Geteilte Arbeit: Praktiken künstlerischer Kooperation [1 ed.] 9783412516840, 9783412516826


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German Pages [285] Year 2020

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Geteilte Arbeit: Praktiken künstlerischer Kooperation [1 ed.]
 9783412516840, 9783412516826

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GETEILTE GETEILTE GETEILTEARBEIT ARBEIT ARBEIT PRAKTIKEN PRAKTIKEN PRAKTIKENKÜNSTLERISCHER KÜNSTLERISCHER KÜNSTLERISCHERKOOPERATION KOOPERATION KOOPERATION

MAGDALENA MAGDALENA MAGDALENA BUSHART, BUSHART, BUSHART, HENRIKE HENRIKE HENRIKE HAUG HAUG HAUG (HG.) (HG.) (HG.)

Interdependenzen Die Künste und ihre Techniken Band 5

Herausgegeben von Magdalena Bushart und Henrike Haug

Magdalena Bushart | Henrike Haug (Hg.)

Geteilte Arbeit Praktiken künstlerischer Kooperation Unter Mitarbeit von Stefanie Stallschus

BÖHLAU VERLAG  WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildungen: Vorderseite: Details aus Abb. 19, Abb. 54 und Farbabb. 6 in diesem Band. Unten rechts: Tischteppich mit ­Szenen der Flucht nach Ägypten und der Anbetung der Heiligen Drei Könige, Detail der Bordüre, gewirkt in Straßburg, 1565, Strasbourg, Musée de l’Œuvre Notre Dame (Inv.-Nr. MAD LIV.7). Foto: © Birgitt Borkopp-Restle Rückseite: Details aus Abb. 60, Farbabb. 1, Farbabb. 11 und Farbabb. 7 in diesem Band Korrektorat: Ute Wielandt, Markersdorf Satz: Punkt für Punkt Mediendesign, Düsseldorf

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51684-0

Inhaltsverzeichnis

7

Magdalena Bushart und Henrike Haug Vom Mehrwert geteilter Arbeit

29

Henrike Haug (K)ein Thema Zum Motiv der Zusammenarbeit in mittelalterlichen Künstlerinschriften

55

Tamara Tolnai Geteilte Aufträge an römischen Wandgrabmälern der zweiten Quattrocentohälfte Phänomenologie und Deutungsversuche

79

Birgitt Borkopp-Restle Plurale Autorschaft Aufgaben und Anteile von Auftraggebern, Malern und Wirkern in der Gestaltung von Tapisserien

97

Stefania Girometti Guido Reni Inventor? Zur Entstehung kreativen Potentials in Renis Bologneser Werkstatt

113 Tafelteil 129

Jan Mende Dirigismus, Kompromiss und Kooperation Karl Friedrich Schinkels Zusammenarbeit mit Bildhauern und Kunsthandwerkern

149

Liane Wilhelmus Wenn ich Beethoven wäre, dann wärst Du Yehudi Menuhin Zur Zusammenarbeit von Georg Meistermann und den Glaswerkstätten

167

Sonja Hnilica Entwerfen als Ping-Pong-Spiel Zu den Kooperationen des Ingenieurs Stefan Polónyi mit den Architekten Josef Lehmbrock und Fritz Schaller

Inhalt I 5

185

Kirsten Maar und Fiona McGovern Gemeinsam zwischen den Künsten Kollaborative Ansätze in Produktion und Präsentation von Musik, Tanz und bildenden Künsten seit den 1960er Jahren

205

Jee-Hae Kim „Hallo? ... Hallo! ...“ oder wie man durch den Eisernen Vorhang hindurch musiziert Kooperative Praktiken in Telefonmusik: Wien–Berlin–Budapest (1983)

219

Luigi Kurmann Arbeiten für und mit Dennis Oppenheim

243

Hanna Baro Von Künstlern und Kollaborateuren Das Beispiel der Kunstgiesserei St. Gallen

263

Rachel Mader Neue Verbindlichkeit Kunstkollektive im 21. Jahrhundert

281 Bildnachweise

6 I Inhalt

Magdalena Bushart und Henrike Haug

Vom Mehrwert geteilter Arbeit

Wir sind es gewohnt, dass Artefakte, denen wir im öffentlichen Raum, in Museen, in Büchern oder im Internet begegnen, einem klar benennbaren Autor oder einer klar benennbaren Autorin zugeordnet werden können. Erläuternde Schilder und Bildlegenden sprechen von „Tizian“, „Dürer“ oder auch von „Rubens und Werkstatt“; selbst der anonyme „Meister“, mit dem sich die Forschung häufig begnügen muss, wird vorzugsweise als ­Einzelperson gedacht. „Kunst“, so stellten Rudolf und Margot Wittkower 1965 in ihrem Standardwerk Künstler – Außenseiter der Gesellschaft apodiktisch fest, „ist immer von einzelnen hervorgebracht worden, und fehlende schriftliche Überlieferung bedeutet ­keineswegs, dass frühere Künstler keine Individualität besessen hätten.“1 Obwohl gerade die partizipatorischen Konzepte unserer Tage dazu anregen, Autorschaft neu zu denken, hat sich für die Wahrnehmung der Vergangenheitskunst kaum etwas an dieser Überzeugung geändert. Sie spiegelt sich auch in einer Rechtsprechung wider, die darauf insistiert, dass ein Werk nur einen Urheber beziehungsweise eine Urheberin haben kann – was die rechtliche Verhandlung abweichender Modelle erheblich erschwert.2 Tatsächlich jedoch sind Kunstwerke in ihrer sinnlich wahrnehmbaren Form nur in Ausnahmefällen das Werk eines einzelnen Menschen. Ob bei der Entwicklung von Konzepten, der Umsetzung von Entwürfen, der Lösung technischer Probleme: fast immer sind mehrere Personen – Produzent*innen und Händler*innen, Hilfskräfte und Spezialist*innen, Auftraggeber*innen und Agent*innen – in den Fertigungsprozess involviert.3 Zudem basiert die Produktion auf dem Einsatz von Instrumenten und Materialien, die in der Regel von Dritten bereitgestellt werden – Apothekern, Tischlern, Webern – , auf Wissen, das von Lehrer zu Schüler tradiert oder schriftlich weitergegeben wird, und auf Interaktionen mit einem weiteren kulturellen und sozialen Umfeld, dessen Wert- und Ordnungssysteme sich ebenfalls im Werk manifestieren.4 Nicht einmal die expressive Geste der Malerei ist ohne Zuarbeit zu denken. Setzt sie doch industriell gefertigte Farben aus der Tube voraus, ist also, wie Marcel Duchamp spöttisch angemerkt hat, „readymades aided“.5 Mit anderen Worten: Je umfassender man die Faktoren in den Blick nimmt, die an der Werkgenese teilhaben, desto problematischer wird die Vorstellung einer Allein-Autorschaft. Die einsame Arbeit im Atelier erweist sich als Fiktion, die sich vor dem Hintergrund einer stark ausdifferenzierten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung des Kapitalismus entfaltet und durch eurozentristische Vorstellungen von Künstlerschaft und Genie unterstützt werden.

Vom Mehrwert geteilter Arbeit I 7

Der Soziologe Howard Becker erklärte das Konzept von „Autorschaft“ deshalb 1982 pauschal zu einem Konstrukt, das durch ein sehr viel weiter gefasstes Netzwerk zu ersetzen sei: Works of art [...] are not the products of individual makers, ‚artists‘ who possess a rare and special gift. They are, rather, joint products of all the people who cooperate via an arts world’s characteristic conventions to bring works like that into existence.6

Noch umfassender ist der Begriff des „acting ensembles“ angelegt, den Edward Sampson 1999 in die Diskussion eingeführt hat. Danach sind Kunstwerke ausschließlich als Zusammenspiel von Akteuren, Komponenten (wie Materialien, Räume, der Geschichte und Entwicklung eines kunsttechnischen Verfahrens) und Handlungen zu begreifen.7 Der vorliegende Band, der aus der gemeinsam mit Stefanie Stallschuss organisierten und von der Fritz Thyssen Stiftung finanzierten fünften Tagung der Reihe Interdependenzen. Die Künste und ihre Techniken im Oktober 2016 hervorgegangen ist, fasst den Radius nicht ganz so weit, sondern fokussiert in erster Linie auf Kooperationen zwischen Künstler*innen untereinander, Künstler*innen und Auftraggebern und Künstler*innen und Publikum.8 Die Beiträge nähern sich dem vielschichtigen Thema über exemplarische Studien. Sie zeigen, dass es zu keinem Zeitpunkt allgemein verbindliche Modelle für künstlerische Kooperationen gegeben hat, und lenken zugleich den Blick auf unterschiedliche Faktoren im gemeinschaftlichen Arbeitsprozess: auf das Auftraggeberhandeln, das Selbstverständnis einzelner Künstler*innen, auf ideologisch definierte Modelle kollektiven Handelns oder auf spezifische Formen der Werkstatt- und Ausbildungsorganisation. Die Zusammenschau macht nicht nur die Bandbreite sichtbar, sondern deutet auch die wechselnde Bewertung an, die die geteilte Arbeit – je nach kultureller und gesellschaftlicher Sinnstiftung – im Laufe der Jahrhunderte erfahren hat. Sie ermöglicht es uns darüber hinaus, Kontinuitäten über die Zeiten hinweg zu erkennen und wiederkehrende Muster zu identifizieren. Schließlich sind hierarchisch definierte Kooperationen nicht nur in der Vormoderne zu finden und umgekehrt gleichberechtigte Zusammenschlüsse nicht nur in der Gegenwartskunst. Die Überlappung der Phänomene erschwert freilich auch den Versuch einer begrifflichen Definition: Was als „Kooperation“, was als „Kollaboration“ oder was als „Interaktion“ zu bewerten ist, lässt sich nicht immer eindeutig bestimmen.9 Eher können die Strukturen der Zusammenarbeit über räumliche und zeitliche Faktoren charakterisiert werden: Der ortsgebundenen Zusammenarbeit in der Werkstatt, im Atelier oder im Studio, die in der Regel hierarchisch organisiert ist, steht die ortsverteilte Zusammenarbeit gegenüber, in der die Partner meist gleichberechtigt agieren; neben der unmittelbaren Abfolge von Handlungen sind zeitversetzte Wiederaufnahmen oder simultane Aktionen möglich. Je nach Organisationsform gelten die Werke als Produkt eines Künstlerindividuums, an dem mehrere helfende Hände beteiligt waren, als Summe individueller Leistungen oder als Gemeinschaftsprojekt, das nicht nach Autor*innen unterscheidet – und dies unabhängig von den tatsächlichen Arbeitsabläufen.

8 I Magdalena Bushart und Henrike Haug

Beginnen wir mit der Kooperation in der Werkstatt als Ort der Ausbildung und der Produktion. Hier stehen die Handlungen der am Werk Beteiligten – das Reiben der Farben und ihr Gebrauch, der Entwurf und seine Umsetzung, die Schülerzeichnung und ihre Korrektur – in einem konsekutiven Verhältnis zueinander. Die Arbeit in der Werkstatt hatte lange Zeit unbedingt den Vorgaben des Werkstattinhabers zu folgen; stand dieser doch dem Auftraggeber gegenüber für eine bestimmte formale Lösung, die Qualität der Produkte und die rechtliche Seite der Ausführung ein.10 Besonders fest im Werkstattkosmos verankert waren die Schüler, die sich hier Schritt für Schritt die technischen und handwerklichen Grundlagen ihrer Profession aneignen und auf diese Weise von Handlangern zu Mitarbeitern aufsteigen konnten. Über die Ausbildung nahmen sie Traditionen, Wertvorstellungen und Normen ihrer Lehrer auf und machten sie zum Ausgangspunkt ihres eigenen Schaffens.11 Dadurch entstanden „Künstlergenealogien“, die bis in die Enkel­ generation wirken konnten (man denke beispielsweise an die Giambolognas Tod überdauernden Bronzewerkstätten, die an verschiedenen Orten weitergearbeitet und ihr Know-how vermittelt haben) und auch in anderen Medien (wie Biografien oder Künstlerinschriften) ihren Nachhall fanden, wie Henrike Haug in diesem Band anhand mittelalterlicher Beispiele zeigt.12 Die Schüler passten sich dabei idealerweise den Vorgaben so an, dass ihre Hand nicht oder kaum von der des Meisters beziehungsweise des Werkstatt­ verbundes zu unterscheiden war. Doch auch fertig ausgebildete Künstler, die sich temporär als Gehilfen verdingten – etwa, weil sie für Großaufträge angeheuert wurden oder als ortsfremde Kräfte nur in abhängigen Vertragsverhältnissen arbeiten konnten – hatten sich der Manier der Werkstattinhaber unterzuordnen. Noch in der Mitte des 17. Jahrhunderts verbot die Gildenordnung der Stadt Utrecht den Meistern, in ihren Werkstätten Schüler oder Mitarbeiter zu beschäftigen, wenn diese in einer anderen Weise [handelinge] malten oder Arbeiten mit dem eigenen Namen signierten.13 Für den werkstattleitenden Meister war diese Praxis in wirtschaftlicher wie organisatorischer Hinsicht interessant. Schließlich konnte er so die Produktion des eigenen Betriebs steigern und zugleich unter seinem Namen Werke vertreiben, an denen er keinen oder nur einen geringen Anteil hatte. Je größer das Unternehmen war, desto wichtiger wurde der Aspekt der Vereinheitlichung. Der enorme Ausstoß der Wittenberger Cranach-Werkstatt etwa war nur mit einer entsprechend großen Belegschaft zu bewältigen. Um dennoch vergleichbare Bildlösungen zu garantieren, arbeitete man hier mit standardisierten Formaten, einer hochrationellen Maltechnik und dem Einsatz von Vorlagen und Schablonen.14 Doch auch in späteren Jahrhunderten blieb gemeinschaftliche Arbeit die Grundlage ökonomisch erfolgreicher Ateliers. Wie Stefania Girometti in ihrem Beitrag zu diesem Band deutlich macht, befriedigte Guido Reni die steigende Nachfrage nach Werken seiner Hand dadurch, dass er lediglich grobe Skizzen für die Bilder anfertigte, die eigentliche Arbeit hingegen Schülern übertrug, um ganz am Schluss den Gemälden noch einen letzten Schliff zu geben. Ähnliches ist für Peter Paul Rubens überliefert, der mit der Auslagerung der Bildproduktion nicht nur seinen Gewinn maximieren konnte, sondern auch seine

Vom Mehrwert geteilter Arbeit I 9

eigene Rolle als pictor doctus zu definieren suchte. Verblüfft beobachtete der Hamburger Medizinstudent Otto Sperling, der 1621 Antwerpen besuchte, dass Rubens während der Arbeit Briefe diktierte, sich aus Tacitus vorlesen ließ und Konversation machte, sich also in erster Linie intellektuell betätigte, während die zeitaufwendigen, handwerklich definierten Tätigkeiten des Malens von einem Heer von Schülern erledigt wurden: Wir sahen dort auch einen grossen Saal, der keine Fenster hatte, sondern sein Licht durch eine grosse Oeffnung mitten in der Decke erhielt. In diesem Saale sassen viele junge Maler, die alle an verschiedenen Stücken malten, welche mit Kreide von Hrn. Rubbens vorgezeichnet worden waren und auf denen er hier und da einen Farbfleck angebracht hatte. Diese Bilder mussten die jungen Leute ganz in Farben ausführen, bis zuletzt Hr. Rubbens selbst das Ganze durch Striche und Farben zur Vollendung brachte. Da hiess es denn, das alles sei Rubbens’ Werk, wodurch sich dieser Mann einen ungeheuren Reichthum gesammelt hat.15

Sperlings Erinnerung wird durch den Bericht Joachim von Sandrarts gestützt, der zusätzlich von einer Spezialisierung der Mitarbeiter nach Motiven – Landschaften, Tiere, Himmel usw. – wusste. Der Autor der Teutschen Academie erkannte freilich auch, dass von dieser Arbeitsteilung keineswegs nur Rubens profitierte.16 Die Schüler, ja die Stadt Antwerpen waren ebenfalls Nutznießer des Geschäftsmodells: Diese, weil sie „dadurch in allen Theilen der Kunst treflich abgerichtet“, jene, weil sie „eine ungemeine Kunst-Schule wurde / worinnen die Lernende [sic!] zu merklicher Perfection gestiegen“.17 Noch einmal anders lagen die Dinge im Falle Rembrandts. Hier gab paradoxerweise das Interesse am Personalstil des Künstlers den Ausschlag für die erfolgreiche Werkstattproduktion der dreißiger und vierziger Jahre. Die Künstler, die meist schon eine Ausbildung absolviert hatten, bevor sie gegen ein vergleichsweise hohes Lehrgeld als Schüler aufgenommen wurden, eigneten sich die innovative Mal- und Zeichenweise des Meisters sowie seine Motive so nachhaltig an, dass Rembrandt auch Werke, die gänzlich ohne sein Zutun entstanden waren, im Sinne einer Wertsteigerung mit seiner Signatur versehen konnte – eine Praxis, die schon bei Zeitgenossen umstritten war und die Rembrandtforschung bis heute in Atem hält.18 Für die Käufer muss grundsätzlich außer Frage gestanden haben, dass die bestellte oder erworbene Ware auf kollektiver Arbeit basierte. Nur so ist zu erklären, dass sie seit der Frühen Neuzeit zunehmend auf einem quantifizierbaren Anteil des Meisters insis­ tierten, der sich dann in der Preisgestaltung niederschlug. Das bedeutet aber zugleich, dass „Eigenhändigkeit“ und bestimmte Künstlernamen für Auftraggeber und Händler wichtig(er) wurden, ohne dass sich dies  – notwendigerweise  – im Produktionsprozess ­niederschlug. So verpflichtete sich etwa Albrecht Dürer, die Mitteltafel des Altars, den der Frankfurter Kaufmann Jakob Heller bei ihm bestellt hatte, eigenhändig auszuführen – und machte damit implizit klar, dass er die Bemalung der Altarflügel seinen Gehilfen übertrug.19 Ähn-

10 I Magdalena Bushart und Henrike Haug

liche Verträge sind aus Italien erhalten; auch hier wurde festgelegt, welche Anteile der Werkstattleiter zu erbringen hatte und welche er delegieren durfte.20 Häufig musste der Meister garantieren, die Figuren oder zumindest die Gesichter und Hände zu malen; bisweilen aber wurde vereinbart, dass „kein anderer Maler den Pinsel führen“ dürfe als er selbst.21 Allerdings schlossen derartige Formulierungen die Mitarbeit Dritter keineswegs aus, sondern waren eher relational beziehungsweise als Absichtserklärung zu verstehen.22 Ohnehin nahm man bei besonders nachgefragten Künstlern auch mit Werken vorlieb, die explizit von Gehilfen stammten. Der Gesandte des Herzogs von Urbino in Florenz, Simone Fortuna, musste seinem Herrn, der zwei kleine Marmorstatuetten des Meisters für seine Sammlung ankaufen wollte, mitteilen, dass Giambologna eine entsprechende Anfrage abgelehnt habe: „che di marmo egli non può far in modo alcuno le due stauette che desidera Vostra Eccellenhza, perché in lavori sì piccoli non potrebbe ricever aiuto alcuno, cioè bisognerebbe che tutto facesse per se stesso“ – bei so kleinen Arbeiten könne der Bildhauer nicht auf seine Werkstattmitarbeiter zurückgreifen und müsse daher alles selbst ausführen. Fortuna aber gab den Vorschlag Giambolognas weiter, ein nach dem Entwurf des Meisters, allerdings in der Werkstatt hergestelltes Bronzewerk anzukaufen: Ma se Vostra Eccellenza le volesse di bronzo [...] in tal caso promette di servir ottimamente e darle finite disse prima in un anno, ma per mio amor s’ingegnerà di darle in sei et al più in otto mesi, perché fatti i modelli di cera o di terra, che si fan presto, di sua mano, darà nel medesimo tempo a far le forme, il getto et a ripulirle poi agli orefici che tiene apposta per Sua Altezza [...].23

Sammlerwert hatte also auch ein Werk, das nach einem eigenhändigen Modell von einem Mitarbeiter (der nicht einmal namentlich genannt werden musste) ausgeführt worden war, solange es sich mit dem Namen des berühmten Bildhauers verbinden ließ und den Qualitätsstandards der Werkstatt entsprach. Das Beispiel macht erneut deutlich, dass die Kooperation auch für die Mitarbeiter vorteilhaft sein konnte. Solange sie noch nicht über eine eigene Werkstatt verfügten oder sich auf Wanderschaft befanden, waren sie nicht berechtigt, Aufträge anzunehmen. Die Zugehörigkeit zu einem erfolgreichen Betrieb sicherte ihnen ein Auskommen, machte sie mit aktuellen Trends vertraut und ermöglichte ihnen, Kundenkontakte zu knüpfen. Zu Konflikten kam es, wenn die Werkstattdisziplin mit den eigenen Interessen kollidierte. In einem Brief an Ferdinand  II. von Tirol vom August 1556 bedauerte Wenzel Jamnitzer, wegen anderweitiger Verpflichtungen dem Erzherzog den Wunsch nach einer Brunnenanlage nicht selbst erfüllen zu können.

