gerade wie der gute Hirt allen Jüngern gesagt hatte: „Gleichwie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch."

Das Weiden in unserer

deutschen Bibel findet sich im Urtext durch zwei verschiedene Wörter bezeichnet.

In dem ersten liegt mehr, was eben unser Wort weiden

zunächst in sich schließt, nämlich zur Nahrung führen, mit Nahrung versorgen.

Das zweite ist mehr, was ursprünglich unser Wort hüten

besagt, also leiten, schirmen und schützen, bewahren.

Hier ist beides

270 natürlich geistig gefaßt.

Reiche fortan die geistige Nahrung, das Brod

des Lebens meinen Schafen, den Genossen meiner Gemeine.

Hüte sie,

also suche ihnen Schutz in den Kämpfen und Versuchungen der Welt zu gewähren.

Das ist doch wohl das Höchste und Herrlichste in mensch­

lich-sittlicher Thätigkeit, wenn jemand seinen Brüdern dasjenige reicht, wodurch der innere Mensch in ihnen erstarkt, wenn er ihnen hilft, daß sie nicht in Versuchung fallen, in Versuchung nicht erliegen, wenn er sie selbst aus den Verirrungen

des Lebens

zurückführt und errettet.

Nun zu dieser höchsten sittlichen Thätigkeit ist gewiß auch das Höchste sittlicher Tüchtigkeit erforderlich. Hast du mich lieb?

Und wonach fragt da der Herr?

Also die Liebe zu ihm ist danach das Höchste

in sittlicher Tüchtigkeit, das auch zu höchster sittlicher Thätigkeit allein befähigt.

Daß,

wenn man Christum

gründlich

kennt,

keine wahre

Sittlichkeit ohne die Liebe zu ihm möglich ist; das versteht sich wohl fast von selbst.

Was preisen wir denn etwa als edel und trefflich an

Nebenmenschen?

Die starke,

unüberwindliche Ergebenheit in Gottes

Rathschluß und Willen, die heilige Kraft, mit der Vernunft und dem Ge­ wissen die sinnlichen Triebe und Kräfte zu beherrschen, die Liebe der Wahr­ heit und die davon untrennbare Wahrhaftigkeit in Wort und Benehmen, ganz besonders das Band der Vollkommenheit, die Liebe in Gerechtig­ keit und Billigkeit, in Sanftmuth und Leutseligkeit, in Mitleid Dienstfertigkeit, in Geduld und Versöhnlichkeit.

und

Nun, wer irgendwie

solchen Eigenschaften ächt menschlichen in Gott gegründeten Wesens nur erst sein Sinnen und Streben zugewendet hat, dem schlägt schnell und freudig das Herz, wenn er sie in einem Mitmenschen entdeckt, zu ihm wird er mit unwiderstehlicher Neigung hingezogen.

Wohlan

denn alles das, ja ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, es ist in Christus verkörpert, es strahlt uns in ihm rein und vollendet entgegen. Christum kennen und ihn nicht lieben, wäre das Zeugniß, daß eben alle jene Eigenschaften des sittlichen Lebens, ja der Sinn für dasselbe noch fehlte.

Je inniger man aber im Streben diesen hohen Aufgaben

ergeben ist, je weiter man schon in diesem Streben gekommen, desto mächtiger wird die Hingabe der Liebe an den sein, in dem das Alles vollendet ist.

So wird für uns selbst das Maaß der Liebe zu Christo

271 auch das Maaß sein, wie weit wir in ächter Sittlichkeit und Tüchtig­ keit vorgeschritten sind. — Sehen wir es uns aber auch in Beziehung auf unsere Thätigkeit, die der Herr seinen Jüngern auf die Seele bindet, auf das „Weide meine Schafe," „weide meine Lämmer" näher an," eine Thätigkeit, das darf ich ja wohl kaum bemerken, die nicht Sache allein des Predigers, sondern aller mündiger Christen ist. Gei­ stige Nahrung den Nebenmenschen gewähren, Nahrung für Herz und Gemüth zu bringen, ist es auch möglich ohne den Frieden mit Gott zu besitzen, ohne diesen Frieden selbst mitzutheilen, ohne die schöne himmlische Ruhe und Heiterkeit der Seele, welche auf dem Glauben an Gottes Gnade und Liebe sich gründet? Siehe, Christus ist's doch allein, der durch sein Wort, durch sein Leben, durch sein heiliges Ster­ ben, durch den Geist, der von ihm kommt, bleibenden Frieden in den Gemüthern besiegelt, durch den du Frieden nehmen, durch den du Frie­ den geben kannst. Wäre es möglich, von ihm Frieden zu nehmen und durch ihn Frieden zu geben, wenn zu ihm nicht das Herz aufginge in Liebe? Je reicher durch ihn dein Herz am wahren Frieden wird, desto mehr wirst du ihn lieben, je mehr du ihn liebst, desto mehr wirst du ein Kind des Friedens, ein Friedensträger, Friedenbringer. „Weide meine Lämmer," gieb ihnen Nahrung für's Innere, Kräftigung gegen Versuchung! Ja dazu gehört der lautere Wandel in der Gerechtigkeit, in der Heiligkeit. Wahrlich nur indem du in Jesu die erschienene volle Heiligkeit und Gerechtigkeit des menschlichen Lebens verehrst, dich ihr sehnsüchtig entgegenstreckst, nur indem du ihn liebst, wirst du selbst damit erfüllt und geschmückt werden. Wer die Brüder weiden, nähren, stärken und damit wider die Gewalt der Versuchung schirmen will, der muß doch wohl selbst stark und tapfer sein für Recht und Wahrheit, muß den Muth und die Willenskraft besitzen, für diese hohen geistigen Güter nicht nur zu handeln, sondern auch zu dulden, zu leiden und sich selbst zu opfern. Wahrlich, wer liebend ihn ergreift, der in höchster geistiger Tapferkeit das Unerträgliche ertrug, der wird durch ihn er­ füllt werden mit seines Geistes Kraft. Christus, wenn er sich als den guten Hirten bezeichnet, welcher die Schafe nährt und schirmt, er kommt immer wieder zurück auf das: „Ich lasse mein Leben für die Schafe."

272 Es ruht demnach, wie er bezeugt, die von ihm ausgehende Kraft, welche die Seelen nährt und stählt und schützt, in der sich selbst ver­ leugnenden Liebe.

Wohl preist er seine Lehre als Gottes Wort, als

Geist und Leben, wohl rühmt er die Wahrheit, die er bringt, daß sie frei macht, aber seine Lehre ist die göttliche, weil die Liebe ihr Inhalt, seine Wahrheit macht frei, weil die Liebe dieser Wahrheit Seele ist. Wir achten nicht gering die Lehre, welche die Bernunft erhellt, die warnende und ermahnende Rede in Kirche und Haus.

Aber wahr­

haft erbauend, heiligend, bewahrend wirkt alle lichtvolle Rede und alles Mahnen und Warnen nur, wenn man darin gleichsam den Pulsschlag der Liebe fühlt. stern in uns?

Nun woher die Liebe gegen die Brüder und Schwe­ Gewiß sie kommt erst recht von dem, der die persönlich

gewordene Liebe zum menschlichen Geschlecht ist, und derjenige wird ihrer voll werden, welcher sie, diese persönlich gewordene Liebe eben liebend umfängt. träge:

Christum lieb haben, befähigt zu dem großen Auf­

„Weide meine Schafe, weide meine Lämmer."

man sprechen etwa im Sinne eines

Oder wollte

uns angepriesenen Fortschritts:

Ja in früheren Zeiten mußte man sich an diese Person Jesu schließen, man konnte sich zu diesen hohen Ideen nicht unmittelbar erheben, man wurde ihrer nur in der persönlichen Unihüllung dieses Jesu theilhaftig. Die vorgeschrittene Menschheit aber löst sich von ergreift unmittelbar

dieser Person und

die Idee der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der

Liebe und in diesen Ideen ruht die erziehende, die den Geist nährende und bewahrende Kraft.

Fortschritt ist schon gut; aber sehe man doch

ja zu, daß ein gepriesener Fortschritt nicht in der That zum Riickschritt werde.

Leuchten diese Ideen nicht wenigstens wie ein Blitzen durch

das mosaische Gesetz, ja hin und wieder selbst durch die heidnische Welt­ weisheit schon hindurch?

Nur diese Ideen als das Heil ansehen, eS

heißt in der That wieder auf den Standpunkt des alten Bundes zurück­ treten.

Es werden diese Ideen wieder die Verehrung für sich 'heischen,

aber auch als kaltes, starres Gesetz über den Häuptern der Mensch­ heit schweben und mit ihrem Lichte den Menschen nur das Unerreichte und Unerreichbare zeigen.

Wohl Christus in seiner Hoheit überragt

uns adefammt. bau wir ru ibm wie ru dem lebendiaen Seiet*, darum

273

wie aus der Tiefe zu ihm in die Höhe hinaufschauen. Aber als dieser Heilige ist er zugleich der, welcher die Liebe Gottes in die Mensch­ heit hinein trägt, welcher in der Verkündigung der Vergebung und Versöhnung der einige Mittler zwischen Gott und Menschen geworden ist. Ja als der heilige, starke Menscheusohn ist er zugleich der, welcher unser Bruder geworden ist und uns Schwache brüderlich an seinen Busen zieht, ist er also der, welcher jene heiligen Ideen gleichsam als sein Fleisch und Blut uns reicht, daß sie unser Fleisch und Blut, unser Leben werden. Darum fordert er die Liebe zu seiner Person nach unserm Text auch mit zwiefachem Wort, von dem das eine jenes verehrende, hinaufschauende Lieben, das andere das persönlich vertrau­ liche, die Gemeinschaft anknüpfende, nehmende und gebende Lieben be­ zeichnet. O wohl dem, der so ganz verehrungsvoll zu ihm als zu der Menschheit heiliger Vollendung, in der Göttliches und Menschliches Eins ist, hinaufschaut, wohl dem, der so seinem leutseligen Rufen folgt und sich persönlich, kindlich vertrauend ihm anschließt, mit ihm die Ge­ meinschaft des innern Lebens knüpft und erhält. Ein solcher hat sicher­ lich das Höchste des sittlichen Lebens ergriffen. Diese Liebe zu Christo wird sich thatsächlich als das Band der Vollkommenheit bewähren. — Aber wie ist das? Wir lernten im ersten Theil bei den Verirrungen der Christen die Liebe zu Christo als das Letzte des Guten erkennen, darum als den Anfang aus der Verirrung zurückzukehren. Jetzt haben wir in dieser Liebe zu Christo das Höchste geschaut. Meine theuren Freunde, es steht damit so, wie mit jenem so wahren Ausruf eines aufrichtigen Gemüthes*): „Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Un­ glauben." Wie der Glaube bei uns Christen erst der werdende, darum der noch mit ungläubigem und ungöttlichem Wesen vermischte und käm­ pfende ist, so steht es mit unserer Liebe zu Christo. Auch sie hat neben sich noch das selbstische, böse Wesen. Es giebt bei uns ein Wachsen aus der schwachen, werdenden Liebe in die volle Liebe hinein. Deshalb laßt uns denn im doppelten Sinn die Frage des Herrn bei uns behalten und stets in unserm Herzen bewegen. Nicht wahr, wir irren und ver*) Markus 9, 24. Thomas, Glaube an Christus.

274 fehlen uns alle noch mannichfach? Täglich klinge es in unser Herz hinein: Simon, IonaS Sohn, hast du mich lieb? daß wir uns täglich aus jeder Verschuldung erheben.

Vor uns in unser ferneres Leben

reicht der Ruf hinein: „Werdet vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist" und „Weide meine Schafe," leiste deinen Brüdern das Schuldige!

Hast du mich lieb? so klinge es und mahne uns täglich,

zuzunehmen in der Liebe zu dem, der uns erst geliebet hat, um so wirksam dem höchsten Ziele entgegenzuringen.

Gott aber bewahre jeden

von uns in Gnaden vor einem Versunkensein, in dem er nicht mehr sprechen dürfte: „Du weißt, daß ich Dich lieb habe!"

Gott helfe uns,

daß wir es endlich sprechen lernen im vollsten Sinne des Wortes! Amen.

Petrus und Johannes in der Nachfolge des Herrn. III. Nach Ostern.

Text: Johannes 21, 18 — 23. Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Da du jünger warst, gürtetest du dich selbst und wandeltest, wo du hin wolltest; wenn du aber alt wirst, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein Anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hin willst. Das sagte er aber zu deuten, mit welchem Tode er Gott preisen würde. Da er aber das gesagt, spricht er zu ihm: Folge mir nach. Petrus aber wandte sich um und sah den Jünger folgen, welchen Jesus lieb hatte, der auch an seiner Brust am Abendessen gelegen und gesagt hatte: Herr, wer ist es, der dich verräth? Da Petrus diesen sah, spricht er zu Jesu: Herr, was soll aber dieser? Jesus spricht zu ihm: So ich will, daß er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an? Folge mir nach. Da ging eine Rede aus unter den Brüdern: Die­ ser Jünger stirbt nicht. Und Jesus sprach nicht zu ihm: Lieder: Nr. 625. 631, 5.

276

Er stirbt nicht; sondern: So ich will, daß er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an? theure Freunde, wie der Herr den tiefgefallnen Petrus wieder sucht um ihn aufzurichten, wie die Liebe zu Christo für den Gefallnen als Grundlage seiner Bekehrung ihm geblieben war und wie diese Liebe zu Christo wiederum als das Höchste, dem er nachzuringen habe, ihm vor­ gehalten wurde, das haben wir in beständiger Anwendung auf uns selbst

neulich in unserem Gottesdienste hier mit einander betrachtet.

Wie ihr wohl erkannt habt, sind die heut verlesenen 'Schriftworte die Fortsetzung des damaligen Textes.

Nach dem Aufträge: „Weide meine

Schafe," giebt der Herr dem Jünger zur Mahnung und Kräftigung eine Andeutung über das, was ihn zuletzt erwarte.

Der Ruf aber:

„Folge mir nach," ist es, welcher jene Aufforderung und diese Vorhersagung mit einander verknüpft.

Wähne nicht, das ist der Sinn der

Worte Christi, daß du mir in dem, was du zu leisten hast, im Weiden meiner Schafe, dich als meinen Nachfolger zu bewähren hast, sondern beherzige es, daß auch in ganz anderer Weise deine Liebe zu mir sich wird

bewahrheiten müssen.

So unterscheidet der Erlöser für seinen

Jünger einen Gegensatz des Früher oder Später in seiner Nachfolge. Nachdem Petrus das Wort vernommen, von dem wir nicht sagen kön­ nen, wie tief er mit seinem Verständniß in dasselbige sogleich einge­ drungen war, fällt sein Blick auf seinen Mitjünger, auf den Johannes. Wenn auch in einer gewissen Neugier,

wie wir aus dem tadelnden

Tone der Rede Jesu schließen müssen, so jedenfalls in der Neugier der Theilnahme, der Liebe fragt er: „Was aber dieser? Wie wird es mit ihm werden?" Nach der Antwort des Herrn hat Johannes ein dem Geschick des Petrus völlig entgegengesetztes zu erfahren. pelten Gegensatz, erstens Später in

dem zwischen

Diesem dop­

dem Früher und

der Nachfolge Christi beim Petrus, zweitens

dem Gegensatze in dem Lebens- und Todesgange zwischen Petrus und Johannes, bitte ich euch, jetzt eure Aufmerksamkeit und euer Nachdenken zu widmen.

Wir wenden beides

auf uns selbst an,

277 tun so zugleich die Ausgleichung des scheinbaren Gegensatzes für uns zu gewinnen. I.

„Als du jünger warst,

da gürtetest du dich selber

und gingst, wohin du wolltest, wenn du aber älter wirst, wirst du deine Hände ausstreuen und ein anderer wird dich gürten und

dich hinführen,

wo du

nicht hinwillst.

Diese

Worte des Herrn sollen, wie man behauptet hat, von dem Leben vor und nach der Bekehrung des Petrus gesprochen sein, vom Leben des alten und des neuen Menschen.

Simon habe nach eigener Willkür und

im Vertrauen auf eigne Kraft gewandelt und gehandelt, Petrus werde alle Kraft bei Gott zu suchen, seinen eignen Willen zu todten und dem Willen Gottes sich zu unterwerfen haben. Worte etwas hineingetragen,

was

in

Jedenfalls ist damit in diese

ihnen ursprünglich nicht liegt.

Mit der Hinweisung auf die Zukunft ist ja, wie der Evangelist offen­ bar richtig hervorhebt, Petrus unfreiwilliger Gang zum Tode bezeich­ net.

So wird sich das Vorhergehende eben bis auf den Zeitpunkt er­

strecken, wo er jeder Selbstbestimmung über sein Thun und Leben sich beraubt sah.

Vielmehr ist beides nach dem Willen Gottes für den

Jünger in seiner Nachfolge Jesu geordnet.

Allerdings gilt es für unö

als Jünger Christi, daß wir uns selbst verleugnen d. h. daß wir uns nicht mehr nach dem Gelüsten unseres Herzens, nach dem Willen un­ seres Selbstes, sondern nach dem Willen des heiligen, gnädigen Gottes bestimmen, daß wir gehen, wohin er sendet, thun, was er uns gebie­ tet.

Aber warum doch sagt der Erlöser zu den Jüngern: Es ist euch

gut, daß ich hingehe? Weil, wie er weiter spricht, sonst nicht der Geist Gottes zu ihnen käme, weil, wie die Folge davon ist, sein Wort ihnen sonst daS äußere, zwingende Gebot bleiben würde.

Aber diese Art des

Gehorsams, in der man sich nur einem äußern Gebot unterwirft, wollte Christus nicht.

Durch das Wirken des göttlichen Geistes tritt der Wille

Gottes vielmehr in unseren Geist, wird angeeignet von unserer Ver­ nunft, geht hinein und

erfüllt unser Gewissen.

Wie sehr

wir da

auch unser niederes Selbst verleugnen, wie sehr wir Gottes Willen zu unserer Richtschnur nehmen, es geschieht doch, indem in unserem Thun waltet das eigne Ueberlegen, das eigne Entschließen und Wollen, daS

278 selbst beständig die Einstimmigkeit mit Gott erstrebt.

Ebenso ist sich der

Christ wohl bewußt, daß es mit seiner Kraft nicht gethan sei, daß er stets der göttlichen Gnade bedarf, welche das Wollen und Vollbringen wirkt.

Wenn Paulus sagt, er habe mehr gearbeitet, denn die andern,

so setzt er schnell hinzu: „Nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist*)."

Wie sehr der Christ sich aber auch bewußt ist, nur

durch die Kraft der göttlichen Gnade etwas zu vermögen,

so weiß er

doch, Gottes Gnadenkraft giebt sich nur an des Menschen Kraft hin. Nur wenn der Jünger

des Herrn mit

allem Ernst sich aufrafft,

alle Hebel für sein inneres Leben in Bewegung setzt, alles Vermögen, das ihm dargereicht ist, anstrengt, kurz das ihm von Gott gegebene Pfund gebraucht, nur dann wirkt Gott in ihm das Wollen und Voll­ bringen.

Das ist es, wovon der Herr hier zu Petrus spricht.

lange du jünger warst und als der Jüngere

So

noch im Besitz deiner

Kräfte bist, wirst und sollst du mir nachfolgen im frischen, thatkräfti­ gen Leben, im freudigen Wirken.

Nach deiner innern Selbstbestim­

mung wirst du das Gebiet dir wählen, wo du den Saamen, streuest, nach deiner Wahl die Arbeit dir vorzeichnen, aus eignem Entschluß deine Kraft für mein Reich einsetzen.^ du deine Hände ausstrecken." cher Aufwallung

„Wenn du alt wirst, wirst

Du konntest nicht nur in fleischli­

einst das Schwert ziehen, du kannst auch das Netz

des Evangelii auswerfen, die Hand an den Pflug legen.

Es kommt

aber die Stunde, da wirst du's nicht vermögen, da wird dahin sein alle deine Kraft, daß in deiner Ohnmacht selbst ein anderer dich gür­ tet und dir das Gewand anlegt, da endlich, wenn du gehen könntest, werden dich deine Füße tragen, nicht wohin du willst, sondern wohin du nicht willst, in den martervollen Zeugentod.

Ein doppelter Beruf harrt

deiner in meiner Nachfolge, zuerst frisch und thatkräftig für mein Reich zu arbeiten, sodann dich selbst in das über dich verhängte Leiden hin­ zugeben, in den Tod zu gehen, zuerst das Wirken in welterobernder Predigt und tröstendem Liebesdienst und dann das Trinken des bittern Schmerzenskelches bis in den qualvollen Tod.

*) 1 Korinther 15, 10.

279 WaS aber dieser? fragt Petrus darauf, indem er auf den Jo­ hannes zeigt.

Der Herr spricht: „Wenn ich will, daß er bleibe,

bis daß ich komme, was gehet es dich an?" Ehe wir das Wort uns deuten, laßt uns einen Blick auf die Person dem eS gesagt ist.

dessen werfen, von

Der Sohn des Zebedäus ist es,

in dem früher

schon der glühende Eifer um Iahveh und seinen Gesalbten geflammt hatte, aber als ein fleischlicher und unreiner, der wohl deshalb mit als ein Donnerskind

vom Herrn bezeichnet worden war.

Aber in die

Seele dieses natürlichen Donnerkindes war tiefer als in irgend eine andere die Liebesrüge des Erlösers gefallen*): Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu er­ halten.

Er hatte aufgenommen das Zeugniß Christi**): Gott hat sei­

nen Sohn nicht gesandt in die Welt, daß

er die Welt richte, sondern

daß die Welt durch ihn selig werde, das Bekenntniß Christi***): Ich bin nicht gekommen, daß ich die Welt richte, sondern daß ich die Welt selig mache.

Die Fülle,

der überströmende Reichthum der Liebe

Christo hat ihn im Innersten getroffen, hat ihn hingezogen, gleichsam,

wie dort bei der Feier des letzten Mahles

in

daß er

äußerlich, so

geistig fortwährend am Busen des Erlösers ruhte, um fortwährend diese Fülle der Gnade und Wahrheit mit durstender Seele in sich aufzu­ nehmen.

So in die Tiefen der Liebe versenkt wurde eS ihm, wie kei­

nem andern der Jünger in gleichem Maaße, vergönnt, in Jesus das ewige Wort zu schauen d. h. die Selbstoffenbarung ewiger Gottesliebe, die, wie sie die Welt geschaffen, und mit dem Leben als dem Licht der Menschen durchströmt hat, so in ihrer menschlichen Darstellung auch die Welt erlöst und beseligt.

So ist es ihm vergönnt gewesen, in sei­

nem Evangelio uns das Bild des Erlösers in der Herrlichkeit, Erha­ benheit und Schöne zu zeichnen, aus welcher aller Reichthum der Got­ tesgnade und alles Hohe der menschlichen Natur und Bestimmung uns entgegenleuchtet.

Der Friede der Gottesliebe war in das wogende Ge­

müth dieses Donnerskindes gefallen und hatte es so ganz zu einem

*) LukaS 9, 56. **) Johannes 3, 17. ***) Johannes 12, 47.

280 Friedenskinde umgewandelt.

Wohl ist er thätig wirkend gewesen, aber

sicherlich mehr in ruhiger Stille.

Wohl hat er gewiß für seinen Erlö­

ser gezeugt, aber mit dem Vorwalten

der

Milde und Sanstmuth.

Wohl dürfen wir uns sein ganzes Auftreten mehr denken begleitet vom dem sanften Sausen, in dem einst der gewaltige Prophet anbetend die Nähe des Ewigen fühlte.

Von diesem Jünger nun ist das Wort ge­

sagt: Wenn ich will, daß er bleibe, bis daß ich komme, was gehet es dich an?

Was ist das für ein Bleiben des Jüngers und

für ein Kommen des Herrn? Jedenfalls etwas, was von dem abwich, welches dem

Petrus verkündet war.

Die Jünger, die ganze erste

Christengemeine, dafür geben uns die neutestamentlichen Schriften reich­ lich Zeugniß, erwarteten in nicht zu langer Zeit die' sichtbare Wieder­ kunft Christi, das damit verbundne Gericht und die sichtbare Aufrich­ tung des Reiches Gottes auch in äußerer Herrlichkeit.

So wird Christi

Wort über den Johannes verstanden, indem alle glauben, der Jünger stirbt nicht, bleibt bis zu diesem Endgericht.

Der heilige Schriftsteller

bezeichnet dieses Verständniß aber als offenbaren Irrthum, ausdrücklich bemerkend, das habe der Herr nicht gesagt.

Dringen wir in das Ver­

ständniß grade aus dem Gegensatz dessen, was dem Petrus geweiffagt wird und was sich nach der kirchlichen Sage auch an ihm erfüllte. hat danach den Märthrertod am Kreuze zu Rom gelitten.

Er

Wie ist er nach

Rom gekommen? Wir dürfen wohl schwerlich annehmen, daß der Apostel, welcher sich so vorzugsweise als der Apostel für die Beschneidung, für das Volk Israel erkannte, aus eignem Antriebe große Missionsreisen in weitentlegne Länder unternommen hat.

Wir irren

wohl nicht, daß

wenn die Apostelgeschichte schon von mehreren Verfolgungen in Jeru­ salem und Judäa berichtet, daß auch eine solche es war, der Petrus sich entzogen hatte und so nach Rom gekommen war.

Im heimischen

Lande hatte vom angestammten Volke her die Feindschaft gegen Christum und seine Gemeine gewüthet, viele waren geflohen und es war, als wäre der Herr in den Seinen selbst gewichen.

Nun erhebt sich in

Rom selbst die erste und mit die schrecklichste Verfolgung gegen die Ge­ meine durch einen der scheußlichsten unter den Despoten, die je über Völker geherrscht haben, und in großer Menge und unter den ausge-

281

suchtesten Martern werden die Jünger geopfert. Wie Petrus selbst ein Opfer der heidnischen Verfolgungswuth wird, da ist es dem äußern Schein nach, als käme nicht der Herr, sondern der Fürst dieser Welt zu dem Petrus. So redet Petrus selbst in Betreff der Verfolgungen, unter denen die Christen seufzten*): Der Teufel gehet umher wie ein brüllender Löwe und suchet, welchen er verschlinge. Johannes, wenn wir hier der Ueberlieferung glauben dürfen, und sie hat. eine an Ge­ wißheit grenzende Wahrscheinlichkeit für sich, starb hoch betagt, im voll­ sten Frieden für die eigne Person, im vollsten Frieden für die Gemeine. Er hatte auch einst erlebt, wie Jerusalem die Stadt geblieben war, von welcher der Erlöser gesagt hatte, sie tobte die Propheten und steinige, die zu ihr gesandt werden. Er hatte gesehen, wie sein Volk schnaubte mit Drohen und Morden wider die Jünger des Herrn und mit dem ver­ gossenen Blut der Christen sich befleckte. Wer er hatte auch erlebt die Er­ füllung jener Weissagung, daß kein Stein auf dem andern blieb, daß die stolze Stadt in den Staub sank, daß das Volk versprengt wurde in schmäh­ liche Knechtschaft unter die Völker der Erde. Er hatte auch einst er­ lebt die Gräuel der Neronischen Verfolgung, hatte erfahren von all dem Jammer, den jener Mann der Gemeine zufügte, bei dessen Namen noch lange Zeit nach seinem Tode die Christen zitterten, weil sie fürch­ teten, er werde als der Widerchrist noch einmal erscheinen. Aber er hatte auch das Ende dieses Mannes erlebt und das, daß der, welcher an der Spitze des Heidenthums Verfolger der Christen gewesen, später als ein Scheusal von den Heiden selbst gehaßt und verflucht wurde. Nach dem Tode Petri und Pauli und vielleicht fast aller Apostel hatte Johannes in Kleinasien in das Arbeitsfeld des Paulus eintreten und als treuer Gärtner die Saaten pflegen können, die sein Mit­ apostel einst gesäet hatte, war Zeuge geworden von dem verhältnißmäßigen Frieden für die Gemeinen im ganzen römischen Reich, von der gesegneten Ausbreitung und Erbauung derselben. In dem Fall der widerchristlichen Mächte in Jerusalem und Rom, die sich eigentlich nach heiliger Weltordnung selbst gerichtet und vernichtet hatten, in dem *) 1 Petri 5, 8.

282 Frieden, dessen die Gemeinen sich erfreuten und unter dem sie sich bau­ ten und mehrten und endlich in dem friedlichen, hoffnungsreichen Ab­ schied aus diesem Leben erschien das Ende des Johannes auch äußer­ lich als ein Kommen des Herrn, während Petrus heimgegangen war, ohne daß in dieser Weise sich die Wiederkunft Christi offenbart hätte. Das ist, waS als ein Entgegengesetztes über den Tod beider Jünger in der Nachfolge Christi durch seine Worte hier ausgesprochen ist. II.

Giebts heute nicht mehr diesen doppelten Gegensatz in der

Nachfolge Jesu Christi? Gewiß,

wenn er auch nicht immer so scharf

sich ausprägt, so stark in die Augen fällt.

Wer von uns in Christo

ist, er fühlt sich zur Zeit noch berufen, sich selbst zu gürten, muthig die Wege seines Berufes zu beschreiten, thatkräftig in gläubiger Liebe zu wirken, so lange es Tag ist.

Und es ist das ein erhebendes Gefühl,

so auf den Ruf Gottes und Christi gleichsam täglich auf die Höhe fah­ ren und das Netz auswerfen zu dürfen, täglich die eigne Kraft nach dem Willen Gottes verwenden zu können, es ist das sehr wohlthuend, sich an dem Gelingen, an dem Segen zu erfreuen. Der Heiland bricht, als einmal die Jünger von solchem gesegneten Wirken zurückgekehrt sind, in anbetende Entzückung aus.

Aber bei derselben Gelegenheit spricht

er doch warnend: Freuet euch nicht schon darüber, sondern freuet euch, daß eure Namen im Himmelangeschrieben sind*)

Und dies Letzte das

will in andrer Lage noch seine Bewährung finden.

Auch uns wird

einst die Kraft erlahmen, auch wir werden gefesselt durch Schmerz nur nach fremder Hülfe seufzen, auch wir werdeu, statt an den Pflug die Hand legen zu können, nur den Todeskelch behalten.

Geschiehts doch

oft schon mitten in den Jahren der Kraft, daß wir durch die Macht der Verhältnisse gezwungen ein liebgewonnenes Arbeitsfeld, eine Thä­ tigkeit, von der wir den reichsten Segen hofften, aufgeben müssen, daß uns an gewissen Punkten nichts übrig bleibt,

als zu hoffen und zu

harren, bis es wieder besser wird und nur zu sorgen,

daß

wir bei

einer allgemeinen verderblichen Strömung nicht von derselben übermocht und zur Verleugnung fortgerissen werden.

