Leben in und mit Christo: Zweite Sammlung von Predigten 9783111486819, 9783111120201


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German Pages 456 Year 1869

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Vorwort
Inhalt
Anhang
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1. Die christliche Gemeine
2. Das Reich Gottes unter dem Bilde des Weinbergs als ein Reich der Gnade
3. Die Grundlagen des christlich-kirchlichen Lebens
4. Das Werden und Sein wie die Kinder die Grundlage für Anfang und Wachsthum im Reich Gottes
5. Zwei Wege des Lebens, und doch Einer
6. Wer ist mein Nächster?
7. Des Herrn Warnung vor falschem Priesterthum
8. Die Reinheit des Herzens, der Weg zur rechten Gotteserkenntniß
9. Die rechte Weisheit
10. Selbsterhöhung und Selbsterniedrigung
11. Das christliche Bekennen
12. Die Menschenfurcht
13. Weltseligkeit und Gottseligkeit
14. Die Bande der Natur und die Bande der Gnade
15. Der häusliche Gottesdienst
16. Die Erwachsenen in ihrem Verhältniß zu den Kindern
17. Die Liebe zu dem angestammten Volke in ihrem Verhältniß zum Christenthum
18. Die Stellung, welche der König im Lande einnimmt und unsere Freude an ihn
19. Die christliche Dankbarkeit
20. Die christliche Barmherzigkeit
21. Die vergebende Liebe in der christlichen Gemeine
22. Der Zorn im Lichte des Christenthums
23. Die Herrlichkeit des Herrn auf dem Saat- und Erndtefelde
24. Die christliche Friedfertigkeit
25. Das unchristliche Richten
26. Die Versagung der Güter des Himmelreiches auch eine Christenpflicht
27. Die evangelische Kirche, wie sie die wahre Kirche darzustellen und zu verwirklichen strebt
28. Die christliche Freiheit
29. Die apostolische Ermahnung zur Wahrhaftigkeit
30. Die christliche Geduld
31. Die christliche Treue
32. Die Gemeinschaft der Entschlafenen und der Lebenden
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Leben in und mit Christo: Zweite Sammlung von Predigten
 9783111486819, 9783111120201

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Leben in mib mit Christo.

Zweite

Sammlung Non Predigten, gehalten

von

Thomas, evangelischem Prediger an der Nikolaikirche zu Berlin.

Berlin, Druck und Verlag von Georg Reimer.

1869.

Vorwort.

45vn6 gegebene Versprechen, meiner ersten Sammlung von Predigten („©lauBe an Christus" 1864 bei Georg Reimer erschienen) eine zweite folgen zu lassen, war mir fast leid ge­ worden und hat sich deshalb die Erfüllung bis jetzt verzögert. Ein mehrere Jahre alt gewordenes Konzept will seinem Ver­ fasser nicht mehr gefallen. Eine Umarbeitung aber ist wenig rathsam und dürfte in den mehrsten Fällen nicht verbessern. So fehlte mir eben die rechte Freudigkeit an die Herausgabe zu gehen. Nene sich wiederholende Mahnungen, die mir von verschiedenen Seiten wurden, ließen mir indeß die Einlösung meines Versprechens als Pflicht erscheinen und so übergebe ich jetzt auch diese Sammlung dem Publikum, das Sinn und Ge­ schmack dafür hat. Ganz besonders möchte ich aber mir sehr theuren und lieben Zuhörern auch diese Predigten als einen Gruß und eine Gabe der Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe darbieten. Wie die Titel es besagen, so hat die erste Sammlung es mehr mit dem Glauben, die zweite es mehr mit der Sitt-

IV

lichkeit zu thun. Freilich sind mir Glaube und Sittlichkeit aufs Innigste zusainmeugehörig. Aechte Sittlichkeit ist nur kräftig und lebensvoll, wenn sie ans den Tiefen des Glaubens geboren, auch in diesem ihre beständige Nahrung sucht und sindet. Für eine Sittlichkeit ohne Glauben habe ich keinen Glauben, für einen Glauben ohne Sittlichkeit habe ich keine Achtung. Diese Einheit deß Glaubens und der ächten Sitte darf deshalb in keiner Predigt verleugnet werden. Das hindert aber nicht, daß bald die eine, bald die andere Seite vorwiegend behandelt wird. Obgleich bei uns Evangelischen im richtigen Verständniß All. auf „der Rechtfertigung allein durch den Glauben" beruht; so kann es doch kein gesundes Christenthum erzeugen, in jeder Predigt die Lehre über die Rechtfertigung eigentlich allein zu be­ handeln und „die Heiligung" so nur als Anhängsel mitzunehmen und damit zur Nebensache herabzusetzen. Die Wirkung ist um so schädlicher, als man dabei gewöhnlich durch alte, stereotyp gewordene Formeln, die man für allein seligmachend ausgibt, grade diese ihres eigentlichen Kernes beraubt und in den sittlichen Ermahnungen über eine gewisse, rohe Allgemeinheit nicht hinaus­ kommt. Dem gegenüber ist es gewiß an der Zeit, auch in der Predigt die Ethik frisch und frei walten zu lassen. Möchte ich in dem Streben danach, aus dem die folgenden Predigten her­ vorgegangen sind, nicht zu weit hinter der mir gesteckten Aufgabe zurückgeblieben sein. Noch Eins. Der Kampf der Parteien auf kirchlichem Ge­ biet hat namentlich in diesem Jahre eine besondere Heftigkeit gewonnen und die Wogen desselben gehen hoch und es will manchen ängstlichen Gemüthern bange werden. Ich glaube mich genug zu kennen, um versichern zu dürfen, daß ich meiner gan-

zen Natur nach eigentlich nichts weniger bin als ein Parteimann. Aber freilich, wenn die Gegensätze in's wirkliche Leben treten, um nicht mehr die Wahrheit in Liebe zu suchen und den Streit im Interesse des Friedens zu 'führen, sondern um den Kampf, der auf gegenseitige Vernichtung abzielt, zu kämpfen; eö,

dann gilt

seinen Standpunkt nicht nur mit möglichster Klarheit und

Wahrheit zu wählen,

sondern ihn auch mit aller Kraft und

Entschiedenheit, die Gott gibt, zu behaupten. sondern der Einen Kirche, welche unter

Nicht der Partei,

ihrem ewigen Haupte

und in seinem Geiste Alles, was auf evangelischem Grunde er­ wächst und ruht,

zusammenzuschließen bemüht ist,

Glaube und meine Liebe. sehe

ich

verschiedene

Mit neidloser, froher Anerkennung

Richtungen

diesem Grunde wachsen

gehört mein

und

und wirken.

Eigenthümlichkeiten Wenn aber

eine

auf

dieser

Richtungen (wie drüben das Pabstthum) sich geberdet, als hätte sie

allein die Fülle des heiligen Geistes und wäre vollkommen

in der Erkenntniß

und Wahrheit wie der Erlöser und so dann

ihre Ketzergerichte übt; dann ist es heilige Christenpflicht dagegen Partei zu nehmen

und sich nicht zu scheuen,

als Parteimann

sich. den Schmähungen der Gegner auszusetzen. ich versichern,

Dennoch darf

daß,

so oft ich die Kanzel betrete,

es mit

dem

Bestreben geschieht,

soviel wie möglich fern zu

halten,

was

draußen als Streit

der Parteien die Gemüther

erhitzt.

Nur

geht das allerdingsnicht so weit,

daß ich meineUeberzeugung

verhehlen und über das schweigen könnte, was mein Auge auf dem Boden der kirchlichen Gemeinschaft als ein Schädliches er­ kannt

hätte.

Kurz,

das

Erste und Letzte bleibt mir:

„Ich

glaube, darum rede ich." Schließlich sei noch erwähnt, daß, wie die dritte und fünfte

VI

Predigt, so auch die des Anhangs mit Ausnahme der zu der Gedächtnißfeier Calvin's gehaltenen früher schon einzeln gedruckt sind. Gott aber wolle nach seiner Gnade auch aus diese Arbeit ein wenig Segen legen. Berlin, den 3. Dezember 1868. Der Verfasser.

Inhalt. Seite

1. Die christliche Gemeine.......................................................................... 1 2. Das Reich Gottes unter dem Bilde des Weinbergs als ein Reich der Gnade........................................................................................................12 3. Die Grundlagen des christlich-kirchlichen Lebens........................................... 24 4. Das Werden und Sein wie die Kinder die Grundlage für Anfang und Wachsthum im Reich Gottes................................................................. 37 5. Zwei Wege des Lebens, und doch Einer............................................... 49 6. Wer ist mein Nächster?............................................................................65 7. Des Herrn Warnung vor falschem Priesterthum........................................... 77 8. Die Reinheit des Herzens, der Weg zur rechtenGotteserkenntniß ... 89 9. Die rechte Weisheit................................................................................... 100 10. Selbsterhöhung und Selbsterniedrigung........................................................112 11. Das christliche Bekennen......................................................................... 124 12. Die Menschenfurcht................................................................................... 134 13. Weltseligkeit und Gottseligkeit..................................................................... 144 14. Die Bande der Natur und die Bande der Gnade..................................... 156 15. Der häusliche Gottesdienst..........................................................................168 16. Die Erwachsenen in ihrem Verhältniß zu den Kindern........................... 179 17. Die Liebe zu dem angestammten Volke in ihrem Verhältniß zum Christen­ thum .................................................................................................. 191 18. Die Stellung, welche der König im Lande einnimmt und unsere Freude an ihn...................................................................................................... 202 19. Die christliche Dankbarkeit........................................................................... 213 20. Die christliche Barmherzigkeit...................................................................... 224 21. Die vergebende Liebe in der christlichen Gemeine..................................... 236 22. Der Zorn im Lichte des Christenthums...................................................249 23. Die Herrlichkeit des Herrn auf dem Saat- und Erndtefelde.......................260 24. Die christliche Friedfertigkeit..................................................................... 271 25. Das unchristliche Richten......................................................................... 281 26. Die Versagung der Güter des Himmelreiches auch eineChristenpflicht . 293 27. Die evangelische Kirche, wie sie die wahre Kirche darzustellen und zu ver­ wirklichen strebt........................................................................................304 28. Die christliche Freiheit.............................................................................. 316 29. Die apostolische Ermahnung zur Wahrhaftigkeit..........................................326 30. Die christliche Geduld................................................................................336 31. Die christliche Treue.................................................................................... 346 32. Die Gemeinschaft der Entschlafenen und der Lebenden................................ 356

VIII

Anhang.

1. Zur Gedächtnißfeier des 3. Februar 1813, gehalten beit 3. Februar 1869. 2. Zur fünfzigjährigen Gedächtnißfeier der Schlacht bei Großbeeren, gehalten! am 23. August 1863 3. Friedenspredigt, gehalten am 11. November 1866 ................................. 4. Festpredigt, gehalten bei der Jahresversammlung des Waldeckischen Haupitvereins der evangelischen Gnstav-Adolphs-Stiftung zu Mengeringhausen am 20. Juli 1864 .................................................................................... 5. Zur dreihundertjährigen Gedächtnißfeier des Todes Calvin's am 27. Mai 1864 6. Rede zum Gedächtniß Schleiermachers an seinem hundertjährigen Geburts­ tag, gehalten den21. November 1868 ......................................................

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-

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2 Zeile 12 vori oben lies „erlöst" statt erhöht." 17 13 u. 14 von oben lies „erlaube" statt erlaubte." 19 18 - oben lies „ihre" statt „seine." 82 6 - oben lies „Joch" statt Reich." 103 13 - unten lies „erzeige" statt „erzeuge." 133 1 - oben lies „nahe" statt „nach." 149 - 21 - oben lies „das" statt „daß." 151 3 - unten lies „Lazarus" statt „er." 163 1 4 - oben lies „gilt" statt „gibt." 163 2 - unten ist „aber" zu streichen. 169 10 - oben lies „denn" statt „dann." 2 . oben lies „verhält" statt „erhält." 193 2 02 2 - oben lies „an ihm" statt „an ihn." r 209 18 - oben lies „die Frommen" statt „denFrommen." 210 * 2 - oben lies „wünschen" statt „sagen." 6 221 unten lies „hineinwirken" statt „hineinwirkend." 227 ,3 - oben lies „Richters" statt „Richtens." ' 1 23 1 oben lies „der" statt „als." 256 2 - oben lies „erzeigest" statt „erzeugest." 261 17 - unten lies „Stimme" statt „Stimmung." 264 10 - oben lies „lassen und lassen" statt „und lassen." 309 13 - unten ist hinter „vollendete" ein Komma zu sehen und danm „und" zu streichen. 353 *< 14 - unten lies „im" statt „in." 375 10 - unten lies „Philosophie" statt „Phylosophie." 415 8 - oben lies „welches" statt „welche."

Die christliche Gemeine. Text: 1 Petri 2, 9. Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, das königliche Priesterthum, das heilige Volk, das Volk des Eigenthums, daß ihr verkündigen sollt die Tugenden deß, der euch be­ rufen hat von der Finsterniß zu seinem wunderbaren Licht. (Geliebte im Herrn! Die großen Thaten GotteS wurden, wie es in der Apostelgeschichte lautet, am Tage der Pfingsten mit neuen Zungen, in hoher Begeisterung, wie sie der Geist Gottes gewährt, verkündigt und gepriesen. Die großen Thaten Gottes, wie sie zu denkender, an­ betender Erinnerung erwecke», sind es, auf denen unsere kirchlich-christ­ lichen Feste beruhen, sie wollen an diesen Festen immer wieder in heiliger Begeisterung gepriesen werden. Die Thaten, daS Thun Gottes aber ist ein Wirken heiliger Liebe, darum ein Bewirken des Heils. Die Thaten Gottes sind Schöpfung und erhaltende Regierung, Ver­ söhnung und Erlösung, Heiligung und Beseligung. Das letzte Ziel dieser großen Thaten, dieser Wirksamkeit göttlicher Liebe, ist das Reich Gottes, das Himmelreich, in welchem der Liebeswille Gottes regiert. Dies Himmelreich bildet sich in der Gemeine, durch die Gemeine. Alles Thun Gottes, mittelst des Sohnes durch den heiligen Geist, hat Lieder Nr. 23 u. 711. Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für evan­ gelische Gemeinen. Berlin. Thomas, Predigten.

2 deshalb zum Ziel die Sammlung der Gemeine um ihn, den Bischof und Erzhirten der Seelen, ihre Heiligung und Ausbildung und Vollen­ dung.

Demgemäß schließt das altlirchliche Bekenntniß des Glaubens

an Vater,

Sohn

und Geist mit der heiligen,

allgemeinen Kirche,

in welcher durch die Vergebung die Menschheit ihre Verklärung, Auf­ erstehung und ewiges Leben gewinnt.

Sehen wir zurück in die fest­

liche Hälfte des Kirchenjahres, auf die Sendung des Sohnes durch den Vater, auf die Selbstweihe und Selbsthingabe Christi für die Menschen,

auf seine Verherrlichung als Preis seiner Erniedrigung,

auf die Ausgießung des göttlichen Geistes vom Vater durch den Sohn und fragen nach dem Ergebniß; so können wir wohl antworten: Er­ lösung, Beseligung u. s. w.

Aber daß der Einzelne erhöht wird, ge­

schieht nur in der Gemeinschaft, und ebenso wird sein Werden und Wachsen als Gotteskind, seine Vollendung ihm allein in der Gemein­ schaft möglich.

Auf die christliche Gemeine, die durch Gottes große

Thaten gebildet ist und fortwährend sich bildet, laßt uns deshalb heut blicken, auf das Heil, wie es uns nur als Gliedern dieser Gemeine erwächst.

Unser Text

läßt

uns die

christliche

Gemeine anschauen

1) entstanden durch göttliche Macht, 2) betraut mit heiligem, königlichem Priesterthum, 3) bestimmt zum Eigenthum Got­ tes, 4) berufen, die Herrlichkeit Gottes zu verkündigen. I.

„Ihr seid das auserwählte Geschlecht."

Durch gött­

liche Erwählung ist die Gemeine entstanden, auf der Wahl der Gnade ruht sie, alle ihre wirklichen Glieder sind es nur kraft dieser Wahl. So hatte der Erlöser schon seinen Jüngern gesagt*): nicht erwählt, sondern ich habe euch erwählt."

„Ihr habt mich

So ist es Paulus,

der einen ganz besondern Nachdruck auf die göttliche Erwählung legt, namentlich in seinem Römer- und Epheserbriefe.

Welches ist der in­

nerste Sinn dieser Hervorhebung der göttlichen Wahl?

Offenbar der,

daß wir unser Heil allein auf die göttliche Gnade zurückzuführen, der­ selben allein dafür zu danken haben. über spricht sich darin aus.

*) Johannes 15, 16.

Die tiefste Demuth Gott gegen­

Wie ruht damit aber das Wort von der

3 Erwählung auf tiefster Wahrheit!

Ein wirkliches Glied der Gemeine

bist du, lebst in und aus derselben und für dieselbe.

Wie gehörst du

ihr an, was war dasjenige, was dich ihr zuführte, was ist es, das dich in ihr festhält?

Zunächst deine Begabung, dein Geist für die

Wahrheit empfänglich, dein Herz heiliger Liebe bedürftig, dein Gemüth mit jenem unauslöschlichen Zuge zu dem Frieden, der nur in der Ge­ meinschaft mit Gott zu finden ist.

Sodann das Licht und Leben gött­

licher Offenbarung, Gnade und Wahrheit, erschienen in Christo, die erlösende, versöhnende Kraft seines Lebens und Sterbens.

Dazu aber

das, daß dir Christi Leben und Liebe, daß dir die göttliche Treue auch durch menschliche Fürsorge, durch menschliches Thun, etwa in treuen Eltern und Lehrern, in frommen, rechtschaffenen Brüdern und Schwe­ stern

lebendig

wurde.

Endlich dies,

daß durch Lebensführung und

Lebenserfahrung dein inneres Leben die nöthige Vorbereitung erhielt, daß in rechter Stunde das rechte Wort dein Herz traf und daß nun fortwährend in deinem Lebenskreise gleichsam eine neue Atmosphäre, wie sie die göttliche Liebe gebildet hat, dich umgibt, daß dir auf mannichfache Weise, Lehre, Tröstung, Nahrung, Stärkung als himmlische Nahrung wird.

Das Alles ist eö, worauf das Kommen zu Christo

und das Bleiben bei Christo, das Leben in seiner Gemeine, beruht. Das Alles aber geben nicht wir uns, es sind vielmehr theure, heilige Gottesgaben.

Er zieht uns zu sich, er hält uns bei sich in der Kraft

und Wirksamkeit seiner Liebe.

Als Glieder der Gemeine sind wir sein

erwähltes Geschlecht. — Gewiß ebenso tröstlich, wie zum Dank, zum frommsten, sittlichen Leben ermunternd und stärkend.

Aber dem Erwähltwerden entspricht

eine Schaar, aus der, ob Viele oder Wenige, doch immer nur Einzelne herausgelesen

werden,

während andere Einzelne zurückbleiben, dem

Erwählt steht gegenüber das Nichterwählt.

Von Gott nicht erwählt

sein, was ist das aber anders als ein Bleiben im Gericht, ein Ver­ stoßensein.

So scheint so nahe zu liegen jene unheimliche Lehre von

dem unergründlichen, aber, wie die Vertreter dieser Lehre eö selbst zuge­ stehen, erschrecklichen Rathschluß Gottes, nach welchem zwar der eine Theil der Menschen zur Seligkeit bestimmt, seines Heils völlig gewiß 1*

4 ist, aber der andere Theil auch unwiderruflich, unwiderbringlich zum Verworfensein, zur Verdammniß verurtheilt bleibt.

Meine Geliebten,

wohl, wenn es sich um Erwählung und Nichterwählung handelt, be­ finden wir uns auf einem dunklen, geheimnißvollen Gebiet, wo eben, wenn

wir das so ganz

verschiedene Verhalten

der Menschen zum

Evangelio, zur heiligen Gottesliebe betrachten und uns sagen, daß wir unser Leben in Gott seiner Gnade zuschreiben müssen, und das reine Denken versagt. dings

Aber jener Weg in Betreff dieser Lehre, den aller­

einst die größesten Männer in der Kirche betreten haben, ist

doch nicht der, welchen die heilige Schrift und welchen der eigentlich christliche Glaube uns zeigt.

Israel ist das Volk der Erwählung zu

den Zeiten des alten Bundes. — Auch hier wird im Volke diese Er­ wählung oft hervorgehoben, um die Verwerfung der übrigen Völker daran zu knüpfen.

Aber bei den wahrhaft Frommen, bei den Pro­

pheten lautet eö so ganz entgegengesetzt.

Darum ist Abraham aus

oder vor allen Geschlechtern der Erde erwählt, daß durch ihn, durch seine Nachkommen alle Geschlechter der Erde gesegnet werden.

Darum

ist die Erkenntniß des ewigen Gottes und seine Wahrheit Israel an­ vertraut,

daß von Zion

aus

Länder und Völker bedecke.

sich diese Erkenntniß ergieße und alle

Darum hat Israel das Licht Gottes und

ist zu Gott gezogen, daß auch die Heiden in seinem Lichte wandeln, daß sich die Menge am Meer zu Gottes Volk bekehrt und die Macht der Heiden herzukommt.

Also dazu ist Israel erwählt, auf daß durch

Israel die Erwählung unter den übrigen Völkern fortschreite und sich auch unter und an ihnen verwirkliche.

Nrm wohlan, dazu auch ist die

Gemeine, dazu sind die Glieder Christi gewählt,

daß durch sie das

Werk der Gottesliebe weiter gehe auf diejenigen, an welchen jetzt noch nicht die göttliche Gnadenwahl sichtbar ist, daß durch sie immer mehr herzugeführt werden, die noch ferne sind vom Himmelreich. laßt uns festhalten:

Einmal:

Zweierlei

Wo noch Verachtung heiliger Gottes­

gnade sich findet, da ist es, das Gewissen bezeugt es immer von Neuem, deS Menschen eigne Verschuldung;

während Gottes Liebe will,

daß

Allen geholfen werde und daß sie Alle zur Erkenntniß der Wahrheit kommen.

Wie fern aber zweitens noch Viele vom Leben aus Gott zu

5 sein scheinen;

es steht eben fest das Wort*):

„Gott hat Alles be­

schlossen unter den Unglauben, ans daß er sich Aller erbarme."

Wie

sehr deshalb das Vertrauen der Erwählung uns zum demüthigen, schul­ digen Dank gegen Gott stimmt, nie soll es uns führen zu dem harten Gedanken von dem trostlosen, ewigen Verworfensein unserer Brüder, sondern zu dem Bewußtsein, daß wir als Gegenstände der göttlichen Liebe auch die, welches fern sind, zu derselbigen hinüberzuführen be­ rufen sind, daß die Liebe, die unserer Seligkeit Grund ist, auch sie retten will und wird. II.

Ist aber die Gemeine das von Gott erwählte Geschlecht; so

hängt damit nothwendig die zweite Bezeichnung zusammen: das könig­ liche Priesterthnm.

Mit der Erwählung muß Würde und Herr­

lichkeit verbunden sein und welche andere könnte es sein, als die, welche von Christo stammt?

„Ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit, die

du mir gegeben hast,"

ist sein Wort**).

so

Seine Herrlichkeit aber ist

recht eigentlich die des wahren Hohenpriesters,

Königs.

die des

rechten

Während alle Glieder des menschlichen Geschlechtes sich mehr

oder weniger von Gott durch sündiges Wesen und Verschuldung ge­ trennt fühlen, ist er, der heilige Menschensohn, stets in innigster und unmittelbarster Gemeinschaft mit seinem Vater, er in

des Vaters

Schooß, er im Vater, der Vater in ihm, wie es der vierte Evangelist aiisdrückt.

Und Eins mit Gott, also der rechte Hohepriester, ist er

zugleich der wahrhafte König, der auch als der Gebundene die könig­ liche Macht bewahrt, dem auch das Holz des Fluches und der Schmach, das Kreuz, zum Thron des höchsten Glanzes werden muß.

Nie den

königlichen Willen irgend einer Macht der Erde unterwerfend, allen Gewalten der Erde gegenüber rein und allein ans seinem Innersten sich bestimmend und seine eignen Wege gehend, darf er sprechen***): „Es kommt der Fürst dieser Welt und hat nichts an mir."

Und wie

er selbst in höchster, königlicher Freiheit sich bewahrt und bewährt hat, bis er sein Haupt am Kreuze neigte; so hat er eine Gewalt auf mensch-

*) Römer 11, 32. **) Johannes 17, 22. ***) Johannes 14, 30.

6

liche Gemüther ausgeübt, und übt sie aus und wird sie üben bis an das Ende der Tage, wie eS nie einem andern Sterblichen gegeben war, so ist er ein Eroberer in der Menschheit, wie es seines Gleichen nie gab. Was er aber gewinnt, das hält er an sich gefesselt in Ewig­ keit. Wie er den heiligen Krieg der Liebe vom kleinsten Punkt an begann, so setzt er ihn fort, bis alle Völker der Erde, bis die ge» sammle Menschheit in sein Reich hineingezogen ist: „Es kann nicht Ruhe werden, Bis seine Liebe siegt, Bis dieser Kreis der Erden, Sich ihm zu Füßen schmiegt."

Wie gesagt, seine königliche Gewalt ruht in seiner unendlich tiefen Liebe, die alle wahrhaft liebefähigen und liebebedürftigen Herzen un­ widerstehlich in ihre Bahnen zieht. Er war König wie keiner! — „Ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast." Ja die wahren Glieder der Gemeine, sind sie nicht durch Christum sich bewußt, Gegenstände der göttlichen Gnade zu sein? Ist es nicht ihr köstliches Theil, daß Alles, was irgend als Schuld ihnen anhaftete und anhaftet, durch die Vergebung getilgt wird, daß sie ganz wieder Gottes Kinder sind, daß Gott im ganzen, vollsten Sinne des Wortes ihr Vater ist? Besonderes Priefterthum gab's unter den Heiden, besonderes Priester­ thum in Israel. Das Volk in sich unheilig konnte Gott nicht nahen, die Priester sollten es bei der Gottheit vertreten. Ach trauriges Loos! Diese Priester selbst, je besser sie waren, desto mehr erkannten sie, wie sie keine wahre, lebensvolle Gemeinschaft hatten mit dem heiligen Gott. In der wahren Christenheit gibt's keine besondern Priester mehr. Nur Einer trägt ewig den vollen hohenpriesterlichen Schmuck, nur Einer ist und bleibt der Mittler zwischen Gott und den Menschen. Und wer zu ihm kommt, der hat durch und in ihm auch den freien Zugang zu Gott, die volle Gemeinschaft mit dem Vater, den vollen Trost und Frieden des Gotteskindes. Er ist ein priesterlicher Mensch geworden. Und wie die Glieder der Gemeine, des Leibes Christi, durch ihn den priesterlichen Karakter der Gottesgemeinschaft haben, so auch das königliche Gepräge der vollen Freiheit als Gottes Kinder. Wer

7 seiner Gemeinschaft angehört; er kennt keine Macht der Erde -mehr, die ihm seinen Glauben, seine Gesinnung, sein Lieben und Verwerfen, sein Thun und Lassen vorschreibt.

Aus dem Licht, wie eS in seiner

Ueberzeugung aufgegangen, aus der Kraft, zu welcher sein Gewissen erstarkt ist, aus dem Glauben, wie er fein Gemüth durchdringt und erfüllt, lebt, handelt und wirkt er heraus.

Das ist sein heiliges Recht

und seine unveräußerliche Pflicht, darin zu beharren, und soll es sein, so wie es die ächten Glieder der Gemeine in den drei ersten Jahr­ hunderten als

seine

so glänzend bewiesen haben,

lieber sein Leben zu lassen

königliche Machtvollkommenheit

und

Freiheit

aufzugeben.

Dem gesellt sich dann noch immer über die wirklichen Glieder der Gemeine ein Mitherrschen mit Christo hinzu.

Nichts ist freilich den

wirklichen Christen ferner und verächtlicher als jene Herrschsucht, wie sie leider so oft im Gewände einer priesterlichen Salbung bei innerlich tief verderbten Mitgliedern des christlichen Lehrstandes hervorgetreten ist.

Dienen wollen die, welche wahrhaft in der Gemeine stehen und

leben, wie das Haupt der Gemeine dient bis in den Tod, dienen in hingebender Liebe.

Gibt es aber auch eine Gewalt, mächtiger wirkend

auf menschliche Gemüther, größeren Einfluß ausübend selbst auf starke Geister als die heilige Macht dienender Liebe? Von solcher Hingebung, von solcher Gegentreue, wie sie stets die demüthigen, in und ans der Liebe lebenden Glieder der Gemeine erfahren, hat der mächtigste, ge­ waltigste Selbstherrscher

der

Erde

als

solcher

nichts

aufzuweisen.

Wahrhaft königliche Gewalt übt nur aus die wahrhafte, treue, die­ nende Liebe,

wie sie durch den göttlichen Geist von 'Christo her in

seines Leibes Glieder sich ergießt: darum: Ihr seid das königliche Priesterthum. III.

„Ihr seid

genthums."

das

Beide

heilige Volk,

Bezeichnungen

fallen

das

Volk des Ei­

zusammen.

Heilig be­

deutet ursprünglich Alles, was aus dem gewöhnlichen Gebrauch des Lebens für Gott ausgesondert, und Gott geweiht ist, Eigenthum angesehen

was

wird.

was diesem irdischen Leben entzogen in

besonderem

Wir haben

heit der Christen vorhin gesprochen.

Sinne eben als sein

von der königlichen Frei­

Der Apostel Paulus aber er-

8 mahnt*), durch die Freiheit dem Fleische nicht Raum zu geben und Petrus warnt in unserm Kapitel**), daß wir die Freiheit nicht zum Deckel der Bosheit haben.

Ja es ist wahr, wie dem Schönsten und

Heiligsten in dieser Welt nie sein Zerrbild fehlt; so auch nicht der könig­ lichen Freiheit, die das Eigenthum der christlichen Gemeine ist.

Freiheit

rühmt und preist man und kennt nur Frechheit, kennt nur Will­ kür, kennt nur Ungebundenheit des Fleisches, der Laune, der Selbst­ sucht.

Gegen solch Mißverständniß und solchen Mißbrauch bewahrt

unö ein tieferer Einblick in das

göttliche Wort.

Warum doch be­

saß Christus jene königliche Freiheit und Machtvollkommenheit? deshalb,

Nur

weil er so ganz als Kind des Vaters sich wußte und fühlte,

weil er nach seinem innersten Wesen mit jeder Regung seines Herzens, mit jedem Triebe seines Willens, mit jeder Kraft, jedem Wort und jeder That so ganz seinem Vater gehörte.

Aus dieser unbedingten

Hingabe an seinen Gott, aus diesem vollsten Gebnndensein an den heiligen Willen des Vaters, aus diesem Annehmen der Knechtsgestalt, daß er gehorsam war auch bis zum Tode am Kreuz, daraus allein quoll ihm ohne Aufhören die Kraft mit unverkümmerter Freiheit aller Macht der Welt gegenüber zu stehen, und eine uneingeschränkte Gewalt über die Gemüther zu gewinnen.

Die Glieder der Gemeine, wie wir

sehen, nehmen ihre königliche Freiheit allein von ihrem Haupte, von Christo dem Erlöser.

Wohlan denn, so können auch sie nur frei sein

in dieser Welt, so können auch sie nur einen heiligen, bestimmenden Einfluß auf andere Gemüther üben, so weit sie sich für Gott haben aussondern lassen aus unheiligem Wesen, so weit sie sich demüthig und kindlich hinstellen als sein Eigenthum, nicht mehr ihre Herren und ihrer selbstmächtig; sondern gebunden an den Willen der ewigen, hei­ ligen Gottesliebe, welcher die ganze Welt regiert.

Nur als die Hörigen

Gottes, als die gn ihn mit Seele und Leib, mit Gut und Blut Ge­ bundenen sind sie die Freien.

Gottes Eigenthum, fügen sie sich freudig

und willig in alle göttliche und menschliche Ordnung.

Gottes Eigen­

thum, sind sie aller Macht gegenüber stark, den Gehorsam zu versagen, *) Galater 5, 13. **) 1 Petri 2, 16.

9 wenn etwas NngöttlicheS geboten wird.

Aber so für Gott ausgeson­

dert, Gottes Eigenthum, Opfer für Gott, die sich selbst ihm opfern, zu sein, das ist doch ein schweres Loos.

Und ist es die höchste Macht,

die Ur- und Allmacht, der wir uns ergeben, so ganz ihr Eigenthum zu sein, in dem Gedanken ruht doch etwas Beengendes, Beängstigendes. Gewiß, so lange man nämlich die Gottheit nicht kennt.

Aber alles

Beengende verwandelt sich in Beseligung, wenn das Licht voller, gött­ licher Offenbarung uns strahlt. seinen Lichtkern in dem:

Dies Licht hat seinen Lichtkörper,

„Gott ist die Liebe."

Der Liebe Eigen­

thum sein, ihr ganz und gar gehören, das heißt gestellt sein an die Quelle, aus der fortwährend hervorsprudelt, aus der man fortwährend schöpft daS volle ganze Heil.

Darum will uns Gott als sein Eigen­

thum sehen, auf daß er uns fülle und sättige mit seinem Trost, mit seinem Frieden,

seinem Leben, daß er uns erziehe zu der innigsten

und engsten Gemeinschaft, wie sie zwischen Schöpfer und Geschöpf nur irgend möglich ist.

Sind wir das Gott geheiligte Eigenthum,

nun

dann wird er uns erhalten, wird unö nicht verlieren, wird uns führen mit seiner Weisheit, wird uns segnen durch Alles, wird uns gewähren den rechten Schmuck und die rechte Schönheit seiner Kinder, wird uns stärken, daß wir in seinem Weinberg voll werden der Früchte der Ge­ rechtigkeit und daß Alles zu unserm Besten, zu unserer Vollendung uns dient.

Das Seligste für uns ist und bleibt Gottes geweihtes

Eigenthum zu sein. IV.

Hier stehen wir bei dem natürlichen Uebergang znm letzten

Punkt in unserm Text.

Gehören wir als Glieder der Gemeine Gott

an, so, wie es schon in dem eben Gesagten angedeutet ist, muß sich daS auch offenbaren und bestätigen in unserm Leben.

Da heißt eö

denn: Auf daß ihr verkündigt die Tugenden dessen, der euch rief von der Finsterniß zu seinem wunderbaren Licht.

Tu­

gend — wie das Wort im neuen Testament nur zweimal von den Christen gebraucht wird, so nur einmal, an unserer Stelle, von GottTugenden Gottes werden die einzelnen Seiten seiner Vollkommenheit, werden das sein, was wir als diejenigen seiner Eigenschaften bezeich­ nen, welche sich vorzugsweise auf die vernünftige, geistige, sittliche Welt

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und Weltordnung beziehen. Aber so haben wir bei unserm Wort diese Eigenschaften zu denken, wie sie in ihrem schöpferischen Hervor­ bringen kraft- und machtvoll hervortreten. Kurz es sind die mächtigen Wirksamkeiten Gottes in der vernünftigen Welt gemeint, wie sie das fromme, das sittliche Leben erzeugen. Die Wahrheit, die Gerechtigkeit, die Heiligkeit, die Liebe Gottes, vom Anbeginn in die Menschheit die Keime des höheren Lebens hineinpflanzend und dieselben weckend, im geistigen Kampfe immer mehr alle gegenüberstehenden Mächte des fleisch­ lichen, selbstischen, gottlosen Wesens überwindend, in Christo durch den göttlichen Geist die Seelen zum vollen Durchbruch führend, daß diese in sich den alten Menschen der Selbstsucht ertödten und zu einem vollen neuen Leben des Glaubens, des Liebens und Höffens sich er­ heben und erstarken — das sind die Tugenden Gottes, von denen der Apostel spricht. Sie sind es, welche die Finsterniß des Wahns und Unglaubens zerstreuen und zerstören und in die Welt hineintragen ihr heiliges Licht. Sind wir Glieder der Gemeine, Glieder am Leibe Christi, — durch diese Tugenden des berufenden Gottes sind wir'S ge­ worden. Ist aber durch sie das neue Leben in uns gesenkt, dann als ein wirkliches Leben will und muß dasselbe auch offenbar werden. Wohlan, haben die Tugenden Gottes das Höchste und Herrlichste in uns gewirkt, und wollen sie dasselbe immer weiter in uns heraus ge­ stalten, es ist nicht anders möglich, als daß wir auch aufjubeln und ausbrechen in fröhlichen Dank. Sind wir also durch die Tugenden der Liebe Gottes mit den unvergänglichen Schätzen des ewigen Lebens gesegnet, wir können nicht anders, wir müssen im Drange der Liebe auch Andere zu denselben hinzuführen streben. Darum wer in der Gemeine, — der ist berufen, zu verkündigen die Tugenden seines Gottes, wie er sie an und in sich selbst erfahren hat. Verkündigen — ja durch das Wort. Das rechte Wort zur rechten Zeit und an rechter Stelle es ist so gut wie die rechte That, ja es ist selbst die rechte That. Aber das Wort kann doch nur dann solche That sein, wenn ihm das Thun des ganzen Menschen zur Seite geht, oder wenn es als ein Theil zu diesem Thun gehört. Darum die Verkündigung nicht allein durch das Wort, sondern auch durch das Werk. Die gerechte heilige

11 Liebe in der vollen Wahrheit hat uns berufen und erhöht, verkündigen wir sie mit dem Wirken für Recht und Gerechtigkeit, mit dem Dienen der Liebe, mit dem Tragen

der Geduld und Hingebung, mit der

Tapferkeit und dem Muth in der Wahrheit, mit dem kindlichfrohen Dank im Genuß der göttlichen Güter, mit der aufrichtigen Treue gegen Freund und Feind, nach Oben und Unten, in jedem Zweige unsers Berufes!

Das ist die Bethätigung, an welcher die Glieder

der Gemeine erkannt werden, in welcher sie sich als solche bewähren. Wolle der Geist Gottes uns so im kindlichen Glauben der göttlichen Gnadenmacht versichern, daß wir immer mehr gekleidet in dem Schmuck des königlichen Priesterthums

das heilige Eigenthum Gottes werden

und auch an unserm Theile Gottes Tugenden verkündigen!

Er unser

Haupt, wir seines Leibes lebendige Glieder; dies gebe uns der gnä­ dige Gott!

Amen.

Das Reich Gottes unter dem Bilde des Wein­ bergs als ein Reich der Gnade. Text: Matth. 20, 1 — 16. Das Himmelreich ist gleich einem Hausvater, der am Morgen ausging, Arbeiter zu miethen in seinen Weinberg. Und da er mit den Arbeitern eins ward um einen Gro­ schen zum Taglohn, sandte er sie in seinen Weinberg. Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere an dem Markte müßig stehen. Und sprach zu ihnen: Gehet ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben was recht ist. Und sie gingen hin. Abermal ging er aus um die sechste und neunte Stunde, und that gleich also. Um die eilfte Stunde aber ging er aus und fand andere müßig stehen und sprach zu ihnen: Was stehet ihr hier den gan­ zen Tag müßig? Sie sprachen zu ihm: Es hat uns Niemand gedingt. Er sprach zu ihnen: Gehet ihr auch hin in den Weinberg, und was recht sein wird, soll euch werden. Da es nun Abend ward, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Schaffner: Rufe die Arbeiter und gib ihnen den Lohn, und hebe an an den Letzten bis zu Lieder: 432. 482, 6 — 7.

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den Ersten. Da kamen, die um die eilfte Stunde gedingt waren, und empfing ein Jeglicher seinen Groschen. Da aber die Ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen, und sie empfingen auch Jeglicher seinen Groschen. Und da sie den empfingen, murrten sie Wider den Haus­ vater, Und sprachen: Diese Letzten haben nur Eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleich gemacht, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben. Er antwortete aber und sagte zu einem unter ihnen: Mein Freund, ich thue dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir eins geworden um einen Groschen? Nimm, was dein ist, und gehe hin. Ich will aber diesem Letzten geben gleich wie dir. Oder habe ich nicht Macht zu thun, was ich will, mit dem Meinigen? Siehest du darum scheel, daß ich so gütig bin? Also werden die Letzten die Ersten, und die Ersten die Letzten sein. Denn Viele sind berufen, aber Wenige sind auserwählt. Unser Gleichniß, Geliebte im Herrn, knüpft sich offenbar an das unmittelbar Vorangegangene. Der Herr hatte in nachdrücklichen Worten von der verführerischen Macht des ReichthnmS über die Gemüther ge­ sprochen und hatte damit dringend vor dem Hängen am irdischen Gut gewarnt. Gerade, als wollte er recht thatsächlich beweisen, wie sehr es dieser Warnung bedürfe, fragt darauf Petrus, was die Jünger, die um Jesu willen Alles verlassen hätten, für einen Lohn erwarten dürften. Der Herr hebt zunächst in seiner Antwort hervor, daß die Hingabe an ihn mit hundertfachem Lohn verknüpft sein werde, wendet sich aber dann in unserm Gleichniß gegen die sündige Gesinnung, welche sich in den Worten des Petrus offenbart hatte, gegen die Lohnsucht. Wenn der Herr aber mit dem Licht seiner Wahrheit einen bestimmten Punkt beleuchtet, es kann das nicht geschehen, ohne daß zugleich auch andere Punkte mit in die Beleuchtung gezogen werden. Es ist somit stets ein

14 Uebergehen von einem einzelnen Punkte ans auf verschiedene Seiten der Wahrheit eine Nothwendigkeit. Einzelne religiöse und sittliche Wahrheiten sind nur bestimmte Ausstrahlungen der einen, ungetheilten Wahrheit. Darum können auch die einzelnen Lehren nur recht be­ griffen und aufgenommen werden, wenn sie sich uns in ihrem Zusammen­ hang mit andern und namentlich mit der einen, ungetheilten Wahrheit in Christo, darstellen. Deshalb bleiben wir auch jetzt nicht bei dem ersten Gesichtspunkt unseres Gleichnisses stehen; sondern fassen es viel­ mehr nach der Gesammtheit seiner einzelnen lehrreichen Züge ins Auge. Grade so wird auch für den erwähnten Punkt uns die rechte Klarheit werden. Das Himmelreich gleich einem Weinberge, gleich dem Leben in demselben, als solches aber ein Reich der Gnade, — darauf richten wir unser frommes Nachdenken. Als Haupt­ punkte für die Betrachtung stellen sich uns dabei heraus: 1) die Be­ rufung, 2) die Anstellung, 3) der Lohn. I. Also zuerst die Berufung. Es heißt, der Hausvater geht zu verschiedenen Zeiten des Tages aus, ladet in seinen Weinberg und sendet hinein. Es bedarf nicht der Erklärung, daß. bamit der Gott der Liebe gemeint ist, wie er eben zu verschiedenen Zeiten die Menschen in sein Himmelreich beruft- Aber sind diese verschiedenen Tageszeiten, wie es manche Ausleger aufgefaßt haben, verschiedene Zeitalter unsers Geschlechtes, in denen das Wort an ein Volk nach dem andern ergeht? Dagegen spricht das: „Sie haben nur eine Stunde gearbeitet." So können die verschiedenen Stunden wohl nur verschiedene Abschnitte im Leben des einzelnen Menschen bezeichnen. Wenn wir von der Annahme des göttlichen Rufes sprechen; dann scheint das richtig. In wie ver­ schiedenen Lebensaltern von der Kindheit bis zum Greisenalter dringt doch den verschiedenen Menschen der göttliche Ruf in's Herz! Aber wie ist eS, wenn wir die später Berufenen fragen: Seid ihr deshalb nicht eher in die Gottesgemeine eingetreten, weil Gott euch wirklich bis dahin übersehen hatte, weil ihr von ihm nicht gerufen wart? Ich meine, so leicht wagt keiner der wirklichen Christen darauf ein gewisses Ja zu sprechen. Vielmehr werden die Mehrsten bekennen: Gerufen wurden wir längst von Gott; aber wir waren lange Zeit wie die, von

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denen der Herr sagt: „Mit hörenden Ohren hören sie nicht!" So möchten wir die Auslegung dieser verschiedenen Tagesstunden mehr in's Allgemeine deuten und zwar nach beiden Seiten. In den verschieden­ sten Zeitaltern der Menschheit, in allen Lebensaltern der Einzelnen ergehen die Rufe der Gottheit: Kommet in meinen Weinberg. Spricht er in der That nicht wie einst dem Abraham, so einem jeden aus den glänzenden Gestirnen am Himmel*): „Ich bin der allmächtige Gott, wandle vor mir und sei fromm?" Ruft er nicht aus den lieblichen Blumen der Erde und den fröhlich dahin schwebenden Vögeln unter dem Himmel**): „Sorget nicht, sondern trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch alles Andere zufallen?" Ergeht nicht aus dem eigensten Innern, aus den Gedanken, die sich unter einander verklagen oder entschuldigen, aus dem Gewissen, ergeht da nicht sein Ruf, daß er in der Seele'wiederhallt***): „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig?" Und wenn wir zurücksehen auf drangsalsvolle Zeiten in der Geschichte, im Leben der Völker und der Einzelnen, ist es da nicht auch so mannichfach, als spräche der Ewige selbst thatsächlich s-): „Ich bin der Herr dein Gott, der ich dich aus Egyptenland, ans dem Diensthause geführt," der ich in so viel Noth Uber dir gnädig schützende Flügel gebreitet habe, darum lerne mich über alle Dinge fürchten, lieben, mir vertrauen? Und für unS Alle müssen wir das hinzunehmen, daß wie einst vom Sinai her in deutlich vernehmlicher, lebendiger Stimme oder mit dem festen Buchstaben in Stein gehauen für Israel sich Gottes Wille aussprach, daß er so in fester Bestimmtheit auch von Kindheit an an uns herangebracht und uns vorgehalten wurde, auf daß wir uns stellten unter sein Regiment. Und ist uns nicht vom ersten Weihnachten her, wo ein selbstständiges, inneres Denken, Bewußtsein und geistiges Leben in uns zu werden anfing, ist uns nicht von da an die heilsame Gnade Gottes in Christo erschienen, um uns zu züchtigen, daß wir verleugneten das ungöttliche *) **) ***) f)

1 Mose« 17, 1. Matth. 6, 25 u. 33. 1 Petri 1, 16. 2 Moses 20, 2.

16

Wesen und die weltlichen Lüste und züchtig, gerecht, und gottselig lebten in dieser Welt? Wohl sind es sehr verschiedene Momente des Lebens­ alters bei den verschiedenen Menschen, in denen sich das innere Ohr für die göttliche Berufung öffnet, aber das Rufen, das Suchen, das Warten der Gottheit selbst geht unaufhörlich durch alle Zeit- und Lebensalter hindurch. Gott ist eben nach dieser Seite Iahveh d. h. der immer in seinem Sein unveränderlich sich selbst Gleiche, immer die Liebe, die da spricht: Kommet ihr Mühseligen und Beladenen, ich will euch erquicken. So ist und bleibt er allem leichten und harten Sinn der Menschen gegenüber, so ruft er immer wieder in seinen Weinberg, daß er seine Gemeine sammele, sich sein Reich baue. Gewiß, das Reich, zu dem er so ladet, das er so sammelt, es ist der Berufung nach das Reich unendlicher Gnade. II. Nun die Anstellung. Der Hausvater ging aus, Arbeiter zu miethen für seinen Weinberg. Als zu Arbeitern spricht er zu ihnen: Gehet hin in den Weinberg. Alle, die in die Gemeine Christi berufen sind, sind eben damit bestellt, mit zu bauen am großen Tempel Gottes, wie er aus lebendigen, heiligen Bausteinen zusammen gefügt werden soll, mit zu streben und zu arbeiten, daß das Reich Gottes komme. In Israel konnte Petrus zu den Priestern und Schriftge­ lehrten sprechen*): „Das ist der Stein von euch Bauleuten verworfen, der zum Eckstein geworden ist." Hier sind eben diese allein Arbeiter in Gottes Reich. Priester und unheiliges Volk, Schriftgelehrte und das Volk, das auö sich und durch sich vom Gesetz nichts weiß, stehen einander gegenüber, Priester und Schriftgelehrte als die allein Bauen­ den, das Volk als die, an denen allein gebaut und gewirkt wird. Aber weissagt der alte Bund nicht selbst vom neuen? „Sie werden Alle von Gott gelehrt sein" **). „Ich will meinen Geist ausgießen über alles Fleisch" ***). Und hörten wir nicht vor acht Tagen des Apostels Wort an die Christengemeine gerichtet: „Ihr seid das königliche Priester­ thum, das heilige Volk," also ein Volk von Priestern, allzumal Pfleger *) Apostelgeschichte 4, 11. **) JesaiaS 54, 13 — Johannes 6, 45. ***) Joel 3, 1.

17 und Pflanzer des Heiligen und Göttlichen.

So kann und will der

Herr in seiner eigentlichen, wirklichen Gemeine keine anderen Glieder haben, als die er zurichtet zum heiligen Werk, die er anstellt für die Arbeit in und am Reiche Gottes.

Was ist es denn, wenn in heutigen

Tagen auch in evangelischer Christenheit, als wollte man Rom es nach allen Seiten immer mehr gleich thun, wieder das geistliche Amt hoch hinaufgeschraubt wird in einen heiligen Schein und in eine Machtfülle, thronend über der Gemeine, wenn von demselben behauptet wird, es sei für die Gemeine der einzige Ausgangspunkt des Heils, die einzige Vermittlung mit Christo und Gott, es sei allein zur Herrschaft und Leitung berufen, allein zu aller christlichen und kirchlichen Thätigkeit be­ rechtigt und ein Gemeindeglied dürfte in dieser Beziehung nur thun, was und wie es ihm der hochgebietende, heilige Pastor ausdrücklich er­ laubte oder befehle?

Das ist nichts Anderes als ein Zurückfallen aus

dem neuen nicht in den alten, sondern wir sagen mit Recht, unter den alten Bund,

denn im alten Bunde war wenigstens auch in diesem

Punkte eine Sehnsucht nach dem

neuen.

Das ist der verderbliche

Priesterhochmuth und die Priesterherrschsucht, wie sie in römischer Kirche einst den lebendigen, freien Heilsglauben verkümmern und verkommen machten und wie sie ans die Länge der Zeit auch bei unö keine anderen Wirkungen hervorrufen könnten.

Wehe, wo so geistliche Anmaaßung,

priesterlicher Dünkel den Gliedern des Reiches Gottes die fröhliche, freie und selbstthätige Wirksamkeit für dasselbe wehren will!

Wehe,

wenn man so des Herrn Werk aushebt, nach welchem er die Menschen nur zu Arbeitern in sein Reich ladet und als solche ihnen ihre Stellung anweist.

Aber wißt ihr auch, woher dieser priesterliche Hochmuth ganz

besonders seine Nahrung und Kräftigung nimmt? Ist das nicht ein offenes Geheimniß? Doch wahrlich nirgend anders her als aus der geistigen Gleichgültigkeit, Schlaffheit und Trägheit, wie sie so vielfach auf eine erschreckende Weise in den evangelischen Gemeinen waltet. Wo ist unter uns noch eine verbreitete, lebendige Theilnahme an den christ­ lichen und kirchlichen Dingen? Wo zeigt sich die Sorge in 'den Ge­ müthern, daß sich kirchlich unter uns Alles dem Glauben gemäß und darum in evangelischer Freiheit und evangelischer Ordnung gestalte? Thomas, Predigten.

2

18

Wo ist die Sehnsucht und das Streben, daß in dem äußeren Weinberg der Kirche allenthalben für die gläubige Liebe die nöthigen Kanäle ge­ graben und rein gehalten werden, damit sie alles Land und alle Reben des Landes befruchten könne? Laßt es uns nicht verkennen, Priester­ herrschsucht und Priesterhochmuth in denen, die einfache, demüthige Diener des Wortes sein sollen, und Gleichgültigkeit, Trägheit, Unthätigkeit für das Reich Gottes in den Gliedern der Gemeine, diese beiden Krebsschäden, welche ein wirklich glückliches Leben nothwendig zerstören, sie rufen sich stets gegenseitig hervor, sind immer gegenseitig Mutter und Tochter. Hören wir Alle des Herrn Ruf: Arbeiter sollt ihr sein im Reich Gottes, mit wirken, daß die Gerechtigkeit desselben gesunde Wurzeln unter uns schlage, ihre Zweige nach allen Seiten verbreite und ihre köstlichen Früchte trage. Nicht, die da Herr Herr sagen, sondern die den Willen thun seines Vaters im Himmel, sollen nach Jesu Ver­ heißung von ihm als die Seinen erkannt werden. — Im Gleichniß werden die Arbeiter als MLßigstehende am Markte vom Hausvater gesunden. Paßt dieser Zug auch auf's Reich Gottes? Ja auf dem Markte des Lebens dieser Welt trifft Gott auch die, welche er in sein Reich ladet. Aber müßig? — Das scheint bei den Meisten gewiß nicht der Fall zn sein. Im Gegentheil werden wir von den Mehrsten, deren Sinn dem Himmelreich noch fern und verschlossen blieb, sagen müssen, daß sie in angestrengter Thätigkeit sich bewegen. Acker­ bau, Gewerbe, Handel, Kunst, Wissenschaft nehmen ja bei Vielen alle Kräfte in Anspruch; darin rastlos thätig zu sein ist der Ruhm ihres Lebens. Und doch braucht der Herr sicherlich mit Absicht die Bezeich­ nung des MüßigseinS für alle menschlichen Thätigkeiten, wenn mit den­ selben nicht ein Trachten nach dem Reiche Gottes verbunden ist. Ein Müßiggänger ist ja nicht der Nichtsthuende, sondern derjenige, welcher die Hauptarbeiten seines Berufes vernachlässigend sich auf Beschäftigungen wirst, aus denen keine Frucht, kein Segen, kein Heil erwächst. Wollen wir hier etwa verachten, was nach allen Seiten menschlicher Fleiß wirkt, wie er der Erde ihre Frucht abgewinnt und ihr Erzengniß zu einem Gute der Menschheit umwandelt? Wollen wir irgendwie Ackerbau, Gewerbe- und Kunstfleiß, oder Wissenschaft und alle die Er-

19 zeugnisse solchen Strebend und Arbeitend in engherziger, sich selbst nicht verstehender Frömmigkeit geringschätzen? Das sei ferne! Wie Gott der Menschheit die Aufgabe gestellt hat, sich die Erde Unterthan zu machen, die Natur in ihren Dienst, unter ihre Herrschaft zu bringen, so ist die Arbeit zu diesem Zweck auch eine heilige, so sind auch alle Güter, welche durch solche Arbeit gewonnen werden, wirkliche Güter für die Mensch­ heit.

In Bezug auf die Gemeinschaft ist alle nützliche, menschliche

Thätigkeit auf's Ehrendste anzuerkennen.

Aber wie steht es für den

Einzelnen, in Beziehung auf seine eigene Person, wenn er in vollster weltlicher Thätigkeit begriffen

ist, aber von einer Thätigkeit für's

Himmelreich noch keine Ahnung hat? Was er auch thut und was er auch erreicht, — wenn er noch nicht gelernt hat, Glaube, Liebe, Hoff­ nung im eigenen Gemüth anzubauen, an seiner sittlichen Veredlung zu arbeiten, Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist in der eigenen Seele zu hegen und wieder auch auf Andere zu verbreiten, — es ist ihm doch Alles eigentlich nichts nütze. Wie er für sich auch anhäufen mag irdisches Gut, weltlichen Glanz und weltliche Ehre, ohne die Güter des Himmelreiches findet des Lebens Aufgabe nicht seine Lösung, wird des Lebens wahre Frucht und wirkliches Ziel nicht gewonnen.

ES ge­

bricht an dem, was in des Lebens und Sterbens Nöthen wirklich tröstet, was als ein unvergänglicher Schatz anch über den Tod hinaus bleibt. Ohne die Arbeit im Reiche Gottes, ohne den Erwerb seiner Güter kann der Mensch seine Laufbahn nur mit dem Wort schließen: „Alles ist eitel!" Ist dem aber so, dann ist das Urtheil berechtigt, daß er selbst bei aller nützlichen Thätigkeit für sich selbst sich nur als Müßiggänger ans dem Markte des Lebens herumgetrieben hat. Erst da, wo mit der anderweitigen

Thätigkeit sich das Streben nach Gottes

Reich ver­

bindet — beides schließt sich ja nicht aus, sondern gehört recht wesent­ lich

in und für einander — erst da gibt der Mensch wirklich den

Müßiggang ans und all sein Thun wird ein menschenwürdiges, alle Werke werden in Gott gethan und tragen an sich ein himmlisches Ge­ präge.

Wie stellt also der Herr an in seinem Reiche? So daß er die

Menschen abruft von dem entwürdigenden, ewiges Darben nach sich ziehenden Müßiggang, so daß er ihnen gebietet, sein eigenes, heiliges

2*

20 Reich erlösender Liebe in sich und in Anderen zu bauen.

O gewiß,

dies GotteSreich unter dem Bilde des Weinbergs, es ist, auch wenn wir die Anstellung der Berufenen betrachten, ein Reich reinster und treuster Gnade. III.

Wir kommen zu unserem letzten Punkt, zu dem Lohn.

Es

heißt, der Hausherr miethete die Arbeiter um einen Groschen Tagelohn und beim Tagesschluß lautet eS: ihnen ihren Lohn.

Von

Rufe den Arbeitern

und gib

einem Lohn im eigentlichen Sinne des

Wortes, wie wir es in menschlichen Verhältnissen gebrauchen, kann im Reiche Gottes, im Verhältniß zu Gott, nicht die Rede sein.

Schulden wir

doch Alles, was wir sind, was wir haben, was wir thun und leisten, dem höchsten Gott.

Alles ist seine Gabe.

an und in uns nichts von Verdienst.

Ihm gegenüber findet sich

„Wer hat dem Herrn etwas zu­

vor gegeben, das ihm werde wieder vergolten?"

ruft Paulus *).

Der

Erlöser aber sagt**): „Wenn ihr Alles gethan habt, was euch be­ fohlen ist, so sprechet: Wir sind unnütze Knechte, wir haben gethan, das wir zu thun schuldig waren."

Ja, was wir auch für Gottes Reich

gethan, dafür haben wir ihm wohl, wenn wir von der Gerechtigkeit aus­ gehen, zu danken, aber nichts dafür zu fordern.

Und dennoch hat auch

hier die Darstellung des Herrn ihre Wahrheit und Gültigkeit.

Näm­

lich, wenn der Mensch auch Alles von der Liebe Gottes empfängt, so ist das die Weltordnung der göttlichen Liebe, daß der Mensch dennoch sich auch Alles, Leibliches und Geistiges, erwerbe.

Wer will die Güter

dieses Lebens und wer geistige Gaben, Fertigkeiten und Geschicklichkeiten nicht zurückführen auf den Gott unveränderlichen Lichtes, von dem alle gute Gabe kommt? Wer aber weiß nicht auch, daß,

um diese Gaben

von Gott zu nehmen, der Mensch gewissenhaft zu arbeiten hat?

Darum

läßt der Herr hier das Wort an den einen Knecht ergehen: „Nimm, was dein ist" und darum, was Gott als Gabe der Liebe doch nur der Arbeit des Menschen gewährt, kann auch in gewissem Sinne der Lohn dieser Arbeit genannt werden. — Was aber wird unter dem Bilde des Groschens als Lohn des ArbeitenS im Reiche Gottes gelten *) Römer 11, 35. **) Lukas 17, 10.

21 können?

Der nächste Gedanke ist, das ewige Leben, die Seligkeit, wie

auch viele Ausleger, aber gewiß im Irrthum, behaupten.

Den Groschen

empfangen hier Alle und unter diesen auch die, welche gegen den Haus­ vater, also gegen Gott, murren, welche auf ihre Mitarbeiter, also auf ihre Mitchristen den bösen Blick des Neides kehren.

Wie mag wirk­

lich ewiges, seliges Leben sein, wo noch Murren gegen Gott den Glauben, Neid gegen die Brüder die Liebe verdrängt? mit dem Groschen?

Wie verhält es sich also

Erinnern wir uns, daß nach des Herrn Verheißung

denen, die nach dem Reiche Gottes trachten, auch das Andere, näm­ lich was zum irdischen Leben gehört, zufallen

soll und daß dem ent­

sprechend Paulus sagt, daß die Gottseligkeit auch die Verheißung dieses, des gegenwärtigen Lebend habe.

Der Gehorsam

gegen Christum be­

gründet ja für alle Lebensgebiete treue Pflichterfüllung, Eifer, Fleiß, Rechtschaffenheit, Zuverlässigkeit, Gerechtigkeit.

Das aber sind die ein­

zigen, sicheren Grundlagen des Wohlergehens für den Einzelnen, für ein Hauswesen, für ein Volk.

Wir irren deshalb wohl nicht, wenn wir

Alles, was im irdischen Leben als Segen an einen christlichen Wandel sich anschließt, unter dem Groschen verstehen.

Wie kommt eö nun, daß

der Herr dabei von Ersten und Letzten, von nur Berufenen und von Erwählten spricht? — Der Gehorsam gegen den Herrn, Geliebte, wie er unter den Christen sich zeigt, ist zwiefacher Art und Natur.

Aller­

dings die erste Art, der eigentliche Gehorsam ist Glaubensgehorsam, im tiefsten Sinne des Wortes d. h. er .geht hervor aus der Erfahrung der göttlichen Liebe, aus dem kindlich seligen Ruhen der Seele in der Liebe Gottes, gleichsam aus dem Ruhen an Jesu Brust.

Hier ist der

Gehorsam in den äußeren Werken, im Wandel, nichts Anderes als das Offenbarwerden der inneren, freien Hingebung des Herzens an die ver­ söhnende Liebe.

Dieser Gehorsam aber ist auch eins mit der Seligkeit,

er ist selig in sich selbst.

Doch es gibt auch Christen anderer Art. —

Wir dürfen sie nicht Heuchler schelten, wir müssen ihnen vielmehr ein gewisses aufrichtiges Streben zugestehen, müssen eö ihnen lassen, daß sie Christo nach Möglichkeit in ihrem Wandel nachfolgen.

Aber dabei

haben sie etwas Anderes im Auge, nämlich eben den zukünftigen Lohn, behalten die Frage im Herzen: „Was wird uns dafür?"

Und wenn

22 eS die ewige Seligkeit ist, auf die sie hoffen, sie sehen sie in sinnlicher Weise als etwas, was außerhalb der Liebe liegt.

Das Bild eines

solchen Lohnsüchtigen hat uns der Herr in seinem Gleichniß von den beiden Söhnen mit dem ältesten Sohn des Hauses gezeichnet und ein solcher war dazumal theilweise selbst noch

ein Petrus.

In beiden

Fällen, wo Christo aus der Reinheit und Tiefe des Glaubens und wo ihm noch mehr oder weniger aus werkgerechter Lohnsucht gehorcht wird, um für das Reich Gottes zu wirken, folgt nach Gottes Weltordnung der Lohn in dem Groschen.

Es treten nämlich die gedeihlichen Folgen

des Christenlebens hervor, wie für Einzelne, so für die Familie, für das Volk.

Aber ein und dasselbe, wie wird es den Verschiedenen so

Verschiedenes, wie gewinnt derselbe Groschen einen so sehr verschieschiedenen Werth!

Die Einen, ja wann sie auch in die Arbeit des

Himmelreiches eingetreten sind, sie dünken sich lange, lange darin ge­ arbeitet zu haben und da sie nicht die Freude in der Arbeit und der Liebe,

welche zu derselben beruft,

kennen, sondern

außerdem Lohn

suchen, halten sie alle Arbeiten im und am Himmelreich für schwer. Sie tragen, wie sie meinen, gar sauer an des Tages Last und Hitze. Da, was ihnen an Gottes Segen zufällt, es will nach ihrer Mei­ nung der sauren Arbeit nicht entsprechen, sie haben kein Genügen, sie sehen auf Andere und schnell ist das Urtheil da: die haben weniger gearbeitet alö wir und Gott hat ihnen schon mehr gegeben.

So tra­

gen sie selbst in dem empfangenen Lohn ihre Qual und ihre Last mit sich und um ihrer Lohnsucht willen wird ihnen der Lohn selbst noch zur Strafe.

In dieser Gesinnung zeigen sie sich erst als Berufene,

aber nicht als Erwählte, sind sie die Letzten, die Fernsten vom eigent­ lichen Himmelreich und seiner Seligkeit. — Die Andern, wie lange' sie auch schon für Gottes Reich wirken mögen, es dünkt ihnen stets eine kurze Zeit, ein Weniges, was sie der unendlichen Liebe des Höchsten dankbar entgegenbrachten.

Wie äußerlich Schweres sie auch zu leisten

hatten, sie leisteten es der Liebe, welche sie mit Heil erfüllt.

Des

Arbeitstages Last und Hitze war darum ihre Freude und ihre Lust. Wenn ihnen dazu noch der Groschen wird, der reiche Segen Gottes auch im irdischen Leben, ach sie schmecken und fühlen darin die ewige

23 Liebe.

Ich möchte sagen, jedes irdische Gut wandelt sich ihnen zum

himmlischen, ja dies irdische Leben ist ihnen so selbst schon das ewige Leben, die Seligkeit. Gottes?

Wo ist der Lohn für das Arbeiten im Reiche

Nur da, wo man ihn nicht begehrt, nur da, wo man Alles

nimmt von der göttlichen Gnade, wo man spricht: dienst und meine Würdigkeit.

Ohne mein Ver­

„Gott macht uns selig nicht um unserer

Werke willen, sondern nach seiner Barmherzigkeit."

So ist unö das

Reich Gottes wie nach der Berufung und der Anstellung, so auch nach dem Lohn rein als das Reich göttlicher Gnade erschienen. Wohlan, reinigen wir unsere Herzen von jeder Lohnsucht, von jeder Eigengerech­ tigkeit!

Bleibe uns die Gnade Gottes Alles in Allem!

Dann bleiben

wir im Himmelreich als Bürger und Hausgenossen und Gott selbst ist unser Schild und sehr großer Lohn!

Amen.

Die Grundlagen des christlich-kirchlichen Lebens. Text: Apostelgeschichte 2, 42. Sie blieben aber beständig in der Apostel Lehre und in der Gemeinschaft und im Brodbrechen und im Gebet. der zweiten Hälfte des Kirchenjahres pflegen wir, Geliebte im Herrn, durch unsere Vorträge in unsern gemeinsamen Gottesdiensten vorzugsweise das christliche Leben nach seinen verschie­ denen Seiten zu beleuchten. Da laßt uns heute des christlichen Lebens gedenken, wie eö sich grade in der kirchlichen Gemeine, in Beziehung auf dieselbe als ein solches bewährt. Das christliche Leben, als kirch­ liches gefaßt, zieht also unsere Aufmerksamkeit und unser Nachdenken auf sich. Ihr werdet aber nicht fürchten, daß ich Mißverständniß und Mißbrauch, wie sich beide auch in unserer Zeit so vielfach mit dem Worte „kirchlich" verknüpfen, mir aneignen, und von solchem Stand­ punkt aus die Betrachtung entwickeln werde. Dem gegenüber sei im Voraus das Bekenntniß abgelegt: Was nicht in seinem innern Wesen und Gehalt christlich ist, das kann auch nicht kirchlich sein, alles wahr­ haft Christliche dagegen steht im wesentlichen Einklang und Zusammen­ hang mit dem ächt Kirchlichen. Wohl klingen durch die äußere Ge­ schichte der Christenheit die un christlichsten Reden, im Namen der Kirche ergangen, hindurch, wohl ist und wird oft als besonders kirchlich ge­ priesen, was im entschiedenen Gegensatz zu dem Evangelio und dem Lieder: 536. 292, 7 — 8.

25 Geist des Erlösers steht.

Aber da ist eS in der That nicht die Kirche,

welche redet und handelt,

sondern ihr widerwärtiges Zerrbild, ihr

Gegentheil, die Welt, wie sie sich in schlimmer Heuchelei den Namen und die Autorität der Kirche anmaßt.

Nur wer in den Pharisäern

die ächten Jünger Christi erkennt, kann als kirchlich rühmen, was dem Geiste Christi entgegen ist.

Wenn uns aber so daS Kirchliche nur

durch sein christliches Wesen ächt erscheint, so beschränken wir uns doch heut so, daß uns das Christliche nur beschäftigt als Kirchliches

im

engeren Sinn d. h. eben bezogen auf die Gemeine und auf das fromme Gemeindeleben.

Das aber wollen wir uns nach unserem verlesenen

Text an denen anschaulich machen, welche bei der ersten Ausgießung des Geistes über die Gemeine in dieselbe als neue Glieder aufgenommen wurden.

Ihr neu sich bildendes Verhältniß zu der Gemeine, ihr Leben

in und mit derselben beschreibt uns der Berichterstatter in unserem Verse auf das Kürzeste und Treffendste.

Es soll nnS dabei nicht zum

Anstoß werden, daß sie doch offenbar erst Anfänger im Christenthum waren, und so sich nicht eignen dürften, unS als Vorbild und Maßstab aufgestellt zu werden.

Vielmehr in jedem Anfang, wenn er rechter

Art ist, wird alle Herrlichkeit der Fortentwicklung bis jwt Vollendung hin dem Kerne nach schon enthalten sein.

Auch wird eS uns gut thun,

wenn wir uns selbst immer wieder als Anfänger im Christenthum, wenigstens erst als werdende Christen ansehen, und damit geneigt bleiben, auch von Anfängern uns fördern zu lassen.

Auch hier liegt allein in

der stets zurückkehrenden Versenkung in den Anfang die Bürgschaft für einen wirklichen Fortschritt der christlichen Vollendung entgegen.

Also

das christlich-kirchliche Leben in seinen Grundlagen nach der einfachen Ordnung, wie sie der Text gibt, fassen wir jetzt näher und schärfer in's Auge. I.

DaS Erste, was unser Text von den neugewonnenen Gliedern

der Gemeine aussagt, lautet: „Sie blieben in der Apostel Lehre."

Das

will doch offenbar sagen, daß sie die apostolische Lehre immer mehr und immer weiter als den Leitstern ihres Wandels aufnahmen, daß sie nach derselben ihr Sein und Leben umzugestalten und auszubilden strebten.

Wie stand es doch aber mit dieser apostolischen Lehre, die

26 hier offenbar als ein in sich Einiges aufgefaßt wird? zwölf der Apostel.

Es waren doch

Waren diese etwa so und dahin einig geworden,

daß sie die Lehre in ihrem Zusammenhange und in ihren Einzelnheiten gemeinschaftlich als eine und dieselbe ausbildeten, und gab dann jeder von ihnen den Hörenden ein und dasselbe fertige Lehrshstem?

Oder

waren sie, wie man es wohl in Beziehung auf ihre Schriften behauptet hat, so sehr nur die willenlosen Werkzeuge des heiligen Geistes, daß sie trotz ihrer verschiedenen Eigenthümlichkeit die gleiche Sprache reden, die unterschiedslos gleiche Lehre verkündigen mußten?

Beides sind

abenteuerliche, aller geschichtlichen Wahrheit, ja auch aller gesunden Frömmigkeit widersprechende Vorstellungen.

Grade dasjenige, was wir

in unserer Bibel noch heute von apostolischer Lehre besitzen, überzeugt uns vom Gegentheil.

In ihren Lehrschriften gehen die Apostel nicht

nur von verschiedenen Gesichtspunkten aus, sondern bilden ebenso im Einzelnen die christliche Lehre verschieden aus. in dieser Beziehung.

Nur kurze Andeutungen

Bei Johannes sind die Grund- und Kerngedan­

ken etwa: Das Wort, der im Sprechen und Gestalten sich offenbarende Gott, ward Fleisch, ward Mensch und enthüllte sein Wesen als Gnade und Wahrheit, oder als Leben, Licht und Liebe.

In der Lebensgemein­

schaft mit dem Fleisch gewordenen Christus entflieht man der Welt, die im Argen liegt, und entgeht dem Tode durch Reinigung von der Sünde und Uebung der brüderlichen Liebe.

Bei Paulus

dreht sich

Alles um die großen Gegensätze der freien Gnade Gottes und der menschlichen Knechtschaft in der Sünde, des Geistes und des Fleisches, deS Glaubens und der Werke, der Freiheit der Gotteskinder und der Knechtschaft unter dem Gesetz.

Sein ganzes Denken und Lehren gipfelt

und hat auch wieder seinen Ausgangspunkt darin,

daß der Mensch

nicht durch des Gesetzes Werk gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesum Christum.

Dem Iacobus ist dagegen durch Christum das

Gesetz zur Verklärung gekommen, ist ihm dadurch zu dem königlichen Gesetz der Freiheit und Liebe geworden.

Demgemäß lehrt er Heil und

Gerechtigkeit dadurch suchen und finden, daß man im Gehorsam gegen das in Christo verkörperte und vergeistigte Gesetz die Werke desselben vollbringt.

Im Hebräerbrief sehen wir das Hohepriesterthum, seiner

27 Idee, seinem Gedanken nach als Mittelpunkt hervorgehoben, und zwar, wie es im alten Bunde als Weissagung und Schattenbild erscheint, im Träger des neuen Bundes seine Erfüllung, seine Wahrheit und Wirklichkeit gewonnen hat.

In diesem Hohenpriesterthum ist uns der

Zugang zu der göttlichen Barmherzigkeit geöffnet,

und damit Hülfe

dargeboten, wenn, wo und wie wir derselben bedürfen.

Wie aber so

die schriftliche Lehre der Apostel eine mannigfaltige, sich von einander unterscheidende gewesen ist, so nicht weniger die mündliche.

Dennoch

heißt es: „Sie blieben in der Apostel Lehre," und wird damit dieselbe als eine und dieselbe dargestellt.

Worin bestand denn, fragen wir, bei

der Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der apostolischen Lehren die Einheit und Selbigkeit?

Ich erinnere euch, Geliebte, daran, wie die

Apostel, nachdem Judas sein Ende gefunden hatte, durch eine Neu­ wahl ihre Zahl wieder zu ergänzen suchten.

Da wird für dieses Amt

ein solcher gefordert, welcher die ganze Zeit, in welcher Jesus bei ihnen aus- und eingegangen war, also von der Taufe durch Johannes bis zu seiner Auferstehung, unter ihnen gewesen war.

Weshalb?

Offen­

bar, damit er das, was er selbst vom Herrn geschaut und erfahren hatte, mittheilen könnte.

So faßt der Erlöser auch seinen Auftrag an

die Apostel dahin zusammen, daß er sagt: „Ihr werdet zeugen von mir." Dem entsprechend erklärt Paulus, daß er als Apostel, als Lehrer nichts wisse als nur Jesum, und zwar den Gekreuzigten, und das feste, ge­ wisse Zeugniß von Jesus als dem Gekreuzigten und Auferstandenen ist ihm eben das Evangelium, als welches auch kein Engel vom Himmel ein anderes verkündigen solle und dürfe.

Nicht anders sieht auch Jo­

hannes nur darin den Beweis, ob Jemand mit seiner Lehre aus Gott sei, wenn er bekennt, daß Jesus Christus in das Fleisch gekommen sei; denn wer den Sohn Gottes habe, der habe das ewige Leben. Siehe das feste, gewisse Zeugniß von Jesu Christo, von der Entfaltung seines Lebens und Wesens in lehrendem Wort und in segnender That, von der Verklärung seiner Wahrheit und Gnade im Leiden und Ster­ ben, von ihm, wie er als der Auferstandene, als der Verherrlichte Frieden, Leben und unvergängliches Wesen an's Licht gebracht hat, das ist der eine ewige Kern, der eine göttliche Inhalt in der Lehre

28 aller Apostel, das ist die lebendige Quelle, aus welcher alle ferneren Lehren in ihrem mannigfaltigen Lauf entspringen.

Was die Apostel

aber in diesen weiteren Lehrentwickelungen geben, wir erkennen es dank­ bar als herrlich und köstlich an; aber es ist doch nicht das nothwendig und wesentlich Eine, sondern das, was verschieden sein konnte und mußte, eS ist nicht das Göttliche, sondern das Menschliche, es ist das besonders Kephische, oder Paulinische, oder Apollische, das, wie es nicht Grundlage ist, so nicht an sich fesseln, nicht verpflichten soll.

„Sie

blieben in der Apostel Lehre," nicht soll damit gesagt werden, ob sie johanneisch oder jacobisch dachten und anschauten, sondern das, daß sie sich durch Johannes oder JacobuS, oder wer sonst es war, immer tiefer in das Leben und Wesen Christi hineinleiten ließen, durch ihr Zeugniß in ihm immer klarer den Maßstab für alles Menschliche, die Aufgabe des menschlichen Lebens erkennen, in ihm immer mehr das eigentliche Wesen der Gottheit ergründen und anschauen lernten.

So

bewährten sie sich fortan als ächte Glieder der Gemeine, waren im lauteren Sinne des Wortes kirchlich.

Auch wir können auf diese Weise

allein das richtige Verhältniß zur Gemeine Christi einnehmen, und eine feste und ächte Grundlage kirchlichen Lebens gewinnen.

Durch der

Apostel Zeugniß, wie es in der Schrift noch erhalten ist, wie eS durch die mündliche Verkündigung in der Gemeine in lebendiger Weise sich erneuert, immermehr zu ihm selbst hindurchdringen, um in dem Spiegel seines Antlitzes das Wesen der Gottheit zu schauen, um in seinem ganzen Leben die bestimmende Regel und die

gestaltende Kraft für

einen menschlich schönen und Gott wohlgefälligen Wandel zu haben, das ist der erste Zug in dem Wesen ächter Kirchlichkeit.

Was von

diesem Zuge sich entfernt oder ihm widerspricht, das kann nichts Kirch­ liches, sondern nur ein Zerrbild des Kirchlichen sein. II.

„ Sie blieben in der Gemeinschaft," sagt unser Text weiter.

Wir dürfen das Wort hier nicht im weiteren Sinne fassen; denn dann wäre eS für das kirchliche Leben nicht eine Seite neben anderen, son­ dern dasjenige, welches eben Alles in sich vereinigt. uns den Sinn ans einer Stelle beim Apostel Paulus.

Wir bestimmen Er sagt näm-

29

lich in seinem Römerbriefe*): Es hat Macedonien und Achaja (natür­ lich den Christen dieser Länder) Wohlgefallen, eine Gemeine in Beziehung auf die Armen der Heiligen in Jerusalem zu veranstalten. Was haben wir darunter zu verstehen? Gerade das, was Luther in seiner Uebersetzung mit andern Worten ausdrückt. Eine Steuer brüderlicher Liebe hatten sich die Christen Achajas und Macedoniens für die verarmenden Brüder in Jerusalem aufgelegt, um ihnen so zu dienen und zu helfen. Sie hatten so ihren eigenen Ueberflnß zu dem Gute ihrer dürftigen Brüder gemacht. Aber, Geliebte, es gibt ja nicht nur Güter, welche dem irdischen Sein angehören, sondern auch herrliche Güter des ewi­ gen Lebens. Paulus gedenkt solchen geistigen Besitzes, wenn er z. B. zu den Philippern**) spricht: „Ist bei euch Ermahnung in Christo, Trost der Liebe, Gemeinschaft des Geistes, herzliche Liebe und Barm­ herzigkeit." Es bedürfen die Menschen, die Christen vielfach nicht sowohl des Silbers und Goldes oder des irdischen Brodes, als viel­ mehr weiser Berathung, sanftmüthiger Zurechtweisung, freundlicher, friedlicher Tröstung, ernster, wohlgemeinter Warnung, brüderlicher Be­ strafung, erleuchtender Belehrung. Wie nun Gott in Beziehung auf's Irdische neben den Armen den Reichen gestellt hat, so sehen wir durch heilige, weise Gottesgnade auch ein Gleiches in der christlichen Gemeine, wunderbar verschieden vertheilt die Gaben des Geistes, und das Ver­ mögen, mit denselben zu wirken. Diese Verschiedenheit, diese reiche Abstufung, sowohl in Bezug anf'S Irdische wie auf's Geistige, soll nach Gottes Willen Mahnung, Reiz und Kräftigung für die dienende Liebe bieten. Unter dem „Bleiben in der Gemeinschaft" wird demnach zu verstehen sein, daß wir mit den Gaben, die Gottes Liebe unS verlieh, mit den Gütern, durch welche seine Weisheit uns segnete, auch den Brüdern und Schwestern zu dienen suchen, daß so unsere Gaben und Güter gewissermaßen durch unsere Liebe beständig in den Besitz der Gemeine übergehen, daß wir, wo das Bedürfniß sich geltend macht, durch irdische Darreichung willig erquicken, und den Dienst brüderlicher Ermahnung, Tröstung und Belehrung eben so gern gewähren, wie *) Römer 15, 26. **) Phil. 2, 1.

30 annehmen.

Wir sind als Christen nach dem schönen Bilde des Paulns

ein Leib in Christo, sind also unter einander Glieder desselben Leibes, auf daß wir uns unter einander dienen, und in jedem Güter und Gaben

verwendet werden zum gemeinsamen Nutzen.

Wie Christus

gekommen ist, daß er dienend sein Leben lebte nnd opferte für Viele, so kann auch seine Kirche ihr wesentliches Leben nur in dem gegen­ seitigen Dienen

der Liebe haben.

Diese dienende brüderliche Liebe

ergibt sich uns demnach als die zweite Grundlage eines wahrhaft christ­ lich-kirchlichen Lebens.

Wir müssen nach dieser Seite wohl klagen, daß

es an ächter Kirchlichkeit unter uns gar sehr gebricht, daß es scheint, als fange man sich erst wieder an zu besinnen, wie man zu einer solchen auf's Heiligste verpflichtet ist.

Das erste Amt, welches als

ein fest geordnetes in der apostolischen Gemeine entstand, war das der Diakonen, der Armenpfleger.

Wie ist doch dieses Amt im Laufe der

Jahrhunderte so überflüssig geworden, einfach weil die christliche Ge­ meine, die Kirche, sich die Sorgen für die Armen abschüttelte nnd sie damit dem Staate aufbürdete, die Armen damit heraus wies au6 dem Bereich der milden Liebe, dorthin, wo daö Gesetz streng und kalt waltet. Das zweite Amt, welches in den apostolischen Gemeinen mit Noth­ wendigkeit hervorwuchs, war das der Aeltesten.

Diese, von der Ge­

meine und aus der Gemeine berufen, sollten durch ihre hervorragenden Gaben in umsichtiger, vorsorgender, leitender Liebe drohende Gefahren von der Gemeine abwenden, Schäden und Gebrechen des innern nnd äußern Lebens entfernen, Nothwendiges und Heilsames anregen und hervorrufen, und so auf ein fortwährendes, geistiges Wachsen der Ge­ meine hinwirken.

Bei uns ist die Kirchenleitung, die geistige Fürsorge

für die Gemeine, in die Hände von Staatsbehörden, ja theilweise selbst in die Hände der Polizei niedergelegt.

Was aber etwa bei denen nicht

steht, nicht ruht, das soll der gebietende, einsam herrschende Pastor in der Machtfülle seines Amtes inne halten.

Das ist wahrhaftig so recht

unkirchlich, weil auch so recht unchristlich, daran kommt nur zu deutlich an's Licht, wie die Gemeine im Großen und Ganzen so sehr die erste Liebe verlassen hat.

O, da ergeht an uns der Ruf: „Gedenke, wovon

du gefallen bist, und thue Buße, und thue die ersten Werke."

31 Wollte Gott geben, daß die schwachen Anfänge dazu, die unter unS sich zeigen, so recht sichtbar und kräftig erstarkten und wüchsen. Auf der einen Seite unser Verein für innere Mission, zu deutsch, für christliche Gemeindepflege der Armen, auf der andern Seite der Ansatz zu einer kirchlichen Gemeindeordnung in unserm Gemeindekirchenrath, das sind die freilich noch sehr schwachen und geringen Anfänge einer wieder erwachenden Kirchlichkeit.

Wolle der Herr da Alles von un­

lauterem und unevangelischem Wesen immer mehr reinigen, wolle er die äußern Formen erfüllen mit dem Inhalt und Leben seines Geistes, wolle er in uns alle immer reichlicher ergießen seine heilige Liebe. Mit unsern Gaben und Gütern in der Liebe der Gemeine und ihren Gliedern dienend, werden wir allein eines ächt kirchlichen Wesens uns rühmen dürfen. III.

Als Drittes führt unser Text von der neugewonnenen Chri­

stenschaar an:

„Sie blieben im Brodbrechen."

druck bezeichnen?

Was will dieser Aus­

Erinnert euch, Geliebte, an das, was LukaS von

den beiden nach Emmaus wandelnden Jüngern erzählt.

Sie gehen

eine Zeit lang mit dem Herrn, unterreden sich mit ihm, hören ihn, wie er den tiefsten Sinn der alttestamentlichen Schriften ihnen aus­ schließt, es brennt ihnen dabei das Herz im Busen; aber ihre Angen sind gehalten, wie es heißt, sie kennen ihn nicht.

Endlich sitzen sie mit

ihm in der Herberge zu Tische, und da, wie er ihnen das Brod bricht und darreicht, fällt es ihnen wie Schnppen von den Augen, sie sehen ihn selbst, den Herrn.

Es muß etwas Eigenthümliches gewesen sein,

wie der Erlöser sonst mit seinen Jüngern zu Tische gesessen und ihnen das Brod dargereicht hatte.

Dies Eigenthümliche hatte seine Vollen­

dung, gleichsam seine Verklärung bei jenem letzten Mahle gefunden, an dessen Schluß er über Brod und Wein dankend

nnd es ihnen

reichend gesprochen hatte: das ist mein Leib, das ist mein Blut. dies Eigenthümliche war?

Was

Wir dürften cs in zwei den alten Sprachen

entlehnten Benennungen des heiligen Abendmahls entdecken, nämlich in den beiden Worten: Eucharistie nnd Commnnion, deutsch: Dank­ sagung nnd Gemeinschaft.

Beiden,

dem innigen Danke

Geber aller guten nnd vollkommenen Gabe,

des irdischen

gegen

den

nnd

des

32 himmlischen Brodes, und eben sc der Gemeinschaft, nämlich seiner Ge­ meinschaft mit den Jüngern, und der Gemeinschaft der Jünger unter einander, hatte der Heiland durch die Art, wie er das Brod brach und den Wein darreichte, den entsprechenden schönen Ausdruck gegeben. Indem er aber gesagt: das thut zu meinem Gedächtniß, hatte er für seine Gemeine das Brodbrechen zu einem beständigen Darstellungs­ mittel des innern frommen Lebens geweiht, zugleich zu dem Gipfel und der Krone dessen, was wir Gottesdienst im engeren Sinne des Wortes nennen.

Daran hielten sie fest, hielten also fest an den schönen

Liebesmahlen, wie sie in der ersten Kirche so häufig gefeiert wurden, hielten fest daran, dieselben mit dem Brodbrechen nach Jesu Anordnung, mit dem heiligen Abendmahl, bei dem Andacht und Liebe sich so ganz in Christum versenkten, zu beschließen.

Das ist wieder ein Moment,

in dem bei ihnen das Christliche zugleich sich als ein Kirchliches ge­ staltete.

Wir können es nicht leugnen, wir kommen ans einer Zeit

her, in welcher das Sakrament, in dem nun einmal aller Gottesdienst im engeren Sinne gipfelt, als etwas Aeußerliches geringschätzig ange­ sehen wurde, in der man meinte, man könne sich demselben getrost entziehen,

ohne daß dadurch das Christenthum Schaden leide.

Ja,

freilich wenn man diese heilige Handlung vom innern, frommen Leben loslöst, wenn man es zu einem rein Aeußerlichen macht, entweder so, daß man es als leere Form ansieht, oder so, daß man in dem äußern Werk als solchem, oder in den äußern Elementen als solchen das Heil sucht; dann dürste es am Orte sein, von Aberglauben zu sprechen, von dem, waS dem Geiste des Evangelii widerstreitet.

Aber da trifft

man auch nicht mehr die Einsetzung des Herrn selbst, sondern das Zerrbild, waS menschlicher Unverstand daraus macht.

In Betreff des

heiligen Gnadenmittels aber, wie es uns Christus gegeben hat, laßt uns Folgendes bedenken.

Das innere, fromme Leben, wenn es gesund,

frisch und kräftig ist, trägt, eben weil eS Leben ist, in sich die Noth­ wendigkeit, sich auch äußerlich darzustellen.

Diese äußere Darstellung

gerade ist ihm von Gott geordnet zur Läuterung, zur Nahrung, zur Stärkung, gerade dazu, daß es innerlich seiner Vollendung entgegen­ wachse.

Jedes innere Leben, das nicht zur äußern Darstellung strebt

33 und kommt, ist jedenfalls in sich so schwach, daß man es kaum als lebensfähig betrachten kann, oder ist so sehr mit ungesunden Elementen durchzogen, daß es in größter Gefahr steht, gänzlich zu verdumpfen und zu verkommen.

Lebst du aber wirklich mit deiner Seele in Chri­

stus, durch Christum in der heiligen Liebe deines Gottes, bist du durch ihn erfüllt mit Friede und Freude im heiligen Geist, fühlst du dich durch Christum in seiner Liebe als ein lebendiges Glied seiner Gemeine: es wird dir dringendes Bedürfniß bleiben, deine heiligsten Gefühle auch in der Gemeine feierlich zur Darstellung zu bringen,

dich dankbar

preisend und anbetend zu deinem Erlöser und der durch ihn dir ge­ wordenen

Gnade Gottes zu bekennen.

Das Abendmahl

wird dir

wahrlich nicht als ein nur äußerlich Werk erscheinen, sondern als eine heilige Handlung, bei welcher du so recht lebendig die Gnadengegenwart deines Herrn erfährst, bei welcher er, wie er einst für dich seinen Leib gab und sein Blut vergoß, so dir von Neuem zur geistigen Nahrung, zum Himmelsbrod, zu dem Labetrunk deiner Seele wird.

Laßt unS

nur das Schönste und Edelste in den rein menschlichen Verbindungen des Lebens vergleichen: die zarte bräutliche Liebe, die tiefe, herzige Treue in der Ehe, die aller Selbstverleugnung fähige Mutterliebe, daS offne, dankbare Kindesvertrauen u. s. w. — verlangen diese nicht alle, wie tief innerlich sie auch sind, verlangen sie nicht immer wieder von Neuem ihre Darstellung, ihren Ausdruck, und wär's auch nur im warmen Händedruck oder in holdseliger Miene? Würden diese heiligen Gefühle und Empfindungen,.wenn sie der äußern Darstellung entbehren sollten, nicht wesentlich leiden und verkümmern? So gewiß ist es auch mit der Frömmigkeit, mit dem Glauben und der Liebe, welche Christo entstam­ men.

In diesem Sinne, aus dem Bedürfniß des innern, frommen

Lebens heraus lasset uns halten an dem Brodbrechen, an dem, worin das Heiligste der christlichen Frömmigkeit durch Christum selbst zu seiner entsprechenden Darstellung gekommen ist.

Es ist und bleibt auch das

ein ächter Zug, eine wesentliche Grundlage des rechten kirchlichen Lebens. IV.

Wir kommen zum letzten Theil unseres Textes und unserer

Betrachtung.

„Sie blieben im Gebet."

Wäre das genaue Ueberfetzung,

so dürften wir uns in Beziehung aus unsern Gegenstand etwas in Thomas, Predigt«».

3

34

Verlegenheit befinden. Der Erlöser verweist uns mit unsern Gebeten in die Stille und Einsamkeit des Kämmerleins, und der Apostel mahnt: Betet ohne Unterlaß, und kann das natürlich nur von dem verborge­ nen Beten, ja selbst von der Gebetsstimmnng des Herzens verstehen. Gewiß ist nun das Beten in diesem Sinne etwas, ohne welches keine christliche Frömmigkeit bestehen kann, das also auch für die Erhaltung ächter Kirchlichkeit nothwendig bleibt. Aber als eben nur dem ver­ borgenen Menschen des Herzens angehörig, kann es doch nicht selbst zum Kirchlichen, das eben immer auch im Aeußern sich bekundet, ge­ rechnet werden. Unser Text in seinem ursprünglichen Wortlaut führt uns aber auch auf etwas Anderes. Wörtlich übersetzt lautet es:, „Sie blieben in den Gebeten," und sind damit ganz bestimmte gemeint, nämlich diejenigen, welche nach dem jüdischen Gesetz zu den geordneten Gebetsstunden dreimal täglich im Tempel verrichtet werden mußten. Obschon die eben Getauften Christen waren, unterwarfen sie sich den­ noch fernerhin dieser jüdischen gesetzlichen Ordnung, wie es nach dem folgenden Kapitel auch Johannes, und Petrus, und wohl alle Apostel thaten. Wie der Tempel als Ort, so galten diese festgesetzten Stunden im jüdischen Volksbewußtsein für heilig. Gehört das nun auch zum christlich Kirchlichen, bestimmte Oerter und Zeiten als heilige auszu­ sondern, und uns an diese mit unserer Anbetung zu binden? Das läßt sich wohl nicht bejahen. Was der Herr gegenüber den heiligen Oertern ausspricht und fordert, das gilt auch gegenüber den heiligen Zeiten, nämlich die an keinen bestimmten Ort und an keine bestimmte Zeit ge­ bundene Anbetung Gottes int Geist und in der Wahrheit. Ausdrücklich verwirft es der Apostel Paulus*), wenn wir uns über bestimmte Feier­ tage, oder Neumonde, oder Sabbathe Gewissen machen lassen; ermahnt vielmehr in dem schon vorhin erwähnten Worte: „Betet ohn' Unter­ laß." So dürften wir hier die ersten Christen noch nicht zur Reinheit und Freiheit des evangelischen Glaubens hindurchgedrungen sehen, viel­ mehr noch befangen in einer falschen Enge des jüdischen Gesetzes. Es hat eine solche Annahme kein Bedenken, da selbst ein Petrus in einem *) Kol. 2, 16.

35 späterem Abschnitt der Apostelgeschichte noch von falschen Fesseln des Gesetzes gebunden, noch von dem Schatten desselben in seinem Bewußt­ sein umhüllt, und besonderer göttlicher Erleuchtung bedürftig erscheint. Aber Lei genauerer Erwägung tritt ein anderer Gesichtspunkt hervor. Wie niämlich damals die Kirche noch von der jüdischen, religiösen Volks­ gemeinschaft umhüllt, und so theilweise verhüllt war, so mußte eö theilweise auch mit dem Kirchlichen sich verhalten, daß eS noch gehüllt und verhüllt lag in den Formen des jüdischen Wesens.

Sollte hier

nicht auch das christlich Kirchliche in jüdischer Gesetzesform wie der Kern in der Schale gelegen haben?

Heilige Zeiten, heilige Oerter,

denen andere als unheilig, oder auch nur als weniger heilig gegenüber stehen, kann es für das reine christliche Bewußtsein nicht geben.

Gott

mit seiner heiligen Allgegenwart durchdringt alle Zeiten und alle Räume, und Ehre gebührt ihm von uns zu jeder Zeit und an jedem Ort, ent­ weder durch den Gehorsam des Werkes, oder durch die Betrachtung, die in seiner Herrlichkeit sinnend ruht, oder durch die Freude an seinen Gaben, die Anbetung im Geist und in der Wahrheit

Aber, Geliebte,

wenn der Erlöser seinen Jüngern die tröstliche Verheißung gibt, daß er auch nach seinem Tode ihnen nahe und gegenwärtig sein wolle, dann legt er auf Eins besonders Gewicht, stellt das als besondere Bedingung für die Verheißung hin, nämlich das Sichversammeln, das Zusammen­ sein in seinem Namen.

Eben so wenn er ihnen als Tröster den hei­

ligen Geist zu senden verspricht, so gebietet er ihnen auch, daß sie bei einander bleiben sollten in Jerusalem.

Wenn für das jüdische Volk

der Tempel in Jerusalem als das Heiligthum, als die Wohnung Gottes galt, so kennt der Apostel Paulus als solches Heiligthum, als Tempel der Gottheit nur die christliche Gemeine.

So ist nach den biblischen

Berichten der heilige Geist stets in der Gemeine und von der Gemeine aus, stets veranlaßt durch das Zusammensein im Namen Christi, in die einzelnen Herzen gedrungen.

Nun mochten in Beziehung auf den

Tempel und auf die heiligen Zeiten jene ersten Christen noch in etwas an jene jjüdisch gesetzlichen Anschauungen gebunden sein; aber gewiß war ihnen bei dieser Beobachtung des Gesetzes die Versammlung der christlichem Gemeine doch schon die Hauptsache geworden; gewiß suchten

3*

36

sie nicht aus der äußern Erfüllung der Satzung, sondern aus und in der Gemeine Läuterung, Belebung und Erhaltung des Glaubens und der Liebe. Und dies war das christlich Kirchliche an ihnen. Wenn in manchen Theilen der Christenheit eine strenge Feier der Sonn- und Festtage gehandhabt wird, eine solche, die ganz der jüdischen Sabbaths­ feier mit ihrer starren Gesetzlichkeit entspricht, wenn Alles, aber auch Alles an diesen Tagen ruhen soll, und jede gesellige Freude, ja jede Erholung durch Lustwandeln in Gottes Natur als Sünde gebrandmarkt wird, so mag sich immerhin damit noch Gutes und Segensreiches ver­ knüpfen, aber christlich-kirchlich ist das nicht, es ist und bleibt ein Herausfallen aus der evangelischen Freiheit, ein Zurückfallen in das gesetzlich Jüdische. Wenn dagegen unter uns so Viele den gottesdienst­ lichen Versammlungen der Gemeine sich entziehen, sei es aus Gewinn­ sucht, oder aus Vergnügungssucht, oder aus einem gewissen geistigen Stolz, oder auö Trägheit, so ist das erst recht eine Verletzung des ächt Kirchlichen. Das Zusammensein der Gemeine im Namen des Herrn bildet mit eine Hauptgrundlage deS christlich-kirchlichen Lebens, ist mit eine Hauptbedingung, ohne welche das Kirchliche eines gesunden Lebens entbehrt. In den gottesdienstlichen Versammlungen der Gemeine, wenn sie in dem rechten Sinn geschehen, wird der Herr noch immer beson­ ders kräftig auf die Glieder seines Leibes wirken, wird der Geist der Gnade an den Seelen sich verherrlichen, wird das Leben der Gemeine sich verjüngen und verklären. Hören auch wir deshalb die apostolische Mahnung*): „Lasset uns halten an dem Bekenntniß der Hoffnung und nicht wanken; denn er ist treu, der sie verheißen hat, und lasset uns unter einander unser selbst wahrnehmen mit Reizen zur Liebe und guten Werken, und nicht verlassen unsere Versammlung, wie Etliche pflegen." Amen. *) Hebräer 10, 23 — 25.

Das Werden und Sein wie die Kinder die Grundlage für Anfang und Wachsthum im Reich Gottes. Text:

Matth. 18, 1—5.

Zu derselben Stunde traten die Jünger zu Jesu und sprachen: Wer ist doch der größte im Himmelreich? rief ein Kind zu sich und stellte es mitten unter sie.

Jesus Und

sprach: Wahrlich, ich sage euch: Es sei denn, daß ihr euch umkehret und werdet wie die Kinder, in das Himmelreich

kommen.

so werdet ihr nicht

Wer sich nun selbst ernie­

drigt, wie dies Kind, der ist der größte im Himmelreich. Und wer der

ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen,

nimmt mich auf.

Rndächtige Freunde, wir sprechen so gern vom Christenthum, vom wahren Christenthum.

Wo ist dasselbe, was ist es, wie erkennen

wir es in seiner Lauterkeit und Wirklichkeit?

Wir können es nicht er­

kennen, wenn wir nicht gleich sehr Christum und die Christen, also den Stifter, das Haupt und die Gemeine in'S Auge fassen.

Ohne Christum

gibt's kein Christenthum, aber ohne Gemeine gleichfalls nicht.

Ohne

die Gemeine könnten wir wohl von einem Leben Christi, aber nicht Lied: 463.

38 vom Christenthum sprechen.

Wie wir aber bei diesen Fragen ein gro­

ßes Gewicht auf die Christen, auf die Gemeine, legen, so dürfen wir doch nicht vergessen, was wir in ihnen nach dieser Seite suchen, das kann nur Wirkung Christi sein.

Wir werden damit nach zwei Seiten

auf Christum mit unserm Nachdenken gelenkt, nämlich auf Christum für uns und auf Christum in uns.

Beides zugleich muß im Auge

behalten werden, um das Christenthum in seiner Lauterkeit zu erkennen und zu bewahren.

Im Einklang damit haben wir die Ordnung unsers

Kirchenjahres zu bemessen.

Es kann freilich keine entschiedene, vollstän­

dige Sonderung in dieser Beziehung geben.

Dennoch in der hinter

uns liegenden, festlichen Hälfte des Kirchenjahres soll mehr Christus für uns, in der festlosen Hälfte, in welcher wir noch nicht zu weit vorgeschritten sind, soll mehr Christus in uns dargestellt werden, oder das christliche Leben, wie es durch ihn, in der Gemeinschaft mit ihm, sich entwickelt.

Demgemäß beschäftigen wir uns jetzt wohl gern mit

dem Anfang des Christenthums und mit dem an den Anfang sich an­ knüpfenden Fortschreiten.

Dieser Gesichtspunkt ist es, der mich zur

Wahl unseres Textes bestimmt hat.

Doch da thut's Noth, zuvor ein

Weniges noch zur Erklärung desselben zu bemerken.

Die Jünger fragen

hier nicht, wie es ein Jeder gleich heraus hört, nach dem Anfang des Christenlebens, nach dem Eingang in's Reich Gottes.

Nach ihrer Vor­

aussetzung haben sie den Eintritt in's Himmelreich längst hinter sich, sind sich ihres Seins und Rechtes in demselben völlig bewußt.

Wer

ist der Größere und wer schreitet fort, wie wächst man in demselben? will ihre Frage sagen.

Darauf antwortet der Herr, indem er nicht,

wie Luther übersetzt hat, in der Gegenwart, sondern von der Ver­ gangenheit spricht:

„Wenn ihr euch nicht umkehrtet und wurdet wie

die Kinder, dann ginget ihr auch nicht ein in das Himmelreich."

Er

stellt wenigstens theilweise den Besitz der vom Ehrgeiz erfüllten Jünger, ihr Sein im Reiche Gottes in Frage.

Damit veranlaßt er sie zur

ernstesten Prüfung, ob es mit ihrem Eintritt in's Himmelreich auch wirklich recht bestellt war, ob sie auch wirklich gründlich mit dem Chri­ stenthum angefangen

hatten.

Dann erst beantwortet er die Frage

über das Größersein, also über das Fortschreiten und Wachsen im

39 Reiche GotteS. vor,

nämlich

In beiden Fällen hält er ihnen jedoch ein und dasselbe das Werden und Sein wie die Kinder.

Also:

das

Werden und Sein wie die Kinder die Grundlage für den Anfang und für das Wachsthum im Reiche Gottes, im Chri­ stenthum zeichnet uns das verlesene Texteswort.

Suchen wir heute

durch ernste Betrachtung uns von Neuem diese Wahrheit des Herrn zu unserm Heile recht nahe zu bringen. I.

Wenn der Herr seine ersten Jünger auf sorgsame Prüfung

ihres Anfanges im Christenthum ernstlichst hinwies, es wird auch für uns seine Mahnung, seine Erinnerung gesprochen sein.

Auch bei uns

werden Regungen der Eitelkeit, des Ehrgeizes und ähnliche genug vor­ gekommen sein, welche zu solcher Aeußerung hinreichend Veranlassung geben.

Nun da stellt denn der Herr das Kind auch vor uns, offen­

bar im Gegensatz zu dem Mann, und will uns an demselben zeigen, wie jeoer wirkliche Eintritt in's Reich Gottes, jeder wirkliche Anfang im Christenthum beschaffen sein müsse. Mann.

Das Kind im Gegensatz zum

Der Mann steht für sich selbst da, in seiner Kraft und Ein­

sicht hat er zu wirken, hat selbst die eigene Existenz und das Haus­ wesen zu begründen und zu erhalten.

Das Kind ihm gegenüber ist

das Bild der Ohnmacht, der Hülflosigkeit, der Abhängigkeit.

Es ver­

steht sich, daß der Heiland damit nicht zielt auf die Verhältnisse gegen­ über den Mitmensche», der Welt, als wäre der Eintritt in's Reich Gottes durch irgend welch schwächliches unselbstständiges Wesen bedingt. Vielmehr bezieht sich die ganze Rede allein auf unser Verhältniß zu Gott.

Eben so versteht es sich, daß wir es hier allein mit dem reli­

giös-sittlichen Leben zu thun haben.

Griechen und Juden zur Zeit des

Erlösers, sofern sie sich zur Offenbarung seiner Gnade und Wahrheit feindlich verhielten, wollten eben Männer und nicht Kinder sein.

Der

Grieche rühmte sich der Weisheit, die er in der eignen Arbeit seiner Schulen, durch seine eigne Kraft sich errungen hatte, sie war ihm das Licht des Lebens, der Glanz des Ruhmes, der Stern der Hoffnung. Der Jude, wie er im Pharisäerthum sich abgeschlossen und in seiner Weise vollendet hatte, trug vor sich her seine Gerechtigkeit, das heißt, die Erfüllung des Gesetzes, wie er durch seine Kraft allein sie voll-

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bracht hatte, wie sie darum sein Verdienst war, wie sie deshalb für ihn seinen eigenthümlichen Lohn forderte. Die Gerechtigkeit, die er hatte, sicherte ihm von vorn herein den Ehrenplatz im Himmelreich. Gott mußte sich gleichsam glücklich schätzen, ihn für dieselbe überschwäng­ lich belohnen zu können. Der Herr in seinem Wort sprach zu beiden: ES sei denn, daß ihr von Neuem geboren werdet, so könnet ihr nicht in daS Himmelreich kommen, es sei denn, daß ihr euch begebet eures eingebildeten Reichthums an Weisheit und Gerechtigkeit, so bleibt ihr der wahren Gottesschätze auf immer ledig. So führt es Paulus in seinem Korintherbrief aus in Beziehung auf die Weisheit der Griechen, stellt dar, wie die höchste Weisheit derselben, weil ohne Gott entstanden und gewachsen, sich als Thorheit erwiesen habe. War dem nicht so? Wohl geht durch das Forschen und Denken der Weisen hindurch ein Ringen nach dem wirklich Wahren, ein Streben selbst der Gottheit entgegen. Aber diese Strömung wurzelte gerade in dem Gefühl, das erst aus Gott geschöpft werden mußte, war darum Weissa­ gung auf Christum und hat in ihm ihre Erfüllung gefunden. Die, welche zur Zeit Jesu und nach ihm diesem Zuge folgten, gaben sich gern hin dem Evangelio und aufgebend den Männerstolz setzten sie sich zu seinen Füßen als lernende Kinder. Aber die andere Seite griechi­ scher Weisheit, abgekehrt dem Sehnen nach der Gottheit, zugekehrt allein der Welt und dem hochmüthigen Selbst, endet in der Verzweiflung an aller Wahrheit, im Zweifel nicht nur an Recht, an Pflicht, sondern selbst an der eignen Existenz und an der Existenz der Welt. Ihr letztes Wort ist die Frage: „Was ist Wahrheit?" und bekundet damit ihre Selbstauslösung. Ja Paulus hatte mit seinem Zeugniß Recht, daß die Weisheit Griechenlands zur Thorheit geworden war. In Israel ist stets lebendig gewesen ein Ringen nach der rechten, vollen, ganzen Er­ füllung des göttlichen Willens. Aber wo das war, da erkannten sich die aufrichtigen Israeliten als die Armen, die erst auf den Trost Israels zu hoffen hatten, da schauten sie aus, weil sie täglich inne wurden, daß sie sündig waren, nach dem Helfer, Heiland, Tröster, den man nennen würde*): „Herr der unsere Gerechtigkeit ist," der ihnen zur *) Jeremias 23, 6.

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wirklichen und wahren Gerechtigkeit helfen sollte. Was sie in treuem Ringen erstrebten, Weissagung auf Christum war's. In Christo ward ihr Ringen gekrönt, ward ihr Streben Wirklichkeit und Leben, indem sie als bedürftige Kinder von ihm mit Himmelsbrod sich nähren ließen. Aber wenn auf anderer Seite die pharisäisch Gerichteten durch sich und aus sich selbst ohne Gottes Hülfe die Gerechtigkeit zu erlangen suchten und der Satzungen viel und die Denkzettel breit machten, so war das letzte Ergebniß eine Gerechtigkeit, die vollste Ungerechtigkeit war, in welcher der ewige Gehalt des göttlichen Willens, die Frömmig­ keit, Liebe, Barmherzigkeit fehlte. „Werdet wie die Kinder," ruft der Herr, leget ab, worin ihr euch Männer zu sein dünkt, erkennet eure Armuth, eure Dürftigkeit, eure Leerheit. Aufgegangen ist in Christo die wahre Gerechtigkeit, der vollendete Gottesgehorsam, aufge­ gangen in ihm zugleich das Licht göttlicher erbarmender Liebe. Werdet iitne, daß ihr vor diesem Lichte zu Schanden werdet mit eurer Gerech­ tigkeit, daß ihr wohl Schuld und Schulden habt; aber keine Verdienste, daß ihr darum zunächst nehmen müßt die Liebesgabe der Versöhnung und der Vergebung. Werdet inne, daß ihr ohne Gott, ohne die innigste Verbindung mit ihm, ohne das Zuströmen seiner heiligen Liebeskraft nicht daö wahrhaft Gute in euch herausbildet und im Leben vollbringet. Tretet als die Kinder zu ihm, auf daß ihr von ihm nehmet, was euch gebricht, Erlösung, neues himmlisches, heiliges Leben. Ihr könnt viel wissen, viel Kenntnisse sammeln, viel erforschen; werdet inne, daß ihr ohne Gott bei all eurem Wissen in Finsterniß bleibt, daß ihr des rechten Lichtes, der Wahrheit, der Weisheit entbehrt. Kommet zu ihm und laßt euch von ihm erleuchten, daß ihr zunächst achtet auf seine heilige Stimme in eurer Brust, auf euer Gewissen, daß im Bunde mit dem Gewissen das Licht in euch, die Vernunft, sich heilige für Gott und so aufhöre finster zu sein. Kommet zu ihm und achtet auf sein Walten in der Geschichte des menschlichen Geschlechtes, auf seine Erziehung der Völker, auf sein sich Ausschließen durch Seher und Propheten, auf seine volle Offenbarung in Jesu, dem Licht der Welt. Kommet, nicht daß ihr bringt, sondern daß ihr nehmt, nicht daß ihr erleuchtet, son­ dern daß ihr erleuchtet werdet. Als die Armen werdet ihr reich ge-

42 macht, als die bedürftigen, hülflosen Kinder sollt ihr im Vaterhause Gottes versorgt und erfüllt werden mit seinen Gütern, soll euch sein Geist in alle Wahrheit leiten, seine Kraft euch mit der Gerechtigkeit bekleiden. Das gilt noch heute.

Wer gerecht und weise sein will ohne

Gott, der ist fern vom Reiche Gottes, der fern vom Christenthum und seine Weisheit und Gerechtigkeit wird nothwendig zu Schanden werden. Wer eintreten will in den heiligen Kreis, in Demuth werde er wie ein Kind, erkenne Gott gegenüber seine tiefe Bedürftigkeit und Abhängig­ keit, auf daß er von ihm und durch ihn in rechter Empfänglichkeit, im Hunger und Durst des gesunden Kindesalters, nehme, was ihm ge­ bricht.

Kommt uns aber jemals die Neigung zu fragen: Wie groß sind

wir doch im Himmelreich? des Herrn Wort mahne uns dann jedes­ mal zur Prüfung, ob wir auch wirklich gut angefangen haben, damit, wenn unser Anfang mit dem Wesen der Oberflächlichkeit behaftet war, wir uns vertiefen, wir es von Neuem mit dem Anfang gründlicher nehmen, nicht weise, nicht gerecht sein wollen durch uns; sondern allein durch Gott in der Gemeinschaft mit dem, der für uns Gottes Wahr­ heit und Gerechtigkeit in ihrer Offenbarung ist. II.

Dazu werden wir um so mehr ermuntert, wenn wir hören,

daß das Sein wie ein Kind auch das Fortschreiten und Wachsen im Reiche Gottes, im Christenthum bedingt.

„Wer sich nun erniedrigt

wie dieses Kind, der ist der Größere im Himmelreich."

Also

wer immer Gott gegenüber sich zn dieser Niedrigkeit hält, daß er be­ dürftig, abhängig von ihm bleibend, auch nur von ihm und durch ihn nehmen will, der wird der Größere, der wird wachsen und zunehmen. Sind wir da nicht bei einem sich ausschließenden Widerspruch angelangt? Christus fordert, sich zu erniedrigen, wie das Kind, fordert klein zu bleiben.

Ist des Kindes Bestimmung nicht das Großwerden?

fordert: Bleibt niedrig wie die Kinder.

Christus

Sein Apostel hält uns das

Mannesalter in ihm vor, daß wir zu dem hinanwachsen, mahnt uns*): „Seid männlich und seid stark!" und dem Apostel.

Also ein Widerspruch zwischen Christo

Aber, wie gesagt, der Widerspruch wäre schon beim

*) 1. Korinther 16, 13.

43 Erlöser selbst; denn wie er hier mahnt, zu bleiben wie ein Kind, so spricht er an anderm Ort*): Himmel vollkommen ist."

„Seid vollkommen, wie euer Vater im

Ja gäbe es solchen Widerspruch, dann wäre

er schon in unserm Wort enthalten.

Das sich Erniedrigen wie ein Kind

und das Größersein und Größerwerden ist ja unmittelbar wie Grund und Folge, wie Ursach und Wirkung mit einander verknüpft. wir nur den Herrn recht.

Verstehen

Mit seiner sinnbildlichen Darstellung und

Rede will er doch allein, wie schon im Eingang bemerkt wurde, unser Verhältniß und Verhalten zu Gott uns malen.

Also das wird der

Sinn sein, daß wir in lebendiger Abhängigkeit zu Gott stehen, im be­ ständigen Nehmen und Schöpfen verharren, in der Demuth, die Alles ist und zu sein strebt allein durch die ewig starke Gnade des treuen Vaters in dem Sohn. im Widerspruch

Ist den» aber das Wachsen und Erstarken

mit der Abhängigkeit von

der Quelle der Kraft?

Jedes Einzelleben, wenn es entsteht, führen wir zurück auf den ge­ heimnißvollen, ewigen, göttlichen Urquell des Lebens, können nur daher sein Werden uns erklären.

Wenn nun dieses Einzelleben in seinem

Reichthum, zu seiner ganzen Schönheit und Kraft sich entfaltet, sollte diese reiche Entwicklung möglich sein ohne Zuströmen der Lebenskräfte aus jenem ewigen Quell?

Wir legen die Eichel in den Boden der

Erde und nur die fruchtbare, mütterliche Kraft der Erde ist es, durch welche der Keim sich entfaltet und als zartes Pflänzchen hervortreibt. Das anfangende, werdende Leben stand in vollster Abhängigkeit von der Erde.

Nun betrachte die tausendjährige Eiche, den Riesen unter seinen

Genossen im Walde, den hohen, königlichen Baum mit seinen weithin schattenden herrlichen Zweigen!

Ist er in seiner Kraft und Stärke

jetzt weniger abhängig vom Boden der Erde?

Ist es nicht umgekehrt

so, daß je höher er emporwuchs, je weiter er sich ausbreitete, daß er auch desto tiefer mit seinen Wurzeln in den mütterlichen Schooß der Erde drang, daß nur darin, in diesem Hineindringen, in diesem be­ ständigen Abhängigbleiben, beständigem Nehmen der Kraft das Geheim­ niß seines Wachsthums,

*) Match. 5, 48.

seiner Größe und Herrlichkeit ruht?

Wir

44 kommen so oft und so gern auf das schöne,- tiefsinnige Gleichniß des Herrn vom Weinstock und den Reben, wie eS seine Gemeinschaft mit den Jüngern abbildet.

Wenn zuerst die Rebe als zarter Trieb her­

vorbricht, wie aus dem Stamm sie kommt, so wissen wir auch, sie schöpft aus seiner Kraft, aus seinem Leben.

Ist diese Rebe erstarkt,

hat sie wieder neue Ranken nach allen Seiten getrieben, prangt sie in ausgebreiteter Fülle des Laubes, im Reichthum der Trauben, ist sie dann dies Weitere geworden ohne den Weinstock oder bezeugt sie in der Fülle ihres Lebens und Segens nicht vielmehr, wie innig und unverletzt ihre Einheit mit dem Stock sich erhalten, wie sie in der vollsten Ab­ hängigkeit, im beständigen Nehmen von ihm geblieben?

Ja es ist eben

göttliches Gesetz, daß alles Leben nur durch das, wodurch eö geworden, fortschreitet und wächst.

In dem Entstehen des Lebens liegt auch das

Gesetz, die Bedingung seiner Entwicklung, seines Heranreifens, seiner Vollendung.

Fängt das Christenthum, das Leben im Reiche Gottes,

nur an, indem wir Gott gegenüber werden wie die Kinder, eS kann nur wachsen, wenn wir so bleiben.

Je tiefer wir als die bedürftigen

Kinder mit den Wurzeln des geistigen Lebens in den Boden der gött­ lichen Liebe hineindringen und da Lebenskraft suchen, desto mehr wer­ den wir heranwachsen zu fruchtreichen, schönen, gesegneten Bäumen im Garten Gottes.

Je mehr wir als Kinder von Gottes Liebe nehmen,

desto mehr werden wir Männer werden in Christo.

Wer sich er­

niedrigt wie dieses Kind, der wird der Größere im Himmel­ reich.

Laßt uns für diese Wahrheit noch einzelne Züge hervorheben.

III.

Das Kinderleben, wenn wir es in seiner ächten Natur in's

Auge fassen, es ist so anziehend, so lieblich.

Betrachte dir das Kind

in seinem glücklichen, in sich befriedigten Wesen und Treiben.

DaS

glückliche Kind ist es dadurch, daß es sich stets unbewußt als Kind fühlt, in seiner Abhängigkeit von Vater und Mutter, daß es fühlt den Reich­ thum der Liebe in Vater- und Mutterbrust als seinen himmlischen Segensqnell auf dieser Erde, daß es auch unbewußt ist voll herzlichen Dankes.

Das ist so liebenswürdig, weil es im Kleinen und am Klei­

nen das sittlich Große darstellt.

In dieser Welt sein und die Welt

anschauen als das unendlich große Vaterhaus Gottes, als die wunderbar

45 schön gegliederte und gestaltete Gesammtheit in der Unendlichkeit, als die herrliche Offenbarungsfülle der Weisheit und Liebe, daran und darin und damit an Gott selbst als an dem ewigen Urgrund aller Herrlich­ keit sich innig erfreuen, und dafür von Herzensgrund danken und loben, das ist nichts Kleines, religiösen Leben.

das ist Großes im Himmelreich, im sittlich

Wer so sich allewege im Herrn freut, wer so stets

innig dankt und preist, zu dem sagt der Herr: dein Glaube hat dich gerettet, ist wirklich ein solcher, in dem dein Heil fest und sicher be­ gründet ist. O diese Freude am Herrn, an seiner Welt, an seinem Walten in der Welt, diese innige Dankbarkeit in der Freude, da wird sie ge­ deihen, wo man Kind ist und bleibt dem ewigen Gott gegenüber, wo man voll Demuth stets im Gefühl der Abhängigkeit bleibt, stets in dem Bewußtsein, nehmen zu müssen, zu können und zu wollen von Gott Gnade um Gnade!

Je mehr aber dies Gefühl und dies Bewußtsein

zurücktritt, desto mehr verkümmert und schwindet die kindliche Freude und Dankbarkeit, wer sich

desto kleiner wird man im sittlichen Leben.

erniedrigt wie ein Kind, nur der

Nur

wird der Größere im

Himmelreich. Das ist am gutgearteten Kinde so lieblich, daß es bei aller Fröh­ lichkeit stets achtet auf der Eltern Wort, ja auf den Wink ihres Auges, bereit zu folgen, Gehorsam zu üben, selbst das Angenehme und Liebe, wenn der Eltern Wille dagegen ist, zu entbehren.

Es ist das abermals

nichts Geringes, was uns das Kind abbildet, vielmehr Großes, Herr­ liches auf dem Gebiet der Sittlichkeit.

Weshalb sehen und verehren

wir in Christo das vollendete Vorbild alles Guten?

Weil sein Leben eben

das des vollendeten Gehorsams war, weil es ihm Speise, ihm Genuß, ihm Lebenserhaltung war, zu thun den Willen seines Gottes, zu treiben sein Werk, weil er im Gehorsam das Schwerste trug und das Bitterste litt, auch dem Kreuzestods aus Ergebung in den Willen des Vaters sich unterzog.

Je gehorsamer aus tiefem Herzensgründe gegen den

heiligen Gott im Handeln und Leiden, desto mehr ist man Mann in der Sittlichkeit, desto größer im Reiche Gottes.

Aber wie wächst der

Gehorsam im Gemüthe? Nur in dem Maaße, als man eben als Kind sich völlig abhängig weiß von der göttlichen Gnade, als man demüthig

46 Friede und Kraft aus dem Born der göttlichen Liebe schöpft. Je mehr man aufhört, Gott gegenüber als abhängiges Kind sich zu fühlen, desto mehr wird abnehmen der Gehorsam, desto geringer wird die Sittlich­ keit werden.

Nur wer sich Gott gegenüber stets erniedrigt wie ein

Kind, der wird der Größere im Himmelreich. Ein Kind fern von Vater und Mutter im ungekannten Gewühl und Getriebe der Welt, wie wird es eine Beute der Angst, der ver­ zehrenden Furcht!

Aber hat es Vater und Mutter zur Seite, dann

mag manches Drohende kommen.

So lange aus dem Auge der Eltern

noch die schützende Liebe spricht, so lange in der Eltern Antlitz noch unverzagte Ruhe sich ausdrückt, ist das Kind auch unverzagt und ge­ trosten, freudigen Muthes.

Ja wollte Zagen sich seines Gemüthes

bemächtigen, es bedarf nur des tröstenden, aufrichtenden Wortes aus dem Munde des Vaters und kühn schaut das Kind hinein in die Welt, kühn blickt es den Gefahren entgegen.

Wiederum bildet sich uns ab im

kindlichen Wesen das sittlich Große, Edle, Schöne.

Wahrheit, Liebe,

Heiligkeit, sie können in dieser Welt nur im Kampf gegen Lüge, Selbst­ sucht und Gottlosigkeit ausgebildet und bewahrt werden.

Das Christen­

thum wurde deshalb in alter Zeit schon als Kriegsdienst Christi bezeichnet. Es waffnen sich in dieser Welt die Ungerechtigkeit und Selbstsucht so häufig mit blendendem Lug und Trug, mit Drohung und roher Gewalt, um der Wahrheit, dem Rechte, der Gerechtigkeit den freien Lauf zu hemmen.

Da ist für den, der wirklich ein Gottesmensch, ein religiös

sittlicher Mensch sein will, die unverzagte geistige Tapferkeit geboten, die nach Christi Wort sich nicht fürchtet vor denen, die den Leib tödten und die Seele nicht mögen tobten, die um keinen Preis sich zur Ver­ letzung der Wahrheit, der Gerechtigkeit und Heiligkeit bewegen läßt, die lieber in frischem Muthe alles Unrecht duldet, als irgendwie das Unrecht äußerlich oder geistig unterstützt.

Ja zur

wahren sittlichen

Größe gehört jene Tapferkeit des Geistes, in welcher die Apostel einst sprachen: Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen, in wel­ cher viel Tausende der Märtyrer zu ihrem Tode wie zum Siege, wie zum glorreichen Triumphe, gingen.

Wo wird diese mannhafte Tapfer­

keit, die jedes Leiden zu tragen vermag, sich bilden und erhalten? Da,

47 wo man beständig in dem Verhältniß des Kindes zu Gott bleibt, be­ ständig stark zu werden sucht allein durch seine Kraft.

Da, wo man

ohne Gott ein Mann sein zu können sich einbildet, wird die Schmach nicht ausbleiben, in welche einst der verleugnende Petrus versank. Weil ein Luther als Kind seinem Gott gegenüber beharrte, darum konnte er einer Welt voll Haß und Feindschaft gegenüber singen: Burg ist unser Gott, ein gutes Wehr und Waffen."

„@hV feste

Weil ein Paul

Gerhardt hier einst in dieser Gemeinde als armes Gotteskind sang: „An mir und meinem Leben Ist nichts auf dieser Erd', Was Christus mir gegeben, Das ist der Liebe werth,"

weil er so als Kind stets von dem Reichthum der Gottesliebe nahm, darum konnte er seinem Heldenthum, wie er es im Leben bewährte, im Gesänge treuen Ausdruck geben: „Die Welt, die mag zerbrechen, Du bleibst mir ewiglich, Kein Brennen, Hauen, Stechen Kann trennen mich und dich; Kein Hungern und kein Dürsten, Kein Armuth, keine Pein, Kein Zorn des großen Fürsten Soll mir ein Hindrung sein."

Auch hier: wer sich erniedrigt wie dieses Kind, der wird der Größere im Himmelreich sein. Endlich noch Eins, was der Erlöser im Text selbst besonders hervorhebt.

Hinein den Blick in die Kinderwelt eines Hauses, in wel­

chem ein guter, göttlicher Geist waltet!

Die geschwisterliche Innigkeit

und Einigkeit, wie ist sie doch so überaus reizend und anziehend, wie ist es doch so lieblich, wenn Bruder und Schwester in ihren Spielen, bei ihren kleinen Bedürfnissen mit solcher Lust sich unterstützen und helfen!

Im Spiel bilden sie ab die Welt, da erwählen sie unter sich

Führer, Hauptleute, Könige.

Aber wie wird dies doch auch nur fest­

gehalten im Spiel, zur Uebung und Entfaltung der Kräfte, zur Dar­ stellung dieses und jenes menschlichen Thuns.

Dabei bleibt das Gefühl

der Gleichheit das Herrschende, was die Führer, Hauptleute, Könige mit der geführten Schaar innigst verknüpft.

In

diesem Zuge

der

48 Kinderwelt wird das Höchste des sittlichen Lebens, die Liebe, das Band der Vollkommenheit uns vor die Augen gemalt, das, wozu der Herr im Text ermahnt, wenn er spricht: „Wer ein solches Kind, (ja einen jeden Kleinen und Geringen,) aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf."

Das ist das sittlich Schönste, wenn so die aufopfernde Liebe in

allen erkennt das Gottesbild, in allen segnet die Erlösten oder zu Er­ lösenden Christi.

Die göttliche Weisheit hat geordnet das hohe, heilige,

schöne Spiel dieses Lebens mit den mannichfachen Ueber- und Unter­ ordnungen, mit den vielen Stufen der Stände und der Berufsarten, damit darin sich entwickeln die reichen Kräfte der Menschenkinder, damit darin zur Darstellung komme, was diese Kräfte im Dienste Gottes zu leisten vermögen.

Das ist das sittlich Höchste, wenn Jeder ausharrt

auf seiner Stelle und seine Treue im pflichtmäßigen Gebieten und Ge­ horchen bewahrt und doch zugleich gedemüthigt und gehoben sich fühlt durch das Bewußtsein der wesentlichen Gleichheit vor Gott, wenn so die Ersten und die Letzten in menschlicher Ordnung sich als Gottes­ kinder, darum als Brüder ansehen, geordnet und berufen zu jedem heilsamen Dienst der Liebe unter einander.

Wo wird diese beseligende

Liebe walten, wo wird sie von dem tödtlichen Rost des Hochmuthes nicht leiden, nicht zerstört werden?

Nur da, wo man gegenüber der

ewigen Macht der Liebe das hülflose Kind bleibt, wo man als solches Kind aus dieser Liebe lebt.

Da ist dem Hochmuth, da ist aller Willkür

und Herrschsucht die Wurzel abgeschnitten, da begreift und übt man des Heilandes Vorschrift*): „Ihr sollt euch nicht Meister nennen lassen, denn einer ist euer Meister, Christus, ihr aber seid alle Brüder," be­ greift, daß wer am mehrsten dient, am größten ist im Reiche Gottes. Da wächst und schreitet man fort im Christenthum.

Kurz: Wer sich

erniedrigt wie dieses Kind, der ist, der wird der Größere im Himmelreich! *) Matth. 23, 8.

Amen.

Zwei Wege des Lebens, und doch einer. Text: Lukas 10, 23 — 37. Und er wandte sich zu seinen Jüngern und sprach insonderheit: Selig sind die Augen, die da sehen, das ihr sehet.

Denn ich sage euch: Viele Propheten und Könige

wollten sehen, das ihr sehet, und haben es nicht gesehen; und hören, das ihr höret, und haben es nicht gehört.

Und

siche, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muß ich thun, daß ich das ewige Leben ererbe?

Er aber sprach zu ihm: Wie steht im Ge­

setz geschrieben? Wie liesest du? Er antwortete und sprach: Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Ge­ müthe, und deinen Nächsten als dich selbst.

Er aber sprach

zu ihm: Du hast recht geantwortet; thue das, so wirst dn leben.

Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach

zu Jesu: Wer ist denn Jesus und sprach:

mein Nächster?

Da antwortete

Es war ein Mensch, der ging von

Jerusalem hinab gen Jericho und fiel unter die Mörder; die zogen ihn aus und schlugen ihn und gingen davon und Lieder: 802. 674. 561, 8. ThomaS, Predigten.

50 ließen ihn halb todt liegen.

Es begab sich aber ohngefähr,

daß ein Priester dieselbe Straße hinab zog, und da er ihn sah, ging er vorüber.

Desselben gleichen auch ein Levit,

da er kam bei die Stätte und sah ihn, ging er vorüber. Ein Samariter aber reiste und kam dahin, und da er ihn sah, jammerte ihn seiner, ging zu ihm, verband ihm seine Wunden und goß darein Oel und Wein; und hob ihn auf sein Thier und führte ihn die Herberge und psiegte sein. Des andern Tages reiste er und zog heraus zwei Groschen, und gab sie dem Wirth und

sprach zu ihm: Pflege sein,

und so du was mehr wirst darthun, will ich es dir be­ zahlen, wenn ich wieder komme.

Welcher dünkt dich, der

unter diesen dreien der Nächste sei gewesen dem, der unter die

Mörder gefallen war?

herzigkeit an ihm that.

Er sprach:

Der die Barm­

Da sprach Jesus zu ihm: So

gehe hin und thue deßgleichen.

o

,On unserm verlesenen Abschnitte der heiligen Schrift, wie er aus kirchlicher Vorzeit als biblische Lcction eines bestimmten Sonntages uns überkommen ist, sind zwei Begebenheiten verknüpft, die, wenn sie der Zeit nach sich an einander reihten, auch einen gleichen Zielpunkt des Lehrinhaltes gemeinsam haben, und, wenn sie den Herrn verschie­ denen Hörern gegenüber zeigen, auch wieder in der Ausführung, in dem Inhalte eine bedeutende Verschiedenheit durchblicken lassen.

Eine Se­

ligpreisung enthalten die Worte des Erlösers an seine Jünger.

Ueber

die Erlangung des ewigen Lebens fragt der Schriftgelehrte, und erhält darüber Jesu Belehrung.

Offenbar sind ewiges Leben und Seligkeit

Bezeichnungen desselben Gegenstandes. sagt der Herr:

Zu dem Schriftgelehrten aber

Thue das (nämlich was das richtig verstandene Gesetz

gebietet), so wirst Du leben, und bekräftigt diese Forderung durch das unübertrefflich schöne Gleichniß. selig um das, was sie sehen.

Dahingegen preist er seine Jünger

Der Herr knüpft also die Seligkeit, das

51 ewige Leben, als eine Folge, einmal an ein bestimmtes Thun, und dann an ein bestimmtes Sehen.

Wie verhält sich das? Gibt es in

Wirklichkeit zwei verschiedene Wege zum ewigen Leben? Oder wenn nicht, wenn nur einen, sollte der Erlöser mit sich selbst in Widerspruch sein, und dasjenige, was er eben gelehrt hatte, durch ein Anderes wieder aufheben? Gewiß wir weisen letztere Annahme entschieden ab, und sind von vornherein überzeugt,

daß des Erlösers Lehren unter

einander im schönsten Einklänge stehen.

Es muß uns aber darauf an­

kommen, uns stets auch klare Einsicht darüber zu verschaffen. dazu unsere heutige Betrachtung beitragen.

Möge

Laßt uns zu dem Zwecke

zuerst die beiden Wege der Seligkeit, wie unser Herr sie dar­ stellt, jeden für sich näher in's Auge fassen, um sodann das gegen­ seitige Verhältniß zwischen beiden im rechten Lichte zu sehen. I.

„Selig sind die Augen, die da sehen, das ihr sehet." Ohne Zweifel weist damit Christus auf den Gegenstand hin, den zu sehen seine Jünger beseligte.

So hatte er ja in der Synagoge zu

Nazareth mit ausdrücklichen Worten *), aus denen alle Hörer eine un­ widerstehliche Macht der Holdseligkeit herausfühlten, es bezeugt, daß in ihm der von Jesaias Geweissagte erschienen sei, um als der mit dem Geist Gesalbte die Botschaft des Heils zu bringen, die Heilung der zerschlagenen Herzen, die Erlösung der Gefangenen, kurz um zu bringen das angenehme Jahr des Herrn.

Weil ihr mich, nach dem Propheten

und Könige ausschauten, auf den der Väter Sehnen und Hoffen ge­ richtet war, sehet, so seid ihr selig.

Damit ist indeß nothwendig ein

eigenthümliches Sehen gemeint. Pharisäer, Schriftgelehrte, Massen des Volkes sahen Jesum, und sie preist er nicht selig.

Wiederum, wie

Viele haben bis auf den heutigen Tag seine äußere Gestalt nicht er­ blickt, die gewiß mit eingeschlossen sind in das Wort: „Selig sind die Augen, die da sehen, das ihr sehet!"

Um den Sinn dieser Worte

richtig zu verstehen, laßt uns Folgendes erwägen.

*) Luc. 4, 18 ff.

In unsern Sinnen,

52 und grade besonders im Auge, berührt und durchdringt sich Geist und Leiblichkeit auf'S Innigste.

Manches Thier übertrifft den Menschen

an natürlicher Schärfe des Auges sehr weit, und sieht doch wer weiß wie viel weniger, als der Mensch, weil mit seinem Auge sich nicht die Kraft der menschlichen Seele verbindet. Menschen.

So bei den verschiedenen

Wie das Auge sieht, was eö erschaut und erkennt, das

hängt recht wesentlich von der Beschaffenheit des Geistes und Gemüthes ab.

Daher redet der Erlöser von einfältigen Augen, und stellt ihnen

Schalksaugen gegenüber.

Das einfältige Auge nimmt, wie er lehrt,

das Licht auf, und verbreitet dasselbe über und durch das ganze Leben; das Schalksauge versetzt den ganzen Leib, Finsterniß.

den ganzen Menschen in

Die Augen der Pharisäer waren, so hatte sie Christus er­

kannt, nicht einfältig, waren Schalksaugen, sie waren eben so trügerisch, wie ihre Herzen heuchlerisch.

Der hochmüthige, irdische, selbstische Sinn

regierte sie, deshalb, wie sie auch täglich Jesum vor Augen hatten, nicht ihn sahen sie, sondern nur das Zerrbild von ihm, wie es ihre unreine Einbildungskraft ihnen malte.

Darum selbst bei seinem Kreuze wußten

sie noch nicht, was sie thaten.

Einfältig, d. h. vom Geist ohne Falsch

regiert, waren die Augen der Jünger, darum sahen sie Jesum, und lernten immer besser ihn sehen, wie er in Wirklichkeit war.

Und wie,

was haben sie in ihm mit ihren einfältigen Augen gesehen? Den ächten Menschensohn, den Holdseligsten der Menschenkinder, den Menschen voll heiliger Liebe, den Mann nach dem Herzen Gottes. Schauen nicht eine beseligende Kraft?