24

Er werde aber einen Mitarbeiter

anweisen, eine Reihe von Entwürfen anzulegen. Als Kandidaten nannte er Jacopo Strada, 25

der nach dem Tod von Giulio Romano 1546 wohl als Mitarbeiter in seine Werkstatt gekommen war. Bei Strada handle es sich um einen „fleissigen des Malens und anderer dergleichen Künsten wohlverständigen Gesellen“, der „sich zu solchen Vorhaben gebrauchen lassen“26 sollte. Jamnitzers Versuch, den als Goldschmied ausgebildeten Werkstattmitarbeiter, der nicht nur über Erfahrung, sondern auch über ein Reservoir an Entwürfen bedeutender ita­

Vom Mehrwert geteilter Arbeit I 11

lienischer Künstler verfügte, als Sachwalter seiner Interessen einzusetzen, scheiterte – und zwar wohl deswegen, weil Strada den prestigeträchtigen Auftrag des Erzherzogs nicht als abhängige Kraft, sondern nur auf eigene Rechnung übernehmen wollte.27 Die Werkstatt war allerdings nicht nur der Ort der Mitarbeit, sondern auch der Ort der Zuarbeit. Vor allem bei komplexen Aufträgen, in denen die Regulatorien mehrerer Zünfte beachtet werden mussten, bot es sich an, Vertreter anderer Gewerke unter einem Dach und in abhängigen Arbeitsverhältnissen zu beschäftigen, um die Vertragserfüllung zu vereinfachen. In diesem Fall ging es also weniger um Vereinheitlichung als um die Optimierung von Arbeitsabläufen: Der Werkstattinhaber koordinierte als Generalunternehmer das Zusammenwirken der unterschiedlichen Berufsgruppen bei konkreten Projekten; anders als der Auftraggeber verfügte er über ein Netzwerk, auf das er zurückgreifen konnte, um temporäre Kräfte zu rekrutieren. Bekannt ist das Beispiel Michael Wolgemuts, zu dessen festem Mitarbeiterstamm neben drei Malern auch ein Fassmaler und ein Vergolder gehörten, der bei Bedarf aber auch Glasmaler, Bildschnitzer und Formschneider unter Vertrag nahm.28 Ein weiteres interessantes Beispiel ist der in Antwerpen ausgebildete Galyon Hone (gest. 1550), der 1517 in England zum Hofkünstler von Henry VIII. aufstieg und der, um sowohl die großen Glaskunst-Aufträge umsetzen als auch den Zunftbestimmungen und der englischen Konkurrenz der Worshipful Company of Glasziers of London trotzen zu können, vielfältige Kooperationen einging und als The King’s Glazier die Verantwortung für verschiedene Großprojekte trug.29 In späteren Zeiten handelte es sich bei den Zusatzkräften vor allem um Spezialisten, die innerhalb der Werkstatt für die Weiterverarbeitung oder Verbreitung der vom Meister geschaffenen Werke zuständig waren. So finden wir seit dem frühen 16.  Jahrhundert ­Maler, die eine enge Bindung mit Stechern eingingen. Den Anfang machte hier Raffael, der die Reproduktion seiner Entwürfe über eine Werkstatt organisierte, die seiner bottega angelagert war. Folgt man Anne Bloemacher, dann belieferte er Marcantonio Raimondi exklusiv mit Zeichnungen, um auf diese Weise die Kontrolle über die druckgrafische Verbreitung seiner Bildideen zu behalten: Die Platten, die Raimondi in seinem Auftrag und nach seinen Angaben stach, blieben in seinem Besitz; den Druck und den Vertrieb von Abzügen erledigte sein Faktotum Il Baviera.30 Raffaels Vorbild machte Schule; in der Folgezeit stellten immer wieder Maler Kupferstecher an, um in der eigenen Werkstatt ihre

­Arbeiten reproduzieren zu lassen. Hier ist einmal mehr auf Guido Reni zu verweisen, der die Drucke nach seinen Entwürfen unter anderem als Anschauungsmaterial für die Ausbildung seiner Schüler nutzte, aber auch auf Peter Paul Rubens, der seinen Anspruch auf Autorschaft für die gestochenen Gemäldereproduktionen zusätzlich durch Privilegien zu sichern wusste.31 Was für die Maler die Verzahnung von Malerei und Aufstellung beziehungsweise von Malerei und Druckgrafik, war für die Bildhauer der Vormoderne die Kooperation mit Fassmalern, die den Holzskulpturen erst ihr endgültiges Aussehen verliehen32, und in späteren Jahrhunderten die Einbeziehung von Modelleuren und Steinmetzen, die die Vergröße-

12 I Magdalena Bushart und Henrike Haug

rung kleinformatiger Entwürfe in Gips, die Vorbereitung der Modelle für den Guss beziehungsweise die Umsetzung der Gipsmodelle in Stein besorgten. Seit dem frühen 19. Jahrhundert entstanden auf diese Weise Großunternehmen, in denen die meisten Arbeitsschritte von Assistenten ausgeführt werden konnten, die auch die Anfertigung von Repliken übernahmen.33 Einen Höhepunkt dieser Entwicklung stellte das Atelier Auguste Rodins dar. Hier waren in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts beinahe 50 Menschen beschäftigt, darunter Formgießer, Formenbauer, Modelleure, Assistenten (sog. metteurs aux points), Steinmetzen, Ornamentierer, Vergrößerer und Handlanger. Der Bildhauer fertigte in der Regel lediglich Wachs-, Terrakotta- oder Lehmmodelle an und überließ alle weiteren praktischen Arbeiten seinen Mitarbeitern; Korrekturwünsche teilte er per Zeichnung oder Textnachricht auf dem Gips mit. Allerdings wählte er die abattis aus, also vorgeformte Kopf-, Arm- oder Beinfragmente, die in den Figuren zum Einsatz kommen sollten, und überwachte die Übertragung in Marmor beziehungsweise die Patinierung und Ziselierung der Güsse.34 Unwidersprochen blieb diese Form der Arbeitsteilung um die Jahrhundertwende nicht mehr; schließlich vertrug sie sich nur schlecht mit der modernen Vorstellung vom Künstlerindividuum, das seine Werke aus sich selbst heraus schöpft. Mit Blick auf Rodin lehnte der Bildhauer Medardo Rosso Werke, die „in collaboration of mechanical work“ ausgeführt würden, kategorisch ab: Die Idee eines Kunstwerks könne glaubhaft nur derjenige zum Ausdruck bringen, der diese Idee auch selbst entwickelt habe.35 Freilich trafen hier auch zwei ökonomische Realitäten aufeinander: die des erfolgreichen Großunternehmers und die eines in prekären Verhältnissen arbeitenden Einzelkämpfers, der sich sogar als sein eigener Gießer versuchte (und sich dabei wirkmächtig als Vulkan zu inszenieren wusste).36 Doch noch die Großateliers unserer Tage stehen letztlich in der Tradition der mittelalterlichen Werkstätten. Sie bilden zwar nicht mehr aus, werden aber häufig als Wirtschaftsunternehmen geführt, deren Inhaber zugleich als alleinige Autoren oder wenigstens als Hauptautoren der Werke adressiert werden. Strikt hierarchisch organisiert ist das Studio von Jeff Koons, in dem zwischenzeitlich bis zu hundert Assistenten in Tag- und Nachtschichten damit beschäftigt waren, die Entwürfe des Künstlers umzusetzen. Eigene Kreativität ist hier nicht erwünscht. Vielmehr achtet Koons penibel darauf, dass die Arbeiten exakt seinen Vorstellungen entsprechen; ein ehemaliger Mitarbeiter beschrieb den Job als „Paint by Numbers“.37 Einen Teil der Aufgaben erledigen zudem industrielle Spezialbetriebe.38 Gleichwohl war der Künstler mit dieser Arbeitsteilung offensichtlich unzufrieden; als er 2017 einen Teil der Stammbelegschaft entließ, deuteten Beobachter dies als Versuch, die manuelle Arbeit so weit wie möglich in digitale Prozesse zu verlagern und so seine Ideen unmittelbarer umsetzen zu können: „He [Koons] never wanted to rely on people’s talent.“39 Doch auch weniger straff geführte Studios wie das von Olafur Eliasson folgen letztlich dem überlieferten Werkstatt-Muster. Zwar wird hier der Gedanke gemeinschaftlichen Handelns propagiert und wohl auch praktiziert; die Entwicklung der Arbeiten erfolgt im Team. Für das Endprodukt jedoch steht Eliasson ein; es ist sein Name, durch den

Vom Mehrwert geteilter Arbeit I 13

es marktgängig wird. Und auch in anderer Hinsicht agiert der Künstler wie ein mittelalterlicher Werkstattleiter: Sein Kochbuch zeigt das Studio-Team bei gemeinsamen Mahlzeiten und definiert den Künstler so als pater familias, der seine Mitarbeiter nicht nur finanziert, sondern auch nährt.40 Emphatisch beschrieb die Mitarbeiterin Caroline Eggel den Künstler als Gravitationszentrum eines komplexen Produktionskosmos: „Generally he is very embracing and full of respect even though, at the end of the day, it’s all about him. It’s very clear in the Studio. Everything we do is for him, about him, with him, and to his liking.“41 Die klaren Regeln, die die Arbeitsteilung in Werkstätten bestimmen, gelten für ortsverteilte Kollaborationen nur bedingt. Hier gibt es neben Abhängigkeitsverhältnissen auch gleichberechtigte Partnerschaften, neben konsekutiven Prozessen auch simultane, neben zeitlicher und örtlicher Nähe auch Distanzen, neben organisierten Abläufen zufällige Verbindungen und neben dem persönlichen Austausch zwischen den Beteiligten Zusammentreffen, die auf der Anonymität der Zulieferer beziehungsweise Adressaten basieren oder über größere Zeitspannen hinweg erfolgen. Eine der vielen Optionen ortsverteilter Kollaboration stellt die Auslagerung von einzelnen Arbeitsschritten an Spezialisten dar. Dies ist etwa in der Herstellung von Glasfenstern oder komplexeren Bronzegüssen der Fall. Beide erfordern nicht nur Fachkenntnisse, die über das „normale“ Künstlerwissen hinausgehen, sondern auch spezielle Materialien, Gerätschaften und Öfen in einer entsprechend gesicherten Umgebung. So arbeitete Donatello nach Auskunft von Pomponius Gauricus mit einem Glockengießer zusammen,42 Michelangelo tat sich für seinen Julius II. mit dem Artilleriechef und Manager der Florentiner Gießerei Sapienza, Piero Soderini, zusammen, und Francois Girardons’ Entwurf für das Reiterstandbild von Ludwig XIV. wurde von dem gleichfalls auf Waffenherstellung spezialisierten Johann Balthasar Keller gegossen.43 Sogar Giambologna gab einen Teil seiner Entwürfe für den Guss außer Haus.44 Auch beim Holzschnitt fand die Produktion in der Regel ortsverteilt statt: Hier lieferte der Maler lediglich den Entwurf, der dann vom Formschneider umgesetzt und in einer Druckerei gedruckt wurde. In vielen Fällen war zudem ein Verleger, manchmal auch ein Buchmaler involviert. Wenn der Käufer die Kolorierung selbst beauftragte, wurde er ebenfalls Teil des kooperierenden Netzwerks.45 Mit dem reproduzierenden ­Kupferstich weiteten sich die arbeitsteiligen Modelle auf den Tiefdruck aus: Die Angaben invenit, fecit oder sculpsit sowie excudit zeigen unterschiedliche Zuständigkeiten und eine Kollaboration an, die sich über eine größere räumliche und zeitliche Distanz erstrecken konnte und den entwerfenden Künstler als Zulieferer, den Stecher hingegen als Ausführenden charakterisierte. Zugleich wurde nun die Nähe zur Vorlage jeweils neu verhandelt und die Gestaltung den technischen Bedingungen sowie der Ästhetik des Druckmediums angepasst. Ähnliches lässt sich für die textilen Künste oder die Goldschmiedekunst beobachten, soweit sie auf Vorarbeiten von Malern und Zeichnern basieren. Für das Zusammentreffen unterschiedlicher Techniken und Kompetenzen im Artefakt schlägt Birgit Borkopp-Restle in ihrem Beitrag über Brüsseler Tapisserien nach Entwürfen Raffaels und Pieter Coecke van Aelst deshalb den Begriff der „pluralen Autorschaft“ vor:

14 I Magdalena Bushart und Henrike Haug

Die Umsetzung der Entwürfe bedeutete eine Übersetzungsleistung, in die nicht nur die gestalterischen Entscheidungen der Wirker einflossen, sondern auch die Vorstellungen der Auftraggeber hinsichtlich der Nutzung und des Kostenrahmens;46 dass das Produkt die ­Signatur der Wirker und nicht die des entwerfenden Künstlers trug, macht den hohen Stellenwert deutlich, den man den Ausführenden eingeräumt hat. Deren Kompetenz geriet freilich in dem Moment unter Druck, in dem man angesichts der Industrialisierung der Herstellungsprozesse begann, den Entwurf höher zu bewerten als das fertige Produkt. So war Karl Friedrich Schinkel nicht mehr bereit, den Handwerkern Entscheidungsfreiheit zuzugestehen, und verpflichtete sie auf genaueste Ausführung seiner detaillierten Entwurfszeichnungen. Dabei setzte er, wie Jan Mende deutlich macht, seinen Dirigismus durchaus taktisch ein. Er zeigte sich nicht nur seinen Künstlerkollegen gegenüber kompromissbereiter, sondern auch gegenüber der Industrie, deren Produktionsabläufen er eine eigene Agenda zustand. Während sich Schinkel insgesamt eher widerwillig mit den Einschränkungen seiner schöpferischen Arbeit abfand, beschrieb hundert Jahre später Georg Meistermann die Rollenverteilung zwischen Entwerfendem und Ausführenden als Bereicherung seiner eigenen Tätigkeit. Liane Wilhelmus berichtet in ihrem Beitrag davon, dass der Maler seine Zusammenarbeit mit den Kunstglasern mit dem Verhältnis zwischen ­einem Komponisten und einem Musiker verglich, dessen Leistung zwar auf den vorgegebenen Noten basiert, der jedoch im Spiel seine eigene Interpretation entwickelt. Dass sich umgekehrt die Glaser auf technische Experimente einließen, die ihnen Meistermann ­vorschlug, rückt das Verhältnis in die Nähe der dialogischen Kollaborationen, die seit der Nachkriegszeit die Diskussion dominieren. Dabei kann der Dialog durchaus unterschiedlich wahrgenommen werden: Für den Architekten Fritz Schaller war die Zusammenarbeit mit dem Ingenieur Stefan Polónyi ein Ping-Pong-Spiel, in das beide Seiten ihre jeweiligen Kompetenzen einbrachten, wobei Polónyi gestalterische Lösungen nicht nur ermöglichte, sondern offensichtlich auch anregte, wie Sonja Hnilica zeigen kann. Der Galerist und Künstler Luigi Kurmann hingegen legt Wert auf die Feststellung, dass er in seiner Arbeit für den Bildhauer Dennis Oppenheim zwar Anteil an der Weiterentwicklung von Projektideen gehabt habe. Doch so wichtig sein Mitdenken und Mittun gewesen sein mag: der eigentliche Impulsgeber, „der Künstler“, sei stets Oppenheim geblieben. Auch in den Gießereien, die im 19. Jahrhundert zu reinen Dienstleistungsbetrieben degradiert worden sind, lässt sich ein verändertes Bewusstsein für den eigenen Anteil an der Kunstproduktion beobachten. So versteht sich Felix Lehner, der Gründer des von Hanna Baro vorgestellten Sitterwerks in Sankt Gallen, zwar klar als ausführende Instanz – als „Kollaborateur“ der Künstler*innen. Dies bedeutet aber nicht notwendig eine Hierarchisierung der Arbeit. Vielmehr finden die Bildhauer*innen im Sitterwerk auf mehreren Ebenen Anregungen für ihren schöpferischen Prozess: zum einen natürlich in der Werkstatt, wo die Kompetenz der Gießer, Drucker oder Modelleure in die Realisierung einfließt, zum anderen aber in dem angeschlossenen Materialarchiv und einer Kunstbibliothek, die den Ort zu einem Speicher des Wissens und der Forschung macht. Noch einen

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Schritt weiter geht das Projekt doppia firma / double Signature der Michelangelo Foundation. Hier treten ausführende und entwerfende Künstler*innen/Kunsthandwerker*innen programmatisch als Paar auf und bestätigen die Gleichwertigkeit ihrer Arbeit mit der doppelten Unterschrift auf dem Werk. Die Signatur betont auf diese Weise den gemeins­ amen Prozess, der auf einer wechselseitigen Abhängigkeit basiert: ohne Entwurf keine Ausführung, ohne Ausführung kein Kunstwerk.47 Vermittelt und zugleich unverbindlich war die potenzielle Zusammenarbeit, die sich zwischen Produzenten und Rezipienten von Vorlageblättern beziehungsweise -büchern anbot.48 Die Darstellungen trugen die Möglichkeit der Umsetzung in sich, ohne deshalb für bestimmte Werke oder Kontexte entwickelt worden zu sein; sie konnten ebenso dem passiven Kunstgenuss wie der Praxis dienen. Die Publikation des „Meisters von 1551“, der als der Nürnberger Goldschmied, Kupferstecher und Bildschnitzer Matthias Zündt identi­ fiziert wurde, richtet sich ganz allgemein an alle Berufsgruppen, denen die Stiche von Goldschmiedewerken „inn ihrer arbait gebrauchenn ganntz diennstlich“ sein könnten.49 Die Formulierung impliziert „Weiterarbeit“ durch Adaption der Vorlagen, die im Gebrauch wiederum von der Zweidimensionalität in die Dreidimensionalität überführt worden ­wären. Hier also handelt es sich um eine Form der indirekten Interaktion, die generell der Druckgrafik innewohnt. Als „Weiterarbeit“ lässt sich aber auch die Einschreibung in eine Tradition definieren. So erklärte der Glaskünstler Kai Schiemenz 2017 anlässlich der ­Ausstellung In Farbe im Haus Lemke in Berlin zur arbeitsteiligen Produktion seiner Glas­ objekte: Wo endet das Kunstwerk und wo fängt es an? Natürlich sind die Glasskulpturen das Endprodukt. Andererseits sind sie ein Speicher und Zeugen der Herstellung, und der Prozess der Herstellung wiederum ist auch ein Prozess der Aufladung. In eine solche Skulptur fließt eine Menge Zeit, Geld und Energie, es fließt eine ganze Kette von Kulturtechniken hinein.50