*) Lukas 10, 20.

„Folge mir nach."

Dazu

283

gehört ein Früher und Später, nicht allein das: „Weide meine Schafe," sondern auch das Andere: „Ich will dir zeigen, wie viel du leiden sollst um meines Namens willen." — Eben so, wenn wir die Christen heutiger Zeit in ihren Geschicken betrachten, es ist noch häufig so, als stünden Petrus und Johannes sich gegenüber. Bei dem gan­ zen Leben und Ende der Einen ist es, als hörte man stets das Wort: Muß nicht der Mensch immer im Streit sein auf Erden? Heiße Kämpfe für das innere und äußere Leben, mächtig erschütternde Ereignisse für das Gemüth, fürs Haus, Stürme, die manche Knospe vor der Entfal­ tung, manche Frucht vor der Reife brechen, ein frühes, für die Ge­ henden und die Bleibenden so schmerzhaftes, gewaltsames Scheiden, ein Scheiden, wo noch die Fülle der Kraft für die Welt zu verwerthen ge­ wesen wäre, ein Scheiden, wo die der Liebe und Pflege Befohlnen der­ selben nur noch allzusehr bedurft hätten, ein Abschied, der die Zerstö­ rung so vieles Lieben, Schönen und Guten uns zeigt, — das ist dem äußern Schein nach ihnen beschieden. Und wieder Andere, nun wenn sie auch nicht ohne alle Kämpfe uud Anfechtung blieben, so lächelt doch vorzugsweise ihnen die Sonne des Friedens, so ist doch in besonderem Maße ihnen die Freude an einem langen, in der Stille reich gesegne­ tem Wirken beschieden, so, wenn sie endlich gehen, ist eö, als wäre durch sie in alle ihre Kreise der Herr mit seiner Liebe eingezogen und spreche zu den Ihren: Ich lasse euch nicht Waisen, als käme er nun zu denen, bei welchen im Leben durch reich gesegnete Wirksamkeit seine Gegenwart so sichtbar war, in neuer Weise und rufe sie wie mit be­ seligendem Liebeskuß in ein höheres Sein. — Sollte uns dieser zwie­ fache Gegensatz befremden? Zuerst in der Nachfolge Christi der frische fröhliche Muth des thatkräftigen Wirkens und dann der Kelch des tha­ tenlosen Leidens? Ist der Herr darin nicht selbst unser Vorgänger ge­ worden? Die Schrift aber spricht*): Er habe Gehorsam daran gelernt, daß er litt und mit seinem Opfer vollende er die, so geheiligt werden. Also für ihn selbst und für die Welt hatte seine Hingabe ans Leiden die höchste Bedeutung, den reichsten Werth. Ja der Gehorsam und *) Hebräer 5, 8. 10, 14.

284 die Liebe, sie finden Wohl im thätigen Handeln schon eine Bewährung, ihre höchste Bewährung und Vollendung wird ihnen aber erst durchs Leiden.

Mit der ganzen Willigkeit und frommen Ergebenheit im An­

gesicht der Schmerzen und Trübsale sprechen können: Nicht wie ich, sondern wie du willst, so kindlich demüthig zuletzt in das jeder äußern Thätigkeit beraubte Dulden eintreten, das grade ist das höchste sittliche Thun, darin grade wird erkannt die volle sittliche Kraft.

Und hatte

Petrus durch sein kräftiges Wirken thätig im Weinberg des Herrn ge­ arbeitet, o von seinem Kreuz in Rom, von den Marter- und Todes­ stätten seiner vielen Glaubens- und Leidensgenossen sind wahrlich nicht weniger reinigende, heiligende, tröstende, beseligende Gotteskräfte in die Gemeine und in die Welt ausgeströmt.

Deshalb auch heute, wenn in

Ergebung das von Gott gegebene Kreuz getragen wird, wie der Dulder selber darunter heranwächst zur vollen Reife, so wird sein Leiden auch gesegnet werden an andern Seelen.

Es ist dieselbe Liebe des Herrn,

die uns ruft in die Thätigkeit gläubiger Liebe, dieselbe, welche uns zn seiner Zeit reicht den Kelch, damit durch beides

das Reich Gottes

komme, nämlich Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist. ■— Das Zweite, der Gegensatz in den Geschicken des Lebens

und

Sterbens der Jünger! Haben wir es nicht schon durchgefühlt, daß die verschiednen Geschicke des Petrus und Johannes theilweise ihrem Der» schiednen Gemüthe entsprachen? Der stürmische, schnelle und deshalb oft vorschnelle, leicht erregte und darum leicht kleinmüthige Petrus, im Sturm konnte er gleichsam nur die Ruhe, nur im Kampf die aushar­ rende Kraft, nur in

den Wegen der Trübsal die Ergebung erringen.

Johannes hat in den geheimen Tiefen

seines Gemüthes schon

früh

durchgekämpft den Kampf, in welchem die alte unreine Natur des Donnerskindes Raum gab der neuen Natur, die Christi Liebe in ihm erweckte.

Das Friedenskind es reist im Frieden heran zum vollen

Mannesalter in Christo.

Es ist die Weisheit der erziehenden Gottes­

liebe, welche die verschiedenen Charaktere und Persönlichkeiten in ver­ schiedener Weise erzieht.

Freilich es

wird für unser Auge das nicht

in allen einzelnen Fällen so schon offenbar sein, wie bei diesen beiden

285 Jüngern.

Aber in dem Glauben an die erziehende Gnade Gottes wissen

wir, daß dieselbe die Ihrigen auch durch Sturm zur Stille, durch Leid zum Frieden, durch Mühe zur Vollendung, durch Kampf zum Siege hindurchführt.

Meine G., wie Petrus gefragt wird: Hast du Christum

lieb und von Johannes gesagt wird, das war der Jünger, den Jesus lieb hatte, so wird von dem Tod des Petrus gesagt:

Er habe damit

den Herrn gepriesen und wir dürfen von dem Abschied des Johannes sagen, der Herr habe ihn durch solchen Tod verklärt.

Aber ist dieser

Gegensatz im Leben und im Sterben der Jünger doch nicht im Mit­ telpunkt nur das Eine, zu dem man von zwei Seiten kommt? Petrus liebt den Herrn, warum? weil

dieser Worte des ewigen Lebens hat,

weil er der Christ ist, der Gesalbte der göttlichen Liebe, der Sohn die­ ser Liebe selbst, er liebt Christum, um seiner, um der Gottesliebe und ihrer Beseligung theilhaftig zu werden.

Johannes ist der, den Jesus

lieb hat und der so ganz diese Liebe fühlt und kennt, darum so kindlich vertrauend sich an Jesu Busen schmiegt.

Was wird in ihm die Er­

fahrung von dieser Liebe des Herrn? Das volle Wiederlieben, wie er's bezeugt: „Lasset uns ihn lieben,

denn er hat uns erst geliebt."

Auch

über den Abschied des Johannes ist die Verklärung des Erlösers aus­ gegossen.

Warum? weil dieser Jünger im Leben so ganz den Herrn

verklärt, so ganz aus seiner Liebe heraus gelebt hatte und noch mit dem letzten, schwachen Wort: „Kindlein liebt euch untereinander" des Herrn Geist in die Gemeine getragen hatte. gentode des Herrn.

Petrus preist mit seinem Zeu­

Welch ander Wort glänzt über ihm als das köst­

liche*): „Wer mich bekennt vor den Menschen, den will ich bekennen vor meinem himmlischen Vater."

Deshalb wo der Herr gepriesen wird

durch das Dulden von seinem Jünger, er läßt den Himmelsglanz seiner Liebe und seines Friedens auf ihn zurückfallen und wo der Herr durch den reichen Segen und den stillen Frieden

das Ende eines Jüngers

verklärt, der Jünger legt auch sterbend seine Krone nieder vor dem Herrn und spricht dankend und anbetend: „Dir, deinem Namen allein die Ehre."

Wohlan, Geliebte, wir

*) Matth. 10, 32.

wissen nicht, wie lange wir im

286 thätigen Wirken stehen sollen, wie bald das die äußere Thätigkeit hem­ mende Leiden auch uns ereilt. lige Gottesliebe.

Zu beidem ruft und führt uns die hei­

Wir wissen nicht, ob wir aus dieser Welt einst gehen

werden mehr in der Weise des Johannes oder mehr in der Weise des Petrus.

Aber das Eine oder das Andere, die Weisheit der Gnade

bestimmt es uns nach unserer Eigenthümlichkeit zu unserem Heil.

Nur

um das Eine laßt uns sorgen, daß wir nach beiden Seiten hin auf die Frage: Hast du mich lieb? stets

mit gutem Gewissen antworten kön­

nen: „Du weißt, daß ich dich lieb habe."

Nur das Eine laßt uns

mit kindlichem und heldenkühnem Glauben festhalten: Auch wir sind die Jünger, die der Herr lieb hat.

Dann selig die durch Kampf zum

Siege, selig, die aus dem Frieden in den Frieden übergehen.

Amen.

Die christliche Freude. IV. Rach Ostern.

Text: Johannes 16, 16—22. Ueber ein Kleines, so werdet ihr mich nicht sehen; und aber über ein Kleines, so werdet ihr mich sehen, denn ich gehe zum Vater. Da sprachen Etliche unter seinen Jüngern unter einander: Was ist das, daß er sagt zu unS: Ueber ein Kleines, so werdet ihr mich nicht sehen, und aber über ein Kleines, so werdet ihr mich sehen, und daß ich zum Vater gehe? Da sprachen sie: Was ist das, daß er sagt: Ueber ein Kleines? Wir wissen nicht, was er redet. Da merkte Jesus, daß sie ihn fragen wollten, und sprach zu ihnen : Davon fraget ihr unter einander, daß ich gesagt habe: Ueber ein Kleines, so werdet ihr mich nicht sehen, und aber über ein Kleines, so werdet ihr mich sehen. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet wei­ nen und heulen, aber die Welt wird sich freuen; ihr aber werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll in Freude verkehrt werden. Ein Weib, wenn sie gebiert, so hat sie Lieder: Nr. 90. 690, 1—4. 532, 6.

288

Traurigkeit, denn ihre Stunde ist gekommen; wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst, um der Freude willen, daß der Mensch znr Welt geboren ist. Und ihr habt auch nun Traurigkeit; aber ich will euch wieder sehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll Niemand von euch nehmen. Jubilate! Jubelt, freuet euch! so Geliebte im Herrn, wird aus alter Zeit her der heutige Sonntag genannt. Jubilate, das ist ein Klang aus der fröhlichen, seligen Osterzeit. Aber wir fassen das nicht so auf, als erklinge und verklinge dieser Ruf zugleich mit und in dieser öster­ lichen Zeit. Eigentlich ist jeder Sonntag ein Ostertag, Auferstehungs­ tag, damit ist jede Woche zu einer Osterwoche geweiht. So soll auch dieser Osterklang als ein beständiger das kirchliche Leben durchtönen. In der That, die Freude gehört recht eigentlich zum Wesen des Christenthums. Mit wiederholten Seligpreisungen beginnt der Herr seine erste größere Rede an die, welche sich als werdende Jünger um ihn gesammelt hatten. Selbst für die schwersten Zeiten der Leiden for­ dert er sie zur Freude auf: „Freuet euch, hebet eure Häupter auf." „Freuet euch in dem Herrn allewege," ruft' Paulus*), „und abermals sage ich freuet euch." Wie nach seinem Wort das Reich Gottes in der Gerechtigkeit besteht, in der kindlich gehorsamen Vollbringung des gött­ lichen Willens, so in Friede und Freude im heiligen Geist. Wo nicht Freude ist, da kann nicht Dankbarkeit sein, nicht Vertrauen, nicht kind­ licher Glaube, da kann nur Finsterniß die Seele umhüllen, und die schlimmen Ausgeburten finstrer Selbstsucht, Mißtrauen,'Hochmuth, Ver­ schlossenheit gegen Gott und Menschen. Ohne Freude ist man fern vom Reiche Gottes, von Christo, ob man auch in strengsten, gottes­ dienstlichen Uebungen sich selbst vermessen möchte, daß man fromm wäre. Aber allerdings nicht jede Freude ist Christenfteude. Es giebt auch eine Art sich zu freuen, über welche der Heiland das Wehe ruft, *) Phil. 4, 4.

289 indem er warnend spricht*) **): „Wehe euch, die ihr hier lachet, denn ihr werdet weinen und heulen."

Nun unser verlesenes Evangelium

redet auch von der Freude und zwar von der Freude der Jünger Christi, also von christlicher Freude.

Zwar wird auch des Leides, der

Traurigkeit, wie sie Jesu Jünger erfahren, gedacht; aber Leid und Traurigkeit erscheinen hier als das Vorübergehende, die Freude als das Bleibende, Leid als die Mitgabe auf den Weg, damit selbst als ein Mittel von dem Herrn des Weges geordnet, Freude als der Zweck und das Ziel. So dürfen wir nach unserm Text bei der Freude des Chri­ sten heut mit unserer Betrachtung stehen bleiben.

Wir fassen dieselbe

zuerst nach ihrem Grunde, dann in ihrer Verdunklung und ihrem Kampfe, endlich in ihrem Siege und ihrer Dauer ins Auge. II.

Wir fragen zuerst nach dem Grunde der christlichen Freude.

Gilt eS da noch lange zu fragen? O blick jetzt hinein in des Lenzes so überaus liebliche Herrlichkeit, in das saftige Grün der Felder und Wie­ sen und des so reizend sich schmückenden Waldes, in die duftige Farben­ pracht der Blüthen und Blumen.

Hebe in heller Nacht die Augen em­

por zum Gewölbe des Himmels, zu den Vieltausenden, leuchtenden, strah­ lenden Welten, die im unendlichen Raume schweben! Sieh- wie die Königin des Tages so erhaben ihren täglichen Lauf beginnt und be­ schließt, wie der Himmel des Ewigen Ehre und die Beste seiner Hände Werk verkündigt! — Syllte das nicht Grund zur Freude und zwar zur wahrhaft christlichen Freude sein? Und wieder erwäge, wie diese Welt mit ihren zahllosen Wesen und ihren so verschieden gestalteten Kräften dir eine unendliche Fülle von Gütern darbietet und wie du leiblich und geistig mit allen Kräften begabt bist, durch welche das Werk der mensch­ lichen Naturbeherrschung in Kenntniß gebendem Forschen, in mit Er­ folgen gekröntem Arbeiten immer weiter fortschreitet und gelingt, schmecke und sieh, wie so der Herr so freundlich ist und die Erde so voll seiner Güter! Ist das nicht Grund zur Freude und auch zur christlichen Freude? Und endlich: „Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei." Du bist nicht allein.

Du kannst täglich aus Erfahrung sagen, was

*) Lukas 6, 25. Thomas, Glaube an Christus.

290 treue Liebe heißt. Du darfst dich kindlich vertrauensvoll an Vater- und Mutterbrust lehnen, dir lächelt stets frische und gleiche Liebe aus dem Auge deines ehelichen Gemahls entgegen, dir schlagen dankbar die Herzen in dem Busen deiner Kinder. Du bist mit Bruder oder Schwester, mit Freund oder Freundin innig verbunden. Kurz du lebst in Liebe, aus Liebe, durch Liebe. — Ist das nicht Grund zur Freude und zwar zur christlichen Freude? Man sollte solche Fragen, denken wir, wohl beja­ hen und man darf und muß auch sagen: Wer diese Gründe der Freude nicht anerkennt, wer sich dadurch nicht erfreuen läßt, der ist nicht fromm, kann nicht Jünger oder Jüngerin Christi sein. Aber solche Freuden, wie sie auf den erwähnten Gründen ruhen und aus den ge­ nannten Quellen fließen, hatten gewiß zu manchen Zeiten die Jünger früher schon gehabt, ehe sie zu Christo kamen und sie werden von vie­ len auch jetzt noch genossen ohne Gemeinschaft mit ihm. Wir sind da­ mit noch nicht zur eigenthümlich christlichen Freude, weil noch nicht zur rechten, gründlichen Freude gekommen. Wie steht es mit allen diesen Freuden? Ich will nicht dessen gedenken, daß es lautet: Himmel und Erde werden vergehen und daß alle Freuden, die genannt sind, damit den Stempel der Vergänglichkeit tragen. ES kommt uns die Sterbe­ stunde, wie wird uns da der Glanz des Forschens, Wissens und Arbeitenö erbleichen, wie werthloS werden da alle Erdengüter sein, wie wer­ den die Bande wärmster Liebe durch des Todes eiskalte, erbarmungs­ lose Hand uns da zerschnitten werden. Doch wie gesagt, dessen wollen wir nicht weiter gedenken, aber das sei hervorgehoben, wie doch in alle schöne Harmonien natürlicher und geselliger Freude immer wieder so schneidend und herzzerreißend die Mißtöne hineinklingen, die aus den Sünden der Welt, aus der Welt, die im Argen liegt, entstehen. Dessen sei gedacht, wie derselbe Dichter, welcher ruft: „Die Welt ist vollkom­ men überall, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual" auch sagt: „Der Uebel Höchstes ist die Schuld" und damit unsere Schuld, unsere Sünde als die Quelle der übrigen Uebel uns darstellt. Daran muß ich erinnern, wie unsere eigne Sünde uns so vielfach jene gottge­ gebenen Freuden vergällt, vergiftet, vernichtet. Da müssen wir dem Grunde und Wesen der eigenthümlich christlichen Freude noch tiefer

291

nachforschen. Im Evangelio sagt der Herr: Ihr sollt euch nach der Traurigkeit wieder freuen; denn, spricht er, ich will euch wieder­ sehen. Und ebenso, wenn er ihnen die kommende Traurigkeit ankün­ digt, also das Aufhören der gegenwärtigen Freude, so ist der Grund: Ueber ein Kleines, so werdet ihr mich nicht sehen. Ihn sehen und ihn haben, das ist der Grund ihrer Jüngerfreude. So grade hatte er zu ihnen gesprochen*): „Selig sind die Augen, die da sehen, das ihr sehet," so als Petrus im Glauben ihn erkannt und als seinen Heiland ergriffen hatte, wurde diesem das Wort**): „Selig bist du Simon, Jonas Sohn." Was sahen und hatten die damaligen, was sahen und haben die heutigen Jünger in Jesu? Ach nach langem Seufzen und Bangen unter der Sünde und Schuld und allen Uebeln, die daraus entsprangen und damit zusammenhingen, -war ihnen endlich in Jesus der Christ, der Heiland erschienen. Sie sahen in ihm die Erfüllung gnädiger Zusagen und Verheißungen. Sie schauten in ihm das Offen­ barwerden und Sichmittheilen göttlicher Liebe. In ihm und durch ihn gewährte die ewige Barmherzigkeit Vergebung, nahm auf in ihren Frie­ den, in ihre Kindschaft. In ihm machte sich Jahveh auf, - um selbst als der gute Hirte die Heerde zu sammeln, zu retten, zu weiden. In ihm waren die heilenden und heiligenden Kräfte der Gnade, in ihm der Vater, der seinen Kindern sich mittheilt und ihnen es verbürgt, daß nichts sie mehr von seiner Liebe scheiden solle. Versöhnung durch Christum, Erlösung in dem Glauben an ihn, das Reich Gottes in seiner Gemeinschaft war ihnen aufgegangen — das der Grund ihrer Freude, und dadurch war sie eine wesentlich christliche. So ruft Paulus: Freuet euch in dem Herrn. So singen wir im Liede: „Daß ich einen Heiland habe, mich an seinen Gütern labe und in sein Verdienst mich kleide, das ist meiner Seelen Freude." „Daß ich einen Heiland habe, der mit treuem Hirtenstabe mich zu grünen Auen leitet, das hat Liebe mir bereitet." „Daß ich einen Heiland habe, der mich liebte bis zum Grabe, der nun lebt als Ueberwinder, has gewähret Trost dem Sünder." Ja Christenfreude ist die an der ewigen Liebe Gottes in *) Lukas 10, 23. **) Matthäus 16, 17.

292 Christo, an dem von ihr stammenden Heil, an der gewährten Versöh­ nung, Erlösung, Heiligung. auch erst wieder recht

Bon diesem Grunde

eigentlich und

Guten, das sonst uns wird.

aus freut man sich

recht tief all

des Schönen und

Christi Erlöster, — ja ihm wird die schöne

Welt wieder das von Gott gepflanzte Paradies, welches die Liebe uns mit allem Liebreiz schmückt und mit reichsten Früchten segnet.

Christi

Erlöste, wo ihnen die Natur ihre Gaben gewähren muß, als Vaters Gabe und Gut nehmen sie dieselben, denn sie wissen sich als Kinder seiner Liebe.

Christi Erlöste schmecken erst recht selig das Süße in den

Banden treuer Liebe, denn menschliche Liebe ist ihnen Ausfluß der Gotteöliebe und durch des Erlösers Liebe wird auch Menschenliebe rein und tief und fest und eine solche, die nicht aufhört, die stärker ist als der Tod.

Die Freuden an der Schöpfung sind nur christlich, wenn sie

eingetaucht sind in die Freude an der Erlösung und wenn sie aus derselben von neuem geboren werden.

Die Freuden an den Nebenmenschen und in

den Verbindungen des menschlichen Lebens sind nur christlich, wenn sie in die Freude an der Liebe Christi eingetaucht, wenn sie in dieser hei­ ligen Flnth geläutert, geadelt, inS Ewige erhoben werden.

Aller christ­

lichen Freude Grund ist und bleibt Christus, die Gemeinschaft mit ihm, die Erlösung in ihm. II.

Aber wie ist eS mit dieser christlichen Freude?

Die Sonne

am Himmel bleibt nicht, sondern verschwindet jeden Tag und läßt für die Nacht die Welt in Finsterniß zurück.

Die Sonne am Himmel der

geistigen Welt, seitdem sie in Christo als ewige Liebe aufgegangen ist, geht nicht unter, sie sendet immerwährend ihre erwärmenden, befruch­ tenden, labenden Strahlen in die geistige Welt christlicher Gemeinschaft. Darum freuet euch allewege, darum der Osterklang „jubelt," soll eigent­ lich, wie wir im Anfang bemerkten, beständig dnrchs ganze christliche Leben hindurchtönen.

Aber ist denn in der That diese christliche Freude

so Wandel- und wechsellos? Der Herr sagt in seinen Worten den Jün­ gern daS Gegentheil voxaus.

„Ueber ein Kleines so werdet ihr

mich nicht sehen" — „Ihr werdet weinen und heulen."

Er

selbst ward das Opfer, welches die Sünde der Welt in erschreckender Waise auf Golgatha schlachtete.

Ihn verloren die Jünger, darum:

293 „Ihr werdet traurig sein."

Aber doch nicht eigentlich in seinem Tode

lag der letzte Grund ihrer Traurigleit. Grund in ihnen selbst lag. ben allem dem, das

Er schilt sie vielmehr, daß der

„Ihr Thoren und trägen Herzens zu glau­

die Propheten geredet haben."

Christus solches leiden und zu

„Mußte nicht

seiner Herrlichkeit eingehen*)?"

Der

Heiland lehrt uns sein Todesleiden als seine vollendende Verklärung aufsassen, seinen Kreuzestod als den Grund des Heils.

In der That mit

Christi Sterben zerreißt der Vorhang vor dem Allerheiligsten, fällt die Hülle, welche Gottes Wohnen unter den Menschen verbarg, offenbart und theilt der Ewige seine Liebe der empfänglichen Menschheit mit.

Aber

die Augen ihres Geistes waren gehalten, daß sie so Jesu Tod und Jesum nicht sahen.

Ihr Herz konnte darum die Gewißheit seiner sieg»

reichen Auferstehung nicht fassen.

Kurz ihre Freude wurde umdunkelt

von dem Klein-, von dem Schwachglauben ihrer Seelen.

Da gilt auch

für sie: „Ein Weib, wenn sie gefrieret, hat sie Traurigkeit." In ihrer Traurigkeit ringen sie nach der Freude an und in dem Herrn, ringen danach, daß diese Freude wieder an und ins Leben geboren werde.

Es geht noch heute so mit der Freude in den Herzen und in

dem Leben der Christen.

Wir sind noch nicht darüber hinaus, daß es

nicht in unserem gemeinschaftlichen christlichen Leben lautete: „Ihr wer­ det weinen und heulen," „ihr werdet traurig sein, sich freut, ja jubelt."

während die Welt

Jedes wirkliche Christenleben beginnt mit dem:

„Wir haben den Heiland gefunden," darum mit der Freude, und mit dem Anschluß an ihn, mit der Zuversicht, nun auch dem Himmelreich anzugehören.

Darin liegt aber auch, was die Jünger auf dem Wege

nach Emmans aussprechen: „Wir hofften, er sollte Israel erlösen." Wie man nämlich ihn selbst mit froher Zuversicht als Wahrheit und das Leben ergreift, so

den Weg, die

auch mit der Zuversicht, daß er

die Gesammtheit, die Gemeinschaft, in der wir uns befinden, erleuchten, führen, erlösen, heiligen werde, daß die Gottesgemeinschaft, die bürger­ liche Gemeinschaft, die Hausgemeinschaft durch ihn mit einem neuen Geist erfüllt, mit göttlichem Leben

*) Lukas 24, 25. 26.

werde durchdrungen werden.

Er-

294 scheint uns doch unser Wohl und Wehe, unser Glück und Heil so ganz abhängig von diesen Gemeinschaften, in denen wir leben und weben, so ganz mit der Beschaffenheit dieser Gemeinschaften verflochten, verwach­ sen.

Wenn in ihnen Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist

waltet, wie sollte aus diesen unseren Lebenskreisen uns

nicht auch

Stärkung und Belebung der eignen Gerechtigkeit und friedvollen Freude in die Brust strömen? Wenn in diesen Lebenskreisen die Selbstsucht mächtig ist, die Sünde herrscht, muß das uns nicht als schweres Aerger­ niß auf die Seele fasten, uns als gewaltiges Uebel belasten, die Freude uns stören und zerstören, mit Schmerz und Traurigkeit uns erfüllen? Nun es wollte

uns sich wohl manchmal

schwellen, daß in christlicher Gemeine

hoffnungsvoll der Busen

aus der Kraft des Wortes und

Geistes Christi sich wieder ein Leben im Glauben und in der Liebe herausbilden werde, wie das in der Apostel Tagen, wo sie waren ein Herz und eine Seele und wo jedes Bedürfniß durch treue Hand­ reichung seine Befriedigung fand.

Wir faßten die Zuversicht, daß in

staatlicher und bürgerlicher Gemeinschaft strenge Gerechtigkeit allein das Heft führen und von allen Seiten Freiheit im Gehorsam, Gehorsam im männlichen Muth für Wahrheit und Recht, das Volk durchdringen und erfüllen werde.

Wir wurden der Erwartung voll, daß in den

Häusern der Geist milder, sanfter, geduldiger, nachsichtiger, vergebender Liebe seine bleibende Stätte haben sollte! Aber wem ginge es denn nicht so, daß ihm bald auf diesem, bald auf anderm Gebiet grade das Gute, an welches sich seine Hoffnung knüpfte, sich zu Urtieren schien, daß er statt dessen bald hier, bald dort ungöttliches Wesen, Selbstsucht, Eigennutz, Hochmuth, Herrschsucht, Neid, Feindschaft mächtig werden sah? Und was ist das, als ein erneutes Hingegeben werden Christi in die Verdammniß des Todes? Und was scheint daraus hervorzugehen als das, was der Jünger Klage in Betreff des Gekreuzigten war: Der Geist der Welt ist mächtiger als der Geist Gottes, Selbstsucht und Sünde wiegen auf Erden schwerer als Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe Christi, — die Welt bleibt im Argen.

Und ist so die Sünde

noch mächtig in unseren Lebenskreisen, o er, der so sich kreuzigen läßt, der so aus dem Leben vor unseren Augen verschwindet, könnte er stark

295 sein, in uns das gute Werk der Erlösung und Heiligung zu vollenden? Dürfen wir unsere Zuversicht auf die Macht seiner Gnade setzen? So unwillkürlich drangt sich das Zweifeln und Zagen ins Herz, der Glaube wird Schwach- und Kleinglaube und die Freude und Freudigkeit des Glaubens wird verdunkelt.

Und ist so das Herz erst traurig, weil es

nicht mehr der Kraft und Gnade seines Heilandes, seines Heils und Friedens sich sicher weiß; dann dürfen nur noch andre Stützen unseres äußern Glückes zusammenbrechen, dann darf uns nur noch dies und jenes Gut, diese und jene gewohnte Freude verloren gehen, dann dür­ fen nur treue Herzen, die für uns schlugen, still stehen; — und wie will uns der Stab gebrechen,

auf dem wir in unserer Schwachheit

uns stützen, wie will unö die Quelle des Trostes versiegen, aus der wir uns Erquickung schöpfen, wie stürmt auf uns herein, was der Herr sagt:

„Ihr werdet

weinen

und

heulen."

Freude, nichts ist vorhanden, als das Ringen

Verdunkelt ist die der Seele,

der heiße,

schwere Kampf, sie wieder zu gewinnen. III.

Wohl giebt die Welt mit ihren äußern Erscheinungen zu die­

sen niederschlagenden Vorkommnissen im Leben des Christen die äußere Veranlassung.

Aber laßt es uns noch einmal hervorheben, der eigent­

liche Grund liegt doch an uns, in unserm Schwach- und Kleinglauben. Wo der waltet, da können die Augen den Auferstandenen nicht sehen, da kann man seine siegreiche Kraft nicht gewahren.

Wie aber der Herr

nicht im Grabe bleiben konnte, so auch die einmal aufgegangene christ­ liche Freude nicht in der Verdunklung,

wie er hervorbrach nach dem

Todeskampf ins Leben, so dringt auch die christliche Freude aus ihren Kämpfen zum Siege und in dem Siege zur Gewißheit ihres ewigen Mährens.

„Ihr" und „die Welt," die Menschheit, wie sie noch der

Selbstsucht verfallen ist, stellt der Erlöser gegenüber. Jünger, „werdet trauern."

„Ihr," meine

Als seine Jünger, die sich sein hatten

freuen lernen, konnten sie wieder von Traurigkeit ergriffen werden, aber diese war eine eigenthümliche, eine andre als die weltliche.