Ist in solchem

Warum schmücken wir doch die

Plätze unserer Stadt mit den Bildsäulen der großen Männer unseres Volkes? Ist eö damit etwa allein auf Verschönerung abgesehen?

Viel­

mehr soll der Anblick derselben das lebende Geschlecht mit dem er­ hebenden Bewußtsein erfüllen,

welch hoher, edler Geist in unserem

Volke waltete und seine Besten in besonderer Stärke beseelte, damit aus diesem erhebenden Bewußtsein auch den Anschauenden Kräfte der Veredlung erwachsen.

Nun in Jesus das ewige Urbild der Mensch­

heit Fleisch und Blut, d. h. wirklichstes Leben geworden, als solcher damals durch die Hülle der körperlichen Erscheinung, heute durch die Hülle der von ihm zeugenden evangelischen Geschichte in ganzer Herr-

53 lichkeit strahlend, — o welch erhebendes Gefühl ihn so zu sehen, in ihm die wahre Vollendung des menschlichen, gottebenbildlichen WesenS zu schauen, welche Kräfte sittlicher Belebung, die auS diesem mit seligem Gefühl sich verknüpfenden Sehen entspringen! •— Dazu tritt noch ein Anderes.

Grade weil Jesus der heilige,

vollendete Mensch war, darum ist er zugleich das, wovon das Aller­ heiligste im Tempel zu Jerusalem ein Schattenbild sein sollte, die Hütte, die Wohnung Gottes in der Welt, in der Menschheit. sem reinen Menschensohn konnte,

In die­

wollte, mußte die Gottheit ihrem

innersten Wesen nach wohnen, in ihn sich als die ewige Liebe ergießen. So wie er deshalb, dem Vater gehorsam, in dieser Welt als Menschen­ kind pilgert, so wird er zugleich dessen inne, daß der Vater in ihm, und er im Vater ist, daß in ihm die volle GotteSoffenbarung dem menschlichen Geschlecht als daS Licht der Welt aufgeht, daß wer ihn sieht, den Vater sieht, daß er es darum ist, in dem Gott sein Volk heimsucht und demselben Versöhnung und Erlösung stiftet.

Sind des­

halb vorhanden gebrochene Herzen, die mühselig die Last ihrer Schuld tragen, sind vorhanden verirrte Seelen, die sich sehnen, in das ver­ lorne Vaterhaus, zur Gotteskindschaft zurückzukehren, sind solche vor­ handen, die, dem Guten nachstrebend, sich doch an sittlicher Kraft noch so schwach, ja noch wie ohnmächtig sich fühlen: — er, in dem Voll­ bewußtsein der Liebe Gottes, bringt die Vergebung, die wahre Er­ quickung, er gewährt wieder das Recht der Gotteskindschaft, er ist wie der Weinstock, der in die Seinen, als in seine Reben, göttliche Kräfte des Lebens hineinströmt.

So haben ihn seine Jünger als den Träger

versöhnender, erlösender, heiligender Gottesliebe gesehen. haben sie mit ausdrücklichen Worten bezeugt,

Solch Sehen

wie wenn es lautet:

„Wir haben geglaubt und erkannt, daß Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes." unserm Texte heißt:

Darin hat es seinen Grund, wenn eS in

„Selig sind die Augen, die da sehen, das ihr

sehet." — Die Rechtfertigung, die Seligkeit allein aus dem Glauben — das ist der Ruf der Reformation, ist das große, Alles in sich ein­ schließende Hauptwort der evangelischen Kirche.

Was ist denn nun

diese Rechtfertigung, diese Seligkeit allein aus dem Glauben?

O sie

54 ist thatsächlich das Hineinschauen mit dem Auge ohne Falsch, mit dem heilssehnsiichtigen Blick in die Tiefen heiliger, versöhnender Gottesliebe, in ihre Entfaltung, ihre Wege und ihre Ordnungen, in diese Liebe, wie sie in der Person, in dem Leben und Sterben Jesu von Nazareth beschlossen ist, wie sie von hier aus als unerschöpflicher und unver­ siegbarer Born hervorquillt und die Menschheit durchfluthet.

Ja, so

Jesum mit einfältigen Augen anschauen, wie er als der vollendete Mensch, eins mit dem Vater, die Menschheit mit dem lebendigen Wasser der versöhnenden Gottesliebe tränkt, das ist gewiß, was wahrhaft be­ seligt, wer ihn so sieht, ist wahrlich auf dem Wege des ewigen Lebens. Nach dem ewigen Leben, und wie es zu erlangen sei, fragte aber auch der Schriftgelehrte.

Da spricht der Heiland nicht, wie man nach

dem Bisherigen erwarten sollte, siehe mich an, lerne mich im rechten Lichte schauen, mich erkennen, sondern verweist ihn, wie es scheint, auf ein ganz Anderes.

Er fragt nach dem, was das Gesetz darüber be­

sage, und als mit richtiger Einsicht der eigentlichste Kern, der wesent­ liche Inhalt deS Gesetzes in der Liebe zu Gott und zu dem Nächsten angegeben wird, da ergeht seine Anweisung: leben."

„Thue das, so wirst Du

Abermals, als der Schriftgelehrte eine nähere Erklärung über

den Begriff Nächster nachgesucht, und in dem Gleichniß vom barm­ herzigen Samariter erhalten hatte, da wiederholt der Herr seine schon gegebene Anweisung noch einmal in dem: gleichen."

„Gehe hin und thue des­

Also das Thun des göttlichen Gesetzes, das Vollbringen

des göttlichen Willens ist hiernach der Weg zum ewigen Leben, oder der Weg zur Seligkeit.

Dabei müssen wir ja bekennen, daß der Wille

Gottes an uns, den wir vollbringen sollen, in unserem Lehrstück die bündigste und lebendigste Darlegung und Erklärung gefunden hat.

Alle

Gottesgebote, als einzelne Ausstrahlungen des heiligen, göttlichen Willens, müssen

sich ja wohl billig und wesentlich zusammenschließen in dem

Einen: „Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüth."

Steht doch unwandel­

bar fest die ewige Grundlage dieses Wortes*):

*) Marc. 12, 29.

„Höre Israel, der

55

Herr unser Gott ist ein einiger Gott." Dieser einige Gott ist aller­ dings der allein Allmächtige, aber er ist auch allein die ewige, heilige Urliebe, er ist so die alleinige Urquelle alles Guten, alles Heils und alles Lebens. So muß er ja auch allein der schlechthin Liebenswerthe sein, so kann und muß er allein nach heiliger, sittlicher Ordnung die nngetheilte ganze Liebe seiner vernünftigen Geschöpfe fordern, so schul­ den diese ihm solche nngetheilte Liebe auf das Unbedingteste. Indeß der Erlöser spricht, als er ein andermal denselben Gegenstand behandelt, noch ausdrücklich von einem andern Gebot, wie auch hier der Schrift­ gelehrte dasselbe thatsächlich hinzufügt. Aber der Herr bemerkt dabei, dies andere Gebot sei dem ersten gleich, sei also wesentlich dasselbe, oder schon in ihm enthalten. Es ist das: „Du sollst deinen Nächsten lieben als Dich selbst." Gewiß ist dies zweite Gebot schon wesentlich in dem ersten. Unsere Nebenmenschen tragen in und an sich Gottes Bild, haben in sich den Odem der Gottheit, die vernünftige Seele, sind dadurch, wie wir, bestimmt zu Gottes Kindern. Da kann es ja wohl nicht anders sein, wahre, tiefinnige Gottesliebe muß sich noth­ wendig auch auf die gottebenbildlichen Wesen, die uns als Gottes Kinder, als unsere Brüder und Schwestern zugeordnet sind, richten. Nur in der Liebe zu den Nebenmenschen tritt Beweis und Zeugniß hervor, daß man Liebe zu Gott besitzt. So bezeugt Johannes treffend*): „So Jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasset seinen Bruder, der ist ein Lügner; denn wer seinen Bruder nicht liebet, den er siehet, wie kann er Gott lieben, den er nicht siehet?" Auf der anderen Seite wird auch der Nächstenliebe ihre eigentliche Quelle, ihre Bewahrung und Nahrung angewiesen. Die Liebe der Menschen untereinander nimmt in mannichfachster Weise unreine Elemente in sich auf; aber alles Unreine ist grade das Gegentheil der wahren Liebe, alles Unreine, das in sie eindringt, wird für sie eine verderbliche, ihr Sein und Leben bedrohende Krankheit. Nur wenn wir mit unserer Nächstenliebe uns immer wieder versenken in die Gottesliebe, wird jene frisch und lebendig bleiben, und sich von jeder Befleckung reinigen. So bilden *) 1. Joh. 4, 20.

56 beide Gebote eins, sind unzertrennlich in einander, wie ein Gott, so ein Gebot. Der Schriftgelehrte hatte das Gesagte selbst in seiner Wahrheit ausgesprochen und damit anerkannt. „Thue das;" Nächsten.

Als ihm aber der Erlöser sagt:

da steigt ihm sofort ein Bedenken auf in Betracht des

„Wer ist mein Nächster?" fragt er.

In dieser Frage liegt

schon ein Urtheil, nämlich das, daß unmöglich jeder Mensch unter dem Wort Nächster begriffen sein könne, daß, wenn also nicht alle Menschen Nächsten sind, auch das Gebot der Liebe sich nicht auf alle Menschen erstrecken kann.

Man hat den Mann getadelt,

nicht allein daß er

Christum nicht erkannte, sondern auch, weil er das väterliche Gesetz nicht richtig verstanden, es durch seine Schuld verdunkelt und verkehrt habe.

In diesem zweiten Punkte ist der Tadel ungerecht.

War ihm

das Licht Christi noch nicht aufgegangen, war er noch ganz an Moseö gebunden, so war es auch die Decke Mosis, die vor dem Auge seines Geistes hing.

Mit anderen Worten: Wie er noch ganz ein Mann des

alten Bundes war, so gab ihm der alte Bund selbst die Anleitung zu der engherzigen Beschränkung der Nächstenliebe.

Die Stelle in den

Gesetzbüchern des Moses, aus welcher das Wort von der Nächstenliebe entlehnt ist, sagt*): „Du sollst nicht rachgierig sein, noch Zorn halten gegen die Kinder deines Volkes; Du sollst deinen Nächsten lieben wie Dich selbst."

Da ist offenbar nach dem Zusammenhange und nach

hebräischer Ausdrucksweise der Nächste das Kind desselben (des jüdischen) Volkes, ist der Volksgenosse, und es wird also in den heiligen Büchern Israels selbst die Liebe auf die Volksgenossen beschränkt.

Laßt es und

nicht vergessen, auch in Beziehung auf das Gesetz steht die alttestamentliche Offenbarung noch nicht auf der Stufe der Vollendung, auch hier umgeben theilweise

noch menschliche,

verdunkelnde Verhüllungen den

ewigen, göttlichen Wahrheitskern, auch hier ist Christus mehr als Moses, ist eben Vollender und Erfüller des Gesetzes, so daß dasselbe durch ihn erst zu seiner ganzen Klarheit und Majestät hindurch dringt.

So

gibt er auch an unserer Stelle durch sein schönes Gleichniß dem Begriff

*) 3. Mos. 19, 18.

57 „Nächster" und dem Gebote der Nächstenliebe die vollendete Deutung, und reinigt das letztere von allen Trübungen menschlicher Engherzig­ keit, wie sie theils noch bei Moses sich finden, theils immer von Neuem aus der menschlichen Brust sich hervordrängen wollen.

Wer ist mein

Nächster, wer ist als solcher der Gegenstand meiner Liebe? Um darauf auS dem Leben und mit dem Thun zu antworten, sind wir stets ge­ neigt zuvor zu fragen:

„Wer kann und will mir Liebe erweisen, wer

kann und will meinem Mangel, meiner Bedürftigkeit abhelfen?" allein möchten wir unS unsere „Nächsten" bestimmen. kehrt es um.

Er spricht zu uns:

Danach

Der Heiland

Wer ist es, der in Noth sich be­

findet, der als der Hülfsbedürftige sehnend ausschaut nach deiner Liebe? Da, wo Du trösten, heilen, helfen, retten kannst, da, wo Dich ein armes Menschenkind um deinen Beistand anruft, da hast Du deinen Nächsten vor Dir, den Du nach dem göttlichen Gebote lieben sollst, wie Dich selbst.

Noch einmal: Wer ist mein Nächster?

Viele bleiben

geneigt, nach den menschlichen Verbindungen, in welchen sie leben, die Frage zu beantworten. glieder der Familie,

Unsere Nächsten, so denkt man, sind die Mit­ die Bürger derselben Gemeinde und desselben

Vaterlandes, besonders auch wohl die Genossen des gleichen Glaubens. Was jenseits dieser Grenzen sich befindet, kann nicht im Umkreise der Nächstenliebe liegen.

Der Heiland stellt im Gegentheil den Samariter,

der als solcher dem Juden gegenüber in recht gründlicher Entzweiung und Verfeindung stand, als Musterbild der rechten Nächstenliebe auf. Damit reißt er alle Schranken nieder, welche die Liebe einengen und verkümmern.

Ob Samariter oder Jude, ob Heide oder Christ uns

begegnen, sobald sie als Hülfsbedürftige unser Mitleid anflehen, unsere Dienste von uns heischen, sind sie unsere Nächsten, und wir haben an ihnen das Gebot zu bethätigen: Du sollst deinen Nächsten lieben als Dich selbst.

Laßt unS, der Anwendung halber, ein wenig in dermalige

Verhältnisse hineinblicken.

Es wird jetzt oft nach allen Seiten ein

großer Nachdruck auf die Christlichkeit gelegt, und immer zuerst und zu­ letzt allein die Liebe gegen die Glaubensgenossen gefordert.

O es ist

eine hohe Sache um die ächte, volle Christlichkeit, und ein köstlich Ding um die Liebe zu den Glaubensgenossen, und ihr wißt, wie wir euch so

58 gern und so dringend z. B. bei der Gustav-Adolfssache dieselbe an's Herz legen.

Aber wen» man in der Weise auf das besondere Christ­

liche Gewicht legt, daß darunter das ächte allgemein Menschliche leidet, dann ist das ein Christenthum, in dessen Innerm schon krebsartige Fäulniß sich birgt, durch welche es nothwendig zu Grunde geht.

Eben

so, wenn die christliche Bruderliebe eine solche Gestalt annimmt, daß dabei die allgemeine Menschenliebe aufhört; dann ist diese sogenannte Bruderliebe unter den Glaubensgenossen nicht mehr wirkliche Liebe, son­ dern im Gegentheil nur die Kehrseite des Hasses gegen Andersgläubige, ist nur eine mit geistlichem Hochmuth versetzte und verbrämte erweiterte Selbstsucht.

Willst Du nur innerhalb der Glaubensgenossenschaft die

Liebe gelten lassen, bald werden nicht mehr Christen, Evangelische,

bald nicht Evangelische,

sondern nur

sondern nur Lutheraner oder

Reformirte u. s. w., bald nicht diese, sondern nur die Genossen einer bestimmten Parteiströmnng, bald nur die Anhänger eines und desselben Lehrers Dir als Nächste gelten.

Ja zuletzt verlangst Du von dem,

der Dir Nächster sein soll, Uebereinstimmung mit Dir in jedem Punkte, und es dürfte Dir am Ende Niemand als Nächster übrig bleiben.

In

der That aber, wenn Du Andersgläubige nicht mehr als Brüder und Schwestern ansiehst, denen Du in Liebe zu dienen schuldig bist: dann hat schon, bewußt oder unbewußt, Haß und blinder Hochmuth von deinem Gemüth Besitz genommen. lerne Dich selbst erkennen.

Prüfe Dich darin doch selbst, und

Um Dich zu rechtfertigen über dein eng­

herziges Versagen der Liebe und ihrer Dienste, klagst Du beispielsweise den Juden an, daß er, auf dem Standpunkte des Gesetzes zurückblei­ bend, das Evangelium, und in demselben Gottes Wahrheit und Liebe verschmäht.

Hättest Du einfältige Augen, um recht zu erkennen, Du

würdest vielleicht wahrnehmen, daß der von Dir Angeklagte in seine Seele, in sein inneres Leben schon viel mehr evangelische Liebe und evangelische Freiheit aufgenommen hat, als Du selber besitzest.

Du

siehst mit Hochmuth und Verachtung auf dieses oder jenes Glied einer sogenannten freien Gemeinde herab, weil Dir die Lehren, die in diesen Gemeinden verkündigt werden, so dürftig und leer erscheinen.

O hättest

Du einige Klarheit des Geistes und ein bescheiden Maaß von Gerechtig-

59

feit und Billigkeit, es bliebe Dir nicht verborge», wie priefterliche und levitische Herzlosigkeit, die einzelnen Gliedern und Ordnungen deiner Glaubensgenossenschaft anklebt, die Armen aus dem Verbände der evangelischen Kirche hinausgetrieben hat, wie sie aber ein gut Theil von Gottesfurcht und Glaubensleben mit in die Fremde sich hinaus­ gerettet haben, mehr davon, als in deinem harten Herzen Platz findet. Darum hinweg mit allen Schranken, welche eine Glaubensgenossenschaft der Uebung dienender, thätiger Liebe ziehen möchte. Die Liebe, gepflegt und geübt im Kreise der Glaubensgemeinschaft, ist grade bestimmt, das Herz weit, weich und mitfühlend zu machen für Alles, was Mensch ist. Nicht anders darf und soll es sein mit Familien- und Vater­ landsliebe. O wohl sind diese uns heilig, o wohl kann es keine wahre Liebe geben, wenn sie sich nicht in diesen engeren, gottgeordneten Kreisen der Menschheit in besonderer Wärme und Kraft bethätigt. Aber nur dann ist Familienliebe und jede andere, die einem engeren Lebenskreise angehört, lauter und gesund, wenn sie selbst der allgemeinen Menschen­ liebe Belebung und Erfrischung zuführt. Nun in Gemäßheit unseres Textes aber sei noch in aller Kürze ein Blick auf die weitere rechte Beschaffenheit der gebotenen Nächsten­ liebe geworfen. Der Samariter kommt zu dem, welcher hülflos in seinem Blute lag. Da: „Es jammerte ihn desselbigen," tief empfindet er das Weh des Andern. Er geht hinzu, und untersucht seine Wunden, er hat den Muth, sich selbst der Gefahr auszusetzen, und die Kraft, falsche Weichlichkeit abzuwehren und klaren Blickes in die Tiefe des Jammers hineinzuschauen. Er gießt Oel und Wein in die Wunden und verbindet sie sorgsam; die Liebe in der Brust treibt zn der helfen­ den That. Er hebt den Leidenden auf sein Thier, führt ihn in die Herberge, pflegt ihn, und als er weiter ziehen muß, reicht er von sei­ nem Gelde dem Wirth, daß dieser die Pflege fortsetze. Da sehen wir die Liebe, die eigne Bequemlichkeit und eignen Genuß entbehret, sich selbst verleugnet, das Ihrige freudig zum Opfer bringt. Das ist die ächte Liebe in ihrer ächten und wahren Natur. In den Tiefen des Gemüthes glühet sie und lebt da ihr eigentliches Leben, das Leid und die Freude der sie umgebenden Welt in sich aufnehmend; aber auS

60

dem Heiligthum des Innern ist sie stets bereit, mit kühnem Muth und hoher Kraft der Selbstverleugnung zur frischen, freudigen Thätigkeit zu schreiten, und unverdrossen in Beständigkeit und Treue auszuhalten. Wie so im Bilde des Samariters uns der Heiland die ächte Liebe ge­ zeichnet hat, so mahnt er uns, sie uns anzueignen, mit dem Worte: „Gehe hin und thue desgleichen." Aber erst dann, wenn wir so die hohe, heilige Menschenliebe üben, werden wir Beweis geben, daß in jedem Menschen uns Gottes Bild heilig ist, und daß wir in der Liebe stehen gegen den, der uns selbst in Liebe nach seinem Bilde schuf. Wenn nun aber wirklich der Mensch seinen Gott von ganzem Herzen und von ganzer Seele liebte, damit in, aus und für Gott lebte, wenn die Liebe zu Gott ihm die stets lebendige Quelle tiefer, thatkräftiger, be­ ständiger Nächstenliebe wäre: sollte er darin nicht zugleich mit Noth­ wendigkeit des ewigen Lebens, der Seligkeit sicher sein? Oder wäre es möglich, voll zu fein der göttlichen Liebe, und leer des göttlichen Friedens? Nein, der Herr hat gewiß recht gesprochen in den Worten: „Thue das, so wirst Du leben." Das wirkliche Vollbringen der Liebe ist der wirkliche und wahrhaftige Weg der Seligkeit. II.

Also die Uebung der Gottes- und Nächstenliebe wirklich und wahr­ haftig ein Weg des ewigen Lebens? Vorher hatten wir einen solchen nach den Worten Christi in dem ihn Sehen gefunden. Wie, gibt's wirklich zwei Wege zum Heil, zur Seligkeit? Können die Einen durch's Thun, die Andern durch's Sehen, die Einen durch das Neben der Liebe, die Andern durch die Aneignung des Glaubens das ewige Leben gewinnen? Gewiß, von dem Einen Gott dürfen wir doch nur Einen Weg des Lebens erwarten, und der, welcher als Erlöser und Licht der Welt sich selbst den Weg nennt, kann Diejenigen, die seiner Führung sich anvertrauen, nur eine und dieselbe Bahn leiten. Wie läßt es sich begreifen, daß der Heiland so unmittelbar hinter einander zwei Wege des Lebens empfiehlt? Erwägen wir zunächst noch genauer, wie doch der Erlöser veranlaßt wurde, auf die Erfüllung der Gebote der Gottes­ und Nächstenliebe, als auf den Weg des ewigen Lebens, hinzuweisen.

61

Thue das, so wirst Du leben! lautet allerdings des Herrn Weisung. Aber die Frage in ihrer besonderen Beschaffenheit hat diese Antwort hervorgerufen. Was muß ich thun, so lautete dieselbe, daß ich das ewige Leben ererbe? Dieser so gestellten Frage lag offenbar die Vor­ aussetzung zum Grunde, daß er, der Schriftgelehrte, vollkommen der Mann sei, um das zu vollbringen, was Gott in seinem heiligen Willen fordert, daß es dazu ihm an keiner Kraft, Trefflichkeit und Tüchtigkeit gebreche. Offenbar die größte Verblendung, in welcher der Mann über sich selbst, über seine eigene Beschaffenheit sich befand. Als treuester und weisester Seelsorger verfährt mit ihm der Erlöser, Alles darauf anlegend, ihn zunächst zur rechten Selbsterkenntniß zu führen. Der göttliche Wille an jeden Menschen soll dem Schriftgelehrten in voller Klarheit zum Bewußtsein kommen, deshalb läßt er ihn selbst die Summe des Gesetzes ihrem Kern und Wesen nach aussprechen. Dann malt der Herr in dem Priester und Leviten dem Schriftgelehrten sein eigenes Bild, deckt ihm das Wesen seines Herzens als Lieblosigkeit aus. Im Samariter aber stellt er ihm das Gesetz in lebendigster Wirklichkeit, gleichsam persönlich geworden, vor Augen, dies Gesetz der Liebe in ihrer ganzen Reinheit, Tiefe und in ihrem ganzen Umfange. Und wenn in diesem klaren Spiegel der Schriftgelehrte sich selbst noch nicht kennen lernte, so setzt der Herr zweimal mit allem feierlichen Nach­ druck hinzu: „Thue das!" Der erste, ernste und aufrichtige Versuch, diesem Worte gehorsam zu werden, hätte den Mann zu der Erfahrung gebracht, die Paulus späterhin machte und aussprach*): „Das Gesetz ist geistlich, ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft," das Gesetz fordert die heilige Liebe, aber mein Herz ist die Wohnstätte der Selbstsucht. Das Ringen, der heiligen Liebe zu genügen, würde auch ihn zu der Klage und Frage geführt haben: Ich armer Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes? Ja wäre er von Jugend auf ein treues Kind der Liebe Gottes gewesen, hätte so die göttliche Forderung der Liebe der Beschaffenheit seines Herzens ent­ sprochen; dann wäre für ihn das Wort des Gesetzes zugleich die Quelle *) Römer 7, 14.

62 der Seligkeit gewesen, weil dasselbe, wie es von Gott ihm zugerufen wurde, so schon der innerste Trieb seines Herzens war. allen

Menschen

Wie er aber

in ihrer natürlichen Beschaffenheit gleich war,

so

konnte das Gesetz in seiner vollen, lebendigen Klarheit, wenn er das Licht desselben aufrichtig und ehrlich in sich aufnahm, bei ihm nur die Erkenntniß seiner Sünde, das Bewußtsein seiner tiefen Verschuldung, das tiefe Gefühl seiner geistigen Armuth erwecken.

Damit aber führte

ja thatsächlich diese Forderung des Herrn nicht zur Seligkeit, sondern vielmehr zum Zagen, zu tiefem Seelenweh. nicht völlig so.

Das verhält sich doch

Grade wo man an dem Lichte der heiligen Gottes­

forderungen in Demuth seiner Selbstsucht und Sünde inne wird, sich seines Hochmuthes und seiner Selbstgerechtigkeit entledigen lernt, da erwacht auch

in

der

Seele die Sehnsucht nach Gottes Liebe und

Hülfe, und diese Sehnsucht wird prophetisch, wird ein mehr und mehr zuversichtliches Hoffen; da wird das Auge wieder einfältig, geöffnet und geschickt, die göttliche Gnade, wenn und wie sie erscheint, zu er­ kennen; da wird der Blick klar, um im Leben Jesu die Liebe kräftig und rein zu sehen, wie er sie selbst im Bilde des Samariters mit so lebensvollen Zügen dargestellt hat, um in dieser Liebe Jesu zugleich die Liebe der Gottheit zu schauen, die sich unsrer erbarmt, uns Ret­ tungshände

entgegenstreckt,

uns Versöhnung und

So dürfen wir des Erlösers Wort:

Erlösung bereitet.

„Thue das" als den Wegweiser

betrachten, der uns eben zu dem Schauen der Liebe Christi führt, ja als die Vorstufe des Weges der Seligkeit, wie ihn Christus in den Worten angibt: „Selig sind die Angen, die da sehen, das ihr sehet." ■— Umgekehrt, wenn wir in Christo seine und des Vaters Liebe ge­ schaut, wenn wir erfahren haben, wie diese Liebe uns tröstet und mit Frieden erfüllt; dann wird durch solch Schauen die Seele in die ächte Tugend voll Lebensfrische und Thatendrang versetzt, und nicht mehr von oben und von außen her, sondern in dem eigensten Innern klingt es mit unwiderstehlicher Kraft: „Lasset uns ihn lieben; denn er hat uns erst geliebt."

Erst dann wird uns in unsern nothleidenden Mit­

brüdern der Herr leibhaftig vor Augen stehen und zu uns sprechen: Was ihr ihnen thut, das thut ihr mir! und wird nnö zur freudigen

63 Erfüllung seines Wortes ziehen: Da wird dann das Gesetz:

„Gehet hin und thut desgleichen."

„Du sollst lieben Gott von ganzem Her­

zen und aus aller Kraft und deinen Nächsten als dich selbst"

aufge­

hoben, und doch wieder im vollsten Sinne des Wortes bewahrt, und kommt nun erst wahrhaft zu seinem Rechte.

Es ist aufgehoben, wie

es, als Gesetz, aus erhabner Ferne her streng und kalt gebietet; aber es wird das Leben des innern Lebens, eS ist fortan beständig darin begriffen, gleichsam in Fleisch und Blut sich umzusetzen. nicht auch hier wieder sagen: das ihr sehet,"

Dies

Müssen wir

„Selig die Augen, die da sehen,

es steht als Wegweiser an dem Lebenswege der uns

gebotenen Liebe, es bildet die Vorstufe, die Pforte und den Eingang zu diesem Pfade des Lebens, ja, freilich noch mehr, es ist auch allein die Quelle,

aus der wir die Kraft und Freudigkeit schöpfen, diesen

Weg zu gehen? daß

beide

So kommen wir damit doch wohl zu dem Schluß,

scheinbar verschiedene Wege zur Seligkeit

nur zwei ver­

schiedene Strecken eines und desselben Heilsweges sind, und daß man die eine nur beschreiten kann,

indem

man auch die andere betritt.

Die Forderung der heiligen Liebe an uns gewährt uns in der Selbst­ erkenntniß die Klarheit des Auges, um in Christus die erlösende Liebe der Gottheit zu erkennen; das Schauen der Liebe Gottes in Christo, die Erfahrung derselben an der eigenen Seele gewährt die Kraft, sich auch der Liebe zu weihen, und ans ihr heraus sein Leben zu gestalten. In diesein Sinne spricht ein großer Lehrer des christlichen Alterthums: „Das Gesetz ist ein Ausfluß der Liebe Gottes; es ist gegeben, auf daß die Gnade gesucht werde, und die Gnade ist gegeben, auf daß das Gesetz erfüllt werde."

Und nun, wir gleichen in gewisser Beziehung

dem Monde, der in den Nächten uns sein mildes, erfreuendes Licht gewährt. Licht,

Dieser treue Begleiter unserer Erde hat in sich selbst kein

und wäre er nach dieser Seite auf sich selbst angewiesen, kein

Strahl des Lichts käme jemals von ihm zu uns herüber.

Aber für

das Licht empfänglich, saugt er die Strahlen der Sonne in sich, mit sie wiederum der Erde zu spenden.

Auch wir sind nicht selbstschöpfe­

risch, können nicht ans uns selbst die heilige Flamme und Glut der Liebe erzengen.

Aber von Gott ist Christus erleuchtet, und von seiner

64 Liebe durchglüht vermögen auch wir es, das Licht und Leben derselben von unS auszustrahlen, und segnend eS in die Mitlebenden hineinzu­ tragen.

So gebe uns denn der heilige Gotteswille an uns helle Augen

und klares Verständniß, daß wir in Jesus der Gottheit Gnade und Liebe, der Menschheit Licht und Leben erkennen, und unser werde das schöne Doppelwort des Erlösers: „Selig sind die Augen, die da sehen, das ihr sehet," und: „Gehe hin, und thue desgleichen."

Amen.

Wer ist mein Nächster? Text:

Lukas 10, 25 — 37.

Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach:

Meister, was muß ich thun, daß ich das

ewige Leben ererbe? im Gesetz

Er aber

geschrieben?

und sprach:

sprach zu ihm:

Wie liesest

du?

Er

Wie steht antwortete

Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von

ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüthe, und deinen Nächsten als dich selbst. Er aber sprach zu ihm:

Du hast recht geantwortet; thue

das, so wirst du leben.

Er aber wollte sich selbst recht­

fertigen und sprach zu Jesu: Wer ist denn mein Nächster? Da antwortete Jesus und sprach:

Es war ein Mensch,

der ging von Jerusalem hinab gen Jericho und fiel unter die Mörder; die zogen ihn aus und schlugen ihn und gingen davon und ließen ihn halb todt liegen.

Es begab sich aber

ohngefähr, daß ein Priester dieselbe Straße hinab zog, und da er ihn sah,

An merk.

ging er vorüber.

Desselben gleichen auch

Wie sehr sich auch diese und die vorige Predigt ihrem Inhalt nach

berühren, so dürfte es doch an der Berechtigung, sie beide zu geben, nicht fehlen. — Lieder: 32. 669. 672, 8. ThomaS, Predigten.

66 ein Levit, da er kam bei die Stätte und sah ihn, ging er vorüber.

Ein Samariter aber reiste und kam dahin, und

da er ihn sah, jammerte

ihn seiner, ging zu ihm, ver­

band ihm seine Wunden und goß darein Oel und Wein, und hob ihn auf sein Thier und berge und Pflegte sein.

Des

führte ihn in die Her­

andern Tags reiste er und

zog heraus zwei Groschen, und gab sie dem Wirth sprach zu

ihm:

und

Pflege sein, und so du was mehr wirst

darthun, will ich dir es bezahlen, wenn ich wieder komme. Welcher dünkt dich, der unter diesen dreien der Nächste sei dem, der unter die Mörder gefallen war? Der die Barmherzigkeit an ihm that.

Er sprach:

Da sprach Jesus

zu ihm: So gehe hin und thue desgleichen.

Freunde,

das

wunderbar liebliche

und

erhabene

Gleichniß des Herrn, wie es jedes erwachende Kindergemüth anspricht und eben so den tiefdenkenden Mann stets von Neuem anzieht und seinem Geist als höchste Weisheitslehre klingt, es soll auch uns heut in dieser Andachtsstunde fesseln.

Wohl redet das wahrhaft gottmensch­

liche Lehrstück immer dasselbe, aber das Eine, waS immer Noth thut. Wohl verkündet es uns Altes, Bekanntes, aber solches, was wie eine herrliche Gegend in der Natur nie den Reiz der Frische und Neuheit verliert.

Bleiben wir noch ein wenig bei diesem Bilde.

Je nachdem

man eine schöne Gegend von verschiedenen Punkten aus ansieht, wird sie zwar keine andere, aber sie gewährt dem betrachtenden Auge als dieselbe doch ein anderes Bild.

So auch mit unserem Lehrstück.

Es

bleibt mit seinem Inhalt und Kern dasselbe, auch wenn man es von verschiedenen Punkten aus betrachtet.

Aber

von jedem Punkte aus

angeschaut entfaltet es vor dem Auge unseres Geistes in eigenthümlicher Weise seine Schönheit.

Anders spricht es

ausgeht von der ernsten Eingangsfrage: ich das ewige Leben ererbe?"

zum Geist, wenn

man

„Was muß ich thun, daß

anders, wenn man besonders an die

67 dringende

Schlußermahnung sich

desgleichen!"

hält:

„So

gehe

hin

und

thue

anders, wenn man das hehre Gotteögebot der einigen

und doch zweigetheilten Liebe in seiner Verkörperung durch unser Gleichniß erwägt.

Laßt mich für unsere heutige Betrachtung noch einen an­

deren Punkt wählen, damit von ihm aus das Schöne und Erhabene zu unseren Herzen spreche.

Der Herr hat dem das göttliche Gesetz

in seinem ewigen Inhalt aussprechenden Schriftgelehrten gesagt: „Thue das, so wirst du leben," darauf fragt dieser: „Wer ist denn mein Nächster." zählung.

Grade auf diese Frage antwortet der Herr in seiner Er­ Die Frage: „Wer ist mein Nächster?" soll es denn sein,

von der wir heut ausgehen, zu der wir stets wieder zurückkehren.

Wir

fassen dabei in'S Auge 1) die Veranlassung derselben, 2) ihre Auflösung in der rechten Beantwortung, 3) ihre dringende Forderung, 4) die Möglichkeit und Kraft, dieser Forderung nachzukommen. I.

Wie wird diese Frage „Wer ist mein Nächster?" im Ge­

müth des Menschen geweckt?

Der Mensch in seiner Gottebenbildlich­

keit, andächtige Hörer, hat den Ruf und Beruf erhalten:

„Mache dir

die Erde Unterthan," erwirb dir die Herrschaft über die Natur. ist der Menschheit als ihr Recht ertheilt.

Das

Aber wie Gott nicht nur

als Herr der Allgebietende ist, sondern in seiner Liebe der Allbeglückende, der Leben, Licht und Heil von sich Ausströmende; so liegt es in der Gottebenbildlichkeit, in den Tiefen der menschlichen Natur, als ein unvertilgbares Gefühl und Bewußtsein, daß jedem Recht eine Pflicht ent­ spricht, daß, wo der Mensch nimmt, er wiederum auch zu leisten hat. Nun anS der Natur wächst dem Menschen eine Fülle von Gaben und Segnungen zu, daß, wenn sich ihm das geistige Auge öffnet, er sich von reicher Liebe umgeben, geführt, getragen erkennt. Liebesgaben nicht Gegenliebe?

Fordern diese

Aber wohin mit seiner Gegenliebe?

Etwa in diese irdische Natur selbst?

Wie lieblich sie auch ist, wie hoch

der Mensch sie auch billig schätzt, für geistige, sittliche Liebe ist sie nicht empfänglich.

Aber an der Schönheit und Größe der Welt erkennt der

Mensch, wenn in rechter Weise das Herz in seinem Busen schlägt, den Herrn der Welt, die ewige Gottheit.

Was er demnach auch aus der 5*

68

Natur entnimmt, er wird inne, es ist das Alles von Gott gegeben, alle gute und alle vollkommene Gabe kommt ihm von Oben herab, hon dem Vater des Lichtes, bei welchem ist keine Veränderung und fein Wechsel des Lichtes und der Finsterniß. Dorthin, klingt es denn im Gemüth, o Mensch mit deiner Liebe! Ja für Alles Gott danken, im Anschauen der von ihm stets neu gestalteten Herrlichkeit der Welt und der von ihm stets neu geschaffenen Quellen des Segens und Heils aufgehen in Anbetung, das ist es, wozu die Gottebenbildlichkeit in uns, wozu der Reichthum und die Herrlichkeit der uns umgebenden Gottes­ welt uns auffordert. Bolle, warme Dankbarkeit gegen Gott, fromme innige Anbetung, beide sich vereinigend in heiliger Liebe gegen den Ewigen, — das ist ja auch wohl das Höchste in menschlicher Sittlich­ keit. Aber was können wir Gott geben, ihm wiedergewähren, ihm leisten, daß es wirklich etwas für ihn wäre? Dem Allgenngsamen und Allseligen eben Nichts. Darum auch alle die Opfer, wie sie ans der Frömmigkeit in der alten Welt hervorgingen, konnten dem tiefer den­ kenden Geist keine Befriedigung gewähren, als ob damit den Forderungen der frommen Liebe und Dankbarkeit gegen Gott genügt wurde! So mußten sie, wie die Erleuchtung der Geister vorschritt, auch ans dem gottesdienstlichen Leben der Menschen verschwinden. Und doch bleibt für unsere Natur ein unverbrüchlicher Grundsatz: Was als geistiges Leben in unserem Innern gesund und kräftig bestehen soll, das muß sich auch im Aeußern bethätigen. Nur wo das Gefühl des Herzens, nur wo die Gesinnung der Seele Gelegenheit gewinnen, die Thätigkeit der Hand hervorzurufen und zu bestimmen, nur da werden sie nicht in sich selber verdumpfen und verkommen, nur da werden sie sich kräf­ tigen, läutern, vollenden. Dankbarkeit, Anbetung, Liebe für Gott werden nimmer lebendig und kräftig bleiben oder auch nur werden, wenn sie nicht hervortreten können im Leben und in der That. Wir fragen noch einmal: Wie können sie sich nun Gott gegenüber bethätigen, da man Gott in Wirklichkeit nichts unmittelbar zu leisten vermag? Der Mensch mit der Ahnung und dem Bewußtsein seiner Verpflichtung, wohin soll er sich wenden? wohin hat er die Schuld heiliger Liebe abzutragen? Die Natur steht ihm für diesen Zweck zu tief, die Gottheit zu hoch!

69 Hätte er beide für sich allein sich gegenüber, sein sittliches Leben müßte verkommen oder könnte vielmehr sich nie entwickeln.

In die Nähe muß

ihm gerückt sein, wohin er mit dem Drange seines eigentlichsten, von Gott ausgehenden Lebens, wohin er mit seiner Verpflichtung, mit der Schuld seiner Liebe sich wenden kann.

So aus der eignen gottgege­

benen Anlage seines inwendigen Menschen drängt sich mit Nothwen­ digkeit die Frage hervor: „Wer ist mein Nächster?"

Wohin habe ich

mich zu richten, daß ich meine dankbare Liebe bethätige?

Gegen das

Gesagte wird man nicht einwenden wollen, daß der Mensch doch grund­ böse sei und derselbe, seiner Verpflichtungen nicht eingedenk, auch aus sich selbst nicht mehr zu dieser Frage komme und daß ja der Schrift­ gelehrte nur deshalb diese Frage thun konnte, weil er unter dem Licht der göttlichen Offenbarung und unter der Zucht des göttlichen Gesetzes stand.

„Grundböse ist der Mensch," soll das wahr sein, so kann es

nur heißen, daß sich bei ihm durch alles Fühlen, Denken, Wollen, Thun das Selbstsüchtige und Ungöttliche lähmend, hemmend, verunreinigend mit hindurchzieht.

Dabei bleibt es aber eben so wahr, daß, wie ein

alter Kirchenvater sagt, die Seele eine geborne Christin ist, daß in den Regungen des Gewissens, in den Gedanken, die sich unter einander anklagen und entschuldigen, in den dunkler oder klarer sich aussprechen­ den Fragen: Was ist Recht? was ist Pflicht? sich trotz aller Verderbniß die Gottebenbildlichkeit des Menschen beweist.

Und die göttliche

Offenbarung wirkt nicht anders, als daß, wie sie erleuchtet, so auch die sittlichen Anlagen und Kräfte des Menschen erweckt, belebt, stärkt, um die Fesseln der Selbstsucht zu brechen, kurz um das ursprünglich Gottangelegte im Menschen zur Kraft, zur Geltung und zum Leben zu führen.

Aber auch so erst, wenn die Frage: „Wer ist mein Näch­

ster?" aus dem für heilige Sittlichkeit geschaffenen Menschen geboren wird, hat sie Bedeutung und Werth.

Damit ist es des Menschen ur­

eigenste Natur, die wir freilich nie ohne Einwirkung göttlicher Offen­ barung und Erziehung denken können, welche mit Nothwendigkeit in ihm die Frage hervorruft: „Wer ist mein Nächster? II.

Welches aber ist, fragen wir weiter, die Lösung, die rechte

Beantwortung dieser Frage?

Sie scheint uns zunächst schon durch

70

unseren Text in der Zusammenstellung der beiden Gebote gegeben zu sein. Der Herr, wie er selbst am anderen Ort den Inhalt des mo­ saischen Gesetzes angibt, spricht eben so, wie hier der Schriftgelehrte und doch etwas anders*). Er sagt, das Gebot der Nächstenliebe sei dem ersten, dem der Gottesliebe gleich, ja eigentlich in demselben schon enthalten. So ja auch Johannes in seinem ersten Brief**): „So jemand spricht: Ich liebe Gott und hasset seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebet, den er siehet, wie kann er Gott lieben, den er nicht siehet? Und dies Gebot haben wir von ihm, daß, wer Gott liebet, daß der auch seinen Bruder liebe." Dem entspricht unser Gleichniß, in welchem der Mensch dem Menschen als Nächster gegenübergestellt ist. In der That, ist die Dankbarkeit und Liebe, wie wir sie Gott schulden, das Höchste im sittlichen Leben; so werden wir mit derselben an die Menschen als an unsere Nächsten gewiesen. Sie tragen das Bild des Höchsten in sich, haben grade darin ihre Natur, ihr Wesen. Sie sind vermöge dieses ihres Wesens zu Kindern Gottes bestimmt. In Betreff ihrer konnte deshalb der, in dem wir das offen­ bare Wesen Gottes sehen, sprechen***): „Was ihr gethan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir gethan." Danach sind nun zunächst alle Menschen unsere Nächsten und daS ist in gewissem Sinne auch richtig. Wollen wir aber auch nicht sagen: Je allgemeiner die Liebe ist, desto weniger Wärme wird sie haben, je umfassender, desto mehr wird sie in Gefahr sein, sich zu verflüchtigen; so müssen wir doch anerkennen, unsere Liebe, so weit sie sich durch Handeln bethätigen und beweisen kann, hat gar kurze Arme und gar schwache Hände, muß sich nach unserem Vermögen gar sehr beschrän­ ken. Da bleibt die Frage: Wer unter den Menschen, unter den mir so Nahegerückten, ist der Nächste, daß ich an ihm die Liebe bethätige? Geliebte, wer denkt nicht an die sittlichen Gemeinschaften, in die wir durch die göttliche Vorsehung hineingepflanzt sind, an die Familie, an die Glaubensgemeinschaft der Kirche, an die Volksgemeinschaft oder den *) Markus 12, 29 — 31. **) 1. Johannes 4, 20 — 21. ***) Matth. 25, 40.

71

Staat? Meine Hausgenossen, meine Glaubensgenossen, meine Mit­ bürger hat ja Gott offenbar mir als die Nächsten an die Seite gestellt und so auf daS Gewissen gebunden. In der That, wo christliche Er­ leuchtung und sittliches Leben ist, wird man die Frage mit in diesem Sinn sich beantworten. Wie glüht Paulus zunächst für sein Volk, daß er selbst den Wunsch hegen konnte, von Christo verbannt zu sein, wenn dadurch seinen Volksgenossen das Heil aufginge*)! Wie mahnt er, Gutes zu thun allermeist an des Glaubens Genossen**)! Wie nach­ drücklich ist seine Rede***): „So jemand die Seinen, sonderlich seine Hausgenossen nicht versorget, der hat den Glauben verleugnet und ist ärger denn ein Heide!" Aber schon oft in der Familie, wie vielmehr in der Glaubens- und in der Volksgemeinschaft tritt eben so unsere Beschränktheit und Schwachheit hervor, die nur an ganz vereinzelten Punkten sich thätig beweisen kann. Damit erhebt sich von Neuem die Frage: Wohin mit meiner Liebesthätigkeit? oder: Wer ist mein Nächster? Ferner, wie sehr wir den Mitgliedern unserer sittlichen Lebensgemeinschaften verpflichtet sein mögen, verknüpft sich die beson­ dere Liebe zur Familie, zur Glaubensgemeinschaft, zum eignen Volk mit ausschließender Engherzigkeit, wird sie zugleich Haß, oder Abneigung, ja selbst nur Gleichgültigkeit gegen andere Menschen; so ist die Liebe in ihr Gegentheil umgeschlagen, in Selbstsucht, ist um so schlechter, je mehr hinter edleren, schöneren Namen sittlich Verwerfliches sich ver­ birgt. Folgende Erwägung, Geliebte, dürfte uns zur Lösung unserer Frage führen. Es handelt sich hier nur um die Bethätigung und Wirksamkeit der Liebe —, wo Menschen in solchem Verhältniß stehen, daß zwischen ihnen der Unterschied von Mangel und Fülle, Bedürfniß und Reichthum, Schwachheit und Kraft sich findet. Siehe im Gleichniß den unter die Mörder Gefallenen in voller Ohnmacht, in tiefster Bedürftigkeit, in Elend und Armuth. Siehe den Samariter im Be­ sitz alles dessen, was jener entbehrt. Da fühlt der Samariter: An dich ist der Unglückliche gewiesen und du bist von Gott für ihn be*) Römer 9, 3. **) Galater 6, 10. ***) 1. Timotheus 5, 8.

72 rufen.

Deine Kraft kann seiner Ohnmacht, dein Besitz seiner Armuth,

dein Oel und Wein seinen brennenden Schmerzen abhelfen. unter die Mörder Gefallene im

Allgemeinen als

Trägt der

Mensch das Bild

Gottes an sich, durch diese besonderen Umstände ist er ihm von Gott in allernächste Nähe gerückt', daß an ihm seine Liebe in ihrer heiligen, lebensvollen Schönheit sich entfalte.

Ja das schöne, heilige Spiel der

Liebe fortwährend zur Beseligung zu erneuern, dazu setzt Gott in man­ nigfachster Beziehung den Armen neben den Reichen.

Wohlan, Ge­

liebte, wo bei unserem Vermögen und unserer Fülle uns die Bedürf­ tigkeit entgegentritt, wo wir wirklich barmherzig sein, wirkliche Hülfe gewähren können; da hat uns Gott im hülflosen Bruder, in der hülflosen Schwester den Nächsten vor Augen gestellt. lich lehrt uns der Erlöser die Frage:

Und so recht eigent­

Wer ist mein Nächster?

beantworten, daß unser Blick sich nicht sowohl auf den richtet, von dem wir etwas erwarten, sondern auf den, den Gott auf uns hoffen läßt.

in.

Ist das aber die rechte Antwort und Lösung unserer Frage;

dann ist damit auch eine gar dringende Forderung an uns verbunden. Der Bedürftige in deiner Nähe, durch seine Verhältnisse an deine Seite gestellt,

ist dein Nächster.

Wohlan, er fordert von dir im Namen

deines Gottes die Bethätigung deines Dankes und deiner Liebe gegen den Ewigen.

Freilich lautet das Sprichwort in der Welt: „Jeder ist

sich selbst der Nächste," und hat, wie fast alle Sprichwörter, die eine Seite der Wahrheit ausgedrückt.

Aber wie wir dies Wort in seiner

Einseitigkeit festhalten, so wird es zur Unwahrheit, ja zur seelenver­ derblichen Lüge.

Bist du in tiefster Noth , in geistiger und leiblicher

Verlassenheit, ist durch

den Jammer deines

leiblichen und geistigen

Elends das Bild Gottes bei dir in Gefahr, verdunkelt, beschmutzt zu werden, ist deine Seele in Gefahr, Schaden zu leiden; ja du bist dir selbst der Nächste.

Hinauf dann mit dem Flehen deines Herzens, mit

dem Ringen deines Gebetes zu Gott!

Hinan mit Aufbietung aller

sittlichen Kraft in dir, mit dem ganzen vollen Ernst an die Ergreifung und Bewahrung deines Heiles, daß dir die Krone des Lebens nicht entrissen werde!

Aber bist du der Gottgesegnete im irdischen Gut und

trägst in dir den Frieden des Geistes und ist neben dir dein Mitmensch

73 der Arme, der Elende, der in der Noth Schmachtende; nicht du, son­ dern er ist dein Nächster, nicht für dich, sondern für ihn hast du zur Zeit deine Kraft, deine geistigen und irdischen Gaben empfangen, ihm sollst du weihen, was du bist und was du hast!

Kurz der Entbehrende

ist dir von Gott zu deinem Nächsten gemacht.

O ist Frömmigkeit in

dir, wie bei dem Samariter, so muß es dich von innen herausdrängen und zwingen, daß du die Bedürftigkeit des Nächsten als dein Leid in das eigne Herz aufnimmst!

Aus deiner Seele heraus muß es dich

treiben, Oel und Wein mit deiner Hand zu reichen, um die Schmerzen des Nächsten zu stillen, um seine Wunden zu heilen!

Aus deiner

Gottesliebe heraus muß dein Geist voraussehend und weise und für­ sorgend werden, daß die Thaten deiner Hand wirkliche und wo möglich nachhaltige Hülfe gewähren!

Siehe in dein Haus hinein, vielleicht ein

Glied deiner Familie, was dir viele Last, viel Kummer macht, willst du dich ihm entziehen?

O grade dies dir das Nächste, daß du auf der

einen Seite alle Geduld der Liebe, auf der anderen Seite allen selbst­ verleugnenden Ernst derselben übest!

Siehe in der Gemeinde viele

Noth, besonders weil die irdische aus der geistigen und sittlichen Ver­ kommenheit geboren und ernährt wird.

Es sieht oft verzweifelt aus.

Willst du herz- und thatloS vorübergehen?

Hier ruft Gott aus deinen

Nächsten, daß du Kenntniß von den Wunden nimmst, die da bluten und fragst, ob Geben oder Versagen zum Heil gereicht, aber jedenfalls allen Ernstes dich bemühst, die aufrichtende Hand den Gesunkenen zu reichen! Siehe den Jammer der Glaubensgenossen in der Ferne, die bei schwer­ stem Druck irdischer Armuth auch des Trostes evangelischer Gemein­ schaft in Kirche, Predigt, Sakrament entbehren. helft uns!

Sie schreien: Kommt,

Ist Christus dir etwas, wie könntest du seine Bitte aus

ihrem Munde für die Aufbauung seines Reiches überhören!

Hat Gott

dir die Bedürftigen zu deinen Nächsten gegeben, o, daß du an ihnen die Liebe in lebendigem Mitgefühl, in helfender That, in sorgender Weis­ heit bethätigst, das ist die dringendste Forderung für dein Leben!

Wer

auf sie nicht hört, wer gleich dem Priester und Leviten ohne Rührung und That aw Elend vorübergeht, der geht harten Herzens an Gott selbst vorüber, der hat den Glauben verleugnet und ist ärger als ein Heide-

74 IV.

Wenn aber nach der Beantwortung der Frage:

Wer ist

mein Nächster? das Gleichniß für uns zur dringenden Aufforderung wird und auf den (Samariter hinweisend zu uns spricht:

„Gehet hin

und thuet desgleichen;" so fragen wir zuletzt wohl noch billig:

Wie

oder wodurch gewinnen wir die Kraft, solche Forderung zu erfüllen?

Keine müßige oder unnöthige Frage; denn wir wissen eS

alle, daß nicht die Liebe, sondern die Selbstsucht uns ursprünglich be­ herrscht, wir sagen es uns bei jeder ernsten Selbstprüfung, daß wir auch jetzt noch nicht die Selbstsucht in uns völlig überwunden haben, daß die Liebe in uns noch nicht die allein regierende Macht geworden ist.

Also: Woher die Kraft der Liebe, um ihrer heiligen Forderung zu

genügen?

Wenn in unserer evangelischen Kirche Rechtfertigung und

Gerechtigkeit, Heil und Seligkeit so entschieden auf den Glauben zurück­ geführt werden, weil es uns so der Herr und seine Apostel, besonders Paulus lehren; so versteht es sich von selbst, daß auch die Liebe, daß auch die Kraft, ihrer Forderung zu genügen, allein aus dem Glauben erwächst, was auch in unserem Text seine Bestätigung findet.

Diese

Antwort aber nimmt vielfach zwei verschiedene Färbungen an, indem die einen die Rechtgläubigkeit, die anderen die rechte Gläubig­ keit als Quelle der Liebe zu bezeichnen geneigt sind. gläubigkeit!

Die Recht­

Sehen wir ab von dem Streit zwischen reformirter und

lutherischer Rechtgläubigkeit, fassen wir sie als die evangelische im All­ gemeinen. ansehen,

Ja, wenn wir den eigentlichen Kern, das innerste Leben aus dem bei einem Luther und anderen frommen Männern

die Glaubenssätze hervorwuchsen; o das wäre ja herrlich, wir ständen in der That an der Quelle der schöpferischen Kraft, welche das Leben der Liebe erzeugt.

Aber das ist nicht das Wesen der eigentlichen Recht­

gläubigkeit, am innersten Kern und Wesen für das Heil sich genügen zu lassen; sondern grade die einzelnen Glaubenslehren in ihrer beson­ deren Ausbildung sollen das Wesentliche und Heilbegründende sein. — Die rechte Gläubigkeit!

Das heißt doch wohl die rechte Innig­

keit, Wärme, Lebendigkeit des Glaubens!

Ja wenn's die rechte Gläu­

bigkeit wäre an den Gott, der in heiliger Liebe uns die Erlösung be­ reitet hat, aber deshalb auch als Vater seine segnende Sonne aufgehen

75 läßt über Böse und Gute, der, wie heilig er ist, doch auch den ver­ lornen Sohn, den Sünder, mit Geduld trägt und der Stunde harrt, wo er umschlägt und umkehrt, der allein Herz und Nieren prüft und darum allein richtet, und deshalb uns das Richten verbietet — ja gepriesen solche Gläubigkeit!

Aber was sich rechte Gläubigkeit nennt und

wohl Pietismus genannt wird, wie oft ist es eben nur eine engherzige Strenge in Beziehung auf gottesdienstliche Uebungen, auf Form und Ton der Rede, auf eine bestimmte Weise des äußeren Lebenswandels! So finden wir aber die Rechtgläubigkeit nur zu sehr und zu oft eng verknüpft mit hochmüthiger Lieblosigkeit, mit dem Haß des Fanatismus. Eben so Das, was sich rechte Gläubigkeit nennt, ist so vielfach beson­ ders stark im engherzigen Richten und Verdammen und im lieblosen von sich Stoßen der Brüder und Schwestern.

Grade bei dieser ge­

priesenen, rechten Gläubigkeit waltet so oft der Geist der Bitterkeit selbst in den engen Kreisen des Familienlebens.

Unser Gleichniß führt uns

deshalb weder auf das Eine, noch auf das Andere.

Priester und Levit

gehen ohne Liebe an dem, der ihnen der Nächste war, vorüber.

Priester

und Levit, in jener Zeit meistens vom Pharisäismus durchzogen, ver­ treten auf dem Gebiet des IudenthumS die Rechtgläubigkeit und die rechte Gläubigkeit jener Tage.

Der Samariter war im Auge des

Juden der volle Ketzer und kannte nicht die strengen Gebetsübungen, in denen sich die Frömmigkeit vor den Augen der Welt darstellen sollte. Dieser Samariter, weder die Rechtgläubigkeit noch die rechte Gläubig­ keit jener Tage in sich tragend, erkannte in dem Unglücklichen seinen Nächsten und hatte in sich die himmlische Macht der Liebe.

Aber, m.

G., hatte er nicht Rechtgläubigkeit und nicht die rechte Gläubigkeit; das Wesen des Glaubens, das mußte er in der Seele tragen, nur daraus konnte in ihm die Kraft und das Leben der Liebe hervorgegangen sein und immerwährend von Neuem hervorgehen.

Was war denn das?

Wie klar oder unklar sein Denken über Gott sein mochte, das wissen wir nicht.

Eins aber dürfen wir sagen.

Zurückschauend in sein ganzes

Leben, wie eS aus der Ohnmacht des Kindes sich entwickelt hatte, wie eS unter fortwährenden Segnungen, die nicht in seiner Hand standen, unter fortwährender Bewahrung vor Gefahren, die seine Weisheit und

76 Kraft nicht hatte abwenden können, erhalten wurde, war ihm das Licht un­ endlicher Gottesgüte in die Seele gedrnngen. Wie klar oder unklar fein Blick in die heiligen Schriften, die ja auch sein Volk wenigstens theilweife befaß, fein mochte; jedenfalls hatte er nicht allein das Gebot darin gefunden, sondern Zusagen göttlicher Barmherzigkeit, göttlichen Heils!

Unzweifelhaft war es ihm Gewißheit in seinem Gemüthe ge­

worden, daß seine Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft unter göttlicher Güte und Gnade stehe.

So lebend von Barmherzigkeit wird dies Be­

wußtsein ihm der unwiderstehliche Drang, die starke Kraft, unter Ge­ fahr und Selbstverleugnung selbst Barmherzigkeit zu üben. Der Glaube ist unser Heil und unser Glaube ist der an Vater, Sohn und Geist. Ist unser Glaube wirklicher Glaube?

Dringt uns mit hellem Licht

und lebensvoller Kraft die Liebe Gottes immer wieder in die Seele, welche schaffend, erhaltend und regierend allein unseres Lebens Quelle und Zuflucht war und blieb, welche Erlösung stiftend allein aus Sünde, Finsterniß und Tod unö den Weg zum Licht, Heil und Leben bahnte und uns erleuchtete, welche als Kraft der Gnade uns immer mehr aus den Zweifeln und bangen Sorgen des Herzens emporzog und uns mit Frieden erfüllte; dann und dann allein, fragen wir nicht nur: Wer ist unser Nächster? hören wir nicht nur die richtige Antwort und die dringende Forderung auf diese Frage, sondern als Kinder der Gottesliebe werden wir gleich dem Samariter die Kraft und Freudigkeit haben, durch unser Thun diese Frage zu beantworten.

Ein Johannes der an Jesu Busen

lag, wurde derjenige, welcher vor Allen die Liebe Jesu in die Welt hineintrug.

Wer durch den Erlöser am Busen der GotteSliebe sich

bettet und da selig ruht von seinen inneren und äußeren Kämpfen; der ist der Starke, Rüstige, Thätige, welcher die Liebe hinausträgt zu seinen Nächsten! seiner Gnade!

Dazu segne, stärke, belebe unö Alle der Herr in

Amen!

Des Herrn Warnung vor falschem Priesterthum. Text: Matth. 7, 15—23. Sehet euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern

zu

reißende Wölfe.

euch kommen;

inwendig

aber sind sie

An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.

Kann man auch Trauben lesen von den Dornen, Feigen von den Disteln?

oder

Also, ein jeglicher guter Baum

bringt gute Früchte; aber ein fauler Baum bringt arge Früchte.

Ein guter Baum kann nicht arge Früchte brin­

gen, und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. Ein jeglicher Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und in das Feuer geworfen. Früchten sollt ihr sie erkennen.

Darum, an ihren

Es werden nicht Alle, die

zu mir sagen: Herr, Herr, in das Himmelreich kommen; sondern, die den Willen thun meines Vaters im Himmel. ES werden Biele zu mir sagen Herr,

haben

wir

nicht

in

an jenem Tage:

deinem

Namen

Herr,

geweissagt?

Haben wir nicht in deinem Namen Teufel ausgetrieben? Haben wir nicht in deinem Namen viele Thaten gethan? Dann werde ich ihnen bekennen:

Ich habe euch noch nie

erkannt, weichet alle von mir, ihr Uebelthäter. Lieder: 306. 521, 5.

78 ,,Die Lehre achtet höher denn köstliches Gold*)." „Die Lehre des Weisen ist eine lebendige Quelle**)." „Ich will euch Hirten geben nach meinem Herzen,

die euch weiden sollen mit Lehre und Weisheit***)."

„Die Lehrer werden leuchten wie des Himmels Glanzsi)."

Das, Ge­

liebte im Herrn, sind Aussprüche und Verheißungen des alten Bundes, mit denen noch manch anderes Wort zusammenstimmt, worin die Lehre und der Lehrer der Wahrheit und Weisheit auf's Höchste gepriesen, dem Volke auf'S Dringendste empfohlen werden.

Alle gottosfenbarte

Lehre und Weisheit vollendet sich in Jesus von Nazareth, dem ewigen Lehrer und Propheten der Menschheit.

„DaS ist mein lieber Sohn,

an dem ich Wohlgefallen habe," ruft die göttliche Stimmefsi), „den sollt ihr hören?"

In unserem Text sehen wir den Erlöser, wie er

auf dem Berge in Mitte seiner Jünger und des versammelten Volkes in voller Lehrthätigkeit begriffen ist, wie er den empfänglichen Gemü­ thern mit seinen Worten des ewigen Lebens den Frieden und das Heil mittheilt.

Ja aus der Lehre, aus der Verkündigung des Wortes fließt

Glaube und Erlösung.

Darum

„Wer Ohren hat, der höre!"

ruft und mahnt der Herr so oft:

Darum spricht der Apostel sisif): „Neh­

met das Wort an mit Sanftmuth, das in euch gepflanzte, welches kann eure Seelen selig machen."

In dem Sinn ermahnt Paulus seine Mit­

arbeiters). „Du aber rede, wie sich's ziemet, nach der heilsamen Lehre." „Halte an mit Lesen, mit Ermahnen, mit Lehren." halte an."

„Predige das Wort,

Aber, wenn so die Lehre der Wahrheit köstlicher ist denn

Gold, so muß gefälschte, verkehrte, gottlose Lehre auch das Gegentheil, muß etwas sehr Schlimmes sein.

An solche aber kann es in der sün­

digen und irrenden Menschenwelt nicht fehlen, an ihr auch nicht in christlicher Gemeine.

Da ertönt denn in den verlesenen Worten des

Erlösers warnende Stimme: „Hütet euch," indem er aus der schlim­ men Lehre daS Verderben weissagt denen, die sie bringen und denen,

*) ***) tt) §)

Sprüchwörter 8, 10. **) Jeremias 3, 15. t) Matth. 17, 5. ttt) Titus 2, 1. 1. Timotheus 4,

Sprüchwörter 13, 14. Daniel 12, 3. Jakobus 1, 21. 13. 2. Timotheus 4, 2.

79 die sie aufnehmen.

Achten wir heute auf diese seine ernste War­

nung vor dem falschen Prophetenthum. I.

Zuerst schildert der Erlöser das Wesen desselben mit kurzen

Andeutungen.

Es giebt in heutiger Zeit glänzende und blendende Dar­

stellungen deS Unglaubens, der Gottlosigkeit, des Materialismus.

Es

werden in Schrift und Gespräch reizende, die sinnliche Leidenschaftlich­ keit aufregende, das tief Unsittliche und Schlechte mit dem Schleier der Schönheit umhüllende Schilderungen der Sünde verbreitet.

Es scheint

manchmal, als sollte von dieser oder jener Seite mit dem schneidend­ sten Witz und Spott der VernichtungSkampf gegen christliche Frömmig­ keit gekämpft werden. Da dürfte eS auch wohl gelten: „Hütet euch!" Von dergleichen Erscheinungen ist jedoch in unserem Text

nicht die

Rede, wie denn auch der Herr nach dieser Seite hin nur selten seine Warnungen richtet.

Er hält's wohl nicht so gefährlich, wie es uns

manchmal scheinen will.

Nämlich, Gewissen und Vernunft, sie lassen

sich fälschen und blenden; aber sie zu vernichten, sie so gut wie todt zu machen, das hält doch sehr schwer.

So lange aber noch Gewissen

und Vernunft irgend tote vorhanden sind,

wird die Lehre offenbarster

Gottlosigkeit und Unsittlichkeit nur schweren Eingang finden.

Ist je­

doch volle Gottlosigkeit und Unsittlichkeit irgendwo zur Herrschaft ge­ langt, so hält es wohl äußerst schwer, mit dem Wort der Wahrheit einzudringen. heit.

Es fehlt dann eben der Anknüpfungspunkt für die Wahr­

Wohl aber vor Pharisäern, die recht eigentlich Lehrer der Ge­

rechtigkeit sein wollten, vor ihrem Sauerteig, warnt dringend und viel­ fach der Herr und ähnlich hier vor falschem Prophetenthum.

Nehmen

wir das Wort auch in noch so weiter Bedeutung, das bleibt immer darin, daß der Prophet mit dem Anspruch auftritt, geoffenbarte, gött­ liche Wahrheit zu bringen, mit dem Anspruch, daß seine Lehre auch als Gottes Wort aufgenommen werde.

Ja das eben wird auch we­

sentlich das Schafskleid, das Prophetenkleid sein, von dem Jesus spricht, daß von Gott und göttlichen Dingen, von Frömmigkeit, von dem rech­ ten Wege deS Lebens u. s. w. geredet wird.

In unserer christlichen

Gemeinschaft können wir deshalb bei dieser Beziehung auch nur an solche denken, die angeblich das Christenthum verkünden, aber thatsächlich

80 ein gefälschtes Christenthum.

Die fromme oder doch frommklingende

Rede ist der Prophetenmantel, unter dessen Schutz sie Zugang zu der Gemeine und ihren Gliedern suchen und finden. der Herr:

Von ihnen sagt nun

Inwendig sind sie reißende Wölfe.

Damit deutet

er hin auf die traurigen Erfolge, die ein gefälschtes Christenthum in der christlichen Kirche gewinnt.

Wie der Wolf die Schafe zerreißt und

zerstreut, so werden durch das gefälschte Christenthum hier die Seelen um ihr Heil, ihr eigentliches ewiges Leben betrogen, dort wird die Ge­ meine zerstreut und in widerwärtigste Spaltungen zersprengt.

Wie

vielfach gibt die Geschichte der christlichen Kirche von Anbeginn an dafür Beleg und Zeugniß.

Wie haben die Fälschungen des Christenthums

auf offenbarste Wege des sittlichen Verderbens geführt, die ärgsten, oft unnatürlichen Gräuel erzeugt, im rasendsten Haß die Geister entflammt und von einander gerissen!

Im tiefsten Grunde unsittliches Wesen und

Zerreißung und Zerklüftung der Christenheit wird auch heut noch durch falsche Propheten, bewirkt.

durch ihre Fälschungen der göttlichen Wahrheiten

Wir können natürlich nicht alle wirkliche und mögliche Fäl­

schungen durchgehen.

Aber darum ist stets vevderblich und lebensfeind­

lich die Verkündigung gefälschter Wahrheit, darum werden ihre Verkün­ diger reißende Wölfe an den Seelen, weil sie zunächst die heilige Got­ teswahrheit zerreißen und einzelne Seiten dann als Lappen und Lnmpen bringen, die nimmer zum Heilsgewand werden können.

Laßt mich das

an ein Paar Beispielen uns klar machen. Gott ist die Liebe, aber der Liebe Wächter in ihr selbst sind Hei­ ligkeit und Gerechtigkeit.

Die Liebe bleibt nur Liebe als eine heilige.

Ebenso hat die göttliche Heiligkeit nur wahren Gehalt, sofern sie die Eigenschaft, die Dienerin der Liebe selbst ist.

Siehe da wissen die

Einen wohl noch zu reden von der ewigen Liebe, aber sie trennen von ihr, was wesentlich zu ihr gehört, kennen nicht mehr ihre Heiligkeit, die keinen Gefallen hat an gottlosem Wesen. Da predigen die Anderen in einer Weise die Gerechtigkeit, die Heiligkeit in Christo, daß die Gott­ heit wohl als ein gerechter Richter noch übrig bleibt; aber nicht als der barmherzige Vater, der auch auf den aus der Irre wiederkehrenden Sohn harrt und ihn aufninnnt mit Freuden. — Thut Buße und glaubet

81

an das Evangelium, an die erlösende Liebe, — so spricht der Herr. Demgemäß haben wir auch nach apostolischem Zeugniß allerdings unser Leben in jene göttliche Traurigkeit stets wieder einzutauchen, daß darin das Weltliche, Ungöttliche an uns untergehe, aber es auch unaufhörlich in die selige Freude am Herrn, in seine erlösende Liebe zu versenken, daß es so stets als ein neues in frischer Kraft daraus hervorbreche. Die Einen wollen Christenthum nur da erkennen, wo die Buße, die sie noch dazu allein aus dem Gesetz, aus dem Schrecken des göttlichen Gerichtes herleiten, so ganz und gar das Gemüth beherrscht, daß gleichsam über das ganze Leben ein finsterer, kalter Schleier gedeckt, jeder Lebens­ genuß verdammt und vernichtet wird. Die Anderen stellen hinter den Glauben, dessen sie in leichtsinniger Freude sich rühmen, alle Einkehr in sich selbst, alle Prüfung und Läuterung des inneren Menschen zurück, daß dadurch jeder sittliche Ernst des Lebens untergeht. Jenen ist jedes Wort über den Glauben, diesen jedes Wort über die Buße, wenn es aus ihrem Munde kommt, doch ein fremdes und unverstandenes, wie man es ihrer Rede wohl anfühlt. — Derselbe Paulus, der als Apostel der Wahrheit so nachdrücklich verkündigt, daß der Glaube Quelle der Gerechtigkeit und Seligkeit sei, rühmt nicht weniger die Liebe als Band der Vollkommenheit und sagt, daß ohne sie uns alles Andere nichts nütze und keinen Werth verleihe. Darum behauptet er*), daß allein der Glaube, der in der Liebe thätig ist, vor Gott gelte. Ja den Glauben predigend wollen die Einen Nachfolger des Paulus sein, aber thun es, daß aus ihrer Predigt der Rechtgläubigkeit, die sie Glau­ benspredigt nennen, anstatt der Liebe der Haß geboren wird. Die Liebe rühmen Andere wieder und wieder; aber den Glauben an Christum, an die ewige Gottesliebe verachtend, vergraben sie selbst die ewigen Quellen, aus denen die Liebe in menschliche Gemüther sich ergießt. Zum Festhalten evangelischer Freiheit ermahnt der Apostel; aber er weiß sich zugleich als völlig Gebundener in Christo, mahnt, im Gehor­ sam gegen den ewigen König allein die Freiheit zu gewinnen. Die Freiheit predigen die Einen; aber so, daß sie besteht in der LoSlösung *) Galater 5, 6. Themas, Predigten.

82 von Gott und Christo, selbst vom Gewissen, daß sie wird Zügellosigkeit oder Deckel-der Bosheit.

Die Gebundenheit, den Glaubensgehorsam

bringen die Anderen so, daß sie selbst aus dem Evangelio ein neues, zwingendes Gesetz machen.

Sie verwandeln Lehren, wie die von der

freien und freimachenden Gnade, in den Buchstaben, der da tödtet, in das knechtische Reich, unter dem alle Geistesfreiheit und alle Men­ schenwürde geopfert wird.

Meine Geliebten, das ist das Wesen der

falschen Prophetie, der Fälschungen im Christenthum überhaupt, daß die eine Seite religiöser und sittlicher Wahrheit, wie sie in der Person Christi sich verleiblicht hat, von der anderen losgerissen, einseitig ver­ kündigt und damit in Unwahrheit verwandelt wird. worin zugleich

Das ist es auch,

ihr für die Seele verderbliches Wesen beruht.

Die

Wahrheit in Christo, aber als die ungetheilte, nach allen Seiten hin strahlende und so in sich

einige bringt Heil und Leben.

Wer nur

eine Seite hervorkehrt, zerstört die Wahrheit selbst, zerstört das Heil, und da ruft der Herr: Hütet euch vor den falschen Propheten. II.

Wir fragen nun aber wohl weiter: Woran erkennt man

die falschen Propheten, die Fälscher der Wahrheit?

Es hat wie

in der alten, so seiner Zeit auch in der erneuten evangelischen Kirche einen großen Eifer gegeben, sich selbst und die Gemeinen vor der Lehre der falschen Propheten zu wahren. „reine Lehre"

oder

Die Sorge um die sogenannte

um die sogenannte Rechtgläubigkeit hat alle

anderen Sorgen überwuchert und zurückgedrängt.

Da ist man dann

so verfahren, daß man genau feststellte, was reine Lehre sei

z. B. über

die Dreieinigkeit Gottes und das Verhältniß der drei Personen zu ein­ ander, über die beiden Naturen in Christo, über die Art, wie er im thätigen und leidenden Gehorsam genug gethan, Gottes Zorn versöhnet und die Menschheit erlöst habe, über die Erbsünde, über die Art, wie Christi Leib und Blut im Abendmahl gegessen und getrunken werde u. s. w.

Das seien die falschen Propheten, hieß es, die irgendwie von

einzelnen dieser Lehrbestimmungen abwichen.

Das seien die Säulen

der Wahrheit, die in keinem Punkt dieses System der Rechtgläubigkeit verließen.

Solch Verfahren findet aber nicht die Billigung Christi,

sonst hätte er gewiß ein solches System der Lehre selbst zusammengestellt

83 und gemahnt: Hieran erkennet die falschen Propheten und hütet euch so vor ihnen.

Im Gegentheil spricht er, eS würden Viele, die „Herr,

Herr" zu ihm sagten, sich darauf berufen, daß sie in seinem Namen geweissagt hätten und er werde sie als Uebelthäter von sich weisen. Ja

die sogenannte Rechtgläubigkeit

thut's wahrlich

nicht,

nicht die

fromme Salbung bei rechtgläubigster Predigt. Mit derselben und durch dieselbe sind oft Dornen und Disteln der unchristlichsten Gesinnung angesäet und gepflanzt.

Mancher hingegen,

der als Ketzer geschmäht

und gelästert worden ist, hat mit seiner schlichten Verkündigung, die wenig von der hohen Weisheit der Rechtgläubigkeit besaß, den Saamen der Wiedergeburt in die Gemüther gestreut und sie zum lebendigen Glauben geführt. — Der Erlöser führt unter denen, zu denen er sich nimmer bekennen will, ferner solche auf, die da sprechen:

„Haben

wir nicht in Deinem Namen Teufel ausgetrieben?" Ausdruck ist dunkel.

Dieser

Wir irren indeß schwerlich, wenn wir ihn hier

ohne Weiteres von der Abstellung böser Sitten im Gemeindeleben oder bei Einzelnen deuten.

Wir haben den und jenen bekehrt, daß er nicht

mehr die weltliche Weise der Lebensführung kennt, daß er vielmehr mit Furcht und Zittern in gottesdienstlichen Uebungen nach der Selig­ keit ringt.

Wir haben durch Handhabung der kirchlichen Zucht in der

Gemeine manches Aergerniß unterdrückt, so daß die bösen Geister wei­ chen mußten.

Wir haben uns so durch unsere Erfolge als Jünger deö

Herrn ausgewiesen.

Auch hier wieder Manche, die derartiges von sich

rühmen, sollen das schwere Wort Christi vernehmen: mir, ihr Uebelthäter."

„Weichet von

Endlich werden nach unserem Text Andere

ihre rechte Jüngerschaft Christi durch große Thaten ausweisen wollen. Ihnen ist vielleicht dies und jenes Gemeinnützige gelungen, sie haben an all den Angelegenheiten, den Thätigkeiten der Vereine, die dem Reiche Gottes dienen sollen,

fleißig Theil genommen.

Diese, sollte

man meinen, wenn sie sich dadurch als ächte Jünger Jesu bewährt haben,

werden, wenn sie lehren, auch rechte Propheten sein.

Der

Heiland läßt auch das nicht als ein sicheres Kennzeichen gelten.

Auch

unter ihnen sind solche, die er abweisen muß und denen er zurufen wird: Ich habe euch noch nie erkannt.

Also nicht an rechtgläu-

84 big und fromm klingender Rede, nicht an einer gewissen Kraft, böse Erscheinungen des Lebens zu bannen, ja nicht einmal an einer soge­ nannten christlichen Thätigkeit, die scheinbar Großes ausrichtet, können wir gewiß werden, daß rechte Propheten, Boten ächter christlicher Wahr­ heit zu uns reden.

Bei alle dem ist eS möglich, daß die Lehrer nur

mit den Lippen Herr, Herr sagen, daß der Erlöser sie als falsche Pro­ pheten von sich weist. Woran denn wird der ächte Prophet vom falschen unterschieden? Der Erlöser sagt: Himmel, der

Wer den Willen thut meines Vaters im

geht in's Himmelreich

ein.

Er sagt weiter: Der

schlechte Baum bringt nicht gute Frucht, Dornen und Disteln bringen nicht Trauben und Feigen, der gute Baum trägt nicht schlechte, sondern gute Früchte. Darum an den Früch­ ten ist zu erkennen und zu prüfen. Das ist damit ausgesprochen, daß, um die heilsame Lehre der Wahrheit zu bringen, der Mensch erst selbst des rechten göttlichen Lebens theilhaftig sein muß, daß in dem gottwohlgefälligen Leben eigentlich allein das zuverlässige Zeugniß und der Beweis für die Wahrheit des verkündigten Wortes enthalten ist. Von dem Erlöser spricht der Jünger in begeisterter Rede*): Du hast Worte des ewigen Lebens, von ihm sagen selbst die Diener der Pharisäer**):

Es hat nie ein Mensch also geredet, von ihm

das Volk***): Er predigt gewaltig und nicht wie die Schrift­ gelehrten.

Worin lag diese unwiderstehliche Kraft und Gewalt seiner

Rede? Wie angemessen, Geliebte im Herrn, wie schön die Darstellung auch bei ihm sein mochte, das that's noch nicht, selbst nicht das, daß kein Irrthum ihm nachgewiesen werden konnte.

Aber das war das

Wichtige, daß seine Rede nichts war als Ab- und Ausdruck seines eigenen inneren Lebens. Von der Liebe des Vaters zeugen seine Worte und siehe in seinem ganzen Leben, selbst unter den bittersten Qualen des Kreuzes, ruht seine Seele mit vollstem Vertrauen und vollster Er­ gebung in dieser Liebe Gottes, wie das Kind an der Mutter Brust.

*) Johannes 6, 68. **) Johannes 7, 46. ***) Matth. 7, 29.

85 Die Erfüllung des göttlichen Willens legt er den Hörern so dringend an's Herz, und siehe das ist ununterbrochen die Nahrung seines inneren Lebens, daß er selbst den Willen des Vaters thut bis zum Gehorsam im Tode am Kreuz.

Die Liebe, die barmherzige, die heilige, die ver­

gebende lehrt er als des Gesetzes Erfüllung und sein ganzes Leben selbst geht auf in barmherziger, heiliger, vergebender Liebe.

Seine

Lehre ist sein eigentlichstes, wahrstes Leben aus Gott und in Gott, gefaßt in das Wort der Klarheit.

Darum ist in seiner Lehre die volle

und sündenüberwindende, die welterneuernde und die Menschheit be­ seligende Kraft

gegeben, darum ist er der vollendete,

Gottesprophet.

In diesem Maaße freilich kann keiner nach ihm ein

rechter Prophet, ein völliger Lehrer der Wahrheit sein.

wahrhaftige

Dennoch nur

in dieser Aehnlichkeit Christi können die treuen, ächten Boten göttlicher Wahrheit erkannt werden.

Das ist die wichtige, nothwendige Grund­

lage für alles prophetische Ausbreiten der christlichen Heilswahrheit, daß bei dem Verkündiger das innere Leben durch Christi Kraft und Liebe ein erneutes und sich stets erneuendes, ein heiliges und sich stets heiligendes, geworden, daß der Mensch, vorher ein Wildling, durch das Pfropfreis, aus Christo genommen, zu einem guten Baum geworden ist. So allein wird er sein können der rechte Träger der Wahrheit, des Evangelii. — Hier ein kurzes Wort an uns Väter und Mütter! Wir sind für unsere Kinder recht eigentlich die gottverordneten Propheten, daß wir ihnen zuerst die christliche Wahrheit in die jugendlichen Herzen einflößen,

sie aufziehen in der Vermahnung zum Herrn.

Wie ver­

trauensvoll schmiegt sich das Kind an Vater und Mutter auch in der Beziehung an, daß ihm die Wahrheit aus ihrem Munde doppelt theuer, heilig und wichtig wird.

Sind aber nicht auch Väter und Mütter

manchmal falsche Propheten für ihre Kinder, um so verderblicher und gefährlicher, als das Kind ihnen gegenüber noch nicht im Stande ist, des Erlösers Warnung „Hütet euch!"

zu hören und anzuwenden?

Wie werden wir vor solcher Schuld uns bewahren, wie uns als Gottes Botschafter für unsere Kinder bewähren? Etwa so, daß wir schon früh bestimmte Gebote lehren und auf das regelmäßige Hersagen derselben halten?

So, daß wir ihnen Sprüche der Schrift, den Katechismus

86 und fromme Lieder in's Gedächtniß prägen?

Das kann im rechten

Maaße Alles recht gut und zu seiner Zeit nothwendig sein, das kann aber ebenso verkehrt gebraucht werden und dann recht schlimm wirken. Gewiß ist es damit durchaus nicht gethan.

Ueberhaupt, nicht diese

und jene Regel läßt sich allgemein vorschreiben.

Eins aber ist Noth,

daß wir selbst gute Bäume sind, daß unser ganzes Leben darauf ruht, daß wir Christum in uns haben und in Christo sind.

Ist das der

Fall, dann brauchen wir nicht besorgt zu sein. Wir werden als GotteS Stellvertreter auf unsere Kinder wirken und wenn wir vielleicht schon längst im Grabe ruhen, werden sie auf uns mit Dank als auf die ersten Propheten Gottes, die ihnen die heilsame Wahrheit mitgetheilt haben, zurückschallen. Fehlt uns aber das innere christliche Leben, durch nichts, was wir thun und reden, werden wir diesen schwersten Mangel ersetzen. — Doch wir sind hier eigentlich von unserem Gegenstände abgeschweift, indem wir uns selbst warnten,

nicht falsche Propheten zu werden.

Noch einmal für uns selbst zurück auf des Herrn Warnung: euch vor! Hütet euch vor den falschen Propheten.

Sehet

Nach des

Herrn Anleitung sollen wir falsche und ächte Propheten an den ver­ schiedenen Früchten des Lebens erkennen.

Doch, andächtige Freunde,

denken wir damit an die äußeren Werke, kommen wir dann nicht leicht in die größte Verlegenheit?

Auch die falschen Propheten sprechen ja

nach unserem Text: Haben wir nicht in deinem Namen große Thaten gethan? Auch die falschen Propheten können sich wie weiland die Pha­ risäer in das Schafskleid guter Sitte, in den Schein eines äußeren, ehrbaren Wandels, hüllen.

Deshalb aber spricht der Herr auch nicht,

an ihren Werken, sondern an ihren Früchten sollt ihr sie erken­ nen.

Was so ein natürliches Erzeugniß des neugeborenen Herzens,

des Glaubens und der Liebe ist, wie die süße, würzige Traube das Erzeugniß, die Frucht des Weinstocks, das ist ein Zeugniß des wahren Prophetenthums.

Aber da sind wir eigentlich bei einem Punkt ange­

kommen, wo uns die völlige Fähigkeit des Urtheilens verloren gehen will. Es würde ja nothwendig das zum rechten Urtheilen gehören, daß wir auch die Herzen, die Gesinnung zu durchschauen vermöchten.

Das

87 kann aber einem Menschen nur theilweise, nur in beschränktem Maaße gelingen.

So aber hätten wir an dem „An ihren Früchten sollt

ihr sie erkennen" keinen zureichenden Prüfstein gewonnen.

Und

doch, laßt uns das Wort nur nach anderer Seite wenden, und der ausreichende Prüfstein ist uns gegeben. Anschauungsweise ein Saame.

Jede Lehre ist nach biblischer

Der Acker, auf den dieser Saame ge-

strent wird, sind die menschlichen Seelen.

Die Bestrebungen und Be­

thätigungen, zu denen durch die Lehre die Seelen hingezogen und ge­ führt werden, das sind die Früchte derselben.

Die guten Früchte der

Lehre hat der Heiland mannichfach auch in dieser seiner Rede, in der sogenannten Bergpredigt, angegeben, nämlich Demuth im Suchen der göttlichen Gnade, Friede und Freude in Gott, Ernst in der Heiligung, die Liebe, die sich in Sanstmuth und Barmherzigkeit bekundet und als Versöhnlichkeit den Haß der Feinde überwindet, Einfalt und Wahrheit im Gebet und in Allem, was dem Gottesdienst angehört, völlige Gott­ ergebenheit, vor der die Sorgen der Welt entfliehen.

Wohlan, hörst

du eine Lehre, die sich als christliche ausgibt, aber sie wirkt so auf dich, daß in dir statt der Demuth der Stolz genährt wird, der ja so gern und leicht in ein geistlich Gewand sich hüllt und fromme For­ men annimmt, wird dein Herz durch diese Lehre bitter, feindselig, stets geneigt, zu richten und zu verdammen, wirst du bei deiner Heiligung angeleitet, mehr auf strenge Formen im äußeren Leben, als auf innere Reinigung der Seele zu achten, dir deine gottesdienstlichen Uebungen als ein Verdienst anzurechnen und damit vor den Leuten fromm zu scheinen,

wirst du in einen solchen Gemüthsstand versetzt,

daß

du

nicht mehr an der Liebe Gottes, darum auch nicht an seinen Gaben im Leben dich kindlich freuen kannst, sondern vielmehr mit einem fin­ stern Ernst auch bei anderen jeden unschuldigen Genuß verdammst — sind das Wirkungen einer Lehre auf dein Gemüth, — und wenn diese Lehre

in allem Schimmer der Rechtglänbigkeit strahlte und in alle

mögliche rührende und erbauliche Salbung sich kleidete, es wäre dir dennoch die Lehre der falschen Propheten und der Herr riefe dir sein Wort der Warnung zu: Hüte dich, daß du nicht durch sie verführt werdest, in's Herr, Herr sagen zu gerathen! Uebt aber daS verkündigte

88 Wort einen solchen Einfluß auf dich, daß es dich demüthig, ernst und eifrig in innerer Heiligung macht und doch dein Gemüth mit Friede und Freude erfüllt, daß es dich mehr und mehr zur Sanftmuth, Ge­ duld, Barmherzigkeit, Versöhnlichkeit erweckt, dich immer mehr in Wahr­ haftigkeit und Einfalt hineinzieht; und wenn alle Welt den Bann über solche Lehre ausspräche, du sollst sie an ihren Früchten als ächte Got­ teslehre erkennen. Herr spricht:

Der Jünger des Herrn bringt sie dir und der

Wer ihn verachtet, der verachtet mich, wer aber mich

verachtet, der verachtet den, der mich gesandt hat. Gott sei Dank, der uns das helle Licht des Evangelii, in ihm die seligmachende GotteSkraft gegeben! Gott sei Dank, der in Christo selbst uns den Weg, die Wahrheit und das Leben schenkte! — Wohl werden in der Welt Fäl­ schungen deS Christenthums bleiben. Aber wir können uns hüten, wir haben das helle Licht, in dessen Strahlen wir unterscheiden: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. das Gute behaltet.

Amen.

Darum:

Prüfet Alles —

Die Reinheit des Herzens, der Weg zur rechten Gotteserkenntniß. Text: Matth. 5, 8. Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. Das ist, Geliebte im Herrn, ein uns Allen gewiß aus der Kind­ heit her schon bekanntes,

gar liebes Wort des Erlösers.

Aber wie

bekannt und wie lieb, sind wir mit unserem Geist schon recht in seinen Inhalt eingedrungen? Haben wir uns denselben durch gläubiges Ver­ ständniß schon recht angeeignet? Oft geht es uns so, daß das Bekann­ teste uns noch am mehrsten verhüllt, das Nächste unserem Geist noch das Fernste geblieben ist.

Gewiß ihr folgt gern meiner Bitte, euch

mit mir in den Sinn unseres Textes zu vertiefen.

Die Seligkeit soll

nach demselben durch das Erkennen begründet sein. anders möglich?

Wie wäre das

Nur der Geist, nicht die Sinne genießen Seligkeit;

aber den Geist ohne Denken, ohne Erkennen uns vorstellen, das können wir nicht.

Nur im Erkennen kann der für jdas Erkennen bestimmte

Geist sein

volles Genügen gewinnen.

anderen Ort**):

SoIsagt der Herr auch am

„Die Wahrheit wird euch frei machen," oder**):

„Das ist das ewige Leben, daß sie dich, daß du allein wahrer Gott

Lieder: 561. 481, 8. *) Johannes 8, 32. **) Johannes 17, 3.

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bist und den du gesandt hast Jesum Christum erkennen." So von sich, von seinem Heilandsberuf sprechend, nennt er sich*) „das Licht der Welt." Nun durch das Erkennen will man deshalb auch die Ge­ sinnung bilden und spricht: der Weg zum Herzen geht durch den Ver­ stand. Wohl ist darin eine gewisse Wahrheit. Aber wir müssen diesen Satz doch sehr beschränken, ja wir müssen ihm den scheinbar entgegen­ gesetzten: Erleuchtung des Geistes erwächst auö der Heiligung des Gemüthes als seine andere Seite gegenüberstellen. Wie oft wirkt eine große Ausbildung sür's Erkennen, eine fast wunderbare Schärfe des Verstandes so gar nicht auf Besserung der Gesinnung, verknüpft sich wohl gar mit voller Herzlosigkeit, ja stellt sich in den Dienst ärgster Sünde! Es gibt eine Klarheit des Verstandes, die ist wie die Helle des kältesten Wintertages, ohne jedes wirkliches Leben, weil ohne wahre Liebe im Gemüth. So weist uns denn auch der Er­ löser in seinen Reden manchmal darauf hin, wie die Beschaffenheit des Herzens wesentlich auf die Erkenntniß des Geistes einwirkt. Aus dem Herzen leitet er an bekannter Stelle die argen Gedanken ab. So auch von entgegengesetzter Seite in unserem Text. Wenn Selig­ keit da ist, wo man Gott schaut; so ist das Schauen Gottes selbst die köstliche Frucht von der Reinheit des Herzens. Dieser Gedanke: Aus der Reinheit des Herzens entspringt klare und wahre Gotteserkenntniß soll es unserem Text gemäß sein, dem wir unter dem Beistände des göttlichen Geistes jetzt weiter nachdenken. Gott wolle diese Betrachtung uns segnen, daß auch sie zu einer, fortschreiten­ den, harmonischen Ausbildung des Gemüthes und Geistes in der Nach­ folge Jesu uns reize und stärke**). I. „Selig sind die reines Herzens sind!" Wir fragen uns zuerst: Worin besteht die Reinheit des Herzens? Es ist mit dem Aus­ druck bezeichnet, daß etwas fehlt, nämlich das, was beschmutzt und so verunstaltet. Was aber das Befleckende für das menschliche Herz oder Gemüth ist, geht aus der Bestimmung des Menschen hervor. Der Mensch heißt die kleine Welt. Siehe die große Welt in ihrem irdischen *) Johannes 8, 12. **) Matth. 15,19.

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Bestände erfüllt und durchdrungen von mächtigen Gewalten und Kräf­ ten, wie sie oft gegen einander angehen! Wie ist eS da manchmal, als ständen sie sich gegenseitig im Vernichtungskampfe gegenüber, als sollten sie so sich selbst und das Ganze verzehren! Aber durch den gewaltigen Streit und das mächtige Gewoge ziehen sich ausgleichende Gesetze hin­ durch und in diesen Gesetzen eine allgegenwärtige, Alles bewältigende, leitende Macht und diese Macht ist nichts Anderes als das allgegen­ wärtige Walten des lebendigen Gottes. Indem so unter Gottes Re­ gierung die Kräfte seinen Willen vollziehen, besteht fort die Welt als Welt, als geschöpflicher Abglanz seiner Herrlichkeit, wird fortwährend in ihr neugeboren ihre Harmonie, ihre Schönheit. So in dem irdischen Menschen verschiedene Regungen, Bewegungen, Triebe der Sinnlichkeit, zu ihrer Zeit wohl auch sich mächtig erhebend, und in heißer Gluth oder in gegenseitiger Bekämpfung Verderben drohend. Aber Gott hat dem Menschen seinen Odem, den Geist, eingehaucht, daß wie Gott selbst in der Welt, so der Geist als Vernunft und Gewissen in der Leiblichkeit über die Begehrungen und Triebe der Sinnlichkeit regiere und mittelst solcher Regierung das Gute erzeuge, das sittlich Schöne erscheinen lasse. Siehe im Herzen, im Gemüth walten die Triebe der Sinnlichkeit, hier soll Alles durchzogen werden vom Gewissen, von der Macht des Geistes. Nun da ist das Herz verunreinigt, verunstaltet, wo es der Tummelplatz der sinnlichen Begierden ist, ohne daß Vernunft und Gewissen noch etwas gelten. Das von der Sinnlichkeit erfüllte, von des Geistes Leitung gelöste Herz ist das unreine. Weiter! Herz und Welt, Natur und Gemüth sind von Gott für einander geordnet. Aus der Welt, aus der Natur soll das Licht der ewigen Gottesmacht, Weisheit und Güte erwärmend und belebend in das Gemüth dringen. Die Welt als Gottesoffenbarung will und soll das Herz zu Gott erheben, daß es in ihm Ruhe suche und finde, in ihm seliges Genügen. Da aber sagt das Buch der Weisheit*), daß die Menschen, indem sie mit Gottes Werken, mit der Natur umgehen, sie im Ansehen gefangen werden, weil so schön ist, was man siehet, *) Weisheit 13, 7.

92 d. h. daß das Gemüth mit seinem Sehnen und Genießen sich wohl in und an die Welt verliert, aber eben damit auch Gott verliert, daß es über Weltbegehren und Weltgenießen Gottes vergißt oder nicht zu Gott kommt.

Erfüllt sein im Gemüth von der Welt für sich ohne Gott,

durchzogen sein vom Ehrgeiz, Habsucht u. s. w. und Gottseligkeit nicht kennen, nach Gottseligkeit sich nicht sehnen, das heißt sein Herz zur Stätte der Unreinheit gemacht haben. Endlich, vermittelst des Gemüthes ist der einzelne Mensch so recht eigentlich hineingepflanzt in die Menschheit, bestimmt, für dieselbe zu leben. Vermöge seines Herzens kann und soll er weinen mit den Wei­ nenden und sich freuen mit den Fröhlichen, kann und soll er der Liebe sich hingeben und in der Liebe dienen.

Das Herz für die Liebe, das

ist seine göttliche Bestimmung! Wenn es dagegen von den Nebenmen­ schen sich abwendet, sich ihnen verschließt, sich in sich selber zusammen­ zieht, wenn es statt der Liebe der Selbstsucht sich übergibt, so daß es gleichsam von sich selber abfällt, wenn so das Herz herzlos wird, dann ist es das verunstaltete, häßliche, das unreine Herz! Sonach besteht die Reinheit des menschlichen Herzens in der Freiheit von dem fleischlichen Wesen, von der Herrschaft der Sinnlichkeit, in dem Gelöstsein von dem ungöttlichen Weltwesen, von dem Verkauftsein an die Welt, in der Entfernung von aller Selbstsucht. Aber ist es mit der Reinheit des menschlichen Herzens etwa wie mit der Reinheit eines Gefäßes, einer Platte und dergleichen mehr? Mit anderen Worten, kann das Verunreinigende fehlen ohne daß kräf­ tiges, lebendiges Gute vorhanden ist? unmöglich ist.

Ihr fühlt es sogleich, daß dies

Das Unreine im Herzen weicht nur dem sittlich Guten

und Schönen in seiner lebendigen Kraft und Wirksamkeit.

Der ent­

wickelte Mensch kann mit seinem Gemüth nur Einem von beiden, ent­ weder dem sittlich Guten oder dem sittlich Bösen angehören.

Eine

völlige Gleichgültigkeit und vollständige Unentschiedenheit zwischen dem Guten und Bösen, eine Leerheit von beiden zugleich ist undenkbar. So kann denn von der knechtenden Macht der Sinnlichkeit das Herz nur frei werden, wenn das Gewissen sich ermannt und erstarkt, wenn der Geist in heiliger Kraft die Triebe und Begehrungen zu regieren, mäch-

93

tig genug ist. So kann das Gemüth allein die falsche Weltliebe ab­ thun, kann sich allein des Ehrgeizes, der Habsucht, der Weltlust und Weltsorge entäußern, wenn es Gott gefunden und gewonnen hat, wenn der Gottesfriede, die Gottseligkeit dasselbe durchdringt. So kann es endlich nur aus den Banden der Selbstsucht Erlösung haben, wenn es sich der Liebe öffnet, wenn das Herz in Liebe schlagen lernt für die Brüder und Schwestern. Kraft und Zartheit und Lebendigkeit des Gewissens und Geistes, innige Gottseligkeit, brünstige Liebe gegen die Nebenmenschen gehören deshalb nothwendig zur Herzensreinheit. II. Ist aber das bisher Gesagte wahr, dann könnten wir ver­ anlaßt sein, zweifelnd, zagend in der Menschheit um uns zu blicken, in uns selbst verzweifelnd hineinzuschauen. Wo wäre denn ein reines Gemüth, in dem ein kräftiges, zartes Gewissen die vollständige, entschie­ dene Alleinherrschaft übte, bei dem das Wort nicht mehr Anwendung fände*): „Das Fleisch gelüstet wider den Geist und den Geist wider das Fleisch?" Wo wäre das Gemüth, das allezeit und jeden Ortes beim Beschauen und Genießen der Natur und beim Leiden durch die Natur vom Irdischen zu Gott strebte, um ihn, den Ewigen, zu ergrei­ fen, das nie mehr des Irdischen begehrte, ohne daß das Gottesbewußt­ sein die Kraft und das Maaß dieses Begehrens bestimmte? Wo wäre das Gemüth, in dem allein die hingebende, treue, unverwüstliche Liebe die beseelende, treibende Kraft ausmachte, so daß keine Regungen der Selbstsucht mehr zur Geltung gelangten, kein durch die Selbstsucht ver­ unreinigtes Reden und Handeln mehr vorkäme? Wir sagen es uns bei ernster Prüfung, daß weder die volle Herrschaft des Gewissens, noch der beständige Zug zur Gottheit, noch die "völlige, heilige Liebe in den menschlichen Gemüthern wohnt, daß sie allesammt entweder durch Fleischlichkeit, oder ungöttliches Wesen, oder Selbstsucht verunreinigt werden. Deshalb eben ist es für uns ausgemachte Wahrheit: Wir sind allzumal Sünder**). Auch scheint es nach dem dermaligen Zu­ stand des menschlichen Lebens, nach seinem Beginn und seiner Ent­ wickelung kaum anders sein zu können. Wohl ruhen im Kinde die *) (Mater 5, 17. **) Römer 3, 23.

94 Anlagen der Frömmigkeit und Liebe, wohl schlummert in ihm der Geist aus Gott; aber Alles nur keimartig, als zunächst unwirksame Kraft. Ehe tum diese Gotteskraft sich als Geist ermannen kann, hat sich schon die Sinnlichkeit entfaltet unb' ist eine Macht geworden.

Demgemäß

denn auch eine Neigung, wenn man die umgebende Welt anschaut und genießt, beim Aeußeren, beim Irdischen rein als Nahrung der Sinn­ lichkeit stehen zu bleiben.

Und wenn der Mensch in der Menschheit

zum Selbstbewußtsein kommt und dabei allerdings auch im Kreise der Liebe die Regungen der Liebe in ihm hervorgerufen werden; so tritt doch sofort die Selbstsucht viel mächtiger hervor, der Selbsttrieb macht sich zunächst als das Alleinherrschende geltend.

Darum, ist das völlig

unentwickelte Kind freilich weder ein von Sinnlichkeit, noch von Un­ frömmigkeit, noch von Selbstsucht beherrschtes, so kennt es doch auch nicht das Mindeste von Gewissenhaftigkeit, Frömmigkeit, Liebe. können sein Herz weder rein noch unrein nennen.

Wir

Aber wie die Ent­

wicklung beginnt, so regen sich auch und erheben sich mehr und mehr jene verunreinigenden Mächte, so daß nicht von der Reinheit, sondern von der Unreinheit die Bildung anfängt.

Daher hören wir es aus

uralter Zeit her als ein Gotteswort*):

„Das Dichten des mensch­

lichen Herzens ist böse von Jugend auf."

Ist so allgemein von Kind­

heit an die Unreinigkeit der Herzen verbreitet, wo bleibt das Gott Schauen, wo bleibt die Seligkeit durch das Schauen Gottes?

Soll

dieses Schauen, diese Erkenntniß Gottes nur durch die Reinheit des Herzens möglich sein;

dann ist sie für unser sündiges Geschlecht eben

unmöglich.

Damit aber wären wir bei der Auffassung des aufgeklärten

heidnischen

Roms angekommen,

wie

sie

uns

in der Pilatusfrage

„WaS ist Wahrheit?" entgegentritt, nämlich bei der Ueberzeugung, daß auf religiösem und dann auch auf sittlichem Gebiete für unS die Wahr­ heit unerreichbar bleibt und das wäre freilich trostlos genug. Aber laßt uns noch einmal auf jenen Anfangspunkt zurückkehren und wo möglich schärfer und dann auch klarer sehen.

Allerdings, wie

ein eingeschlossener, gebundener Keim, so ruht zunächst der Geist im

*) 1. Moses 8, 21.

95 Menschenkinds als in einem sinnlichen Natnrwesen, so liegen in ihm verborgen die noch ganz gebundenen Anlagen der Frömmigkeit und Liebe. Aber im Keim ist eben stets der Trieb und die Kraft, seiner Zeit her­ vorzubrechen, in's Leben zu treten und sich zu entfalten. Wie der ein­ zelne Mensch in der Natur und in der Menschheit zu einer Entwicklung seines Lebens kommt, so erwacht nothwendig im sinnlichen das geistige Leben, so kommt die Stunde, wo das Gewissen, wo eine dunkle Fröm­ migkeit, wo Wallungen, welche die Liebe andeuten, sich regen.

Kein

irgend wie gebildeter, entwickelter Mensch, in dem die Kraft des Geistes im Gewissen, hinziehend zur Frömmigkeit und Liebe, sich nicht geregt hätte, niemals laut geworden wäre! Aber freilich, wenn so diese gött­ lichen Kräfte sich regen und erheben, dann stehen ihnen die niederen schon mächtig gegenüber und es entzündet sich der Streit zwischen Fleisch und Geist, zwischen ungöttlichem Wesen Selbstsucht und Liebe.

und Frömmigkeit, zwischen

Und nun ein zwiefaches Verhalten, wodurch sich

die Menschen unterscheiden und sich dann auch wenigstens innerlich von einander scheiden.

Schwach, sündig, befleckt sie alle!

Aber die Einen

bei ihrem erwachenden Geistesleben wissen sie nichts Anders zu thun, als die mahnende Stimme des Gewissens zu beschwichtige», den Zug nach Oben zu dämpfen, den Forderungen der Liebe zu wehren, um nur ganz und ungestraft der Sinnlichkeit und Weltlichkeit dienen, um nur mit vollen Zügen den Becher, welchen ihnen das Fleisch und die Got­ tes entleerte Welt darbietet, trinken zu können.

Die Anderen, ja wie

schwach sie auch sein mögen, wie oft im Begriff, zusammenzubrechen, wie sie sich deshalb auch immer wieder anklagen müssen; — ihr Seh­ nen und Verlangen, ihr Ringen und Streben bleibt doch, das Höhere, das ihrer Vernunft und ihrem Gewissen Gemäße sich anzueignen, Gott zu finden und zu gewinnen, der heiligen Liebe das Herz zu öffnen und derselben alle geistigen und leiblichen Kräfte zum Dienst zu stellen. Einen

durch

die Schwerkraft ihres irdischen Wesens

Die

lassen sie sich

immer tiefer in die Unreinheit hinabziehen, den Anderen schwebt die Reinheit des Herzens als heilige Lebensaufgabe vor, die sie nie ver­ gessen, der nach zu streben, sie nie wieder aufhören können.

Wo nun

solches Ringen ist, da ist eine Kraft des Gewissens, da ist ein göttlicher

96 Sinn, da ist etwas von Liebe im Herzen.

Ist auch die Sünde noch

nicht verschwunden, so ist doch das, worin wesentlich die Reinheit be­ steht,

als ein Werdendes

vorhanden.

Gott verachtet das beginnende, nicht.

Und, m. G., der allliebende

schwache, zarte Leben des Menschen

Wie er seine Sonne scheinen läßt auf

die Erde, um ihren

Schooß zu erwärmen, damit die zarten, schwachen Keime sich regen und dehnen und die oft harte Rinde des Landes durchbrechen; so wal­ tet seine Gnade im milden, erwärmenden Licht seiner Erziehung, damit auch die Keime des höheren Lebens nicht verkommen, sondern Kraft gewinnen und in'S Dasein, in's fröhliche, wirkliche Leben hervorbrechen. Das hat der Heiland als des Vaters Willen erkannt, daß alle dieje­ nigen, welche dem göttlichen Zuge ihres Geistes folgen und nach Herr­ schaft des Gewissens, nach Frömmigkeit und Liebe ringen, vor ihm als solche erscheinen, welche reines Herzens sind. lösers Verheißung:

Diesen nun gilt des Er­

Sie werden Gott schauen und diese Verheißung

hat sich stets erfüllt und wird sich immer von Neuem erfüllen. III.

Laßt uns nun, Geliebte, um die Wahrheit unseres Textes

anschaulich zu erkennen, ein wenig in die Geschichte des menschlichen Geschlechtes hineinblicken und zwar zunächst in die Nacht und Finster­ niß, wie sie auf den Völkern lastete.

Das Gottesbewußtsein liegt so

tief in der Menschheit begründet, daß wir bei allen Nationen demselben begegnen. Aber auch wie verwirrt und verunstaltet.

Wie wird in den

heidnischen Religionen nicht die Gottheit, wie werden vielmehr nur die häßlichsten Zerrbilder derselben geschaut!

Woher diese Erscheinung?

Allein daher erklärlich, daß sie, die Völker, der Unreinigkeit des Her­ zens sich hingegeben hatten und aus derselben sich nicht lösen wollten! Der Geist mancher Völker des Alterthums konnte sich nicht frei machen von der Gewalt der äußeren Natur, von dem Reizenden und Fürchter­ lichen in derselben, daher war der Gott, den sie schauten, die Alles gebärende und Alles verzehrende Naturkraft.

Die Götzen, Baal oder

Moloch oder Astarte, traten für die Menschen an die Stelle des leben­ digen GotteS und in tiefer Finsterniß wurden ihnen scheußliche Dienste geweiht.

Die Schönheit ist es, die als holder Zauber die Griechen

beherrscht, die Schönheit der erscheinenden Welt. Aber bei allem Sinn

97 für das Schöne fehlte ihnen des Gewissens Kraft itnb Leben, die Idee der Heiligkeit.

Daher bei allem Leben in dem Schönen und für das

Schöne ist es doch im letzten Grunde die Sinnlichkeit, welche hier wal­ tet.

Wie wird die Gottheit geschaut, wo so die Sinnlichkeit in den

Herzen regiert?

Wir blicken mit einem gewissen Wohlgefallen auf die

schönen Göttergestalten,

wie

sie die griechische Kunst einst erzeugte.

Aber galten nicht diese Götter, trotz dem, daß sie der Zauber der Schönheit umhüllte, zugleich als die Beschirmer, ja selbst als die Skla­ ven der zuletzt im tiefsten Schlamme sich verlierenden Unkeuschheit, der in Raserei sich versenkenden Trunksucht, des listigen, schlauen Betru­ ges? Nicht Gott,

sondern die Zerrbilder der Gottheit sieht der schön­

heitstrunkene Grieche, denn sein Herz ist von der Sinnlichkeit beherrscht und so ein unreines. Wenn aber griechische Denker und Dichter mit ihrem Streben nach dem Wissen zum Theil von der Sinnlichkeit sich lösen und die Gottheit als geistig waltende Macht fassen lernen, von der Selbstsucht sind sie nicht los gekommen und, auch die Gottheit geistig den­ kend, legen sie ihr den Neid bei, der jedem Sterblichen, wenn er irgend­ wie einen hohen Gipfel der Kraft, des Glückes, des Ruhmes, der Tugend erklimmt, in den Abgrund hinabstürzt. Und wenn ein großer, weiser Mann unter ihnen im Gegensatz zu aller früherer Anschauung seines Volkes endlich zu dem Satz sich erhob:

Die Gottheit ist neidlos; gewiß der

klare Blick des Geistes war ihm nur geworden, weil sein Herz aus der Selbstsucht heraus wahrer Sittlichkeit und Reinheit entgegenrang. Ja weil bei den gebildeten Völkern des Alterthums die Selbstsucht das Allbeherrschende war, weil ihre Herzen lieblos und deshalb unrein wa­ ren, darum konnten sie die Gottheit nicht schauen, wie sie ist. ihren Göttergestalten stand ihnen das geist- und herzlose,

Hinter

das aller

Liebe und Weisheit entbehrende, das völlig unbegriffene und unbegreif­ liche, Alles mit eiserner Nothwendigkeit zermalmende Geschick.

Aus

den unreinen Herzen kommen die unreinen Gedanken in Beziehung auf die Gottheit. Tretet jetzt mit mir auf den Boden besonderer göttlicher Offenba­ rung.

Nicht willkürlich hat Gott sich die Träger seines Lichtes, die

Seher und Propheten erwählt, sondern weil sie sich des Lichtes fähig Themas, Pl'edigkrn.

7

98 machten, darum empfingen sie sein Licht. Abraham schaute so gut wie seine Zeitgenossen in die Welt und sah ihre Schönheit und das Hehre und Große in derselbe».

Er aber konnte mit dem denkenden Geist

an der Welt in ihrer Natürlichkeit nicht haften.

Der Geist suchte nach

dem Geist, die Seele dürstete nach dem lebendigen Gott.

Weil sein

Herz rang, Gott zu finden, weil es der Reinheit entgegenstrebte, darum aus dem Hain in seiner Lieblichkeit, aus dem nächtlichen Himmel in seinem Strahlenglanz trat seinem Geist die Gottheit entgegen, ließ sich erkennen als die, welche ruft: vor mir und sei fromm" *).

„Ich bin der allmächtige Gott, wandle Ja in den Sternen am Himmel und in

dem Sande am Meere deutete die göttliche Güte ihm ihren Rathschluß: Ich will dich segnen in deiner Frömmigkeit und

deine Nachkommen

nach dir, ich will segnen durch dich, durch deine in deinen Nachkommen sich fortpflanzende Frömmigkeit die Geschlechter

der Erde. — Moses

konnte bei allem Reichthum und aller Herrlichkeit des königlichen Hofes, bei allem Glanze egyptischer Bildung des Gewissens Stimme nicht in sich dämpfen.

Diese war mächtig genug, ihn zu seinem verachteten

Volk hinzuziehen,

das Recht dem Unrecht voranzustellen.

Wie sein

Herz in Gewissenhaftigkeit rein und reiner wird, so erschaut er den Ewigen und hört seine Stimme**): „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig!" Wie steht es endlich mit Christus? Er war der Gottessohn nur weil er der rechte Menschensohn war, nur weil er nach der Bestimmung der Menschheit frei von aller Selbstsucht sich völlig in Hingebung und Selbst­ verleugnung dem Dienst der Menschen weihte.

Deshalb hat Niemand

Gott je gesehen, wie er ihn schaut, nämlich als die ewige Liebe, als den rechten Vater.

Deshalb höret er allezeit des Vaters Worte und siehet

allenthalben des Vaters Werke. Sein vollendetes, ungetrübtes Schauen der Gottheit beruhte bei ihm auf der vollendeten Reinheit des Herzens. — Wie kommt man jetzt zum Schauen Gottes, zur klaren Gotteserkennt­ niß? Etwa schon durch überlieferte Lehren, wie sie Verstand und Ge­ dächtniß in sich aufnehmen?

Auf diesem Wege gewinnt man wohl

Worte, welche Menschen täuschen, aber keine Erkenntniß, welche beseligt

*) 1. Moses 17, 1. **) 3. Moses 19, 2.

99 und heiligt.

Auf diesem Wege bleibe» alle Lehren der todte Buchstabe,

welcher tobtet.

Man schaut Gott überhaupt nicht, wie er im Begriff

gefaßt wird, er ist eben nicht im Begriff zu fassen, — vielmehr wie ihn das Herz wiederspiegelt.

Bei dem Bekenntniß der Dreieinigkeit

und Alles dessen, was die Kirche je über Gott gelehrt hat, bezeugen viele durch die ganze Art ihres Seins, daß sie im Glück von Gottes Heiligkeit, im Unglück von Gottes Erbarmen noch keine Ahnung haben. WaS sie von einem zukünftigen Leben erwarten, es beweist klar, sie kennen den nicht, welcher Geist ist und im Geist und in der Wahrheit angebetet sein will.

Wie sie die Versöhnung durch Christus denken,

das macht klar, daß sie von dem Schauen eines Johannes: „Gott ist die Liebe" viel weiter entfernt sind

als alttestamentliche Propheten.

Betrachten wir manche edle Heiden des Alterthums in ihrem Denken und Verhalten, wir müssen sagen, selbst, während sie ihre Opfer brin­ gen, ist ihnen hinter ihren Götzenbildern schon das Licht der wahrhaf­ tigen Gottheit aufgegangen.

Manche Christen, indem sie mit hochtö­

nenden Formeln des Glaubens den heiligen Gott preisen, meinen nur das verzerrte Götzenbild, was ihre verderbte Phantasie ihnen zeichnet. Kurz Gott und göttliche Dinge begreift nicht allein der Verstand, son­ dern nur Verstand und Gemüth in innigster Durchdringung. der Weg zur Gotteserkenntniß geht durch das Herz.

Darum

Reinigen

wir

uns hier vom fleischlichen, ungöttliche», selbstischen Wesen, hungern und dursten wir mit unserem Herzen nach der Gerechtigkeit, dann wie in klarster Fluth das Bild der Sonne, so wird in unserem Geist sich der Gottheit reines Bild hell und klar wiederspiegeln.

So allein wird

in uns die Anbetung Gottes zum Schauen und das Schauen Gottes zur Anbetung werden. fahren: schauen.

So werden wir die Wahrheit des Wortes er­

Selig sind die reines Herzens sind; Amen.

denn sie werden Gott

Die rechte Weisheit. Text: Jakobus 3, 13 — 17. Wer ist weise und klug unter euch? Der erzeige mit seinem guten Wandel seine Werke in der Sanstmuth und Weisheit. Habt ihr aber bitteren Neid und Zank in eurem Herzen, so rühmet euch nicht, und lüget nicht wider die Wahrheit. Denn das ist nicht die Weisheit, die von oben herab kommt, sondern irdisch, menschlich und teuflisch. Denn wo Neid und Zank ist, da ist Unordnung und eitel böses Ding. Die Weisheit aber von oben her, ist auf's erste keusch, darnach friedsam, gelinde, läßt ihr sagen, voll Barmherzigkeit und guter Früchte, unparteiisch, ohne Heu­ chelei. 353ir haben, Geliebte im Herrn, vor vierzehn Tagen unser Nach­ denken auf die Gotteserkenntniß gerichtet und namentlich uns das klar zu machen gesucht, daß sie nur in Verbindung mit der Reinheit des Herzens bestehen kann, ja daß sie theilweise aus der Reinheit des Her­ zens mit erzeugt wird. Nun Gott erkennen, Gott schauen ist Seligkeit, ist der Gehalt des ewigen Lebens, ist darum höchsten, ernstesten Stre­ bend werth. Aber Gotteserkenntniß ist doch auch nicht möglich ohne Lieder: Nr. 4. 264. 521, 5.

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die Welt, in der wir allein Gottes Offenbarung haben. Daher zur Gotteserkenntniß gehört nothwendig Erkenntniß der Welt, und zwar der großen, der Gesammtwelt, und der kleinen Welt, ich meine die Kenntniß der uns umgebenden Natur und die Kenntniß unserer selbst, als einer Zusammenfassung der Natur im Kleinen für den ihm inwoh­ nenden denkenden, persönlichen Geist. Das Erkennen der Welt von rechter Art wird nun in unserer Sprache Weisheit genannt. Wahre Weisheit und ächte Gotteserkenntniß gehören darum zu einander, for­ dern einander und es schien mir deshalb zweckentsprechend jener letzten Predigt heut eine Betrachtung über die Weisheit anzureihen. Wir schließen uns dabei an den verlesenen Text und suchen uns den Inhalt desselben durch unser Denken in möglichster Klarheit und Fülle anzu­ eignen, wozu Gott uns das Licht und die Kraft seines Geistes schen­ ken wolle. I. Zuerst fragen wir doch wohl, was das eigentliche Wesen der Weisheit sei? Unleugbar hängt das Wort in unserer Sprache mit Wissen zusammen und ohne Wissen, ohne Erkenntniß wird es keine Weisheit geben können. Den Weisen denken wir unS im Licht des Denkens, im Licht der Klarheit und Wahrheit. Wird Salomo wegen seiner Weisheit gerühmt; so geschieht es, weil ihm die Gegenstände der Welt, der Natur in ihrer Beschaffenheit aufgeschlossen vor Augen lagen und er über sie Auskunft zu geben verstand, weil er mit klarem Blicke die Verhältnisse der Menschen zu einander durchschaute und deshalb dieselben zu regeln, zu richten und zu schlichten vermochte. Aber das menschliche Wissen bezieht sich manchmal allein auf die einzelnen Gegen­ stände der Welt und auf die einzelnen Vorkommnisse des Lebens grade in ihrer Vereinzelung und Zusammenhanglosigkeit. Die gewonnene Erkenntniß der einzelnen Dinge und die Einsicht in einzelne Lebens­ verhältnisse wird vielleicht mit viel Umsicht, viel Kraft und Schärfe des Verstandes angewendet, um irgend ein Ziel zu erreichen. Aber ob das Ziel selbst ein würdiger Gegenstand des Strebens sei, ob darin Heil oder Verderben ruhe, dahin geht weniger das Forschen, das wird nicht geprüft. Das Ziel es ist etwa hier vom Ehrgeiz, dort von sinn­ licher Lust, dort von der Habsucht dem Streben gesteckt. Wie viel

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Wissen und Einsicht da auch vorhanden sei, mit wie viel Geschick und Umsicht die Mittel ergriffen, die Umstände benutzt werden, wir dürfen wohl etwa von Klugheit sprechen, aber nicht von Weisheit. Freilich ist die Klugheit der Weisheit unentbehrlich, aber sie ist nicht selbst die Weisheit, sie kann nur die Dienerin derselben sein und sie verliert ihren sittlichen Werth, sobald sie sich dieser ihrer eigentlichen Bestim­ mung entzieht. Mit Klugheit kann Ehrgeiz und Herrschsucht, kann Lasterhaftigkeit auftreten. Damit wird aber diese Klugheit selbst, wie sie der Weisheit sich entgegenstellt, eigentlich Thorheit. Gräbt sie doch zuletzt sich selber ihr Grab, bereitet sich selber ihr Verderben. Die rechte Weisheit faßt durch Erkennen und Denken die Einheit der Dinge zusammen, gewinnt die Einsicht in ihre Beziehung aufeinander, in ihren Zusammenhang unter einander, erschaut aus der eignen Vernunft her­ aus, wie eine allwaltende Vernunft alle Einzelndinge im All mit geisti­ gen Fäden zur Welt zusammenschließt. Die rechte Weisheit dringt durch alle die bunten Wechselfälle des Lebens gleichfalls zu dem Punkte hindurch, von welchem aus auch dies Bunte und Wechselnde aus einem bestimmten Sinn heraus geordnet und zusammengeschlossen erscheint, von wo aus das Verschiedene in eine höhere Einheit sich auflöst, so daß die Harmonie es ist, unter deren mildem, schönem Licht das Leben sich zeigt. Damit ist zugleich das verbunden, daß die Weisheit es stets mit dem rechten, höchsten Zweck der Welt und des Lebens zu thun hat. Ohne darum über den rechten Zweck des Lebens klar und sicher zu wissen, würde alles Wissen leer und bedeutungslos bleiben. Erst, wenn sie den höchsten Zweck, das alles Strebens würdige Ziel er­ kannt hat, will sie klug sein, will sie das einzelne Wissen, die einzel­ nen Kenntnisse verwenden, will sie die Umstände, Verhältnisse und Mittel auf's Sorgsamste benutzen. Damit sind wir schon auf einen ferneren Punkt geführt. Es gibt einen Wissensdurst, in dem man sich in's Grübeln, Forschen, Denken verliert und sich zugleich dem Leben entzieht. Es gibt ein Aufspeichern von Gelehrsamkeit, eigentlich nur für die Studirstube. Es gibt ein Wissen allein dem Denkvermögen angehörig, ohne daß es irgend einen Einfluß auf Gemüth oder Karakter übt. Wo es so sich verhält, da dürfen wir abermals nicht von Weis-

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heit sprechen. Nur wenn das Erkennen der Welt und des eignen We­ sens, das Erkennen der höchsten Zwecke des Daseins wie mit erwär­ mendem Licht das Herz durchstrahlt, wie mit geistiger Kraft den Karakter stählt, als göttliche Wahrheit den ganzen inwendigen Menschen bil­ det, nur dann fällt es mit der Weisheit zusammen. Damit hängt auf's Engste zusammen, daß sich dies Wissen, was den ganzen Menschen durchdringt, bewegt und erhebt, in Wirksamkeit und Leben umsetzt, daß es seine Lauterkeit und Kraft in entschiedenem Handeln bethätigt. Ohne das Hineintreten des Wissens in Leben und That kann dasselbe nicht schon für Weisheit gelten. Darum verknüpft die heilige Schrift bei Gott selbst, wie bei dem Erlöser Weisheit und Stärke, wie wenn es heißt *): „Denn feilt (Gottes) ist beides, Weisheit und Stärke," oder wenn sie Christum nennt:**) „göttliche Kraft und göttliche Weisheit." Darum tritt in heiliger Schrift die Weisheit wohl als göttlicher Bau- oder Werkmeister auf und es wird gesagt ***): „ der Herr hat die Erde durch Weisheit gegründet." Darum heißt es auch von der menschlichen Weisheit f): „Durch Weisheit wird ein Haus gebauet." Darum spricht in unserem Text der Apostel: „Wer ist weise und klug unter euch? Der erzeuge mit seinem guten Wandel seine Werke." Ist so nun die Weis­ heit das immer fortschreitende, immer klarer werdende Wissen um das Wesen der Welt und unseres eigenen Seins und Lebens, ist sie das Eindringen in den höchsten Zweck alles dessen, was uns umgibt und was wir an und in uns haben, ist sie das Wjssen, das mit seiner Klarheit und seiner Kraft zugleich erwärmend in das Gemüth, stählend und kräftigend in den Willen hineinwirkt, das somit das Leben selber gestaltet und eine Fülle entsprechenden Handelns erzeugt, ja dann ist sie uns sicherlich von außerordentlichem Werth. So erfleht denn der Apostel Paulus für seine geliebten 8eferff), daß „Gott ihnen gebe den Geist der Weisheit," so ermahnt unser Apostel chstf): „So aber jemand unter euch Weisheit mangelt, der bitte von Gott." So rühmt schon der alte Bunds): „Die Weisheit ist höher zu wägen, denn Per*) ***) ff) §)

Daniel 2, 20. Sprüchwörter 3, 19. Epheser 1, 17. Hiob 28, 18.

**) 1. Korinther 1, 24. +) Sxrüchwörter 24, 3. fff) Jakobus 1, 5.

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len." So erklingt die Mahnung*): ..Nimm an die Weisheit, denn sie ist besser als Gold" **) „Laß dein Herz auf Weisheit Acht haben und neige dein Herz mit Fleiß dazu" ***). „Sprich zur Weisheit, du bist meine Schwester!" II. Damit tritt an uns zweitens die Frage heran: Wie ist es möglich, die Weisheit zu erwerben, welcher Weg führt uns in ihren Besitz? Denken wir auch dieser Frage weiter nach. Zuerst wird es allerdings gelten, daß ohne Sehnsucht nach der Weisheit, ohne lebendiges Streben nach ihr, sie selbst nicht gewonnen wird. Die hei­ lige Schrift spricht in den Sprichwörtern f): „ der Weisheit Anfang ist, wenn man sie gern hört und die Klugheit lieber hat, denn alle Güter." Aber wie ist es doch so eigen! In jenem hochgebildeten Volk des Alterthums war ein Ringen nach Weisheit und sie galt für einen köstlichen, wenn nicht für den höchsten Besitz. Ja man rühmte sich hier der Weisheit und verachtete andere Völker als Barbaren, als der Wahrheit und Weisheit noch entblößt, so daß, als Paulus zu Athen, dem Mittelpunkt griechischen Wissens und griechischer Bildung, von dem lebendigen Gott Himmels und der Erde und dem ewigen Leben in ihm redete, grade Philosophen, für Weise geltende Männer, höhnend riefen: „Was will der Lotterbube sagen?" Paulus aber erklärt im Gegentheil, daß Gott ihre Weisheit, wie er sagt, „die Weisheit dieser Welt" zur Thorheit gemacht habe sich). Und wenn wir die Lehren des Evangelii und die Lehren der Weltweisheit auf griechischem Boden vergleichen, wir werden nicht im Zweifel sein, daß wohl dort, aber nicht hier das reine Licht der Wahrheit sich ergießt, daß wohl dort, aber nicht hier man wirklich einbringt in die Geheimnisse des Lebens und in den wah­ ren Zusammenhang aller Dinge, daß wohl dort, aber nicht hier die Weisheit in ihrer Lauterkeit erglänzt. Wie geht es zu, daß jenes Weis­ heit suchende Volk doch so vielfach nur zu ihrem Zerrbilde gelangte, ja daß sie für die Besten noch so wesentliche Trübungen und Verdunk­ lungen hatte. Wie geht es dagegen zu, daß der Apostel ans christlichem *) Sprüchwörter 16, 16. ***) Sprüchwörter 7, 4. ft) 1. Korinther 1, 20.

**) Sprüchwörter 2, 2. +) Sprüchwörter 4, 7.

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Gebiet zeugen darf von der Weisheit bei den Vollkommenen? Lasset uns beachten, wie in unserem Text der Apostel von einer falschen Weisheit redet und diese als irdisch nennt, ihr gegenüber aber die rechte Weisheit als die bezeichnet, welche von oben herabkommt. Gewiß ist damit göttliches Licht der Offenbarung und rein menschliches Suchen gegenübergestellt. Aber laßt uns recht festhalten, daß auch kein Licht göttlicher Offenbarung leuchten kann und will, wo kein menschliches Suchen und Denken die Seele für dasselbe öffnet. Wenn von Oben her Weisheit gegeben wird, so liegt der Grund mit in der Seele. Lasset uns ferner festhalten, daß die Weisheit nicht bloße Gotteserkennt­ niß ist, der Welterkenntniß entgegengesetzt, von der Welterkenntniß ge­ löst. Vielmehr gilt es bei der Weisheit recht eigentlich Welterkenntniß, Lebenserkenntniß und vermöge derselben rechte Welt- und Lebensbenutzung. Das „Von oben herab" wird bezeichnen, in welchem Geist und Sinn der Mensch an die Betrachtung der Welt und des Lebens geht, von welchem Grunde der Seele aus er die Dinge und das Leben an­ schaut. Siehe, da hören wir in der apostolischen Verkündigung von einer Doppelseite des menschlichen Seins, vom Fleisch (der Sinnlichkeit) und vom Geist, hören, daß dieselbigen wider einander sind, daß sie gleichsam mit einander ringen, von welcher Seite aus das ganze Leben, das Denken und Wollen seine Bestimmung nehmen soll. Entwickelt sich aber der Geist in vorwiegender Kraft, kommt die Vernunft als der Sinn, als das erwachende Vermögen für die Wahrheit, kommt das Gewissen als der Sinn und das Vermögen für die Heiligkeit zur Gel­ tung, dann gewinnt damit der Geist nothwendig in der Gottheit seinen Mittelpunkt und seinen Halt, die Frömmigkeit wird sein Leben und seine Stärke. Wird im Kampfe des Fleisches wider den Geist dieser unterdrückt und verdunkelt, so daß der fleischliche Sinn Alles überwu­ chert, sich durch alles Bestreben hindurchzieht, so verfällt der Mensch mit seinem Denken der äußeren, irdischen Welt als ohne Gott bestehend und wirkend, so steht er unter der Bestimmung der äußeren Eindrücke des Irdischen, so wird ihm nach des Erlösers Ausdruck das, was die Welt ihm bietet, Mammon, d. h. das All und Eine, damit der Götze seines Herzens. Wie das Mächtigwerden des Geistes übergeht in

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Frömmigkeit, so die Fleischlichkeit in die ungöttliche Weltlichkeit. Nun wir wissen, was wir hier als „Von oben herab" und was wir als „Bon unten herauf", als irdisch zu bezeichnen haben. Der Geist ist von Oben her und indem er seinen Ursprung in Gott wieder sucht, wird auch die Frömmigkeit als „Von.Oben her", als gottgegeben, sein Theil. DaS Fleisch ist von „Unten her", ist das, was dem irdi­ schen, vergänglichen Stoff angehört. Mit dem fleischlichen Sinn, welcher den Geist gefangen nimmt, ist der Mensch dem „Von Unten her", der äußeren Welt, verfallen. Nun gilt es in der Weisheit die rechte Erkenntniß und Anschauung der Welt und des Lebens, so bedarf sie als Grundlage die Wahrheitsliebe, den Sinn für das Heilige, das rege, lebendige Gewissen, die in Gott lebende Frömmigkeit. Ohne die­ sen Zug zu Gott hin, zur göttlichen Wahrheit und Heiligkeit, wird alles Forschen, Denken und Wissen in dieser Welt zuletzt doch Thorheit und Blindheit. Nur mit dem frommen Sinn begabt, darf der Mensch hoffen, daß sich ihm das wirkliche Wesen der Welt, die wahre Be­ deutung des Lebens erschließt, daß die rechte Weisheit als das Licht auf seinem Pfade leuchtet. Wir haben aber hierbei, um gründlich zu gehen, noch Eins in's Auge zu fassen. Das Leben des Geistes als Frömmigkeit, es schlum­ mert zunächst im Menschen, bedarf der Weckung von Seiten Gottes. Ja, wie die Menschen ihrer dermaligen Natur nach erscheinen, so ist, wie sie zum Selbstbewußtsein gelangen, das Fleisch schon immer eine mehr oder weniger knechtende Macht, der Geist schon immer mehr oder weniger gefesselt und von der Macht der Selbstsucht umdunkelt. Des­ halb bedarf der Mensch einer Befreiung, einer Erleuchtung und Erlö­ sung. Endlich werden wir solcher Beschaffenheit uns als unserer Sünde bewußt, so fühlen wir uns in unserem Inneren genöthigt, sie uns als unsere Schuld zuzurechnen. Aber das Bewußtsein der eigenen Sünde, der eigenen Verschuldung trennt uns erst recht von Gott, hin­ dert uns, uns zur kindlichen, getrosten Frömmigkeit zu erheben. Das Gottesbewußtsein, der Glaube selbst, hebt uns damit nicht nach Oben, sondern drückt als eine schwere Last uns danieder. Da bedarf's für uns der Versöhnung, der Vergebung, gleichsam durch überschüssige,

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überfluthende Gottesliebe. Nun diesen Bedürfnissen kommt der ewig getreue Gott entgegen. Hinein hat er in die Menschheit gegeben und gibt fort­ während in sie hinein sein Gesetz, daß es durch Mark und Bein hin­ durchdröhnt: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig"*). In alle menschliche Entwickelung hinein läßt er seine Zusage ertönen: „Nahet euch zu mir, so nahe ich mich zu euch"**). „Rufe mich an in der Noth, so will ich dich erretten, so sollst du mich preisen." Und wie aus einem sanften Sausen heraus, welches bei allen Stürmen doch die Geschichte der Menschheit durchzieht, bekundet sich die Geduld und Langmuth, die Liebe des Herrn, der „Sünde vergibt und die Gebre­ chen heilt, der das Leben von dem Verderben erlöst und es krönet mit Gnade und Barmherzigkeit" ***). Siehe so erweckt er zunächst die heilige Scheu, die ächte Ehrfurcht vor sich, daß darin und damit auch die Weisheit im Leben beginne. So bietet er Zuversicht zu seinem Beistände und Frieden in seiner Vergebung, daß darin die Weisheit fortschreite und der Vollendung entgegenreife. Geliebte, die Geschichte der Menschheit als stehend unter göttlicher Regierung, können wir mit auffassen als Geschichte göttlicher Offenbarung. Der Geschichte Mittel­ punkt ist Christus, darum auch der Mittelpunkt und die Fülle göttlicher Offenbarung. Was als Gottesgesetz noch Stückwerk, noch eingehüllt vor ihm und verdunkelt war, in seinem Leben hat's seine Einheit und seinen Zusammenhang, hat's seine volle Klarheit gefunden. In ihm wirklich Immanuel, „ Gott mit dem Menschen." Darum durch ihn bietet Gott die Kraft seines Geistes. In ihm deshalb lebendig und wirklich und völlig die Liebe, die auch das Verlorene sucht, die auch den Schuldnern vergibt, die versöhnt und die Verirrten an den Vater­ busen als Gerettete zurückführt. Darum von ihm kommt erst recht die heilige Ehrfurcht, welche übergeht in kindlichen zuversichtlichen Glauben, in hingebende Liebe gegen ihn, der uns zuerst geliebt hat. Darum sprach der Heiland einst zu den Juden, die weder seine heiligen Mahnungen hören, noch seine vergebende Liebe annehmen wolltench): „Ihr seid von unten her, ich bin von oben herab, ihr seid von dieser Welt, ich *) JakobuS 4, 8. ***) Psalm 103, 3 — 4.