Was Schiemenz hier mit der „Kette von Kulturtechniken“ umreißt, die als Zeuge ihrer Herstellung in seinen Glasskulpturen gespeichert ist, findet eine Begründung in seinem Arbeitsprozess, lässt er doch seine aus gegossenem Glas bestehenden Arbeiten in der ­böhmischen Glashütte in Pelechov ausführen, die heute unter dem Namen Lhotsky Studios arbeitet und durch die beiden berühmten Glaskünstler*innen Stanislav Libensky und ­Jaroslava Brychtova gegründet worden ist. 51 Es ist also die Tradition der böhmische ­Glaskunst mitsamt ihren nationalen und politischen Codierungen, die sich in dem Werk anlagert  – mithin die Arbeit mehrerer Generationen und prominenter Vertreter des ­Faches. Und schließlich ist „Weiterarbeit“ in der Wiederverwendung von Material mitzudenken, das aus anderen Zeiten oder anderen Kulturräumen stammt. Die Reinszenierung von antiken Spolien und ihre Integration in hochmittelalterliche Portale und Bauten gehört dazu ebenso wie die Nutzung von mit Perlmutt belegten Becken und Kästchen, die in der

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indischen Region Gujarat für den Export gefertigt und von frühneuzeitlichen Goldschmieden in Augsburg und Nürnberg weiterverarbeitet wurden.52 Inwiefern hier primär das Material oder die Vorarbeit reflektiert worden ist, lässt sich allerdings nur von Fall zu Fall entscheiden. Nur selten nämlich wird die Weiterführung gestalterischer Prozesse in schriftlichen Quellen thematisiert  – und wenn, dann meist mit einer deutlich erkennbaren (kunsttheoretischen) Agenda. Ein Paradebeispiel stellt in dieser Hinsicht Michelangelos David dar. Wie Giorgio Vasari berichtet, arbeitete der Bildhauer die Monumentalfigur aus einem Marmorblock, an dem sich schon drei prominente Kollegen versucht hatten und gescheitert waren. Im Grunde also handelt es sich beim David um eine Korrektur vorhergehender Handlungen; das Meisterwerk war umso höher einzuschätzen, als es auf der fehlerhaften Steinbearbeitung der Vorgänger aufbaute. Enthusiastisch feierte daher ­Vasari Michelangelos Weiterarbeit als Akt der Wiederbelebung: „Und sicher war es ein Wunder, wie Michelangelo hier einen Toten wieder zum Leben erweckte.“53 In der Erzählung von der Vollendung klingt schon ein weiteres Modell an, das ebenfalls in diesen Kontext gehört: die bisweilen kooperierende, bisweilen konkurrierende Zusammenarbeit von gleichberechtigen Partnern gleicher Profession. So schlossen sich immer wieder Werkstätten zusammen, um gemeinsam Großaufträge übernehmen zu können.54 In Straßburg bildete sich Ende des 15. Jahrhunderts sogar eine Art Genossenschaft aus fünf Glasmalerei-Werkstätten, die „glasere von Straßburg“, die den gesamten Süddeutschen Raum belieferten und mit ihren Werken höchste Qualitätsstandards setzten.55 Zusammenschlüsse waren in der Regel ökonomisch motiviert, konnten aber zugleich ein Ort des wechselseitigen Austauschs und damit ein Motor für Innovationen werden, wie im Falle der fünf nebeneinander und miteinander arbeitenden Hauptmeister und ihrer Werkstätten, die den Kreuzgang von Monreale in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts schufen.56 Wirtschaftliche Aspekte scheinen im Falle der römischen Wandgräber aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, die Tamara Tolnai in diesem Band untersucht, keine Rolle gespielt zu haben: Die Erteilung von Aufträgen an mehrere Betriebe brachte keine Kostenersparnis – im Gegenteil, die Teilung der Aufgaben war vermutlich teurer und mit Sicherheit aufwendiger zu organisieren als ein Einzelauftrag. Es muss also, wie Tolnai vermutet, der Prestigegewinn gewesen sein, der die Auftraggeber dazu bewog, zwei bekannte und geschätzte Bildhauer für ein gemeinsames Werk zu verpflichten. Für die Malerei des 17. Jahrhunderts ist ebenso belegt, dass Kollaborationen mehrerer berühmter Künstler eine Wertsteigerung bedeutet haben. Wenn Rubens mit Jan Brueghel oder Frans Snyders ein Bild malte, konnte er damit Spitzenpreise in Sammlerkreisen erzielen. Unter dieser Prämisse erschien es ratsam, dass jeder Künstler seine eigene Kompetenz und Handschrift kenntlich machte oder doch wenigstens potenzielle Käufer nachdrücklich auf den Anteil der Kollegen hinwies.57 Die Prämissen für die Zusammenarbeit zwischen Künstlern änderten sich in dem ­Moment, in dem sich die Werkstattorganisationen, aber wohl auch die Vorstellung von künstlerischer Individualität wandelten. Schon Jaques-Louis David verstand sich nicht

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mehr als stilbildender Leiter einer Werkstatt, sondern als primus inter pares; die gemeinsame Arbeit mit seinen Schülern zielte (zumindest in der Theorie) nicht auf Einheitlichkeit ab, sondern sollte als Zusammenwirken unterschiedlicher Kräfte wahrgenommen werden.58 Das neue Ideal, das Kunst als unmittelbare Äußerung eines Einzelnen verstand, machte sich auch andernorts in der Künstlerausbildung bemerkbar. Nicht die Manier des Meisters dürfe den Unterricht prägen, erläuterte Wilhelm Schadow 1828 in seinen Gedanken über die folgerichtige Ausbildung des Malers. Vielmehr gehe es darum, die Schüler zu künstlerischer Selbstständigkeit zu erziehen und ihnen den Raum für die Entwicklung ­einer eigenen Formensprache zu geben: Auch mag [der Lehrer an einer Kunstakademie seinem fortgeschrittenen Schüler] allenfalls sagen, wo eine Steigerung des Ausdrucks nothwendig erscheint; die Correcturen selbst überlasse er aber jederzeit der eigenen Hand des Schülers. Wenn er hineinzeichnet, so kann daraus nur ein Missverhältnis entstehen. Identisch sind die Geister zweier Künstler nie, es wird daher, auch vorausgesetzt, dass die poetische Gabe des Lehrers größer sei, als die des Schülers, ein solches Verfahren höchstens nur die Erscheinung eines Flickens von glänzender Farbe auf einem minder scheinbaren Kleide hervorbringen. Man hüte sich, dasjenige anzutasten, was gerade dem Kunstwerke den größten Reiz verleiht, nämlich die Originalität der ersten Vorstellung. Lehrer, die nach dem entgegengesetzten Princip verfahren, werden in ihrer Schule immer nur eine leere Manier erzeugen, die Schüler sind dann nichts als schwache Reflexe ihres Meisters.59

Schadows Anweisungen überführten das Abhängigkeitsverhältnis in der Werkstatt in eine konzeptionelle Kollaboration: Die Anregungen, die der Schüler empfängt, sind nicht mehr materieller Natur, sondern lassen sich einer ideellen Ebene zuordnen. Statt konkreter Praktiken vermitteln sie eine bestimmte Art des Denkens und einen bestimmten Modus des Schaffens. Dabei weist das Bild vom geflickten Kleid mit Nachdruck auf die Unvereinbarkeit individueller Begabungen hin. Und nicht nur der Lehrer – auch die Schüler hatten auf Abgrenzung zu achten, um sich nicht dem Vorwurf des Epigonentums auszusetzen. So beschwerte sich Paula Modersohn-Becker in einem Brief aus Paris, dass ihre Freundin Clara Westhoff so begeistert von ihrem Unterricht bei Rodin sei, dass sie dessen Arbeitsmaxime des „II faut toujours travailler“ zum eigenen Mantra gemacht habe: „Wie sie bei alledem vermeiden will, ein kleiner Rodin zu werden, wird sich zeigen. Sie zeichnet schon ganz in seiner höchst originellen Art, leistet darin aber auch etwas Gutes.“60 Paradoxerweise begünstigte das Streben nach individuellem Ausdruck aber auch neue Formen des Zusammenschlusses. Mit dem Aufkommen von „Bruderschaften“ entstanden um 1800 Werkstattgemeinschaften, die als gleichberechtigte Partnerschaften organisiert und Bestandteil alternativer Lebensentwürfe waren. Das Ziel unterschied sich nicht grundsätzlich von dem einer traditionellen Werkstatt: Auch den Meditateurs, die sich aus der Schülerschaft von Jaques-Louis David rekrutierten, den zeitweise nach monastischem Vorbild zusammen lebenden Nazarenern, den über einen romantischen Freundschaftskult

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miteinander verbundenen Präraffaeliten oder später den Maler*innen der Worpsweder Künstlerkolonie und den Mitgliedern der Künstlergruppe Die Brücke (um nur einige zu nennen) ging es (zumindest in den Anfängen) um gemeinsame Ideale und die Ausbildung eines kollektiven Stils, der sich für die Realisierung gemeinschaftlicher Werke fruchtbar machen ließ.61 Allerdings sollte der Einheitsstil nicht auf der Dominanz einer Künstler­ persönlichkeit basieren, sondern aus der gemeinsamen Suche nach einer künstlerischen „Wahrheit“ jenseits akademischer Konventionen und Traditionen, einer „Wahrheit“, die aus einem subjektiv geprägten Zugang – der unmittelbaren Empfindung, der präzisen Beobachtung der Natur oder einem ursprünglichen Schaffensdrang – erwächst.62 Zugleich implizierte diese „wahre“ Kunst eine „Rückkehr“ zu einem vormodernen Idealzustand, den man mal in der Malerei des Quattrocento, mal im Mittelalter, in der Volkskunst oder in den Werken der sogenannten „Naturvölker“ vermutete. Mit dieser Idealisierung der Vergangenheit wurden zugleich die historischen Werkstattverbünde umgedeutet. Pragmatische Aspekte wie die Regulierung der Ausbildung, Produktionssteigerung und Qua­ litätssicherung traten in den Hintergrund; stattdessen wies man auf ein verbindendes ­Gemeinschaftsgefühl hin, durch das die Künstler zu Höchstleistungen angespornt worden seien. Diese Vorstellung verband die Gruppen und Bruderschaften mit Kulturreformern unterschiedlichster Couleur, die sich von einer Erneuerung der Kunst zugleich eine Er­ neuerung der Gesellschaft erhofften. Die mittelalterliche Bauhütte, so behauptete etwa der historistische Architekt Carl Alexander Heideloff, habe deswegen so vollendete Werke hervorbringen können, weil die am Werk Beteiligten dem gleichen religiösen Grundbedürfnis verpflichtet gewesen seien: „Meister, Geselle, Lehrling waren alle wie aus einem Guß, von einem und demselben Geist durchdrungen, der sich nur nach der verschiedenen Bildungsfähigkeit des Individuums stärker und schwächer aussprach.“63 August Reichensperger, Mitbegründer des Zentral-Dombau-Vereins zu Köln und Mitinitiator der Vollendung des Kölner Doms, war sogar überzeugt, dass ein Zusammenschluss von Künstlern und Handwerkern nach dem Vorbild mittelalterlicher Bauhütten zur Überwindung von Klassenschranken beitrage: Schließlich erkläre sich „die Fruchtbarkeit des Mittelalters aus dem Geiste der Baukunst einigermaßen dadurch, daß nicht bloß die eigentlichen Bauleute, sondern Personen aller Stände, die Mächtigsten nicht ausgenommen, mit Hand ­anlegten, daß man es allgemein als eine Lebensaufgabe betrachtete, Gott, das Gemein­ wesen und sich selbst durch Kunstdenkmale zu ehren.“64 Von hier aus zum berühmten Bauhausmanifest von Walter Gropius und seiner Beschwörung einer gemeinschaftsbildenden Zukunftskathedrale, in der sich die Kräfte der Künstlerschaft und des Volkes bündeln, war es nur noch ein kleiner Schritt.65 Doch nicht nur die Sehnsucht nach einer besseren Kunst, sondern auch ganz konkret die Lebens- und Produktionsverhältnisse, die die Industrielle Revolution hervorbrachte, beförderten den Wunsch nach kollektiver Arbeit nach historischem Vorbild. So begriff der Kunsttheoretiker und Sozialreformer William Morris die Gilden als „Gesellschaft der Gleichen“ gegen die Aufspaltung der Arbeitsschritte seiner eigenen Zeit:

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Aber was uns geblieben ist, meist durch reinen Zufall, ist genug, um uns zu lehren, dass keine Kultivierung, keine Sparte der Wissenschaft, die in unseren Tagen die Natur bezwungen hat, die Stelle der Freiheit von Hand und Kopf während der Arbeitsstunden und des Interesses am Gelingen der Arbeit selbst ersetzen kann, solange sie dem Arbeitsleben äußerlich bleibt. Und weiter, dass das kollektive Genie von Menschen, die in freier, aber harmonischer Kooperation zusammenarbeiten, sehr viel kräftiger ist in der Schaffung architektonischer Kunst, als die krampfhaften Anstrengungen der größten individuellen Genies.66

Die freie Kooperation gleichberechtigter Kräfte ist bis in unsere Tage ein Ideal geblieben, omnipräsent und weiterhin in wechselnden Konstellationen.67 Auch die gemeinschaftlichen Arbeiten der sechziger Jahre oder die partizipatorischen Konzepte unserer Tage lassen sich als späten Reflex auf die befruchtende Wirkung kollektiver Arbeit sehen. Dabei werden die Grenzen zwischen den Künsten, aber auch zwischen den Künsten und modernen Technologien überschritten und neue, jede Einzelne und jeden Einzelnen in den schöpferischen Prozess involvierende Formen der Zusammenarbeit gefunden, wie Kirsten Maar und Fiona McGovern am Beispiel der amerikanischen Kunstszene der sechziger Jahre sowohl unter kunsthistorischem als auch tanzwissenschaftlichem Blickpunkt deutlich machen können; dabei zeigt sich, dass die Suche nach neuen Formaten, wie dem Environment, dem Happening oder der Performance, neue Arten von künstlerischer Kollaboration zugleich ermöglichten und forderten. Dass künstlerische Zusammenarbeit nicht nur einen Ist-Zustand beschreiben kann, sondern vor allem in der Ausdeutung und Wahrnehmung ihre eigentliche Wirkung entfaltet, belegt auch das Projekt Telefonmusik. Wien-Berlin-Budapest von 1983, das Jee-Hae Kim beschreibt. Wird hier doch dem gemeinschaftlichen künstlerischen Handeln zwischen Ost und West in der Überwindung von Grenzen und der Durchdringung des „Eisernen Vorhangs“ eine politische Dimension zugestanden, wobei technische Möglichkeiten und alltägliche Kommunikationspraktiken miteinander verschmelzen. Fanden Kollaborationen in den sechziger Jahren vor allem punktuell statt, so sind die ­neueren Zusammenschlüsse auf längere Perspektiven ausgerichtet. Die Beispiele, die Rachel Mader in ihrem Aufsatz vorstellt, machen noch einmal unmissverständlich deutlich, wie vielfältig gemeinschaftliche Praktiken in den Künsten auch heute organisiert sind und wie stark sie sich nun über gesellschaftliche und politische Probleme definieren. Damit erweitert sich der Kreis der Akteure, zu denen selbstverständlich auch all jene gehören, die in Kontakt zu dem Projekt treten, ohne deshalb konzeptionell daran beteiligt zu sein. Mit den digitalen Medien verliert auch diese Einschränkung ihre Gültigkeit: Grundsätzlich können im Netz alle mit allen zusammenarbeiten, user immer zugleich auch producer sein.68 Für die Herausgeber*innen des Bandes Collaborative Art in the Twenty First Century Sondra Bacharch, Jeremy Booth und Siv Fjaerestad ist damit ein ultimativer Zustand erreicht: Kollaborationen sind nicht mehr auf konkrete Orte oder gemeinsame Tendenzen und Strategien angewiesen. Sie dienen weder der Durchsetzung künstlerischer Positionen noch der Wahrung ökonomischer Interessen. Vielmehr sind sie nun „part of the medium of art making, an artistic end in itself“.69

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Anmerkungen 1

Rudolf und Margot Wittkower, Künstler – Außenseiter der Gesellschaft, Stuttgart/Berlin 1965, S.  41; vgl. allgemein zur Entwicklung der Figur des Künstlers Ernst Kris und Otto Kurz, Die ­Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Wien 1934; Verena Krieger, Was ist ein Künstler? Genie – Heilbringer – Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen, Köln 2007, wo zwar abweichende Modelle (wie weibliche Kreativität, der Zufall oder auch die Verneinung von Autorschaft) diskutiert werden, gemeinschaftliches Arbeiten aber als Option nicht diskutiert wird; Christian Janecke, Viele Köche verderben den Brei. Antwort auf die Frage, warum Kunstwerke einen und nicht mehrere Schöpfer haben (Kunstforum International 116. 1991), S. 160–168. Die Signatur als Ausdruck und Spur des einen Autors auf dem Werk ist vielfach in der Forschung unter diesem Gesichtspunkt untersucht worden, u. a. in den Aufsatzbänden Signatur und Selbstbild. Die Rolle des Künstlers vom Mittelalter bis in die Gegenwart (Festschrift für Albert Dietl zum 60. Geburtstag), hrsg. von S. Karnatz und N. Kirchberger, Berlin 2019; Künstlersigna­ turen von der Antike bis zur Gegenwart, hrsg. von N. Hegener, Petersberg 2013; vgl. auch Karin Gludovatz, Fährten legen – Spuren lesen. Die Künstlersignatur als poietische Referenz, Paderborn/München 2011.

2

Nadine Brunner, 1+1=3. Der kollaborative Autor. Autorschaft in temporären Zusammenarbeiten der zeitgenössischen Kunst (Louise Bourgeois und Tracey Emin. 3 Hamburger Frauen, Jonathan Meese und Albert Oehlen Guyton\Walker), München, LMU, Dissertation, 2018, v. a. Kapitel 2.1. „Was ist ein Autor? – semantische und historische Begriffsentwicklung“, S. 36–38, https://edoc. ub.uni-muenchen.de/23314/7/Brunner_Nadine.pdf [zuletzt aufgerufen 4. Februar 2020].

3

Vgl. dazu auch die Ergebnisse des Interdisziplinären Symposiums Arbeitsteilung im Schaffensprozess, Kunst und Material I, das am 14. und 15. November 2019 in Zürich als Kooperation vom Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft (Zürich) und der Hochschule der Künste (Bern) veranstaltet wurde [im Druck].

4

In jüngerer Zeit hat sich die Forschung vermehrt den Instrumenten und Trägermaterialen zu­ gewandt, der Handel und Vertrieb von Materialien aber sind bislang immer noch nicht umfassend untersucht, vgl. dazu Franz Irsigler, La carta. Il Commercio, in: Produzione e commercio della carta e del libro secc. XIII–XVIII, hrsg. von S. Cavaciocchi, Florenz 1992, S. 143–199 (sowie die deutsche Überarbeitung Papierhandel in Mitteleuropa, 14. bis 16. Jahrhundert, in: Miscellanea Franz Irsigler. Festgabe zum 65. Geburtstag, hrsg. von V. Henn u. a. Trier 2006, S. 309–348; zum Farbhandel u. a. Andreas Mozzato, Luxus und Tand. Der internationale Handel mit Rohstoffen, Farben, Brillen und Luxusgütern im Venedig des 15. Jahrhunderts am Beispiel des Apothekers Agostino Altucci, in: Luxusgegenstände und Kunstwerke vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hrsg. von M. Herzog u. a., Konstanz 2015, S. 377–406; sowie die Beiträge im Sammelband Trade in artists‘ materials. Markets and commerce in Europe to 1700, hrsg. von J. Kirby, S. Nash und J. Cannon, London 2010.



Nicht zuletzt bezeugt die Datenbank der „Kunsttechnologischen Rezepte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit“ die Fülle von vorhandenem, verschriftlichtem Künstlerwissen in handschriftlicher Form, http://db.cics.th-koeln.de/start.fau?& [zuletzt aufgerufen 4. Februar 2020].

5

„Since the tubes of paint used by the artist are manufactured and ready made products we must conclude that all the paintings in the world are ‚readymades aided‘ [...].“ Marcel Duchamp, Apropos of „Readymades“ [1961], in: Salt Seller. The Writings of Marcel Duchamp, hrsg. von M. Sanouillet und E. Peterson, New York 1973, S. 141–142, hier S. 142.

6

Howard S. Becker, Art Worlds (25th Anniversary Edition), Berkeley 2008, S. 35; vgl. Karen E. Gover, The solitary Author as Collective Fiction, in: Collaborative Art in the Twenty-First Century, hrsg. von S. Bacharach, S. B. Fjærestad und J. N. Booth, New York/London 2016, S. 65–76.