Ihre Trau­

rigkeit bezog sich eben darauf, daß sie ihn verloren hatten und daß sie seines ^>eils und seines Geistes und Lebens sich nicht als ihres Besitz­ thums trösten konnten! Das ist bei aller Verdunklung christlicher Freude

296

immer der Christen eigenthümliches Trauern. Wer einmal mit geisti­ gem Auge hineingeschaut hat in das holdselige Antlitz de.- Erlösers, wie es wiederstrahlt Heiligkeit, Liebe und Wahrheit, wer einmal sich wahrhaft ergriffen fühlte von seinen Worten des ewigen Lebens, wen einmal die Entfaltung seines ganzen Seins in seinem Thun und Leben wie mit unsichtbaren Banden umwob, wenn auch das Aufjauchzen des ersten Glaubens den Zweifeln, dem Bangen, dem Trauern, dem Kleinund Schwachglauben weichen mußte, — ja doch an ihm hängt die Sehnsucht der Seele, doch grade sein Verschwinden ist die Ursach des Schmerzes,' das Mangeln seines Geistes, seines Lebens, das sich Ver­ lassenfühlen von der helfenden Gottesliebe ist es, was betrübt. Und selbst da, wo äußere Veranlassungen die Traurigkeit steigern, diese geht im letzten Grunde darauf, daß das innre Auge eben den Heiland nun noch viel weniger erkennt. Wenn Schönes und Liebliches, was das Herz erfreute, verloren ging, es will sich damit eine finstre Wolke vor das Angesicht dessen lagern, von dem alle gute und vollkommne Gabe herabkommt. Wenn uns genommen werden, die in treuer Liebe uns angehörten, es kann das umflorte Auge nicht die Urliebe, die Gottes­ liebe schauen. Wäre diese Liebe, die des Vaters, wie sie erschienen ist Christo, nur dem Geiste klar und sicher, ach er würde sich trösten über MeS und sprechen: „Herr, wenn ich nur dich habe." Kurz die Trau­ rigkeit ist mehr oder weniger die, daß die heilsame Gnade Gottes sich der Seele entzogen hat. Das aber ist eine göttliche Traurigkeit. Der Erlöser vergleicht sie so treffend mit den Geburtswehen, die da sind wie Todesschmerzen, die wie an, ja wie in den Tod hineinführen und doch den neuen Menschen ins Leben führen und damit zugleich selige Freude und Wonne. Der Herr läßt das glimmende Docht nicht auslöschen. Die Gnade Gottes in Christo ist noch heute dieselbe, welche spricht: Ueber ein Kleines, so werdet ihr mich sehen, denn ich gehe zum Vater; ich will euch wieder sehen und euer Herz soll sich freuen. Redet der Heiland damit von seinen Erscheinungen un­ ter den Jüngern nach seiner Auferstehung? Wohl mit davan, aber nicht allein und nicht hauptsächlich davon. Wäre es bei diesen mehrmaligen Erscheinungen des Auferstandenen geblieben, nun die Jünger wären

297 wohl dadurch erfreut worden, aber diese Freude hätte, je mehr dieselben in die Vergangenheit rückten, an Kraft verloren, es hätte nicht heißen können: „Eure Freude soll niemand von euch nehmen."

Ebenso

sagt der Herr: „Ihr werdet mich sehen, denn ich gehe zum Vater, und weist damit hin auf den Zeitpunkt, wo er zur Rechten thronend, nicht mehr hier in äußrer Erscheinung sich darstellt.

Welches

ist der Tag, von dem Christus den Jüngern spricht? Das ist, wenn wir so sagen dürfen, der zweite und letzte große Tag ihres Lebens auf Erden, zu dem sich ihre früheren Jahre wie der erste Tag, wie ein Vorbereitungstag verhielten.

Dieser zweite Tag ihres Lebens brach

ihnen an, als Jesus nach seiner Verheißung ihnen den Tröster, den Geist der Wahrheit, Kraft und Liebe sandte.

Als dieser Geist Gottes

bei ihnen einkehrte, da gewann ihre christliche Freude den herrlichen Sieg über die Traurigkeit.

Dieser Geist verklärte ihnen in ihrem Geiste

Christum in der ganzen Herrlichkeit seines Lebens und seines Sterbens, darum in der Herrlichkeit seines Auferstehens, in der Herrlichkeit, ver­ möge welcher er zum Vater gegangen

ist und für die Seinen besitzt

älle Gewalt im Himmel und auf Erden, in der Herrlichkeit, vermöge welcher er, weil er thronet zur Rechten der Majestät in der Höhe, eben auch bei den Seinen ist alle Tage bis an der Welt Ende.

Die äußere

Welt war dieselbe geblieben, und gewiß nach der Klarheit des Geistes, die ihnen beiwohnte, blieb es ihnen nicht verborgen, daß Bande und Trübsal, Schmach und Tod ihrer warteten.

Aber von Gottes Geist

mit Christi Liebe und Leben durchströmt, ist eö ihnen unzweifelhaft:

Der

das gute Werk in uns hat angefangen, der wird eS auch vollenden und der fein Blut in Liebe der Erde hat zu trinken gegeben, der kann diese Erde nicht missen, nicht aufhören, daS Reich Gottes als Alles durch­ ziehenden Sauerteig in ihr wirken zu lassen, bis daß er sein ganzes Werk hinausgeführt hat zum herrlichen Siege.

In voller Freude haben

sie keine sorgende Frage mehr: Herr, wirst du auch zu dieser Zeit wie­ der aufrichten das Reich Israel? Sie sind in seiner Liebe, -sind im Himmelreich.

Selig ruhen sie in dieser Freude, die niemand von ihnen

nehmen kann, die ewig dauert. in Ewigkeit.

Christus gestern und heut und derselbe

Haben wir schon die Freude gewonnen, daß wir in ihm

298 den Heiland schauten, daß wir durch ihn die Liebe und Gnade GotteS, die versöhnt und erlöst, ergriffen und anbeteten, daß wir seines Heils uns freuten und getrösteten? Weiter, wenn uns wieder Traurigkeit über­ kam, war der Kern derselben der, daß wir des Menschensohnes Leben und Wirken und Sieg so vielfach in der Welt vermißten, vielmehr noch, daß eben wegen unseres schwachen Glaubens noch so wenig sein Geist und Leben uns regierte? O ich will euch wiedersehen und ihr sollt mich sehen als den zum Vater Gegangenen.

Er giebt uns gewiß und

in immer reicherem Maaße den heiligen Gottesgeist, der uns mit betn Feuer seiner Liebe und mit der Kraft seines Lebens durchströmt, der uns fest und sicher macht, daß Gott uns in seine erlösende, erziehende, vollendende Gemeinschaft aufgenommen hat, daß nichts aus seiner Hand uns zu reißen vermag.

Da muß die Traurigkeit das Herz verlassen

und siegreicher Freude Raum gewähren.

Diese Freude kann die Welt

nicht nehmen, die höret nimmermehr auf, sie ist die Freude an der uns zu Theil gewordnen, keinen Wechsel des Lichtes kennenden Liebe der Gottheit.

Meine Geliebten, wohl manches Schöne in unserem Leben

werden wir verblühen und verwelken sehen und schmerzliche Gefühle werden sich ins Herz drängen. Aber wie auch dies Vergängliche vergeht, die Liebe die es gab, die unendlich reiche und ewig neu gestaltende, die bleibet uns.

Und wenn bittre Thränen fließen müssen, weil wir solche

scheiden sehen, die durch treuste Liebe uns verbunden waren, im Lichte der Liebe Christi, im Geiste, der ihn uns verklärt, wird uns das Ster­ ben ein Ausgestalten zu neuem herrlichen Sein, ein Aushelfen zum himmlischen Reich, die Vollendung des Erlösungswerkes.

Durch die

Bitterkeit des Schmerzes zieht sich ein seliger Friede, die Freude reichen Himmelstrostes hindurch.

Ja aller Sünde und allem Bösen in unse­

rem sittlichen Gemeinschaftsleben gegenüber giebt der Geist Gottes uns die Gewißheit, daß der Fiirst dieser Welt gerichtet ist und daß zuletzt Gott Alles in Allem wird.

Darum die christliche Freude höret nicht auf,

das Letzte bleibt: Ich will euch wiedersehen und euer Herz soll sich freuen und eure Freude soll niemand von euch nehmen." Amen.

Singet dem Herrn! V.

Nach

Oster n.

Text: Epheser 5, 18 — 20. Und saufet euch nicht voll Weins, daraus ein un­ ordentliches Wesen folgt, sondern werdet voll Geistes. Und redet unter einander von Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern, singet und spielet dem Herrn in eurem Herzen; und saget Dank allezeit für alles Gott und dem Vater, im Namen unsers Herrn Jesu Christi. 50ietne

theuren Freunde, die Benennung unseres

Sonntages lautet

aus alter Zeit her Cantate, zu deutsch „Singet." diesem Namen eben die Gemeine gemahnt: neues Lied."

Es wird in

„Singet dem Herrn ein

So klang es ja schon vielfach in Israel, so hallten dort

in mannichfachen Wendungen die Mahnungen**): Ehre, wache auf Psalter und Harfe!

„Wache auf meine

Frühe will ich aufwachen.

Herr,

ich will dir danken unter den Völkern, ich will dir lobsingen unter den Leuten."

Das erste Zeugniß eines vornehmen und gebildeten Römers

über die gottesdienstlichen Versammlungen der Christengemeinen berichtet unter Anderem, daß die Gemeinen ein Lied auf Christus als auf einen Lieder: Nr. 50.

648.

*) Psalm 57, 9. 10.

654, 18.

300 Gott jedesmal wechselsweise gesungen hätten.

Die großen Lehrer und

Bischöfe der Kirche werden öfters gerühmt, wie sie sich durch Belebung des Gesanges verdient gemacht haben, bald selbst erhabene Hymnen dichtend, bald des alten Griechenlands Rhythmen und Melodien in die christlichen Gemeinen einführend, bald wieder für Würde und Einfalt der Gesänge sorgend und wachend.

Wie in der Reformation sich un­

sere deutsche Kirche einem erneuerten Glaubensleben entgegenrang, sind es neben der deutschen Bibel und den deutschen Katechismen besonders die deutschen Lieder Luthers und seiner Mitarbeiter, die das Licht des Evangelii mit unwiderstehlicher Kraft in das Leben des Volkes hinein­ tragen, sind es diese Lieder, in denen und an denen das deutsche Volk evangelisch beten, denken, handeln, dulden lernt, sind es diese Lieder, welche die Kirche als einen besondern köstlichen Schatz, eine besondere Gnadengabe

Gottes betrachtet und sich bewahrt.

Wie man

seither

die englische Kirche wohl die betende, so hat man die deutsche die sin­ gende Kirche genannt.

Als eine Gemeine der deutschen,

singenden

Kirche lasset uns denn an diesem Sonntag unser Nachdenken dem christlichen Singen zuwenden, indem wir der verlesenen apostolischen Ermahnung unter dem göttlichen Beistände Ohren und Herzen öffnen. Wir blicken zuerst auf die Veranlassung des Singens und besonders des christlichen und machen sodann aus seiner Quelle uns den Inhalt desselben klar. I.

Das Sprechen ist dem Menschen wesentlich, denn im Sprechen

allein bildet sich das Denken, bildet sich darum der vernünftige Geist. Das Sprechen ist es auf der anderen Seite allein, wodurch die Mensch­ heit als Menschheit sich verknüpft, wodurch der geistige und irdische Verkehr in ihr allein möglich wird.

Ohne das Sprechen gäbe es selbst

keine Entwicklung des Lebens und Wirkens der Liebe. allen klar.

Das ist uns

Aber wie steht es mit dem Singen, mit Psalmen, Hym­

nen und Liedern, die für den Gesang bestimmt sind, die nur im Gesänge erst gleichsam ihr Leben erlangen?

Worin findet der Mensch

überhaupt die Veranlassung zum Gesang?

Wenn in unserm Text es

lautet:

„Singet und spielet dem Herrn in eurem Herzen;"

so werden wir damit auf das Gemüthsleben zurückgeführt.

In welcher

301

Weise nun bewegt und treibt das Herz zum Gesang, zum Liede? Ver­ gegenwärtigen wir uns das eigentliche Wesen des Singens. Das Lied als Spracherzeugniß liebt und sucht besondern Schmuck, besondere Schönheit des Ausdrucks durch Bild und Gleichniß, durch sinnige Wen­ dung, durch das Ebenmaaß der Regel, in welche der Erguß der Ge­ fühls gefaßt wird. Es ist als füge der Geist sich in das Gebundensein durch die Regeln bestimmten Maaßes und Ganges, damit um so mehr in sichtbarer Schönheit frei dahin ströme das innerste Leben. Zu den in Worten verkörperten Gefühlen und Gedanken gesellen sich die Töne in ihrer Lieblichkeit und Erhabenheit und in der Verschmelzung erklingt Gefühl und Gedanke, Wort und Rede, Ton und Weise in wunderbar ergreifender Harmonie. Diese Eigenthümlichkeit des Singens giebt uns schon hinreichendes Zeugniß von seiner Veranlassung. Es kann das Singen nur aus einer gehobenen Stimmung des Gemüthes erwachsen, kann nur in Hochgefühlen wurzeln, muß Erzeugniß der Freude sein. Des­ halb schließt in der jetzigen Ordnung unserer Sonntage so passend das „Singet" an das „Jubelt, freuet euch!" wie es vor acht Tagen er­ klang, sich an. Darauf weist nun auch das hin, was im Eingang unsers Textes gegenüber gestellt ist: Saufet euch nichtvollWeins; sondern werdet voll Geistes. Ein doppeltes wird genannt, Wein und Geist, beides aber als erzeugender Grund wenn auch noch so ver­ schiedener Freude, beides damit zugleich als Veranlassung der Lieder, der Gesänge. Aber wie? wird im Liede nicht auch getrauert um den Verlust, ist es nicht als wollten oft die tiefsten Schmerzen, als wollten die Thränen der Schmerzen ihre Darstellung und Verklärung in den Tönen und Harmonien des Säugers gewinnen? Gewiß die mannichfachsten Gefühle drücken sich im Gesang aus und doch bleibt es dabei, eine gewisse Freude, ein gewisses Hochgefühl ist des Gesanges Veran­ lassung. Wer aufgeht in der Trauer um Verlornes als Verlornes, wer ganz hingenommen und übermannt ist vom Schmerz, dem ist da­ mit auch das Bedürfniß des Gesanges genommen. Sein Herz und Mund öffnet sich nicht für schöne, liebliche Lieder. Auch wo die schmerz­ lichen Gefühle im Gesänge sich ausdrücken, wo die Trauer im Liede laut wird, ist es doch im Hintergründe die wenn auch mehr unbewußte

302 Freude, welche selbst im Schmerz, in der Trauer waltet.

Das Lied

klagt in schmerzlichen Tönen um den entrissenen, theuren Freund, um die entschlafene, heißgeliebte Freundin.

O daher das Lied, daß auch

in diesem Schmerz das Herz in gehobener Stimmung empfindet, was die Entschlafenen ihm gewesen, wie sie in ihm fortleben, daß der Geist zu dem Bewußtsein sich emporringt, sie nie aus treuer Brust verlieren zu können, sich emporringt zu der Hoffnung höherer, geistiger Gemein­ schaft und Wiedervereinigung.

Der Schmerz überhaupt spricht sich im

Liede nur aus, wenn er irgendwie der überwundene ist, wenn ihm irgend eine höhere Kraft und in ihr ein höheres Gut zur Seite steht. Jedes Singen ist Zeugniß der Erhebung oder des Ringens nach der Erhebung, ist Erguß des vollen Lebensgefühles, kurz hat in der Freude, mag sie eine mehr bewußte oder unbewußte, mehr eine offen zu Tage liegende oder eine recht tief verhüllte sein, seine erzeugende Quelle. Welches aber ist die christliche Freude, auf welcher der Gesang der Christen beruht?

Wir versuchen es nicht die drei Wörter Psalmen,

Lobgesänge, geistliche Lieder in unserm Text scharf zu unterscheiden. So viel aber steht wenigstens fest, daß die Wörter Psalm und Lob­ gesang (Hymnus), nur von Gesängen gebraucht wurden, die der Gott­ heit geweiht waren und daß die geistlichen Lieder sicherlich auch auf Gott ihre Beziehung hatten.

Dem entspricht es, wenn es weiter heißt:

Singet und spielet dem Herrn, und saget Dank Gott und dem Vater in dem Namen unsers Herrn Jesu Christi. Das christliche Lied erhebt sich zu Gott, die Freude welche es veranlaßt, kann nur eine Freude an Gott, eine Erhebung in und durch Gott sein. Paulus mahnt:

Singet und spielet dem Herrn, weil er an an­

derer Stelle ermahnen kann und muß*): „Freuet euch in dem Herrn." Der Grund des christlichen Singens ist Freude an Gott, und zwar im Namen unsers Herrn Jesu Christi, d. h. in Jesu, der in seinem Namen uns Gottes Vaternamen gegeben, der in seiner Selbstoffen­ barung uns zugleich Gott offenbart hat, Freude an dem in Jesu offen­ barten Wesen, Willen, Wirken des Ewigen.

*) Philipp« 3, 1.

Die Offenbarung Gottes

303

leuchtet mit ihrem Licht v om Urbeginn an durch alle Lande und ihre Stimme erklingt durch alle Sprachen und Zungen, aber erst in Jesu schließt sie sich uns in voller Reinheit und zugleich in ihrer vollen Lebendigkeit auf. Wir schauen durch ihn die schaffende Macht, durch die alle Dinge gemacht sind und ohne welche nichts gemacht ist, das gemacht ist, in welcher das Leben war und ist, als das Licht der Men­ schen, welche, wie sie schaffend bildet, so erhaltend regiert, welche von einem Blut aller Menschen Geschlechter auf dem Erdboden ausgebreitet und verordnet hat, wie lange und weit sie wohnen sollen, welche in solchem Regieren die Menschen anregt, um von ihnen gesucht und ge­ funden zu werden, da sie nicht ferne ist von einem jeglichen unter ihnen. Diese ewig schaffende Macht, wie sie auf Sinais Höhe und in der Tiefe der Brust ihr Gesetz giebt itnb sich als die heilige be­ kundet, so hat sie sich in der Erscheinung Jesu aufgeschlossen als Gnade und Wahrheit. In seinen Worten des Lebens, in seinem Wandel der Unbeflecktheit, des Gehorsams und der Treue, in feinem Leiden und Sterben der sich selbst aufopfernden Liebe hat uns die Gottheit Erlö­ sung und Versöhnung gestiftet. Ja Gott hat also die Welt geliebt, daß er seinen eingebornen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Diese heilige Liebesmacht hat sich in Jesu bekundet, als die den Geist sendende, im Geist selbst in die Gemüther einkehrende, welche durch Wort, durch Gnadenmittel, durch Gemeinschaft die Seelen mit der Gewißheit der Sündenvergebung, der Gotteskindschaft, des Erbes versiegelt, welche den Seelen die selige Gewißheit gewährt, daß nichts sie scheiden kann von dieser Gottesliebe in Christo Jesu, welche das Himmelreich auf Erden, das Gottesreich in der Menschheit heimisch macht und erhält. Nun Gott den Herrn in seiner Offenbarung anschauen, in seinem weisen Schaffen, Walten und Regieren, das erfüllte schon Israel mit Freude, so daß es lautete*): „Singet dem Herrn ein neues Lied, die Gemeine der Heiligen soll ihn loben, Israel freue sich des, der ihn gesandt," oder**): „Sie sollen loben den Namen des Herrn, denn er *) Psalm 149, 1. 2. **) Psalm 148, 5.

304 gebot, so waren sie geschaffen."

Im Anschauen der Schöpferherrlich­

keit Gottes wird auch des Christen Gemüth nur von Wonne durch­ drungen, daß es

auch bei ihm klingt*):

„Herr du bist würdig zu

nehmen Preis, Ehre und Kraft, denn du hast alle Dinge geschaffen und durch deinen Willen haben sie das Wesen und sind geschaffen," daß auch die deutsche Zunge rühmt: „Wie herrlich ist, o Gott, dein Nam' in allen Landen! Die Himmel und ihr Heer sind durch dein Wort entstanden."

oder: „Wenn ich o Schöpfer deine Macht, Die Weisheit deiner Wege, Die Liebe, die für Alles wacht, Anbetend überlege; So weiß ich vor Bewunderung voll, Nicht wie ich dich erheben soll, Mein Gott, mein Herr, mein Vater!"

Konnte Israel, wenn es der kommenden Rettung aus der Gefangen­ schaft gedachte, schon im freudigen Vorgefühl zum Gesänge sich er­ heben**):

„Wenn der Herr die Gefangenen ZionS erlösen wird, so

werden wir sein wie die Träumenden.

Dann wird unser Mund voll

Lachen und unsere Zunge voll Rühmens sein;"

wie viel mehr der

Christ anschauend die Versöhnung mit Gott, die ewige Erlösung, die göttliche Liebesgemeinschaft für's Diesseits und Jenseits, Schauer der Seligkeit, wie sie sein Herz durchdringen, werden laut werden in lieb­ lichen Liedern.

Bald schwebt der Geist betrachtend um den Eintritt

Jesu in die Welt und die Gefühle des Herzens drücken sich aus, in­ dem es über die Lippe strömt: . „Lobt Gott ihr Christen allzugleich In seinem höchsten Thron! Er schließt uns aus sein Himmelreich Und schenkt uns seinen Sohn."

Bald versetzt sich die Seele nach Golgatha, um sich zu verttefen in das Leiden und Sterben Christt, und ihr Flehen wird laut im Gesang: „Herr stärke mich dein Leiden zn bedenken, Mich in das Meer der Liebe zu versenken,

*) Offenbarung Johannes 4, 11. **) Psalm 126, 1. 2.

305 Die dich bewog von aller Schuld des Bösen Uns zu erlösen."

oder preist: „Wir danken dir Herr Jesu Christ, Daß du für uns gestorben bist, Und unsrer Sünden schwere Last Am Kreuz auf dich genommen hast."

Wieder schaut der Jünger auf den Meister, wie er als der Auferstan­ dene ist der Fürst des Lebens, und der selige Trost, den das Herz ge­ wonnen, findet Ausdruck in dem Liede: „Jesus lebt, mit ihm auch ich, Tod wo sind nun deine Schrecken? Jesus lebt und wird auch mich Bon den Todten auserwecken. Er verklärt mich in sein Licht, Das ist meine Zuversicht."

Das Gedächtniß an das Pfingstereigniß, die Freude daran, daß Gott fortwährend durch Jesum nun seinen Geist ausgießt, lehrt im Gesänge kindlich flehen: „O heil'ger Geist kehr bei uns ein Und laß uns deine Wohnung fein, O komm du Herzenssonne! Du Himmclslicht laß deinen Schein In unsern Seelm kräftig sein, Zu steter Freud und Wonne!"

Also die Freude an Gottes schaffendem, erlösendem und beseligendem Walten in Christo ist die Veranlassung zum christlichen Liede, zum christlichen Gesang. II. Wie aber das Lied, der Gesang, durch wahre christliche Freude veranlaßt, den reinsten, edelsten Inhalt in sich schließen muß; so kann eö im umgekehrten Falle Ausdruck und Erguß der Gemeinheit und Sünde werden. „Saufet euch nicht voll Weins, daraus ein unordentliches Wesen folgt, eigentlich wörtlich, darin die Nichts-' 'Würdigkeit ist. Auf den Rausch weist der Apostel hin, wo vor dem übermäßigen Genuß Vernunft, Gewissen und Alles, was den Menschen zum Menschen macht, zurückweicht, verschwindet. Nicht nur der des Weins, sondern jeder Rausch, d. h. jedes vollständige Hingenommen­ sein des Menschen vom Irdischen und Sinnlichen hat solche Folge und Thomas, Glaube an Christus. 20

306 kann, wenn der Mensch an dem, worin Nichtswürdigkeit ist, seine Freude findet, auch in Liedern sich nur so wiedergeben, daß deren In­ halt verpestet, vergiftet erscheint.

Wir ziehen deshalb den Inhalt des

christlichen Singens noch in nähere Erwägung, indem wir die erzeu­ gende Kraft der christlichen Freude und damit auch des christlichen Ge­ sanges uns vergegenwärtigen.

„Werdet voll Geistes," damit leitet

der Apostel seine Ermahnung zu Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern ein, und stellt so den Geist als die Quelle und Macht hin, aus welcher der Strom des Gesanges entspringt und sich nährt.

Der

Geist aber ist hier kein anderer als der heilige Geist, der Geist der Gottheit, wie er durch Christum den Mittler in die Geister, in die Seelen der Gemeine hineintritt, in ihnen wirket, sie bewegt und regiert. Wie stellt sich dieses Eintreten des Gottesgeistes in die Gemeine, dies Wirken desselben auf die Gemüther, dies fortwährende Einswerden des Göttlichen und Menschlichen in Christi Jüngern dar, wie bethätigt es sich?

Nur in dem, wie ihr, Geliebte, mir gewiß beistimmt, was Pau­

lus als das Wesen des Christenthums hinstellt, in Glaube, Liebe, Hoff­ nung.

Wenn die Seele aus der Tiefe sich zur Höhe erhebt, weil sie

in Christo sich von erbarmender rettender Gnade erfaßt und umfaßt fühlt, wenn sie die freudige, feste Zuversicht sich aneignet, daß ihr in dieser Gnade die Vergebung wurde, und daß sie als ein versöhntes Gotteskind sich an Christi, ja an Gottes Busen betten darf, wenn sie sich so mit dem Erlöser zusammenschließt, daß sie nur leben will durch ihn, in ihm, für ihn, kurz, wenn sie zum Glauben an Christum, an die Barmherzigkeit Gottes hindurchgedrungen ist und immer mehr hin­ durchdringt; dann ist der Geist Gottes in sie eingekehrt, der sie durch sein Wirken heiligt und beseligt.

Und wiederum wenn der Mensch,

der in Christi Gemeinschaft Versöhnung genommen hat und nimmt, der sich bewußt geworden ist, daß er nur von der Liebe Gottes lebt, nicht mehr anders kann, er muß sein eigenes Herz für die Liebe er­ weichen und es der Liebe erschließen, wenn sein Handeln und Leiden von der Liebe beseelt und getragen wird, wenn sein Ernst und seine Milde, sein Strafen und sein Trösten, sein Bitten und Schelten nur der Liebe, die das Heil der Geliebten erstrebt, entspringt, wenn er in

307 der Liebe die Netze des Irrthums und der Selbstsucht, welche die Mitmenschen fesseln, zu lösen strebt, gleichviel, ob es ihm Dank oder Undank einträgt, wenn er in der Liebe zurechthilft, aufrichtet, dient, vergiebt «nd sich gern versöhnt, dann ist der Mensch durch den heiligen Geist ergriffen, ist voll dieses Geistes. Endlich es steht dem Reiche Gottes, dem Reiche der Gerechtigkeit, des Friedens und der Freude im heiligen Geist hier noch immer die Macht des Unglaubens, des Aber­ glaubens und der Selbstsucht feindselig und kämpfend gegenüber. Ferner, wie nach außen hin das Johanneische Wort: „Die Welt liegt im Argen," noch nicht aufgehört hat, wahr zu sein; so auf der andern Seite haben wir für uns selbst noch stets mit der eignen Schwachheit, Gebrechlich­ keit und Sündigkeit zu kämpfen.

Christus in den Tod gehend, äußer­

lich ganz in die Gewalt der Sünder dahingegeben und ganz den Mächten der Vernichtung verfallen, sprach doch im ganzen Vollgefühl seines Sieges: Ich habe die Welt überwunden, und wiederholte es noch, als er das Haupt neigte und rief: „Es ist vollbracht."

Wohlan wo in

ihm die Geister erstarken, daß sie allen Sünden und allem Verderben gegenüber doch die Gewißheit festhalten, daß Gottes heilige Liebe zuletzt triumphirt, daß sie Alles beschlossen hat unter den Unglauben, auf daß sie sich aller erbarme, daß diese Liebe ihr angefangenes, gutes Werk auch vollführen wird bis auf ihren Tag, wenn die Geister in Christo erstarkend auch dem vergänglichen Wesen und selbst dem Tode lernen getrost in's Angesicht schauen, wenn sie fröhlich rufen können*): „Tod wo ist dein Stachel, Hölle wo ist dein Sieg? — Gott sei Dank der uns den Sieg gegeben hat durch unfern Herrn Jesum Christum," wenn sie so in der Liebe der Allmacht und in der Allmacht der Liebe leben, daß sie auch sterbend ihr geistiges Sein und Leben in dieser allmächtigen Liebe getragen und aufbewahrt wissen, daß sie jubelnd rufen**): „Es wird gesäet verweslich und wird auferstehen unverweslich, es wird gesäet in Unehre und wird auferstehen in Herrlichkeit, es wird gesäet in Schwachheit und wird auferstehen in Kraft, es wird gesäet ein natür­ licher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib," kurz wenn sie, *) 1. Korinther 15, 55—57. **) 1. Korinther 15, 43. 44.

SOS bei stets erneuter Versieglung der Vergebung, bei wachsender Heiligung in der Gegenwart, für die Zukunft seliger Hoffnung gewiß sind und so mit Kräften der zukünftigen Welt durchströmt werden, dann ist das Wirksamkeit der göttlichen Gnade, sie sind voll Geistes.

Ist nun der

Gottesgeist, die Fülle desselben, wie sie dem Menschengeist einwohnt und ihn mit Friede und Freude erfüllt,

die Quelle der christlichen

Lieder und Gesänge; so können sie auch nur in Glaube, Liebe, Hoff­ nung ihren Inhalt haben, indem bald das Eine, bald das Andere mehr zur Geltung kommt.

So jubelt denn der Glaube:

„Ich habe mm den Grund gefunden, Der meinen Anker ewig hält."

oder: „Ist Gott für mich, so trete Gleich alles wider mich."

So bricht die Liebe hervor: „Herz und Herz vereint zusammen, Suchet Ruh in Gottes Herz, Lohnt mit reiner Liebe Flammen Eures Heilands Lieb und Schmerz."

So triumphirt die Hoffnung: „Eine feste Burg ist unser Gott, Ein gute Wehr und Waffen--------------Nehmen sie uns den Leib, Gut, Ehre, Kind und Weib; Laß fahren dahin, Sie haben's keinen Gewinn, Das Reich Gottes muß nnS bleiben." —

Sind denn aber die Klagelieder,

welche in tiefer Noth die Hülfe des

Ewigen suchen, sind die Büßlieder, dem tiefsten Leidtragen der Seele entsprossen, sind die Sehnsuchtstöne, wie sie aus völliger Verlassenheit auf Erden manchmal gen Himmel empordringen, sind diese Lieder, wie sie gerade im christlichen Gemüth oft so lebendig den Wiederhall wecken, nicht auch aus dem göttlichen Geist geboren, ist ihr Inhalt nicht auch ein christlicher? Gewiß, aber eben deshalb, weil auch diese Gefühle bei dem Christen ihre Zusammenfassung in Glaube, Hoffnung und Liebe haben.