**) Psalm 50, 15. t) Johannes 8, 23.

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bin nicht von dieser Wett." Darum ist er göttliche Kraft und Weis­ heit. Darum durch ihn, der von Oben her, wird die Weisheit gewon­ nen. M. G., nicht so verstehen wir das, als würde uns durch ihn ohne Weiteres das rechte Wissen und die rechte Erkenntniß der Welt und des Lebens als ein Fertiges in den Schooß geschüttet, als bedürf­ ten wir nicht des Umschanens, deS Forfchens, Wollend, Denkens. Im Gegentheil, je mehr Christus unsere Weisheit werden soll, desto mehr müssen wir sie selbst uns auf allen Lebensgebieten erwerben. Aber das ist die Mahnung: Tritt wirklich hinein in die Herzensgemeinschaft mit dem Erlöser, laß fortwährend von ihm dich erwecken, um in heili­ ger Gottesscheu vor allem Bösen zurückzuschaudern, nimm durch ihn den seligen Glauben, daß dein ist die vergebende Liebe des Höchsten, daß dir der treue Gott den Beistand seines Geistes gewährt; dann wirst du fähig werden, auch die Welt und dein Leben im rechten Lichte zu schauen, dann wird sich dir alles Wissen zur Wahrheit verklären, dann wird deine Klugheit deinem Heile dienen, dann wird die rechte Weis­ heit dich erleuchten; denn sie als rechte Welterkenntniß kommt dir von Oben. III. Wir sahen früher, daß das rechte Wissen nur die Weisheit sei, wo es sich in Wirksamkeit umsetzt, wo es das Leben gestaltet, wo es ein entsprechendes Handeln erzeugt. Die Weisheit muß sich an der That, am Leben bewähren. Darauf leitet uns zum Schluß noch so recht nachdrücklich unser Text, indem er beschreibt, wie die rechte Weisheit sich bekundet. Ist die rechte Weisheit das rechte Wissen um die Welt und das Leben, um den höchsten Zweck in Allem, so daß zugleich mit eingeschlossen ist entschlossene Klugheit; dann gehört zur Bethätigung derselben Alles, was am handelnden Menschen als gut erscheint, die Tugend in ihrem ganzen Umfange, wie sie alle ein­ zelnen Tugenden einschließt. Das will ja offenbar in unserem Text der Apostel ausdrücken, wenn er die einzelnen Züge aufstellt. Folgen wir ihm in der Kürze. Die rechte Weisheit bethätigt sich zuerst in der Keuschheit, in hehrer Reinheit. Sinnlichkeit (Leiblichkeit) und Geist sind von Gott in dieser Weltordnuug für einander bestimmt, sol­ len nicht außer einander sein, sondern sich durchziehen. Aber es gibt

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eine rechte und eine falsche Weise des EiuSwerdens von Geist und Sinnlichkeit. Die falsche Art ist, wo die Sinnlichkeit als Fleisch den Geist beherrscht und wo irgend das geschieht, da ist unkeuscheS Wesen, Unreinheit. Die rechte Art der Einigung zwischen beiden ist dis, daß der Geist das allein Herrschende wird, die Sinnlichkeit dagegen einmal das Werkzeug für das Walten der Vernunft und des Gewissens und dann der klare Spiegel, die reine Darstellung des geistigen Lebens. Das ist die Keuschheit, die hehre Reinheit im weitesten Umfang des Wortes. Der Weisheit Art ist die Keuschheit, ihre Bethätigung ist, daß in uns stets der Geist die Zügel des Regimentes behält. — Weiter führt der Text an ein friedliches und billiges Verhalten. Worauf ist das begründet? Offenbar auf Anerkennung der Rechte un­ serer Brüder und Schwestern, auf heiliger Achtung vor ihrer Persön­ lichkeit, auf dem Bewußtsein, daß sie nach Gottes Bild geschaffen auch zu Gottes Kindern berufen sind, daß darum die Weltordnung und das Regiment Gottes sie schirmt und ob ihnen wacht. Wo die rechte Weis­ heit waltet, die ja Gottes Reich als höchsten Endzweck der Welt und des Lebens erkennen wird, da dämpft sie die Selbstsucht und ehrt noth­ wendig im friedsamen und billigen Verhalten die Nächsten als Mit­ genossen des Himmelreichs. „Sie läßt ihr sagen." Der Ausdruck bedeutet, sie läßt sich überführen, läßt sich belehren. Da, wo der Stolz des Wissens waltet, ist jede Belehrung verhaßt und wird zurückgestoßen. Nur der Demüthige, wie er sich seiner Schwachheit und Unvollkommen­ heit, darum seiner Jrrthumsfähigkeit bewußt ist, so bleibt er bereit, Lehre anzunehmen. Ist aber die Weisheit und solche Demuth in" ihrem Zusammenbestehen nicht unmöglich, hebt nicht die Eine die Andere auf? Das gewiß am Wenigsten. Je klarer uns aufgeht der höchste Zweck des Lebens, das letzte Ziel göttlicher Weltordnung, desto mehr werden wir auch imte, wie ferne wir solchem Ziel noch in unserem Denken, Fühlen, Wollen stehen, wie wir darum fühlend, denkend und handelnd noch mannichfach fehlen, wie Noth uns thut Mahnung, Zurechtweisung, Lehre anzunehmen. Weil Paulus im Lichte der Weisheit von Oben her wandelte, darum sprach er in Demuth: Nicht, daß ich's schon er­ griffen hätte, darum erklärte er auch sein Wissen für unvollkommen

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und Stückwerk, für ein Schauen im dunklen Spiegel eines Räthsel­ wortes. Schon der alte Bund läßt uns den Thoren und den Weisen darin unterscheiden, daß jener jede Belehrung verwirft, dieser sich derfetbeir erfreut. Je weiser ein Mann, desto unbefangener, freier, milder gegenüber fremder Ueberzeugung, desto mehr bereit, dieselbe an der eigenen zu prüfen. „Die Weisheit läßt ihr sagen." „Voll Barmherzigkeit und guter Früchte." Die guten Früchte sind hier sicherlich recht eigentlich die Erzeugnisse und Wirkungen der Liebe. Ist die Weisheit das lebendige Wissen vom Endziel der Welt und des Lebens, vom Reiche Gottes, so ist sie in Welterkenntniß zugleich das von dieser Seite aus Gewißwerden von Gottes allschaffender, allerlö­ sender, allbeseligender Liebe, so ist sie, ein Handeln erzeugend, noth­ wendig die Hingabe an diese begnadigende GotteSliebe, so kann sie auch nur mit erbarmender, versöhnender, helfender, segnender Liebe verknüpft sein. Endlich „unparteiisch, ohne Heuchelei." Das erste Wort ist sehr zweifelhafter Deutung und wir fassen es vielleicht am richtig­ sten für „nicht zweizüngig," nicht unlauter, nicht lügenhaft. Dann passen beide Worte zusammen, drücken aus die Lauterkeit und Wahr­ haftigkeit, daS erste Wort in Beziehung auf den Verkehr mit unserem Nächsten, das zweite in Beziehung auf unser sogenanntes gottesdienst­ liches Verhalten. Ist die Weisheit selbst der Ausfluß ewiger Gottes­ wahrheit, ist sie klares, wahres Wissen, ist sie das helle Durchleuchten der Welt und des Lebens, wie müssen nicht die Lüge und Heuchelei ihr entschiedener Gegensatz sein, wie kann sie anders bestehen, als indem sie ein- und ausathmet den Gottesodem der Wahrheit, indem sie allent­ halben Lüge und Heuchelei richtet und vernichtet. Wohlan, wo die keusche Herrschaft des Geistes über die Sinnlichkeit, wo die gewissen­ hafte Achtung der Rechte -unserer Mitmenschen in Friedlichkeit und Billigkeit, wo die ächte Demuth, die, sich des Werdens bewußt, fremde Ueberzeugung ehrt und nach der Berichtigung der eigenen strebt, wo die Liebe, welche hilft, tröstet, heilt und segnet, wo Wahrheit und Wahrhaftigkeit, welche im Verkehr mit der Welt und in der Frömmig­ keit Lüge und Heuchelei vernichtet; da ist die Weisheit eingekehrt und bewährt sich als Kraft und Leben. Dabei noch Eins, um unserem

111 Text ganz gerecht zn werden! Wiederholt spricht der Apostel, daß Bit­ terkeit, Neid, Zank sich mit der Weisheit nicht vertragen, daß, wenn man diese Unholde im Herzen hegt und sich doch der Weisheit rühmt, man wider die Wahrheit lügt, daß solche vermeinliche Weisheit irdisch, menschlich, teuflisch ist. Bitterkeit, Neid, Zank sind das Gegentheil der Liebe. Auch in der Beschreibung ächter Weisheit nach ihrer Bethätigung bildet offenbar die Liebe den Mittelpunkt.

Erkennen wir, wie auch

von dieser Seite deö Paulus Wort sich bestätigt: Band der Vollkommenheit.

die Liebe ist das

Die Liebe, die der Wahrheit sich freut,

kann auch nur die volle Bethätigung der Weisheit sein.

Und so, Ge­

liebte, nur wo die Liebe das Herz erwärmt und das Leben befruchtet; nur da haben wir die Bürgschaft, daß auch durchleuchtet.

die Weisheit die Vernunft

Er, in dem die volle Liebe und die volle Wahrheit sich

durchdrängen und der deshalb war göttliche Kraft und göttliche Weis­ heit, er erfülle auch uns je länger je mehr mit der rechten Weisheit des Lebens! Amen.

Selbsterhöhung und Selbsterniedrigung. Text: Er sagte aber

Lukas 14, 7 — 14. ein Gleichniß

zu den Gästen, da er

merkte, wie sie erwählten oben an zu sitzen, und sprach zu ihnen: Wenn du von Jemand geladen wirst zur Hoch­ zeit, so setze dich nicht oben an, daß nicht etwa ein Ehr­ licherer, denn du, von ihm geladen sei; und so dann kommt, der dich und ihn geladen hat, spreche zu dir: Weiche die­ sem;

und du müssest dann mit Schaam unten an sitzen.

Sondern, wenn du geladen wirst, so gehe hin und setze dich unten an, auf daß, wenn da kommt, der dich geladen hat, spreche zu dir: Freund, rücke hinauf;

dann wirst dn

Ehre haben vor denen, die mit dir zu Tische sitzen. wer sich selbst erhöhet,

Denn

der soll erniedriget werden;

und

wer sich selbst erniedriget, der soll erhöhet werden.

Er

sprach auch zu dem, der ihn geladen hatte: Wenn du ein Mittags-

oder

Abendmahl

machst,

so

lade nicht deine

Freunde, noch Peine Brüder, noch deine Gefreundeten, noch deine Nachbarn, die da reich sind;

auf daß sie dich nicht

etwa wieder laden, und dir vergolten werde. Sieber:' Nr. 287. 479. 14.

Sondern

113 Wenn du ein Mahl machst, so lade die Armen, die Krüppel, die Lahmen, die Blinden; so bist du selig; denn sie haben es dir nicht zu vergelten; es wird dir aber vergolten wer­ den in der Auferstehung der Gerechten.

Ü)er Mittelpunkt in unserem verlesenen Text, andächtige Freunde, ist offenbar der in der Mitte stehende allgemeine Ausspruch, welchen der Erlöser auch bei anderen Gelegenheiten und in anderem Zusammen­ hang gebraucht hat, weil derselbe eben eine Haupt- und Grundwahr­ heit des Christenthums ausdrückt. Wir haben mit demselben das Vor­ angehende vom Oben- und Untensitzen und das Nachfolgende von dem zu Tische laden zu verbinden und diese einzelne Anweisungen mit daraus zu begreifen.

Wie aber der allgemeine Spruch:

„Wer sich selbst er­

höhet, der soll erniedriget werden und wer sich selbst erniedriget, der soll erhöhet werden," auch in aller Munde ist und für etwas Klares, Sich von selbst Verstehendes gilt;

so dürfte doch gar vielfach grade

hier die richtige Einsicht fehlen und mannichfaches, falsches Verständniß walten.

Eben so sind die beiden besonderen Anweisungen des Herrn

gewiß mancher falschen Deutung ausgesetzt und sind schon deshalb oft schlecht oder gar nicht befolgt.

So viel ist klar, daß von Selbst­

erniedrigung und Selbsterhöhung gesprochen

wird,

Jünger Jesu jene zu empfehlen, ihn vor dieser zu warnen.

um dem Suchen

wir uns klar zu machen, was damit gefordert ist, indem wir zuerst Jrrthümliches abweisen, um dann zum richtigen Verständ­ niß hindurchzudringen.

Wolle Gott in seiner Gnade uns dazu

die rechte Erleuchtung gewähren, wolle er noch vielmehr seinen kräftigen Beistand uns schenken, daß wir der erkannten Wahrheit treulich folgen, damit auch unser sei des Herrn Wort: „Selig, wenn ihr solches wis­ set, so ihr es auch thut." I.

Das auf der Oberfläche liegende Verständniß wird uns bei

unserem Text viel weniger befriedigen können, als es bei so vielen ande­ ren Reden des Herrn der Fall ist. Der Heiland, welcher sonst Worte des ewigen Lebens bringt, würde danach hier nur gewöhnliche KlugThomaö, Predigten.

g

114

heitsregeln und auf der anderen Seite unausführbare, damit auch gegen die Klugheit, so weit sie berechtigt ist, verstoßende Anweisungen geben. Dränge dich in einer Gesellschaft nicht nach oben, suche nicht den Ehrenplatz! — Es gehört wahrlich in unseren Tagen nicht große Bil­ dung dazu', um das von selbst zu beobachten und wer solcher Regel folgt, dem sagt der Heiland gewiß eben so sehr wie denen, die nur Liebe geben, wo sie Liebe nehmen, dagegen Haß mit Haß bezahlen: Freund, was thust du Sonderliches? Thut nicht jedes kluge Weltkind das Gleiche? Wo man sich eitler Weise vordrängt, die äußere Ehre sichtbar erstrebt; da nur zu leicht schlägt die Selbsterhöhung dahin aus, daß man ein Gegenstand des Spottes, somit recht fühlbar erniedrigt wird. Also die reine Klugheit sagt'S: dränge dich nicht nach Oben! Wie steht'S aber mit dem Laden, mit der Regel: lade nicht Brüder und Freunde, sondern Bettler, Krüppel und Blinde? Ein Mahl, zu dem geladen wird, soll Ausdruck sein und Ausdruck geben einer beson­ deren vertrauensvollen Freundschaft, einer näheren, in gleicher Gesin­ nung wurzelnden Liebe. Ist vor Gott die Verbindung mit Brüdern und Freunden, Verwandten und Nachbaren nicht etwas Wohlgefälliges? Wenn nun solche Gesinnung auf die rechte Weise einmal im geselligen Mahl ihre Darstellung und Belebung sucht und findet, könnte das vor dem Herrn etwas Unrechtes sein? Würde ein solches Verbot nicht vielfach die Fäden edler Geselligkeit und geheiligter Verbindungen durch­ schneiden, ihren Lebensnerv unterbinden? Wiederum die Lahmen, Blin­ den, Krüppel, die Kranken bedürfen in ganz anderer Weise der helfen­ den Liebe als durch Gastmähler. Zu denen gilt's zu gehen, ihnen tröstlichen Zuspruch und helfende That zu bringen, damit so unser Auge ihnen leuchte und unsere Kraft sie auf ihrem Wege stärke. Fassen wir aber Beides auch allgemein auf, die erste Ermahnung nämlich als die zur Demuth überhaupt und die zweite, als die zur uneigennützigen Liebe, so klingt das Ganze, als solle beides durch den folgenden Lohn hervorgerufen werden, die Demuth durch den Lohn der Erhöhung, die Liebe, welche hier keine Vergeltung findet, durch den Lohn künftiger Seligkeit. Aber wäre denn das nicht erst recht eine Aufreizung zu dem, was der Demuth und Liebe entgegengesetzt ist, zum Ehrgeiz und

115 zur selbstischen Lohnsucht. Wenn ich durch Selbsterniedrigung nur eine Erhöhung erstrebe, ist das nicht der Ehrgeiz, der sich nur hinter er­ heuchelter Demuth versteckt? Wenn ich durch die Werke der Hülfe, für die ich hier keine Vergeltung erlange, mir nur, ich weiß freilich nicht was für eine, ewige Seligkeit erstrebe, stecke ich nicht in vollstem Eigen­ nütze, nur daß er durch die Larve der Liebe zu täuschen sucht?

Das

aber wäre dabei das Schlimmste, daß Ehrgeiz und Eigennutz nun mit häßlichster Unwahrheit und

Heuchelei verbunden

könnte im Licht des Evangelii verwerflicher sein. Gebrauch,

welcher in Römischer Kirche von

Selbsterniedrigung gemacht wird.

erschienen.

Nichts

Ihr kennt ja den

dieser Empfehlung der

Knecht der Knechte nennt man sich,

um in ungemessenster Herrschsucht Alles unter seinem Joche zu knech­ ten, um im höchsten weltlichen Glanze von Kaisern sich den Steigbügel halten, von Fürsten sich den Pantoffel küssen zu lassen.

Wer weiß

nicht,

öffentlichen

wie auch bei uns manchmal hinter den

stärksten

Sündenbekenntnissen, hinter der tiefsten Selbsterniedrigung vor aller Augen sich der größeste Priesterstolz verbirgt, der eben Alles nur dar­ auf berechnet, unbedingte Herrschaft über die Gewissen und die Gemei­ nen zu gewinnen und zu üben? Wer weiß auf der anderen Seite nicht, wie auch heute noch manchmal hinter den sogenannten LiebeSwerken als alleinige Triebfeder selbstische Lohnsucht steht, wäre eS auch eine solche, die auf Einlösung ihres Gewinnes erst in der Ewigkeit rechnet! Dergleichen kann nimmermehr vom Herrn empfohlen werden.

Jedes

Verständniß unserer Worte, wobei der Wahrheit und Wahrhaftigkeit zu nahe getreten, oder wodurch die Lohnsucht begünstigt würde, so daß man die Selbsterniedrigung als Mittel der Erhöhung ansieht und ge­ braucht,

ist gegen den Geist des Erlösers und muß darum als falsch

verworfen werden. Jede Auffassung unseres Textes, wonach die Werke der Hülfe gegen Leidende nur als Mittel, den Lohn jenseitiger Selig­ keit zu erwerben, gelten, steht mit dem Wesen des Evangeliums in vollstem Widerspruch und kein Buchstab einer einzelnen Stelle kann UNS abhalten, solche Erklärung als eine unchristliche abzuweisen.

II.

Doch eS wird Zeit, jetzt den Worten unseres Erlösers tiefer

nachzudenken, um das richtige Verständniß derselben zu gewinnen.

8*

Da

116 mache ich euch aufmerksam, daß der Evangelist die Rede Jesu ein Gleichniß nennt, also eine bildliche Rede. Nun so handelt es sich denn auch gar nicht um ein wirkliches Gastmahl, weder zu dem wir geladen sind, noch das wir veranstalten.

So handelt es sich auch nicht vom

ersten und letzten Platz bei dieser Gelegenheit, auch nicht vom Laden der Brüder oder der Leidenden.

Wovon wird gesprochen? oder mit

anderem Wort, wofür ist das Gastmahl ein Bild, ein Gleichniß? Danach dürfen wir nicht lange fragen. Der Herr liebt es ja auch sonst, unter dem Bilde eines gemeinschaftlichen Mahles das Himmelreich darzustellen, indem er es an anderen Stellen ausdrücklich eine Hochzeit, ein Abend­ mahl nennt.

Und welch treffliches Bild! Wie es die Liebe ist, welche

das eigne Haus öffnet und theure Brüder, Freunde, Verwandte ruft, um sich ihnen darzustellen, um sie mit ihrem Gut zu erquicken und zu erfreuen)- um sie geistig und leiblich zu laben;

so ist es ja die Liebe

Gottes, die zu ihrem Heil und Gut in Christo die Menschen ladet und in dieser Gemeinschaft sie labet und nährt und beseligt.

Wie durch

die Liebe des Wirthes sich vereinigt weiß und fühlt die ganze geladene Gesellschaft und sich jedes Glied derselben verpflichtet hält, in gleichem Zuge der Liebe seine Gaben zum gemeinsamen geistigen Genuß zu ver­ wenden ; so im Himmelreich, wie Gott in Christo es baut, sind verbun­ den die Glieder durch die gleiche Liebe Gottes und wissen sich verpflich­ tet, zum gemeinsamen Besten männiglich beizutragen und jeder mit seiner Gabe dem anderen Genuß des Heils zu verschaffen und zu meh­ ren.

Nun für dieses Reich Gottes, für die Gemeinschaft Jesu Christi

heißt es: Laß, bei dem Eintritt in dieselbe Ehrgeiz, Eitelkeit, Hochmuth dahinten.

Nicht wie die Söhne Zebedäi durch ihre Mutter sich den

Ehrenplatz zur Rechten und Linken Jesu erbaten, nicht so suche und fordere eine Stellung, welche Glanz und Ansehen im Aeußeren gewährt, sondern „setze dich unten an!"

Das wird sich demnach als Vor­

schrift Christi ergeben, daß wir im Reiche Gottes, in der Gemeinschaft des frommen, sittlichen Lebens, wie sie durch Jesum wird, nicht uns selbst unsere Stellung zu erwählen streben, sondern daß wir es dem Wirth, d. i. Gott dem Herrn überlassen, nach seiner Weisheit und Liebe wie allen Gliedern so auch uns die Stätten unseres Berufes zu

117

ordnen, daß wir es der Gemeinschaft, in welcher und durch welche Gott als heiliger Geist waltet, anheimstellen, nach Begabung und Ge­ schick wie jedem, so auch uns die rechte Stelle zu bestimmen. Wer in der Geselligleit beim gemeinsamen Mahle nach erstem Platze ringt, der wird billig als eitler Thor verlacht, der in seiner Verkehrtheit dahin wirkt, das Wesen der Geselligkeit zu vernichten. Das grade ist das ächte Band freier, edler Geselligkeit, daß die sich Versammelnden da­ hinten lassen ihren Rang in bürgerlicher und staatlicher Gemeinschaft, daß sich alle auf gleichem Fuße wissen und jeder nur so viel gilt, als er zur gemeinsamen Erheiterung, zu gemeinsamen geistigen Genuß mit seinen Gaben beiträgt. Die Liebe gleicht hier aus, was sonst in der Welt etwa geschieden und getrennt erscheint. Wie viel verkehrter, wenn im Reiche Gottes eitle Ehre sich ihr Kampfgebiet sucht! Gibt's doch in der That int Reiche Gottes keine wesentlich höhere oder niedere Stel­ lung. Oder wäre dem gnädigen Gott, der Liebe des Erlösers wirklich näher, wer als Würdenträger in Kirche und Staat erscheint, wer ein Amt der Lehre oder des Regimentes oder sonst ein Amt besonderer Pflichtleistung inne hat? Sind nicht alle Mitglieder des Himmelreichs reichsunmittelbar, d. h. stehen sie nicht alle als Kinder des Vaters durch den Sohn zu ihm in der allerinnigsten und engsten Verbindung? Und ist diese Stellung nicht, wie das Wesentliche, so auch das Allerhöchste, vor dem jede Auszeichnung, die man etwa der äußeren Stellung nach in der Kirche oder im Staate inne hat, wie in's Nichts zusammen­ schrumpft? Bor dieser hohen Einheit und Gemeinsamkeit haben alle Unterschiede der Stellung nichts mehr zu bedeuten. „Hier," ruft Pau­ lus, „ist kein Jude, noch Grieche, hier ist kein Knecht noch Freier, hier ist kein Mann noch Weib, denn ihr seid allzumal Einer in Christo Jesu" *). Hier ist in der That der Letzte wie der Erste und der Erste wie der Letzte. Und worauf könnte Selbsterhebung mit irgend einem Rechte sich gründen? Was hast du, das dein wäre und das dir nicht vielmehr nur dein Gott verliehen hätte? Habe, Amt, ja segensreiche Wirksamkeit, — der Gnade Gottes mußt du es zuletzt doch *) Galater 3, 28.

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zuschreiben, denn er theilt einem jechlichen zu nach feinem Wohlgefallen. Wer aber noch auf das Erhöhetwerden als auf einen Vorzug vor sei­ nen Reichsgenossen Anspruch macht, der zeigt nur, daß er das köstliche Besitzthum im Himmelreich, die Gotteskindschaft und Gottesgemeinschaft weder recht kennt, noch recht achtet, darum wohl auch nicht wirklich besitzet, daß, wie er sich zu erhöhen strebt, er so vom Herrn des Rei­ ches nothwendig zum Letzten erniedrigt wird, daß ihm zur Zeit noch gar kein Platz im Reiche gebührt. Wohl erscheint das Reich Gottes als Kirche, das ist als äußere Gemeinschaft mit bestimmter Ordnung, mit einem Oben und Unten. In dieser Ordnung aber hat eS nicht sein Wesen, sondern nur sein Mittel zur Erhaltung und Verbreitung. Wohl, um für das Reich Gottes zu arbeiten, gilt es, daß jeder seine bestimmte Stellung hat in der äußeren Gemeinschaft, aber dadurch wird nie seine eigentliche Stellung in der Gemeinschaft Christi selbst bedingt. Und, wie gesagt, diese Stellung sollen wir nicht, eitler Ehre gierig, uns selbst bestimmen wollen, sondern vom Herrn des Gastmahls, von Gott durch die Gemeine stets diese Bestimmung abwarten. Bei dieser verschiednen Stellung gilt'S, daß der äußerlich Letzte weiß und behält, im Glau­ ben und in der Liebe an den Erlöser ist er der Erste, keiner steht dem Heiland näher und daß der Erste, der die höchste Stelle in äußerer Ordnung inne hat, behält, er ist wirklich der Letzte, d. h. kein wirklich Gläubiger ist vorhanden, zwischen den und den Heiland er sich stellen dürfte, den er irgendwie verachten, dem er den Platz unter sich an­ weisen dürfte. Das ist es, was der Herr mit unserem Gleichniß uns vorhält. Also noch einmal: „dränge dich beim Gastmahl des Himmelreiches nicht nach dem ersten Platz! Ueberlaß eö demüthig dem Wirth der Liebe, dem treuen Gott, wohin er dich in diesem Leben zu stellen für gut findet." — Damit wäre nun allerdings klar, daß sich Christi Jünger nicht einer über den anderen erheben, nicht in eitler Ehre mit einander rin­ gen, nicht sich über- und die Brüder unterschätzen dürfen. ES ist ge­ richtet Alles, was eigene Selbsterhöhung heißt und ist uns auch klar, daß auf eigene Selbsterhöhung als Gottes Gericht Erniedrigung folgen muß. Aber in dem allgemeinen Satz spricht der Erlöser zugleich von

119 Selbsterniedrigung.

Nun so lange man noch höher von sich denkt, als

sich gebühret, ist das selbstverständlich.

Jeder sich selbst Ueberhebende

muß auf das richtige Maaß der Selbstschätzung zurückgeführt werden. Aber waS weniger einleuchten will, ist die Erhöhung, welche an solche Selbsterniedrigung durch Jesu Wort geknüpft wird. Wie ist es damit? DaS, Geliebte, ergiebt sich schon aus dem Vorigen, daß, wie köstlich Demuth und Bescheidenheit auch sind, sie doch sofort ihren Werth ver­ lieren, wenn sie nicht mehr in der Wahrheit wurzeln, wenn irgendwie etwas Erheucheltes sich einmischt.

Ja es ist in dem Fall auch gewiß,

daß wirkliche Demuth nicht mehr da ist, vielmehr ein um so größerer Durst nach eitler Ehre in der Seele glüht.

Paulus, wie demüthig er

war, er verleugnet nie, was Gott ihm an eigenthümlicher Begabung, Kraft, Wirksamkeit verliehen hat.

Auch unter die ersten Apostel, die

als Säulen der Gemeinen galten, stellt und beugt er sich nicht. Er hebt, wo es hingehört, die hohen Offenbarungen Gottes hervor, die ihm ge­ worden, oder bezeugt, daß er mehr gearbeitet habe, als alle die anderen. Meine Geliebten, wer würde denn auch verachtet, wenn ein Jünger des HKrn seine Gaben und was ihm in der Wirksamkeit fürs Himmelsreich gelungen ist,

geringschätzig und wegwerfend verkleinern wollte?

Gott, der die Gaben verleiht und von dem der Segen kommt.

DaS

kann GotteS Wille nicht fein, daß wir unsere Gaben verachten und ver­ kleinern; vielmehr daß wir sie unter seinem Beistand befreien und zu voller Wirksamkeit, damit aber auch zu voller Anerkennung und Werth­ schätzung bringen.

Wo

bleibt denn nun die Selbsterniedrigung im

Himmelreich, auf welche Erhöhung folgt? Wieder zurück zum Paulus! Welch Selbstbewußtsein, welch kräftiges Bewußtsein der ihm gewordnen, in und mit ihm mächtigen Gnade er auch hat, er kommt immer wie­ der auf seine Sünde, ja nennt sich den vornehmsten der Sünder. mit sind wir auf dem rechten Punkt.

Da­

Wer in Christi Gemeine ist,

welche reiche Begabung er hat, welche erspießliche Stellung,

welche

segensreiche Wirksamkeit, wie auch die Gnade schon auf die Heiligung seiner Seele gewirkt hat; er ist nicht nur von der Sünde und Selbst­ sucht hergekommen, sondern er trägt auch noch immer Reste des alten Menschen, Regungen, Bestrebungen der Selbstsucht, immer noch Sün-

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diges, Ungöttliches in sich. Dies aber zu vergessen und zu übersehen, dazu ist stets ein Hang in unserem Herzen. Wenn wir das aber über­ sehen, wenn wir diesem Hange folgen und in uns übersehen, was noch ungöttlich ist; dann können wir vor Gott und in Wahrheit nicht steigen, sondern nur sinken und wenn wir darin beharren, wir stürzen wie ein Satanas aus dem Himmelreich heraus. Hier ist der Punkt, wo nur in der beständig wach erhaltenen Erkenntniß seines sündigen Wesens, der Mensch den Kampf gegen die Sünde fortführt und durch die gött­ liche Gnade weiter erstarkt. So weit wir im Bewußtsein unseres selbstsüchtigen Wesens gegen dasselbe wachen und beten und in der Gemeinschaft mit Christo und Gott das Heil suchen, so weit wir uns also selbst erniedrigen, so weit erhöhet uns Gott nicht durch eitle Ehre vor den Menschen, sondern dadurch, daß er mit der Kraft seiner Liebe immermehr unsere Kräfte, die er in uns pflanzte, befreit und entwickelt und uns verklärt in das Bild seines Sohnes, dadurch, daß er schafft, daß all unser Thun immermehr in ihm geschieht. Das und das allein ist die Erhöhung, nach der wir zu ringen haben, daß wir eben vollkommne Gottesmenschen werden, zu einem jechlichen guten Werk geschickt. Diese Erhöhung behält allein in jener Selbsterniedrigung, in dem blei­ benden Bewußtsein unserer sündigen, stets zu bekämpfenden Schwachheit ihre sichere Grundlage. Kommen wir zuletzt in der Kürze auch zur zweiten Anweisung in unserem Texte. Wir sehen auch hier wieder das Gastmahl als das Bild des Reiches Gottes an. Der Wirth allerdings ist Gott, aber er gibt es zu verwalten denen, die in dasselbe aufgenommen sind, er sendet sie zugleich als seine Boten: „Kommt, es ist Alles bereit." Wie ver­ hält es sich da mit dem Laden der reichen Brüder und Freunde, der armen Krüppel und Blinden? Sehen wir uns nur die Pharisäer an, die sich damals für Inhaber des Himmelreiches hielten, die nach des Erlösers Zeugniß an ihrer Schriftkenntniß den Schlüssel des Himmel­ reiches besaßen, also in dasselbige hineinführen, zu demselben laden konnten und sollten. Wie verhielten sie sich dabei? Sich selbst für er­ leuchtet, für gerecht und heilig haltend, wollten sie im Reiche Gottes nur ihres Gleichen, nur ihre Gesinnungsgenossen sehen. In sich reich,

121

meinten sie Ehre zu geben solchen, die ihnen glichen, um von ihnen wieder Ehre zu nehmen. Alle anderen, Zöllner, Samariter, das Volk, wenn sie irgend wie Miene machten, ihnen sich nicht unbedingt zu unter­ werfen, sie alle galten ihnen als Blinde, („das Volk weiß nichts vom Gesetz,") als Krüppel und Lahme, sie waren ihnen Sünder, die sie im Himmelreich nicht dulden konnten. Das Volk ist verflucht, lautete ihr Spruch. Dieselbe Gesinnung erhebt sich auch immer wieder einmal in der Kirche. Einheit — Reinheit der Lehre — schreibt man auf seine Fahne. „ Wer da weichet von unseren Glaubensanschauungen, der ist ein Ungläubiger, ist blind, ein Kind der Finsterniß. Wer sich nicht jeder bei uns geltenden Satzung unterwirft, der ist lahm und ein Krüppel, ein Kind der Sünde und des Verderbens. Weder diese noch jene gehören in die Gemeinschaft der Kirche!" Solche Gesinnung, wie sie jüdische und christliche Pharisäer erfüllt, ist wahrlich nur aus tiefster Selbstverblendung und aus Verkrüppelung des inneren Lebens erklär­ lich. Dieser starren Rechtgläubigkeit und gleißnerischen Scheinheiligkeit stellt der Erlöser sein Wort gegenüber: „Lade nicht die reichen Freunde und Brüder, sondern die armen Blinden und Lahmen in's Himmelreich." Auch hier die Weisung: Erhöhe dich nicht, sondern erniedrige dich, da­ mit du erhöhet, damit du selig wirst in der Auferstehung der Gerechten. Offenbar ist der Sinn: Willst du in's Himmelreich nur aufnehmen deine Gesinnungsgenossen, die du mit dir für die Heiligen Gottes an­ siehst, dann erhöhest du dich, willst deine Ehre, deine Freude. Dagegen wird dann der Herr in seiner heiligen Liebe dich erniedrigen. Es gilt für dich das Wort*): „Wer Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein." Lade nicht deine Brüder und Freunde, die reich sind. Sind sie wirklich reich, nämlich an göttlichen Schätzen, wirklich gesund nämlich am in­ wendigen Menschen, dann ist dein Laden überflüssig, sie sind schon im Himmelreich. Sind sie es aber nicht, sondern halten sie sich nur da­ für, dann ist dein Laden verkehrt, gottlos. Niemand gehört weniger in's Himmelreich als eingebildete Selbstgerechte. Lade die Krüppel, Lahmen, Blinden, die dir noch nichts zu geben haben. Freilich ein Zug *) Römer 8, 9.

122

des Herzens zu Christo, ein Verlangen ihm anzugehören, muß da fein, sonst kommt niemand in'S Himmelreich. Aber waltet bei diesem Ver­ langen nach dem Herrn deiner Meinung nach auch noch mancherlei Irrthum, noch also geistige Blindheit, ist da noch.nicht die rechte GlaubenSerkenntniß, scheint dir auch die Lebensweise noch nicht ganz der strengen Regel heiliger Zucht zu entsprechen, scheint noch da zu sein ein Lahmen und Hinken auf dem Wege der Gerechtigkeit; o erhöhe dich nicht und sprich nicht: „WaS habe ich mit euch gemein," erniedrige dich selbst und ziehe mit dir die Schwachen zu Christo, daß er euch zusammen erquicke und stärke! Wärst du schon mehr erleuchtet, schon kräftiger im neuen Leben; wohlan es gilt die Selbsterniedrigung der Liebe, wie der Erlöser selbst nicht gekommen ist, sich dienen zu lassen, sondern selbst zu dienen. Es gilt, daß du denen dienst, die es geistig bedürfen, ihnen in heiliger Liebe zuführst die Strahlen deS hellen Lichtes und die Stärke der Kraft im Leben und Tode Christi, daß auch sie erleuchtet und durchleuchtet werden, daß auch sie anziehen die Kraft des Erlösers, daß sie, die früher Blinden, sehen, daß sie, die früher Lahmen, gehen. Erhöhe dich nicht selbst, daß du nur die Gemeinschaft derer suchst, die da geben können, sondern erniedrige dich, daß du Ge­ meinschaft auch denen gewährst, welchen du Dienste leisten mußt. Dann, sagt der Herr, wirst du selig werden in der Auferstehung der Gerechten. Die Auferstehung der Gerechten, — wohl wird das in der Schrift als ein Zukünftiges, Jenseitiges, oft aber auch als ein Gegen­ wärtiges, Diesseitiges betrachtet. Die geistig Blinden die durch Christum erleuchtet werden, die geistig Lahmen und Krüppel, deren innerer Mensch durch Christum wieder die rechte Gestalt und die siegreiche Kraft des Geistes gewinnt, sie feiern ihre Auferstehung schon hier, und zwar als die Gerechten, indem nach dem Worte des Apostels gleichwie Christus ist auferstanden von den Todten, so auch sie im neuen Leben wandeln. Aber wenn wir unser Wort auch von der künftigen Auferstehung ver­ stehen; so ist eine solche nicht ohne die obenerwähnte Auferstehung im Diesseits, ohne das Wandeln als Gerechte schon auf Erden. Siehe die Auferstehung der früheren kranken, schwachen, irrenden und sündlichen Menschen zu der Gerechtigkeit, das ist nach göttlicher Gnade die Frucht

123

der christlichen demüthigen Liebe, die sich selbst erniedriget, um mit ihren Gaben zu dienen. Ist damit nicht nothwendig die Seligkeit ver­ bunden? Wohl wenn die Seele Christum und in Christo Gott gefunden hat, sie jubelt in Seligkeit. Aber zum zweitenmal und wie im höheren Chor singt sie Jubellieder, wenn sie einer anderen Seele zum Besitz derselben Gnade geholfen, wenn sie den Bruder gewonnen hat. In solcher Seligkeit ist sie erhöht in die unmittelbare Nähe des verklärten Erlösers hinein. DaS, Geliebte, dürfte der wahre Sinn der geforder­ ten Selbsterniedrigung und Selbsterhöhung sein. Erniedrige dich alle­ zeit, daß du als ein zu Bekämpfendes deine Sünde und Selbstsucht im Auge behälft und nicht abläßt die Gnadenkraft Christi in dich auf­ zunehmen! Der Herr wird dich erhöhen, daß du immer mehr hinan­ wachsest zum vollkommenen Mannesalter in ihm! Erniedrige dich allezeit zum Dienst der Liebe gegen Irrende, Schwache und Fehlende, der Herr wird dich erhöhen zu der Seligkeit, daß auch dein Thun sein Heil weiter trägt, daß du und sie ewig schmecken die Freuden des himmlischen Gastmahls, das Gott in Christo uns bereitete, dazu helfe uns allen der Herr! Amen.

Das christliche Bekennen. Text: Römer 10, 9 — 10. Denn so du mit deinem Munde bekennst Jesum, daß er der Herr sei und glaubst in deinem Herzen, daß ihn Gott von den Todten auferweckt hat, so wirst du selig. Denn so man von Herzen glaubt, so wird man gerecht, und so man mit dem Munde bekennet, so wird man selig. beliebte im Herrn, die Verse, welche unseren verlesenen Textes­ worten unmittelbar vorangehen, stellen die Gerechtigkeit aus dem Gesetz und die Gerechtigkeit ans dem Glauben einander gegenüber. Als das Ergebniß der Vergleichung beider stellt sich heraus, daß allein die Ge­ rechtigkeit aus dem Glauben die wahre, vor Gott geltende sein könne. In unseren Textesworten, in welchen der Apostel seine Gedanken wei­ ter entwickelt, fügt er dem Glauben, aus dem die wahre Gerechtigkeit kommt, ein Zweites bei, nämlich, das Bekennen. Mit dem Bekenntniß verknüpft er das Heil. „So man mit dem Munde bekennet, so wird man selig," oder wörtlich übersetzt: „Mit dem Munde aber wird be­ kannt zum Heil." Dem entspricht es, wenn wir im ersten Johanneischen Briefe lesen**): „Ein jechlicher Geist, der da bekennet, daß Jesus Christus in das Fleisch gekommen ist, der ist von Gott oder **): „Wel­ cher nun bekennet, daß Jesus Gottes Sohn ist, in dem bleibet Gott und er in Gott." Dem entspricht es, wenn unser Erlöser selbst ansLieder Nr. 802. 301. 302, 5. *) 1. Johannes 4, 2.

**) 1. Johannes 4,15.

125 ruft*):

„Wer mich bekennet vor den Menschen, den will ich auch

bekennen vor meinem himmlischen Vater."

Dem entspricht eS, wenn

durch alle Zeitalter hindurch in der Christenheit auf „Bekennen," „Be­ kenntniß" ein hoher Werth gelegt worden ist. uns auch nicht verhehlen,

Mer wir dürfen es

daß grade dieser Ausdruck innerhalb der

christlichen Kirche auf's Stärkste mißdeutet wurde und noch mißdeutet wird und daß mit dem Mißverständniß sich oft der stärkste Mißbrauch verknüpft hat und noch verknüpft. Da ist es wohl von hoher Wichtigtigkeit, grade auf diesen Punkt einmal unser andächtiges Nachdenken zu richten, um heiligen Verpflichtungen zu genügen, um vor schlimmen Verirrungen uns zu hüten.

Das christliche Bekennen fassen wir

heut nach unserem Text in's Auge, um uns klar zu werden, in welchem Verhältniß dasselbe zu unserem Heil oder auch zu unserem Christenglau­ ben steht.

Laßt uns zuerst das christliche Bekennen in seinem

Wesen, sodann in seiner Nothwendigkeit und seinem Segen betrachten. I.

Gott segne uns mit betn Beistand seiner Gnade.

Christliches Bekennen ist Christum bekennen und zwar nach

unserem Texte, ihn bekennen, daß er von den Todten auferwecket auch der Herr sei. gepriesen.

Dies Bekennen wird uns auch heut oft auf's Höchste

Aber worin sieht und sucht man dasselbe? Bei jeder Gele­

genheit soll Jesu Name über die Lippen fließen, „der liebe Herr" immer das dritte Wort im Munde sein.

Die christliche Salbung,

wie man

es nennt, die Sprache Kanaans, wo möglich auch die Gangweise Ka­ naans wird als das Bekennen angesehen.

Und wiederum mit einer

gewissen kirchlichen Autorität sind festgestellt Lehrformeln über Dreinigkeit, die beiden Naturen in Christo, über Erbsünde, über die Art der Versöhnung, über das Abendmahl u. s. w. Man nennt diese Formeln das Bekenntniß der Kirche.

Sie annehmen, ihnen in unbedingtem Ge­

horsam

das

sich unterwerfen,

bezeichnet man

als

christliches Be­

kennen. Wo nun jemand jene sogenannte Sprache Kanaans nicht reden will oder nicht reden kann, wo jemand in jenen Lehrformeln noch man­ ches Unvollkommene und Irrige sieht und sich ihnen nicht unterwirft, da heißt es, er gehört noch der Welt an, er verleugnet mit der Welt *) Matth. 10, 32.

126 Jesum Christum.

M. G., wenn eS sich wirklich so mit dem Bekennen

verhält, dann werden wir urtheilen, es sei damit eben keine schwere Sache, nämlich für den, der es mit der Wahrhaftigkeit nicht zu gewis­ senhaft nimmt.

Solche bestimmte Redensarten, solche Sprache und

Haltung Kanaans, wie man sich ausdrückt, sind leicht angeeignet.

Und

das, was man als Gefangennahme der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens rühmt, ist schnell gewonnen, besonders, wenn man das leidige Denken nicht liebt und das Gewissen nach der Seite der Wahr­ heit nicht befragt. In Beziehung auf's Judenthum sehen wir zur Zeit Jesu die Art dieses sogenannten Bekennend auf's Vollkommenste aus­ gebildet.

Die Pharisäer mit ihren breiten Gesetzesdenkzetteln an den

Gewändern, mit ihren die Oeffentlichkeit suchenden Gebeten, mit ihren an den Straßenecken und in den Tempeln klingenden Almosen, mit ihrem vielen Fasten und dem zur Schau sich stellenden Sauersehen dabei u. s. w., ja das war so recht die fromme Salbung, die Sprache Kanaans.

Und hinwiederum dieselbigen als Schriftgelehrte,

welchen

ungeheuren Werth legen sie auf jeden Buchstaben in heiliger Schrift, auf jeden Titel im Gesetz und auf die strenge Unterwerfung unter den Buchstaben!

Wie mehren

sie die Satzungen der Gesetze nach

allen

Seiten und binden den Gewissen schwere Bündel und Lasten!

Das

wäre ja recht der Gehorsam des Glaubens, wie man es heute zu nen­ nen beliebt.

Da das Bekennen auf dem Gebiet des JudenthumS, also

doch auch auf dem Gebiet göttlicher Offenbarung.

Der Erlöser aber,

wie verhält er sich zu solchem Gebühren? O ihr wißt es, wie er diese Bekenner immer wieder als Heuchler straft!

Ihr wißt es, wie nach

ihm solches Herr, Herr sagen, wenn es auf's Christenthum übertragen wird, grade vom Himmelreich ausschließt, wie er grade im heutigen Evangelio*) solchen droht, daß er ihnen sagen werde: „Ich habe euch noch nie erkannt, weichet alle von mir ihr Uebelthäter!" Das, nt.®., ist deshalb nicht christliches Bekennen, sondern viel eher sein Gegentheil, ist wenigstens etwas, was dem wirklichen Bekennen verderbliche Schä­ digung, ja tödtltche Vernichtung droht.

*) Der achte Sonntag nach Trinitatis.

127 Sehen wir uns, um in die Sache tiefer hinein zu kommen, den Text etwas näher an.

Es wird einmal an den Glauben des Herzens

die Gerechtigkeit, dann an das Bekenntniß des Mundes die Seligkeit oder nach wörtlicher Uebersetzung das Heil geknüpft. rechtigkeit und das Heil auseinanderfallen?

Können die Ge­

Nimmermehr. Kommt der

Mensch zur Gerechtigkeit, zu der Uebereinstimmung seines Denkens, Le­ bens, Wesens mit dem heiligen Liebeswillen Gottes; dann hat er sicher­ lich darin das wahre Heil ergriffen. eben diese Gerechtigkeit selbst.

Des Heiles innerster Kern ist

So verbindet denn auch der erste Verö

unseres Textes Glauben und Bekennen und läßt aus beiden zusammen, also etwa aus dem gläubigen Bekennen Glauben das Heil hervorgehen.

oder aus dem bekennenden

Da ist doch vor Allem klar, daß der

Glaube des Herzens und das Bekenntniß des Mundes unzertrennlich zusammengehören.

Das Erste aber, das Ursprüngliche von beiden,

worauf zuletzt alles Gewicht liegt, ist der Glaube, wie jede Seite der neutestamentlichen Schriften uns das beweist.

Was wird überhaupt

Bekennen und Bekenntniß anderes sein, als das Erzeugniß, der Ausund Abdruck, die Selbstdarstellung des Glaubens? „Ich glaube darum rede ich," gilt hier.

Und was ist denn der Glaube an Christus, auf

den eS ankommt? Doch das Ergriffensein des Gemüthes von ihm, von der Macht seiner Persönlichkeit, doch die durch ihn geweckte Zuversicht, daß er alles Heil und Leben als der Christ Gottes in sich schließt, doch

das Hingezogensein zu ihm, um von ihm Gnade um Gnade,

Wahrheit um Wahrheit zu nehmen, doch das Hineintreten irr die Ge­ meinschaft des Lebens und der Liebe mit ihm und das treue Verharren und Bleiben in derselben!

Es heißt im Text,

„daß er der Herr

sei," und doch hatte er keinen Thron auf der Erde als das Kreuz. Es heißt, daß er

„der Auferstandene sei von den Todten,"

und doch ist er von Anfang an als solcher, als der Verherrlichte nur den vorerwählten Zeugen, die mit ihm gegessen und getrunken hatten, welche in sein Leben sich hineingefunden hatten,

offenbar geworden.

Der Glaube, daß er der Herr und der Auferstandene sei schließt in sich das unerschütterliche Vertrauen zu der ewig siegreichen Macht der sich selbst hingebenden, opfernden Liebe, zu der alle Waffen und Mittel

128 der Erde verschmähenden heiligen Wahrheit.

In diesem Glauben ruht

die Kraft des Lebens, der Liebe, der Heiligung, in ihm die beseligende Macht göttlichen Friedens.

Nun, so wie dieser Glaube das Gemüth

bewegt, so wie er die eigenste, innerste Kraft der Seele geworden ist, so ihn aussprechen und darstellen in Wort und That, das ist es, was allein mit Recht christliches Bekennen heißen darf. wesentlich zu einander.

Zweierlei gehört

Christus, in Gnade und Wahrheit, mit den

Wirkungen seiner Person kann allein den eigentlichen Gegenstand, Kern, Inhalt, Mittelpunkt des christlichen Bekennens bilden.

Dies daS Erste.

Das Zweite: Am wenigsten entspringt daS Bekennen aus dem Zwang des Gesetzes oder der Autorität, am wenigsten ist es Angelerntes, Nach­ gesprochenes.

Nur wie es als das Eigenste und Eigenthümlichste, in

vollster Freiheit und Wahrhaftigkeit aus der Seele hervorquillt, wie es den eigensten Glauben darstellt, nur so ist eS und bleibt es Bekennt­ niß. Aus dem Innern wird das christliche Bekennen geboren. Freilich die äußeren Verhältnisse, Umstände, Umgebungen gehören dazu, es in'S Leben zu rufen.

Zusammen kommen die Gläubigen, allen glüht die

eine Liebe des Erlösers in den Herzen, alle durchzuckt der gleiche tief­ innige Dank für erlangte Versöhung und Erlösung, alle sind sich des einen himmlischen Zieles

und Erbes bewußt.

Da im gemeinsamen

Lied, im Gebet, in zeugendem Wort tritt der Glaube heraus.

Das

gemeinschaftliche Zusammensein veranlaßt zum Bekennen. In die Welt ist der Jünger Jesu hineingestellt, hat oft sich gegenüber Lüge und Gottlosigkeit, Ungerechtigkeit und selbstisches Wesen, niedrige, gemeine Gesinnung.

Ja frecher Hohn und Spott sucht das Heilige in den

Staub zu ziehen.

Da, der Glaube, welcher in Christo das Leben be­

sitzt, er muß sich als Licht der Finsterniß, als Heiligkeit der Sünde, als Liebe dem Haß gegenüber offenbaren, Bekennen Hervorrufen.

er muß freudig muthigeS

Der Glaube macht den Jünger Christi reich

an und in seinem Gott. Um ihn herum erscheint geistige Bedürftigkeit. Da sind die Trauernden, die Zagenden, die Irrenden, die Schwachen und Strauchelnden. Der Glaube als Gotteskraft bietet sich ihnen dar indem er sich offenbart, indem er im Bekenntniß laut und sichtbar wird. — Bekannt wird mit dem Munde. — Aber vergessen wir nicht, das

129 Wort des Mundes ist nur Bekenntniß, wenn es Aeußerung und Dar­ stellung deS eigenen Herzensglaubens ist.

Der Glaube aber stellt sich

nicht nur im Wort, sondern auch im Thun, im ganzen Wandel äußer­ lich dar.

Nur wenn daS ganze Leben mit dem Wort, das von Christo

und seiner heiligen Liebe zeugt, übereinstimmt, nur dann haben wir ein wirkliches Bekennen. Darum nur denen, welche nicht nur im Handeln, sondern welche auch in heißer Verfolgung durch das Erdulden bitterster Leiden um Jesu willen ihren Glauben bewährt hatten, nur solchen gab die alte Kirche den Ehrennamen Märtyrer,

Konfessoren, Bekenner.

AuS innigem Glauben heraus durch Wort und Thun es darlegen, daß der Gekreuzigte und Auferstandene uns ist der alleinige Heiland, daß wir ihm angehören wollen und eintreten für sein heiliges Reich, für Gerechtigkeit, Wahrheit und Liebe, das ist das christliche Bekennen, darin allein wird sein Wesen erkannt. II.

Wir kommen zum zweiten Theil unserer Betrachtung, zu der

Nothwendigkeit und dem Segen des christlichen Bekennens. Ist der Glaube das Innere, das Bekennen das Aeußere, der Glaube das Erzeugende, das Bekennen stets das Erzeugte; so dürfte, wie vor­ hin schon angedeutet wurde, von vorn herein dem Glauben eine viel höhere Wichtigkeit und Bedeutung beigelegt werden. es auch nach der heiligen Schrift.

Und so erscheint

Allenthalben wird der Glaube als

heilbegründend, heilbringend, heilvollendend dargestellt und nur in verhältnißmäßig wenigen Stellen wird auch des Bekennens gedacht.

Ge­

wiß, wie das Leben mehr ist als die einzelnen Lebensäußerungen, der Baum mehr als seine Früchte; so ist auch der Glaube mehr o(6' das Bekennen.

Ist aber vielleicht das Bekennen nicht ganz überflüssig?

Wird es nicht an den einzelnen Stellen und namentlich in unserem Texte überschätzt? Menschen umbildet,

Sollte nicht der Glaube,

der doch innerlich den

auch ohne daö Bekennen,

vollständig genügen?

Theure Freunde, wie sehr wir auch im Glauben das Erste, Tiefste, Höchste sehen, das Bekenntniß ist doch durchaus nothwendig, wie denn auch erst aus dem Bekennen der reichste Segen entspringt.

„So man mit dem

Munde bekennt, so wird man selig" übersetzt Luther. Ruht denn nicht das Beseligende gerade im Glauben des Herzens? Gewiß.

Thomas,

Predigten.

9

Aber

130

gerade für den Glauben ist das Bekennen unumgänglich gefordert.. Der Glaube, der noch nicht bekennt, weil er noch nicht zu bekennen vermag, ist eben erst der keimende, unbestimmte, schwankende Glaube, ist in seiner Schwäche, seinem Schwanken, in seiner Unsicherheit nicht ver­ mögend, das Gemüth mit Frieden zu erfüllen. Wo es den Glauben noch nicht treibt und nöthigt, im Bekenntniß herauszutreten, da ist er seiner selbst noch nicht gewiß, darum auch nicht gewiß seines Heiles. Siehe ein neues Leben bildet sich nach Gottes schöpferischer Weisheit in geheimnißvoller, verborgener Tiefe. Soll es aber als Leben sich be­ währen und beweisen, dann muß es heraustreten in das Licht der Welt. Es kann als Leben sich nur in den Lebensäußerungen bekunden, kann nur in den Lebensäußerungen als wirksame Kraft, als freudiger Genuß seiner selbst gewiß werden. In der grünen, frischen Knospe ist das Leben eingeschlossen und verhüllt. Ist aber nicht im inneren Leben die Kraft, die Hülle zu sprengen; dann verdumpft dies Leben ohne Wir­ kung und Furcht, ist so gut als wäre es gar nicht vorhanden gewesen. Durch den Einfluß der Person Christi wirkt die göttliche Gnade in den geheimen Tiefen des Gemüthes den Glauben, als die erzeugende Kraft des neuen Lebens. Kommt aber dieser Glaube nicht zu der Stärke, frisch und freudig vor Gott und Menschen, vor Freund und Feind zu Tage zu treten; dann kann er nimmer sich selber genügen, nimmer dem Gemüthe genügen, dann kann sein Wirken nur bis dahin reichen, daß der Mensch in vernichtender Scham sich selber verurtheilt. Weil im Glauben sich die Quelle des Friedens für uns erschlossen hat, darum erst, wenn der Glaube seiner selbst und seiner Lebenskraft sicher und gewiß wird, darum erst im Bekennen der Welt gegenüber hat er die Sicherheit des Heils, ruht in ihm die Seligkeit. So stellt sich die unbedingte Nothwendigkeit des Bekennend für den Glauben heraus. Im Bekennen ruht der reichste Himmelssegen. Wenn man von Herzen glaubt und mit dem Munde bekennt, so wird man selig, sagt uns der Apostel. Der Glaube an Christus hat es allerdings zunächst mit dem Ver­ hältniß der eigenen Persönlichkeit zur Gottheit, mit der eigenen Selig­ keit zu thun. Aber, m. G., dieser Glaube ist ein Glaube an rettende,

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heilige Liebe. Die erbarmungsreiche, geduldige, heilige GotteSliebe ist für den Glauben allein der Grund der Seligkeit. Der christliche Glaube, wie sehr er es mit der eignen Person und ihrem Heile zu thun hat,, er kann nicht stehen bleiben bei dieser eignen Person, er kann nicht verharren bei der Frage: Was soll ich thun, daß ich selig werde? Vielmehr wird er von hier aus weiter zu der Frage gedrängt: Was kann ich thun, daß meine Brüder und Schwestern zur Erkenntniß der Wahrheit kommen, daß ihnen geholfen werde? Der Glaube an Christus ist nothwendig schon mit betende, fragende, segnende Liebe, geht, wie er fortschreitet, immer mehr in der Liebe auf. Wer nicht glaubt, der gehört Christo nicht an, das heißt mit anderem Wort: Wer Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein. Ist die Liebe Christi ausgegossen in die Herzen, dann darf man sprechen; Gott sei Dank, der uns mit dem Glauben begnadigt hat. Aus der Liebe aber heraus heißt eö bei den Christen, wie bei Paulus*): „Ich wünschte, daß alle Menschen wären und würden wie ich," d. h., daß sie von der Finsterniß zum Licht, von Selbstsucht und Gottlosigkeit zur Gottseligkeit und Gerechtigkeit, von den mannichfachen Götzen, welche die Herzen beherrschen, zu dem lebendigen Gott heiliger Liebe kommen möchten, daß sie Theil nähmen an dem Leben und der Seligkeit, die Christus gibt. Wenn sie das wünschen; dann sind sie auch berufen, dahin zu wirken. Wie geschieht das? Der Erlöser hat keinen anderen Weg gekannt, als daß er sich selbst in seinen Reden und in seinem Thun, in der Art seines Leidens, in seinem Sterben darstellte. Sein ganzes Reden und Thun bis in den Tod war sein beständiges gutes Bekenntniß, war der klare und wahre Aus­ druck seines innersten Lebens für die Menschen. Mit diesem guten Bekenntniß hat seine Liebe die Welt gewonnen und gewinnt sie bestän­ dig, macht dadurch dieselbe selig. So gab er aber in dieser Beziehung seinen Jüngern auch keinen anderen Auftrag, als den **), seine Zeugen zu sein in Judäa, Samaria und bis an daö Ende der Erde. „Und ihr werdet auch zeugen," spricht er, an anderer Stelle***); — ein Wort eben so reich an Mahnung, wie an erhebendem Troste. Und so die *) Apostelgeschichte 26, 29. ***) Johannes

**) Apostelgeschichte 1, 8.

132

Apostel: Wir können es ja nicht lassen, daß wir nicht reden sollten von Allem, wovon das Herz uns so voll ist. „Ich glaube, darum rede ich." Mit dem Bekenntniß Jesu Christi, mit dem Bekenntniß der Wahrheit, Heiligkeit und Liebe Gottes, die in Christo ist, treten sie in die Welt hinein, mit diesem Bekenntniß genügen sie ihrer Liebe, um ferner im Heiland und für den Heiland zu suchen, was verloren ist. Ohne Bekennen keine Thätigkeit der Liebe, keine Verbreitung des be­ seligenden Glaubens, keine Pflanzung des Himmelreiches auf Erden. M. G., Bekennen mit dem Munde, mit dem Worte! — Gewiß, aber hier wollen wir noch einmal recht nachdrücklich hervorheben, daß dies nur die eine Seite des Bekennens ist, daß die andere Seite ist das Bekennen durch das Thun, durch den Wandel. Würde das vergessen, ach das sogenannte Bekennen mit dem Munde, aus dem so klar dann herausspricht die fleischliche Ungeduld, die eitle Selbstgefälligkeit, die lieblose Engherzigkeit, es würde niederreißen, anstatt aufzubauen, zerstören und vernichten anstatt zu pflanzen und zu pflegen. Ein Anderes ist gleichfalls nicht zu vergessen. Die Liebe, die aus dem Glauben an Christus geboren wird, hat vom Heiland als sichere Mitgift Demuth und Weisheit, und so wenig sie sich verbirgt oder entzieht, oder die Wahr­ heit verhüllt; so weit ist sie doch von jener taktlosen Aufdringlichkeit entfernt, welche hier statt des Brodes nur Steine reicht und dort wieder die Perlen vor die Säue wirft. Mit dieser weisheitsvollen, demüthigen Liebe ist stets die Bereitwilligkeit verknüpft, die Mahnung des frommen Mannes, der einst in dieser Kirche mit so reichem Segen wirkte, zu hören: „Euer Leben sei eine Predigt." Die demüthige Liebe hat in sich den zarten Sinn, welcher die rechte Zeit, den rechten Ort, das rechte Wort finden lehrt, ohne jemals des rechten Muthes und der rechten Freudigkeit zu entbehren. Im Bekennen allein kann sich die Liebe bethätigen und genügen; darum als ein nothwendiges fordert es der Herr, als ein solches, aus dem aller Segen quillt. Glaube — Liebe — sie sind nicht nur die Angelpunkte des christ­ lichen Lebens, nicht nur Kern und Mark, sie sind das christliche Leben selbst. Aber dies christliche Leben, also auch Glaube und Liebe, sind nicht vollendet, sondern stehen mehr oder weniger noch ihre» Anfängen

133 nach, mehr oder weniger noch ihren Zielen fern.

Glaube und Liebe

bedürfen des beständigen Werdens

und Wachsens,

Stählung, Mehrung ihrer Kraft.

Alles Leben aber, wie wird und

wächst es weiter, wie stärkt und stählt es sich?

der Entwicklung,

Durch seine Lebens­

und Kraftäußerungen, durch die beständige Uebung und Ausübung alles dessen, wozu Gott das innere Vermögen gegeben hat. und Liebe wachsen nur in Uebung und Ausübung.

Auch Glaube

Und was ist an­

ders Uebung und Ausübung des Glauben und der Liebe als das Be­ kennen in Wort, im Thun, im ganzen Leben?

Wohlan, wenn wir auf- '

hören wollten zu bekennen, wir wären der faule Knecht, der sein Pfund vergräbt und dem es mit Recht über kurz oder lang genommen wird. Wenn wir aufhören zu glauben

zu

bekennen,

wir

werden auch bald aufhören

und zu lieben, aufhören Christen zu sein.

Soll Glaube

und Liebe lebendig bleiben, sollen beide der Vollendung entgegen wachsen; das Nothwendigste diesem

Bekennen

ist

das

christliche Bekennen

wird Glaube und Liebe,

im Leben.

wird

Nur in

das Heil bewahrt.

Geliebte im Herrn, Gott mache unseren Inwendigen Menschen reich an Glaube und Liebe, Gott stähle und stärke uns in beiden, daß wir immer freudiger in

Wort

und Wandel

den Erlöser

bekennen,

Gott

lasse

uns es reichlich als die Wahrheit auch für unser Leben erfahren: „So man von Herzen glaubt, so wird man gerecht und so man mit dem Munde bekennt, so wird man selig!"

Amen.

Die Mensch enfurcht. Text: 1. Petri 3, 13 — 15. Und wer ist, der euch schaden könnte, so ihr dem Guten nachkommet? Und ob ihr auch leidet um der Ge­ rechtigkeit willen, so seid ihr doch selig. Fürchtet euch aber vor ihrem Trotzen nicht und erschrecket nicht.

Heiliget

aber Gott den Herrn in eurem Herzen. (Geliebte im Herrn, wir erkennen in dem, was unsere Mutter­ sprache, Gottesfurcht nennt, die Grundlage der Sittlichkeit und Recht­ schaffenheit, ja bezeichnen mit dem Wort die Religion selbst. Zu solcher Bezeichnung fehlt es nicht an Berechtigung.

Das Gefühl von Gottes

unendlicher Erhabenheit kann sich doch wohl nur mit einer heiligen Scheu der unbedingten Verehrung verknüpfen.

Selbst dem Bewußtsein

der Fülle göttlicher Liebesbethätigung gegen uns ist von selbst mit ge­ geben ein Sorgen, ein gewisses Zittern und Fürchten, ob wir nun dieser Liebe auch würdig danken und ihren gerechten Anforderungen ge­ nügen werden.

Ja diese Gottesfurcht ist selbst dasjenige, wodurch der

Mensch sich getrieben fühlt, in der Liebe immer völliger zu werden.

Lieder: Nr. 449. 435, 4.

135

Das aber, was wir so Gottesfurcht nennen, ist stets mit kindlichem, lebendigem Vertrauen verbunden, hat darum eine wesentlich andere Be­ deutung, als wir sie gewöhnlich in dem Wort Furcht suchen. Wohl gibt es im Heidenthnm ein Sich fürchten, ein Zittern vor der Gottheit, wohl findet sich dasselbe auf dem Gebiete des Gesetzes. Aber wie Christus gekommen ist, uns vom Fluch des Gesetzes zu erlösen, so auch von der Furcht vor dem ewigen Gott. In Christo hat sich Gott als ewige Liebe offenbart, um als solche das Gemüth der Jünger Jesu zu beherrschen. Da muß ja das Johanneische Wort gelten: „Die völlige Liebe treibet die Furcht aus" *). Sofern noch jene zitternde, knechtische Furcht vor Gott uns erfüllt, wird uns damit bekundet, daß unser Christenthum noch ein sehr schwaches und unvollkommenes ist. Es wird daher Aufgabe sein, von jeder 'zitternden Furcht vor Gott uns zu be­ freien. Aber nicht nur Gott, sondern auch Menschen werden oft ge­ fürchtet. Menschenfurcht sucht manchmal von unserem Gemüth Besitz zu nehmen und uns zu unserem Handeln zu bestimmen. Wie steht es nun mit der Menschenfurcht in Beziehung auf unser religiöses und sitt­ liches Leben? Wir wissen es, unser Erlöser verbietet sie erst recht, indem er spricht**): „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib tödten und die Seele nicht mögen tobten." So ist auch in unserem Text der Apostel mit dem Heiland in Uebereinstimmung, und mahnt und warnt die Christen, sich nicht der Furcht vor Menschen hinzugeben. Dieser apostolischen Mahnung wollen wir jetzt weiter nachdenken, um dadurch sie lebendiger in uns aufzunehmen und ihr möglichst nachzu­ kommen. Wir heben im ersten Theil unserer Betrachtung das Un­ sittliche der Menschenfurcht hervor und blicken im zweiten Theil auf dasjenige, was uns von derselben befreit. I. „Fürchtet euch aber vor ihrem Trotzen nicht und erschrecket nicht." Diese Mahnung unseres Texteslautet in wörtlicher Uebersetzung: „Fürchtet aber nicht ihre Furcht und werdet nicht er­ schüttert" (laßt euch nicht erschüttern!)! Offenbar hat der Apostel die damaligen Verfolger der Christengemeiuc im Auge. Der Ausdruck „ihre *) 1. Johannes 4, 18.

**) Matth. 10, 28.

136 Furcht" läßt nun eine doppelte Auslegung zu; nämlich die Furcht, welche sie, die Verfolger, erwecken, oder die Furcht, welche sie selber empfinden, welche das ihnen Eigenthümliche ist. beiden Fällen derselbe.

Der Sinn und Gedanke bleibt in

Es ist ja nichts Sich Widersprechendes, daß die­

jenigen, welche Furcht zu erwecken und durch Furcht zu herrschen und etwas zu erreichen streben, selbst von Furcht erfüllt werden. Tyrannen im Alter­ thum, welche durch stets sich wiederholende Einkerkerungen, Folterungen, Hinrichtungen Alles in Furcht und dadurch in Unterwürfigkeit zu halten suchten; sie haben selber von Furcht und Zittern sich beherrscht gezeigt, ihre angsterfüllte Einbildungskraft malte ihnen allenthalben den Dolch des Meuchelmörders, das Gift vor die Seele, so daß sie nicht zwei Nächte hinter einander in demselben Zimmer- zu schlafen, daß sie nichts zu essen wagten, wovon diejenigen, welche die Speise bereitet, nicht zuvor gekostet hatten.

Keine noch so starke Leibwache, keine noch so

feste Mauer konnte ihr Gemüth von der Furcht befreien. Ist auch so zu natürlich. selber.

Der Mensch

berechnet seine Nebenmenschen

nach

sich

Nur deshalb sucht und hofft er durch die Schrecken der Furcht

auf andere zu wirken, weil sie selbst einen mächtigen Einfluß auf seine Seele üben.

Darum die Furcht, welche Verfolger und Dränger er­

wecken wollen und diejenige, welcher sie unter Umständen mit ihrer Seele verfallen, ist ein und dieselbe, nämlich das Zittern und Zagen vor dem, was Menschen den Menschen zufügen können.

Und was ist

das? Nun die Christen wurden damals ihres guten Namens beraubt, man nannte sie den Haß und Abscheu des menschlichen Geschlechtes, wurden ihres Gutes, ihrer Freiheit, ihres Lebens beraubt. Die schwer­ sten Entbehrungen,

die bittersten Schmerzen

wurden ihnen bereitet.

Die Menschenfurcht bezieht sich also auf den Verlust und das Ent­ behren dessen, was zum Genuß des irdischen Lebens gehört, auf das, was als Weh und Schmerz das irdische Leben zu einem bitteren macht. Preisen wir Gott über die veränderte Zeit, vor deren Licht Verfolgungs­ wuth des Wahn-, Aber- und Unglaubens, als einer der schlimmsten Geister der Finsterniß weichen mußte, in welcher vermöge des Geistes Christi in den sittlicher. Gemeinschaften des Lebens Ungerechtigkeit, Gewaltthat, Grausamkeit, Willkür von Gerechtigkeit, heiliger Milde und Billigkeit

137

immer mehr überwunden werden! Solche Schrecken wie das Heiden- und Iudenthum, wie später ein tief entartetes Kirchenthum gegen die Jünger Christi, gegen die Vertreter der Wahrheit und Gerechtigkeit, herauf­ führten, sind heut zur Unmöglichkeit geworden. Aber, m. G., sind alle Veranlassungen zur Menschenfurcht geschwunden? Das ist keine andere Frage als die: Hat schon alle Ungerechtigkeit, aller Haß, alle Willkür und Lust, anderen zu schaden, aufgehört? Die Klagen sind in dieser Beziehung noch nicht verstummt und werden, so lange noch Selbstsucht in der Welt ist, in den mannichfachen Verbindungen des Lebens nicht verstummen. So sehen wir auch heute noch manchmal Furcht in den Gemüthern walten und, daß wir selbst der Versuchung zur Menschen­ furcht in gewissen Lagen zugänglich sind, wird uns eine gewissenhafte Selbstprüfung gewiß erkennen lassen. Es ist ja auch, als gehöre solche Furcht vor dem Verlust dessen, was erfreut, vor dem Hereindringen dessen, was schmerzt und peinigt, nothwendig zu dem Wesen des Men­ schen, als sei diese Furcht nur allzu natürlich. Ja natürlich ist es, daß wir das Angenehme suchen, daß wir das Bittere und Schmerzliche zu vermeiden streben. Aber werden diese Triebe unserer Natur zur Furcht, welche die Seele beherrscht; so nehmen wir Schaden an un­ serer Würbe, an unserem eigentlichen Wesen. Zunächst, m. G>, die Furcht bezieht sich auf das Schlimme, was hereinzubrechen droht, auf Gefahren. Wie nahe Gefahren sind, es ist doch in der Regel noch eine Möglichkeit, ihnen zu entgehen. Dazu gehört klarer Blick, um­ sichtiges Umschauen, Geistesgegenwart, ein festes, schnelles Sichentfchließen. Ist die Furcht in der Seele, die Klarheit und Umsicht des Geistes ist damit umflort, die Kraft und Festigkeit deS Denkens und Wollens ist erschlafft. Mit der Furcht entflieht man nicht dem, wovor man zittert; sondern man stürzt in das Schreckliche hinein. So spricht denn die heilige Schrift schon*): „Was der Gottlose fürchtet, wird ihm be­ gegnen." Aber was viel schlimmer, die Furcht zieht ihre Diener in allen Schmutz der Sünde und des Lasters herab. Blicken wir in die Geschichte zurück und denken an die schlimmsten unter den römischen *) Sprüchwörter 10, 24.

138



Zäsaren, die als sittliche Ungeheuer unsägliche Blutschuld auf sich luden. Wie unzählige Werkzeuge bedurften und fanden sie für ihre Verbrechen! Waren diese Werkzeuge ihren Herrschern alle völlig gleich, daß sie mit Lust der Ausübung der Grausamkeit und frechen Willkür sich hingaben? Gewiß, es wäre ungerecht, so zu urtheilen. Bei ihrer vielen ist es allein die Furcht gewesen, welche sie zu Dienern der Ungerechtigkeit und Blutschuld gemacht hat. Aus Furcht sinkt Petrus in die tiefe Schuld und Schmach, seinen Heiland unter Schwüren zu verleugnen. Ja die Menschenfurcht ist es, welche zuletzt das schwerste Verbrechen, welches je in der Menschheit begangen ist, die Ermordung des Erlösers zur Ausführung brachte. Aus Furcht vor dem Drohen des fanatischen, jüdischen Volkes, vor dem mißtrauischen Kaiser in Rom, übergibt Pi­ latus den Heiland zur Kreuzigung. Wo die Menschenfurcht noch herrscht, da ist der Mensch, wenn auch nicht willig, doch wie von blinder Natur­ gewalt gezwungen, alles Heilige und Höhere, Ehre, Liebe, Gerechtigkeit Wahrheit, das Heil der Gemeine, des Vaterlandes, der Familie schmach­ voll zu opfern. Haltet dagegen Umschau in der Menschheit nach treff­ lichen, sittlichen Menschen, großen Geistern, schönen Seelen. Sie alle glänzen wohl nur dadurch, daß sie die Menschensurcht in sich über­ wunden hatten, daß sie mit einem fröhlichen Muth, mit geistiger Tapfer­ keit in allen Lagen und Verhältnissen des Lebens sich zeigten. Hat die Menschenfurcht aber allerlei Sünden als ihre Wirkungen; so muß sic in sich selbst schon unsittlich sein. Was ist das Sittliche, das des Menschen herrliche Zier ausmacht gegenüber dem Thier? Die sinnlichen Triebe und Kräfte theilt der Mensch mit den Thieren, Ver­ nunft und Gewissen und religiöses Gefühl hat Gott als väterliches Erbtheil allein seinen Menschenkindern auf der Erde verliehen. Das Thier kann nur und darum soll es auch allein nach dem Reiz seiner Begier und nach den Schrecken der Furcht sich bewegen. So ist eö weder sittlich, noch unsittlich; sondern natürlich gut. Der Mensch kann und darum soll er sich bestimmen lernen nach dem Licht der Vernunft, nach der Kraft des Gewissens, nach dem mächtigen Zuge des religiösen Gefühls, wie es sich zum lebendigen, klaren Glauben entwickelt. Nicht die Ertödtung der Sinnlichkeit, nicht die Verachtung des Leiblichen und

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seiner Thätigkeiten, aber die Beherrschung desselben durch den Geist ist des Menschen Aufgabe. Wo das sinnlich leibliche Leben von der Kraft deS Geistes gelenkt, durchzogen, gleichsam durchstrahlt wird; da ist das sittlich Gute, das wahrhaft Schöne, da allein das Menschenwürdige. Wo der Mensch aber noch nicht zur Selbstbestimmung aus der Ver­ nunft und nach dem Gewissen sich erhoben hat, wo er lebt und han­ delt, nur wie seine sinnlichen Triebe ihn dazu reizen; da ist er noch in tiefer Sklaverei, da hat er wesentlich sich noch nicht über seine ver­ nunftlosen Mitgeschöpfe erhoben, da, weil er wider sein Können und wider seine Bestimmung nicht dem Geiste gehorcht, liegt er noch im Schlamme der Unsittlichkeit. Was aber ist die Menschenfurcht anderes, als die Macht des Sinnlichen über den Geist, was ist sie denn anders als eine Herrschaft des Fleisches, welche Glauben, Vernunft und Ge­ wissen knechtet? Je nachdem wir von Menschenfurcht beherrscht sind, sind wir noch fleischlich, je nachdem wir Menschenfurcht überwunden haben und überwinden, wird der heilige Geist unserem Geist Zeugniß geben, daß wir Gottes Kinder und Kinder des Geistes Christi, rechte Büxger des Himmelreiches sind. Darum, wenn der Herr im Allge­ meinen mahnt: Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel voll­ kommen ist; so ist seine besondere Ermahnung: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib tödten und die Seele nicht mögen tobten." So gilt allem gegenüber, womit uns die Menschenwelt einmal schrecket: „Fürchtet ihr nicht ihre Furcht und laßt euch nicht erschüttern." II. Aber haben wir das Unsittliche und Verderbliche der Menschenfnrcht erkannt, sind wir damit schon derselben ledig? Wenigstens den Wunsch ihrer los und ledig zu werden und, so Gott Gnade gibt, das Ringen und Streben darnach wird solche Erkenntniß in uns wecken. Doch vergessen wir nicht, wir nach unserer Entwicklung kommen sämmtlich aus der Menschenfurcht her und nach unserem dermaligen Zustande steckt wohl jeder von uns wenigstens zum Theil noch in derselben. Wir sind uns bewußt, daß es einen Zeitraum in un­ serem Leben gab, wo die Sinnlichkeit übermächtig, der Geist noch völlig ohnmächtig war. Trat uns aus der Menschenwelt drohendes ent­ gegen, so waren wir auch der Furcht verfallen. Wir müssen, auch jetzt

140

noch in dieser Beziehung auf uns des Paulus Wort anwenden *): „Das Fleisch gelüstet wider den Geist und den Geist wider das Fleisch." So weit nun auch in uns das Fleisch noch wider den Geist sich er­ hebt und streitet, so weit der Geist noch nicht die Herrschaft erlangt hat; so weit werden unter gewissen Lagen und Verhältnissen die Schauer der Menschenfurcht auch noch durch unsere Seele ziehen. Wie gewinnen wir die volle Freiheit von ihren Fesseln, die Freiheit der Kinder Gottes? Ein apostolisches Wort gibt die Antwort**): Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. Ein anderes neutestamentliches Buch rühmt von Moses ***): „Durch den Glauben verließ er Egypten und fürchtete nicht des Königs Grimm; denn er hielt sich an den, den er nicht sahe, als sähe er ihn." Auf den Glauben verweist uns in eigenthümlichen Ausdrücken auch unser Text. Zunächst heben wir her­ vor das Wort: „Heiligt Gott den Herrn in eurem Herzen." Ihn hei­ ligen, das heißt, ihn heilig halten, ihn als das Heiligthum des Lebens betrachten. Ihn aber im Herzen heiligen, dazu ist nöthig, daß er sich schon an daS Herz hingegeben hat. Ihn heiligen können deshalb nur solche, die schon wirkliche Jünger des Erlösers geworden sind. Gott hat sich hingegeben an unsere Herzen, in dem Licht seiner Offenbarung an uns theilt er mit seine Kraft, sein Heil, sein Leben. So hat er aber sich uns aufgeschlossen durch die Geschichte der Welt und der Menschheit hindurch, so durch Israels Seher und Propheten, so vollen­ dend in seinem Heiligen, in Christo Jesu, daß er ist die Alles wirkende, Alles gestaltende, Alles umspannende, Alles zu einem Ziele hinaus­ führende ewige, lebendige Kraft, daß er, das ewige Urleben, allein alles Leben aus sich erzeugt und erschafft. So hat er sich uns aufgeschlossen, daß selbst sein Gewand Licht ist und seine Fußtapfen von glänzendem ungetrübten Licht strahlen, d. h., daß fleckenlose Heiligkeit und Gerechtig­ keit in seiner ganzen Regierung der Welt sich bekundet und bethätigt. So hat er sich uns aufgeschlossen, daß das Innerste seines Seins, Wesens und Lebens ist und bleibt die weisheitsvolle Liebe, die in Ihrer Heiligkeit doch den Sündern Buße und Vergebung, den Gesunkenen *) Galater 5,17. ***) Hebräer 11, 27.

**) 1. Johannes 5, 4.

141

Glauben und Frieden, den Elenden rettendes Erbarmen gewährt, die ihr Reich der Versöhnung und Erlösung aufrichtet und es zum vollen Siege hinausführen wird. Heiliget Gott den Herrn in eurem Herzen, was kann es heißen als, behaltet die allwirksame, allregierende Macht, die heilige Gerechtigkeit, die erlösende, erbarmende Liebe eures Gottes, wie sie sich in Christo euch genaht hat, im Glauben lebendig in eurem Herzen. Dazu nehmen wir weiter die anderen Worte des Textes: „Wer ist, der euch schaden könnte, so ihr dem Guten nachkommt? Und ob ihr auch leidet um der Gerechtigkeit willen, so seid ihr doch selig." Dem Guten nachkommen, die Gerechtigkeit haben, daß man um ihretwillen auch leidet, wie verhält sich das zu dem Glauben, dazu, daß man Gott heiligt in seinem Herzen? Ich meine, wie die Wirkung zur Ursach, wie die Frucht zum Baume, wie der Glanz zum Licht. Der Glaube, sagt Luther, ist ein' mächtig, schäftig, kräftig Ding. Wie er ist Zuversicht zu dem treuen barmherzigen Gott, so ist er zugleich Hingabe der Seele, des Seins und Lebens an den starken, heiligen Gott der Liebe. Solche Zuversicht, und solche Hingabe haben nothwendig in sich das Streben und auch die Kraft alles Gott Wohlgefällige, als Demuth, Wahrheit, Heiligkeit, Liebe herauszubilden, nach Gottes Willen das ganze Sein und Leben zu gestalten, oder in der Sprache der heiligen Schrift, die Gerechtigkeit anzuziehen. Diese aus dem Glauben stammende Gerechtigkeit ist heilig und kräftig, sich frisch und froh im Leben zu bewähren, allenthalben dem Guten nachzukommen, die Pflichten des Berufes nach allen Seiten in heiliger Treue zu erfüllen, nach Möglichkeit und Vermögen Segen zu verbreiten. In der Gerechtigkeit des inwendigen Menschen, d. i. in dem Werden und Wachsen der Gottähnlichkeit, in dem Fleiß zu guten Werken, die Ausdruck heiliger Liebe sind, bewährt sich der Glaube als der ächte und lebendige, darum aber auch als ein solcher, welcher den bleibenden Frieden gewährt, bei dem eö lautet: „Ihr seid selig." In diesem Glauben ruht allein die Kraft, das Herz von Menschenfurcht zu lösen, uns allen Menschen gegenüber mit fröhlichen, frischen Muth zu erfüllen. Im Glauben haben wir Gott gegenwärtig als die Alles re­ gierende, bestimmende, ewige Macht. Ohne ihn geschieht nichts. Seinen Rathschlüssen gegenüber werden die Unternehmungen aller Gewaltigen

142 zu Schande. Ohne seinen Willen wird uns kein Haar gekrümmt. Zu ihm schaut die Seele empor und fragt kühn und freudig: WaS wollen mir Menschen thun? Im Glauben haben wir ergriffen seine Heiligkeit und Gerechtigkeit, wie in derselbigen die Weltordnung ruht, wie von derselben die Regierung der Welt fortwährend ausgeht. Tritt gewaltthätige oder schlaue Sünde gegen uns auf, um uns zu verderben, in unö wird Gott angegriffen, seine heilige Sache bekämpft, o er muß mit uns sein, er muß die gottlosen Anschläge zu nichte machen, er Alles zum Siege herrlich hinausführen. „Wer ist, der euch schaden könnte, so ihr dem Guten nachkommt?" Im Glauben ist die treue, ver­ söhnende Liebe der Gottheit unser Eigenthum geworden, die uns zu ihren Kindern erwählte, die in Christo uns alles Heil im Diesseits und Jenseits zueignete und verbürgte. Ja, aus dieser Liebe leben wir, können nicht ihrer Hand entrissen werden, o durch sie muß uns Alles, auch was Menschen uns Schmerzliches zufügen könnten, zu unserem Besten dienen, durch sie sind wir eben an Gottes Busen geborgen. „Und ob ihr auch leidet," spricht darum der Apostel, „so seid ihr doch selig." Mit dem Glauben haben die alttestamentlichen Frommen die Menschenfurcht überwunden, so daß es bei den Psalmisten*) heißt: „Der Herr ist mit mir, darum fürchte ich mich nicht," „Wenn ich mich fürchte, so hoffe ich auf dich," „Siehe Gott ist mein Heil! Ich bin sicher und fürchte mich nicht," „Da ich den Herr suchte, antwortete er mir und errettete mich aus aller meiner Furcht," „Auf Gott hoffe ich und fürchte mich nicht, was können mir Menschen thun"? „Und ob ich schon wanderte im finstern Thal, fürchte ich doch kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich." Wir find hin­ eingepflanzt in den neuen Bund, hinein in die Gnade und Liebe des Ewigen, in die göttliche Kindschaft, in das himmlische, ewige Reich. Mit dem Eintritt des Erlösers in diese Welt, mit der Verwirklichung der Liebe Gottes auf Erden, klingt die göttliche Botschaft**): „Fürchtet euch nicht. Ich verkündige euch große Freude, 1— euch ist heut der Heiland geboren." Aus dem Munde des Heilandes klingt es so lieb*) Psalm 118, 6. **) LukaS 2, 10.

56, 4.

Jesaias 12, 2.

Psalm 34, 5.

56, 12.

23, 4.

143 lich und mächtig*):

„Fürchte dich

nicht, sondern

glaube nur."

Sind wir eingewurzelt in diesem Glauben an Christus, an göttliche Gnade und Weisheit; auch die Menschenfurcht wird unsere Seele immer vollständiger verlassen. Auch wenn Menschen uns drohen und Schweres uns schrecken will; wird dennoch des Erlösers Wort uns in das Ge­ müth dringen:

„Euer Herz erschrecke nicht" und als ächte Jünger Jesu

werden wir auch bei schweren Geschicken und drohenden Gefahren frisch und fröhlich unser Haupt erheben und unverzagten Herzens Allem entgegen­ gehen, was nicht allein Menschen uns zufügen, sondern was zugleich auch Gottes Weisheit bestimmt.

Der Herr, seine Liebe, seine Gnade

bei uns, was wollen uns Menschen thun? Wer will uns schaden, so wir dem Guten nachkommen, wer uns den Frieden rauben, wenn wir die Gerechtigkeit des Glaubens uns aneignen? Ja im Glauben allein wird unser sein das Wort, nicht als Gebot, sondern als innerste Lebens­ kraft: „Fürchtet ihr nicht ihre Furcht und werdet nicht er­ schüttert."

Gott in seiner Gnade führe uns alle mehr und mehr

dieser furchtlosen Seligkeit und Freiheit der Kinder Gottes entgegen! Amen. *) Markus 5, 36.

Weltseligkeit und Gottseligkeit, Text:

?uc«8 16, 19—31.

Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich mit Purpur und köstlicher Leinwand und lebte alle Tage herr­ lich und in Freuden.

Es

war

aber ein

Armer,

mit

Namen Lazarus, der lag vor seiner Thür voller Schwären, und begehrete sich zu sättigen von den Brosamen, die von des Neichen Tische fielen; teilten ihm seine Schwären.

doch

kamen

die Hunde

und

Es begab sich aber, daß der

Arme starb und ward getragen von den Engeln in Abra­ hams Schoos. graben.

Der Reiche aber starb auch, und ward be­

Als er nun in der Hölle und in der Qual war,

hob er seine Augen auf und sah Abraham von ferne, und Lazarum in seinem Schoos, rief und sprach: Vater Abra­ ham, erbarme dich meiner, und sende Lazarum, daß er das Aeußerste seines Fingers ins Wasser tauche, und kühle meine Zunge; denn ich leide Pein in dieser Flamme.

Abraham

aber sprach: Gedenke, Sohn, daß du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, und Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun aber wird er getröstet und du wirst geLieder: Nr. 42. 707. 698, 4 u. 6.

145

peinigt.

Und über das Alles ist zwischen uns und euch

eine große Kluft befestigt, daß, die da wollten von hinnen hinab fahren zu euch, können nicht, dannen zu uns herüber fahren.

und auch

nicht von

Da sprach er:

So bitte

ich dich, daß du ihn sendest in meines Vaters Haus; denn ich habe noch fünf Brüder, daß er ihnen bezeuge, auf daß sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual.

Abraham

sprach zu ihm: Sie haben Mosen und die Propheten; laß sie dieselben hören.

Er aber sprach:

Nein, Vater Abra­

ham, sondern wenn einer von den Todten zu ihnen ginge, so würden sie Buße thun.

Er sprach zu ihm: Hören sie

Mosen und die Propheten nicht, so werden sie auch nicht glauben, ob Jemand von den Todten auferstände. (geliebte im Herrn, Anbetung im Geist und in der Wahrheit fordert der Erlöser und der von ihm in die Gemüther gepflanzte Glaube ist so recht eigentlich die Religion der Innerlichkeit, des inneren Men­ schen.

Dem scheint das verlesene Gleichniß bei oberflächlichem Anblick

wenig zu entsprechen.

Der Reiche als solcher ist uns als ein warnen­

des Schreckbild aufgestellt;

der Arme und Leidende als solcher wird

uns als das erwählte Gotteskind, damit als Vorbild vorgehalten. Da sagt es sich aber wohl jeder von selbst, so kann der Herr nicht urthei­ len und richten.

Wir müssen nothwendig sein Gleichniß genauer an­

sehen, um in den eigentlichen Sinn einzudringen. Ja ich denke, durch diesen Schein drängt es uns erst recht, mit unserer Betrachtung in die Gesinnung hinabzusteigen.

Achtet nur dessen, nichts an sich Böses

wird von dem reichen Manne erzählt.

Daß nämlich der Reiche sich

nach dem Verhältniß feines Besitzes kostbarer kleidet als der Arme und daß er sich auch des gottgegebenen, irdischen Gutes seiner Zeit freut, das können und dürfen wir an sich nicht als etwas Böses, als Sünde, ansehen.

Ebenso wird unö vom Lazarus kein Handeln dar-

Lieder: Nr. 42. 707. 698, 4 und 6. Thomas, Predigten.

io

146 gestellt, das als gut könnte gepriesen werden.

So werden wir damit

auf's Nachdrücklichste gemahnt, gar sorgsam die Andeutungen des Herrn zu beachten, um daraus zu erkennen, wes Geistes Kind der Reiche und auch der Arme in unserem Gleichniß ist. Wenn wir sie aber in Gegen­ satz stellen, so tritt uns an beiden, wenn auch in verschiedenen Zeit­ räumen eine verschiedene Art der Seligkeit entgegen, bei dem Reichen im Diesseits, bei dem Armen erst im Jenseits offenbar.

Der Reiche

ist weltselig, wenn wir das Wort brauchen dürfen, der Arme gottselig. Weltseligkeit und Gottseligkeit stellen wir uns demnach in un­ serer Betrachtung an den beiden Männern einander gegenüber.

Bei

unserem Nachdenken wollen wir dabei uns zuerst das Wesen der­ selben klar machen, fassen sodann das Loos,

welches auf

beiden Seiten erzeugt wird, ins Auge, und endlich erwägen wir, wodurch wir die Erlösung von der Weltseligkeit und damit den Weg zur Gottseligkeit gewinnen. I.

„Es war ein reicher Mann." — Der Reichthum, die

Fülle des irdischen Gutes, der große Besitz kann es, wie schon erwähnt, nicht sein, weshalb der Mann von dem Erlöser als ein warnendes Beispiel hingestellt wird. War doch seiner Zeit Abraham, der als der Stammvater der Gotteskinder auch hier erscheint, reich gesegnet gewesen an irdischem Gut.

Das irdische Gut ist Gottes Gabe und kann an

sich nichts Böses sein, kann auch an sich, durch sich allein nicht böse machen.

Das Böse hat eine andere Quelle.

denn weiter von ihm?

Es heißt:

Er

Was aber wissen wir

kleidete sich in Purpur

und köstliche Leinwand und lebte alle Tage herrlich und in Freuden.

Das ist Alles, was von ihm gesagt wird und dies ist

genug, um über seine eigentliche Beschaffenheit in's Klare zu kommen. Das liegt darin, daß in dem Besitz des irdischen Reichthums und in den Genüssen, die durch ihn möglich sind, sein ganzes Streben und Leben aufging.

Er hatte viel Geld, er hatte viel Freuden des sinnlichen

Lebens, weiter bedurfte seine Seele nichts, nach weiter fragte sie nichts, darin war sie völlig befriedigt, darin ruhte ihr zugleich das Gefühl der Sicherheit. Der Gedanke, daß alle Güter Gaben göttlicher Liebe sind, daß sie Gott auch nur, so lange es ihm gefällt, erhält, daß sie deshalb

147

mit dem Gedanken an die dereinstige Rechenschaft nach Gottes Willen zu verwenden und zu verwalten sind, beunruhigt keinen Augenblick sein Gemüth. Schwere Zeiten hatte bis dahin das Volk Israel durchlebt und hart war der Druck und die Last, die damals auf seinem Nacken lag. Aber durch alle schwere Zeiten hindurch hatten heilige Propheten­ stimmen auf das Heil aus Gott und durch Gotthingewiesen, hatten zugesagt ein neues Bündniß mit göttlicher Gnade und in diesem Er­ ledigung, Erlösung, hatten verheißen einen Mann, der sein Volk selig machen würde von allen Sünden. Die Frommen Israels hofften auf diesen Trost Israels, harrten sehnsüchtig der kommenden Gnade, des durch die Gnade zu begründenden Heils in inniger Gottesgemeinschaft. Dem reichen Mann kommt es nicht im Entferntesten ein, an solche Gottesgnade, an solch Gottesheil, an Erlösung zu denken. Mitten im Genuß des irdischen Reichthums heißt es bei ihm: Was bedarf ich weiter, was fehlt mir noch? Ohne Gott und ohne Gemeinschaft mit Gott weiß er sich selig, in dem, was die Welt ihm gewährt. Zu die­ ser Weltseligkeit, die an Gott nicht denkt, gehört recht wesentlich sein Verhalten gegen die Leidenden und Bedürftigen. Lazarus ist verlassen von aller Welt, elend und jammervoll vor seine Thür, vor seine Augen geworfen. Keine Regung des Mitgefühls geht durch seine Brust, kein Gedanke, den Elenden, was ihm so leicht wurde, liebend zu erquicken, findet Raum in seinem Geist. Wie er nach seiner Sinnesweise bei Gott nichts zu suchen hat, so soll auch kein Nebenmensch bei ihm etwas suchen, wie er der Liebe und Gnade Gottes nicht bedarf; so sollen auch Bedürftige an seine Liebe keinen Anspruch machen. Kurz seine Seele gehört dem Gute der Welt und ihrer Lust und da er diese besitzt, lebt er herrlich, hat zur Zeit sein volles Genügen — das die Welt­ seligkeit. — Ihm gegenüber nun Lazarus. Von ihm wird nach dem Text gesagt, er war geworfen vor des Reichen Thür. Nach der in's Kürzeste zusammengedrängten Redeweise hatten also die Seinen, seine Ver­ wandten, sich seiner völlig entledigt. Entweder waren sie zu hartherzig, ihm ferner Hülfe zu gewähren oder sie waren unvermögend, es zu thun. Daß sie ihn aber eben vor die Thür des Reichen gebracht hatten, sollte 10*

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wohl noch eine Art Liebesdienst sein. Der Reiche, der kann, das wohl ihr Gedanke, der kann, was wir nicht können, der kann und wird Hülfe gewähren. Hofften sie so, ihre Hoffnung war eitel. Der reiche Mann hat kein Auge und kein Herz für das Elend des Armen, auch vor seiner Thüre bleibt derselbe noch vollständig verlassen. So nun Lazarus — arm, nichts besitzend, krank, unfähig zur Arbeit, voller Schwären — in bitterem Schmerz, in tiefstem Elend ist er uns vor das Auge gestellt. Aber keine Klage kommt aus seinem Munde. Er sieht die Fülle irdischen Genusses bei dem Reichen; aber, wenn er etwas begehrt, nur Brosamen sind es, die von des Herrn Tische fielen, nur eben das Allernothdürftigste, um damit das Leben zu fristen. Nichts von Neid, nichts von Murren in seinem Herzen, die stillste, geduldigste Ergebung, mit der Alles getragen wird. Gewiß dazu gehörte eine Kraft des Geistes von ganz besonderer Stärke. Worin ruhte diese seine Kraft? Wir finden ihn später wieder in Abrahams Schooß, damit wird er uns auch für das irdische Leben schon als der rechte, ächte Sohn Abrahams bezeichnet, nicht als der, welcher blos dem Fleische nach von ihm stammte, sondern, der auch geistig sein Kind war, sein geistiges Wesen an sich trug. Was aber Abraham auszeich­ nete, das, wir wissen es, war sein zuversichtlicher Glaube, mit welchem er Gott umschloß und sich auf Gott verließ. Darin ruhte auch das Geheimniß der Geisteskraft und Geistesgröße dieses Armen. Auf den lebendigen Gott, der sich in Israel seinem Volke offenbart hatte, hatte er seine Zuversicht und seine Hoffnung gesetzt. Des Glaubens lebte er, daß dieser sein Gott es mit ihm wohl machen werde und müsse, daß er ihm seiner Zeit noch werde danken müssen, daß er seines An­ gesichts Hülfe und sein Gott sei. Dieser Glaube an Gott war seines Herzens Trost und Friede und wie er sich selig wußte in dem Besitz dieses Glaubens, so hatte er darin die himmlische Kraft, sein schweres Leiden still zu tragen, gegen Unmuth und Verzagtheit sein Herz zu schützen, Neid und selbstische Begierde von seiner Brust fern zu halten. Kurz die Gottseligkeit war eö, die das innerste Wesen seiner Gesinnung ausmachte. Lasset uns aber dabei wohl beachten, daß der Besitz des irdischen

149 Gutes und der Mangel desselben, daß äußerer Reichthum und äußere Armuth hiernach mehr oder weniger als unwesentlich erscheinen. Wenn solche, die in Armuth und Krankheit seufzen, dabei doch nicht die selig­ machende Liebe Gottes suchen und finden, sein Wort nicht den Trost ihres Herzens sein lassen; wenn sie, weil ihnen der Welt Gut und Lust fehlt, sich von allem Heil verstoßen wähnen, wenn bittere Unzufriedenheit und glaubensloses Murren ihre Seele bis zur Verzweiflung füllen, wenn sie auf diejenigen ihrer Nebenmenschen, denen es irdisch besser geht als ihnen, mit scheelem Auge, mit Neid und Haß hinsehen, wenn nur eine Begierde, nur der Heißhunger nach Reichthum und Sinnenlust ihre Seele füllt und quält — und mögen sie noch so arm und noch so voll Schwären sein, mit dem Lazarus unseres Evangelii haben sie keine Gemeinschaft, zu ihm gehören sie nicht. ächten Geistesverwandten des reichen Mannes. weltselig,

Vielmehr sind sie die Sind sie auch nicht

wie er es in seinem irdischen Leben toar;. Weltseligkeit ist

doch das Einzige, was sie kennen und suchen.

Wohl gibt es Brüder

und Schwestern, die große irdische Schätze besitzen;

aber in diesem

Reichthum suchen und sehen sie nicht ihr Glück;

sondern ihr Höchstes

ist und bleibt ihnen ihre Gemeinschaft mit Gott.

Daß sie seiner Gnade

sich trösten können, daß sein Geist ihnen im Herzen die Gotteskindschaft versiegelt, daß ist es, vermöge dessen eS auch bei ihnen lautet: Mein Herze geht in Sprüngen Und kann nicht traurig sein, Ist lauter Lust nnd Singen Sieht lauter Sonnenschein. Die Sonne, die mir lachet Ist mein Herr JesnS Christ Und was mich singen machet, Ist was im Himmel ist.

Und wie sie sich selig wissen im Licht der Liebe Gottes, so tragen sie das Licht und die Wärme helfender Liebe auch gern und froh zu den Leidenden und helfen und heilen und trösten und lindern.

Wollten

wir solche, weil sie zufällig reich sind, zu Genossen des reichen Mannes in unserem Evangelio machen, wir würden auf's Schwerste irren und ihnen bitteres Unrecht thun. Nicht zu ihm gehören sie, sondern in der That auf die Seite des Lazarus, des ächten Abrahamssohnes.

Ihr

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Reichthum, ihr Gut und ihr Glück ist ja nicht das, was der Welt angehört, sondern ihr Gott und ihr Glaube. Wenn ihnen auch das Irdische verschwände; so hieße es bei ihnen: „Herr, wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde und wenn mir auch Leib und Seele verschmachtet, bist du doch Gott meines Herzens. Trost und mein Theil." Kurz: der Reiche des Evangelii hat seine Genossen so gut in den armseligsten Hütten, wie in den stolzesten Pallästen, Lazarus die seinen so gut unter den Begütertsten der Erde, wie unter den Bett­ lern. Nicht durch das Maaß des äußeren Besitzes, sondern durch die innere Gesinnung sind sie geschieden, darauf kommt's an, ob man als den beglückenden Schatz das Gut und die Lust der Welt ansieht, oder den Glauben an die heilige Gnade, die Gemeinschaft mit dem Gott der Liebe; ob man Weltseligkeit oder Gottseligkeit begehrt. II. Wir folgen unserer Geschichte weiter und achten auf das Loos beider, auf das des Weltseligen und das des Gottseligen. Bon beiden heißt es, sie starben. Damit hatte ein Ende der Reichthum des Reichen und die Armuth des Armen, die Lust des Weltseligen und die körperlichen Leiden des Gottseligen. Dies LooS ist nun einmal unentfliehbar. Was als Gut und Freude allein der irdischen Welt angehört, und eben so, was als Leid und Pein aus ihr entspringt, das bleibt nicht. Aber von dem Reichen wird weiter gesagt, daß, nachdem er hier bestattet worden war, er in einem anderen Sein in der Hölle und in der Qual sich wieder gefunden habe, von dem Lazarus, daß er von den Engeln getragen worden sei, um auszuruhen, an dem Busen des Abraham. Dies Sein und Leben über das Diesseitige hin­ aus lag schon in der Ahnung, in den Vorstellungen aller Völker. Zu der bestimmten Hoffnung desselben hatte sich allmählig der Glaube in Israel emporgerungen. Im Christenthum ist mit der Gewißheit der Erlösung, der Gotteskindschaft auch die Gewißheit dieses Fortlebens gegeben. In diesem Jenseits zeigt uns unser Gleichniß den Weltseligen in der Hölle und in der Qual. Er spricht: „Ich leide Pein in dieser Flamme." An der Vorstellung, die sich mit der Hölle und ihrem Feuer verknüpft, nimmt man jetzt so leicht und häufig An­ stoß. Und doch, wenn man nur nicht vergißt, daß, wie es in der ver-

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hüllten Zukunft nicht anders fein kann, alle Ausdrücke bildlich, sinnbild­ lich verstanden werden wollen; mußte für den Reichen das Jenseits nicht nothwendig sich so gestalten? Das ist die Natur des Menschen, daß er, ob er schon den Geist aus Gott in sich trägt, wenn er rein der Sinnlichkeit und ihrem Genuß sich hingibt, wenn der Geist von Gott sich löst und seine ewigen, höheren Bedürfnisse vernachlässigt und verachtet, daß dann alle Kraft und alles Streben dieses Geistes nur noch dem Niederen gehört, daß Sinn und Herz nur dafür geöffnet bleiben. Nun dies Alles, was mit Sinnenfreude zusammenhängt, das geht, es ist nicht anders, im Tode verloren. Die Seele aber, nach ihrer angenommenen Beschaffenheit kann sich nur sehnen, nur hungern und dursten nach den Trübern des Reichthums und der Lust. Solchem Schmachten gegenüber das dann so harte Wort: Niemand gibt sie ihr. Welcher Zustand für die Seele, die so mit allem Verlangen an der Herrlichkeit dieser Welt klebt und diese unwiderruflich für sie Staub und Asche! Denken wir uns nur hier einmal einen recht brennenden Durst, einen recht quälenden Heißhunger, und kein Trunk Wassers und kein Bissen Brodes zu erreichen — welche Gluth des Elendes! So dort ganz hungernd, durstend nach Weltlust und auf immer davon verstoßen! So ganz voll Sehnsucht nach dem hoffärtigen, eitlen Wesen und ganz in volle Nacktheit und Blöße hinabgestürzt! — Nicht wahr, wir sehen gleichsam leibhaftig das Feuer, den Wurm im Innersten der Seele, wir verstehen das Wort des Unglücklichen: „Ich leide Pein in dieser Flamme." Wenn die Welt und ihre Lust vergeht, so kann es für den Weltseligen, so lange er in seiner Gesinnung beharrt, kein anderes Endgeschick geben, als wie es der Herr uns so lebendig vor Augen malt. — Lazarus wird von den Engel» getragen in Abrahams Schooß. Was ist der Sinn dieser Verse? Abraham ist der Vater des Glaubens und der Vater der Gläubigen. Er ist in seinem Leben zu dem leben­ digen Gott Himmels und der Erde gekommen. An seinem Busen findet er sich wieder. In seinem diesseitigen Leben hatte sich in Beziehung auf die äußeren Geschicke die ewige Liebe nach ihrer Weisheit verhüllt. Nach dem Urtheil der Welt, das bei der Erscheinung stehen bleibt,

152 war er der von Gott, von der Liebe Verlassene gewesen. Die Bezeichnung seines Zustandes im Jenseit sagt aus, daß er nach seinem Tode aufgenom­ men war in die engste Gemeinschaft mit Gott, daß die Liebe Gottes ihn nun wie den Abraham fühlbar umgab, daß ihm jetzt ein höheres Schauen Got­ tes und seines Heiles gewährt war. Lazarus war hier einsam, verlassen von Vater und Mutter, von Bruder und Schwester, von allen Menschen gewesen. Am Busen des Mraham fand er sich wieder am Busen dessen, der nach der Schrift der Vater aller Gläubigen heißt, der darum auch ge­ dacht wird als umgeben von allen Seligen. Das ist damit angedeutet, daß nun auch Lazarus eingereiht war in die große, heilige Kette der Gotteskinder, in die innigste Gemeinschaft und Verbindung mit den Seligen. Kurz die Ströme der göttlichen Gnade durchziehen seinen Geist und die Süßigkeit vollendeter brüderlicher Liebe ist sein seliger Genuß, darin wird er getröstet. Meine Geliebten, das wird es auch sein, weshalb gesagt wird, die Gottseligkeit hat die Verheißung des künftigen Lebens. Der Gottselige, welche Wege ihm vom Ewigen auf Erden auch bestimmt waren, das Ziel und Ende derselben ist das selige Ausruhen in der Gnade des Höchsten und in der Liebe der er­ lösten Brüder. HI. So ist uns im Vorigen die Weltseligkeit als eine Quelle des Verderbens aufgedeckt, so sehr, daß im Gleichniß selbst der ehemals Weltselige wie nach Linderung seiner Qualen, so nach Errettung seiner Brüder ausschaut. Wodurch, fragen wir zum Schluß, wird die Ret­ tung von der Weltseligkeit und zugleich der Weg zur Gottseligkeit ge­ wonnen? Zuerst erhebt sich uns dabei die Frage: Warum findet der Reiche weder Hülfe noch Linderuug in seiner Pein, da er doch sc sehn­ lich danach verlangt, da er scheinbar in der Aeußerung, welche auf seine Brüder sich bezieht, Liebe, also doch eine gute Gesinnung äußert? Wäre es etwa so, daß die Liebe GotteS jemals aufhörte, Liebe zu sein und sich als Liebe zu bethätigen, daß sie sich nicht mehr erbarmte derer, die sie suchen, wenn sie ihren irdischen Lauf beschlossen haben? Gewiß, Gott, wie Christus gestern und heut und derselbe in Ewigkeit. Wie Gott ewig die Liebe ist, so wird, will und muß er auch ewig Alle be­ gnadigen, welche für die Gnade empfänglich sind oder werden. Die

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Antwort ist vielmehr die: Bei dem Reichen im Gleichniß haben sich zwar die äußeren Umgebungen und Umstände geändert, aber in seinem Inneren ist er wesentlich ganz derselbe geblieben. Er bejammert sein Elend und seine Qual; aber mit keiner Silbe gedenkt er der finsteren Giftquelle, aus der dieselbe entsprungen, der Sünde seiner Seele und seines Lebens, der Gottlosigkeit, welcher er sich anheim gegeben hatte. Er'hat ein Verlangen, heraus zu kommen ans den Flammen, die ihn brennen, aber keine Spur von einer Sehnsucht nach Gott, nach der Gemeinschaft mit Gott, nach dem Leben in ihm, nichts von dem, wo­ durch der verlorene Sohn ein wiedergefundener wurde. „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen." „Ich habe gesündigt im Himmel und vor dir und bin nicht werth, daß ich dein Sohn heiße;" so der, welchem der Vater der Gnade sofort seine Arme öffnet; davon aber keine Regung bei dem Reichen, obgleich er die Folgen seiner Gottlosig­ keit in tiefer Pein empfindet. Ja nicht zu dem lebendigen Gott wendet er sich; sondern ein so unächter Sohn Abrahams setzt er für sich den Abraham an die Stelle Gottes, gleichsam der erste Vorgänger eines verderblichen Aberglaubens, der in späteren Jahrhunderten so viele Gemüther in der Christenheit umdunkelte, und ihnen die Liebe Gottes verhüllte. — Liebe zu den leiblichen Brüdern legte er in seinen Bitten allerdings an den Tag und wir setzen voraus, daß er eö damit auf­ richtig und ehrlich meint. Gewiß es ist die Liebe zwischen Brüdern lieblich und schön und wird mit Recht schon im alten Bunde gerühmt. Die natürliche Familienliebe ist oft das Letzte, worin auch bei verderb­ ten Menschen die Spuren göttlicher Ebenbildlichkeit sich noch zeigen, ist oft auch das Erste, woran die heiligende Liebe der Gottheit anknüpft, um erlösende Kräfte in das Gemüth hinein zu tragen. Auch bei dem wahren Christen kann und darf dieselbe nimmer fehlen. Aber eben weil sie als letzter Rest des ursprünglich Guten auch in den sehr Ver­ derbten, in den natürlichen Menschen sein kann und ist; so leuchtet ein, wie sie auch ganz mit Selbstsucht und Sünde sich zu einigen ver­ mag, ja wie sie zur erweiterten und erhöhten Selbstsucht werden kann. Die brüderliche, natürliche Liebe ist deshalb nur da die edle und gott­ wohlgefällige, wo sie das Herz auch gegen die übrigen Menschen weich,

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weit, mitfühlend macht. Hiervon wiederum auch jetzt bei dem Reichen keine Spur. Wäre wahre Liebe ihm aufgegangen, der Anblick des Laza­ rus hätte andere Gefühle ihm erweckt, hätte ihn mit tiefster Reue und Scham über seine frühere, entsetzliche Lieblosigkeit erfüllt und sich ganz anders geäußert als in dem Verlangen, daß Lazarus sein Diener sein und seine Qualen lindern sollte. Kurz er ist noch derselbe, zwar nicht mehr Weltseligkeit besitzend, aber sie allein begehrend, darum gegen die heilige Gnade Gottes verschlossen und der Liebe zu den Brüdern unzugänglich. Das ist der Grund, weshalb ihm aus Abrahams Munde der sonst so harte Spruch entgegenklingt: „Es ist zwischen uns und euch eine unübersteigliche Kluft" und: „Du hast dein Gutes empfangen, nun wirst du gepeinigt." Es gibt aber, theure Freunde, nur einen Weg, dem Elend, wie es aus der Weltseligkeit entspringt, zu entgehen, das ist das Suchen deö lebendigen Gottes und seiner Gnade, das Eintreten in seine erlösende Liebe und damit das sich Oeffnen des Herzens, um durch die erfahrene Gottesliebe auch der Bruderliebe voll zu werden, kurz es gibt als Rettung nur den Weg der Gottseligkeit. Wie aber wird dieser gefunden? „Sende Lazarum zu meinen Brüdern," „wenn einer von den Todten aufer­ stände und zu ihnen käme, dann würden sie glauben." Mit anderen Worten: Außerordentliche Wunder, die können allein den Men­ schen zu Gott und zur Gottseligkeit führen. Der Reiche will sagen: Würde solch Wunder geschehen, dann würden meine Brüder gerettet. Ja wenn auch verhüllt, aus seinen Worten hört man doch den Bor­ wurf heraus: Gott hat mich seine Wunder nicht schauen lassen, darum leide ich Pein in dieser Flamme. Die Stimme aus Abrahams Munde verneint das entschieden. „Glauben sie Mosi und den Prophe­ ten nicht; so werden sie auch nicht glauben, so jemand von den Todten auferstände." Und das ist ewig wahr. Das Wun­ derbare und Außerordentliche kann wohl aufregen und zum Nachden­ ken anregen; aber zur Gottesgemeinschaft zu führen, das ist ihm nicht gegeben, es kann wohl einen Glauben erwecken, von dem Jakobus sagt, die Teufel hätten ihn und zitterten, aber nicht den Glauben, von dem Paulus spricht, er mache gerecht und selig, es kann Grauen und

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knechtische Furcht erzeugen; aber nicht den kindlichen, fröhlichen Gehor­ sam. „Moses und die Propheten" und weiter nichts! Was ist das? Moses vertritt das Gesetz, die Propheten die Weissagung. Im Gesetz bekundet sich der heilige Wille Gottes an mtC in der Weissagung kündet sich an der Liebeswtlle Gottes gegen uns. Wir aber, die wir im neuen Bunde leben, wissen, daß beide Ströme göttlicher Offenba­ rung zusammenfließen, sich vereinigen und vollenden in dem, der so­ wohl des Gesetzes, wie der Weissagung . Erfüllung ist, in dem voükommnen Menschensohn, in dem die Buchstaben des Gesetzes zum wirklichsten vollsten Leben geworden sind, in dem Sohn des göttlichen Wohlgefal­ lens, aus dem die Liebe der Gottheit spricht und nur die Liebe, durch den sie sich anbietet und mittheilt. Ist es das Gesetz nicht, das dir es zum Bewußtsein bringt, daß du von dem Heiligen gestellt bist in eine heilige, unverbrüchliche Weltordnung, daß du derselben schuldig bist dein ganzes Sein, deine ganze Kraft, dein Leben, kann auch die hohe Gestalt des Heiligen Gottes, der reine Menschensohn dich nicht erwecken zu der Erkenntniß deines ewigen Berufes, will sich den lieb­ lichen Verheißungen von Hülfe und Heil, wie sie in allen Schriften des alten Bundes schon wiederklingen, dein Herz nicht öffnen, ihnen nicht sehnsüchtig lauschen, kann dich selbst der, der die Fleisch gewordene ewige Liebe ist, mit seinem treuen Suchen, mit seinen Thränen, mit seinem Leiden und Dulden, mit seinem Sterben für dich nicht rühren, nicht bewegen, daß du Gott suchest — ob Hundert Tausende von den Todten auferständen, ob alle Tage Zeichen vom Himmel vor deinen Augen geschähen, du würdest doch nicht glauben, doch nicht Leben und Seligkeit gewinnen. MoseS und die Propheten, Gesetz und Verheißung, der offenbare Wille der göttlichen Heiligkeit und Liebe, beides vollendet, Fleisch und Blut geworden in Christi Leben und Tod, das ist's allein, was zur Gottseligkeit führt, was vom Verderben der Weltseligkeit die Herzen löst. Er, Jesus Christus, auch hier der Weg, die Wahrheit und das Leben, er von dem Gott spricht: Das ist mein lieber Sohn an dem ich Wohlgefallen habe, den sollt ihr hören. Amen.

Die Bande der Natur und die Bande der Gnade. Text: Und

es

Marcus 3, 31 — 35.

kam seine Mutter und seine Brüder und

standen draußen,

schickten zu ihm und ließen ihn rufen.

Und das Volk saß um ihn. Siehe,

Und sie sprachen zu ihm:

deine Mutter und deine

nach dir.

Brüder draußen fragen

Und er antwortete ihnen und sprach:

Wer ist

meine Mutter und meine Brüder? Und er sah ringe um sich

auf die Jünger, die um ihn im Kreise saßen, und

sprach:

Siehe, das ist meine Mutter und meine Brüder.

Denn wer Gottes Willen thut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter. verschiedene Lebenskreise, theure Zuhörer, treten in unserem Texte einander gegenüber, gleichsam streitend um ihre Berechtigung. Beide machen, der eine handelnd, der andere sich ausschließend und hinge­ bend, Anspruch auf die Person Jesu Christi, ein jeder an ihn hängend und versuchend, ihn an sich zu fesseln.

„Er sah ringe um sich auf

die Jünger, die um ihn im Kreise saßen," das der eine Kreis. „Deine Mutter und deine Brüder draußen fragen nach dir," wozu in seiner Antwort der Erlöser noch die Schwestern hinzufügt, Lieder: Nr. 308. 486, 7.

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das der andere Kreis. Dieser letztere ist der Kreis des Hauses, ge­ bildet und zusammengehalten durch die Familienliebe. Der andere ist der Kreis der werdenden Gottesgemeine, gesammelt und gebildet durch die Liebe der Gottheit, wie sie in Christo die Menschen von ihrer Selbstsucht und Sünde zu lösen, sie wieder mit sich zu vereinigen und dadurch unter einander zu verknüpfen strebt. Beiden Kreisen gehört Jesus an und eben jetzt ist er in einer Lage, wo beide sich gegensätzlich berühren, wo er sich für den einen und gegen den anderen entschei­ den muß. Wer von uns wäre nicht auch an beide Kreise des Lebens gebunden? Unser Sein in diesem Hause ist schon ein Bekenntniß, daß wir dem durch Christi Liebe gegründeten Lebenskreise der Gottesgemein­ schaft angehören, daß wir ihm auch treu bleiben wollen. Und irgend­ wie steht gewiß jeder von uns so, daß er enger oder weiter einem Kreise der Verwandtschaft, der Familie, verknüpft ist und sein Herz wird sich auch von diesem Kreise nimmer lösen mögen. Wenn wir nun die Bande betrachten, welche in beiden Kreisen zusammenhalten, so sind eö beide Bande der Liebe. Indem aber der eine Lebenskreis mehr beruht auf der ursprünglichen Einrichtung und Ordnung des menschlichen Geschlechtes, mögen wir hier von Banden der Natur sprechen. Indem der andere Lebenskreis mehr ausgeht von der gött­ lichen Liebe, wie sie, erst wenn die Zeit erfüllt ist, Sünde tilgt und Erlösung stiftet, können wir die Bande dieses Kreises als die Bande der Gnade bezeichnen. Wir fühlen uns jetzt, das ist wohl das Regel­ mäßige und Gewöhnliche, in vollem Einklänge, indem wir beiden Seiten gerecht zu werden streben. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß auch jetzt ein Gegensatz zwischen beiden möglich ist und auch manchmal selbst auf eine tief beklagenswerthe Art wirklich wird. Wir bitten Gott und streben selbst, daß solcher betrübende. Zwiespalt, bei dem so leicht das sittliche Leben Schädigung erleidet, von uns ferne bleibe. Auch unsere heutige Betrachtung hat den Zweck, dahin zu wirken, indem wir das Verhältniß zwischen den Banden der Natur und den Ban­ den der Gnade nach dem Wort und Geist des Erlösers uns klar zu machen suchen. Lasset uns dabei erwägen, 1) ihre ursprüng­ liche Einheit in der göttlichen Stiftung, 2) ihren Gegensatz

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int Leben, 3) die Lösung dieses Gegensatzes im Geist und Worte Christi. I. „Deine Mutter und deine Brüder draußen fragen nach dir" der Erlöser geht weder zu ihnen, noch läßt er sie zu sich hinein, sondern weist sie von sich. Und doch, es ist unmöglich, daß er damit eine Trennung, eine Scheidung von ihnen ausgesprochen hat. Die Mutter ist auch später immer wieder bei ihm und am Kreuze zeugt sein Wort dafür, wie treu er sie im Herzen getragen hat bis an's Ende. Auch seine Brüder sehen wir später mit ihm in Verkehr, trotz dem, daß im Evangelio bemerkt wird, sie glaubten nicht an ihm. Sie haben nach seinem Heimgänge ihr Herz dem Glauben erschlossen, sind in seine Gemeine getreten. Gewiß das Hauptmittel, ihnen den Glauben an den erhöhten Gottessohn zu gewähren, war mit das gewesen, daß er als Menschensohn ihnen ein treuzugethaner Bruder bis zum Ausgang seines Lebens geblieben war. Ja das Wort der Abweisung gegen die natürlichen Verwandten spricht's doch mittelbar wieder aus, wie ihm die natürlichen Bande ein Heiligthum waren und blieben. „Wer Got­ tes Willen thut, ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mut.ter." Das heilige Band der Liebe in seinem Reiche, wie es ihn den Erlöser und seine Erlösten in tiefster Innigkeit verknüpft, er weiß es nicht lebendiger, treuer und reiner darzustellen, als indem er sagt, es ist eben wie das natürliche Band geschwisterlicher, elterlicher, kindlicher Liebe. Er hätte so nicht reden können, wenn ihm diese na­ türlichen Liebesbande nicht als ein hohes Heiligthum gegolten hätten. Wie wäre das auch anders möglich? Als der Sohn des Vaters ist er in die Ordnungen des Vaters getreten, wahrlich nicht, um zu zer­ stören, sondern zu erhalten, nicht um zu tobten, sondern um lebendig zu machen. Hat Gottes schaffende Liebe der Menschheit die Familien­ gemeinschaft gegründet und bestimmt, daß sie in derselben sich fort und fort erzeuge, erziehe und bilde, daß sie hier stets suche und finde die Hauptquellen irdischen und himmlischen Segens; wie könnte der Sohn dieser Familiengemeinschaft feindselig oder auch nur gleichgültig gegen­ über treten! Wie muß er sie nicht vielmehr in seine reinigende, schir­ mende und segnende Liebe mit aufnehmen! Wie wird es für ihn nicht

159 Aufgabe sein, gegen Alles zu streiten, was ihr Zerstörung droht? finden wir ihn in der That.

So

Jede Lösung der Ehe, welche die Grund­

lage des Familienlebens bildet, bezeichnet er als Ehebruch, als Ver­ brechen, leitet sie allein aus Herzenshärtigkeit ab, aus jenem Zustande, in dem das Gemüth eben

so der heiligen Gottesliebe verschlossen ist,

wie zugleich auch unfähig für alle sittlichen Aufgaben des Lebens. Als jener Eifer für das äußere gottesdienstliche Leben, jene äußerliche Kirch­ lichkeit, ans den Pharisäern sprach, es sei besser, dem Tempel sein Gut zu weihen, als die bedürftigen Eltern damit zu unterstützen und zu pflegen, da nahm der Herr sich der natürlichen Bande zwischen Eltern und Kindern auf's Wärmste an und schalt und strafte im heiligen Zür­ nen*): Ihr hebet auf Gottes Wort durch eure Aufsätze. Wie uns so aber durch Christum selbst die natürlichen Bande der Familie geheiligt erscheinen;

so sind gerade in ihnen auch wiederum

die Bande der Gnade begründet. Wie der Mensch nur in der Familie heranwächst zum Menschen, so spricht sich darin auch nach allen Seiten aus, daß er geschaffen und gebildet ist für die Gemeinschaft und für das Leben in der Gemeinschaft.

Aus der Familie und der in ihr wal­

tenden Liebe wachsen wie natürliche Zweige Freundschaft, Nachbarschaft, Gastfreundschaft hervor.

Die rechte Familie, in der die natürliche Liebe

lauter und warm ist und mannichfach Schönes und Gutes erzeugt, will sich auch anderen Häusern öffnen, um Segen für Herz und Gemüth eben so zu verbreiten, wie selbst wieder zu nehmen.

Die rechte Familie

nun, wie sie in den Eltern die treue Leitung uneigennütziger Liebe be­ sitzt; so wird sie wie aus ihrem eigenen Innern mit Nothwendigkeit zu der Erkenntniß geführt, daß die Vaterschaft im Hause ihren tiefsten Grund in der allumfassenden Vaterschaft Gottes hat, daß diese heilige Vaterschaft Gottes alle Menschen als ihre Kinder anschaut und sie mit unauflöslichen Banden 'an sich zu knüpfen bemüht ist, daß, wenn alle Menschen, zu dem Verhältniß der Gotteskinder berufen sind,

sie anch

einander zu Brüdern und Schwestern bestimmt sein müssen, daß die Menschheit ihre Würde und Herrlichkeit, ihren Frieden und ihre Selig-

*) Markus 7,13.

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feit nur wahrhaft gewinnen kann, wenn sie im Geist und Leben wird die Eine große Familie der Gottheit selbst, in welcher alle Glieder von brüderlicher, schwesterlicher Liebe durchzogen und zum gegenseitigen Die­ nen unter einander verbunden sind. Wie darum jene göttliche Liebe, welche in Jesu die Gemeine gründet, die Familie in ihren natürlichen Liebesbanden schirmt und heiligt; so umgekehrt sind eS die Bande der Familienliebe, in deren Schooß und Lebenswärme natürlicher Weise der Bund der Gottesliebe erwächst. ES ist darum in der Ursprüng­ lichfeit hier von feinem Zwiespalt die Rede. Die Bande der Natur und die Bande der Gnade stehen, wie sie von der einen Liebe Gottes, nur nach verschiedenen Seiten hin geknüpft werden, ihrer ursprünglichen Stiftung nach in vollständigem Einklang, in lebendiger Einheit. II. „Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden" heißt es allerdings. Aber eben dies gegebene Gebot spricht eS aus, daß menschliche Sünde oft zerreiße und in Gegensatz bringe, was Gott verbunden und zum Einklang bestimmt hat. So geschieht es auch im Leben zwischen den Banden der Natur und den Banden der Gnade. Aufgewachsen und ausgebildet im Schooß der Familie weiß sich Christus eben bestimmt, die große Gottesfamilie der erlösten Menschheit zu gründen. Dieser Aufgabe aber weihet er seine ganze Kraft und sein ganzes Leben. Da, wie es im Listen Verse unseres Kapitels heißt, hören es, die um ihn waren, das heißt, seiner Familie Ge­ nossen. Die Art seines Wirkens scheint ihnen nun so beschaffen, daß sie ängstlich sprechen: „Er wird von Sinnen kommen." Um ihn zu erretten für sich, für die Familie, erscheinen sie jetzt bei ihm, wollen ihn zurückführen aus seiner doch in's Verderben stürzenden Schwärmerei auf die ebenen, gefahrlosen Pfade des gewöhnlichen Lebens. Zwei Punkte laßt mich da aus des Evangelisten Darstellung herausheben, um uns das Denken der Verwandten recht 'anschaulich zu machen. Einmal wird von Christo und den Jüngern gesagt: „Und sie kamen zu Hanse und da kam abermal das Volk zusammen, also, daß sie nicht Raum hatten zu essen." Sie hatten nicht Raum zu essen, weil der Herr, grade wie dorten am Jakobsbrunnen unter den obwaltenden Umständen den Raum dazu nicht haben wollte. Er

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sieht empfängliche Gemüther, bereit die Himmelsspeise göttlicher Wahr­ heit und Liebe in sich aufzunehmen. Da weiß er nichts mehr von eigenem Hunger, da gilt eS*): Ich habe eine andere Speise, die, daß ich thue den Willen dessen, der mich gesandt hat und vollende sein Werk, da kann er allein der in ihm wohnenden, Erlösung und göttliche Gemeinschaft stiftenden Liebe genügen. Das dünkt den Brüdern über das rechte Maaß hinausgehend, das muß seinem persönlichen Leben nachtheilig werden und dem Zuge seines Geistes, der die heiligen Bande der Gnade weben und knüpfen will, setzte sich in ihnen der Familien­ geist, wenn ich so sagen darf, entgegen, um so den natürlichen Liebes­ banden gerecht zu werden. Ein Zweites ist der Bericht von dem aus­ gebrochenen Streit und Zerfall Jesu mit der Partei der jüdischen Hierarchie, wie er schon vom 2ten Kapitel an uns gegeben ist. Der Herr weicht nicht zurück. Er sagt den Hierarchen, daß sie Arges däch­ ten in ihren Herzen. In heiliger Ironie hält er ihnen vor, daß ihre eingebildete, geistige Stärke, Gesundheit und Gerechtigkeit, Schwachheit, Krankheit und Sünde wären, straft sie als solche, die immer mehr mit ihrer Gesinnung sich dem tiefsten Abgrunde des Verderbens nahten, der Sünde wider den heiligen Geist. Das scheint abermals den Brü­ dern ein Zeugniß, daß er könne von Sinnen kommen. Es sei das gegen die Lebensweisheit sich mit der mächtigen Hierarchie, auch wenn das sittliche Recht auf seiner und das sittliche Unrecht auf ihrer Seite wäre, in einen Streit einzulassen, er werde ja nothwendig unterliegen, werde ein unglückliches Opfer seines übertriebenen, schwärmerischen Eifers werden. Der Herr aber, nt. G., indem er sich seines göttlichen Beru­ fes gewiß ist, die Bande der Gnade um gottversöhnte und erlöste See­ len zu schlingen, erkennt klar, daß das nicht möglich ist, wo pharisäische Eigengerechtigkeit, äußerliches Satzungswesen, hochmüthige Priester­ herrschsucht waltet. Er weiß, daß in die Gemeinde, die er gründet, kein schlimmerer Feind eindringen könnte, als dieses pharisäische We­ sen, wodurch alles noch so Gesunde und Edle verpestet und vergiftet wird. Darum, wie er in seinem Berufe lebt, auf den aus der Liebe *) Johannes 4, 34. Thomas, Predigten.

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Gottes geborenen und in der Liebe thätigen Glauben die Gemeine zu gründen, so weiß er sich ebenfalls berufen, unablässig den Pharisäismus, das hierarchische Unwesen zu bekämpfen, und die in diesen Banden Gefangenen zu lösen. Den pharisäischen Sauerteig von seinen Jüngern fern zu halten, das ist ihm seine heilige, stets zu erfüllende Aufgabe. In diesem nothwendigen, geistigen Kampf, damit die Bande der Gnade eine Gemeine umschlingen könne, harrt er treu aus bis an's Ende. Die natürlichen Bande der Familienliebe aber werden von seinen Brü­ dern benutzt, um dem entgegenzutreten. Zurück wollen sie ihn ziehen aus dem verhängnißvollen Streit, mehr in die stille Ruhe des früheren Le­ bens. Sie wollen ihn heilen von der vermeintlichen Schwärmerei, welche, in Ideen sich verlierend, selber dem wirklichen Leben und seinen Mächten nicht Rechnung trägt, wollen so sein Leben aus drohenden Gefahren erret­ ten. Da ist der streitende Gegensatz. Der Herr muß sich entscheiden, ob er dem Zuge der Familienliebe folgen und durch die natürlichen Bande sich fesseln lassen soll, dann aber nachlassen muß von dem heiligen Werk, durch die Bande der Gnade Seelen in seinem Reiche zu vereinen; oder aber ob er beharrend in der erlösenden Thätigkeit sich hinwegsetzen soll über das, was im Namen der natürlichen Liebesbande von ihm ver­ langt wird. Wenn wir das auf unser gegenwärtiges Leben anwenden, so haben wir keine Familien im Sinn, welche dem Reiche Gottes feind­ lich gegenüberstehen, in denen Gottlosigkeit und Sünde das unbedingte Regiment üben; sondern solche, die sich selbst für christliche halten und als solche gelten. Wer durch die Bande der Gnade an Christum ge­ fesselt und damit in die Gemeine der erlösten Jünger eingeweiht ist, dem gilt Wahrheit und Liebe für das Höchste, dem sind diese beiden das Leben seines Lebens geworden. In der Liebe liegt es ihm ob, wo es Noth thut, dem gemeinen Besten seine Kräfte zu weihen. Die Wahrheit fordert, das Licht der Finsterniß, die Gerechtigkeit der Un­ gerechtigkeit entgegenzustellen. Nur in der Wahrheit und Liebe haben die Bande der Gnade ihr Wesen, ihre Dauer, ihre Festigkeit. Wo Wahrheit und Liebe aufgegeben werden, da werden auch diese Bande des göttlichen Reiches gelöst. Nun fordert die Liebe zu Zeiten wohl Aufopferung für die eigene Person und die Wahrheit verlangt zur Zeit,

163

daß man dem Zorn und Haß sich aussetzt und dann mancherlei Nach­ theil davonträgt. Wenn daS eintritt, da erhebt sich auch heute wohl noch die natürliche Liebe in Verwandten und Freunden und will mit ihren natürlichen Banden den Fuß und die Hand fesseln, daß- sie die Thätigkeit für Wahrheit und Liebe mäßigen und hemmen, damit nicht Verderben erwachse. Wo die Opfer des persönlichen Lebens größer werden, da mahnt die natürliche Liebe: Schont euer selbst. Wo das Stehen zur Wahrheit mit Gefahr verknüpft ist, da ruft die natürliche Liebe: Zurück aus dem Kampf, erhalte dir des Lebens Genuß und stille Thätigkeit und ziehe nicht selbst thörigter Weise auf dich Uebel und Elend herab. Der Erlöser aber fordert für sein Reich solche, welche die Hand an den Pflug legend nicht wieder zurückschauen*), die ihr Kreuz auf sich nehmen und sich selbst verleugnen, die unbedingt in Wahrheit und Liebe ihm nachfolgen. Es gibt in solchen Fällen noth­ wendige Entscheidung, ob man der Familie, ob man dem Reiche Gottes sich weihen will. Beides zugleich wollen ist zur Unmöglichkeit geworden. Das wäre, Geliebte, der Gegensatz zwischen den natürlichen Banden und den Banden der Gnade. III. Nun die Lösung dieses Gegensatzes, wenn er sich herausge­ bildet hat. Unser Text scheint sehr einfach und klar die Entscheidung zu geben. Der Heiland fragt hier nicht, was die Familienliebe, sondern nur was die göttliche, das Heil der Seelen stiftende Liebe von ihm fordert. Die Bande der Gnade, die er selbst gewoben hat und fort­ während webt, halten ihn ganz und ungetheilt. Um ihretwillen sprengt er die natürlichen Bande und weist von sich Brüder, Schwestern, Mut­ ter. Indem er auf seine Jünger deutet, sagt er von ihnen, sie seien ihm Bruder, Schwester, Mutter. Wie das aber auch einem natürlichen, noch nicht sich selbst klaren Gefühl auf den ersten Anblick als etwas Hartes erscheinen kann, wir werden nach genauerer Ueberlegung es doch als das vollkommen Richtige änerkennen. Führen wir die Bande der Gnade aber auf die Gnade, auf die von Sünde und Selbstsucht erlösende Liebe Gottes in Christo zurück, sind diese Bande diejenigen, *) LukaS 9, 62.

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welche eben mit Christo, mit Gott uns verknüpfen, in welchen darum unser Heil ruht, dann sind und bleiben sie das, was Allem vorangeht, hinter welches Alles zurücktreten muß.

Auch die Familienliebe,

auch

die natürlichen Bande, so theuer und heilig sie an sich auch sein mö­ gen, wenn sie dem von

göttlicher Gnade' gestifteten Glaubens- und

Liebesbunde gegenüber hemmend und störend in den Weg treten wollen, sie sind unbedingt zu unterdrücken und abzuweisen, wie es Christus am Stärksten ausspricht in dem Wort*):

„Wer Vater oder Mutter

mehr liebt, denn mich, der ist meiner nicht werth, wer Sohn oder Toch­ ter mehr liebt, denn mich, der ist meiner nicht werth."

Danach würde

der Grundsatz gelten: Die natürlichen Bande haben sich den Banden der Gnade unterzuordnen und wo ein Zwiespalt hervortreten will, müs­ sen sie diesen weichen. — Aber, nt. G., daß wir dies rasch gefundene Ergebniß nur nicht eben so rasch ganz gegen den Geist und Sinn des Erlösers auf's Schlimmste mißbrauchen.

Die natürlichen Bande bilden

die Familie, die Bande der Gnade, sagt man, sind bestimmt, die Kirche zu bilden.

Nun sind gar oft Familie und Kirche in Streit getreten.

In diesem Fall fühlt sich hier die Kirche durch die Familie, dort die Familie durch die Kirche beeinträchtigt, grade so, wie in der Geschichte des Christenthums auch Kirche und Staat oft im Gegensatz gestanden haben.

Wie vielfach ist da immer wieder unser Grundsatz dahin an­

gewendet, daß, wo Kirche und Familie sich einmal feindselig berühren, daß da stets die göttliche Gnadenanstalt, die Kirche Recht haben, die Familie, die

natürliche Verbindung zurücktreten müsse.

Was jener

Pabst über das Verhältniß der Kirche zum Staate sprach, jene sei die Sonne, dieser nur der Mond, jene trage Licht, Heil, Leben in sich selber, dieser könne es nur von ihr nehmen, jene habe darum Recht und Pflicht der Leitung, dieser ihr gegenüber Recht und Pflicht des Gehorsams, das wird auch thatsächlich geltend gemacht von dem Verhältniß Kirche und der Familie.

der

M. G., wir als evangelische Christen fühlen

sogleich darin das Unevangelische. Der Grundsatz: Alles zur größeren Ehre Gottes, d. h. zum größeren Glanze der Kirche, welcher häufig die

*) Matth. 10, 37.