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 7 Edward E. Sampson, To think differently. The acting ensemble – a new Unit for psychological Inquiry, in: Critical Psychology 1 (2001), S. 47–61.  8 Wir danken Stefanie Stallschus für ihre Mitarbeit an der Konzeption des Projekts und an der Lektorierung der Beiträge.  9 Vgl. den Beitrag von Rachel Mader in diesem Band S. 263–279. 10 Für einen Überblick noch immer grundlegend: Hans Huth, Künstler und Werkstatt der Spätgotik, 2. erweiterte Auflage, Darmstadt 1967; ferner Der Künstler in der Gesellschaft. Einführungen zur Künstlersozialgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hrsg. von A. Tacke und F. Irsig­ler, Darmstadt 2011; Werner Jacobsen, Die Maler von Florenz zu Beginn der Renaissance (Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz 4. Folge, Band 1), München/ Berlin 2001, v. a. Kapitel 5: „Werkstattorganisation“ (S. 109–150). Zur Werkstattorganisation in Delft vgl. John Michael Montias, Artists and Artisans in Delft. A Socio-Economic Study of the ­Seventeenth Century, Princeton 1982. 11 Die kunsthistorische Forschung hat sich vor allem berühmten Einzelfällen – beispielsweise dem Lehrer-Schüler-Verhältnis von Verrocchio und Leonardo  – zugewandt, das zumal schon durch ­Vasari kunsttheoretisch überhöht wurde, u. a. Franziska Windt, Andrea Verrocchio und Leonardo da Vinci. Zusammenarbeit in Skulptur und Malerei, Münster, 2003, S. 37. 12 Die Einreihung in eine Werkstatttradition und damit Einschreibung in eine künstlerische Genealogie wurde durchaus bewusst genutzt; so betonte beispielsweise Cennino Cennini seine Herkunft aus der Werkstatt des Agnolo Gaddi, um sich so mit dem Gründervater der Florentiner Malerei zu verbinden: „So wurde ich, Cennino di Drea Cennini, von Colle di Valdelsa gebürtig, als ein geringes ausübendes Glied in der Kunst der Malerei, hier in zwölf Jahren von meinem Meister Agnolo, des Taddeo Sohn, in Florenz unterrichtet, welcher die Kunst von seinem Vater Taddeo erlernt hat. Dieser sein Vater war von Giotto über die Taufe gehalten worden und wurde durch vierundzwanzig Jahre dessen Schüler. Jener Giotto verwandelte die Malerkunst vom Griechischen wieder ins Italienische und leitete sie zum heutigen Stande. Er handhabte die Kunst vollkommener als je einer.“ Das Buch von der Kunst oder Tractat der Malerei von Cennino Cennini da Colle die Valdelsa, übers. von A. Ilg (Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance 1), Wien 1871, S. 4/5; vgl. Wolf-Dietrich Löhr, Handwerk und Denkwerk des Malers. Kontexte für Cenninis Theorie der Praxis, in: Fantasie und Handwerk. Cennino Cennini und die Tradition der toskanischen Malerei von Giotto bis Lorenzo Monaco, Ausst. Kat. (Berlin, Gemäldegalerie, 2008), hrsg. von W.-D. Löhr und S. Weppelmann, München 2008, S. 153–176, hier S. 162. Dass Werkstatttraditionen allerdings auch ein Innovationshemmnis sein konnten, erkannte Albrecht Dürer, wenn er schrieb: „Man hat byßher in vnsern Deutzschen landen viel geschickter jungen zu der kunst der mallerey gethon, die man on allen grundt vnd alleyn auß einem taglichen brauch gelert hat.“ Albrecht Dürer, Underweysung der Messung, mit dem Zirckel und Richtscheyt, in Linien, Ebenen unnd gantzen corporen, Nürnberg 1525, fol. 6 [Einleitung]. 13 Vgl. Ernst van de Wetering, Problems of Apprenticeship and Studio Collaboration, in: 1631–1634 (A Corpus of Rembrandt Paintings 2), hrsg. von J. Bruyn u. a. Dordrecht/Boston/Lanchester 1986, S. 45–90, hier S. 50, FN. 51, mit Verweis auf Samuel Muller, Schilders-vereenigingen te Utrecht, bescheiden uit het gemeente-archief, Utrecht 1880, S. 76, no. III: „Dat ook die gerne, die als gepermitteerde meesters schilderen, niet zullen vermogen eenige vreemde, of ook inwoondende personen, op tytels als discipulen, ofte voor haar schilderende, en echter van haar handelinge niet zynde, ende haar eygen naam teekenende, aan te houden, ofte in het werk te stellen.“ 14 Gunnar Heydenreich, Lucas Cranach the Elder. Painting Materials, Techniques, and Workshop Practice, Amsterdam 2007, S. 280–311. Der Einsatz von Schablonen im Sinne einer Ökonomisierung und Vereinheitlichung der Produktion war allgemeine Praxis und lässt sich im 15. Jahrhun-

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dert in der italienischen Malerei ebenso beobachten wie in der niederländischen: Michael W. Kwakkelstein, Leonardo da Vinci’s recurrent use of patterns of individual limbs, stock poses and facial stereotypes, in: Artistic Innovations and Cultural Zones, hrsg. von I. Ciulisová, Bratislava 2015, S. 40–61; Stephan Kemperdick, Die Werkstatt und ihr Arbeitsmaterial, in: Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden, hrsg. von S. Kemperdick und J. Sander, Ostfildern 2008, S. 95–115; Johannes Erichsen, Vorlagen und Werkstattmodelle bei Cranach, in: Lucas Cranach, ein Maler-Unternehmer aus Franken, hrsg. von C. Grimm, Regensburg 1994, S. 180–185. 15 Tagebuch Otto Sperling, zit. nach: Wilhelm von Seidlitz, Bericht eines Zeitgenossen über einen Besuch bei Rubens, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 10, 1887, S. 111; vgl. ferner Nils Büttner, Herr P. P. Rubens. Von der Kunst berühmt zu werden, Göttingen 2006, S. 110–121. 16 So auch van de Wetering 1986 (Anm. 13), S. 53, der von einer „Balance of reciprocal interests“ zwischen Ausbilder und Auszubildenden spricht. 17 Joachim von Sandrart, L’Academia Todesca della Architectura, Scultura & Pittura. Oder Teutsche Academie der Edlen Bau- Bild- und Mahlerey-Künste, Band 2. Nürnberg 1675, S. 254 http://diglib.hab.de/content.php?dir=edoc/ed000083&distype=optional&metsID=ed_rubens_340& xml=viten%2FSandrart-Teutsche-Academie-1675.xml&xsl=dela_rubens.xsl [zuletzt aufgerufen 6. Februar 2020]. 18 Zur Diskussion vgl. Josua Bruyn, Rembrandts Werkstatt. Funktion und Produktion, in: Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt, Ausst. Kat. (Berlin, Gemäldegalerie, u. a., 199119/92), hrsg. von Ch. Brown u. a., 2 Bd., München u. a. 1991, Bd. 1, S. 68–89; Michiel Franken, Lernen durch Nachahmung. Über das Kopieren von Gemälden in Rembrandts Werkstatt, in: Rembrandt. Genie auf der Suche, Ausst. Kat. (Berlin, Gemäldegalerie und Amsterdam, Rembrandthuis, 2006), hrsg. von K. Bahre, Köln 2006, S. 145–163; Ernst van de Wetering, Rembrandt. The Painter thinking, Amsterdam 2016. Zur Zeichenpraxis in Rembrandts Werkstatt zuletzt Holm Bevers, Zeichnungen der Rembrandtschule im Berliner Kupferstichkabinett (Kritischer Katalog mit einem Beitrag von Georg Josef Dietz und Antje Penz), Dresden 2018. 19 Brief vom 19. März 1508, zit. nach: Albrecht Dürer, Schriftlicher Nachlass, hrsg. von H. Rupprich, Berlin: Deutscher Verein für Kunstwissenschaft, Bd. 1, 1956, S. 65. 20 Michael Baxandall, Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 1977, S. 31–35. 21 So im Vertrag für Piero della Francescas Madonna della Misericordia, vgl. Baxandall (Anm. 21), S. 31/32. 22 Büttner 2006 (Anm. 15), S. 119. 23 Simone Fortunas Brief an den Herzog von Urbino vom 27. Oktober 1580 publiziert in: Collezionismo mediceo. Cosimo I, Francesco I e il Cardinale Ferdinando. Documenti 1540–1587 (Collezionismo e storia dell’arte. Studi e fonti 2), hrsg. von P. Barocchi und G. Gaeta Bertelà, Modena 1993 (Nr. 49), S. 180–183. 24 John Forrest Hayward, Virtuoso Goldsmiths and the Triumph of Mannerism 1540–1620, London 1976, S. 46, vermutet, es könne sich um einen Tischbrunnen handeln, wie ihn Jamnitzer ab 1568 für Kaiser Maximilian II. in Prag fertigen sollte. 25 Hayward 1976 (Anm. 24), FN. 47: „Mittlerweil einen kunstlichen maler eine Visierung oder etlich über mehrbmeltes Werk reissen und stellen lassen.“ 26 Zitiert nach Hayward 1976 (Anm. 24), FN. 48. 27 Jacopo Strada hatte in einem weiteren Brief an den Erzherzog erklärt, dass ein solch anspruchsvolles Projekt nicht aufgrund von zeichnerischen Vorlagen vorgestellt werden könne, sondern dass es dazu ein Modell brauche; 1557 reiste er selbst nach Prag; Hayward 1976 (Anm. 24), S. 47,

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vermutet, dass er sich danach aus dem Projekt zurückzog, da Ferdinand II. von Tirol im Sommer 1558 Jamnitzer aufforderte, nach Prag zu kommen. 28 Peter Strieder, Michael Wolgemut – Leiter einer „Großwerkstatt“ in Nürnberg, in: Lucas Cranach – ein Maler-Unternehmer aus Franken, Ausst Kat. (Kronach, Haus der Bayerischen Geschichte, 1994), hrsg. von C. Grimm, J. Erichsen und E. Brockhof, Regensburg 1994, S. 116–123. 29 Mary Bryan H. Curd, Flemish and Dutch Artists in Early Modern England. Collaboration and Competition, 1440–1680, Farnham 2010, Kapitel 2: Collaborating with the neighbours. Galyon Horne, glazier, at St. Thomas’ Hospital, 1526–1550, S. 47–72. 30 Anne Bloemacher, Raffael und Raimondi. Produktion und Intention der frühen Druckgraphik nach Raffael, Berlin 2016, u. a. S. 109/110. 31 Peter Paul Rubens 1577–1648, Ausst. Kat. (Köln, Wallraf-Richartz-Museum, 1977), hrsg. von G. Bott, Bd. 2: Maler mit dem Grabstichel. Rubens und die Druckgraphik, Köln 1977, Meier, Hans Jakob, Die Kunst der Interpretation. Rubens und die Druckgraphik, München 2019, v. a. „In meiner Anwesenheit ausgeführt.“ Rubens’ Modelli als Stichvorlagen, S. 47–79. 32 Die Farbfassung konnte in enger Abstimmung mit dem Bildhauer aufgebracht werden, bei Exportware aber auch, wie das Beispiel der Ulmer Werkstatt des Niklaus Weckmann zeigt, von Künstlern am Bestimmungsort übernommen werden, vgl. Roland Hahn, „Daß Du auch immer echtes Gild und gite Farben gebrauchen sollst.“ Beobachtungen zu Polychromie an Ulmer Retabeln um 1500, in: Meisterwerke massenhaft. Die Bildhauerwerkstatt des Niklaus Weckmann und die Malerei in Ulm um 1500, Ausst. Kat. (Stuttgart, Württembergisches Landesmuseum, 1993), hrsg. von H. Meurer, Stuttgart 1993, S. 277–293. 33 Vgl. etwa Johannes Myssok, Modern Sculpture in the Making. Antonio Canova and Plaster Casts, in: Plaster Casts. Making, Collecting and Displaying from Classical Antiquitiy to the Present, hrsg. von R. Frederiksen und E. Marchand, Berlin 2010, S. 269–288; Künstlerleben in Rom. Bertel Thorvaldsen (1770–1844), der dänische Bildhauer und seine deutschen Freunde, Ausst. Kat. (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum und Schleswig, Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum Schloß Gottorf, 1991/1992), hrsg. von U. Peters, Nürnberg 1991, S. 571–601. 34 Albert E. Elsen, When the Scultpures where white. Rodin’s Work in Plaster, in: Rodin rediscovered, Ausst. Kat. (Washington, National Gallery of Art, 1981/82), hrsg. von A. E. Elsen, Washington 1981, S. 127–151; Nicole Barbier, Rodins Assemblagen, in: Das Fragment. Der Körper in Stücken, Ausst. Kat. (Frankfurt, Schirn-Kunsthalle und Paris, Musée d’Orsay, 1990), hrsg. von S. Schulze, Bern 1990, S. 241–252. 35 „How could it be otherwise when it is known that even to-day such and such a celebrity enlists the collaboration of mechanical workers to manufacture here one portion, there another, of a material mass which is in this case justly described as a ¸statue‘ – the expression of the negation of life. Is it possible that a work of art is not the property of an idea, and that any other hand but that whose owner has conceived this idea should be able to express it?“ Medardo Rosso, ­The Impressionism in Sculpture, an Explanation, in: The Daily Mail, London, 17. Oktober 1907, zit. nach: Medardo Rosso. Le origini della scultura moderna, Ausst. Kat. (Rovereto, Museo di Arte Moderna e Contemporanea di Trento e Rovereto und Turin, Galleria d’Arte Moderna, 2004), hrsg. von L. Caramel, Mailand 2004, S. 234. 36 Magdalena Bushart, Das eigene Ding. Medardo Rosso und der Bronzeguss, in: formlos – formbar. Bronze als künstlerisches Material, hrsg. von M. Bushart und H. Haug, Köln 2016, S. 209–224. 37 John Powers, I was Koon’s Studio Serf, in: The New York Times Magazine vom 17. August 2012 https://www.nytimes.com/2012/08/19/magazine/i-was-jeff-koonss-studio-serf.html?_r=0 [zuletzt aufgerufen 6. Februar 2020].

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38 Die Tatsache, dass Koons seine Skulpturen in einem deutschen Betrieb lackieren lässt, beschäftigt mittlerweile nicht nur die großen Wochenzeitschriften wie den Stern, https://www.stern.de/ kultur/kunst/arnold-ag-im-taunus-wo-jeff-koons-schweissen-laesst-3087566.html [zuletzt aufgerufen 6. Februar 2020], sondern auch Fachblätter wie das „Lackiererblatt“, https://www.lackiererblatt.de/design/im-auftrag-des-kuenstlers [zuletzt aufgerufen 5. Februar 2020]. 39 Joan Halperin, Brian Boucher, https://news.artnet.com/art-world/jeff-koons-radically-downsizeshis-studio-laying-off-half-his-painting-staff-998666 [zuletzt aufgerufen 6. Februar 2020]. 40 Olafur Eliasson, The Kitchen, Berlin 2013. 41 Interview geführt von Joanna Warsza, in: Studio Olafur Eliasson – Open House (TYT Take your Time 7), hrsg. von O. Eliasson, Anna Engberg-Pedersen und Joanna Warsza, Berlin 2017, S. 133. 42 Bonnie Agpar Bennett und David Wilkins, Donatello, Oxford 1984, S. 111–121. 43 Claudia Lehmann, Das bronzene Reiterstandbild Ludwigs XIV. von François Girardon und Johann Balthasar Keller, in Bushart/Haug 2016 (Anm. 36), S. 137–163. 44 Peta Motture, The Culture of Bronze. Making and Meaning in Italian Renaissance Sculpture, London 2019, S. 132. 45 Tilman Falk, s.  v. Formschneider, Formschnitt, in: RDK Labor (2004) www.rdklabor.de/ w/?oldid=89293 [zuletzt aufgerufen 6. Februar 2020]; Peter Schmidt, Gedruckte Bilder in handgeschriebenen Büchern. Zum Gebrauch von Druckgraphik im 15. Jahrhundert (Pictura et poesis 16), Köln u. a. 2003. 46 Borkopp-Restle in diesem Band S. 79–85; zum Begriff vgl. auch Barbara Welzel, Zur Vielfältigkeit eines Bildmediums. Monochrome und illuminierte Druckgraphik im frühen 16. Jahrhundert, in: Der Bordesholmer Altar des Hans Brüggemann. Werk und Wirkung, Ausst. Kat. (Kiel, SchleswigHolsteinische Landesbibliothek, 1996), hrsg. von U. Albrecht, Berlin 1996, S. 181–190. 47 http://www.doppiafirma.com [letzter Zugriff: 16. April 2020]. 48 Silke Reiter, Erasmus Hornick. Ein Goldschmied, Radierer und Zeichner des 16. Jahrhunderts, Regensburg 2012, S. 22; Beth L. Holman, Introduction, in: Disegno. Italian Renaissance Designs for the Decorative Arts, Ausst. Kat. (New York, Cooper-Hewitt, National Design Museum, Smithonian Institution, 1997), hrsg. von B. L. Holman, Hanover 1997, S. 1. 49 Ein new Kunstbuch darInnen kunstreiche contrafect unnd bildnus vonn allerley Trinckgeschirn Credentzen unnd Bechernn mit Fleiss gestellt unnd abgedruckt sind, Goldschmiden, Bildhawern, Malern, unnd allen Künnstlern so sich etwan künnstlicher unnd poetischer Bildwerck inn ihrer arbait gebrauchenn ganntz diennstlich. Jetzt unnd erst vonn newen auff ganngen unnd gedruckt zu Nuremberg Anno Christi 1551 https://research.britishmuseum.org/research/collection_online/ collection_object_details.aspx?objectId=1489271&partId=1 [zuletzt aufgerufen 6. Februar 2020]. 50 Wita Noack im Gespräch mit Kai Schmienenz http://kaischiemenz.blogspot.com/2017/05/kai-schiemenz-in-farbe.html [zuletzt aufgerufen 22. November 2019]. 51 Auf der Brüsseler Weltausstellung im Jahr 1958 traten beide Glaskünstler mit ihren neuen formalen Vorstellungen auf und erregten große Aufmerksamkeit, da sie durch ihren neuartigen Einsatz von geschmolzenem Glas vollkommen neue Wege für die Glaskunst öffneten. Sie konnten dabei auf älteren Vorarbeiten aufbauen, hatte die Regierung doch seit der Gründung der Tschechoslowakei im Jahr 1918 Anstrengungen unternommen, die böhmische Glastradition, die mittelalterliche Wurzeln hat, als nationales Kulturerbe zu fördern. Zu diesem Zweck wurde 1920 Jaroslav Brychta, der Vater der genannten Glaskünstlerin Jaroslava Brychtova, entsandt, um die Ausbildung und das Niveau der noch ansässigen Glasarbeiter zu verbessern, aber auch zugleich – als politische Agenda – eine eigene tschechische Kunstsprache in Abgrenzung zur damals noch dominierenden deutschen Glasschmuck-Industrie in Gablonz zu entwickeln. Er gründete dazu die Staatliche Schule für Glasherstellung und Wirtschaft in Zelezny Brod, wo er als Leiter der Abteilung für figürliche