Wohl senkt im Sündenbewußtsein der Christ sich in die

dunklen Abgründe des Herzens und beklagt seine Schuld; aber doch

309 nur in dem Glauben, der von der göttlichen Liebe Vergebung sucht und empfängt.

Wohl in Schmerz, Trübsal und Angst trauert der

Christ vor seinem Gott und bringt vor ihn seine Seufzer und Thränen; aber in der Zuversicht, daß auch von Gott die Hülfe kommt und daß seine Tröstungen wieder die Seele erquicken.

Wohl, wenn der Christ,

wie es ja manchen Jüngern begegnet ist, sich verlassen, ja selbst sich verstoßen in der Welt sehen muß, wohl schließt er im Gesänge Gott auf das Innere des Herzens, wie es auf's Tiefste leidet; aber doch auch nur so, daß er fühlt: Dein Gott kann dich nicht verlassen noch versäumen und daß zuletzt auch in solcher Klage das muthige Wort Recht behält: „Herr, wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde." — Wie aber, fragen wir endlich, steht es mit Liedern rein menschlichen Inhaltes, in denen z. B. Empfindungen ihren Ausdruck fanden, welche die Natur in ihrer Größe und Schönheit er­ weckt, oder welche sich auf die Bündnisse inniger Freundschaft und zarter Liebe beziehen, oder welche als mächtige Gluth der Vaterlandsliebe, der Tapferkeit und Hingabe für das Vaterland im Busen flammen, sind Lieder solchen Inhaltes nicht christlich, sind sie etwa als heidnisch zu verdammen? Mit Nichten! Ist die Natur nicht unsers GotteS, sind die Freuden aus und in ihr nicht von ihm, ist diese Schöpfung nicht seiner Ehre voll? Und wieder die zarten Bande wahrer Freundschaft und Liebe, wie sie Seelen an einander knüpfen, GotteS Liebe selbst?

sind sie nicht gewebt gleichsam durch

Und hat der rechte Vater, der uns zu Bürgern

des Himmels berief, uns nicht das irdische Vaterland gegeben?

Ja

stammen alle ächt menschlichen Empfindungen nicht von ihm gerade, wie er den Menschen nach seinem Bilde erschuf?

Wie nun alles ächt

menschlich Schöne von Gott angelegt ist, so findet es seine Vollendung und Verklärung, so gewinnt es seine Weihe nur in dem, der als der ächte Menschensohn der eingeborne Gottessohn ist.

Deshalb aber, auch

im Liede soll alles menschlich Schöne im letzten Grunde,

wenn er

auch nicht mit Worten genannt wird, auf dem Glauben des erlösten, des heiliger Liebe geweihten, des in der Hoffnung seligen GotteSkindeS ruhen.

Deshalb, auch wo der Name des Herrn nicht genannt wird,

auch in den Liedern rein menschlichen Inhaltes, wenn sie aus rechter

310

Gesinnung fließen, strömt der Preis Gottes zum Himmel empor, auch sie sind Befolgung der Mahnung: „Singet und spielet dem Herrn," auch sie haben den Inhalt: „Du meine Seele stnge, Wohlauf ihn zu erhöhn, Den Herrn, dem alle Dinge Zu Dienst und Willen stehu. Ich will den Vater droben Hier preisen auf der Erd', Ich will ihn herzlich loben, So lang ich leben werd'."

Wie denn der Geist uns in Glaube, Liebe, Hoffnung mit Frieden und mit Freude erfüllt, so werden wir dem gern in geistlichen, lieblichen Liedern Ausdruck geben, so wird bei uns, wie einst bei den Vätern die Ermahnung des Apostels Gehör und Befolgung finden: „Singet und spielet dem Herrn!" Amen.

Das Gebet im Namen Jesu. VI. Nach Ostern.

Text: Johannes 16, 23—30. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: So ihr den Vater etwas bitten werdet in meinem Namen, so wird er es euch geben. Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen. Bittet, so werdet ihr nehmen, daß eure Freude vollkommen sei. Solches- habe ich zu euch durch Sprüchwort geredet; es kommt aber die Zeit, daß ich nicht mehr durch Sprüchwort mit euch reden werde, sondern euch frei heraus verkündigen von meinem Vater. An demselben Tage werdet ihr bitten in meinem Namen. Und ich sage euch nicht, daß ich den Vater für euch bitten will. Denn er selbst, der Vater, hat euch lieb, darum, daß ihr mich liebet und glaubet, daß ich von Gott ausgegangen bin. Ich bin vom Vater ausgegangen und gekommen in die Welt; wiederum verlasse ich die Welt und gehe zum Vater. Sprechen zu ihm seine Jünger: Siehe, nun redest du frei Lieder: Nr. 46.

331.

340, 7.

312

heraus du alle frage. gangen

und sagst kein Sprüchwort. Nun wissen wir, daß Dinge weißt und bedarfst nicht, daß dich Jemand Darum glauben wir, daß du von Gott ausge­ bist.

Rogate, „Betet" ist, andächtige Freunde, die uralte Benennung dieses Sonntags und liegt darin für uns die Weisung, uns heut mit unserm Nachdenken ganz besonders dem Gebet zuzuwenden. Dem entspricht denn so recht der verlesene Schriftabschnitt, welcher aus alter Zeit her als biblische Lektion in der Gemeine für unsern heutigen Sonntag bestimmt ist. Unser Text hat ja recht eigentlich die Ermahnung zum Gebet zu seinem Mittelpunkt. Wenn der Herr aber früherhin durch Gleichniß und bildliche Rede zum Gebet ganz im Allgemeinen aufgefordert hatte; so giebt er hier, wo er am Ende seines Lebens, kurz vor der Vollendung seines Werkes steht, dem Gebet der Seinen eine feste nähere Bestimmung. Bon jetzt an, schrieb er ihnen vor, sollten sie beten in seinem Namen. Nur dem Gebet in seinem Namen gewährt er seine inhaltreichen be­ seligenden Verheißungen. Er sagt ihnen: Bisher habt ihr nicht gebetet in meinem Namen; von jetzt ab betet nur so, daß eure Freude voll­ kommen sei. Damit ist es auch uns geboten, das Gebet als Gebet im Namen Jesu ganz besonders in die Betrachtung zu ziehen. Wir werden zuerst auf die Nothwendigkeit des Gebetes im Allgemeinen, aber zugleich auch auf die Unzulänglichkeit des allgemeinen, unvermittelten Gebetes blicken, sodann machen wir uns das Wesen des Gebetes im Namen Jesu klar und endlich erkennen wir die Kraft und den Nach­ druck der Ermahnung Christi, sowohl in der Begründung, welche er dem Gebet in seinem Namen giebt, als auch in der Verheißung, welche er damit verknüpft. I. „Betet" das ist eine Forderung, die sich von keinem Glauben, von nichts, was irgendwie den Namen von Religion oder Frömmig­ keit verdient, ablösen läßt. In der körperlichen Natur besteht das besondere Einzelleben nur durch die innige Verbindung mit dem Gesammtleben der Welt, und in dieser Verbindung stellen sich zwei Ver­ richtungen als unbedingt nothwendig heraus, das Einathmen der Luft,

313 das Einnehmen der Nahrung.

In ähnlicher Weise besteht

auch

das

fromme, religiöse Leben des Einzelnen nur durch die innige Verbin­ dung mit dem ewigen Urleben, mit der Gottheit selbst.

Das Ein­

nehmen der Nahrung nach dieser Seite ist, wie der Erlöser es unwenigstens zeigt, das treue Vollbringen unserer Berufsarbeit als einer von Gott gebotenen, darum das nicht Weichen und Wanken von der­ selben, welche Drohung oder Lockung der Sinnlichkeit unS davon auch abwendig machen wollte.

„Meine Speise ist die, daß ich thue den

Willen deß, der mich gesandt hat,"

sagt der Herr*).

Das Odem

holen für das fromme, religiöse Leben ist aber eben das Gebet. dies beides kann es in seiner Gesundheit nicht bestehen.

Ohne

Darum ist

das kurze Sprüchwort unsers Volkes: „Bete und arbeite" eben so tief, wie allumfassend.

„Bete und arbeite." — Kehre ein bei dir selbst

und dann mit dir selbst, mit deinem ganzen Sein, Denken, Fühlen und Wollen in

die Gottheit, tritt auf der Gottheit Gebot aus dir selbst

heraus in die dir angewiesenen Kreise und schaffe Gutes, so viel du vermagst.

Beides ist nothwendig innigst verbunden.

Kann auch ein

Mensch durch das Nehmen der Nahrung sein Leben fristen, wenn die Athmungswerkzeuge ihm ihren Dienst versagen, oder lebt er fort von der Luft, wenn ihm das Brod gebricht?

So lebte der nicht fromm,

welcher ob des Gebetes der Arbeit, oder ob der Arbeit des Gebetes ver­ gäße! Undeutsch, unevangelisch, unchristlich, wenn das Gebet in irgend welches klösterliche Wesen und in eine mönchische Weise ein- und ab­ geschlossen und vom thätigen Leben abgelöst wird.

Undeutsch, unevan­

gelisch, unchristlich, wenn das ganze Leben wohl in der Arbeit verfließt, aber ohne die Begleitung des Gebetes, ohne die Eintauchung in die Weihe der Gemeinschaft mit Gott.

Nur im Beten und Arbeiten wächst

der inwendige Mensch und erstarkt zu voller, männlicher Kraft.

Darum

gedenken wir auch an dieser Stätte und in dieser Versammlung heut gern des heldenkühnen, deutschen Mannes, dessen Andenken weit und breit in verflossener Woche von den Gelehrten und von dem Volke gefeiert wurde**).

Redete er als Philosoph auch eine Sprache, wie

*) Johannes 4, 34. **) Fichte. Die Predigt ist im Jahre 1862 gehalten.

314

sie in der schlichten, christlichen Gemeine als solcher kaum verstanden wird, deutsch, evangelisch, christlich war nach dem Vorigen sein Wesen durch und durch. Das Handeln, und zwar das Handeln aus tiefstem Pflichtgefühl war ihm das Höchste, wofür er Alles einsetzte, — worin er auch dem Tode gegenüber an dem Wort hielt: „Wer sein Leben verliert, der wird's gewinnen." Wo aber ein so tiefes Pflichtgefühl herrscht, da hat man', wenigstens in den geheimen Tiefen des Gemü­ thes, den, der verpflichtet und der kann kein anderer sein als der hei­ lige, lebendige Gott. Und daß er den hatte, als man ihn selbst der Gottesleugnung anklagte, bezeugt die Entwicklung seines weiteren Den­ kens und Lebens, vermöge deren er später in unserer Stadt die An­ weisung zum seligen Leben, als einem Leben in und aus Gott gegeben hat. Wie es stand mit seinem Gemüth, dafür giebt Zeugniß, daß er im Kreise der Seinen jeden Tag mit gemeinsamer Abendandacht schloß. Nach dem Gesänge einiger Verse aus einem geistlichen Liede las er einen Abschnitt aus seinem Lieblingsevangelisten Johannes und legte denselben in seiner Weise aus, um sich mit seiner Familie gleichsam jeden Abend den Staub der Endlichkeit abzuwaschen und sich aus dem Eitlen und Nichtigen in die Gemeinschaft mit Gott zu erheben. So hat auch er durch das „Bete und arbeite" sich als den deutschen, evan­ gelischen Mann bewährt und so leuchtet er als Lehrer des Volkes in des Himmels Glanz. Möge denn auch er viele weisen zu der Gerech­ tigkeit des Gebetes in der Arbeit, zu der Gerechtigkeit der Arbeit im Gebet! An das Gebet im Allgemeinen knüpft der Heiland sonst die Ver­ heißung: Der Vater wird's geben, Ihr werdet nehmen! Wie kommt es, daß er jetzt, wo er seine Lehren überhaupt, so auch seine Lehre über das Gebet in seinen Abschiedsreden vollendend abschließt, das Gebet in seinem Namen fordert, daß er nicht mehr sich mit der Forderung des Betens ohne nähere Bestimmung begnügt? Daher, weil des Ge­ betes Beschaffenheit aus der Beschaffenheit des Herzens, der Gesin­ nung des ganzen Menschen hervorgeht, danach hier in edelster, rein­ ster, dort in gemeinster, widerwärtigster Gestalt erscheinen kann. — Auch da, wo die Menschen in'S Sinnliche begraben, Sklaven der sinn-

315 lichen Lust und Furcht sind, ist oft ein Gottesbewußtsein, entweder mehr aus eigenem, dunklem Gefühl hervorgewachsen oder mehr durch den Einfluß der Umgebung eingeflößt.

Da wird gebetet, wenn eS an der

Lust fehlt, oder besonders wenn man in der Furcht vor dem Schmerz, vor dem Uebel bebt und zittert, und des ganzen Gebetes Sinn und Absicht ist nichts Anderes, als daß Gott der Diener der Sinnlichkeit, des fleischlichen Wesens werde. ist freilich im Grunde gottlos.

Die Selbstgerechtigkeit der Selbstsucht Aber das

Gefühl

der menschlichen

Machtlosigkeit bleibt, auch bedarf man eines Gottes, welcher dem Ver­ dienste seine Kronen gewährt.

Gott wird im Gebet zum Diener der

Lohnsucht, des stolzen Eigennutzes gemacht.

Die Selbstgerechtigkeit käun

nicht wohl anders, sie muß nach ihrer innersten Natur zu einer Ge­ rechtigkeit des äußern Satzungs- und Formelwesens, zu einer Heiligkeit des rein Aeußern, darum des Scheines werden.

Auch das Gebet wird

hier äußerliches, mechanisches Werk der Scheinheiligkeit und Heuchelei. An Gott glaubt man schon; aber die mächtigen Leidenschaften des Zornes, der Rachsucht oder auch andere durchziehen die Brust.

Man sieht Gott

selbst nur durch den dunklen Dunstkreis der eigenen Leidenschaften und das Gebet nimmt nicht nur seine Färbung, sondern sein Lebensblut, seine Pulsschläge aus diesen finstern, ungöttlichen Begierden des Her­ zens, will den heiligen Willen Gottes unter den verunstalteten Willen des sündigen Herzens beugen.

Da begreifen wir:

ist gut, ist wohlgefällig vor Gott und erhörlich. Greuel vor dem Angesicht des Höchsten. betest!

Nicht jedes Gebet

Viele Gebete sind ein

Bete; aber siehe zu, wie du

Nun vielleicht sind wir geneigt, uns selbst zu rühmen, daß wir

nicht in so unlauterer, selbstsüchtiger, eigentlich gottloser Weise beten. Aber beten wir rein aus uns, aus unserm Herzen ohne Christum, wir beten gewiß in ähnlicher Weise, beten doch irgendwie: „Nicht dein Wille, o Gott, sondern mein Wille geschehe," wenn eS sich auch mehr oder weniger fein verhüllt.

Der Erlöser

spricht ganz im Allgemeinen*):

„Aus dem Herzen kommen arge Gedanken."

Warum denn?

Es ist

das Herz für sich allein, es hilft Alles nichts, der Selbstsucht ergeben

*) Matth. 15, 19.

316

und ihrer Herrschaft verfallen. AuS dieser Selbstsucht heraus kommen die einzelnen Gedanken und Thaten als arge, welche Gestalt sie auch tragen. Gerade deshalb bedürfen wir ja des Erlösers und der Erlö­ sung. Könnten aus diesem Herzen, so lange es ohne Erlöser und Er­ lösung ist, so lange eö der Selbstsucht zum Sitze dient, die Gedanken, die zu Gott aufsteigen, rein sein, wird sich nicht vielmehr auch durch sie das Selbstsüchtige, damit die Sünde hindurchziehen? Gewiß auch die Gedanken und Gefühle im Gebete werden eigentlich nicht Gott suchen, sondern von Gott erstreben, was eben ungöttlich und sündlich ist. Wie also unser ganzes Sein und Leben der Vermittlung Christi, der Erlösung bedarf, so muß auch unser Beten in seine Vermittlung hinein, muß durch ihn aus den Banden der Selbstsucht erlöst werden. Nur das aus dem durch Christum gereinigten Herzen quellende Gebet wird als süßer Weihrauch, als Anbetung im Geist und in der Wahr­ heit, zu Gott emporsteigen und Heil, Freude und Friede in das Herz, in das Leben hernieder bringen. Das ist es aber, was der Herr als Beten in seinem Namen den Jüngern an'S Herz legt, wenn er spricht: „Was ihr bitten werdet den Vater in meinem Namen, daS wird er euch geben." II. Dies Wesen des Gebetes im Namen Jesu wollen wir jetzt uns genauer bestimmen. Im Namen jemandes etwas thun, heißt, an seiner Stelle und in seinem Aufträge, natürlich auch nach seinem Willen und seiner Bestimmung. Im Namen des Königs spricht der Richter das Urtheil und handhabt die Obrigkeit die Regierung. Im Könige ist alle richterliche und obrigkeitliche Gewalt des Landes vereint, nur von ihm betraut, nur gleichsam seine Stelle vertretend, nur nach seinem Willen und seiner Bestimmung, in den Gesetzen des Landes ausge­ sprochen, handeln Richter und Obrigkeiten, und deshalb in seinem Na­ men. Wie, wann, wo dein Heiland es gebietet, so bete, und du betest in seinem Namen. Aber Gebieten? — Ist denn der Herr auch ein neuer Gesetzgeber? Wird das Gebet in seinem Namen durch sein Gebot erzeugt? Dann hätte er es wohl längst befohlen gehabt und die Jünger hätten längst so gebetet. Aber der Herr sagt ausdrücklich: Bisher habt ihr nicht gebetet in meinem Namen. Ja ist der

317 Herr auch dein Lehrer und führt er schon durch die Lehre zu diesem rechten, christlichen Gebet?

Er hatte ja mehrfach, wenn auch kurz, so

doch schlagend, treffend, tief über das Gebet gelehrt, ja was mehr, er hatte in dem „Unser Vater" das immer bleibende Urbild aller rechten Gebete den Jüngern gegeben und dennoch spricht er: ihr nichts gebetet in meinem Namen."

„Bisher habt

Gesetz und auch Lehre können

also für sich noch nicht zum Gebet in Namen Jesu führen, wie sie für sich allein auch überhaupt nicht erlösen.

Der Herr spricht aber ver­

heißungsvoll von einer neuen Zeit, wo er nicht mehr durch Sprüchwort, nicht mehr wie in einer Hülle zu seinen Jüngern reden werde, sondern frei heraus vom Vater her und darum auch frei und un­ mittelbar in ihr Herz hinein.

Er setzt hinzu: An demselben Tage,

nicht da sollt, sondern da werdet ihr von selbst bitten in meinem Namen.

Wir haben diesen Tag, diese neue Zeit für die Jünger schon

vor vierzehn Tagen in der Betrachtung des unmittelbar vorhergehenden Schriftabschnittes kennen gelernt.

Es ist die Zeit, der zweite und letzte

große Tag ihres Lebens, an dem sich die Verheißung des Heilandes erfüllt, daß von nun an fortwährend der Geist Gottes sich in ihre Seelen senkte.

Der Geist verklärt Christum in den Seinen.

Im hei­

ligen Geist kommt der Vater und Sohn selbst und macht Wohnung in den Menschen.

Durch den heiligen Geist verwirklicht sich aber, daß

nun gleichsam der S/)hn unmittelbar, frei hineinredet in's Herz, sein Licht und seine Wahrheit hineinstrahlt, damit zugleich seine Liebe und sein Leben, daß der Mensch mit Paulus sprechen darf*): nicht mehr, sondern Christus lebet in mir." ihr bitten in meinem Namen."

„Ich lebe

„An dem Tage werdet

Das Gebet im Namen Jesu ist also

nicht allein ein Gebet auf das Gebot des Herrn, oder nach seiner Lehre, sondern es ist das

Gebet aus dem Triebe des göttlichen Geistes ge­

boren, aus der innigen Herzens- und Lebensgemeinschaft mit dem Er­ löser, ein Gebet Christi, wie er die Seele mit seinem Leben erfüllt, ein Gebet der Seele, wie sie mit all ihrem Fühlen, Wollen und Denken, mit ihrem Glauben, Lieben und Hoffen in Christo wurzelt.

*) Galater 2, 20.

318 Daraus ergiebt sich noch näher das Wesen dieses Gebetes seinem Inhalt nach. Lebens.

Christi Lehre ist der Abdruck, die Wiederspiegelung seines

Seine Lehre aber in Betreff dessen, was zu erstreben und

zu thun ist, faßt der Herr in das Wort zusammen*):

„Trachtet am

ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit."

Das

Reich Gottes nun kann nur da sein, wo sich das ganze Licht des gött­ lichen Namens, des Wesens der Gottheit, als Offenbarung der Gnade und Wahrheit enthüllt und wo der offenbare heilige Liebeswille Gottes das allein bestimmende und regierende ist.

So ist und kann nach der

Offenbarung des göttlichen Namens, nach dem heiligen Liebeswillen das Reich Gottes nichts Anderes sein als Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist.

Ja danach stehet die Sehnsucht der Seele,

die von dem Geiste Gottes berührt und ergriffen und in das lebendige Werden der Gemeinschaft mit Christo hineingezogen ist, nach dieser Gerechtigkeit, diesem Frieden, dieser Freude; so daß es aus ihr heraus zum Vater flehet:

„Dein Name werde geheiligt, dein Reich komme,

dein Wille geschehe."

Bei jeder ernsten Selbstprüfung aber werden

wir uns stets von Neuem der Verschuldung, der geistigen Schwachheit, der sinnlichen Begehrlichkeit oder Unzufriedenheit bewußt, dessen uns bewußt, daß auch an und in uns noch haftet, was als Versuchung und Aergerniß

dem Reiche Gottes

entgegensteht.

Wie anders kann

sich da das Beten aus dem Gottesgeist, aus der werdenden Vereini­ gung mit Christo gestalten als in den Bitten: Vergieb die Schuld, nimm weg durch deine Gnadenkraft das Ungöttliche in uns, die Ver­ suchung außer uns, löse durch deine Liebe auch die Uebel des Lebens, daß uns alles zum Besten diene?

Aber gestellt auf die Erde, berufen

im irdischen Leben das Himmlische, das Reich Gottes zu ergreifen und zu gestalten, bedarfs auch des irdischen Lebens Unterhalt.

So wird

dem, welcher im Namen Jesu betet, auch die Bitte nothwendig: Gieb das tägliche Brod, die Nahrung und Nothdurft dieses Lebens.

Von

selbst aber bedingt sich diese Bitte auf der einen Seite durch die maaß­ gebende Weisheit des Vaters, wie sie auf der andern Seite ihren Inhalt

*) Matth. 6, 33.

319 nur als Mittel ftir's Himmelreich erstrebt.

Endlich

wo der Geist

Gottes die Seele durchzieht und Christus im Herzen zu leben beginnt, da mit kindlichster Zuversicht,

mit festestem Vertrauen beginnt und

schließt das Gebet, hier „Unser Vater im Himmel," dort „Dein das Reich und die Herrlichkeit, Amen."

„Ja, ja, es soll also geschehen."

So der Inhalt des „Unser Vater," aber durch den Gottesgeist selbst in'S Herz geflößt, durch den Glauben,

durch die Gemeinschaft mit

Christo aus dem eigenen Leben der Seele quellend, das ist der Inhalt alles Betens in Jesu Namen,

darin verkörpert sich sein Geist und

Wesen.

in.

Achten wir schließlich noch darauf, wie der Herr so drin­

gend und nachdrucksvoll zu dem Gebet in seinem Namen ermahnt.

Er

spricht: Ich sage euch nicht, daß ich den Vater für euch bitten will, denn er selbst, der Vater, hat euch lieb, darum, daß ihr mich liebt und glaubt, daß ich von Gott ausgegangen bin.

Es bedarf nicht seiner Fürbitte, denn der Vater hat die volle

Liebe zu uns, dieselbe Liebe, mit welcher der Sohn die Seinen geliebt hat bis an'S Ende.

Das war die unselige Finsterniß der alten heid­

nischen Welt, daß sie so wenig die unendliche Erhabenheit der Gott­ heit, wie ihre Herablassung, ihre Selbstmittheilung, ihr Erbarmen, ihre Liebe erkannte.

Das war es, worin die schwere Last bestand, die auf

Israels Kindern ruhte, daß sie wohl den Heiligen und Allmächtigen zitternd verehrten, aber trotz Verheißung und Weissagung nicht zu seiner Liebe hindurchdrangen.

Wie auch mancherlei Noth und Druck sie zum

Flehen trieb, das Allerheiligste, die Nähe Gottes ist ihnen verschlossen. Sie gelangen nicht selbst zur Gottheit. Gott siehet, der muß sterben." gegangen über Israel.

Es schreckt sie das:

„Wer

Jetzt ist das Licht der Gottheit auf­

Auch in Jesu

leuchtet '(Sott und zwar erst

recht als der Heilige, aber feine Heiligkeit ist nur Dienerin seiner er­ barmenden Liebe.

Seine Liebe ist heilig, denn nur so kann sie erlösen

und versöhnen; aber sie ist und bleibt Liebe und nichts als Liebe, die sich hingeben, mittheilen, die beseligen will.

Er hat euch lieb,

darum, daß ihr mich liebet. — Nicht so schon, nicht schon vor­ her? — Gewiß schon vorher. — Er hat die Welt geliebt, daß er seinen

320 Sohn gab, „Gott preist seine Liebe gegen uns," sagt Paulus *), „daß Christus für uns gestorben ist, da wir noch Sünder waren."

Aber

kann die Liebe sich geben, kann sie beseligen, wo ihr nicht Erkenntniß und mit der

Erkenntniß Gegenliebe begegnet?

Kennst

du

nicht

die

ewige Mebe und kannst du nicht liebend dich ihr ausschließen, nimmer vermag sie'S, ob sie auch die allmächtige ist, ihre Gaben und köstlichen Güter in deinen dir zu bethätigen.

Schooß zu schütten, vermag sich nicht als Liebe an Darum hat in Jesu Leben und Sterben sich Gott

als Liebe aufgeschlossen, darum in und aus ihm seine Liebe uns ge­ priesen, daß er die von

ihm in die Menschenseelen gepflanzten, aber

von der Kälte der Selbstsucht gefesselten Keime der Liebe wecke, löse, belebe, daß sie ihn in dem Sohn finden, daß sie in dem Sohn, in seinem ganzen Wesen das erkennen, was allein von der Gottheit aus­ gegangen sein

kann.

So ist er, Jesus, vom Vater ausgegangen und

gekommen in die Welt, so aus der Welt gegangen zum Vater. ist er im zwiefachen Sinne, wie er sich selbst nennt,

So

der wahrhaftige

Weg des Lebens, der Weg, auf dem die Liebe Gottes in die Menschen strömt und sie sich so zu ihren Kindern macht, der Weg, auf dem und durch den die

Liebe dieser Kinder den Vater wieder

sucht und findet.

Ist dem aber

so, hat uns so der Vater lieb in dem Sohn, finden wir

im Sohn die Liebe zum Vater, wie wollten wir nicht hören die himm­ lische Mahnung:

„So bittet auch als die lieben Kinder allezeit euren

lieben Vater im Himmel,"

bittet im Namen seines Sohnes, daß sein

Reich euch gänzlich umschließe, sein gnädiger Wille in, an und durch euch geschehe. So ihr den Vater etwas bittet in meinem Namen, so wird er es euch geben; bittet, so werdet ihr nehmen, daß eure Freude vollkommen sei.

Wir kommen

auf das im ersten

Theil schon Gesagte hier noch einmal zurück, auf die Verknüpfung von Gebet und Arbeit.

Wo rechtschaffen in Jesu Namen gebetet wird, da

wird auch rechtschaffen in Jesu Namen gearbeitet, namentlich in gei­ stiger Beziehung, am eignen innern Menschen.

*) Römer 5, 8.

Beides steht in einem

321 nothwendigen Verhältniß zu einander, so daß wir sagen können und müssen:

Wer noch schlecht betet in Jesu Namen, der wird lässig sein

im Ringen und Arbeiten für das Heil des innern Menschen und um­ gekehrt.

Wer noch nicht anwendet seine Kraft, um wie die Epistel

sagt, ein Thäter des Wortes zu werden, dessen Gebet wird auch leer und eitel sein, vielleicht viel Phrase, viel Gewohnheit, viel gemachtes Wesen; aber darin kein innerer Trieb, keine innere Kraft, kein inneres Leben.

Nur wer recht betet in Jesu Namen, also wahrhaftig fleht, daß

auch zu ihm das Reich Gottes komme, daß auch in ihm und durch ihn der heilige Gnadenwille sich immer mehr vollziehe, der, wie er nach Oben hinaufschaut und des himmlischen Segens gewärtig ist, so setzt er als aufrichtiger Jünger des Herrn zugleich die volle eigene Kraft des Geistes ein und ringt danach, daß er gerecht

werde vor Gottes Angesicht,

ähnlich seinem Herrn und Meister immer mehr völlig in der Liebe. Wir wissen, wenn alle Arbeit nur allmählig und unter viel Mühe ihrem Ziele entgegenstreben kann, daß so erst recht das Arbeiten und Ringen, wo es das Höchste gilt, die Ausgestaltung des innern Men­ schen nach dem Herzen Gottes, nur langsam und in fortwährendem Kampfe der Vollendung sich nähert, daß dabei stets viel Schwachheit im Innern, viel Hinderniß von Außen her zu überwinden bleibt. hier erst recht gilt'S:

Den Aufrichtigen läßt es

Aber

der Herr gelingen:

„Was ihr bittet in meinem Namen, der Vater giebt's," der in euch das gute Werk hat angefangen, der wird's auch vollenden.

Ja, auf

euer Gebet werdet ihr immer wieder den Beistand des Geistes, die Mittheilung der göttlichen Gnade in Christo, das Wachsen des Glau­ bens und der Liebe empfangen und auch das soll sich dann an euch erfüllen, daß von eurem Leben selbst Ströme des lebendigen Wassers sich in andere ergießen, daß so der Friede Gottes in euch bleibt und eure Freude vollkommen wird.