165

natürlichen Forderungen der Familienliebe gewaltsam zu unterdrücken strebt, ist uns eine widerwärtige, widerchristliche, hierarchische Anmaßung. Aber wie, die Kirche, die Christum als Haupt, seinen Geist als Odem des Lebens besitzt, diese Stiftung göttlicher, erlösender Gnade, sollte sie nicht wirklich eben so berechtigt, wie verpflichtet sein, solchen An­ spruch zu erheben? Ja, wenn das, was Kirche sich nennt und so heißt, auch im ganzen Sinne des Wortes Kirche wäre, d. h. die würdige, heilige Behausung Gottes aus lebendigen Bausteinen zusammengefügt, in der allein der Wille Christi regierte und wirkte, in der allein Alles aus seinem heiligen Geiste flösse, wer, der in Christo seinen Hei­ land und sein Heil gefunden hat, möchte sich dann nicht auch dieser Kirche und ihren Forderungen mit vollster Freudigkeit übergeben und Alles nach ihrem Geiste ordnen? Wie wir aber etwa von unserer evangelischen, wirklich geschichtlichen Kirche solches behaupteten, wir fielen damit in die traurige, so vieles Schlimme in sich schließende Selbstverblendnng und Selbsttäuschung der römischen Kirche, nämlich, daß wir verwechseln die Kirche nach ihrer hohen, ewigen Idee, nach ihrer hei­ ligen Bestimmung und die Kirche nach ihrer mangelhaften Erscheinung im Leben. Wie steht es denn mit der Familie, wenn wir sie nach der göttlichen Idee, die sich in ihr verkörpern soll, nach der göttlichen Be­ stimmung, betrachten? Ist sie nach dem göttlichen Wille» nicht die ursprünglichste, heiligste Pflanzstätte ungeheuchelter Frömmigkeit, reiner Tugend, alles menschlich Großen, Edle», Schönen? Ist sie ihrer Be­ stimmung nach nicht das Reich Gottes im Kleinen und darum der hei­ lige, mütterliche Boden, aus dem das Himmelreich auch als der herr­ liche, große, die Menschheit überschattende und mit Früchten des Heils nährende Baum vorzugsweise mit seine Kräfte nehmen soll? Hat die Familie nicht in erster Stelle die Verheißung des göttlichen Segens und der göttlichen Liebe? Fassen wir die Familie, wie sie durch die natürlichen, von Gott gewollten Bande verknüpft ist, ihrer Idee, ihrer Bestimmung nach, wahrlich nichts kann von ihr kommen, was ungöttlich, unchristlich wäre, nie können dann die natürlichen Bande mit der gött­ lichen Gnade und dem, was aus dieser geboren wird, in Widerspruch und Gegensatz gerathen. Aber wie die Familie in der Wirklichkeit, im

166 Leben so oft uns als ihr eigenes Zerrbild erscheint, im tiefen Abfall von ihrer heiligen Idee, in schlimmer Verunstaltung, grade so ist es auch mannichfach mit der Kirche.

Auch die Kirche ist in der Erschei­

nung an manchen Orten und zu manchen Zeiten nur ihr eigenes Zerr­ bild, vor

dem wir mit

Entsetzen zurückbeben,

gewesen.

Auch die

Kirche ist in der Wirklichkeit an manchem Ort, zu mancher Zeit mit schlimmsten Mängeln und Sünden behaftet gewesen und es sind in ihrem Namen

die

widerchristlichsten

und ungöttlichsten Forderungen

gestellt worden, so daß selbst eine tiefgesunkenste Familie nichts Ungöttlicheres von ihren Gliedern zu fordern vermag.

Da, wie wir schon

vorhin bemerkten, hat seiner Zeit der Erlöser selbst die Familie in ihrer Heiligkeit der falschen Kirchlichkeit der Pharisäer, ihrer hiercharschischen, äußerlichen Gottseligkeit gegenüber in Schutz genommen.

So war es

denn auch Christi Geist, welcher die von der Kirche des Mittelalters ihrer Würde und Heiligkeit beraubte Familie durch die Reformazion wieder in ihre göttlichen, ewigen Rechte einsetzte.

Darum nimmermehr

können wir da, wo in der Wirklichkeit Familie und Kirche sich streitend berühren, ohne Weiteres auf die Seite der Letzteren treten. Herr ansspricht:

Was der

„Wer den Willen Gottes thut, der ist mir Bruder,

Schwester, Mutter," das wird unser Grundsatz bleiben.

Der Wille

Gottes war ihm so gut der gottesdienstlichen Gemeinschaft, wie auch der Familie gegenüber das einzig Entscheidende und Bestimmende.

Dem

Willen Gottes gemäß hat er sich beiden Gemeinschaften hingegeben, um sie mit göttlicher Wahrheit und Liebe zu erfüllen, hat sich aber auch beiden Gemeinschaften entzogen, ja hat sie bekämpft, wo sie seinen Lauf, den Lauf erlösender Liebe und Wahrheit hemmen wollten, hat da nicht nur die natürlichen Verwandten, sondern auch die Jünger seiner Wahl von sich gewiesen, wie den Petrus mit dem Wort: Hebe dich von mir Versucher! Und doch wieder, wie er jeden Eingriff, der ihm von dieser oder jener Seite kommt, abweist; nie, wie sein Leben und Sterben es ausweist, ist seine Abweisung zugleich eine Scheidung geworden.

Mit der

Familie und mit der gottesdienstlichen Gemeinschaft bleibt er bei aller Bekämpfung des Sündlichen in ihrem Schooß verbunden bis in den Tod, um eben beide zu ihrer Bestimmung zurückzuführen und zu heili-

167 gen.

Liebe und Wahrheit sind es, auf welche die menschliche Natur

angelegt ist, Liebe und Wahrheit, wie sie in vollster Lebenskräftigkeit und Reinheit in Christo erschienen sind, bilden das eigentlichste Wesen und Leben der Familie nach Gottes Willen, sie sind eben so das eigent­ lichste Wesen und Leben der Kirche nach Gottes Willen.

Dem Willen

Gottes, der Liebe und Wahrheit Christi, sind wir als seine Jünger verpflichtet, für sie haben wir einzustehen mit allem, was wir sind und haben, für sie dürfen wir keine Opfer und keinen Haß der Welt scheuen. Wo deshalb auf Seiten der Kirche oder der Familie etwas von uns gefordert würde gegen Wahrheit und Liebe, da gilt es, daß wir als Jünger Christi uns mit aller Kraft dagegen erheben, daß wir dann, wie Christus in Betreff der Seinen, so zu ihm selber sprechen: Du bist uns Bruder, Schwester, Mutter, du uns Familie und Kirche zugleich. Aber wenn wir auch in Familie oder Kirche streiten müssen gegen Ver­ irrung und Sünde, dem Erlöser folgend halten wir fest an der Ge­ meinschaft beider, so lange es irgend möglich bleibt.

Wenn uns so der

Wille Gottes, Wahrheit und Liebe, Alles gelten wird, dann werden wir stets die rechte Versöhnung des Gegensatzes, wenn er sich zeigt, finden.

Der Herr an seinem Kreuz umschlingt in gleicher Liebe die

zu versöhnende Gottesgemeinschaft und die Familie in der Person des Schächers und der Mutter.

Die Bande der Natur und die Bande

der Gnade sind von ihm fest bewahrt bis an'S Ende und sind gehei­ ligt in seinem Tod.

So lasset uns in seiner Nachfolge an den Willen

Gottes mit rücksichtsloser Ergebenheit hangen,

das wird über jeden

etwa sich erhebenden Zwiespalt im Leben erheben, das wird uns die Bande der Gnade zu Banden der Natur, die Bande

der Natur zu

Banden der Gnade machen, d. h. es wird jene mit lebenswarmer Innigkeit, diese mit gottehrender Heiligkeit durchweben. und stärke uns alle der getreue Gott.

Amen.

Dazu segne

Der häusliche Gottesdienst. Text: 1. Thessalonicher 5, 16—18. Seid allezeit fröhlich.

Betet ohne Unterlaß.

Seid

dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christo Jesu an euch.

(geliebte im Herrn, als Gegenstand unserer heutigen Betrachtung habe ich für uns den häuslichen Gottesdienst erwählt. Es bestand und besteht ja noch heut in christlichen Häusern häufig die schöne Sitte, daß zu bestimmten Stunden, Morgens oder Abends, oder auch beim Genuß der irdischen Gaben die Glieder der Familie sich zu gemeinschaft­ lichem Gebet oder Gesang, oder auch zur Lesung und Betrachtung des göttlichen Wortes versammeln, um sich zu erbauen. Wie trefflich aber diese Sitte und Weise ist, wie sehr wir sie empfehlen müssen, wo sie fehlt; doch dürfen wir sie nicht als Gesetz den Christen vorschreiben, dürfen das Vorhandensein oder Fehlen dieser Sitte nicht als Zeugniß und Maaßstab des vorhandenen oder fehlenden Christenthums aufstellen. Das Evangelium verträgt in solchen Sachen kein Gesetzeswesen. Der­ gleichen ist nur gut, wenn es sich rein in der Freiheit bildet, abgesehen auch von dem, was sonst darüber geurtheilt wird. Also nicht da, wo ein solcher förmlicher Hausgottesdienst ist, ist damit schon wirkliches Christenthum, nicht da, wo er in fester Gestalt fehlt, gebricht es jedes­ mal am lebendigen Christenthum. Dennoch sagen wir: kein christliches HauS ohne christlichen Gottesdienst im weiteren Sinne, nämlich ohne Lieder: Nr. 712. 643, 6 -7.

169 die innere Gesinnung, ohne das lebendige,

innere Thun der Seele,

welches dann das ganze häusliche Leben zu einem die christliche Fröm­ migkeit darstellenden macht und damit zum Gottesdienst erhebt und ver­ klärt.

Das behalten wir für unsere Betrachtung im Auge. Das We­

sentliche aber für den Gottesdienst im häuslichen Leben scheint mir in dem verlesenen Texte ausgesprochen zu sein, indem die Ermahnungen desselben wohl für'S ganze Leben gelten, aber erst in der Häuslichkeit ihre rechte Pflege finden und ihren rechten Segen verbreiten können, indem sie dasjenige vorhalten, was in der Hausgemeinschaft den Christen erfüllt und sich in seinem Wesen ausprägt.

Fassen wir dann die drei

apostolischen Ermahnungen einzeln nach einander in's Auge, wie gesagt, mit beständiger Beziehung auf den häuslichen Gottesdienst. I.

Gott ist der Herr deines Hauses.

Dieses dein Haus ist als

die Stätte feines Reiches schon damals bestimmt worden, als er mit der Schöpfung unseres Geschlechtes eben auch die Ehe, die Familie gründete, ist durch das Christenthum erst recht in seiner uralten Be­ stimmung anerkannt und soll durch dasselbe zu ihr geführt und verklärt werden.

Das christliche Haus ein Reich Gottes im Kleinen! Was es

ist, das muß es auch darstellen, also darstellen, daß in ihm Alles bezo­ gen wird auf seinen Gott, den Gott heiliger Liebe, wie er in Christo offenbar ist.

Da bieten sich uns drei Seiten des häuslichen Lebens

dar, auf denen es ruht und in denen es verläuft, das sind Besitz, Er­ werb, Genuß, ohne die drei ist kein Hauswesen. Welches ist der Besitz des christlichen Hauses? Es sind die irdischen Güter dieses Lebens.

Es

gehört ferner dazu Gesundheit und Ehre.

Es gehört dazu die gegenseitige Liebe und Treue zwischen den Ehegatten, zwischen Eltern und Kindern, Brüdern und Schwestern, Herrschaften und Dienenden.

Es gehört zum Besitz des christlichen Hauses als das

Höchste die Gewißheit der göttlichen, segnenden und versorgenden, er­ lösenden und versöhnenden, heiligenden und beseligenden Liebe Gottes, die Gewißheit, daß nichts die Seelen scheiden kann von dieser Liebe Gottes, die in Christo ist, nichts Gegenwärtiges und Zukünftiges, nicht Tod

und Leben.

Verschieden

und wechselnd ist der Besitz für das

Christenhaus in Beziehung auf das Erdengut,

so daß

wie hier die

170 Fülle zuströmt, dort die schwersten Verluste erduldet werden und die bitterste Armuth einzieht. Gut der Gesundheit.

Verschieden steht es in Beziehung auf das

Hier erfreut sie alle Glieder des Hauses, dort

leidet eins an schwerer Krankheit, da seufzen die mehrsten oder vielleicht auch einmal alle über einen Pfahl, ein schmerzliches Leiden im Fleisch. Selbst in Beziehung auf den guten Namen kann es einem christlichen Hauswesen so gehen, daß es nicht nur durch gute, sondern auch durch böse Gerüchte, nicht nur durch Ehre, sondern auch durch Schande eine Zeit lang ohne jedes Verschulden hindurch muß.

Was aber die Liebe,

die Treue, die innige Verbindung der Glaubensgenossen angeht, so sollte sie in jedem christlichen Hause in vollem Maaße als köstlicher HauSschatz vorhanden sein.

Aber abgesehen von

den Unvollkommenheiten

und Fehlern der einzelnen, die so leicht trüben und stören, gibt es auch manches wirklich christliche Haus, das ein todtkrankes Glied an sich trägt, das über ein solches, als über ein sündiges, halbverlorues seufzt und klagt. Da bleibt wohl auch die Liebe, die Treue, die christliche Liebe kann sich auch im Hause von der Welt nicht überwinden lassen, aber sie nimmt eine verschiedene Färbung an und die Art, wie man die Liebe der Seinen als einen Schatz besitzt, hat danach ein verschiedenes Maaß in verschiedenen christlichen Häusern. christliche Hauswesen im ungetheilten,

Aber ein Gut hat jedes

vollsten Maaße, das ist das

Höchste, das Gut der Güter, nämlich die erlösende und heiligende Liebe Gottes in Christo, die göttliche Liebe, welche eben so mit ihrem Frieden die Herzen erfüllt und den Geist beseligt, wie sie in heiliger Macht und Weisheit ob Allem waltet und Alles regiert.

In diesem Gut besteht

der Schatz, für den jener Mensch Alles opferte,

was er besaß;

die

köstliche Perle, für welche jener weise Kaufmann Alles einsetzte, was er hatte.

Hat man doch in diesem Gut auch Alles, es fällt uns Alles

darin zu.

Sollte der Gott, der uns seinen Sohn gegeben, uns in ihm

nicht Alles schenken, sollte durch ihn nicht Alles uns zum Besten dienen? Hat das christliche Haus

diesen Besitz der unverlierbaren Gnade und

Liebe Gottes, dann wird es stets von der hohen Heilsbotschaft durch­ klungen:

„Siehe ich verkündige euch große Freude," dann tönen stets

hinein die mannichfachen Seligpreisungen des Erlösers, dann muß es

171

ja in die Herzen dringen: „Freuet euch in dem Herrn allerwege und abermal sage ich: freuet euch" oder mit nuferem Texteswort: „Seid allezeit fröhlich." Was soll stören die Freude? Irdischer Verlust? Was wir auch verlieren, wie viel mehr des göttlichen Gutes wird uns Bleiben! Was wir auch verlieren, sollte es unS nicht die weise Gnade nur deshalb entziehen, damit es nicht ein Gift werde? Oder sollte uns Schmerz und Trübsal die Freude zerstören? Kommt denn nicht auch das von dem ewigen Urquell der Liebe zum Heil und Segen? Gibt diese nicht in dem Leid Trost und Frieden und stille, starke Kraft? Oder soll unsere Freude durch den Hinblick auf unsere und der Unseren Sündigkeit vernichtet werden? Ja, das ist etwas, wodurch der Christ wohl täglich wieder in heilige Wehmuth, in göttliche Traurigkeit, — Luther nennt’« tägliche Reue und Buße, — gesenkt wird. Aber das ist der Glaube im Christenhause, daß Gottes Gnade mächtiger ist als unsere Sünde und daß er, der das gute Werk in unS angefangen hat, eS vollendet auf den Tag Jesu Christi. Dieser Glaube weiß, daß er die Welt überwunden hat. Nun diese Freude an dem Herrn und sei­ ner Liebe, an dem köstlichen, ewigen Besitz muß im Christenhause sich darstellen, zur Erscheinung kommen, nicht nothwendig in bestimmter Stunde, sondern allezeit, nicht nothwendig in förmlicher, gar gemachter Weise, vielmehr stets unwillkürlich und ungezwungen. „Wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer sehen wie die Heuchler" — „wenn du aber fastest, so salbe dein Haupt und wasche dein Angesicht" *), um deine un­ verlierbare Freude auszudrücken. Wenn ihr sehet, das sich das Alles n'ahet, die schweren Trübsale der Welt — „hebet eure Häupter auf, merket, daß sich eure Erlösung nahet" **). — „Ich will euch sehen, und euer Herz soll sich freuen" ***). — „Seid getrost, ich habe die Welt überwunden" f). So der Herr. Wohlan die hohe Heiterkeit des Sinnes, die auch beim Mangel jede herannahende Sorge überwindet und verscheucht, die auch beim bitteren Schmerz das Antlitz mit dem schönen Glanz zuversichtlicher Hoffnung und muthiger Ergebung verklärt, die auch in den Kämpfen mit eigener und fremder Sünde, selbst im *) Matth. 6. 16-17. ***) Johannes 16, 22.

**) Lukas 21, 28. f) Johannes 16, 33.

172 tiefen Bußgefühl das Bewußtsein erlangter Vergebung und gewissen Sieges abspiegelt, diese selige, heitere Stimmung, wie sie das ganze häusliche Leben durchzieht, gehört wesentlich zum christlichen Gottesdienst im Hause. Sehr edle Gemüther haben oft schwere und heiße innere Kämpfe, in denen sich die Freude am Herrn verbergen, ja wie verlieren will. Ja wir bekennen: Je edler das Gemüth, desto schwerer und heißer oft ein solcher Kampf. Und doch, wie wir das anerkennen, wir müssen hin­ wiederum sagen, wo sich die Freude am Herrn zurückzieht, verkümmert, sich verlieren will, da fehlt es noch am Rechten, da ist Krankhaftes, dem Herrn Mißfälliges, da ist, wenn eben nicht das Leiden in körper­ lichen Zuständen seinen Grund hat, entweder eine größere oder geringere Verschlossenheit des Gemüthes gegen die Gaben und den Geber der Liebe, eine vorhandene oder keimende Undankbarkeit, oder die Melan­ cholie ruht auf noch versteckter, unerkannter Eigengerechtigkeit, die sich nicht demüthig durch Vergebung will erlösen und heiligen lassen, oder das Finstersein ist eine gewisse Verdrossenheit zum frischen Thun des Werkes, was Gott gebietet.

Kurz es ist stets etwas darin, was über­

wunden werden will und muß.

So kann wohl in ein edles Ehristen-

haus auf diese oder jene Veranlassung eine gewisse Niedergeschlagenheit eine sich im Aeußeren geltend machende Verstimmung eine Zeit lang einkehren und wir werden nicht alsbald den Stab über dasselbe brechen. Aber das ist dann doch die sofortige Aufgabe, alles Derartige durch die Freude am Herrn zu überwinden und ein Gleichgewicht seliger Hei­ terkeit im häuslichen Leben wieder herzustellen und- herrschend zu machen. Nur darin wird Gott in wahrhafter Weise gedient, weil es äußerlich zur Erscheinung bringt,

was Gott für die Seele fordert und gibt.

Nur darin und daraus entwickelt sich alles Uebrige lieblich und natür­ lich, was man als Heilsames, Schönes und Gutes im Christenlebcn preist.

Ein finsteres, trübseliges Wesen und wenn cs sich noch so sehr

auf das Christenthum beruft und sich in Formen des Christenthums hüllt, ist Zeugniß, daß Christi Geist noch nicht im Hanse herrscht, läßt befürchten, daß wahrhaft Christliches auf diesem Boden noch nicht ge­ deiht, bekundet, daß Gott noch nicht im Namen seines Sohnes gedient

wird. So denn das Erste, wenn unser häusliches Leben ein Gottes­ dienst sein soll: „Seid allezeit fröhlich." II. Auf ein Zweites führt uns die Betrachtung des Erwerbes. Das Hauswesen, also auch das christliche, ruht ans dem Besitz bestimm­ ten Gutes, bestimmter Güter — Gott ist der Geber dieses Besitzes; aber das ist seine heilige Ordnung, daß er dem Menschen nichts gibt, was dieser nicht selbst erarbeitet, nicht selbst erwirbt. „Im Schweiß deines Angesichts sollst du dein Brod essen"*), „Arbeite und schaffe mit den Händen etwas Gutes"**) und „So jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen"***); das sind biblische, sind göttliche Sprüche. Damit ist der Mensch, und damit daö Haus zum Erwerb dessen beru­ fen, wovon es sein Sein und Leben erhält. Aber der Mensch lebt nicht vom Brod allein und daher auch nicht das christliche Haus. Es lebt sein inneres Leben von all dem, was häusliche Tugend ist und was sich in Liebe und Treue zusammenschließt. Auch da gilt's: Wer nicht arbeitet, der wird nichts haben und schmachten, auch da gilt's: Es will Alles im geistigen Ringen und Anstrengen der Kräfte gewonnen und erworben werden. Und wie bei der ersten grundlegenden Thätig­ keit für den irdischen Erwerb, beim Ackerbau, wenn das nährende Korn soll gewonnen werden, es immer darauf ankommt, daß Unkraut, Dor­ nen und Disteln ausgejätet werden; so, soll das geistige Gut christlicher häuslicher Tugend erworben werden, dann gcht es auch nicht ohne fortwährende Ausrottung von Disteln und Dornen auf dem Boden des Herzens, des inneren Lebens, ohne Bekämpfung verschiedener, selbstischer, eigenwilliger Triebe, die, wo sie Gewalt behalten, dem häuslichen Leben mit Krankheit, Verderben, Zerstörung drohen. Ohne Arbeit bekommt der Mensch nicht die Kräfte und Dinge der Natur in seine Gewalt, zu seinem Gut; ohne geistige Arbeit wird er nicht Herr seines Geistes und Leibes, seiner geistigen und leiblichen Kräfte, kommt nicht in den Besitz dieses ihm eigensten und herrlichsten Gutes, worin er, worin das ganze Hauswesen allein ein gesegnetes, fröhliches, freies Leben er­ halten und fördern kann. Darum gilt's für das christliche Haus, daß *) 1. Moses 3,19. ***) 2. Thessalonicher 3,10.

**) Epheser 4, 28.

174

alle Glieder die gottgegebene Kraft anspannen, in rüstiger, freudiger Thätigkeit ansharren, damit allerlei Gutes Leibes und der Seele er­ worben werde. Es gilt, daß auch das Heranwachsende Geschlecht dazu in liebevoller, ernster, heilsamer Zucht erzogen wird. Muß aber alles irdische und geistige Gut auch vom Menschen er­ worben werden; so ist das Erwerben doch nie schöpferisches Hervor­ bringen, nie göttliches Schaffen; sondern es ist nur ein Heben, Ver­ wenden, Nutzbarmachen der Schätze, die Gott wie draußen in'S Feld, so in den Boden der menschlichen Persönlichkeit gelegt hat. Geschieht das Erwerben durch das Anspannen der menschlichen Kräfte, so sind diese Kräfte Leibes und der Seele doch nicht das, was sich der Mensch selbst, sondern was ihm sein Schöpfer gegeben hat. Es ist der Mensch danach auch nicht der Herr, der ihrer gewiß ist und bleibt, sondern auch die Erhaltung derselben ruht in dem Willen göttlicher Macht und Weisheit. Ist es endlich Gottes Ordnung, daß der Mensch nicht ohne seine Arbeit sein Gut gewinnen soll; so steht doch der Erfolg des bes­ seren oder schlechteren Gelingens oder des Fehlschlagens nicht in des Menschen Hand, kann nicht durch seine Kraft und Weisheit erzwungen werden. Das zuletzt Bestimmend eist auch hier die göttliche, allmächtige Liebe. „An GotteS Segen ist Alles gelegen." Nicht ohne unser Thun gelingt uns unser Erwerb, aber noch viel weniger ohne die göttliche, allwirkende Liebe. Alle gute und alle vollkommne Gabe kommt von oben herab. Das ist das christliche Hans, welches in diesem lebendigen Bewußtsein lebt, in diesem Bewußtsein um die Güter des Lebens ringt und arbeitet. Ist dem so, dann wird das christliche Haus auch nur als solches sich bewähren durch den Gehorsam gegen die zweite Mah­ nung unseres Textes: „Betet ohne Unterlaß." Zur Darstellung kann dies kommen und als Gottesdienst hervortreten in den förmlichen gemeinschaftlichen Gebeten der Familie. Daß aber nicht daran, nicht einmal vorzugsweise oder besonders der Apostel denkt, sagt uns das „Ohne Unterlaß," was ja, auf das äußere, gemeinsame Gebet ange­ wendet, eine Unmöglichkeit wäre. Was der Apostel fordert, das ist die beständige Gebetsrichtung nach Oben, das sich beständige Rüsten deS inneren Menschen in und aus Gott, das Hängen der Seele an ihm

175 während des Verkehrs in der Welt, das Ruhen derselben in Gott, während sie

nach Außen

hin im Kämpfen

und Thun begriffen ist.

Sieh, aus dem umgebenden Luftkreis zieht unausgesetzt der Körper als Bedingung des Lebens den Odem in sich; so die geheiligte, christliche Persönlichkeit, aus Gott nimmt sie unaufhörlich die himmlischen Kräfte für ihr höheres Leben.

Wie das aber als Gottesdienst in die Erschei­

nung tritt und sich darstellt? Je kräftiger eö in dir lebt, je weniger du dabei um die äußere Darstellung Sorge trägst, desto schöner dürfte es grade zur rechten Zeit und am rechten Ort zur Erscheinung kommen. Ist das innere Thun vorhanden, es kommt wahrlich auch irgendwie zu Tage.

In diesem Gebetsgeist, der bei aller leiblichen und geistigen

Thätigkeit in Demuth den Segen vom Herrn begehrt und nimmt, die Kräftigung, das Gedeihen, die Reinigung und Heiligung, in ihm fasse sich das christliche Hauswesen täglich vom Neuen zusammen, in dem seid innerlich verbunden, ihr Gatten, den suchet einzuhauchen euren Kindern, dann, wenn ein förmlicher Gottesdienst das HauS vereint, und wenn wieder die ruhige Arbeit alle Kraft in Anspruch nimmt, und wenn der Ruhe gepflegt wird, es wird in Allem über daS ganze Hauswesen auch im Aeußeren eine gewisse Weihe ausgegossen bleiben, es wird sich in dem ganzen Wesen eine Anbetung GotteS im Geist und in der Wahrheit ausprägen und das sei euer vernünftiger Gottesdienst. Ja: „Betet ohne Unterlaß." III. zeichneten.

Wir kommen zum dritten Punkt, den wir als Genuß be­ Darf der Christ, damit das christliche Haus auch vom Ge­

nuß etwas wissen wollen? Gewiß.

Warum breitete Gott der Herr die

wunderbare Pracht und Erhabenheit und Lieblichkeit bald auf der Ober­ fläche der Erde, bald am Zelte des Himmels aus?

Warum hätte er

für den Menschen so mannichfache Labung und Erquickung in die ver­ schiedensten Geschöpfe gelegt?

Warum der Seele in Verbindung mit

Ohr und Auge den Sinn für die Harmonie und den Wohlklang der Töne und für den Schatz der Farben und die Wohlgestalt gegeben? Warum hätte er das Herz so empfänglich gemacht für das Geben und Nehmen der Liebe in den verschiedenen Verbindungen des Lebens? Aus Allem tönt sein Wort: „Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr

17(3

ist" *). Und wenn wir im ersten Theil der erlösenden und versöhnen­ den Liebe Gottes in Christo gedachten, ist nicht das zugleich die Absicht dieser Liebe, wie wir hörten, daß wir uns an derselben stetig erfreuen, daß wir dieselbe als Seligkeit, als volles Genüge genießen? Und ist in dieser erlösenden Liebe uns nicht das offenbar, daß uns alle Dinge zum Besten dienen müssen, daß also unsere Freude, unser Genießen derselben ein ununterbrochenes bleiben soll? Und doch brandmarken wir eine gewisse Gesinnung, eine gewisse Lebensweise als eine schlechte und gottlose mit dem Worte Genußsucht? Gewiß, und zwar mit Recht, wenn nämlich die Seele eben den Genuß der Freuden dieses Lebens als alleinige oder höchste Aufgabe, als alleiniges oder höchstes Ziel an­ sieht und erstrebt, wenn sie lebt, um sich zu verlieren in den Rausch des irdischen Genießend und Gottes und seines heiligen und gnädigen Willens zu vergeffen. Da muß ja seiner Zeit dem Rost anheimfallen, was Lust der Seele war, während das Fleisch, das mit seinen Begier­ den regierte, wie vom Feuer verzehrt wird. Da kann das Ende der Genußsucht nichts Anderes sein als ein Hinabstürzen der Seele in die Abgründe, wo Hungern, Dürsten, Schmachten nicht aufhören will. Was schützt gegen solche schlimme Frucht? Das ist der Gehorsam gegen die letzte, apostolische Mahnung unseres Textes: „Seid dankbar in allen Dingen," denn das ist der Wille Gottes in Christo Jesu an euch. Danken ist Denken und Denken heißt mit dem Geiste eindringen in das Wesen der Dinge, die Erscheinungen aus ihren er­ zeugenden Gründen, die Wirkungen aus ihren Ursachen begreifen und Alles, was begründet ist und was wieder begründet, auf den letzten, ewigen Urgrund zurückführen, es aus der Macht und Liebe der Gott­ heit herleiten. Das Denken in dieser Weise kann kein anderes sein, als ein solches, welches in Lob, in Preis, in erhebende Anbetung über­ geht, welches eben ein Danken ist. Bei dem Genuß des Guses der Güter, bei der Freude an dem Herrn und seiner reichen, beseligenden Liebe kann wohl ein solches Denken, kann das Danken und Loben.nicht fehlen. Aber bei allen übrigen Lebensgenüssen, wenn uns ergötzt, was *) Psalm 34. 9.

177 als Nahrung das leibliche Leben erhält,- oder wenn wir uns freuen an der Pracht und Herrlichkeit der Natur, oder an der Schönheit und der Lieblichkeit der Kunst, ja wenn unser Herz höher und schneller schlägt bei dem, worin Liebe, Freundschaft, Treue das Leben verschönt, da ge­ schieht es oft, daß das vernünftige Gottesbewußtsein, oder die gläubige Vernunft zurücktritt, daß man mit seiner Seele allein bei dem Geschöpf stehen bleibt und nicht zum Schöpfer sich erhebt, da thut Noth die Mahnung: „Seid dankbar in allen Dingen."

Ohne dieses Dan­

ken verlieren alle die genannten Güter, indem sie genossen werden, ihren wahren Werth, ihren Gottessegen, ihre beglückende, heilbringende Kraft. Ohne Dank wird der Fisch zur Schlange und das Brod zum Stein und der Freudenkelch zum Giftbecher des Verderbens. gegen ihn, der in Allem nur Gutes gibt,

Die Dankbarkeit

wandelt das Leid in eine

Segensquelle, den Schmerz in Tröstung, macht die Schlange zum Fisch, den Stein zum Brod.

Die Dankbarkeit hält für immer das Heil Got­

tes sicher und fest, hat den Trost des Herrn für Zeit und Ewigkeit: „Dein Glaube hat dir geholfen."

So wird sich für das

christliche

Haus, bei allen Genüssen, sinnlichen und geistigen, die Gott auch den Dürftigen und Armen reichlich gewährt, wenn nur offene Sinne, ein offenes Herz dafür vorhanden sind, die Regel feststellen; daß Dankbar­ keit eine beständige, heilige Stätte bei des Hauses Säulen, bei Vater und Mutter findet, dankbaren Sinn

daß diese als Priester des Hauses den kindlich

allen Gliedern ihrer Familie einzuhauchen streben.

Sind in inniger Dankbarkeit die Herzen Eins, nun es wird sich das auch im äußeren, förmlichen Gottesdienst offenbaren.

Wäre das aber

auch nicht der Fall, für das christliche Auge wird diese innere Gesinnung int äußeren Leben durch sich klar hervortreten, wird demselben ihr Ge­ präge aufdrücken und es zu einem gottesdienstlichen machen. — Zum Schluß: Unter Gottesdienst verstehen wir die Darstellung der Herzens­ frömmigkeit, die Erscheinung des Glaubens im Aeußeren. Und dennoch, wir konnten keine Regeln für diese äußere Darstellung geben, sondern mußten im Sinn behalten das Wort*):

*) Luka? 17, 20. Thvmaö, Predigun.

„Das Reich Gottes kommt

178

nicht mit äußeren Geberden." Wir konnten auch hier nur auf das Innere, auf die Gesinnung verweisen. Wo diese aber nach den Wor­ ten unseres Textes als Freude an dem Herrn und seiner Liebe, als der demüthige Geist des Gebetes, als kindlich fromme Dankbarkeit ein Hauswesen erfüllt und die Glieder desselben durch­ zieht, da wird das ganze äußere Leben, hier in fester, bestimmter Ord­ nung, dort in freier, ungebundener Weise diese Gesinnung lebendig ab­ spiegeln, Alles wird von der Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit zeugen, die Weihe eines häuslichen Gottesdienstes wird sich durch alle Erlebnisse, alle Thätigkeiten, alle Freuden und Leiden hindurch­ ziehen. Wohlan denn für unser Haus lasset uns heut mit erneuter Willigkeit aufnehmen die Mahnung: Seid allezeit fröhlich, betet ohne Unterlaß, seid dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christo Jesu an euch! Amen.

Die Erwachsenen in ihrem Verhältniß zu den Kindern. Text: Lukas 18, 15-17. Sie brachten auch junge Kindlein zu ihm, daß er sie sollte anrühren. Da es aber die Jünger sahen, bedroheten sie die. Aber Jesus rief sie zu sich und sprach: Laßt die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solcher ist das Reich Gottes. Wahrlich, ich sage euch: Wer nicht das Reich Gottes nimmt als ein Kind, der wird nicht hinein kommen. (Geliebte im Herrn, wenn hier die Kinder, welche man zu Jesu bringt, daß er sie segne, von den Jüngern angefahren werden; so dürfen wir die letzteren gewiß nicht überhaupt einer unfreundlichen, lieblosen Gesinnung gegen die Kleinen beschuldigen. Sie haben sicher­ lich, wie jeder dem Guten nicht abgewendete Mensch, zu ihrer Zeit auch ihre Freude an dem lieblichen Anblick der zarten und lebensfrischen Jugend gehabt. Aber als die Kinder zu Jesu gebracht wurden, han­ delte es sich wohl grade um ernsteste Fragen des sittlichen und reli­ giösen Lebens, um Angelegenheiten des Reiches Gottes. Da, das war ihre Meinung, störten die Kinder, ohne selbst etwas zu erlangen. Ja der Heiland, der nie in seiner Heilsthätigkeit rastete, der immer in Grundlegung und Aufbauung des himmlischen Reiches begriffen war, Lieder: Nr. 871. 547, 5.

180

wurde, nach ihrer Meinung, von seinem hohen Werk durch die Kinder abgezogen, verlor durch sie Zeit, Kraft, Gelegenheit für sein segensreiches Wirken. Den Kindern komme zu, dachten sie wohl weiter, was leibliche Ernährung und Erziehung verlange. Das möchten Mütter und Dienende ihnen gewähren, sie, die ernsten Männer, könnten höchstens einmal, wenn Erholung und Ruhe nöthig sei, sich an den Spielen und der Munterkeit der Kinder ergötzen. So möchte ich wohl ihr Urtheil dahin zusammenfassen: Wenn es das höhere Leben angeht, dann können die Kleinen noch nichts von uns Erwachsenen haben, und wir können nichts haben von den Kleinen. Wie sehr diese Ansicht auch mit einer gewissen nüchternen Art zu denken übereinstimmt, wie sie fast auf praktischer Erfahrung, auf Lebensweisheit zu beruhen scheint, der Herr verwirft sie doch ganz entschieden, tadelt damit zugleich die Sinnesweise, welcher solch Urtheilen entsprang. Ja wir haben hier einen von den wenigen Fällen, wo uns berichtet wird, daß der schlecht­ hin Sanftmüthige im Unwillen aufwallt. In den wenigen Worten, die er dabei spricht, drückt er den Gegensatz zu der damaligen Ansicht und Gesinnung der Jünger aus. Laßt uns demnach aus seinen Worten lernen, was nach seinem Geiste und in seiner Gemeinschaft wir Erwachsene den Kindern, was die Kinder uns Erwach­ senen sein sollen. I. Ehe wir aber an die Lösung unserer Aufgabe selbst gehen, nur kurz die Antwort auf die Frage: Was für Kinder, nämlich Kinder welchen Alters, sind diese hier? Da wechseln im griechischen Texte die Bezeichnungen, die Luther durch Kinder wiedergibt, ab. Die erste ist für ganz kleine Kinder, die noch an der Mutterbrust sind, üblich, die andere wird gewöhnlich von solchen Kindern gebraucht, die das erste Lebensjahr hinter sich, das achte, vielleicht auch zehnte Lebensjahr noch nicht überschritten haben. Demgemäß heißt es einmal, die Kindlein wurden zu Jesu getragen, dann aber, er rief sie, nicht etwa die Trä­ ger der Kinder, sondern die Kinder selbst herzu. Wir irren deshalb wohl nicht, wenn wir annehmen, daß Kinder vom zartesten Alter an bis zum zehnten Lebensjahr hin, also solche, die auf verschiedenen Stufen des Lebensalters standen und die theils zum Herrn getragen wurden,

181

theils selbst schon an ihn herantreten konnten, sich hier zusammenge­ funden hatten. Wie nun der Herr diese Kinder liebend an sich zieht und mit Heilswünschen ihnen die segnende Hand auflegt, spricht er zwei Sätze aus, nach denen auch wir unsere Stellung zu den Kindern zu nehmen haben: „Lasset sie zu mir kommen" und „Solcher ist das Himmelreich." Die Worte sind ernst, aber wollten wir sie auffassen, wie sie von der Engherzigkeit wohl aufgefaßt sind, daß näm­ lich der Herr damit dem Kindesalter die freie, muntere Beweglichkeit, den Frohsinn, das Spiel versagen wollte, es wäre das gewiß ein grund­ falsches Verständniß. Er, der seine Freude hatte an den Vögeln des Himmels und an den Blumen des Feldes, wir können ihn uns nicht anders denken, als daß er auch mit liebendem, freundlichen Blick auf die fröhliche Kinderwelt schaute, welche noch nicht die Sorgen, Lasten und Leiden fühlte, unter denen so vielfach die Erwachsenen seufzen, die Sorgen, Lasten und Leiden, welche, wenn wir ehrlich sein wollen, so häufig in der Selbstsucht, in der Sünde ihren Grund und ihre Nah­ rung haben. Mit Freude blickte der Herr gewiß auf die Kleinen, welche eben in Spiel und heiterem Treiben körperliche und geistige Kräfte und Gaben entwickelten und übten. „Laßt sie zu mir kommen," und „Solcher ist das Himmel­ reich." Für uns Erwachsene, wenn auch Glauben nicht Denken ist, gehört doch das Denken zum Glauben. Wir wollen möglichste Klar­ heit, Bestimmtheit in der Auffassung der heiligen Gegenstände des Glaubens, fassen die Glaubenswahrheit in möglichst klare Formeln. Eben so wissen wir, daß wir nicht ohne die neue Geburt in das ReickGottes eingehen können, darum auch nicht ohne ernste, tiefe Buße, ohne die Verleugnung, die Abtödtung unseres sündigen Selbstes. Wollen wir hier nur die Worte des Erlösers in Beziehung auf die Kinder so verstehen, daß wir die Kleinen schon anzufüllen haben mit den For­ meln des Glaubens, von ihnen zu fordern haben, daß sie dieselben, wie sie so oder anders gestellt sein mögen, dem Gedächtniß einprägen? Oder haben wir ihnen ihre Grundverderbtheit, ihre durch und durch böse Natur unablässig vorzuhalten, von ihnen Selbstzerknirschung zu fordern, ihnen Vußübungen und Bußgebete aufzunöthigen? Haben wir

182

sie in daS hineinzuängstigen und zu quälen, was man in unsern Tagen auch bei den Kindern Erweckung und Bekehrung zu nennen beliebt? DaS wäre wieder ein höchst trauriges Mißverständniß des Herrn und seiner Worte. Lehre und Formel aufzufassen, dazu gehört geübte Denk­ kraft, welche eben den Kleinen noch fehlt. Ihrem Gedächtniß dennoch Lehre und Formel aufnöthigen, heißt ihnen als geistige Nahrung den Buchstaben, statt des BrodeS den Stein darreichen, und der Erfolg kann nur sein: „der Buchstabe tödtet." Buße wiederum in ihrer Tiefe kann nur sich entwickeln aus tiefem, gründlichen Hineinschauen in Gottes Wesen und Willen, und in daS eigene Herz und Leben. Wirkliche, wahre Buße giebt es nur auf der Grundlage eigener, innerer und äußerer Lebenserfahrung. Das ist etwas, was den Kleinen nothwendig noch mangelt. Ihnen dennoch dergleichen aufnöthigen und anquälen, daS heißt, sie in Unwahrheit und Lüge hineinstoßen, heißt ihr inneres, werdendes Leben durch das scheußliche Gift der Heuchelei verpesten, heißt, wenn Gottes Wundergnade nicht dazwischen tritt- sie grundsätz­ lich zeitlichem und ewigen Verderben Preis geben. Dergleichen hat dem Heiland wahrhaftig am Fernsten gelegen. Wie denn haben wir das Reden und Thun des Herrn zu deuten? Wen» er auch schon den Säuglingen die Hände auflegt und sagt: „Ihrer ist das Reich Gottes;" so ist dieses sein Thun der Christen­ heit bekanntlich ein vorbildliches gewesen, an welches anzuknüpfen, welches in gewisser Weise sich anzueignen, sie sich für berechtigt und verpflichtet hielt. Die Taufe der Kinder, wie sie so allgemein sich schon in den ersten Jahrhunderten der Kirche verbreitete, ist in ihrer Rechtmäßigkeit immer am Liebsten auf diese Erzählung zurückgeführt. Was wurde den Kindern durch die Handauflegung des Herrn, was soll ihnen durch die Taufe gewährt werden? Ging etwa durch jene Handauflegung an sich eine Kraft von dem Herrn aus, vermöge deren die Kinder das neue Leben empfingen? Ist somit ein Gleiches bei der Kindertaufe der Fall, daß die Kinder, ohne eine Ahnung zu haben, was mit ihnen vorgeht, schon innerlich mit dem neuen Leben erfüllt, also wiedergeboren werden? Dafür spricht nichts Aehnliches in der evangelischen Geschichte und nach evangelischer Lehre. Wohl aber spricht

183

Alles dagegen, daß ein rein Aeußerliches ein Inneres erzeugen, also zauberisch wirken soll. Dennoch haben jene Mütter des Herrn Hand­ auflegung gewiß nicht für werth- und bedeutungslos gehalten und wir thun es eben so nicht in Beziehung auf die Kindertaufe. Ja wie sehr auch selbst der auf dem Christenthum ruhende, aus dem Evangelio schöpfende Verstand die Kindertaufe anzweifeln und bekämpfen mag, das christliche Gemüth läßt sich dieselbe so leicht nicht nehmen. Und was ist der Grund davon? Jene Mütter, und darin sind christliche, fromme Eltern unserer Zeit ihnen ganz völlig ähnlich, waren erfüllt im Innern von dem Wunsch, daß die Liebe Gottes, die ihnen in Christo aufgegangen war, auch ihrer Kinder Trost, die Kraft und das Eigenthum ihrer Seele würde. Was nun so als fromme Sehnsucht ihre Herzen bewegte, das drückten sie aus durch die Bitte, der Herr wolle die Kindlein segnen, und grade dasselbe wird heut ausgeprägt in der Kindertaufe. Des Herrn Antwort aber ist gleichfalls dort und hier dieselbe: „Ja laßt sie kommen, ihr Eigenthum ist das Himmel­ reich. Sie sind Gegenstände der schaffenden, erlösenden und bese­ ligenden Liebe Gottes, die sich durch mich bekundet und mittheilt." Damit aber erscheinen die Kleinen im Verklärungsglanze. Das Bild Gottes hat seine verborgenen Züge in ihnen, die da harren, daß sie ans Licht gebracht werden. Die Liebe Christi hat um ihretwillen alles gethan und gelitten, sie als Eigenthum zu erwerben. Auch ihr Leib ist vorbestimmt, vorgewetht, ein Tempel des heiligen Geistes zu werden. Nichts Heiligeres für Vater und Mutter als ihr dem Herrn, der Gott­ heit geweihtes, vom Herrn prophetisch aufgenommenes und gesegnetes Kind! Ist das aber in ihren Seelen, dann geben sie auch von An­ fang an den Kleinen, was zum Reiche Gottes gehört. Mit dem Blick Christi schauen die Eltern ihr Kind an und dieser Blick senkt sich von Anfang an in das sich ihm öffnende Kindesauge, damit in das sich öffnende Kinderherz; — der Blick Christi — das ist der Blick der ewigen Liebe Gottes, wie er aus dem Auge des Menschensohnes und durch ihn aus den Augen seiner Erlösten hervorstrahlt. Wenn so aber in der Liebe des Sohnes Gottes, Vater mib Mutter das Kindlein seg­ nend anschaut, schon in der frühen Zeit, wo Verstand und Vernunft

184 noch keine Begriffe, Urtheile und Schlüsse bilden, das Gedächtniß noch keine besonderen Kenntnisse festhalten, die Zunge vielleicht noch nicht den heiligen

Namen

sprechen

kann,

theilen sich

doch

schon Keime

höheren Lebens dem Kinde mit, es beginnt damit jenes Ziehen des Vaters 311m Sohne, es sind die Eltern, die heiligen Werkzeuge zur Erfüllung des Wortes:

„Lasset die Kindlein zu mir kommen."

So hat schon für die ersten Entwicklungsjahre die christliche Liebe und Thätigkeit Raum, das Heil Christi wenn auch nur mittelbar und nur wie im Keim in die zarten Seelen zu tragen.

Laßt selbst eure Seelen

von der Liebe Christi durchzogen, laßt euer häusliches Leben von dieser Liebe wie von himmlischer gesunder Lebenslust erfüllt sein, sehet an die Kleinen als geweihte und gesegnete Gotteskinder, schon unbewußt dazu, daß sie zum Herrn kommen.

dann thut ihr

Ist dann die Ent­

wickelung der Kleinen fortgeschritten, daß in ihnen das äußere Auge und der innere Sinn anschauen lernt; ja dann zeiget ihnen das herr­ liche Bild des Menschensohnes, zeigt ihnen darin, wie es das Kind zu fassen vermag, die ewige Liebe der Gottheit, zeigt ihnen sein freund­ liches, holdseliges Thun, sein lebendiges Wort, besonders wie er es so gern als Bild, Gleichniß und Geschichte gibt, sein Leiden nnd Sterben von feiner rein menschlichen und damit erst recht von seiner göttlichen Seite, d. h. als Gehorsam und Liebe, auf daß so die zarten Seelen für seine Größe, für seine Liebe immer mehr sich ausschließen. „Solcher ist das Reich Gottes."

Das Reich Gottes ist in

der Menschheit, wo die Seelen sich unter seine Herrschaft, unter seinen heiligen Willen stellen, wo die Menschen in seinem Namen, in seiner Kraft und seinem Geist die Natur mehr und mehr bewältigen, und damit im Irdischen selbst Ewiges abprägen.

Solcher ist das Reich

Gottes — in Beziehung auf die Kinder gesagt — was kann daS an­ ders heißen, alS:

Suchet früh in ihnen das Bewußtsein zu wecken,

daß sie dem Höchsten verpflichtet sind, damit das Gewissen in ihnen erwache und eine starke Macht in ihnen werde, damit sie früh eine sittliche Weltordnung

ahnen

lernen,

um

sich

derselben

einzufügen.

Suchet aber auch in lebendiger Uebung alle ihre geistigen und leib­ lichen Kräfte heraus zu bilden, damit sie nach dem Zuge ihres inwen-

185 feigen

Menschen

ttnfe nach feer

Tüchtigkeit ihrer

Begabung geschickt

werden, ihre Stellung als würdige itttb selbstthätige Glieder im Him­ melreich einzunehmen.

Gewiß auch für feie Kleinen gibtS eine Fähig­

keit, znm Herrn und damit ins Reich Gottes zu kommen.

Damit steht

fest feie Verpflichtung, sie dahin zu führen, zunächst für feie Eltern, aber zugleich auch für alle erwachsene, mündige Christen.

Ja wir alle,

als Mündige in feer Gemeine, haben, wo und wie wir mit den Kin­ dern zusammenkommen, aufs Gewissenhafteste Sorge zu tragen, daß sie an uns nichts sehen, was Christum und sein Reich verdunkeln, was ihre Empfänglichkeit für Christum abstumpfen könnte.

Vielmehr sind

wir für sie berufen, daß sie stets in unserem Leben den Geist, feie Kraft, das Leben Christi sich abspiegeln sehen.

II.

Nun

aber zum zweiten Theil

unserer Betrachtung: Was

sollen feie Kleinen den Erwachsenen sein?

Die Frage will

natürlich nicht sagen: Was haben feie Kinder in dieser Beziehung zu thun? sondern vielmehr: Wie haben wir feie Augen zu öffnen, um von den Kindern zu lernen und zu nehmen?

Die Erwachsenen von den

Kindern lernen und nehmen? — Gewiß, und ich möchte da an ein derb naives Wort Luthers erinnern und eö eben für unsern Gegen­ stand anders wenden.

Er sagt einmal in seiner Weise:

Wir alten

Narren meinen, die Kinder essen mit uns; aber umgekehrt ist eS, wir essen mit den Kindern, denn um ihretwillen gibt uns Gott unser täg­ lich Brod.

Es ist das zwar nur eine Seite der Wahrheit, die andere

ist grabe der Gegensatz dazu.

Aber es ist doch eine Seite.

So mögen

wir es für unsern Gegenstand dahin wenden: Wir Alten meinen, wir erziehen die Kinder; aber eS ist umgekehrt, wir Eltern werden von den Kindern erzogen.

Wer als Hans-Vater oder Mutter das noch nicht

erfahren, ans wen das Zusammenleben mit seinen Kindern noch nie erziehlich eingewirkt hat, der, möchte ich behaupten, ist nicht werth, daß er Kinder hat, der mißachtet die ihm von Gott verliehene köstlichste Begnadigung.

Offene und empfängliche Gemüther nehmen alle Zeit

bis inS Greisenalter ans der Kinderwelt heilsame Einflüsse, durch welche der innere Mensch geläutert, gekräftigt, erhoben wird.

In unserem

Text hebt der Herr es hervor, daß die Kinder grade mit der Art ihres

186

Seins uns bestimmt sind, uns ein Vorbild und ein Sporn in Bezie­ hung aufs Himmelreich zu bleibe». Wie wir aber von den Kindern zu lernen haben, das spricht der Text zusammenfassend dahin aus: Wer nicht das Reich Gottes nimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen. Nur wenige Züge laßt mich da herausstellen. Zunächst, wollen wir Theil haben am Himmelreich, unser Verhältniß zu Gott muß bleiben und immer mehr werden, wie das Verhältniß des Kindes zur Mutter, zum Vater. Dies Verhältniß aber ist das der völligsten Abhängigkeit. Das Kind ist an sich hülflos, hat in sich weder Rath noch That, ist darum gänzlich angewiesen auf die Erhal­ tung und Pflege von außen her. In diesem Gefühl hängt es mit vollster Zuversicht an Mutter und Vater, und in dieser kindlichen Zu­ versicht kennt es keine Sorge und macht sich keine Kümmerniß. Es weiß, die Eltern geben nicht den Stein, wenn es des Brodes bedarf, nicht die Schlange, wenn es um einen Fisch bittet. Ja in diesem Ge­ fühl kennt es nicht Furcht vor Gefahr. Es weiß, des Vaters Schutz und Schirm ist seine Zuflucht. Wohlan: „Werdet wie die Kinder," lernet von ihnen, wollt ihr ins Himmelreich gehen. Erkennet und fühlet, das will die Mahnung des Herrn besagen, daß ihr ohne Gott in und für euch selbst hülflos und ohnmächtig seid, daß ihr nur in ihm wahrhaftig leben, weben und sein könnt, von ihm nehmt und neh­ men müßt, was ihr fürs leibliche und geistige Leben bedürft. Dabei behaltet es im Herzen: Wie die Mutter ihres Kindes nicht vergessen und es nicht versäumen kann, so kann euch noch viel weniger die Liebe und Treue Gottes verlassen und versäumen. In der Zuversicht auf diese Liebe entschlaget euch des heidnischen Sorgens, der Furcht und Angst im Leben. Werdet wie das Kindlein! Wie selig ruhet es an der Mutter Brust, so bettet auch ihr euch gleichsam an Gottes Busen. Der Zugang zu ihm ist euch geöffnet durch den ewigen Sohn. Ja lernet täglich von den Kindern rechte Kinder Gottes sein und der Herr spricht: Selig seid ihr, euer ist das Himmelreich. — Ein Zweites. Was uns allein scheiden kann von Gott und vom Reiche Gottes, das ist die Sünde. Deshalb können wir miserer Sünde nicht anders als mit tiefem Schmerze gedenken und um ihretwillen

187

spricht Paulus *): „Schaffet, daß ihr selig werdet, mit Furcht mtb Zittern." Dieser Schmerz, diese Furcht und dieses Zittern wendet sich in die Vergangenheit und in die Zukunft. In die Vergangenheit, in­ dem man zagend spricht: „Wie groß ist meine Schuld, wenn ich der Größe göttlicher Liebe, die mir geworden, gedenke, wie wenig tief, gründlich, ernst ist Alles, was ich bei mir Besserung, Heiligung nennen könnte! Kann meine Schuld vergeben werden? Ist sie eben nicht allzugroß?" In die Zukunft schaut man und unter Bangen ruft das Herz: „Ja habe ich auch Vergebung dessen, was dahinten liegt, so kann ich mich doch nicht mit vollem ganzen Ernst strecken nach dem, was vor mir liegt, was in der himmlischen Berufung Jesu Christi beschlossen ist! Immer wieder erhebt sich die alte Macht der Selbst­ sucht, immer wieder wird der Zug nach Gott und dem Göttlichen hin so schwach und matt und in Sorge und anderer Gemüthsbewegung wird das Heilige, wird Glaube und Liebe wie verschüttet! Ist es möglich, daß ich die Krone des Lebens davon trage, daß ich nicht aus der Gemeinschaft falle?" Diese Art um die Seligkeit zu sorgen, welche von kirchlicher Seite in die Vorschrift gefaßt wurde: „Du darfst nie deines Heils gewiß sein, wenn du dein Heil erlangen willst" und welche in dem angeführten apostolischen Ausspruch ihre Begründung zu finden scheint, ist das Entgegengesetzte von des Kindes Sinnesweise. Das sticht an den Kindern hervor, daß sie in voller Vergessenheit der Ver­ gangenheit und in voller Sorglosigkeit über die Zukunft nur dem Ge­ nuß der Gegenwart leben, und fällt ihnen Vergangenes und Zukünf­ tiges etwa ein, dann doch nur so, daß eö dienen soll, das Gegenwärtige zu verschönen. Wir werden auch gestehen, grade das gehört mit zu dem so Lieblichen der Kinder, daß sie eben so ganz dem Gegenwärtigen mit ungetheiltem Genuß zu leben vermögen. Wie nun? Gilt auch hier unser Wort, oder müssen wir unS im Gegensatz dazu an des Apostels Mahnung von bent Schaffen der Seligkeit mit Furcht und Zittern halten? Wenn wir dem Apostel unser Ohr öffnen; so lasset uns zuerst nur wirklich bei ihm bleiben und nicht über ihn hinaus*) Philipper 2, 12.

188

gehen! Es ist aber eben ein Weitergehen, ein Fortgehen vom Apostel, wenn gefordert wird, wir sollen unsers Heils nie sicher sein und wer­ den. Aus solchem Zweifeln, ans solchem Unglauben, — denn der ist doch dabei im Spiel, — geht nie das Heil, nie das Gute hervor, son­ dern sein Gegentheil. Daß der glauben ssrohe Apostel auch mit den angeführten Worten nicht ein solches aussprechen wollte, ist klar, wenn er unmittelbar danach hinzufügt*): „Denn Gott wirket beides, das Wollen und Vollbringen nach seinem Wohlgefallen," und wenn er schon vorher ausgerufen hat**): „Ich bin desselbigen in guter Zuver­ sicht, daß der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird es auch vollführen bis an den Tag Jesu Christi." Wohl müssen wir als wahre Jünger des Herrn ernst hineinschauen in die Tiefe vergangener Schuld, und in die große Schwachheit unseres neuen Lebens, in alles das, was als Selbstisches und Sündliches noch dieses neue Leben hemmt und stört und ihm Verderben für die Zukunft droht. Gewiß ist das uns nicht anders möglich, als daß damit Furcht und Zittern durch die Seele zieht. Aber diese Furcht und dieses Zittern ist nicht, was bleiben, sondern was verschwinden, ist nicht, was herrschen, sondern was un­ aufhörlich überwunden werden soll. Auch ihm gegenüber heißt eS: Werdet wie die Kinder! Wie denn nicht? In jener Furcht sprach auch der Jünger***): „Je, wer kann dann selig werden?" Der Herr aber antwortete: „Bei den Menschen ist es unmöglich, aber bei Gott sind alle Dinge möglich." Da ist es eben das Evangelium, welches auf die Liebe weist, die alles Vergangene völligst vergibt, auf die Liebe, welche für alle Zukunft sich dir zusagt und spricht: „Ich bin bei dir alle Tage bis an der Welt Ende," „Ohne mich kannst du nichts thun, aber bleibest du in mir, so bringest tut viele Frucht." Da ist es eben der Glaube, wie ihn der Herr, wie ihn Paulus for­ dert, welcher unbedingt dieser Gnade und Liebe vertraut, vermöge dessen man als Gotteskind ganz im Genuß der gegenwärtigen Liebe GotteS lebt, und für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft spricht f): „Gott sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch unseren Herrn Jesum *) Phil. 2, 12. 13. ***) Matth. 19, 25. 26.

**) Phil. 1, 6. t) 1. Korinther 15, 57.

189 Christum."

Auch dem tiefsten Ernst der Buße gegenüber stellt der

Herr uns das Kind hin, daß wir von ihm lernen, eben wie ein selig Kind Gott für Vergebung des Vergangenen und für den gewissen kräf­ tigen Beistand in der Zukunft zu danken. — In aller Kürze

noch

einen letzten Zug in

Das Kind ist hold und lieblich.

unserem Vorbilde!

Aber würde es für unS sein holdes,

liebliches Wesen in derselben Weise behalten, wenn wir denken müßten, grade so wie es jetzt ist, so bleibt eS auch allezeit?

Ein großer Reiz,

der uns zu den Kindern zieht, würde bei diesem Gedanken sofort für uns verschwinden.

Grade das ist das Lieblichste in den Kleinen, daß

Alles in und an ihnen prophetisch, verheißungsvoll ist, daß wir in ihnen aufS Lebendigste ein frohes, frisches Werden sehen, ein sich Her­ ausarbeiten und Entwickeln reicher Kräfte

und Gaben, ein Hinein­

wachsen in das blühende, hoffnungsfrohe Jünglings-, in das reifere, thatkräftige Mannesalter.

Auch nach dieser Seite lenkt der Herr un­

seren Blick auf die Kinder und mahnet: Werdet wie sie, wenn ihr sein und bleiben wellt des Gottesretches Genossen.

Steh

in schlimmer

Weise will uns so gern und so leicht das Alter beschleichen.

So leicht

kommen wir dahin, daß wir denken, wir sind fertig mit unserem in­ wendigen Menschen, Christenthum.

mit unserem Glauben, unserer Liebe,

Keine größere Selbstbelügnng,

bildung als diese!

unserem

keine schädlichere Ein­

Ein Fertigsein fürs Reich Gottes auf Erden gibt

es nur in dem Sinne, daß man es verloren hat.

Von den Kindern

lasset uns lernen als Gotteskinder, daß wir nicht ermüden und er­ matten, sondern zu wachsen streben in allen Stücken an dem, der das Haupt ist, Christus.

Das ist mit dem Vorigen nicht im Widerspruch.

Je mehr wir uns versenken in den seligen Genuß der Liebe Gottes wie ein Kind, desto mehr werden wir zunehmen am inwendigen Men­ schen, und je bestimmter wir im Zunehmen bleiben, desto mehr wird sich

als beständige Gemüthsstimmung

der Friede Gottes, der über

alles Denken hinausgeht, in uns befestigen.

O so

lasset uns nun

und nimmermehr die Kleinen verachten ■, sondern des Herrn zwiefache Vermahnung, die eine in

sich einige ist, behalten!

Nur wer den

Kleinen sucht zu werden, was er ihnen schuldet, sie zu führen zum

190

Herrn, nur der wird immer mehr als. ein Kind des Reiches Gottes theilhaftig. Nur wer nach des Herrn Mahnung zu werden strebt wie ein Kind, wird auch Kindern ein Leiter zum Herrn und ins Himmelreich werden. Das gebe uns allen Er, welcher der rechte Vater über alle Kinder ist, durch sein ächtes Kind, Jesum den Christ. Amen.

Die Liebe zu dem angestammten Volk in ihrem Verhältniß zum Christenthum. Text:

Römer 9, 1—5.

Ich sage die Wahrheit in Christo und lüge nicht: deß

mir Zeugniß

gibt

mein Gewissen

in dem heiligen

Geist, daß ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Un­ terlaß in meinem Herzen habe.

Ich habe gewünscht ver­

bannt zu sein von Christo für meine Brüder, die meine Gefreundete sind nach dem Fleische; die da sind von Israel, welchen gehört die Kindschaft und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Ver­ heißung; welcher auch sind die Väter, aus welchen Christus herkommt nach dem Fleische, der da ist Gott über Alles, gelobt in Ewigkeit, Amen. (geliebte im Herrn, als das Volk Israel in der Anbetung des goldenen Kalbes von Gott abgefallen war und unter dem Spruch der göttlichen Strafgerechtigkeit stand, da flehte Moses, der Knecht Gottes, für das Volk **): „Nun vergib ihnen ihre Sünde.

Wo nicht, so tilge

mich auch aus deinem Buche, das du geschrieben hast."

Das der Aus­

bruch und Ausdruck der glühenden Liebe zu seinem Volke, um dessetwillen Lieder: Nr. 830, 3-6. 826, 7. *) 2. Mose« 32, 32.

er ja schon früher aller Herrlichkeit Eghptens und seines Königshofes entsagt hatte. In derselben Liebe sondert er durch's Gesetz sorgsam sein Volk von allen Völkern und schließt diese und ihr Wesen entschie­ den von der eigenen Volksgemeinschaft ab und aus. So ist dieser Knecht Gottes zugleich der Mann seines Volkes gewesen. Als Paulus der größte Apostel des Christenthums seine außerordentliche, tiefeingrei­ fende, weitnmfassende Thätigkeit entfaltete, als er in derselben, die alten Schranken des jüdischen Gesetzes durchbrechend, auch zu den Heiden ein­ ging und die Gläubigen unter ihnen in der Liebe Christi aufnahm, als wären sie Volksgenossen; da wurde ihm das als ein Abfall von seinem Volke, als ein Verrath der Volksgüter an die Heiden gedeutet. So lautete der Juden Anklage gegen ihn*): „Dies ist der Mensch, der Alle an allen Enden lehret wider dieses Volk, wider das Gesetz und Wider diese Stätte." Als er in seiner Vertheidigungsrede seiner Sen­ dung unter die Heiden gedenkt, ertönt ihr Ruf**): „Hinweg mit sol­ chem von der Erde, es ist nicht billig, daß er leben soll." Die Liebe zu seinem Volke sprechen sie ihm ab und deshalb verdammen sie ihn. Wenn der Erlöser selbst bald einmal der Zöllner-Gesell, bald ein Sa­ mariter gescholten wird, wenn einmal von seinen Feinden spöttisch ge­ fragt wird***): „Will er unter die Griechen (die Heiden) gehen, die hin und her zerstreut liegen und die Griechen lehren?" so klingt in dem Allen der Vorwurf an, daß es mit seiner Liebe zu seinem Volke, zu seinem Vaterlande nicht richtig stehe, nicht wie bei Moses. Diese Vor­ würfe gegen den Stifter und gegen den größesten Apostel des Christen­ thums bei ihren Lebzeiten sind zu verschiedenen Zeiten immer wieder gegen das Christenthum erneuert. Es ist geklagt, daß dasselbe nichts wisse von der Tugend des Patriotismus, der Vaterlandsliebe, der Liebe zu dem eigenen angestammten Volke und seinem eigenthümlichen Volks­ leben. Laßt uns darüber zur Gewißheit kommen, ob diese Anklage be­ gründet ist oder nicht, ob wir danach entweder nur die Vaterlandsliebe oder das Christenthum festhalten können. Die verlesenen Worte des Apostels sollen uns heute leiten und uns Klarheit gewähre», wie eS *) Apostelgeschichte 21, 28. ***) Johannes 7, 35.

**) Apostelgeschichte 22, 22.

193 mit der Piefce znmVaterlande, zum eigenen Volke vom Stand­ punkt des Christenthums aus sich erhält. I.

War

der größeste Apostel des Christenthums wirklich,

wie

seine Feinde ihn dessen beschuldigten, ein Feind seines Volkes, hatte er in seinem Christusglauben die Liebe zu seinem Volke aufgegeben? Wie athmet doch der verlesene Text, in dem das tiefste Gefühl seines Her­ zens sich ausspricht, grade das Gegentheil! Er kaun mit vollster Wahr­ haftigkeit versichern, wie sehr ihm seine Volksgenossen, die Jsraeliter, an und auf dem Herzen liegen, wie ihr bürgerliches und geistiges Elend ihm zn großer Traurigkeit gereiche, zu einem unaufhörlichen Schmerz. Um sie zu retten, um sie zu zeitlichem und ewigem Heil zu führen, möchte er Alles, selbst seine Seligkeit bei Christo, zum Opfer bringen! Und wie gedenkt er so warm der hohen Vorzüge, welche Gott seinem erwählten Volk gegeben hat! Die Kindschaft, die Herrlichkeit, den Bund, das Gesetz, den (rechten) Gottesdienst, die Verheißung, die Erzväter führt er auf, daß sie seinem Volke gehören! Seinem Volk legt er den Ruhm bei, daß von ihm Christus herkommt nach dem Fleisch, in dem die Gottheit wohnt, hochgelobet in Ewigkeit.

Ebenso betheuert er im

Anfang des folgenden Kapitels, daß seines Herzens Sehnsucht und sein Gebet zu Gott die Seligkeit seines Volkes zum Gegenstand habe. Das seine Herzensstellung zu seinem Volke.

Welche schwerste Mißhandlungen

er von seinen Volksgenossen auch allenthalben zu dulden hatte, wie klar er außerdem erkannt hatte, daß Gott ihm den besonderen Beruf, der Heidenapostel zu sein, gegeben hatte; nie hat er seines Volkes vergessen. Wohin er kommt, zuerst geht er stets liebend zu den Juden, um ihnen das Beste,

das Heil in Christo, die Erfüllung aller vaterländischen

Weissagung zu bringen.

Das ist wahrlich nicht die Art dessen,

der

sich in Gleichgültigkeit oder gar in Feindschaft seinem Volke entzieht. Das ist vielmehr die Sprache und das Thun eines Mannes, dessen Seele von beständiger,

unvertilgbarer Liebe gegen

Volk und Vaterland erglüht.

das angestammte

Nicht anders der Heiland selbst.

Fest

hält er in seiner Ueberzeugung an den hohen gottgegebenen Vorzügen seines Volkes: „Das Heil kommt von den Juden" *). *) Johannes 4, 22. Thomas, Predigten.

Welch Wider-

194 sprechen, welche Lästerungen, welche tödiliche Feindschaft er von diesem Volke erfahren muß; sein ganzes Sinnen, Reden, Streben, Thun geht zuerst vor allen Völkern der Erde auf das Heil seines Volkes. Immer wieder

durchzieht er Judäas

und Galliläas Städte, immer wieder

kommt er nach Jerusalem um in tiefster Treue ihre Kinder um sich zu sainmeln und sie zu erretten, wie eine Henne ihre Küchlein sammelt unter ihre Flügel.

Und als er klar erkannt, sie haben nicht gewollt,

wollen nicht und werden nicht wollen, da, wie einst Jeremias wünschte, daß seine Augen Thränenquellen wären, um Tag und Nacht zu bewei­ nen die Erschlagenen seines Volkes;

so sitzt der Herr, in dem alles

Prophetenthum sich vollendet hat, vor der Hauptstadt des Landes, klagt und weint um Jerusalem, das nicht bedachte, was zu seinem Frieden diente.

So spricht er auch auf seinem Todesgange zu den Weibern

die ihn beklagen*):

„Ihr Töchter von Jerusalem, weinet nicht über

mich, sondern weinet über euch selbst und eure Kinder."

Auch in sei­

nem bittersten Weh ist das Weh tiefster Vaterlandsliebe nicht aus seiner Seele verdrängt. Das Christenthum aber ist nichts anders als der Geist, das Leben Christi, übergegangen in gläubige Seelen, von ihnen aufgenommen, sie beseelend und regierend.

Gehörte dem Herrn an die innig treue Va­

terlandsliebe bis an'S Ende, sie gehört auch wesentlich zum Christen­ thum.

Und wie ließe sich das anders denken? Erlösung ist das Wesen

deS Christenthums.

WaS, wer soll erlöst werden? Die Menschen und

alles ursprünglich Menschliche.

Wie Gott sie geschaffen, wie er das

menschliche Wesen nach den verschiedenen Seiten angelegt hat, so will der Sohn sie und ihr Wesen von aller Verunreinigung, von Allem, was als Sünde knechtet, befreien, daß sie sich froh und frei darin ent­ wickeln.

Nun von wem ist die Eigenthümlichkeit einem jeden Volke

eingehaucht und aufgeprägt? Wer hat die Völker verbunden durch die gleiche Sprache, durch einen Zug gleichmäßiger Gesinnung, durch einen Trieb, eine Harmonie der Seelen und einen Einklang der Rechte, der Gesetze, der bürgerlichen Ordnungen heraus zu bilden?

*) Lukas 23, 28.

Von wem die

195

Ordnung, daß, wie ein Volk mit seinen besonderen Neigungen und Strebungen dem Boden des Landes durch die Art der Bearbeitung, durch die Art, wie es sich die Natur Unterthan macht, ein neues, eigen­ thümliches Gepräge aufdrückt, daß so umgekehrt auch wieder mannig­ fach des Landes Beschaffenheit auf die Ausbildung des volksthümlichen Wesens zurückwirkt? Woher deshalb auch der instinktartige Zug zu dem Lande, in dem wir unsere Heimat haben, zu der Sprache und Weise, die darin erklingt und waltet? Allein von Gott in seiner Schöpfer­ gnade. Darum ist eS offenbar des Vaters Wille, daß schon durch den natürlichen Zug jedes Volk sich als eine geborne Gesammtheit zusam­ menfaßt, daß Alle einstehen für Einen und Einer für Alle. Das nun ist der Wille des Vaters, daß der Sohn nichts verliere von dem, was ihm der Vater in der Menschheit als ein Gottgeordnetes gegeben hat, daß er eS vielmehr reinige, pflege, verkläre, vollende. Darum, wie die häusliche Gemeinschaft vom Christenthum nicht aufgehoben, sondern erst recht geheiligt wird, so auch die Volksgemeinschaft, die staatliche Ver­ bindung. Darum eine Art des Weltbürgerthums, in dem die Liebe des Vaterlandes und der Volksthümlichkeit untergegangen wäre, und eine Beschränktheit deS Eigennutzes, die durch die Sorgen für sich selbst und das eigene Haus kein Gefühl, keine Hingabe an'S Vaterland mehr zuließe, sind so weit entfernt, christlich zu sein, daß sie vielmehr eine wesentliche Verleugnung des Christenthums bekunden. Je gesunder und tiefer der Glaube an den Erlöser in der Brust lebt und regiert, desto mehr gilt auch daS Wort unseres Dichters alS ächt christliches: „An'S Vaterland, an'S theure, schließ dich an, DaS halte fest mit deinem ganzen Herzen."

Je gesunder und kräftiger der christliche Glaube, desto mehr wird man sich berufen fühlen, in kräftigem Gemeinsinn für baS gemeine Beste, wo es geht- mit zu wirken und demselben nöthige Opfer zu bringen, desto mehr wird unseres Volkes Wohlergehen und Gedeihen unsere Freude, des Vaterlandes Noth unser Leid werden. Aber freilich christlich muß auch unsere Vaterlandsliebe sein, nicht heidnisch, nicht jüdisch, wie sie in den Zeiten deS Erlösers unter seinem Volk sich zeigte. WaS war die Vaterlandsliebe des Alterthums? Er13*

196

weiterte Selbstsucht. Verderbt auch in diesem Besten war die alte Welt und dies Verderben zog sich verunreinigend selbst durch die edel­ sten Erscheinungen derselben hindurch. Die Liebe zum eigenen Volke lebte eigentlich nur in und mit dem Hasse gegen die anderen Völker, in grenzenlos hochmüthiger Verachtung derselben. Da im Gegensatz, wie treu der Herr und sein Apostel an ihrem Volke hängen; liebend schauen sie zugleich hinaus auf alle Völker der Erde, ja wollen, daß grade ihr Volk nach alter Weissagung gesetzt sein soll zum Licht, zum Segen, zum Heil für die Heiden, für die Völker der Erde. Wie es dem Christen geziemt, in der Liebe zum eigenen Volk ächt volksthümliche Sitte und Weise und Recht zu Pflegen, fremdländische Verunstal­ tung fern zu halten und Anmaßung zurückzuweisen; so gilt es doch auch, die anderen Völker als gottbegnadigte zu betrachten, ein offenes Auge für das Große in ihnen sich zu bewahren und ihre Rechte, wie die eigenen zu achten und zu ehren. Barbarisch und nichtchristlich ist es, andere Völker als Barbaren anzusehen. II. Nun aber laßt uns die Gründe betrachten, auf denen des Apostels Vaterlandsliebe beruht und wie sie sich eben darin als die ächt fromme, sittliche, christliche bethätigt, damit wir das zugleich auf uns selbst, auf unser Verhältniß zu unserem Volk und Vaterlande anwenden. Es sind, sagt er, von seinen Volksgenossen, meine Gefreundte nach dem Fleisch, ich bin dem Fleisch nach ihres Geschlechtes, habe dieselbe Ab­ stammung. Er könnte gewissermaßen sagen: Ich trage in mir ihr Fleisch und Blut. Das ist die natürliche Grundlage wie im engeren Kreise für Familienliebe, so im weiteren Kreise für die Vaterlandsliebe, die Grundlage, ans welcher dieselbe, ich möchte sagen, noch in der Aehnlichkeit des Instinkts, des ohne klares Selbstbewußtsein wirkenden Na­ turtriebes erwächst. Laßt uns sie auch in dieser ihrer ersten Erscheinung als ein Heiliges achten. Gott ist es, der da nach seinem Rathschluß unter seiner Regierung die Menschen in ihrer natürlichen Abstammung aus bestimmten Geschlechtern und bestimmten Völkern hervorgehen läßt und sie ebenso immer weiter zu bestimmten Geschlechtern und zu be­ stimmten Völkern bindet, der damit die Blutsverwandtschaft und den Zug, das Band derselben im Volke immer von Neuem schöpferisch ge-

197

staltet. Ist es denn die natürliche Verwandtschaft, die uns zn dem Deutschredendeil hinzieht, welche nns, wo die deutsche Zunge klingt, Brüder nach dem Fleische zeigt, denen wir unS verpflichtet fühlen; ja es gelte auch uns das als ein Heiliges, daß wir es in treuer, frommer Brust hegen und pflegen. Aber von dem Natürlichen gilt es allezeit, daß wir in allen Din­ gen uns darüber hinaus zu dem Geistigen erheben. So bleibt Paulus auch nicht bei der Stammesgemeinschaft als der natürlichen stehen. In die geistigen Eigenthümlichkeiten und Vorzüge seines Volkes versenkt er sich und nährt an und aus ihnen das heilige Feuer seiner Liebe. Sie sind Israel, die Nachkommen jenes Mannes, der, wie es im geschichtlichen Bild uns entgegengehalten wird, in seinem Leben gerungen hat, Gottes Segen zu erwerben. Darum sind sie das Volk, dessen Bestimmung es ist, im geistigen Ringen Gottes Segen herabzuziehen auf die Erde. Ihnen gehört die Kindschaft, und die Herrlichkeit und der Bund. Sie sind das Volk, das Gott seinen Sohn nennt, indem er spricht*): „Aus Egypten rief ich meinen Sohn," dem er seine Majestät zeigte in jener Feuer- und Wolkensäule, welche dem Volk voranzog in der Wüste, mit dem Gott seinen Bund aufgerichtet hat mit der Verheißung**): „Ich will euer Gott sein, so sollt ihr mein Volk sein." Sie sind daö Volk, das, wie es bestimmt ist, im ernsten Streben nach Gottes Segen zu ringen, so auch Gottes ent­ gegenkommende Güte stets erfahren und als eine festversiegelte, als sein Besitzthum empfangen hat. Sie sind das Volk, denen geworden ist das Gesetz und der heilige Dienst und die Verheißung, in dem unter der Wirksamkeit der heiligen Gottesgnade sich herausgebildet hat der Sinn für heiliges Recht und sich Ausdruck gegeben in ehrwür­ diger klarer Satzung, in dem ernsten Dienst, der da die Sitte und Weise des Volkes, in dieser festen Ordnung bindet. Sie sind darum das Volk, das die Verheißung hat, weil es sie haben mußte. In ihm kam zu Tage das Streben nach Gerechtigkeit, und Gerechtigkeit erhöhet ein Volk. Sie sind das Volk, denen die Väter gehören, nicht nur *) Hosea 71, 1.

**) 3. Moses 26,12.

198

die hohen Gestalten der frommen Patriarchen, sondern die gottbegna­ digten, hehren Männer so vieler Zeitalter, ein MoseS, ein Samuel, ein David mit allen heiligen Sängern, ein Elias und Jesaias mit der ganzen Schaar geisterfüllter Propheten. Sie sind das Volk, von denen Christus herstammt, die Krone der Menschheit, der vollendete Mensch nach dem Herzen Gottes, darum der Mensch, in dem die Fülle aller Gottesliebe und Gottesgnade wohnet, daß er alle Mühseligen und Be­ ladenen erquicken, allen Heiland sein und werden kann. Wenn der Apostel das aufzählt, wir hören seine Seele in Liebe jubeln: Wo ist ein Volk so herrlich wie mein Volk, dem Gott so hohe geistige Ausgäben stellte, in dessen innerste Natur er ein so tiefernstes, unverwüstliches Streben zum Höchsten gepflanzt hat, das unter Gottes Beistand so Herrliches in Gesetz, Sitte und Recht aus sich herausgeboren, das so ausgezeichnete Träger deS heiligen, menschlichen und göttlichen Geistes aus sich erzeugt hätte! Diesem Volke gehörte sein Herz. Darum war das damalige Elend desselben seine Traurigkeit, das unablässige Weh seines Herzens. Hätte er diesem, seinem Volke, helfen können, es war ihm, als hätte er es selbst um den Preis vermocht, seine Selig­ keit bei Christo aufzuopfern und alle Trostlosigkeit sich selbst aufzuladen. Meine Theuren, kannte Paulus sein Volk nicht von der anderen Seite? Wußte er nicht, daß wenn im Guten, es auch noch vielmehr im Bösen zwölfstämmig war, daß es den Bund zerrissen, Gesetz und heilige Ord­ nung übertreten, die Führung göttlicher Herrlichkeit verachtet, die Kind­ schaft weggeworfen, der Verheißung den Rücken gekehrt, der Väter We­ sen mit Füßen getreten und seinen Christus zum Kreuzestode verrathen hatte? O er kannte genauer wie sonst jemand alle Sünden seines Volkes und sah tief hinein in seines Volkes Schäden, wie dessen seine Briefe in heiliger Straf-, Mahnungs-, Warnungsrede vielfach Zeugniß geben. Aber wie große Schaaren seines Volkes auch in schwere Sünde und Schuld versunken waren, immer sah er darin nur die Sünden der einzelnen Abtrünnigen, die eben nicht mehr eigentliche Glieder Israels zu sein den Anspruch hatten. Das Volk aber als solches faßt er auf nach seiner hohen göttlichen Bestimmung und Berufung, nach dem, was Gott in ihm gewirkt und herausgestaltet hat, nach dem Heil, waö

199

in ihm ruht und von ihm ausgehen sollte. So bleibt ihm sein Volk ein heiliger Gegenstand heiliger Liebe und so hat er in schlimmster Zeit für dasselbe muthige Hoffnung und Zuversicht und spricht kühnlich*): „Hat denn Gott sein Volk verstoßen? Das sei ferne.----------- Gott hat sein Volk nicht verstoßen." M. G., kommt eö an auf unser Wirken im Gemeinwesen an un­ serem Ort, auf den uns unser Beruf gestellt hat, ja da gilt es, umzu­ schauen und in die Tiefe zu blicken, um alles Verderbliche und Sündige zu entdecken. Da gilt es, dasselbige in heiligem Ernst zu strafen, ihm nach unserer Stellung mit allem Muth und aller Kraft, so uns Gott gegeben hat, entgegenzutreten, auf daß, wie gering es auch sei, wir mit beitragen zur Besserung des Ganzen. Aber nicht in diesen Sünden und Gebrechen lasset uns sehen und suchen das Wesen unseres Volkes, es nicht betrachten in solchem Licht, oder vielmehr in solcher Verdunk­ lung! — Vielmehr gelte das Alles uns als ein Fremdes, das unter Gottes Hülfe zu bekämpfen ist und verschwinden wird und muß. Laßt unS dagegen auch unser Volk in seiner ursprünglichen Berufung und Begabung von Seiten Gottes anschauen, in dem Großen und Herrlichen, was Gott in ihm und durch dasselbe gewirkt hat, in seinen hohen Auf­ gaben, wie es dieselben theilweise im Laufe der Zeiten gelöst hat, theilweise sie noch zu lösen bestimmt ist. Und hat uns Gott da nicht ein gleich herrliches Vaterland, eine gleich treffliche Volksgemeinschaft ge­ schenkt wie einst dem Paulus? Ja können wir nicht im richtigsten, geistigen Verständniß Alles, was der Apostel vom jüdischen Volk sagt, auf das unsere anwenden? Ihr werdet mich aber nicht vorher fragen wollen, ob ich hier daö preußische oder das deutsche Volk im Sinn habe? Ihr wißt, wie nach unseren geschichtlichen Verhältnissen eins nicht sein kann ohne das andere, wie, wenn sich beide auch nicht völlig decken, doch daö eine im anderen sein Wesen, sein Leben, seine zu lö­ senden Aufgaben hat, wie eins aus dem änderen hervorgewachsen ist, um daö andere schirmend und segnend zu überschatten, um zu werden Hort, Schild, Schwert des anderen, um herauszugestalten dasjenige in *) Römer 11, 1 und 2.

200 Sitte, Recht und Leitung, was das Getrennte wieder verbinden und alten Zwiespalt durch neue Eintracht bannen soll.

Ist nun nicht unser

Volk so recht eigentlich das geistige Israel unter den Völkern der Neu­ zeit?

Wohnt ihm nicht vor Allen in seinem Innersten ein ernstes,

unermüdliches Ringen nach Gottesgemeinschaft und Gottessegen? Sagt's nicht die Geschichte der Jahrhunderte, daß Gott so sichtbar unser Volk in seine Kindschaft, in seinen Bund berief und auch durch die Wüste hindurch, durch Zeiten schwerster Trübsal ihm seine Leitung gewährte und ihm damit seine Herrlichkeit bekundete? Ist nicht in unserem Volk so ganz besonders ein rücksichtslos auf Gerechtigkeit gerichtetes Streben, ein unverwüstlicher Sinn für heiliges Recht, immer wieder hervorgetre­ ten, dem unsere Könige in dem Wahlspruch:

„Jedem das Seine," so

trefflich Ausdruck gaben? Hat unser Volk nicht deshalb in tiefster Nacht des Unglücks, wo es gleichsam nichts als ein geöffnetes Grab mehr vor sich sah, dennoch stets zu den strahlenden Sternen göttlicher Verheißung aufgeschaut

und

unverzagten Muth für bessere Zeiten sich gerettet?

Dürfen wir uns nicht rühmen einer unabsehbaren Reihe von Vätern, d. h. von solchen, die bleibenden Segen ihrem Volke stifteten? Wie viel Helden des Geistes, der Thatkraft, der Weisheit, der Gemeinnützigkeit, der aufopfernden Liebe darf unser Volk die Seinen nennen, so gut unter den Fürsten auf dem Königsthron, aller Stände, aller Berufsthätigkeiten?

wie unter den Vertretern

Wie manches Denkmal zeugt

in unserer Stadt von dem Verdienst der Trefflichen?

Wie viel Erz

bedürfte es »och, sollte auf diesem Wege jedem Verdienst seine Krone werde»?

Und nun vor Allem.

Christus kam einst von den Juden.

Aber keinem Volke der Neuzeit wurde Christus als der lebendige so tief eingeboren wie dem deutschen, in keinem Volke ist er aus dessen tiefsten Schooß in gleicher kraftvoller,

lebensfrischer, eigenthümlicher

Gestalt heransgeboren als aus dem unseren, namentlich in und seit der Reformazion.

Alle Völker,

die

heut im Evangelio den einigen

Trost für's Leben und Sterben besitzen, müssen anerkennen, von Deutsch­ land her und darum durch Deutschland ist uns unmittelbar oder mit­ telbar Christus zuerst wieder das Licht und das Leben geworden.

Und

wie sehr auch manches auf der Oberfläche Liegende dem heut zu wider-

201

sprechen scheint, wer mehr in die Tiefe blickt, weiß: Auch heute gelten die heißen, geistigen Kämpfe in unserem Volke der Erfassung Jesu Christi und kein Volk ringt also mit aller Kraft des Zweifels und mit aller Gluth der Innigkeit, daß es in selbsteigner Geisteskraft und Eigenthümlichkeit und iu sicherer Wahrhaftigkeit und Lauterkeit das Licht des Evangelii in sich aufnehme. Gewiß, keinem Volke ist Christus der Herr mehr zum Eigenthum geworden als dem unseren. Darum, wo ist ein Volk, das herrlicher wäre als unser Volk, dem mehr als ihm oder nur so wie ihm unsere Herzen entgegenschlagen müßten in Liebe und Treue, dessen Heil unsere Freude, dessen Schäden unser Jammer sind, für das wir bereit sein müssen, wenn es gilt, das Letzte, ja uns selbst zu opfern? Schauen wir es so an int Lichte Christi, voll muthiger Hoffnung blicken wir dann auch der Zukunft entgegen und wissen: Gott kann sein Volk nicht verstoßen! Aber so wird uns die Liebe zu unserem Volke nie zur Ungerechtigkeit oder gar zur Feidseligkeit gegen andere Völker werden! Mit tiefem Dank uns freuend an allem Herrlichen, was Gott unserer Nazion als heiliges, stets zu meh­ rendes Erbgut verliehen hat, werden wir gern alles Edle, Schöne und Große auch an anderen Völkern anerkennen und ehren, werden behal­ ten, daß von uns Licht, Heil und Segen auch auf andere Völker über­ gehen soll, werden selbst gern an und von ihnen lernen, worin wir zurück sind, woran es uns noch gebricht. Je wärmer und tiefer in Christi Geist so unsere Vaterlandsliebe wird, desto mehr wird zugleich allgemeine, heilige Menschenliebe uns durchdringen, desto treuer werden wir an der Zusage halten, daß Er als der Eine Hirt die Menschen aller Völker und aller Zungen sammeln wird zu der Einen Heerde, sie alle verbinden zu dem Einen Himmelreich durch Gerechtigkeit, Friede und Freude int heiligen Geist. Diese Liebe zum eignen Volk verbunden mit der Liebe zu allem, was Mensch heißt, sei es, durch welche auch wir uns als ächte Jünger Jesu bewähren! Amen.

Die Stellung, welche der König im Lande ein­ nimmt und unsere Freude an ihn. Text:

1. Petri 2, 17.

Thut Ehre Jedermann. Fürchtet Gott.

Habt die Brüder lieb.

Ehret den König.

(beliebte im Herrn, wenn unmittelbar hinter uns liegt der Tag der Krönung unseres geliebten Königs in der altehrwürdigen Stadt Preußens, unmittelbar vor uns liegt der Tag**), an dem diese unsere Stadt, die Hauptstadt der Monarchie, den gekrönten Herrn jubelnd in ihren Mauern wieder aufnimmt, wenn in diesen Tagen die Herzen aller Unterthanen höher schlagen in inniger Dankbarkeit für Alles, was der Gefeierte als Regent und König seinem Lande und Volke gewährte, in frohen zuversichtlichen Hoffnungen reichsten Segens, der fernerhin von seinem Throne strömen soll und wird, in frommen Flehen für sein und des Vaterlandes Heil und Wohl; dann, trotz des besonderen vor­ gestrigen Gottesdienstes, wäre es unnatürlich, richtete sich nicht auch hier unser frommes Empfinden und Nachdenken nach dieser Seite, woll­ ten wir nicht auch hier in Gesang, Gebet und andächtiger Betrachtung unsere vaterländische, schöne Festzeit mitfeiern. dem gesungenen Liede zn genügen gesucht;

Haben wir dem in

so sagt euch der verlesene

Text, daß auch unsere Predigt sich auf diesem Gebiete bewegen wird. Damit ergibt sich, daß in den unter einander verknüpften Ermahnungen Lieder: Nr. 858. 857, 3. *) Die Predigt wurde den 20. Oktober 1861 gehalten.

203 unseres Textes die letzte, „Ehret den König" die erste Stelle, auf die das Uebrige bezogen wird, einnehmen soll.

Aber nicht umsonst ist

das „Ehret den König" mit den drei vorhergehenden Mahnungen ver­ bunden.

Nur in solcher Verbindung findet es sein richtiges Verständ­

niß, nur in dieser Verbindung als ein Gotteswort seine rechte Er­ füllung.

Die nothwendige Folge aus den drei ersten Ermahnungen ist

die letzte, ersten.

die nothwendige Grundlage für die -letzte bilden die drei

In diesem Sinne vergegenwärtigen wir uns nun die rechte

Stellung, welche für uns unser König und Herr inne hat und heben hervor die rechte Freude, die wir an ihm haben, in welcher wir ihm das Schuldige leisten. I.

Eigenthümlich ist die Stellung des Königs in einem Maaße,

wie die keines andern.

Jeden, vermöge seines gottgegebenen, ange­

stammten Berufs, jeden, den Höchsten wie den Niedrigsten, um eines Hauptes Länge überragend, hat er von jedem Unterordnung zu fordern, hat zu erwarten, daß jeder in Gehorsam und Ergebenheit ihm gewärtig sei.

Diese Stellung liegt in dem „Ehret den König" ausgesprochen

und ist zunächst angeknüpft an das „Fürchtet Gott."

So liegt darin

mit, was Paulus sagt: Jede Obrigkeit ist von Gott, ist Gottes Ord­ nung, ist Gottes Dienerin, oder das, waS richtig verstanden, liegt in dem Ausdruck:

„König von GotteS Gnaden."

Ist er von Gott ge­

ordnet, so soll er auch Gottes Stellvertreter sein, ist er König von Gottes Gnade, so soll auch durch ihn das Volk gewissermaßen mit göttlichem Segen begnadigt werden, so soll er auch in seinem Thun und Walten gewissermaßen ein Abbild GotteS darstellen.

DaS aller­

dings ist auch ausgeprägt darin, daß, wie Gott ist der Herrscher des Alls, so für sein Volk in des Königs Hand die höchste Gewalt ruht. Wollte man das aber so verstehen, daß der König als höchster Macht­ haber nach Launen und Willkür, erhaben über jedes Gesetz, schalten und walten könnte, daß Alles gestellt sei in sein persönliches Belieben, wie manche dergleichen Vorstellungen mit dem Ausdruck König GotteS Gnade verbinden; so wäre das,

von

wenn nicht die allerunver­

nünftigste, gewiß doch die allerunchristlichste Auffassung. -Indem sich der König von Gottes Gnade nennt, stellt er sich am allermehrften

204 und am allertiefften unter das Wort:

„Fürchtet Gott," fühlt er

auf der einen Seite mit allen aufrichtigen Gliedern der Christengemeine, wie

er sein Herrscheramt Gott gegenüber ohne

sein Verdienst und

Würdigkeit hat, wie er auf der anderen Seite, Gott aufs Höchste und Tiefste verantwortlich, nur in seiner heiligen Furcht das Regiment führen kann und darf.

Darin liegt und daraus -folgt das Weitere,

daß er sein Regiment- führt nach der Aehnlichkeit der Gottheit selbst. Wie tritt uns Gottes Walten entgegen?

Er hat den Kräften der Na­

tur, er hat den verschiedenen Geschöpfen es gegeben, daß sie bis zu einem gewissen Maaß, — hier ist es enger, dort weiter, — Leben, Be­ wegung, Selbstbestimmung in sich tragen.

Er hat sie neben und in

einander gereihet, daß sie stärker und schwächer, hier scheinbar bele­ bend, fördernd, dort scheinbar feindlich und vernichtend auf einander wirken und auf sich einwirken lassen.

Durch all dies Leben und Stre­

ben, durch dies Gewoge und Getriebe hat Gott der Herr unverletzliche Ordnungen hindurchgezogen, hat nicht nur gegeben, sondern gibt un­ beugsame Gesetze, und er selbst, sein Wort, Gotteskraft ist der Träger dieser Gesetze. Walter der Schöpfung.

seine sich offenbarende

So ist er der Erhalter und

Und in Beziehung auf die Regierung

der

moralischen Welt ist es, das wissen wir durch den Glauben an Chri­ stum, wenn es zur Zeit in einzelnen Fällen auch für das irdische Auge nicht offenbar wird, ist eö die Gerechtigkeit, vor der nicht gilt irgend ein Ansehen der Person, in welcher er Alles zu dem von ihm be­ stimmten Ziele führt.

Demnach ist daS die herrliche Stellung

des

Königs in seiner souveränen Macht, daß er mit starker Hand die Ord­ nungen, wie sie das Volksleben durchziehen, schirmt, daß, wie er der höchste Ausfluß aller gesetzgebenden und gesetzverwaltenden Thätigkeit ist, er so unbeugsam an Gesetz, Verfassung und Recht hält, daß er, sich selbst unter das Gesetz stellend, eS offenkundig macht, wie zwischen Gott und der Ordnung und den Gesetzen der Natur nie Zwiespalt sein könne, so auch kein Bruch zwischen dem Königthum und dem Ge­ setz unter uns.

Das ist die Gottesgnadenstellung unsers Königs, daß,

wenn einst ein deutscher Kaiser das schöne Wort sprach, wenn Treue und Glauben auch auf dem ganzen Erdboden verschwunden wäre, so

205 solle sie doch beim deutschen Kaiser bleiben, daß es für unseren König gilt:

Und wenn Königliche Diener mit Rath und That zur Verletzung

des Rechtes und der Verfassung bereit, und die Träger des Staates mit dem Gesetz zu spielen geneigt wären, so wird der König wie der Fels im Meer feststehen, wird in unerschütterlicher Kraft und geistiger Tapferkeit auf und in Verfassung, Gesetz und heiligem Recht beharren, wird sie schützen, schirmen und ihre Uebertretung mit aller ihm von Gott anvertrauten Gewalt strafen und verhüten.

„Ehret den König!"

Wir wissen als Christen auf der einen Seite, daß selbst der Glanz und die Macht der Höchsten uns nie von der Pflicht strengster Wahr­ haftigkeit und Wahrheit entbinden kann,

daß nie Macht und Glanz

der Gewaltigen uns zum Unrecht in Wort oder That bewegen darf. Eben so wissen wir auf der anderen Seite, daß wir der Obrigkeit, selbst wenn sie in Willkür das Recht zu beugen beginnt, nie mit Ge­ walt, mit Waffen entgegenzutreten haben, daß wir nie die schlimmen, gottlosen Wege der Empörung betreten dürfen.

Da nun, wenn wir

als Christen nach Gottes Rathschluß unter eine ungerechte Obrigkeit gestellt, derselben mit Wahrung der eigenen Rechtschaffenheit und Gottes­ furcht auch Unterthan wären, wir wären es doch nur mit tiefem Schmerz. Weiter, wenn ein treuer, rechtschaffener König über ein schlechtes Volk nur mit Seufzen regieren könnte, und ein solches Seufzen als ein schreiendes Zeugniß wider das Volk demselben weder für Gegenwart noch für Zukunft gut sein könnte; so wäre es nimmer einem Könige, der das Recht beugte und verletzte, gut, wenn so das Volk vor Gott sein nur mit Seufzen und Klagen gedenken könnte.

Da ist das unsere

Freude, daß wir dem Könige, den uns Gott gegeben, so mit ganzer Lust des Herzens, aus tiefstem Zuge der Seele Unterthan sein können, daß Gott nicht durch die Nothwendigkeit, auch nicht allein durch das Gewissen und durch das strenge, kalte Gebot der Pflicht, sondern daß er durch unsere erkennende Liebe und liebende Erkenntniß uns zuruft: „Ehret den König."

Das ist unsere Freude, daß unser geliebte König

so ganz seine Stellung als die von Gottes Gnade be- und ergriffen hat. so ganz leben will in und aus den Ueberlieferungen seines er­ lauchten Hauses, dessen Wahlsprnch es ist,

„Jedem das Seine."

206 Ja wir freuen uns, daß er die Zügel deS Regimentes ergreifend es feierlich bekundet hat, er wolle ein würdiger Nachfolger sein auf dem Throne des großen Mannes, der sich einst gern von einem schlichten Unterthan an das Kammergericht in Berlin erinnern ließ, welches auch königlichen Interessen gegenüber das Recht aufrecht erhalte,

und der

sich freute, daß, die Mühle, welche ihn störte, auf Grund des RechtSfprucheS und Rechtschutzes fortklapperte, ein beständiges Zeugniß, Recht und Gerechtigkeit walte ohne Ansehen der Person.

daß

Wir freuen

uns in der zuversichtlichen Hoffnung, daß unser königlicher Herr gleich seinem erlauchten Ahn es seine Sorge sein lassen wird, in der Regie­ rung jeder Ausschreitung und Willkür, selbst wenn sie von königlichen Rathgebern und Dienern ausgehen sollte, zu wehren, daß er, wie er fest gegeben und in seiner schlichten Gradheit auch

allen selbstischen

Lockungen gegenüber bisher treu gehalten hat das Wort, streng nach Verfassung und Gesetz zu regieren, so auch beharren werde bis an's Ende, bis ihm nach langer gesegneter Regierung die Krone des ewigen Lebens zu Theil wird.

Ja Gott wird geben, daß keine Lockung heuch­

lerischer Schmeichelei ihn je untreu machen kann dem eingeschlagenen Wege.

Gott gebe auch uns, daß wir ihn über Alles fürchtend, treu

stehend zu Recht und Pflicht unsere Gottesfurcht auch darin zeigen, daß wir ehren den König, der in Gottes Namen im Lande zu walten, Recht und Gerechtigkeit zu handhaben hat,

daß wir ehren den König von

Gottes Gnaden. II. nung:

Weiter stützt sich das „Ehret den König" auf die Mah­ „Habt die Brüder lieb" oder wörtlich übersetzt:

die Brüderschaft."

„Liebet

Diese Brüderschaft aber, daS ist die in Christo,

ist die derjenigen, die durch den Glauben an den Erlöser Gottes Kinder geworden sind, ist die der christlichen, gläubigen Gemeine.

Aus der

Liebe zu der christlichen Gemeine, das liegt in unserem Text, fließt her und nährt sich die Ehrerbietung gegen den König,

und wer recht die

Brüderschaft, die Gemeine deS Herrn liebt, der muß auch den König ehren.

Damit ist ausgesprochen, daß der König .als solcher auch seine

besondere Stellung hat zu der christlichen Gemeine. eine?

Was ist das für

M. G., die Gemeine der Gläubigen lebt von keines irdischen

207 Königs Gnade, sie hat in keiner irdischen Königsmacht,

weder den

Grund ihrer Entstehung, noch die Kraft ihrer Erhaltung. allein ist ihr ewiger König, der ewige Grund,

Christus

die ewig erzeugende

Quelle isres Seins und Lebens, der treue, gute, sie führende, schir­ mende Hirt, der für sie allgenugsame Heiland. Jahrhunderte hindurch hat die Lirche bestanden und vortrefflich bestanden, ohne daß ein Mäch­ tiger der Erde sich ihrer annahm, ja so, daß viele Könige und Kaiser sie in bitterster Feindseligkeit bis auf's Blut bekämpften.

Das müssen

wir gegenwärtig behalten, behalten, daß in allen Angelegenheiten unsere Hülfe allein steht im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht nnd seine Gnade und Wahrheit in Jesu Christo offenbart hat.

Es

gilt und muß hier gelten das Wort *): „Verlasset euch nicht auf Fürsten, sie sind Menschen, die können ja nicht helfen."

Aber das Christenthum,

wie es heißt, trat in die Welt **), „als die Zeit erfüllet war," d. h. das Christentum, die Gemeine Christi, wenn sie auch nicht als daS Erzeugniß der Menschheit zu begreifen ist, bedurfte doch des von Gott vorbereiteten Bodens in der Menschheit, um auf demselben zu gedeihen. Die Menschheit mußte bis auf einen gewissen Punkt hin von Gott erzogen sein, wenn sie daS neue Leben aufnehmen sollte.

Christus ist

die wesentliche Gerechtigkeit nach allen Seiten, daß wir sie uns aneignen. Um aber mir ein Verständniß für ihn zu gewinnen, muß zuvor der Rechtssinn im Gemüthe, der Sinn, der zwischen böse und gut, heilig und unheilig unterscheidet, geweckt sein.

Christus ist die wesentliche

Wahrheit, damit wir ihn als das Licht des Lebens in die Seele auf­ nehmen.

Um das zu können, muß irgend wie durch Weckung des Ver­

standes, durch Bildung des Urtheils die Seele dazu fähig geworden sein.

Durch den Geist Gottes

wird die menschliche Natur in den

Dienst Gottes, in den Dienst der Liebe gebracht. Damit dieser Dienst reich mtb. allseitig gesegnet sein könne, dazu ist erforderlich, daß die Kräfte und Vermögen des Menschen sich entwickelt haben.

Nur als

die entwickelten werden unsere Kräfte Gaben zum gemeinsamen Nutzen werden können. Siehe das ist die Aufgabe und Stellung der gottgeord-

*) Psalm 146, 3.

**) Galater 4, 4,

208

rieten Staatsgewalt, damit auch des Königthums von Gottes Gnade, daß gepflegt werde geistige Bildung nach allen Seiten, daß geweckt werde Sinn für Recht und Wahrheit, damit beständig geschaffen werde die Vorbereitung für das Reich Gottes, für die Brüderschaft. Ein Sauerteig ist das Christenthum, damit es mit neuer, schöner Menschlichkeit alle Verhältnisse durchziehe, reinige und heilige, daß es so z. B. das Weib aus dem Zustande sittlicher Erniedrigung in der Gesellschaft zu der Stufe der ebenbürtigen Gehülfin des Mannes er­ hebe, daß es das Elend und die Schmach der Sklaverei banne u. s. w. Auf dem Wege allmähliger geistiger Durchdringung des ganzen Volks­ lebens erfüllt es diese seine hohe Bestimmung. Was dann aber heiligend und veredelnd das Volksleben kräftig durchzogen hat, das will, muß und soll durch bestimmte Rechtsordnung seiner Zeit festgestellt werden, um auch den Schutz gegen frevelhafte Angriffe einzelner im Amte zu genießen. Zur Schaffung solcher Rechtsordnungen, die Hartes, Will­ kürliches, Grausames bannen, welche den Geist ächter Menschlichkeit, wie sie in der Brüderschaft, in der Gemeine Christi lebt, im Volks­ leben Ausdruck, Raum und Nachdruck verschaffen, dazu hat die Staats­ gewalt, dazu das Königthum von Gottes Gnaden feinen hehren Beruf. Die Brüderschaft, die Gemeinde Christi, hat gelebt und kann leben unter ihrem ewigen Könige, auch wenn sie von den Königen der Erde verfolgt wird wie das gehetzte Wild. Aber ihr Wesen nach allen Sei­ ten in schöner, segensreicher Ordnung entfalten, Pflanzstätten geistiger und geistlicher Bildung in's Dasein rufen, Anstalten der barmherzigen Liebe gegen die Leidenden, der rettenden Liebe gegen die Verirrten grün­ den, das wird ihr doch nur möglich in den Zeiten der Ruhe, wo sie ungestört in dem Besitz ihrer geistigen und irdischen Güter bleibt. Daß sie aber so die Tage der Ruhe habe, um sich innerlich und äußerlich zu bauen, das hängt ab von der regierenden Gewalt, vom Königthum. Das ist der hohe Beruf, die Stellung des Königs auch unter uns, nicht daß er in der Gemeine Christi regiere, sie unter die Bestimmung und den Einfluß des von ihm ausgehenden Lohnes und der von ihm kommenden Strafe stelle, nicht daß er in ihr etwas erzeugen wolle, sondern, daß er sei an Gottes Statt ihr treuer Sehntzherr, der ihr

209 die Tage des Friedens verbürgt, daß wir als Glieder der Kirche nach würdigem, uraltem Wort unter seinem Schutz und Schirm ein stilles und geruhiges Leben führen in Gottseligkeit und Ehrbarkeit. der König der gottberufene Pfleger

der Bildung

Ist so

und der geistigen

Entwickelung seines Volkes, ist er berufen, den christlichen Gedanken heiliger Menschlichkeit Eingang in die Rechtsordnungen des Volkes zu schaffen, die Gemeinde Christi in ihrem Recht und ihrer Freiheit sich aus sich selbst herans erbauen zu lassen, sie zu schirmen; so wie man die Brüderschaft, die Gemeinde Christi liebt, muß man darin auch den König ehren. Und da ist es wieder unsere Freude, daß wir auch nach dieser Seite einen Herrscher haben, der sein Volk nicht versäumt und seines Bernfes nicht vergißt, der ein Pfleger aller Bildung sein will, welcher der Gemeine Christi, auch unserer evangelischen Kirche allen Schutz verheißen hat, damit sie zu ihrer Selbständigkeit, zu ihrem an­ gestammten Recht, wenn auch auf mühsamen Wege gelange. III.

Die letzte Ermahnung, im Text die erste, als Grundlage

für das „Ehret den König," ist „Thut Ehre jedermann."

Das

ist nicht in Beziehung auf den Frommen, auf die Christen gesagt, son­ dern gilt für Alles, was Mensch heißt, also auch für Gottlose und Schlechte.

Sollen wir demnach am Menschen auch die Gottlosigkeit

und Sünde ehren? ist nur

Das gewiß am wenigsten.

die menschliche Persönlichkeit,

Wahrhaft ehrenwerth

die sich ausgebildet hat nach

Gottes Bild, die ausgeprägt ist in sittlicher Trefflichkeit, in aufrichtiger Frömmigkeit.

Dies herrliche Ziel zu erreichen, dazu hat jeder in sich

die Begabung durch Vernunft und Gewissen, dazu aber kann niemand durch Gewalt und Zwang geführt werden. Auf Vernunft und Gewissen läßt sich einmal nicht mit Zwang wirken, sondern nur in der Freiheit und aus der Freiheit heraus. Als mit Vernunft und Gewissen begabt sind die Menschen

geschaffen

für volle Freiheit des Gewissens,

Glaubens, der sittlichen Ueberzeugung.

des

„Thut Ehre jedermann,"

ehret in jedem das, wodurch er Mensch und berufenes Gotteskind ist, ehret in ihm Vernunft und Gewissen in ihrer Freiheit, daß ihr wohl durch die Stimme der Wahrheit und heiligen Liebe auf ihn einzuwirken sucht, nie aber die entfernteste Neigung verrathet, der Ueberzeugung Thomas, Predigten.

14

210

Gewalt anzuthun. Bei allem Eifer der Liebe, in dem der wahre Christ spricht*): „Ich möchte sagen, daß alle Menschen wären wie ich," näm­ lich selig in der Gemeinschaft des Heilandes; kann er nimmer den Grundsatz der Duldung verleugnen, der Duldung, welche in allen Menschen, auch in dem Ungläubigen die Grundlage des göttlichen Eben­ bildes hochhält. Intoleranz, jeder Druck und jede Verfolgung um des Glaubens willen ist durch und durch unchristlich, ob sie auch immer wieder im Namen und unter der Maske christlicher Frömmigkeit hervor­ trete, ist heidnisch, wie denn gerade die besseren römischen Kaiser der Heiden, nicht als die Besseren, sondern als die Heiden die Christen ver­ folgten. Die Grundsätze der Duldung, auch wo sie von einer dem Christenthum sich entfremdenden Weisheit gepredigt werden, sind nicht das Eigenthum dieser Weisheit, sondern unbewußte Ausflüsse des mißkannten Evangelii, sind allein berechtigtes Eigenthum des wahren Christenthums, das sie erzeugt hat. Aber wir wissen, wie die mensch­ liche Sünde vor Allem sich in der Christenheit so oft gezeigt hat, daß an die Stelle der heiligen Gluth des Glaubens und der Liebe Christi die Flamme einer mit finsterstem Hasse verknüpften Rechtgläubigkeit hervortrat, daß die, welche an einen Gekreuzigten zu glauben vorgaben, nur zn gern selbst wieder kreuzigten, selbst die bittersten Folterqualen gegen solche anwendeten, die einer anderen Ueberzeugung, eines anderen Glaubens lebten. Wo so die Parteien, die um den Glauben streiten, den Christenglauben, das Evangelium mit Füßen zn treten, den Herrn wieder an das Holz des Fluches zu nageln bereit sind, da steht an Gottes Statt der König und Herr, daß er mit starker Hand solchem Frevel und solcher thatsächlichen Gotteslästerung wehre, Gehorsam for­ dernd für alle bürgerlichen Angelegenheiten, freigebend Glauben, Ge­ wissen, Ueberzeugung, daß er sorge, daß man so dem Kaiser gebe, was des Kaisers und Gotte, was Gottes ist. Das ist die Gottesgnaden­ stellung des Königs, daß er daö unveräußerliche Recht jedes Menschen, welcher Gottes Bild in Vernunft und Gewissen an und in sich trägt, das Recht freier Selbstbestimmung im Glauben hoch und heilig und *) Apostelgeschichte 26, 29.

211

unverbrüchlich halte. Wer darum als Christ das „Thut Ehre jeder­ mann" im Glaubensgehorsam befolgt, der muß auch ehren den König, den Gott zum starken Hort dafür im Volke erhöhet hat. Da wieder ist es unsere Freude, unserem Könige entgegenzujubeln, weil er auch nach dieser Seite so ganz in den ihm von Gott gewordenen hohen und höchsten Beruf hineingetreten ist. Das ist ja wahrhaftig nicht der geringste Ruhm unseres erlauchten Königshauses, daß die Regenten desselben mit weitem, mildem Herzen, mit heiliger Duldung, allerdings nach dem Maaßstabe ihrer Zeit, das Regiment geführt, daß sie der Duldung selbst im Gegensatz zu einem Theil ihres Volkes Raum und Gewalt geschaffen haben. Im Staate Friedrich's des Großen, „ wo jeder nach seiner Facon selig werden kann," will auch unser König walten im gleichen Geist, will verabscheut und gebannt wissen jeden Zwang, jeden Druck, jede Benachtheiligung um des Glaubens und der Ueberzeugung willen. So hat er es gelobt, nicht weil er dem Christenthum fern stände, sondern weil er es in seiner Tiefe be- und ergriffen hat, weil er wohl weiß, der Glaube an den Erlöser ist der köstlichste, unser einziger Trost im Leben und Sterben; aber auch weiß, dieser Glaube kann nicht anders wahrhaft geboren werden, nicht anders gesund und kräftig erstarken und wachsen als nur in voller Freiheit. Darum laßt uns ihn ehren im treuen Gehorsam! Gott segne, Gott erhalte den König, daß er weiter wandle auf rechter Bahn in seinem erhabenen Beruf. — Ist in uns eine Ehrerbietung gegen die Menschen, haben wir die Liebe zu den Brüdern, lebt in uns die heilige Gottesfurcht; so werden wir als treue Bürger und Unterthanen leben und sterben in dem „Ehret den König." Fordert man aber im anderen Sinne Ehrfurcht und Unterthänigkeit, so erklären wir als Christen: Wir wissen nichts von einer solchen. Jede Ehrerbietung, jeder Gehorsam, jeder Dienst gegen den König ohne Gottesfurcht, ohne heilige Bruderliebe, ohne die mensch­ liche Freiheit zu ehren, haben ihren Ruhm dahin, können nie wesentlich etwas Anderes sein als die Selbstsucht in verstecktem Eigennutz und schleichender Herrschsucht und im Gewände kriechenden, sklavischen We­ sens. Eine solche Gesinnung hatte ihren Platz in Rom unter den heid14*

212 Nischen Cäsaren bei den Götzendienern; gehört aber nimmer hinein in das evangelisch-christliche Preußen.

Aecht königlich gesonnen laßt uns

nie scheiden, was Gott verband, nie Voneinanderreißen die heiligen Mahnungen.

Als Bürger

und Unterthanen

dieses Reiches bleibe

unser Wahlspruch: Thut Ehre jedermann, habet die Brüder lieb, fürchtet Gott, ehret den König! Amen.

Die christliche Dankbarkeit. Text: Lukas 17, 12—19. Und als er in einen Markt kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer, die standen von ferne, und erhoben ihre (Stimme und sprachen: Jesu, lieber Meister, erbarme dich unser! Und da er sie sahe, sprach er zu ihnen: Gehet hin und zeiget euch den Priestern. Und es geschah, da sie hingingen, wurden sie teilt. Einer aber unter ihnen, da er sah, daß er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme, und fiel auf sein Angesicht zu seinen Füßen und dankte ihm. Und das war ein Sa­ mariter. Jesus aber antwortete und sprach: Sind ihrer nicht zehn rein geworden? Wo sind aber die neune? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte und gäbe Gott die Ehre, denn dieser Fremdling? Und er sprach zu ihm: Stehe auf, gehe hin, dein Glaube hat dir geholfen. Du bist ein Samariter und hast den Teufel, ein solches Wort, Andächtige im Herrn, galt wohl zur Zeit Jesu für eine der schmach­ vollsten Beschimpfungen. Der Samariter war für die damaligen Ju­ den Gegenstand tiefsten Abscheus, größter Verachtung. Das Samariter­ thum sahen sie an als ein Wechselbalg des Juden- und Heidenthums Lieder: Nr. 643. 665, 10.

214

und als solches war es ihnen verhaßter als das Heidenthum selbst. Der Herr, welcher sich stets der Verachteten und Unterdrückten annahm, hatte in dem schönen Gleichniß, welches die Barmherzigkeit gegen jeder­ mann so eindringlich lehrt, seinem dermaligen Hörer, einem rechtgläu­ bigen Schriftgelehrten, grade einen Samariter als ein leuchtendes, be­ schämendes, mahnendes und belehrendes Vorbild aufgestellt, hatte dem stolzen Juden gesagt: „Gehe du hin und thue desgleichen." Wenn das nun nicht wirkliche Geschichte war, hatte der Erlöser nicht Unrecht, die köstliche Lehre der Barmherzigkeit grade in dem Gliede eines Volkes zu verkörpern, das unter dem Bann seiner Glaubensgenossen stand und dem er doch selbst sagen mußte*): „Ihr wisset nicht, was ihr anbetet," eure Anbetung ist mit Unwahrheit, Irrthum und Aberglauben durchzogen? Ist des Herrn Verfahren nicht wenigstens ein mittelbarer Verstoß gegen die Wahrheit, indem dadurch das samaritische Volk in einem besseren Lichte erschien, als es der Wirklichkeit nach verdiente? Wir dürfen den Herrn auch dessen nicht beschuldigen. Welche Sünden und Irrthümer Samaria auch in sich bergen mochte, es fehlte doch nicht an dem guten Boden für Gottes Wort und Reich. Erinnern wir uns eben nur des Aufenthaltes Christi am Jakobsbrunnen, feines Verkehrs mit der samaritische» Frau und später mit den herzugeström­ ten Bewohnern des samaritischen Fleckens! Mochte Unklarheit, Ver­ irrung und Verwirrung in religiöser Beziehung mannichfach ihren Verstand einnehmen, aufgeschlossen, empfänglich waren ihre Seelen für die Wahrheit und Gnade, geeignet für's Himmelreich. Wie aber wirk­ lich bei allen Sünden und Verirrungen der Samariter in manchem Gemüth unter diesem Volk Edleres wohnte, dafür gibt den besten Beleg der Samariter unseres Textes. So durfte der Herr wohl, ohne gegen geschichtliche Wahrheit zu verstoßen, auch im Gleichniß einen Samariter als Vorbild aufstellen. Der Mann im Gleichniß ist uns, wie gesagt, das Vorbild der Barmherzigkeit, der Samariter der wirklichen Geschichte nach unserem Text stellt uns die schöne Tugend der Dankbarkeit gleich lebendig vor Augen. Wohlan, wir scheuen uns nicht, ihn heut zu *) Johannes 4, 22.

215

unserem Lehrer zu machen; denn grade dazu eben ist nach Gottes Vor­ sehung uns diese Begebenheit in heiliger Schrift aufbewahrt. Die Dankbarkeit in ihrer Veranlassung, in ihrem Wesen, in ihrer Seltenheit und in ihrem Segen schauen wir an nach dem Spiegelbilde unserer Erzählung. I. Fragen wir zuerst nach der Veranlassung zur Dankbarkeit, so liegt sie bei dem Samariter und den Genossen seiner Leiden ganz klar auf der Hand. Die größte Trübsal, das kläglichste Elend war das Loos der zehn Männer gewesen. Am Aussatz litten sie, einer Krank­ heit, bei welcher von einem Punkte aus sich Fänlniß allmählig über die Haut verbreitet, nach und nach alle Glieder ergreift und zuletzt, wenn auch sehr langsam, doch unter viel Qual und in ekelhaftester Weise das Leben zerstört. Diese Krankheit, weil sie durch ihre Kraft der Ansteckung für die Gesunden so gefährlich war, bewirkte nach den Sitten der damaligen Zeit die Ausschließung von der Gesellschaft und Gemeinschaft und verstieß ihre unglücklichen Opfer in die freudenleere, trostlose Einsamkeit und Verlassenheit. Von diesem entsetzlichen Leiden hatte der Herr in seiner Liebe mit seinem heilskräftigen Wort die Un­ glücklichen erlöst. Das Thun der Liebe war für jene zehn Männer Veranlassung, war gewiß ein sehr dringender, zwingender Grund zur Dankbarkeit. Die Liebe, wie sie hilft und dient, wie sie Freude und Frieden bringt, wie sie tröstet und erquickt; sie ruft durch ihr Sein und Thun zur Dankbarkeit auf alle, welche ihrer Segnungen sich er­ freuen. Wer hat nun überhaupt solche Veranlassung, solchen Grund zu danken? Es dürften gewiß die Wenigsten unter uns sein, die nicht schon in Stunden und Tagen der Trübsal durch treue Liebe gepflegt, erquickt und der Rettung entgegengeführt wären. Aber ich möchte nicht bei solchen einzelnen Fällen, wenn sie auch in dem Leben eines jeden vorkommen, stehen bleiben. Ich führe euch in die ersten Zeiten und in die letzten Tage und Stunden des menschlichen Lebens. Welches Bild gewährt der Mensch in der Wiege und der Mensch auf dem Krankenbette, wie es sich ihm allmählig zum Sterbebette umgestaltet? Ist es nicht das Bild der vollsten Bedürftigkeit und Hülflosigkeit, ist da der Mensch nicht ganz und gar angewiesen auf die Liebesdienste

216 der Mitmenschen?

Das ganze übrige Leben von solchem Anfang und

Ende der Bedürftigkeit eingeschlossen, sollte es über diese Hülfsbedürftigkeit erhaben sein, in sich allein und für sich selbst sein Genügen ha­ ben? Das könnte so scheinen, wenn Mann und Frau frisch und muthig in mannichfacher Thätigkeit für ihr und der Ihrigen Wohlergehen ar­ beiten und wirken.

Und doch, es

ist das nur Schein.

Was wir an

geistigen und irdischen Gütern haben und erwerben, was wir an schönen Freuden genießen, wie wir hier und dort vor drohenden Uebeln bewahrt werden, dazu mögen wir redlich

das Unsrige mitgethan haben, aber

allein durch unser Thun haben wir nichts davon erreicht.

Zu jedem

Gut, zu jedem Genuß sind hundert und tausend Hände unserer Mit­ menschen thätig gewesen, ohne ihren Fleiß und Schweiß wäre unser Leben das armseligste,

unser Dasein das traurigste.

Und was doch

alles Gut und allen Genuß erst schön macht, das ist die Liebe, welche Seelen in schöner, geistiger Gemeinschaft vereinigt. Gut Staub und die Freude Gift.

Ohne sie ist das

Siehe, wenn du darum hast und

genießest, was dir irgendwie das Leben schön macht,

du verdankst eS

zum geringsten Theil dir, zum größten Theil deinen Mitmenschen. hast gelebt von Liebe, lebst von Liebe, wirst leben von Liebe.

Du

O wahr­

lich in keines Menschen Leben, zu keiner Zeit und an keinem Ort fehlt es an Veranlassung

und Grund zur Dankbarkeit.

unsere Blicke über die Menschheit hinausznrichten.

Doch wir haben Ein Menschensohn

oder der Menschensohn hatte jenen zehn Leidenden geholfen.

Der Sa­

mariter aber pries zunächst Gott oder gab, wie Christus sagt, Gott die Ehre.

Wie er auch nachher zu Jesu Füßen sinkt und ihm dankt, doch

ist Gott ihm die Urquelle seiner Rettung, seines Heils.

Von Gott,

so sagt ihm seine Einsicht, ist durch den Menschensohn ihm die Hülfe geworden.

Ist Gott es nicht auch für uns, von dem uns alle und

jede gute Gabe herabkommt, in dem wir leben, weben und sind?

Ist

er es nicht, der jeden Augenblick uns mit segnender Güte umgibt, unS gegen stets drohende Gefahr schirmt, der in viel Noth über uns seine Flügel gebreitet, der so manches scheinbare Uebel, über das wir seufzten, uns zum Besten gewendet? Wäre das keine Veranlassung zum Dank? Ja sind wir Christen und können nach Grund und Veranlassung zur Dank-

217

barfett fragen? Die Unglücklichen im Evangelio sind ergriffen von dem Aussatz, der in allmählig sich ausbreitender Fäulniß den Körper ver­ zehrt und zerstört. Der innere Mensch, als der natürliche, so reiche Kräfte und Gaben er auch in sich hat, so schöne Anlagen, in denen die ursprüngliche Gottebenbildlichfeit hervorleuchtet, ihn auch schmücken, ja so liebenswerth er auch aus gewissen Bildungsstufen erscheint; er franst ant schlimmsten Leiden, an der Selbstsucht, dem ungöttlichen Wesen der Sünde und diese Selbstsucht ist ihrer Natur nach ganz gleich dem Aussatz. Die edelsten, schönsten Gaben und Kräfte werden allmählig von der Kraft der Sünde ergriffen, mehr und mehr zersetzt, zerstört. Die Sünde zieht den Menschen, wenn auch langsam doch sicher, immer tiefer in den geistigen Tod, in ein ewiges Sterben hinab. Da ist es Christus, der in unser Herz und Leben hinein das schöpferische, heilsfräftige Wort der Reinigung spricht. Gottes Liebe in Christo ist es, die, wie sie versöhnt, so auch die Kraft jener Kranfheit, der Selbstsucht, bricht und der Vernichtung entgegenführt. Gottes Liebe in Christo ist es, welche den inwendigen Menschen erlöst und ihn des ewigen Lebens theilhaftig und gewiß macht. Wahrhaftig reichste Veranlassung für uns zum Danken, aus Herzensgrund zu sprechen: O daß ich tausend Zungen hätte Und einen tausendfachen Mund, So stimmt ich damit um die Wette Aus allertiefstem Herzensgrund Ein Loblied nach dem andern an Bon dem, was Gott an mir gethan.

II. Wir gehen weiter znm Wesen der Dankbarkeit. Die zehn sollen nach levitischer Ordnung dem Priester sich zeigen, daß er sie rein erkläre und indem sie dem Gebot zu folgen int Begriff sind, werden sie rein. Dies nur bemerken und Umkehren zu Jesus ist bei dem Einen, dem Samariter Eins und dasselbe. Warum vollzieht er denn nicht erst die Vorschrift des Erlösers? Das Gefühl der erfahrenen Wohlthat erfüllt sein Herz in einem solchen Maaße, daß er es dem darlegen und aussprechen muß, von welchem er die Hülfe erfahren hat. Dies lebendige Gefühl von der erlangten Hülfe ist aber zugleich das von der überreichen Liebe, durch welche diese Hülfe ihm geworden war.

218 Das ist das Wesen der Dankbarkeit, daß man im Busen fühlt und empfindet die Liebe, von der Wohlthat und Segen ausgegangen ist, das ist das Wesen der Dankbarkeit, daß dieses Gefühl der genossenen Liebe sich auch darlegen muß im anerkennenden und bekennenden Wort und, wenn die Gelegenheit sich bietet, sich auch bewähren muß im hin­ gebenden Thun. Wie wir aber bei der Veranlassung zum Dank theils auf unsere Nebenmenschen, theils auf Gott die Blicke richteten; so wird das Wesen ächter Dankbarkeit auch nur da vorhanden sein, wo sich dieselbe von den Menschen auf Gott, von Gott wieder auf die Men­ schen hinrichtet. Gott ist und bleibt die letzte Grund- und Urquelle alles des Guten, was uns irgendwie wird. Aber die Menschen sind nicht blos äußere Werkzeuge in seiner Hand, sondern als die Freien nach seinem Bilde und Gleichntß ist ihre Liebe und das Thun ihrer Liebe doch zugleich auch ihr Eigenthum. Deshalb alle ächte Dankbar­ keit muß ihrem Wesen nach sich richten ans Gott, wie auf die Neben­ menschen. Ihre gründliche Tiefe hat die Dankbarkeit nur, wenn sie sich erhebt zu dem ewigen Gott, ihre frische Lebendigkeit nur, wenn sie sich zugleich widmet den Nebenmenschen auf Erden. Ist es doch eben so mit der Liebe. Als Liebe zu den Menschen hat sie ihren Grund in der Liebe zu Gott, als Liebe zu Gott findet sie ihre Bethätigung, ihr frisches Leben in der Liebe zu den Nebenmenschen. Wenn aber zum Wesen der Dankbarkeit ihre Richtung auf Gott mit gehört, so hängt dasselbe anch nothwendig mit dem Glauben zusammen. Dein Glaube, spricht deshalb der Herr zu dem Dankbaren, hat dir geholfen. Aber laßt uns wohl festhalten, derGlaube, nicht was man Rechtgläubigkeit nennt. Der Rechtgläubigkeit rühmten sich die Juden, jene neun, die auch rein geworden waren, und keine Regung des Dankes wird bei ihnen laut. Rechtgläubigkeit, jene Einbildung, daß man allein die reine Lehre der Wahrheit erfaßt habe und danach alle richten, allen Seligkeit und Verdammniß zusprechen könne, wie oft ist es diese, der Rost des geistlichen Hochmuthes, welcher in der Brust die letzten Dankgefühle selbst gegen die Nächsten, gegen Vater und Mutter, gegen Lehrer und Freund vernichtet! Ein solcher Rechtgläubiger läßt sich von einem ver­ ketzerten Gottes- und Menschenfreunde wohl HülfS- und Liebesdienste

219

noch allenfalls gefallen, aber an Danken denkt seine Seele nicht. Der Glaube dagegen, ist er nicht das von der kindlichen Demuth unablös­ bare Bewußtsein von der heiligen, rettenden, beseligenden Liebe der Gottheit, ist er nicht das getroste kindliche Ruhen in dieser Liebe, ist er nicht die selige Gewißheit, daß nichts mehr scheiden könne von dieser Liebe? O wo solch Bewußtsein, da quillt innig und frisch der Dank zu Gott empor! Darum im Glauben an die heilige Liebe ruht mit das Wesen der Dankbarkeit, ohne den Glauben kann sie nicht wirklich leben. Die Gnade, sagt schon ein alter heidnischer Dichter, ist die immer gebärende Mutter des Dankes, aber die Gnade, wie sie im Glauben ergriffen wird, wie sie durch den Glauben als Gotteskraft in die Seele hineintritt. Das in dem lebendigen Glauben an die Liebe wurzelnde, tiefinnige Gefühl von den Segnungen der Liebe, dies Gefühl, wie es sich aussprechen muß im preisenden Wort oder im Druck der Hand und in dem Blick des Auges, wie es noch lieber sich ausdrücken möchte im thätigen Leben, wie es von den Menschen zu Gott hinauf-, von Gott zu den Menschen herniedersteigt, das ist das Wesen christlicher Dankbarkeit. III. Wie uns aber diese herrliche Tugend bei der Betrachtung sofort das Gemüth einnimmt, so fühlen wir uns angeregt zur Umschau nach ihr im wirklichen Leben, so fragen wir: Wo ist sie zu finden? Selten wird sie in der Welt gefunden, lautet die Antwort unserer Erzählung. Zehn sind rein geworden durch Christi Liebe, neun gehen dahin in dem Genuß der empfangenen Wohlthat, ohne des Retters, ohne der Gnade Gottes zu gedenken. Nur Einer, tief bewegt und er­ griffen von der Liebe bricht aus in Dank gegen Gott und gegen den Menschensohn. Von der Seltenheit der Dankbarkeit zeugt die heilige Schrift, zeugt die Erfahrung in der Welt. Weit und breit lastete auf den Völkern die Nacht des Heidenthums. Woher diese Finsterniß, diese Schatten des Todes? Daher, sagt die heilige Schrift*), weil die Men­ schen Gott nicht gepriesen haben als ihren Gott, noch ihm gedanket, durch ihre Undankbarkeit ist ihr unverständiges Herz verfinstert, sind *) Römer 1, 21 u. f.

220 sie, da sie sich für Weise hielten, zu Narren geworden.

Israel war

das Volk der göttlichen Wahl, der göttlichen, behütenden, segnenden und erleuchtenden Güte.

Ueber die Undankbarkeit Israels sind voll

der Propheten gotteingegebene Reden.

„Bleibt doch der Schnee länger

auf den Steinen im Felde, wenn es vom Libanon herabschneit und das Regenwasser verschießt nicht so bald, als mein Volk meiner ver­ gißt!"*) „Vergißt doch eine Jungfrau ihres Schmuckes nicht, noch eine Braut ihres Schleiers;

aber mein Volk vergißt meiner ewiglich"**),

so tönen Gottes Klagen aus dem Munde seiner heiligen Boten.

Und

Gott in Christus, Christus in Gott bringt dem Volk und zugleich der Menschheit die ganze Fülle rettender und seligmachender Liebe und statt des Dankes bringt ihm sein Volk und das menschliche Geschlecht den schmachvollen Tod am Kreuz.

Von der Seltenheit der Dankbarkeit

spricht auch die weltkluge Beobachtung der Menschen im wohlbekannten, vielgebrauchten Sprüchwort. Lohn."

„Undank,"

heißt es da, „ist der Welt

Ja wie selbst, wo größeste Wohlthaten erwiesen werden und

größeste Liebe waltet, es an der Dankbarkeit so häufig gebricht, drückt sich in der sprüchwörtlichen Rede aus, daß ein Vater wohl zehn Kinder treulich ernähren könne; Vater.

aber zehn Kinder nicht ihren alterschwachen

Worin liegt der Grund dieser die Menschheit schwer anklagen­

den Erscheinung? Menschen;

Sehen wir auf die Verhältnisse der Menschen zu

dann wird

wohl behauptet, in

vielen Fällen,

wo über

Undankbarkeit geklagt wird, könne eigentlich gar kein Dank gefordert werden.

Dank gebühre nur der reinen, selbstlosen Liebe.

Wie viele

Wohlthaten aber werden unwillig, oder aus Eitelkeit und Ehrgeiz, oder um Einfluß und Herrschaft zu gewinnen, gewährt! Wer so wohlthätig ist, der hat. wie der Erlöser sich ausdrückt, seinen Lohn dahin.

Dank

zu erfahren und zu genießen, sagt man weiter, sei überhaupt nur der würdig, der nie auf Dank Anspruch macht. Gesagten, wer wollte sie verkennen?

Die Wahrheit in dem

Aber wenn auf der einen Seite

so manchmal in nicht lauterer Gesinnung Gutthat geübt wird, sind da­ durch

die Undankbaren

besser,

*) Jeremias 18, 14—15.

wird dadurch die Undankbarkeit zur

**) Jeremias 2, 32.

221

Tugend? Und ist es denn wahr, daß nur solche, die unlauter in ihrem Thun sind, den Undank erfahren? Seht an das Volksleben. Ist es nicht eine gewöhnliche, eine alte Erfahrung, daß die treusten Freunde und Diener des gemeinen Wesens für alle ihre Treue mit Zurückstoßung bei Fürst und Volk belohnt werden, während Schmeichler und Heuchler jenen immer offenen Zugang an den Höfen und bei der Menge gewin­ nen? Gibt es keine Kinder, welche für alle treue Liebe der Eltern, die sie genossen haben, in späteren Jahren kein Gefühl des Dankes zu bethätigen wissen? Und wie, war nicht die reinste Liebe eö, die aus Christus redete und handelte und wurde ihr nicht der schwärzeste Un­ dank der Welt? Woher die Seltenheit der Dankbarkeit, warum tönt immer wieder die Frage: Wo sind denn die neun? Es hängt, Geliebte, das mit der allgemeinen menschlichen Berderbniß zusammen. Wir sahen vorhin, die Dankbarkeit hat zu ihrem begründenden Wesen den Glauben an die Liebe. Wo Glaube, wo innige Frömmigkeit fehlt, da kann auch Dankbarkeit nicht gedeihen. Die Dankbarkeit besteht darin, daß man die empfangene Liebe gleichsam in die Seele aufnimmt; aber nur das Gleiche wird von dem Gleichen angezogen und begriffen. Wo die Liebe fehlt, da fehlt auch Sinn und Verständniß für die Liebe und ohne Sinn und Verständniß für die Liebe ist Dankbarkeit unmöglich. So weit wird es an der Dankbarkeit gebrechen, als es an Glaube und Liebe fehlt, als ungöttliche Gesinnung und Selbstsucht die Gemüther beherrscht. Wohl ist es wahr, daß Undankbarkeit sei der Gluthwind, der alle Frömmigkeit verzehrt; aber sie ist zugleich schon das Armuthszeugniß, welches der Mensch sich ausstellt, womit er es verbrieft, daß eben von eigentlicher Frömmigkeit bei ihm nichts vorhanden ist. Undankbarkeit ist der Aussatz, als Fäulniß auf der Oberfläche der Haut Zeugniß ablegend, daß die inneren Säfte und Kräfte der Krankheit verfallen sind und zugleich nach Innen hineinwirkend, um auch die letzten Reste der Le­ benskraft zu zerstören. Wie Christus in seiner heiligen Liebe allein von ungöttlichem Sein und Selbstsucht erlöst, so auch allein von der Häßlichkeit des Undankes. Nur in seiner Gemeinschaft, in der Gemein­ schaft seines Geistes, wird der köstliche Schatz und schöne Schmuck ächter Dankbarkeit gewonnen.