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Glaskunst bis 1960 arbeitete. Der heutige Inhaber der Glashütte, Zdenek Lhotsky, ist einer seiner Enkelschüler, der nach 1989 die ehemals national besetzte Glashütte internationalisierte. Zdenek Lhotsky tritt auf der Homepage seiner Glasmanufaktur als „Ausführender“ auf, unterhält aber eine zweite Webseite, auf der er sich als eigenständiger Glaskünstler präsentiert: Lhotsky Studios, https://www.lhotsky.cz [zuletzt aufgerufen 22. November 2019], und Lhotsky als Künstler, https:// www.zdenek-lhotsky.com/en/ [zuletzt aufgerufen 22. November 2019]. 52 Ulrich Wiesner, Europäische Auftragsarbeiten für die Handwerker Afrikas und Asiens im 16. und 17. Jahrhundert am Beispiel der Elfenbeinschnitzereien und Einlegearbeiten, in: Focus Behaim Globus, Ausst. Kat. (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, 1992/1993), hrsg. von W. Pülhorn und P.Laub, 2 Bd., Nürnberg 1992, S. 395–406; Sigrid Sangl, Indische Perlmutt-Raritäten und ihre europäischen Adaptionen, in: Exotica. Portugals Entdeckungen im Spiegel fürstlicher Kunst- und Wunderkammern der Renaissance. Tagungsakten Wien, Kunsthistorisches Museum, 2000 / Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien 3, hrsg. von H. Trenk und S. Haag, Mainz 2001, 262–287. 53 Giorgio Vasari, Das Leben des Michelangelo, hrsg. von C. Gabbert, Berlin 2009, S. 52–56, hier S. 53. 54 Vgl. dazu Jacobsen 2001 (Anm. 10), S. 161–165. 55 Hartmut Scholz, Die Straßburger Werkstattgemeinschaft. Ein historischer und kunsthistorischer Überblick, in: Bilder aus Licht und Farbe. Meisterwerke spätgotischer Glasmalerei. „Straßburger Fester“ in Ulm und ihr künstlerisches Umfeld, Ausst. Kat. (Ulmer Museum, 1995), hrsg. von B. Reinhard und M. Roth, Ulm 1995, S. 13–26. 56 Roberto Salvini, Il chiostro di Monreale e la scultura romanica in Sicilia, Palermo 1962, S. 153–228, u. a. S. 199, der zeigt, wie diese Werkstätten sowohl in der südfranzösischen Tradition stehen als auch Impulse durch die Auseinandersetzung mit antiken Vorbildern erfahren. 57 Christine van Mulders, Die Zusammenarbeit von Peter Paul Rubens und Jan Brueghel d. Ä., in:­ Pan & Syrinx. Eine erotische Jagd. Peter Paul Rubens, Jan Brueghel und ihre Zeitgenossen, Ausst. Kat. (Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister und Frankfurt, Städelsches Kunstinstitut, 2004), hrsg. von J. Lange, Berlin 2004, S. 59–80; Maryan W. Ainsworth, Afterthoughts concerning Prestige Collaboration, in: Workshop Practice in Early Netherlandish Paiting. Case Studies from van Eyck through Gossart, hrsg. von M. W. Ainsworth, Turnhout 2017, S. 116–120, zur Zusammenarbeit von Gerard David und Jan Gossart beim Mabagna-Triptychon. 58 Thomas Crow, Emulation. David, Drouais, and Girodet in the Art of Revolutionary France, New Haven/London/Los Angeles, 2006, S. 5–21. 59 Wilhelm Schadow. Gedanken über eine folgerichtige Ausbildung des Malers, in: Geschichte der neueren deutschen Kunst, Erster Band: Düsseldorf und das Rheinland, hrsg. von A. Graf Raczynski, Berlin 1836, S. 323/324. 60 Brief vom 17. Februar 1903, zit. nach: Paula Modersohn-Becker, Briefe und Tagebücher, München 1920 S. 339. Ähnlich äußerte sich Otto Modersohn, nun mit misogynem Unterton: „Frauen werden nicht leicht etwas Ordentliches erreichen. Frau Rilke z. B., für die gibt es nur einen und der heißt Rodin, blindlings macht sie alles wie er – Zeichnungen etc. Das ist sehr falsch und einseitig – wie ist ihr Eigenes, hat sie Eigenes?“ Tagebucheintrag vom 11. Dezember 1905, ebd, S.427. 61 Zu den historischen Modellen künstlerischer Gemeinsamkeit vgl. zusammenfassend Nikolaus Pevsner, Gemeinschaftsideale unter bildenden Künstlern des 19. Jahrhunderts, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 9 (1931), S. 125–154; Nina Zimmer, SPUR und andere Künstlergruppen. Gemeinschaftsarbeit in der Kunst um 1960 zwischen Moskau und New York, Berlin 2002, S. 27–34; Claus Pese, Ruth Negendanck und Matthias Hamann, Künstlerkolonien in Europa im Zeichen der Ebene und des Himmels. Ein Beitrag zur Erweiterung eines Kulturbegriffs, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseum 2004, S. 85–102; Christoph Wilhelmi, Künstlergruppen in Deutschland, Österreich und der Schweiz seit 1900. Ein Handbuch, Stuttgart 1996, S. 9–19.

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62 George Levitine, The Dawn of Boheminaism. The Barbu Rebellion and Primitivism in Neoclassical France, University Park/London 1978; Walter Friedländer, Eine Sekte der „Primitiven“ um 1800 in Frankreich und die Wandlung des Klassizismus bei Ingres, in: Kunst und Künstler 28 (1930), S. 281–286 und 320–326; Artistic Brotherhoods in the Nineteenth Cenutry, hrsg. von L. Morowitz und W. Vaugham, Farnham 2000, Peter Betthausen, Künstlergemeinschaften der Romantik, Berlin 2016; Keith Andrews, The Nazarenes. A Brotherhood of German Painters in Rome, Oxford 1964, S. 20/21; Thomas Wimmer, I Nazareni. Die klösterliche Utopie, in: Von der Utopie einer kollektiven Kunst (Kunstforum Internationale 116, 1991), S. 78–94; Nina Lübbren, Rural artists’ colonies in Europe 1870–1910, Manchester 2001; Volkmar Billing, Künstlergruppe  – Gemeinschaft – Bewegung. Kollektivität in der BRÜCKE und im zeitgenössischen Diskurs, in: Gruppe und Individuum in der Künstlergemeinschaft BRÜCKE. 100 Jahre BRÜCKE  – Neueste Forschungen (Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 32, 2005), hrsg. von B. Dalbajewa, S. 47–51. 63 Carl August Heideloff, Die Bauhütte des Mittelalters in Deutschland. Eine kurzgefaßte geschichtliche Darstellung mit Urkunden und anderen Beilagen, Nürnberg 1844, S. 26. 64 August Reichensperger, Bericht einer 1850 gehaltenen Rede im Kölner Domblatt, zit. nach Georg Germann, Neugotik. Geschichte ihrer Architekturtheorie, Stuttgart 1974, S. 148. 65 Vgl. Magdalena Bushart, Gemeinschaft, Einheit, Gesamtkunstwerk. Das Modell Bauhütte und die Architekturdebatte nach dem Ersten Weltkrieg, in: Bericht über die 45. Tagung für Ausgrabungswissenschaft und Bauforschung (Regensburg 2008), hrsg. von K. Tragbar, Dresden 2010, S. 69–77. 66 William Morris, Art and its Producers (Die Kunst und ihre Erschaffer). A lecture delivered in Liverpool in 1888, https://williammorristexte.com/2013/05/10/die-kunst-und-ihre-erzeuger/ [zuletzt aufgerufen 6. Februar 2020]. 67 Künstlergruppen. Von der Utopie einer kollektiven Kunst (Kunstforum International, Band 116, November/Dezember 1991), Dokumentation, hrsg. von F. Rötzer, S. 71–77; vgl. auch die Einleitung von Rachel Mader, in: Kollektive Autorschaft in der Kunst. Alternatives Handeln und Denkmodell, (Kunstgeschichten der Gegenwart 10), hrsg. von R. Mader, Bern 2012, S. 7–19. 68 Vgl. dazu auch die Überlegungen von Birte Kleine Benne, „We’ll need to rethink a few things ...“. Überlegungen zu einer Kunstwissenschaft der nächsten Gesellschaft/en, in: Kritische Kunstgeschichte und digitaler Wandel (kritische berichte 1.2020), hrsg. von H. Haug u. a., S. 27–38. 69 Sondra Bacharach, Jeremy Neil Booth und Siv B. Fjaerestad, Introduction. Collaborative Art in the Twenty-First Century, in: Collaborative Art 2016 (Anm. 6), S. 2.

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Henrike Haug

(K)ein Thema Zum Motiv der Zusammenarbeit in mittelalterlichen Künstlerinschriften

Häufig neigt(e) die Kunstgeschichte – deren Fachgenese mit der methodischen Ausformulierung und universitären Institutionalisierung im 19. Jahrhundert sowohl durch die Veränderungen innerhalb der Produktionsabläufe im Umfeld der industriellen Revolution als auch im kunsttheoretischen Feld durch die Fokussierung auf das Künstler-Genie wichtige Prägungen erfuhr  – dazu, Werkstattorganisationen vom Meisternamen her zu denken und die dort geübten Formen gemeinschaftlicher Arbeit hierarchisch zu bewerten.1 ­Zudem verstärkte die Genese des Fachs aus der Textform der Künstlerbiografien, wie sie mit Vasaris und van Manders Lebensbeschreibungen im 16. und 17. Jahrhundert enstanden, die Vorstellung vom solitär schaffenden Künstler.2 Beide Vorbedingungen wirkten sich auf Forschungsinteressen aus, so dass vielfach nicht nach den Formen der Zusammenarbeit im Sinne von Interpretation, des gemeinsamen Suchens und Vollendens oder von Aushandlungsprozessen gefragt wurde.3 Ebensowenig danach, wie die Lehre bei einem Meister, die Tradition des Handwerks, die vielfältigen Innovationen von kunsttechnischen Verfahren, die andere erarbeiteten, und die als Summe im Werk mit enthalten sind, als Kooperationen und multiple Autorschaften bewertet werden könnten  – wenngleich ­Edward Sampson mit seinem Begriff des „acting ensemble“ genau für diese Form der Wahrnehmung eines Ausführenden als Teil eines historisch gewachsenen kulturellen Netzwerks plädierte.4 Heute aber ist das Interesse an kollaborativen Prozessen stark angestiegen, sicherlich dadurch begünstigt, dass erstens Digitalität neue Formen von Zusammenarbeit ermöglicht und zweitens im zeitgenössischen Kunstbetrieb die Produktion und damit die Umsetzung des künstlerischen Konzepts vermehrt an spezialisierte Werkstätten ausgelagert wird – zwei Faktoren, durch die wiederum die Frage nach der Funktion, dem Mehrwert, der Orga­nisation, aber auch der Geschichtlichkeit von Kooperationen neue Dringlichkeit ­bekommen hat.5 Zudem sind in der Kunst seit 1960 vielfache Formen der künstlerischen Zusammenarbeit erprobt und behauptet worden, die wiederum den Blick für die Traditionen und die Geschichtlichkeit dieses Phänomens geschärft haben.6 Aber auch die meisten mittelalterlichen Werke der Malerei, der Bildhauerei, der Architektur oder der Goldschmiedekunst sind durch Zusammenarbeit entstanden. Die Hände,

(K)ein Thema I 29

das Wissen und das Vermögen vieler Meister, Gesellen und Mitarbeiter halfen mit, in aufeinander aufbauenden Arbeitsprozessen das Kunstwerk entstehen zu lassen. So nimmt jede Steinskulptur ihren Ausgang im Steinbruch und wird unter Verwendung von (geschmiedeten) Werkzeugen erschaffen – die bildhauerische Arbeit basiert also allein in diesen beiden Bereichen auf vorgängig bereitgestellten Materialien und Instrumenten und somit auf der Mit-Arbeit und Zu-Arbeit von anderen. Dennoch würde dem europäischen Kunstverständnis und der damit verbundenen Beurteilung von Autorschaft zufolge hier keine künstlerische Kooperation vorliegen. Auch nicht bei Werken, die in der Zeitlichkeit ihres Entstehens und damit in der Abfolge ihrer Fertigungsschritte verschiedene Beteiligungen zeigen: Wenn in der Vergangenheit solche Phänomene analysiert wurden, fokussierte die kunsthistorische Forschung weniger auf das Ineinandergreifen und damit die sukzessive Zusammenarbeit von Künstler*innen, sondern nutzte beispielsweise die unterschiedliche Entlohnung der Arbeitsschritte dazu, vermeintliche „Wertigkeiten“ herauszuarbeiten, vor allem, wenn diese in Teilen der modernen Sicht auf Autorschaft entgegen liefen: Bekanntestes Beispiel dafür ist sicher die heute weniger geschätzte Arbeit der Fassmaler, die höher entlohnt wurde als das  – nach heutigem Verständnis  – formbildende Schnitzen im Holz.7 Im Versuch, dem Verständnis von Zusammenarbeit und den Wertsystemen, die sie begleiteten, näher zu kommen, widmet sich dieser Beitrag italienischen Künstlerinschriften des 12., 13. und 14. Jahrhunderts, die Aussagen zu geteilter Arbeit im Kontext von Werkstatt- und Familientraditionen, Auftraggeber- und Künstler-Verhältnissen sowie der Frage nach dem Status des Werkstoffs transportieren. Ziel ist es zu protokollieren, was an einer Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Künstlern als bemerkenswert und damit auch als schriftwürdig angesehen und daher bewusst veröffentlicht wurde. Als Grundlage dienen die von Albert Dietl in seinem Buch „Die Sprache der Signatur. Die mittelalterlichen Künstlerinschriften Italiens“ versammelten 822 Schriftzeugnisse.8 Künstlerische Zusammenarbeit ist dabei nicht leicht zu fassen, kann in vielen Formen stattfinden und antwortet immer auf ein Bedürfnis – denn künstlerische Zusammenarbeit bedeutet nicht, dass zwei Künstler*innen das gleiche tun, sondern dass sie einander bei der Erschaffung des Werks nötig haben und sich ergänzen; so vielfältig wie die künstlerischen Bedürfnisse sind damit auch die Formen künstlerischen gemeinsamen Arbeitens.9 Die dabei zu leistenden Aushandlungsprozesse sind heute leider kaum mehr greifbar, weil sie mündlich oder prozessual als Teil des künstlerischen Handelns abliefen. Im fertigen Werk ist die Zusammenarbeit meist nicht mehr erkennbar; schließlich sind die verschiedenen Arbeitsschritte und Handgriffe zu einem Produkt verbunden worden. Jenseits der kennerschaftlichen Händescheidung lassen sie sich allein über begleitende Medien erschließen, dort aber meist aus anderen (beispielsweise kunsttheoretischen) Gründen protokolliert und damit als Narrativ entworfen, um weiterführende Aussagen zu transportieren: So nutzte Vasari eine Episode aus der Lehrzeit von Leonardo in der Werkstatt von Verocchio dazu, die frühe Meisterschaft des Schülers hervorzuheben. Vasari erzählt, wie

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Leonardo einen der Engel in der Taufe Christi seines Lehrmeisters Verrocchio ausführte. Als dieser die Arbeit des Schülers sah, erkannte er sie als der eigenen überlegen und beschloss daraufhin, nicht mehr zu malen.10 Hier also wird die alltägliche Zusammenarbeit innerhalb eines Ausbildungsverhältnisses – die sonst kaum Niederschlag in den Quellen findet – schriftwürdig, da sie Vasaris Narrativ von der Meisterschaft Leonardos (die sich in den bekannten Topoi von früher Begabung und dem Überbieten vorgängiger künstlerischer Leistungen äußert) transportieren kann. Wenngleich vergleichbare Motive von Lehre und Meisterschaft, dem Gestus des Übertreffens und der künstlerischen Konkurrenz auch für die Zeit vor 1500 anzunehmen sind, fehlen hier doch vor allem die Quellen, um ihnen nachzuspüren. Daher ist es nicht nur innerhalb dieses kleinen Bereiches schwer, die Wahrnehmung und Bewertung der an vielen Orten zu vermutenden oder nachweisbaren Kollaborationen für das Mittelalter zu greifen.11 Ob vor 1500 überhaupt von einer „künstlerischen“ Zusammenarbeit zu sprechen ist, muss – erneut mit Blick auf die Fachgeschichte – ausgehandelt werden. Denn die Verwendung dieses Begriffs als Analysekategorie scheint doch implizit ein „Mehr“ an Bedeutung zu verlangen, und zwar in Richtung eines „künstlerischen“ und nicht eines „kunsthandwerklichen“ Kooperierens. Voraussetzung für diese Annahme ist die Trennung des künstlerischen Werkprozesses – bzw. die Wahrnehmung dieser Trennung – in die zwei Phasen des „Entwurfs“ und der „Ausführung“ bei gleichzeitiger kunsttheoretischer Herabwürdigung des zweiten Teils, da der Ins-Werk-Setzung zwar Meisterschaft und Können zugesprochen wurde, das tatsächlich „künstlerische“ aber im Akt des kreativen Entwerfens und der Formfindung angesiedelt wird. Ein Zitat von Arnold Hauser aus seiner „Sozialgeschichte der Kunst und Literatur“ von 1958 verdeutlicht das Problem als Position der kunsthistorischen Forschung, die das Mittelalter als Form des „vorkünstlerischen“ und damit „kollektiven“ Schaffens per se definiert: Das Künstleratelier der Frührenaissance ist noch vom Gemeinschaftsgeist der Bauhütte und der Zunftwerkstatt beherrscht; das Kunstwerk ist noch nicht der Ausdruck einer selbstständigen, seine Eigenart betonenden und sich gegen alles Fremde abschließenden Persönlichkeit. Der Anspruch auf die eigenhändige Gestaltung des Werkes vom ersten bis zum letzten Zug und die Unfähigkeit, mit Schülern und Gehilfen schöpferisch zusammenzuarbeiten, macht sich erst bei Michelangelo bemerkbar, der auch in dieser Hinsicht der erste moderne Künstler ist. Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts vollzieht sich der Arbeitsprozess noch durchwegs in kollektiven Formen.12

Die hier hervorgehobenen Worte „noch“ und „noch nicht“ weisen auf das Narrativ einer Entwicklung in der Kunst, die mit der Genese einer kreativen Künstlerpersönlichkeit in der Renaissance operiert.13 Vorher gab es den Künstler nicht, nur den kollektiv organisierten Handwerker, nachher schien eine Arbeitsteilung im künstlerischen Entwurf nicht mehr möglich, da „Kunst“ als Ausdruck des personengebundenen ingeniums nicht kollektiv geschaffen werden konnte.14 Diesem teleologischen Modell einer europäischen Kunstent-

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wicklung nach wäre, vereinfacht gesagt, künstlerische Zusammenarbeit vor 1500 der Normalfall, aber eben noch keine Kunst, sondern nur Handwerk.15 Das Problem dieses Modells offenbart sich aber zugleich in dem eben genannten Zitat von Hauser, der eben doch versucht, beides, Entwurf und Ins-Werk-Setzung, gemeinsam zu berücksichtigen, spricht er doch von der Forderung der „eigenhändigen Gestaltung des Werkes vom ersten bis zum letzten Zug“ und von der „Unfähigkeit, mit Schülern und Gehilfen schöpferisch zusammenzuarbeiten“ und nennt damit erneut die beiden möglichen Orte, an denen künstlerische Arbeit geteilt werden kann: in der Formfindung und in der Umsetzung der Form in Material. Jenseits von kunsttheoretischen Vor-Urteilen und tradierten (in Teilen anachronistischen) Entwicklungsmodellen soll in diesem Beitrag versammelt werden, was über Zusammenarbeit von Künstlern im 12., 13. und 14. Jahrhundert in den Inschriften ausgesagt wird. In einem zweiten Schritt wird dann diskutiert, ob es einen Mehr-Wert gibt, der in der künstlerischen Zusammenarbeit zu erkennen ist, und ob bestimmte Motive betont werden. Hervorzuheben ist dabei, dass die hier versammelten Schriftzeugnisse Inschriften sind, also größtenteils in Stein gehauene oder geritzte Textformen, die zudem in vielen Fällen auch noch in Versen, meist Hexametern, vorkommen, somit metrisch gebunden und rhetorischen Konventionen verpflichtet sind. Sie sind damit keine zufällig tradierten Berichte aus der Werkstattpraxis, sondern Teil des öffentlichen urbanen Raums, wo sie bewusst vom Künstler (oder anderen Akteuren) angebracht worden sind, um programmatische Themen zu betonen; zugleich ist zu berücksichtigen, dass sie in ihren Formen und Aussagen zeitgenössischen Normen folgen.16 Im Ostflügel des Chiostro del Paradiso der Kathedrale San Andrea in Amalfi findet sich eine wenig spektakuläre Inschriftenplatte, die um 1200 zu datieren ist: Die römischen Meister Cesarius und Angelus haben dieses Werk gefertigt.17