Und wo sich das Gebet auf das Ein­

zelne des irdischen Lebens hinwendet, auf Abwendung des Weh's und des Uebels, auf Aneignung dessen, was ein Gut zu sein dünkt, es kann dasselbe dann nur gestellt sein unter das Maaß des

göttlichen

Willens, es kann nur mit dem Wort Christi schließen: „Nicht wie ich,. sondern wie du willst."

Auch da, was in dieser Beziehung dem Himmel-

ThomaS, (Sliuite an Gfmftuj.

21

322 reich dient, was in unS Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geiste befestigt, der Vater wird's geben.

WaS er aber nicht giebt, das

hätte dem Reiche Gottes bei uns auch nicht gedient, das wäre unserm Heile verderblich gewesen.

Darum in beiden Fällen, wenn Gott giebt

und wenn er versagt, erfüllt er das Innerste unsers Gebetes im Namen Jesu, daß unsere Freude vollkommen werde.

Wohlan, so laßt uns

heut von Neuem für unsere kommenden LebenStage es behalten: Der Vater hat uns lieb, und was wir bitten in Jesu Namen, erhört er, auf baß auch bei unS bleibe die Mahnung: Wie ihr denn durch Christum einen Zugang zum Vater habt, so betet auch stets

zu ihm!

ohne Unterlaß, damit eure Freude vollkommen werde!

Amen.

Betet

Das Licht, welches uns aus Christi Himmelfahrt leuchtet. Himmelfahrtstag.

Text; Johannes 14, 2. 3. In dem Hause meines Vaters sind viele Wohnungen. Wäre es nicht so, ich würde es euch sagen; denn ich gehe um euch die Stätte zu bereiten. Und wenn ich gegangen sein werde, um euch die Stätte zu bereiten; so komme ich wieder und ich werde euch zu mir nehmen, damit, wo ich bin, auch ihr seid. (Geliebte im Herrn, die Himmelfahrt unseres Erlösers als Thatsache wird, genau angesehen, nur von einem biblischen Schriftsteller erzählt, während die Auferstehung in der evangelischen Verkündigung aller uns begegnet. Eben so ist es die Auferstehung neben der Kreuzigung Christi, welche in der apostolischen Lehrentwicklung so gewichtig und bedeutend hervortritt, während auf die Himmelfahrt nur sehr selten und nur mehr andeutend hingewiesen wird. Der Grund für die letztere Erscheinung ist unstreitig der, daß der Glaube an den Auferstandenen eben Alles schon in sich befaßt, was wir an HeilSgedanken etwa mit der HimLieder: Nr. 46. 249. 251, 3.

324 melfahrt verknüpfen.

Wenn nun in dem uralten Bekenntniß der Chri­

stenheit doch noch der Himmelfahrt besonders gedacht ist, so liegt das daran, daß nach der evangelischen Verkündigung der Auferstandene nicht einmal nur den Jüngern erscheint und dann verschwindet, sondern zu wiederholten Malen kommt und geht, geht und kommt.

Es konnte da­

nach scheinen, als wäre er selbst noch irgendwie in die Bedingungen dieses Lebens verflochten gewesen.

Wäre das aber der Fall, so müßte

es auch irgendwie noch nöthig gewesen sein, so hätte er dann sein Werk wohl noch nicht vollendet gehabt.

Diesem Schein gegenüber, wie er

aus der Ueberlieferung entstehen konnte, sprach mit dem Wort: „Auf­ gefahren gen Himmel"

die Gemeine

dieser Welt, so weit er eben scheidet, seiner Person,

die Vollendung

Person beruht, entschieden aus.

den

vollen Abschied

Jesu von

damit die volle Verherrlichung

seines Werkes, so weit sie auf seiner Auf den Abschied des Erlösers aus

diesem sichtbaren Leben, auf die Verherrlichung desselben im unsichtba­ ren, himmlischen Wesen werden wir demgemäß am heutigen Festtage mit unserem Nachdenken hingelenkt.

Dabei dürfen wir in passender

Weise an die verlesenen Worte, des Erlösers anknüpfen.

An der Hand

dieses Textes werden sich uns im Lichte der Himmelfahrt, der vollendeten Verherrlichung Christi folgende Punkte für die Be­ trachtung herausheben:

1) All- überall des Vaters Haus und seiner

Kinder Wohnungen, 2) aus dem Himmel, aus seiner Herrlichkeit ver­ klärt der Heiland das irdische Leben der Seinen, 3) wie er vollendet ist, so führt er auch seine Jünger der Vollendung entgegen. I.

Der Herr

ist aufgefahren gen Himmel,

der Abschied

seines

sichtbaren, persönlichen Seins und Weilens unter uns ist eine vollen­ dete Thatsache.

Wohin ist er gegangen? — Weit reicht das Auge, be­

waffnet mit dem Glase, das menschliches Sinnen und Denken erfunden hat.

Weit reicht die Vernunft,

tungen des Auges.

das Denken auf Grund der Beobach­

Zwei und vierzig

in einer Sekunde zurück.

tausend Meilen

legt das Licht

Unsere Gelehrten wissen uns von Gestirnen,

von Weltkörpern in einer Ferne zu belehren,

deren Licht, um zu uns

zu gelangen, nicht Stunden, nicht Tage, nicht Wochen, sondern Jahre gebraucht.

Und doch, wie weit menschliche Beobachtung und menschli-

325 cheS Denken vordringt, nimmer bis dahin, wo, wie unser Dichter sagt, „der Markstein der Schöpfung steht," immer nur auf einen Punkt, auf dem es heißt: Unendlichkeit vor dir, Unendlichkeit hinter dir! Wohin ist unser verherrlichter Heiland gegangen? Wer möchte es bestimmen? — Ein unermeßlicher Reichthum der Mannichfaltigkeit tritt uns in jeder Weise in dieser

irdischen Welt entgegen, höchst verschiedenartig

das

Sein und das Leben in dieser Welt! Aber wie die Größe dieser Er­ denwelt, die uns in Erstaunen versetzt, gegen die Größe des Alls fast verschwindet, so muß es eine Verschiedenheit des Seins und Lebens im unendlichen All geben, welche das Mannichfaltige dieser Erdenwelt un­ endlich übersteigt.

Welcher Art ist das Sein, welches ist die Form des

Lebens, in welche der Verklärte einging?

Die Einbildungskraft frommer

Menschen hat freilich von jeher in sinnlich lebendigen Zügen jene jensei­ tige Welt ausgemalt.

Aber ein klares, .nüchternes Denken hat eben so

die Anerkennung erzeugt, daß es dabei doch stets nur auf Dichtungen reiner Willkür hinaus läuft.

Wohin des Raumes, in welche Weise des

Seins und Lebens der Herr gegangen? — auf solche Frage will keine Antwort uns werden.

Und doch sie wird uns von dem Herrn, wenn

wir nur nicht grade mit der Hand greifen, mit dem leiblichen Auge sehen wollen. nungen.

„In dem Hause meines Vaters sind viele Woh­

Wenn aber nicht, so würde ich es euch sagen, denn

ich gehe, um euch die Stätte zu bereiten," Wohin?

Räumlich bestimmt's der Erlöser nicht.

Lebens? Er beschreibt es nicht.

spricht der Herr. In welche Art des

Und doch*): „Ich fahre auf zu mei­

nem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott*)." „In dem Hause meines Vaters sind viele Wohnungen." und in welche Form des Seins, Hause des Vaters weilt er.

Wohin auch

zum Vater ist er gegangen, in dem

Das will uns in dem, Er ist aufgefahren

gen Himmel, sich geltend machen, daß bei aller Unendlichkeit des Rau­ mes, bei aller Mannichfaltigkeit verschiedenster Lebensformen all überall waltet der lebendige Gott, daß er mit seinem Geiste, seiner schöpferischen Kraft Alles erfüllt und durchdringt, daß er all überall Alles trägt mit

*) Johanne« 20, 17,

326 seinem kräftigen Wort.

In des Vaters Hause ist er, der aus dem

Diesseits seiner sichtbaren Persönlichkeit nach geschieden ist. Wort: „ES sind viele Wohnungen" dort.

Dazu daS

Wo Wohnung ist, da ist

Leben und in rechter Wohnung waltet die Liebe als das Leben deS Le­ bens.

Leben, Licht, Liebe verknüpft unser Evangelist so gern, so eng

mit einander.

In der diesseitigen

das Licht der Menschen.

Welt ist, wie er sagt, das Leben,

Und wieder das rechte, das ewige Leben ist

für uns, daß wir Gott und den er gesandt hat, Jesum Christum er­ kennen, das heißt, daß wir mit unserem Erkennen, Denken, Glauben die ewige Liebe ergreifen.

Dies ewige Leben, wie eS Christi Jünger

besitzen, wird wiederum daran erkannt, daß sie nach dem neuen Gebot ihres Meisters Liebe unter einander haben.

Licht, Leben, Liebe aus der

Gottheit ewig hervorquellend, die Menschheit hier erleuchtend, beseelend und beseligend, schaffen das Himmelreich auf Erden und wie durch sie die Hütte Gottes bei den Menschen erscheint,

so für die Menschen

durch sie zugleich hier wahre Wohnungen, Hütten des göttlichen Frie­ dens.

Noch einmal: Wer wollte malen ein Leben im Jenseits und

sprechen: „Die Farben, die ich erwählte, sind ächt, und die Züge sind treu wiedergegeben und im Ganzen wie im Einzelnen ist keine Trübung und Täuschung."

Es liegt das hinaus weit über unser Vermögen.

Aber was der Heiland hier ausspricht, indem er offenbar von einem über diese Welt hinaus liegenden Jenseits redet, das halten wir mit gläubigem Gemüth, mit dankender und anbetender Seele fest.

All über­

all und unter all den unendlichen uns noch unbekannten Formen des Seins ist Gott nicht nur als allwirksame Macht gegenwärtig, sondern schafft als Vater fortwährend „Wohnungen,"

strömt Leben aus und

läßt im Leben sein Licht erglänzen, führt das Leben auf seine rechte Höhe und das Licht zu seiner heiligen Gluth, indem er ausgießt die Liebe.

Meine Geliebten,

wenn wir die Unendlichkeit des Alls

nach

Ausdehnung und Daseinsform uns vergegenwärtigen und alles Denken uns ausgeht, wir sind tief verloren in zitterndem Staunen, in ehr­ furchtvollster Bewundrung.

Wenn aber der aus dem Diesseits gegan­

gene Erlöser uns zu den geistigen Anschauungen erweckt, daß das ganze unermeßliche All nur des Vaters Haus ist und daß allenthalben nur

327 Wohnungen sind, Stätten des von ihm fließenden Lichtes und Lebenund seiner Liebe, dann jauchzet auf die anbetende Seele, daun wird die Anbetung Seligkeit, dann erst Anbetung im Geist und in der Wahrheit. II. Wie der Heiland aber in unserem Text seinen Weggang an­ kündigt, so fügt er zugleich die Verheißung hinzu: „Ich komme wie­ der." Diese Zusage scheint nach dem Wortlaut unseres Textes für Jesu Jünger sich nur auf ihren Abschied aus dieser Welt zu beziehen. Wenn wir unö aber erinnern, wie der Herr bei den drei ersten Evan­ gelisten von seiner Wiederkunft spricht, wie in unserem Epangello von dem Kommen des heiligen Geistes, was dem Gehalt nach offenbar das­ selbe besagt, so sind wir berechtigt, sein tröstliches Wort: „Ich komme wieder" für seine Jünger auch auf ihr ganzes diesseitiges Leben anM wenden. Also beim und im Gehen schon ein Kommen, bei und in der Trennung schon eine Wiedervereinigung. Deshalb sagt er von seiner Trennung*): „Es ist euch gut, daß ich hingehe, denn so ich nicht hin­ gehe, so kommt der Tröster nicht zu euch." „Er ist aufgefahren gen Himmel," er ist verherrlicht in des VaterS Haus, damit wollte die Ge­ meine die Glaubenszuversicht bekennen, daß er nun mit der Kraft sei­ nes Geistes und Lebens seine Gemeine durchwalte, daß er immerdar mit und in ihr sei. Und nun erst scheint in seinem Wirken sein Werk sich zu vollenden. — In seinem irdischen Leben war er in jeder Be­ ziehung unter das Gesetz gethan, also auch an alle Beschränkungen des menschlichen Lebens gebunden. Darum mußte er trotz seiner allum­ spannenden Liebe in den Tagen seines Fleisches sprechen**): „Ich bin nicht gesandt denn nur zu den verlornen Schafen vom Hause Israel," grade wie bei uns allen unser Beruf sich auf bestimmte, enge Grenzen einschränkt. Erhöht von der Erde gehört er nicht mehr seinem Volk, sondern allen Völkern der Erde, ist ihm nicht allein Judäa, sondern sind ihm alle Lande, so weit Menschen wohnen, bestimmt, geht mit sei­ nem Worte sein Geist in alle Welt, daß er Alles zu Jüngern mache, alle Welt unter den Scepter seiner Liebe stelle. Hier gilt nicht mehr *) Johannes 16, 7. **) Matth. 15, 24.

328 der Unterschied von Jude, Grieche und Barbar, nicht mehr der Unter­ schied von Freien und Knechten, von Hohen und Niedrigen, nicht mehr der Unterschied von Mann und Weib.

Sie allzumal sind der Eine

Mensch für den Einen heiligen Menschensohn berufen.

Zu ihnen allen

kommt er nach dem Maaß ihrer Empfänglichkeit in

seinem heiligen

Geiste. In den Tagen

seines Erdenlebens war er von seinen Jüngern

als ihr Heiland und Erlöser erkannt und sie waren glücklich, aus sei­ nem Munde die Worte des ewigen Lebens zu vernehmen.

Aber wie

stand es doch mit ihnen? Wie es jene Erzählung uns sinnbildlich dar­ stellt, nach welcher ein Vater klagte, daß die Jünger über den bösen Geist in seinem Sohne nichts vermöchten.

Wie es in andrer Erzäh­

lung uns erscheint: Der Herr, als das rechte Gotteskind schlummert im Schiff, gewiegt von dem tobenden Sturm, von dem rasenden Un­ gestüm der Wogen; sie schreien aus dem Kleinglauben heraus: „Herr wir verderben."

Wie wir es noch am letzten Tage vor der Kreuzigung

sehen: Der Heiland ringt sich im Flehen zu dem vollendeten Siege empor und darf sagen: „Sollte ich den Kelch nicht trinken, den mir mein Vater gegeben hat?" Sie können auch nicht eine Stunde mit ihm wachen.

In ihnen noch nicht die Kraft Christi, welcher das Böse

weicht, welche beim Sturm und Drang der Welt den festen Halt in der Gemeinschaft mit Gott besitzt, welche, wie im betenden Glauben, so in

mitfühlender

Liebe nie ermattet!

Kurz

in ihrem Zusammensein

mit Christo sind sie} außer ihm, ist er außer ihnen. sie recht inne,

als er am Kreuz starb.

lautet sein Wort.

Dessen wurden

„Ich komme wieder,"

so

Nicht eine sichtbare Erscheinung ist gemeint, sondern

ein Kommen des Verherrlichten in das Innere der Seinen.

Ja von

Oben her gebiert er in seiner heiligen Kraft sein 'Leben in sie hinein. Nicht in äußrer Nachfolge giebt er ihnen weiter hin einzelnes Gebot und Verbot, sondern der geistige Weinstock des Lebens verbindet er sie sich innerlichst, daß seine Wahrheit ihre Vernunft durchstrahlt, seine Heiligkeit ihres Gewissens Leben und Schärfe wird, daß sie täglich und stüudlich hineintauchen in seine Gerechtigkeit. sondern, wie er sagt, seine Freunde.

Nun sind sie nicht mehr Knechte, Nun ist nichts mehr ihnen eine

—'

329

Fessel, der Sohn ist in ihnen und der macht sie recht frei. Von ihm kommt ihnen stündlich die Kraft, die Ermahnung zu hören und zu be­ folgen*): „Ihr seid theuer erkauft, werdet nicht der Menschen Knechte!" Als der Herr wie einer der Unseren wandelte, das Zeugniß der Wahrheit quoll aus seinem Munde, die Liebe gebar sein beständiges Dulden und belebte all sein Thun, die heilige Gerechtigkeit war weni­ ger das Gewand, in welches er gekleidet war, als vielmehr gleichsam der Leib, die nothwendige Erscheinungsform des Lebens, für seinen in­ wendigen Menschen. Aber ihm gegenüber stand streitend die Welt und fragte spottend: Was ist Wahrheit? zog sich zusammen im grimmen Haß und machte selbst Formen und Uebung des Rechtes schnödester Ungerechtigkeit dienstbar. Und diesem Widerstreit der Welt gegenüber endet der Herr mit der Schmach und im Tode am Kreuz. In seiner Auferstehung feiern wir seinen Sieg, aber in dem „Er ist aufgefahren gen Himmel und sitzet zur Rechten Hand Gottes" wird sein Sieg sei­ ner Gemeine auf Erden zugeeignet. „Ich komme wieder" ist sein fortwährend sich erfüllendes Wort. Er, der Verherrlichte wirkt ohne Aufhören in die Geschichte der Völker, in das Leben der Einzelnen hin­ ein. Wie auch der Kampf unheiliger Mächte, der Lüge und Heuchelei, des Hasses und der Selbstsucht, der Ungerechtigkeit und Gewissenlosig­ keit sich fortsetzt; von ihm geht aus die heilige Kraft, in welcher die Seinen nimmer verzagen. „Der Fürst dieser Welt ist gerichtet." Aller Finsterniß und ihren Werken gegenüber muß die Wahrheit nur um so heller leuchten, die Liebe um so gründlicher heilen, das Recht muß Recht bleiben. — Noch einmal: Hier nicht Grieche und Jude, nicht Knecht noch Freier, nicht Mann noch Weib, — kein Volk, kein Stand, kein Geschlecht ihm verschlossen oder ihm fern, kein Volk, kein Stand, kein Geschlecht hat irgend ein Vorrecht an ihm — für ihn in allen der Eine zu heiligende Mensch, für alle er der gleiche sich hingebende Hei­ land. Aber eben deshalb erfüllt er alle mit seiner Kraft und Liebe, darum durchdringt er Vaterland und Beruf und Familie und häusli­ ches Leben mit seinem Licht und seinem Leben und verklärt so im *) 1 Korinther 7, 23.

330



Diesseits alles Leben zu einem Bürgerrecht und Wandel im Himmel, stiftet so den Seinen in dieser Vergänglichkeit das ewige Gotteöreich. III.

Wenn so der gen Himmel Gefahrene das Leben im Diesseits

verklärt und auf der Erde das Himmelreich erhält und mehrt, dann ver­ stehen wir wohl die Frage

mit ihrem Vorwurf in unserer heutigen

Epistel*): „WaS stehet ihr und sehet gen Himmel?"

Das Christenthum

will nichts weniger sein als ein Sichzurückziehen von dieser Welt.

Mön­

chische Weltverachtung ist am Wenigsten aus dem Glauben an den Er­ löser geboren.

Das Christenthum

ist nichts

der Gegenwart und dessen was sie erfüllt.

weniger als Verachtung

Jenes thatlose Brüten der

Phantasie über Bilder einer uns verschlossenen Zukunft ist keine Pflanze, die der

Heiland

in seinem Weinberg

pflegt.

Vielmehr gilt es**):

„Ihr werdet meine Zeugen sein zu Jerusalem und in ganz Judäa und Samaria und bis an das Ende der Erde." gen Liebe werdet ihr durch

ein

Im Neben meiner thäti­

an Früchten

reiches und gesegnetes

Leben, durch heilige Erfüllung

eures Berufes in allen Verhältnissen

mich verklären in dieser Welt.

Den Himmel schon im Diesseits durch

den verklärten Heiland zu haben, eine höhere Welt immer in die Welt der Vergänglichkeit hineinzubilden, das ist der köstliche Schmuck, der selige Vorzug, dessen seine ächten Jünger sich freuen.

Aber, meine

Geliebten, wie der Christ auch im Gefühle: Die Erde ist des Herrn und ist fürs Himmelreich durch das Leben und Sterben Jesu Christi, durch sein beständiges Kommen im heiligen Geiste geweiht, wie sehr er in

diesem Bewußtsein treu sich

den Aufgaben

dieses Lebens hingiebt

und darin seine Arbeit und seine Freude findet, Alles predigt ihm doch täglich: Der Mensch ist hier in seinem Leben wie Gras und wie des Grases Blume. halben.

Das Ende seiner Tage begleitet ihn gleichsam allent­

Da bei aller Treue für dieses Leben stellt sich immer wie­

der die Frage ein: Was dann mit mir, wenn dieses Herz den letzten Schlag thut und wenn dieser Leib dem Schooß der Erde übergeben wird? — Und ist unser Fragen nur ein von der Treue in

diesem

Leben nicht abziehendes Stieren in den Himmel, bescheiden wir uns auch *) Apostelgeschichte 1, 11. **) Apostelgeschichte 1, 8.

331

hier, nicht fühlbar, sinnlich greifen, nicht mit irdischem Auge sehen zu wollen, unser verklärter Erlöser giebt dem frommen Gemüth die genü­ gende Antwort: „Ich gehe, um euch die Stätte zu bereiten," ------ „ich werde euch zu mir nehmen, damit, wo ich bin, auch ihr seid." Diesem Wort des Erlösers, welcher zur Rechten Gottes thront, entspricht die Hoffnung des gläubigen Gemüthes, wie Paulus derselben die Worte leiht***) ): „Von dannen (vom Himmel, aus der Herrlichkeit her) warten wir des Heilandes Jesu Christi, welcher unsern nichtigen Leib (den Leib der Niedrigkeit) umgestalten wird zu einem ähnlichen dem Leibe seiner Herrlichkeit." Wollen wir, m. G., irgendwie für unser denkendes Anschauen uns ein jenseitiges Leben ge­ stalten; es versagt uns unsere Vernunft und es führt uns in die Irre unsere Phantasie. Je mehr wir es uns vorstellen wollen als ein stoff­ liches, ein materiell sinnliches, desto mehr weist das grade die erleuch­ tete Vernunft zurück. Je mehr wir aber das Sein in der Zukunft als rein geistiges auffassen, ohne jedes Organ, das mit dem unendli­ chen All verbindet; desto mehr scheint es uns überhaupt, als müsse es sich in das Nichts hinein verflüchtigen. Wohlan, beruhigen wir uns hier bei dem Wort des Evangelisten*): „Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden." Es entzieht sich darum die besondere Beschaf­ fenheit unseres zukünftigen Seins unserem gegenwärtigen Vorstellen und Denken. Aber halten wir fest den innern Gehalt von dem, wasder Herr verheißt. „Ich werde euch zu mir nehmen," spricht der Erlöser. Auch in Betreff seiner sagten wir uns, daß wir weder den Raum noch die Form des Seins und Lebens zu bestimmen 'vermöchten, in denen er weilt und waltet. Aber was das Wesen sei­ ner Persönlichkeit bildete, wie es Wahrheit, Heiligkeit, Schönheit in sich schloß, sein Selbstbewußtsein in Gotteinheit und Liebe, so diese Persön­ lichkeit selbst ist verklärt und verherrlicht, und wo und wie sie auch waltet, nur in dem Hause des Vaters, wo des Vaters Liebe seligen Kindern Wohnungen bereitet. Ist das Innerste unseres Selbstbewußt­ seins auf die Wahrheit und ihr Licht gerichtet, dem Guten hingegeben *) Philipper'3, 21. **) Johannes'3, 2.

332 und geweiht, für das Schöne als Erscheinung des Wahren und Guten empfänglich, wurzeln wir durch Christum mit Vernunft und Gewissen in der Gottheit und suchen hungrig und durstig die Liebe in uns zu trinfen, sind wir so wahre Personen in Christo — euch will ich mit diesem Wesen zu mir nehmen, lautet die gewisse Zusage des Herrn, eure eigenste Persönlichkeit soll sein, wo auch ich bin, soll durch mich zur Verklärung und Vollendung geführt werden. in welche Form des Seins:

Und wohin auch und

gewiß allein in dem Hause des Vaters,

gewiß allein, wo der Sohn euch im Aufträge des Vaters Wohnungen stiftet, euch durch Licht, Leben, Liebe die Stätte bereitet.

So erhebt,

wenn unser Blick auf's Ende, auf Tod und Grab sich richtet, der Hei­ land in seiner Himmelfahrt, in seinem Sitzen zur Rechten unsern Geist. „Wo ich bin, da soll mein Diener auch sein"*), tönt es aus seliger Höhe für uns hernieder.

Bei uns aber antwortet beim Scheiden der

Unsern, bei unserm eigenen Abscheiden der Glaube**):

„Wir werden

bei dem Herrn sein allezeit, so tröstet euch nun mit diesem Wort unter einander."

Er, der gen Himmel fuhr, uns die Stätte zu bereiten, er

wird auch seine Jünger für den Himmel vollenden und sie zu sich nehmen.

Amen.

*) Johanne« 12, 26. **) 1 Thessalomcher 4, 17. 18.

Die göttliche Erhörung menschlicher Gebete. Nach Himmelfahrt. Text:

Psalm 69, 17. 18.

Erhöre mich, Herr, denn deine Güte ist tröstlich; wende dich

zu

mir nach deiner großen Barmherzigkeit.

Und verbirg dein Angesicht nicht deinem Knecht, denn mir ist angst, erhöre mich eilend.

^ie Namen der zunächst hinter uns liegenden Sonntage Jubilate, Cantate, Rogate haben, Geliebte im Herrn, unS in diesem Jahre jedesmal den Gegenstand und Inhalt unserer Betrachtungen bestimmt. Auch heute betreten wir denselben Weg. Der heutige Sonntag führt den Namen Exaudi, „Erhöre," und will die Gemeine mit diesem Na­ men mahnen, daß ihre Herzen sich in dem Ruf: „Erhöre uns!" ver­ einigen. Wenn aber solche Mahnung als eine beständige, eine regel­ mäßig wiederkehrende in christlicher Gemeine erklingt; so liegt ihr die Voraussetzung zum Grunde, daß es wirklich Erhörung giebt, die Vor­ aussetzung, die in dem Psalmenwort ausgesprochen ist: Du erhörest Gebet, darum kommt alles Fleisch zu dir. Eine andere Vor­ aussetzung, die hier nothwendig mit in Betracht kommt, ist ferner die, Lieder: Nr. 33.

336.

334 daß die Gemeine mit allen ihren Gliedern der Erhörung bedarf, daß sie in sich nicht den Reichthum besitzt, von dem sie nehmen und leben kann, sondern daß sie ihn empfangen muß. Zu diesen beiden Voraus­ setzungen gesellt sich ein Drittes, nämlich die Erwägung, daß die Er­ hörung doch unmöglich für alle Fälle, unter allen Verhältnissen und Bedingungen, auf alle Wünsche eintreten kann. Es fragt sich demnach, welches sind die Bedingungen, unter denen die Erhörung zu hoffen steht? Damit, wenn wir heut von der göttlichen Erhörung menschlicher Gebete zu handeln gedenken, ist uns der Gang und Inhalt unserer Betrachtung auch schon näher vorgezeichnet. Wir fra­ gen : 1) Worin liegt die Veranlassung, welche uns nach Erhörung ver­ langen läßt? 2) Welches ist der Grund und die Quelle, aus welcher dieselbe fließt? 3) Unter welchen Bedingungen dürfen wir derselben uns getrösten? I. Durch die Psalmen ziehen sich vielfache Rufe und Bitten um Erhörung hindurch. Die Veranlassung zu solchen Rufen, die Erhörung erflehen, ist in unserm Texte ganz kurz mit dem Wort ausgesprochen: „Denn mir ist angst." An anderer Stelle heißt es*): „Denn ich bin elend und arm," und noch in anderer wird der Noth gedacht, in welcher der fromme Sänger sich befindet**). Armuth, Elend, Noth, die diesem entsprechenden Gemüthszustände der Angst, des Zagens, des Leidtragens sind eö, welche die Menschen zum Flehen treiben und sie nach Erhörung ausschauen lassen. Ist denn nun das für alle Glieder der Gemeine,.für alle Christen etwas Gemeinsames, ist eS nicht viel­ mehr immer nur etwas Vereinzeltes, was nur auf Einzelnen lastet oder doch nur in einzelnen schweren Zeitpunkten ein Allgemeines wird? ES scheint zwar so, aber in Wahrheit ist das Vereinzelte der Noth und der Angst doch eben nur ein Schein und das Zurücktreten von Noth und Angst ist vielmehr nur ein zeitweises Verhülltsein, ein nicht Hervortreten an die Oberfläche, ein augenblickliches Verborgensein für das Bewußtsein. Machen wir uns das nur im Einzelnen klar. Wo ist Elend, wo Angst, Zittern und Zagen? Dort auf langwierigem/ *) Psalm 86, 1. **) Psalm 86, 7. 50, 15.

335 schmerzensreichem Krankenlager, hier, wo die notdürftigen Bedürfnisse deS Lebens gebrechen.

Wir, meine Geliebten, sind freilich gesund und

für uns erfüllt sich täglich reichlich die Bitte: gieb uns heute."

„Unser täglich Brod

Aber haben wir nicht so viel Lebenserfahrung, daß

das Elend, in welchem heut ein Bruder, eine Schwester seufzt, morgen in gleichem, ja in verdoppeltem Maaße uns ergriffen haben kann? — Wo ist Elend und Bangigkeit im Gemüth?

Da, wo die Liebsten, wo

Gatte, wo Vater oder Mutter, Sohn oder Tochter u. s. w. eine schwere Last durch's Leben zu tragen haben, wo ein uns überaus theures Glied des Familien-, des Freundeskreises in den heftigsten Schmerzen der Krankheit wimmert, wo die Gluth des Fiebers oder die Bläffe der Ab­ zehrung auf den nahenden Ausgang deuten!

Da, wo die Wittwe am

Sarge und Grabe des Gatten zusammenbricht, weil es ihr ist, als sei ihr eignes Leben gespalten, wo die verwaisten Kinder jammern: Wir haben fortan keinen Vater, sollen nicht mehr der liebenden Pflege un­ serer Mutter genießen!

Nun wer jetzt dergleichen nicht zu erfahren

und zu tragen hat, er danke Gott von Herzens Grund, danke eben in dem Bewußtsein, daß wir auch in dieser Beziehung nicht wissen, was uns bevorsteht, was eben schon der folgende Tag bringen kann. ist es an mir, morgen an dir!

Heute

Das zieht sich doch als ein natürliches

Gesetz durch alle Menschheitsgeschichte hindurch.