222 IV.

Ein köstlicher Schatz ist die Dankbarkeit wie jede Tugend,

jede Pflichterfüllung schon in und für sich selber; aber zugleich entquillt ihr fortwährend reicher Segen.

„Dein Glaube hat dir geholfen,

oder dich gerettet" das ist das verheißende, zusagende, beseligende Wort an den dankbaren Samariter, dessen die neun, die von Dank nichts wissen, verlustig gehen.

Wie denn, waren die neun nicht so gut

geheilt wie dieser und gibt Gott nicht allen Bösen auch ohne ihr Gebet und ihre Danksagung ihr täglich Brod und reichliche Güter des Lebens? — Wohl geholfen war auch den neun Undankbaren, aber was war damit ihnen geworden?

Doch höchstens die Gesundheit, die sie vor ihrem

Aussätzigsein ehemals besessen hatten.

Waren sie sicher, daß später

nicht an die Stelle der wiedererlangten Gesundheit von Neuem der Aussatz trete, ja war es nicht gewiß, daß wenn nicht grade der Aussatz so irgend andere Krankheiten sie ergreifen,

sie auch in des bitteren

Todes Noth hineinziehen würden? Und wenn das nun eintrat, konnten sie wieder zu dem barmherzigen Menschensohn, den sie nach ihrer Ret­ tung so schnöde vergessen, wieder zu dem barmherzigen Gott, dem sie mit so schnöden Undank gelohnt hatten, ihre Zuflucht nehmen? O ihr Gewissen hätte in solchen Stunden nicht anders gekonnt; es hätte ihnen statt des barmherzigen Helfers den strengen Richter zeigen müssen, es hätte ihnen nichts anders als den zermalmenden Spruch der Verdammniß zu künden vermocht?

Ja die Liebe streut Wohlthat und Segen

ans, wo aber Wohlthat und Segen vom Undank empfangen wird, da werden sie durch diesen selbst zu peinvoller Strafe.

Auch der dankbare

Samariter war für sein künftiges Leben allen wechselnden Geschicken, dem Leid und der Last und zuletzt dem Tode ausgesetzt.

Aber als der

Dankbare hatte er noch etwas Anderes als die leibliche Gesundheit empfangen. Die Liebe des Heilandes, die Liebe deS barmherzigen Gottes, die war ihm in die Seele gedrungen, die war sein Erb- und Eigenthum geworden, von der, dafür bürgte ihm die lebendige Dankbarkeit in sei­ ner Brust, konnte ihn keine Macht der Welt mehr scheiden.

Weil er

dankbar emporjubelte, darum in allen Wechselfällen des Lebens ruhte er ein seliges Gotteskind an des Vaters Busen.

Weil er nicht nur

die leibliche Gesundheit nahm, sondern die heilige Gottesliebe, darum

223

ward diese ihm auch die Rettung aus der Krankheit des inneren Men­ schen, gab ihm das selige Bewußtsein, Gott versöhnt zu sein, gab ihm den Drang, die Lust, Gott wohlgefällig sich zu gestalten, die Lust und Kraft, zu hören das Wort: „Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr," „bleibe in mir, in meiner Liebe," auf daß du reichliche Frucht bringst. Das ist der Segen der Dankbarkeit, wie ihn das Lied, das wir fangen, ausdrückt: „Wer ihm nur bankt, wird immer mehr Gaben empfangen, Wachsthum im Glauben, im Hoffen und Lieben erlangen."

Aus Glaube und Liebe wird die Dankbarkeit geboren, aber Dankbarkeit ist-Himmelsthau und segnender Regen, wodurch Glaube und Liebe ge­ nährt immer reicher sich entfalten, wodurch immer fester wird das Herz im Besitz des Friedens und der Seligkeit. Der Herr ist der Heiland dem Samariter geworden, o sei er es doch auch so recht der That und Wahrheit nach für uns! Qeffne er uns immer mehr die Augen, wie unser Leben und Heil allein aus der Liebe entsprießt, öffne er uns das Herz, daß wir bei allem Gut und Segen zugleich die be­ seligende Liebe in uns aufnehmen, öffne er dadurch uns den Mund, daß wir preisen den Herrn und danken den Brüdern und gebe er uns für Zeit und Ewigkeit den reichen Segen, wie ihn in sich beschließt sein Wort: „Dein Glaube hat dir geholfen." Amen.

Die christliche Barmherzigkeit. Text: Lukas 6, 36—42. Darum seid barmherzig, wie auch euer Vater barm­ herzig ist. Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammet nicht, so werdet ihr auch nicht verdammet. Vergebet, so wird euch vergeben. Gebet, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überflüssi­ ges Maaß wird man in euren Schooß geben; denn eben mit dem Maaß, da ihr messet, wird man euch wieder messen. Und er sagte ihnen ein Gleichniß: Mag auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen? Der Jünger ist nicht über seinen Meister; wenn der Jünger ist wie sein Meister, so ist er vollkommen. Was siehst du aber einen Splitter in deines Bruders Auge, und des Balkens in deinem Auge wirst du nicht gewahr? Oder wie kannst du sagen zu dei­ nem Bruder: Halt stille, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, ziehe zuvor den Balken aus deinem Auge und besiehe dann, daß du den Splitter ans deines Bruders Auge ziehest. Lieder: Nr. 27. 669.



225



§ür die Betrachtung unseres verlesenen Textes, theure Freunde, kommt eS darauf an, daß wir die einzelnen Ermahnungen, welche der Heiland hier

gibt,

unter einem

Hauptgesichtspunkt zusammenfassen.

Welcher das aber seht könne, danach dürfen wir nicht lange fragen. Er ist uns im ersten Wort gegeben: „Seid barmherzig."

So soll denn

die christliche Barmherzigkeit im Anschluß an unseren Text unser Nachdenken beschäftigen. Zuerst sehen wir, wie sie in ihrem Wesen sich bethätigt, sodann, welcher Lohn sich mit ihr verknüpft, weiter, aus welcher Grundquelle sie entspringt, und endlich, welch Hinderniß derselben wir beständig zu bekämpfen und zu überwinden haben. I.

„Seid barmherzig" Was will das sagen?

Worin besteht

das Wesen der christlichen Barmherzigkeit? Nun aus dem vollen, frischen Leben schöpfen wir die Erklärung.

Jener Samariter wird von dem

Herrn wegen der Barmherzigkeit uns als Vorbild aufgestellt.

Das ist

aber doch seine Barmherzigkeit, daß, wie er den elenden, todtkranken Mitmenschen liegen sieht, ihm der Jammer desselben, als wär's der eigene durch die Seele geht, daß er mitfühlt, mitleidet und aus tiefem Mitleid heraus sich des Elenden annimmt, seine Wunden reinigt, ver­ bindet, ihn in die schützende, rettende Herberge führt und für seine künftige Pflege und Herstellung auf's Treuste sorgt. auf den Erlöser selbst blicken, den keit übertrifft.

Oder laßt uns

gewiß niemand an Barmherzig­

Wie Aussätzige, Blinde und Lahme um ihn sich sam­

melten, „fürwahr er trug ihre Krankheiten" in mitfühlender Seele, wie die hungernden Schaaren in der Wüste in Gefahr sind auf dem Rückwege zu verschmachten, er spricht aus tiefster Brust heraus: „Mich jammert des Volkes," wie er am Grabe des Lazarus den tiefen Schmerz der Schwestern erkennt, er ergrimmet, er wird auf's Tiefste erschüttert im Geist und die Augen gehen ihm über in schmerzlichen Thränen, wie er vor Jerusalem sitzt, die nicht bedenkt, was zu ihrem Frieden dient, die ihr Heil von sich stößt und sich in unsägliches Elend hineinstürzt, er weinet bitterlich.

Wie ihn aber die Schmerzen und Nöthe der Men­

schen auf's Tiefste bewegen; so gibt er hier wieder das Gesicht und Gehör und die Gesundheit, so reicht er dort das nährende Brod, so Thoma-, Predigten.

j[5

226 rettet er hier ans

des Todes Gewalt,

so trägt er dort Worte des

ewigen Lebens in den Tempel, in die Mitte des Volkes hinein, um, wenn es auch sein Leben kostet, doch wo möglich einige dem gräßlichen Verderben zu entreißen.

Das ist der Barmherzige und danach ist die

Barmherzigkeit nichts Anderes als die tiefinnige Liebe, welche der Brü­ der und Schwestern Leid sich selbst wie eigenes Weh annimmt, eö mit­ fühlend trägt, und, wenn irgend möglich, lindernd, tröstend, heilend, rettend Hülfe gewährt. Wohin aber hat sie sich besonders nach des Herrn Anweisung zu richten? Im Einzelnen läßt sich das nicht sagen und dem barmherzigen Herzen wird in den besonderen Fällen es von selbst klar sein, ans wen es, als auf den Nächsten, zu blicken hat.

Dennoch einige allgemeine

Gesichtspunkte! Der Herr sagt zuerst: „Richtet nicht, verdammet nicht."

Wir denken bei der Barmherzigkeit gewöhnlich

zunächst an

das irdische, leibliche Elend, der Erlöser weist als auf das größere, viel mehr auf geistiges Elend und geistiges Verderbniß hin.

Richten,

verdammen, das kann sich ja nur gegen die kehren, die vorzugsweise und wohl in die Augen fallend Sünder sind, auf Verirrte, Gefallne. Wie aus tiefster Weisheit heraus spricht auch hier der Herr!

Könnte

aus natürlicher Gutmüthigkeit heraus heut alles irdische Elend abgestellt werden, so daß aber die Sünde bliebe, morgen schon wäre aus dieser nicht verstopften Quelle die Menschheit in gleichem Maaße mit Unglück und Weh überfluthet wie bisher.

Könnte man alles leibliche Leid stil­

len und alles irdische Glück herbeirufen, würde aber nicht Herr und Ueberwinder der Sünde, „was hülfe es den Menschen, so sie die ganze Welt gewönnen und nähmen doch Schaden an ihren Seelen/ oder was könnten sie geben, damit sie ihre Seelen wieder lösten"? Die rechte Barmherzigkeit sieht darum mit klarem, scharfem Auge die Sünde an als das eigentliche Verderben der Leute, die Gottlosigkeit als ihr eigent­ liches Elend.

Und nun:

„Richtet nicht," das kann nicht heißen:

Erkennet das Böse nicht als böse und nennt die Sünde nicht Sünde, kann nicht heißen: Verschleiert irgendwie das Unrecht und das gottlose Wesen.

Keiner hat kühner, vollständiger, schlagender allenthalben die

Sünde aufgedeckt, dem gottlosen Wesen die gleißnerischen Hüllen ab-

227

gerissen als der Erlöser und doch ist er der Barmherzigste gewesen und doch sagt er: Ich bin nicht gekommen, um zu richten. Richten steht hier in dem eigentlichsten Sinn von der Thätigkeit des Richtens. Dieser aber erforscht die Sünden, wägt und mißt sie ab am Gesetz rein und allein, um das Maaß ihrer Verdammungswürdigkeit zu be­ stimmen, um den Sünder der verdienten Strafe zu übergeben. Seine Thätigkeit des Richtens ist die des AnSsonderns, des wenigstens theilweise Verstoßens der Sünder, sein Richten, auf der Spitze angelangt/ ist das Verdammen. So nicht du als Christ, daß du zu Gericht sitzen dürftest und von dir stoßen die Sünder; sondern wie der Herr, daß sie dir erscheinen gleich wie der unter die Mörder Gefallne, blutend und schwere Wunden an ihrem inwendigen Menschen, daß sie dir nicht Gegenstände stolzer Verachtung, sondern bejammernden Mitleides wer­ den, daß du aus ihrer Sünde grade heraus vernimmst den Ruf: „Ach hilf uns," daß du ihnen im Ernst des Evangelii seinen Trost, im Trost seinen heiligen Ernst reichest, daß du ihnen, wo's möglich wird, zurecht helfest mit sanftmüthigem Geist. „Vergebet," spricht der Herr, und lenket damit uns nicht allein auf Sünder, sondern auch auf solche, die sich an uns versündigen, auf unsere Beleidiger und Feinde. „Auge um Auge, Zahn um Zahn!" ist das Gesetz des Alterthums, ist noch heute das Gesetz des alten, natürlichen Menschen. Jede unS wiederfahrene Verletzung schafft uns einen Feind und erweckt unserem Herzen die Gefühle und den Wunsch der Rache. „Seid barmherzig," ruft der Herr. Ach sehet nicht in dem Beleidiger euren Feind und Widersacher; sondern den Unglück­ lichen, der in den Banden des Hasses oder ähnlicher unwürdiger Leiden­ schaften gefesselt liegt, der, weil er den Bruder hasset, noch im Tode ist. Laß dich jammern seines Zustandes, daß du durch Wohlthun feu­ rige Kohlen auf seinem Haupte sammelnd ihn lösest von dem Verderben. Endlich auch „Gebet." — Nun da sind die Nackenden, die Hun­ gernden, die Durstenden, alle die im irdischen Elend Befangenen. — Ja „wer dieser Welt Güter hat und siehet seinen Bruder darben und schließt sein Herz vor ihm zu, wie bleibet die Liebe Gottes bei ihm?"*) *) 1. Johannes 3, 17.

228 Wer an betn Elend des Mitmenschen wie Priester und Levit fühllos vorüberzieht, wie hat er eine Ahnung von dem, was Barmherzigkeit heißt? „Brich dem Hungrigen dein Brod," wie der Heiland in der Wüste, trage Trost und Erquickung an'S Bette der Kranken, wie er, kleide die Nackenden; so wirst du fein Jünger — so das Kind seines himmlischen Vaters.

Wohl ist diese Barmherzigkeit in den Beweisen

der Wohlthätigkeit köstlich! Aber noch einmal! laßt uns es nicht vergessen, der Herr nennt dies doch nur als das Letzte, und nur als das Vierte. Eine Barmherzigkeit, welche nur darauf sich beschränkte, nur dahin sich richtete, sie wäre keine christliche, sie, das sagen uns viele sinnlose All­ mosen so mancher Reichbegüterten, würde viel öfter mit Fluch als mit Segen verknüpft sein,

viel häufiger die Schleusen des Elends noch

weiter aufreißen, als sie schließen.

Daß dem inneren Menschen auf­

geholfen werde, darauf kommt es an.

Dabei noch Eins:

der Herr

war zu dem heiligen Werk sich selbst genug. Der einzelne Jünger deS Herrn ist es niemals, der bedarf der Gemeinschaft seiner Brüder und Schwestern, soll irgend wie sein Werk gelingen.

Da sind ja erfreuliche

Erscheinungen unserer Zeit so manche christliche Vereine, die es rein und allein mit der christlichen Barmherzigkeit zu thun haben.

Hier

der Verein in der Gemeine, welcher den leiblich und geistig Armen Hülfe zu bringen strebt, dort ein anderer, welcher sich der verwahrlosten Jugend annimmt, hier der Gustav-Adolph-Verein,. welcher den armen evangelischen Brüdern in der Zersprengung Kirchen

und Schulen ge­

währt und damit den Hungernden und Schmachtenden das Brod des ewigen Lebens, dort der Missionsverein, welcher den Völkern, die in der Finsterniß und den Schatten des Todes sitzen, hinausträgt das Licht der Welt im Evangelio Jesu Christi. Aber daö ist das Traurige, bei diesen schönen Erscheinungen, daß viele, viele so fern stehen, so gleichgültig und theilnahmlos bleiben.

Oder sind nicht viele liebe Mit­

glieder unserer theuren Nikolaigemeine in voller Unwissenheit über un­ seren Parochialverein, der die Wunden der Armen zu verbinden und zu heilen strebt,

und wollen eben in Unwissenheit darüber bleiben?

Berlin mit seinen 700,000 Einwohnern zählt nur ungefähr elfhundert Mitglieder des evangelischen Gnstav-Adolphs-Vereins.

Wie wenige sind

229 eS danach, denen die Noth der evangelischen Brüder zu Herzen geht! Wahrlich, da rufen wir dringend, bittend, mahnend das Wort eures Heilandes Euch in die Seele: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. II.

Wenn der Herr so von uns fordert, wie verheißt er zugleich

einen köstlichen Lohn!

Die Barmherzigen sollen nicht gerichtet, nicht

verdammet werden, ihnen soll Vergebung widerfahren, ihnen gegeben werden und zwar im vollen, gedrückten, gerüttelten und geschüttelten Maaß.

Der Herr faßt das an anderer Stelle zusammen in das be­

kannte Wort*): „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barm­ herzigkeit erlangen".

Wir dürfen das wohl auch auf die Erfahrungen

in diesem Leben, in der Menschenwelt, anwenden.

Die Gottseligkeit

hat nach allen Seiten auch die Verheißung dieses Lebens und die Sanftmüthigen besitzen auch im wirklichen Sinne das Erdreich.

Wer

mit Liebe in die Welt hineintritt, dem begegnet Liebe, wer versöhnlich Schulden zudeckt, dessen Verstöße

werden auch gern vergeben,

wer

fleißig ist, treue hülfreiche Hände den Nothleidenden zu reichen, dem werden auch in seiner Noth Tröster und Helfer zur Seite treten. Es stehet die Welt unter der Regierung der göttlichen Liebe, und sie will und muß sich so auch an ihren ächten Kindern offenbaren.

Aber wir

wollen es uns nicht verleugnen, daß, während die Menschheit so von der Liebe durchstrahlt und regiert wird, sie auf der anderen Seite die Selbstsucht in sich trägt, aus welcher beständig ein verfinsterndes Dun­ kel sich erhebt.

Daher denn auch Erscheinungen, daß, waö an dem

Erlöser unbegreiflicher Weise geschah, daß sich auch das Jüngern wiederholt.

an seinen

Auch sie können für die Saat der Liebe, die sie

ausstreuen, den Undank erndten, sie, die Barmherzigen, können Gegen­ stand eines blinden Hasses werden,

sie können durch böse Gerüchte

gehen müssen, so daß man sie bitter und verlänmderisch richtet und verdammet, auch sie können es erfahren, sich in ihrer Noth und Ver­ legenheit von allen verlassen zu sehen.

Dennoch des Herrn Verheißung

steht fest, Gott der Barmherzige ist den Barmherzigen ihr Schild und

*) Matthäus 5, 7.

230 sehr großer Lohn! Das ist unser zuversichtlicher, gewisser Glaube, daß, wo Menschen den Jüngern Jesu die Liebe versagen, Gott um so reicher die seine in ihre Herzen und in ihr Leben hineinströmen läßt, daß, wenn die Barmherzigen hier Undank, Haß oder Uebelthat erndten, die Gnade des Höchsten solches auf's Reichlichste ausgleicht, daß grade für sie so recht eigentlich das Wort des Paulus gilt *): „Ich halte es da­ für, daß die Leiden dieser Zeit nicht werth sind der Herrlichkeit, die an unS soll offenbart werden."

Ja, was sehen wir doch hinaus erst

in die Zukunft, um da den Lohn der Barmherzigkeit zu erwarten oder was wendet sich unser Auge auf'S Aeußere? Trägt die Barmherzigkeit nicht beständig den schönsten Lohn schon im Innern des Geistes mit sich herum? Nehmen?"

Lautet es nicht so treffend**):

„Geben ist seliger denn

Seligkeit ist es, geben zu können, nicht nur, weil man

äußerlich das Vermögen, sondern weil man im Gemüth dazu den un­ widerstehlichen Trieb empfindet. Wo die Selbstsucht herrscht und enger und enger das Herz macht, da weicht und muß nach und nach weichen alle wahre Freude und aller wirkliche Friede, da erzeugt sich tiefste Verstimmung, neben dem Haß Mißmuth und unseliges Wesen.

Eben

so aber ist es die Liebe, welche Trost und Frieden in's Gemüth flößt, durch welche man Freudigkeit gewinnt selbst auf den Tag des Gerichtes, in

welcher man eben göttlicher Seligkeit theilhaftig wird.

Ja selig

schon hier, denen es gegeben ist, daß sie als die Barmherzigen sich der Unglücklichen annehmen,

den Beleidigern vergeben und die Wunden

der Brüder und Schwestern heilen und verbinden.

Das volle, ge­

drückte, gerüttelte Maaß seines Friedens, der alle Gaben und alles Denken übersteigt, schüttet Gott unaufhörlich in ihren Busen. HI.

Wir gehen weiter zu der Grundquelle, welcher die christliche

Barmherzigkeit entspringt. Vater barmherzig ist.

Seid barmherzig,

wie

auch

euer

Damit erscheint uns Gottes Barmherzigkeit

als Vorbild aufgestellt zu sein und in dieser Vor- und Urbildlichkeit zugleich dasjenige hervorgehoben, was in uns die christliche Barmherzig­ keit befördert.

Wir erkennen es dankbar an, daß Jesus, wie er als

*) Römer 8,18.

**) Apostelgeschichte 20, 35.

231

rechter Menschensohn eben auch als Gottessohn,ist, sich auch zugleich als der vollkommene Offenbarer Gottes kennt, so daß er spricht*): „Wer mich siehet, der siehet den Vater." So ist uns das Wesen der Gottheit bis dahin menschlich geworden, daß es uns ein reizendes, mahnendks, spornendes Vorbild sein kann. Demgemäß spricht der Er­ löser**): „Ihr sollt vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist," und wenn er zur Feindesliebe ermahnt, hält er gleich­ falls das Vorbild des Vaters uns vor, wie derselbe auch über die Bösen Regen und Sonnenschein sendet. Demgemäß ermahnt Paulus***): „So seid nun Gottes Nachfolger als die lieben Kinder." Gewiß steht es auf dem sittlichen Gebiet auch fest, daß im Vorbild eine sittlich er­ hebende, stärkende Kraft liegt und wohl um so mehr, wenn das höchste Wesen selbst sich uns als solches aufstellt. Aber ruht im Vorbilde auch eine erhebende und stärkende, so doch keine Leben erzeugende und Leben vollendende Kraft. Ja deshalb ist in Gott dies vorbildliche wirksamer, weil, in dem, daß er sich uns als Vorbild aufstellt, schon etwas Anderes, darüber Hinausgreifendes liegt, nämlich die Herab­ lassung, die Hingebung, die Beweisung und Bewährung der Liebe. Und darauf will der Erlöser zugleich und hauptsächlich verweisen, wenn dr spricht: Wie auch euer Vater barmherzig ist. Er redet zu dem Kreise der Jünger, denen durch ihn ein neues Licht, eine neue Wahrheit aufgegangen war, die in ihm den Heiland, die Erfüllung gnädiger Gotteszusagen, erkannt hatten, die da wußten, er sei der Ge­ salbte Gottes, gesandt, sein Volk zu erlösen und zu erretten, die da wußten, er sei besonders ihr Heiland geworden und sie durch ihn der Gotteskindschaft, des Gotteserbes gewiß. „Mir ist Barmherzigkeit widerfahren!" Das konnte jeder von ihnen bezeugen. Es gibt eine ewige, sich aus sich selbst immer neu erzeugende, sich unaufhörlich ver­ jüngende Urliebe und Urbarmherzigkeit; das ist die Liebe, die Barm­ herzigkeit Gottes, des allein schaffenden Gottes. Es kann eine Liebe, eine Barmherzigkeit wohl in seinen vernünftigen Geschöpfen geben; denn sie stammen von ihm und sind durch ihn; aber nicht so, daß sie sich *) Johannes 14, 9. ***) Ephesier 5, 1.

**) Matth. 5, 48.

232

dieselbe selbst verdanken, sie aus sich selbst stets neu erzeugen, sie in sich schaffen. Nur so können sie barmherzig sein und Liebe üben, wenn sie von ihm Barmherzigkeit nehmen, wenn sie auS ihm, dem ewigen Urborn, die ewige Liebe schöpfen. Wer von Gott sich sondert, der sondert sich von der Liebe und was bei ihm zur Zeit noch als Liebe erscheint, es kann eben nur Schein der Liebe sein, es wird unter den rauhen Stürmen oder in der Hitze der Zeit zusammenbrechen und verwelken. „Wir haben erkannt und geglaubt, die Liebe, die Gott zu uns hat," bezeugt Johannes*); und deshalb kann derselbe sprechen**): „Wir wissen, daß wir aus dem Tode in das Leben gekommen sind, denn wir lieben die Brüder." Darin ruht die geheimnißvolle Offenbarung, das offenbare Geheimniß von der Gerechtigkeit allein aus dem Glauben. Glaubst du, daß Gott dir barmherzig ist, nimmst du von ihm Gnade um Gnade, lebst dn geistig und leiblich gleichsam ans der Tiefe seiner Liebe, läßst du dich durch ihn freimachen von Gericht und Verdammniß, holst du bei ihm dir Vergebung und Versöhnung, nimmst du Alles in deinem Leben als gute und vollkommene Gottesgabe; dann hörst du nicht nur, du befolgst auch seinen Liebesruf: „So gehe hin und thue desgleichen." Nur wer an dem Herzen Gottes in Christo ruht, nur der lernt sanft und milde auch gegen Sünder werden und lernt sich des Richtens und des Verdammend entschlagen, nur der wird stark, auch bittere Kränkung zu vergeben und der Feinde Uebelthat mit Wohl­ that zu vergelten, nur der wird immer mehr willig und freudig, zu geben den Bedürftigen. Ist aber in der Seele weder ein Bedürfniß, noch ein Bewußtsein von dem Erbarmen Gottes, dann wird sie selbst öde sein an Barmherzigkeit und liebeleer. Kurz der Glaube an die Barmherzigkeit Gottes, die Erfahrung von seiner rettenden Liebe ist die alleinige erzeugende Quelle, aus welcher für uns die Tugend der Barm­ herzigkeit entspringt. O so laßt uns immer wieder zu ihm treten, immer wieder seine Liebe suchen; damit unser auch sei und bleibe sein Wort: „Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen." IV. Aber da gilt es, ein Hinderniß, wie es uns täglich sich neu in den Weg legt, täglich von Neuem zu überwinden. „Mag auch

233

ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht beide in die Grube fallen?" DaS ist von der herrschenden Partei Israels geredet, welche damals die Führerschaft des Volkes be­ anspruchte. Sie, die Pharisäer sind blind, sie verblenden das Volk. Den Weg der Barmherzigkeit, auf dem Barmherzigkeit gewonnen wird, kennen sie nicht und gehen ihn natürlich nicht. Auf dem Wege der Unbarmherzigkeit gehen sie selbst und leiten sich und das Volk, das ihnen folgt, in die Grube, in das verurtheilende, heilige Gottesgericht, wie es der Herr in dem bekannten Gleichniß vom Schalksknecht ab­ malt. Diese Blindheit und Verblendung ist aber nicht nur die phari­ säische, sondern die des natürlichen Menschen überhaupt, zu der unser Herz immer wieder hinneigt. Der Erlöser zeichnet sie mit den Worten: „Was siehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge und des Balkens in deinem Auge wirst du nicht gewahr?" Daß mit dem Splitter verhältnißmäßig geringe, mit dem Balken verhältnißmäßig große Sünde gemeint ist, sieht sogleich jeder ein. Aber, daß jeder sich diese Worte anzueignen hat, daß will uns zweifelhaft bedünken, daß also jeder des Bruders Sünde als gering und die eigene als groß anzuerkennen hat, scheint uns be­ denklich und mit der Wahrheit und Wirklichkeit nicht vereinbar. Und doch, des Herrn Forderung hat die tiefste Wahrheit und Berechtigung und ihr entsprechend bekennt der Apostel Paulus von sich, daß er der vornehmste unter den Sündern fei*). Nicht als ob er alle anderen an Sünde übertroffen hätte; aber als wahrheitsliebender Mann konnte er sich selbst nicht in anderem Lichte sehen. Die Sünden zu erkennen an uns und anderen, ist uns gegeben; aber beides in verschiedenem Maaßstabe. Am Nebenmenschen sehen wir Worte und Werke, welche dem Willen des Höchsten widersprechen; aber in die Quelle der sündigen Worte und Werke völlig klar hineinzuschauen, den inneren Menschen ganz zu durchschauen, das ist uns nicht gegeben, und wo wir es ver­ suchen, täuschen wir uns nur zu oft und richten ein ungerechtes Gericht. An uns selbst können wir allerdings prüfen Wort und Werk, ob es *) 1. Timotheus 1, 15.

234

dem Gesetz Gottes entspricht. Aber wir sonnen, wenn wir die Wahr­ heit lieben und suchen, auch mehr, können unser eigenes Herz, unserer Seele Beschaffenheit ergründen, können uns unser ganzes ungöttliches Wesen, die ganze Macht der Selbstsucht, den Menschen der. Sünde, aufdecken. Was sind aber die einzelnen Vergehen in Wort und Werk für uns, wenn wir des Herzens Grund dabei nicht ergründen? Eben nur Splitter der Sünde, bei denen wir nicht wissen, wie viel oder wie wenig sie durch dies und jenes Entschuldigung finden, bei denen darum uns immer wieder zugerufen wird: Richtet nicht, verdam­ met nicht! Erkennen wir aber in unserem Inneren jene Neigung, jenen Zug der Seele, Gott und seiner Liebe zu vergessen, ihm nicht durch That und Leben zu danken, erkennen wir in uns die zähe, ge­ waltige Macht der Selbstsucht; haben wir dann nicht vor uns den ungeheuren Balken der Sünde? Darum, wer du auch bist, ist dein Auge aufrichtig und wahr, in deiner Brüder Augen wird es Splitter, in deinen eigenen Augen den Balken des Argen erkennen, mit Paulus wirst auch du bekennen: Ich bin der Vornehmste unter den Sündern. Und das ist Gottes heiliger, gnädiger Wille, daö die weise Ordnung seiner Liebe. Sehen sollen wir im Nebenmenschen die Sünden als Splitter, um milde und sanft mit ihnen zu verkehren, sehen in uns die Sünde als Balken, um in ernster innerer Arbeit unsere Heiligung zu schaffen. Dieser heiligen Ordnung göttlicher Gnade widerstrebt der Zug des natürlichen Herzens. Eben so stark ist die Neigung, allenthalben die Fehler der Brüder, die Splitter in ihren Augen zu sehen und über dieselben zu Gericht zu sitzen, wie umgekehrt das Bestreben, sich die Beschaffenheit des eigenen Herzens, die Selbstsucht zu verhüllen, den Balken im eigenen Auge nicht wahr zu nehmen. So lange man dieser Neigung des natürlichen Herzens folgt, sich über die eigene Verderbniß, die eigene Selbstsucht verblendet, will und kann man nicht das Evan­ gelium von der erlösenden Gnade hören. Man fühlt kein Bedürfniß der göttlichen Barmherzigkeit, darum bleibt das Wort von derselben eine Thorheit oder ein Aergerniß. Und wie man nicht glaubt an Er­ barmen, so bleibt man unfähig, es je zu üben. Da gilt es, du Heuch­ ler, ziehe zuerst den Balken ans deinem Auge, erkenne im

235 Lichte der göttlichen Wahrheit deine rechte Gestalt, dein eigentliches Bedürfniß, überwinde diese natürliche Verblendung! Wer es in ernster Selbstprüfung erfährt,

wie ungöttlich

alles selbstische

Sinnen und

Streben in der eigenen Brust ist, welch Verderben darin ruht, welchen Balken er im Auge trägt;

der wird mit Freuden vom Erbarmen hö­

ren, von der Gnade, die ihn züchtigt, zu verleugnen das ungöttliche Wesen und die weltlichen Lüste und züchtig, gerecht und gottselig zu leben in dieser Welt, dem wird damit in ihm selber daö Hinderniß weggeräumt, an anderen Erbarmen zu üben.

Daraus kommt es an,

daß in der Demuth heiliger Selbstprüfung und ernsten Selbstgerichtes der Hochmuth

mit seiner Selbstverblendung und

täglich überwunden wird.

Selbstvergötterung

Alle Tugenden sind eine oder jede Tugend

ist in jeder, keine kann ohne die andere bestehen.

So ist der mensch­

lichen Barmherzigkeit Pflegerin und Stärke die Erkenntniß der eigenen Schwäche, die heilige Demuth.

Priester und Levit in ihrem geistlichen

Stolz sind nach des Erlösers bildlicher Darstellung der hart betretene Weg.

Das Wort von Gottes Erbarmen

gewinnen.

vermag nicht Eingang zu

Sie sind der hartbetretene Weg, daß kein Pflänzlein mensch­

licher erbarmender Liebe bei ihnen zu keimen und aufzugehen vermag. Der verachtete Samariter war für die Stimme der Wahrheit und hei­ ligen Liebe Gottes

gewiß

wie seine Volksgenossen

gewesen und hatte in Demuth

zu Sichen

offen

seine Fehler erkannt und Trost der

Gnade gesucht. Bei ihm ist durch die Demuth des Herzens der natür­ liche Stolz gebrochen und damit die Härte des Herzens erweicht.

Er­

barmend nimmt er sich des Elenden an und durch alle Jahrtausende tönt für die ganze Menschheit das Wort: Gehet hin und thuet desglei­ chen.

Lasset uns Gott bitten um Klarheit und Wahrheit des Geistes,

daß alle Verblendung des Hochmuthes und der Eitelkeit bei uns über­ wunden werde, damit so mit allen Tugenden schöner Arten auch die Barmherzigkeit fröhlich bei uns gedeihen könne.

So gebe Gott uns

Gnade, daß an uns sich des Erlösers Wort erfülle: Barmherzigen, beim sie werden Barmherzigkeit erlangen.

Selig sind die Amen,

Die vergebende Liebe in der christlichen Gemeine. Text:

Matthäus 18, 23 - 35.

Darum ist das Himmelreich gleich einem Könige, der mit seinen Knechten rechnen wollte.

Und als er anfing

zu rechnen, kam ihm einer vor, der war ihm zehn tausend Pfund schuldig. hieß der Herr

Da er es nun nicht hatte zu bezahlen, verkaufen

ihn und sein Weib und

Kinder und alles, was er hatte, und bezahlen.

seine

Da fiel

der Knecht nieder und betete ihn an und sprach:

Herr,

habe Geduld mit mir, ich will dir alles bezahlen,

Da

jammerte den Herrn desselbigen Knechts und ließ ihn los, und die Schuld erließ er ihm auch.

Da ging

derselbe

Knecht hinaus und fand einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Groschen schuldig, und er griff ihn an und würgte ihn und sprach: Bezahle mir, was du mir schuldig bist.

Da

fiel sein Mitknecht nieder und bat

ihn

und

sprach: Habe Geduld mit mir, ich will dir alles bezahlen. Er wollte aber nicht, sondern ging hin und warf ihn in das Gefängniß, bis daß er bezahlte, was er schuldig war. Da aber seine Mitknechte solches sahen, wurden sie sehr betrübt und kamen und brachten vor ihren Herrn, alles

Lieder: Nr. 40. 673. 669, 5.

237 Was sich begeben hatte. sich

und

sprach

zu

Da forderte ihn sein Herr vor

ihm:

Du Schalksknecht,

alle diese

Schuld habe ich dir erlassen, dieweil du mich batest; solltest du

denn dich

nicht auch erbarmen über deinen Mitknecht,

wie ich mich über dich

erbarmt habe?

Und sein Herr

toqtb zornig und überantwortete ihn den Peinigern, bis daß er bezahlte alles, was er ihm schuldig war.

Also wird

euch mein himmlischer Vater auch thun, so ihr nicht ver­ gebet von euren Herzen, ein Jeglicher seinem Bruder seine Fehler. !lDie Gemeine Christi, Geliebte im Herrn, sofern dieselbe an ihm, ihrem Haupte, hängt und von seinem Geiste beseelt ist, kann nur Gott wohlgefällig, ja göttlich, so nach außen hin, wie in ihre eigene Mitte hinein, handeln und demgemäß können die einzelnen Glieder derselben auf einander nur heilsam einwirken.

Sofern dieselben in und aus

Jesu leben, kann einer dem anderen nur Wohl- und Segensthat stiften, sie können sich verpflichten. Christi:

gegenseitig einander nur zu immer innigerem Danke

Aber es gilt doch in dieser Welt, von der

Gemeine

„Sie hat es noch nicht ergriffen," nämlich das volle, ganze

Leben ihres Hauptes.

Deshalb ist in ihr neben dem Weizen

noch

das Unkraut gesät, ist in ihr neben der Liebe Christi noch die Macht der Selbstsucht wirksam.

Was aber von der Gemeine, das gilt auch

von ihren einzelnen Gliedern.

Deshalb wie Christi Gemeine noch nicht

vollkommen ist, so sind es auch die einzelnen Glieder noch nicht und so geschieht es, daß von Christen auf Christen auch hemmend, störend, schädlich eingewirkt wird, daß Christen an Christen sich versündigen. Wie nun Jesu Jünger sich verhalten sollen, wenn ein Bruder, eine Schwester sich an ihnen versündigt, darüber hatte der Heiland ihnen Vorschriften gegeben und zwar dahin, daß man den sündigen Bruder strafen solle, zuerst allein, unter vier Augen, dann mit einigen Zeugen, endlich durch die Gemeinschaft.

Also dem Fehlenden seine Fehler auf­

decken und zu Gemüthe führen ist damit ausgesprochene Christenpflicht.

238 „Halte ihn für einen Heiden und Zöllner," hatte des Erlösers schließliche Forderung in Betreff dessen gelautet, der durch keine Er­ mahnung sich zur Besserung bewegen läßt. Wort und ist es doch nicht.

Das klingt wie ein hartes

Bedenken wir nur, wie der Herr selbst

mit Heiden und Zöllnern, oder mit Ungläubigen verfuhr.

Allerdings

konnte er sie, so lange sie in ihrer Sünde blieben, nicht in seine Ge­ meinschaft aufnehmen, ihnen nicht den Trost der Vergebung schenken, ihnen nicht den Platz an seinem Busen gewähren.

Aber sie hörten

nicht ans, Gegenstände seiner Liebe, seines Harrens, seines Mahnens, seines Sehnens zu sein.

Im Gebet befiehlt er sie zuletzt dem Vater,

daß er ihnen vergebe, d. h. daß der Vater durch seine Führung und Regierung ihre harten Herzen erweiche und sie so für die Vergebung empfänglich mache.

Sündigende Brüder, die in ihrer Sünde verhärtet

bleiben, wir können und dürfen ihnen nicht die Gemeinschaft unseres Vertrauens und des brüderlichen Mit- und Ineinanderlebens gewähren. Dadurch würden wir sie nur in ihren sündigen Trieben pflegen und stärken.

Aber die Liebe, die da wartet, die, wenn Gelegenheit sich bie­

tet, immer wieder einmal auf sie einzuwirken sucht, die für sie betet, bleiben wir ihnen schuldig, grade wie wir dieselbe auch dem Heiden und Zöllner schulden.

„Höret dich dein Bruder," (nimmt er eS zu

Herzen, schlägt er in sich;) „dann hast du ihn gewonnen". Mit die­ sem Wort sagt der Erlöser, daß unser ganzes Streben in Beziehung auf diejenigen, die sich an uns versündigen, nur darauf gerichtet sein müsse, sie wieder zu gewinnen.

Wohlan, damit ist zugleich die Liebe,

welche wir näher als Versöhnlichkeit bezeichnen, gefordert, eine Liebe, deren Lust es ist zu vergeben und deren Freude, die Getrennten sich wieder zu verbinden.

In Beziehung auf solche versöhnliche, vergebende

Liebe aber schien es wohl dem Petrus, daß dieselbe doch wie jedes Ding ihre Grenze und ihr Maaß haben müsse.

Wie oft, fragte er in

diesem Sinne, muß ich meinem Bruder vergeben? Ist's genug sieben­ mal? Da antwortete der Erlöser:

Nicht siebenmal, sondern siebenmal

siebzigmal, d. h. so oft dein Bruder auch fehlt, aber deine Vergebung wieder nachsucht, so oft sollst du in nie endender Liebe bereit sein, sie zu gewähren.

Diese stets versöhnliche Liebe legt der Herr dann

239 weiter durch das verlesene Gleichniß allen den Seinen an das Herz. Beherzigen denn auch wir, was der Herr uns sagt, indem wir die Hauptpunkte seines Gleichnisses in's Auge fassen, und zwar 1) unser Verhältniß z u Gott, 2) Gottes Verhältniß zu uns, 3) das Verhältniß unseres Beleidigers zu uns, endlich 4) das Ver­ hältniß zwischen dem Unversöhnlichen und dem Gott der Versöhnung. I. Zur Milde, zur Versöhnlichkeit, zur vergebenden Liebe gegen die, die sich an uns versündigten, aber unsere Liebe wieder suchen, mahnt der Herr und lehrt uns in seiner Mahnung zuerst gedenken unseres Verhältnisses zu Gott. Gott, denn er ist, wie jeder gleich fühlt, mit dem Könige gemeint, hält Rechnung mit den Menschen, ja Gott fordert mittelst seines Wortes und unseres Gewissens stets Rechen­ schaft von uns. Der Knecht nun, Geliebte, mit der großen Schuld ist jeder von uns. Zehntausend Pfund, ob es fünfzehn, dreizehn oder drei Millionen Thaler sind, worüber die Ausleger sich streiten, bleibt sich gleich, genug unsere Schuld Gott gegenüber wird damit dargestellt als eine ungeheuer große, von uns nicht zu tilgende, nicht gut zu machende. M. G., es wird von der Sünde der Menschen wohl so gelehrt, als sei der Mensch ihr so verfallen, daß er zu allem Guten sich grade so verhalte, wie der Klotz und Stein, völlig todt in Beziehung auf das sittlich Gute. Das ist eine krankhafte Ueberspannung evangelischer Lehre. Vielmehr ist das Bild Gottes auch in den sündigen Menschen vorhanden, aber befleckt. In allen Gefallnen sind Regungen des Gu­ ten und Göttlichen, freilich von dem selbstischen Wesen durchzogen und darum gelähmt und gefesselt. Es wird manchmal das Evangelium so gepredigt, daß nur immer polternd, scheltend, verdammend der großen Sünden gedacht, daß nichts als Strafe und immer wieder Strafe an­ gedroht wird. Das ist unevangelische Predigt des Evangelii, weil da die Leutseligkeit und Freudseligkeit unseres Heilandes verhüllt und ver­ deckt wird. Es kann damit nur die Furcht in den Gemüthern erweckt werden; aber die Furcht, sagt der Apostel*), hat Pein und wer sich *) 1. Johannes 4, 18.

240 fürchtet, der ist nicht völlig in der Liebe.

Christen bestimmten Sinnes

bleiben mit ihrem Bekennen und Glauben immer bei ihrer fluchwürdigen Verderbniß stehen, geweiden wühlen.

möchten gleichsam stets nur in den eigenen Ein­ Nur wer so stets sieb mit dem Gefühl seiner grund­

losen Verderbniß beständig zermartert, nur dem wollen sie den Glauben zugestehen.

Das ist eine ungläubige Weise des Glaubens.

Man kommt

dabei nicht zu der Freude am und im.Herrn, nicht zu dem kräftigen, muthigen Ergreifen der rettenden Gnade, nicht zu dem Aufnehmen der beseligenden und erlösenden GotteSkräfte in die Brust. — Aber bei dem Allen bleibt es doch wahr, daß menschliche Sünde und göttliche Gnade die Angelpunkte evangelischer Verkündigung bilden, daß Christus nur gekommen ist, die Sünder zur Buße zu rufen, daß nur auf dem Grunde des eigenen Sündenbewußtseins aufgenommen werden kann der Trost und die Freude göttlicher Versöhnung, göttlicher Gnade. so wahr bleibt die Darstellung der

Eben

menschlichen Verschuldung gegen

Gott als eine in's Unendliche reichende, darum vom Menschen nicht gut zu machende.

Denken wir nur nicht an einzelne, auf die Ober­

fläche und in das äußere Leben tretende Vergehungen.

Gott hat uns

wunderbar herrlich an Leib und Seele geschaffen, ausgestattet mit reich­ sten Kräften und Gaben, gesetzt in die Welt, die allenthalben seine Herrlichkeit verkündet und für uns seiner Güter voll ist.

Durch ihn

allein sind wir, was wir sind und haben wir, was wir haben.

Darum

aber auch ihm schulden wir es, daß unser ganzes äußeres und inneres Leben in Gedanken, Worten und Werken ihm geweiht werde, daß Alles bei uns auf dem Grunde der Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit ruhe, daß Alles bei.nnö aus kindlichem Glauben voll froher Zuversicht hervorquelle, daß Alles durchzogen und erfüllt sei von der Liebe zu ihm, Alles getaucht sei in den innigen Dank gegen den Geber aller guten und vollkommenen Gabe.

Wenn wir darauf unser Leben

ansehen, nach solchem Maaßstabe dasselbe messen, wie in's Maaßlose wachsen an unsere Schulden, wie trägt Älles im inneren und äußeren Leben Befleckung an sich und zeigt sich als Versündigung!

Wer zu

Christo, dem Lichte der Welt kommt und in diesem Lichte sich sieht, der muß bekennen:

Ich bin der Mann mit den zehntausend Pfunden,

241 mit der übergroßen Schuld

gegen Gott.

Ja ziehen wir auch nur

das Leben deS Christen in Betrachtung, wie es in der Gemeinschaft mit Christo geworden! O ist das gute Werk auch angefangen, wie Man­ gelt es täglich noch unserem Glauben

an Kraft und Ergebung und

unserer Liebe an Reinheit und Innigkeit, wie ist unser Thun nach allen seinen Aeußerungen noch so weit entfernt, Preis der Liebe zu sein, die unS rettete!

ein reiner, thatsächlicher

Wie viel Verschuldung noch

in Allem! Auch als Christen bleiben wir noch immer, wenn selbst er­ freuliche Abnahme da ist, der Mann mit den unzähligen Pfunden, be­ dürfen stets der Vergebung. tiefe, tiefe Verschuldung.

Das ist unser Verhältniß zu Gott, die

Fühlst du es, weißt du es? O, wenn es der

Fall ist, kannst du dann dem dir Verschuldeten die Vergebung versagen, ihn herzlos von dir stoßen, kannst du ihn richten und verdammen, ob er dich auch um Vergebung bitte?

Bei unserer Verschuldung gegen

Gott, wie der Herr sie uns hier vorhält, beschwört er uns auf's Drin­ gendste, reich und immer reicher in der milden Liebe zu werden, die Schulden zudeckt und Sünden vergibt. II.

Der Herr hebt im Gleichniß ferner das Verhältniß hervor,

in welches Gott sich zu uns setzt.

Ist das götttiche Ordnung und

Regierung, daß wir durch sein Wort, durch seine Führung unseres Lebens, durch die Einwirkung seines Geistes zu dem Bewußtsein seines heiligen Gerichtes kommen, daß wir es fortwährend im Inneren fühlen, wie er Rechnung mit uns hält, Rechenschaft von uns fordert, daß wir dabei zur Erkenntniß unserer Verschuldung gelangen; seine Absicht geht dahin, daß unser Geist sich in tiefer Beugung, aber doch in Zuversicht an ihn mit der Bitte wendet: Herr habe Geduld mit mir! Gehe um meiner Verschuldung willen nicht mit mir in's Gericht!

Erbarme dich

meiner! Das ist zunächst die Absicht und das Ziel aller göttlichen Er­ ziehung, unter der die Menschen stehen.

Läßt es der Mensch aber

dahin kommen, daß diese Absicht an ihm erreicht wird; dann gilt das: Und er ließ ihn loS und die Schuld erließ er ihm auch, dann bethätigt sich die Liebe in der Gottheit, wie sie der Erlöser so unüber­ trefflich uns malt in dem Bilde des Vaters, der den wiederkehrenden, verlorenen Sohn an die Brust, in seine Arme schließt und über die Thomas, Predigten.

242 Wiederkehr ein hohes Freudenfest feiert.

Gott setzt sich zu allen seine

Gnade Suchenden, zu allen, die den Erlaß ihrer Schuld von Herzen begehren, in das Verhältniß der Vaterschaft, nimmt sie auf als wieder­ gefundene Kinder, bietet ihnen die Freiheit und Seligkeit der Gotteskindschaft dar.

Und wie hart das Herz auch früher war, wie vielfach

die Vergehungen, wie schwer und groß die Verschuldung; ist die gött­ liche Traurigkeit eingetreten, welche bereut, ist eingetreten die gläubige Zuversicht, welche sich bittend zu dem Ewigen erhebt, Gott ist die Liebe, die alle Schuld zudeckt und tilgt, die völlig vergibt, die rückhaltlos in ihre Gemeinschaft aufnimmt.

„Ich und der Vater sind Eins!" „Wer

mich siehet, der siehet den Vater," spricht der Erlöser.

Versenken wir

uns in das Leben des Erlösers! Die Liebe, die sucht, die im Vergeben tröstet, die in der Aufnahme in die Gemeinschaft der Gotteskindschaft beseligt, das ist der innerste Kern, Kommet ihr Mühseligen,

das innerste Wesen seines Lebens.

ruft er, ich will euch erquicken.

wir uns in das Leiden und Sterben des Herrn.

Vertiefen

Die Liebe der Gott­

heit, die für das Heil der Welt den Eingeborenen opfert, die Liebe, die in der heiligen Selbstopferung Versöhnung stiftet und nun als nie zu erschöpfender Quell der Versöhnung für die Menschheit ewig spru­ delt, die Liebe,

die damit Alles zum Heil dienende stets zu spenden

bereit ist, die ist das Leben seines Sterbens, der ewige Gehalt seines Leidens.

Das ist das Verhältniß, in welches Gott sich durch Christum

zu der gläubigen Menschheit setzt, daß sie seiner vergebenden Liebe ge­ nießend alle sind Gottes Kinder und daß von diesem Gnadenbund das prophetische Wort seine Anwendung findet*): weichen und Hügel hinfallen;

aber

„Es sollen wohl Berge

meine Gnade soll nicht von dir

weichen und der Bund meines Friedens sott nicht hinfallen."

Und

wenn wir vom gläubig lebenden und sterbenden Christen sagen mußten, daß er auch bei Fortschritten in der Heiligung doch noch täglich anfs Mannichfachste sich an seinem Gott verschuldet, die heilige Gnade läßt den Bund des Friedens nicht sinken;

der Christ lebt in und aus der

Fülle des göttlichen Erbarmens, täglich und stündlich die Vergebung

*) Iesaias 54, 10.

243

genießend, täglich stehend unter dem Worte: Alle diese Schuld habe ich dir erlassen und erlasse ich dir, dieweil du mich batest und bittest. In solches Verhältniß hat sich Gott zu uns gesetzt, daß sein Erbarmen ist und bleibt der Grund unseres Heils, daß seine Geduld ist und bleibt die Ursache unserer Seligkeit. Wir leben nur von Erbarmen und Gnade, leben aus und in der versöhnenden Liebe Gottes, leben von fortwährender göttlicher Vergebung; wollen wir dem Bruder, der Schwester, die sich an uns vergingen und wieder die Aussöhnung suchen, wollen wir ihnen Vergebung versagen? Hören wir nicht das Wort: So seid nun Gottes Nachfolger, nämlich in der Liebe, die auch Versöhnung anbahnt und Vergebung spendet? Mahnet es uns nicht auf's Dringendste: Solltest du dich nicht auch erbarmen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmet habe! Erfaßt uns nicht auch hier das Wort: Gehe hin und thue desgleichen? Ist das Gedächt­ niß der uns vergebenden Liebe in uns lebendig, diese Liebe selbst wird auch unser Herz einnehmen und regieren. III. Im weiteren Verlauf unseres Gleichnisses stellt der Erlöser das Verhältniß dar, in dem wir uns zu solchen Brüdern befinden, die sich an uns versündigten. „Da begegnete ihm einer seiner Mit­ knechte, der war ihm hundert Groschen schuldig," nach unse­ rem Gelde etwa zwanzig Thaler. Was will diese Summe sagen? Sie ist gegenübergestellt den zehntausend Pfund, also zwanzig Thaler den Millionen Thalern, d. h. das verhältmäßig Kleinste dem verhältnißmäßig Größten. Der Erlöser sagt daö aber jedem. Ist denn nun immer die Schuld, welche der Einzelne gegen den Einzelnen auf sich ladet, verhältnißmäßig so klein? Es scheinen uns manchmal die Verschuldun­ gen, die Menschen gegen Menschen auf sich laden, so ungeheuer schwer und groß. Wenn die innigsten Bündnisse der Liebe durch Undankbar­ keit, Hochmuth, Habsucht, Lüste, durch himmelschreiende Frevel wie in den Schmutz getreten werden, wenn durch einzelne Glieder einer Gemeinschaft das ganze Leben derselben, der Familie, der Gemeine verpestet wird; ist das so gering? Der Herr scheint an anderer Stelle ganz anders zu urtheilen, indem er ruft*): „Wer da ärgert Matthäi 18, 16.

244 dieser Geringsten einen, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er im Meere ersäufet würde, da es am Tiefsten ist." Und doch, wenn wir die Verschuldungen unserer Mitchristen gegen uns an der Schuld, die wir gegen Gott haben, messen, so bleibt es bei dem, was der Herr hier sagt.

Es kann ja nicht geleugnet werden,

daß in dem, was ein Bruder dem anderen zufügt, oft eine ungeheure Schuld liegt. Aber an wen wird dabei recht eigentlich gefrevelt, gegen wen ladet der Frevelnde recht eigentlich die schwere Verschuldung auf sich?

Ich meine doch vielmehr an und gegen Gott als an und. gegen

den Bruder. menschen?

Wie ist es mit unseren Pflichten gegen unsere Neben­ In ihrer Klarheit und Wahrheit gehen sie sämmtlich uns

erst im Gottesbewußtsein auf, mit ihrem eigentlichen Kern und nach ihrer Tiefe ruhen sie

recht

eigentlich

im Gottesbewußtsein.

Daher

fließt nach des Erlösers Wort die Nächstenliebe aus der Gottesliebe, die Nächstenliebe ist in der Gottesliebe beschlossen.

So auch alle Ueber»

tretung und Verletzung der Pflichten gegen die Nebenmenschen wird als Schuld erst aus dem Gottesbewußlsein heraus begriffen und erfah­ ren.

Das urälteste Verbot, welches das Blutvergießen verbietet, be­

gründet sich mit dem Satz*): „denn Gott hat den Menschen nach sei­ nem Bilde gemacht." — Unter den Menschen haben wir zuerst und auf's Höchste die Eltern ehren gelernt.

Warum?

Weil sie Stellver­

treter der Gottheit uns waren und jede Verletzung des Gehorsams und der Ehrerbietung gegen sie eine Verletzung des Gehorsams gegen den Ewigen selber ist.

Was ist der ächte tiefe Grund der besonderen christ­

lichen Bruderliebe?

Kein anderer als der, daß unsere Brüder und

Schwestern Gottes Kinder sind.

Darum wieder, was wir an ihnen

sündigen, es richtet sich als schwere Verschuldung gegen den, der auch ihnen der rechte,

treue Vater ist.

Darum faßt mit tiefer Wahrheit

der Psalmist alle seine Sünde als eigentliche Sünde gegen Gott auf, alle Verschuldung als gegen ihn gekehrt **). gesündigt und übel an dir gethan."

„ An dir allein habe ich

Darum die Brüder, die uns krän­

ken und Unrecht zufügen, wohl können sie schwere Schuld auf sich

*) 1. Moses 9, 6.

**) Psalm 51, 6.

245 laden, aber die Hauptsumme ihrer Verschuldung ist die gegen den heiligen Gott.

An uns haben sie sich nur verschuldet, sofern wir Gottes Kinder

sind und sein Bild an uns tragen. Noch eine andere Seite laßt uns in's Auge fassen.

Als David

auf seiner Flucht von jenem ©intet, aus der Familie Sauls, mit Flüchen verfolgt und gelästert wurde;

da wehrte er seinem Diener, der Rache

an dem Flucher nehmen wollte und sprach *): geheißen.

Der Herr hat's ihm

Darin drückt sich das Bewußtsein aus, daß auch dasjenige,

was von Menschen ihm scheinbar UebleS geschah, mit ausging von dem ewigen Gott, der gerecht richtet und regieret, eben so, daß dem, was er zu leiden hatte, auch von seiner Seite Verschuldungen pm Grunde lagen.

Wenden wir das auch auf uns an.

wir werden gekränkt von einem Bruder.

Uns geschieht Unrecht,

Ja wir können diesem viel­

leicht sagen: „Womit, habe ich das an dir verdient," können ihm viel­ leicht sagen: „Warum kränkst du mich so unschuldig?

warum vergiltst

du Wohlthat mit Missethat, Liebe mit Undank?" Aber sollen wir nicht dessen gedenken, daß in Allem, was von Brüdern, von Mitmenschen uns Kränkendes wird, zugleich die Hand Gottes sich offenbart, der in Gerechtigkeit unsere Geschicke abwägt und in heiliger Weisheit auch durch solche Leiden uns züchtigt und erzieht?

Wohlan, so haben wir

alle Vergehungen der Nebenmenschen gegen

uns

Fügungen Gottes zu betrachten.

noch

vielmehr als

In den bittersten Kränkungen laßt

uns den größten Theil sehen als das, was wir mit unserer Selbst­ sucht wohl verdient haben und was der große Erzieher über uns ver­ hängt.

Der kleinste geringste Theil bleibt nur übrig als Verschuldung

des Bruders gegen unsere Person.

Wir mit Millionen dem ewigen

Gott verfallen, unser Bruder mit zwanzig Thalern uns, unsere Schuld gegen Gott eine unendlich große, die unseres Bruders gegen uns eine verhältnißmäßig verschwindende. Und nun die übergroße Schuld ist uns erlassen, sollten wir die kleine nicht mit Freuden dem Bruder erlassen? IV.

Gewiß, wem noch etwas von GerechtigkeitS- und Pflicht­

gefühl inwohnt, er muß nach dem Vorherigen auch fein Herz zur Ver-

*) 2. Samuel!« 16,"11.

246 söhnlichkeit wenden.

Für diejenigen aber, die in ihrer HerzenShärtigkeit

verharren, malt der Heiland in unserem Gleichniß zuletzt das Verhält­ niß aus, in welches der Gott der Versöhnung zu dem unversöhnlichen Menschen tritt und treten muß.

Der unbarmherzige Knecht wird über­

geben dem schwersten Gericht und daran knüpft sich der Spruch: „Also wird euch mein himmlischer Vater auch thun, so ihr nicht vergebet von seine Fehler."

eurem Herzen

ein jechlicher

seinem Bruder

Alles vergibt Gottes Liebe, aber vergibt der Mensch

nicht, Gottes Liebe nimmt ihre Vergebung zurück, schließt den Unver­ söhnlichen von ihrer Gemeinschaft aus, verstößt ihn hinein in ein ewig peinigendes Gericht.

Wie denn, ist Gott in seinem Urtheil und Ver­

halten wandelbar und wankelmüthig, heute im Erbarmen vergebend, morgen im Zürnen verdammend und verstoßend?

Oder ist der, dessen

Barmherzigkeit gepriesen wird, am letzten Ende doch der Unbarmherzige, wird in ihm die Liebe zuletzt doch von Grimm und Zorn verzehrt? Weder das Eine noch das Andere.

Gott ist und bleibt die unwandel­

bare, immer sich selbst gleiche Liebe.

Diese Liebe aber sehen wir in

dem Schlüsse unseres Gleichnisses sich selbst bewahren, sich zusammen­ fassen und zusammenhalten, daß sie nicht in ihr Gegentheil, Sünde, hinabgezogen werde. hineinziehen,

in'sich beseligen.

in die

Die Liebe will zu sich erheben, in sich Sie kann eö aber nur da,

Mensch ihr entgegenkommt und ihrer begehrt.

wo der

Wollte sie sich an den

Selbstsüchtigen hingeben, an ihn, der in Hartherzigkeit und Unbarm­ herzigkeit sich verstockt, sie könnte ja dann diese Verhärtung des Ge­ müthes nur stärken, könnte nur pflegen das sündige selbstische Wesen. Wer nicht vergibt, der will von Erlösung für seine Seele nichts wissen, dem kann die heilige Gnade ihre Schätze nicht bieten, von dem muß der Friede der ewigen Liebe sich zurückziehen.

Ja wie wäre es doch

möglich, daß der Lieblose, der Unbarmherzige, der Selbstsüchtige dem Gericht entflöhe?

So lange die Selbstsucht, die Sünde in bestimmter

Richtung waltet, muß sie auch heilzerstörend wirken, Verderben verbrei­ ten.

So lange die Selbstsucht, die Lieblosigkeit im Gemüthe wuchert,

müssen aus ihr ihren Sklaven immer neue, innere Schmerzen erzeugt, immer von Neuem innere peinigende Flammen geschürt werden!

So

247 lange die Selbstsucht, die Lieblosigkeit, herrscht, bleibt der Mensch un­ fähig, die Seligkeit der Gotteskindschaft zu genießen. steht die Seligkeit?

Worin denn be­

Im Anschauen, im Erkennen der Gottheit selbst,

im Anschauen und Erkennen ihres Wesens als Liebe, Genuß dieser Liebe.

Es ist aber ein alter, richtiger Satz, daß nur

vom Gleichen das Gleiche erkannt wird. die Liebe erkennen.

gleichsam im

So kann auch nur die Liebe

Darum nur ein liebend Gemüth kann die ewige

Gottesliebe genießen.

Der Lieblosigkeit wird bang und weh und un­

heimlich, wenn der Hauch der Liebe sie umweht, wenn der Liebe Leben sie umgibt.

Einen traurigen Beleg gibt der Jünger, den Jesus das

Kind des Verderbens nannte.

Wie er in der Lieblosigkeit sich verhärtet;

so wurde es ihm immer mehr unerträglich, daß das Auge der Liebe auf ihm ruhte, um seine Seele zu suchen und zu gewinnen. Ihm wird es zum bittersten Gefühl, wenn er sieht, wie Maria in überfließender Liebe den Herrn mit köstlicher Narde salbt, wie Johannes am Busen des Erlösers ruht.

Ihm wird der Bissen, den die Liebe Jesu ihm

reicht, zur schlimmsten Verstockung, wie es bezeichnet wird mit dem Ausdruck*): „Es fuhr der Satan in ihn."

Ihm wurde zuletzt selbst

die Erkenntniß seiner Sünde nicht heilsliftend;

sondern wendete sich

für ihn zur Verzweiflung, zum gräßlichen Untergange.

So ist es gar

nicht anders möglich, als daß grade der Gott der Versöhnung zu den unversöhnlichen Menschen in ein Verhältniß tritt, vermöge dessen er sie von sich weist und sie ihrer Unseligkeit überläßt.

Grade weil Gott

ist die volle, wesentliche Liebe, grade darum sind Heiligkeit und Gerech­ tigkeit der Liebe nothwendige Umhüllung,

ihr nothwendiges Gewand,

grade darum gehört es mit zur sittlichen Weltordnnng, was Christus hier ausspricht:

So wird euch mein himmlischer Vater auch

thun, so ihr nicht vergebet von euren Herzen ein jechlicher seinem Bruder seine Fehler. Seiten uns die Liebe in

So hat der Herr denn von allen

ihrer Milde,

in ihrer Versöhnlichkeit

das Eine, was Noth thut, an's Herz gelegt.

als

Wolle der Saame seines

Wortes auch bei uns heute sein gut Land gefunden haben, wolle er

*) Johannes 13, 27.

248 fortwährend in uns aufgehen und reiche Frucht bringen!

Auch gegen

fehlende Brüder ist unser Heil allein in der nie aufhörenden Liebe be­ gründet.

Hier und hier im vollsten Maaße gilt das Wort des Apostels

Paulus*):

„Laß dich nicht das Böse überwinden, sondern überwinde

das Böse mit Gutem," darum wie es unmittelbar vorher lautet: „So nun deinen Feind hungert, so speise ihn, dürstet ihn, so tränke ihn. Wenn du das thust; so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sam­ meln."

Beharrlich und unüberwindlich sei diese Liebe auch in uns,

daß wir täglich, wie der Erlöser mahnt, unserem Bruder, der gegen uns fehlte, nicht nur siebenmal vergeben, sondern wird's nöthig siebenzig mal siebenmal.

Dann bleibt das Wort unser Trost:

wird euch vergeben!" Amen. *) Römer 12, 21.

„Vergebet, so

Der Zorn

im

Lichte des Christenthums.

Text: Epheser 4, 26—27. Zürnet und sündiget nicht; über

eurem Zorne untergehen.

lasset die Sonne

nicht

Gebet auch nicht Raum

dem Lästerer. Der Zorn, Geliebte im Herrn, von dem im verlesenen Textes­ worte geredet wird, gehört zu jenen Erscheinungen des menschlichen Gemüthslebens, welche wir mit dem Ausdruck Affekt oder Leidenschaft bezeichnen.

Bei allen Leidenschaften waltet eine besondere, über den

gewöhnlichen Zustand des Innern hinausgehende Erregung, Bewegung, Erschütterung, ein mächtiges, gewaltsames Ergriffensein von bestimmten Gefühlen, die als kräftige Triebfedern dann auch zu einem schnellen Thun treiben,

ja fortreißen möchten.

Mit den Leidenschaften

Affekten ist es aber in religiöser und sittlicher Beziehung Ding.

oder

ein eigen

Ein leidenschaftlicher Mensch, d. h. ein solcher, der in seinem

Leben, in seinem Thun und Lassen von Leidenschaften bestimmt und getrieben wird, hat aufgehört, ein sittlicher Mensch zu sein. Im Sturm und Strudel der Leidenschaften geht alle Zeit wirkliche Sittlichkeit, also auch das wirklich Gute unter.

Wie verführerisch für die Sittlichkeit

anderer, wie verderblich für menschliches Heil und menschliche Glück­ seligkeit die verschiedenen Leidenschaften gewirkt haben und noch immer wirken, das hat wohl jeder von uns in seiner Lebenserfahrung kennen gelernt.

Aber Alles,

Lied: Nr. 311.

was Leidenschaft oder Affekt heißt,

aus

dem

250

menschlichen Gemüth und Leben verbannen wollen, dürfte doch auch nicht richtig sein. Oder würde uns der Mensch gefallen, dessen Herz im Leben nie von starker Gemüthsbewegung schneller geschlagen, dessen Wange sich nie im auflodernden Affekt geröthet hätte? Der keines Affekts, keiner warmen Erregung fähige Mensch erscheint uns unheim­ lich oder verächtlich. Es kann auch unmöglich anders sein. Unsere für die verschiedenen mächtigen Bewegungen des Gemüths empfängliche, ja auf zeitweise leidenschaftliche Erregung angelegte Natur ist grade eben so aus Gottes Schöpferhand hervorgegangen, muß darum grade als solche auch gut und göttlich sein. Nicht in der Vernichtung der Gemüthsbewegungen, Affekte, Leidenschaften kann darum das Sittliche bestehen; sondern nur darin, daß sie an rechtem Ort, in rechter Zeit, in rechtem Maaße, in nöthiger Leitung hervortreten. In den Affekten ruht deshalb etwas, was mit in's sittliche Leben hkneingehört, während sie auf der anderen Seite verderblich und zerstörend für's sittliche Leben werden können. Behalten wir das für unsere besondere Betrachtung des Zornes nach der Mahnung unseres Textes und suchen wir der Wahrheit nach beiden Seiten hin gerecht zu werden. Der Zorn im Lichte des Christenthums soll der Gegenstand unseres Nachden­ kens sein. I. Wie Luther den Anfang unseres Textes übersetzt hat „Zürnet und sündiget nicht;" so ist das Wort nach dem gewöhnlichen und ver­ breiteten Verständniß eine entschiedene Warnung vor dem Zorn über­ haupt. Man sieht danach das Sündigen eben in dem Zürnen selbst. Und wie erscheint es doch so natürlich, aus dem Evangelio heraus unsere Worte in diesem Sinne zu verstehen! Zürnen wir einem Men­ schen; so gibt sich das doch als das Gegentheil von dem, was der Herr mit dem schönen Wort gebietet*): „Liebet eure Feinde, thut wohl denen, die euch hassen, segnet, die ench fluchen, bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen." Das Zürnen tritt auf als der Gegensatz zu der Sanftmuth, welche der Erlöser uns an das Herz legt, wenn er ruft**): „Selig sind die Sanftmüthigen, denn sie werden *) Matthäus 5, 44.

**) Matthäus 5, 5.

251

das Erdreich besitzen." Schon im alten Bunde lautet das Gebot **): „Du sollst nicht Zorn halten gegen die Kinder deines Volkes" und es wird als ein Zeichen der Weisheit angesehen, wenn man den Zorn stillt, es heißt, von dem Narren, daß ihm der Zorn im Herzen ruht**). Sirach mit seiner Spruchweisheit hebt hervor, wie für das eigene Le­ ben der Zorn verderblich werde***): „Eifer und Zorn verkürzen das Leben," und weist an anderer Stelle auf das Unsinnige des Zürnens für den gnadebedürftigen Menschen hin, indem er ruft f): „Ein Mensch hält gegen den anderen den Zorn und will bei dem Herrn Gnade suchen!" Der Herr aber stellt in der Bergpredigt den Zorn dem Morde gleich. Nach den Alten ist der Mörder dem Gericht verfallen, „ich aber sage euch," spricht der Herr ff), „wer mit seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichtes schuldig." Paulus nennt fff) unter den Werken des Fleisches den Zorn und Iakobus ruft*f): „Seid langsam zum Zorn; denn des Menschen Zorn thut nicht, was vor Gott recht ist." Wie sollten wir auch solchen Aussprüchen nicht von Herzen zustimmen? Zu welchen entsetzlichen Werken hat der Zorn nicht schon die Menschen fortgerissen, zu Werken, die sie selbst später auf's Tiefste beklagten! Ist doch im Zorn der Gegensatz dessen, was alles sittlich Gute um­ schließt, der Gegensatz der Liebe ausgedrückt. Ja geht doch im Zorn nicht nur die Liebe, sondern auch Vernunft und Gottesfurcht unter. Man darf, um die tiefe Verwerflichkeit des Zornes zu erkennen, nur das Eine erwägen, wie durch ihn das schönste Gesicht zu abschreckender Häßlichkeit entstaltet werden kann! Darum ist uns unser Text ein liebes Wort der Mahnung: „Zürnet und sündiget nicht," ein Wort das den Zorn stillen und aufheben will, und es mag uns in diesem Sinne auch bleiben. Aber wenn wir uns mit der heiligen Schrift ernstlich beschäftigen, dann gilt es stets die volle, ganze Wahrheit. Sollte uns dabei selbst Einzelnes, was uns von Kindheit an lieb geworden, sich entziehen, sollten wir scheinbar z. B. einen lieben Spruch verlieren, wir werden *) ***) tt) *t)

3. MoseS 19, 18. Sirach 13, 26. Matthäus 5, 22. Jakobus 1, 19 — 20.

,

**) Spriichwörter 29, 8. Pred. Sal. 7, 10. f) Sirach 28. 3. • '-f) Galater 5, 20.

252 doch wieder gewinnen.

Das tritt auch hier ein.

So sehr uns auch

das gewöhnliche Verständniß unserer Worte als ein solches, welches wahrhaft Christliches fordert, anspricht, es ist, wenn wir uns die ur­ sprünglichen Worte des Apostels genau ansehen, falsch. text ist nur eine zwiefache Erklärung möglich: zürnet, so sündiget nicht" oder:

Nach dem Ur­

entweder:

„Wenn ihr

„Zürnet; aber sündiget nicht."

Nach

der einen Auffassung wird das Zürnen gestattet, nach der anderen so­ gar gefordert und es wird nur gewarnt, daß man dabei sich der Sünde nicht hingebe.

Jedenfalls erscheint danach das Zürnen als etwas sitt­

lich Zulässiges, Erlaubtes.

Und redet die heilige Schrift nicht vielfach

vom Zorne Gottes? Stellt die evangelische Geschichte uns unseren Er­ löser nicht mehrfach in der Gestalt eines Zürnenden vor Augen? Sollte es demnach nicht auch hier gelten: „Werdet Gottes und Christi Nach­ folger wie die lieben Kinder," zürnet demnach, wie Gott und Christus zürnen?

Laßt uns nur zunächst einige Erscheinungen des Lebens in's

Auge fassen, wir werden sofort fühlen, wie sehr dem Menschen, dem Christen es geziemt, vom Zorn zur Zeit erfüllt zu werden.

Vergegen­

wärtige dir die ausgeprägten Gestaltungen der Sünde und Verworfen­ heit und denke sie dir in deine nächste Nähe gesetzt.

Siehe,

die Fa­

milie, ein Heiligthum der Liebe und aller schönen menschlichen Tugend, von Gott uns gegründet!

Da neben dir in einem Familienkreise, der

dir vielleicht innig verwandt und befreundet ist, leidet täglich ein treues, gewissenhaftes, tugendsameö Weib die rohen Mißhandlungen ihres schlech­ ten Mannes.

In einem anderen Hause ziehen Eltern, berufen Gottes

Stellvertreter an ihren Kindern zu sein, diese zu Verbrechern heran, bilden, was an ihnen ist, sie zu Scheusalen der Menschheit aus.

An

einem dritten Ort lohnen Kinder alle Treue, alle Sorgen und Schmer­ zen der Liebe den Eltern mit einem von der Sünde gebrandmarkten Leben, mit schnödestem Undank.

Fasse in's Auge die heilige Rechts­

ordnung des Volkslebens, den Staat von Gott gewollt und in der Natur der Menschheit begründet, damit unter festem, weisen und ge­ rechten Schutz und Schirm alle Glieder und Stände des Volkes mit ihrem Streben segensreich ineinander wirken, mehr und mehr erleichtert und gehoben werden, alle Aufgaben ^es Lebens zu lösen und die eigne,

253

wie der Gemeine Wohlfahrt zu befördern. Denke es dir nun recht lebendig, tut wärest als Bürger in einen solchen Staat hineingestellt, wo die Träger der obrigkeitlichen Gewalt Recht und Gerechtigkeit scham­ los mit Füßen treten, wo die Lüge Alles so durchfrißt, daß selbst der Meineid kühn und frech in die Oesfentlichkeit hineintreten darf, wo einzelne Stände oder Geschlechter rein und allein nach eigener Macht, eigenem Glanze, eigenem Vortheil ringen, nicht dessen achtend, daß sie dem Volksleben die Wurzeln abschneiden und das ganze Volk in's Verderben stürzen! — Das gesellige Leben, wie es in verwandt­ schaftlichen und freundschaftlichen Kreisen sich bildet, Gott hat es ge­ ordnet, damit nach der Arbeit und Mühe des Lebens wieder Erquickung und Erholung gewonnen, damit hier Anmuth und schöne Sitte gepflegt, damit aus der Freude und dem Scherz selbst neue Kraft für den Ernst des Lebens gewonnen, damit vor Allem die Liebe in den Gemü­ thern bereichert werde. Denke dir es lebhaft, in den Kreisen, wo du nach natürlichen Verhältnissen verkehren mußt, da waltete Gemeinheit, da begegneten dir zwar freundliche Minen im Antlitz, aber du wüßtest, dahinter lauert Neid, hämisches Wesen, boshafte Falschheit. Endlich die Kirche, die Gottesgemeinschaft, die gottbestellte Pflegerin des Hei­ ligen ist sie, die gottbestellte Pflegerin heiligen Glaubens, heiliger Got­ tes- und Bruderliebe. Denke dir wieder, der Theil kirchlicher Gemein­ schaft, in welchem du lebst, ist verpestet von heuchlerischer Gottlosigkeit, ist erfüllt vom finsteren Aberglauben und verderblichem Fanatismus, unter dem heiligen Namen Gottes und Christi werden Christi Jünger verfolgt, wird gegen ächt Christliches gewüthet! Denke dir so im Fa­ milien-, im staatlichen, im geselligen, im kirchlichen Leben die Ausartun­ gen der Sünde in deine nächste Nähe gerückt und siehe wie zur Zeit das Böse herrscht und triumphirend das unterliegende Gute verhöhnt; o geht dann nicht eine mächtige Erregung des Unwillens durch dein Gemüth, dann hat noch nie ein Funken des Heiligen in dir gezündet; flammt nicht auf in deiner Brust ein kräftiger, heiliger Zorn, dann lebt auch nichts von Liebe in deiner Seele! Wieder erinnere ich an unseren Erlöser, von dem Paulus ruft*): „Ein jechlicher sei gesinnt, *) Phllipper 2, 5.

254 wie Jesus Christus auch war."

Der Sanftmüthigste unter den Men­

schenkindern, von dem sonst im Allgemeinen das Wort gilt*): „Man wird sein Geschrei nicht hören auf den Gassen," o er kann aufwallen in mächtigem Zorn.

Ein heiliges Zürnen ist es, das läßt ihn die

höchste Obrigkeit Gaüiläas, den König Herodes bezeichnen als einen Fuchs**).

Ein heiliges Zürnen treibt ihn die Schriftgelehrten und

Priester, die nach ordentlichem Beruf Mosis Stuhl einnahmen, zu schelten ***): „Otterngezüchte," „Gräber voll Moder und Todtengebeine," über sie ein vielfaches Wehe auszusprechen. Ein heiliges Zürnen macht sich dem geliebten Jünger gegenüber geltend in dem Worts-): dich Satan von mir, du bist mir ärgerlich".

„Hebe

Ein heiliges Zürnen gibt

ihm die Geißel in die Hand, daß er den Tempel von der Entweihung reinige ff).

Stellen wir uns im Geist vor das schöne Bildwerk eines

großen Künstlers.

Nur ein einziger Zug aus demselben hinweggedacht,

wie wesentlich würde die Schönheit des Ganzen leiden!

Hätten wir

diesen Zug des Zürnens im Lebensbilde Christi nicht, wie wesentlich würde dasselbe verlieren, verlieren an dem, wodurch es eben das ewige Ur- und Vorbild der Menschheit ist.

Wohlan denn, wir fühlen und

erkennen, wie berechtigt der Apostel war, in gewissem Sinne das Zür­ nen den Christen zu gestatten oder selbst zu gebieten. II.

Laßt uns jetzt aber an den Versuch gehen, uns den Widerspruch

zu lösen, in dem scheinbar die heilige Schrift und die christliche An­ schauung mit sich selber steht, wenn einmal vor dem Zorn gewarnt wird, wenn er dann wieder als zulässig erscheint.

Es ist klar, daß es

hier gilt, unterscheiden lernen zwischen einer zwiefachen Art des Zornes. Ein hocherleuchteter Kirchenlehrer hat zwar in richtiger Bekämpfung gegenüberstehenden Irrwahns gepredigt, daß wir nichts vom Zorne Gottes zu lehren hätten;

aber zu vielfach begegnet uns der gött­

liche Zorn auch im neuen Testament, als daß wir ihn übersehen dürf­ ten.

Uns wird sich vielmehr die Aufgabe stellen, daß wir vom Zorn

Gottes richtig lehren.

Indem wir vorläufig anerkennen, daß es einen

*) Matthäus 12, 19. ***) Matthäus 23, 27 u. 33. tt) Johannes 2, 13 —16.

**) Lukas 13, 32. +) Matthäus 16, 23.

255 Gotteszorn gibt, erinnern wir uns weiter, daß in einer 'schon angeführ­ ten apostolischen Mahnung, nur langsam zum Zorn zu sein, es heißt*): „Des Menschen Zorn thut nicht, was vor Gott recht ist." Gotteslästerung käme es uns gleich, zu sprechen: thut nicht, was vor Gott recht ist.

So werden uns Gottes Zorn und

des Menschen Zorn einander gegenüber gestellt. der Zorn der Menschen seinen Grund? Wesen

Einer

Der Zorn Gottes

Worin hat zunächst

Eben in dem gewöhnlichen

des Menschen, wie es in seiner natürlichen Beschaffenheit ist.

Dies gewöhnliche Wesen des natürlichen Menschen ist die Selbstsucht und diese Selbstsucht im Gegensatz zu den Nebenmenschen wird Feind­ schaft und Haß.

So ist der gewöhnliche, menschliche Zorn der zur

aufgeregten Leidenschaft gewordene Haß, ist das Verderben drohende Auf­ brause» feindseliger Selbstsucht.

Da, wie der Haß der Gegensatz der

Liebe ist, wie demnach derjenige,

welcher seinen Bruder hasset, dem

Todtschläger gleich, nicht haben kann das ewige Leben bei ihm bleibend**); so ist nothwendig, wer aus dieser Gesinnung heraus zürnet, dem Ge­ richt verfallen, so ist dieser menschliche Zorn ein Werk des Fleisches und es gilt auch in Betreff seiner das Wort***):

„Wer auf das

Fleisch säet, der wird von dem Fleisch das Verderben ärndten." Ganz unverträglich mit dem Christenthum ist dieser Zorn des Menschen. Machen Zornes klar.

wir uns dazu im Gegensatz das Wesen

des

göttlichen

Schon im alte» Bunde begegnen uns Aussprüche, wie f):

„Sein Zorn währet einen Augenblick und er hat Lust zum Leben," „der seinen Zorn nicht ewiglich behält;

denn er ist barmherzig" j-ß).

„Ich bin barmherzig und will nicht ewiglich zürnen" fff).

In diesen

Stellen wird das Zürnen in Gott als ein vorübergehendes, die Barm­ herzigkeit als das Bleibende bezeichnet,

worin nothwendig liegt, daß

wohl die Barmherzigkeit zum Wesen Gottes gehört, das Zürnen aber nur eine Aeußerung dieses Wesens, der Barmherzigkeit also, unter ge­ wissen Verhältnissen sein kann.

Diese Erkenntniß wird schon

völlig

klar in den Apokryphen, die theilweise einen Uebergang aus dem alten

*) Jakobus 1, 20. ***) Galater 6, 8. tt) Mich- 7, 18.

**) 1. Johannes 3, 15. f) Psalm 30, 6. tft) Jeremias 3, 12.

256 in den neuen Bund bilden.

In diesen Büchern heißt es*):

„Wenn

du zürnest, erzeugest du Gnade und Güte." Darauf fußend und Christum selbst als das vollkommne Abbild des göttlichen Wesens in menschlicher Gestalt vor Augen habend werden wir sofort erkennen, daß der gött­ liche Zorn nichts gemein haben kann mit dem Haß.

Freilich ein Er­

regtsein, das von sich stößt, gehört nothwendig zum Zürnen. es aber, waS daS göttliche Zürnen von sich stößt? das sittlich Böse.

Was ist

Es ist die Sünde,

Da ist der Zorn zunächst nichts Anderes als die

Heiligkeit Gottes, wie sie sich in vollster Lebendigkeit und Kraft aller Sünde der Welt gegenüber selber bewahrt.

Gottes Heiligkeit aber ist

nur die Heiligkeit der Liebe, wie sie Lust zum Leben, zur Seligkeit hat, d. h. wie sie will, daß ihre vernunftbegabten Geschöpfe auch das Ziel ihrer Aufgabe, ihr Heil, erreichen.

Wenn diese gottebenbildlichen Ge­

schöpfe, ihres himmlischen Berufes vergessend, sich der Sünde ergeben, in der Sünde ihrem Verderben nachjagen; ja dann mögen wir uns die Liebe Gottes, die nicht den Tod, sondern das Leben liebt, in mäch­ tigem Aufwallen denken, wie die Schrift sagt **), „wie ein verzehren­ des Feuer."

Aber dieses Aufwallen des

Liebeszornes will nicht der

Sünder Verderben, sondern ihre Errettung, will nicht die Sünder, sondern ihre Sünde verzehren, will nicht ihre Verdammniß, sondern ihre Erlösung, will nicht ihren Tod, sondern ihr Leben.

So können

innig liebende Eltern, wenn sie die Sünde und Schmach ihrer Kinder sehen,

auf's Tiefste zürnen ohne zu hassen.

Selbst in der stärksten

Aeußerung und Bethätigung ihres Zornes wollen sie Kinder nicht in den Abgrund stoßen,

vielmehr im

aus demselben mit kräftiger Hand emporreißen.

die verderbten

heiligen Eifer sie

Dem ähnlich ist der

göttliche Zorn, das mächtige Aufwallen seines Wesens, Sünde gegenüber sich selber in seiner Heiligkeit bewahrt,

wie es der das Auf­

wallen seines Wesens, wie es als Liebe mit Feuereifer verzehren will, was seine Kinder verdirbt, um diese Kinder selbst wie durch's Feuer zu erretten.

So offenbart er sich in Christo, so ist uns ein Vorbild

gegeben, wie auch für uns als Christi Jünger das Zürnen erlaubt und geziemend erscheint. *) Tobias 3, 14.

Wohlan denn, tritt

an dich Freund oder

**; Hebräer 12, 29;

257 Gegner heran, reizt und lockt dich zur Ungerechtigkeit, Gewissenlosigkeit, Falschheit, zu irgend welchem schändlichen Wesen; selig wenn der Zorn durch deine Seele geht, aus deinem Auge flammt und deinem Erlöser nachruft: „Hebe dich von mir Satan, Versucher, du bist mir ärgerlich, du meinst nicht was göttlich, sondern was menschlich ist!" Und wieder, wenn du siehst, wie diejenigen, die du lieb hast, die Gott dir verbunden hat, sich selbst dem Bösen hingeben, das ihnen das Verderben gebiert, oder wenn du siehst,

wie sie von heimtückischen Heuchlern umschlichen

werden und wie ihnen die Verführung Netze stellt; selig, wenn du auf­ flammst im Zürnen der Liebe, auf daß du die Sündenketten sprengst, die sie tragen oder die ihnen drohen!

Ein so aus der heiligen Liebe,

die von Gott und Christo stammt, geborener Zorn gehört zum christ­ lich sittlichen Leben, ist Gott wohlgefällig und in Beziehung auf ihn kann der Apostel selbst mahnen: Zürnet, nur sündiget nicht, nur sor­ get, daß nicht der Haß oder die Selbstsucht in euer Zürnen sich ein­ mischt. HI.

Wenn so nun der Zorn, in der rechten Gesinnung wurzelnd,

wahrhaft christlich und sittlich ist, laßt uns zum Schluß auch die wei­ tere Ermahnung unseres Textes

beherzigen:

„Lasset die Sonne

nicht über euren Zorn untergehen, gebet auch nicht Raum dem Teufel, wie richtig zu übersetzen ist. Wir haben schon aus ein­ zelnen Stellen des alten Bundes gehört, daß das Zürnen Gottes eben nur eine vorübergehende Aeußerung seines Wesens ist.

Vielmehr noch

soll auch der rechte, der sittliche Zorn des Menschen nicht das Ste­ hende, nicht das Bleibende sein.

Keineswegs muß was sittlich gut ist,

eben auch das immer Gleiche sein.

Sittlich zulässig und gefordert ist

für bestimmte Zeiten der Scherz, die gehobene Freude und umgekehrt die tiefe Wehmuth;

aber keineswegs dürfen wir sagen, daß sie über­

haupt unsere Zeit ausfüllen sollen.

Wenn in der Natur unter glühen­

der Hitze eine drückende, beengende Schwüle entstanden, wie wohlthätig das kräftig sich entladende Gewitter, schnell kommend, schnell gehend. So möchte es ähnlich mit dem christlichen Zürnen stehen. der sittlichen Atmosphäre durch Frechheit

Wenn in

öffentlichen Sündigend



auch wie drückende Schwüle sich über die Gemüther gelegt hat, dann Thom as, Predigten.

17

258 ist das Hervorbrechen heiligen christlichen Zürnend gleichsam das mora­ lische Wetterleuchten, daS sittliche Gewitter, welches mit seinem schnellen Kommen und Gehen die umgebende Atmosphäre reinigt.

So sagt der

Apostel, nehmt den Zorn nicht mit über den Tag hinaus, stillet ihn, ehe die Sonne hinabsinkt, da ihr sonst Raum, Gelegenheit gebt dem Teufel.

Wie der Teufel nach der Schrift Versucher ist; so haben wir

bei diesem biblischen Ausdruck stets alles Böse zusammenzufassen, was reizend, lockend, verführerisch an uns herantritt und der Sinn des Apostels ist:

Auch in dem rechtmäßigen, edlen Zürnen, wenn es auf

die Dauer im Gemüthe festgehalten wird, ruht eine Macht der Ver­ suchung, der Verführung.

Das hat das bleibende Zürnen mit dem

längeren Festhalten jeder für Umstände und Verhältnisse auf eine Zeit wohl berechtigten leidenschaftlichen Stimmung und Erregung gemein. Daß gesunde Gefühle, in heiliger Liebe wurzelnd, unter besonderen Um­ ständen in besonders kräftiger Weise hervorbrechen und namentlich einem falschen, unnatürlichen Wesen gegenüber sich geltend machen, wer wollte es tadeln? Immerhin aber ist damit verbunden ein theilweises Zurück­ treten der klaren Vernunft, ja ein theilweises Schweigen der klaren Gottesstiinme des Gewissens.

Und wie gut in ihrem Ursprung auch

die hervorbrechenden, erregten Gefühle waren, sie haben in sich selber nicht die Gewähr, daß sie auch in dem richtigen Geleise bleiben, sie haben in sich selbst nicht die Kraft der Selbstregierung und Bewahrung. So geht es eben auch mit dem Zürnen.

Daß unser Herz dem Unhei­

ligen, dem, was den Menschen Verderben bringt, gegenüber sich empört und im edlen Zürnen auch sich ausspricht, ist für den sittlichen Menschen natürlich.

Aber wird dies Zürnen als eine beständige Stimmung fest­

gehalten, es wird umschlagen in Haß gegen die Träger der Sünde, wird zu der Erwägung unfähig machen, wie mannichfache Entschuldi­ gungen in den Lebensverhältnissen der fehlenden Brüder vorhanden sind.

Gar leicht werden wir dann vergessen, daß auch sie in ihren

Sünden nicht wissen, was sie thun, werden es nicht mehr vermögen, zur rechten Stunde mit dem sanftmüthigen Wort auch an sie heranzutreten und ihnen zurechtzuhelfen, ja werden unserer eigenen Mangelhaftigkeit und Sündkgkeit vergessen. In dem Festhalten auch des gerechtfertigten Zornes

259

liegt die schwere Gefahr, in Lieblosigkeit, Ungerechtigkeit und Unversöhn­ lichkeit zu versinken. In dem auf die Dauer festgehaltenen Zorne wird daher nach des Apostels Ausdruck dem Teufel Raum gegeben. Wohlan noch einmal: Wo die Sünde in ihrer Gottlosigkeit mit ihrer Menschen­ heil zerstörenden Macht keck und frech sich spreizt, da breche hervor zur rechten Stunde in den Jüngern Christi der heilige Zorn der Liebe, um wo möglich den Verwüstungen des Weinberges Christi in Familie, Kirche, Staat, im geselligen Leben nach Kräften zu wehren, um wo möglich zur Reinigung der sittlichen Atmosphäre beizutragen. Ist aber das zweischneidige Schwert des zürnenden, strafenden Wortes geschwun­ gen und hat es getroffen, so mache sich bald wieder Milde und Sanftmuth geltend, die bereit ist zu entschuldigen, so weit wie möglich, bereit vor Allem, in Bitte und Mahnung den Verirrten den Weg des Lebens zu zeigen. Zürnet zur rechten Zeit, seid milde und sanft, wo immer nur möglich; aber beides, bad vorübergehende Zürnen und die mehr beharr­ liche Milde, aus rechter Quelle müssen sie fließen, aus heiliger Liebe müssen sie geboren werden. Die Liebe ist auch hier das Ausgleichende, sie ist zugleich das Band der Vollkommenheit. Amen.

Am Erndtedankfest. Die Herrlichkeit des Herrn auf dem Saat- und Erndtefelde. Text: Hesekiel 3, 22-23. Daselbst kam des Herrn Hand über mich nnd sprach zu mir:

Mache dich auf und gehe hinaus in's Feld, da

will ich mit dir reden.

Und ich machte mich auf und ging

hinaus in's Feld; und siehe da stund die Herrlichkeit des Herrn daselbst, gleichwie ich sie am Wasser Chebar gesehen hatte, und ich siel nieder auf mein Angesicht. Erndtedankfest ist hent, theure Freunde.

An festlichen Tagen

scheint eö uns gestattet, das Texteswort, welches unsere Betrachtung leitet, mehr aus seinem Zusammenhange herauszunehmen und, eS ge­ wissermaßen in die Festfeier eintauchend, auch allein aus dieser heraus­ zudeuten.

So muß ich zum Eingänge bekennen, daß nur der Wort­

laut nach der Uebersetzung, nicht aber das Verständniß im Zusammen­ hange, das ja von Erndte, von Dank nnd dergleichen nicht spricht, mich zur Wahl unseres Textes bestimmt hat.

Und doch dürfte dieser

Gebrauch unseres Textes, wenn er nicht durch unsere Sitte seine Bil­ ligung fände, auch aus dem Zusammenhange heraus sich rechtfertigen lassen.

Der Prophet ist zu den Gefangenen seines Volkes in Babylon

gesendet.

Sieben Tage hat er in stiller Trauer, in einsamer, in sich

Lieder: Nr. 46. 845. 658, 3.

261 verschlossener Betrachtung gesessen, aber doch in der Mitte seines Vol­ kes.

Da geht in seinem Geiste auf seines Gottes Wille, daß er die

Sünder von ihrer Bosheit zu ihrer Bekehrung und ihrem Heile rufe. Zugleich tritt ihm seine schwere Verantwortlichkeit in diesem Beruf vor die Seele.

Wie ihm nun diese Klarheit vom Herrn kommt, so tönt

ihm zugleich eine göttliche Stimme, die ihn mahnt, hinaus in's Thal, in's Feld zu gehen.

Hier erschließt sich ihm die Herrlichkeit des Herrn

und erfüllt seinen Geist, wie schon einmal am Flusse Chebar.

Hier

im Anschauen der Herrlichkeit Gottes werden ihm weiter die Rathschlüsse des Ewigen gedeutet, daß er lehrend, strafend, tröstend sie dem Volke bringe. Warum, fragen wir, sollte der Prophet aus der ihn umgeben­ den Menschenmenge in's Thal, in's Feld sich begeben? In der Einsamkeit der Natur, gegenüber den Werken des schaffenden und

erhaltenden

Gottes sollte er in lebendigster, ursprünglichster Weise wieder fühlen und wahrnehmen die ewige Kraft und Gottheit des Höchsten.

Es soll­

ten ihm die Himmel die Ehre Gottes und die Veste seiner Hände Werk deuten.

Er sollte aus der Sonne,

die wie ein heldenstarker König

segnend, die Welt regiert, die Stimmung göttlicher Offenbarung ver­ nehmen. So in der Natur (auf dem Felde), ergriffen von den Schauern und Gefühlen der Anbetung, wurde er wohl vorbereitet, die Aufträge seines Gottes an ihn und sein Volk zu vernehmen und ihnen zu folgen. Ja das Gefilde, die Natur, sie ist auch uns eine Predigerin des Höchsten. Haben wir nur Augen und Ohren, die Herrlichkeit des Herrn wird auch für uns auf dem Felde erscheinen.

Wohlan denn, hin auf's Gefilde,

hin in die Natur führt uns das heutige Fest, das der Erndte dieses Jahres unser Nachdenken widmen will. Möge denn die Herrlichkeit des Herrn vom Gefilde her, wo gesät und geerndtet wurde, vor uns stehen, möge sie in Segnung, Mahnung und Beru­ fung wirksam zu unseren Herzen sprechen! I. und

„Ich machte mich auf und ging hinaus in's Feld

siehe da stand die Herrlichkeit des Herrn daselbst."

Treten wir im Geist auf das Gefilde, wo geerndtet wurde, geht nicht auch uns des Herrn Herrlichkeit auf? In den weiten Kreisen unseres lieben Vaterlandes sind die Felder wieder bedeckt gewesen mit dem rei-

262

chen Segen des Jahres. Die Feldfrüchte füllen jetzt Scheuern, Keller, VorrathSgemächer. Reichlich ist zugewachsen die Frucht mannichfachster Art, so daß wir von dem, was unsere Brüder auf dem Lande gesam­ melt, freudig unser Leben fristen können. Segnungen reichster Art erfüllen damit das Land. Auf's Feld, woher diese Segnungen geflossen sind, im Geiste hinaus! Es lag das Feld zeitweise von der Gewalt des Frostes wie gefesselt, leer, öde, traurig, keine Spur des Lebens, keine Aufforderung zur Freude daran! Wie sind denn diese Fesseln gelöst? Das uralte und doch immer wieder junge, ewig neue Schauspiel hat sich auch in diesem Jahre vor den Augen der Menschen wiederholt und ihre Seelen mit Freuden erfüllt. Höher und höher stieg am Him­ mel die Sonne, immer grader sendete sie des Mittags ihre Strahlen hernieder, immer mehr entwickelte sie die Wärme im Schooße der Erde, immer milder wehten die Lüfte. Und siehe wie die Wärme wiederkehrte, so sammelte sich zu Zeiten das Gewölk an des Himmels Gezelt und das erfrischende Naß strömte hernieder und feuchtete die Felder. Und die Stürme und die Wetter, aus denen die zuckenden Blitze gewaltig herniederfuhren, zogen über das Land dahin, reinigend die Luft von schädlichen Dünsten. Wie so die Wärme wiederkehrte, wie Regen und Sonnenschein, wie die in Blitz und Sturm sich entladenden Wetter und die friedliche, liebliche Stille wechselten; da ein Schwellen und Treiben im Schooße der Erde, ein Hervorbrechen unzähliger, zarter Keime aus der Rinde des Bodens, da ein frisches, frohes Grünen, wie es das Auge erquickt, ein Wachsen, ein liebliches Blühen, bis die Saatfelder wogten wie ein Meer und endlich in den Aehren der schwere, reiche Segen. Siehe alle die mannichfachen Kräfte in der Natur, wie sie in ihrem Zusammenwirken solches erzeugten, sind sie denn nicht allein der ewigen Urkraft wieder entquollen? Die Harmonie, in der diese oft scheinbar sich feindselig bekämpfenden Kräfte wirkten, zeugt sie nicht von der unendlichen Weisheit jener ewigen Urkraft? Wenn wir im Geiste so hinausgehen in's Feld, o der Herr steht vor uns, von dem es lautet*): „Du lässest deinen Odem aus, so werden sie geschaffen *) Psalm 104, 30.

263

und erneuerst die Gestalt der Erde." Er steht vor uns, wie er mit seiner unendlichen Macht das All durchdringt und erfüllt. Er steht vor uns*): der „da spricht und es geschieht, der da gebietet und es steht da." Und diese weisheitsvolle, Alles in Einklang zusammenfügende Macht, wie aus ihr das Leben quillt, zu welchem Zweck doch ließ sie keimen, wachsen, blühen, reifen, warum füllte sie Baum, Strauch und Pflanze, Feld, Wiese und Garten mit dem Reichthum der Früchte? Der Psalmist sagt**): „Es wartet Alles auf dich, daß du ihnen Speise gebest zu seiner Zeit. Wenn du ihnen gibst," fährt er fort, „so sammeln sie, wenn du deine Hand aufthust, so werden sie mit Gut gesättigt." Darum ruft Gott immer von Neuem in's Sein Sommer und Winter, Tag und Nacht, Säen und Erndten, auf daß er alles Lebendige sättige mit Wohlgefallen. Er gedenket der Vögel unter dem Himmel und der Thiere in Feld und Wald, daß er ihnen ihre Nahrung gebe zu seiner Zeit. Gott ist ein Liebhaber des Lebens und seine Se­ ligkeit ist es mit, das Leben zu erhalten. Vögel nehmen von ihm die Nahrung und die Blumen ihren Schmuck, seid ihr nicht vielmehr denn sie, sollte es der himmlische Vater nicht vielmehr euch thun? fragt der Erlöser. Ja, daß seine Menschenkinder an den väterlichen Gaben sich ernähren, erquicken und erfreuen, dazu ganz besonders hat er sie gegeben. Der Menschheit ist es gesagt: Machet euch die Geschöpfe der Erde Unterthan und herrschet über sie. Für die Menschen so recht besonders gehet auf die Sonne am Himmel, strömet der befruchtende Regen hernieder, füllt sich Feld und Wald mit reichstem Segen. Die Menschheit ist auf den Feldern auch in diesem Jahre wieder so reich­ lich gesegnet. Wohl erklingen bei der allgemeinen Fülle auch mancher Orten die Klagen über Armuth, Mangel und Noth. Gewiß ist es, daß auch die Erndten und ihr Segen für die verschiedenen Menschen ein gar ver­ schiedenes Maaß haben, daß danach fast unendlich viel Stufen des Besitzes in unserem Ges^^cht ^orhanden sind. Aber grade diese Ver­ schiedenheit ist nothwendig zum Bestehen, zum Wohlergehen und Heil *) Psalm 33, 9.

**) Psalm 104, 27-28.

264 des ganzen Geschlechtes.

Ja diese Verschiedenheit bedingt es für jeden

Einzelnen, daß er sein täglich Brod gewinnt. Nur dann, und nur da, wo in der Menschheit die menschenwürdige, gottgefällige Gesinnung fehlt, wo eS auf der einen Seite an Fleiß und Arbeitsamkeit, an der treuen Pflichterfüllung und Verwaltung in Beziehung aus'S irdische Gut ge­ bricht, wo auf der anderen Seite man in menschlichen Herzen umsonst nach Menschlichkeit, nach Mitgefühl und Mitleid, nach barmherziger Liebe sucht, nur da ist es möglich, daß einzelne im Mangel bitter lei­ den, daß sie umsonst seufzen nach dem täglichen Brod. Menschen haben es viel an sich fehlen und lassen es viel an sich fehlen, darum so viel Uebelstände, so viel Quellen der Noth und des Elendes. nie an sich fehlen lassen.

Gott hat's

Die Felder, wie sie in diesem Jahre getragen,

sagen uns wieder: Er thut seine milde Hand auf und sättiget Alles, was lebet mit Wohlgefallen.

Und wer hat ihm etwas zuvor gegeben,

daß Gott es ihm wieder vergelten müßte? Oder wer könnte sprechen: Ich habe solches verdient?

Reine, lautere GotteSgüte ist in diesem

Jahre allwirksam gewesen, das kündet uns das Feld.

In dieser Güte,

in dieser weisheitsvollen Macht, in den reichen Segnungen derselben, leuchtet von den Erndtefeldern, die ihre Früchte gespendet haben, uns die Herrlichkichkeit des Herrn auf's Schönste entgegen. II.

Diese Herrlichkeit weisheitsvoller Macht und Güte hat aber

in ihren Segnungen zugleich die dringendste Mahnung für uns. Menschen hat Gott sich bekundet.

UnS

Uns hat er durch die Offenbarung

seines Wesens an unserem Geist die Möglichkeit gegeben, ihn zu nennen, ihn beim Namen zu rufen.

O da ist es auch heilige Pflicht, diesen

Namen Gottes, dieses offenbare Wesen des Ewigen zu heiligen.

Wie

von dem Erndtefelde her Gottes Herrlichkeit leuchtet und Gott als Va­ ter, der gütig versorgt, sich offenbart; so beten wir auch nach dieser Seite: „Geheiliget werde dein Name," er werde heilig bei uns, daß er wirkt, was dir gefällig ist!

Die Macht der ewigen Güte, die

Güte der ewigen Macht schließt sich hier auf.

Wohlan nur durch

Dankbarkeit auf der einen und durch Vertrauen und Ergebung auf der anderen Seite wird solche Heiligung göttlichen Namens geschehen. Wie wir Sein und Leben der ewigen Schöpferkraft Gottes schulden,

265

so erinnert uns die Erndte, die Herrlichkeit deS Ewigen auf dem Ge­ filde, daß er uns auch hält und trägt mit seinem kräftigen Wort, daß er unS fortwährend Nahrung und Erquickung gewährt, daß er mit den Gaben seiner Liebe unser Herz erfreut. Darum des Herrn Herrlichkeit auf dem Felde mahnt*): „Danket dem Herrn; denn er ist freundlich und seine Güte währet ewiglich." Möge unsere Antwort auf diese Mahnung lauten**): „Ich will dem Herrn singen mein Leben lang und meinen Gott loben, so lange ich bin." Gott bedarf in keiner Beziehung unser, und unser armer Dank kann ihm am wenigsten etwas gewähren. Und dennoch will er und fordert er diesen Dank von unS. Um unser Heil ist es ihm zu thun, unsere Seligkeit will er fördern, uns immer höherer Seligkeit fähig und würdig machen. O Dankbarkeit ist mit eine recht wesentliche Grundlage des wirklich sittlichen Lebens. Wir Eltern lassen bei der Erziehung unserer Kinder es auch unsere Sorgfalt sein, in ihnen die Gefühle des Dankes zu erwecken und herrschend zu machen. Suchen wir da wohl irgend etwas für uns, hoffen dieses oder jenes von ihnen zu erlangen? Ich meine, daran denkt die ächte Elternliebe am wenigsten. Auch hier haben wir allein unsere Kinder und ihr Wohlergehen im Auge. Wir wissen es, nur als dankbare Menschen werden unsere Kinder einst wirklich ein menschenwürdiges Leben führen, nur als dankbare können sie in der Welt wahrhaft beglückt, können sie von Gott beseligt werden. Undank­ barkeit verzerrt zu widerwärtiger Häßlichkeit den inwendigen Menschen, läßt, selbst tief gemein, in alles Gemeine hinabsinken, zerreißt alle wirkliche Gemeinschaft der Liebe zwischen uns und Gott und zwischen den Nebenmenschen. Gott will, daß uns geholfen werde, daß wir uns immer mehr zur sittlichen Schönheit, zum religiösen Frieden erheben. Deshalb will er uns von den Gefühlen der Dankbarkeit erfüllt sehen. Das nun, daß er vom Felde her, aus der reichen Erndte uns dazu so eindringlich ermahnt, durch den Reichthum seiner Liebesgaben uns fast unwiderstehlich zum Danken zieht; das ist seine Herrlichkeit, die uns eben in der Erndte entgegenleuchtet. *) Psalm 106, 1.

**) Psalm 104, 33.

266 Dankbarkeit gegen den Geber alles Guten ist mit einer anderen Tugend innig verschwistert, eng verknüpft, mit dem kindlichen Vertrauen, mit der kindlichen Ergebung.

Der Mensch hat es von Gott als hohe,

geistige Gabe empfangen, mit ahnender Vernunft in die Zukunft zu schauen, das Nothwendige und Heilsame der kommenden Tage zu über­ legen, um rüstig die Hand anzulegen und Alles zur rechten Zeit zu beschaffen.

Zu der menschlichen und menschenwürdigen Thätigkeit ist

dies Blicken in die Zukunft unbedingt nöthig, gehört darum recht wesent­ lich mit zu den hohen Vorzügen des Menschen, zu dem Schmuck gött­ licher Ebenbildlichkeit.

Was aber Hohes und Schönes den Menschen

gegeben, wie oft und wie leicht wird es von ihnen zum Schlimmen gewendet!

Dieses Hinausschauen

in die Zukunft, diese Befähigung,

vorher schon Alles weise zu überlegen und abzuwägen, es wird so oft zu dem Wahn, als sollte der menschliche Geist nun Nöthige allein ersinnen, sondern auch rein

nicht nur alles

und allein erzeugen, er­

schaffen, es wird ein praktisches Sichabwenden von Gott, ein Verlieren Gottes,

wird ein Ergriffensein von der Macht ungläubiger Sorgen.

Dort schauen die Jünger hinein in das Gewoge, in die brandenden Strudel des Lebensmeeres und nur für ein Gefühl bleibt Raum in der Brust, wie es sich ausdrückt in dem Angstruf „Herr wir verderben." Hier blicken Väter und Mütter auf die Häupter ihrer Lieben, auf die mannichfachen Bedürfnisse derselben, auf die vermeintlich so geringen Mittel und nichts lebt in ihrem Gemüth als das bange Zagen: „Wo­ her nehmen wir Brod, daß diese essen?

Was werden wir essen, was

werden wir trinken, womit werden wir uns bekleiden?"

Wo aber so

glaubensloses Sorgen Gewalt gewinnt, da ist dem Menschen das himm­ lische Gepräge der Gotteskindschaft wieder verloren, da, wie der Friede keine Stätte im Herzen hat, so wird sich selbst Weisheit und Thatkraft für's Leben mehr und mehr verlieren.

Welch lieblicher Anblick, wenn

daö zarte, junge Kind sich an der Mutter Brust, an den Busen des Vaters lehnt und nun einer Welt voll Gefahren gegenüber sich so wohl geborgen, so sicher fühlt.

Kindliche Schönheit ist überaus lieblich und

doch wird sie von männlicher Schönheit übertreffen.

Die Fülle des

Geistes ist es, die sich in größerer Klarheit, Bestimmtheit und Kraft

267

hier wieder spiegelt. Wie köstlich, wenn so der herangereifte Mensch in allem Denken, Trachten und Thun seines Lebens sich so ganz als Gotteskind weiß, daß er sich stets an des Vaters Busen bergen darf, wenn bei allen Gefahren und Nöthen die Heiterkeit kindlichster Zuversicht, die Ruhe vollster Ergebung das Innere erfüllt und die äußere Erschei­ nung verschönt. In Vertrauen und Ergebung bewährt die Frömmigkeit ihre Kraft und Lauterkeit, bewährt sich die wahre, ächte Jüngerschaft des Herrn. Wohl klingen so vielfache Gottessprüche aus der Bibel so herrlich von Gottes Liebe und Treue, mahnen nach dieser Seite so kräftig! O wohl ist vor Allem in Christi Erscheinung, in seinem Leben, seinem Tode und seiner Auferstehung die Herrlichkeit der Gottes­ liebe, die uns nimmer verläßt und versäumt, aufgeschlossen! Wohl von dieser Seite werden wir auf's kräftigste, zum lebendigen Vertrauen, zur kindlichen Ergebung geführt! Aber wir wollen vor dem Höchsten auch das Hohe, über die Offenbarung auf dem Gebiet der Gnade auch die Offenbarung auf dem Gebiet der Natur nicht vergessen! Die Herr­ lichkeit des Herrn steht auch nach dieser Seite vor uns auf dem Felde, in der Erndte. Aus der Erndte her bestätigt sich uns wieder das Wort*): „Es soll nicht aufhören Saamen und Erndte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht." Aus der Erndte spricht der Herr**): „Meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen." Aus der Erndte ruft er***): „Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird's wohl machen." „Alle eure Sorge werfet auf ihn, denn er sorget für euch"')'). Aus der Erndte leuchtet uns die Herrlichkeit unseres Gottes, die durch lebendige Ermahnung kindliche Dankbarkeit und kindliche Zuversicht und Ergebung uns in die Seele flößt. III. Des Herrn Herrlichkeit spricht aber endlich vom Felde her, indem er zur Treue in unserem Beruf ermuntert, reizt und kräftigt. Kindliche Dankbarkeit und kindliche Ergebung sind der Schmuck des inwendigen Menschen, wie dieser in sich selber und in seinem Gott ruht. Diesem Schmuck muß nun auch das äußere Leben in thatkräftiger *) 1. Moses 8, 22. ***) Psalm 37. 5.

**) Jesaias 54, 10. t) 1. Petri 5, 7.

268 Pflichterfüllung entsprechen.

Der reichste Segen ist auf allen Gefilden

unseres Landes wieder gesammelt. ihn

gegeben.

Aber

das

Gott mit seiner Schöpferkraft hat

war und das ist seine Ordnung,

daß im

Schweiße des Angesichtes der Mensch zuvor das Feld bebauen, daß er mit klugem, denkendem Geiste Alles bestellen mußte.

Ohne menschliche

Ueberlegung und Thätigkeit hätte das Feld wohl manche Blume und manchen Saamen getragen/ aber die ernährende,

erhaltende Erndte

wäre uns versagt geblieben und unserer harrte der Hungertod. Theuren, das ist Gottes Ordnung, das ist Gottes Liebe!

Meine

Er nöthigt,

er drängt, er beruft so die Menschen immer fort zur anstrengenden Thätigkeit, zum rüstigen Gebrauch aller Kräfte des Geistes und Leibes. Nur in der Anstrengung entfaltet sich Leib und Seele, nur in der Uebung der Kräfte kommt der Mensch in ihren Besitz,

nur in der

rüstigen Arbeit, in der eifrigen Erfüllung der Pflicht wird der Mensch wirklich Mensch, aus dem das Gottesbild lieblich herausschaut.

Siehe

die Herrlichkeit der ewigen Liebe ruft auch von dem Felde her, auch aus der Ordnung des Säens und Erndtens uns, daß wir in ernster Pflichterfüllung, in eifrigem Streben, in treuer Berufsarbeit immer mehr die Gottähnlichkeit in uns herausbilden.

Die Gottähnlichkeit! —

Gott wirkt fort und fort. — Ohne frische, kräftige Thätigkeit auch keine Aehnlichkeit mit ihm.Aber in seiner

Allwirksamkeit ist Gott die Liebe.

Noch einmal

im Geist auf's Erndtefeld! — Was auch menschliche Thätigkeit dort vollbracht, die Macht der ewigen Gottesliebe hat allein dazu Kräfte, Gesundheit, Lust und Freudigkeit geschenkt, hat allein Wachsthum und Segen verliehen, hat allein vor Schaden und Verderben

gnädiglich

geschirmt und bewahrt. Allein die allmächtige Liebe ist der Brunnquell aller Güter, für die wir heut danken. der Erndte dieses Jahres strahlt;

O

wenn sie uns so

aus

hören wir nicht ihren Ruf:

So

werdet auch ihr darin Gottes Nachfolger als die lieben Kinder, liebet auch ihr nicht mit Worten, noch mit der Zunge, sondern mit der That und Wahrheit? Wie der Vater euch gesegnet, so speiset die Hungrigen und kleidet die Nackten!

Wie der Vater auch über Böse (und Gute)

seine Sonne aufgehen und seinen Regen herabströmen ließ, so liebet

269 auch ihr eure Feinde und wenn sie hungert, speiset und wenn sie durstet, tränket sie, damit ihr die feurigen Kohlen heilsamer Selbsterkenntniß auf ihrem Haupte sammelt!

Ja nehmet euch der heiligen Nothdurft

an! Laßt uns Gutes thun an jedermann, allermeist aber an des Glau­ bens Genossen. . Die Liebe allein ist die Bewährung und der Beweis eines ächten Glaubens, der da beseligt, die Liebe rühmet sich wider das Gericht und höret nimmermehr auf.

Indem Gott von den Erndtefel-

dern her uns zur thätigen Liebe beruft, geht Uns darin recht wesentlich die Herrlichkeit seiner Gottesgnade auf. „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichniß."

Daher deö Erlösers

liebe Gewohnheit, im Bild, im Gleichniß zu sprechen.

O auch das

Feld der Saat und Ernte ist ein Gleichniß, durch welches Gott der Herr zu dir spricht.

Welches ist die Wahrheit darin?

Gefilde das Bild deines Herzens.

Es ist das

Wie das Gefild in sich birgt reiche

Kräfte der Fruchtbarkeit, so auch trägst du in dir reichste Kräfte und Vermögen!

Aber ohne die heilsame Bebauung der Erde wächst, grünt

und blüht es auf der Oberfläche; doch meist nur Kräuter und Pflanzen, welche nöthige Nahrung nicht gewähren, vielmehr Dornen und Disteln. Nur hier und dort einmal eine verlorene Pflanze mit einiger Frucht. Erst die Arbeit ist es, auf welche unter dem Licht der Gottesliebe der Erndtesegen folgt.

Gottes Herrlichkeit als die liebevolle Weisheit ruft

uns zu: Ach laßt das Feld euers Innern nicht brach liegen!

Durch­

furcht es zur rechten Zeit mit ernster Selbsterkenntniß und Selbstzucht. Nehmet den köstlichen Saamen des Wortes in euch auf und gebet euch hin den Strahlen der göttlichen Gnade, daß in euch sei ein Wachsen, Grünen, Blühen und Reifen für die Ewigkeit, daß ihr zeitigt die Früchte des ewigen Lebens! Nicht wahr, Geliebte, Gott redet mit uns auf dem Felde, indem er uns segnet, ermahnt und unseren Beruf uns erneuert? Steht so seine Herrlichkeit vor uns, so laßt uns in ihrem Lichte wandeln! Und nun zum Schluß noch ein ganz kurzes Wort, an euch, geliebte junge Christen, die ihr heut zuin erstenmal mit der Gemeine durch die Feier des Abendmahls euch znm Herrn bekennt*).

Die Herrlichkeit

*) Es war zwei Tage vorher die Einsegnung erfolgt und kommunizirten nun die Konfirmirten zum erstenmal mit der Gemeine.

270 Gottes ist euch besonders in Christo, in seiner Erlösung und Versöh­ nung gezeigt.

O vergesset sein nie. Höret ihn stets zu euch sprechen*):

„Wie euch der Vater geliebt hat, so liebe ich euch auch, meiner Liebe."

bleibet in

Aber behaltet auch offene Augen des Geistes für die

Herrlichkeit Gottes im Gefilde, in der Natur!

Laßt euch von dorther

die Stimme Gottes stets in eure Herzen dringen! Ihr seid jetzt gleich­ sam eingeführt in die Scheuer des ewigen Lebens. Kirche aufnimmt, da feiert sie Erndtefest.

Wo die christliche

Ach sorgt, daß ihr nicht

der Gemeine des Herrn wieder verloren geht, sorgt, daß ihr bei einer jenseitigen Erndte auch in's Reich der Herrlichkeit eingesammelt werdet! Die Herrlichkeit Gottes, die Herrlichkeit ewiger Macht, weisheitsvoller Güte, heiliger erziehender Gnade, möge sie euch aus Christo, möge sie euch auch aus der Natur stets entgegenleuchten!

Habt offene Augen

für alle geistige und leibliche Gottessegnungen! Laßt euch mit kindlicher Dankbarkeit und Ergebung an des treuen Vaters Busen betten! Erhebt euch jeden Tag von Neuem unter Gottes Beistand zu treuer Thätigkeit in eurem Beruf, zu freudigem Neben der Liebe, zur Kräftigung eures inneren Menschen an Glaube, Frömmigkeit und Tugend!

Dazu, noch

einmal, segne euch der Herr in eurem ganzen Leben, dazu segne er uns Alle! Amen! *) Johannes 15, 9.

Die christliche Friedfertigkeit. Text: Römer 12, 18. Ist es möglich, so viel an euch, so habt mit allen Menschen Frieden. 26ir haben im Laufe dieses Sommers, andächtige Freunde, ein­ zelne Seiten des christlich sittlichen Lebens in unseren Gottesdiensten angeschaut. Wir wollen auch heut ans diesem eingeschlagenen Wege verharren und ist aus dieser Rücksicht das verlesene Texteswort gewählt. Die Tugend, zu der wir hier ermahnt werden, wird in unserer Sprache aufs Passendste mit dem Ausdruck Friedfertigkeit bezeichnet. Qn diesem Wort aber liegt nicht nur das, daß man selbst nicht den Frieden ver­ letzt, sondern, daß man stets fertig ist zu demselben, bereit ist, den ver­ letzten und aufgehobenen Frieden wiederherzustellen, den Frieden auch dahin zu bringen und dort zu stiften, wo er noch fehlt. „So viel an euch ist," — so viel eure geistige Begabung, euer Beruf, eure Verhältnisse, so weit, der Geist, der in euch wohnt, es euch irgend möglich machen. Habt mit allen Menschen Frieden, — nach allen Seiten soll sich die Friedfertigkeit ausdehnen. Wir leben in der süßen Gemeinschaft der Liebe, in der Familie, im Hause. Haltet den Frieden ihr Gatten, ziehet auf eure Söhne und Töchter zu Kindern des Friedens, bewährt zwischen euch die Friedfertigkeit, ihr Brüder und Schwestern! Wir sind Bürger eines Staates, Genossen eines Volkes, Mitglieder eines bürgerlichen Gemeinwesens. Ihr Christen, so weit es möglich, Lieder: Nr. 292. 487, 8.

27.2 so viel an euch ist, suchet auch in diesen Kreisen den Geist des Frie­ dens herrschend zu machen, suchet den Streit und Hader auszugleichen! Wir leben im Schooß der Gemeine Christi, bilden mit seine heilige Kirche. O daß von uns aus nie etwas geschehe, das Band des Frie­ dens zu lösen oder zu zerreißen, daß wir dem schlimmen Streit und Hader entgegenwirken und in Sanftmuth und Liebe die Einmüthigkeit im Geiste befördern! Mit lieben, treuen Menschen, die so recht eigentlich Kinder des Friedens heißen dürfen, stehen wir im Verkehr. Daß doch nie die schwere Schuld, solche Friedenskinder zu verletzen, von uns auf unser Gewissen geladen werde! Aber mit allen Menschen, — auch da, wo Feinde uns gegenübertreten, uns kränken und schädigen, wo Zanksucht uns begegnet, auch da gilt unser Wort, auch da die Mahnung: Laß dich nicht das Böse überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem, überwinde mit dem Frieden, der von dir ausgeht, wenn es möglich ist, den Haß und Streit, der dich bekämpft! Eine allumfassende, allseitige Friedfertigkeit hat unser Text im Auge. Laßt uns bei derselben jetzt mit unserer frommen Betrachtung verweilen, indem wir 1) ihren Segen, 2) ihre Grenze und ihr Wesen, 3) ihre nothwendige Grundlage näher erwägen. I. „Ist es möglich, so viel an euch ist, so habt mit allen Menschen Frieden." So kurz und einfach dies ermahnende Wort ist, nicht wahr, ihr fühlt es seinem Ton an, es will mit drin­ gender Innigkeit sich den Zugang zu der Seele gewinnen? Vergessen wir nicht, wo Gott ruft, es ist seine heilige Liebe, welche spricht; wo die Männer GotteS ermahnen, es ist die Liebe Christi, die, ausgegossen in ihre Herzen, sich an uns wendet. Fordert diese Liebe so dringend uns zur Friedfertigkeit auf, es muß in derselben für uns reichster Segen ruhen, in ihr unser Heil nothwendig mit begründet sein. Und wie sollte das nicht? Blicken wir auf die vorher angedeuteten Sphären des menschlichen Lebens! Spricht nicht der Erlöser*): „Ein jechliches Reich, so es mit ihm selbst uneins wird, das wird wüste; und eine jechliche Stadt oder Haus, so es mit ihm selbst uneins wird, mag nicht bestehen?" Matthäus 12, 25.

273 Sagt uns nicht die Geschichte der Völker, daß da, wo die Liebe zu dem Ganzen zurücktritt, wo dagegen einzelne Stände und Parteien das Ihre suchten und sich in Streit bekämpften, daß da mächtige Reiche in den Abgrund des Verderbens

hinabstürzten

ihren Trümmern begruben?

und

die Verblendeten unter

Sehen wir nicht im Gegensatz, wie tief­

gebeugte, schwerbelastete Völker durch die Einmüthigkeit, in der sich alle im Frieden umschlingen, erstarken und neue Kraft und neues Heil gewinnen? Und die christliche Kirche?

Ja mit welchem Eifer ist um

die rechte und reine Lehre gestritten worden und wie sind die scharf­ sinnigsten Streiter, welche die vermeinten Irrgläubigen aus der Ge­ meinschaft herausdrängten, verherrlicht und gepriesen worden als Säu­ len der Kirche!

Es ist ja ein hochwichtiges Werk, im klaren Denken

die Heilswahrheiten uns anzueignen und sie so anderen mitzutheilen! Und doch die Art, wie man z. B. gestritten hat, ob der Sohn dem Vater wesensgleich sei oder wesensähnlich, ob man bje Maria Gottes­ mutter oder nur Christi Mutter nennen dürfe, wie dadurch der Friede, die Gemeinschaft zwischen den Christen vernichtet wurde, so sind damit der Gemeine Christi, dem frommen Leben die tiefsten Wunden geschla­ gen worden. Was uns näher liegt, die Reformazion als Rückkehr zum Evangelio, zur unmittelbaren Lebensgemeinschaft mit dem Erlöser im Glauben, als Erneuerung des frommen Lebens in und auö Gott, mit wie unwiderstehlicher, beseligender Kraft durchdrang sie die Völker und feierte Sieg auf Sieg.

Als aber der GlaubenSheld Luther so große

Kraft deS Geistes auf jenen unseligen Bruderzwist wendete, als man darüber, ob Christi Leib int Brode mündlich empfangen würde, streitend die Gemeinschaft brach, den Frieden unter Brüdern aufhob, da war es um die Macht des Evangelii, als eine Völker- und welterobernde gethan! So manches Land, so manche Provinz hatten der großen Mehr­ zahl ihrer Bewohner nach sich dem Evangelio

zugewendet.

Warum

sind dort die evangelischen Kirchen unseren Glaubensgenossen entrissen, oder warum sind sie zerfallen, warum die evangelischen Schulen ge­ schlossen, die evangelischen Gemeinen verschwunden?

Verfolgungssucht

mit List und Gewalt von der anderen Seite her haben freilich das Ihrige gethan.

Aber nur, weil durch die Zerstörung des Friedens das evan-

Thomas, Predigten.

1F

274 gelische Leben in der evangelischen Kirche so zerrüttet wurde, fehlte es dieser an der heiligen Kraft des Glaubens und der Liebe, am bösen Tage Widerstand zu leisten und das Feld zu behalten.

Wo die theo­

logische Wuth, die einst dem edlen Melanchthon das Leben vergiftete und ihm das Herz zuletzt brach, den Frieden aus der Kirche verbannt, da ist ihre Niederlage die nothwendige Folge. der Apostelgeschichte*):

Wie lieblich klingt'S in

„So hatte nun die Gemeine Frieden durch

ganz Judäa und Galliläa und Samaria und baute sich und wandelte in der Furcht des Herrn und ward erfüllt mit dem Trost des heiligen Geistes."

Nicht allein des Friedens von außen her, sondern auch des

Friedens im eigenen Innern ist damit gedacht.

Gearbeitet, gestritten,

gerungen muß um die Wahrheit in der Kirche werden!

Verschiedene

Richtungen des Geistes machen das stets von Neuem nothwendig. Aber wenn in diesem geistigen Kampf die Friedfertigkeit die arbeitenden, rin­ genden Geister umschlingt, sie immer wieder in den Tiefen des Heils vereinigt und zu dem Wirken der Liebe verbindet, wie wird sich da stets die Kirche bauen, wie wird sie da stets mit dem Trost des heiligen Geistes erfüllet werden!

Gehen wir im Geist über die Schwelle des

HauseS! Ach welche Jammerstätte, welche Wohnung tiefsten Herzeleides; wenn Hader und Streit da wohnen und herrschen, wenn die Herzen der Gatten in Entzweiung sich befinden, wenn ein Geist des Zwiespaltes Geschwister von Geschwistern trennt oder gar selbst Eltern und Kinder scheidet.

Bei allen Gütern der Welt fehlt jedes wirkliche Gut.

Keine

andere Freude dieses Lebens kann den Frieden ersetzen! Wohl eS geht umgekehrt durch unser Leben im

engen Kreise des Hauses zuweilen

manches schwere Geschick hindurch, es gibt zur Zeit wohl manches bittere Leiden zu tragen.

Aber wenn inniger, herzlicher Friede die Gemüther

mit einander verknüpft, nie werden sie sich wahrhaft elend fühlen können, nie wird ihnen ein kräftiger nachhaltiger Trost gebrechen! Ja selbst aus bitterem Weh erwächst ihnen jedesmal von Neuem wahrhaftiges Heil. Ist endlich der einzelne Mensch mit den Kräften seines Geistes auf den Streit gerichtet und geht mit seinem Streben im Kampf, der die

*) Apostelgeschichte 9, 31.

275

Einmütigkeit des Geistes aufhebt, auf; weder die nöthige Einkehr in ihn selbst bleibt ihm möglich, noch das kindliche sich Versenken in die göttliche Liebe und wie er beides sich unmöglich macht; so auch schneidet er damit für sich ab jedes Wachsthum am inwendigen Menschen. Nur wer den Frieden liebt und übt, wird im Frieden sich selbst erbauen auf dem Grunde des Heils, wird im Frieden als ein Gotteskind hin­ anwachsen an Jesum Christum unseren Herrn. Darum, der Gott, der unser Heil will, mahnt uns durch seinen Sohn, durch die geister­ füllten Apostel: „Habt Frieden unter einander!" „Seid friedsam!" „Jaget nach dem Frieden gegen jedermann!" Darum spricht Luther wohl recht schön: „Wer ist auf Erden so wohlbewahrt und so hoch von Sinnen, der sich unterwinden wolle, zu erzählen, wozu der Friede gut sei. Es ist wohl ein halb Himmelreich, wo Friede ist." II. Aber unser Text hat eine Beschränkung in sich: „Ist eS möglich, so viel au euch ist." Es gibt also auch Verhältnisse, wo es nicht von den Christen abhängen kann, den Frieden zu erhalten, wo der Friede ihnen eine Unmöglichkeit wird. Sehen wir auf den Herrn! Vom Frieden hat er den heuchlerischen Führern seines Volkes nicht gesprochen; sondern das Schwerdt des Geistes wider sie geschwun­ gen, daß sie auf's Tiefste erbittert gegen ihn mit den Zähnen knirschten. In Beziehung auf die Menschheit als Welt, d. h. wie sie sich der Sünde ergibt und überläßt, ruft er*): „Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin Frieden zu bringen, ich bin nicht gekommen Frieden zu bringen; sondern das Schwerdt." Aehnlicher Weise begegnen wir schon im alten Testament dem Weheruf über die falschen Propheten**), die von Friede predigen, „so doch kein Friede ist." So muß eS für den Jünger des Herrn Lagen und Verhältnisse geben, in denen ihm nicht der Friede, sondern der Kampf befohlen ist. Oder, wie steht es, wenn deinen Kindern von solchen, die sich den Zugang zu deinem Hause erschlichen haben, das Gift verführerischer Rede zugeführt wird, meinst du, aus Friedensliebe es still geschehen lassen zu müssen? Wirst du nicht im Gegentheil in heiligem Eifer die Gemeinschaft des Hauses *) Matthäus 10, 34.

**) Hesekiel 3, 16 u. 10. Jeremias 6, 14.«. .8, 11.

18*

276 solchen Verführern versagen?

Können wir überhaupt, wenn Lüge und

Wahn sich in unserer Umgebung breit machen, können wir das um des lieben Friedens willen geduldig tragen? Ruft uns der Herr nicht stra­ fend zu*): «Wer mich verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater?" Wollen wir um des Frie­ dens willen, dem Laster, der Sünde Thor und Thür öffnen?

Gilt's

nicht vielmehr dagegen den heiligen Krieg mit allen geistigen Waffen zu führen? Wollen wir der Habsucht und Raubsucht unser und der Brü­ der Eigenthum, dem hämischen Neide und der Verleumdung unsere und unserer Nächsten Ehre, der hochmüthigen Gewaltthat unsere und unserer Mitmenschen Rechte Preis geben? Werden wir nicht vielmehr aus un­ serem Gewissen heraus alle ordnungsmäßigen Mittel, wie sie die Rechts­ ordnung uns bietet,

anweilden,

um Ungerechtigkeit, verläumderische

Schmähsucht und frevelhafte Gewaltthätigkeit zu zügeln und zu fesseln, um uns jene genannten Güter zu erhalten?

Lassen wir die Ruchlosen

heut uns an Gut, an Ehre, an Recht schädigen und nehmen unsere Zuflucht nicht zu dem Rechtsschutz, in jenen wird die lasterhafte Gesin­ nung gestärkt und sie werden immermehr in der Gesellschaft keck und frech das Böse üben, Unrecht auf Unrecht häufen.

Also die Friedfer­

tigkeit, das ist uns klar, hat auch für den Jünger Christi ihre bestimm­ ten Grenzen.

Aber welches sind diese Grenzen? Fragen wir erst nach

dem eigentlichen Wesen der Friedfertigkeit. und Leben.

Jede Tugend ist Kraft

Die Friedfertigkeit kann weder geistige Schlaffheit und

Trägheit, noch Feigheit, sie kann überhaupt nichts Selbstisches sein. Die Kraft und das Leben der Friedfertigkeit ruht aber in der Liebe, die nicht das Eigene, sondern das erstrebt, was des Nächsten Heil for­ dert.

Wo man aus der Liebe heraus die Einigkeit im Geiste zu be­

wahren, aus der Liebe heraus Versöhnung, Wiedervereinigung, neue Gemeinschaft zu erzeugen strebt,

da ist die Friedfertigkeit.

Will aber

die Liebe das Heil der Brüder, so muß sie auch Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit wollen. ist der böse Saame,

*) Matthäus 10, 33.

Die Lüge erzeugt das Verderben.

Das Unrecht

ans dem schlimmste Erndten erwachsen.

Die

277 Ungerechtigkeit ist es,

welche zermalmende Strafen nach sich zieht.

Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit sind und bleiben die sicheren Grund­ lagen des Heils. Darum so viel christliche Friedfertigkeit uns inwohnt, so viel Verabscheuung der Lüge, des Unrechtes und der Ungerechtigkeit, so viel geistige Tapferkeit, diese Zerstörerinnen des Heils mit den rech­ ten Waffen zu bekämpfen.

Wo ihr in ein Haus kommt, also auch in

irgend einen Verkehr, da geschehe es stets mit dem Geist der Liebe, der segnend ruft: „Friede mit Euch!" Sind viel Schwächen auch vor­ handen, die rechte Liebe glaubet Alles, sie hoffet Alles, sie duldet Alles, sie höret darum nicht auf.

Auch wo gemahnt, gewarnt werdeU muß,

es. ist der Geist des Friedens, der sein Werk in Sanftmuth vollbringt. Aber Lüge und Ungerechtigkeit, sie zerstören, was die Liebe pflanzt, sie verwüsten das Heil; darum mit ihnen kein Friede, mit ihnen der Streit! Gegen die Liebe wäre es, uns mit diesen zu verbinden und zu verglei­ chen.

Mit ihnen Frieden zu schließen und Frieden zn halten wäre in

der That der Tod der rechten Friedfertigkeit.

An der Lüge, an dem

Brechen des Rechtes, an der Ungerechtigkeit hat die Friedfertigkeit ihre nothwendigen Grenzen. Aber auch da, wo für den Christen sich die Uebung des Christen­ thums als ein Kriegsdienst Christi gestaltet, wo der Christ zu streiten hat;

er muß sich auch da als ein Friedenskind bewähren.

Zunächst

gilt es für ihn in Beziehung auf weltliche Waffen: „Stecke dein Schwerdt in die Scheide."

Ihm bleibt der Lüge und Sünde gegenüber auf der

einen Seite nur das freimüthige Wort und Zeugniß der Wahrheit, auf der anderen nur das Suchen des Schutzes bei den Rechtsordnungen, wie sie unter der göttlichen Regierung in den Völkern sich gebildet ha­ ben und wie sie in steter Weiter- und Neubildung begriffen sind. So­ dann, wie wir auch Lüge, Wahn und Ungerechtigkeit in den Neben­ menschen mit der Macht der Wahrheit bekämpfen müssen; vergessen, daß die Irrenden und Sündigenden

nie ist zu

doch von Gott für

Wahrheit und Heil geschaffen sind, nie darf aufhören das Hoffen und das Streben, sie zur Wahrheit zu führen, sie in die Gemeinschaft der Liebe imb des Friedens aufzunehmen.

Auch wo der Jünger Christi

streitet, ist sein Ziel der Friede, auch wo er kämpft, ist seine Absicht,

278 die Bekämpften als Brüder zu gewinnen.

Indem so auch im Streit

nur für Wahrheit und Recht die Liebe das Gemüth beherrscht und die versöhnliche Gesinnung nur auf Umkehr harrt,

wird erfüllt unsere

Mahnung: Ist es möglich, so viel an euch ist, so habt mit allen Menschen Frieden,

wird geübt die christliche Tugend der

Friedfertigkeit.

in.

Fragen wir endlich nach der Grundlage der Friedfertigkeit.

Im Gemüth des Menschen muß diese gegeben sein, wird gesagt. Das ist auch richtig.

Wäre der Mensch von dem Gott des Friedens und

der Liebe nicht nach seinem Bilde geschaffen, nicht auf Liebe und Frie­ den angelegt, nicht für Liebe und Frieden empfänglich gebildet;

so

könnte unmöglich die Tugend der Friedfertigkeit sich je im Menschen entfalten. So haben wohl auch alle Menschen ihre Zeiten, ihre Stun­ den, in denen sie wie mit dem Hauche des Friedens übergössen sind, in denen sie die Bande des Friedens zu lieben scheinen. mit ihnen doch so häufig grade wie mit der Natur.