Da sich die Tafel nicht am originalen Ort befindet, sondern in einer Art Lapidarium mit anderen Fragmenten verwahrt wird, ist die Frage nach dem Werk, das die Inschrift nennt und das ehemals Träger der Inschrift war, nicht mehr zu beantworten. Der Namenszusatz magistri romani aber legt nahe, dass es sich um Angehörige einer Gruppe handelt, die auch unter der kunsthistorischen Sammelbezeichnung der „Kosmaten“ bekannt ist: Marmor­künstler, die vor allem in Rom zwischen dem 12. und dem 14. Jahrhundert mit einer Inkrustationskunst aus kleingesägten antiken Buntmarmorsäulen die Kanzeln und Fuß­böden, aber auch Chorschranken, Ziborien, Altäre und Kathedren schmückten.18 Viele der Künstler, die diese ornamentalen Einlegearbeiten fertigten, standen in engen verwandtschaftlichen Verhältnissen, so dass eine mögliche Art von künstlerischer Zusammenarbeit und Werkstattorganisation, die Arbeit in Familienverbünden, aufs engste mit dieser Kunstgattung verbunden ist.19 Doch die Inschrift sagt noch mehr aus, macht sie doch deutlich, dass hier offenbar gleichberechtigte Meister gemeinsam am Werk arbeiteten, da sie

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beide das Recht haben, mit ihrem Namen erinnert zu werden. Ansonsten würde sich nur ein Meister nennen, wie es bei den meisten der erhaltenen Künstlerinschriften der Fall ist. Oder aber würde eine hierarchische Abstufung sichtbar, wie beispielsweise in Contigliano, wo auf dem Portal im Kreuzgang der ehemaligen Zisterzienserabtei-Kirche San Pastore zu lesen war: Im Jahr 1255 hat der Frater Johannes de Covara zusammen mit seinen Schülern, nämlich den Konversen Frater Berardus, Frater Johannes, Frater Berardus und Frater Johannes, dieses Werk gefertigt.20

Ein ähnliches Motiv findet sich an der Kathedrale S. Maria Assunta in Caiazzo; dort trug ein Relief mit dem Meerwurf des Jonas – vielleicht von der Brüstungsplatte einer Kanzel – die Inschrift: Im Jahr 1276, unter der Amtszeit des Bruders Johannes, ist dieses Werk vollendet; von seinem Vorgänger Andreas ist es in Auftrag gegeben worden. Christus möge diesem gnädig sein. Durch die Sorgfalt des Giraldus wurde jede Figur geformt; Matthäus aus Narni war ihm Begleiter.21

In beiden Inschriften wird die künstlerische Zusammenarbeit als Werk eines Meisters unter Mithilfe von in Teilen nachgeordneten Schülern erinnert.22 Besonders an der erstgenannten Inschrift ist, dass hier ein Mönch – Johannes – als ausführender Meister auftritt, und ausdrücklich die Schülerschaft (also ein lernendes Verhältnis) von vier Mitarbeitern betont wird, die ihm zudem noch als Konversen innerhalb der klösterlichen Hierarchie unter­ geben sind. In der zweiten Inschrift aus Caiazzo hingegen werden vier Namen genannt, die am Werk beteiligt waren: der Auftraggeber sowie derjenige Bruder, in dessen Amtszeit das Werk vollendet wurde, treten vor der namentlichen Nennung des ausführenden Meisters Giraldus auf. Er ist auch derjenige, der über Sorgfalt (cura) verfügt, die die Entstehung des Werkes ermöglichte – zusammen mit seinem comes Matthäus, eine Bezeichnung, die man mit Begleiter oder Gefährten übersetzen kann. Matthäus also wird nicht deutlich ­hierarchisch unter, aber doch innerhalb der Satzfolge nach dem Meister stehend ausgewiesen.23 Vergleichbare Motive finden sich in weiteren Inschriften, die zwei oder mehrere Künstlernamen nennen: Der Meister Jacobus Gratasoia und Ognabenus, sein Genosse, aus Verona haben dieses Portal gefertigt im Jahr des Herrn 1295.24

oder auch Dies haben Meus, Gaddus, Ceus und Andreas, die Meister aus Pisa, gefertigt, die Handwerker von Silber und Gold.25

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Die zuerst genannte Inschrift befindet sich am Portal einer Klosterkirche und ist damit erneut eine Inschrift von Bildhauern bzw. Steinmetzen – hier wird Ognabene als socius ausgewiesen, vergleichbar also dem comes der Inschrift von Caiazzo. Wie genau das Arbeitsverhältnis der beiden jeweils zweitgenannten Künstlern zu den Meistern war, ist dabei nicht zu klären. Es scheint, als hätten Matthäus und Ognabene zwar als „Begleiter“ eine nachgeordnete Rolle innerhalb der Werkstattorganisation innegehabt, seien aber trotzdem schriftwürdig gewesen. Die zweite Inschrift – schon das genannte Material Gold weist darauf hin – befindet sich an dem Kreuzreliquar im Domschatz Santa Maria Assunta e San Cerbone in Massa Marittima und damit an einem Werk der Goldschmiedekunst. Hier werden alle vier beteiligten Künstler als Meister bezeichnet.26 Dies ist deshalb bemerkenswert, da sich relativ häufig mehrfache Namensnennungen an Goldschmiedewerken ­finden lassen.27 Möglicherweise ist dies ein Hinweis auf eine Kooperation mehrerer, auf Teilbereiche der Goldschmiedekunst (etwa die Niellotechnik, Emailarbeiten oder Treib- beziehungsweise Gusstechniken) spezialisierter Fachleute, die ein Recht haben, ihre Autorschaft inschriftlich zu vermerken. Ersichtlich wird also, das die Thematisierung von künstlerischen Kooperationen und hierarchischen Abstufungen sehr stark durch die verwendeten Materialien und damit auch durch die künstlerischen Techniken, die zusammenfallen, bedingt ist. Die Arbeit in einem über Verwandtschaftsbeziehungen definierten Verbund, die für die oben genannten Kosmaten vielfach nachzuweisen ist, findet sich auch an anderen Orten, beispielsweise bei einer in den Abruzzen tätigen Werkstatt von Stuckarbeitern, die vor allem über die Inschriften als Familie greifbar wird. So verewigt sich auf dem Ziborium des Hochaltars in der Kirche San Clemente in Guardia Vomano, datiert vor 1157, ein ­Robertus mit den Worten: In Mehrerem erfahren, war hier Robertus zusammen mit seinem Vater Rogerius; sie haben die harten Figuren kunstvoll herausgearbeitet.28

Ein ähnlicher Verweis auf eine Zusammenarbeit mit einem Vater, der hier allerdings nicht namentlich genannt wird, findet sich in Chieti auf einer Inschriftenplatte, die in der dortigen Biblioteca Provinciale verwahrt wird: Im Jahr des Herrn 1151, in der vierzehnten Indiktion, in der ersten Epakte, im Monat Februar. Seiner vielfältigen Erfindungsgabe bewusst hat der Meister Nicodemus dies geglättet und bearbeitet. Und er hat die Gesichter der Menschen, der Vögel und der Tiere in seinem Geist entworfen und mit der Hilfe der Arbeit seines Vaters ausgeführt. Er war gesegnet, während er dieses Werk mit gläubigem Sinn gefertigt hat. Er bittet, dass er von Gott himmlische Belohnung verdiente.29

In beiden Inschriften also signiert jeweils ein Meister, einmal Robertus, einmal Nicodemus, und verweist dabei auf die Zusammenarbeit mit seinem Vater. Bei Robertus wird er namentlich genannt (Rogerius), bei Nicodemus reicht der Verweis auf die Zusammenarbeit

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mit dem Vater. Albert Dietl hat herausgearbeitet, dass in der letztgenannten Inschrift auffällig der kunsttheoretisch bedeutsame Begriff des ingeniums, verstanden als die formerschaffende Erfindungsgabe, in den Tätigkeitsbereich des Sohns verwiesen wird, labor aber als die körperlich-handwerkliche Ausführung unter Mitarbeit des Vaters entstand. Dietl führt dazu aus: War das ingenium im gleichsam anstrengungslosen „Konnex“, also im kompositionellen Zueinander der entworfenen Figuren ablesbar (connectere), so erscheint labor als lebendige Kraft, die im Biegen und Beugen (reflectere) eines formbaren Materials Widerstände bezwang – ein Bild, das den eigentümlichen Werkstoff des Ateliers, Stuck, in Erinnerung ruft.30

Dietls Lesart zufolge spiegeln sich hier Entwurf und Ausführung als zwei Aspekte des Werkes in der Zusammenarbeit von Vater und Sohn wieder. Offen bleiben aber muss, ob damit tatsächlich eine – bei Dietl angedeutete – Hierarchisierung bzw. Bewertung der beiden Schritte intendiert war. Eine dritte Inschrift, die sich auf der Kanzel der Pfarrkirche von Rosciolo befindet, erlaubt einen weiteren Einblick in den Werkstattzusammenhang dieser Stuckarbeiter. Dort werden beide genannten Künstlernamen parataktisch und damit gleichberechtigt hintereinander genannt, die Inschrift lautet: Seiner vielfältigen und wandelbaren Erfindungsgabe bewusst hat Robertus, hat Nicodemus dies geglättet und bearbeitet.

Dieser Befund lässt die Vermutung zu, dass Nicodemus und Robertus als Brüder und Söhne des Rogerius gemeinsam die Werkstatt geleitet haben, die die Kanzel in Rosciolo, das Ziborium in Guardia Vomano und das Werk, das ehemals die heute in Chieti verwahrte Inschrift trug, gefertigt hat. Sie sind damit sicherlich nicht die einzigen Ausführenden. Ihnen aber kommt das Recht zu, namentlich erinnert zu werden. Dieses Motiv findet sich vielfach und ist als ein Grundzug innerhalb mittelalterlichen gemeinschaftlichen Arbeitens zu benennen: Auch bei den beiden erhaltenen Bronzetüren der Pisaner Bronzewerkstatt des Bonannus, die sich an den Kathedralen von Pisa und von Monreale befinden, wird in der Inschrift nur der Name eines Meisters genannt.31 Die Inschriften lassen damit allein erkennen, wer der Werkstatt in irgendeiner Form leitend vorstand – wer somit als Vertragspartner auftrat und die Arbeiten organisierte.32 Wie viele weitere Meister, Gesellen und Lehrlinge aber an der gesamten Werkgenese beteiligt waren, wird daraus nicht ersichtlich. Dies wird auch aus einer weiteren Inschrift deutlich, die sich an der Bronzetür des Hauptportals von San Andrea in Amalfi befindet: Dieses Werk steht in ehrenvoller Erinnerung an den Heiligen Andreas, zustande gebracht durch die Bemühungen des Stifters Pantaleo, damit aufgrund dieser Taten auf seine Sünden die Gnade

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folge. Dieses Werk hat zur Erlösung seiner Seele Pantaleo anfertigen lassen, der Sohn des Maurus, Sohn des Pantaleo, Sohn des Maurus de Comite Maurone. Simeon aus Syrien, der Bronzegießer, der Künstler dieses Werkes.33

Diese Inschrift ist gleich in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Erstens wird mit der Herkunftsbezeichnung Syria interessanterweise auf den Raum verwiesen, der auch in der Schedula de diversis artibus als die Gegend benannt ist, aus der die Bronzekunst stammt bzw. auf besonders hohem Niveau ausgeübt wird und zweitens tritt Simeon erneut als Meister allein auf, wobei auch hier (wie bei den Türen aus Pisaner Werkstatt) die Beteiligung einer Vielzahl weiterer Kunsthandwerker anzunehmen ist, da ein Bronzeguss dieser Größe niemals als Einzelaufgabe zu bewerkstelligen war. Dennoch findet sich der Brauch der Nennung des werkstattleitenden Meisters als alleinigen „Künstlers“ vielfach: Wenngleich bei Bonannus, bei Simeon aus Syrien und bei Robertus und Nicodemus aufgrund der begrenzten Quellenlage im 11. und 12. Jahrhundert nur zu vermuten, so wird dies bei der Florentiner Bronzetür des Andrea Pisano aus den 1330er Jahren aufgrund der erhaltenen umfangreichen städtisch-pragmatischen Schriftlichkeit ersichtlich, da dort über die Rechnungsbücher weitere Namen der am Werk beteiligten Künstler nachweisbar sind.34 Bei der Fontana Maggiore in Perugia werden inschriftlich zumindest drei verschiedene Bereiche mit den jeweiligen Vertretern sichtbar: Wenngleich Vasari die Brunnenanlage als ein Werk von Giovanni Pisano ausweist und (offenbar bewusst) die anderen Namen verschweigt35, erscheint sie als ein Gemeinschaftswerk mehrerer spezialisierter Kunsthandwerker: Der Baumeister und Ingenieur Fra Bevignate da Cingoli wurde am 22. März 1277 zum leitenden Aufseher, wohl auch Baumeister und Ingenieur (superstans) des Aquädukts ernannt, der die Stadt mit dem Monte Pacciano verband, möglicherweise geht auch die Gesamtkonzeption der Anlage auf ihn zurück.36 In der Bauinschrift von 1278 wird Bevignate als structor bezeichnet; Boninsegna aus Venedig erbaute die hydraulische Anlage, die Inschrift erklärt, er habe das Werk errichtet (exegit). Nicola Pisano hingegen war für den figürlichen Schmuck zuständig; sein Sohn Giovanni Pisano trat nicht (mehr) als Mit­ arbeiter, sondern als seinem Vater ebenbürtiger zweiter Meister auf: Betrachte Du, der Du vorüberkommst, die Brunnen mit ihrem heiteren Gemurmel. Wenn Du gut hinsiehst, kannst Du Wunderbares erblicken. Heiliger Herkulanus, heiliger Laurentius, durch Eure inständigen Bitten möge der, der über den Sternen thront, die Wasser beschützen. Auch der See und die Herrschaft von Chiusi seien Dir angelegen. Die Stadt Perugia sei Dir freudig ein Vater, der tüchtige Frater Bevignate in jedem Wissenszweig geschickt. Er war als Bauleiter hier für alle Dinge der Führer. Er ist lobenswert und treffend mit seinem lieblichen Namen bezeichnet. Er hat dieses Werk mit einer Ordnung begabt und zu einem glücklichen Ende geführt.

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Die Namen der tüchtigen Bildhauer des Brunnens sind folgende: Durch seine Kunst berühmt, ­Nicolaus, in allem bewunderungswürdig. Er ist die Blüte der Bildhauer und ihr Allertüchtigster. Der Vater ist der erste, sein teuerster Sohn der zweite. Sag, dass dessen Name, wenn Du ihn nicht geringschätzt, Johannes ist. Geboren in Pisa, mögen sie lange glücklich leben. Durch sein In­ genium berühmt kennen wir den Fertiger der Wasserleitung, der als Boninsegna wegen seines gütigen Sinnes in aller Munde ist. Dies Werk führte er aus und bewältigte alle Schwierigkeiten. Geboren in Venedig, ist er seit langem Perugia teuer. Die Brunnen sind vollendet, wenn Du 1200 Jahren 70 und zweimal vier hinzufügen wirst. Papst war in besagter Zeit Nikolaus III. Kaiser der große Rudolf.37

Am oberen Rand des Bronzebeckens nennt eine weitere Inschrift Rubeus als Autor des Beckens (Rubeus me fecit), der die Bronzeplastiken von Greif und Löwe und der drei Frauenfiguren fertigte, sowie Bevignate und Boninsegna als „magistri huius operis“.38 Dass diese detaillierte Beschreibung der verschiedenen Fachleute, die solch ein komplexes Werk gemeinsam schaffen, ein Sonderfall ist, zeigt der Vergleich mit der Inschrift an der Fontana Maggiore aus Macerata von 1326. Werden hier doch mit den Brüdern Manfredus und Dominicus nur zwei Meister greifbar, wenngleich auch bei dieser Brunnenanlage vielfältige Werkleute für den Bau anzunehmen sind: In Gottes Namen. Amen. Im Jahr des Herrn 1326, in der neunten Indiktion, zur Zeit des Herrn Papstes Johannes XXII. ist dieses Werk gefertigt worden zur Zeit des edlen und mächtigen ­Mannes, des Herrn Ciccho Accorimbono aus Tolentino, des Podestà der Stadt Macerata. Der Meister ­Manfredus und Dominicus, sein Bruder, haben dieses Werk durch Gottes Gnade gefertigt. Amen.39

Beide Inschriften aber zeigen, wie innerhalb der Städte für wichtige kommunale Aufgaben – zu denen die Sicherung der Wasserversorgung zählte – Orte für Erinnerungsmale entstanden, die nicht allein die ausführenden Künstler, sondern auch die kommunalen Amtsträger memorieren. Neben den Begriffen comes und socius findet sich der des collega in einer Inschrift vom Ambo der Kirche San Pietro bei Alba Fucense aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts: Der römische Bürger Johannes, überaus geschickt in der Kunst, dem der tüchtige Genosse Andreas die Last übertragen hat, sie haben dieses ausgezeichnete Werk in erfahrenem Sinn zusammengebaut. Der edle und kluge Oderisius war Abt.40

Hier bekam ein römischer Marmorkünstler Johannes von seinem „Kollegen“ Andreas eine nicht näher definierte „Belastung“ (honus) übertragen – die Inschrift aber betont, dass sie hoc opus exelsum gemeinsam errichtet haben: ob es sich um eine sukzessive Arbeit (beispielsweise das Vollenden eines Werkes) oder tatsächlich um eine gemeinschaftliche

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Arbeit von zwei – möglicherweise unterschiedlich spezialisierten – Künstlern handelt, ist nicht erkennbar; hervorzuheben aber ist, dass hier deutlich die gemeinschaftliche Tat und vor allem auch eine intellektuelle gemeinsame Anstregung (mente periti) betont wird; der genannte Abt, in dessen Amtszeit die Ausführung fiel und der daher als Stifter mit in der Inschrift auftaucht, ist Oderisius II., Abt von S. Giovanni in Venere (1155–1204). Vielfach ungeklärt aber muss bleiben, ob es sich bei den namentlich Genannten um die Entwerfer, um die selbst am Entstehungsprozess des Kunstwerks handwerklich be­ teiligten Werkstattleiter oder um die verantwortlichen Organisatoren handelte, die die anfallenden Arbeiten an ausführende „Subunternehmer“ weitergaben. Ein vergleichbares Phänomen findet sich auch in den großen Bauprojekten, bei denen ebenfalls nicht deutlich wird  – beziehungsweise umstritten ist  – ob die bekannten Namen Verwalter oder ­tatsächlich entwerfende (oder gar ausführende?) Künstler waren.41 Ebenfalls hervorzuheben ist, dass die Stiftungstätigkeit von Pantaleon auf der Amalfi­ taner Portal-Inschrift mit der Formulierung hoc opus fieri iussit42 charakterisiert wird, also die Auftragserteilung über den Befehl des „Machens“ eng mit dem Werk verbunden wird. Den Stifter und damit Auftraggeber als eigentlichen spiritus rector, als Initiator und damit regelrecht als Schöpfer (concepteur) eines Kunstwerkes anzunehmen, ist nicht singulär, sondern zieht sich durch die Kunstgeschichte.43 Und führt gerade bei prominenten Auftraggebern im Mittelalter dazu, dass immer wieder eine tatsächlich planende, formal wirkende und am Werk ablesbare Teilhabe verhandelt wird: So beispielsweise bei Abt Suger von St. Denis oder bei Bernward, Bischof von Hildesheim, der als „Schöpfer“ seiner Erzwerke in der kunsthistorischen Forschung erinnert wird.44 Bei den Inschriften, die eine Zusammenarbeit von mehreren Künstlern nennen, bleibt zu fragen, welche Motive und Gründe für diese Sichtbarmachung vorliegen: Denn nur, weil eine Zusammenarbeit praktisch möglich bzw. notwendig war, bedeutet dies nicht, dass sie in der Inschrift auch ideell betont werden müsste. Was beispielsweise ist der Mehrwert der Betonung einer familiären Bindung? Ist die hier sichtbar werdende Genealogie als Garant einer Tradierung von Handwerkskunst zu verstehen? Auf dem Architrav des Ziboriums von San Lorenzo fuori le Mura in Rom findet sich die berühmte Stifter- und Künstlerinschrift, bei der die Generation der Söhne – es sind die vier gemeinsam arbeitenden Marmormeister Johannes, Petrus, Angelus und Sasso – auf ihren Vater Paulus verweist. Im Jahr des Herrn 1148 habe ich, Hugo, demütiger Abt, dieses Werk anfertigen lassen. Johannes, Petrus, Angelus und Sasso, die Söhne des Marmorkünstlers Paulus, sind die Meister dieses Werkes gewesen.45