Deshalb, wenn nicht

als die gegenwärtige, so 'als die für die Zukunft drohende wird die Noth, wird das Elend, wird Angst und Zagen, vor uns stehen, wird wenn wir nüchternen Sinnes sind, uns zum Gebet treiben, zu dem Flehen: Bewahre, schirme, und solls kommen, gieb dann äußerlich und innerlich das Nöthige, wird ausschauen lassen nach der göttlichen Erhörung.

Aber wir sind ja sämmtlich Christen, also Glieder der christ­

lichen Gemeine. Glieder mit."

Da gilt’6 *):

„So ein Glied leidet, so leiden alle

Deshalb, wenn im Ganzen, in der Gemeinschaft als

solcher ein Leiden waltet, da wird jedes lebendige Glied das Leiden mit empfinden.

Nach dieser Seite nur andeutend eine Hinweisung auf

die großen sittlichen Gemeinschaften, in die uns Gott gepflanzt hat **). *) 1. Korinther 12, 26. **) Die Predigt ist im Jahre 1863 gehalten.

336 Die Gemeinschaft des bürgerlichen Lebens, unser Staats- und Volks­ leben, wird es nicht durch einen bis in's innerste Mark gehenden Zwie­ spalt zerklüftet und droht ihm dadurch nicht

traurigste Zerrüttung?

Wagen sich aus diesem Grunde nicht schon Stimmen hervor, welche uns in kürzester Zeit zu erwartendes Kriegselend, ja selbst die Schmach einer verhaßten Fremdherrschaft weissagen wollen?

Treten aber dro­

hende Mißstände zu Tage, sie lassen sich nur aus dem alten Wort*) erklären: „Gerechtigkeit erhöhet ein Volk," in dem der Gegensatz liegt, daß durch Ungerechtigkeit ein Volk erniedrigt wird und zu Grunde geht. Sind schreiende Mißstände da, so fehlt es auch nicht an ihrer Ursache, an der Ungerechtigkeit, so sind und werden sie nur erzeugt, weil von irgend einer oder von mehreren Seiten an die Stelle heiliger Achtung des Rechtes Herrschsucht und Willkür sich einzudrängen suchen, weil an Stelle der dienenden, aufopferungsfähigen und freudigen Vaterlands­ liebe die selbstische Leidenschaft getreten ist, welcher allein der Sieg, das Wachsen des eignen Standes oder der eignen Partei oder die Be­ friedigung des persönlichen Ehrgeizes und der Habsucht am Herzen liegt, weil an der Stelle der Demuth, die sich beugt unter heilige und geheiligte Ordnung, sich der vermessene Hochmuth spreizt.

Nur aus

solchem tiefen inneren Elend wächst das äußere hervor bis zur Er­ füllung des schwer warnenden Wortes Christi**): da sammeln sich die Adler.

Wo ein Aas ist,

Ebenso thun wir nur einen schnellen Blick

auf unsere gottesdienstliche Gemeinschaft, die christliche Kirche in ihrer Gestaltung unter uns.

Die christliche Kirche wird kurz und treffend

von Paulus als der Leib Christi bezeichnet.

O der Leib dessen, der

sich selbst im Tode als das Leben bewährt hat, müßte doch die leben­ dige, der Leib dessen, der auch als der Gebundene sich als der ewige König bekundet hat, müßte doch die freie, der Leib dessen, der selbst als der von der Menschheit Verstoßene derjenige blieb, welcher mit Gott eins war und die Menschheit mit sich einigte, müßte doch aber auch die in sich eine und einige Kirche sein! Wo ist daS kräftige,

Ach wie oft müssen wir fragen:

gestaltende Leben unserer evangelischen Kirche?

*) Sprüchwörter 14, 34. **) Matthäus 24, 28.

337

Wie oft haben wir zu klagen, daß so viel todtes Wesen sich durch die­ selbe hindurchzieht? Wo ist die Freiheit dieser Kirche, daß sie auS sich selbst heraus, wie ihr eigenstes Leben gebiert, so auch sich bewegt, sich ordnet, sich zusammenfaßt? Wo ist ihre Einheit, sich bethätigend in dem Geiste, der bei dem Kampf der Geister doch die verschiedenen Rich­ tungen mit der Kraft des Gottesfriedens verknüpft? So viele Gebrechen treten hervor, so vielfache Zeichen, daß der lebendige Glaube an die heilige Gottesgnade, daß die aus demselben hervorgehende, thätige Liebe, daß die damit nothwendig verknüpfte starke Hoffnung recht häufig ge­ bricht. Wer Christ ist, wie muß er nicht diese Noth des Gemeinwesens in Staat und Kirche auf dem Herzen tragen, nicht getrieben werden, Gott um Hülfe anzurufen und sehnend auf die Erhörung zu hoffen? — Wir sind hierdurch auf's Lebhafteste erinnert, daß alle wirkliche LebenSnoth in sittlicher, in religiöser Verderbniß ihre Wurzel und ihre Quelle hat. — Dasselbe wollen wir auch für die eigne Person nicht vergessen: Die Sünde ist der Leute Verderben, das Höchste der Uebel ist die Schuld. Wissen wir nichts mehr davon, daß auch wir in Worten und Werken und in Gedanken uns mannichfach verschuldet haben? Und hatte die Gottesliebe diese Schuld zugedeckt durch die Vergebung, wie steht es jetzt mit der Beschaffenheit unsers inwendigen Menschen? Wir halten unS zur Zeit rein von Versündigungen! — Ja vor Menschen vielleicht bis auf einen gewissen Grad, aber auch vor Gott, der Herz und Nieren prüft? Und wenn wir im Guten beharren ,1 geschieht eS ohne die Ge­ meinschaft mit Gott, ohne das Gebet, ohne den Beistand von Oben? O wenn einmal die Versuchungen in ihrer ganzen Schwere an uns herantreten werden, entweder indem uns das Bitterste und Schwerste beim Beharren in der Treue gedroht wird, oder indem höchste Ehre, süßeste Lust, heftigster Reiz unö lockt, oder indem selbst die Liebe ver Theuersten unS auf falsche Bahnen hinzuschmeicheln sucht, werden wir fest stehen, ohne daß wir die Kraft bei dem Herrn suchen und finden? Wer sich um Selbstkenntniß bemüht hat, der weiß, daß eö kein wah­ reres Wort zieht, als Luthers: „Mit unsrer Macht ist nichts gethan, wir sind gar bald verloren," daß der Mensch auf sich selbst gestellt und nur auf seine Kraft sich verlassend sehr leicht und schnell die Beute ThomaS, Glaube an Christus. 22

338 der Verführung und Sünde wird, der weiß, daß deshalb auch ihm die Schrecken des Todes und des Gerichtes drohen.

So haben wir wohl

erkannt, daß auch unser Theil die Noth ist, aus welcher der Psalmist ruft, daß auch wir arm sind,

auch wir mit Bangigkeit zu kämpfen

haben, kurz, daß durch unsere tiefe Bedürftigkeit wir immer wieder be­ wegt werden, nach göttlicher Erhörung aufzublicken.

n.

Aber wenn wir uns auf Alles recht besinnend mit dem Apostel

sprechen*): „Uns ist bange," ich denke, wir fahren mit demselben fort: „Aber wir verzagen nicht."

Sind wir der Erhörung bedürftig, es ist

auch der Grund, die Quelle vorhanden, aus welcher sie entspringt und uns in beseligender Weise überfluthen

will.

Dieser

Grund,

Quelle kann nirgend anders sein, als in der Gottheit selbst.

diese Unser

Texteswort begründet den Ruf um Erhörung mit dem Wort: „denn deine Güte ist tröstlich und hebt ferner hervor die große Barm­ herzigkeit Gottes.

Ein anderes Psalmwort lautet**): „Erhöre uns

nach der wunderlichen Gerechtigkeit, Gott unser Heil," oder wörtlich: „Furchtbares in Gerechtigkeit antwortest du uns, Gott unsers Heils," Staunenswerthes in hehren Thaten sprichst du zu uns, als der Ge­ rechte, als der Gott des Heils.

So sind uns damit die Quellen der

Erhörung in unserm Gott offen gelegt.

Es ist seine Güte, welche die

Erde füllet mit Gütern, welche als Liebhaberin des Lebens, in der Freude an der Freude und Lebenslust, ihre milde Hand aufthut und Alles sättigt mit Wohlgefallen.

Es ist die Güte, wie sie der Psalmist

preist mit den Worten***): „Du suchest das Land heim und wässerst es und machst es sehr reich.

Gottes Brünnlein hat Wasser die Fülle.

Du lässest ihr Getreide wohl gerathen; denn also bauest du das Land. Du tränkest seine Furchen und feuchtest sein Gepflügtes; mit Regen machst du es weich und segnest sein Gewächs.

Du krönest das Jahr

mit deinem Gut und deine Fußtapfen triefen von Fett.

Die Woh­

nungen in der Wüste sind auch fett, daß sie triefen und die Hügel umher sind lustig.

Die Anger sind voll Schafe und die Auen stehen

*) 2. Korinther 4, 8. **) Psalm 65. 6.

***) Psalm 65, 10—14.

339 dick mit Korn, daß man jauchzet und singet."

Es ist die Güte, die

der Heiland uns malt in der lieblichen, prachtvollen Kleidung der Blumen auf dem Felde, in der sorgsamen Ernährung der Vögel unter dem Himmel.

Seid ihr nicht mehr und besser denn viele Sperlinge,

nicht mehr denn alle Blumen des Feldes? So seid auch ihr Gegen­ stände dieser Güte und aus dem geöffneten Schooße derselben wird und muß auch die Erhörung quellen. Es ist ferner die große Barmherzigkeit Gottes.

Ihr kennt das schöne

Bild der Barmherzigkeit, welches uns der Erlöser in dem Samariter ge­ zeichnet hat.

Wie in lateinischer Uebersetzung das dort gewählte Wort es

ausdrückt, das Elend des unter die Mörder Gefallenen ist ihm in's Herz gedrungen, also seines Herzens Elend geworden.

Ihr wißt, der Herr

konnte solch' Bild nur zeichnen, weil er selbst alles Leid und Weh um ihn her wie das eigne im tiefsten Gemüth empfand, weil er so die Krankheit seiner Brüder trug und dadurch stets von innen heraus gedrängt wurde, zu trösten, zu heilen, zu helfen.

Ihr wißt weiter, hier gilt so ganz des

Erlösers Wort*): „Wer mich siehet, der siehet den Vater."

Wie die

Mutter des tiefkranken Kindes Jammer trägt und fühlt; so der ewige Gott den unsern.

„Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen,

daß sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes?

Und ob sie

desselbigen vergäße, so will ich doch dein nicht vergessen" **), so spricht der Herr, unser Erbarmer.

Die Barmherzigkeit Gottes ist es, aus

der, wenn wir in Noth zu ihm schreien, die Erhörung hervorströmt. Eigenthümlich aber klingt es uns, wenn die Erhörung auch mit der Gerechtigkeit Gottes in Verbindung gebracht wird.

Das könnte, so

dünkt eö uns, doch nur da geschehen, wo die betenden Menschen als Heilige, als vollkommen Gerechte dem gerechten Gott gegenüberstehen. Aber wir sündige Menschen, wenn wir uns an die Gerechtigkeit wen­ den, erflehen wir uns nicht das Gegentheil der Erhörung?

Die gött­

liche Gerechtigkeit, so scheint es, wenn sie uns naht, muß für alles, waS sündig an uns ist, nur Strafe bewirken.

Sollte es etwa die

Selbstverblendung, die hohle Selbstgerechtigkeit der Pharisäer sein, welche *) Johannes 14, 9 **) Jesaias 49, 15.

340 schon die Psalmensänger erfüllte und sie verleitete, in Vermessenheit von der Gerechtigkeit Heil zu erbitten?

Bei dem mächtigen Sünden­

bewußtsein der damaligen Frommen in Israel, das gerade so lebendig und klar in den Psalmen sich ausspricht, ist das nicht anzunehmen. Aber, wenn eben die Elenden so oft an die göttliche Gerechtigkeit sich wenden, wenn Gottes Gerechtigkeit so gern mit Güte und Gnade ver­ knüpft wird, daß sie wie in Eins zusammenfließen, wenn der Gerechte als der Gott unsers Heils, bezeichnet wird; so merken wir, das Wort hat in heiliger Schrift nicht selten und seinem eigentlichsten Sinn nach eine andere Bedeutung, als wir jetzt mit demselben meistentheils ver­ binden.

Die Gerechtigkeit Gottes ist sein kräftiges, allgewaltiges, all-

überwindendeS Walten, welches das Recht festhält, und zwar sein Recht, das Recht seines Willens, seines Wesens, seines Rathschlusses Ewigkeit her.

von

Wohl ist sein Wesen, Wille, Rathschluß heilig, und

seine Gerechtigkeit, die sein Recht festhält, muß als die das gottlose Wesen bekämpfende und zuletzt vernichtende erscheinen.

Aber der eigent­

liche Kern seines Wesens, Willens und Rathschlusses, das ahnten die Frommen in Israel, wenn sie den Trost Israels hofften, das fühlten die Propheten, wenn sie als begeisterte Seher in die Zukunft deuteten, ist die Liebe, wie sie sich uns in Christo erschlossen hat.

Die Gerech­

tigkeit Gottes ist sein mächtiges Walten, welches einer Welt voll Sünde und Verderben gegenüber

sein Recht festhält,

das Recht der Liebe,

welche durch alle heilige Strafen und Züchtigungen und Gerichte hin­ durch wirkt, um Heil zu schaffen, Versöhnung und Erlösung zu stiften, um ihren Willen aufrecht zu erhalten, daß allen Menschen geholfen werde und daß sie alle zur Erkenntniß der Wahrheit kommen.

Die

Gerechtigkeit Gottes wird so selbst die Liebe sein, wie sie richtend ver­ söhnt, strafend erlöst, züchtigend beseligt und heiligt.

Darum spricht

schon Iesaias von Gottes Knecht, dem Gerechten, der viele gerecht macht, und Paulus von der Gerechtigkeit Gottes, die gerecht macht durch den Glauben an

Jesum Christum*).

Gebetsrufe verständlich**):

So

werden uns die

„Richte mich nach deiner Gerechtigkeit,"

*) Iesaias 53. Römer 3, 26. **) Psalm 35, 24. 31, 2. 119, 40.

341

„Errette mich durch deine Gerechtigkeit," „Erquicke mich mit deiner Gerechtigkeit." Ja die Gerechtigkeit Gottes, die ihr Recht kräftiglich wahrt und durchführt in der Verbreitung ihres Reiches der Gnade, in dem Festhalten an dem Rathschluß der Versöhnung und Erlösung, sie ist der letzte, tiefste Grund, aus dem uns die Erhörung unserer Gebete erwächst. HL Aber, und damit kommen wir zum letzten Theil unserer Be­ trachtung, eine unbedingte Erhörung unserer Gebete giebt's nicht und kann's nicht geben, wie das jedem die tägliche Erfahrung bestätigt. Ist es der Wille der göttlichen Gerechtigkeit, deren Inhalt die versöhnende Liebe ausmacht, welcher erhört; so kann keine Erhörung folgen, wenn diesem Willen ein unheiliger selbstischer Wille des Menschen mit seinen sündigen Wünschen gegenüber tritt. Treffend spricht deshalb der Blindgeborne im Evangelio zu den Pharisäern*): „Wir wissen, daß Gott die Sünder nicht höret." Und ein Psalmsänger bezeugt**): „Wo ich Unrechtes vorhätte in meinem Herzen; so würde der Herr nicht hören." Nun, wie und wann dürfen wir uns göttlicher Erhörung getrösten? Achten wir auf die Textesworte: „Wende dich zu mir" — „ver­ birg dein Angesicht nicht vor deinem Knechte." Wer das Glück und die Güter des Lebens, besonders in der süßen Gemeinschaft der Liebe und Freundschaft genießt und weiß, wie Alles von dem Walten des ewigen Gottes abhängt; kindlich wird er ja flehen: Herr erhöre, indem du gnädig schirmst und bewahrest! Wer selbst in Schmerz und Weh, in Noth und Jammer sich befindet, wer in liebendem Gemüth die tiefen Leiden der Seinen mit trägt; ist er ein gläubiges Gottes­ kind, er muß ja wohl rufen: „Erhöre Gott nach deiner großen Barm­ herzigkeit, nimm den bittern Kelch von uns, errette aus dem Elende! Aber wie wir vorhin auch in Gott Güte und Barmherzigkeit als Quellen der Erhörung erkannten, inne wurden, daß Gott gern segne und gern rette; so dürfen wir nicht vergessen, seine Güte und Barm­ herzigkeit sind in die höchste Weisheit gefaßt, in eine Weisheit, die un­ endlich hinausgeht über unser Wissen und Verstehen. Wie mannichfache *) Johannes 9, 31. **) Psalm 66, 18.

342 Wünsche unserer Herzen, wenn sie Befriedigung fänden, würden unserm Heile entgegenstehen!

Da, nicht nach unsern Bitten, sondern nach seiner

weisen Gnade versagt der Vater eben so oft als er erhört.

Demnach,

was Gott auch auf gläubiges Gebet thut, es ist wesentlich Erhörung. Wir flehen ja in allen solchen Fällen doch wohl nur um das Heil, und das wird auch durch's Versagen gewährt.

Aber: Verbirg dein

Antlitz nicht, lautet es, oder mit anderm Wort: uns dein AntliH:

Erleuchte über

Das ist der Sinn der Bitte: Zeige dich uns

Herr, wo du, was wir bitten, uns versagst, auch da als die Liebe, schließ uns da deine Rathschlüsse als die des guten, gnädigen Gottes­ willens auf.

Und da gilt es:

Wer das Angesicht Gottes sucht, dem

wird es sich nicht verhüllen, wer mit dem Erlöser zu bitten versteht: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe;" dem kommt die Erhörung auch im Versagen, indem ihm Erhebung gewährt wird, indem göttliche Kraft zu dulden, zu tragen und getrosten Muthes zu sein, von Gott ihm zuströmt.

Wo unser Gebet auf die Noth oder die Bangigkeit in

Beziehung auf das irdische Leben geht, die Ergebung, welche Alles Gott anheim stellt, wird die Erleuchtung des göttlichen Angesichtes für uns, und damit eine wirkliche Erhörung zur Folge haben.

Aber der eigent­

liche Inhalt unserer Gebete als Christen muß sich doch wohl wesent­ lich auf den inwendigen Menschen, auf das ewige Heil, auf das Reich Gottes beziehen; das letzte Ziel, der letzte Zweck von Allem wird sein, Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist. und zugleich

Kann das kürzer

treffender gefaßt werden als hier im Text:

dich zu mir?"

„Wende

Gott selbst wolle zu uns sich kehren und wenden!

Aber Gott selbst ist doch nicht die bloße Macht, die reine, die Natur bewältigende Gewalt.

Wer Gott so nur kennt, der erfährt was Elias:

Gott war nicht im Sturm, nicht im Feuer, nicht im Erdbeben.

Gott

ist der Heilige, der aus unendlicher Erhabenheit herab seinen Willen im Gesetz verkündet; aber wiederum doch nicht nur rein und allein der Heilige.

Wer ihn nur so kennt, der kann nicht rufen:

Wende dich

zu mir, dem nimmt solch Gebet vom Herzen und von der Lippe das Wort beim Moses hinweg: Wer Gott siehet der muß sterben.

Gott

ist, wir haben es vorhin gesehen, der Gerechte wie er sein Recht fest-

343 hält und ausführt, das Recht allmächtiger, heiliger Gnade, das Recht versöhnender, erlösender Liebe, das Recht, die nach seinem Bilde ge­ schaffenen, aber durch ihre Sünden von ihm gewichenen und abgefallenen Menschen umzuwandeln, umzuschaffen in seine Kinder, welche in der Vergebung die Kraft des neuen Gehorsams, des neuen Lebens gewinnen. Gott ist der, wie er in Christo sich erschlossen hat, wie er im heiligen Geiste mittelst des Wortes Christi in die Seelen erneuernd, heiligend, beseligend eindringt. „Wende dich zu mir!"

So zu ihm nun aufschauen, so ihn anrufen: so flehen: Laß deine heilige Gnade in Christo

immer mehr mein unverlierbares Erbtheil werden, durchdringe mich im­ mer mehr mit der Fluth und Gluth deiner ewigen Liebe, mit dem Frieden, der Kraft und der Zucht deines heiligen Geistes, das heißt im Namen Jesu beten, und wo so gebetet wird, da spricht er: Was ihr bittet in meinem Namen, das wird euch der Vater geben.

Innig

und wahr und beständig in dem Rufe: „Wende dich Herr zu mir," und er wird im Glauben

uns beseligen, in der Liebe uns.reinigen, in

der Hoffnung uns stark und unüberwindlich machen.

Die Erhörung

ist des Vaters Gabe an seine Kinder, die Erhörung, welche die heilige Schrift in dem Worte uns besiegelt*): Nahet euch zu Gott, so nahet er sich zu euch."

*) JakobuS 4, 8.

Amen.

Die Liebe Gottes, ausgegossen in unsere Herzen, Frucht und Zeugniß von der Ausgießung des heiligen Geistes, Grund und Wesen ächter Begeisterung. I. Pfingsten.

Text: Römer 5, 5. Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unser Herz durch den heiligen Geist, welcher uns gegeben ist. !^er heilige Geist, der Geist Gottes ausgegossen in die Herzen der Menschen, das, Geliebte im Herrn, die Thatsache, welcher die Feier dieser Tage gewidmet ist. Was kann aber der Geist Anderes hervor­ rufen und wirken als Begeisterung? — So erscheinen uns denn auch in unserm biblischen Bericht über jenes Pfingstfest die Männer, die des Geistes theilhaftig geworden sind, als Begeisterte, welche die großen Thaten Gottes verkündigend mit neuen Zungen reden. Und so lodert die Flamme und Gluth des Geistes in ihnen, so bricht sie in ihren Reden hervor, daß selbst diejenigen, welche das Göttliche zu begreifen unfähig waren, doch voll bangen Erstaunens fragen: „Was will das werden?" daß selbst aus dem Spotte: „Sie sind voll süßen Weins" noch der ungewohnte Eindruck herausspricht, welchen das Auftreten der Jünger hervorgerufen hatte. Aber Begeisterung, wenn sie dem Geiste Lieder: Nr. 38.

272.

542, 7.

345 Gottes ihren Ursprung verdankt, muß sich durch ihre nachhaltige Kraft, wenn sie auf den heiligen Geist zurückgeführt wird, durch ihre Reinheit bewähren.

Wie ist wohl manchmal eine scheinbare Begeisterung hervor­

getreten, die alle Hebel in Bewegung setzen, die Alles in der Welt neu machen wollte, und schnell war sie wieder gleich dem Strohfeuer erloschen! Wie mannichmal hat sich eine scheinbare Begeisterung der Gemüther be­ mächtigt, die Geister mit fortgerissen und das Ziel derselben war entweder ein Sumpf der Gemeinheit oder die zerstörende Gluth des Hasses, des Fa­ natismus. Im Gegensatz dazu erscheint uns die ächte Begeisterung, wie sie bei der Ausgießung des heiligen Geistes zuerst die Gemüther erfaßte, eben so nachhaltig, wie lauter.

Welches ist das Wesen dieser ächten Be­

geisterung, wie sie vom heiligen Geiste stammt? Der Erlöser spricht von diesem Geiste:

„Derselbe wird mich verklären."

Also das wird die

ächte Begeisterung sein, in welcher Christus verklärt wird.

Das aber

findet statt, wenn nach unserm Text die 'Liebe Gottes ausgegossen ist in unsere Herzen.

Die Liebe Gottes ausgegossen in unsere

Herzen, Frucht und Zeugniß von der Ausgießung des hei­ ligen Geistes, Grund und Wesen ächter Begeisterung.

Wir

denken dem jetzt weiter nach, indem wir zuerst die Liebe Gottes gegen uns, sodann unsere Liebe gegen Gott hervorheben. I.

ES tritt, wie schon erwähnt, wohl öfters eine Begeisterung

auf, deren Flammen hell und leuchtend, verheißend oder drohend empor schlagen.

Aber je mächtiger das Aufleuchten, desto schneller das Er­

löschen, je stärker die Anspannung aller Kräfte des Geistes, desto kläg­ licher die darauf folgende Erschlaffung.

Nicht aus dem Geist Gottes

kann eine solche geboren sein, nicht dem Himmelreiche angehören.

Nicht

ein göttliches Feuer ist es, was hier auf dem Altar der Herzen brennt und nur so vorübergehend in die Welt hineinleuchtet.

Wahrlich von

dieser Art war die Begeisterung der Jünger und Gemeine Jesu Christi nicht.

Wie einmal die heilige Gluth sie erfaßte, so sind sie von der­

selben ihr ganzes Leben hindurch erfüllt und erwärmt.

Dreihundert

Jahre sucht eine entgegenstehende Welt mit allen Mitteln der Macht, mit allen Waffen der Verfolgung das Feuer zu löschen, aber vergebens. Die Sterbenden fingen Dankeslieder und ihr vergossenes Blut erweicht

346

verhärtete, öffnet verschlossene Herzen und trägt weiter und weiter das göttliche Feuer. Wie ähnlich in den Tagen der Reformation, wo „vieler List und großer Gewalt" gegenüber der Glaube allezeit sieges­ gewiß sang: „Das Reich Gottes muß uns bleiben!" So ist es auch heute. Wir wissen wohl, wie trügerisch oft Stimmungen und Auf­ regungen sind, die sich vieler Gemüther bemächtigen, wie sie oft nichts sind als ein schnell vorübergehender Rausch, wie auch heute noch das Hosiannah und Kreuzige schnell wechseln, je nachdem ein Wechsel in den Geschicken eintritt und neue Befürchtungen oder Hoffnungen erweckt. Aber ich denke, es giebt auch heut noch in edlen Geistern ein tiefes, mächtiges Glühen für die höchsten und heiligsten Güter und Angelegen­ heiten der Menschheit in den verschiedenen Lebenskreisen, welches durch keine Macht und kein Geschick der Erde sich tilgen läßt. Es giebt auch heute noch jene milde Himmelsgluth, wie sie ein ganzes Leben erwärmt, jene entschiedene Kraft, welche für das Heil der Seele, für das wahre Wohl der Brüder Alles, Gut, Blut und Leben einzusetzen stark genug ist. Nur diese nachhaltige, unter allen Umständen aushaltende Kraft kann ein Zeugniß sein, daß eine Begeisterung vom Geiste Gottes stammt. Aber wie geschieht es, daß Gottes Geist solche nachhaltige Kraft ge­ währt? So, wie es unser Text uns sagt: „Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unser Herz durch den heiligen Geist, welcher uns gegeben ist." Die Liebe Gottes ist hier, wie auch in andern Stellen der heiligen Schrift der Ausdruck vorkommt, Gottes Liebe gegen uns. Wenn wir, meine Freunde, hineinschauen in die Lieblichkeit der Natur, in dies Wachsen, Grünen und Blühen, in diese Pracht und Schönheit, die zugleich künftige Güter, künftigen, reichen Segen weissagt, ist es nicht, als leuchte aus Allem uns Gott mit dem Auge der Liebe entgegen? Wenn unserm innern Sinn für Recht und Heiligkeit gött­ liche Gesetze entsprechen und klar hindeuten auf den erhabenen Pfad der Gerechtigkeit und Tugend, der Gottverähnlichung, daß wir ihn wan­ deln, ist es nicht, als ob die väterliche erziehende Liebe der Gottheit uns die Hand reiche, um uns zum Heile zu führen? Wenn feste, hei­ lige Ordnungen in der Menschheit, wenn jene Lebensgemeinschaften, gegründet auf das Wort: „Es ist nicht gut daß der Mensch allein sei,"

347 unser Leben mit den schönsten, edelsten Freuden und Segnungen schmücken, ist es nicht, als ob der liebende Vater uns schon hier selber das Haus baue und damit es uns verbürge, daß er uns auch geben werde die Hütten des ewigen Friedens?

Aber wir wissen, wie die Natur uns

auch wieder ein anderes Antlitz zeigt,

das wohl mit bangem Zittern

die Herzen erfüllt, wie gerade im Lichte des Gesetzes die Furcht vor dem Gericht erwacht, wie die Sünde, welche durch allen menschlichen Verkehr sich hindurchzieht, mit ihren dunklen, schwarzen Schatten uns das Angesicht Gottes verhüllt, wie das Bewußtsein der Schuld den Blick in das Allerheiligste, in die Tiefen der göttlichen Liebe, unmög­ lich macht.

Wie steht da so einzig der Erlöser in unserm Geschlecht!

Ist er doch das unschuldige Kind seines Gottes, das nur bedacht ist und bleibt, des Vaters Willen zu erfüllen, das in einer sündenvollen Welt mit aller Sünde und Versuchung ringt und sie stets überwindet, das stets nur für das Werk und Reich des Vaters arbeitet, leidet, zu­ letzt dafür stirbt.

So weiß er sich aber zugleich in des Vaters Schooß,

vollständig als den Gegenstand der ganzen göttlichen Liebe.

Aber selbst

selig im beständigen Genießen der Liebe des Vaters weiß er sich zu­ gleich von derselben an und für die Menschheit gesendet, trägt in sich, in seiner Liebe zugleich Gottes Liebe, welche die Menschen, die ver­ irrten Kinder, sucht, um sie sich und ihrem Heile wiederzugewinnen, um sie aus Selbstsucht und Sünde zu erlösen. uns,

Die Liebe Gottes zu

in Christo mögen wir sie gewissermaßen vermenschlicht schauen.

Aber wie sehr der Herr in dieser göttlichen Liebe seine Jünger zu sich heran und gleichsam in sich hinein zu ziehen suchte, wir wissen, wie wenig während seines irdischen Lebens er dieses Ziel erreichte.

Aber

von dem heiligen Geist, den er vom Vater senden wollte, hatte er ge­ sagt: „Derselbe wird mich verklären."

Das war und ist die Verklä­

rung Christi durch den heiligen Geist, daß die von diesem ergriffenen Seelen in Jesu den Vater, des Vaters Liebe schauen, daß sie in sich gewiß werden, auch für uns ist in ihm die Gnade erschienen, auch wir haben die Vergebung, das Recht der Gotteskindschaft.