Aber es ist

Siehe den stillen

Abend oder Morgen, wie er mit dem milden Lichte der gehenden oder kommenden Sonne das ruhig liegende Gefilde in seiner Schönheit be­ leuchtet!

O

welcher liebliche Friede ist über Alles ausgegossen und

fordert von der Natur her auch Eingang in das menschliche Gemüth! Aber da, wo noch eben der Friede waltete, wie schnell bricht die Macht eines gewaltigen Unwetters in dunkler Wolkennacht mit brausendem Orkan, mit zerschmetternden Gewitterschlägen und verwüstenden Schlos­ sen herein!

An die Stelle des Friedens tritt der gewaltige Streit

ungezügelter Kräfte. Wohl kennen

Ist es nicht so mit den Menschen nur zu oft?

sie friedliche Stimmungen,

friedliche Anwandlungen.

Aber bei oft geringfügiger Veranlassung wallt nur zu stürmisch und heftig das Gemüth auf und in blinder Leidenschaft wird der Friede verscheucht und zerstört. für die Friedfertigkeit,

Worin liegt das?

Geliebte, der Mensch ist

aber nicht mit derselben von Gott geschaffen.

Mit anderen Worten ausgedrückt:

er hat,

wie es in Betreff jeder

Tugend gilt, die Anlage für dieselbe empfangen;

aber die Ausbildung

derselben zur bestimmten Tugend ist grade die Aufgabe, die ihm der heilige Gott gestellt hat, daß er sie selbst erst in seinem Leben löse.

279 Fragen wir nach der Grundlage der Friedfertigkeit,

so ist hier der

Boden gemeint, auf dem es uns möglich ist, dieselbe in gesunder und kräftiger Weise herauszubilden und zu gestalten. Der eine Boden, auf dem wir in jeder Beziehung allein unsere geistige Bestimmung erreichen, kann es auch hier nur feilt, nämlich die Gemeinschaft mit Gott. Ver­ gessen wir aber nicht, daß diese Gemeinschaft der Menschen mit Gott im Allgemeinen als gestört und verdunkelt erscheint, zerstört durch Selbst­ sucht, Sünde, Schuld.

Vergessen wir nicht, daß es allenthalben auf

die Wiederherstellung dieser Gemeinschaft ankommt.

Vergessen

wir

nicht, daß der rechte Wiederhersteller, der einige, rechte Mittler zwischen Gott und den Menschen, ist und bleibt, Jesus Christus der Herr, O das kommt hier ja wohl so recht in Betracht. Als Friedenskinder sollen und wollen wir die Friedfertigkeit nicht nur versöhnend, sondern wo's sein muß, selbst streitend üben gegen jedermann.

Gewiß, eS ist nur

auf der Grundlage des Gottesfriedens in eigener Brust möglich.

Sind

wir in Christo der versöhnenden Gotteögnade gewiß, hat unser christliches Leben seine beständigen grundlegenden Anfänge in dem Trost der Ver­ gebung, ist unser Her; deshalb fröhlich und freudig, zu jubeln*): „Lobe den Herrn meine Seele und was in mir ist seinen heiligen Namen, lobe den Herrn meine Seele und vergiß nicht, was er dir Gutes ge­ than hat, der dir alle deine Sünden vergibt und heilet alle deine Ge­ brechen, der dein Leben von dem Verderben erlöset und dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit," haben wir dies selige Gefühl, daß wir als begnadigte Gotteskinder am Busen Christi den Gottestrost genieße»; dann werden wir auch den Geist des Friedens in alle unsere Verbin­ dungen hineintragen, es wird die Lebenslust des Friedens uns um­ wehen, wir werden als Gotteskinder geeignet sein, nicht nur den Frie­ den zu erhalten, sondern ihn auch den Friedlosen zu bringen. Werden wir aber irgendwo von Hadcrsüchtigen, von Feinden der Wahrheit und des Rechtes zurückgestoßen und gehaßt; so wird, wie der Erlöser sagt, wenigstens unser Friede bei uns bleiben.

Wir sahen vorher, daß das

Leben und die Kraft der Friedfertigkeit in der Liebe ruhe.

*) Psalm 103, 1-4.

Gern er«

280 kennen wir an und heben wir hervor, daß Gott uns eben erst recht für die Liebe geschaffen und gebildet hat.

Aber wir müssen eben so,

der Wahrheit die Ehre gebend, bekennen, daß wir Menschen in unserer rein natürlichen Entwicklung nicht dem göttlichen Zuge zur Liebe folgen, vielmehr uns ihrem Gegentheil, der Selbstsucht, der Wurzel und dem Kern aller Sünde, hingeben.

Eben weil die Selbstsucht so weit und

so stark die Gemüther beherrscht, fehlt es so viel am Frieden, tritt die Tugend der Friedfertigkeit verhältnißmäßig nur so selten hervor.

Es

gilt Rückkehr zur Liebe, wenn Friedfertigkeit der Schmuck unseres in­ wendigen Menschen sein und werden soll.

Rückkehr zur Liebe ist nur

gegeben in Rückkehr zu Gott, die Liebe wird nur geschöpft aus ihm, der selbst die Liebe ist.

Gott aber hat uns die Rückkehr zu ihm berei­

tet eben in seinem Sohn, in ihm, der die volle göttliche Liebe in seinem Leben und Sterben auf Erden heimisch machte, in ihm, der in der ganzen Zeit seines Wirkens im heißen Streite stehen mußte und doch stets den Frieden brachte denen, die irgend ein offenes Herz für den­ selben in der Brust trugen. In seiner Gemeinschaft lernt und gewinnt man die Liebe, welche den Haß überwindet, in seiner Gemeinschaft ge­ winnt man darum die Kraft und das Leben der Friedfertigkeit.

Die Ge­

meinschaft mit Jesu ist sonach die Grundlage, wie aller Tugend, so auch der Friedfertigkeit.

Halten wir denn mit Innigkeit an ihm, dem An­

fänger und Vollender unseres Glaubens, auf daß wir von ihm die Kraft

nehmen

unserer apostolischen Mahnung zu folgen:

„Ist es

möglich, so viel an euch ist, so habt mit allen Menschen Friede," auf daß auch für uns Geltung habe das schöne Wort des Erlösers: „Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen."

Amen.

Das unchriftliche Richten. Text: Matthäus 7, 1—5. Richtet

nicht,

auf

daß

ihr

nicht

gerichtet

werdet.

Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden;

und mit welcherlei Maas ihr messet, wird euch

gemessen

werden.

Was siehst du aber den Splitter in

deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?

Oder wie darfst du sagen zu deinem

Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen?

Und siehe ein Balken ist in deinem Auge,

Du

Heuchler, ziehe am ersten den Balken aus deinem Auge, darnach besiehe, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest. „Richtet nicht!"

Welche Zunge, Geliebte im Herrn, hätte

dies Wort des Erlösers nicht als heilsame Ermahnung ewiger Wahr­ heit schon nachgesprochen und welche Zunge hätte nicht dagegen schon gesündigt! Das Richten verbietet der Herr. Ja was gilt mehr als ein Zeichen unchristlichen Wesens und wessen hat sich die Christenheit in Gemeinschaft und durch einzelne Glieder von jeher mehr schuldig gemacht? Wie einfach und klar klingt die Mahnung und was ist je mehr mißverstanden und mißdeutet worden? Es bedarf darum keiner weiteren Auseinandersetzung, wie überaus wichtig für uns es ist, immer Lieder: Nr. 15. 676.

282 von Neuem Verständigung und Beherzigung für diese Worte unseres Erlösers zu erstreben. Möge unter dem Beistand des göttlichen Geistes unsere heutige Betrachtung uns nach beiden Seiten bereichern, uns erleuchten und sittlich beleben. Das unchristliche Richten unter­ ziehen wir unserem Nachdenken indem wir 1) den Begriff desselben unS feststellen, 2) die Gesinnung erforschen, aus der es entspringt, 3) die Folgen nachweisen, die es erzeugt. I. Daß wir mit unserem Gebot „Richtet nicht" uns nicht auf daö Gebiet der bürgerlichen und staatlichen Rechtsordnung begeben, daß wir der Obrigkeit und dem richterlichen Amt nicht den Mund schließen, nicht in den Arm fallen dürfen, versteht sich für uns von selbst. Der Herr und der von ihm ausgehende Glaube kann am wenig­ sten die Rechtsgrundlagen im Volksleben als die ersten und nöthigsten Bedingungen aller öffentlichen Wohlfahrt und alles Wohlergehens der Einzelnen bestreiten und aufheben. Es gilt für uns des Apostels Wort: „Seid Unterthan aller menschlichen Obrigkeit." Unser Wort bezieht sich vielmehr auf unser religiös sittliches Leben in unserem Verkehr, in den verschiedenen Gemeinschaften, in unserem gegenseitigen Verhalten entweder als Mitmenschen oder als Glieder derselben religiösen Gemein­ schaft oder als Bürger desselben Reiches, Bürger derselben Gemeine unter einander. Aber spricht der Erlöser nicht nach dieser Seite hin im Gegensatz zu unseren Textesworten ein andermal*): „Richtet nicht nach dem Ansehen, sondern richtet ein rechtes Gericht?" Sagt nicht Paulus**): „Der Geistliche (der wahrhaft erleuchtete und vom Geist Gottes beseelte Christ) richtet Alles?" Wird da nicht das Richten gefordert, während unser Text es verbietet? Offenbar können wir keinen wirkliche» Widerspruch des Herrn mit sich selbst annehmen; sondern es wird hier stattfinden, was uns so oft in jeder Sprache begegnet, daß nämlich dasselbe Wort nicht immer in derselben Bedeutung gebraucht wird, daß diese Bedeutung oft nach dem Zusammenhange sich ändert. Richten heißt zunächst in sittlicher Beziehung urtheilen über Handlungen oder über Personen. Wie steht es mit solchen Urtheilen? Soll in einer *) Johannes 7, 24.

**) 1. Korinther 2, 15.

283 Gemeinschaft unsittliches Wesen untergehen, wahrhafte Sittlichkeit belebt gekräftigt und verbreitet werden; es ist der einzige Weg der, daß über das Schlechte im Thun als solches geurtheilt, gerichtet wird. Je mehr der waltende Gemeingeist das Böse als Böses brandmarkt; desto mehr werden die Einzelnen vor demselben bewahrt.

Der Gemeingeist aber,

wie er das Schlechte verurtheilt, kommt nur zur Kraft und Wirksam­ keit, wenn die einzelnen Glieder der Gemeine als Bekämpfer des Bösen kräftig hervortreten. Teufels zu zerstören

Der Herr, der gekommen ist, die Werke des und darum alle ihm entgegenstehende Sünde

strafte, kann uns das Urtheilen über das Böse, ja selbst die heilige Entrüstung beim Urtheilen über Gemeinheit und Verworfenheit nicht verbieten. Ferner unsere Mitbrüder sind uns theilweise gesetzt zu Vor­ bildern, daß sie uns anspornen, ihnen gleich in der Heiligung zu wach­ sen.

Andererseits sind manche unserer Nebenmenschen so geartet, daß

nur ein nachtheiliger Einfluß von ihnen auf uns geübt werden kann, daß sie uns als Verführer zur Seite stehen.

Es kommt darauf an,

daß wir im Verkehr mit unseren Nebenmenschen eben so für die Ein­ wirkung zum Guten uns offen erhalten, wie gegen das Verführerische uns schützen.

„Folget mir, liebe Brüder, und sehet auf die, die also

wandeln, wie ihr uns habt zum Vorbilde"*), mahnt deshalb Paulus und wieder spricht er warnend**): „Sehet auf die Hunde, sehet auf die bösen Arbeiter, sehet auf die Zerschneidung" und der Erlöser***): „Sehet euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe."

Wie könnten

wir aber vor jemandes schlechtem Einfluß uns hüten, oder jemand uns zum Vorbild erwählen, wenn wir nicht ein Urtheil über denselben uns bilden.

Endlich sind wir wirkliche Jünger. Christi, so sind wir auch

berufen, irgendwie auf andere, auf ihr religiöses und sittliches Leben zu ihrem Heil einzuwirken.

Gilt es aber^

die Angelegenheiten

des

Reiches Gottes zu fördern, Gemeinnütziges zu Stande zu bringen, so vermögen wir gewöhnlich

als die Einzelnen nichts oder sehr wenig

und bedürfen der Mitarbeiter. *) Philipper 3, 17. ***) Matthäus 6, 15.

So gut, wenn wir ans andere, wie **) Philipper 3, 2.

284 wenn wir mit anderen wirken wollen, ist es abermals unumgänglich nothwendig, ein richtiges Urtheil über sie zu gewinnen. Unmöglich also kann und will der Herr uns das klare, scharfe Urtheilen über Hand­ lungen und Personen

untersagen.

Vielmehr ist es

vom Geist des

Christenthums geboten, immer mehr den Blick zu schärfen, das feine Gefühl für Sittliches und Unsittliches zu erhöhen, Alles zu prüfen, alles Unsittliche immer mehr in seiner Schlechtigkeit und Nichtigkeit zu durchschauen, die Mitmenschen in unseren Umgangskreisen zu wiegen und zu wägen, um ein möglichst richtiges Bild von ihnen zu gewinnen, und in jeder Beziehung zu wissen, wie wir mit ihnen daran sind, was wir von ihnen zu halten haben. Also in diesem Sinne ist das Richten vom Herrn nicht verboten. Wie denn aber?

Offenbar braucht der Erlöser in unserem Text das

Wort Richten, wie es auch heute noch bei uns Sprachgebrauch ist, von einem besonderen Urtheilen, nämlich von dem, was mit dem Thun des Richters zusammenfällt und zwar nicht, sofern er unschuldig Angeklagte, sondern

sofern er Schlechte, Verbrecher vor

dem Richterstuhl hat.

Der Gerichtete ist da nicht der Beurtheilte, sondern der Verurtheilte. Gerichtet sein heißt Verworfen sein, Verdammet sein.

Dieses Richten

nun verwirft der Herr für das Leben des Christen.

Dabei bleibt es

stehen, daß wir über das Böse und Gute, über die Bösen itttb die Guten zu urtheilen haben, nur daß es dabei gilt: Urtheilet recht, richtet ein rechtes Gericht aus dem Geiste Jesu Christi heraus!

Diebstahl,

Lüge, Ehebruch bleiben bestimmte Sünde; aber wie verschieden das Sündige, das Böse in den gleichen Thaten, je nach der Gesinnung, aus der sie flössen, nach der Leichtigkeit oder Schwierigkeit der Aus­ führung, nach der stürmischen,

mächtigen oder geringen Versuchung

wie verschieden darum dabei der Grad der Verschuldung! Schon hier­ nach wie sorgsam und gewissenhaft ist zu achten, daß man ein richtiges Urtheil über die Handlungen und damit über die Personen gewinne, nicht vorschnell den Stein gegen sie aufhebe!

Ferner, was auch von

einem Menschen gefehlt ist, das Urtheil über ihn soll nicht blos in Beziehung auf die Vergangenheit, sondern auch in Bezug auf die mög­ liche Zukunft gefällt werden.

Der verlorene Sohn war der verlorene,

285 der tiefgesnnkene auch in den Augen des Vaters.

Aber das war er

für den Vater nicht allein, sondern zugleich der, welcher wiederkehren, sich selbst und das Vaterhaus wiederfinden konnte.

Die Juden unter

dem Kreuz waren in Jesu Augen die Schwerverschuldeten, die über sich und ihre Kinder zu weinen, die gewichtigsten Gründe hatten. Aber das waren sie ihm nicht allein, sie waren auch solche, die wohl einst in sich schlagen, göttliche Gnade suchen und Vergebung finden konnten. Richtet ein recht Gericht, will sagen: fehlende Brüder nicht, was

Bergest bei eurem Urtheil über

sie einst noch wieder werden und sein

können, beurtheilt sie unter dem Lichte der christlichen Hoffnung.

Wie

fein auch endlich das Gefühl für alles Unsittliche sei, wie entschieden die Abwendung von demselben und wie klar danach auch das Urtheil über Personen, die sich dem Bösen ergeben haben, ausfalle;

nie soll

man sich ihnen völlig entziehen, sondern mit der Hoffnung auf Besse­ rung, wie die Gelegenheit sich gibt, bereit bleiben, ihnen die Hand zur Aufrichtung zu bieten.

Wie sehr der Herr die Verderbnis Jerusalems

erkennt und die Stadt und ihre Kinder straft, daß sie nicht bedenken, was zu ihrem Frieden dient;

er kehrt immer wieder und läßt seine

warnende, mahnende, bittende Stimme ertönen, um sie wo möglich unter die schirmenden Fittiche seiner Liebe zu sammeln.

Bei jedem

Urtheil über Fehlende gilt es, wo möglich selbst ihnen Anhalt und Beistand zur Besserung zu gewähren. In vollem Gegensatz zu dem Gesagtem steht das Thun, welches der Herr hier mit dem Worte „richten" bezeichnet.

Es ist ein Ur­

theilen, das stets in's Verurtheilen umschlägt, das keine Rücksicht ans Gesinnung, Vermögen, Verhältnisse, Umstände, Anfechtung und Ver­ suchung nimmt, das abschließend abspricht, ausschließend von sich stößt, verwerfend verdammt.

Der betende Pharisäer

ist in diesem Sinne des Wortes: der Richtende.

in jenem

Gleichniß

Die Pharisäer über­

haupt, wie sie sich z. B. den sogenannten Zöllnern und Sündern gegen­ über verhielten, geben uns eine lebendige Anschauung von dem, was der Erlöser meint.

Daß der Herr so

das

Wort verstanden

hat,

geht uns so recht bestimmt daraus hervor, daß er nach Lukas dem „Richtet nicht," „so werdet ihr auch nicht gerichtet" erklärend und er-

286 gänzend hinzufügt:

„Verdammet nicht, so werdet ihr auch nicht ver­

dammet." II.

Welcher Gesinnung entspringt, fragen

wir

zweitens,

dies

Richten? Wie der Heiland dies Richten verbietet; so fühlt gewiß jeder seiner Jünger das Tiefverwerfliche desselben, fühlt, daß, wo es hervor­ tritt, dasselbe stets nur eine tiefe Fäulniß der Frömmigkeit, eine arge Vergiftung der Sittlichkeit bekundet. an der Seite langjähriger Sträflinge,

Und wenn man im Zuchthaus auf dem Hochgericht an der

Seite des Verbrechers stände, o es wäre ein Zeichen geistiger Rohheit, in jenem Sinne, wie es der Herr im Auge hat und wie wir es vor­ hin entwickelt haben über die Unglücklichen zu richten! Aber wie leicht und leichtfertig geschieht's täglich im Leben! Eine Rede, ein Wort, im flüchtigen Fluß geselliger Unterhaltung gesprochen, eine Lebensweise, die sich nicht bindet an diese und jene Form und Regel, wie sie eine ge­ wisse Enge und Strenge fordert, genügen, um das abschließende Urtheil richtend auszusprechen: Sehet da die Kinder der Welt, die Gottlosen! Ja abgesehen davon, recht absichtlich wird oft jedem Thun und Reden des Nächsten die möglichst schlechte Absicht und Gesinnung untergelegt, um mit einem gewissen Schein des Rechtes ihn von sich zu stoßen, ihn zu hassen. Wohl am Schlimmsten aber ist es, wenn im Namen Christi, gleichsam für sein Reich, für seine Kirche so gerichtet wird. Wir haben den einen ewigen Wahrheitsgehalt göttlicher Offenbarung, der als das leuchtende, erwärmende und belebende Himmelslicht in die Gemüther dringt.

Aber jeder kräftige Geist nimmt diesen ewigen Wahrheitsgehalt

nach seiner Eigenthümlichkeit in besonderer Weise auf, wie schon die Apostel, ein Paulus, ein Johannes, ein Jakobus.

Siehe, wie entsetz­

lich; wenn Christen um dessentwillen, was sie in ernstem Streben nach Wahrheit, in heiliger Gebundenheit an ihr Gewissen, als ihre Ueber­ zeugung, als das Heiligthum ihres Glaubens gewonnen haben, gerichtet, verworfen und verdammt werden! Und wie ist das geschehen und wie geschieht es bis auf den heutigen Tag! Ob jemand in Christo eine oder zwei Naturen, einen oder zwei Willen annahm, ob man im heiligen Abendmahl eine leibliche Mittheilung Christi oder eine geistige Genießung seines Wesens glaubte, ob man den Teufel eine leibhaftige Person

287 ober, wie man es nennt, ein Prinzip beS Bösen sein ließ, banach würbe über Christenthum unb Unchristenthum entschieden, danach ber Werth der Personen abschließend bestimmt, danach selig gesprochen oder verdammt! So nicht nur in alter Zeit, so hat sich's erneuert in unseren Tagen. Nach den Glaubensformeln, die jemand annimmt oder verwirft, sitzt man und hält Uber ihn ein erbarmungsloses Gericht. Wahrlich, das ist der Gräuel an heiliger Stätte. Da fließt der Name des Herrn in scheinbarer Salbung von der Lippe, während im Herzen der widerchristliche Geist regiert. O sehet auf die Gesinnung, aus welche das Richten fließt! Der Herr redet den Richtenden an: du Heuchler, und führt damit das Richten auf die Lüge zurück. Und wie, ist's nicht Lüge? Wo gerichtet wird, geschieht's mehr oder weniger ausdrücklich im Namen der Frömmigkeit oder der Heiligkeit. Was aber thut der Rich­ tende? Gott allein schaut mit klarem Blick in das Innere der Herzen und Geister. Gott allein ist der Herr, der Ursprung, der Vater ihres Seins und Lebens. Ihm, als ihrem Herrn, stehen und fallen sie als seine Knechte. Ihm allein gehört die Macht und das Recht des Ge­ richtes. Siehe, der Richtende maaßt sich an den Blick, das Recht, die Macht des Allerhöchsten. In seinem Hochmuth setzt er sich neben dem Herrn, ja nimmt Gott, was Gott gehört. Wie fromm und heilig er sich geberde, wahrlich dieser Hochmuth ist der Tod aller wirklichen Frömmigkeit und Heiligkeit. „Was siehest du den Splitter in deines Bruders Auge und des Balkens in deinem Auge wirst du nicht gewahr? Wir hören, wie ernst, wie vernichtend der Herr diese Gesinnung und ihr Treiben straft. Aber könnte jener nicht antworten: Warum hat mir Gott das Auge gegeben, da muß ich ja sehen, was sichtbar ist, also auch sehen die Splitter in den Augen der Brüder? Doch warum siehst du nicht zugleich den Balken in deinem Auge? Und wenn du einen solchen im Auge trägst, sollte deine Sehkraft nicht leiden, dir nicht die Gegenstände im falschen Lichte und in falscher Gestalt vorspiegeln? So ist es in der That. Man sieht in sittlicher Beziehung vielmehr mit dem Herzen als mit dem Auge! Das rechte Herz gewährt auch dem Auge die rechte Klarheit und Wahrheit des Blickes. Das arge Herz

288 macht auch das Auge zum Schalk, daß es falsch beobachtet, daß es die Lüge dem Geiste zuführt.

Oder wäre es nicht so?

Wie so anders

und so grundfalsch beobachtet und sieht der Mensch, dem Furcht oder unreine Lust, oder gottlose Herrschsucht die Brust erfüllt!

Wie anders

und so klar wird der beobachten, welcher in heiliger Gottesfurcht und Ge­ rechtigkeit lebt und nur Liebe im Busen trägt! „Was siehst du den Splitter int Auge des Bruders und wirst des Balkens im eigenen Auge nicht gewahr?" Schalk.

Dein Herz macht dein Auge zum

Der ungemessene Hochmuth, mit dem du deine Nächsten ver­

achtest, die damit Hand in Hand gehende Leerheit an aller Liebe, daß du so der Selbstsucht verfallen bist, daö ist die Quelle deines Richtens und Verdammens.

Ja dann noch das Wort zu dem verurtheilten

Bruder: „Halt ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen," das Gebühren, als wollte man das Heilige schützen und pflegen und so ein Wohlthäter der Menschheit sein!

Du Heuchler, spricht der

Herr! Ist cs die Lieblosigkeit, die dich zum Richten treibt, was anders als Lüge und Heuchelei kann dein zur Schau getragener Eifer für die Besserung der Welt und Menschen wohl sein! Hochmuth und Lieblosig­ keit als praktische Verleugnung wahrer Herzensfrömmigkeit und ächter Sittlichkeit, daö ist die schlimme Gesinnung, aus welcher das Richten entspringt, wodurch es zugleich als Heuchelei sich beweist. IH.

Wir wenden uns mit Abscheu weg von diesem unchristlichen

Wesen und rufen den Herrn an, daß sein Geist uns davon reinige und davor bewahre.

Nun das will der Erlöser, darum macht er uns

aufmerksam auf die Folgen des Richtens.

„Mit welcherlei Gericht

ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden und mit welcherlei Maaß ihr messet, wird euch gemessen werden." Zunächst laßt uns das beziehen auf die tägliche Lebenserfahrung in der menschlichen Gesellschaft. Wie viel Verkehrtes und Böses darin vorkommt und wie uns dabei oft Gottes Walten noch geheimnißvoll und dunkel bleibt, immer wieder wird doch eine heilige, Recht und Gerechtigkeit vollstreckende Weltordnung Gottes sichtbar.

„Wie du in den Wald hineinrufst, so

tönt es dir aus demselben entgegen."

„Wie du mir, so ich dir" das

sind spruchwörtliche Aeußerungen, der Beobachtung im Leben der Völker

289 entsprungen.

Das gilt auch für unseren Fall.

Wer aus dem Hoch­

muth, der Lieblosigkeit, dem Hasse heraus die Brüder richtet, sollte er nicht in diesem Leben reichlich erndten, säet?

was er mit gottloser Hand

Sollte er nicht erfahren, daß ihm in der Regel die gleiche Ge­

sinnung und das gleiche Verhalten von anderen begegnet? Gewiß wer weiß wie oft wird der lieblos Richtende einst umsonst unter den Men­ schen nach Liebe suchen, wird es erfahren, daß man ihm kalt den Rücken kehrt.

Wie er gemessen hat, so wird ihm wieder gemessen werden. —

Irgend welchen gewünschten Erfolg seines Verhaltens und Thuns will jeder sehen!

Wenn der Richtende auftritt: „Halt Bruder, laß dir

den Splitter aus deinem Auge ziehen," auftritt als ein solcher, der da die Nebenmenschen bessern will; Brüder liegt ihm nicht an dem Herzen. Strafens möchte er so gut sehen,

wir wissen ja, das Heil der Aber Erfolge seines richtenden

wie die Pharisäer, die Länder und

Meere durchzogen, um einen Proselhten zu gewinnen. er aufzeigen können,

Erfolge möchte

um seinen Hochmuth dadurch zu nähren.

Ja

Erfolge werden nicht fehlen, nur grade die entgegengesetzten von denen, welche er erwartete.

Ein hochmüthig richtender Mensch und wenn er

mit seinem verdammenden Richten die Schuldigen trifft, wird nimmer bessern, sondern stets zum Schlechteren reizen.

Weil ans dem Stolz,

aus liebloser, menschenfeindlicher Gesinnung sein Richten fließt, so wird es stets den Reiz zu gleichem Hochmuth, andere Herzen hinein tragen.

zu gleicher Lieblosigkeit in

Weil er richtet, darum wird er gerichtet,

daß all sein Streben als ein nichtiges und verderbliches nur schlechte Früchte trägt. Wie ans dem Gesagten schon hervorleuchtet, so müssen sich denn wohl weiter und weiter an dem Richtenden die heiligen Gerichte Gottes vollziehen.

Wie schwer das aber wiegt, leuchtet ein.

Der Richtende,

ans dem eiscskalten Hochmuth, aus Lieblosigkeit und Haß verdammend, soll gleiches Gericht von Gott erfahren.

Was heißt das? Wie in sei­

nem Herzen jedes Fünklein der Liebe erloschen ist, so sollen von Gott her keine Spuren barmherziger, vergebender Liebe ihm sichtbar werden. Wie er seine richtenden Worte nur spricht, daß sie wo möglich seien die tödtenden Pfeile, die das Herz des Bruders treffen, so soll ihm der Themas, Predigten.

19

290 Allheilige nur als der erscheinen, Blitze strafender Gerechtigkeit

von

ausgehen.

welchem die zerschmetternden So

fordert es das Recht;

denn in dem Auge des Richtenden der Balken, in den Augen derer, welche er richtet, nur Splitter! der Herr spricht?

Ist es denn so in Wirklichkeit, wie

Gewiß, und zwar , nach zwiefachem Gesichtspunkt.

Wenn wir uns und unsere Nebenmenschen in Beziehung ans Sünde und Schuld aus der Wahrheit heraus prüfen, bei nns selbst muß die Sünde als mächtiger Balken, bei unseren Brüdern im Verhältniß da­ gegen nur als Splitter erscheinen. menschen

Warum? Weil wir an den Neben­

nur die äußeren Verfehlungen in Wort oder Werk sehen,

wobei so Manches, was unser Auge nicht wahrnimmt, noch als starke Entschuldigung dienen kann.

Bei uns selbst vermögen wir im Lichte

des göttlichen Wortes und Geistes in das Innere hinabzuschauen, hier das Böse in seinem Grundwesen, als erzeugende Quelle, als allvergiftend, als mächtig reizend zu erkennen.

Im eigenen Innern wird das Böse

dem Auge als Selbstsucht, ungöttliches Wesen, klar.

Darum in uns die Sünde als Balken.

als tiefe Verderbniß Darum spricht der so

ernst nach Heiligkeit ringende Apostel von sich, er sei der vornehmste, der größeste unter den Sündern.

Aber gilt das zunächst nur danach,

wie es für unsere eigene Beurtheilung erscheinen muß;

so dürfte es

der That und Wirklichkeit nach vor dem Auge des Allwissenden und Allgerechten sich ganz eben so verhalten.

Was werden wir als Splitter

im Bösen bezeichnen? Wie schon gesagt, einzelne Verfehlungen, wie sie auch bei dem ernstesten Christen im Drange der Umstände, bei mächtiger Versuchung, in der Hast des Verkehrs, aus Schwachheit und Uebereilung vorkommen.

Was ist der Balken? Eben die Sünde im Innern als in

sich feste, starke, geschlossene Kraft, als die Selbstsucht, die in Vermes­ senheit sich dem Ewigen und seinem heiligen Willen entzieht, die im Stolz die Nebenmenschen hassend und verachtend von sich stößt.

Das

grade, wie wir gesehen haben, war's, aus dem das unchristliche Nichten geboren wird, das wird darum des Erlösers Wort rechtfertigen, nach welchem haben.

die Unbarmherzigen ein unbarmherziges Gericht zu erwarten Aber für die Richtenden soll das göttliche Gericht alles Erbar­

mens und aller Liebe entbehren? Haben sie es auch mit ihrer Lieblosig-

291

feit verdient, nach dem Evangelio können wir uns doch Wohl Gott nicht so vorstellen, können ihn nirgends ohne Liebe denken! Gewiß, Gott ist auch den Lieblosen gegenüber die heilige Liebe, will, daß auch ihnen geholfen werde, will auch ihnen, so wie sie empfänglich werden, Ver­ söhnung, Vergebung gewähren. Auch auf sie herabschauend ist er der Vater im Gleichniß, der wartet und sich sehnet, daß das verlorene Kind des Verderbens wiederkomme, wiedergefunden werde. Aber Be­ dingung bleibt die, daß sie empfänglich, und zwar empfänglich für die heilige Liebe werden. Und nun, meine Geliebte, wer ist fähig, aus der Liebe Hand den Labetrunk der Versöhnung zu nehmen? Wer kann eintreten in das Haus der Seligkeit, das die Liebe gestiftet hat? Wer kann als frohes, gesegnetes Kind sich bergen am Busen der Liebe? Niemand, als dem selbst schon die Liebe in die Seele gedrungen ist. Liebe wird nur von der Liebe gesehen, erkannt und selig genossen. Darum, so lange der Richtende in seinem Richten, in seiner gottlosen Lieblosigkeit verharrt, kann sich an ihm nur das Wort erfüllen: „Mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden." Er kann von göttlicher Gnade nichts erfahren, nichts in sich aufnehmen. Das heilige Feuer der Gottesliebe, in dessen belebender Wärme die Kinder Gottes selig sind, für sein Auge und seine Seele ist es das verzehrende Feuer verdammender Gerechtigkeit. Nun denn, zwar nicht um äußerer Strafe willen, aber um der sittlichen Häßlichkeit willen, um Gott und seine Liebe nicht zu verlieren, schreiben wir heut mit neuem heiligem Ernst uns des Erlösers Wort: „Richtet nicht!" tief in unsere Herzen! Ist dem so, beben wir vor dieser argen Sünde zurück, wohlan in wahrhaftiger Gesinnung und heiligem Ernst immer wieder mit Herz und Geist hinauf zu dem allein allwissenden, Herz und Nieren prüfenden Gott, dem allein alles Gericht gehört! Immer von Neuem mit dem Lichte Christi den Blick gerichtet auf des eigenen Herzens Sünde, wie sie als Selbstsucht und ungött­ liches Wesen der Balken ist, die schwere, schwere Last! Aber auch immer von Neuem hinein in die Tiefe der göttlichen Liebe, die in Christo uns die Last schwerer Verschuldung abgenommen hat und uns stark macht, immer weiter aus unserem Auge die Splitter zu ziehen, unser Leben 19*

292 von seinen Fehlern zu reinigen. Diese lautere Frömmigkeit, die damit verbundene Demuth, der Glaube an die rettende Liebe der Gottheit, wie er selbst in Liebe umschlägt, wird jede Lust zum Richten in uns verzehren, wird uns befähigen, anstatt die Brüder zu verdammen, ihnen Bote des Friedens und Helfer in der Heiligung zu werden.

Wer in

demüthigem Glauben den Balken aus dem eigenen Auge sich zu ziehen bemüht und dabei Gottes Liebe erfährt, der erst kann Christi Mahnung befolgen:

„Darnach besiehe wie du den Splitter ans deines

Bruders Auge ziehest."

Amen.

Die Versagung der Güter des Himmelreiches auch eine Christenpflicht. Text:

Matthäus 7, 6.

Ihr sollt das Heiligthum nicht den Hunden geben, und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen, auf daß sie dieselben nicht zertreten mit ihren Füßen, und sich wenden und euch zerreißen. Vor acht Tagen, Geliebte, waren es die dem jetzt verlesenen Texte vorangehenden Worte des Herrn, ans welchen wir im gemein­ samen

Nachdenken

„Richtet nicht!" so

Belehrung

und Ermahnung

zu

schöpfen

suchten.

lautete das einleitende und die ganze Rede beherr­

schende Wort des Erlösers.

Wie wenig uns aber ein Richten, ein ab­

sprechendes, verwerfendes Rechtsprechen über unsere Nebenmenschen ge­ ziemt; so haben wir doch, wie wir schon damals sahen, die Pflicht, ein möglichst klares Urtheil über unsere Nächsten uns zu bilden. Wie sehr der Herr

dies Letzte fordert, geht aus unserem Texte hervor.

Sollen

wir Hunden nicht das Heilige und Säuen nicht die Perlen geben, so müssen wir doch wissen, welche Menschen solche sind, wie sie die bild­ liche Ausdrucksweise des

Erlösers uns hier bezeichnet.

Wir

müssen

erkennen, auf wen wir mit irgend einem Rechte die Ausdrücke Hunde oder Säue anwenden dürfen.

Daß mit diesen Ausdrücken im Allgemei­

nen Feinde des Christenthums gemeint sind, versteht sich wohl von selbst. Was schreibt der Heiland ihnen gegenüber uns vor?

Lieder: Nr. 6. 8. 312, 3.

Ihr sollt nicht

294 geben! Güter.

also:

Ihr sollt versagen, versteht sich von selbst, die geistigen

Die Versagung geistiger Güter als eine Christen­

pflicht wird uns damit in unserem Text vorgehalten.

Laßt uns zu­

nächst diese Versagung näher bestimmen, dann die Berechti­ gung derselben nachweisen, endlich aber auch ihre nothwendige Beschränkung anerkennen. I.

„Ihr sollt daS Heiligthum nicht den Hunden geben

und die Perlen nicht vor die Säue werfen."

Ein Gebot der

Versagung, das näher bestimmt und erklärt sein will.

Um welchen

Gegenstand handelt es sich? An wen richtet sich die Rede? In Bezie­ hung auf wen wird die Versagung gefordert?

Zuerst der Gegenstand

ist sinnbildlich mit den Worten Heiliges und Perlen benannt. Das Heilige ist ganz allgemein das Gott Gehörige, Gott Geweihte. Gott aber nicht Alles? Gewiß.

Gehört

Es kann daher hier nur von dem die

Rede sein, was die Menschen vermöge der ihnen von Gott gewährten persönlichen Freiheit dem Ewigen ausdrücklich übergeben.

weihen und gleichsam

Das ist im Alterthum Tempel, Altar, Opfer und Aehnliches.

Aber wir wissen, das Alles ist es nicht, was Gott eigentlich als sein Heiliges sucht.

Er will allein das Herz, das Gemüth des Menschen.

Ja ein an Gott hingegebenes, mit Gott geeintes Gemüth, das ist das wahrhaft Heilige auf Erden.

Wovon aber sind die Perlen das Sinn­

bild? Aechte Perlen galten und gelten wohl heut noch neben den Dia­ manten für den köstlichsten und gehaltvollsten Schmuck, sie bilden das schönste Geschmeide, in dem der äußere Mensch erscheint.

Was kann

für den inwendigen Menschen das ächte, zierende Geschmeide, den un­ vergänglichen Schmuck ausmachen? Ich kenne keinen anderen, als die Ausbildung aller der reichen Gaben, die Gott als Anlagen in uns pflanzte, zu Fertigkeiten, wie sich dieselben dann in kräftiger, vielgeseg­ neter Bethätigung bewähren.

Das ist der ächte Schmuck des inneren

Menschen, zu dessen Anlegung der Apostel ermahnt, wenn er spricht*): „Liebe Brüder, was wahrhaftig ist,

was ehrbar,

was gerecht, was

keusch, was lieblich, was wohl lautet, ist etwa eine Tugend, ist etwa

*) Philipper 4, 8.

295 ein Lob, dem denket nach." Die lebendige Einheit des versöhnten Herzens mit Gott und die Tugenden, alles sittlich Schöne und Gute, alles mensch­ lich Edle und Hohe, im Leben geübt, sind das Heilige und die Perlen. Aber wenn ihr sonst euch diese Deutung vielleicht gefallen laßt, hier meint ihr, passe sie nicht. geben läßt.

„Gebt nicht," also muß es etwas sein, was sich

Das eigene mit Gott einige Herz, die eigenen Tugenden

können ja doch nicht gegeben werden. schärfer das durchdenken.

Laßt uns nur langsamer und

Das Genannte läßt sich in der That nicht

allein mittheilen, sondern man bewahrt es sich lediglich dadurch, daß man es mittheilt.

Woher in der Menschenbrust die Versöhnung und

Einigung des Gemüthes mit Gott? Woher im Menschenleben alle Tu­ gend und alles Lob? Das Wort Gottes wird der Saame der Wieder­ geburt genannt, die erzeugende Kraft für das neue göttliche, sittliche Leben.

In der That, das Wort Gottes, die Offenbarung göttlichen

Wesens und Willens, ewiger, heiliger Liebe, wie sie ihr Licht in die Seelen strahlt, erzeugt beseligende Frömmigkeit, wahrhaft veredelnde Sittlichkeit.

Ja wahre Frömmigkeit und Sittlichkeit sind selbst wieder

göttliche Offenbarung, sind Gottes Wort,

vom Menschen in's Herz,

in's eigene Leben, in Saft und Blut aufgenommen.

Nun denn, das

Wort Gottes, die Gotteskraft, selig und heilig zu machen, aber wie es Eigenthum der Seelen geworden ist, wie es darum als ein eigenthüm­ liches über Herz und Lippen strömt, wie es der Ausdruck eigener Fröm­ migkeit und Sittlichkeit ist, das läßt sich geben und mittheilen und daran haben wir in unserem Text zu denken. Wem werden?

nun

sollen die Perlen

und

das

Heilige

nicht

gegeben

Nicht den Hunden und Säuen, sagt der Herr und hat ja

damit offenbar Menschen von einer bestimmten Beschaffenheit im Auge. Nun das eine der genannten Thiere hat vom Heiligen, das andere vom Schmuck, von der Schönheit, keine Ahnung.

Es können also hier nur

Menschen gemeint sein, die von dem einzig hohen Werth der Frömmig­ keit und Sittlichkeit keine Ahnung, die für den Frieden mit Gott und für heilige Tugend keinen Sinn haben, denen das Evangelium deshalb als Thorheit oder Aergerniß erscheint.

Unterscheiden wir aber, so sind

mit dem fort und fort klaffenden, beißigen Thiere diejenigen gezeichnet.

296

welche leidenschaftlich erregt dem göttlichen Worte, der an sie heran­ tretenden Frömmigkeit und Sittlichkeit glühenden Haß entgegentragen und das wird mehr oder weniger in der Beschränktheit des Dünkels, in der Verblendung des Hochmuthes seinen Grund haben. Jenes an­ dere Thier, wie es mit Behagen in allem Schmutz herumwühlt, soll uns Menschen vergegenwärtigen, die in den Schlamm rohster und ge­ meinster Sinnlichkeit versunken, nichts kennen, suchen und erstreben als allein sinnliche Lust, die im Trunk oder in Unzucht und dem Aehnlichen wie verthiert erscheinen. Also, wo man im beschränkten Hochmuth nur glühenden Haß gegen die Wahrheit der heiligen Liebe bekundet, wo man, im Schmutze sinnlicher Gemeinheit begraben, der göttlichen Offenbarung nur Verachtung entgegenbringt, da soll das Heilige und die Perlen versagt werden. An wen aber ist dieser Befehl gerichtet? Denken manche da zuerst an die Diener des Wortes, so können wir uns wohl im Besonderen Belehrung daraus nehmen. Es kann und soll uns ja Pflicht und Freude sein, denjenigen, die uns ihr Vertrauen schenken, mit aller Hingebung in geistlicher Berathung zu dienen, kann ja nur unsere schönste Freude sein, wenn wir in dieser Beziehung Brüdern und Schwestern, und wäre es auch nur ein Wenig, Trost und Halt und Stärke aus dem Schatz der Liebe Gottes und Christi zu bringen ver­ mögen. Aber da, wo man uns begehrt, uns ruft. Zartsinn und rechte Weisheit sollen uns dagegen bewahren vor jenem zudringlichen, aufdringlichen Bestürmen solcher, die nns nicht begehren, denen durch unsere Taktlosigkeit das Evangelium noch mehr entfremdet würde. Aber der Herr, theure Freunde, hat hier nicht einen Stand, sondern alle Glieder seiner wahren Gemeine, alle, welche jenes Heilige und jene Perlen besitzen, im Auge, grade wie er vorher allen seinen Jüngern die Mahnung gegeben hat: „Richtet nicht." Allen Christen gilt sein Wort*): „Habt Salz bet euch" und alle Christen sollen die Tugenden dessen verkünden, der sie berufen hat von der Finsterniß zu seinem wunderbaren Licht **). Das ist unsere Aufgabe, daß uns stets der Geist *) Markus 9, 50.

**) 1. Petri 2, 9.

297 der Nebe Christi erfülle, unser Wesen durchziehe und daß wir stets bereit sind, zur alleinigen Quelle der Gnade und des Heils auch andere zu weisen, auch anderen das Heilige und die Perlen,

den Schatz des

göttlichen Wortes und christlichen Glaubens und Lebens zu reichen.

So

aber ist uns auch allen geboten, wenn hochniüthiger, streitender Eifer, wenn thierische Versunkenheit als Haß und Feindschaft gegen das Hö­ here hervortreten, das Heilige und die Perlen zurückzuhalten. II.

Ist solch Gebot der Versagung aber auch berechtigt?

Man

könnte sagen: So zu fragen, ist gar nicht erlaubt. Er ist der Meister, wir die Jünger, er der Heiland wir die Erlösten, er das Haupt wir die Glieder.

Von vornherein ist jede Forderung uns heilig und un­

verbrüchlich, wenn sie von ihm kommt.

Wollten wir ihm nicht gehor­

chen; so hörten wir damit auf, seine Jünger zu sein. Gewiß, Geliebte, gehört zu dem Glauben an ihn recht wesentlich der Gehorsam.

Aber

er selbst spricht*): „Ich sage hinfort nicht, daß ihr Knechte seid; denn ein Knecht weiß nicht, was sein Herr thut. Euch aber habe ich gesagt, daß ihr Freunde seid;

denn Alles, was ich habe von meinem Vater

gehört, habe ich euch knnd gethan."

Seine Jünger läßt der Heiland

hineinschauen in den Willen, in den Rathschluß des Vaters, Wesen des Himmelreiches, in seine Ordnungen und Rechte. Gehorsam der Blindheit,

in das

Nicht den

sondern den Gehorsam aus freier, klarer

Ueberzeugung fordert er von den Seinen.

So, was er gebietet, es

muß sich rechtfertigen lassen und cs läßt sich rechtfertigen aus der gött­ lichen, heiligen Liebe und Weisheit, aus dem Wesen des Himmelreiches als einer sittlichen Gemeinschaft ächten Glaubens, aus der sittlich reli­ giösen Natur des Menschen.

Sollte es mit diesem Gebot des Herrn

nicht eben so sein? Gott will die Seligkeit und das Heil der vernünf­ tigen, ihm ebenbildlichen Geschöpfe;

aber

eben deshalb kann er nie

ihnen Heil und Seligkeit aufzwingen, deshalb sich nur denen in seiner Gnade nahen, die sich ihm nahen mit der Sehnsucht des Glaubens, mit dem Zuge der Liebe.

Das Himmelreich ist die Gemeinschaft der

Freiheit und Seligkeit in göttlicher Kindschaft und zu des Menschen

*) Johannes 15, 15.

298 religiös sittlicher Natur gehört es wesentlich, nur in der Freiheit, in der Selbstbestimmung selig zu werden.

So

gibt

die

göttliche Liebe

in ihrer Heiligkeit nur denen das Heil, die es begehren.

So, wenn

Christi Jünger Gottes Haushalter sind über seine Gaben und seine Gnade, müssen sie auch darin Gottes Nachfolger sein. sich demnach von selbst:

So ergießt es

Die Schätze deS Heils, das lebendige Wort

Gottes, wie du es trägst in deiner Brust, du kannst und darfst es denen nicht reichen, die in bitterer Feindschaft oder fleischlicher Versun­ kenheit gänzlich unempfänglich dagegen sind.

Man zündet für die Blin­

den kein Licht an und veranstaltet nicht schöne Musik für die Tauben. So kann man nicht, ohne in Thorheit den von Gott vorgezeichneten Weg zu verlassen, das Heilige den Hunden, die Perlen den Säuen geben. Aber der Herr gibt noch außerdem ausdrücklich eine Begründung seines Verbots: „Auf daß sie dieselben (die Perlen, das Heilige) nicht zertreten mit ihren Füßen und sich wenden und euch zerreißen."

Da spricht der Erlöser nicht nur davon, daß, wenn man

den bezeichneten Menschen das Heilige und die Perlen reicht, man thörigt handelt, weil mau das Vergebliche erstrebt; sondern er sagt, aus diesem thörigten Thun

erwachse

dem Reiche Gottes auch Schaden.

Euch, die Träger des Heiligthums, werden die Feindseligen schädigen, sie werden die Perlen, das Sittliche in den Koth treten, daß es in seiner Schönheit auch anderen nicht leuchte und auch ihnen nicht zum Guten, zur Besserung gefalle.

Zunächst mögen wir uns da an Vor­

gänge in den ersten Jahrhunderten der Kirche erinnern. Wuth heidnischer Verfolgung hervor;

Brach die

dann hielten es einige Christen

für Pflicht des Glaubens, der Feindseligkeit in den heidnischen Richtern und im Volke ungefragt öffentlich und herausfordernd gegenüber zu treten mit dem lauten Bekenntniß Christi, mit dem offenen Zeugniß wider das Heidenthum. Die Wirkung davon war, daß sich der Heiden Gemüther um so mehr erhitzten, daß um so blutiger und gewaltiger die Verfolgung wurde, daß nicht allein diese sich vordrängenden Bekenner, sondern auch andere Christen aufgespürt und dem blutigen Tode geopfert wurden.

Buchstäblich erfüllte sich des Erlösers Wort.

Die Zeugen

299 Christi wurden wie von wilden Thieren zerrissen und die Perlen ihres gottseligen Lebens leuchteten nicht mehr, sondern, so

dünkte es den

Heiden, waren unter dem Staube des Todes und der Verwesung be­ graben.

Dergleichen ist freilich heut nicht zn fürchten und doch ist des

Erlösers Wort auch heute noch vollständig wahr.

Bringe den leiden­

schaftlichen Feinden der evangelischen Wahrheit oder den im Schmutz gemeiner Sinnlichkeit Versunkenen das Gotteswort, sie werden dir mit bitterm Hohn antworten, sie werden die Lauge gemeinen Spottes über das Evangelium

und seine

Bekenner

ausschütten,

sie

werden mit

schmutzigsten Reden die heiligen Perlen, mit denen Gottes Liebe die Menschen schmückt, besudeln.

Damit aber schaden sie nicht allein sich

selbst, indem sie in tiefere Gemeinheit versinken und schwerere Schuld auf sich laden, wozu man, wenn man's vermeiden kann, veranlassen darf; GotteS.

ja niemand

sie gefährden auch nach anderen Seiten daö Reich

Wohl prallt an dem vollendeten Gottesmenschen auch

der

giftigste Pfeil des Bösen ab, er bleibt innerlich unüberwunden, unbe­ schädigt.

Aber wir sind eben nicht die Vollendeten, wir sind die wer­

denden Kinder Gottes, darum der Versuchung gegenüber mit Schwach­ heit behaftet.

Nichts aber ist verwundender, zum Bösen reizender als

die scharfe, fressende Lauge des Spottes und Hohnes, indem sie ent­ weder zuni Kleinmuth, Mißmuth, zur Zaghaftigkeit oder zur Feindseligkeit, zum Haß gegen den Spottenden die Gemüther reizt.

Aber dem Einen

oder dem Anderen auch nur im Herzen nachgeben, ist gleiche Sünde. Dir selbst diese Versuchung zu ersparen, es zu vermeiden, daß durch Spott und Hohn in den Augen der Menschen das Heilige wenigstens eine Zeit lang seinen Glanz verliere, darum ertheilt der Herr die Vor­ schrift, den Hunden nicht das Heilige, den Säuen nicht die Perlen zu geben.

Es ist die zarte Fürsorge des Erlösers für sein Reich, für die

Glieder seines Reiches, aus welcher sein Verbot fließt und wir haben wieder einmal den Beweis, daß auch da, wo des Erlösers Worte auf den ersten Anblick hart und scharf klingen, sie doch allein Ausdruck sei­ ner heiligen Liebe sind. III.

Ist eö aber die Liebe, die auch dieses Gebot gegeben hat,

so kann es nicht eine schrankenlose Ausdehnung zulassen.

Wir sehen

300 davon ab, was sich von selbst versteht, daß dies Versagen ter Liebe, dies Schweigen der Weisheit nie zur Verleugnnng Christi md christ­ licher Heilswahrheit werden darf, daß wir nur dann dieses Wort deö Herrn wirklich erfüllen, wenn wir auch das Andere im Herzen bewah­ ren und uns danach richten*): „Wer mich bekennet vor den Menschen, den werde ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater, wer mich verleugnet vor den Menschen, den werde ich auch verleugnen vor meimem himmlischen Vater."

Nur darauf sehen wir, daß das Wort nicht

so weit ausgedehnt werde, daß die Liebe in der Gesinnung oder in der Uebung darunter leidet.

Der Herr bezeichnet Menschen mit den Aus­

drücken Hunde und Saue. berührt,

Wie schmerzlich

uns

solche Bezeichnung

wir mußten uns sagen, sie ist leider für manche Menschen

nur zu treffend.

Auch unser deutscher Dichter weiß, daß selbst Weiber

vor Allem zur Zartheit und Milde von Gott gebildet, sich ii: Hyänen umwandeln.- Aber sind denn solche Menschen nun als Ausgegebene, als für immer Verlorene anzusehen?

O es wäre nichts mehr gegen

den Sinn des Erlösers als sich die Menschheit so in zwei Klassen zu theilen, von denen die eine die empfängliche, die zeitlich und ewiglich begnadigte wäre, die andere, gleichsam die der moralischen Parias, welche die für Zeit und Ewigkeit der Sünde und Verdammniß unwiderbringlich und für immer Verfallene in sich schlösse.

Vergessen wir nicht, daß von

jenen Feinden des Evangelii die einen ihr Spiegelbild in dem verlorne» Sohn des Gleichnisses, die anderen dasselbe in dem wider die Jünger mit Drohen und Morden schnaubenden Saulus haben. Vergessen wir nicht, daß später über jenen der Vater im Entzücken jubelt**):

„Er

war todt und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wieder gefunden," und daß dieser das auSerwählteste Werkzeug göttlicher Liebe wurde.

Hinter dem hündischen, thierischen Wesen bei den Feinden

des Evangelii schlummert doch im Hintergründe die ächt menschliche Natur und die ist recht eigentlich Empfänglichkeit für Gottes Wahrheit und Liebe.

Auch die Schlinimsteu, wir sollen es uns sagen, sind nur

zur Zeit noch von ihrer Sünde gefesselt.

*) Matthäus 10, 32-33.

Bald kann die Stunde schla-

**) Lukas 15, 32.

301 gen, wo der Geist in ihnen den heiligen Streit wider das Fleisch be­ ginnt, wo es ihnen schwer wird, noch ferner gegen den Stachel zu töten, wo denn auch ihnen das Heilige und die Perlen geweiht werden dürfen und sollen. In der Liebe darauf harren, das ist das Erste. Aber wenn wir noch hoffen, dann dürfen wir auch nicht meinen, wir hätten bis dahin, wo jene einer anderen Stimmung in ihrem Gemüthe Raum geben, keine Pflichten gegen sie und in Beziehung auf ihr Heil zu üben. Freilich in einer Beziehung geziemt uns die strengste, heilige Zurückhaltung. An den Beispielen des verlornen Sohnes und auch des Saulus sehen wir, daß die Geschicke, die sie treffen, dort das Darben in Hunger und Elend, hier das Erblinden, mit auf das Innere einwirken, mit eine vollständige Umwandlung vorbereiten. Da hat man zu Zeiten auch gemeint, man dürfe mit schneidender Härte die Gegner des Evangelii behandeln, hat sie des Gutes und Rechtes beraubt, sie im Kerker gehalten oder mit der Folter gemartert, ihnen mit schmachuud schmerzvollem Tode gedroht. Das sollte eine Umwandlung des Sinnes bewirken, sollte ihnen wieder zu der verlorenen Seligkeit helfen. M. G., es kann der heilige Name Christi nicht ärger geschändet, gegen seinen Geist nicht himmelschreiender gefrevelt, es kann dem Reiche Gottes nicht verderblicher geschadet werden als auf diese Weise. Wohl die äußeren Schläge und Erschütterungen des Lebens sind manchem die ersten Anlässe geworden, aus tiefer Versunkenheit sich zu erheben und dem Heil nachzustreben, aber nur als ausgegangen von der allmächtigen, allweisen Liebe des Höchsten. Wo der Mensch dagegen die Stelle gött­ licher Vorsehung und Regierung einnehmen, über Glaube und Gewissen herrschen will, da kann er die Gemüther nur erbittern, sie nur im Trotz und Stolz, der ja solchem vermessenen Freveln gegenüber eine gewisse Berechtigung hat, verhärten. Wie von dem Erlöser so manche That rettender Liebe auch gegen Unwürdige berichtet wird, keine einzige, durch welche er auch nur im Geringsten ein strafendes Gericht geübt hätte. Darum hinweg aus der Christenheit solche Gräuel! Aber wenn nach dieser Seite das Nichtsthun unsere heilige Pflicht ist, wie sollen wir jenen entschiedenen Feinden gegenüber durch Thätig­ keit unsere Christenpflicht erfüllen? Das Heiligthum und die Perlen

302 können wir ihnen nicht gewähren, geben wir ihnen, was sie zu nehmen vermögen.

Wie verblendet und gesunken einzelne Feinde evangelischer

Wahrheit sein mögen, den Sinn für Recht und Gerechtigkeit, so weit es sie betrifft und ein Verständniß für Wohlwollen, für Dienste der Nebe werden auch sie haben.

Siehe, das fordert von uns die heilige

Christenpflicht, daß so viel in unserer Kraft steht, wir Sorge tragen, daß ihnen alle menschliche und bürgerliche Rechte, wie sie ihnen zustehen, auch werden und daß die Hülfe der Nebe auch ihnen und grade ihnen bereit sei, wo sie derselben bedürfen.

Die Gerechtigkeit, wie sie ihnen

gegenüber aufrecht erhalten, die Liebe, mit der auch ihnen gedient wird, ist dasjenige, wodurch ihnen am ersten die Schuppen von den Augen fallen, daß sie in heiliger Schaam das Heil suchen lernen. Endlich aber, wenn einzelne so entartet sich zeigen, daß des Erlö­ sers Bezeichnung „Hunde und (gälte" für sie paßt, dann ist das nur ein Zeichen von dem Verfall und Verderben der sittlichen Gemeinschaf­ ten, denen sie angehörten.

Wenn in Staat und Kirche innere Fäulniß

waltet, wenn dort die Willkür und Ungerechtigkeit, hier die todte Gleich­ gültigkeit und gleißnerische Heuchelei herrscht,

dann

werden einzelne

tiefer und tiefer sinken, sich des ächt Altenschlichen mehr und mehr ent­ ledigen und dem Heiligen gegenüber Hunde und Säue werden.

Was

aus sittlicher Verderbniß des Ganzen Schlimmes an und in Einzelnen erwächst, das kann auch allein gründlich durch sittliche Erneuerung des Ganzen

geheilt werden.

Da aber vernehmen

wir die Rede.

Zur

Besserung des Ganzen kann der Einzelne nur so gar wenig thun, daß es ist wie ein Verschwindendes.

Gewiß.

Aber eben so gewiß, wenn

nicht die Einzelnen dies Geringste, was ihnen möglich ist, thun, dann Wirdes nicht besser im Ganzen.

Ein Tropfen ist klein und winzig und

doch bilden Tropfen den gewaltigen, herrlichen Strom.

Was der Ein­

zelne in Staat und Kirche thut, ist gering und doch dies Geringe, wenn es von vielen geschieht, bildet das Große, wird zur unwiderstehlichen Macht.

Daß der gesetzliche Sinn, das feste Stehen zum Recht und

zur Gerechtigkeit im Volksleben, oben und unten immer mehr erstarke, daß in der Kirche der heilige Gemeingeist der Liebe und Wahrheit immer mehr todte Gleichgültigkeit und heuchlerische Frömmelei verzehre, dazu

303 wirke ein jeder in Wort, That und Leben.

Je mehr das geschieht,

desto weniger wird es möglich sein, daß die Einzelnen im thierischen Sinn sich gegen die Wahrheit und das Heil verhärten, desto weniger werden

wir

an

das Gebot,

welches

der Erlöser gewiß im tiefsten

Schmerz gegeben hat, erinnert werden, desto mehr werden wir Alles, was Mensch heißt, einladen können, daß sie mit uns im Ergreifen des Heiligen selige und freie Gotteskinder werden, mit uns sich freuen an dem himmlischen Glanze der ächten Perlen eines christlichen Lebens.

Amen.

Reformazionsfest. Die evangelische Kirche, wie sie die wahre Kirche darzustellen und zu verwirklichen strebt. Tept:

Matthäus 22, 1—14.

Und Jesus antwortete und redete abermal durch Gleich­ nisse zu ihnen und sprach: Das Himmelreich ist gleich einem Könige,

der seinem Sohne Hochzeit machte;

seine Knechte aus,

und sandte

daß sie die Gäste zur Hochzeit riefen;

und sie wollten nicht kommen.

Abermal sandte er andere

Knechte aus und sprach: Saget den Gästen: Siehe, meine Mahlzeit habe ich bereitet, meine Ochsen und mein Mast­ vieh geschlachtet,

und

alles bereit;

kommt zur Hochzeit.

Aber sie verachteten das und gingen hin, einer ans seinen Acker, der andere zu seiner Handthierung. griffen seine Knechte, der König hörte,

Etliche aber

höhnten und tödteten sie.

Da das

ward er zornig und schickte seine Heere

ans und brachte diese Mörder um und zündete ihre Stadt an.

Da sprach er zu seinen Knechten:

Die Hochzeit ist

zwar bereitet, aber die Gäste waren es nicht werth. um gehet wen

ihr

Dar­

hin auf die Straßen und ladet zur Hochzeit, sindet.

Lieder: 315. 302, 5.

Und die

Knechte

gingen

aus auf die

305 Straßen, und brachten zusammen, und Gute;

und

wen sie fanden,

die Tische wurden alle voll.

Böse

Da ging

der König hinein, die Gäste zu besehen, und sah allda einen Menschen,

der

hatte kein

hochzeitliches

Kleid

an.

Und sprach zu ihm: Freund, wie bist du herein gekommen, und hast doch kein hochzeitliches Kleid an? stummte.

Er aber ver­

Da sprach der König zu seinen Dienern: Bin­

det ihm Hände und Füße, und werft ihn in die äußerste Finsterniß hinaus, da wird sein Heulen und Zähnklappen. Denn Biele sind berufen, aber wenige sind auserwählt. 26ir beziehen, Geliebte im Herrn, unser verlesenes SonntagsEvangelium natürlich auf das Reformazionsfest, welches wir heut feiern. Das macht sich meines Erachtens auf's Ungezwungenste.

In diesem

Gleichniß ist die Rede vom Himmelreich, wie es durch Christum hinein­ gepflanzt wird in die Menschheit.

Wohl bleibt immer noch dies Him­

melreich in der Menschheit und die christliche Kirche in ihrer Erschei­ nung etwas zu Unterscheidendes, aber sie sind auf der anderen Seite doch auch etwas zu einander Gehörendes, mit einander Verbundenes. Die christliche Kirche soll das Wesen deö Himmelreiches stets als ihr Urbild vor Augen haben.

Das Himmelreich

soll in der christlichen

Kirche seine Verwirklichung, sein Leben, seine Vollendung gewinnen. Was mit der Natur des Himmelreiches übereinstimmt, das Wesentliche und Bleibende in der christlichen Kirche.

ist das

Was der Natur

deS Himmelreiches widerspricht, das ist das Fremde, Ungehörige, darum zu Bekämpfende und zu Ueberwindende in der Christenheit.

Darum

muß die christliche Kirche in der Natur des Himmelreiches ihre ewigen Grundzüge, Ordnungen und Gesetze suchen und anerkennen.

Wie aber

steht eS mit der geschichtlichen, evangelischen Kirche in dieser Beziehung? Grade eben so wie mit der christlichen Kirche überhaupt.

Die evange­

lische Kirche wollte von ihrem Ursprung an nichts anderes sein als die ledendige Gemeine Christi, wie sie von vielen Irrthümern und Miß­ bräuchen, von Wahnglanbc und nnchristlichem Leben zu ihrem ursprüngThomaS, Predigten.

20

306 lichen, wahren Wesen zurückkehrt, wie sie sich erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist. Die evangelische Kirche ist zwar weit davon entfernt, vollendet zu sein, ohne Flecken und Fehler, sie darf nach keiner Seite sich rühmen, daß sie es schon ergriffen hätte, sie birgt auch mancherlei Schäden und Verderben in ihrem Innern. Aber daß sie den Eintritt und Zugang zum Himmel­ reich wieder wesentlich hergestellt, die Ordnungen desselben wieder ent­ deckt hat, daß sie mit ausgerecktem Arm alle ihre Glieder dorthin weist, wo unfehlbar Friede und Heil zu finden ist, das ist ihre hohe, eigen­ thümliche Würde, das ist der Grund unseres Dankes und Lobes. Des­ sen wollen wir uns denn jetzt in schöner Festfreude wieder lebendiger bewußt werden, indem wir nach unserem Gleichniß unsere evange­ lische Kirche anschauen, wie sie die allgemeine Kirche des Herrn darzustellen und das Himmelreich zu verwirklichen strebt. Es richten sich dabei unsere Blicke 1) auf Grund und Wesen unserer Kirche, 2) auf die Art ihrer Ausbreitung, 3) auf ihren heiligen Ernst nach Innen. I. Das Himmelreich wird dargestellt als die Hochzeit, die Ver­ mählung, welche der König, d. i. Gott seinem Sohne bereitet. In der Person des Erlösers sehen wir zwar nach seiner Bezeichnung den Menschensohn, den ganzen, vollen Menschen, der als solcher der Mensch­ heit ewiges Ur- und Vorbild ist. Aber wir wissen von ihm, daß in ihm die Fülle der Gottheit als schulderlassende und sündentilgende Liebe wohnte, wir bekennen deshalb mit Paulus *): „Gott war in Christo." So sehen wir in ihm gewissermaßen eine Vermählung, eine innige Ver­ bindung der Gottheit und Menschheit. Aber so grade ist er in diese Welt gesendet und so hat er sein Leben in Lehren und Handeln, in Leiden und Sterben vollendet, daß er dadurch fortwährend in und aus der Menschheit sich seine Gemeine erwirbt, die gläubige Menschheit an sich bindet, sich dieselbe erwählt. „Ich in ihnen," sagt der Herr**). Und wie er sie mit sich verbindet, so dadurch zugleich mit dem Vater. Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber. Die Liebe der *) 2. Korinther 5, 19.

**) Johannes 17, 23.

307 Gottheit in Christo erschienen,

wie sie die Gemeine an sich zieht und

bindet, die Liebe der Gläubigen, wie sie sich in mächtigem Zuge der Seelen hingibt an Gott, der offenbaret ist im Fleisch, das ist Grund und Wesen des Himmelreiches, das Christus in die Menschheit gepflanzt hat! Das soll sein und bleiben die ewige Grundlage und das unvergäng­ liche Wesen der christlichen Kirche.

Hochzeit ist zugleich ein Fest schöner,

geselliger Freude. Das wird mit den bildlichen Worten hervorgehoben: Meine Mahlzeit habe ich bereitet, meine Ochsen und mein Mastvieh istgeschlachtet und alles bereit." — Ja zur Freude werden wir gerufen: „Freuet euch in dem Herrn allerwege und abermals sage ich: Freuet euch"*).

Zur Freude, daß eben Gottes Liebe sich an die

Menschen gibt, daß wir gleichsam haben die Hütte Gottes unter den Menschen, zur gemeinsamen Freude an den bereiteten Gütern, an der gewährten Vergebung der Sünde, an dem damit verbundenen Gottes­ frieden, an der Gotteskindschaft und ihrer Freiheit, an dem verbürgten Erbe des ewigen Lebens. Zum Himmelreich gehört Friede und Freude im heiligen Geist. Diese sind darum wesentliche Grundlage der rechten Kirche. — Aber wer ist die Braut des Herrn, die Vermählte? Dürfen wir es als Jünger des Erlösers aus uns beziehen? Als die Einzelnen gilt für uns das Nein.

Nein und Ja.

Die einzelnen Christen

sind nicht die Braut, sind nur die Geladenen, die sich freuen, daß die Braut mit Christo und durch ihn in seinem Geiste mit Gott verbunden ist.

Und doch, sie die Christen dürfen auch dies Höchste auf sich bezie­

hen, wenn sie sich nicht mehr als die Einzelnen betrachten, sondern sich mit der Gesammtheit der Gläubigen, der Bekennenden zusammenfassen, die Gemeine der Christus lieb habenden Seelen ist die Braut, die Ver­ lobte, die Vermählte des Herrn. Alle früheren religiösen Gemeinschaf­ ten hatten ihre Priesterschaft und ihre Herrschaft. gibt's kein besonderes Priesterthum, Glauben und Gewissen.

keine

In Christi Gemeine

besondere Herrschaft über

In der Gemeine fließt der Quell der Heili­

gung aus dem stets gegenwärtigen Christus, in der Gemeine ruht selbst oie Macht der Leitung aus dem ihr inwohnenden ewigen König.

*) Philipper 4, 4.

So

308

sagt der Sperr*): „Ihr sollt euch nicht Meister nennen lassen, Einer ist etter Meister, Christus, ihr aber seid alle Bruder," so spricht Petrus zur Gemeine**): „Ihr seid das königliche Priesterthnm, das heilige Volk, das Volk des Eigenthums!" Das allgemeine, königliche Priesterthum aller Gläubigen, wodurch die Gemeine die geweihte Vermählte des Erlösers ist, das ist mit Grund und Wesen des Himmelreiches, Grundlage und Wesen der wahren Kirche des Herrn. Wohlan, Geliebte, sind wir in der evangelischen Kirche nicht zurück­ geführt zu diesen Grundlagen, zu diesem unveränderlichen Wesen der wahren Kirche, des durch Christum der Menschheit eingepflanzten Him­ melreiches? Sehet euch an einzelne Zuge des römischen, päbslischen Wesens, wogegen die Reformazion mit besonders nachhaltiger Kraft ankämpfte! Anrufung der Heiligen im Himmel, versöhnendes Opfer der Priester in der Messe! Wir wollen nicht streiten, wie sich flehendes Anrufen der Heiligen von Anbetung unterscheidet, nicht dessen gedenken, wie, wenn Maria und all die anderen Heiligen in allen römischen Län­ dern und Kirchen angerufen werden, wie ihnen dann göttliche Allwissen­ heit und Macht zugeschrieben und sie Gott gleich gestellt werden. Aber warum doch lehrt man nicht unmittelbar an Gott sich wenden, sondern erst an die Heiligen, daß sie gleichsam Gott das Herz beugen? Warum lehrt man, sich an das Meßopfer halten und darauf das Vertrauen setzen? Weil mit dem verschwundenen Licht des göttlichen Wortes auch verschwunden war das Licht des göttlichen Erbarmens. Weil man nicht kannte und kennen wollte den Gott, der in Christo die Welt mit sich selber versöhnte, der seinem Sohne Hochzeit machte und die gläu­ bige Menschheit sich selber vermählte. In Heiligendienst und Meßopfer kommt zu Tage die römische Verschüttung des freien Zuganges zu der ewigen Liebe für die Gläubigen. — Nie dürfe der Mensch seines Heils, seiner Seligkeit sicher sein, immer sei heilsam der Zweifel, ob man den Erwählten angehöre, ob nicht; so lautete cs von RomS Lehrstühlen und Kanzeln. Getilgt wird damit die reine, selige Freude der Kinder Gottes an der versöhnenden und erlösenden Liebe, an der völligen ‘) Matthäus 23, 10.

**) 1. Petri 2, 9.

309 Vergebung, an der ewig Treue haltenden Gnade des Höchsten.

Weg­

gewischt wird damit die Wahrheit, daß das Himmelreich sei eine Ge­ meinschaft, die das ewige Fest der Freude an des Vaters Tisch feiert. Rom war es, welches dem christlichen Volk wieder die Stellung anwies, wie einst die Pharisäer dem Volke.

In der Gemeine als solcher keine

Quelle der Wahrheit, keine Kräfte des neuen, Gott geheiligten Lebens. Nur im Klerus, in der Priesterschaft theilt der Geist Gottes die Wahr­ heit und Heiligkeit mit, daß die Priesterschaft in ihrer Spitze wird wie Christus selbst.

Darum unter die Macht und Herrschaft der Priester

werden die Seelen gestellt.

Nur im unbedingten Gehorsam gegen die

Hierarchie gewinnt die Gemeine Theil am Licht göttlicher Offenbarung, an der Versöhnung durch göttliche Gnade.

Jede Trennung von der

Priesterschaft, jede Auflehnung gegen ihr Regiment ist Abfall von Gott, von seinem Licht,

von seinem Heil, stößt in die Verdammniß.

Die

Gemeine ohne die Priesterschaft ist eine finstere, alles göttlichen, höheren Lebens beraubte Masse. Da ist die gesegnete Reformazion es gewesen, welche mit dem hellen Lichte des Evangelii diese verfinsternden Satzun­ gen bekämpfte und überwand.

Weg von den Heiligen, weg von dem

Opfer der Priester, hin zu dem alleinigen Heiligen Gottes, hin zu sei­ nem ewig genügenden Opfer hat sie die Seelen gerufen. hat sie auf die Liebe der Gottheit,

Hingewiesen

die sich in Christo, durch Christi

heiliges Werk, das sich im Tode vollendete und mit der Gemeine ver­ mählte.

Angepriesen hat sie diese Liebe, damit wir auf sie all unser

Vertrauen und unsere Hoffnung setzen.

Grade hin zu Christo, durch

Christum zu Gott! Das Wort: Du sollst Gott allein anbeten und ihm allein dienen, das ist und bleibt ihre beständige Mahnung. Wir werden gerecht allein durch den Glauben. In dem Glauben an Christum haben wir die volle Vergebung, den vollen Frieden, das volle ganze Kindes­ recht.

Die Gnade gibt sich ganz denen, die sie suchen.

Das ist und

bleibt der evangelischen Kirche Predigt, damit sie zum Hochzeitsmahle ladet, zur beständigen Freude an und im Herrn, an ihm, der sich stets seiner Gemeine vermählt.

Wohl haben sich gezeigt und zeigen sich immer

einmal wieder die Spuren und Regungen eines priesterlichen Hochmuthes und einer priesterlichen Herrschsucht in der geschichtlichen, evangelischen

310

Kirche. Wohl ist auch bei uns, Gott sei eS geklagt, die Gemeine noch fern davon, im Besitz ihrer ihr angeborenen Rechte zu sein. Aber das sind immer nur hinwegzuschaffende Schäden an der Kirche. Ihr eigentliches Wesen ist von den Vätern in der Reformazion, auch von unserem Luther auf's Mächtigste und Kräftigste ausgesprochen als das allgemeine Priesterthum aller Gläubigen, daß dem Herrn und niemand sonst das Amt der Schlüssel gebühre, daß das unverlierbare Eigenthum aller Mitglieder bleibe die Freiheit des Glaubens und der Gewissen. Es ist ihr eingehaucht des Paulus Wort*): „Ihr seid theuer erkauft, werdet nicht wieder der Menschen Knechte." Die innige Verbindung, die Vermählung der gläubigen Gemeine mit Christo, durch Christum mit Gott, die selige Freude des Glaubens an dem gespendeten Heil, die Freiheit des Glaubens und der Gewissen, das allgemeine Priester­ thum der Gläubigen — darin hat die evangelische Kirche ihr Wesen, ihre wesentlichen Grundlagen. II. Verfolgen wir den Gang unseres Gleichnisses weiter, so wird uns geschildert, wie das Himmelreich Boden in der Menschheit, wie eS seine Ausbreitung gewinnt. Zur bestimmten Stunde gehen die Boten und laden die Geladenen, oder rufen nach wörtlicher Uebersetzung die Gerufenen. Die Ladung, die vorangegangen, die eben nur eine vor­ bereitende gewesen war, Israel kannte sie, es war Gesetz und Weissa­ gung, wodurch Gott das Kommen seines Sohnes angebahnt hatte. Das war zunächst nur Israels Eigenthum. Aber schon in der alten Kirche hatten große Lehrer darauf hingewiesen, daß die Weltweisheit Griechenlands in ihrer Entwicklung und ihrem Verlauf ebenfalls eine Vorbereitung gewesen sei für die Aufnahme dessen, in dem das Wort, in dem die sich offenbarende Gottesvernunft Fleisch wurde. Ja Alles, waö im Leben der Völker als Erforschung der Wahrheit, als lichtbringendeö Wissen, was als Sinn für wahres Schöne, was als Anstreben und Geltendmachung von Recht und Gerechtigkeit in den Staatsord­ nungen sich herausbildete, eS war eine Anbahnung des Himmelreiches, ein vorläufiges Einladen zu derselben. Welches aber ist die wirkliche *) 1. Korinther 7, 23.

811 Ladung? Es ist die Stimme des Evangelii, es ist das Evangelium selbst, es ist das Wort Gottes als die Kunde, daß in Christo das Heil der Welt beschlossen ruht, das Wort Gottes, als der helle klare Spiegel, aus dem uns das Bild der unerschöpflichen Liebe Gottes entgegenstrahlt. Aber auf die Ladung in diesem Wort kehrt ein Theil der Geladenen verachtend den Rücken, ein anderer Theil mißhandelt und tödtet gar die Diener und Boten deS Königs, die Träger des göttlichen Wortes. Soll das Himmelreich dadurch aufgehalten werden, nicht kommen in der Menschheit? Die Liebe Gottes läßt sich nicht aus dem Felde schla­ gen.

Heißt es von diesen: Die Gäste waren eS nicht werth; so

spricht der König weiter: „Gehet auf die Straßen und ladet zur Hochzeit,

wen ihr findet."

Wieder nichts anderes nehmen

die

Boten mit als das Wort der Ladung, als den Ruf des Evangelii. Und da heißt es:

„Die Tische wurden alle voll."

Doch wie

verhält sich das Himmelreich gegenüber seinen Verächtern und Feinden? Wohl werden die Gerichte über sie angekündigt: Der König schickte seine Heere aus und brachte diese Sünder um und zündete ihre Stadt an. Wir kennen diese durch die Geschichte hindurchschrei­ tenden Gottesgerichte, wie sie auf's Augenscheinlichste und Großartigste sich zuerst in jenem jüdischen Kriege zeigten, der mit der Zerstörung Jerusalems, mit der Verwüstung des Landes, mit der Zersprengung der Ueberbleibsel des

armen Volkes

Völker der Erde endete.

in die Verbannung

unter alle

Aber laßt es nnö wohl betrachten: Bei der

Ausführung dieser Gerichte hat weder der Sohn des Königs, noch die Boten, die zur Hochzeit laden, noch die Braut, noch die Hochzeitsgäste etwas zu thun.

Der König selbst, der Gott Himmels und der Erden

läßt das Alles durch solche Heere ausführen, die nicht einmal eine Ahnung haben,

daß sie Vollstrecker göttlicher Gerichte sind.

Wenn

aber verblendete Jünger den Sohn, den Richter des Reiches Gottes auf Erden auffordern, mit der Gewalt äußerer Gerichte das Himmel­ reich zu schirmen und auszubreiten; dann spricht erzürnend*): „Wisset ihr nicht, wes Geistes Kinder ihr seid? DeS Menschen Sohn ist nicht

*) Lukas 9, 55—56.

312 gekommen der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu erhalten." Und ob alle Legionen Engel ihm zu Gebote ständen, er hält fest daran*): „Mein Reich ist nicht von dieser Welt."

Das Wort allein, als Ab-

und Ausdruck ewiger Gotteswahrheit und ewiger Gottesliebe, bleibt das Mittel, die Hochzeitsgäste herbeizuführen, die Tische zu füllen, das Reich Gottes auszubreiten und zu erhalten.

Wer dies verachtet, für den hat

Christus, für den haben die Bürger seines Reiches wohl Thränen und Gebete, aber keine Mittel äußerer Gewalt und äußeren Zwanges, keine strafenden Gerichte.

Wie tief gefallen aus der Natur und dem Wesen

des Himmelreiches hat sich da die römische, päbstische Kirche im Lauf der Jahrhunderte gezeigt!

Sie hat die Gewaltigen der Erde gelehrt

und getrieben, mit dem Schwerdte die heidnischen Völker zur Taufe und zum Gehorsam gegen den Stuhl Skt. Petrus zu zwingen und hat sie dann gerühmt als Vermehrer des Himmelreiches. Sie hat für un­ zählige Glieder ihrer Gemeinschaft, die mit ihren Satzungen zerfielen, die Kerker der Inquisizion gebaut, die Folterwerkzeuge verwendet, hat Tausenden gleich dem Savonarola und dem Johann Huß die Scheiter­ haufen angezündet, sie hat über den gräßlichen Meuchelmord der Tau­ sende in der Pariser Bartholomäusnacht Tedeum, Dank- und Loblieder, gesungen.

Auch heute noch, wo der Zeitgeist und die Verhältnisse ihr

nicht wehren, ist sie stets bereit, ähnliche Mittel des Zwanges und der Gewalt zu ihrer Ausbreitung und Erhaltung in Bewegung zu setzen. — Wahrlich das grade Gegentheil von dem, wie das Himmelreich vom Erlöser dargestellt wird!

Allerdings müssen wir in tiefer Beschämung

bekennen, daß auch auf dem Gebiet der evangelischen Kirche hin und wieder einmal AehnlicheS vorgekommen ist. Aber das waren dann noch Reste des alten, aus dem früheren Lager mitgebrachten Sauerteiges, dessen sich die evangelische Kirche noch nicht ganz entledigt hatte, das war ein örtliches oder zeitweises Abfallen von ihrem eigenen Wesen, eine augenblickliche Verirrung und Verdunklung.

Wer weiß es aber

nicht, wie die Reformazion in Luther und ihren übrigen gesegneten Werkzeugen sich auf das Entschiedenste gegen Anwendung aller Mittel

*) Johannes 18, 36.

313

der Gewalt in Sachen des Glaubens ausgesprochen hat! Schule, Wis­ senschaft, menschliche Bildung hochgeehrt sind sie von der Reformazion als bahnbrechende Gotteskräfte für's Himmelreich. Das Wort Gottes und das Wort allein sollte das Mittel sein und bleiben, wodurch es wirklich käme. Gewiß ist auch der evangelischen Kirche eigenthümlich ein mächtiger Trieb, zu erhalten und zu Pflegen, was ihr gehört, zu gewinnen und zum Heil zu führen, was ihr noch fern steht. Aber das Licht allein, wie es vorbereitend aus aller ächt menschlichen Bildung hervorbricht, wie es seine ganze Klarheit und seine volle Liebeswärme im göttlichen Worte hat, soll den Verirrten leuchten und sie auf den Weg des Lebens führen. Darum: „das Wort sie sollen lassen stahn," daran allein hält die evangelische Christenheit, um sich zu er­ halten und auszubreiten. III. Wir kommen zum letzten Theil unseres Gleichnisses und unserer Betrachtung. Es heißt, die Boten hätten zusammengeführt, wen sie grade fanden, Böse und Gute. Ja wen sie fanden, alle sind für'S Himmelreich geschaffen und für alle ist dasselbe bestimmt. Gute,— nun gewiß sind mit dem Wort solche gemeint, die Gott und seinen Willen ehren, die einen ernsteren Sinn haben, eines sittlicheren Wan­ dels in der Erfüllung ihrer Pflichten sich befleißigen. Aber es ist keiner von ihnen so gut, daß ihm das Himmelreich überflüssig wäre. Bei dem regsten, sittlichen Streben wird jeder erfahren, was Paulus erfuhr, daß die Selbstsucht in ihm mächtiger ist als die Liebe, daß er darum daS Gute, was er will, nicht thut, wohl aber das Böse, was er nicht will, daß er erst recht der Versöhnung und der Erlösung bedürfe. Die natürlich guten Menschen, wenn sie sich recht kennen lernen, treten über die Schwelle des Himmelreiches mit dem Bekenntniß: „Gott sei mir Sünder gnädig". ■— Ebenso „Böse!" Wir ziehen nichts ab von dem Sinne des Wortes. Es sind auch Tiefgefallne gemeint, Lüstlinge, Ehr­ geizige, Habsüchtige, Diebe, Ungerechte u. s. w. Wie tief aber gefallen, wie schlecht, sie sind doch nicht zu schlecht für's Himmelreich. Auch in ihnen noch das Bild GotteS, wenn auch vom Schmutz der Sünde über­ zogen. Auch in ihnen noch Vernunft und Gewissen, wenn auch vielfach verwirrt und getrübt. Darum auch in ihnen die Anknüpfung für die

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Forderungen des heiligen Gottes und für die Darbietung seiner retten­ den Gnade. Darum, wenn sie begreifen lernen den Ruf: „Thut Buße und glaubet an das Evangelium," begreifen lernen, was zu ihrem Frie­ den dient, und wie Magdalene und wie Petrus Gott, dem Erlöser sich nahen, es tönt ihnen das Liebeswort entgegen: Sei getrost, deine Sünden sind dir vergeben, es gilt für sie, daß Freude bei den Engeln Gottes ist über den Sünder, der Buße thut vor neun und neunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen. Aber wenn so die Liebe alle ladet, alle die wirklich innerlich Kom­ menden aufnimmt und beseligt, es bleibt auch der Zug unseres Gleich­ nisses in voller Geltung, daß der König die Versammelten auf das hochzeitliche Gewand anschaut, daß, wo dies gebricht, sein Urtheil ertönt: Werfet ihn hinaus in die äußerste Finsterniß. Das hochzeit­ liche Gewand ist nichts anderes als der rechte Schmuck des ganzen Menschen, wie er in der Heiligung besteht, darin, daß man Christo nachfolgt, gesinnt wird wie er auch war. In Christo vergibt die ewige Liebe, nun so ziehe du an den Herrn Jesum Christum, laß ihn Gestalt in dir gewinnen, laß dich verklären in sein heiliges Bild! DaS ist es, was im Himmelreich und damit in der wahren Kirche des Herrn un­ erschütterlich fest steht. — Wie stand es nach dieser Seite in römischer Kirche? Ja Werke der Genugthuung wurden den Beichtenden aufgelegt. Aber solche einzelne Werke sind doch nicht das Festgewand, das den ganzen Menschen kleidet. Weiterhin wurde auf die Messen verwiesen und wurde zugleich dargeboten der Kirchenschatz des Ablasses, die Ver­ dienste der Heiligen, gleichsam die Fetzen fremder Kleider, welche die schmähliche Blöße des eigenen Lebens decken sollten. Geliebte, das richtende Sichten in der Kirche behält sich Gott allein vor und die rö­ mische Kirche mag zu sehen, wie sie vor seinem heiligen Antlitz die vielen Eingriffe in sein Amt verantworten will. Die evangelische Kirche hat sich wohl zu hüten, ihr in solcher Handlungsweise zu folgen. Aber jenem bodenlosen, sittlichen Leichtsinn, wie er sich aussprach und seine Nahrung zugleich fand in dem falschen Troste des Ablasses und der Messen, diesem Leichtsinn gegenüber hat die evangelische Kirche von jeher hervorgekehrt den ganzen sittlichen Ernst. Wer das hochzeitliche

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Gewand nicht anlegen will; soll auch der seligen Festfreude nicht genie­ ßen. Wer nicht in die Heiligung deS Lebens tritt, in dem kann der Trost der Rechtfertigung nicht haften. Wer Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein. Halten wir denn fest, leben wir unS immer tiefer hinein in die Güter des Heils, welche durch die Reformazion uns ge­ worden! Die Liebe Gottes hat uns sich vermählt! In seliger Freude geben wir uns hin, werden wir lebendige Glieder der heiligen, der priesterlichen Braut des Herrn. Mit dem zweischneidigen Schwerdte des Wortes hat die Reformazion ihre Schlachten geschlagen und ihre Siege errungen. Suchen wir keine anderen Waffen. In der vollen, wirklichen Heiligung fand nach dem Troste der Gnade das deutsche Gewissen seine Ruhe. Legen auch wir den neuen Menschen an, schmücken auch wir uns mit Christi Leben und Liebe. — Dann ist er der Herr bei uns alle Tage bis an der Welt Ende. Amen.'

Text: 1. Korinther 7, 23. Ihr seid theuer erkauft, werdet nicht der Mens

ViMtebte Zuhörer, Religion und Sittlichkeit hängen nicht äußerlich zusammen; sondern sind innerlich eins, sind uuzertrenr Will sich Eins von dem Anderen lösen, so geschieht es nur, in beide geschädigt werden und ihrer Auflösung, ihrer Vernichtung entge gehen. Religion ohne Sittlichkeit ist gleich jenen giftigen Sumpfge den, welche denen, die sich in sic verlieren, den Tod drohen, höhere Leben, dessen Pflege es angeblich gilt, muß in dieser schw Stickluft verderben. Sittlichkeit ohne Religion, ist wie die Frucht blendender Schaale, in welcher längst der böse Wurm wohnt, welcher inneren Kern und das innere Mark verzehrt und zerstört. So we wir als Christen am wenigsten Religion und Sittlichkeit trennen bit Beide sind auf dem Boden und nach dem Maaßstab des Evan Eins als das Leben in und aus Gott, als das Leben in der Gen schaft mit Christo. So wird es unter uns keine Pflege des Religi geben ohne Hinwirkung ans das Sittliche. So wird es unmöglich lebendig zur Sittlichkeit zu ermahnen, ohne mittelbar oder unmitte auf die Religion zurückzugehen, auf diese sich zu gründen. Wie aber beides verwachsen ist, doch geschieht cö unwillkürlich und nothi big, daß bei der Anschauung, bei dem Nachdenken über die Gegenst Lieder: Nr. 302. 449, 4.

317 des Lebens aus und in Gott, bald mehr die Religion, bald mehr die Sittlichkeit vorwiegt.

Ja selbst die Ordnung

unseres Kirchenjahres,

wie wir öfter darauf hingewiesen haben, führt uns darauf, in dem' die erste Hälfte mit ihren Festen vorzugsweise auf den Glauben, die zweite besonders auf das dem Glauben entsprechende Leben unsere Aufmerk­ samkeit leitet.

Vergessen wir dabei nicht die ursprüngliche, innige Ein­

heit beider, so wird es nicht

schädlich, sondern selbst heilsam sein,

wenn in der Betrachtung bald das Eine, bald das Andere mehr vor­ wiegt.

So ist es auch uns hier liebe Gewohnheit,

dieser Ordnung

des Kirchenjahres zu folgen und uns demgemäß in dieser Zeit besonders mit der christlichen Sittlichkeit zn beschäftigen. Einer der hauptsächlich­ sten Grundzüge dieser Sittlichkeit aber Freiheit.

ist jedenfalls die christliche

So laßt uns denn gemäß der apostolischen Ermahnung

unseres Textes

diese zum Gegenstand unserer heutigen

Betrachtung

machen, indem wir zuerst uns auf ihre nothwendige Grundlage hinweisen lassen und sodann ihr Wesen genauer erwägen. I. Der apostolischen Warnung „Werdet nicht der Menschen Knechte," dieser Ermahnung, christliche Freiheit zu bewahren, geht als Grundlage das Wort voran: „Ihr seid theuer erkauft."

Darin

liegt eben, daß die Christen nur als theuer Erkaufte die Freiheit besitzen, nur als solche sie bewahren können. Was ist Sinn und Inhalt dieser Rede?

Durch Kaufen entsteht ein Besitz, entsteht Eigenthum.

Angeredeten können nach des Apostels Meinung doch Gottes Eigenthum oder Besitz geworden sein. Eigenthum geworden,

offenbar

Die nur

Sind sie aber Gottes

so waren sie es vorher eben nicht.

Man hat

sich nun an diese Rede, die offenbar eine bildliche ist, ganz streng und genau gehalten.

Sind sie, nämlich die Christen, erkauft, so mußte es

einen Kaufpreis, ein Kaufgeld gekostet haben.

Die Deutung wurde da

leicht durch andere biblische Stellen gewonnen.

Das Lösegeld konnte

nach Aussprüchen des Herrn und der Apostel nur das Blut, der Tod Jesu Christi sein.

Aber an wen ist es gezahlt? Wessen Herrschaft hat

zuvor durch diesen Preis gelöst werden müssen, ehe die Christen der Besitz Gottes wurden? Die Einen sagten:

Da lautete freilich die Antwort verschieden.

der Teufel hatte durch die Sünden der Menschen

318

ein Recht auf sie gewonnen, ein Recht, sie in ewiger Qual festzuhalten. Als er aber über Jesum, an dem er kein Recht hatte, verleitet durch sein böses Begehren, welches Gottes Weisheit benutzte, den Tod, die Qualen der Verdammniß herausführte; da wurde er dadurch seines Rechtes an die Menschheit verlustig und mußte sie wieder für Gott loS und ledig lassen. Andere stellen das eben so dar, nur daß sie an die Stelle des Teufels das Gesetz oder den Tod setzen. Noch andere lassen in Gott selbst ein Zwiefaches, Entgegengesetztes auftreten. Durch die Sünde waren die Menschen dem göttlichen Zorn, der göttlichen Rache verfallen, hatten aufgehört Eigenthum der Liebe Gottes zu sein. Gelöst sind sie von der Knechtschaft, unter die sie der Gotteszorn verdammt hatte, durch das Blut und Leiden Christi, welches dem Gotteszorn genug that und ihn beschwichtigte, welches, da es dem Zorn genügte, nun der Liebe Gottes Raum und Freiheit verschaffte, die Menschen wieder als ihr Eigenthum in Besitz zu nehmen. Also durch Christi Blut vom Zorn Gottes für die Liebe Gottes erkauft, ist hier die Ansicht. DaS, theure Freunde, sind alles Vorstellungen, die weder vor einem klaren Denken, noch vor dem Evangelio Christi bestehen können. Es gibt keine Herren, weder Teufel, noch Tod, noch Gesetz, die Gott sein EtgenthumSrecht an die Menschen könnten streitig machen, die deshalb erst durch den Kaufpreis des Leidens der Unschuld beschwichtigt werden müß­ ten, ehe Gott wieder Herr würde. Roch viel weniger ist in Gott selbst ein Gegensatz zwischen Zorn und Liebe. Die Liebe Gottes kann keine andere Bande kennen und tragen, als die sie sich selbst anlegt, die in ihrer Natur begründet sind. Jene Ausleger vergessen bei unserer und ähnlichen Stellen, daß eine bildliche Rede eben immer eine bildliche bleibt, die wohl große Züge der Wahrheit anschaulich macht, aber keinesweges in allen ihren Einzelnheiten auch auf den geistigen Inhalt über­ tragen sein will. Jedes Gleichniß hinkt, ist ein bekanntes Wort. Wenn wir in dem „Ihr fetb. erkauft," zunächst nur das festhalten, ihr seid als Eigenthum für Gott gewonnen, so wird das genügen. Dies aber zu verstehen, ist ein tieferes Eingehen nöthig. Wie Alles, so steht der Mensch ewig unter der Herrschaft Gottes, kann ihr nie entrinnen, ist also als Naturwesen auch Gottes Eigenthum.

319

Aber was der Mensch als Naturwesen ist, das soll er nach Gottes Bestimmung als geistiges, gottebenbildliches Wesen durch seine Selbstentscheidung und Wahl, durch sein eigenes Thun in der Sittlichkeit werden. Aus der Freiheit des Gemüthes sich an die Gottheit hingeben, aus der Freiheit des Gewissens Gottes Willen zu dem eignen machen, das ist des Menschen Beruf und Aufgabe. Und da, meine Geliebte, sind die Menschen zunächst nicht Gottes Eigenthum, sie geben sich nicht hin an ihn und dienen ihm nicht. In ihrer Selbstsucht wollen sie ihre Selbstherren sein, werden dabei freilich die Sklaven nicht nur der eigenen Lüste, sondern auch die Sklaven der irdischen Welt, des Mam­ mons und dergleichen. Aber wohl gemerkt, Sklaven der Welt bleiben sie nur so weit und so lange, als ihr eigener Wille sie dazu bestimmt. Aus dieser Sklaverei treten und Christen oder das Eigenthum Gottes werden, das ist eins und dasselbe. Wie geschieht das? Da spricht Paulus: Theuer seid ihr erkauft, Gott hat eben viel an euch gewen­ det, nicht, um ein Eigenthumsrecht fremder Herren loszukaufen, sondern, um euch von euch selbst, von eurer Selbst- und Ichsucht zu lösen und euch stark zu machen, auch die Bande und Fesseln der Welt zu brechen, um euch sich wieder zu gewinnen und in sein geistiges Eigenthum um­ zuwandeln. Und was er an uns gewendet hat, um uns sich zu erkau­ fen, das kann in nichts Anderem als in der Offenbarung und Bewei­ sung seiner Liebe bestehen. Siehe alle die mannichfachen Segnungen und Güter, die er, nachdem er so wunderbar weise dich gebildet, dir gegeben hat zu deines Lebens Erhaltung und Entfaltung, siehe die mannichfachen Verschonungen und Bewahrungen auf deinem Lebenspfade, siehe all das Gute, was dir selbst aus schweren Lebensgängen und bit­ tern Leidenskämpfen erwuchs — die Liebe Gottes hat aus dem Allen zu dir, an und in dich hineiugesprochen, um dich zu sich zu ziehen, um dich als ihr freies Kind sich zu werben. Siehe an die Majestät und den Glanz des Himmels, siehe an die Lieblichkeit und Erhabenheit in der Natur, siehe an die hehre Wahrheit in dem heiligen Gesetz, wie's. in geschichtlicher Offenbarung sich ausgesprochen hat, wie es in der Tiefe des Gewissens mit nnverlöschbarer Schrift geschrieben bleibt, siehe die Stätten und Kreise beseligender Liebe und Freundschaft, die auch

320 dir dein Gott geordnet — o aus dem Allem weht dich der paradiesische LebenSodem der Gottheit an, um dich selbst mit ewigem Leben zu er­ füllen, leuchtet dir der heilige Kaufpreis entgegen, damit bit um seinet­ willen die knechtischen Bande der Selbstsucht und des ungöttlichen We­ sens brichst und dich als ein williges, frohes Kind an die heilige Liebe selbst übergibst, daß sic dich regiere. Aber der Apostel sieht mit seinem theuer allerdings das Höchste und Tiefste an und das ist die Sendung Christi, das ist die Selbsthingabe, Selbstopferung desselben im Leben und Sterben.

Hier ist die Liebe, wie sie Worte des ewigen Lebens,

wie sie freimachende Wahrheit den gottgebornen Geistern bietet.

Hier

ist die Liebe, wie sie die Verirrten sucht, die Verschuldeten begnadigt, die Kranken heilt.

Hier ist die Liebe, die dem Hasse der Welt gegen­

über sich zu den Ihrigen bekennt und Treue hält bis an das Ende. Hier ist die Liebe, die auch den Feinden Vergebung erfleht und die mit dem Strömen ihres Blutes um die Herzen wirbt.

Hier ist die

Liebe, die vermöge ihrer Reinheit sich mit Gott eins wissen darf und danach uns als Brüder erkennt, die alle aufnimmt, welche zu ihr kommen und allen ihre vom Vater empfangene Herrlichkeit mittheilt. In dieser Liebe nahet sich uns Gott und hat die Versöhnung uns gestiftet und läßt seinen Geist an unsere Herzen klopfen und in sie eindringen. Nun wer diese Liebe in seiner Seele fühlt, wer von ihr durchdrungen wird, der ist auch fortan an sie, an Christum und Gott gebunden, der will nicht mehr sein eigener Herr sein und will nicht weiter seine eigenen Wege wandeln, der will Gott gehören, ist Gott erkauft.

Theuer er­

kauft, — was könnte es Höheres geben als diese werbende Liebe der Gottheit in ihren geschilderten Erweisungen? Das nun ist die Grund­ lage, auf welcher die Errettung von der Knechtschaft des eigenen Selbstes, von der Knechtschaft des weltlichen Wesens erlangt wird, auf welcher man ein Eigenthum Gottes geworden, zugleich der Freiheit der Gottes­ kindschaft sich rühmen darf. II.

Haben wir uns bisher über die Grundlage der christlichen

Freiheit verständigt, so suchen wir uns jetzt das Wesen derselben klar zu machen.

Zn dem Zwecke wollen wir uns das Werdet nicht der

Menschen Knechte eingehender erklären.

Der Apostel hat allerdings

321

unmittelbar vorher von leiblicher Sklaverei gesprochen, aber an die kann er bei unserem Wort nicht gedacht haben. Weder hatte Gott oder Christus etwas gethan, diejenigen, die Sklaven waren, irdisch zu befreien, noch ist es denkbar, daß ein irdisch Freier zu der Neigung kommen konnte, das äußere Sklavenjoch sich auflegen zu lassen. Viel­ mehr dasjenige, was in Beziehung auf die Korinthische Gemeine dem Apostel die Seele hauptsächlich erfüllte und bewegte, wovon er in seinem Briefe ausgegangen war, das ist es, woran er hier erinnert wird und worauf er zurückkommt. Rotten, sich verketzernde Parteien waren in der Gemeine entstanden und drohten die Gemeinschaft und das Gemeindeleben zu zerstören. Auf hohe Namen suchten sich diese Parteien zu stützen, auf Paulus, Petrus, Apollo. Die Form der Lehre, die einer dieser Apostel hatte, sollte alle die Geister binden, der sollten sich alle ver­ pflichten. So wollten die Einen Alles Paulinisch, die Anderen Alles Kephisch haben und hatten nicht übel Lust, jeden, der sich dem nicht fügte, aus der Gemeinschaft zu stoßen. Da hat Paulus auseinander­ gesetzt, wie auch die Apostel selbst nur Diener der Gemeinde wären, Christus allein ihr Herr. „Es ist Alles Euer," hatte er gerufen*), „eS sei Paulus oder Apollo, es sei Kephas oder die Welt, eS sei das Leben oder der Tod, es sei daS Gegenwärtige oder das Zukünftige, Alles ist euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes." Unmit­ telbar unter Christo allein, wie Christus unmittelbar allein unter Gott, sollten sie stehen. Sich binden an irgend einen Menschen und seine Form, andere daran binden wollen, das heißt, in der Gemeine, die zur Freiheit berufen ist, die Knechtschaft aufrichten. „Werdet nicht der Menschen Knechte!" mit diesen Worten mahnt Paulus: Wah­ ret euch die Freiheit des Geistes, zu der ihr berufen seid. — Aber ist das auch wirklich Freiheit, wenn man ein Eigenthum Gottes ist, wenn der Wille Gottes der im Herzen allein regierende wird? Was ist denn Freiheit? Gewiß nicht die gründ- und bodenlose, die gedanken-, Vernunft- und gewissenlose Willkür, sondern die feste Selbstbestimmung aus der eigenen, ursprünglichen Natur heraus, ihren *) 1. Korinther 3, 21—23. ThomaS, Predigten.

322 unveräußerlichen Bedürfnissen gemäß, so wie diese Natur darin denn auch ihre wahre Befriedigung findet.

Da fragen wir nochmals: Ist

daS Wesen der Freiheit damit zn vereinigen,

daß wir unS an den

Willen Gottes binden? Wird im Namen der Freiheit nicht im Gegen­ theil auch die Loslösung von ihm gefordert werden müssen? Nun, meine Geliebten, der. Mensch ist Geschöpf und schon als solches trägt er in sich die Natur, das Wesen, vom Schöpfer schlechthin abhängig zu sein. Aber der Mensch ist zugleich das gottebenbildliche Geschöpf und zwar dadurch, daß Vernunft, Gewissen, religiöses Gefühl in ihm angelegt sind. Kann der vernünftige Mensch seiner Natur gemäß sich entwickeln und leben, wenn er nicht zur ewigen Vernunft sich erhebt,

wenn er

nicht durch das Licht der ewigen Urvernunst sich durchstrahlen, durch­ leuchten läßt? Kann der mit dem Gewissen, mit dem Sinn für das Heilige ausgerüstete Mensch, in dem bei allen Verirrungen die Forde­ rungen des heiligen Rechtes

immer

wieder eine Sprache

gewinnen,

kann er der vollkommne, in sich harmonische und befriedigte Mensch werden,

wenn

nicht die ewige Urheiligkeit, wenn nicht die Reinheit

und Gerechtigkeit, wie sie aus Gott entspringt, ihn bindet, ihn führt, ihn mit ihrem Leben durchdringt?

Kann der Mensch,

der für das

Höchste gebildet ist, kann er jemals Ruhe finden, wenn er nicht im Höchsten ruht?

Wer mit Gott zerfallen, ist, der ist mit sich selbst zer­

fallen, der zerstört, so viel an ihm ist, seine ursprüngliche Natur, der zerrüttet sein Heil.

Zn Gott kommen, seinem Willen aus innerstem

Drange sich unterwerfen, das heißt zur Freiheit kommen, denn es heißt zu sich selbst kommen, heißt seiner ursprünglichen Natur gemäß hinan­ wachsen zn dem vollkommenen ManneSalter, Seligkeit gewinnen.

O

Knechte," will sagen:

darum:

heißt sein Heil,

seine

„Werdet nicht der Menschen

Aus der Freiheit eures Geistes heraus stellet

euch allein unter Gott in Christo. Aber wie ist eö denn, wird damit nicht Alles, was Ueber- und Unterordnung unter den Menschen heißt, zerstört? Wird dadurch nicht das Band staatlicher, bürgerlicher Gemeinschaft, daS ja doch nicht ohne die Obrigkeit, welche leitet und regiert, fein kann, aufgelöst? Wird da­ mit nicht Alles aufgehoben, was irgendwie ist ein Dienen?

Sind wir

323 da nicht auf den Boden schwärmerischer Sekten gestellt, die einst, alle Ordnung umkehrend, nicht mit Unrecht als Feinde der menschlichen Gesellschaft angesehen wurden und als solche ein Ende mit Schrecken fanden?

Auf solchen Boden stellt uns nimmermehr der Apostel oder

die heilige Schrift.

Die Freiheit, zu welcher wir in Christo berufen

sind, ist Gebundenheit an Christum, an Gott, ist die gläubige Hingabe des Gemüthes an den ewigen Liebeswillen der

Gottheit in Christo.

Dieser Liebeswille der Gottheit spricht sich zunächst in der Menschheit darin aus, daß er in ihr die sittlichen Gemeinschaften des Hauses, des Volkes, der bürgerlichen Gesellschaft begründet.

Nur in diesem Gemein­

schaftsleben kann die Menschheit bestehen, das Nöthige gewinnen, irdisches und geistiges Gut erwerben.

Solcher Gemeinschaft, wie es dieselbe in

ihrem ersten Ursprung, in der Familie uns zeigt, ist nothwendig Glie­ derung, Ordnung, Ueber- und Unterordnung.

Wer von seinem Gott

in Christo erkauft sich weiß, frei mit seinem Geist an Gottes Willen hingegeben, der kann auch alle Gottesordnung in der Menschheit nur festhalten, befördern, befestigen wollen; dem ist es Gewissenssache, Unter­ than zu sein nicht nur der Obrigkeit, sondern jeder ächt menschlichen, sittlichen, darum auch göttlichen Ordnung. — Gott hat uns erkauft durch seine Liebe, erkauft für sich, also auch für die Liebe. Worin vor Allen hat die Liebe ihr Leben und ihre Bethätigung? Schauet an den Vollender der Liebe in der Menschheit, Christum!

Des Menschensohn

ist nicht kommen, ihm dienen zu lassen, sondern um zu dienen und selbst sein Leben im Dienen zu geben für viele! Das ist der Liebe Stre­ ben, Thun und Lust, zu dienen mit Allem, was sie ist und hat. Des­ halb sagt der Erlöser*):

„Welcher will groß werden unter euch, der

soll euer Diener sein, und welcher unter euch will der Vornehmste werden, der soll aller Knecht sein."

Darum, wer erkauft durch Christum,

ein Gefreiter Gottes ist, die Freiheit der Kinder Gottes gewonnen hat, wie er sich gern unterordnet aller menschlich-sittlichen Ordnung, so wird er in jedem Verhältniß auch freudig mit den Gaben dienen, die sein Gott ihm verlieh.

*) Markus 10, 43-44.

324 Wird durch ein Sich willig Einfügen in alle menschliche Ordnung, durch ein freudiges Dienen die Freiheit nicht aufgehoben, wie werden wir dabei als Erkaufte Gottes uns ihren eigentlichen Kern und Gehalt bewahren?

Geliebte, mit dem Licht seiner Offenbarung leuchtet Gott

in unser Denkvermögen, in unsere Vernunft hinein, mit der Heiligkeit seines Willens wirkt er auf unser Gewissen,

mit der Macht seiner

Liebe dringt er hinein in unser Gemüth. Zu diesem Zweck dienen ihm Propheten und Apostel, dazu hat er sich' uns vollkommen aufgeschlossen in Christus.

Was fordert er dabei für sich als unbedingtes Eigenthum?

Unsere Vernunft, unser Gewissen, unser religiöses Gefühl. nicht der Menschen Knechte!"

„Werdet

Damit ist unö gesagt:

Nie eure

Vernunft, nie euer Gewissen, nie euer religiöses Bewußtsein unter die Herrschaft der Menschen gestellt und wären sie noch so hoch und wür­ den sie noch so heilig gepriesen!

Hier hat die Unterordnung ihr Auf­

hören, ihre bestimmte göttliche Schranken.

Hier etwas hingeben, heißt

nicht mehr dienen, heißt vielmehr schmähliche Sklavenfesseln sich anlegen lassen. Dienen sollen sie uns alle, die geistlichen und weltlichen Glieder der Gemeine, die, welche ordnen und welche sich leiten lassen.

Dienen

soll uns jechliche Verkündigung göttlichen Wortes, dienen soll uns jeder große Lehrer der Kirche, soll uns Luther und Calvin, dienen Paulus und Petrus. Aber ein Herr unseres Glaubens und Gewissens, unserer Ueberzeugung soll niemand sein als der einige Meister Christus, als der ewige Vater im Himmel. Nach Gottes Offenbarung unseren Glau­ ben, unsere Ueberzeugungen, unser frommes Leben, unser sittliches Han­ deln uns frei selbst zu gestalten, uns unter niemandes Herrschaft zu stellen, hier unser Heiliges nicht zu verzetteln, das ist das Wesen christlicher Freiheit, das sorgsam uns zu erhalten, unsere Christenpflicht von uns fordert.

Nur Trägheit des Fleisches,

nur weltlicher Leichtsinn und

Stumpfsinn kann diese Pflicht verkennen und sich ihr entziehen.

Dazu

hat Gott Vernunft, Gewissen, religiöses Gefühl in dich gelegt, daß du in

dieselben aufnimmst das ewige Licht seiner Liebe.

Thust du eö

nicht, dein Pfund verbirgst du, du bist der untreue Knecht, dem das Wort gelten wird*): „Wer nicht hat, von dem wird auch genommen, *) Matthäus 13, 12 u. 25, 29.

325

das er hat." WaS sind denn die Triebfedern, welche bewegen könnten, den eigenen Glauben, die eigene Ueberzeugung zu verleugnen, im Han­ deln nicht streng der Stimme des eigenen Gewissens zu folgen? Außer der schon erwähnten fleischlichen Trägheit und Bequemlichkeit, außer weltlichem Leicht- und Stumpfsinn, kann es nur Feigheit, Menschen­ furcht oder Jagen nach irdischem Vortheil, nach irdischer Ehre, nach der Gunst sündiger Menschen, nach dem Genuß der Weltlust sein. Wer, der sich noch auf sich selbst, ans seine Menschenwürde und seine mensch­ liche Bestimmung besinnen kann, müßte sich, nicht in tiefster Seele schä­ men, wenn er sich so in seinem Thun und Leben von dem Vergäng­ lichen, Nichtigen, Sündigen bestimmen ließe, nicht schämen, daß er sein köstliches, hochherrliches Erstgeburtsrecht als Gotteskind um ein schnö­ des Linsengericht dieser Welt hingäbe? Wer, dem Christus noch etwas ist, sollte nicht denken an sein zentnerschweres Wort*): „Was hülfe eS dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Oder waö kann der Mensch geben, damit er seine Seele wieder löse?" O unsere Seelen sind gelöst durch Gottes Liebe, durch Christi Leben und Selbstopferung, durch des göttlichen Geistes Wirksamkeit auf unser Gemüth! Lasset uns Christo und Gott bewahren, was ihm gehört. An Gottes und Christi heilige Liebe gebunden sind wir die freien Kinder des Höchsten. „So bestehet nun in der Freiheit, damit uns Christus befreiet hat und laßt euch nicht wiederum in das knechtische Joch fangen" **). Lasset uns festhalten an Gottes Mahnung durch den Apostel: Ihr seid theuer erkauft, werdet nicht der Menschen Knechte! Amen. *) Matthäus 16, 26.

**) Galater 5, 1.

Die apostolische Ermahnung zur Wahrhaftigkeit. Text:

Epheser 4, 25.

Darum leget die Lügen ab und redet die Wahrheit, ein Iechlicher mit

seinem Nächsten,

sintemal wir unter

einander Glieder sind. (§in einfacher Sittenspruch, gewiß aller Beherzigung werth, an­ dächtige Zuhörer. selbst?

Aber

beherzigen wir als Christen

ihn

nicht von

Sollte uns eine Ermahnung zur Wahrheit, eine Warnung vor

der Lüge nicht überflüssig sein?

Ich rede zu uns als zu solchen, die

aus der Wahrheit sind, welche die Wahrheit suchen, und, um mit Jo­ hannes zu sprechen, welche auch sich bemühen, die Wahrheit zu thun. Darum scheint diese Ermahnung in unsere Gemeine nicht mehr hinein zu gehören.

Aber ist das Wort von der Liebe gegen die Brüder nicht

eben so einfach

und selbstverständlich und soll man nicht bei Christen

erst recht die Bruderliebe voraussetzen? der sich dünken ließe,

Und doch, wer ist unter uns,

Uber das Bedürfniß, zu derselben ermahnt zu

werden, hinaus zu sein? Wer unter uns wollte sich für völlig halten in der Liebe? Wer für rein von ihrem Gegentheil, von der Selbstsucht? Vielmehr wissen wir, wir sind noch lange nicht vollendet und lauter in der Liebe, darum belebende Ermahnung, in ihr zu wachsen und an ihr reicher zu werden, ist immer bei uns am rechten Ort.

So wird aber

auch keiner unter uns zu sagen wagen,

er sei schon durch und durch

wahr.

seine Wahrhaftigkeit sei eben

Vielmehr wird jeder bekennen,

Lieder: Nr. 62. 492, 5.

327

erst ein mehr oder weniger erfolgreiches Ringen nach der Wahrheit in allem Wort und im ganzen Verhalten, wird bekennen, daß er immer wieder mit der sich erhebenden Neigung, sich hier und da zu verhüllen, sich zu verschleiern, im falschen Licht zu erscheinen, noch kämpfen muß. Gewiß, wenn die apostolischen Gemeinen noch der lebendigen Ermah­ nung zur Wahrhaftigkeit, der ernsten Warnung vor aller Lüge und Unwahrheit bedurften, wir werden nicht im eitlen Hochmuth sprechen: Wir danken dir Gott, daß wir nicht sind wie jene. Vielmehr erkennen wir an, daß auch wir noch hinreichenden Grund haben, uns in dieser Beziehung zu deS Apostels Füßen zu setzen, seiner Rede zuzuhören, sie von Neuem in's Innerste itnfmö Gemüthes aufzunehmen, um mehr und mehr ihr gemäß unser Verhalten und Leben zu bilden. Also der Ermahnung zur Wahrheit im Reden und Thun öffnen wir Geist und Herz, indem wir zuerst die Güter des Lebens in Betracht ziehen, um welche es sich hierbei handelt, sodann auf die' Begründung eingehen, welche der Apostel dieser Ermah­ nung gibt, I. Das Gegentheil der Wahrheitsliebe, die Lüge, erscheint in der heiligen Schrift nach dem Urtheil des Erlösers im hervorragenden Sinn als das Arge, als die Sünde, als das satanisch Böse. Der Teufel ist „ein Lügner und ein Vater der Lügen," spricht der Herr*). Das gilt allerdings von dieser Sünde ihrem Wesen nach, das wird aber auch von ihr gelten, wenn wir auf die Lebensgüter blicken, welche durch sie zerstört werden. Die Lüge ist der fressende Krebs der Ungerechtig­ keit für die Sprache, für die hohe Gottesgabe, durch welche der Verkehr und die Verbindung der Menschen ganz besonders bedingt ist. Damit ist sie zugleich der verwüstende Feind für die theuersten Güter des Lebens. Nur Einiges laßt mich hervorheben und wir werden uns bald davon überzeugen. Der Mensch ist zur Naturbeherrschung berufen. Nur indem er die mannichfachsten Gegenstände in der Welt in seinen Besitz uvlwandelt, wird das menschliche Leben als das irdische erhalten, berechert, geschmückt. Diese Naturbeherrschung, die Erwerbung der viel*) Johannes 8, 44.

328 fachen Güter des irdischen Lebens wird nur dann fortschreiten, wenn die Einzelnen zu gemeinsamer Thätigkeit sich verbinden, wenn die mannichfachsten Fertigkeiten, Gaben und Bestrebungen sich gegenseitig dienen und in die Hände arbeiten, wenn so Ackerbau, Gewerbe, Handel die Aufgabe der durch Vertrauen und durch die Sprache verknüpften Mensch­ heit bleibt.

Der einzelne Mensch für sich allein ist arm in der reichsten

Natur und ohnmächtig nach allen Seiten.

Nur die im Austausch ihrer

Gedanken und Bestrebungen sich vereinigende Menschheit ist und wird immer mehr die Beherrscherin der Welt.

So lange nun das wahre

und wahrhaftige Wort in der zur Arbeit verbundenen Menschheit Ver­ trauen genießt und die Lüge fern bleibt, muß fortschreiten das gottge­ botene Wort: Machet euch die Erde Unterthan, müssen sich der Mensch­ heit immer mehr die Quellen des Segens öffnen, müssen immer reichlicher die Güter des irdischen Lebens zusammenströmen.

Je mehr Lüge und

Unwahrheit sich verbreitet, desto größer wird in den gemeinsamen Ar­ beiten der Menschheit das Gefühl der Unsicherheit und Unzuverlässigkeit, welches alle Kräfte lähmt, desto mehr Nachtheil und Schaden wird an Stelle der gehofften Güter eintreten, desto mehr wird schon das irdische Leben veröden und verarmen. Eine reiche Fülle von Gaben und Kräften gibt Gott dem Menschen alS leibliche und geistige Ausstattung für's Leben, aber alle diese Gaben, ruhend im Mittelpunkte der Vernunft, sind zunächst nur schlummernde Anlagen.

Sie bedürfen der Weckung, der Belebung, der Erstarkung,

der Ausbildung. Sprache,

Alle Ausbildung ist gebunden

an das Mittel der

an das Leben des Einzelnen in der Menschheit durch die

Sprache. Ist es Unwahrheit und Lüge, die in der Menschheit walten, wie mag die Bildung der Menschen gedeihen?

Wie muß der Trieb

zur Ausbildung nicht in verzerrte Bildung ausgehen?

Wie müssen da

nicht selbst Kenntnisse und Schätze des Wissens anstatt eine helle Fackel auf dem rechten Pfade zu sein, nur Mittel der Verblendung werden, Stricke des Verderbens? Nur so weit Wahrheit die Sprache als Mittel des Verkehrs unbefleckt und rein erhält, wird der Mensch sich zur rech­ ten Menschenwürde heranbilden.

Wo die Lüge herrscht, verfällt er mit

seinem ganzen Wese» der Häßlichkeit und tiefsten Gemeinheit. —

329 Für die Geselligkeit, für das gemeinschaftliche Leben sind die Men­ schen von Gott geschaffen, sind durch die ganze Naturanlage ihres Ge­ müthes darauf angewiesen. Im Innern des sich entwickelnden Men­ schen regen sich demgemäß die Gefühle der Liebe und Freundschaft, erhebt sich das mächtige Sehnen, dem das Finden gleichgestimmter, gleichgerichteter Seelen tiefstes, nothwendigstes Bedürfniß ist. Sind herangereift diese Gefühle und machen sich nach allen Seiten die damit verknüpften Bedürfnisse geltend; so wird denen, welche in gleicher Zunge von Kindheit her reden, in gleichen Sitten groß geworden sind, eS auch vollständig klar, daß sie zusammengehören als ein Volk, daß dasselbe nothwendig sich gliedern muß in verschiedenen Ständen und Berufs­ zweigen, daß es sich auch zu scheiden hat in Leitende, Regierende und Regierte, daß nur in solcher Gliederung gemeinsames Wohlergehen er­ wachsen und erblühen kann. So bilden sich fortwährend die kleineren und größeren Kreise der Freundschaft. So gestaltet sich immer von Neuem das Heiligthum innigster, engster Liebe zwischen Mann und Weib, Eltern und Kindern, Brüdern und Schwestern am häuslichen Heerd in der Familie. So sind herangewachsen und erhalten und er­ neuen sich die Genossenschaften des bürgerlichen Lebens, die Rechtsord­ nung des Volkes als Staat, der Bund, auf dem Boden des Gesetzes ruhend, zwischen Regierung und Regierten. Und was knüpft diese Bündnisse an und gilt als die bleibende Grundlage derselben? Die Worte, in denen die innigsten Gefühle aus den Tiefen des Gemüthes hervorbrechen, in denen diese sich darstellen, die Worte als heilige Ver­ sprechen unverbrüchlicher Treue, Liebe, Ergebenheit. Im Austausch der Gedanken und Gefühle durch die Sprache wird dem Freunde der Freund gewonnen. Im Wort, daS die volle Hingebung in innigster Liebe gelobt, gewinnt der ehliche Bund, dies Verschmelzen von zweien zu Einem Menschen, den festen Bestand. Im Wort fester Zusage ver­ knüpft sich der Fürst, die Regierung dem Volk, sagt sich das Volk in treuer Ergebenheit dem Fürsten, der Regierung zu, binden sie sich ge­ meinsam an das heilige Band des Gesetzes, des Rechtes, der Gerech­ tigkeit. Was für hohe Güter des menschlichen Lebens haben wir hier erwähnt, wenn die Wahrheit und Wahrhaftigkeit ihre Hüterin und

330 Pflegerin bleibt! Welch hohes Glück von Banden der Freundschaft um­ schlungen zu sein, wenn eS lauter und ohne Falsch zugehet! Welch reich beseligtes Leben in

den Familien, wenn die gegebenen Zeichen und

Ausdrücke der Liebe auf dem festen Grunde der Wahrhaftigkeit sich gründen!

Welch gesegnetes Volksleben, wo treu stehend zu dem gege­

benen Wort nach festem Gesetz, wie's gelobt wurde, Recht und Gerech­ tigkeit gehandhabt, wenn freudiger Gehorsam der auf dem Boden des Gesetzes und der Treue stehenden Obrigkeit geleistet wird!

Und nun

stellen wir unS das Gegentheil vor. In den Kreisen bet Freundschaft und der Geselligkeit kleidet sich in freundliches Wort die falsche Tücke deS Herzens.

Im Hause gelten die Gelübde gegenseitiger Liebe und

Treue für nichts.

Mit Lügen suchen einander die Gatten zu hinter­

gehen, Lüge ist es, mit der verhüllen sich Sohn und Tochter vor Vater und Mutter, mit der betrügen sich Schwester und Bruder. Alles was schön und lieblich, was gut und edel ist. Alles, was irgendwie in diesen Verbindungen erheben und im Leid trösten kann, durch die Lüge wird es zerstört.

Das Haus, die Familie, ich möchte sie für den Christen

das wiedergefundene Paradies nennen, durch die Lüge wird dasselbe um­ gewandelt in die Stätte unsäglichen Jammers, in einen Vorhof der Hölle.

Und wenn im Volksleben das gegebene Wort nichts mehr gilt,

wenn die Gelübde der Regierenden und der Regierten, wenn die gegen­ seitigen Eide durch den Bruch des Rechtes in Lüge und Meineid ver­ wandelt werden;

dann reift aus böser Saat eine böse Erndte heran,

dann glüht schon unter dem Boden des Volkslebens das verrätherische, unterirdische Feuer und es drohen die Flammen hervorzubrechen und die verheerenden Feuerströme, welche Vernichtung nach allen Seiten hin tragen. Für die Gemeinschaft mit Gott, für den Glauben, der unS Him­ mel und Erde verbindet, der Ewiges im Irdischen erfaßt, der die er­ lösenden Kräfte heiliger Gottesliebe gung gewinnt,

sind wir geschaffen.

ergreift und Frieden und Heili­ Aber auch dies höchste Leben

des menschlichen Geistes ist zuerst ein schlummerndes, bedarf der Er­ weckung, bedarf der Hineinführung in'S Leben.

Religion und Glaube,

sie werden nur durch Religion und Glaube geweckt, sie werden nur

331

durch Religion und Glaube gefördert, geläutert, gekräftigt. Und wie kann Religion und Glaube auf andere Gemüther wirken? DaS Wort ist vor Allem das Mittel. „Die Worte, die ich rede, find Geist und find Leben," sagte der Erlöser *). Diese Worte trugen den Geist und das Leben der Religion und des Glaubens in sich, und darum weckten sie Geist und Leben, darum pflanzten sie den beseligenden Glauben wei­ ter fort in die Gemüther. Der Glaube kommt auS der Verkündigung, bezeugt der Apostel*). Darum hat der Herr die Jünger als Träger des Wortes in Pie Welt gesandt, darum ist die evangelische Verkündi­ gung in Haus und Kirche noch immer die Quelle, aus der das religiöse Leben eben so entspringt, wie sich erfrischt und versüngt. Q wenn da, wo das Wort von Gottes heiliger Liebe über die Lippen quillt, es immer so steht, wie bei dem Apostel, welcher sagen konnte***): „Ich glaube, darum rede ich," wenn eS der treue Wiederklang eines gläubigen, wahrhaftigen Gemüthes ist; es kann hier und dort verworfen werden; aber es ist doch der Gottessaame, der sein gutes Land finden muß und der in schöpferischer Kraft Glaube, Liebe, Hoffnung, ein wahrhaftes Leben in Christo und Gott, hervorsprießen läßt. Man klagt über Unglauben und Gottlosigkeit als den schlimmen Feind des Glaubens, der Religion. Aber wir haben einen viel schlimmeren Feind als ihn in der Lüge, die sich des göttlichen Wortes, die sich der heiligen Rede für ihre Zwecke bemeistert. Kein Feind hat von jeher auf dem Boden des frommen, gemeinschaftlichen Lebens, der Kirche, schlimmer und zerstörender gewirkt, Glaube und Liebe und Hoffnung mehr ver­ giftet als die Heuchelei. Das bezeugt der Erlöser, indem er so scharf und entschieden die Pharisäer als Heuchler straft, und es ihnen vor­ wirft, daß grade sie das Himmelreich verschließen. So gibt es keine Güter für die Menschen, denen nicht als eine feindliche, zerstörende Macht die Lüge gegenüberstände. Die Lüge lähmt und beraubt alle menschliche Thätigkeiten ihrer Erfolge, sie zerstört wahre Bildung und läßt nur ein widerwärtiges Zerrbild derselben übrig, sie verwüstet das innere Heiligthum der Familienliebe und Freundschaft, droht in den *) Johannes 6, 63. ***) 2. Korinther 4, 13.

**) Römer 10, 17.

332 Abgrund des Verderbens Staat und Volk zu stürzen, vergiftet Glaube und Religion in den Gemüthern.

Darum sagt der Herr, die Lüge sei

vom Teufel, darum drückt er ihr den Stempel tiefster Verworfenheit und Verwerflichkeit auf.

Wohlan

so lasset alle Tage und Stunden

unseres Lebens die warnende Liebesstimme

an unser

Leget die Lügen ab und redet die Wahrheit,

Ohr dringen: ein jechlicher

mit seinem Nächsten.

n.

In den verwüstenden Wirkungen der Lüge ist uns wahrlich

ein zwingender Grund gegeben, sie zu hassen und zu fliehen und die Wahrheit, die Pflegerin und Schützerin alles menschenwürdigen Lebens zu lieben. Aber in sich selbst muß die Lüge den Karakter tiefster Ver­ werflichkeit tragen.

Die Lüge ist ja nichts Anderes als der Beweis,

daß der Mensch nach seinem eigenen Urtheil der Schlechtigkeit verfallen ist und daß er doch diese Schlechtigkeit nicht aufgeben will. Nur weil der Mensch im innersten Grunde seiner Seele sich seiner selbst schämt, sich selbst verachtet, nur darum verbirgt er die wahre Gestalt seines Wesens, nur darum greift er zu dem trügerischen Schein, um sich dahinter zu verstecken.

In der Lüge haben wir den Menschen in seiner sittlichen

Selbstauslösung, Selbstvernichtung.

O

achtest du Gottes Bild

Menschenwürde in dir, du kannst der Lüge dich nicht hingeben, kannst der Wahrheit

und Wahrhaftigkeit dich

nicht

entziehen.

und du Das

haben selbst die Weisen unter den Heiden gefühlt, erkannt und aus­ gesprochen. Aber unser Apostel giebt uns in unserem Text noch eine andere Begründung für die Wahrhaftigkeit durch den kurzen Zusatz: „Sinte­ mal wir unter

einander Glieder sind."

Auf diesem Boden

wird die Wahrhaftigkeit erst wirklich in's Leben treten und erst hier wird sie sich als ächt christliche Tugend ergeben. unter einander".

„Wir sind Glieder

Der Leib, von dessen Gliedschaft hier gesprochen

wird, ist ja selbstverständlich die Gemeine Christi.

Sind

wir

aber

Glieder an diesem heiligen Leibe und so unter einander verbunden, so ist das nur der Fall, weil wir verbunden sind mit dem Haupt, weil wir leben in und aus Christo.

Das fassen wir zuerst

in's Auge.

Das Gemeinglied ist ein solches geworden, weil die Liebe des Hauptes

333

ihm aufging, weil dieses Haupt ihm Heiland und Mittler geworden ist, weil es ihm, dem Heiland, aus innerster Nothwendigkeit sich hingeben mußte. Ist denn dies Haupt der Gemeine nicht der, welcher sich dem Lichte der Welt, der Sonne vergleicht, von dem die ewige Gotteswahr­ heit in ungetrübtem Glanze ausstrahlt? Ist er nicht der, welcher auch in Beziehung auf seine Rede seine Feinde herausfordern darf und sprechen*): „Wer kann mich einer Sünde zeihen? Ist er nicht der, welcher sich kurzweg die Wahrheit zu nennen berechtigt ist? Wie Gottes Licht in ihn hineinstrahlt, weil er ist der Mensch ohne Falsch und Sünde, so läßt er auch das Licht seiner Gerechtigkeit leuchten, so ist er in Wort und Thun der Wahrhaftige selber. „Wer Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein" **) und wer sein ist, der hat seinen Geist, der nimmt von ihm Wahrheit und Lauterkeit. Wollten wir der Un­ wahrheit dienen, wir sagten uns los von ihm, in jeder Lüge verleug­ neten wir ihn selbst und zögen auf uns sein Urtheil: Wer mich ver­ leugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater. Wollen wir uns denn seiner Liebe getrosten, wollen wir Glieder bleiben an ihm dem Haupt der Gemeine, um seinetwillen, aus ihm heraus muß es, nicht als Befehl von oben her, sondern in unserem Herzen klingen: Leget die Lügen ab und redet die Wahr­ heit ein jechlicher mit seinem Nächsten. „Sintemal wir unter einander Glieder sind." — Das ist weiter die treffende Bezeichnung von dem eigentlichen Verhältniß wahrer Christen zu einander, gibt uns in bildlicher Anschaulichkeit wie­ der das Wort des Herrn***): „Dabei wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe unter einander habt." Um dies Verhältniß und Verhalten der Seinen unter einander fleht der Erlöser in den Worten's): „Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, so durch ihr Wort an mich glauben werden, auf daß sie alle Eins seien, gleich wie du Vater in mir und ich in dir, daß auch sie in unS Eins seien, auf daß die Welt glaube du habest mich gesandt. Und ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, *) Johannes 8, 46. ***) Johannes 13, 35.

**) Römer 8, 9. t) Johannes 17, 20—23.

334 daß sie Eins seien, gleich wie wir Eins sind."

„Ich in ihnen und

du in mir, auf daß sie vollkommen seien in EinS."

Wie die

Glieder des Leibes durch das Mitgefühl und durch das daraus hervor­ gehende gegenseitige Dienen verbunden sind, so zieht sich als geistiges Band durch und um die rechten Jünger des Herrn die mitfühlende, jedes Leid mittragende, an jeder Freude sich mit erquickende, zu bestän­ digem Dienst bereite Liebe — ja sie selbst ist das ächte, wahre Christen­ thum.

Ist damit nicht die Wahrhaftigkeit, die unbedingte Wahrheits­

liebe nothwendig mit gegeben?

Kann in den Gliedern des Leibes, die

durch das natürliche Band des Mitgefühls verbunden sind, auch ein Zug zur gegenseitigen Täuschung sich finden?

Ist es nicht vielmehr

Naturnothwendigkeit, daß z. B. das Auge, so weit sein Vermögen reicht, auch

für die Thätigkeit der anderen Glieder richtig

die Bilder der

Außenwelt auffaßt und dem ganzen Körper aneignet?

So ist es die

ächte Natur der ächten Christengemeinde, die da ist „die Gemeinschaft deS Glaubens und heiligen Geistes in den Herzen"

und damit die

Gemeinschaft der heiligen Liebe, daß die Glieder unter einander wahr und lauter sind in Wort und That.

Ja wie der Erlöser, wenn er

das Böse personifizirt und in seiner Höhe darstellt, wie er da tödtlichen Haß deS Lebens und Lüge verknüpft — der Teufel ist Menschen­ mörder

und Lügner von

Anbeginn —

so

gehören

auf der

Gegenseite wesentlich zusammen: Liebe und Wahrheit, Liebe und Wahr­ haftigkeit.

Die Wahrhaftigkeit ist die nothwendige Begleiterin, ja eine

nothwendige Seite der Liebe selbst.

Wo die Wahrhaftigkeit fehlt, da

kann wohl ein schmutziges Zerrbild der Liebe, aber nicht die hohe, hei­ lige Himmelstochter, die ächte Liebe, heimisch fein.

Die Selbstsucht

ist es, dieses Ungöttliche, die menschliche Natur Verderbende, dies in sich selbst Eitle, Nichtige, sie bedarf der Hüllen und Schleier, um ihre Häßlichkeit,

um ihre verderblichen Absichten und Ziele zu verbergen.

Der Selbstsucht, der schmutzigen ist es nothwendig, sich die Wortbrüchigkeit, die Heuchelei, die Lüge, den Meineid als ihr Gewand umzuhängen. Die Liebe, wie sie Leben liebt und Leben gibt, tritt um deswillen klar und wahr aus sich selber heraus,

gibt sich treu unb, lauter.

Nur

so kann sie ja ihr Ziel erreichen, nur so bleibenden Frieden verbreiten,

335 nur so stichhaltigen Trost gewähren, nur so von Banden des Bösen lösen, nur so selbst Sinn und

Begeisterung, Muth und Freudigkeit

für das Heilige wecken und nähren.

Wie deshalb hier Paulus, der

Wahrhaftigkeit Grund und Lebensquelle in der Liebe sucht, so mahnt er auch am anderen Ort in unserem Brief*): in der Liebe."

„Laßt mt6' wahr fein

Das ist die hohe Herrlichkeit Jesu, daß vollendete Liebe

und lauterste Wahrheit in ihm sich stets durchdringen und sich ohne Wandel in seinem Leben kräftig

bekunden.

Das vor Allem ist die

Herrlichkeit, die er durch Wort, Leben und Sterben, durch die Sen­ dung seines Geistes

seinen Jüngern verleihen will.

Laßt uns von

ihm nehmen Gnade um Gnade, Wahrheit um Wahrheit. Laßt uns an ihm, unserem Haupt, hinanwachsen zum vollkommenen Mannesalter in ihm, indem wir in seiner Gemeinschaft daS Wort des Apostels beher­ zigen und üben, das Wort:

Leget die Lügen ab und redet die

Wahrheit ein jechlicher mit seinem Nächsten, sintemal wir unter einander Glieder sind! Amen. *) Ephesier 4, 15.

Nach wörtlicher Uebersetzung.

Die christliche Geduld. Text:

Hebräer 10, 36.

Geduld aber ist euch noth,

auf daß ihr den Willen

Gottes thut und die Verheißung empfanget. beliebte im Herrn, wie das Heil in der Verknüpfung und Ein­ heit vieler trefflicher Dinge ruht, darauf wurden wir vor acht Tagen an dieser Stätte hingewiesen **).