Die Nennung Paulus’ entspricht den mittelalterlichen Namensformen, die den Vornamen des Sohnes mit dem Vornamen des Vaters kombinieren. Dennoch ist anzunehmen, dass hier der Vatername bewusst eingesetzt wurde – nennen doch viele der Künstlerinschriften

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nur den Namen mit dem Magister-Zusatz  – um eine Werkstatttradition zu behaupten und damit auch die Tradierung der Qualität und des Kunsthandwerks über die Generationen hinweg zu garantieren. Dies soll an einem Beispiel verdeutlicht werden, das ­zugleich die Fallstricke und kunsthistorischen Wanderungen dieses Motivs deutlich macht. Am Grabmal des Erzbischofs und Signore von Arezzo, Guido Tarlati, findet sich die Inschrift: Dieses Werk machte Meister Augustinus und Meister Angelus aus Siena 1330.46

Der Aretiner Giorgio Vasari kannte diese Inschrift und bezog sich auf sie, als er in seiner Vita von 1568 über einen vermeintlichen Familienzusammenhang berichtete: Unter denen, die aus der Schule der Bildhauer Giovanni und Nicola aus Pisa hervorgingen, sind die Sieneser Bildhauer Agostino und Agnolo, deren Leben wir nun beschreiben werden, für jene Epoche höchst vortrefflich gewesen. Meinen Nachforschungen zufolge stammten sowohl der Vater als auch die Mutter aus Siena, und ihre Vorfahren waren Architekten [...] So sieht man in Wahrheit sehr oft, wie die Saat der Begabung in Familien, wo sie bereits vorhanden war, eine Zeitlang keimt und dann Ableger erzeugt, die größere und bessere Früchte hervorbringen als die ersten Pflanzen. Agostino und Agnolo trugen einiges zur Verbesserung des Stils von Giovanni und Nicola ­Pisano bei und bereicherten die Kunst um eine höhere Qualität von disegno und Erfindung, wie es ihre Werke deutlich zeigen.47

Der Aretiner Kunsthistoriker aber irrt hier – Agostino di Giovanni und Agnolo di Ventura hatten zwar häufig zusammen gearbeitet, waren aber wohl keine Brüder. Vasari entwirft diese Fiktion, da er so das Narrativ der innerhalb einer Familienwerkstatt über mehrere Generationen tradierten Handwerkskunst, die sich entfaltet und Blüten treibt, entwickeln kann. Ein damit in Verbindung stehendes Motiv ist die Herleitung der eigenen künstlerischen Identität über die Abstammung aus einer berühmten, stilbildenden Werkstatt und von einer maßgeblichen Künstlerpersönlichkeit, hier eben von Nicola und Giovanni P ­ isano, mit denen sich die Bildhauerkunst nach dem dunklen Mittelalter in Vasaris Kunst-­ Geschichte zu neuer Blüte zu erheben beginnt. Bekanntermaßen betont auch Cennino Cennini in seinem Libro dell’Arte explizit seine künstlerische „Verwandtschaft“ mit Giotto, wenn er im Vorwort schreibt: So wurde ich, Cennino di Drea Cennini, von Colle di Valdelsa gebürtig, als ein geringes ausübendes Glied in der Kunst der Malerei, hier in zwölf Jahren von meinem Meister Agnolo, des Taddeo Sohn, in Florenz unterrichtet, welcher die Kunst von seinem Vater Taddeo erlernt hat. Dieser sein Vater war von Giotto über die Taufe gehalten und wurde durch vierundzwanzig Jahre dessen Schüler. Jener Giotto verwandelte die Malerkunst vom griechischen wieder in das italienische und leitete sie zum heutigen Stande.48

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Die hier vorgestellten Inschriften des 12. Jahrhunderts verdeutlichen, dass diese Form von künstlerischer Kooperation in einem Werkstattzusammenhang, der ja zugleich ein Vater/ Sohn- und damit ein Lehrer/Schüler-Verhältnis bedeuten und die Bildung einer Ahnenreihe implizieren konnte, schon früh in schriftlicher Form veröffentlicht wurde. Ein sehr eindrückliches Beispiel für diese Werkstatttradition, die zugleich als Ausweis der eigenen Fähigkeiten und für einen Bescheidenheitsgestus genutzt worden ist, bietet die Inschrift des Grabmals von Antonio d’Orso im Florentiner Dom von 1320/1321: Der Sohn des Meisters Camainus aus Siena, Tino, hat an diesem Ort in Florenz jede Seite dieses Grabmals gemeißelt. Nun ziemt es sich für ihn, vor seinem Vater in der Weise zurückzutreten, dass er zu dessen Lebzeiten nicht Meister genannt werden will.49

Tino di Camaino, der in der modernen Kunstgeschichte weitaus berühmter ist als sein ­Vater, nutzte die Inschrift, um auf seine Herkunft aus Siena, auf die Tradition des Bildhauerhandwerks in seiner Familie und auf seinen Vater zu verweisen – sie diente ihm zugleich dazu, die Meisterschaft der väterlichen Kunst zu betonen und für sich selbst den Meistertitel abzulehnen, so lange sein Vater am Leben war, dessen Memoria er zudem im sakralen Raum des Florentiner Doms sicherte. Ein weiteres Thema nimmt seinen Ausgang von einer Inschrift im Fußboden der Westminster Abbey in London.50 Sie verläuft innerhalb des ersten Jochs westlich der Vierung im Chor im Boden und lautet: Im Jahr Christi ein Tausend, zweimal Hundert, zwölf plus Sechzig weniger vier haben König Heinrich III., die Stadt, Odoricus, und der Abt diese Steine aus Porphyr zusammengefügt.51

Vier Akteure, die an der Werkgenese des Fußbodens beteiligt waren, werden hier inschriftlich bezeugt: Ein König, nämlich Heinrich III., die Stadt, gemeint ist Rom, ein Odericus, der vermutlich der ausführende Künstler war, sowie ein namentlich nicht genannter Abt.52 Nun ist es wohl wenig wahrscheinlich, dass der König oder der Abt tatsächlich mit Werkzeugen und Mate­ rialien hantierten, sie werden als die Initiatoren und Geldgeber anzusehen sein.53 Interessant aber ist erneut die aktive Rolle, die ihnen über die Inschrift und im Verbund mit dem Künstler zugestanden wird: vier Beteiligte haben die Steine gemeinsam zusammengefügt. Diese Stifterrolle entspricht unserem heutigen Verständnis von Kunstwerken nicht sehr – sie misst der Rolle von Mäzenen, die durch ihr Geld Kunst ermöglichen, eine größere Bedeutung zu. Dieses Motiv aber taucht erstaunlich häufig in Künstlerinschriften des Mittelalters auf und nutzt die Vorstellung bzw. das Motiv, dass der Künstler quasi als Werkzeug des Auftraggebers fungiert. Sehr deutlich beispielsweise rechts am Südportal des Doms S. Maria Assunta in Fermo: Im Jahr des Herrn 1227 ließ der Verwalter Bartholomäus dieses Werk durch die Hände des Meisters Georgius aus der Diözese Como machen.54

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Von diesen Inschriften, die die Formel per manus, also „durch die Hände“ bringen, gibt es relativ viele, auch frühe(re) Beispiele. So ist am Fuß der Kuppel in der Grottenkapelle Santa Maria delle Spinelle in Melfi, datiert in die Jahre 1068–1081, zu lesen: Ein vortrefflicher Abt hat zuerst den Bau dieses Gebäudes unternommen; denn Leo hat das Werk zu Ende geführt durch die Hände des Künstlers Guillielmus Jerebenignus.55

Eine vergleichbare, nur in Teilen überlieferte Inschrift befindet sich auf der fragmentarisch erhaltenen Kanzel der Pfarrkirche San Nicola in Corcumello: Im Jahr des Herrn 1267 haben wir, der Herr Abt Berardus und die Herren Petrus und Johannes Notarius, die Kanoniker der Kirche, dieses Werk durch die Hand des Meisters Stephanus aus Moscino anfertigen lassen.56

Der Stifter, Auftraggeber und Geldgeber, der sich des Instruments der Künstlerhände bedient, ist eine Vorstellung von künstlerischer Zusammenarbeit, die im 11., 12. und 13. Jahrhundert ihren Ausdruck in veröffentlichten Inschriften am Bau fand. Eine weitere aussagekräftige Inschrift befindet sich auf dem Bischofsthron in der Kathedrale von Canosa: Ursus war Planer, Romoaldus war für dieses Werk Schöpfer.57

Was mit Planer und Schöpfer angesprochen wird, ergibt sich aus dem lateinischen Ori­ ginal: Ursus wird dort als preceptor tituliert, vom Verb praecipere, das so viel bedeutet wie lehren, aber auch vorgeben, vorschreiben oder gar befehlen, Romoaldus als auctor des Werkes, also Urheber oder Schöpfer. Doch hier wird nur scheinbar von der Unterteilung des Werkprozesses in einen Entwurf und in eine Ausführung und damit von zwei mit­ einander kooperierenden „Künstlern“ gesprochen. Denn es handelt sich bei den beiden genannten Personen um den Abt Ursus, der in den 1080er Jahren den Künstler Romoaldus mit der Schaffung des Werkes beauftragte: Erneut ein sprechendes Beispiel für die Vor­ stellung von Stifter und Handwerker, die gemeinsam am Entstehungsprozess beteiligt sind, die hier am Ende des 11. Jahrhunderts eng mit dem Werk verbunden aufscheint. Bei allen diesen Beispielen aber ist zu betonen, dass die Stifternennung und Darstellung des Auftraggebers allein die Norm darstellt, die Hinzufügung des Meisternamens hingegen bemerkenswert ist.58 In der Inschrift im Fußboden von Westminster Abbey wird neben dem König, dem Künstler und dem Abt noch deutlich auf einen vierten Protagonisten verwiesen, der für die Werkgenese von große Bedeutung zu sein scheint: Neben drei Personen ist es Rom, die Stadt, die durch die Aufnahme in die Reihung eine ganz besondere Rolle im Kontext von „Autorschaft“ einnehmen kann; sie wird durch den Nominativ als Akteurin bezeichnet. Das Aussehen des Fußbodens selbst weist für kunsthistorisch gebildete heutige Betrachter*innen

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deutlich auf römische Marmorkünstler hin, so dass anzunehmen ist, das der inschriftlich genannte Odericus ein Angehöriger der Kosmatenfamilie war. Offen bleiben hingegen muss, inwieweit für einen zeitgenössischen Betrachter die Materialität, das kunsttechnische Verfahren und die formale Lösung als Verweis auf „Rom“ zu entschlüsseln gewesen wären. Und auch, ob die Auftragsvergabe an Odericus mit dem Wunsch verbunden war, für Westminster einen Fußboden zu erschaffen, der für zeitgenössische Betrachter*innen in seinem Verweis auf Rom zu lesen war. Aus einigen mittelalterlichen Quellen aber ist zu erschließen, dass intendierte Lesarten hochrangigen Reisenden vor den Objekten mündlich mitgeteilt wurden.59 Wenngleich für Westminster eine solche „gelenkte“ Betrachtung nicht in den Quellen nachweisbar ist, bezeugt doch die Inschrift im Fußboden, dass Rom als Herkunftsort der verwendeten Baumaterialien von so hoher Bedeutung war, dass diese Provenienz gekennzeichnet wurde. Abt Richard de Ware, in dessen Amtszeit die Ausführung des Bodens fällt, sah nicht allein bei seiner Amtserhebung in Anagni signierte Kosmatenpavimente, er war es auch, der von dort das Material und den Künstler mitbrachte; weitere Materialankäufe aus Rom sind im Zuge einer erneuten Reise für die Jahre 1267/68 belegt. Die Bedeutung dieser Überführung von römischem Marmor nach London ist ein so bedeutendes Motiv im Leben des Abtes, dass es auch in der Inschrift an seinem Grab in der Westminster Abbey hervorgehoben wurde, die durch Abschrift überliefert ist: Hier liegt der Abt Richard de Ware / Dieser trug Steine, die er hierher aus Rom trug.60

So einzigartig die Inschrift des Kosmatenpaviments in Westminster auch sein mag, findet sich doch ein vergleichbares Motiv in der Luccheser Pfarrkirche San Pietro Somaldi, wo zu lesen steht: Die Rektoren der Nikolaus-Bruderschaft, nämlich der Meister Cena, der Bäcker Amatus, Bonacursus Plange und der Bäcker Manducabene, haben 100 Karren von gebrochenen und bearbeiteten Steinen gegeben, mit denen sie eine Stiftung von 17 Lire für diese drei Arkadenböden gegeben haben zur Zeit der Bauverwalter Marbottus aus Florenz und Martinus aus Mailand im Jahr des Herren 1199 im Monat Februar.61

Erneut also werden hier die Auftraggeber, die Geldgeber, das Material und nun auch die Bauverwalter, die für die Organisation der Arbeiten zuständig waren und die damit als Akteure neben den eigentlichen Künstler treten, in der Inschrift genannt. Allerdings kommt den Steinen als Baumaterial nicht die gleiche Bedeutung zu wie im Londoner Beispiel aus Westminster: Denn dort war es die ewige Stadt, die wegen der Bereitstellung der höchst bedeutungstragenden Spolien betont wurde  – entweder mit ihrem Bezug zum Imperium als Idealbild allumfassender Herrschaft oder als Haupt der Christenheit.62 Weitere Motive werden bei der Durchsicht der mittelalterlichen Künstlerinschriften erkennbar, so beispielsweise die Zusammenarbeit von einem das Kunstwerk Ausführen-

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den und einem Inschriftenverfasser. Die Inschrift an der Torre del Elefante von 1306 in Cagliari bezeugt dies eindrucksvoll: Der gewählte Operarius des Werks war der kluge, vorausschauende und weise Marcus Caldolarius und der sich aufopfernde Notar Oddo, Sohn des Hubaluds, war der Verfasser dieser Verse und Johannes Capula war der caputmagister [leitender Meister/Bauvorsteher]. Niemals hat man ihn in seinen Werken ungeschickt gefunden.63

Dies ist nur ein Beispiel von mehreren Texten, die deutlich machen, wie durch die Aufschrift dem Bauwerk noch eine weitere Bedeutung angelagert wurde, die Inschrift als zweites Werk mit einem weiteren (ausführenden) Namen verbunden werden konnte, der den Wissensbereich der Literalität erschloss: Wie zuletzt im Sammelband Inschriftenkulturen im kommunalen Italien. Traditionen, Brüche, Neuanfänge betont, musste dabei das Medium „Inschrift“ nicht unbedingt lesbar sein. Schon das Vorhandensein von Schriftzeichen bezeugt durch die Latinität, im Schriftgebrauch und der Materialität das Zugriffsvermögen auf den öffentlichen Raum und den Bildungsanspruch der genannten Personen.64 Inschriften entstehen in aufeinander aufbauenden Schritten, zu denen die Abfassung des Textes, die Bereitstellung der zu beschreibenden Fläche, die Wahl der grafischen Form sowie die Anordnung des Textes auf der Schreibfläche zählt – ebenso wie die abschließende Umsetzung.65 So erklärt die Inschrift am Glockenturm der Pfarrkirche S. Agostino in Bovolenta: Im Jahr des Herrn 1224, im Monat Mai. Der Meister Rainaldinus hat es gefertigt, Gulielmus hat es geschrieben.66

Diese Inschrift offenbart, dass sie als Ergebnis einer Zusammenarbeit entstanden ist  – was auch für die meisten anderen in diesem Artikel zitierten Inschriften anzunehmen ist: Ein ausführender Bildhauer und ein (textverfassender) Schreiber sind genannt67, zudem übernimmt die Inschrift datierende und damit wohl nicht allein zeitlich verortende Aufgaben, sondern ermöglicht zugleich auch die Erinnerung an die Erbauung und damit Stiftungstat. Solcherart memoriale Inschriften können – wie oben schon gesehen – sehr umfangreich sein und eine Vielzahl verschiedener Akteure aus unterschiedlichen Bereichen nennen. Zugleich kann über sie auch die Organisation des Baues als Träger der Inschrift thematisiert werden. In Cagliari beispielsweise wird dies in einer Inschrift am StadttorTurm Torre di S. Pancrazio sichtbar (vergleichbar der Inschrift der schon genannten Torre dell’Elefante): Im Jahr unseres Erlösers, des höchsten Gottes, 1305, in der zweiten Indiktion, zur Zeit der Herrn Kastellane Betto Alleata und Rainerius di Bagno ist dieser Turm begründet worden. Als sein Operarius war der fürsorgliche und an allen Orten umsichtige Schustermeister Bectus bestellt und der

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ihm beigeordnete Schreiber war der Notar Eldisus, der dem Gott der höchsten Himmel angenehm sei. Das Haupt der Maurer, der hervorragende Architekt in Bezug auf die dauerhaften Werke dieses Baus war Johannes Capula. Das Tor des heiligen Pankratius.68

Welchen Umfang memoriale Inschriften an Bauwerken erreichen konnten, bezeugt eine Platte, die ehemals am Brückentor der Ponte dei Mulini in Mantua angebracht war und die sich heute im Palazzo Ducale di San Giorgio befindet: Damals war die Zeit des Jahres 1190, der achten Indiktion, als neun kluge Rektoren und drei Prokuratoren die Stadt des Vergil regierten: Erster ist hier der Richter Agnellus, der Patron der Stadt, zweiter nun der standhafte Acerbus von Rivalta, dritter Albertus, der scharfsinnige Sohn des Herrn Adelardus, vierter der Herr des Landes von Rivalta, Julianus; niemals vergesse den Gandulfus, Sohn des Guazzone; als sechtes zählte man Albertus, Sohn des Ravasus, der siebte aus ihrer Reihe ist der Capitan Acerbus, der achte sei der Sohn des verstorbenen Herrn Ugicione. Albertus Trivolus als neunter ist Freund der Kommune. Von den Prokuratoren ist der Richter Malvicius der erste, der andere Albertus, Sohn des Herrn Raimundus, als dritter sei ihnen beigesellt Gandulfus aus dem Geschlecht der Alexandri. Möge der Leser ihre Taten auf diesem kleinen Stein hier niedergeschrieben erblicken: Sie haben die zwölf Mühlen und die Brücke zu Ende geführt. Über den Bau der Brücke freut sich das Volk und wird sich fürderhin freuen, denn sie wird in ihrer großen Festigkeit Glanz verbreiten. Sie haben die schöne Brücke der Porta Guglielmi geschaffen. Der Mincio, hierher abgeleitet, befestigt und schmückt den Graben. Und durch sie ist das Haus der Vorstadt nun zum Haus der Stadt gemacht worden, und in den See haben sie auch den Osone abgeleitet. Mantua, Du wirst reich sein, wenn Du das Geschaffene behütest; bewahre die glänzenden Taten als Gewinn für Deine künftigen Bewohner. Singe auf immer das Lob auf diese würdigen Rektoren; mögen aus ihrem Beispiel ihre Nachfolger lernen, alles gut auszuführen. Und Albertus Pitentinus war der Meister über diese Werke. Der diese Verse gedichtet hat, heißt Raimondus, der Schreiber.69

Der kommunale Inschriftenstein tritt hier mit mehreren Funktionen auf: Zu vorderst werden die zwölf Männer an der Spitze der Kommune namentlich erinnert und ihre Taten für das bene comune – die Anlage von zwölf Mühlen sowie die Vollendung der Brücke – gennannt. Ihr Handeln für das Wohl und den Schmuck der Stadtgemeinschaft wird hervorgehoben, mit dem Verweis auf Vergil das Alter und die Ehrwürdigkeit von Mantua betont. Die Stadt selbst wird als Akteurin aufgefordert, die Erinnerung an die gute Regierung durch Lobpreisung wach zu halten, und die zukünftigen Generationen werden durch ihr Beispiel gemahnt, ähnlich große Taten zu vollbringen. Die hier genannten Motive gehören zum vertrauten Vokabular kommunaler laudes, die Taten für die Gemeinschaft, die Erinnerung der Namen und die Aufforderung für gutes Handeln in der Zukunft sind bekannte Topoi. Mit den anschließenden zwei Namen  – Meister Albertus Pientinus und Schreiber Raimondus – aber eröffnen sich weitere Themenfelder: auch wenn der genannte Meister wahrscheinlich nicht der tatsächlich ausführende Maurer gewesen ist, wird mit

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ihm doch eine Person sichtbar, die in leitender Funktion die tatsächlichen Arbeiten organisierte und überwachte und der damit auch das Anrecht erwarb, erinnert zu werden; ob der „Schreiber“ als offizieller Stadtschreiber oder gar Notar tätig war oder hier nur seine Tätigkeit benannt wird, ist nicht zu klären, hervorzuheben aber ist erneut der Akt des Beschreibens, der dem Werk weitere Bedeutungsebenen anlagert – und es als kommunale Bauaufgabe für die Stadtgemeinschaft ausweist. Wenngleich das Mittelalter tatsächlich die Epoche gewesen sein mag, in denen Kunstwerke durchweg in kollektiven Formen geschaffen wurden und virtuoses Künstlertum noch kein Thema war (wie Hauser in seinem eingangs zitierten Text schrieb) so bezeugen die hier versammelten Beispiele doch eindrücklich, dass differente Formen von künstlerischer Zusammenarbeiten sehr wohl ein Thema waren und diese Kooperationen aus einer Vielzahl von Gründen und Motiven bemerkens- und erinnerungswert und damit schriftwürdig wurden.