Die Liebe Gottes

ausgegoffen in die Herzen, so daß sie diese nicht nur in ihrer Offen­ barung schauen, sondern sie als eine gegenwärtige in sich erfahren, als

348 eine solche, mit der sie eins geworden sind, daß eben nichts mehr im Stande ist, von ihr, von dieser Liebe Gottes zu scheiden, das war es, was der Geist Gottes als Verklärung Christi in ihnen gewirkt hatte. Meine Geliebten, die Begeisterung, die auf diesem Grunde erwächst, trägt in sich nachhaltige Kraft, fröhlichen, frischen Muth, unüberwind­ liche Tapferkeit.

In Gottes Liebe ruhend hat man Schutz und Schirm

gegen alle Mächte der Welt, hat man die Gewißheit unvergänglichen Heils, hat man die Bürgschaft des endlichen Gelingens aller dem Him­ melreich dienender Werke.

Die Liebe Gottes in unser Gemüth ergossen,

„sänftigt," wie ein großer Reformator sagt, „nicht nur die Traurig­ keit im Unglück, sondern macht selbst,bie Anfechtungen liebenswerth, wie eine angenehme Würze."

Eignet Gottes Geist uns die Liebe Gottes

zu, giebt der heilige Geist Zeugniß unserm Geist, daß wir Gottes Kin­ der sind; dann bleibt uns die heilige Gluth für Gottes Reich, dann bleibt uns der starke Muth gegenüber allen Kämpfen und Anfechtungen des Lebens,

dann wird jedes sich regende Bangen von der Sieges­

freudigkeit verschlungen, in welcher es aus unserm Herzen klingt: Zst Gott für mich, so trete

Ich weiß und glaub' e« feste,

Gleich alle« wider mich,

Ich rühm' eS ohne Scheu,

So oft ich sing' und Bete;

Daß Gott der Höchst' und Beste,

Stärkt meine Seele sich.

Mein Freund und Vater fei.

Hab' ich das Haupt zum Freunde

Weil er in schweren Fällen

Und bin geliebt von Gott;

Mir will zur Seite stehn;

WaS schaden mir die Feinde?

So werd' in Sturm und Wellen

Was acht' ich ihren Spott?

Ich niemals untergehn.

II.

Wir gehen jetzt zum zweiten Theil unserer Bettachtung über.

Es hat sich manchmal, sagten wir uns schon beim Anfang, eine Be­ geisterung gezeigt, deren Feuer in der Unreinigkeit oder im Hgß der Herzen sich nährt.

Was im Namen der Frömmigkeit als göttliche Be­

geisterung auftrat, es verlief sich hier im Schlamm fleischlicher Lüste, es wußte dort allein im widerwärtigen Thun eines fanatischen Glau­ benshasses seine Befriedigung zu suchen.

Ist das eine Begeisterung,

nun dann eine Begeisterung aus dem Geiste des Bösen entsprungen. dann, wie sie sich auch kirchlich geberdet, sie gehört nicht Christo, son­ dern dem Widerchrist an.

Im Gegensatz dazu war das die Begeisterung

der ersten Gemeine des Herrn und die seiner wahren Gemeine aller

349 Zeiten, daß sie getauft mit dem heiligen Geist durch die Gluth desselben immer mehr sich reinigte von Sen fleischlichen Lüsten und Lastern, daß sie immer reicher wurde an der Liebe, mit welcher Welt überwand.

DaS ist ebenfalls in dem Worte des Erlösers: „Der­

selbe (der heilige Geist) wird mich verklären" und in seres Textes:

sie den Haß der

dem Worte un­

„Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unser Herz durch

den heiligen Geist" enthalten.

Ist Jesus es doch, welcher mit aller

Kraft, Tiefe und Treue der Liebe an Gott hing, welcher nie auS der Liebe zu Gott fiel, welcher diese Liebe zu seinem Gott in seinem Sterben vollendete und verklärte.

Der heilige Geist verklärt ihn bei und in

seinen Jüngern, indem diese sich mit seinem Leben, das ist, mit seiner Liebe zum Vater erfüllen lassen.

Ueber unsern Text haben die Aus­

leger gestritten, ob mit der „Liebe Gottes" die Liebe, die er zu uns hat oder die Liebe, die wir gegen ihn hegen, gemeint sei. die Erklärung richtig, der wir bisher gefolgt sind.

Gewiß ist

Der Zusammenhang

des Briefes und der Paulinischen Gedanken überhaupt

nöthigt

hier an die Liebe Gottes gegen die Gemeine Christi zu denken.

uns, Aber,

meine Geliebten, das Bewußtsein, in der Liebe Gottes zu stehen, dies Durchdrungensein vom Gefühl der göttlichen Liebe in uns, könnte es ohne Wirkung, ohne Frucht bleiben?

Nimmermehr.

Und diese Wir­

kung, diese Frucht? — Unmöglich ist sie eine andere als wie sie in dem Johanneischen Wort bezeichnet wird*): denn er hat uns erst geliebt."

„Lasset uns ihn lieben,

Die Liebe Gottes zu uns, durch den

heiligen Geist in unser Herz sich ergießend, sie wird aus innerster Noth­ wendigkeit selbst unsere Liebe zu Gott.

Hier der Grund der Lauterkeit

in der Begeisterung, welche dem Geist Gottes entspringt. zelne Züge laßt mich hervorheben.

Nur ein­

Die Welt mit Allem, was sie uns

bietet und gewährt, ist Gottes Schöpfung, ist die Stätte seines Waltens und Regierens, ist die Stätte, wo er uns fortwährend mit mannichfachsten Gaben und Gütern überschüttet.

Ist durch den heiligen Geist

die Liebe zu Gott in uns aufgegangen, wie wird ein mürrisches, fin­ steres, sich selbst und andere quälendes Wesen, wie wird ein leicht-

*) 1. Johannes 4, 19.

350 fertiges sich und Gott vergessendes Sichhingeben an alle and jede Ge­ nüsse, ein sich Berauschen mit dem Vergänglichen zur Unmöglichkeit werden!

Den Vater lieben, es heißt, sich freuen allewege an ihm,

jubeln über die Gaben, die seine Güte uns spendet, aber im Loben und Danken auch das Herz nach Oben richten und den Geist frei von den Banden der Sinnlichkeit behalten.

Wo die Liebe zu Gott, da in

der Freude an seinem Gott will man auch andere, alle, so viel man kann, erfreuen.

Hat der Geist des Sohnes die Liebe zum Vater im

Herzen entzündet, man sucht nicht Leid und Schmerz, aber wenn in dieser Welt es kommt, man kennt es als den Kelch von gnädiger Weis­ heit dargereicht, als Mittel der göttlichen Läuterung und Erziehung. Wo Gott in trüben Schmerzenstagen uns fasten, uns frühere schöne Genüsse entbehren läßt, da sieht man nicht sauer wie die Heuchler, sondern salbet sein Haupt, hebt sein Haupt in kindlicher Ergebung froh hoffend empor.

Man weiß, die Erlösung muß nahen.

Liebe zu Gott

und freudige, muthige Geduld in Schmerz und in den Widerwärtig­ keiten deö Lebens lassen sich nicht trennen.

Gott waltet nicht nur in

den natürlichen Geschicken, versieht und versorgt uns nicht allein mit irdischen Gütern und Freuden.

Er hat ein besonderes Reich in der

Menschheit angelegt und ins Dasein und Leben gerufen.

Das ist das

Reich des Sohnes, das Reich der versöhnenden und erlösenden Liebe, in welches er alle ruft, die Vernunft, Gewissen, religiöses Gefühl in sich tragen.

Wer vom Geiste Gottes ergriffen, von der Liebe seines

Gottes durchdrungen, Gott lieben lernt, dessen Geist wendet sich mit seinen Wünschen, Ringen, mit seiner ganzen Thätigkeit dem Reiche Gottes zu, wie der Erlöser dazu mahnt: Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit.

Wer Gott liebt, der Zug seines

Herzens zieht ihn beständig tiefer und tiefer in Gottes Reich, in die Gemeinschaft des Glaubens, der Gerechttgkeit hinein.

In der Gemeine

will er nehmen an geistiger Nahrung, an Reiz zur Liebe, an ernster Warnung, an Förderung in der Weisheit, was er bedarf, damit er in ihrer Mitte immer mehr werde ein rechtes Gotteskind, ein rechter Bürger des Himmelreiches.

Wem die Liebe zu Gott die Brust erfüllt,

ja dem Reiche, dem Werke Gottes fühlt er sich mit seinen Kräften

351

verpflichtet. „Ich wünschte vor Gott, es fehlte an viel oder an wenig, daß nicht allein du, sondern alle, die mich heute hören, solche würden wie ich bin, ausgenommen diese Bande" *), ruft deshalb Paulus. Wie Er, d. h. aufgenommen in das Heil, wie es ihm die Gnade gewährt hatte, erfüllt mit der Gottseligkeit, für welche er täglich Gott, seinen Heiland lobte. Wer Gott liebt, dient leiblich und geistig denen, die Glieder seines Reiches sind oder die es bestimmt sind zu werden und das sind eben alle Menschen. Aber wie sehr er dient, anzudienen strebt auch die höheren Güter des Heils; er verschmäht eben deshalb jedes Herrschen und Knechten. Auf dem Grunde der menschlichen Frei­ heit baut Gottes Liebe ihr Reich, welches ist Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist. Auf diesem Grunde können allein bauen, welche Gott lieben. Ist durch den heiligen Geist die Liebe zu Gott in das Herz ausgegossen, o mit Furcht und Zittern, mit gewissenhaftester Sorgfalt wird man in Brüdern und Schwestern die Freiheit der Ver­ nunft, der Ueberzeugung, des Gewissens und des Glaubens, das, was eigentlich der Ausdruck Gottesbild in sich befaßt, ehren. Aber trösten die Trauernden, erquicken die Schmachtenden, retten die Nothleidenden, kurz sich der Bedürftigen nach Möglichkeit annehmen, das fordert, das wirkt die Liebe zu Gott, wenn sie ausgegossen ist in die Herzen. Diese Liebe zu der heiligen, ewigen Urliebe schließt alle Lauterkeit und Heilig­ keit in sich. Deshalb eben so lauter wie nachhaltig ist die Begeisterung, wie sie der Geist Gottes, den Christus den Seinen verheißen und ge­ sandt hat, erzeugt. „Wo der heilige Geist ist, da ist die Kirche," sagte ein alter Kirchen­ lehrer, da ist deshalb auch Heil und Seligkeit. Gehören wir dieser Gemeinschaft der begnadigten Gotteskinder an? Wer so recht schnell mit seinem Ja zufährt, den möchte ich recht dringend bitten, sich selbst zu prüfen. Trägst du wirklich das Wesen des Geistes iü dir und ist es,Begeisterung aus der Liebe, mit welcher Gott dich liebt, entsprungen und nur in der Liebe zu Gott wirksam und thätig? Ist so diese deine Begeisterung beständig und lauter? Besser du klagst ohne Grund, als *) Apostelgeschichte 26, 29.

352 daß du ohne Grund frohlockest, besser, daß du suchst, als wenn du im Besitz dich wähnend um so gewisser dich zu beständigem Entbehren cerurtheilst!

Wer aber zagend und zitternd sprechen möchte:

Mir man­

gelt gerade dies in meinem Herzen, ich kann nicht gewiß werden, daß Gott mich liebet, aber ich bin gewiß, daß ich ihn noch nicht liebe, wie ich sollte, mir mangelt wohl der heilige Geist; — o einem solchen ge­ rade möchte ich zurufen: Sei getrost, dir ist das Evangelium gegeben. Wie für dich der Heiland geboren, so ist auch der heilige Geist für dich ausgegossen und wirkt schon gewißlich in deinem Herzen.

Deine

Sehnsucht nach der Vaterliebe Gottes ist ein Zeugniß, daß du sie ahnst und kennst und daß sie selbst sich nicht unbezeugt an dir läßt.

Deine

Klage, daß du nicht liebst wie du sollst, ist Beweis, daß du deine hei­ lige Aufgabe begriffen hast und ihr dich entgegenstreckst, daß die Liebe zu deinem Gott in dir wohnt; denn das Verlangen nach ihr ist sie selbst in ihrem Werden.

Deine Klagen sind eigentlich ihrer Wahrheit

nach die, daß du.erst in den Anfängen, im Werden der Liebe dich be­ findest!

Wohl dir! je mehr du dich sehnest, desto mehr wird dein in­

wendiger Mensch der rechten, ihm von Gott bestimmten Größe entgegen­ wachsen.

Je mehr du hungerst und durstest, desto mehr wird dein

Gott dich sättigen.

Aber mit dieser Demuth muß sich auch die Freudig­

keit des Gotteskindes verbinden.

Unserer Sehnsucht und unserem Ver­

langen entspricht Gottes unendlicher Reichthum der Liebe.

Wie wir

Eltern, die wir mannichfach sündig und fehlerhaft sind, unsern bittenden Kindern so gern gute Gaben geben, vielmehr giebt der Vater im Himmel den heiligen Geist denen, die ihn darum bitten.

Wohlan heiliger Wahr­

heitsernst und kindliche Zuversicht verlasse uns nie, auf daß der Vater durch den heiligen Geist die Liebe ausgieße in unsere Herzen und uns so erfülle mit der rechten Begeisterung für sein Reich, für der Mensch­ heit Heil, mit jener Begeisterung, die in Lauterkeit und nachhalttger Kraft sich als die ächte bewährt und vermöge deren es auch in letzter Stunde Amen.

noch gilt:

Die Hoffnung läßt.nicht zu Schanden werden.

Die christliche Kirche der Tempel Gottes. II. Pfingsten. Text: 1. Korinther 3, 16. Wisset ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid, und der Geist Gottes in euch wohnt?

der ersten Ausgießung des heiligen Geistes über die Jünger Jesu, deren Gedächtniß wir durch unser Fest wieder feiern, trat die Gemeine, die Kirche Christi, in's Leben. „Ein Herz und eine Seele" wissen sich nach der Apostelgeschichte alle,, die sich zu Jesu bekennen. Die Ge­ meine als solche greift selbstthätig, selbstbewußt, selbstkräftig in's Leben und wirkt in der Welt und auf die Welt, führend den geistigen Kampf wider die Mächte des Bösen, sich ausbreitend und in ihren Schooß hineinziehend, was Empfänglichkeit für sie hatte, sich gliedernd und ordnend in ihrer Mitte, sich erbauend, daß so der Leib Christi wächst zu seiner Selbstbesserung. So ist unser Fest zugleich das Geburtsfest der christlichen Kirche und dem entspricht es gar wohl, wenn auch unser allgemeines Glaubensbekenntniß den heiligen Geist und die eine heilige allgemeine christliche Kirche unmittelbar mit einander verknüpft. So auch unser Text, welcher mit dem „Ihr" die Gemeine anredet und diese unter dem Bilde des Tempels der Gottheit darstellt, zugleich aber den Grund dazu hervorhebt, nämlich das Einwohnen des heiligen Geistes. Lieder: Nr. 277.

315, 3.

Thomas, Glaube an Christus.

354 Diese christliche Kirche, entstanden durch die Ausgießung des heiligen Geistes, fortbestehend durch das Einwohnen desselben, hat die Verhei­ ßung unvergänglicher Dauer.

Auch die Pforten der Hölle sollen, nach

des Erlösers Wort, sie nicht überwältigen.

Diese christliche Kirche ist

eS, auf welche alle Veranstaltungen und Führungen Gottes in der Ge­ schichte der Menschheit abzweckten, sie ist das Erzeugniß der großen Thaten Gottes, sie ist der Gegenstand der Festfreude in diesen Tagen, sie ist es, um derentwillen das Lob Gottes heute erklingt, wie es so schon vor mehr als achtzehn Jahrhunderten gen Himmel drang.

Wir

sind versammelt um uns in christlicher Pfingstfreude zu stärken und zu reinigen, um uns zu christlichem Pfingstlobe zu reizen und zu beseelen. DaS wird nicht besser geschehen, als wenn wir uns fragen und uns zu beantworten suchen: Was haben wir an der christlichen Kirche, die in diesen Tagen wieder ihr Geburtsfest begeht?

Unser Text ant­

wortet uns: Den Tempel Gottes und diese Antwort möchten wir nach drei Seiten genauer bestimmen.

Die christliche Kirche ist uns

also der Tempel Gottes 1) als die Stätte der Versöhnung, 2) als die Hütte Gottes bei den Menschen, 3) als der Ort der Anbetung und Lobpreisung. I.

Das griechische und römische Heidenthum hatte seine zahlreichen

Altäre und Tempel und zu seiner Zeit waren zahlreich die Besucher der­ selben.

Ein dunkles Bewußtsein von der Gottheit hat Altäre und

Tempel erbaut.

Aber was ist der Zweck, weshalb errichtet man diese

Tempel der Gottheit? Und näher, wenn die Besucher die Hallen der Tempel erfüllen, was führt sie zusammen, was suchen sie in denselben? — Israel kennt nur den Einen Herrn Himmels und der Erde, und das Bewußtsein von dem Einen Gott hat in Judäa das Eine National­ heiligthum, den Einen Tempel zu Jerusalem errichtet. gen auch hier:

Aber wir fra­

Was führt die Glieder des Volkes in den heiligen

Tempel, was soll dieser Ort ihnen sein?

Unter Anderem können wir

zunächst für Heiden und Juden ein gemeinsames Gefühl und ein ge­ meinsames Sehnen und Ringen hervorheben.

Wie auch durch das

griechische Heidenthum das Streben hindurchgeht, die Götter, die Gott­ heit ganz zu vermenschlichen, doch bleibt im Gegensatz dazu ein Gefühl

355 und macht sich immer wieder geltend, das von xiner Kluft zwischen den Menschen und den himmlischen Mächten, das von einem Mißfallen der Götter, von einem Zürnen derselben.

Dies Zürnen und Miß­

fallen auszugleichen und aufzuheben, dazu bringt auch der Heide seinen Göttern seine Verehrung, dazu ihnen in ihren Tempeln zahlreiche Opfer, Versöhnung sucht er im Heiligthum.

In Israel, wo die Gottesoffen­

barung in der krhstallnen Klarheit und Schärfe des

Gesetzes ihren

Abschluß gewinnt, ist das Gottesbewußtsein erst recht das Bewußtsein von dem Zwiespalt zwischen Menschheit und Gottheit, ist der sündige Mensch getrennt und verurtheilt von dem Heiligen, vor dem der Gott­ lose nicht bleibt.

Darum auch in Israels Tempel das Hohepriester­

thum, wie es die sühnenden Opfer vollzieht,

darum kommt immer

wieder zum Heiligthum das Volk, daß es dort die Versöhnung erlange. Aber weder dort bei den Heiden, noch hier bei Israel wird der Mensch deß gewiß, daß die Kluft zwischen Himmel und Erde sich füllt, daß die drohenden Gottesstrafen aufgehoben sind und werden, weder dort noch hier dringt der bleibende Friede der Versöhnung in das Gemüth.

Kein

Tempel des vorchristlichen Alterthums ist die Stätte der Barmherzig­ keit und Gnade, in dem die Erquickung für die mühseligen und bela­ denen Seelen zu finden ist. wahr*):

Auch in dieser Beziehung ist das Wort

„Gott wohnet nicht in Tempeln mit Händen gemacht." ■—

»Wisset ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid?" fragt der Apostel, um in der Form der Frage nach bekannter Redeweise eö als das Gewisseste hinzustellen, Ihr, die Gemeine Christi, ihr alles» seid das rechte Heiligthum, der wahre Tempel der Gottheit auf der Erde, weil der Geist Gottes allein in euch wohnet.

Wie nach der heutigen

Festbegebenheit Gott sein Wort erfüllt und auf alles Fleisch ohne An­ sehen des Geschlechtes, des Standes, der Erkenntniß, wenn nur Em­ pfänglichkeit, Sehnsucht, Gebet da ist, seinen Geist ausströmt, wie nach unsers Apostels Wort jeder, der wirklich Christum einen Herrn heißt, ihm den Glaubensgehorsam leistet, den heiligen Geist hat, so sind die Ihr unseres Textes alle, die im wirklichen Glauben dem Erlöser an-

*) Apostelgeschichte 17, 24.

356 gehören.

In ihnen ist das Wirken des Gottesgeistes und dieses Wirken

ist das heilige Band, welches sie innerlich zu einem Ganzen, zu einem geistigen, gottgeweihten

Gebäu zusammenschließt.

Diese Kirche,

eine

rein innerliche Gemeinschaft und doch stets nach außen zum Heile der Menschheit gestaltend, diese Kirche, wie man sagt, eine unsichtbare, (denn kein menschlich Auge steckt die Grenzen derselben ab und bestimmt und zählt ihre Glieder) und doch beständig in alles sichtbare Leben hinein­ greifend, diese Kirche, weder Kunst noch Wissenschaft, noch Staat und bürgerliche Gemeinschaft,

und doch Alles das durchwirkend und mit

Gotteskräften erfüllend, diese Kirche, ohne besondern Priesterstand und doch durch und durch priesterlich, in allen ihren wirklichen Gliedern das heilige Gottesvolk, sie ist der heilige, ewige Tempel der Gottheit, auS lebendigen Bausteinen durch den heiligen Geist zusammengefügt.

Nun

so ist sie auch die Stätte, wo das müde und matte, das in geistigen Kämpfen verwundete und geängstete Gemüth den Frieden findet, die Stätte der Versöhnung.

Durch den Geist Gottes ist diese Kirche ent­

standen und wird sie bis an das Ende der Tage zusammengehalten. Das ist aber der Tröster, der Vertreter der Gläubigen, das ist der Geist des Vaters, wie er auch war ohne Maaß in dem Sohne, das ist der Geist Jesu Christt selbst, der Geist, der ihn für sein Volk und in seinem Volk verklärt, der Geist, der von dem Seinen, von dem was Christi ist, nimmt und eS als Lebendiges und Lebenwirkendes in die Seelen der Jünger pflanzt.

Durch Christi Leben, durch sein Wort und Thun,

durch sein Leiden und Sterben, durch diese hochherrliche Persönlichkeit in ihrer Entfaltung, durch das sich stets erneuernde Zeugniß von Christo dringt dieser Geist Gottes in die Gemüther.

Und was ist sein Wirken?

Hat der Erlöser gesprochen*): „Kommt her zu mir alle, die ihr müh­ selig und beladen seid, ich will euch erquicken," „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinaus stoßen" — durch des heiligen Geistes Kraft werden solche Worte der Jünger Eigenthum, ihnen als unentreißbare Bürgschaft des Heiles gegeben.

Ist Christus in seiner Liebe dem Werk

der Welterlösung treugeblieben bis in den Tod,

*) Matthäus 11, 28.

Johannes 6, 37.

so daß er spricht:

357 „ES ist mein Blut vergossen zur Vergebung der Sünden;" durch des Geistes Wirksamkeit fühlen die Christen diese unendliche Liebe auf sich gerichtet, wissen sich als Gegenstände dieser Gnade.

Der Geist eignet

ihnen das Wort zu: Dir sind deine Sünden vergeben, eignet ihnen zu, was das Gleichniß vom verlorenen Sohn so einfach, so lebendig, so unübertrefflich schön abbildet.

Durch den heiligen Geist ergießt sich

solche versöhnende, annehmende, beseligende Liebe Christi und Gottes in die Herzen und der Friede Gottes, der alles Denken übersteigt, wird ihr Loos.

So lasset unö stets hinzutreten zu dem Gnadenstuhl, so

lasset uns bleiben in diesem Gottestempel, so mögen auch unsere Zu­ sammenkünfte in unsern Gotteshäusern nur dazu dienen, daß wir mehr und inniger hineingefügt werden in den geistigen Bau der Christus­ gemeine.

Die Versöhnung, der Friede aus Gott, die selige Ruhe und

Ergebung im Leben und Sterben wird uns in diesem Tempel gewährt. II.

Aber wie die Gemeine als Gottes Tempel die Stätte wahrer

wirklicher Versöhnung ist, so auch, um ein Wort der Schrift zu ge­ brauchen, die Hütte Gottes bei den Menschen. und Menschen ist ja ein unendlicher Abstand.

Zwischen Gott

Auf der einen Seite

der ewige Schöpfer des unermeßlichen Alls, auf der andern Seite daö eine geringe Geschöpf, sich wie völlig verlierend in der Reihe von un­ zähligen Millionen Wesen.

Auf der einen Seite der Allgenugsame,

in sich Allselige, auf der andern das Wesen, das durch und durch, nach allen Seiten bedürftig ist.

Selbst ohne den Gegensatz zwischen dem

Allheiligen und den Sündern ist wahrlich die Kluft zwischen Gott und den Menschen tief und breit genug.

So giebt es denn auch viele

Stellen in der heiligen Schrift, in denen die frommen Männer gleich­ sam überfließen oder vielmehr aufgehen in dem Gefühl ihrer tiefsten Armuth Gott gegenüber, in dem Bewußtsein ihres Nichts, auch in dem Bewußtsein der Unmöglichkeit zu Gott zu gelangen, mit ihm in Ein­ heit zu stehen.

Und doch wird in dem Buch der Bücher die Hoffnung

einer späteren Verherrlichung der Menschen nie aufgegeben, spricht sich schwächer und stärker in mannichfachen Verheißungen aus.

„Du wirst

ihn lassen eine kleine Zeit von Gott verlassen sein, aber mit Ehre und Schmuck wirst du ihn krönen.

Du wirst ihn zum Herrn machen

358 über deiner Hände Werk" *).

Diese Hoffnung und Aussicht ruht auf

betn, waS über das Wesen des Menschen im Buch der Büchew sich findet.

Nach Gottes Bild, zur Gottähnlichkeit ist der Mensch geschaffen,

von dem Odem der Gottheit erfüllt und so eine vernünftig Seele, darum berufen, sich die Erde und alles was ihr angehört, Unterthan zu machen.

Darin liegt aber ein Mehreres.

Der nach Gottes Bild

zur Gottähnlichkeit Geschaffene, welcher den Odem der Gottheit, Geist aus Gottes Geist, die vernünftige Seele in sich trägt, der ist auch für die Gemeinschaft mit Gott gebildet, zur Einheit mit ihm bestimmt, be­ stimmt, daß er trotz der scheinbaren Kluft zwischen Schöpfer and Ge­ schöpf, als Kind in des Vaters Schooß ruhe.

Das Bewußtsein spricht

sich selbst bei den Denkern und Dichtern der Heiden noch aus, wie Paulus dafür das Wort des griechischen Dichters anführt**): sind seines Geschlechtes." durch und treibt die der Weissagung.

„Wir

Solch Bewußtsein erfüllt Israel durch und

lebendige Sehnsucht

auf den höchsten Gipfel

Ach daß du den Himmel zerrissest und herabführest

zur Erde, das das bleibende Gebet bei allen prophetischen Sehern Israels.

Die Theokratie ist Israels ursprüngliche Verfassung, d. h.

Gott selbst soll Israels König sein, er soll in Israel als in seinem Volke des Eigenthums walten und wohnen.

So soll der Tempel die

Wohnung des Allerhöchsten in Jerusalem darstellen auf dem heiligen Berge, ja in dem Tempel selbst giebt es das Allerheiligste als diejenige Stätte, die ganz von Gottes Gegenwart erfüllt ist. Darum hat das Volk die heilige Pflicht und das heilige Recht, wenigstens an den drei hohen Festtagen in Jerusalem zu erscheinen und im Tempel die Gemeinschaft mit Gott wieder herzustellen und zu befestigen.

Das ist die Bestim­

mung des Tempels, die Einheit mit Gott zu vermitteln, oder wie wir'S ausgedrückt haben: Eine Hütte Gottes bei den Menschen zu sein.

Aber

schon das Gebot, daß außer dem Hohenpriester keiner das Allerheiligste, das für Gottes Wohnung galt, betreten durfte, daß das Allerheiligste durch einen Vorhang vom übrigen Tempelraum abgeschlossen war, be­ zeugte es, daß hier die Einigung mit Gott nicht gefunden wurde. *) Psalm 8, 6. 7. **) Apostelgeschichte 17, 28.

Ja,

359 wenn in Israel das Wort: Wer Gott sieht der muß sterben, das all­ gemeine Bewußtsein Israels ausdrückte, wäre das' Allerheiligste auch Gottes wirkliche Wohnung gewesen, er wäre in und mit derselben ge­ schieden geblieben vom Volk, es wäre keine Hütte Gottes bei den Men­ schen gewesen.

„Wisset ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid

und bei Geist Gottes in euch

wohnet?"

Gott erfüllet als die

Alles regierende, geistig gestaltende Macht die ganze Welt.

Aber als

das Heiligthum, in dem er als Liebe, sich selbst und seine Seligkeit mittheilend, wohnen will, dazu hat er in dieser irdischen Welt sich allein des Menschen Herz, die vernünftige Seele, gebildet und bestimmt.

Äichr

im steinernen Hause, wohl aber in dem vernünftigen Geiste kann er lebendig als die Liebe thronen und wohnen.

Wir wissen, wie dies ur­

sprüngliche Heiligthum Gottes entweiht ist und durch die Sünde auf­ hört Gottes Wohnung zu sein.

Aber wir kennen auch den, der als

der Menschen, der Menschheit Sohn

in vollkommener Reinheit und

Sündlosigkeit sich entfaltete und heranreifte zu dem vollkommenen Man­ nesalter der Liebe und Wahrheit, wie er darin sich selbst im Leiden und Sterben vollendete.

Da ist die Hütte Gottes in der Menschheit

hergestellt, da ist des Menschen Geist, in dem die Gottheit wohnen kann, will und muß, da deshalb der, welcher sagt*): '„Ich und der Vater sind Eins," „Glaubet mir, daß ich im Vater und der Vater in mir ist."

Und er spricht: Ich will euch den Tröster senden, den hei­

ligen Geist,

seinen Geist,

des Vaters Geist.

Ist

der

auch

etwas

Anderes als wie es im Gleichniß vom Weinstock und den Reben ausge­ sprochen ist? ist er nicht das gottmenschliche Leben wie es vom Wein­ stock in die Reben, von Christo in die Christenheit dringt?

Ist der

etwas AydereS, als wodurch das hohepriesterliche Bitten Christi erfüllt wird**): „Ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, daß sie eins seien gleichwie wir Eins sind.

Ich in ihnen und

du in mir, auf daß sie vollkommen seien in Eins."

Ist der heilige

Geist etwas Anderes als diese vom Vater durch den Sohn sich er-

*i Johannes 10, 30.

14, 11.