So ist das christliche Leben ein in

sich geschlossenes, ein in sich harmonisches Ganze, dem keine Seite feh­ len, von dem darum auch keine einzelne Tugend hinweggedacht werden darf. lebenS.

Vergessen wir nie diese Einheit, diese Harmonie des ChristenAber eben weil alle die einzelnen Tugenden wesentlich mit zu

dem Ganzen gehören, geziemt es uns auch wieder, jeder derselben in unserem christlichen Betrachten und Denken ihr volles und ganzes Recht zu gewähren, um dadurch angeregt, auch keine derselben im Handeln, in der sittlichen Ausübung zu verleugnen.

In diesem Sinn von den

verschiedensten einzelnen Tugenden aus uns für das Ganze des christ­ lichen Lebens zu erwärmen und zu beseelen, dazu habe ich in der fest­ losen Hälfte unseres gegenwärtigen Kirchenjahres, wie es den regel­ mäßigen Hörern nicht entgangen ist, jedesmal die biblischen Texte ge­ wählt!

Unser Text weist uns heut auf die Nothwendigkeit der

Geduld und wir wissen, er steht mit seiner Mahnung nicht vereinzelt in der Bibel.

Oft kehrt die Ermahnung wieder, so manchesmal wird

Lieder: 3. 611. *) In einer Predigt des Herrn Probstes Dr. Nitzsch.

337 diese Tugend



gepriesen, Verheißungen werden

an

dieselbe geknüpft.

Lassen auch wir uns heut aus dem göttlichen Wort durch den Geist deS Herrn kräftig nach dieser Seite anregen und beleben.

Zuerst soll

uns das Wesen der christlichen Geduld beschäftigen, um dann zu erwägen, wie sie die Bewährung und Bewahrung in sich schließt. I.

„Geduld ist euch Noth."

Bei den mehrsten christlichen

Tugenden gilt es ein thätiges Eingreifen, ein Handeln.

Bei der Ge­

duld denken wir vielmehr an die eigene und selbst gewollte Hemmung eines Handelns, an ein sich Zurückziehen von einem Thun, zu dem das Innere sonst wohl reizt und drängt.

Bei der Geduld wird eben ge­

duldet, getragen, es ist damit ein Stillsein, ein Warten und Harren verknüpft, ein Gewährenlassen dessen, was von anderer Seite kommt. Dies Dulden, Tragen, Gewährenlassen beziehen.

kann sich auf Verschiedenes

Von der Geduld Hiobs ist in der heiligen Schrift oft die

Rede und wir wissen sofort, was dabei getragen, geduldet wurde.

Es

waren die schweren Geschicke des Lebens, die bitteren Leiden in dieser Zeit, wie wohl jeder von unS damit manchmal zu kämpfen hat.

Aber

mußt du nicht tragen, dulden, was der Allmächtige, was Gott dir auflegt? Entziehen können wir unS dem, was Gott über unS verhängt, freilich nicht.

Aber sich ihm nicht entziehe» können, und tragen, dulden, das

ist zweierlei.

Beim Tragen, Dulden ist unser Wille nothwendig dabei.

Man kann den gottbestimmten Leiden sich

nicht entziehen;

aber mit

unwilligem, widerstrebenden Murren kann man sich dagegen sträuben, oder mit trostlosem Verzagen in dasselbe versinken.

DaS ist dagegen

das Geduldigsein, wenn man, wie schwer und bitter es auch wird, mit freier Ergebung des Herzens dem Erlöser nachfolgt in dem thatkräftigen Wort*): „Soll ich den Kelch nicht trinken, den mir mein Vater gegeben hat?" in dem Gebet**):

„Nicht mein, sondern dein Wille geschehe!"

In schwerster Noth willig und ergeben der züchtigenden Hand Gottes still halten, das ist die Tugend der Geduld.

In diesem willigen Ein­

gehen in die Trübsal wird aber die Geduld als Leiden zugleich ein Thu», die schönste, sittliche Thätigkeit, wird damit Tugend. *) Johannes 18, 11. Thomas, Predigten.

**) Lukas 22, 42.

338 Am Erlöser aber preisen wir die Geduld nicht nur nach dieser, sondern auch nach manchen anderen Seiten.

Die Sünde umgibt den

Heiligen Gottes. Er, der Reine, bewegt sich wie in einer giftgeschwängerten Atmosphäre.

Alle rohe Aeußerungen der Sünde werden ihm

zu schmerzhaften Verwundungen seines inwendigen Menschen.

Ja die

Sünde richtet sich mehr und mehr als Feindseligkeit wider ihn, wird listig gefährdendes, heuchlerisch versuchendes, giftig anklagendes, richten­ des, lästerndes Wort, wird zum Thun, das mit tiefster Schmach und schmerzhaftester Qual belastet!

Dennoch ist das treffendste Sinnbild

von ihm das Lamm, das der Welt Sünde trägt und das Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird und seinen Mund nicht aufthut wider seinen Mörder.

Die Geduld nach dieser Seite ist das stille Tragen

der Sünde und der Feindseligkeit der Welt.

Alan

kann auch hier

sprechen: Ja die Welt liegt im Argen, wie will man darum dem Bösen entgehen?

Oder, wenn einmal die Feindseligkeit Uebermächtiger uns

trifft und kein Entfliehen uns übrig bleibt; wie wäre es möglich, nicht zu leiden? Auch hier, Geliebte, kommt's nicht an auf das nur äußere Leiden, sondern auf die Gesinnung mit der gelitten wird. zeigt uns auch nach dieser Seite, was Geduld ist.

Der Erlöser

Wie schwer die

Sünde der Menschheit auf ihm liegt, er will dieser Menschheit sich dennoch nicht entziehen, sondern in tiefem Schmerz ihre Sünde tragend, beharrt er in der Heilsthätigkeit für sie, läßt nicht ab, ihr den Frieden zu bieten und die Mühseligen und Beladenen zu seiner Erquickung zu rufen.

Und wie hoch die Feindseligkeit gegen ihn sich erhob, er bleibt

in der Liebe gegen die Feinde. fleht er ihnen Vergebung.

Das Schwerste leidend ersehnt er, er­

Um Heil zu stiften, leidet er für die Men­

schen und von den Menschen, trinkt so aus eigenster Selbstbestimmung und mit der Ergebung der Liebe den bittersten Schmerzcnskelch bis an's Ende.

Daö ist seine Geduld.

Sein Dulden und Tragen ist auch

hier sein Thun. In dieser Geduld ist wiederum das Leiden die höchste Thätigkeit, die Geduld ist dadurch wahrhaft Tugend, Mannhaftigkeit. Fassen wir am Vorbilde des Herrn die Geduld noch von einer anderen Seite in's Auge.

Der Heiland hatte seine Jünger als die

anfangende Gvttesgemeine um sich gesammelt, um sie allmählig in ihrem

339 ganzen Fühlen, Denken und Wollen ganz aus Selbstsucht und Sünde zu lösen, um sie zu vollen Gottesmenschen, die zu jechlichem guten Werk geschickt wären, zu erziehen.

Das war die Aufgabe seines irdischen

Lebens, welcher er alle seine Kräfte weihte. seinen Jüngern?

Aber wie stand es mit

Wie er selbst es ihnen bezeugte*):

willig, aber das Fleisch ist schwach."

„Der Geist ist

Trotz schöner Anfänge, trotz er­

hebender Bekenntnisse zeigen sie sich immer wieder in ihrem Verständniß durch ihr selbstisches Wesen so gebunden. — „So lange bin ich bei euch und ihr kennet mich nicht?"**)

Immer wieder zeigen sie sich

gefangen von irdischen Trieben des Ehrgeizes oder der Menschenfurcht, schwach am Glauben, an der rechten Liebe! Stunde mit mir wachen " ***)! klagen.

„Könnet ihr nicht eine

muß der Herr noch am letzten Tage

Aus dieser Klage heraus hören wir es, wie schwer es war,

bei diesen schwachen, immer wieder irrenden und wankenden Jüngern auszuhalten und an ihrer Erlösung und Vollendung nicht zu verzagen. Der Herr aber hielt aus und wie nach seinem Ausdruck, Satanas der Jünger begehrte, um sie zu sichten, wie die Versuchung von außen und die Versuchbarkeit ihres Herzens

sie immer noch in schwerster

Gefahr bedrohte, sein Gebet, seine Liebe blieb ihnen schirmend und be­ wahrend zur Seite. aufhöre" f).

„Ich habe für dich gebetet, daß dein Glaube nicht

Das also die Geduld, die aller Schwachheit, allen lang­

samen, fast nnmerklichen Fortschritten im Guten gegenüber als Liebe festhält an der Zuversicht. Dieses Dulden und Tragen der Schwäche, es ist die kräftige Wurzel, aus der eine fortwährende Liebesthätigkeit hervorwächst. Ist auch hier die Geduld ein Tragen, ein Leiden, so ist sie zugleich die Quelle der Kraft fllr's christliche Handeln, die Mutter der Thätigkeit.

Gevuld ist das stille Dulden und Tragen, wie es im

eigenen, freien Willen wurzelt, gegenüber den Leiden der Welt, der Sünde und Feindseligkeit der Menschen, der Schwachheit, Fehlerhaftig­ keit und Säumigkeit in denen, die unserer Pflege und Führung irgend wie anvertraut sind. Wir haben in unserer Betrachtung hervorgehoben, wie die Geduld *) Matthäus 26, 41. ***) Matthäus 26, 40.

**) Johannes 14, 9. f) 'Juso« 22, 32.

340 auch als Leiden und Tragen theils selbst schon sittliche Thätigkeit, theils die Quelle sittlicher Thätigkeit ist.

Um

so mehr werden wir sagen

müssen, daß sie als christliche Tugend, keinem aus Gewissen und Ver­ nunft, auf göttlichem Willen sich gründenden Thun sich entgegenstellen kann.

Dürfen wir, um Geduld zu üben, bei den Leiden des Lebens

nichts zu ihrer Abwendung thun?

Gewiß, was nach dem Maaßstabe

des göttlichen Wortes und des Gewissens zur Bekämpfung und Aufhe­ bung der Uebel, unter denen wir und die Brüder leiden, möglich ist und in unseren Kräften steht, das sind wir zu thun, nicht nur berechtigt, son­ dern auch verpflichtet.

Allgemeiner Sünde gegenüber kann uns die

Geduld nicht zur Uuthätigkeit verurtheilen.

Vielmehr durch die Macht

des eigenen Lebens, durch das entschiedene Zeugniß des klaren Wortes dieselbe zu bekämpfen, ist unser Ehristenberuf.

Wo feindselige Ungerech­

tigkeit uns verfolgt, unsere Rechte mit Füßen tritt, nimmer dürfen wir uns unter dem Vorwände der Geduld abhalten lassen, allen Schutz dagegen aufzurufen, welchen die im Volke bestehenden, in ihrem letzten Grunde auf dem göttlichen Willen ruhenden Rechtsordnungen uns bieten. Schon um des Ganzen willen, aus der erhaltenden Liebe heraus bleibt es unsere Aufgabe gegen solche Angriffe zu dem schützenden und stra­ fenden Schwerdt der Obrigkeit, zu der Wage der Gerechtigkeit unsere Zu­ flucht zu nehmen. kann uns abhalten,

Keine Geduld mit den uns anvertrauten Seelen mit dem Reiz der Liebe,

mit dem Stachel der

Wahrheit sie auf dem Pfade des Heils und der Gerechtigkeit vorwärts zu treiben.

Nur da, wo die pflichtmäßige Thätigkeit der Liebe geübt

wird, kann von Geduld die Rede sein.

Wird dagegen irgendwie Ver­

nachlässigung pflichtmäßiger Liebesthätigkeit als Geduld gepriesen, man treibt schnöden Mißbrauch

mit

dem schönen Wort.

Nicht von der

Geduld, sondern von sittlickem Stumpfsinn, geistiger Erschlaffung, un­ heiliger Trägheit ist da zu sprechen. gessen.

Aber Folgendes ist nicht zu ver­

Die Uebel des Lebens werden bei allem weisen Kampfe gegen

dieselben sich doch zur Zeit theilweise unüberwindlich zeigen. Streit gegen menschliche Sünde

Unser

wird nie hinreichen, sie aus den uns

umgebenden Lebenskreisen zu verbannen.

Nie wird Obrigkeit und Ge­

richt bis dahin gelangen, daß sie alle Ungerechtigkeit von den Einzelnen

341 abhalten.

Nie wird unser Eifer so wirksam sein, alle Säumigkeit und

Mangelhaftigkeit der uns Anvertrauten zu besiegen.

Diesen dunklen,

großen Resten des Leidens, der Sünde, der Ungerechtigkeit, der Mangel' Hastigkeit gegenüber, die vor dem graben Wirken wahrhaftiger, ächter Treue nicht weichen, gilt es, auszuharren auf der Stelle, in dem Beruf, in der Umgebung, in der Wirksamkeit, in welche uns Gott gestellt hat, also auch willig das Kreuz nach allen diesen Seiten so lange in Er­ gebung zu tragen, wie es Gott nach seiner Weisheit uns verordnet. Die Geduld ist das Stillesein im Gemüth bei nicht ermattender Thätig­ keit im Dienste der Gerechtigkeit, des Glaubens und der Liebe, ist das Bleiben in aller berufsmäßiger, christlicher Thätigkeit mit der Willigkeit dafür und darin zu leiden, was irgendwie von Gott aufgelegt wird. II. geftefit;

Haben wir damit das Wesen christlicher Geduld richtig darso müssen wir mit unserem Text auch behaupten:

Geduld

ist uns Noth, so wissen wir: Nur in der Geduld können wir Gottes Willen erfüllen, können wir die Verheißung empfangen; denn die Geduld ist nichts Geringeres als des Christenthums Bewährung und Bewahrung.

Fassen wir das Christenthum in seinem Grund-

wesen, so können wir es theils als ein Nehmen von Gott, theils als ein Hingeben an Gott betrachten. Als Nehmen nennen wir es Glaube, als das Sichhingeben bezeichnen wir es mit dem Wort Liebe. wie beim Athemholen das Nehmen

Aber

und Wiederzurückgeben der Luft

nothwendig zusammengehört und in einander ist;

so auch das Nehmen

und Geben in Beziehung auf Gott, oder Glaube und Liebe im Christen­ thum.

Eins kann nicht sein ohne das Andere.

Richtet mit mir eure

Blicke zuerst auf das Christenthum, sofern es ein Nehmen oder sofern es Glaube ist.

Nicht wahr, dieser Glaube ist doch ein Ergriffensein

von Christo, von der Macht heiliger Gottesliebe, die ans ihm zu uns spricht, die von ihm aus ans uns wirkt?

Es ist die feste, gewisse Zu­

versicht, daß diese heilige Liebe, die uns in der Versöhnung Frieden gewährt, uns getragen hat, uns trägt und tragen wird, daß sie unser ganzes Leben durchzieht und regiert, daß sie in tiefster Weisheit Alles uns zum Heile ordnet.

Daß dieser Glaube eine Gotteskraft, ein gött­

liches Leben in unS geworden ist, nicht wahr, nur im prüfenden Leiden

342

kann sich das bewähren und beweisen? In der Trübsal tritt der Glaube so recht hervor als eine Zuversicht des, das man hoffet und ein Nichtzweifelu an dem, das man nicht siehet! In Trübsal oder in Verfolgung erschlaffen, erlahmen, verzagen, die Geduld im Unwillen oder im Za­ gen aufgeben, das ist ja offenbar das Wegwerfen des Glaubens selbst, ist ja das Aufgeben der Heilswahrheit, daß Gott auch für uns ist und bleibt die Liebe. Der Gott, der da will, daß wir glauben an seinen Sohn, will eben damit auch unsere Geduld. Der Geduld gehört und ist gesagt das schöne Wort*): „Halte was du hast, daß niemand deine Krone nehme." In der Geduld die Bewährung und die Bewahrung des Glaubens, des Christenthums. — Was ist der christliche Glaube? Wohl ruht er auf dem Bewußtsein allgemeiner menschlicher Sündigkeit; aber er ist doch wesentlich die Ueberzeugung, „daß Gott Alles beschlossen hat unter die Sünde, auf daß er sick aller erbarme" **), daß, wo „die Sünde mächtig geworden ist, da die Gnade viel mächtiger ist"***). Wohl ruht der christliche Glaube ans dem Bewußtsein, daß wir auch als Christen ohne Christum und ohne Gott nichts vermögen; aber er ist doch die wesentliche Gewißheit, daß in Christo ruht die Fülle der Kraft, durch die er für alle, welche mit ihm in der Gemeinschaft des Lebens bleiben, sich als den Weinstock des Lebens bewährt, durch den sie viel Frucht bringen. Wohl ruht der christliche Glaube auf dem Bewußtsein, daß die Menschheit als Welt, als von Christo und Gott abgewendet, im Argen liegt; aber er ist und bleibt die unumstößliche Zuversicht, daß, seit der Sohn Gottes auf dieser Erde gelebt und im Versöhnungstode der Liebe vollendet hat, durch ihn auch der Geist Gottes vom Vater stets eingeht in die Welt, sie strafend, überführend von ihrer Sünde, überzeugend von des Sohnes Gerechtigkeit und so die Seelen zu ihm ziehend. Wenn auch im scheinbar heiligen Eifer, doch in der Hast der Ungeduld die Sünder aufgeben, seine Feinde der Rache Gottes befehlen, jede Brücke der Gemeinschaft zu ihnen hin ab­ brechen, das heißt bei der Vermessenheit, welche die eigene Schwäche vergißt, zugleich in der Verzagtheit des Zweifels den Glauben wegwer*) Offenbarung Johannes 3, 11. ***) Römer 5, 20.

**) Römer 11, 32.

343

fen, heißt die Kraft der Liebe Gottes, das Wirken des heiligen Geistes ableugnen. Ein Fallen aus der Geduld auch hier wieder ein Fallen aus dem Glauben, aus dem Christenthum. Auch hier: Nur in der Geduld wird das Christenthum bewährt und bewahrt. Laßt uns aber das Christenthum auch als Liebe in dieser Rücksicht betrachten. Der Glaube, der in der Liebe thätig ist, also die Liebe, in welcher der Glaube offenbar wird, gilt nach dem Apostel Paulus allein vor Gott*). Könnte es nun wirkliche Liebe ohne Geduld geben? Wie ist es mit einer zärtlichen Mutter, einem treuen Vater, wenn ein mißrathendes und mißrathenes Kind ihnen die schwersten Sorgen, die bittersten Schmerzen verursacht? Wir wundern uns da wohl, wie immer wieder die Elternherzen vergeben, immer wieder hoffen, kurz in der Geduld nicht ermüden! So oft hat das schlimme Kind seine Ver­ sprechen gebrochen, die gefaßten Hoffnungen getäuscht. Wenn auch das Mutterauge von Thränen überfließt, die Hoffnung kehrt immer wieder. Es ist als weinte die Mutter in ihrem Schmerze nur, um mit ihren Thränen doch zuletzt Sünde und Schuld des Kindes hinwegzuwaschcn, um doch zuletzt mit ihren Mnttergebeten die geistige» Fesseln des Kindes zu lösen! Wir nennen das wohl Schwachheit der Mutterliebe und mag auch manchmal Swäche darin sein. Aber cs ist sicherlich eben so oft und noch mehr die Stärke der Liebe. Weil die Mutterliebe so mächtig, darum blickt das Auge der Mutter durch alle Fehler des Kindes hin­ durch, hinein in das verdeckte, ursprüngliche Gottesbild. Weil die Mutterliebe so tief, so unerschöpflich, darum streckt sie ihre rettende Hand immer wieder nach diesem Gottesbild auö und kann nicht auf­ hören, zu hoffen und zu harren. An dieser ausharrenden Geduld gibt sich eben die unüberwindliche Kraft, die Tiefe der Mutterliebe zu er­ kennen. Ist doch auch so die Liebe Gottes nur in ihrer Geduld zu ermessen, in ihrem nicht ermüdenden, milden Tragen des sündigen Ge­ schlechtes. Deshalb wird, wie sonst die Liebe als Grund unseres Heils gilt, so auch die Geduld Gottes als Ursache unserer Seligkeit gepriesen**). Wohlan die Geduld fahren lassen ist auch nothwendig ein Fahrenlassen *) Galater 5, 6.

**) 2. Petri 3,15.

344 der Liebe.

Ohne die Geduld verlieren wir den Blick und die Hand

der Liebe, geht uns verloren ihr Leben und ihre Thätigkeit, geht unS mit der Liebe zugleich verloren das Christenthum.

Die Liebe glaubet

Alles, sie hoffet Alles, sie duldet Alles, sie höret nimmermehr auf*). Wieder und wieder:

In der Geduld

ruht die Bewährung und die

Bewahrung des Christenthums. Wenn wir andere mehr besondere Seiten des Christenthums her­ vorheben wollten, wie Weisheit, Gerechtigkeit n. s. w., wer sieht nicht, daß diese nur in der Seele bleiben, so lange die Geduld darin weilt, daß mit der Geduld zugleich Gerechtigkeit, Weisheit und was sonst eine Tugend ist, von dannen zieht? Tugend als eine schwache,

Darum ist richtig gesagt,

daß jede

verlassene und hülflose Wittwe erscheine,

wenn sie nicht in der Geduld ihre Stärke und Stütze besitzt. heißt es schon im alten Bunde**):

Darum

„Ein Geduldiger ist besser denn

ein Starker" und***): „Ein geduldiger Geist ist besser denn ein hoher Geist."

Darum preist der neue Bund selig die erduldet haben und

sagt ihnen die Krone des Lebens zu.

So heißt es's):

„So ihr die

Prüfung erduldet, so erbietet sich Gott euch als Kindern." — So lange diese Ordnung der Dinge dauert, wird auch in ihr dauern reichliche Versuchung zur Ungeduld, wird in der Gemeine die Ermahnung nöthig bleiben ff):

„ Fasset eure Seelen in Geduld."

Ist nicht grade jetzt

besondere Ursach dazu vorhanden? Eine Alles vergiftende Ungerechtig­ keit, wie verbreitet sie sich immer kecker und frecher, wie spaltet und zerreißt solche Sünde im ärgsten Frevel, waö so wesentlich zusammen­ gehört, waS nur in Einheit und Verbundenheit gedeihen kann!

Wie

erhebt sich Feindseligkeit, immer bereit nur nach dem Zuge der Parteileidenschaft zu verletzen, zu schädigen? Wie bei dem ausgestreuten Miß­ trauen, bei dem so geflissentlich gesäten Haß werden in der allgemeinen Aufregung auch Wohlgesinnte von der schmalen Linie deS heiligen Rechtes abgezogen, werden schwach, sich der drohenden Macht zu verkaufen, mit dem Strome zu schwimmen,

*) 1. Korinther 13, 7—8. ***) Prediger 7, 9. tt) Lukas 21, 19.

ohne gegründet zu sein auf das eigene

**) Spriichwörter 16, 32. t) Hebräer 12, 7.

345 Gewissen!

Wenn dem unstreitbar so ist, dürften wir uns wundern,

wenn sich auch absonderliche Quellen großer Leiden für uns öffneten, wenn wir so auch nach allen Seiten in der Geduld auf's Schwerste geprüft würden? Ist dem so, thatlos sollen wir uns dem Leiden, der Sünde u. s. w. nicht überlassen. Noth und Elend abstellen.

Helfen wir, so weit als möglich,

Wehren wir, so weit unser Zeugniß reicht,

Ungerechtigkeit ab. Strafen wir, so weit unser Beruf geht, die Sünde. Reizen wir in aller Kraft zum Fortschreiten auf der Bahn der Gerech­ tigkeit.

Aber wenn wir auch auf's Treuste thätig sind, unsere Thätig­

keit wird in Beziehung auf äußeren Erfolg immer klein und unbedeutend erscheinen. nicht:

O da den uns bekämpfenden Mächten gegenüber heiße es

Biegen oder Brechen, sondern wie es u»S Christus zeigt und

wie er dazu die Kraft gewährt, so lasset uns laufen in der Geduld, daß wir, was Gott unS auflegt, willig tragen, daß wir in Betreff schwacher Brüder hoffen und harren, daß wir den Sündigenden milde und mit sanftmüthigem Geist znrechthelfen, daß wir auch für die Ver­ härteten und Schlechten das Gebet behalten: Vater vergib ihnen, sie wissen nicht was sie thun.

Geduld ist uns Noth, auf daß wir

den Willen Gottes thun und Amen.

die Verheißung empfangen.

Die christliche Treue. Text: Offenbarung Johannes 2, 10. Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben. Ä)ieder, Geliebte, geht ein Kirchenjahr dahin und ein neues will an seine Stelle treten. Es ist der vorletzte Sonntag dieses Jahres, der unö heut hier versammelt. Der letzte Sonntag, den wir über acht Tage haben, ist bei uns auf sehr passende Weise dem gemeinsamen Gedächtniß der Heimgegangenen gewidmet. So bleibt uns für unsere gewohnte Ordnung und Weise in den Betrachtungen der zweiten Hälfte dieses Jahres nur noch der heutige Tag. Haben wir denn in dieser Zeit vorzugsweise auf einzelne Tugenden unser Nachdenken gerichtet; so dürfte die letzte solcher Betrachtungen wohl billig der Treue, zu welcher das verlesene Texteswort ermahnt, gebühren. Wir fühlen uns damit sofort auf ein sehr ähnliches Gebiet versetzt, wie in unserer letzten Andacht, in welcher die christliche Geduld Gegenstand unseres Nach­ denkens war. Geduld und Treue haben Wesentliches mit einander gemein, nämlich die Beharrlichkeit, Beständigkeit, das Sichgleichbleiben. Die Geduld aber liegt mehr, wie es schon im Wort anklingt, auf der Seite des Duldens, des Leidens, die Treue mehr auf der Seite des Handelns. Wir könnten darum die Geduld wohl als die Treue im PflichtLieder: Nr. 802. 501. 449, 4.

347 mäßigen Leiden, die Treue als die pflichtmäßige Geduld im Handeln bezeichnen.

Möge uns denn unsere heutige Betrachtung gewissermaßen

zu einer Ergänzung für die frühere über die Geduld dienen.

Sehen

wir uns nun den gewählten Text näher an, so legt sich die Einheit desselben in ein Zwiefaches auseinander, in die Ermahnung:

„Sei

getreu bis in den Tod", und in die Verheißung: „So will ich dir die Krone des Lebens geben."

Damit ist uns der Gang unseres

andächtigen Nachdenkens über die christliche Treue einfach und be­ stimmt vorgezeichnet.

Wir werden uns bei der Ermahnung das We­

sen und die Grundlagen der christlichen Treue, bei der Ver­ heißung ihre Früchte, ihren Segen klar machen. I.

„Sei getreu bis in den Tod."

O die Treue hat einen

lieblichen Klang in aller Welt, bei allem Volk und ihr Gegentheil Treubruch, Treulosigkeit, Verrath sind allenthalben gebrandmarkt. Selbst die Untreuen, die Treulosen beklagen, verurtheilen, verdammen es als schlimmstes Berbrechen, wenn nach ihrer Meinung gegen sie Untreue geübt oder die Treue nicht bewahrt wird.

So wird selbst durch der

Schlechten Urtheil bestätigt, was die heilige Schrift sagt:

„Wer viel

geredet und hält nicht, der ist wie Wolken und Wind ohne Regen"*) und' „Ein treuer Mann wird viel gesegnet" **).

So müssen die Un­

gerechten es billigen, wenn der Erlöser im Endnrtheil über den Ge­ rechten alles Gute in das Wort „treu" zusammenfaßt: „Du bist über Wenigem getreu gewesen, ich will dich über viel setzen" ***); wenn der Apostel, unS als Haushalter über Gottes Gaben darstellend, spricht: „Nun suchet man nicht mehr an den Haushaltern; erfunden werden"'s).

denn daß sie treu

So die herzliche Mahnung an uns: „Sei ge­

treu bis in den Tod." — Die Treue aber besteht nach unserer Vorstellung darin, daß wir gemäß einer bestehenden Verpflichtung und gegebenen Zusage entweder zu einer oder mehreren einzelnen Personen, wie Gatte, Kind, Freund, König, oder

zu einem Gemeinwesen wie

Staat, Kirche, Familie fest stehen, mit unseren Kräften uns denselben

*) Sprüchwörter 25, 14. ***) Matthäus 25, 21,

**) Sprüchwörter 28, 20. f) 1. Korinther 4, 2.

348 unausgesetzt weihen, ihnen damit dienen und auch in Gefahr, Paff, Noth und Leid nicht von ihnen weichen, sie nicht verlassen. es doch von jeher Welt gewesen?

Aber wie ist

mit dem Urtheilen über Treue und Untreue in der

Wie ist es damit bis auf den heutigen Tag?

Genug

und allzuviel der Unwahrheit, ja der Lüge mischt sich in solches Ur­ theilen.

Wir führen nnS einige Fälle vor Augen.

Als Saul in seinem

unseligen Haß den David verfolgt, fordert er Ahimelech den Priester, der dem David gedient und wirft diese Dienste ihm vor.

Ahimelech

gibt Zeugniß, daß David der treuste und gehorsamste gegen den König sei.

Dieser aber in

seinem Grimm

opfert den Priester mit seinen

Brüdern und Amtsgenossen als Treulose dem Tode*).

Als die Stämme

Israels von Rehabeam, dem Sohne des Salomo, ein gelinderes und gerechtes Regiment fordern, da rathen ihm die alten erfahrenen Räthe: „Wirst du heute diesem Volk einen Dienst thun und ihnen zu Willen sein und sie erhören und ihnen gute Worte geben; unterthänig sein dein Leben lang."

so werden sie dir

Die jungen Räthe dagegen sprechen

ihm nach seines Herzens Gelüste zu, daß er dem Volke statt mit der Peitsche mit Skorpionen drohe.

Die alten Räthe,

als es mit der

Person des Königs nicht treu meinend, werden verstoßen, die jungen, als die wahrhaft treuen, behalten ihren Einfluß und ihre Gewalt über das Herz des verblendeten Königs**).

Ihr wißt, die Anklage,

auf

die unser Erlöser am Kreuze starb, lautete vor dem hohen Rath: Treu­ losigkeit gegen Israel; vor dem Pilatus: Treulosigkeit gegen den Kaiser! Ihr wißt, Stephanus und Paulus galten den Pharisäern in Israel, indem sie das Joch ihrer Satzungen nicht trugen, für bundesbrüchig, sie, die Düll und Kümmel verzehnteten, erklärten sich für die Treuen. Als vor einer Reihe von Jahrhunderten sich jene schlichten Leute in Südfrankreich und Piemont von dem religiösen und sittlichen Verderben der Zeit zurückzogen und nach der ihnen gewordenen Bibel ihr ganzes Bestreben darauf richteten, Christo und Gott im Glauben, mit einfäl­ tigem Herzen und einem rechtschaffenen Lebenswandel zu dienen; wurden sie als

die Treulosen,

*) 1. ©amueli« 22

da

als die Abgefallnen mit Feuer und

**) 1. Könige 12.

349 Schwerdt verfolgt und in erbarmungsloser Grausamkeit ohne Unter­ schied des Alters und Geschlechtes gefoltert und gemordet.

Als Luther

und seine Genossen im Glauben an Christum allein Gerechtigkeit und Seligkeit suchten und zu finden lehrten; da wurde von der Kirche und vom Reich

über sie,

als über Abtrünnige, Bundbrüchige, feierlichst

Bann und Acht gesprochen, als die Untreuen wurden sie aus Kirche und Staat hinausgestoßen.

Unser Vaterland

hat

zu verschiedenen

Zeiten vertriebene Salzburger, Franzosen, Zillerthaler aufgenommen. Diese schlichten, frommen Leute wollten ihren evangelischen Glauben nicht verleugnen und deshalb waren sie als Treulose aus ihrer Heimat ver­ stoßen worden. Bis tu unser Jahrhundert hat mancher Mann, dessen Her; auf's Wärmste für Christus und seine Gemeine schlug, der dem Vaterlande und dem König mit aller Kraft und Hingebung diente, das Verdammungsurthcil über sich müssen ergehen lassen, weil, wie man sagte, es mit seiner Treue nicht richtig bestellt war. heut, wenn wir in die Vergangenheit sehen, anders. in Beziehung auf die Gegenwart?

Wir urtheilen Aber wie ist es

Bekenntnißtreu von Seiten

der

Kirche, patriotisch und königstreu von Seiten des Staates nennt man sich heutigen Tages so gern und schleudert wider

seine Gegner

die

schwere Anklage der Untreue gegen die Kirche, der Untreue gegen König und Vaterland! O daß man doch bedenken lernte datz ernste Wort des Herrn:

„Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet, verdammet

nicht, auf daß ihr nicht verdammet werdet."

Wie ist es mit der Treue

gegen Personen, gegen Gatte, Freund, Bruder, Fürst?

Etwa so, daß

man blindlings den Launen eines schwachen, irrenden Menschen sich hingäbe, so daß man ihn gar in den bösen Neigungen des sündigen Herzens unterstützte und bestärkte,

so daß man jede Verletzung der

Sitte, der Tugend, des Rechtes gut hieße und belobte? gehört Beständigkeit.

Zur Treue,

Treue aber in solcher Weise beweisen, das hieße

sich zur Windfahne der wechselnden Launen und Sünden machen, das hieße der Treulosigkeit selbst, weil der Unbeständigkeit verfallen.

In

den sittlichen Gemeinschaften liegen die tiefen Quellen des sittlich Gu­ ten.

Diese sittlichen Gemeinschaften aber, wie sie geschichtlich einmal

sind, haben auch ihre Auswüchse und Gebrechen, die einen mehr nur

350 oberflächlich und ungefährlich, die anderen tiefergehend und wie ein Krebsschaden das ächte Leben bedrohend.

Kann die Treue darin be­

stehen, daß man solche Auswüchse preist, pflegt, fördert, erhält?

Eine

Treue, die das Verderben befördert, ist doch wohl undenkbar. Doch gehen wir jetzt tiefer auf die eigentlichen Grundlagen der Treue ein, um uns vor falschem Urtheil und falscher Anwendung zu hüten. Das Erste ist: Niemand kann irgend einem anderen treu sein, der sich selbst nicht getreu ist, d. h. nicht getreu seinem höheren, von Gott ihm gegebenen, in Gottes Gnade stehenden Selbst. Das hat dir dein Gott als hohen, menschlichen Vorzug verliehen, daß du den Sinn hast für Wahrheit, und, ringend und forschend nach Wahrheit, deine Ueberzeugung dir bildest.

Das hat dir dein Gott verliehen, daß du

aus deinem Innern heraus, aus deinem Gewissen unterscheidest Böses und Gutes, Recht und Unrecht, um nach deines Gewissens Spruch zu verabscheuen und wegzustoßen die Sünde und nachzudenken und nach­ zujagen dem, was da ist Tugend und Lob.

Aus klarer, fester Ueber­

zeugung, nach der Entscheidung des Gewissens zu handeln, das ist es, was den Menschen zum Menschen erhebt, zum Ebenbilde der Gottheit. Nur da, wo man fest sich gründet und fest gewurzelt steht auf seiner Ueberzeugung, auf seinem selbsteigenen Gewissen und danach sich gibt und handelt, kann man in der Treue bleiben. Wo man gegen Gewissen und Ueberzeugung einem Menschen, wer es auch sei, folgt, dient, sich hingibt,

da reiht man sich ein in

Heuchler und Schmeichler,

das widerwärtige Geschlecht der

überläßt sich gründlich

der Treulosigkeit.

Und wer da kann andere bestimmen und reizen wollen, gegen ihre Ueberzeugung und ihr Gewissen, sei es aus Furcht, sei es aus Lohn­ oder Ehrsucht zu handeln, der ist jener Verführer, über den der Herr spricht*):

„Es wäre ihm besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals

gehängt würde und er ersäuft würde im Meer, da es am Tiefsten ist." — Das Zweite:

Für den Verkehr der Menschen sind in Ver­

nunft und Gewissen gewisse Grundlagen deS Rechtes begründet und sind in den göttlichen und menschlichen Ordnungen der Menschheit heraus-

*) Matthäus 18, 6.

351

gebildet. Diese Grundlagen tragen das ganze Gebäude menschlichen Wohl­ ergehens, menschlicher Entwicklung, menschlicher Bildung sowohl für die Gesammtheit, wie für die Einzelnen. Diese nun untergraben heißt arbeiten an dem Einsturz alles Wohlergehens. Die Grundlagen des Rechtes verlassen ist zugleich ein Aufgeben der Treue gegen alle und gegen jeden. Nur der, welcher unerschütterlich und ungebeugt zum Recht und zur Gerechtigkeit hält, kann Treue wie gegen einzelne Men­ schen, so gegen die sittlichen Gemeinwesen üben. — Das Dritte: Sind wir Menschen für die sittlichen Gemeinschaften bestimmt; so sind wir auch bestimmt für die Liebe. Nur die Liebe, welche das Heil des Ein­ zelnen und der Gesammtheit mit Lauterkeit erstrebt, ist in ihrer Be­ harrlichkeit Treue. Wo Selbstsucht, Eigennutz, Ehrgeiz die Seele re­ gieren, da wird das höchste Recht zum Unrecht, da wird jeder Dienst zur Heuchelei, da hat die Treue ihre Endschaft erreicht. „Sei getreu bis an den Tod," das will sagen: Stehe fest in deiner Ueberzeugung und deinem Gewissen, halte hoch heiliges Recht und suche darin das Beste des gemeinen Wesens, das Beste der Brüder, beharre in der Liebe als Gatte, Bater, Kind, Bruder, Schwester, erfülle gewissenhaft deinen Beruf gegen das Baterland, gleichviel ob dein das Regieren oder das Gehorchen ist, weihe, so weit du es vermagst, deine Kräfte auch der religiösen Gemeinschaft, deren Kind und Glied du bist, nach deinem Gewissen! Die rechte Treue verzichtet gern hier und dort auf eigene Freude und eigenen Genuß, gibt willig nach. Aber wo es sein muß, da ist sie stark im Widerstehen und läßt sich auch durch den Tod nicht schrecken, wie jener erlauchte Markgraf von Küstrin selbst seinem Kaiser gegenüber sprach: „Lieber Blut alö Tinte." Wohl ist es der Treue eigen, zu trösten, zu erfreuen und zu erheben. Aber zu rechter Zeit wird sie auch schelten, strafen, rügen. Wohl geht die Treue mit auf alle gefahrvolle Bahnen. Aber zur rechten Zeit hält sie still und gibt den Sinn- und Gewissenlosen auch kein Haar breit weiter nach, kann nicht anders, als sie, wenn sie in Verblendung beharren, trauernd ihrem Geschick überlassen. Aber wo ist solche Treue in Menschenherzen? Da, wo sie den ewig getreuen Gott gefunden haben, da, wo Gottes­ furcht alle Menscheufurcht tilgt, da, wo vor der Gottesliebe alle

352 Leidenschaften der Selbstsucht weichen. — Siehe den getreusten unter den Menschenkindern — treu im Thun und Leiden, im Trösten, Lehren, Strafen — wie er geliebet hat die Seinen vom Anbeginn, so hat er sie geliebet bis an das Ende.

Er ist es, durch ihn hat uns gefunden

und begnadigt der getreue Gott.

Er ist es, der uns zur Gerechtigkeit

gemacht, auch unS durchdringen will mit der fttoft seines Lebens.

Er

ist es, in dessen Gemeinschaft wir das Wort nicht nur hören, sondern auch vollbringen lernen, das Wort: „Sei getreu bis an den Tod." II.

„ So will ich dir die Krone deö Lebens geben."

des Lebens! — O

Die Krone

es ist das, was das Leben schmückt und schön

macht, es ist damit das verbürgende Sinnbild, daß das Leben zu seinem wahren Gehalt und Werth hindurchgedrungen ist, daß es eben so Be­ friedigung, seliges Genüge in sich selbst gewonnen hat, wie von chm wieder Befriedigung und seliges Genügen in seine Umgebung hinein­ strömt.

Ja in der Treue erlangt das menschliche Leben den rechten

Werth, den seligen Genuß.

Soll ich erst lange das Gegentheil von

der Untreue nachweisen? Soll ich den Jammer euch malen, der einzieht in Häuser, in Familien, aus denen die gegenseitige Treue wich? Soll ich hinweisen auf den Abgrund des Elendes, in den blühende Staaten und Völker versanken, weil Fürsten und Staatsdiener und Bürger ihre heilige Pflichten mit Füßen traten, treulos ihre heiligen Gelübde vergaßen und den Gelüsten des eigensinnigen, hochmüthigen Herzens folgten?

Leider liefert die Geschichte des menschlichen Geschlechtes zu

viele sprechende, warnende Beläge dafür.

Gebe Gott, Geliebte,

ihr

habt in täglicher Erfahrung das Gegentheil vor Augen. Wer ihr auch seid als Glieder eines Hauswesens, ob ehlich Gemahl, ob Eltern, ob Kinder, ob Geschwister, in den Banden der Liebe seid ihr treu unter einander verbunden,

in der Treue theilt ihr eure Freuden, in der

Treue tragt ihr gemeinsam eure Lasten und Leiden, in der Treue nehmt und gebt ihr unter einander geistige und leibliche Gabe, so viel ihr vermöget.

Ach ist es so, selig euer Haus und selig ihr in demselben!

Schon hier zieht sich daö ewige Leben durch eure irdischen Tage dahin. Ihr fühlt es, schon hier krönt euch Gott mit Gnade und Barmher­ zigkeit, läßt die Krone des Lebens ob euren Häuptern schweben.

Ist

353 aber jemand hier, dem jede Erinnerung an solches Lebensglück

das

Herz von Neuem wund macht, weil ihm dies Glück des Lebens in sei­ nem Kreise fehlt; o prüfe dich Bruder, Schwester, der du sonst stets geneigt

bist, auf deine Mitgenossen die Schuld zu wälzen, ob es dir

selbst nicht an der rechten Treue gebricht, ob du selbst nicht noch der rechten Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Liebe baar und ledig bist, ob du nicht noch treulos fern stehst von der lebendigen Her­ zensgemeinschaft mit deinem ewig treuen Heiland, mit deinem Gott! Ach fange bei dir selbst an mit der Treue.

Kehrt sie zu dir recht

ein, sie theilt sich wohl von dir aus, so Gott will, denen mit, an welchen du sie bis jetzt noch vermißt hast und du mit ihnen und sie mit dir erfahren dann allmählig die Wahrheit des Wortes: Ich will dir die Krone des Lebens geben. Beim Rückblick in die Geschichte unseres Landes wollen sich freilich auch manche einzelne Bilder der Treulosigkeit und des Verrathes nicht verbergen lassen;

aber auch die Früchte, die an die Treulosigkeit sich

knüpften, treten an's Licht.

Doch Gott sei Dank! viel leuchtende Sterne

herrlicher Treue strahlen dazu im Gegensatz an unserem vaterländischen Himmel.

Hohe, erleuchtete Fürsten im Frieden und Krieg, in langen tha-

tenreichen Leben, auch wohl in schneller Aufopferung, ganz Diener ihres Volkes, ganz voll Treue in ihrem Beruf!

Und wieder im Volke das

völlige Aufgehen in der Liebe zum Vaterland, im Gehorsam gegen die gottgegebene Obrigkeit, in vollster Opferfreudigkeit, der nichts zu groß und zu schwer war!

Wie ruft uns dieses Gedenkjahr eine Treue fast

ohne Gleichen von Seiten des Volkes in das Gedächtniß *)!

Solcher

Treue Frucht und Lohn ist es gewesen, daß Kleines zu Großem wurde, daß aus Geringem Edles und Schönstes erblühte, daß wir auch ob unserem Volke schweben sahen die Krone des Lebens.

Die Treue in

der Vergangenheit, bei erlauchten Fürsten, bei einem bewährten Volk, o möchte sie in heutiger Zeit, eine gewaltige Mahnerin und Lehrerin werden!

Möchte so auch in unseren Tagen bei uns Güte und Treue

einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen!

*) Das Jahr 1863. Thomas, Predigten.

354

Aber wie steht es? Nicht in unserer Gewalt liegt eS, wenn wir unter dem Beistand der Gnade in die Treue hineinwachsen, auch alle unsere Mitgenossen von Untreue zu lösen. Ist nun jemand in Haus, Staat und Kirche gefesselt an treulose Gefährten, wo bleibt für ihn die Verheißung unseres Wortes? Sie ist auch für ihn nicht leer, auch ihm trägt die Treue reiche Früchte, reichsten Segen. Die Treue gegen die Brüder ist zugleich das Festhalten der heiligen Wahrheit im Ge­ wissen, der Gerechtigkeit im Handeln, der Liebe im Verkehr! Wer da hat, dem wird gegeben, will hier sagen, wer so ringt, Wahrheit, Ge­ rechtigkeit und Liebe in den menschlichen Verbindungen festzuhalten, der wird immer reicher an diesem köstlichen, geistigen Besitzthum, immer mehr werden Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe seine Seele erfüllen. Wo das aber der Fall ist, da fühlt man sich wachsen an seinem in­ wendigen Menschen, fühlt sich immer fester und inniger hineinwachsen in die Gemeinschaft mit seinem Erlöser und seinem Gott. Das eigent­ liche, ewige Leben wird da des Menschen Eigenthum und bei allen Täuschungen der Untreue der Welt bleibt Friede und Freude von Gott sein Labsal. Ihm gilt für sein Gemüth das Wort: Ich will dir geben die Kryne des Lebens. Wir haben diese Verheißung bis jetzt auf die Gegenwart bezogen, wozu das Evangelium selbst uns berechtigt. Nicht erst für die Zukunft, sondern für die Mitte dieses Lebens selbst verheißt der Erlöser das ewige Leben. „Das ist das ewige Leben, daß sie dich, daß du allein wahrer Gott bist und den du gesandt hast, Jesum Christum erkennen"*). Allerdings lehrt unS aber unser Wort, auch über die Spanne dieses unseres irdischen Daseins hinausschauen. Er der Anfänger und Voll­ ender unseres Glaubens stand einst da, der einzig Treue auf Erden, treulos ihm gegenüber das menschliche Geschlecht entweder in Feind­ schaft oder in Feigheit, welche verleugnet und verläßt. Der Getreuste an das Kreuz geheftet war er äußerlich mit tiefster Schmach behaftet. Aber wie er getreu war bis in den Tod, so hat ihn eben Gott, sein Gott, mit der Krone des Lebens geschmückt, hat ihm gegeben den Namen *) Johannes 17, 3.

355 über alle Namen, hat ihm gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden, daß durch ihn alle, die zu Gott kommen, in Ewigkeit vollendet werden.

Sei getreu, so mahnt er die Seinen, bis an den Tod, so

will ich dir die Krone des Lebens geben.

Durch Niedrigkeit und

Schwäche ihm nach, aus dem wankenden Glauben in die feste, völlige Hingabe an die heilige Gotiesgnade in ihm, aus der aus der Selbst­ sucht sich

erhebenden Liebe zu der reinen und völligen Liebe seines

Geistes, aus der keimenden Hoffnung zu der völligen Ergebung in seine Rathschlüsse und so auch immer treuer in allem menschlichen Verkehr und aller menschlichen Verbindung! — Er läßt es unS gelingen, der das gute Werk in uns angefangen hat, der wird'S auch vollführen bis auf den Tag Jesu Christi.

Christus wird seine Getreuen zuletzt ganz

verklären in sein heiliges Bild, wird ganz und voll in ihnen Gestalt gewinnen.

Ja das Wort trügt nicht, es ist fest und gewiß, o halten

auch wir mit ganzer Seele an demselben:

Sei getreu bis an den

Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.

Amen.

Die Gemeinschaft der Entschlafenen und der Lebenden. Text:

Philippcr 3, 20—21.

Unser Wandel aber ist im Himmel, von dannen wir auch warten des Heilandes Jesu Christi, des Herrn, wel­ cher unseren

nichtigen Leib verklären wird, daß er ähnlich

werde seinem verklärten Leibe, nach der Wirkung, damit er kann auch alle Dinge ihm unterthänig machen. beliebte Freunde, so stehen wir am Ende des Kirchenjahres und wieder beschließen wir es mit der bei uns nun schon längst eingebür­ gerten, sinnigen Feier zum Gedächtniß der Entschlafenen. die im verflossenen Jahre Gestorbenen,

sondern

Nicht nur

alle unsere Lieben,

die in früheren Jahren überhaupt unsere diesseitige Gemeine verlassen haben nnd in das höhere Dasein eingetreten sind, sie stehen heut vor unseren geistigen Augen, wir vergegenwärtigen in frommer Gemeinschaft uns ihr ganzes Wesen, ihre Art zu leben und zu handeln, zu leiden nnd zu lieben, wir haben vor uns ihr lebendiges Bild.

Bei jedem

gestaltet sich freilich solche Erinnerung und Vergegenwärtigung eigen­ thümlich.

Dies Eigenthümliche aber gehört dem stillen, verborgenen

Heiligthum eines jeden Herzens an. Dagegen muß, sofern wir Christen sind, bei solcher Gedächtnißfeier durch das Eigenthümliche sich auch ein uns allen Gemeinsames hindurchziehen.

Dies Gemeinsame grade uns

klar zu machen, das dürfte die rechte Aufgabe unserer heutigen Betrach­ tung sein.

Dabei nun sehnen wir uns, durch unsere gemeinsame An­

dacht wieder Erhebung,

neue Versiegelung wahrhaftigen, bleibenden

Trostes, Friede und Freude zu gewinnen. Lieder: Nr. 720, 734, 5.

So Schönes und Köstliches

357 für unser Gemüthsleben wird uns aber nur dadurch werden, daß das­ jenige, was uns, den Gliedern der diesseitigen, mit den Gliedern der jenseitigen,

schon verklärten Gemeine

gemeinsam

ist, worin

deshalb

unsere Verbindung mit ihnen sich trotz der Trennung fort erhält, uns wieder recht lebendig zum Bewußtsein kommt. Da schien mir das ver­ lesene Schlußwort der heutigen Epistel für unsere Betrachtung sehr willkommen.

In demselben spricht der Apostel von uns Christen in

unserem gegenwärtigen Leben;

aber

der Blick

seines Geistes

richtet

sich dabei in die Höhe, oder in die Zukunft, hin in dasjenige Sein, welches den Entschlafenen schon zu Theil geworden ist, welches als das von uns zu erlangende noch vor uns liegt.

So steht er mit diesem

Wort gewissermaßen auf der Grenzscheide der diesseitigen und jenseitigen Welt, gleichsam in der Mitte zwischen der auf Erden pilgernden und der bei Gott verklärten Gemeine. So haben wir demgemäß dann auch das Recht, das Gesagte, wenn auch in verschiedener Weise, auf beide, auf sie und uns anzuwenden.

Nach unserem Text fassen wir demnach

mit unserer Betrachtung das Gemeinsame in's Auge, was unsere Verbindung und Einheit mit denen, die im Herrn entschlie­ fen,

begründet,

und heben dabei hervor

1) die gemeinsame

Grundlage, 2) das gemeinsame Ziel unseres Lebens. I.

Wenn das Texteswort beginnt mit dem „Unser," so bezieht

es sich damit eben auf die christliche Gemeine im Gegensatz zu denen, von welchen in den vorigen Versen die Rede war.

Von diesen hieß

eS, sie wären Feinde des KrenzeS Christi, hätten den Bauch zu ihrem Gott, wären irdisch gesinnt, suchten Ehre in der Schande und steuerten dem Verderben als ihrem Ende entgegen. Da nun: Unser Bürger­ recht, unser Bürgerthum, denn so würde die wörtliche Uebersetzung lauten, ist im Himmel.

Dies

Himmel, das

und unseren entschlafenen Brüdern und

ist die uns

Bürgerrecht

oder Bürgerthum im

Schwestern gemeinsame Grundlage unseres Seins und Lebens. mel? — Sehen wir hinauf nach dem irdischen Oben?

Him­

Die Jünger,

welche, als der Herr in seine Verherrlichung einging, es thaten, wurden von dem Wort göttlicher Botschaft gestraft*): *) Apostelgeschichte 1, 11.

„Was stehet ihr und

358 sehet gen Himmel?" mehr recht.

Wollten wir es aber auch, wir könnten es nicht

Die Forschungen und Entdeckungen

unserer Zeit haben

uns andere Anschauungen gegeben, als sie ein früheres Geschlecht besaß. Ob der Himmel wirklich als bestimmte Räumlichkeit, in Ost oder West, in Norden oder Süden, in der Höhe oder in der Tiefe zu suchen sei, daS bleibt für uns hier vollständig verborgen.

So forschen wir auch

nicht nach dieser Seite, sondern dringen in das ein, was bei dem Er­ löser und den Aposteln

der eigentliche Inhalt ist,

Wort und der Vorstellung „Himmel" verbindet.

der sich mit dem Der Herr sagt*):

„Der Himmel ist Gottes Stuhl und die Erde seiner Füße Schemel." Darin liegt, daß der Himmel im engeren und tieferen Sinn als die Wohnung Gottes gedacht wird.

Wie dem aber sei, ist Gott es denn

nicht, der die Erde, so gut wie den Himmel erfüllt? seiner Allmacht der allgegenwärtig Wirksame?

Ist er nicht in

Gewiß.

Aber wie ist

eS doch in dieser jetzigen Erscheinungswelt, die uns umgibt? Wenn es heißt, Gottes ewige Kraft und Gottheit werde ersehen an den Werken, an der Schöpfung dieser Welt**);

so ist das doch eben insbesondere

die Kraft Gottes, die Allgewalt, welcher diese Erscheinungswelt gleich­ sam wie ein Schemel zu Füßen liegt, welche sich hier bekundet.

Wird

aber auch ferner diese unendliche Macht für merkende, sinnende, den­ kende Geister wohl auch aus dieser Welt als eine zweck- und sinnvolle, als eine weise, gerechte, heilige, selbst als eine gütige geahnet; so wird sie

doch nicht nach ihrem tiefsten, innersten Wesen als Liebe erkannt.

Sofern aber ist diese irdische Erscheinungswelt nur der Schemel seiner Füße, nicht die Welt, in der seine tiefste, wahrste Herrlichkeit thront und strahlt.

Himmel ist dagegen jene geistige Welt, in der Gott als

ewige, allumfassende, heilige Liebe sein helles Licht leuchten läßt, wo Alles von ihren Strahlen durchleuchtet und durchglüht und mit Geist und Leben durchdrungen und beseelt wird, also, wo er als Liebe sich offenbart und mittheilt, als Liebe erfahren und in hoher Seligkeit an­ gebetet wird.

Daher, Israel hatte Gottes Gesetz, Gottes Licht und

sein Recht bis auf einen gewissen Punkt; dennoch es tritt nicht in seine Nähe, gewinnt nicht seinen Frieden, sondern seufzt***): Ach daß du den *) Matthäus 5, 34 u. 35.

***) Jesaias 64, 1.

**) Römer 1, 20.

359 Himmel zerrissest!

Weil die Liebe nicht erkannt und erfahren wurde,

darum fehlte dort das Bürgerrecht oder Bürgerthum im Himmel. Da­ her wie Christus auf die Erde gekommen ist und in ihm die Liebe Gottes sich verkörperlicht, vermenschlicht hat, aus ihm heraus sich den Menschen offenbart und mittheilt, so ist darin der Himmel auf die Erde gekommen. Deshalb spricht der Herr: „das Himmelreich ist nahe herbei kommen," vielmehr in seinen Gleichnissen und Reden: „Das Himmelreich ist da."

Was heißt das nun:

Unser Bürgerrecht ist im

Himmel? Doch offenbar das, daß uns die Liebe der Gottheit selbst in die Gemeinschaft ihrer ewigen Ordnungen aufgenommen hat.

Durch

Christus ist die Menschheit zu ihrer Reinheit und Vollendung gelangt. In dieser Reinheit und Vollendung ist die Gottheit mit der Menschheit geeinigt;

durch ihn wird den Bußfertigen,

den Gläubigen Vergebung

aller Sünde und Versöhnung gebracht, durch ihn gewinnen sie wieder das Recht

der Gotteskindschaft und haben

darin den Gottesfrieden,

durch ihn sind sie Gottes Eigenthum und Heiligthum geworden, Gottes Hausgenossen, wie der Apostel sich ausdrückt, durch ihn haben sie so das Vaterland, gewonnen.

die Heimat in dieser offenbaren Liebe Gottes wieder

So aber das Bürgerthum, das Bürgerrecht im Himmel

einzunehmen, dazu gehört der kühne, lebendige Glaube, des Herzens getroste Zuversicht,

die Hingabe an die

erschienene Gottes

Gnade.

Deshalb aber auch, wo man dies himmlische Bürgerthum ergriffen hat, da muß auch das Leben ein neues, ein höheres, ein himmlisches wer­ den.

Wer lebendig an die Liebe Gottes in Christo glaubt und so ein

Hausgenosse Gottes, ein Bürger des Himmelreiches geworden ist, der nimmt aus dem Himmel. Gottes die Kräfte, daS Licht und die Regel seines ganzen Thuns.

Die Liebe Gottes, die ihn ergriffen hat, treibt

und beseelt ihn, Gott wieder zu lieben, ihm treuen Gehorsam und hei­ ligen Dienst zu weihen.

Ein Bürger des Himmels, ein Erlöster der

Liebe kann nicht anders, er muß himmlisches Wesen anziehen, muß der heiligen Gottesliebe selbst voll werden und aus dem Quell derselben muß sich sein innerer und äußerer Mensch erneuern und reich an himm­ lischen Früchten werden. Darum, wenn Luther hier auch nicht wörtlich, so hat er doch aus tiefem Verständniß heraus diese Stelle übersetzt:

360 Unser Wandel ist im Himmel.

Nur wer ein himmlisches, gött­

liches Leben führt, gibt Zeugniß, daß er ein Bürger des Himmelreiches geworden, und wo jemand Bürgerrecht im Himmel durch den Glauben gewann, da ist nothwendig mit demselben der gottwohlgefällige Wandel verknüpft.

So haben wir nun im Bürgerthum und in dem Wandel

im Himmel die Grundlage, das Wesen des Heils gefunden.

Das aber

ist unsere Freude, daß wir diese Grundlage, dieses Wesen des Heils schon hier besitzen. Nicht steht uns das Diesseits als ein Jammerthal, als eine leere und öde Welt dem Jenseits als dem Himmel gegenüber. Auch die Erde ist uns im unendlichen Weltall mit die Stätte, wo die Liebe Gottes die großen Thatsachen des Heils gewirkt hat und fort« während wirkt.

Nicht allein in der Zukunft liegt das ewige Leben;

sondern schon hier ist es in voller Wirklichkeit vorhanden.

„Das ist

das ewige Leben, daß sie dich, daß du allein wahrer Gott bist und den du gesandt hast, Jesum Christum erkennen"*).

Nicht im Jenseits

allein hoffen wir auf Seligkeit, sondern auch hier, wenn man lebendig wie Petrus an Jesum als an den Christ glaubt, da gilt auch des Heilandes Wort**): „Selig bist du, das hat dir Fleisch und Blut nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel."

Auch in diesem Leben,

für dieses Leben heißt es bei den Christen ***):

„Freuet euch in dem

Herrn allerwege und abermals sage ich freuet euch."

Kann sie doch

nichts Gegenwärtiges und nichts Zukünftiges

von der Liebe

scheiden

Gottes, die da ist in Christo Jesu unserem Herrn.

Und wie steht es

mit den Entschlafenen? Mancherlei sind der Bilder, welche die Einbil­ dungskraft über das Jenseits erzeugt hat und stets von Neuem erzeugen wird.

Mit mancherlei, oft sehr grellen Farben wird das Leben im

Jenseits ausgemalt.

Was haben wir an solchen Bildern?

Eben nur

Spiele der Einbildungskraft, von denen wir gar nicht sagen können, ob und wie viel Wesenhaftes und Wirkliches dahinter ist. Die Schrift sagt in hoher Einfachheits-):

„Es ist noch nicht erschienen, was wir

sein werden," will damit auch sagen: es liegt dies noch nicht Erschienene, wenn es das Einzelne angeht, über unsere Anschauung hinaus. *) Johannes 17, 3. ***) Philipper 4, 4.

**) Matthäus 16, 17. t) 1. Johannes 3, 2.

Sind

361 wir aber damit, wie die Heiden, die keine Hoffnung haben, die darum an den Gräbern der Ihrigen trostlos klagen müssen?

Das sei ferne!

Bleiben wir nur stehen, bei dem, was uns als das Wesentliche durch die göttliche Offenbarung gegeben ist.

Christus war in seinem Leben

bis in den Tod hinein Eins mit der Liebe Gottes, war, wie er sich ausdrückt, in des Vaters Schooß.

Der eingeborne Sohn voll Gnade

und Wahrheit war so im Himmel. Wir wissen aber: Er ist derselbige in Ewigkeit, für ihn ist auch der Tod nur Verherrlichung.

Nun so

auch mit den Entschlafenen. Sind sie uns im irdischen Leben entrückt; aus der Liebe Gottes sind sie nicht geschieden.

Die Liebe Gottes ist

erst recht die ewige Sonne, welche ihnen leuchtet;

die Liebe Gottes,

welche sie als Gotteö Kinder erwählt hat, die Liebe Gottes, welche sich ganz und gar an sie

hingibt.

Wissen wir das, so können wir mit

voller Zuversicht auf sie das Wort anwenden *): „Selig sind die Todten, die in dem Herrn sterben." wissen wir nicht.

Wie ihr Sein sich dort gestaltet, das

Aber das steht uns fest:

Sie ruhen in der Liebe.

Aus der Liebe Gottes gestaltet sich auch dort ihr Leben. der Liebe Gottes vollziehen sie. thum ist im Himmel.

Den Willen

Darum ihr Wandel und ihr Bürger­

Wollen wir uns daran nicht genügen lassen?

Ja tritt doch noch Eins hinzu.

Für uns will sich noch immer wieder

durch das Sündige, gleichsam durch die irdischen Dünste, die unserem Herzen entstammen, das Licht der göttlichen Liebe umdunkeln.

Wir

werden in unserer Bestimmung, welche uns die göttliche Liebe gegeben hat, noch immer von selbstischem, eigensüchtigem Wesen, das uns an­ haftet, gehemmt.

Wir gelangen noch nicht zu der reinen vollendeten

Vollziehung des göttlichen Liebewillens.

So klagen wir denn stets von

Neuem: Wir haben es nicht ergriffen, es ist noch Alles bei uns Stück­ werk.

Was uns Gott durch Christum gibt, wir müssen es noch täglich

im mühsamen Glaubenskampf festhalten, ja immer von Neuem es uns erringen.

Der Entschlafenen dagegen gedenken wir als der Vollendeten,

als derjenigen, die nun ganz von der Liebe Gottes durchleuchtet, auch ganz sich zu ihren Werkzeugen gegeben haben und stets in der Vollziehung

*) Offenbarung 14, 13.

362

des göttlichen Willens begriffen sind. Das denn unser Trost: Sie und wir haben das Bürgerrecht im Himmel, sie und wir führen unseren Wandel als einen Wandel im Himmel. II. Unser Text eröffnet uns aber doch einen Einblick in die Zukunft, in das Jenseits. Wir warten von dannen des Hei­ landes, daß er unseren nichtigen Leib, (den Leib der Nie­ drigkeit) verkläre in die Aehnlichkeit seines verklärten Leibes hinein. Haben wir diese Hoffnung für uns; so haben wir die Zuversicht, daß unsere im Herrn entschlafene Brüder und Schwestern für das Gewährte in höherem Lichte schon Gott preisen. Wie ist es doch aber mit dieser Hoffnung des zukünftigen Lebens? Auf der einen Seite verknüpft sich mit ihr die Erwartung, daß dieser sinnliche Leib vollständig wieder erstehen, und als vollständig derselbe fortbestehen werde, nur so, daß er mit Unvergänglichkeit und Leidenlosigkeit begabt erscheint. Auf der anderen Seite leugnet man für das zukünftige Sein jede irgendwie leibliche Existenz, will nur wissen von einer Unsterblich­ keit der Seele. Der Leib als solcher wird hier mit großer Gering­ schätzung angesehen, als eine drückende, unpassende, irdische Hülle, die den ewigen Geist nur hemmt oder beschränkt, oder höchstens als ein Kleid, das man mit leichtem Sinn ablegt, weil es den Geist doch mehr entstalte als schmücke. Weder die eine, noch die andere dieser Ansichten will das vom biblischen Christenthum genährte und geläuterte, fromme Gemüthsleben befriedigen, keine von beiden vermag einem tieferen Den­ ken Genüge zu leisten. Wenn das sonst so köstliche Lied „Jesus meine Zuversicht" in seiner ursprünglichen Gestalt uns Ausdrücke bringt, wie: „dann wird eben diese Haut mich umgeben, wie ich glaube" oder „ Und in diesem Fleisch werd ich Jesum sehen ewiglich," wer, der klarer denkt und seinen Glauben an der heiligen Schrift gereinigt hat, nimmt daran nicht Anstoß, erinnert sich nicht, der entgegengesetzten Worte des Apostels*): „Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht ererben?" Auf der anderen Seite hat des Menschen Geist für uns seine Herrlich­ keit doch nur als der persönliche Geist, als das eigenthümliche Wesen, der eigenthümlich herausgestaltete Karakter. Wie dieser Geist als der *) 1. Korinther 15, 50.

363 persönliche, eigenthümliche sich bilden konnte und bilden kann, wie er als persönlich und eigenthümlich bestehen kann, ohne besondere, irgend­ wie heraustretende Gestaltung, ohne irgend das, was wir unter Leib­ lichkeit verstehen; das liegt nicht nur jenseits alles unseres Vorstellens und Denkens,

sondern verstößt auch

dagegen.

Da finden wir den

Apostel in der Mitte auf klarer Höhe tiefsinnigen, tiefdenkenden Glau­ bens sich bewegen.

Fleisch und Blut sind der Vergänglichkeit geweiht.

Ja der irdische Leib, der in die Erde gesät wird, dies Saamenkorn, ist nicht der Leib, der werden und sein soll.

Aber wie eS fleischliche,

seelische Körper gibt, so nach dem Apostel auch geistige, himmlische. Solchen himmlischen Leib wird Gott nach des Paulus Lehre den Ent­ schlafenen geben.

Das ist der kurze Inhalt seiner Lehre im Korinther­

brief, das liegt auch unserem kurzen Texteswort zum Grunde. wir das unserem Denken und Vorstellen näher.

Bringen

Zunächst können wir

jenes hochmüthige Herabsehen von der eingebildeten Höhe einer falschen Geistigkeit ans die Niedrigkeit des Leibes nicht theilen.

Erinnern wir

uns, wie ein tiefsinniger Geist unseres Volkes ausruft:

Leiblichkeit ist

das Ende der Wege Gottes.

Ein anderer, der zu den großen geistigen

Führern unseres Volkes gehört, betrachtet den Menschenleib als die schönste aller Gestaltungen in dieser Welt und wie er sich mit seiner Anschauung in der Betrachtung des Einzelnen ergeht, da bricht er plötz­ lich ab, weil, wie er sich ausdrückt, er vor den Schauern der Anbetung verstummt.

Auch unseren schlichten, frommen Liederdichter dürfe» wir

nicht vergessen, der die Schöpferherrlichkeit Gottes preisend ausruft: „Der Mensch ein Leib, den deine Hand so wunderbar bereitet."

Worin

liegt aber im tiefsten Grunde die Herrlichkeit des menschlichen Leibes? Preisen wir den vernünftigen Geist des Menschen,

so laßt uns dabei

behalten, nur mittelst des wunderbar bereiteten Leibes in seinen Glie­ dern und Sinnen dringt der Geist in die Welt ein und nimmt die Welt denkend in sich auf, darum aber auch nur durch die Werkzeuge und Thätigkeiten des Leibes kommt der Geist zu sich selbst, wird ver­ nünftiger, persönlicher Geist, darum aber auch nur mittelst der Glieder und Sinne des Leibes und ihrer Thätigkeit ergründet der Geist die göttlichen, sehr tiefen Gedanken des Wahren und Schönen, wie sie in

364 der Welt ausgeprägt sind.

Darum selbst zu Gott, dem ewigen Urquell

des Seins sich zu erheben, vermag der Geist nicht ohne die Leiblichkeit, ohne den Dienst ihrer Glieder und Sinne.

Und wenn durch das

Gottesbewußtsein, zu dem uns die Anschauung der Welt erhoben hat, der Geist mit heiligen Gedanken, mit gläubigen Gefühlen, mit sittlichen Trieben erfüllt wird;

dies Herrliche des inneren Lebens verlangt zu

seinem Bestehen, zu seiner Darstellung, seiner Bethätigung im Aeußeren den Körper. Nur durch die Leiblichkeit findet alles Hohe und Herrliche im Geiste seinen Ausdruck, seine Darstellung und Ausgestaltung, seine Bethätigung und Uebung.

Bleibt unserem Inneren darum nicht un­

vergessen und heilig und theuer eben auch das Wesen der Entschlafenen, wie es in ihrem leiblichen Dasein sich ausprägte?

Wie dem gleichsam

der hohe, sittliche Ernst ans der Stirn sich lagerte, wie bei jenem aus dem Auge uns eine so tiefe Innigkeit des Gemüthes anschaute, wie dem die gutmüthige Heiterkeit um den Mund spielte, wie einem anderen aus allen Zügen des Antlitzes die Liebe sprach, das, meine Freunde lebt, wenn wir der Entschlafenen gedenken, in unserer Erinnerung. Ja so gern gedenken wir der Geliebten, wie sich in ihrem Antlitz bald fromme Ergebung, bald heiliger Unwille spiegelte, oder wie ihr ganzes Aeußere im Dienst liebreichster Gesinnung stand.

Ja, wir sagen noch

einmal: „Der Mensch ein Leib, den deine Hand so wunderbar bereitet." Wie aber spricht doch Paulus von

einen« nichtigen Leibe?

Wörtlich

übersetzt heißt es: Leib der Erniedrigung, also ein Leib, der er­ niedrigt ist.

Da werden wir dahin zurückgeführt, wohin das Christen­

thum immer unser Nachdenken leitet, nämlich auf eine Verderbniß un­ seres Seins und Lebens.

Die Selbstsucht ist es, welche in den Seelen

der Menschen ihren Sitz genommen hat.

Die Selbstsucht nun ist noth­

wendig Trübung des Seelenlebens, damit wesentlich Verfinsterung des geistigen Auges.

Ist sie aber das, so macht sie zugleich den leiblichen

Sinn unfähig, die Welt in ihrer Herrlichkeit in sich aufzunehmen und abzuspiegeln, durch die Gestalten der Geschöpfe die ewigen Gottesgedan­ ken dem Geist zuzuführen, dem Geist die Stufen zu zeigen, auf denen er zum Glauben, zum klaren Gottesbewußtsein, zum Ewigen selbst sich erhebt. Durch die Selbstsucht sind die der Liebe entgegengesetzten Triebe

365 und Begierden entfesselt und kräftig geworden und wie sie in der Seele walten, wird auch der Leib und das leibliche Leben dasjenige, was die sittliche Häßlichkeit abspiegelt,

wird Leib

und Leiblichkeit in den

Dienst der Sünde und des ungöttlichen Wesens hinabgezogen.

Das

ist es, wodurch der menschliche Leib als Leib der Erniedrigung erscheint. Und, m. G., wenn auch in der Gemeinschaft mit dem Erlöser ein neues, geistiges Leben entstanden ist, das alte Leben der Selbstsucht hat doch theilweise der Leiblichkeit einen Stempel aufgedrückt, der hier nie ganz weichen will.

Da schaut der Apostel hinaus über die Grenzen

dieses Lebens und wir blicken mit ihm zu den Entschlafenen und sprechen preisend: Gott hat ihnen, so gewiß sie persönliche Geister sind, nach Ablegung des Leibes der Niedrigkeit den Leib der Herrlichkeit bereitet. Welcher Art derselbe ist? Nun eben nicht Fleisch und Blut, nicht irdisch, sondern wie sonst Paulus sich ausdrückt, himmlisch. - Wohl verläßt uns hier unser Vorstellen, daß wir nichts Näheres uns sagen können.

Aber

so denken wir uns die Verklärten mit einem höheren Organismus be­ gabt, vermöge dessen die Herrlichkeit der Welt und damit das offenbare Wesen der göttlichen Liebe rein und vollkommen in sie einbringt, so daß sie Christum sehen wie er ist, vermöge dessen sie auf der anderen Seite heilige, unentweihte Diener des göttlichen Willens werden und die reine heilige Liebe zu Gott darstellen; ungetrübt und vollendet, hervorstrahlt.

so daß eben Christi Bild

wenn auch in Eigenthümlichkeit, aus ihnen

Es ist uns das also nicht ein Gegenwärtiges und Diessei­

tiges, sondern ein Zukünftiges, ein Jenseitiges.

Und doch, nt. G.,

wenn wir nur nicht grade die Vollendung selbst haben wollen, ist denn das nicht auch schon ein Gegenwärtiges, ein Diesseitiges für die Christen? Ist der wirkliche Jünger des Herrn nicht schon hier mit einer fort­ währenden Verklärung, Verherrlichung begnadigt?

seines Leibes

der Niedrigkeit

Die Welt als Gottes Kreatur in ihrer Herrlichkeit, die

Offenbarung Gottes dringt bei so vielen durch die leiblichen Sinne nicht in die Seele, weil die Selbstsucht diese beherrscht.

Wenn Christi

Liebe aber erlösend den Geist erfüllte, dann wird das Auge auch wieder gesund und klar, daß es allenthalben die ewige Kraft und Gottheit schaut, dann öffnet sich wieder das Ohr, daß es allenthalben die Töne

366 und Stimmen der Wahrheit, Heiligkeit und Liebe vernimmt, wie sie vom Schöpfer her die Welt durchklingen und wie durch dieselben alle Mißklänge übertönt und in den großen heiligen Einklang, der die gött­ liche Gnade preist, hineingezogen werden.

Und treten nicht damit die

Glieder in das willige Vollbringen des göttlichen Willens hinein, voll­ ziehen sie nicht den vernünftigen Gottesdienst in einem Leben, das in jeder Beziehung dem Wahren und Guten und Schönen

geweiht ist?

Und wird, was durch die Gemeinschaft mit dem Erlöser das Leben des Geistes geworden, Glaube, Liebe, Hoffnung nicht auch das ganze leibliche Dasein, die ganze äußere Erscheinung verklären? Wie manches Antlitz, das nach dem Maaßstab der Form und Farbe gemessen, ein schönes heißt, läßt uns kalt, weil schöne Form und Farbe nicht zugleich die höhere Schönheit wiederspiegeln,

nicht Ausdruck gläubiger Liebe

sind! Wie manches Antlitz, das nach Form und Farbe wenig gefällt, zieht so gewaltig an, weil aus Auge und Mienen Glaube, Liebe, fromme Ergebung uns entgegenlächelt!

So ist Christus es hier und Christus

es dort, durch den wir dem Ende der Wege Gottes, der verklärten Leiblichkeit entgegengeführt werden. was bei den Heimgegangenen

Noch einmal, freilich so,

daß,

wir uns als Vollendung denken, bei

uns noch Stückwerk ist, daß während wir uns noch in jeder Beziehung im Kampfe wissen, wir sie uns im Schmuck des Sieges strahlend denken.

Aber

demselben Ziel,

an

dem

sie sind,

werden

wir hier

auch schon täglich entgegengeführt, daß eben Christus auch unser leib­ liches Leben verklärt in

seine Aehnlichkeit hinein.

Und

so

in jeder

Beziehung mit ihnen Gegenstände der göttlichen Liebe in Christo, sind wir durch diese unseren Entschlafenen und sie uns auf's Innigste ver­ bunden,

so tönt von uns und ihnen der gemeinsame Lobgesang dem

Erlöser, durch den wir das Bürgerrecht des Himmels und die Ver­ klärung des ganzen leiblichen Seins als unverlierbares Eigenthum be­ sitzen.

Selig sie, selig wir in Christo Jesu unserem Herrn, welchem

sei Preis und Ehre in seiner kämpfenden und in seiner triumphirenden Gemeine!

Amen.

Anhang.

Zur Gedächtnißfeier des 3. Februar 1813 gehalten den 3. Februar 1863. Lied. Auf! danket Gott und betet an Den Helden aller Helden, Von dem die Erden ab und an Und alle Himmel melden; Auf! werdet heute Ein Gesang! Auf! klinget heute Einen Klang: Gott sei allein die Ehre! Denn trotzig, gleich der MeereSsluth, Wann wilde Stürme sausen. Ergoß sich grimmer Feinde Wuth Mit Schrecken, Angst und Grausen; Voran zog Hunger. Pest und Tod, Und durch die Länder ward gedroht: Wer wagt mit uns zu streiten? Da Die Sie Sie Der Im Ihr

ließ der Herr vom Himmelssaal Donnerglocken schallen, schlug nicht unser Arm und Stahl, sind durch Gott gefallen: Held der Helden hat's gethan, Staub zerschmettert liegt ihr Wahn, Trotz ist stummes Schweigen.

D'rum danket Gott und betet an Den Helden aller Helden, Und lasset Weib und Kind und Mann Die hohen Wunder melden; D'rum singet frohen Lobgesang, D'rum klinget lauten Freudenklang: Gebt unserm Gott die Ehre!

370

Text:

Psalm 77, 12—16.

„Darum gedenke ich

an die Thaten des Herrn, ja

ich gedenke an deine vorigen Wunder, und rede von allen deinen Werken, und sage von deinem Thun. Weg ist heilig.

Gott, dein

Wo ist so ein mächtiger Gott, als du,

Gott; bist? Du bist der Gott, der Wunder thut; dn hast deine Macht bewiesen unter den Völkern.

Dn hast dein

Volk erlöset gewaltiglich, die Kinder Jacobs und Josephs, Sela." (geliebte im Herrn!

Unser heutiger Gottesdienst ist der erste

dieses Jahres, in dem die vor fünfzig Jahren geschehene Erhebung unseres preußischen, später des ganzen deutschen Volkes, seine Errettung von fremdländischer Knechtschaft gefeiert wird.

Der auf Allerhöchsten

Beseht erfolgte Erlaß deS Staatskanzlers Grafen Hardenberg, welcher zur Bildung von Detachements freiwilliger Jäger aufrief, war das erste gewaltig wirkende Vorzeichen

des nahe bevorstehenden Kampfes

für vaterländische Unabhängigkeit und Freiheit.

Die Gedenkfeier dessen

kann unS natürlich nur ein hohes Dank- und Freudenfest fein.

Aber,

so haben Stimmen sich uns vernehmlich gemacht, ist es denn wirklich an der Zeit, jetzt, wo wir alle in diesem Lande wie unter einer schweren Last athmen, wo wir einer trüben,

beengenden Stimmung uns nicht

entschlagen können, Freuden- und Dankfeste zu feiern? Geliebte,

stände eS wirklich in

der Gegenwart viel schlimmer,

dürften wir darum dessen vergessen, was Gott in der Vergangenheit Großes und Herrliches an unserem Volke gethan hat?

Und wahrlich,

noch ist unser preußisches und deutsches Vaterland im Besitz heiligster und herrlichster, geistiger und irdischer Güter, alle miterrungen durch die heißen Kämpfe jenes heiligen Krieges; wahrlich, es ist hinreichender Grund vorhanden, unS deren vor Gott zu freuen und ihm dafür von Herzen zu danken.

Wir nehmen es gewiß nicht leicht mit dem, was

jetzt als ein schmerzliches Weh auf unserem Volke lastet, so gut ans

371 dem edlen Herzen des Königs, als auf den treuen Gemüthern seiner Unterthanen.

Aber dürften wir deshalb zagen oder verzagen?

Wie

das in bürgerlicher Gemeinschaft vom bürgerlichen Standpunkt aus zu bezeichnen wäre, das mag an anderer Stätte ausgesprochen werden, hier im Hause des Herrn müßten wir es auf den Mangel des Glaubens zurückführen.

Unser Glaube hält die Liebe der Gottheit, wie sie uns

in Christo versöhnt, zu ihren Kindern macht und gleichsam mit ihrem eigenen Leben begnadigt, umschlungen;

dieser Glaube kann nicht auf­

hören zu hoffen, daß dieselbe heilige Gottesliebe auch die von ihr ge­ ordneten sittlichen Gemeinschaften des Volks-, Staats- und Familien­ lebens,

darum auch unser liebes, theures Vaterland segnen werde.

Aus diesem Glauben heraus auch für die Zukunft den göttlichen Segen zuversichtlich erbittend und hoffend, muß die Erinnerung an die großen Tage der Vergangenheit sich zum frohen Dankfest gestalten. Ja, wäre es viel trüber und stände es viel schlimmer, als eS wirklich der Fall ist;

es thäte nnS erst recht noth, unseren Glaubensmuth und unsere

Glaubenskraft in solcher Festfeier zu stählen, unsere Gesinnung an den herrlichen, thatkräftigen Männern, die damals ihr Alles für daS Vater­ land einsetzten, zu läutern und zu veredeln. Darum, ihr würdige Väter und Vertreter unserer geliebten Vaterstadt, ihr habt wohlgethan, dem schönen Thun des Dankes, welches durch euch Berlin üben will, erst die gottesdienstliche Weihe zu geben; habt wohlgethan, dies Dankfest als ein ächt städtisches und vaterländisches zu veranstalten, und wir alle, die wir jetzt in diesem hehren Gotteshause feiern, wissen eS euch Dank, daß wir mit euch und mit den ehrwürdigen Greisen, die damals zu den Waffen für's Vaterland eilten, dem Herrn der Heerschaaren ein demüthigeS, herzliches Lobopfer darbringen können. Treten wir nun heran an die schönen Worte des Psalmisten: „Darum gedenke ich an die Thaten des Herrn, ja ich gedenke an deine vorigen Wunder und rede von allen deinen Werken und sage von dei­ nem Thun:

Gott dein Weg ist heilig u. s. w."

Aber eS gilt keine

Auslegung dieser Worte, es gilt keine sogenannte regelrechte Predigt, es gilt allein im geistigen Anschluß an den Text unseren Gefühlen schlicht und einfach einen ungeschminkten Ausdruck zu geben.

24*

Indem

372

wir an die Thaten des Herrn gedenken und von seinen Wundern reden, müssen wir zuerst bekennen: Gott, dein Weg ist heilig! Wie sah es vor fünfzig Jahren hier in der Vaterstadt und überhaupt im theuren Vaterlande aus? Dem Namen nach war Berlin freilich auch damals die selbstständige Hauptstadt des selbstständigen preußischen Staates. Der That nach lag es mit dem Lande dem gewaltigen Manne zu Füßen, von dem halb Europa sich seine Befehle holte, wurde von seinen Die­ nern beherrscht. Eine wirkliche Selbstständigkeit des Königs und des Staates war nicht vorhanden, indem jener dämonische Heros der Neu­ zeit daS Volk wie mit tausend ehernen Armen umschlungen uub an seinen Dienst gebunden hielt. Hatte doch der hohe, königliche Herr, um nicht als ein Gefangener entführt zu werden, seine Hauptstadt ver­ lassen und wie ein Flüchtling nach Breslau gehen müssen. Woher dieser Zustand? Sechs Jahre früher war der Staat Friedrichs des Großen, wie so mancher andere, vor dem Welteroberer zusammen­ gebrochen und die Kraft desselben, vor der einst Kaiser, Könige und Fürsten sich hatten demüthigen müssen, war in Staub und Asche gelegt. Dies war vom Herrn geschehen. Durch Napoleon's Siege hatte der Arm Gottes hindurchgegriffen, denn wir müssen bekennen: Dil Gott bist heilig. War doch unser Volk nur von dem Verderben ereilt worden, welches eS verdient und so sich selber bereitet hatte. Viel Vermessen­ heit, viel fleischliche Sicherheit, viel Ruhmredigkeit war grade in den höheren Ständen, welche die leitenden sein sollten, verbreitet gewesen, wenig sittliche Kraft, wenig gewissenhafter Ernst, wenig heilige Liebe. Unter einer glänzenden, trügerischen Hülle hatte um so sicherer lieder­ liche Gesinnung und Sittenlosigkeit gewuchert und weithin sich verbreitet. Da waren Gottes Wege heilige, seine Gerechtigkeit offenbarte sich in dem schweren Joche, das sechs bis sieben Jahr unser Volk tragen mußte. Heut vor fünfzig Jahren lag dieses Joch noch ans seinem Nacken. War auch jener gewaltige Kriegsheld mehr durch die zerschmet­ ternden Schläge des Winters als durch die russischen Heere gedemüthigt, ruhte seine große, glänzende Armee so ziemlich in Rußlands Schneegefilden begraben; noch war er der Herrscher, dem hundert Millionen aus verschiedenen Nationen gehorchten, dessen Adlern, wenn er mit

373 dem Fuß auf die Erde stampfte, neue Legionen von allen Seiten zu­ strömten, noch war er der Feldherr und Staatsmann, an dessen Schlau­ heit, Klugheit, außerordentliches Talent, keiner der ihm nachher gegen­ überstehenden Helden, so trefflich sie sonst auch waren, heranreichte, und noch, wie gesagt, hatte er Preußen und Deutschland wie mit eher­ nen Ketten an

seinen Dienst gefesselt.

Wenn menschliche Berechnung

damals die gegenüberstehenden Kräfte erwog, dann mußte der Schluß gerechtfertigt erscheinen, daß Frankreichs Kaiser bald wieder mit neuen siegreichen Heeren an Rußlands Grenzen stehen, sie wieder überschreiten und auch dieser Macht einen Frieden nach seinem Gutdünken diktiren werde.

Aber oben war es anders beschlossen.

Wir gedenken der Thaten des Herrn und müssen preisen:

„Du

bist der Gott, der Wunder thut, du hast deine Macht bewiesen unter den Bölkern, du hast dein Bolk erlöset gewaltiglich."

Ja der heilige

Gott ist zugleich der barmherzige, er, der unser Volk in die verdiente Strafe dahingegebe» hatte, hat ihm in der Macht seiner Gnade auch eine herrliche Erlösung bereitet, hat für dasselbe heraufgeführt eine neue Zeit des Heiles. Jork's That, außer dem Buchstaben, ja gegen den Buchstaben des Gesetzes vollbracht, und doch ans dem Geiste, der in preußischer Gesetzgebung seinen Ausdruck gesucht hatte, geboren, war zwar schon das Wetterleuchten am fernen Himmel gewesen,

welches Neues und

Großes ankündete; aber selbst die weite, räumliche Entfernung hemmte die Wirkung.

Zwar gährte es schon stark in den Geistern; aber grade

diese Gährung bedurfte dessen, daß sie zur Klarheit kam, daß der sich mächtig regende Wille in die Leitung des Hellen Selbstbewußtseins hin­ eintrat.

Da erschien auf Allerhöchsten Befehl des Königs der Aufruf

vom dritten Februar und das war der Blitz, der sofort einschlug und zündete, dem unmittelbar Gottes Donner sich anschloß,

das der erste

Blitz ans jenem Wetter des Herrn, mit dem für Volk und Vaterland der neue Geisterfrühling hereinbrach, mit dem bisher ungekannte Mächte auf den Boden der Geschichte traten, um den heißen« schweren Kampf zu kämpfen und den glorreichen Sieg zu erringen. Mächte gewesen?

Welches sind diese

In jenem Aufruf vom dritten Februar sind sie in

374 schlichter Weise bezeichnet. Freiwillige wurden in den harten, gefahr­ vollen Dienst der Waffen gerufen.

In der That ein Neues, Uner­

hörtes! Aus freiem Willen, aus selbsteigner Bestimmung, das war die Zumuthung, sollten Jünglinge und Männer mit dem eigenen Besitz sich wehrhaft machen, aus dem Drange des eigenen Geistes sollten sie ihre Brust den Kugeln und Bajonetten der Feinde entgegentragen, der freie Wille des Volkes, zu jeder Aufopferung und Hingebung be­ reit, sollte die zu schlagenden Schlachten durchkämpfen und den ungeheu­ ren Kampf siegreich zu Ende führen.

Worin aber konnte dieser freie

Wille, der Alles zu thun und Alles zu leiden bereit sein mußte, wur­ zeln? Die Rede des Aufrufes weist einfach hin auf Vaterlandsliebe, Anhänglichkeit an den König, auf Gemeinsinn; damit aber auf die allein sittlichen und allein starken Grundlagen eines gesunden Volks­ lebens, auf dasjenige, um deßwillen das Volk allein den Namen Volk zu tragen verdient.

DaS waren die neuen Mächte, gerufen, um eine

neue Zeit des Heils und der Ehre für unser Volk herauf zu führen. Wir wollen hier an dieser Stätte jedoch nichts verschweigen, um nur in's Schöne zu malen.

Der König, dessen Andenken noch heute

alle Preußen mit innigem Danke segnen, hatte fast nur mit Widerstre­ ben, fast nur wie dem Andrängen des herrlichen Scharnhorst nach­ gebend, den Befehl zum Erlaß jenes Ausrufes gegeben; aber den könig­ lichen Namen darunter zu setzen, hatte er bestimmt verweigert.

Warum

das? Ihm fehlte in jenen Stunden noch das Vertrauen zu den Mäch­ ten, die gerufen wurden; er zweifelte an ihrem Vorhandensein in seinem Volke; er wollte, und das war ein richtiges, hochzuehrendes Gefühl, er wollte, wenn dieser Ruf in der Luft vergeblich verhallte, den könig­ lichen Namen nicht noch dem Hohne der Feinde aussetzen.

Dürsten

wir ihn deshalb anklagen? Ach, das Jahr 1806 hatte mit seinen bit­ teren Erfahrungen sich zu tief in bad Herz des Königs eingegraben. Nicht das namenlose Unglück, der ungeheure Verlust an sich waren eö hauptsächlich, sondern vielmehr die Art, wie beide hereingebrochen waren. Wie groß, wie schimpflich waren die Pflichtverletzungen, die Sünden, die Verbrechen gegen König und Volk, deren sich so viele schuldig ge­ macht hatten, welchen bei dem Besitz des Allerhöchsten Vertrauens grade

375 mit die Leitung für Krieg und Frieden anvertraut gewesen war! Welche Summe der Feigheit und des Verrathe- trat

beispielsweise allein in

Spandau, Stettin, Küstrin, Magdeburg hervor, welche ungeheure Schmach brachten Unwürdige dort über den preußischen Namen! Ein König- der solches erfahren hatte, dessen edles Vertrauen so mit Füßen getreten worden war, der durfte wohl eine Zeit lang zagen und zweifeln, ob der freie Wille in Vaterlandsliebe, Gemeinsinn und Treue gegen den Monarchen in seinem Volke zu finden und bereit sei, auf den Kampf­ platz zu treten. Aber die Mächte, die heut vor fünfzig Jahren gerufen wurden, sie waren deS Rufes gewärtig.

DaS Preußen des Jahres 1813, eS

war längst ein anderes als das des Jahres 1806. die großen Unglücksfälle benutzen gelernt.

DaS Volk hatte

In der Schule der Trübsal

war es vom Herrn geläutert, herangebildet, mit geistigen Kräften ge­ stählt.

Längst waren treue geistige Pfleger ihm aller Orten erstanden

und hatten unverdrossen an dem Werk seiner geistigen Wiedergeburt gearbeitet.

Was seither im Heere geschehen war, die Namen-Scharn­

horst, 2)onf, BUlow, Gneisen«», Blücher und mancher andere rufen es uns sofort lebendig in die Erinnerung.

Von den Gottes­

streitern auf rein geistigem Gebiete nur wenige Namen, die grade in Berlin und von Berlin aus ihre mächtige Wirksamkeit übten.

Unter

den Augen der französischen Machthaber und gegenüber ihrem Drohen hatte sonntäglich Schleiermacher von

seiner Kanzel mit heiligem,

mächtigen Wort den männlichen christlichen GlanbensMuth in die Geister der Hörer übertragen.

Fichte, von der Höhe der Phhlosophie herab-

itttb in's Leben hineintretend hatte seine gewaltigen Reden, die, wie manches Einzelne darin auch für's Leben unpraktisch und unbrauchbar ist, doch im Ganzen aus tiefer, heiliger Sittlichkeit geboren und darum geeignet waren, kräftige Sittlichkeit zu erwecken, diese Reden hatte er gleichsam in das Herz der Nation hineingedonnert.

Jahn, um auch

sein zu gedenken, hatte durch körperliche Uebung und Stählung Tapfer­ keit und Mannhaftigkeit in die Brust der Jünglinge und Männer zu pflanzen sich bemüht. Mann.

Neben ihnen noch mancher andere hochherrliche

Und so gab'S im ganzen Vaterlande treue Männer — feit

376 vermögen sie nicht zu nennen, aber ihre Namen sind angeschrieben im Buche deS Lebens — die zu dem Volke standen,

die fern von dem

niedrigen Buhlen um den Beifall der Menge, fern von aller Schmeichel­ rede, dasselbe vielmehr lehrend, tröstend, strafend, mahnend und mit eigenem Muthe und eigener Selbstverleugnung aus dem Sumpf gemeiner Selbstsucht hinauf in den lebendigen Glauben an das Walten gerechter göttlicher Gnade, damit auch hinein in die heilige Sittlichkeit der Vater­ landsliebe, de- Gemeinsinns und der Anhänglichkeit an den König er­ hoben, einer Anhänglichkeit, welche, je weiter sie vom Kriechen, Heu­ cheln und Schmeicheln entfernt war, je mehr sie mit männlichem Freimuth sich verknüpfte, desto herrlicher durch stetes Einsetzen des eigenen Gutes und BluteS sich bewährte.

Wie sollten wir aber nicht vor Allen des

ersten, des hohen Königs gedenken, nicht das hervorheben, was er durch Männer wie Stein, Hardenberg und andere in's Leben rief; nicht rühmen, wie er als ächter Landesvater die gleiche Treue und Liebe für'S ganze Land walten ließ, wie er ererbten Mißbräuchen kräftig ent­ gegentretend und ein eigennütziges Widerstreben einzelner mit entschie­ dener Festigkeit in die gebührenden Schranken verweisend, das heilige Recht, die gleiche Gerechtigkeit aufrichtete für Alle.

Hatte er doch,

um nur zweierlei zu erwähnen, vom Landmann das Joch der Erbunterthänigkeit, der Frohndienste, genommen; hatte den Städten das köstliche Kleinod der Städteordnung von 1808 verliehen.

Das war der Weg

gewesen!, auf dem er selbst ein Volk, seiner würdig, sich herangezogen, auf dem er Vaterlandsliebe, Gemeinsinn und treue Hingebung an den Monarchen in den Gemüthern wie dem Mann im Evangelio.

erweckt hatte.

Da aber ging's ihm,

Er hatte den edlen Saamen mit vollen

Händen ausgestreut und ohne, daß er es wußte, Langte die Saat schon im frischesten, schönsten Wachsthum der reichsten Erndte entgegen. Der Aufruf vom heutigen Tage sollte das Verborgene an's volle, helle Tageslicht bringen.

Wie strömten sofort von allen Seiten die

jungen Männer kraft des eigenen freien Willens zu den Waffen! Wie brachte Hoch und Niedrig seine Gaben zur Ausrüstung solcher Jüng­ linge, denen eö bei glühender Vaterlandsliebe an eigenen Geldmitteln gebrach!

Wie erhebend, wenn hier ein Mann, der ein Vermögen von

377 4000 Thalern besaß, alsbald 1000 auf den Altar des Vaterlandes legte! Wie tief rührend, wenn viel tausend edle Frauen die Kleinodien, welche dem menschlichen und besonders

dem weiblichen Gemüth die

theuersten sind, die Sinnbilder und Pfänder treuster Liebe, goldene Ringe und Ketten brachten, — man zählte solcher Opfergaben in jenen Tagen wenigstens 160,000 — um dafür Eisen, Waffen zur Befreiung des Vaterlandes zu beschaffen!

Wie mächtig erschütternd, wenn jene

arme Jungfrau, als sie hörte, ihr schönes Haar habe einen Werth von zehn Thalern, wenn sie diesen köstlichen Schmuck ihres Hauptes mit eigener Hand abschnitt und dahingab, um so doch auch dazu beizutragen, daß die Ketten des Vaterlandes gebrochen würden! Das war in harter, schwerer Zeit ein frohes, hoffnungsreiches Treiben durch die Straßen unserer Stadt, als damals hier innerhalb dreier Tage 9000 Jünglinge und Männer als Freiwillige ihre Namen eintragen ließen.

Wenige.

Tage später stand Friedrich Wilhelm III. in Breslau mit Scharnhorst am Fenster, als eben achtzig Wagen voll von Freiwilligen aus Berlin ankamen.

Scharnhorst fragte, ob Königliche Majestät sich jetzt von

dem Geiste, der in seinem Volke lebe,

überzeuge.

Der hohe Herr,

ganz hingenommen von dem, was daS eigene Auge sah, vermochte kein Wort über die Lippen zu bringen; aber Thränen tiefster Rührung und innigster Dankbarkeit strömten ihm reichlich über die Wangen und sprachen mächtiger als Worte.

Da war ihm das volle, schöne Ver­

trauen zu seinem Volk und zu dem Geiste, der dasselbe beseelte, wieder­ gekehrt, da erkannte er es an als ein GotteSvolk, aufopferungsfähig und stark, die Schmach einer früheren Zeit zu sühnen und abzuwaschen. So wurde es ihm dann ein heiliges Bedürfniß, im nächsten Monat durch den herrlichen Aufruf „An mein Volk" als König unmittelbar zu den Bürgern seines Staates zu sprechen, in höchsteigener Person zum „Vertrauen, Muth und zur Ausdauer" zu ermahnen, auf die höchsten und edelsten Güter, für die jeder rechte Mann freudig das Leben lasse, hinzuweisen, auf Gewissensfreiheit, Ehre, Unab­ hängigkeit, Handel, Kunstfleiß, Wissenschaft, dem allgemeinen Gefühl Ausdruck zu geben, daß „der Preuße und Deutsche nicht ehrlos zu leben vermag."

Nun sprach er in kühnem Heldenmuth

378 das prophetische Wort:

„Gott und unser fester Wille werden

unserer gerechten Sache den Sieg verleihen."

Damit, Geliebte,

trat die Großmacht des freien, starken, heiligen Willens, der in „Vater­ landsliebe, Gemeinsinn und Anhänglichkeit an den König"

zu

jeder

That und jedem Opfer bereit war, auf den Plan,

ging unerschrocken

und furchtlos in den riesigen Kampf, da klang es:

„Das Volk steht

auf, der Sturm bricht loö."

Viele Heere hatte früher der Kaiser von

Frankreich zu Boden geworfen, noch verstand er es mit seiner großen Kraft und seinem erstaunlichen Talent gegen Preußen und Deutschland gewaltige Schläge zu richten, selbst theilweise empfindliche Niederlagen zu bereiten;

aber diesem neu erstandenen Geiste unseres Volkes war

auch dieser gewaltige Titane nicht gewachsen;

diesen Geist zu todten,

dazu reichten alle seine Bajonette und Kugeln nicht aus, die heiligen Gluten dieser Vaterlandsliebe zu löschen, dazu wäre alles Wasser in Europas Strömen zu wenig gewesen.

Dieser Geist hat den größten

Helden des Jahrhunderts vom höchsten Gipfel

der Macht in volle

Ohnmacht darniedergestreckt, hat unser Vaterland aus tiefster Schmach auf die höchste Stufe der Ehre erhoben, hat uns die höchsten theuersten Güter errungen. Wir gedenken

heute mit herzlichem Danke der heldenmüthigen

Streiter Preußens und Deutschlands, die damals in unsäglich schweren Kämpfen ihren Gemeinsinn, ihre Vaterlandsliebe, ihre Anhänglichkeit an den König auf's Herrlichste bewährten und mit ihrem Blute dem Vaterlande die Selbständigkeit wieder errangen. richtet heute durch

Preußens Hauptstadt

seine Väter und Vertreter auf euch,

Männer und Greise,

die der gnädige Gott aus

ehrwürdige

der Schaar jener

Kampfgenossen von 1813, 14 und 15 noch erhalten hat, um Männern, Jünglingen und Knaben ein lebendiges, mahnendes Vorbild der Vater­ landsliebe, Treue und Hingebung zu sein, Preußens Hauptstadt richtet heute auf euch ihre Blicke, um im edlen Thun thatsächlich ihren tief­ gefühlten Dank euch darzulegen.

Aber wie hoch wir euch auch stellen,

wie wir namentlich alle auf jenen herrlichsten preußischen Orden, auf das eiserne Kreuz, nicht ohne eine gewisse Ehrfurcht blicken können, wie sehr wir stets bereit sind, menschliche Tüchtigkeit und menschliches

379 Verdienst dankbar anzuerkennen;

nicht wahr, ihr wackere Vaterlands­

streiter, ihr legt in diesem Augenblick ans tiefstem Drange der Seele allen euren Ruhm vor Gottes Thron darnieder. im schönen Liede schon gesungen habt:

Wie ihr mit uns

Gebt unserem Gott die Ehre,

so tönt es auch jetzt für den Herrn vernehmbar aus eurer Brust empor: Nicht uns, nicht uns, deinem Namen allein die Ehre! Ja, Gott allein die Ehre! in heilsame

Er hatte unser Volk zu einer heiligen Gottesfurcht zurück, Selbsterkenntniß,

Selbstdemüthigung und Buße in den

lebendigen Glauben an seine heilige Liebe hineingeführt.

Gott hatte

so sein Volk mit Vaterlandsliebe, Gemeinsinn und Treue gegen den König erfüllt, hatte es stark gemacht und gestählt zu den heißen Kämpfen für die höchsten Güter des Lebens.

Die grundlose Barmherzigkeit

Gottes, wie Held Blücher es in seiner Weise einst aussprach, hatte den königlichen Fahnen den Sieg bis an'S Ende bewahrt.

So rühmen

wir insgesammt den Gott, der Wunder thut, der seine Macht unter den Völkern bewiesen hat und unser Volk erlöset gewaltiglich; so er­ heben wir in demüthiger Anbetung seine Güte und preisen: Lobe den Herrn meine Seele, und waS in mir ist, seinen heiligen Namen. Lobe den Herrn meine Seele und vergiß nicht, was er dir Gutes gethan hat! So ist uns auf's Lebendigste Gottes Güte vor die Seele getreten. Laßt uns nicht des Apostels ernstes Wort vergessen: „Weißest Du nicht, daß Dich Gottes Güte zur Buße leitet?" Gleichsam in den leuchtenden Glanz jener großen Tage hineinversetzt, wollen wir scharfen,

klaren

Auges in unsere Herzen, in unser Leben hineinschauen, wollen Alles an und in uns, waS im Gegensatz zu der sittlichen Herrlichkeit jener Zeit noch als Selbstsucht und ungöttliches Wesen erscheint, in die heilige Fluth einer göttlichen Traurigkeit versenken, daß eS so täglich in unS ersterbe, wir täglich uns heiligen.

Aber wie wir auch der ernsten,

inneren Buße ihr volles Recht einräumen, es darf doch dabei nicht fehlen die volle Freudigkeit,

der rechte Muth des kühnen,

kräftigen

Glaubens, auch in Beziehung auf unser bürgerliches, vaterländisches Leben.

Es wäre unnatürlich, wenn wir zum Schluß nicht dessen er­

wähnten, was im Eingang nur obenhin angedeutet wurde, oder wenn wir aus der Vergangenheit unseren Blick nicht auch auf die Gegenwart

380 und nächste Zukunft lenkten.

Ja ein tiefer Schmerz zittert augenblicklich

durch alle treue Herzen in unserem Vaterlande.

Wie wäre dies anders

möglich? Wenn bei uns irgend wie das Verhältniß des Volkes zu sei­ nem angestammten, theuren Könige sich nur zu trüben droht, dann, das wissen alle ächten Söhne Preußens, ja Deutschlands, handelt es sich um das höchste, vaterländische Heiligthum, um die edelsten, höchsten Güter bürgerlicher Gemeinschaft.

Aber, geliebte Brüder, wie wir auch

alle jetzt an diesem Schmerze tragen, ich denke, bei dieser Feier und an dieser Stätte erheben wir uns zu der starken, freudigen Hoffnung des Glaubens, daß der Gott, welcher vor fünfzig Jahren unserem Volke so gnädig gewesen, auch jetzt mit ihm sein, es auch unter dem Scepter Wilhelm I. zu neuem Segen, zu neuer Zeit des Heils hindurchführen werde.

Und wir dürfen hoffen;

denn will unö auch manches bange

machen, noch sind zuverlässige Grundlagen künftigen Heiles vorhanden. Auf drei Punkte laßt mich nur in der Kürze noch hinweisen.

Was

bisher auch im verwirrenden Kampfe der Gegensätze geschehen und ge­ sprochen, nicht wahr, wir theilen noch die Ueberzeugung, daß noch immer des treuen Königs Liebe dem Volke gehört, Vaterland schlägt.

daß sein Herz für das

Ebenso, wie man auch manches Wort in erregter

Stimmung gesprochen, mißdeutet und in trügerischer Absicht als arge Saat des Mißtrauens weiter zu tragen sich bemüht hat, es ist doch wahr, durch alle eifrigen Verhandlungen im Interesse des Vaterlandes zog sich noch immer innige Vaterlandsliebe, aufopferungsfähiger Gemein­ sinn, und, wenn man nur klare Augen zu sehen hat, auch rechtschaffene Anhänglichkeit an

die erlauchte Person des Königs

hindurch.

Das

Zweite: Gerechtigkeit erhöhet ein Volk, Gerechtigkeit auf dem Throne, Gerechtigkeit in allen Häusern und Hütten.

Gerechtigkeit im bürger­

lichen Sinn ist jenes Sicherniedrigen, welches allein erhöht, jenes Klein­ werden, welches allein groß macht; ist die freudige, freie, demüthige Beugung unter Recht,

Gesetz, Verfassung, heilige Ordnung.

Nun,

welchem Fürstenhause ist solche Gerechtigkeit mehr erb- und eigenthümlich als dem der Hohenzollern, in dem der alte Wahlspruch bleibt: „Jedem das Seine," dessen größtem König es eine Ehre war, sich von einem schlichten Unterthan an das Kammergericht zu Berlin erinnern zu lassen

381 imb sich dem Urtheil des letzteren zu unterwerfen, als dessen ächter Sproß sich unser theure König fast in jeder

öffentlichen Aeußerung

ausspricht, indem er immer von Neuem diese heiligen Grundsätze der Gerechtigkeit als die seinen bekennt.. Auf der Seite des Volkes können wir in Betreff der Vergangenheit zwar nicht jede Befleckung leugnen. Aber ich hoffe zu Gott, auch unser Volk hat es seit 1848 mehr und mehr gelernt,

daß Revolution

und Empörung nimmer ein Gewächs

des heimischen, preußischen und deutschen Vaterlandes sein kann, daß dem fremdländischen Giftgewächs auf diesem Boden

zu

wurzeln nie

wieder geziemt, daß dagegen Gehorsam gegen die Gesetze und gegen die Obrigkeit, als Handhaberin der Gesetze, die unumgänglich nothwendige Grundlage alles Volkswohles bleibt.

Endlich noch ein Drittes.

Nur ächte Religiösität, allein wahrer lebendiger Gottesglaube ge­ währen allem bürgerlich Großen und Edlen gesunde Nahrung und nach­ haltige Lebenskraft.

Wohl wird viel über Unglauben und Gottlosigkeit

geklagt, und wenn auch manchmal aus sehr zweifelhafter Gesinnung und in sehr verkehrter Weise, doch nicht immer ohne Grund.

Aber

tiefer und unverwüstlicher als eS gewöhnlich geahnt wird, ist dennoch den preußischen und deutschen Gemüthern frommer Christenglaube ein­ gepflanzt.

Wohl mag es hier und dort solche geben, die das höchste

Kleinod unseres Lebens leichtsinnig wegwerfen, ja

desselben spotten,

um dadurch das Zujauchzen einer unverständigen Menge sich zu er­ werben.

Aber ich meine, weder die, welche die Religion nur als Larve

der Heuchelei gebrauchen, um dahinter die abschreckende Häßlichkeit ihres inneren Menschen und die Interessen schmutziger Selbstsucht zu ver­ stecken, noch diejenigen, welche in armseliger Oberflächlichkeit und im liederlichen Leichtsinn das Gewissen, das Halten an heiliger, sittlicher Welt­ ordnung, den Glauben an den persönlichen Gott wegwerfen, werden je eine bleibende Geltung im Rathe unserer Könige und in der Schätzung unseres Volkes gewinnen.

Wie einst Israel Tag und Nacht durch die

Rauch- und Feuersäule geführt wurde, so zieht noch immer unserem Volke in seinem Haupt und seinen Gliedern die hochheilige Gestalt dessen voran, der, weil er aller Gottesliebe und aller Menschenliebe voll ist, ungetrübtes Himmelslicht von sich ausstrahlt, der allein recht frei macht,

382 Um recht zu binden, und recht bindet, um wahrhaft frei zu machen. In dem Allen haben wir gewiß Grund, zuversichtlich zu hoffen, daß der gnadenreiche Gott, welcher vor fünfzig Jahren unser Volk erlöste gewaltiglich, auch jetzt dasselbe durch jede Gefahr glücklich hindurchretten, daß Er die dunklen Nebel, die augenblicklich unsere Augen um flöten, zerstreuen und um so Heller das Antlitz seiner Liebe über uns erleuchten werde. — Wohlan, scheiden wir denn von diesem Gotteshause, ans diesem ernsten, vaterländischen Gottesdienste mit dem feierlichen Gelübde, jene gottgewollten Grundlagen unseres vaterländischen Heiles mit un­ verbrüchlicher Treue festzuhalten, dann begleitet uns die Hoffnung zu Gott, daß er thun werde wie vor fünfzig Jahren, segnen den König und sein erlauchtes Haus, segnen unser preußisches und deutsches Vater­ land, segnen diese unsere Stadt, die Residenzstadt des Landes in ihren Vätern und Vertretern, in allen ihren treuen Bürgern.' Das walte seine allmächtige, erbarmende Liebe. Amen. Z u m Schluß. D'ririn walt' c6 Gott, der alles kann, Der Vater in den Höhen! Er ist der rechte Held und Mann Und wird es wohl verstehen. Wer ihm vertraut, Hat wohl gebaut Im Tode und im Leben: Sein Recht wird oben schweben.

Zur fünfzigjährigen Gedächtnißfeier der Schlacht bei Großbeeren, gehalten am 23. August 1863. Herr Gott, Du bist unsere Zuflucht für und für, ehe denn die Berge worden und die Erde und die Welt geschaffen worden, bist Du Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen. Text: Psalm 118, 14—19. Der Herr ist meine Macht, und mein Psalm, und mein Heil.

Man singet mit Freuden vom Sieg in den

Hütten der Gerechten: Die Rechte des Herrn behält den Sieg; die Rechte des Herrn ist erhöhet; die Rechte des Herrn behält den Sieg.

Ich werde nicht sterben, sondern

leben, und des Herrn Werk verkündigen.

Der Herr züch­

tiget mich wohl, aber er giebt mich dem Tode nicht. Thut mir auf die Thore der Gerechtigkeit, daß ich da hinein gehe und dem Herrn danke.

Zm Namen unserer lieben Gemeine heiße ich Euch, würdige Väter und Vertreter dieser Stadt, ehrwürdige Vaterlandskämpfer aus glor­ reicher Zeit, theure Gäste von nah und fern herzlich willkommen zu der schönen vaterländischen Gedächtnißfeier, zu der Ihr Euch mit uns vor dem Herrn versammelt habt. O es ist natürlich, daß nach ZurückLieder: Nr. 46. 296. 659.

384 legmig eines halben Jahrhunderts das Jahr 1813 mit den heiligen, heißen, schweren Kämpfen unseres Volkes unS in erhöhter Lebendigkeit vor die Seele tritt, natürlich, daß wir mit diesen heiligen vaterländischen Erinnerungen, die stets einen erfrischenden und befruchtenden Quell für unser Volks- und Staatsleben bilden werden, in frommer Gemein­ schaft und vor Gott zusammenfinden, um so einer höheren Weihe der­ selben gewiß zu werden. So haben wir in allen Kirchen des Landes am 15. Februar dieses Jahres, so noch besonders am 3. Februar in dieser ehrwürdigen Hauptkirche unserer Stadt den Beginn des Freiheits-' kriegeö gefeiert. Nachdem der Krieg begonnen hatte, waren einzelne ruhmvolle Gefechte geliefert, zwei heiße Schlachten geschlagen worden. Noch war in diesen beiden Schlachten der gewaltige Meister der Kriegs­ kunst, Frankreichs mächtiger Herrscher Sieger geblieben; aber so schmer­ zenreiche und so folgenarme Siege hatte er früher noch nicht errungen. „Wie viele eroberte Kanonen?" „Wie viele erbeutete Fahnen?" „Wie viele Gefangene?" Auf jede dieser Fragen wird ihm die Antwort: „Keine" und unwillig den Boden mit dem Fuß stampfend ruft er: „Auch nicht den Nagel von einer Kanone lassen sich diese Preußen nehmen." Genug, daß er Preußen hinreichend als Deutschlands gntes, scharfschneidiges Schwert erprobt hatte. Preußens Niederwerfung und Vernichtung, dadurch Deutschlands neue Demüthigung und volle Knech­ tung, das war deshalb das Ziel, dem er mit all den ungeheuren Kräf­ ten, die ihm zu Gebote standen, mit der so außergewöhnlichen Begabung seines Geistes entgegenstrebte. Wie ihm das einem seiner selbst bewußt gewordenen Volke gegenüber gelingen sollte, darüber erhielt er außer anderen ruhmreichen Tagen bei Großbeeren, an der Katzbach, bei Kulm und Dennewitz eine vorläufige, aber ziemlich klare und bestimmte Aus­ kunft. — In dieser ganzen Zeit hatte Berlin, wie es ihr als Hauptund Residenzstadt des Landes geziemte, sich als Mittel- und Brennpunkt vaterländischen Lebens bewährt, hatte dafür vom französischen Kaiser den Namen „Heerd der Revoluzion" (in seinem Munde ein Ehrenname) empfangen. Unserer Stadt galt sein ganzer Zorn, drohte seine ganze Macht. Die Schlacht bei Großbeeren (14 Tage später die bei Denne­ witz), entkräftete seine Macht, machte seinen Zorn bedeutungslos, be-

385 wirkte für Berlin die Errettung aus größter Gefahr.

Hat darum der

heutige Tag für Preußen und ganz Deutschland seine Wichtigkeit, so eine ganz besondere, so die höchste Bedeutung für Berlin.

So feiern

wir hier billig mit besonderer Bewegung und Erhebung diesen Tag, an dem vor 50 Jahren durch vieles kostbare Blut unsere Stadt vor schwerem Verderben bewahrt blieb.

Billig aber erheben wir bei

dieser Feier uns 1) zum Preise Gottes, 2) erinnern wir unö des menschlich Großen und Edlen, was aus jener Zeit her uns entgegenstrahlt und

3) suchen

wir Stärkung zu

einer zuversichtlichen Hoffnung für die Zukunft unseres Volkes.

Der verlesene Text möge uns

unter göttlichem Beistände

dabei leiten. — I. Heil."

„Der Herr ist meine Macht und

mein Psalm und ist mein

„Die Rechte des Herrn behält den Sieg; die Rechte des Herrn

ist erhöhet, die Rechte des Herrn behält den Sieg."

Das sind Worte

unseres Textes, in welchen heute unsere festlichen Gefühle sich wohl zuerst und zumeist aussprechen. Wie viel des Glänzenden vor 50 Jah­ ren auch von Menschen geschah, was auch Herrliches und Edles in unserem Volk lebte; die Entscheidung ist von keiner menschlichen Macht, sie ist allein von ihm, dem Allgewaltigen gekommen.

Schon aus dem,

was in Rußlands Gefilden Preußens und Deutschlands Erhebung vor­ angegangen war und dieselbe möglich gemacht hatte, hatte sich so recht sichtbar der Arm

desHerrn offenbart.

Wohl hatte aus

Moskaus

Flammen der Zorn eines tief verletzten Volkes dem fränkischen Kaiser unheimlich entgegengeleuchtet uud ihm Unheil geweissagt; aber eigentlich war es die Macht der Natur, die Macht des nordischen Winters ge­ wesen, welche in

denweiten Länderstrecken Rußlands die

große Armee vernichtet hatte.

Selbst aber die fast unbegreifliche Ver­

blendung des Klügsten unter den Klugen, nachher der sich erhebende Grimm

glänzende,

des bitter gekränkten Dolksgefühls hatten

gegen ihn sich nach

der sittlichen Weltordnung Gottes entwickelt und unter seiner Regierung die Geschicke vorbereitet und ihrer Vollendung entgegengeführt. — Ver­ folgen wir ferner mit tiefer eingehender Betrachtung die Begebenheiten jenes heiligen Krieges für vaterländische Freiheit und Selbstständigkeit, Thomas, Predigten.

25

386

tote oft stehen wir an Punkten, wo Größtes an scheinbar Kleinstem hing, wo das, was man Zufälligkeiten zu nennen gewohnt ist, schwere Niederlagen verhütete, wichtige Entscheidungen herbeiführte. Nun wir, die wir glauben an das lebendige Walten eines heiligen, allmächtigen GotteS, erkennen in solchen sogenannten Zufälligkeiten nur sein weises, allwirksames Regiment; wir rufen: „Die Rechte des Herrn ist erhöhet, die Rechte des Herrn behält den Sieg"; wir rühmen: Der Herr ist meine Macht. Ja der Geist, wie er unser Volk damals erfüllte, wie er es freudig machte zu allen Opfern, stark zu allen Thaten, wie er alle Stände, Hoch und Niedrig, Reich und Arm, wie er besonders den König Fried­ rich Wilhelm III. gesegneten Andenkens und die Bürger seines Reiches eng verband, dieser Geist war wie ein lebendiger Odem von Gottes Thron herniedergeströmt und als ein solcher Gottesodem die Seele des ganzen Lebens geworden. — Als aber, Geliebte im Herrn, in so ge­ ringer Entfernung von hier die mächtigen Heerschaaren Frankreichs standen und immer näher rückten, als sie Tages zuvor schon im Ein­ zelnen Glück verheißende Erfolge errungen hatten, als von einem er­ höhten Punkte aus feindliche Offiziere nach unserer Stadt hinüberblickend im spottenden Uebermnth sich an der Gewißheit baldigen trinmphirenden Einzuges ergötzten, als dagegen der Oberbefehlshaber unseres Nordheeres, der Kronprinz von Schweden, in übel angebrachter ängstlicher Vorsicht große Lust hatte, immer weiter zurückzugehen und Berlin Preis zu geben; von wem hatte da der Preußische Held, General von Bülow, zur rech­ ten Zeit die muthige Besonnenheit, den siegesgewissen, starken Entschluß, den festen unbeugsamen Willen, von wem das Preußische Heer seine todesmuthige, nichts scheuende und nicht zu ermattende Tapferkeit; von wem kam's, daß im heißen Gange der Schlacht durch alle die einzelnen Entwickelungen hindurch zuletzt der feindliche Uebermuth so völlig ge­ brochen, die Preußische Tapferkeit so herrlich mit Erfolg und Ruhm gekrönt wurde? Woher also die Bewahrung unserer Stadt vor un­ glücklichsten Tagen, die Errettung aus drohendsten Gefahren? Von dem Herrn der Heerschaaren war solches geschehen, die Rechte des Herrn war erhöhet, die Rechte des Herrn behielt den Sieg. Unser

387 König, unser Volk, unsere Stadt durfte rühmen:

Der Herr ist meine

Macht. Grade deshalb aber weil König und Volk Gott die Ehre gaben, hieß es bei ihnen auch:

Der Herr ist mein Heil.

Kriegsruhm und

Kriegsglanz hatte fürwahr in seltenster Weise Frankreichs Herrscher über sein Volk verbreitet; aber dadurch auch Heil? — Davon will die Geschichte weniger rühmen.

Dagegen war selbst Preußens Demü­

thigung der starke, heilige Quell seiner Wiedergeburt geworden.

Aus

Preußens Erhöhung erblühte dem Deutschen Vaterlande ein bald fünf­ zigjähriger Friede mit seinen Segnungen, während dessen kein Feind in Waffen auf seinem Boden gesehen wurde. und Deutschland aus dem heutigen

Heil erwuchs für Preußen

und allen nachfolgenden Siegen

des heiligen Krieges. Meine Geliebten, auf dem Thron, in den Pallästen, in den Häusern, in den Hütten hatte man es wieder gelernt, aus den Händen des heiligen gnädigen Gottes alle Geschicke, Erniedrigung und Erhöhung zu nehmen; darum klang es so köstlich: Der Herr ist meine Macht und mein Heil. Wenn wir es uns aber heut lebendig vor die Seele stellen, wie Gott durch den Sieg vor 50 Jahren sich als unseres Volkes Macht und Heil bewährt, w;e er unsere Stadt so gnädig bewahrt und dadurch uns bis jetzt her noch mittelbar reichliche Segnungen gespendet hat; dann wird auch in unserem Munde das Wort lebendig:

„Der Herr

ist meine Macht und mein Heil," dann preisen wir weiter: „Der Herr ist mein Psalm."

Ja klinge und töne bei uns das Lob Gottes durch

alle Häuser hindurch, werde es laut auf allen Straßen! Er hat durch diesen und die folgenden Siege uns Heil gespendet, hat in den darauf folgenden Friedensjahren

in vorher nicht gekannter Weise Ackerbau,

Gewerbfleiß und Handel, Wissenschaft und Kunst sich entwickeln, hat allen Hemmungen gegenüber immer mehr bürgerlichen Gemeinsinn und vaterländische Gesinnung heranreifen lassen, o dem Herrn dafür danken und seinem Namen lobsingen, das ist ein köstliches Ding. „danket dem Herrn, ewiglich."

denn er ist freundlich und seine Güte

Der heutige Tag mahne unS:

Darum währet

„Singet dem Herrn

neues Lied, die Gemeine der Heiligen soll ihn loben." 25 *

ein

Unser Volk

388 jubele aus tiefstem Herzensgründe: „Ich will dich erhöhen, mein Gott, du König, und deinen Namen immer und ewiglich;"

wie heut so an

jedem vaterländischen Gedenktag erhebe es sich in unserer Stadt aus allen Herzen: Der Herr ist meine Macht und mein Heil, der Herr ist mein Psalm.

II.

Gott die Ehre!

Aber weshalb hat er damals grade unserem

Volke seine schirmende, segnende Hand offenbart? — In unserem Text lautet es:

„Man singet mit Freuden vom Sieg in den Hütten der

Gerechten."

Wenden wir diesen Ausspruch an, so dürfen wir sagen:

Gott hat unserem Volke geholfen, weil er in demselben Gerechtigkeit schaute;

denn diese ist es nach der heiligen Schrift allein,

Volk erhöhet.

welche ein

Nun wissen wir freilich, auch das, was an Gerechtigkeit,

an geistig Edlem und Schönen ein Mensch besitzt, er hat auch das nur als Wirkung und Gabe der göttlichen Gnade. so:

Dennoch steht es

was in dieser, in geistiger Beziehung Gottes Liebe darbietet, der

Mensch als das zur Freiheit bestimmte Kind Gottes muß es sich durch Selbstentscheidung und Selbstthätigkeit aneignen und anbilden, so daß er es sich als sein Eigenthum erwirbt und er nichts mehr als dies grade sein Eigenstes nennen kann.

Darum haben wir ein Recht und

eine Pflicht, auch das sittlich Große und Schöne, wie es in jenen Ta­ ge» unser Volk schmückte, liebend und dankbar hervorzuheben.

Gerech­

tigkeit — auf dies Wort wird in der Bibel gern alles sittlich Gute zurückgeführt.

Das aber wollen wir nicht in den Hintergrund stellen,

was nach der Lehrentwicklung der heiligen Schrift Kern und Wesen der Gerechtigkeit ausmacht und was wir grade so als die unvergäng­ liche, sichere Grundlage unserer evangelischen Kirche nimmer missen können.

Wir werden gerecht allein

Christum.

Demnach

durch den

Glauben

an Jesum

ist das Wesen der Gerechtigkeit das Ergreifen

der in Christi Leben und Sterben offenbar gewordenen, versöhnenden und heiligenden Liebe Gottes, die feste Kindeszuversicht zu dieser heiligen Gnade, das Sichhingeben des Gemüths und Lebens an dieselbe.

Kurz

in ächt christlicher, ächt evangelischer Frömmigkeit liegt auch der innerste Grund, die erzeugende Kraft, Wesen

der Gerechtigkeit.

der lebensvolle Kern, das

Beherzigen

wir es

auch

eigentliche

nur immer von

389 Neuem, daß die äußere Erniedrigung Preußens und Deutschlands aus einem

Nachlassen lebendiger aufrichtiger Frömmigkeit,

Erschlaffung und Erlahmung entsprungen

war.

aus

sittlicher

Beherzigen

wir es,

daß durch die züchtigende Hand Gottes unser Volk sich zum Aufschauen nach Oben, zu ernster Frömmigkeit, zum thatkräftigen Glauben an die rettende heiligende Gnade hatte zurückführen lassen und daß seine innere religiös sittliche Erstarkung der Grund seiner Erhöhung geworden war. Weil es zn dem Wesen wahrer Gerechtigkeit zurückkehrte, darum ward Gott sein Recht und sein Heil, darum sang man mit Freuden vom Sieg in den Hütten der Gerechten.

Aber können wir hier der beson­

deren vaterländischen Tugend, der Gerechtigkeit in Beziehung aufs Volks­ leben uneingedenk bleiben?

Wie verhält sich doch diese zu der Gerech­

tigkeit, wie wir sie im Sinne der heiligen Schrift angeschaut haben, wie die vaterländische Gerechtigkeit zur Glaubensgerechtigkeit? Geliebte,

liegt nicht außerhalb, sondern innerhalb dieser.

Jene,

Christus ist

der einige Gegenstand unseres gerechtmachenden Glaubens, allerdings sofern durch ihn hindurch und aus ihm heraus uns die heilige, ver­ söhnende Gottesgnade entgegen leuchtet; aber eben so sehr, wie er sich selbst als den Sohn der Menschheit bezeichnet,

wiefern er der reine

Mensch nach dem Herzen Gottes uns als unser ewiges Ur- und Vor­ bild vorleuchtet, wiefern es für alle Gläubigen lautet: „Ziehet an den Herrn Jesum Christum."

Wie hat sich nun dieser Anfänger und Voll­

ender unseres Glaubens zu seinem Volke, zu seinem Vaterlande ver­ halten?

O wie er stets der treuste Sohn seiner Mutter, der treuste

Bruder seiner Geschwister geblieben ist, so hat er auch nie aufgehört der treuste Sohn seines Vaterlandes, der treuste Bürger seines Volkes zu sein.

Bis an sein Ende hat er mit aller Kraft der Liebe die Kinder

Jerusalems und Judäas rettend zu sammeln gestrebt, wie eine Henne sammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel.

Als er aber dieselbe Erfah­

rung, wie vor ihm^schon die großen Propheten, machte, daß nämlich das Volk in tiefster Verblendung sein Heil von sich stieß, da, wie einst nach äußerem Fall ein Jeremias geklagt hatte:

„Ach daß ich Wasser

genug hätte in meinem Haupt und meine Augen Thränenquellen wären, daß ich Tag und Nacht beweinen möchte die Erschlagenen meines Volkes;"

390 so hat er schon im Vorausschauen künftigen Falles bittere blutige Thrä­ nen vergossen. WaS deshalb der Apostel in Beziehung auf die Familie ausspricht:

„So jemand die Seinen, sonderlich seine Hausgenossen,

nicht versorget, der hat den Glauben verlängnet und ist ärger denn ein Heide," im Geist unseres Erlösers müssen wir eS auch auf's Vater­ land anwenden, müssen geltend machen, daß jede Versäumung vater­ ländischer Pflichten Verleugnung des Glaubens, heidnische, dem Christen­ thum widerstrebende Gewissenlosigkeit ist.

Die Lauterkeit, Gesundheit

und Kraft unserer Glaubensgerechtigkeit muß sich nothwendig mit in bürgerlicher Gerechtigkeit, in

vaterländischer Tugend bekunden.

Nun

laßt uns von diesem Punkt aus einen Augenblick unser Volk und unsere Stadt vor 50 Jahren anschauen.

Zunächst das Heer.

Ich erinnere

noch einmal an Napoleons Wort: „Nicht den Nagel von einer Kanone lassen sich diese Preußen nehmen."

Ein glänzenderes Zeugniß ist dem

Heere eines Volkes, das für's Vaterland kämpfte, nie ausgestellt worden. Ein Heer, das als ein geschlagenes sich keinen Gefangenen, keine Fahne, keine Kanone hatte nehmen lassen, wohl aber selbst auf seinem Rückzüge eroberte Geschütze und gefangene Feinde mit sich führte, hatte den voll­ gültigsten Beweis gegeben, daß an glühender Vaterlandsliebe, an Kraft selbstverleugnender Aufopferung, an Trefflichkeit der Gesinnung die Letzten in seinen Reihen gleich standen ihren herrlichen, edlen Führern. Darum was so glänzend an dem Helden des TageS, dem General von Bülow uns entgegenleuchtet, es war zugleich der schöne Ausdruck der Tugend, wie sie das ganze Heer in sich trug und übte.

Als der

fremdländische Oberbefehlshaber hindeutend auf die Brücken bei Berlin weiter zurückweichen wollte und fast wie geringschätzig äußerte:

„WaS

ist Berlin? — eine Stadt wie andere," da loderte in unserem Helden der edle Unwille in heller Flamme empor:

„Für uns ist Berlin die

Hauptstadt des Königreiches und ich versichere, daß ich und meine Trup­ pen von Ihren Brücken hinter Berlin keinen Gebrauch zu machen wünschen" und bald darauf:

„Mich bekommt er nicht dazu, daß ich

über seine Moabiter Brücke zurückgehe. Berlin bleichen, nicht rückwärts."

Unsere Gebeine sollen vor

Hineinziehend in den Kampf erhält

er von dem Oberbefehlshaber den ausdrücklichen Befehl sofortigen Rück-

391

zuges. „Vor uns liegt die Entscheidung!" donnert er zurück, „melden sie Sr. Königl. Hoheit, daß ich mich auf dem Marsche befinde, Großbeeren mit Sturm zu nehmen." Das war die Gluth heiliger Vater­ landsliebe, ächter vaterländischer Gerechtigkeit, wie sie den Helden schmückte, wie sie aber zugleich das Lebensblut war, welches in allen Kämpfen jenes Heeres pulsete. Während so in der Nähe Berlins die Schlacht geschlagen wurde, standen am Kreuzberge bei einer Art aufgeworfener Schanzen neben anderen Männern anch die Vertreter der Wissenschaft, Schleiermacher, Fichte und andere, mit großen Lanzen bewaffnet. Meine Geliebte, wäre das Heer geschlagen worden, weder jene Erdarbeiten noch die Lanzen in den Händen der trefflichen Männer hätten dem siegreichen Feinde auch nur auf Minuten das Eindringen in unsere Stadt streitig gemacht. Und doch Napoleon hat diese Männer, die recht thatsächlich und wirksam die Waffen zu führen nicht mehr vermochten, nicht ver­ achtet, hat sie vielinehr wie gefährlichste Gegner gehaßt und gefürchtet. Er hat Recht gehabt. Als Werkzeuge Gottes haben sie, wie mit ihrem Wort so mit diesem, ich möchte fast sagen, sinnbildlichen Handeln, das heilige Feuer im Volke geschürt, haben den Geist lebendig erhalten, dem auch ein Napoleon nicht gewachsen war und zuletzt unterliegen mußte; in ihnen fand die vaterländische Gerechtigkeit, wie sie auch den unbewaffneten Theil des Volkes durchzog, zugleich die lebensvolle Dar­ stellung und immer neue Nahrung. Endlich als der Sieg erkämpft war, wie haben da Berlins edle Frauen und Männer aus allen Ständen gewetteifert, selbst manchmal mit Hingabe des Letzten den ermatteten Kriegern Labung und Stärkung zu senden, den Verwundeten und Kranken auf's Liebevollste Aufnahme und Herberge zu bereiten; wie haben sie sich der Pflege derselben mit Selbstverleugnung bis in den Tod unterzogen! ES waren harte, drangsalsvolle Zeiten, aber herrlichere hat unser Vaterland nimmer erlebt, nie hat unser Volk und wir dürfen sagen, in demselben her­ vorragend unsere Stadt, nie haben sie glänzender im höchsten Schmuck vaterländischer Tugend und Gerechtigkeit gestrahlt. Deshalb hat der heilige, gnädige Herr der Heerscharen Sieg und Heil verliehen, deS-

392 halb sang man mit Freuden vom Sieg in den Hütten der Gerechten. HI. Diese Erinnerung an die damalige Herrlichkeit unseres Volkes, o daß sie so recht erfrischend, erhebend, befruchtend unser gegenwärtiges Leben durchdringe! Am Abend heut vor 50 Jahren war viel geschehen, aber noch das Wenigste von dem Nöthigen.

Schwerstes, Gewaltigstes

lag noch vor; noch war man über Bangen und Sorgen nicht hinweg. Ja der heutige Tag selbst mit seinen Siegesfreuden barg tief Schmerz­ liches in seinem Schooß.

Die Truppen, welche der Feind

Kämpfern für König, Vaterland und Freiheit

unseren

entgegengeführt hatte,

waren zum guten Theile Deutsche, Söhne des gemeinsamen Vaterlandes gewesen.

Deutsche hatten also wieder mit Deutschen und zwar nicht

ohne große, gegenseitige Erbitterung gekämpft.

Da mußten dem Vater­

landsfreunde neben der Siegesfrende schmerzliche Gefühle das Gemüth bewegen und über die Trauer konnte nur die Hoffnung erheben, die Hoffnung nämlich, die Brüder, die Söhne des gemeinsamen Vaterlandes nicht sowohl durch die Waffen von Stahl und Blei, sondern mit der Waffenrüstung vaterländischer Gerechtigkeit und Tugend zu überwinden und sie auf unsere Seite unter das Banner Deutschlands hinüberzu­ ziehen.

Solche Hoffnung fand damals zuletzt ihre Erfüllung. In den

letzten Kämpfen des heiligen Krieges standen endlich alle Männer deut­ scher Nation für das gemeinsame Vaterland dem gemeinsamen Feinde gegenüber. — Meine Geliebten, vor und auch nach Großbeeren waren die Tage bange und sorgenschwer, aber zugleich hoffnungsreich und er­ hebungsvoll. Heut ist eS unter uns als sollten vaterländische Hoffnun­ gen immer mehr vernichtet, Befürchtungen schender werden.

und Sorgen immer herr­

In Beziehung auf das engere, theure Vaterland

lasten die obwaltenden

Verhältnisse

und Stimmungen

beengend und tiefbeugend auf allen Gemüthern.

wie ein Alp

In deutschen Landen

stehen zur Zeit, Gott sei Dank, zwar nicht auf Schlachtfeldern Deutsche Deutschen

gegenüber;

aber selbst die so prangenden Verkündigungen

der heraufziehenden Einigung Deutschlands scheinen so ganz und gar dazu angethan, zu geben.

ein recht sprechendes Zeugniß von tiefer Zerklüftung

Was endlich von außen uns kommen wird, niemand kannS

393 freilich vorhersagen; aber

daß drohende Wetterwolken

von mancher

Seite uns umlagern, daß jeden Augenblick von dieser oder jener Seite das Heraufziehen eines Unwetters, wodurch unser Heiligstes und Theuer­ stes gefährdet wird, möglich ist und daß wir nach dem Gesagten nicht schon die beste Rüstung tragen, das ist jedem unbefangen blickenden Geiste klar.

Wenn dem aber so ist, wollen wir uns dem bangen Zagen

überlassen? O das sei ferne! „Ich werde nicht sterben, sondern leben und des Herrn Werk verkündigen."

Das Wort unseres Textes hatte

der deutscheste Mann aller Zeiten, unser Luther, an die Wand seiner Studierstnbe geschrieben, er, der täglich wie vom Tode umlagert war, der nie aus schwersten, geistigen Kämpfen herauskam.