**; Johannes 17, 22. 23.

360

gießende Gotteskraft, vermöge deren ein Paulus spricht*): „Ich lebe nicht mehr, sondern Christus lebet in mir?" Ja der heilige Geist, welcher Jesu Jünger zum heiligen GotteStempel zusammenschließt, ist das Hineintteten der Gottheit in die Gemüther der Gläubigen, ist das Einkehren und Wohnung machen der ewigen Liebe in der versöhnten Menschheit. Durch den heiligen Geist ist die Gemeine die wahre Hütte Gottes bei den Menschen. O laßt uns immer mehr lebendige Glieder derselben werden, Glieder an dem Leibe Christi, laßt uns aufnehmen den Geist des Herrn, damit Christus und Gott alle Tage zu uns komme Und Wohnung in uns mache. in. ES bleibt uns jetzt noch der dritte Punkt der Betrachtung: die christliche Kirche als Gottes Tempel der Ort der wahren Anbetung und Lobpreisung Gottes. Anbeten, Dank opfern, ja das geht als schöner Lichtstrahl selbst durch die vielen Finsternisse des alten Heidenthums hindurch. Immer darin noch ein Bewußtsein, wenn auch umdunkelt, wenn auch getrübt, von Segnungen göttlicher Mächte, so doch auch von göttlicher Güte, ein dunkles Ahnen von dem verbor­ genen Gott der Liebe, immer auch noch, bei mächtiger Selbstsucht und viel Verderbniß, ein Regen des ursprünglich Menschlichen und Gött­ lichen im Menschen. Schöner, erhabener, heiliger auch das wieder in Israel! Welche Freude an den Gottesdiensten spricht sich aus, wenn es heißt**): „Eins bitte ich vom Herrn, das hätte ich gern, daß ich im Hause des Herrn bleiben möge mein Leben lang, zu schauen die schönen Gottesdienste des Herrn und seinen Tempel zu besuchen." Und was die Gottesdienste den Frommen so lieblich machte, das drückt sich in dem Wort aus***): „Ich halte mich Herr zu deinem Altar, da man höret die Stimme des DankenS und da man prediget alle deine Wunder." Das Lob, die Danksagung, das Ueberströmen der Anbetung ist eS; denn „Das ist ein köstliches Ding dem Herrn danken und lobsingen deinem Namen du Höchster" f). So sammelt sich die *) **) ***) t)

Galater 2, Psalm 27, Psalm 26, Psalm 92,

20. 4. 6. 7. 2.

361 alttestamentliche Volksgemeine zu Zion, so kommt sie mit Freuden -vor das Angesicht des Herrn; denn sie schauet an dem Himmel und auf der Erde die Ehre des Ewigen, ihres Gottes, sie siehet die Erde voll seiner Güter, sie blicket zurück auf der Väter Zeiten, auf weise und gnädige Führungen und Bewahrungen, sie erlebt die Errettung auS Noth und die Kräftigung und den Sieg gegenüber den Feinden, sie erkennet die Wunder in und an dem göttlichen Gesetz, ist gehoben in dem Besitz des göttlichen Wortes, daß ihr köstlicher dünkt denn viele Tonnen Goldes. Wenn so der Tempel wiederhallte von den Psalmen und Lobgesängen der Anbetung; dann waren in ihm die lieblichsten Gottesdienste, dann hatte er das Gepräge seiner höchsten Weihe. Und wie die Seher, die Propheten mit mehr oder weniger klarem Blick in die Zukunft schauen, schon Neutestamentliches erkennen und als ein Kommendes ankündigen; so geht auch Anbetung und Lobpreisung im alten Bunde gleichsam schon hinüber in den neuen, wie wenn im 103. Psalm die Seele des Sängers so ganz vom Lobe überströmt, weil der Herr alle Sünden vergiebt und alle Gebrechen heilt, weil er das Leben vom Verderben erlöset und mit Gnade und Barmherzigkeit krönet. Aber ich möchte sagen, das sind doch nur Momente, in denen die alttestamentlichen Frommen im Geist entzückt und damit versetzt sind in'S neue. Ist Gnade und Wahrheit doch erst durch Jesum Christum ge­ geben, ist es in ihm doch erst gewisse Wirklichkeit, daß Gott die Liebe ist, daß er also die Welt geliebet, daß er ihr seinen eingebornen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Und erst durch das Wirken des göttlichen Geistes auf unsern Geist erfahren wir an und in uns diese barmherzige Liebe, die Liebe die nicht nur schafft und erhält und regiert, sondern die Liebe, die eine volle Versöhnung und Erlösung uns gestiftet hat, die Liebe, welche die Kräfte der Beseligung und Heiligung uns mittheilt, die Liebe, welche an treuer Hand durch Freud und Leid zum unver­ gänglichen Heil hindurchführt. Durch diesen heiligen Geist aufgenommen als lebendige Bausteine in den Tempel Gottes, in die Gemeine des Herrn, können wir erst auS der vollen Tiefe unsers Gemüthes und ans der seligen Höhe des Glaubens loben und danken. Darum wie Thomas, Glaub- an Christus. 24

362 hehr und groß und schön der Tempel Jerusalems mit seinen Gottes­ diensten, doch mußte der Herr sprechen: Es-kommt die Zeit, wo nicht mehr in ihm angebetet wird; sondern wo Gott angebetet wird im Geist und in der Wahrheit.

Diese selige Lobpreisung und Anbetung ist nicht

mehr gebunden an Ort und Zeit;

aber gebunden an

Gottesgemeine, an den in ihr waltenden Gottesgeist.

die lebendige Anbetung und

Dank ist heilige Schuld, die wir Gott gegenüber stets einzulösen haben, Anbetung und Dank ist Zeugniß ächter, gottwohlgefälliger Frömmigkeit, Anbetung und Dank ist selige Freude, ist Stärkung und Nahrung des göttlichen Lebens im

menschlichen Sein. —

O darum

noch einmal,

lasset uns sorgen, daß wir sind, daß wir immer mehr werden Glieder an dem Leibe Christi, an seiner Kirche, daß wir als solche stets sind in dem ächt allein wahren Tempel der Gottheit, damit weder im Leben ikoch im Sterben aufhöre unser Lobgesang des Höchsten, unsere An­ betung seiner heiligen Liebe.

Amen.

In Allem Gott die Ehre! Sonntag

der

Dreieinigkeit.

Text: Römer 11, 36. Denn von ihm und durch ihn und in ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit. Amen. Ücheure Freunde, dieses unser Texteswort ist ein Schlußwort.

Der

Apostel hat in den ersten elf Kapiteln seines Briefes in die volle, ganze Tiefe des christlichen Glaubend und Denkens hineingeführt, hat auf die höchste Warte christlicher An- und Umschauung hinaufgeführt und von ihr aus.auf den weitesten, allumfassenden Umfang des sich in der Mensch­ heit bildenden Gottesreiches hingewiesen.

Da der begeisterte Ausbruch

in unserer heutigen Epistel: „O welch eine Tiefe des Reichthums, beides der Weisheit und der Erkenntniß Gottes," da das letzte preisende Wort: „Ihm sei Ehre in Ewigkeit." — Wir, Geliebte im Herrn, haben vor acht Tagen das letzte unserer hohen Feste in diesem Kirchenjahre ge­ feiert, stehen somit am Schluß der festlichen Hälfte desselben.

Auch

diese unsere Feste von Advent und Weihnacht an bis Pfingsten haben uns doch wohl wieder manchen Blick in die Tiefen unseres Glaubens, manche erhebende, selige Aus- und Umschau von der Höhe desselben thun

lassen.

Soll der heutige Sonntag nach kirchlicher Bestimmung

Lieder: Nr. 28. 1-3.

44.

658, 3.

364 noch einmal wenigstens andeutend alle die gefeierten großen Thatsachen des Heils zusammenfassen, ich meine, auch wir werden bewogen zu dem Ruf der Bewunderung:

„O welch eine Tiefe des Reichthums, beides

der Weisheit und Erkenntniß Gottes," auch uns bleibt als Schlußstein nur der Preis: „Ihm, Gott, sei Ehre in Ewigkeit."

Es ist dieser

Sonntag, als Zusammenfassung aller früheren Feste, der Sonntag der Dreieinigkeit genannt, weil eben in Weihnacht gepriesen wird die Liebe des Vaters, die für die Welt den Sohn giebt, am Charfreitag, Ostern und Himmelfahrt die Liebe des Sohnes, die durch ihr Leiden, durch ihre Selbstopfernng zu ihrer Herrlichkeit eingegangen ist, um uns die Stätte zu bereiten, in Pfingsten die Liebe des Geistes, die fortan in der Menschheit aus den Gläubigen, als den lebendigen Bausteinen, den heiligen Tempel Gottes zusammenfügt. was uns so geschichtlich gegeben ist.

Wir schließen uns an an das

Indem wir im Geist auf unsere

kirchlichen Feste, auf die in mannichfachen

Strahlen sich brechende

Offenbarung Gottes, welche ihnen als Grundlage dient, zurückblicken, wird uns das zu lebendiger kräftiger Mahnung:

In Allem Gott

die Ehre! Wohlan, so ermuntern wir uns nach unserm Texte zur lebendigen Verehrung deS Gottes, in dem wir haben 1) die ewige Ur­ quelle, 2) die alleinige Vermittlung, 3) das bleibende Ziel für unser Heil und Leben. L

Wenn Advent, wenn Weihnacht kommt, so gern hören wir

dann das Wort:

„Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen ein-

gebornen Sohn gab."

Worin aber liegt wohl der Grund, daß Gott

die Welt liebt? Weshalb bleibt sie der Gegenstand seiner Liebe? Weil von ihm sie, stammt, weil die Menschheit, denn die ist hier mit diesem Ausdruck bezeichnet, noch in eigenthümlicher Weise ihm angehört, so besonders sein Eigenthum ist.

Erlösung stiftet Gott, ruft Weihnachten

uns zu, weil von ihm entsprungen ist das Geschlecht, das bewußt oder mehr unbewußt nach Erlösung durstet.

Aber stammen der Menschen

Geschlechter von ihm, woher die natürliche Welt, in welche er sie ge­ setzt hat, in welcher er ihnen die Erlösung bereitet und ordnet? Nicht in einer ihm fremden Welt sollten sich bilden und wachsen, sollten woh­ nen und wirken die, welche sein Bild tragen und von seines Geistes

365 Odem beseelt sind. sind sein.

Auch die natürliche Welt, Himmel und Erde, sie

Es waltet in der ganzen Welt sein ewig weiseS, sein all­

wirkendes Regiment.

Aber sie sind sein, weil er sie in's Dasein ge­

rufen hat, weil von ihm von Ewigkeit her ausgeht die Alles gestaltende und bewegende Kraft.

„Von ihm

sind alle Dinge!"

Er, der

Erlösung bereitet, ist der Schöpfung ewige Urquelle, er ist es, der da spricht und es geschieht, der da gebietet und es steht da.

Nach unserm

lebendigen Glauben ist Gott nicht geschieden von uns, nicht geschieden von der Welt, wir leben,

weben und sind in Gott.

Glauben ist aber Gott unterschieden von der Welt.

Nach unserm

Er, der sie dnrch-

dringt und erfüllt, thront doch zugleich in ewiger Erhabenheit über der­ selben.

Nach unserm Glauben hemmen Gott nicht die Schranken un­

seres Daseins und Lebens und dennoch ist er uns im höchsten Sinne des Wortes der persönliche Gott, die Ur- und Allpersönlichkeit, was wir ausdrücken, wenn wir ihn durch Christum unsern Vater nennen. — Dieser

Glaube

nun

ist unserer Zeit vielfach

ein Anstoß

geworden.

Man kann sich in solchen Gegensatz von Gott und Welt, Schöpfer und Schöpfung, Geist und Natur nicht

finden.

Das Wesen eines

ewigen Urgeistes, der aus seinem innersten Wesen heraus die natür­ liche Welt hervorrief, dies wunderbare Wirken eines lebendigen Gottes, dessen Leben als Urleben ein höheres ist als

das Naturleben,

will

vielen Kindern dieser Zeit als etwas Unbegreifliches, ja Unmögliches erscheinen.

Man sehe, heißt es,

in der natürlichen Welt wohl die

Spuren des denkenden, dichtenden, bildenden, gestaltenden Geistes, aber der sei nicht außer und über der Natur, der sei selbst eine Eigenschaft, eine Thätigkeit des natürlichen, des sinnlichen Stoffes.

Das Eins und

Alles, die gesammte Welt in ihrer Ausdehnung, vom unbewußten Geiste erfüllt und in ihm stets sich neuschaffend und neugestaltend, ist es, bei dem ist man angelangt, über das hinaus will man von nichts wissen. Da habe man, so tönt die rühmende Rede weiter, die Geheimnisse auf­ gelöst und sei der unbegreiflichen Wunder los, und die Forschung bestätige täglich von Neuem, wie doch Alles so recht natürlich in der Natur zugehe. — Wir wollen, Geliebte, nie gering schätzen die bedeutenden Fortschritte und den hohen Werth aller menschlichen Forschung

und

366 Wissenschaft, wir rufen ein „Gottes Segen" allem rüstigem Streben in dieser Beziehung zu.

Aber ihr habt viel ergründet, ihr Forscher,

über die Zusammensetzung und den Bau der Dinge und Wesen, über ihr Werden, über die Bestandtheile dessen, das sonst für Einfaches galt, über den Zusammenhang des Entferntesten und Nächsten und den Ein­ klang des scheinbar Entgegengesetzten.

Aber das Messer, mit dem ihr

die Körper zerlegt, das Glas, mit dem ihr das Kleinste so vielfach vergrößert, daß es sich eurem Auge nicht mehr zu entziehen vermag, haben sie euch auch das Geheimniß des Lebens aufgeschlossen?

Haben

sie euch wirklich Antwort über das Wie? und Woher? und Wozu? deS Lebens gegeben?

Bewundernswerth ist, wie ihr mächtig geworden

seid der Stoffe in der Welt, daß ihr sie immer weiter und weiter zer­ setzt, daß ihr auf der andern Seite zu wägen und zu messen versteht, was unmeßbar sonst für alle erschien.

Aber habt ihr mit euren Zer­

setzungen und Messungen wirklich die bildende, gestaltende Kraft in dem Allen ergründet, daß ihr über ihr innerstes Wesen Rechenschaft zu geben vermöchtet?

So natürlich Alles zugeht, der Urgrund alles Natürlichen

hüllt sich für euer Forschen auf immer in ein unergründliches Geheimniß. Ein geistiges Etwas, wie ihr selbst zugesteht, entzieht sich für immer eurem Auge!

Ein geistiges Etwas, ja einen waltenden Geist, wenn

auch an die Natur gebunden und in die Natur gebannt,

von

dem

kommt auch ihr nicht los, kommt nicht los davon diesen als das Voll­ kommenste zu denken, ihn euch irgendwie als Naturseele, als Weltgeist vorzustellen.

Diese Naturseele,

wohl gefallen,

nur

diesen Weltgeist läßt man

ohne Selbstbewußtsein

und

sich

Persönlichkeit.

nun Bon

einem selbstbewußten, persönlichen Gott, so haben einzelne Forscher er­ klärt, hätte nichts auf und in der Erde, hätte kein Stern am Himmel ihnen Zeugniß abgelegt. — Giebt es aber nicht eine andere Thür, an der nicht «vorüberzugehen, nicht eine andere Quelle, aus der zu schöpfen dem wirklichen,

wahrheitsliebenden Forscher

geziemt?

Einer unserer

größten Denker erkannte das unendlich herrliche Wunder der Sternenwelt und im Staunen betete er an.

Aber nicht geringer schien ihm

das Wunder im Innern des Menschen, das Sittengesetz in menschlicher Seele.

Hier erst recht beugte er sich

in tiefster Ehrfurcht vor der

367

hehrem Erhabenheit des ewigen Gottes. Was die ganze Welt als Quelle und Wsen des Lebens durchdringt, die ganze Welt so im Innersten trägt mb hält, muß es nicht das Höchste, das Vollkommenste, die Urvollkwmnenheit sein? Nun schaue an die bildenden Naturkräfte, die ja auch du als geistig, wenn auch ohne Selbstbewußtsein, erscheinen, steht dein «Geist, dein Selbstbewußtsein mit dem du allein die Welt als Welt, als harmonisches Ganze erfassest, und vom Ganzen wieder hinein in's Einzelne eindringst, steht es nicht viel höher als alle jene unbewußt gestalterden, geistigen Kräfte? Dein Geist in dir als Gewissen, als Kraft za unterscheiden zwischen böse und gut, als schöpferische Quelle schöner, edler Sittlichkeit, als Erzeuger der heiligen Liebe, des Bandes der Vollkommenheit, ist er nicht so sehr viel mehr als jede Weise des Lebens in der Natur? Und daß du, o Mensch, so Person, persönlicher Geist in dem entsprechenden wunderbar gebildeten Leibe bist, ist es das nicht allein, was dich bei allen deinen Schwächen und Schranken, doch als den hochgeborenen Königssohn an die Spitze der ganzen natürlichen Welt gestellt hat? Wohlan ist es so, was ihr Weltseele, Naturgeist nennt und von dem ihr bekennt, eS muß das Höchste sein, ja es ist das Höchste; ist eben deshalb nothwendig das Urselbstbewußtsein, die Urheiligkeit, die Urliebe. Gewisser als wir selbst uns sind ist uns der lebendige, persönliche Gott, wie er die Welt schafft, erhält und regiert. Freilich geht alles in dieser Welt so natürlich zu, weil die ewige Urvernunft die Natur schaffend und bildend auch ihre eigenen Gedanken als Naturgesetze in sie hineingehaucht hat und hineinhaucht. Darum hineinblickend in diese Welt und alle ihre Herrlichkeit, und auf ihren Ursprung zurückgehend, kommen wir zu eben dem, der uns durch die Geburt Jesu Christi Weihnacht gegeben hat, kommen wir zu dem, von dem Schöpfung und Erlösung ruft: „Bon ihm sind alle Dinge," zu dem wir nach beiden Seiten anbetend uns erheben und sprechen: „Unser Vater in dem Himmel." ll. Aber im Himmel, in der Herrlichkeit thronend erscheint uns Gott, wie eS nach dem Worte der Schrift heißt*), als „der in einem *) 1. Timotheus 6, 16.

368 Lichte wohnet, da niemand zu kommen kann."

Eine unübersteigliche

Kluft scheint uns zwischen dem unendlichen Schöpfer des Alls und dem geschaffenen endlichen Menschen jede Gemeinschaft unmöglich zu machen. Wie wird die Kluft ausgefüllt, wie die Vereinigung gefunden?

Eine

frühere Anschauungsweise kennt und preist Engel, himnilische Geister, die als Vermittler, als Boten, als Diener Gottes zwischen Gottheit und Menschheit Verkehr und Verbindung begründen.

Aber wie sich

auch eine kindliche Frömmigkeit darin aussprach, und wie wir keinen Grund haben höhere, geistige, persönliche Wesen, die in irgend andern Weltsphären Gott anbeten und Gott dienen, zu leugnen, — als solche vermittelnde Wesen zwischen Gott und der Menschheit kann unser mehr gereifter und sich selbst klar gewordener Glaube dieselben nicht mehr be­ trachten.

Nicht durch die Engel, sondern wie unser Text sagt, durch

den Gott, von welchem Alles entspringt, ist und wird auch Alles. Das ist der Sinn jenes tiefsinnigen, Johanneischen Wortes*):

„Im An­

fang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.

Dasselbe war im Anfang bei Gott.

Alle Dinge sind durch

dasselbe gemacht und ohne dasselbe ist nichts gemacht, das gemacht ist," und des Paulinischen**):

„Durch ihn, welcher ist das Ebenbild des

unsichtbaren Gottes und der Erstgeborene vor allen Creatnren, durch ihn ist Alles geschaffen, das im Himmel und auf Erden ist, das Sicht­ bare und das Unsichtbare."

Ist Gott in seiner Majestät der Uner­

gründliche und Unbegreifliche, —• als das Wort, als der sich selbst Offenbarende tritt er gleichsam aus sich selber heraus, schafft er die körperliche und geistige Welt, und ist als der sich Herablassende in der Welt und senkt als das erleuchtende Licht und als die Quelle des Le­ bens Strahlen in die Geister, die selbst Ausflüsse seines Wesens sind. Durch sich selbst gründet er fortwährend die Offenbarungsquellen, daß seine ewige Kraft und Gottheit wird ersehen an den Werken, nämlich an der Schöpfung der Welt, daß die Himmel rühmen seine Ehre und die Beste verkündigt seiner Hände Werk.

So ist er nicht fern von

dem geschaffenen, persönlichen Geiste des Menschen, sondern läßt diesen *) Johannes 1, 1-3. **) Kolosser 1, 15. 16.

369 wie in der Welt, so zugleich in sich selber leben, weben und sein, auf daß der geschaffene Geist den Schöpfer suche und finde, auf daß er durch ihn sich entwickele und entfalte zur Reife und zur Vollendung seines Seins und Lebens.

Ja nur durch ihn, durch Gott, kann sich

das Gottesbild, der Mensch, in seiner wahren Schönheit heraus ge­ stalten, ohne ihn, in der Ferne von ihm, verfällt er an die Mächte der Eitelkeit, der Nichtigkeit, des Verderbens.

Und grade an diese Mächte

der Selbstsucht und Sünde hatte sich die Menschheit hingegeben in der Ferne von Gott, war damit der Schuld und der davon unzertrenn­ lichen Finsterniß verfallen.

Wir aber dürfen rühmen, wie es die ver­

lebten Feste Charfreitag, Ostern und Himmelfahrt bezeugen:

Uns ist

Erlösung geworden, das Licht hat die Finsterniß vertrieben, die Liebe hat aufgehoben die Schuld, die Gerechtigkeit Gottes macht gerecht. Vor­ bereitet ist diese Erlösung durch Israels hehre, geisterfüllte Männer, durch die Propheten, theilweise mit angebahnt selbst durch der Heiden große Dichter und Denker.

Aber wie in Jesus von Nazareth erst er­

schienen ist Gnade und Wahrheit, so ist er, der Menschensohn, der richte Mensch, auch der alleinige Mittler zwischen Gott und Menschen, er in seinen Worten des ewigen Lichtes und Lebens, er in seinem Thun und Erfüllen aller Gerechtigkeit, er in seinem Leiden, seiner Hingabe in Gehorsam und Liebe, er, der sich selbst erniedrigt hat auf's Tiefste und darum auf's Herrlichste erhöht ist, er ist Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung und darum uns die ewige Weisheit, darum das Licht der Welt, durch ihn kommen wir zu Gott.

Wie nun sind die Seher

des Alterthums Vorbereiter der Erlösung und Versöhnung geworden, wie der Mensch Jesus der, welcher sie vollbringt?

Von ihm sagt Jo­

hannes: Das Wort, die sich offenbarende Gottheit, ward Fleisch, ward Mensch, und so erschien der eingeborne Sohn vom Vater voller Gnade und Wahrheit.

Von ihm sagt Paulus*): Gott war in Christus und

versöhnte die Welt mit ihm selber.

In diesem heiligen Menschen senkt

sich fortwährend die Gottheit selber als vergebende, friedenstiftende, rei­ nigende und erlösende Liebe herab,

*) 2. Korinther 5, 19. Thomas, Glaube an Christus.

geht von ihm fortwährend, in die

370 erlösungsbedürftige Menschheit ein.

Und von den großen Sehern des

Alterthums, von allen denen, von welchen vorbereitende Strahlen gött­ licher Wahrheit und Heiligkeit ausgingen, sagt einer der ältesten Lehrer des Christenthums: Das ewige Wort, also der Gott der Offenbarung, wenn auch nur erst wie ein Keim, wie ein SaaMenkorn eingeschlossen, habe auf jene Männer, in ihnen und durch sie gewirkt.

Sie selbst,

die Propheten, wissen sich erleuchtet durch den Herrn und seinen Geist. Darum alles Licht, alles wahre Leben und Heil, wie es anbahnend in vorchristlicher Zeit erschien, wie es in seiner ganzen Fülle in Christo und durch Christum sich ergoß, aus dem sich offenbarenden Gott ist es allein hervorgeströmt.

Gott hat sich aufgeschlossen,

hat sein

Wesen in seinem Namen durch Christum uns gegeben,

ganzes

Gott war in

Christo und versöhnete die Welt mit ihm selber, anbetend sprechen wir: „Durch ihn sind alle Dinge,"

und

in solcher Anbetung ffehen

wir: „Geheiligt werde dein Name", dein uns offenbares Wesen werde mehr und niehr uns heilig. HI.

„Zu Gott sind alle Dinge," ans ihn hin, will das Textes­

wort sagen.

Zu ihm hin die Schöpfung, welche von ihm, die Schöpfung,

welche durch ihn ist.

Ist das nicht der Sinn jener kindlich einfältigen

und doch so sinnreichen Darstellung der Schöpfung auf dem ersten Blatt unserer Bibel?

Nach dem erzeugenden GotteSwort gestaltet

sich der

Erdkörper, schwebend im Himmelsraum, umgeben mit der Beste, mit dem Dunstkreis und seinen das Erdreich feuchtenden Wolken.

Da strebt

empor die grünende, blühende, Früchte tragende Pflanzenwelt, als wollte sie aus der Erde in den Himmel wachsen.

Und bleibt diese Pflanzen­

welt gewurzelt im Erdschooße, gebunden an der Scholle, siehe eS regt sich ein höheres Leben, welches losgelöst ist von dem Boden, das in freier Willkür sich bewegt und Lebenslust kennen und schmecken lernt. Siehe in diesem freieren Lebe», ist es nicht schon da, als

wollte die

irdische Welt in den zahlreichen Arte» der Thiers zu Gott als dem Leben­ digen sich hindurchringen?

Aber auch dies Leben voll freier Bewegung,

voll Lebenslust, — doch an das Irdische, an der Erde vergängliches Erzeugniß bleibt es in Lust und Schmerz gebunden. Wahrheit und Wirklichkeit das Wort:

Da endlich wird

„Lasset uns Menschen machen.

371

ein Bild das unS gleich sei." Im Menschen geht der Himmel gleich­ sam der Erde auf. In der göttlichen Ebenbildlichkeit des Menschen liegt nothwendig der Drang nach Gemeinschaft und Einheit mit Gott begründet, in der Anlage für die Gemeinschaft mit Gott ist ausge­ sprochen des Geschlechtes Bestimmung, nämlich das Reich Gottes, das Reich seiner freien Liebe zu bilden. Auf dieses Reich hin ist denn auch angelegt diese natürliche Welt, bestimmt die Unterlage desselben zu sein und so selbst in das Reich der heiligen, freien Liebe mit aufgenommen zu werden. Wohl wissen wir, wie wenig die Menschheit ihrer ur­ sprünglichen Bestimmung genügt hat, wie sie sich vielmehr von der Höhe ihrer ursprünglichen Bestimmung verloren hat in tiefe Abgründe der Eitelkeit und Nichtigkeit. Aber wie wir vorhin schon hörten, was Gott vorbereitet hatte im Laufe der Zeiten, das hat er mit Christo, als die Zeit erfüllt war, in die Welt eintreten lassen, das gottmensch­ liche Leben voll Gnade und Wahrheit, voll von Versöhnung und Er­ lösung, das leuchtende, glänzende, lebendige Bild davon, daß vor Allem der Mensch bestimmt ist zu Gott, zur Einheit mit Gott, zur Ruhe und zum Leben in Gott. Und was hat Pfingsten uns wieder lebendig vor die Seele gestellt? Die Ausgießung des göttlichen Geistes, wie sie seit jenem ersten Pfingsttage durch Christum fort und fort geht in der Mensch­ heit. Der Heiland sagt von dem heiligen Geist*): „Derselbe wird mich verklären." Wie wir in früheren Betrachtungen schon wiederholt ans dies Wort unsers Erlösers zurückgingen; so wird es auch hier für das Verständniß wichtig sein, uns den Sinn desselben noch einmal zu vergegenwärtigen. So verklärt der heilige Geist Christum in den See­ len, daß sie in ihm schauen, ehren und lieben ihr, der Menschheit leben­ diges Urbild und Vorbild, in ihm anbetend erkennen die Liebe der Gottheit, welche das Kranke heilt und das Verirrte zurecht bringt, welche das glimmende Docht anfacht zu neuer Gluth und neuem Licht, und das zerknickte Rohr aufrichtet zu neuem fröhlichem Wachsthum und Ge­ deihen. So verklärt der heilige Geist mittelst des Evangeliums Christum, daß er mit dem heiligen Leben desselben die empfänglichen, sehnsüchtigen *, Johannes 16, 14

372

Seelen durchdringt und erfüllt, in sie hineinwirkt des Menschensohnes Gehorsam, Gerechtigkeit, Wahrheit und Liebe, und sie entgegenführt dem hohen Wort des Apostels: Ich lebe nicht mehr, sondern Christus lebet in mir. So verklärt der heilige Geist Christum in den Jüngern, daß diese Gotteskinder und Gottesmenschen geworden mit ihrem Glauben, Denken, Streben, Lieben, Leiden, Siegen leben in Gott und Gott in ihnen. In dem Lichte dieses Geistes geht dem Einzelnen die Gewißheit auf, daß Alles in seinem Leben von höchster Weisheit regiert wurde, um ihn zu Gott zurückzuführen. Im Lichte des heiligen Geistes wird es klar, daß die ganze Geschichte der Menschheit unter göttlichem Re­ giment auf dieses höchste Ziel angelegt war und ist, daß selbst die Vollendung der Sünde und des Aberglaubens, die Erschöpfung des Verbrechens in dem Morde Jesu Christi unter seinem Alles bestim­ menden Willen stand, damit so Versöhnung und Erlösung, und damit Gotteinigung für das menschliche Geschlecht erwachse und für ewig ge­ sichert werde. Im Lichte des göttlichen Geistes spricht der Apostel das herrliche Wort vor unserer Epistel aus*): „Gott hat Alles beschlossen unter den Unglauben, auf daß er sich Aller erbarme," und hebt an an­ derem Orte eS hervor, daß Christus durch das Walten seiner mächtigen Gottesliebe Alles sich werde unterworfen sehen, damit, wenn auch der letzte Feind, der Tod aufgehoben sein wird, Gott sei Alles in Allem **). Alles zu Gott, auf ihn hin! — O lasset uns preisen und loben! — WaS uns Einzelnen als sündige Schwachheit auch noch anhaftet, wie viel Gebrechen auch noch in christlicher Gemeinschaft uns ängstigen und betrüben; — es geht doch der Gottheit entgegen. Zu Gott sind alle Dinge. Gott erhört, wie er durch den Mund seines Sohnes uns zu beten befohlen hat: Dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden! Als selige Gotteskinder schließen wir heut und allezeit mit dem Wort: „Ihm sei Ehre in Ewigkeit!" Amen. *) Römer 11, 32. **) 1. Korinther 15, 25—28.