Ein Volk, das

ihn zu seinem geistigen Führer hat und behält, ein Volk, daS die Ge­ dächtnißtage von Großbeeren, Leipzig und viele andere als feine Ehren­ tage feiern darf, o in seinem Innersten müssen ihm mit lebendigen, unverlöschlichen Buchstaben die Worte geschrieben stehen:

„Ich werde

nicht sterben, sondern leben und das Werk des Herrn verkündigen." Der alte Gott, der mit ihm gewesen, lebt auch heute und blickt mit seiner heiligen Gnade schirmend und segnend auf dasselbe hernieder. Zu ihm aufschauend darf auch jetzt unser Volk rühmen: „Seine Hülfe ist nahe denen, die ihn fürchten, daß in unserem Lande Ehre wohne, daß Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen."

Zu ihm aufschauend darf es rufen: „Herr mein Fels, meine

Burg, mein Erretter, mein Gott, mein Hort, auf den ich traue, mein Schild und Herr meines Heiles und mein Schutz," darf kühn und ge­ trost mit den Vätern das Lutherlied singen: „Ein' feste Burg ist unser Gott, ein gutes Wehr und Waffen."

Solche Hoffnungsfreudigkeit läßt

der treue Gott nicht zu Schanden werden. Aber freilich dazu bedarf's einer Voraussetzung, einer unerläßlichen Bedingung. Luther, der jenen Spruch sich täglich vor die Augen gestellt hatte, urtheilte über den ganzen Psalm:

„Das ist mein Psalm, den

ich lieb habe--------- denn er sich auch redlich um mich gar oft verdie­ net und mir aus manchen großen Nöthen geholfen hat, da mir sonst weder Kaiser, Könige, Weise, Kluge, Heilige hätten helfen mögen." Gewiß hatte er bei diesen Worten die tröstlichen Zusagen des Psalmes

394 im Auge, aber nicht weniger die Hinweisungen auf die Gerechtigkeit, welche wir uns aus dem Wort: „Man singet mit Freuden vom Sieg in den Hütten der Gerechten"

entwickelt haben.

Nur also in den

Hütten der Gerechten ertönt der Siegesgesang, nur hier kann es heißen: „Der Herr züchtiget mich wohl, Preis."

aber er gibt mich dem Tode nicht

Wohlan so laßt uns mit unserem Texte zuletzt sprechen: „Thut

mir auf die Thore der Gerechtigkeit, daß ich da hinein gehe und dem Herrn danke."

Unser Volk wird vom Auslande gern halb lobend, halb

spöttelnd ein Volk der Idealisten und Denker genannt.

O laßt es

uns im rechten Sinne ganz sein, ganz werden, dann wird's so wenig wie 1813 an der rechten Thatkraft gebrechen.

Nur hinein mit der

ganzen Kraft des sinnenden und denkenden Geistes in die ewigen Ideen der göttlichen, sittlichen Weltordnung, der heiligen, versöhnenden und erlösenden Gottesgnade in Christo, der Gemeinschaft mit Gott durch den Glauben an den, bild uns

in dem der Menschheit hohes Urbild und Vor­

leuchtet, damit aus solcher Versenkung immer reiner und

kräftiger unsere Glaubensgerechtigkeit emportauche! In dieser Gerechtig­ keit erstarkend laßt sie uns nach allen Seiten, so auch besonders in unserem bürgerlichen Vaterlande gegen unser Preußisches und Deutsches Vaterland bewähren.

Erwärme und belebe auch uns die Gluth der

Vaterlandsliebe, wie dort bei Großbeeren den Helden und das Heer unseres Volkes, wie unsere eigene Stadt und das ganze Volk.

Laßt

uns stark sein und stark werden am Geiste, daß, wenn's einmal wieder darauf ankommt, wir bereit erfunden werden, für König und Vaterland, für Freiheit und Wohl der Gesammtheit Alles, Gut und Blut einzu­ setzen.

Auf dem Schlachtfelde steht, Dank dem Schutze des gnädigen

Gottes, zur Zeit kein Feind uns gegenüber.

Und dennoch ein Feind

ist vorhanden, um so schlimmer als er im Innern unseres Landes bald mehr verhüllt, bald mehr offen seinen Umgang hält.

O Ihr

kennt ihn wohl, eö ist freche Gesetzlosigkeit, Willkür, Ungerechtigkeit. Dieser Feind unterwühlt Thron und Altar, arbeitet an der Vernichtung vaterländischer Freiheit und Selbstständigkeit, zieht, wenn er jemals zur vollen Herrschaft gelangt, das Wohlergehen des ganzen Volkes in den Abgrund des Verderbens hinab.

O, meine Geliebten, in welchen



395

Verhältnissen wir auch stehen und in welche Lagen wir auch kommen, daß nie dieser schlimmste Feind unseres Volkes und unseres Königs die geringste Unterstützung bei einem unter uns finde, daß ein jeder von uns aus dem männlichen Glauben heraus, der nicht fürchtet die den Leib tödten und die Seele nicht mögen tobten, sondern den allein, der Leib und Seele verderben kaun in die Hölle, daß, sage ich, jeder von unö unbewegt und unverrückt stehe zu Recht, Gesetz, heilig verbriefter und beschworner Ordnung und Verfassung,

daß wir so aus tiefem

Gewissen heraus fern von schmählicher Heuchelei und Schmeichelei die mannhafte altpreußische und ächt deutsche Treue dem Könige und Vater­ lande bewahren!

Dieser Weg grober Gerechtigkeit ist auch der einzige

Weg wirklicher Treue.

Werden wir auf ihm beharren, wird eö bei

unS auf demselben jenem Feinde gegenüber wie einst bei Großbeeren gelten:

„Nicht rückwärts," „Vor uns liegt die Entscheidung;"

dann

wird sich unser Volks- und Staatsleben herrlich und fröhlich gestalten, dann werden alle drohenden Gefahren zu Schanden werden, dann bleibt unser das Wort des heiligen Sängers: „Man singet mit Freuden vom Sieg in den Hütten der Gerechten" und das andere:

„Der Herr ist

meine Macht und mein Heil, der Herr ist mein Psalm!"

Das walte

an und in unserem Volke die heilige Gnade des Allmächtigen. Amen.

Friedenspredigt, gehalten am 11. November 1866.

Unser Dank gegen den Gott der Gnade, der uns den Frieden geschaffen hat. Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen.

Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir

Gutes gethan hat.

Amen.

Text: Jesaias 26, 12. „Uns, Herr, wirst du Frieden schaffen; denn Alles, was wir ausrichten, das hast du uns gegeben." Gin schweres, drohendes Wetter, Geliebte in dem Herrn! hatte sich in schwarzen Wolken bet Beginn des diesjährigen Sommers an unserem vaterländischen Himmel aufgethürmt.

Wie lag es damals so

schwül, so beengend, so bang auf allen Gemüthern!

Da, in schnellen,

gewaltigen, zermalmenden Schlägen unseres herrlichen Heeres entlud sich das schwere Wetter und durch die finstere Nacht brach die Sonne des Friedens wieder hervor, zerstreute weiter und weiter das dunkle Gewölk und jetzt leuchtet sie im vollen, milden Glanze weithin unserem engeren und weiteren Vaterlande.

Wie aller Orten im Lande, so sind

auch wir heut hier in frommer Gemeinschaft vor dem Angesichte Gottes vereint, um den Gefühlen unseres innigen Dankes für seine rettende, schirmende und segnende Gnade feierlichen und lebendigen Ausdruck zu geben.

Für unsere Betrachtung soll diesem Zweck das verlesene prophe-

Lieder: Nr. 79, V. 1—2. 859, V. 1, 2, 6, 8 u. 9. 830, 3. 857. 1-3.

397 tische Wort dienen. Gestattet mir nur zwei Bemerkungen voranzustellen. Wie für uns, als Jünger des Erlösers, Alles, was im alten Testament Weissagung auf das Heil und den Heiland ist, sich umgestaltet hat in Erfüllung:

so dürfen wir in Folge der göttlichen Barmherzigkeit auch

für unser Volksleben jetzt von unserem Texte das Gleiche sagen, wir dürfen, ja wir müssen ihn deshalb heut umsetzen, daß er hier für uns lautet: „Uns, Herr, hast Du Frieden geschaffen, denn Alles, was wir ausgerichtet haben, das hast Du uns gegeben."

Sodann haltet in un­

serem Texte fest die Verknüpfung dessen, was scheinbar im Widerspruch steht und doch auf's Innigste zusammengehört. geben" und „Wir haben ausgerichtet."

„Du Herr hast ge­ Ja, alle, auch die köst­

lichsten Gottesgaben, wenn wir nicht dabei irgend sagen können, Wir richten aus, wir thun's, bleiben uns werthlos.

Alles hinwiederum,

was wir irgendwie ausrichten, erarbeiten, erkämpfen, wenn wir es nicht als Gabe göttlicher Liebe nehmen: nicht znm Segen, sondern zum Ver­ derben wird es uns gereichen, auch wenn eS an sich das Größte und Beste wäre. Wir behalten das im Sinn für unsere ganze Betrachtung, die gemäß unserem Text Unseren Dank gegen den Gott der Gnade, der uns den Frieden geschaffen hat, entwickeln und begründen soll. I.

Als schon der Krieg begonnen hatte, da erging aus des Königs

Munde der Ruf an sein Volk, in der Zeit der Gefahr zu Ihm zu stehen.

„Aber,"

Herrn Hülfe

hieß es in

vermögen

dem Königliche» Erlaß,

wir nichts.

Vor ihm

„ohne des und

seinen

heiligen Gerichten wollen wir uns in Demuth beugen, unS der Vergebung unserer Sünden durch

Christi Verdienst

neu getrösten und von Ihm Sieg und Heil erflehen. gereinigt

und gestärkt,

entgegen gehen.

können wir getrost dem

So

Kampfe

In diesem Gefühle Mich Eins zu finden

mit Meinem ganzen Volke, ist Mein festes Vertrauen!" Wie damals auf feindlicher Seite Hoch- und Uebermuth vorherrschten: auch dieses Königliche Wort und die damit verknüpfte Anordnung eines all­ gemeinen Bettages im Lande entging nicht dem hämischen Spott der Gegner.

Feigheit, hieß es, und armselige Frömmelei trete darin zu

398 Tage, und im Voraus stimmte man Sieges- und Triumphlieder an über unser schon so gut wie geschlagenes und vernichtetes Heer. Man erging sich im gewissen Vorgefühl, hier in unserer Hauptstadt als Sie­ ger zu hausen, den Frieden zu diktiren, und unsere Monarchie zu zer­ stückeln.

Aber allem hochmüthigen Spotte gegenüber theilte unser Volk

seines Königs Gefühle, und verstand die Sprache seines Königs.

In

ungewöhnlicher Menge strömten aller Orten

dem

die Gläubigen zu

geordneten Gottesdienste und unsere Gotteshäuser vermochten fast nir­ gends die Schaaren der Anbetenden zu fassen. dabei die Gemüther durchdrang, welche tief

Welch

tiefer Ernst

fromme Stimmung alle

erfüllte: davon gab die ganze Haltung den klarsten Beweis.

Und wie

daheim bei dem friedlichen Bürger, so waltete, nach zuverlässigen Zeug­ nissen, bei unserem Heere gleichfalls lebendige Frömmigkeit, wie sie sich bei manchem erhebenden Gottesdienst, wie sie sich in unvergeßlichen Feiern des heiligen Mahles aussprach. Nun wenn solche Gesinnung Frömmelei, wenn solch Suchen der göttlichen Gnade Feigheit ist, dann war unser Volk der Frömmelei, dann unser König und sein Heer der Feigheit verfallen. Aber wir preisen vielmehr den Gott aller Barmherzigkeit, indem wir eingedenk geblieben sind des Wortes: „Den Hoffärtigen widerstehet der Herr;

aber den Demüthigen gibt er Gnade."

Den gebrochnen

Frieden galts damals mit den Waffen in der Faust dem Feinde wieder abzuringen.

Dazu war erste Vorbedingung und Rüstung der Besitz

des Friedens mit Gott.

Aber nur wo die Demuth im heiligen Ernst

daö eigene Leben vor Gott richtet und über jedes Ungöttliche, das sie in solchem Gericht entdeckt, das Gemüth in die göttliche Traurigkeit der Buße versenkt, daß darin das Sündige verzehrt werde:

nur da

strömt die göttliche Liebe Versöhnung, den Frieden, den getrosten, hohen Sinn in die Seele. Nur wo die Demuth in dem lebendigen Bewußt­ sein erhält:

„Ohne des Herrn Hülfe vermögen wir nichts,"

und darum im ernsten, anhaltenden Flehen seinen Beistand begehrt: nur da durchdringt Gottes heilige Kraft von Oben her die Geister. Hochmuth macht blind, und wenn er heut das Herz mit frechem Trotz erfüllt, morgen läßt er es bei dem ersten Anlaß in hoffnungslose Ver­ zagtheit versinken.

Wir kennen sehr wohl die Vorzüglichkeit unserer

399

Waffen, die Trefflichkeit unserer Heereseinrichtungen, die vorwiegende Bildung, und darum auch die Kraft in unserem Heere und schlagen das wahrlich nicht gering an. Es ist das Alles vielmehr unser Stolz und unsere Freude. Aber, Geliebte, wenn bei dem Allen die aufrich­ tige Demuth lebendiger Frömmigkeit gefehlt hätte, wenn das Alles mit Hoffart und Stolz verknüpft gewesen wäre: wir wären wohl mit all den herrlichen Vorzügen schmählich zu Schanden geworden. Der heilige Gott hätte auch an uns sein Wort wahr gemacht: „Den Hoffärtigen widerstehet der Herr." Demuth erhält die Klarheit des Blickes, die Gegenwart des Geistes, die Kraft zu aller Mühe und allem Dulden, den ausharrenden, nie verzagenden Muth. In dieser Demuth der Frömmigkeit, stets den Frieden mit Gott und die Hülfe von ihm be­ gehrend, hat „unser Volk in Waffen" und auch daheim in den Werken des Friedens Alles wohl ausgerichtet, nur so ist es mit seinem Könige hochherrlich geschmückt aus dem schweren Kampfe hervorgegangen. Aber auch diesen Zug lebendiger Frömmigkeit, den Muth in Demuth, den inneren Frieden im Kriege hat Gott gegeben, Ihm dafür Ehre, An­ betung und Dank. Zu ihm die Bitte, daß er dabei uns ferner erhalte, so den Frieden im Gemüth uns wahre. So soll eS nach seiner Re­ gierung sein, für jeden künftigen Krieg, aber auch für die Werke des Friedens soll uns das Wort bleiben: „Mit Gott für König und Vater­ land." Dann bleibt uns auch das schöne Wort: „Uns, Herr, wirst Du Frieden schaffen, denn Alles, was wir ausrichten, das hast Du uns gegeben." II. Wir gehen an der Hand unseres Textes tiefer hinein in die verfloßnen Ereignisse. „Du hast uns den Frieden gegeben." Wie denn? Schon vor jeder Waffenprobe sahen die Feinde voll kühner Einbildung unseren König und Volk auf's Tiefste gedemüthigt, im Staube einen schmachvollen Frieden erbetteln. Siehe, wie entgegengesetzt der Erfolg! In kurzer Zeit stand unser Heer vor Wiens Mauern, des Winkes zum letzten gewaltigen Stoß gewärtig, um die letzten Grund­ festen jenes großen, mächtigen Reiches zu zertrümmern. Dort gewährte, nach seiner Großmuth, unser König den Feinden auf ihre demüthige Bitte den Frieden. Unsere Monarchie sollte, nach der Meinung der

400 Gegner zerstückelt werden, und siehe, fest in sich geschlossen, einigte sie sich herrliche Länderstrecken, treffliche deutsche Bruderstämme, und stand nach dem Kriege in einer Ausdehnung und Kraft da, wie nimmer zu­ vor.

Freilich jener deutsche Bund, welcher thatsächlich die Zerklüftung

zwischen den vielen deutschen Reichen, daS innere Zerfallen zwischen Regierung und Volk, die Schwäche nach außen hin pflegte,

welcher

jeden selbstständigen Aufschwung des Volksverkehrs, des Volkslebens, der Volkswohlfahrt, der deutschen Einheit und Einigkeit hemmte, ihm hat unser unö von Gott gewährte Friede das Grablied für die ewige Ruhe gesungen. Aber zugleich trat ein neuer, für's deutsche Vaterland allerdings noch beschränkter Bund in's Leben,

auf solchen Grundlagen ruhend,

daß, wenn das Heft nur mit fester, kräftiger Hand gehalten, wenn das Urrecht des Volkes, wie es in seinem Heile begründet ist, wenn heilige Gerechtigkeit nur entschieden gehandhabt wird, wenn wahre Vaterlands­ liebe waltet, daß er, dieser Bund dann schon jetzt in einer Kraft und Herrlichkeit dasteht, vor der jede auswärtige Macht das Gelüsten ver­ gißt, auch das kleinste seiner Rechte zu kränken, daß in seinem Innern sich die reichsten Quellen geistigen und irdischen Wohlergehens erschließen müssen, daß er auch den zur Zeit noch fern stehenden Bruderstämmen den sicheren, starken Schutz gegen jeden Angriff von außen gewährt, daß er mit seinem inneren Wesen und Leben in einer kurzen Zeit auch diese Bruderstämme

unter Preußens Szepter friedlich

sich gewinnen

und vereinigen wird, daß zur Wahrheit werden muß das Liedeswort: „Das ganze Deutschland soll eö fein!"

Wahrlich ein hochherr­

licher Friede für unser engeres und weiteres Vaterland! Daß ein solcher nicht ohne die glorreichsten Tage auf dem Schlacht­ felds errungen werden konnte, würde sich jeder, der es nicht wüßte, voll selbst sagen. Ja es war das die köstliche Frucht jenes ruhmvollen Krieges, wie mau treffend gesagt hat, von sieben Tagen auf Böhmens Gefilden. Ihr kennt die Ortsnamen, mit denen Preußens Ruhm fortan unauflöslich verknüpft ist, kennt jene Siege, unter der Führung unseres Kronprinzen, des Prinzen Friedrich Karl und der trefflichen Generale errungen, bis daß in der ungeheuren Schlacht bei Königgrätz unter

401 dem Oberbefehl des Königs selber die Armee des Feindes so gebrochen wurde, daß sie dem Preußischen Heere gegenüber nicht wieder zu stehen vermochte.

Ihr wißt, wie in einem Theil des nördlichen, im westlichen

und südlichen Deutschland eine verhältnißmäßig so

kleine Abtheilung

unseres Heeres dem Heere der verblendeten Bruderstämme gegenüber stets in bedeutender Minderheit Hannover,

Kur-Hessen,

Frankfurt,

Nassau und bedeutende Strecken der anderen deutschen Lande genommen hat,

nie zurückweichend, immer im Fortschritt begriffen,

Sieg an

die Königlichen Fahnen fesselnd.

immer den

Ihr habt in der langen

Reihe der Geschütze unter den Linden lange noch nicht die Hälfte der Siegestrophäen unseres Heeres gesehen. Seite auch nicht eine Kanone,

Dagegen

ist auf Preußens

nicht eine Fahne verloren gegangen.

Auch gar keines Erfolges hatten sich die Feinde zu rühmen. — Solche in der Geschichte doch ziemlich beispiellose Siege, denen der Friede für unser Vaterland folgte: nur der Tüchtigkeit unserer Krieger können wir sie zuschreiben.

vaterländischen

Doch, Geliebte, nicht daö, was

man am Krieger zuerst hervorzuheben pflegt, sei uns hier das Erste, sondern dasjenige, was man mehr bürgerliche, menschliche, im engeren Sinne deS Wortes christliche Tugend nennen möchte. Ohne diese wäre uns ja alle kriegerische Tüchtigkeit nur der nichtige, eitle Schmuck der Barbaren.

Aber auf der Seite unseres Heeres, und das ist der Grund

mit, wie für unsere Siege, so für unsere wahre Freude, war Gesittung und Bildung ächter Art im hohen Maße.

Ich will hier nicht Hin­

blicken auf die tapferen Anführer, bei denen wir es so schon voraus­ setzen, sondern, wie man sich auszudrücken pflegt, auf den gemeinen Mann.

Es ist mir mehrfach vergönnt gewesen, Briese unserer Solda­

ten, der. Söhne schlichtester Bürger, vom Kriegsschauplätze her zu lesen. Eben so bin ich vielfach mit den zurückgekehrten Kriegern, in den Lazarethen mit den Verwundeten, sowie mit den Gesunden in persönlichen Verkehr gekommen.

Bei allen solchen näheren Berührungen wurde ich

stets tief bewegt und wahrhaft erhoben. mir entgegengetreten, wie sonst nur

Ein Adel der Gesinnung ist

etwa in den edelsten Häusern.

Eine demüthige Ergebung und ein felsenfestes Vertrauen in Beziehung auf Gott, eine warme Innigkeit und heiliges Achtung für das erste Thomas, Predigten.

26

402

Heiligthum des deutschen Volkes, für die Familie, ein herzliches Mit­ gefühl der Nebe für die Einwohner der feindlichen Länder, selbst für die feindlichen Soldaten, sobald sie kampfunfähig geworden waren' Diese Liebe, diese ächte, schöne Menschlichkeit, wie sie sich so natürlich mit strenger Mannszncht verknüpfte, im Großen und Ganzen von un­ serem Heere geübt, ist sein herrlicher, unvergleichlich schöner Schmuck. Auf diesem Grunde strahlt erst die kriegerische Tüchtigkeit in ihrem vollen Licht, die beharrliche Kraft in der Ertragung unsäglicher Mühen und Lasten, die Freudigkeit zu jeder Entbehrung, die Unverzagtheit bei allen Qualen eines nagenden Hungers, eines brennenden Durstes, der unvertilgbare Muth und die unüberwindliche Tapferkeit bis in den Tod. O wie köstlich, daß in militärischer Tugend von dem Heldenkönig im Silberhaar, den Königlichen Prinzen und all den wackeren Führern bis zu dem letzten Soldaten herab alle auf unvergleichliche Weise ihre Schuldigkeit gethan haben, ohne je die christliche Liebe, die ächte Mensch­ lichkeit zu vergessen! Ja unser herrliches Volk in Waffen mit seinem Kriegsherrn an der Spitze hat es ausgerichtet, hat die großartigen Er­ folge erkämpft. — Freilich können wir hier nicht der herrlichen Söhne unseres Vaterlandes vergessen, die auf dem Schlachtfeld oder später im Lazareth den Tod für's Vaterland starben. Es stehen uns die zahlreichen verwundeten Brüder mit ihren Schmerzen, ihren Verstüm­ melungen vor unseren Augen. Die Thränen der Väter und Mütter, der Gattinnen und Bräute, der Brüder und Schwestern, die geflossen sind und noch fließen; all der Jammer, er will sich belastend auf unser Gemüth legen. Gewiß der tiefste Schmerz um das edle, vergossne Blut, er ist der gerechteste. Doch, Geliebte, wir trauern auch im ge­ rechten Schmerz nicht ohne Trost und Erhebung. Das Loos per Ge­ fallenen, es ist doch eigentlich das schönste für den Menschen. Den köstlichen Heldentod fiir's Vaterland sind sie gestorben, in der Liebe ihr Blut opfernd sind sie, mit der Krone des Lebens geschmückt, ein­ gegangen zu ihres Herren Freude. Ihre Wittwen und Waisen aber, und ebenso alle die Schwerverwundeten, wie groß ihre Leiden und wie gerecht ihr Schmerz: was sie auch verloren haben, es sind heilige, köst­ liche Opfer dem Ganzen, dem Volke dargebracht; für's Heil des Vater-

403

landes dulden, das ist Gnade von Gott. Und das Vaterland selbst, so hoffen wir zu Gott, wird es nie versäumen, ihnen auch durch die That seinen Dank zu bewähren. Dazu laßt uns nicht vergessen, daß es gilt, für hohe Güter auch das Höchste einzusetzen. Ohne diese herr­ lichen Opfer, die Preußen gebracht hat, hätten wir es nicht aus­ gerichtet, wäre das Gewonnene nicht wahrhaft unser Besitz. Den deutschen Brüdern, die jetzt mit unserem Preußischen Vaterlande ver­ einigt sind, ist diese Einigung noch neu, fremd, und darum ihnen theilweise widerstrebend. Das Blut unserer Bruder, auf den Schlachtfel­ dern in heiliger Vaterlandsliebe vergossen, wird der Kitt sein, der sie mit uns verbindet, wird über kurz oder lang mit gewaltiger Sprache zu ihren Herzen reden, daß es auch ihnen als Freude und Ehre gilt, uns anzugehören, mit uns in demselben engeren Volksverbande verknüpft zu sein. Darum tief wehmüthig, und doch mit hoher Freude gedenken wir selbst aller schweren Opfer; denn in ihnen liegt der leuchtende Beweis, daß nur unseres Volkes, vor Allem unseres Heeres Tüchtigkeit die großen herrlichen Erfolge, den ehrenvollen, hoffnungsreichen Frieden errungen hat. Aber wie wir uns alles trefflichen, heldenhaften Thuns erfreuen, wir können auch in dieser Freude nur demüthig sprechen: „Herr, Alles was wir ausgerichtet haben, das hast Du uns gegeben." Die unsäglich vielen Gefahren, wie sie über den Häuptern unserer Brüder im Kriege geschwebt haben, der Herr allein hat sie abgewendet. Er hat dem tapferen Ringen das Gelingen, den großen Mühen die Erfolge gewährt. Von ihm heißt es für jeden Kämpfer: „In wie viel Noth hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebrei­ tet." Und Alles, was an Tugend und Tüchtigkeit an unserem Heer und Volk zu Tage getreten ist, von Gott ist es demselben gegeben. Durch die fortgehende, stille, aber mächtige Wirksamkeit seines Wortes, durch die Gemeinschaft mit unserem Erlöser, durch alle Anregung, Er­ leuchtung und Belebung des göttlichen Geistes, der auch heut noch in unserem Volksleben die Stätte seiner Wirksamkeit hat, ist unser Volk geworden, was es ist, so daß es herrlich leuchtet unter allen Völkern der Erde. Wieder: „Gott allein die Ehre!" Wieder rufen wir dankend 26*

404

und.lobend: „Uns, Herr, hast Du den Frieden geschaffen, denn Alles was wir ausgerichtet haben, das hast Du uns gegeben." III. Noch eines Punktes haben wir indeß zu gedenken. Wo, Geliebte im Herrn, ein Volk zu einem öffentlichen Staatsleben in seinem Innern sich entwickelt hat, so daß aus seiner Mitte bei Gesetzgebung, Ordnung, Verwaltung lebendig mitgewirkt wird; da wird es nie an sich bekämpfenden Parteien fehlen, da wird es auch geschehen, daß ein­ zelne Strömungen des Volkslebens und einzelne Bestrebungen der Re­ gierung einmal gegen einander angehen und im geistigen Kampfe um den Sieg ringen. Geschieht das in ehrlicher Wahrhaftigkeit, aus wirk­ licher Vaterlandsliebe, auf dem gesetzmäßigen Boden und in den Schran­ ken der Ordnung; dann ist darin kein Schade, sondern es gehört recht eigentlich zur Gesundheit des Volkslebens, und fördert sicherlich, un­ mittelbar oder mittelbar, das Wohlergehen des Vaterlandes. Aber was wir während der letzten Jahre in unserem Staate erlebten, ging, wie es schien, schon ein gut Theil über solche Grenzen hinaus. Ein immer sich steigernder bitterer Kampf zwischen Regierung und Volksvertretung, so schneidende, gegenseitige Anklagen, so scheinbar drohend ein vollstän­ diger Bruch! Uns, Geliebte, will hier nicht ein Urtheil geziemen, auf welcher Seite das Recht, auf welcher das Unrecht lag. Hier, in from­ mer Gemeinschaft vor Gott, kommt es darauf an, daß jeder mit sich in das stille, heilige Gericht seines Gewissens geht, sich demüthigt und reinigt. Aber wie dem sei, welche Besorgniß mußte aus jenem inneren Streite erwachsen! Wer kennt nicht die Gefahren solcher Uneinigkeit? Welchem treuen Bürger und Freunde seines Vaterlandes mußte nicht bet mancher Gelegenheit das Herz bluten? Ja bei wem mußten nicht bange Sorgen höher und höher steigen, als bei diesem Streit im Innern immer gewisser die Aussichten auf Krieg hindeuteten! Wie gnädig hat Gott auch diese Besorgnisse zerstreut! Mit innerem Widerstreben ist König und Volk zum Kriege geschritten. Als aber der König rief, als aus seinem Munde ertönte: „Das Vaterland ist in Gefahr!" da war des bitteren Haders vergessen. Weß Standes, welchen Glaubens, welcher Partei die Wehrpflichtigen waren: sie kannten nur eine heilige

405 Pflicht: in aufopfernder Liebe zum Vaterlande, in Gehorsam und Treue gegen den König freudig Alles zu tragen, Blut und Leben einzusetzen. Ein und derselbe Geist beseelte das vereinte Volk in Waffen.

Und

daheim, welcher Parteistellung man auch angehörte, Alles einigte sich, die Söhne des Vaterlandes, die in heißen Kämpfen standen, nach Mög­ lichkeit zu unterstützen, den zurückgebliebenen Frauen und Kindern der Wehrmänner Schutz, Pflege, Unterhalt zu gewähren.

Und als wir

nun die Verwundeten unseres Heeres zurückkehren sahen, wie durchdrang der Wetteifer heiliger pflegender Liebe alle Schichten der Bevölkerung, welche Bereitwilligkeit, Zeit, Geld, Kraft zu opfern vom Königshause herab bis in die kleinsten Hütten! Wir dürfen vielleicht die Behauptung wagen, daß niemals die freie Liebe in einem Volke stärker, allgemeiner, segensreicher gewirkt hat, als in Folge jenes Krieges bei unserem, wie das auf's Schönste in dem Königl. Erlaß, den uns heute die öffent­ lichen

Blätter bringen, mit vollster Anerkennung

ausgesprochen

ist.

Schon daraus ergab sich auf's Klarste, daß bei uns hinter allem Streit eine unzerstörbare, lebendige Einheit zwischen König und Volk waltet, Einigkeit, den Gefahren nach außen, Einigkeit, den Bedürfnissen der Leidenden im Innern gegenüber.

Nehmet hinzu die Art, wie unser

König nach dem rühm- und glanzvollsten Kriege zurückkehrte.

Alles,

was er seither gesprochen hat, es athmete den Hauch ungeheuchelter Demuth und innigster Hingabe an das Wohl des Vaterlandes.

In

edelster Weise reichte er der Vertretung des Volkes die Hand des Frie­ dens und eben so würdig wurde sie von dieser ergriffen.

In lange

nicht gekannter Harmonie wurde wieder an die Lösung neuer großer Aufgaben gegangen.

So waren die Tage des Einzuges mehr noch als

ein glänzender Triumph über äußere Feinde, sie waren vielmehr der herrliche, schöne Ausdruck des wieder geschenkten Friedens, der wieder­ errungenen Eintracht im Innern, waren damit die öffentliche Verbür­ gung des Fortschreitens auf heilvoller Bahn im Innern, der Kraft nnd Stärke nach Außen.

Wir erkennen mit aufrichtigem Danke, was

von den verschiedensten Seiten zu diesem schönen Ergebniß geleistet ist, denn auch hier tönt es aus unserem Volke: Alles,

was wir aus­

gerichtet haben, das hast

gegeben.

Du, Herr,

uns

Das

406 schwerste Uebel, was es für ein Volk geben kann, der Krieg, ist für unS durch Gottes Gnade der Wecker des Schönsten, der Frömmigkeit, Treue und Liebe,

ist die schöpferische Ursache des Friedens, wie nach

Außen, so auch nach Junen geworden.

Der Name des Herrn sei da­

für von uns gepriesen! Aber, Geliebte, noch kommt cs darauf an, wie es genugsam an­ gedeutet ist, für unser Volk große herrliche Ziele zu erringen, an der Lösung heiliger Aufgaben zn arbeiten.

Immer wieder werden Gefahren

drohen, gegen welche es gilt, gewappnet zu sein und fest zn stehen. Neugewonnenes ist zu erhalten, zu pflegen, auszubilden.

Ja, das jetzt

und durch die Jahrhunderte hindurch Erworbene, es will täglich durch neue Treue und Hingabe erworben werden, wollen wir seines Besitzes uns erfreuen.

So geht billig unser Denken über in Geloben, und

unsere Gelübde haben sich umzusetzen in fruchtbares, segensreiches Thun. O, ihr verehrte Väter und Vertreter der Hauptstadt des Landes, alle ihr theuren Glieder dieser ältesten, ehrwürdigen Kirche und Gemeine in derselben, lasset uns wo möglich voranleuchten in gewissenhaftester Pflichterfüllung dem ganzen Lande!

Hinein denn in die neue Zeit, die

uns mit dem Frieden ihre neuen Aufgaben stellt! Hinein, daß wir alle­ zeit in lebendiger Frömmigkeit zuerst den Frieden mit Gott suchen, und uns seiner Führung und Hülfe versichern.

Die Liebe Christi zu uns

und die unsere zu ihm sei die Quelle unseres Lebens, und bewähre sich als ächt und wahr in allen Leistungen ächter, edler Sittlichkeit. Mit neuem, beharrlichen Fleiß und Eifer in unserem Beruf, mit ern­ stem, weisem Haushalten über alle Güter des Lebens, und doch stets mit frischer Freudigkeit zu jedem Opfer der Liebe für das Wohl der Gesammtheit laßt uns betreten die neue Bahn!

Laßt uns gegen das

Gesetz und die Träger des Gesetzes den Gehorsam üben ohne Kriecherei, Schmeichelei, Falschheit und Eigennutz!

Laßt uns bewahren männliche

Selbstständigkeit und Freiheit ohne Willkür, sorgsam beharrend in den heiligen Schranken der Ordnung und Sitte! Der Ehrenschmuck unseres Volkes bleibe der kühne Muth in frommer Demuth, preußische, deutsche Tapferkeit mit Gerechtigkeit und Liebe zum Frieden innig verbunden! Ja in der neuen Zeit bleibe uns thatsächlich für unser Leben der alte

407 Wahlspruch:

„Mit Gott für König und Vaterland!"

wie wir heut in

die nächste Vergangenheit zurückschauend

Dann, sprechen:

„Uns, Herr, hast Du Frieden geschaffen, denn Alles, was wir ausgerichtet haben, das hast Du uns gegeben": so bleibt uns für die Zukunft unseres Volkes und Vaterlandes als beständig sich erfüllende Weissagung das Urwort nnseres Textes: UnS Herr, wirst Du Frieden schaffen, denn Alles, was wir ausrichten, das hast Du unS gegeben. haben:

So schließen wir preisend, wie wir begonnen

Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir

Gutes gethan hat, der dir alle deine Sünden vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben von dem Verderben erlöset und dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit.

Amen.

Feftpredigt, gehalten bei der Jahresversammlung des Waldcckischen Hauptvereins der evangelischen Gustav-Adolphs-Stiftung zu Mengeringhausen am 20. Juli 1864. Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesu Christo!

Text: 2. Korinther 6, 9 und 10. Als die Unbekannten und doch bekannt, als die Ster­ benden und siehe, wir leben, als die Gezüchtigten und doch nicht ertödtet, als die Traurigen, aber allezeit fröhlich, als die Armen, aber die doch viele reich machen, als die nichts inne haben und doch Alles haben. „Äcks die Unbekannten und doch bekannt" — nur zum Eingänge und ganz vorübergehend laßt mich, Geliebte im Herrn, dies Wort auf unser gegenseitiges persönliches Verhältniß anwenden. Ihr fast alle habt bis dahin nie mein Antlitz geschaut, nicht von mir gehört und ebenso haben meine Augen nicht in die euren geblickt. „Unbe­ kannte" sind wir uns gewesen. „Und doch bekannt!" — Wie hätte ich sonst den Muth, in dieser Weise unter euch aufzutreten, wie würdet ihr mich sonst an dieser Stätte dulden können und wollen! Ich kenne euch liebe Brüder und Schwestern. Oder irrte ich mich? Seid ihr nach eurem inwendigen Menschen nicht solche, die mit dem Fühlen, Denken und Streben ihres Geistes den lebendigen, heiligen, allwalten­ den Gott gefunden, die in Jesu Christo den einigen Mittler und Ver-

409 söhner gewonnen haben? Seid ihr nicht lebendige Glieder der gläubigen Gemeine, des geistlichen Leibes Jesu Christi? Ihr kennet mich.

Oder

wüßtet ihr nicht, daß, wie gering ich auch sei, ich doch bin ein Diener und Glied evangelischer Kirche, innerlich und äußerlich bestimmt, die Tugenden Dessen zu verkünden, der uns berufen hat von der Finsterniß zu seinem wunderbaren Licht? Ja, wahrlich „doch bekannt" und ich weiß, wie ich euch als trauten, lieben Freunden den brüderlichen Frie­ densgruß zugerufen habe, so ist auch mir derselbe aus euren Herzen entgegengekommen.

Dies brüderliche Verhältniß gewinnt an Innigkeit

durch den schönen Zweck, der uns hier vereinigt.

Der Gustav-Adolphs-

Veretn dieses deutschen Landes feiert heut hier sein Jahresfest, der Gustav-Adolphs-Verein, in welchem die evangelische Kirche sich aufgemacht hat, denjenigen ihrer Glieder und Gemeinen, welche unter Andersgläu­ bigen im harten Druck der Noth der unentbehrlichsten Mittel der Er­ bauung und Pflege des Gemeindelebens entbehren, erhaltenden, rettenden Dienst zu leisten.

Wir als evangelische Christen wissen nuS in leben­

diger Weise in diesen schönen Verein hineingestellt, der auf der Wahr­ heit ruht, daß vor Gott nichts gilt als der Glaube, der in der Liebe thätig ist.

Stärken wir uns jetzt unter dem Beistand der göttlichen

Gnade zu der Thätigkeit in unserem Verein, damit zugleich zu dem rechten Leben in unserer evangelischen Kirche.

Diesem Zwecke dürfte

es dienen, wenn wir einen möglichst klaren Blick in die Ver­ hältnisse,

in das Sein und Leben

unserer evangelischen

Brüder in der Zerstreuung uns zu verschaffen suchen. Unser Text gibt uns dazu eine passende Anleitung.

Uns kommt es natürlich

heut nicht auf eine strenge, dem Zusammenhange gemäße Auslegung an, sondern indem wir die Ausdrücke, mit denen der Apostel das Leben der Christen im ersten Jahrhunderte malte, auf unsere zerstreuten evan­ gelischen Brüder anwenden, wird es uns lebendig vergegenwärtigt 1) was diese unsere Brüder waren und theilweise noch sind ohne uns, 2) was sie zum Theil schon wurden und immer mehr werden sollen durch uns. Gott segne mit dem Beistände seines Geistes unsere Betrachtung. I.

Also was waren unsere evangelischen Brüder in der Zerstreuung,

was sind sie zum Theil noch ohne uns?

Wir müssen zuerst mit Aus-

410

drücken unseres Textes antworten: „Gezüchtigte," „Traurige." O eine Geschichte unsäglichen Jammers liegt hinter ihnen! Um ihre Lage zu begreifen, nur kurze, geschichtliche Andeutungen über die Ver­ gangenheit. Die leeren Schlacken der Menschensatzungen mit einem falschen Glanz der Politur und einem trügerischen Gepräge durch eine hochmächtige, kirchliche Autorität geschmückt, wurden dem christlichen Volke so lange als alleinige Schätze des Heils dargeboten. Da fuhr endlich der deutsche Bergmannssohn und seine Genossen wieder hinab in den Schacht der heiligen Schrift und förderte das lautere Gold evangelischer Wahrheit an das Tageslicht, um es seinem Volke zu rei­ chen. Mit dem Meßopfer, das der Priester Gott zu versöhnen an dem Altare brachte, mit dem Ablaß von Rom her, mit der Fürbitte der Heiligen auf der einen Seite, mit den gottesdienstlichen Uebungen be­ stimmter Fasten, regelmäßig wiederkehrenden Reihen von Gebeten, mit Selbstkasteiungen auf der anderen Seite sollten erwachende, um das ewige Heil besorgte Gewissen beschwichtigt und zum Frieden und zur Kraft eines göttlichen Lebens geführt werden. Ja so geführt gingen die einen den Weg sträflichen Leichtsinns, die anderen den dunkeln, nächtigen Weg in das Verzweifeln hinein. Da wurde endlich durch die gottbegeisterten Männer in Deutschland und der Schweiz und von Frankreich her wieder hochaufgerichtet das Banner des Evangelii. Die Liebe, die freie Gnade Gottes in Christo für alle geistlich Arme, Leid­ tragende, nach Gerechtigkeit Hungernde und Durstende, die freie Gnade Gottes im Glauben ergriffen und angeeignet, das die rechte, einige Quelle des Heils! Mit welcher Sehnsucht nahm alles Volk in deutschen Landen diese göttliche Heilsbotschaft auf, wie beeilte sich Alles, sich unter die Fittiche der göttlichen Liebe zu sammeln! Nicht allein hinauf nach dem Norden, nach Brittannien, Schweden, Norwegen, Dänemark, nicht allein hinein in das nordöstliche Deutschland drang die Reforma­ tion der Kirche. Am Rhein, wie an der Donau lehrte, betete, sang man immer mehr und mehr evangelisch. Polen, Böhmen, Ungarn, Siebenbürgen, überhaupt die österreichischen Lande wurden zum großen Theil von evangelischer Predigt erfüllt, vom evangelischen Geiste erobert. In Frankreich waltete ein mächtiger, Sieg verheißender Kampf der

411 Geister. Selbst Italien fühlte sich von gewaltigen, evangelischen Be­ wegungen durchzuckt. Ja Spanien und Portugal blieben vom evange­ lischen Einfluß nicht unberührt. Da war eö einen Augenblick in der Geschichte Deutschlands und Europas als wolle unser gesummtes Vater­ land, ja unser ganzer Welttheil den wieder offen gelegten Pfad des Heiles betreten und sich unter das helle Licht des göttliches Wortes, unter die Gnade Gottes in Christo Jesu stellen. Aber „der alte böse Feind" von dem Luther in dem Kriegsliede der Reformation gesungen hatte, besann sich, faßte sich in sich selber zusammen, erhob sich, um den Kampf gegen die Geister mit fleischlichen Waffen zu streiten und stellte sich mit „groß Macht und viel List" auf die Wahlstatt. Wie in Ita­ lien und Spanien die Inquisition in ihren finsteren Kerkern evangelische Christen auf's Grausamste folterte und ihnen die Kerkerthüren nur öffnete, um sie auf die Scheiterhaufen zu führen, wie im sechszehnten Jahrhundert die heftigen Verfolgungen in Frankreich ihren grauenhaften Gipfel in den entsetzlichen Metzeleien der Pariser Bluthochzeit gewannen, wofür jener Oberpriester zu Rom in der Peterskirche ein feierliches „Herr Gott dich loben wir" sang, wie im siebzehnten Jahrhundert jener Ludwig der XIV., eben so glänzend wie leer und eitel, eben so bigott wie eigentlich gottlos, nach vielen Quälereien durch die Aufhebung des Ediktes von Nantes 400,000 rechtschaffene Bürger aus der trauten, lieben Heimat in das Elend der Verbannung trieb, die zum Theil in unserem Preußen Aufnahme fanden, wie in Ungarn durch einen Ge­ waltstreich auf einmal den Evangelischen 400 Kirchen entrissen und die Die­ ner des Wortes in's Elend gejagt wurden, so daß man seiner Zeit 30 evan­ gelische ungarische Prediger zu gleicher Zeit bei Neapel auf den Galeeren angeschmiedet sah, wie dort mit Prügeln zur römischen Kirche getrieben wurde, wie noch im achtzehnten Jahrhrmdert in Salzburg fromme, fleißige, treue Unterthanen um ihres evangelischen Glaubens willen erbarmungs­ los von Haus und Heerd vertrieben wurden, daß ihr Klagelied: „Ich bin ein armer Exulant, Also thu' ich mich schreiben, Man thut mich aus dem Vaterland Um meinen Glauben vertreiben u. s. w."

mit seinen einfachen Worten allenthalben gefühlvolle Herzen auf's Schmerz-

412 lichste ergriff, wie durch unseren König allein 30,000 arme Vertriebene erst eine neue Zufluchtsstätte gewannen, wie die Geschichte Schlesiens, Böhmens, Polens u. s. w. Aehnliches zu berichten hat, das sei hiermit eben nur angedeutet.

Gewiß aus dieser Geschichte des Jammers her­

gekommen sind unsere evangelischen Brüder in katholischen Landen auf'S Vielfachste die Gezüchtigten, sind in Elend und Herzeleid hinabge­ stoßen in vollstem Maaße die Traurigen. So sind sie aber auch „die Armen," „die nichts intte ha­ ben," geworden.

Es waren einst in Ungarn, in Polen, in Böhmen,

in Frankreich grade die Gebildeten, die edlen Geschlechter, die Reichen gewesen, welche sich vorzugsweise dem Licht des Evangelii zugewendet hatten.

Ach als die Verfolgungen nun hereinbrachen

und wenn auch

in verschiedener Weise gehandhabt, doch länger als ein Jahrhundert anhielten,

wie bewährte sich doch da des Erlösers ernst warnendes

Wort:

„Wie schwerlich werden die Reichen in das Reich Gottes kom­

men!"

Grade die edlen Geschlechter, die sich des Reichthums an Geld

und Bildung rühmten und berufen waren, dem Volke bewährte Führer und der Gemeine starke Säulen z» sein, sie gaben um Ehre und Gut, um das Linsengericht der Welt ihren Glauben, ihre evangelische Freiheit dahin und traten zurück unter die feindlichen Fahnen, während so viele Arme auch ihre letzten Heller, ihr Alles opferten, um nur nicht Scha­ den an ihrer Seele zu nehmen. gestellten und Begüterten,

Die wenigen aber unter den Hoch­

welche Treue hielten,

wurden durch viel

Druck, durch manche harte Maßreglungen ihres Gutes, ihrer Stellung, ihres Einflusses beraubt und zu den äußerlich Armen herabgedrückt. Dazu waren den Evangelischen ihre Kirchen geraubt oder verwüstet, ihre Schulen geschlossen, ihre Lehrer und Diener des Wortes verjagt. Arm, blutarm waren sie geworden.

Ja als eine mildere Zeit herein­

brach und vor ihrem Lichte der finstere Glaubenshaß immer mehr weichen mußte, als es den zersprengten evangelischen Brüdern und Gemeinen vergönnt wurde, sich wieder zu sammeln, Kirchen und Schulen zu er­ richten, Lehrer und Diener des Wortes anzustellen, durch ihre bittere irdische Armuth wurde es ihnen unmöglich, von der besseren Zeit Ge­ brauch zu machen.

Bei ihrer völligen Mittellosigkeit war es als wäre

413 die erlangte Freiheit für sie nur ein bitterer Spott.

Auch jetzt noch

schmachteten sie weiter nach der gemeinsamen Erbauung aus dem Evangelio, nach der gemeinsamen Stärkung durch geistliches, liebliches Lied und Gemeindegebet! Auch jetzt noch sahen sie mit tiefstem Schmerz ihre Kinder verurtheilt, in ihren zarten Jahren den schwersten Versuchungen zum Abfall in römisch-katholischer Schule ausgesetzt zu sein! Auch jetzt noch blieb es ihnen unmöglich, in der stiftungsmäßigen Feier des heili­ gen Abendmahls ihre Gemeinschaft mit Christo, ihre brüderliche Gemein­ schaft unter einander zu erhöhen und zu beleben! Malt euch eine Scene in einer dortigen evangelischen Familie aus.

Ein Vater, eine Mutter,

die mit aller Treue und Liebe ihre Kinder erzogen und sie zum Herrn geführt haben, liegen auf ihrem letzten Krankenlager, vor ihnen ihr letzter, heißer Kampf auf Erden.

Da kommt von den erbleichenden

Lippen mit zitternder Stimme ausgesprochen der Wunsch: Ach daß ich noch einmal mich in der evangelischen Feier des heiligen Abendmahls erquicken und stärken könnte, um dann so mit des Glaubens Kraft und Freudigkeit die Bitterkeit des Todes zu überwinden! Unmöglich aber ist eS den liebenden, dankbaren Kindern diesen letzten Wunsch des Vaters, der Mutter zu erfüllen.

O wie mag ihnen das in die Seele schneiden!

Gewiß, wir müssen bekennen: Unsere evangelischen Brüder waren, sind noch zum Theil „die Armen," „die nichts inne haben." Mit unserem Text sagen wir von ihnen weiter, sie waren „die Sterbenden."

Wollten wir aber derer gedenken,

die in früheren

Jahrhunderten den Zeugentod für ihren Glauben erlitten, wir würden sie am wenigsten mit diesem Ausdruck bezeichnen, wir

würden

uns

vielmehr erinnern, wie die alte Kirche den Todestag eines GlaubenSzeugen seinen Geburtstag nannte.

Auch wir preisen als die ewig Le­

bendigen diejenigen selig, welche für ihren Glauben ihr Leben als Opfer dargebracht haben.

Und wenn wir in die innere Lebensgeschichte so

mancher unserer Brüder und Schwestern, die um ihres evangelischen Bekenntnisses willen Schwerstes zu tragen hatten, hinein sehen könnten, wir würden mit innigem Dank die göttliche Gnade preisen,

wie sie

sich an und in ihnen verherrlichte und sie im Leben und Sterben des ewigen Lebens theilhaftig machte.

ES kommt hier ein Anderes

414

in Betracht. Ueber die religiöse und sittliche Beschaffenheit der Evan­ gelischen in der Zerstreuung sind nämlich oft sehr schwere Klagen und Anklagen laut geworden. Manchmal floß dergleichen aus Böswilligkeit und Verleumdungssucht. Aber der Wahrheit die Ehre! Nicht selten bietet der sittliche Zustand der Evangelischen in der Zerstreuung ein betrübendes Bild. Dürfen wir uns aber darüber wundern? Seit Jahrhunderten des evangelischen Gemeindelebens beraubt, ohne Kirche und Schule, ohne Lehrer und Diener des Wortes, ohne Predigt und Feier der Gnadenmittel mußte da nicht wie mit Nothwendigkeit sich das evangelische Gemeindebewußtsein, der Glaube an den Erlöser, die innige Liebe, die Gerechtigkeit, der Ernst in der Heiligung mehr und mehr aus den Herzen und Häusern verlieren? Wir müssen es bekennen, wie unser deutsches Vaterland mancher seiner ausgewanderten Söhne sich nicht rühmen kann, wie manche Deutsche in Paris, in Amerika, in Australien in tiefe Versunkenheit geriethen, so geht es unserer evan­ gelischen Kirche auch mit manchen ihrer Kinder in der Zerstreuung. O noch in den letzten Jahren sind selbst in der Provinz Preußen Evan­ gelische in den dortigen katholischen Kreisen gefunden, deren geistiges, re­ ligiös-sittliches Leben in einer Weise verkommen war, daß man nur sagen konnte: Wenn nicht geistlich Todte, so doch „Sterbende" haben wir vor unseren Augen. Wollen wir aber diese unsere manchmal dem verlornen Sohn nicht unähnliche Brüder anklagen, um uns ihnen zu entziehen? Das sei ferne! Vielmehr gegen uns selbst haben wir die Anklage zu richten. Die evangelische Kirche, wo sie die Freiheit des Lebens und die Fülle irdischen unb. geistigen Gutes genoß, hat an ihre Brust zu schlagen und im Sack und in der Asche Buße zu thun. Denkt euch, Geliebte, ein von Gott reichgesegnetes, hochbegütertes Haus, denkt euch, wie ein oder mehrere Glieder desselben, was namentlich in anderen Ländern wohl vorgekommen ist, in die Hände der Räuber gefallen und von denselben in sicherem Versteck und harter Knechtschaft gehalten werden und wie nur gegen die Erlegung einer bestimmten Summe ihre Freilassung in Aussicht gestellt wird! Eltern, Geschwister kennen die unglückliche Lage ihrer Kinder, ihrer Brüder, wissen, wie die armen Gefangenen auf sie

415 hoffen, nach ihrer Hülfe schmachten, vermögen leicht das Lösegeld zu zahlen.

Aber in der eigenen Behaglichkeit und in ihrer Mammonskiebe

ist ihnen auch geringes Opfer für des eigenen Hauses Kinder zu hoch und als wären sie Fremde, lassen sie dieselben in ihrem Elende ver­ kommen!

Wenn so den Armen Jahr auf Jahr in ihrer verlassenen

Lage verrinnt, ohne daß Eltern- und Bruderliebe das Geringste für sie thut, müssen sie nicht alles Vertrauen zum Vaterhause einbüßen, wird nicht jedes geistige Band, welche sie an dasselbe knüpfte, zerreißen? — Ach unsere evangelische Kirche hatte Kinder, gefesselt von Elend, Jam­ mer und Noth;

aber sie hat das Klagen und Schreien derselben nicht

gehört, sie hat die Todwunden am Wege liegen lassen und dem Ver­ derben Preis gegeben, sie hatte kein Oel und keinen Wein der Liebe, um die brennenden Schmerzen in den tiefen Wunden zu lindern, es war, als wäre alles Erbarmen in ihr erstorben! Freilich meinte sie, sie habe Wichtigeres zu thun. Um Glaubenssatzungen mußte im bittersten Hader gestritten werden, es galt im Innern den Bruderkrieg, die Feindschaft zwischen Brüdern zu verewigen, es galt, diese Brüder für Fremde zu erklären und als Fremde aus jeder Gemeinschaft hinauszustoßen!

So

wurden und blieben dann nur zu natürlich die eigenen Kinder in der Ferne „die Unbekannten," um die sich Niemand mehr bekümmerte. Darum aber auch, was an geistiger Verkommenheit, an geistigem Tode hier und dort bei Evangelischen in der Zerstreuung vorkommen sollte, die evangelische Kirche bei uns hat's verschuldet, indem sie ihre Kinder, ihr Fleisch und Blut sich zu Unbekannten werden ließ.

Ueber ihren

Glaubenshader hatte sie eben den Glauben verleugnet und die Liebe verlassen. So, geliebte Freunde, sind unsere Brüder in der Zerstreuung ohne uns, ohne die helfende Liebe der evangelischen Kirche geworden „die Gezüchtigten, die Traurigen, die Armen,

die nichts

inne haben, die Sterbenden, die Unbekannten."

II.

Hat sich unS aber, meine Brüder und Schwestern, ein Bild

des Jammers vor unseren Augen entrollt, wir sind tief gebeugt; denn, wie wir'S uns sagten, aus demselben spricht eine Anklage in beredter, eindringender Weise wider uns, unsere Schuld wird uns zum Bewußt­ sein gebracht. Aber wir preisen den Gott, der uns thatsächlich tröstet.

416 durch dessen Gnade wir sprechen können:

Es hat angefangen, anders

zu werden und uns, unseren Verein hat er sich zum Werkzeuge heilsa­ mer Umwandlung erwählt.

Wir blicken auf unsere evangelischen Brü­

der in der Zerstreuung, was sie unter göttlichem Beistand und Segen durch uns geworden sind und immer mehr werden sollen. Unbekannte, wir dürfen jetzt sprechen:

Sie waren

„Und doch bekannt."

Ver­

setzt euch aber mit mir im Geiste zunächst auf das Schlachtfeld bei Lützen, wie es am 6. November 1832 eine so ansehnliche Schaar wür­ diger Männer aus allen Gauen Deutschlands auf sich versammelt sah, welche den hier vor 200 Jahren erfolgten Tod Gustav Adolph's in so tief ergreifender Weise feierten.

Wer war dieser Mann,

dieser

fremdländische König, daß den besten Söhnen Deutschlands sein Gedächt­ niß so heilig war.

Theure Freunde, in unserem deutschen Vaterlande

waren zu seiner Zeit in einem fürchterlichen, volle Vernichtung drohen­ den Religionskriege alle Heere der Evangelischen besiegt und nieder­ geworfen. gewalt.

Aller Orten triumphirten die Römischen mit großer Ueber„Es ist aus mit der evangelischen Kirche Deutschlands," —

so schien nach Gottes Rathschluß der schwere Schicksalsspruch zu lauten. Was konnten die armen in den Staub getretenen Evangelischen Deutsch­ lands für Schwedens König und Volk sein und bedeuten? Sie sprachen eine fremde Sprache, hatten andere Gesetze, Reichsordnungen und Sitten und die Reiche waren nicht nur durch Land, sondern selbst durch Mee­ resarme geschieden.

Da konnten unsere Vorfahren den Schweden doch

als Fremde, als Unbekannte gelten. Helden klang es:

Aber in der Brust des königlichen

„Und doch bekannt."

„Mit Dir haben sie den

Einen Glauben, die Eine Liebe Christi ist ihr und Dein Trost im Leben und Sterben, mit Dir sind sie die Kinder des Einen Vaters, die Genossen des Einen geistlichen Hauses, Schwestern."

sind Deine Brüder und

So stieg er mit einem kleinen aber frommen und tapfern

Heere herab in die deutschen Gefilde und setzte für „die Bekannten" seines Herzens sein Gut, seine Ehre, sein Alles ein, warb mit seinem Blute und Leben um seiner Glaubensgenossen Freiheit, Recht, um ihr zeitliches und ewiges Heil. Und weil aus dem Herzen und dem helden­ haften Thun des Königs eS herausklang:

„Und

doch bekannt;"

417

darum hat ihn Gott erwählt und gesegnet, daß das Vorhandensein der evangelischen Kirche in Deutschland, ihr heiliges Recht, ihr inneres und äußeres Wohlergehen aus seinem Leben und Sterben gewissermaßen von Neuem erwuchs. Da begreifen wir es, welch' inniger Dank bei jener Gedächtnißfeier von Lützens Schlachtfeld zu Gott emporstieg, wie erhebend und ergreifend solche Gedächtnißfeier auf die Versammelten wirkte! Aber war es nicht natürlich, daß bei solcher Feier man sich erinnerte, wie auch heut noch tausend und aber tausend evangelische Glaubensgenossen im tiefsten Elende seufzen, wie bisher Niemand um sie sich gekümmert hatte, wie sie als völlig Fremde, als „Unbekannte" gegolten hatten? Da brannte es den evangelischen Männern in ihren Gewissen, da hat sich das Gefühl heiliger Schaam von jenem Punkte aus in evangelischer Kirche fortgepflanzt, da ist immer weiterhin die Er­ kenntniß gläubiger Liebe durchgebrochen: Unsere Brüder in der Zerstreming sind mit uns Glieder an dem Einen Leibe Jesu Christ; sind Fleisch von unseren: Fleisch, Bein von unserem Bein, Geist von unse­ rem Geist, sind mit uns die Genossen des Einen Gotteshauses, der Einen evangelischen Kirche. Es würde sich jetzt unter uns ein Jeder aufs Tiefste schämen müssen, wollte er die Evangelischen in der Zer­ streuung als Fremde und Unbekannte, die ihn nichts angingen, bezeich­ nen. Sie sind uns in die nächste geistige Nähe gerückt und wenn wir mit dem leiblichen Auge auch nie ihre äußere Gestalt gesehen haben, wir bekennen uns zu ihnen mit dem Wort gläubiger Liebe: „Und doch bekannt." „Bekannte" und Hausgenossen sind uns unsere Brüder wieder geworden, wohlan so' gilt für uns in Beziehung auf sie das apostolische Wort: „So jemand die Seinen, sonderlich seine Hausgenossen, nicht versorget, der hat den Glauben verleugnet und ist ärger denn ein Heide." Wie sich aber die evangelische Kirche in unserem Verein auf­ gemacht hat, ihre armen zersprengten Glieder zu suchen und zu sehen, ob und wie ihnen zu helfen sei; — ja sie hat dieselben gefunden als aus viel Trübsal hergekommen, als schwer „Gezüchtigte," theilweise selbst als „Sterbende." Aber wie wird es nun so bald anders. Laßt euch wieder ein Bild gefallen. Ein Kind ist auf einem Gange Thomas, Predigten. 27

418

ohne die Eltern in die Wildniß eines Waldes hineingerathen und hat sich verirrt. Im ängstlichen rathlosen Irren durch den weiten Wald schwinden Stunden um Stunden, ein Tag und wieder ein Tag u. s. w. Kein Dach, kein Mensch, kein nährendes Brod, kein erquickender Trunk, nichts als die weite, öde Heide! Da will die letzte Kraft versagen. Das Kind bricht zusammen und in hoffnungslosen Seufzern, die nach oben dringen, fühlt es sich vom Fittich des Todes umrauscht. Doch wie das Auge brechen, wie das Herz aufhören will zu schlagen, da im letzten Augenblick kommen die rastlos suchenden Eltern herzu. Aus dem Auge des Vaters und der Mutter leuchtet wieder die tiefe, treue Liebe in die brechenden Augen des Kindes hinein und so wenig es sein mag, doch etwas nährende Erquickung hat die Elternhand in des Waldes Wildniß mitgebracht. Es bedarf für den Augenblick nicht mehr. Schon in die Elternaugen voll Liebe zu schauen, von den treuen Händen sich erfaßt und geliebkos't fühlen — es ist genug! — eine neue Kraft des Lebens durchströmt das Kind, wie es schon ein sterbendes war. Es ist nicht ertödtet, siehe es lebt! so jubeln die Eltern. In dem Bilde habt ihr die Geschichte mancher evangelischen Glaubensgenossen, ja mancher evangelischen Gemeine. Durch Jahrhunderte hindurch des Brodes, das vom Himmel gekommen ist, des lebendigen Wassers, das von Christo her entspringt, entbehrend, aller christlich kirchlichen Ge­ meinschaft beraubt und so wie in die Wüste verstoßen wurden sie immer mehr arm am evangelischen Bewußtsein und Glauben, kamen näher und näher dem geistlichen Tode, erschienen als die Sterbenden. Ver­ geblich hatten sie Jahrhunderte hindurch nach der Hülfe ferner reicher Glaubensgenossen ausgeschaut. „Es ist wohl eine trügerische Sage," so mußte es in ihren Herzen lauten, „daß wir noch evangelische Brüder haben!" Da, wie jener Mann Gottes einst geistig gebrochen unter dem Wachholder lag, so seufzten auch sie: Es ist genug Herr, wir sind allein übrig geblieben, so nimm' nun unsere Seelen! Da endlich unerwartet wie in letzter Stunde ein tröstendes Wort, ein erstes Darreichen der helfenden Hand durch den Gnstav-Adolphs-Verein! Wie kehrt nun so plötzlich frisch und fröhlich neues Leben in Diejenigen zurück, welche sich schon wie von den eiskalten Armen des Todes umschlungen fühlten.

419

wie wiederholt sich an ihnen das Bild beim Hesekiel von dem Felde mit den todten Gebeinen, welche sich wieder mit Fleisch und Blut be­ kleiden und im neuen, schönen Leben wandeln! Wir sind „nicht ertödtet, siehe wir leben," so klingt es bei ihnen im heiligen Dank. Wenn aber jenes Kind nach den ersten, wenigen Bissen Brodes, nach dem ersten labenden Trunk unter den Küssen und liebevollen Streicheln der Eltern sich an den Busen der Mutter drückt, o welch' Wonnegefühl nach all' der ausgestandenen Angst, nach all' den namen­ losen Schmerzen in seiner Seele! Und wenn jene armen Brüder in der Ferne nun erfahren, daß es hier noch eine Liebe gibt, 'die ihrer gedenkt, für sie betet, für sie handelt, wenn bald eine erstehende Kirche, bald eine neugebaute evangelische Schule, wenn hier ein Reiseprediger, der den Zerstreuten wieder lebendig den Trost des Evangelii entgegen trägt, dort ein Confirmandenhaus, das aus weiten Kreisen die armen, hungernden und verkommenden evangelischen Kinder unter seinem gast­ lichen Dach aufnimmt, wenn dies und Anderes ein lebendiges, unum­ stößliches Zeugniß von der gläubigen Liebe in der Mitte der evangelischen Kirche ablegt, ach wie werden da ihre Herzen so selig! „Es gibt also doch eine brüderliche, evangelische Liebe, die unserer nicht vergißt, es gibt eine lebendige, gläubige evangelische Kirche — o so stehet erst recht fest die treue Liebe der Gottheit, die uns nie versäumt noch verläßt, das wird ihnen so recht fest und gewiß und „allezeit fröhlich" lernen sie wieder mit den Liedern der Väter jubeln: „Lobe bett Herrn, den mächtigen König der Ehre» u. s. w." „Du meine Seele singe, Wohl auf und singe schön tt. s. tu." „O daß ich tausend Zungen hätte Und einen tausendfachen Mund, So stimmt ich damit um die Wette Aus allertiesstem Herzensgrund Ein Loblied nach dem andern an Von dem, das Gott an mir gethan."

* Wie sollten sie aber auch nicht? Sie waren wohl arm, aber nun wissen sie sich wieder überaus reich. Gottes Liebe gehört ihnen, das wird ihnen durch treue Bruderliebe versiegelt und nichts kaun sie schei­ den von der Liebe Gottes in Christo Jesu. Die Gemeinschaft gläubiger Liebe ist auch ihr Theil, darum auch ihnen ist mit allen rechten Christen

420 das ewige Erbe bereitet.

Geringes Geld ist es, meine Geliebten, das

der Gustav-Adolphs Verein versendet, aber weil das in ihm der Glaube, der in der Liebe thätig ist, vollbringt, so ist in seiner irdischen Gabe ein himmlischer Schatz eingeschlossen.

Durch die Liebesthätigkeit

des

Vereins wird dort draußen der Glaube, der gerecht und selig macht, die Liebe, durch welche den Gläubigen alle Dinge zum Besteu dienen, geweckt, genährt, geläutert, daran reich geworden sind die, welche vorher nichts ituie hatten, solche, welche nun „Alles haben."

Ja, was

mehr ist, bis dahin waren sie die „Armen," nun sind und werden sie die, welche „viele reich machen."

In ihren neugegründeten Schulen

können sie fortan ihren Kindern die lautere Milch des Evangelii reichen lassen.

Als in sich gesammelte evangelische Gemeinen, die wieder ihr

Gotteshaus, ihr Predigt- und Lehramt besitzen, vermögen sie ihren ein­ zelnen Gliedern zu bieten, was diese bedürfen, Belehrung den Irrenden, Mahnung und Reiz den Lässigen, Aufrichtung den Strauchelden, Tröstung den Trauernden, Erquickung ewigen Lebens den Sterbenden. aus unserer Mitte ein Kind rechtschaffener

Ja zieht

Eltern als Handwerker,

als Geschäftsmann oder in irgend welchem anderen Beruf hinaus in ferne römische Lande, — wie oft ist es so traurig für ihn, wenn er für sein evangelisches Glauben und Leben dort nirgend einen Anhalt findet, wie leicht verarmt er an seinem inwendigen Menschen! Ist aber dort eine,

wenn auch nur

kleine,

gesammelte

evangelische Gemeine,

wie schöne geistige Schätze hat sie ihm darzubieten, wie ist sie im Stande ihn für Herz und Geist zu bereichern! — Im Herrn, Geliebte, uns steht die römisch-katholische Kirche gegenüber, uns ist dieser gegenüber der geistige, heilige Kampf verordnet.

Aber wir wissen nichts von Haß

gegen sie, nichts von irgend welchen fleischlichen Waffen, nichts von schlimmen Wünschen oder gar Flüchen.

Wir sehen auch in den römisch-

katholischen Christen unsere, freilich irrenden Brüder, die wir segnen, denen wir von Gott Gnade und Heil erflehen.

Wo nun in unseren

Landen von Alters her die evangelische und römisch-katholische Kirche in Gleichberechtigung neben einander bestanden haben, da hat die römischkatholische Kirche davon großen Segen gehabt, es ist von evangelischer Seite her Licht und Leben in sie eingeströmt.

Der deutsche Katholik

421 ist darum in der Regel ein ganz anderer und besserer Christ als etwa der italienische und spanische.

Was aber die evangelische Kirche in ihrer

Gesammtheit für die römische ist, das werden für ihre Umgebung sein und immer mehr werden die einzelnen, kleinen Gemeinen in der Zer­ streuung.

Eins ist es nun, was nicht selten an den Römischen als

ein besonderes Zeugniß geistiger Verarmung hervortritt, — der hochwüthige Glaubenshaß, der finstere Fanatismus.

Woher derselbe so

vielfach? Aus der Unkenntniß der evangelischen Kirche, des evangelischen Wesens.

So mannichfach waren unsere evangelischen Brüder in der

Zerstreuung der Römisch-Katholischen ein Gegenstand der Verachtung und des Hasses gewesen.

Natürlich, denn es hieß bei ihnen:

Evangelischen wollen Christen sein

„Diese

und haben doch kein Gotteshaus,

keine gemeinsame Gottesverehrung, kein öffentliches Bekenntniß zu dem Erlöser.

Wir hören von einer zahlreichen, begüterten

evangelischen

Kirche, und doch läßt sie ihre Glieder im Elende verkominen. Wahrlich es muß ein erbärmlicher Glaube sein, welcher der evangelische genannt wird."

So hielten sie sich berechtigt, das evangelische Wesen zu ver­

achten und zu hassen.

Nun dnrch die Thätigkeit unseres Vereins sahen

unsere katholischen Brüder immer häufiger die Werke gläubiger Liebe, welche in ihrer Mitte die evangelische Kirche vollbringt.

Ein würdiges,

evangelisches Gemeineleben erwacht vor ihren Augen, sie werden Zeugen der einfachen, evangelischen Gottesdienste; da lösen sie sich vom Wahn, vom geistlichen Stolz, vom Glaubenshaß und lernen die Evangelischen achten, ja lieben. — Dort im östlichen Norden unseres Vaterlandes waren zu der Einweihung einer evangelischen, nenerbauten Kirche in einem katholischen Kreise auch selbst aus ziemlicher Ferne Römisch-Ka­ tholische mit zusammengeströmt.

Sie waren aber nicht gekommen, um

zu beten, sondern um zu spotten, die Andacht zu stören,. die Evangelischen wo möglich höhnend aus einander zu jagen. in die Kirche; aber wie wird ihnen?

Sie dringen mit hinein

Die erhabenen lieblichen Klänge

der geistlichen Lieder, das würdige, erbauliche Gemeindegebet, die ein­ fache, aber zu dem Herzen sprechende Verkündigung des Evangelii üben eine unwiderstehliche Kraft auf ihre Gemüther.

Ihnen, die gekommen

waren, zu spotten und zu fluchen, fließt die Thräne der Rührung über

422 die Wangen, sie können nur mit beten, mit loben und danken, sie kehren aus der evangelischen Kirche mit Herzen voll segnender Liebe in ihre Häuser zurück.

Ja durch unseren Verein werden unsere armen Brüder

in der Zerstreuung, die sonst nichts innehatten, jetzt Diejenigen, welche viele, welche selbst die Römisch-Katholischen reich machen und zwar an den köstlichen Schätzen, an Glaube, Liebe, Hoffnung.

So sind unsere

Brüder durch uns nach dem Wohlgefallen und der Wirksamkeit göttlicher Gnade geworden und sollen immer mehr werden die lieben Bekannten, die Nicht Ertödteten, die Lebenden, die Fröhlichen,

die nun

Alles haben und Viele reich machen. — Zum Schluß denn die Frage: Ist unser Verein und sein Thun von der Welt oder aus Gott? gehört er dem Belial an, wie man von gewisser Seite her zu sagen sich nicht entblödet hat, oder dem Herrn Jesu Christo? jede Frage und jede Antwort ist hier überflüssig.

Doch nein,

Vielmehr wollen

wir inbrünstig flehen: Herr erhalte uns als Arbeiter in Deinem Wein­ berge und segne das Werk unserer Hände.

Wir danken und preisen

Gott, daß Er auch mittelst unseres Vereins immer mehr ausgießen will die Liebe Christi in unsere Herzen. Amen.

Gelobt sei seine heilige Gnade.

Zur dreihundertjährigen Gedächtniß­ feier des Todes Calvins, am 27. Mai 1864.

Das christliche Leben in der Gemeine und für die Gemeine. Text:

Philipper 2, 1—4.

Ist nun bei euch Ermahnung in Christo, ist Trost der Liebe, ist Gemeinschaft des Geistes, ist herzliche Liebe und Barmherzigkeit:

So

erfüllet meine Freude, daß ihr

Eines Sinnes seid, gleiche Liebe habet, einmüthig und ein­ hellig seid, Nichts thut durch Zank oder eitle Ehre, sondern durch Demuth achtet euch unter einander einer den andern höher,

denn sich selbst.

Und ein Jeglicher sehe nicht auf

das Seine, sondern auf das, das des Andern ist. 26ir beginnen heut wieder, geliebte Freunde, gotteSdienste für den Sommer.

unsere Wochen-

Ist es nun heut grade dreihundert

Jahre her, seit jener große Lehrer der Kirche, Calvin, die Augen schloß; so dürfte es wohl natürlich sein, desselben in diesem Gottesdienste zu gedenken.

Luther und Zwingli

die beiden Männer des Volkes,

in

mancher Beziehung sich so ähnlich und doch wieder hinreichend verschie-

Lieder: Nr. 292. 302, 4-5.

424 den, daß ein heißer Kampf zwischen ihnen, wie beklagenSwerth er auch ist, doch erklärlich erscheint, sind die gewaltigen Bahnbrecher für das Evangelium in Deutschland und in der Schweiz.

Daß das Ausein­

andergehen beider herrlichen Männer nicht ein unheilbares Zerfallen der deutsch und der schweizerisch evangelischen Christenheit werde, dazu hatte die Vorsehung dem Luther einen Melanchthon mit seiner tiefen, gründlichen Gelehrsamkeit, mit einer gewissen Milde und Sanftmuth der Gesinnung und des Wesens angethan, zugeordnet und

ihn noch

manches Jahr nach dem Tode Luther's als den Lehrer Deutschlands fortwirken lassen.

Diese göttliche Vorsehung ist es, welche zu gleichem

Zweck nach dem Heimgang Zwiugli's den Calvin in die Schweiz, auf seinen Posten beruft.

Er, der Letzte und theilweise Abschließende unter

den vier großen Reformatoren zieht heut unsere Blicke auf sich.

Wir

stellen uns natürlich seine Gestalt unter das Licht des göttlichen Wortes. Da schien es mir nicht unrecht, die im vorigen Jahr inue gehaltene Bahn sogleich wieder zu betreten, d. h. in der Auslegung unseres Briefes fortzufahren.

Es trifft sich damit besonders günstig, indem in den

ersten Versen des zweiten Kapitels, bis wohin wir gekommen waren, recht eigentlich vom Leben der christlichen Gemeine die Rede ist und zu demselben ermahnt wird.

Nur nach der Bedeutung für die christliche

Gemeine und das eigenthümliche Leben derselben kann eines Mannes Werth an dieser Stelle beurtheilt werden.

Wohlan das Leben in

christlicher Gemeine betrachten wir nach unserem Text und werden an der Hand desselben es zu thun haben 1) mit den Grundquellen, aus denen es entspringt, 2) mit dem, worin es sich darstellt, 3) mit den Grundbedingungen für seine Förderung.

Erhaltung

und

Von dem so ausgelegten Text aus stellen wir uns das

Bild dessen, was Calvin war und für uns ist, in wenigen Zügen vor die Augen. I-

„Ist nun bei euch Ermahnung in Christo,

ist Trost

der Liebe, ist Gemeinschaft des Geistes, ist herzliche Liebe und Barmherzigkeit" spricht der Apostel und bezeichnet damit die Quellen, aus denen das christliche Leben der Gemeine entsteht, stets sich verjüngt und der Vollendung entgegenwächst.

Ermahnung in

425 Christo — das ermahnende Wort, wie es den Menschen hinweist auf sein Ziel, auf seine ewige Bestimmung, wie es ihm alle Aufgaben seines Lebens vorhält, wie es ihn anstachelt, alle seine Kräfte im heiligen Dienst zu verwenden.

Diese rechte Ermahnung, wie sie die Seelen

gleichsam von der Erde zum Himmel emporzieht, hat ihren reinen Grund und ihre erzeugende Kraft allein in Christo. werden,

Aus ihm muß geschöpft

nach ihm geurtheilt und gemessen, auf ihn gewiesen werden;

denn er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben.

„Ist Trost der

Liebe," — dieser Trost der Liebe ist mit der Ermahnung in Christo gegeben.

Es ist der Trost ans Gottes Liebe für gebeugte und wunde

Herzen, der Trost, daß Gottes Gnade durch Christum Mühselige und Beladene ruft: „Kommet zu mir, ich will euch erquicken."

Es ist der

Trost, daß die Liebe Gottes in Christo allen Schuldbeladenen, welche ihr sündiges Wesen hassen und gläubig Rettung suchen, auch die Ver­ gebung

und das

göttliche

Kindesrecht spendet,

begnadigten Kinder nie verläßt und und

der

Vollendung

versäumt,

entgegenführt.

„Ist

daß diese Liebe ihre sie vielmehr Gemeinschaft

erzieht des

Geistes." — Der Geist ist gemeint, welchen Christus als den Tröster verhieß, welcher in die Herzen einkehrt und kindliche Zuversicht zum Vater im Himmel und den Trieb zu einem neuen Leben auf der Erde erweckt, der Geist, welcher Christum in den Seele» verklärt und die Seelen in Christum hinein erhebt.

„Ist bei euch herzliche Barm­

herzigkeit." — Die Barmherzigkeit Gottes ist gemeint; aber so, wie sie Christi Jünger mit Barmherzigkeit erfüllt oder die Barmherzigkeit der Jünger Christi, wie sie ans Gottes Barmherzigkeit entspringt. Es ist die Bethätigung helfender Liebe, wie sie Gott selbst in Jesu Jün­ gern erzeugt.

Damit haben wir die Quellen bezeichnet, aus welchen

das rechte Leben in christlicher Gemeine entspringt; also die Fluth hei­ liger Ermahnung, wie sie in Christo ist und von ihm sich ergießt, die selige Freude und Ueberzeugung von der rettenden Liebe Gottes, das Wirken des göttlichen Geistes auf und

in die Geister der Menschen

hinein, das Neben heiliger Liebe von Seiten der Jünger Jesu, wie es Gottes Liebe in ihnen erzeugt hat.

Das sind die Mächte, welche das

christliche Gemeinwesen mit seinem eigenthümlichen Leben in's Dasein

426

riefen, welche es stets allein erneuen und verjüngen, durch welche es der Vollendung entgegengeführt wird. — „So erfüllet meine Freude, daß ihr dasselbe sinnet, dieselbe Liebe habt, einmüthig auf das Eine sinnend." Die­ selbe Liebe und denselben Sinn auf das Eine gerichtet, so Eine Seele unter einander, das ist das Wesen des Lebens in christlicher Gemeine. Die Einmüthigkeit. — Fassen wir es recht. Nicht in äußeren For­ men und Weisen kann sie bestehen. Alle Ausdrücke des Apostels führen vielmehr auf das Innere, ans die Gesinnung hin. Es können aber auch nicht dieselben Vorstellungen und Gedanken über Glanbensgegenftände sein. Wir wissen, wie weit dieselben in jeder Gemeinschaft aus­ einandergehen, wie das schon der Fall war nicht nur unter den aposto­ lischen Gemeinen, sondern unter den Aposteln selbst, wie z. B. die Vorstellungen und Gedankenbildungen bei einem Jakobus so ganz andere waren als bei einem Paulus. Die Einmüthigkeit, welche Paulus meint, ist eben in den begleitenden Worten geschildert. Es wird die Liebe als ein und dieselbe bezeichnet. Welche Liebe ist das? Es ist das neue Gebot Christi, daß seine Jünger sich lieben mit der Liebe, mit welcher er sie geliebt hat. Diese Liebe Christi? Ihr Gegenstand ist in allen Menschen das göttliche Ebenbild, ihr Ziel für alle die Reini­ gung dieses göttlichen Ebenbildes von aller Besteckung, ihr Mittel das Wort der Wahrheit, das Wort von des Vaters heiliger Liebe. Also die Liebe wird es sein, welche in Brüdern und Schwestern das göttliche Bild sucht und ehrt, die Erlösung und Heiligung für dasselbe erstrebt und in der Wahrheit Christi das alleinige Mittel des Heils erkennt und anwendet. — „Eins sinnend." Was ist dieses Eine? Der Heiland gibt es uns an in der Vorschrift: „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes" und Paulus nennt uns das Wesen dieses Reiches mit den Worten: „Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist." Eines Sinnes sein heißt ringen danach, daß Gottes Reich zu uns und den Brüdern kommt, daß wir mit ihnen und sie mit uns sich stellen unter das selige Regiment des göttlichen Liebewillens, daß so in ihnen und in uns Gottes Friede wohne, die Freude an feinem Wirken, die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt. Wenn wir uns lieben mit der

427 heiligen Liebe Christi, welche die Reinigung der Seelen erstrebt, wenn wir ringen nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit, dann ist unser das wirkliche Leben der christlichen Gemeine, dann werden wir es auch in unserem Thun zur Darstellung bringen. „Nichts nach Zank die Demuth achtet

oder eitlem Ruhm,

sondern durch

euch jeder den anderen höher als sich

selbst und sehe jeder nicht auf das Eigene, sondern auch auf das des Andern."

Damit sind Weg und Mittel zur Erreichung

des rechten Lebens in christlicher Gemeine gegeben, die Grundbedingun­ gen, ohne welche es nicht bestehen kann.

Der Zank, der Streit, ist

er doch in der Regel das Hadern um das Dein und Mein entweder auf geistigem oder irdischem Gebiet. Er geht hervor aus dem Eigennutz, hat in diesem seine Wurzel, sein inneres Wesen.

Wo man das Eigene

sucht, da zerstört man nothwendig das christliche Leben in der Gemeine. Dasselbe ist mit dem eitlen Ruhm der Fall,

dem Selbstgefälligkeit,

Stolz, Hochmuth zum Grunde liegt. Im Hochmuth ist mit der Ueberschätzung des eigenen Selbst die Verachtung der Brüder verknüpft und mit der Verachtung derselben ist ja nothwendig schon die Auflösung des Gemeindelebens gesetzt.

Mit dem Ablegen der Eigensucht und des

Stolzes ist stets der entschiedenste Ernst zu machen, soll das Leben in christlicher Gemeine gepflegt

werden

und gedeihen.

Wenn man mit

Demuth in sich selbst hineineinschaut und da in sich erkennt, was man nie im Bruder sehen kann, den Wurzelstock alles Bösen in der Selbst­ sucht des Herzens, erkennt, wie darum alles Gute nur Gabe göttlicher Gnade ist und wie man fortwährend göttlicher Gnade bedarf; dann auf der anderen Seite sind auch die Augen für alles Wirken

göttlicher

Gnade in der Gemeine, für alles Gute in den Brüdern und Schwestern geöffnet und es ist ein Bedürfniß des Herzens, sich an die Gemeinschaft anzuschmiegen, um von ihr Förderung zu nehmen.

Damit verbindet

sich nothwendig das Bestreben, auch nach Kräften denen sich zu weihen, in welchen Gottes Bild uns entgegen strahlt, welche uns durch Christum Brüder und Schwestern geworden sind.

Diese Demuth verknüpft mit

dem Sehen auf das, was des Anderen ist, mit dem Trachten nach dem Heile der Brüder, ist der Weg, auf dem das Leben in der Gemeinde

428 gefördert wird.

Sehen wir wohl zu, Geliebte, die drei Stücke, die

Quellen des christlichen Lebens, die Darstellung desselben, die Bedin­ gungen, unter welchen es entsteht, erhalten und vollendet wird, kommen zusammen in dem Worte: Liebe.

Die Liebe ist Grund, ist Wesen und

Darstellung, ist Bedingung des christlichen Gemeinlebens, die Liebe der Gottheit durch Christum in die Herzen der Jünger sich ergießend, diese Liebe die Jünger zusammenschließend, diese Liebe von der Gemeine aus in die Gemeine hineinwirkend, diese Liebe, welche mittelst der Gemeine bestimmt ist, auch auf die Welt zu wirken, die Welt dem Reiche Gottes zu gewinnen, auch die Welt in das christliche Gemeindeleben hineinzu­ ziehen.

So muß denn die Liebe in der Gemeine aus der Liebe Gottes

in Christo entsprossen auch für die Gemeine das Band der Vollkommen­ heit sein.

Fragen wir nun: Wer ist groß in der Gemeine? so lautet

die Antwort: Wer viel in der Liebe gedient hat. II.

Wie steht es da mit dem Mann, der heut vor 300 Jahren

aus dieser Welt heimging? Zunächst möchte uns an ihm grade die Liebe nicht als das Hervorragende erscheinen.

Franzose, feuriges lebendiges

Blut in seinen Adern, mit glänzenden Gaben, mit reicher Bildung des Geistes ausgestattet, wird er allerdings von der Gewalt evangelischer Wahrheit ergriffen und fortgerissen und unwiderstehlich fest ist er an das Licht des Evangeliums gebunden.

Aber nicht die Milde, wie wir

sie so gern als eine eigenthümliche Wirkung des Evangeliums sehen, ist über sein Wesen ausgegoffen, nicht grade Sanftmuth, Lieblichkeit, nicht eine innige Gemüthlichkeit, die aller Herrlichkeit der Natur und aller Schönheit des häuslichen und geselligen Lebens sich öffnet, bindet an ihn die Gemüther.

Vielmehr ist es die klare Schärfe des Gedan­

kens, welche keine Folge scheut und darum oft schneidend und hart auf­ tritt, mit welcher er denkende Geister in seine Bahnen hinein nöthigt, mit welcher er 26 Jahre alt, jenes Werk, jene christliche Glaubenslehre schafft, die, was wissenschaftliche Klarheit und Kraft anbetrifft, 300 Jahre lang als erstes, kaum je erreichtes Muster glänzt.

Sein Glaube

ist voller Energie, der zuerst, wie allerdings die Umstände es forderten, im kühnen Kampf auftritt, und zwar nicht allein gegen das Pabstthum, sondern auch gegen das vaterländische Regiment,

gegen den eigenen

429 König, welcher ein Verfolger seiner evangelischen Unterthanen geworden war.

Damit er nicht selbst ein zu frühes Opfer falle, muß er den

Wandqxstab ergreifen und in die Verbannung ziehen. Greifen wir hier etwas vor. — War es ihm gegeben,

nach Gottes heiliger Ordnung

gleich den übrigen Reformatoren eine Familie,

in der heilige Zucht

waltet, zu begründen; es ist bei ihm nicht wie bei Luther und Zwingli das Haus gleichsam eine selbstständige und eigenthümliche Provinz im Reiche Gottes, es ist die Familie nicht die Stätte, die an sich einen besonderen Werth Liebe.

hat als Pflanz- und Offenbarungsstätte göttlicher

Ehe und Haus sind ihm vielmehr nur ein Mittel für das

Reich Gottes,

das er nur in den größeren Gemeinschaften,

in der

Kirche und im Staate, sofern dieser vom Geiste der wahren Kirche re­ giert wird und derselben dient, findet und anerkennt.

Seine Jdelette

soll seinen kranken Leib pflegen, daß er alle mögliche Kraft dem Dienste der Kirche weihen kann, soll daneben Gehülfin im Dienst für die Kirche sein. Dem häuslichen Leben an sich fehlt nach seinem Sinne jede selbststän­ dige Bedeutung.

Sehen wir ihn an auf dem Gebiet der Kirche selbst,

in der Thätigkeit für dieselbe.

Karakteristisch, wie er für das ihm be­

stimmte Feld seiner Thätigkeit gewonnen

wird.

Nicht wie Christus

einst die Macht des Erbarmens empfindend, als er die großen Massen des Volkes wie Schafe ohne Hirten sah, seine Heilspredigt ihnen brachte, nicht wie etwa Luther von dem Geist des Erbarmens Christi über das unwissende Volk und die geistesträgen Geistlichen ergriffen, sein kleines, köstliches Büchlein, den kleinen Katechismus schrieb, nicht so war es das Erbarmen mit dem verblendeten Volke Genfs, neue Vaterland fesselte.

was ihn an das

Er wollte nach seines Herzens Neigung in

der Stille dem Studium leben, aber das Wort Farel's an ihn, der ihn für Genf gewinnen wollte:

„Ich erkläre dir in dem Namen

des allmächtigen Gottes, treibst du nicht mit uns dieses Werk Gottes, so wird Gottes Fluch auf dir ruhen!" seinen Widerstand, nimmt ihn für Genf gefangen.

bricht

Er selbst bekennt:

„Es war mir, als sähe ich die furchtbare Hand Gottes, die mich vom Himmel her ergreifen wollte!" Selbst von der furcht­ baren Hand Gottes erfaßt und auf sein nunmehriges Arbeitsfeld geführt, ist

430 es, wie großartig und segensreich auch das von ihm völlig umgestaltete kirchliche und bürgerliche Gemeinwesen sich darstellt, als erscheine hier und dort in ihm selbst die furchtbare Hand Gottes verkörpert und griffe mannichfach ehern und gewaltig durch das Ganze hindurch.

Ein Ge­

meinwesen im Lichte des Evangelii gebildet und doch ganz ruhend auf strengstem Gesetz, zusammengefügt und gehalten durch eiserne Satzungen! Wo seinem Auge der Glaube derer, die das Abendmahl begehren, noch nicht offen darliegt, die, als der Handhaber des Gesetzes, weist er unerbitt­ lich zurück. säumet,

Und doch wer ein Jahr lang das heilige Abendmahl ver­

den trifft eine einjährige Verbannung aus dem Vaterlande.

Versäumuiß der Predigt wird mit empfindlicher Geldstrafe geahndet. Die Soldaten werden täglich zweimal zum Gebet kommandirt und dür­ fen sich nicht scheuen unter gewissen Umständen öffentlich auf der Straße auf die Kniee zu fallen.

Der Katechismus muß von allen beschworen

werden und wer den Schwur versagt, wird in die Verbannung getrie­ ben. Genug Zeugniß, wie er seinem Gemeinwesen den Geist schärfster Gesetzesstrenge einzuhauchen bemüht gewesen ist. Wir wundern uns da nicht mehr, wenn der Mann, an dem wir fast nichts von Fleisch und Blut, an dem wir gleichsam nur Knochen und Mark in den Knochen wahrnehmen, wenn dieser Mann im glühenden Glaubenseifer, ob ihm die Feuerstrafe auch zu hart dünkte, doch den Tod des Servet mit be­ wirkte, weil dieser den kirchlichen Glaubenssatz der Dreieinigkeit Gottes bekämpfte.

Wir wundern uns nicht mehr darüber — ein Mann, der

so als Herrscher der Kirche erscheint, ja der greift allenthalben durch mit seiner ehernen, gewaltigen Faust.

Aber, Geliebte

im Herrn, sollten

wir nach dem Gehörten nun nicht geneigt sein, Calvin vielmehr neben jene Selbstherrscher auf kirchlichem Gebiet, neben einen Gregor und Inno­ zenz zu stellen, als in die Reihe der Reformatoren?

Könnten wir da­

nach ihn nicht mit einem gewissen Behagen dem Ausland gönnen, um ihn desto mehr als Vorbild deutsch evangelischer Christenheit abzulehnen? Und doch, meine Geliebten, er gehört in die Reihe jener großen Re­ formatoren, ist ihnen ebenbürtig, ist ein Werkzeug Gottes, dem nicht nur die reformirte Kirche fremder Zungen, dem die gesammte evangelische Kirche Deutschlands sehr, sehr viel verdankt. Die gezeichneten Züge seines

431

Bildes geben nnS noch nicht das Innerste und Eigentlichste seines We­ sens, das im Gegentheil nichts Anderes war als tiefe Liebe aus der Liebe Gottes in Christo geboren. Messen wir an unserem Text — ja wie alle höchste Größen der Kirche, so mußte auch wohl Calvin bekennen: Nicht daß ich es schon ergriffen habe. Aber er konnte gewiß hinzufügen: Ich strecke mich ihm nach, daß ich's ergreifen möge. Unser Text gibt doch das eigentliche Urbild, in das Calvin hineingewachsen war, in dem er sich immer mehr zu verklären, zu heiligen strebte. Hart ist uns seine in scharfer Begriffs- und Gedankenfolge ausgebildete Lehre von dem unbegreiflichen Rathschluß Gottes, nach welchem ein Theil der Menschen zur Seligkeit, ein anderer Theil zur Verdammniß unwider­ ruflich bestimmt ist. Aber, sehen wir uns sein Leben und Lehren schär­ fer an, so glaubte er nur hierin den Trost der Liebe Gottes für seine Person sich wahren, nur so die feste Zuversicht dieses Trostes den Brüdern bringen zu können und das Letzte, diesen Trost den Mitmen­ schen darzureichen, war doch sein beständiges Bestreben. Aus der Er­ mahnung in Christo schöpfte er, mit der Ermahnung in Christo brachte er diesen Trost. Indem er mit seinem tief und scharf denkenden Geist ganz in das Evangelium sich versenkte, ist er trotz der geschlossenen Strenge seines Glaubensshstems der größeste, wissenschaftlichste, unbe­ fangenste Ausleger der heiligen Schrift seines Jahrhunderts, und damit nicht nur der Lehrer Genfs oder Frankreichs, oder der Reformirten, sondern der Lehrer der gesammten evangelischen Kirche geworden und ist es theilweise noch bis ans den heutigen Tag. Und bei aller gesetz­ lichen Strenge und Schärfe, in welcher er wirkt, treibt ihn doch der Geist Christi für die Gemeine und die barmherzige Liebe für ihre Glie­ der. Nichts gilt ihm seine Ehre, nichts sein Gut, nichts sein Leben. Er setzt dies Leben ohne jedes Zittern eben so muthig dem Wüthen der Pest, wie den bloßen Schwerdtern der erhitzten, empörten Gemüther aus. Alles gilt ihm die Gemeine und ihr Heil. Ja für die Gemeine sind ihm auch die geringsten Angelegenheiten in Kirche und Staat nicht gering, so daß dem scharfen Blick seiner wachenden Fürsorge so leicht auch das Kleinste nicht entgeht. Für die Gemeine lebt er; aber nicht

432 nur für die seines Staates, sondern für die Gemeinde in aller Welt und bei unglaublicher Thätigkeit im Vaterland findet der an so großer Kränklichkeit leidende Mann immer noch Zeit und Kraft, nach Frank­ reich, der deutschen Schweiz, England, Schottland, Deutschland lehrend, rathend, seelsorgerisch hinüberzuwirken.

Solch Leben für die Gemein­

schaft evangelischer Kirche konnte nur in tiefer Liebe seinen Grnnd und seine Kraft haben.

Dieses Wirken auf dem Wege des Gesetzes lag

nicht nur in seiner Natur, sondern erschien theilweise geboten, durch die Beschaffenheit Genfs, durch die Gluth der Gemüther, die schnell für dies, schnell für das Entgegengesetzte aufflammte, durch Leichtfertig­ keit und Liederlichkeit, welche allgemein eingerissen, allgemeines Verder­ ben drohte. — Wo die volle Liebe waltet, da ist Freiheit.

Wenigstens

ein Zug der geistigen Freiheit jeder kirchlichen Autorität gegenüber ist nns von ihm aufbehalten.

Als er das für rechtgläubig geachtete Atha­

nasianische Bekenntniß beschwören

sollte, antwortete er muthig, „er

und seine Freunde hätten den Glauben an Einen Gott beschworen und nicht den Glauben dieses vermeintlichen Athanasius, dessen Sätze eine wahre christliche Kirche nie genehmigt haben würde." Freiheit behalten und sie auch anderen ans dem Gebiete des Geistes und Glaubens gewähren und so die Einheit der Gläubigen die Eine Heerde unter dem Einen Hirten erstreben, indem man in Demuth andere höher achtet als sich und auch ihre entgegengesetzten Ansichten duldet und trägt, ist Zeichen der Liebe. Ihm hat die Einheit der evangelischen Christenheit stets auf der Seele gelegen.

Wie er auch bei Abweichungen in der Lehre sie erstrebte, da­

für Beweis sein Verhalten einem Melanchthon, einem Bnlbinger gegen­ über. Melanchthon verwirft die Lehre, die dem Calvin Kern und Stern seines Glaubens war, die Lehre von der Vorherbestimmung. Calvin an ihn:

Da schreibt

„Unleugbar ist es ja doch, daß wir nicht in einerlei

Weise uns ausdrücken und lehren.

Ich weiß sehr wohl, daß wenn es

nur auf menschliches Ansehen ankäme, ich mich dir fügen müßte und niemand verlangen könnte, daß du zu mir herabstiegest.

Aber von der­

gleichen Rücksichten ist ja unter Dienern Christi nicht die Rede.

Mich

hindert nur, daß ich es offen sage, mein Gewissen, in diesem Stück dir

433 Leizutreten." — Dann weiterhin: „Deine Reinheit, deine klare Offen­ herzigkeit, deinen edlen Sinn kenne ich ja wohl; deine Frömmigkeit ist aufgedeckt vor den Engeln und der ganzen Welt und so würde sich ja, ich bin es gewiß, der ganze Umstand zwischen uns leicht schlichten lassen. Hätte ich nur irgend Gelegenheit, zu dir hinzueilen."

Bullinger, der

Freund und Schüler Zwingli's, denkt nach seiner Meinung dem Calvin zu dürftig über das Abendmahl, aber er schreibt an ihn:

„Obgleich

ich mir einer innigeren Gemeinschaft mit Christo im Sakrament bewußt bin, als du in deinen Worten ausdrückst;

so wollen wir doch darum

nicht aufhören, denselben Christus zu haben und in ihm Eins zu sein. Einst werden wir wohl durch einen innigeren Konsensus werden."

verbunden

Und seine eigene Abendmahlslehre? — Wie sehr sie auch

seine Ueberzeugung ausdrückt, sie ist ihm mit eingegeben von der Liebe, von dem heiligen Streben, die Kluft, die sich zwischen Lutheranern und Reformirten aufgethan hatte, auszufüllen und die zerrissenen Bande der kirchlichen Gemeinschaft und christlichen Liebe zwischen ihnen von Neuem anzuknüpfen.

Da, was man über den Werth dieser Lehre urtheilt, sie

ist schon durch jenes Streben ächt evangelisch, eben so dadurch, daß sie das Recht selbstständiger, vernünftiger Schriftauslegung der gebie­ tenden Glaubenssatzung gegenüber thatsächlich geltend machte und eben­ so das „ durch den Glauben allein" gegenüber einer Neigung an dem Irdischen zu kleben, hervorhob. Seine Liebe war es, die keine Hierar­ chie wollte, sondern „eine selbstständige Gemeine, vom göttlichen Gesetz geleitet, die der einige Körper ist, welcher das innige Leben dessen in sich trägt, der das alleinige Oberhaupt bleibt."

So die Liebe doch das

tiefste, innerlichste und eigentlichste Wesens seines Karakters und Lebens, dasjenige, wodurch er so hohe Bedeutung für die Kirche Christi gewon­ nen hat.

Darum als der Mann schied, der oft so mächtig mit dem

Gesetz in der Rechten gewaltet, Genf sah nicht den strengen Herrn, son­ dern den besten, treusten Vater, nicht den Hierarchen, sondern den treusten Diener der Liebe Christi von hinnen gehen und auf's Rührendste nahmen er und die Vertreter der Stadt gleichsam wie aufgelöst in vergebender und segnender Liebe zu wiederholten Malen von einander Abschied. Thomaö. Predigten.

28

Auch

434 wir kennen ihn nur so, dem Geist.

nicht mehr nach dem Fleisch,

sonder» nach

So soll er uns leuchten ein gottgegebener Lehrer in des

Himmels Glanz, so soll sein Andenken bei uns in Segen bleiben, daß auch bei uns unter Gottes Gnade, durch ihn noch viele zur Gerechtigkeit, zu dem rechten Gemeindeleben in der freien, einigenden Liebe des Glau­ bens gewiesen werden.

Amen.

Rede zum Gedächtniß Schleiermachers an seinem hundertjährigen Geburtstag, gehalten den 21. November 1868. hochgeehrte Festversammlung, heut vor hundert Jahren wurde Daniel Ernst Friedrich Schleiermacher geboren.

Seinem Gedächtniß

gilt die erhebende Feier, welche uns, erfüllt von Gefühlen der Anbetung, hier vor Gott versammelt.

Als vor nun bald fünfnnddreißig Jahren

der hochhcrrliche Mann das Auge geschlossen hatte, da war bei allem hoffnungsvollem Glauben es doch der tiefe Schmerz, welcher ob des schweren Verlustes auf allen Gemüthern lastete.

Wie Trost aus der

Höhe klang damals bei der Gedächtnißpredigt die Rede aus dem Munde seines hochverdienten, hochwürdigen Freundes, zusammengeschlossen in das Paulinische Wort:

„Die Liebe hört nimmer auf."

Heut aber

ist die Trauer geschwunden, heut geht unsere Feier auf in Jubel, in Dank, in Lobpreisung.

Wir sind von dem Bewußtsein zusammen­

geführt, daß der Verewigte uns unverlierbar ist, wir feiern seinen Besitz, wir feiern nicht den Todten, sondern den Lebendigen. Da möchte ich an ein anderes Wort unserer heiligen Bücher erinnern, das wir in Schletermacher auf's Schönste erfüllt sehen, an das Wort: „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone deS Lebens geben."

Als

der in der Treue Vollendete trägt er ewig die Krone des Lebens, wird er zu reichstem Segen unter uns fortwirken bis auf die fernsten Ge­ schlechter.

Darum gesegnet mir, würdige Väter und Vertreter dieser

theuren Haupt- und Residenzstadt unseres geliebten Vaterlandes, geseg­ net, daß ihr feierlich Eure liebende Anerkennung für Alles aussprechen wollt, was der Verklärte für Berlin, für Preußen, für das deutsche 28*

436 Vaterland als

ein lauteres Glied, als ein rechtschaffener Diener der

evangelischen Kirche gewesen ist.

Indem Ihr ihm die Ehrenkrone eines

ächten Bürgers des Vaterlandes und des Himmelreiches zuerkennt, in­ dem Ihr Gottes Gnade, die ihn einst gegeben hat, erhebt, ehret Ihr Euch selbst.

Im Namen der ganzen

hier feiernden Festversammlung

darf ich Euch tiefgefühlten Dank aussprechen. betraut habt,

Wenn Ihr aber mich

in kurzer Rede der Dolmetscher nuferer Gefühle und

Gedanken zu sein, laßt auch Eure Liebe das ausfüllen, was bei meiner Schwachheit in Lösung der hohen Aufgabe etwa mangeln wird. hochberühmter Meister

Ein

ans wissenschaftlichem Gebiet sagte in vollster

Berechtigung einst über Schleiermacher: „Ich bin überzeugt, daß keine andere Universität in Deutschland etwas Aehnliches hat!"

Hier aber

gilt es nicht den Mann der Wissenschaft, den großen Theologen, Philo­ sophen, Philologen, den ersten Virtuosen auf dem Gebiet der Lehrthätigkeit, zu würdigen.

Großartig sind seine Leistungen, seine Werke, die

auch für die späte Zukunft seinen Ruhm begründen. diesem Ort auch auf diese nicht eingehen.

Wir können an

Vielmehr allein den inneren

Menschen, wie er sich im äußeren Leben bewährt hat, den Karakter, den Mann und das Kind Gottes, bett in der Welt erprobten Bürger des Himmelreiches stellen wir uns in wenigen, andeutenden Zügen vor die Seele.

Da aber, wie ich schon angedeutet habe,

Treue als der volle Lichtkern,

erschien mir die

von dem der herrliche Strahlenglanz

ausgeht, mit welchem Gottes Gnade das Haupt des verewigten Mannes für immer umkränzt hat.

In diesem Lichte feiern wir jetzt sein Ge­

dächtniß. I.

Gott der Herr pflanzt das Menschenkind mit dem Anfang seines

Lebens hinein in die umgebende Welt der Natur und des Geistes, so daß es für sich zunächst eigentlich nichts ist als eine reiche, in sich zusammen­ geschlossene Fülle der Anlagen zum Werden.

Wie nun das leibliche

Leben nur durch Aufnehmen dessen, was die Natur bietet, in fortwäh­ rendem Werden sich bildet und

gestaltet;

so kann auch das geistige

Leben, der eigentliche inwendige Mensch nur durch fortwährendes Auf­ nehmen ans der umgebenden Welt werden und wachsen. der Welt wecken

den Geist, regen an und beleben.

Die Eindrücke Die Fülle des

437 Geistes, in der Natur sich bekundend, im Leben der Menschheit sich offenbarend, ist die Nahrung, durch welche der besondere Menschengeist erwächst,

erstarkt, worin er die Mittel zu seiner Vollendung findet.

Da gilt es für den Menschen rechter Art, daß, wie er im Selbstbewußt­ sein zu sich selber kommt, er auch des Geistes Nahrung in sich aufnimmt, wie sie ihm in der Welt geboten wird, daß er nach allen Seiten das himmlische Licht in sich saugt, daß er mit rastlosem Streben und Eifer die ihn umgebende Wahrheit sich aneignet und darin ohne Müdigkeit und Ermattung bis zu seiner Vollendung fortfährt.

Nun stellt euch,

evangelische Brüder und Schwestern, den herrlichen Mann lebendig vor die Seele, von da ab, wo in seinen Kinderjahren zuerst der Genius seines Wesens die Fittiche regt, bis dahin, daß er, das Haupt mit der Silberlocke geschmückt, aus dieser Welt scheidet!

Wie nimmt er mit

lauterstem, wahrhaftigstem Sinn unaufhörlich in sich auf die Strahlen des Lichtes, wo sie sich bieten, als Strahlen göttlicher Offenbarung! Die Natur und das Leben der Menschheit, die klassischen Sprachen des Alterthums und die hervorragenden der Gegenwart, die Geschichte der Völker und das Leben seines Volkes, die vielbewunderte und geprie­ sene Weltweisheit Griechenlands und die gewaltigen philosophischen Ar­ beiten der Neuzeit von Spinoza bis zu Kant, ja bis zu Schelling und Hegel, Kunst und Wissenschaft in ihrer Vielseitigkeit, besonders aber die heiligen, ehrwürdigen Urkunden der wahren Religion, des Christen­ thums, und die Forschungen und Lehren der Gottesgelehrten aller Zei­ ten, das Alles sind die Quellen, aus denen sein Geist unaufhörlich bis an sein Ende in heiliger Rastlosigkeit geschöpft hat, so daß er fragen konnte:

„Was ist's, wofür mein Sinn verschlossen wäre?"

Das ist

es, vermöge dessen er von sich zeugen durfte: „Nimmer soll der frische Lebensmuth mir vergehen. stets

Ewige Jugend schwör ich mir selbst."

Ja

in sein volles wirkliches Leben hat er umgesetzt seine Worte:

„Umschauen nach allen Seiten, aufnehmen Alles in den innersten Sinn, besiegen einzelner Gefühle Gewalt, — ■— rasch sich von Einem zum Anderen bewegen und unersättlich im Handeln auch fremdes Thun noch innerlich nachahmend abbilden, das ist das muntere Leben der Jugend und das Werden der Weisheit und Erfahrung."

So ist ihm in be-

438 ständiger schöner Vermählung geblieben die frohe Jugend und die immer werdende Weisheit des Alters, so ist „ihm frisch der Puls des Lebens geblieben bis in den Tod."

Wenn ihm so in fortwährendem Aufnehmen

und Werden „keine gottgegebene Kraft je verloren ging," weil er „keine ungebraucht in sich zurückdrängte," wenn er deshalb in dem dritten Jahrzehent seines Lebens auftreten konnte als hervorragender Lehrer unvergänglicher Weisheit für sein Volk und noch am Ausgang seines Lebens mit der Geistesfrische der Jugend geschmückt war; ja dann ist ihm eigenstes Leben gewesen und geblieben die Mahnung seines Meisters: „Sei getreu bis in den Tod."

n.

Nur durch das Zuströmen des Lichtes, des Lebens und der

Liebe wird der Mensch zum Menschen.

Aber wie er im Anfang das

Wesen der Menschheit auch nur in der Fülle von Anlagen in sich trägt; so nach des Schöpfers Weisheit hat jedes Menschenkind doch dies allgemein menschliche Wesen in eigenthümlicher Weise empfangen.

Und wie der

Mensch nur wird durch das, was die Welt ihm bietet;

doch muß er

in seiner Selbstthätigkeit dasselbe sich aneignen, muß es in sein Eigen­ thum, ich möchte sagen, in sein Fleisch und Blut, umgestalten, umschaf­ fen.

Abgesehen von Sünde und Selbstsucht ist es da ewiger, heiliger

Schöpferwille, daß wir das allgemein Menschliche in der uns von Gott gegebenen Eigenthümlichkeit

als das

theuerste Heiligthum bewahren,

bilden und immer weiter vollenden.

Wer in Trägheit und Bequem­

lichkeit

seines Geistes,

in Feigheit und fleischlichem Sinn das ihm

Fremdartige sich zum knechtenden Joch erwählt,

gleichviel ob es als

Heiliges oder Unheiliges von der Menge ansgeschrieen wird, wer dadurch sein eigenthümliches Wesen verkrüppelt, der veruntreut schmachvoll das höchste ihm auvertrante Gottesgut.

Siehe da nach dem Ausdruck eines

nicht längst Heimgegangenen, frommen, tiefsinnigen Gottesgelehrten ist unser Schleiermacher ans dem Gebiet des Geistes hier wie ein zweiter Newton, indem er dies heilige Gesetz der Ethik, der sittlichen Welt, entdeckt hat.

Ihm ist es in seinem heiligen Denken zuerst mit voller

Klarheit aufgegangen, „daß jeder Mensch auf eigene Weise die Mensch­ heit darstellen soll" und er hat demgemäß sich selbst „als ein einzeln gewolltes also auserlesenes Werkzeug der Gottheit gefühlt, das besonderer

439 Gestalt und Bildung sich erfreuen soll." daS hat er auch geübt.

Was er aber so erkannt,

Deshalb mußte er sein der heilige Hohepriester

ächter, geistiger Freiheit.

Gern gewährt er der Welt, was ihr gebührt,

indem er im äußeren Thun strebt „nach Ordnung und Weisheit, nach Besonnenheit und Maaß."

Aber in dem, was das Heiligste ist, im

Glauben, int Gewissen, in der Bildung des inwendigen Mensche», ist er von heiliger Schaam abgehalten, je „fremder Meinung zu folgen," verabscheut sein, wie er sagt, „spät erwachter Geist" nichts mehr als „die Herrschaft fremder Meinung."

Aus diesem Sinn preist er als

„unseres Volkes schönsten Berns", „die Freiheit des Geistes und die Rechte unseres Gewissens zu beschützen" so recht im Einklang mit seinem frommen Könige, der seiner Zeit erklärte:

„der Glaube ist der freiste

Akt der Seele und wie er allein das Werk des Individuums ist, so läßt er sich nicht gebieten. befehlen."

Ich habe in dieser Angelegenheit nichts zu

Was aber Schleiermacher für sich fordert, das, wie gesagt,

verlangt er mit vollster Energie für jeden anderen, nur daß die volle Wahrhaftigkeit nicht fehle.

Ja wie diese Wahrheit seinen Geist durch­

leuchtete ; so hat er sie durch die Vollkraft des Willens in volles Leben umgesetzt. ren." Wille."

Das ist seine beständige Sorge,

„sich

selbst nicht zu verlie­

„Immer mehr zu werden, was er war, das war sein einziger Und kühn und wahr darf er sprechen: „Was ich so aufgefaßt,

ist mir auch eigen, mit meinem Stempel bezeichnet."

Wie ist er für

das Recht der Eigenthümlichkeit, der geistigen Freiheit stets eingetreten mit dem höchsten Muth, Nichts, auch das Schwerste, nicht fürchtend, Alles, auch das Theuerste, zu opfern bereit.

Des Vaters Liebe, — wel­

chem Sohn hat sie je mehr gegolten als ihm? Ja, als er das Heilig­ thum seiner Ueberzeugung ihr opfern soll, mit blutendem Herzen entsagt der Jüngling dem süßen Genuß derselben nach dem Wort des Erlösers: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt, denn mich, der ist meiner nicht werth."

Wer hat je inniger und wahrhafter zu seinem Könige gestanden

als Schleiermacher? — Ja,

als in den trüben Tagen herrschenden

Mißtrauens und Argwohnes und der damals in den höchsten Kreisen herumschleichenden Verleumdung der Besten, ihm

gänzliche Ungnade

drohte, festhaltend an seinen Ueberzeugungen und sie mannhaft verthei-

440

digend, war er stets gefaßt, trauernden Herzens den Wanderstab zu ergreifen und in die Verbannung zu gehen, mit dem Trost, „daß er sich als Lehrer, Bürger und Mensch nichts vorzuwerfen habe." Wie er aber seine Eigenthümlichkeit gegen jeden wahrend, „die Wahrheit aussprach," wie er sie sah und kein Ansehen und kein noch so geheiligtes Vorurtheil scheute, so „litt er freudig den Widerspruch, der aus solchem Sinn kam, nicht etwa als ein Uebel, sondern liebte ihn als etwas Gutes." „Die scharfe Morgenluft rücksichtsloser Forschung und die Weihe ge­ stählter Karaktere" „im ernsten Wahrheitssinn, im reinen sittlichen Ge­ fühl" wurzelnd sind es, wonach sein Auge stets ausschaut, sein Herz sehnsüchtig verlangt. Daher der ungebrochene Kampfesmuth, daher aber auch die Anerkennung der Liebe, die er so gern und voll fremder Eigen­ thümlichkeit gewährt. „Ich kenne niemanden," sagt über ihn ein be­ rühmter Theologe, der ihn eben auf's Genauste kannte, „ich kenne nie­ manden, der eine so großartige Toleranz, ein so umfassendes Herz besaß, die verschiedenen Stufen und Richtungen des Geistes liebevoll zu beur­ theilen und zu tragen." Wahrlich dem Manne, der so die gottgegebene Eigenthümlichkeit mit aller gottgegebenen Kraft in heiliger Freiheit und unbedingter Willigkeit, alles zu opfern und zu tragen, stets sich bewahrte, der dieselbe in jedem der Brüder ehrte, ihm gehört seines Gottes Zu­ sage: „Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Le­ bens geben." III. Schon im Vorigen wurde unwillkürlich der Liebe des verklärten Mannes gedacht und wie könnten wir von derselben schweigen, da sich Treue ohne Liebe gar nicht recht vorstellen läßt, da die Treue im tief­ sten Grunde nur die Liebe in ihrer Beständigkeit oder Beharrlichkeit ist. Die Liebe nun ist das Leben für die Mitmenschen, das Leben in den Mitmenschen. Sie kann aber nur mit Heiligkeit verknüpft sein, denn ihr Gegenstand ist das Heilige im Menschen, der Geist in seiner Hoheit, die Seele in ihrer Schönheit, die ewige, gottebenbildliche Per­ sönlichkeit. Die Liebe muß danach sich selbst bewahren, kann sich nicht hingeben an Lüge, Gemeinheit und Sünde. Die Liebe kann und muß selbst schneidig sein gegen das Böse, gegen das dem Heil Verderbliche. Wo sie aber sich hingeben kann, da ist sie nothwendig zart und innig

441

und hüllt sich in das Gewand der Sanftmuth und Holdseligkeit. Die Liebe ist nothwendig geistige Stärke, deshalb verknüpft mit vollstem Muth, wenn es gilt, Alles zu wagen, Alles aufzuopfern und zu ent­ behren. Die Liebe hat demnach zu ihrer Rückseite die Selbstverleugnung und als ihre Bewährung die Selbstaufopferung. Die Liebe endlich ist nothwendig die Hingabe des Einzelnen an das Ganze, an die gottge­ wollten Gemeinschaften, die als unvergängliche heilige Ordnungen in das Wesen unseres Geschlechtes hineingeschrieben sind, sie ist Hingabe an das Heiligthum der Familie, an das Lebendes Volkes im Staate, an das Leben des Volkes in der religiösen Gemeine, in der Kirche. Nun Schleiermacher ist auch nicht mit der Liebe, sondern eben nur mit den Anlagen für dieselbe geboren und hat wie wir alle als Erbtheil unseres Geschlechtes die Selbstsucht schon mit in'S Leben gebracht. Auch er konnte nur durch die neue Geburt, durch das Ertödten eines alten Lebens, zur Liebe und damit in's Himmelreich kommen. Liegen seine geistigen Kämpfe in seinem Leben auch nicht auf der Oberfläche, dem, welcher tiefer forscht und schaut, bleiben sie nicht verborgen. Aber daS ist die Treue seines Lebens, daß er so sehnsüchtig alle Strahlen ewiger Liebe in seine Seele saugt und den Gottesfunken der Liebe in sich selbst so gern wecken läßt, ihn dann so eifrig hegt und pflegt. Das ist die Treue seines Lebens, daß er gegen jede Anfechtung in geistigen schweren Kämpfen den heiligen Schatz der einmal erwachten Liebe in seinem Gemüth sich erhält und mehrt bis an's Ende. Deshalb seine Liebe so wahr und stark. Er darf von seiner Freundschaft, bei ihm „der Freiheit reinste That," rühmen, daß sie stets auf das „eigene innerste Sein der Menschen allein gerichtet" war. Er durfte zeugen: „Wie mich selbst liebe ich den Freund, sobald ich etwas für mein er­ kenne, gebe ich es ihm." Noch im Sterben darf er bitten, den Freun­ den mit seinem Gruß zugleich zu sagen, „wie innig lieb er sie gehabt habe." Treten wir aber auf den Boden des Familienlebens, warum sollten wir es verschweigen, daß Schleiermacher ein Sohn seiner Zeit auch wenigstens theilweise einst an den Irrthümern seiner Zeit Theil hatte, ich meine in Beziehung auf die Ehe, so daß eine Zeit lang selbst die Sehnsucht seines Gemüthes auf einen falschen Weg sich verlor. Thom aS, Predigten. 29

442 Aber nicht nur hat er siegreich und glänzend dieses Irren seines Zeit­ alters überwunden und gibt uns später das Tiefste und Schönste und Heiligste in seinen Predigten über Ehe und Ehescheidung, sondern jenes Irren der Jugend, das bei manchem seiner Zeitgenossen aus unreinem Herzen sich entwickelte und daher in unreines Thun sich verlor, bei ihm hatte eö vielmehr im kräftigsten Ringen nach Heiligkeit seinen Boden, hatte darin seinen Grund, daß er, ohne dabei der menschlichen Unvoll­ kommenheit hinreichend Rechnung zu tragen, zu hohe Forderungen an jede bestehende Ehe stellte.

Aus reinem Herzen quoll damals seine

schmerzliche Klage: „O Thränen, daß ich immer und überall das schönste Band der Menschheit so muß entheiligt sehen!"

Welche zarte, tiefe

heilige Liebe aber, von ihm so hauptsächlich ausgehend, in dem später von ihm gegründeten Hanse, wie dieselbe die Gatten, die Eltern und Kinder so innig vereinte!

Ach les't es wieder und wieder, Euch zur

Erhebung, in den köstlichen Zeugnissen seines Lebens!

Ach fühlt es,

wenn ihr den Mann im tiefsten Schmerz an seines Nathanaels Grabe sprechen hört!

Ach vernehmt es, wenn er von seinem Sterbebette mit

jenem Lieblingsjünger des Erlösers als letztes Vermächtniß den Kindern das Wort hinterläßt: „Liebet euch unter einander!" — Aber wie ihm auch sein Haus das Paradies war, in dem er Gottes Nähe so beson­ ders selig empfand; schließen.

sein reiches Herz konnte damit doch nimmer ab­

Er ist es so recht wesentlich gewesen, welcher der Liebe zu

dem angestammten Volke, dem vaterländischen Gemeinsinn einer alles verflachenden Aufklärung gegenüber den festen Boden

und das volle

Recht in der Sittenlehre wieder eroberte! Was aber sein scharfer Geist hier klar erkannte, das lebte in seinem Gemüth, die tiefe Liebe zu sei­ nem Volke, zu dem Könige, der nach Gottes Gnade demselben als Hort alles Rechtes gegeben war. am Sichersten.

Im tiefsten Weh bewährt sich jede Tugend

Da richtet den Blick auf den Mann, als die tiefste

Schmach und das größte Elend Uber unser Volk hereingebrochen war. Hört seine Liebe in Lauterkeit sich darlegen, wenn er den tiefen Schmerz ausspricht Uber „den Abgrund der Niederträchtigkeit und Feigheit," in den so viele sich stürzten, wenn er sich damit aufrichtet, daß wenigstens noch Einzelne hervorragten und unter ihnen „oben an der König und

443 die Königin."

Erkennt diese Treue der Liebe, wenn er, als bei uns

der ganze Staat eigentlich zusammengebrochen im Staube lag. und als selbst bedeutende Männer, großartig angelegte Naturen, vor dem fremd­ ländischen Eroberer sich erniedrigten, ausrief: „Ungerner als je würde ich mich jetzt von dem Könige trennen,

dem ich eine recht herzliche

Sehnsucht habe, ein tröstliches, ermunterndes Wort zu sagen in dem Unglück, das wahrlich nicht durch seine Sünden über ihn und uns ge­ kommen ist."

Merkt diese Kraft der Liebe aus der Stärke seiner Hoff­

nung, in welcher er sagt: „Nie kann ich dahin kommen, am Vaterlande zu verzweifeln, ich glaube zu fest daran, ich weiß es zu bestimmt, daß es ein auserwähltes Werkzeug und. Volk Gottes ist."

So aber mit

dem ächt Preußischen Herzen, eingewurzelt „ in deutscher Freiheit und deutscher Gesinnung," wie er die Mütter, in die Zukunft schauend, mahnt, ihre „Knaben recht kräftig, fest und trotzig, waffenlustig, liebe­ voll und fromm zu erziehen," wie er selbst an zarte Frauen die For­ derung stellt, seiner Zeit „Alles hinzugeben, um Alles zu gewinnen;" so ist er selbst im königlichen Muth, in heroischer, geistiger Tapferkeit auch allen voran gewesen, indem er unter den Augen der willkürlichen Gewalthaber öffentlich von der Kanzel und wo es sonst ging im Leben die heilige Flamme der Vaterlandsliebe in den Gemüthern schürte, vor keiner Gefahr zurückbebend.

So war er selbst für einen Ernst Moritz

Arndt „der freie starke Mann und der redliche Bürger," wie er ihn nirgend sonst gefunden hatte.

So konnte ein anderer wahrheitslieben­

der Mann zeugen: „Es gibt keinen, der wie Schleiermacher die Gesin­ nungen der Einwohner hob und regelte und in allen Klassen eine nazionale, eine religiöse, eine tiefere geistige Ansicht verbreitete.

Berlin

ward durch ihn wie umgewandelt."---------------------„ Sein mächtiger, freier,

stets fröhlicher Geist war einem kühnen Heere gleich in der

trübsten Zeit."

Was er auch Trübes in späteren Jahren erfahren,

nie hat sich sein Herz vom Vaterlande gelöst, von seinem Könige ge­ wendet.

Treu bis in

den Tod!

Aber wie sein Beruf, so hat der

Hauptzug seines geistigen Wesens ihn stets zu der Gemeinschaft des religiösen Lebens, bestimmter, zur evangelischen, christlichen Kirche geführt. Als vor dem wahrheitsliebenden Geist des in seiner Kraft sich entfal-

444 tenden Jünglings das für heilig gehaltene System kirchlicher Satzungen zusammenbrach, als dem Manne sich immer klarer die Gebrechen und Schäden der geschichtlich bestehenden Kirche

bloslegten,

als der mit

dem grauen Haar Geschmückte seine unausgesetzte, bestgemeinte, weis­ heitsvollste Thätigkeit für dieselbe so vielfach verkannt und zurückgestoßen sah; — o ehe hätte die in Liebe aufgehende Braut sich von dem Ge­ liebten ihres Herzens gelöst als Schleiermacher sich von der Kirche. Viele Formeln sogenannter christlicher Lehre hatten ihm sich aufgelöst, aber die unendliche Herrlichkeit des ewigen Hauptes seiner Gemeine strahlte klar in seiner Seele, darum konnte er sich von dessen Gemeine nie scheiden.

Sie aber, die Gemeine, steht in ihrem innersten, ewigen

Wesen stets vor seinem Auge als die heilige; denn „unendliche Heilig­ keit ist ihm des Christenthums Ziel."

Da gibt es für ihn keinen tie­

feren Schmerz als Zeuge sein zu müssen, wie selbst Diener der Kirche in voller Unwürdigkeit ihr Amt nur time haben zu ihrer Subsistenz, oder was noch schlimmer ist, zur Befriedigung des Ehrgeizes, der Eitel­ keit und hierarchischer Gelüste.

Ihm ruht das Wesen der Kirche in

der vollen Freiheit, sich aus ihr selbst, aus ihrem innersten Wesen zu erbauen und zu gestalten und in heiliger Eifersucht weist er ab den weltlichen Arm, wenn er in das Heiligthum des Glaubens einzugreifen versucht.

„ Hinweg mit jeder solchen Verbindung zwischen Staat und

Kirche," das ist thatsächlich sein Katonischer Rathschluß geblieben.

Die

Freiheit im Innern, die evangelische Freiheit ist ihm mit dem Wesen der rechten Kirche verwachsen und darum, wie innig fromm sein Ge­ müth;

mit der Geißel,

die ihm der Zorn der Liebe ans gewaltigen

Worten zusammenflicht, strebt er die knechtenden, die Gewissen been­ genden Bestrebungen

„der Frömmelnden und Buchstabenknechte," der

„unwissend und lieblos Verdammenden" vom lebendigen Tempel der christlichen Gemeine fern zu halten, fordert er,

„daß die unmittelbare

Beschäftigmig der Seele mit Gott sei und bleibe ein unzugängliches Heiligthum für jede Willkür und jede Gewalt."

Wie er aber nur das

Eine ewige Haupt liebend und verehrend kennt, so die Kirche auch nur in ihrer Einheit.

Es ist ihm bleibend in sein Leben eingegangen daS

Gebet seines Erlösers:

„Ich bitte, daß sie Eins seien gleichwie du

445 Vater in mir und ich in dir."

So kämpft er gegen alle trennenden

Schranken, wie sie der Hochmuth menschlicher Sünde in Lehrformeln und hierarchischen Anmaßungen aufgerichtet chatte, kämpft wenigstens geschichtlich mit reichem Erfolg für die Union der Lutheraner und Reformirten.

Der Kirche gehörte so mittel- oder unmittelbar sein For­

schen, denn die „Versöhnung des freien wissenschaftlichen Geistes mit der Kraft des eigenthümlich christlichen Lebens" handhabt er als feine eigentlichste Aufgabe.

Ja der Kirche ist geweiht sein Lehren auf Kan­

zel und Katheder, seine liebende unvergeßliche Hingabe an die Konfir­ manden.

Der Kirche dient nicht nur sein mildes Trösten und sein so

kraftvolles Ermuntern, sondern selbst die feine Ironie, die scharfen Pfeile seines ihr Ziel nie verfehlenden Witzes.

Aus dem Geist der

Kirche heraus hat er gewandelt und gehandelt, um ihretwillen hat er gelitten und gestritten, für sie hat er gestrebt und gelebt.

Auch hier

der volle Glanz der Treue einer nie abnehmenden, einer stets wachsen­ den und sich verklärenden Liebe bis an's Ende. IV.

Damit stehen wir schon bei dem Urborn, welchem diese Treue

voll unbesieglicher Kraft entquoll, in welchem sie ihr eigentlichstes Wesen und Leben gewonnen hatte.

Es ist kein anderer als die Frömmigkeit.

Wenn er in tiefer Wehmuth einst des „zu früh entschlafenen göttlichen Jünglings gedachte, dem Alles Kunst ward, was sein Geist berührte;" so dürfen wir von ihm sagen, daß ihm Alles, dem sein Geist sich zu­ wandte, Religion wurde.

Frömmigkeit ist „der mütterliche Leib gewesen,

in dessen heiligem Dunkel sein junges Leben genährt wurde," sie hat sein Geist von früh an geathmet, sie hat ihn bei den Arbeiten der sichtenden Kritik geleitet, sie zeigte ihm wie er „sich heilig zu halten" habe, durch sie „hat er Freundschaft und Liebe gelernt."

In der

Frömmigkeit sind ihm „die heiligen Geheimnisse der Menschheit" be­ schlossen, sie war und blieb „die innerste Triebfeder seines Daseins." Aber ursprüngliche, lebendige Frömmigkeit, wie er selbst ihr erst den rechten Ort im menschlichen Geist angewiesen, ihr Wesen entdeckt und dargelegt hat, Religion als „Anschauung und Gefühl, Sinn und Ge­ schmack für'S Ewige," als Glaube durch die innere Erfahrung gegeben. Wenn im Universum die Gottheit allenthalben ihm spricht, so daß ihm

446

„Alles Wunder ist" und er seinen Zeitgenossen zuruft: „Je religiöser ihr wäret, je mehr Wunder würdet ihr sehen;" so konzentrirt sich ihm doch von früh her schon das Licht und Leben der Religion im Christen­ thum, in der Person des Erlösers, so spricht er von diesem, wie auch vor der Schärfe seines kritischen Geistes sich die Glaubenssätze der Vorzeit aufgelöst hatten, doch mit festester Zuversicht: „Keine Gottheit kann gewisser sein als die, welche so sich selbst verkündigt," nämlich durch das größeste Wort, das je ein Sterblicher gesagt habe, durch sein „Ja" auf die Frage: „So bist du dennoch ein König?" In Christus ist ihm das ewige Urbild der Menschheit geschichtlich, wirklich geworden, in Christus ist ihm die erlösende Liebe und Gnade der Gott­ heit aufgegangen, Christus ist ihm der Weinstock, an dem er die fruchtreiche Rebe zu sein begehrt, Christus ist es, von dem er sich aufnehmen läßt in die Gemeinschaft seines heiligen und seines seligen Lebens. Ihm schlägt sein Herz, bis es zu schlagen aufhört. Und nun, wie sehr er jedem Gebiet menschlichen Sinnens, Denkens und Thuns seine eigenthümlichen Grenzen wahrt, so ist ihm doch Frömmigkeit und Christen­ thum der Sauerteig, welcher Alles heiligend durchzieht, das Gottesleben, wodurch alles Menschliche göttlich zu werden bestimmt ist. Allerdings hat er mit der Kraft und Schärfe seines Geistes allem Erzwungnen in Glaubenssatzung und Glaubensdarstellnng, jedem Versuch, durch fremd­ artige Mittel und wäre es auch „der Dsop der Furcht vor den ewigen Strafen und das Manna der ewigen Hoffnung," der Religion aufzu­ helfen, allem Prunk auf gottesdienstlichem Gebiet, jeder gemachten Sal­ bung und jedem erkünstelten Heiligenschein stets im vernichtenden Kampfe gegenüber gestanden. Es galt ihm ja grade die Religion gegen ihren schlimmsten Feind, gegen ihr Zerrbild, hinter dem sich die niedrigsten menschlichen Leidenschaften verstecken, zu bewahren. Aber wo ist ein menschliches Leben wohl je tiefer in die heilige Fluth der Frömmigkeit getaucht gewesen als das seine, wo hat der tiefinnige Glaube an Gott, an den Erlöser wohl mehr Alles, selbst bis zu den Spielen des Scherzes hin, verklärt! Hat ein bedeutender Theologe sein großes Erstlingswerk, seine Reden, „ eine Selbstoffenbarung der Religion" genannt, wem strömt nicht aus seinen Predigten, namentlich aus seinen Festpredigten

447 das Christenthum als sein eigenstes Leben fühlbar entgegen!

Wie er­

fährt er darum beständig die Kraft christlicher Frömmigkeit am eigenen Herzen, so daß er sprechen kann: „Friede ist in meiner Brust, ganzer, reiner Friede, der ja auch, wo er wirklich ist, seiner Natur nach ewig ist und nicht weichen kann!"

Mit wie

zarter Gewissenhaftigkeit fühlt

er sich für sein ganzes Leben durch die Religion gebunden, wie es aus seinen Worten uns entgegenklingt: „Es muß wahr sein, daß es wenige Menschen gibt, die so von Gott begnadigt sind wie ich,

gebe er mir

nun auch Gnade und Treue, Alles recht zu genießen und zu verwalten!" Wie

ruht

Grunde!

alles

Hochherrliche

in

seinem Leben auf

Versteht sich das bei seinem

überaus

diesem

heiligen

reichen, vielseitigen

kirchlichen Wirken von selbst, wer empfindet es nicht so recht wesentlich bei seinem gesunden, lebenskräftigen Patriotismus, daß er nur in dieser Quelle sein Leben hat und seine Kräfte findet!

Die Lieblichkeit und

wahre, hohe Schönheit seines Familienlebens ist aus der Frömmigkeit entsprungen, wie er selbst es auf's Schönste vor seiner Verheirathung der Verlobten in den Worten aussprach:

„Im Gebet habe ich unsere

Ehe zu einer christlichen geheiligt, damit unser ganzes Leben von from­ men Sinn und heiliger, göttlicher Liebe erfüllt sei."

So war es ihm

auch beschieden über alles Schwere und Schmerzliche im Leben dankend zu bekennen: „Was von außen kam, hat der Glaube überwunden, was von innen, hat die Liebe gut gemacht." Sterben.

Auf dem Schmerzensbett der letzten Krankheit, kurz vor sei­

nem Tode, als er seufzen mußte: bezeugen:

Diesem Leben entsprach sein

„Ich leide viel," konnte er zugleich

„In meinem Innern erlebe ich die göttlichsten Momente,

ich muß die tiefsten spekulativen Gedanken

denken und die sind mir

völlig eins mit den innigsten, religiösen Empfindungen."

Zur letzten

heiligen Feier der sich selbst aufopfernden Liebe Christi mit den Seinen hier so schmerzlich und so selig vereint, sprach er über die Einsetzungs­ worte:

„Auf diesen Worten der heiligen Schrift beharre ich, sie sind

das Fundament meines Glaubens."

So treu im Leben, treu im Tode

seinem Gott und seinem Erlöser ist er selig heimgegangen aus dieser Welt. Hochgeehrte Festversammlung,

dem

gelehrtesten

und geistvollsten

Lehrer der alten Kirche gab diese in anerkennender Dankbarkeit einst

448 den Beinamen

„der

Diamantene."

Aber nicht der reichen geistigen

Begabung, nicht der umfassenden Gelehrsamkeit, nicht den wissenschaft­ lichen Leistungen galt dieser Ehrenname, sondern der Treue in seinem Wahrheitssinn, in der Lauterkeit des Wandels,

in der Festigkeit des

Karakters, in dem hingebenden Muth des Martyriums, in der selbst­ losen Liebe wurde damit die Palme gereicht. Wahrlich in Schleiermacher leuchten wie eine Fülle blitzender Edelsteine viele hohe, züge uns entgegen;

herrliche Vor­

aber die Treue, in der er gewiß von

sehr, sehr

wenigen seines Zeitalters erreicht, von niemand übertroffen wurde, sie ist der ächte Diamant, in dem das klare, volle Himmelslicht seines eigensten Wesens uns so herrlich strahlt.

In der Treue ist uns seine

Hoheit und Herrlichkeit zusammengeschlossen.

So denn zum Schluß.

Wenn vom Standpunkt einer höheren Weisheit der

gottesdienstliche

Karakter für diese Feier uns nicht erlaubt wurde, so ist doch der laute Wunsch und das

stille Gebet gestattet,

daß wir an dem Gedächtniß

dieses Gerechten uns zur rechten, vollen Treue , in rastloser Berufs­ thätigkeit, in der Pflege geistiger Freiheit, Wahrhaftigkeit und Lauterkeit, in inniger Liebe und selbstloser Hingabe an die Familie, an den Staat, an König und Vaterland, an unsere evangelische Kirche, in ungeheuchelter, demüthig muthiger Frömmigkeit uns erheben und kräftigen, daß durch diese Feier in unserem Innern von Neuem

so recht lebendig

werde die göttliche Mahnung und Zusage: Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.