Anmerkungen 1

Nichtsdestotrotz wurde die Organisation der arbeitsteiligen Verfahren in mittelalterlichen Werkstätten erforscht, vgl. dazu u. a. Michael Baxandall, Die Kunst der Bildschnitzer. Tilman Riemenschneider, Veit Stoß und ihre Zeitgenossen, München 1984, der die Abläufe innerhalb von spätmittelalterlichen Bildhauerwerkstätten analysiert; Wilhelm Schlink, Planung und Improvisation an der Westfassade der Kathedrale von Amiens, in: Studien zur Geschichte der europäischen Skulptur im 12./13. Jahrhundert, hrsg. von H. Beck und K. Hengevoss-Kürkop, Bd 1, Frankfurt 1994, S. 75–85 zur Organisation einer hochmittelalterlichen Bauhütte und der dort tätigen Bildhauer; ebenso Hans-Christian Feldmann, Bamberg. Bauhüttenbetriebe im Vergleich. Zur Dominanz von Meistern im Bauhüttenbetrieb und ihrer Einflusnahme auf die Konzeption und Ausführung von Skulpturenprogrammen, in: Studien zur Geschichte (ebd.), S. 87–99.

2

John Jeffries Martin, Myths of Renaissance Individualism, Basingstoke 2004 – als Gegenentwurf zu Jakob Burckhardts Konzept des Individualismus als Paradigma der Frühen Neuzeit (in der Nachfolge von Stephen Greenblatt self fashioning), das er als Erfindung des 19. Jahrhunderts anspricht.

3

So beispielsweise Giovanna Ragionieri, Die Werkstatt Giottos, in: Künstlerwerkstätten der Renaissance (Geschichte der europäischen Kunst 5), hrsg. von R. Cassanelli, Zürich/Düsseldorf 1998, S. 55–70 zur Rolle der Künstlersignatur: Sie erkennt erkennt bei den drei von Giotto signierten Bildern wenig Eigenhändigkeit, betont bei ihnen die kommerzielle Funktion als Nachweis „aus der Giotto-Werkstatt“ und beurteilt in der der anschließenden Diskussion der „Werkstatt“ vor allem die Zuarbeiten in deutlich schlechterer Qualität. Nicholas Penny, Der Renaissance-Maler und seine Werkstatt in Italien, in: Künstlerwerkstätten der Renaissance (ebd.) S. 31–54, hingegen betont (S. 31/32), dass Maler, Bildhauer und Architekten im Gegensatz zu Schriftsteller nicht alleine arbeiten können und daher auf Mitarbeit und die Werkstatt angewiesen waren.

4

Edward E. Sampson, To think differently. The acting ensemble – a new unit for psychologcial inquiry, in: Critical Psychology 1, 2002, S. 47–61, hier S. 55: „Rather, the individual is reconstructed, becoming not so much the singular and autonomous feature of importance, the starring performer so to speak, more a performer thoroughly infused with and constituted by features of culture and history that permit indivicuals to be the persons they are.“

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5

Richard Sennett, Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, München 2015; ­Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens, Berlin 2014, u. a. S. 123–140 zur Kollektiven Intentionalität und zur Kultur als Leistung der Kooperation.

6

Petra Lange-Berndt und Dietmar Rübel, Mad(e) in West Germany. Über die Strukturen des Mit-, Für- und Gegeneinanders in künstlerischen Gemeinschaften, in: Singular/Plural. Kollaborationen in der Post-Pop-Polit-Arena, Düsseldorf 1969–1980 (Ausst. Kat. Kunsthalle Düsseldorf, 2017), kur. Petra Lange-Berndt, Dietmar Rübel, Max Schulze, Köln 2017, S. 41–47. Zu den Narrativen („Legenden“), die Künstlertum umgeben – und die seit den 1960er Jahren eben auch die „Bildung kollektiver Künstlersubjekte“ als Möglichkeit der Autorschaft wieder stärker thematisieren – Sabine Fastert, Alexis Joachmides und Verena Krieger, Einführung. Die Wiederkehr des Künstlers. Themen und Positionen der aktuellen Künstler/innenforschung, in: Die Wiederkehr des Künstlers. Themen und Positionen der aktuellen Künstler/innenforschung (Kunst Geschichte Gegenwart 2), hrsg. von S. Fastert, A. Joachimides und V. Krieger, Köln/Weimar/Wien 2011, S. 11–23, hier S. 12. Vgl. ebenso den Beitrag von Kathrin Hoffmann-Curtius zu kollektiver Kunstpraxis: Dada- und andere Monteure, S. 159–173, die zeigt, (S. 159), „dass im Angriff der Dadaisten auf die herausgehobene Stellung des Künstlers und der Kunst durch kollektive Produktion und kenntliche ­Übernahmen weniger die individuelle Autorschaft geschwächt als vielmehr die sie bestimmende Position vitaler Männlichkeit gestärkt wurde.“ S. 170: „Trotz aller „mont.“-Signaturen und Monteuranzüge ist also rückblickend nicht die Rede davon, den Künstler(beruf) als Subjektposition abschaffen zu wollen, sondern davon, ihn mittels Technik zu modernisieren.“

7

Johannes Taubert, Farbige Skulpturen. Bedeutung, Fassung, Restaurierung, München 2015; ­Manfred Schürmann, Gefasst oder holzsichtig? Zum Problem der Fassung im Werk Tilman Riemenschneiders, in: Tilman Riemenschneider. Werke seiner Blütezeit, Auss.-Kat. (Würzburg, Mainfränkisches Museum, 2004), hrsg. von C. Lichte, Würzburg 2004, S. 166–173; Polychrome Steinskulptur des 13. Jahrhunderts (Beiträge zur Tagung des Naumburg-Kollegs vom 13. bis 15. Oktober 2011 in Naumburg/Saale), hrsg. von T. Danzl, Görlitz 2012; Emmanuelle Mercier, La polychromie de la sculpture mosane entre les XIIe et XIVe siècles. Couleurs, techniques et expressions en rapport avec l’évolution des formes et les pratiques cultuelles dans le diocèse de Liège, in: Bulletin. Institut Royal du Patrimoine Artistique 34 (2013/2014), S. 41–75.

8

Albert Dietl, Die Sprache der Signatur. Die mittelalterlichen Künstlerinschriften Italiens (Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz, Max-Planck-Institut, 4. Folge, Band VI), Teil 1–4, Berlin/München, 2009. Weiterführend zum Phänomen der Künstlerinschrift vgl. Heinrich Klotz, Formen der Anonymität und des Individualismus in der Kunst des Mittelalters und der Renaissance, in: Gesta 15, 1976, S. 303–312; Peter Cornelius Claussen, Früher Künstlerstolz. Mittelalterliche Signaturen als Quelle der Kunstsoziologie, in: Bauwerk und Bildwerk im Hochmittelalter. Anschauliche Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte (Kunstwissenschaftliche Untersuchungen des Ulmer Vereins für Kunstwissenscahft 11), hrsg. von K. Clausberg u. a., Gießen 1981, S. 7–34; Peter Cornelius Claussen, Nachrichten von den Antipoden oder der mittelalterliche Künstler über sich selbst, in: Der Künstler über sich in seinem Werk, hrsg. von M. Winner, Weinheim 1992, S.  19–54; Tobias Burg, Die Signatur. Formen und Funktionen vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert, Berlin 2007; Karin Gludovatz, Fährten legen, Spuren lesen. Die Künstlersignatur als poietische Referenz, München 2011; Peter Cornelius Claussen, Autorschaft als Egotrip im 12. Jahrhundert, in: Künstlersignaturen von der Antike bis zur Gegenwart, hrsg. von N. Hegener und F. Horsthemke, Petersberg 2013, S. 76–89.

9

Ebenso wurde die Nutzung von Medien der Zusammenarbeit analysiert, darunter beispielsweise Modelle und Vorlagen, die natürlich einerseits zur seriellen Herstellung und Reproduktion genutzt werden, aber auch eine Zusammenarbeit ermöglichen/vereinfachen/organisieren können.

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Vgl. dazu Daniel Parello, Transformation, Recombining, Updating. Creative Processing from Pic­ torial Models in Stained Glass, in: Models in the Art of the Middle Ages (12th–15th Centuries) (Répertoire iconographique de la littérature du moyen âge. Les Études du Rilma 10), hrsg. von D. Borlée und L. Terrier Aliferis, Turnhout 2018, S. 207–222; Sofia Gans, Wood and Wax, Models and Molds. The Vischer Workshop of Nuremberg and Late Medieval German Casting Models, in: Models in the Art of the Middle Ages (ebd.), S. 223–232; Joanna Olchawa, Multiple Bronze Objects and the Use of Molds in Hildesheim (c. 1220–1250), in: Models in the Art of the Middle Ages (ebd.), S. 233–243. 10 Fischer 2018 (Anm. 9), S. 194. 11 Für die Buchmalerei ist in Teilen erforscht, wie Arbeitsteilung organisiert werden konnte – kunsttheoretische Wertmodelle dieser künstlerischen Kooperationen aber sind auch hier schwer zu greifen. So thematisierten beispielsweise die Beiträge des an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel abgehaltenen Seminars zur „Rationalisierung der Buchherstellung“ u. a. den „ökonomisch-ästhetischen Kompromiss zwischen Schreiber- und Leserbedürfnissen“, der sich in Ligaturen und Kürzungen sowie Systematisierungen zeigt, berücksichtigen dabei aber auch Formen der Arbeitsteilung bei der Produktion, vgl. Peter Rück, Absichten und Ergebnisse einer Tagung, in: Rationalisierung der Buchherstellung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit (elementa diplomatica 2), hrsg. von P. Rück, Marburg 1994, S. 1–4; und v. a. Aliza Cohen-Mushlin, The division of labour in the production of a twelfth-century manuscript, in: Rationalisierung der Buchherstellung (ebd.), S. 51–67; Lieselotte E. Saurma-Jeltsch, Der Einzelne im Verbund. Kooperationsmodelle in der spätmittelalterlichen Buchherstellung, in: Wege zum illuminierten Buch. Herstellungsbedingungen für Buchmalerei in Mittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. von C. Beier und E. Theresia Kubina, Wien/Köln/Weimar 2014, S. 177–201, betont eine „interne Regelhaftigkeit“, die auch heterogene Teile zu einer als einheitlich wahrgenommenen Handschrift verbinden kann, S. 178, und weist darauf hin, dass zunehmend in der Buchmalereiforschung die Frage diskutiert wird, „inwieweit die Qualität einheitlich erscheinender Stilsprachen nicht dem Werk eines Einzelnen, sondern einer eng aufeinander abgestimmten Kooperation mehrerer Kräfte zu verdanken sein könnte“, S. 181. An Stelle der Vorstellung von großen Werkstätten treten dabei Modelle von „ad-hoc-Kooperationen“, die zur Bewältigung von größeren Aufträgen zusammentraten und die als unregelmäßiges Netzwerk miteinander kooperierten. 12 Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, Band 1, München 1958, S. 333. Auch an verschiedenen anderen Stellen kommt Hauser immer wieder auf das Problem von kollektiver künstlerischer Arbeit zu sprechen, die für ihn eine Epochensignatur des Mittelalters bleibt – bzw. auch in der Moderne zu finden ist; so auf S. 259/260 (Band 1), wo er über die mittelalterliche Bauhütte spricht: „Wie war aber eine Arbeitsteilung dieser Art bei einem so komplexen geistigen Prozess wie dem künstlerischen Schaffen überhaupt möglich? Es gibt zwei einander vollkommen entgegengesetzte, nur in ihrer romantischen Eigenart ähnliche Einstellungen zu dieser Frage. Die eine neigt dazu, in der Kollektivität der künstlerischen Produktion geradezu die Voraussetzung des höchsten Gelingens zu erblicken, für die andere scheint dagegen die Atomisierung der Aufgaben und die Einschränkung der individuellen Freiheit das Zustandekommen von echten Kunstwerken mindestens zu gefährden. Die positive Einstellung wird vornehmlich im Zusammenhang mit der mittelalterlichen Kunst, die negative zumeist in bezug auf den Film zum Ausdruck gebracht. Beide Standpunkte gründen sich, trotz der Gegensätzlichkeit der schließlichen Ergebnisse, auf die gleiche Vorstellung von der Wesensart des künstlerischen Schaffens: Beide erblicken im Kunstwerk das Produkt des einheitlichen, undifferenzierten, unteilbaren, quasi göttlichen Schöpfungsaktes. Die Romantik des 19. Jahrhunderts personifizierte den Kollektivgeist der Bauhütte als eine Art Volks- und Gruppenseele, individualisierte also etwas grundsätzlich Unindividuelles und

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ließ das Werk, das die gemeinsame Schöpfung eines Kollektivs war, aus dieser einheitlich und individuell vorgestellten Gruppenseele entstehen. Die Kritiker des Films verschleiern demgegenüber zwar die Kollektivität, das heißt die zusammengesetzte Struktur der Filmarbeit keineswegs, betonten sogar ihren unpersönlichen, oder wie sie es zu bezeichnen pflegten, ‚mechanischen‘ Charakter, stellen aber dafür die künstlerische Wesensart der Produkte, gerade wegen der Unpersönlichkeit und der Atomisiertheit des Schöpfungsprozesses, in Abrede.“ 13 Alessanndro Conti, Die Entwicklung des Künstlers, in: Italienische Kunst. Eine neue Sicht auf ihre Geschichte, Berlin 1987, Band 1, S. 93–231, S. 163: „Im Allgemeinen wird die Loslösung der Maler von den Zünften als jener große Augenblick gefeiert, in dem sich die Befreiung vom – so Schlosser – ‚engstirnigen Zunftgeist‘ vollzieht.“ 14 Allgemein zum Motiv der „Entdeckung“ des Individuums als Merkmal des Nachmittelalers siehe Jan A. Aertsen, Die Entdeckung des Individuums, in: Individuum und Individualität im Mittelalter, hrsg. von J. A. Aertsen, Berlin 1996, S. IX–XVII; Werner Beierwaltes, Subjektivität, Schöpfertum, Freiheit. Die Philosophie der Renaissance zwischen Tradition und neuzeitlichem Bewusstsein, in: Der Übergang zur Neuzeit und die Wirkung von Traditionen (Vorträge gehalten auf der Tagung der Joachim Jungius Gesellschaft der Wissenschaften), Hamburg 1978, S. 15–31. 15 Die kunsthistorische Forschung hat sich vielfach künstlerischen Kooperationen im Kontext von Werkstatt und Werkstattorganisation zugewandt (auch dem Atelier), einerseits als Stätte des ­gemeinsamen Arbeitens (Rahmen), als Ort für sich und als künstlerischem Motiv, dazu u. a.: Topos Atelier. Werkstatt und Wissensform (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte 7), hrsg. von M. Diers und M. Wagner, Berlin 2010; Svetlana Alpers, Rembrandt als Unternehmer. Sein Atelier und der Markt, Köln 1989; Inventions of the Studio, Renaissance to Romanticism (Tagungsakten University of North Carolina, Chapel Hill, 2001), hrsg. von M. Wayne Cole, Chapel Hill 2005; Der Künstler und seine Werkstatt. Das Atelierbild von der Goethezeit bis zur Gegenwart, Ausst. Kat. (Berlin, Nationalgalerie, 1976). 16 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 1, S. 9: „Nicht zuletzt an den prominenten, oft kalkuliert in Bildkontexte eingestellten Platzierungen macht das werkgebundene Medium „Inschrift“, das selbst schon auf Dauerhaftigkeit und Publizität hin angelegt war, erstaunliche Freiräume der Selbst­ darstellung mittelalterlicher Künstler ablesbar.“ Vgl. auch Albert Dietl, In arte peritus. Zur Topik mittlalterlicher Künstlerinschriften in Italien bis zur Zeit Giovanni Pisanos, in: Römische Historische Mitteilungen 29, 1987, S. 75–125. 17 Dietl 2009 (Anm.  8), Band 2, Kat. Nr.  A 10, S.  522: + CESARI(VS) ET ANGEL(VS) / (M)AG(IST)RI ROMANI FE / (C)ERVNT HOC OP(VS). 18 Peter Cornelius Claussen, Magistri doctissimi Romani. Die römischen Marmorkünstler des Mittelalters (Forschungen zur Kunstgeschichte und christlichen Archäologie 14), Stuttgart 1987; Alessio Monciatti, I Cosmati. Artisti romani per tradizione familiare, in: Artifex bonus. Il mondo dell’artista medievale, hrsg. von E. Castelnuovo, Rom 2004, S. 90–101; Dario Del Bufalo, Marmorari magistri romani, Rom 2010, S. 139–176. 19 Zu Beginn des 12. Jahrhunderts wird ein Paulus über Inschriften greifbar, der mit seinen Söhnen Giovanni, Angelo, Sassone und Pietro in einem Werkstattzusammenhang arbeitete. Der namengebende Cosma di Jacopo di Lorenzo ist erst um 1210 in den Quellen greifbar, als Werkstattmitarbeiter seines Vaters Jacopo, Del Bufalo 2010 (Anm. 21), S. 150–152. 20 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 2, Kat. Nr. A 182, S. 778/789: A(NNO) M CC L V / FR(ATER) IOH(ANNE)S DE COVARA CV(M) DISCIPVLIS SVIS SCILICET F(RAT)RE / BERARD(VS) F(RAT)RE IOH(ANN)E F(RAT) RE / BERARDO ET F(RAT)RE IOH(ANN)E C(ON) / V(ER)SIS FECIT HOC OP(VS). Auffällig ist die Doppelung der Schülernamen, so dass eventuell nicht vier, sondern nur zwei Mitarbeiter anzunehmen sind und sich – wie schon Eugenio Duprè Theseider, L’abbazia di S. Pastore presso Rieti, Rieti

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1919, S. 18 vermutete, der Inschriftenschreiber in den Zeilen irrte (und somit zweimal die beiden Namen Berardus und Johannes nannte). Dietl 2009 (Anm. 8), Band 4, Abb. 182, S. 2088; Robert Brentano, A new World in a small Place. Church and Religion in the Diocese of Rieti 1188–1378, Berkeley 1994, S. 63 und S. 244/245; Ileana Tozzi, L’abbazia cistercense di San Pastore presso Rieti. Le ragioni di un recupero, in: Bullettino della Deputazione Abruzzese di Storia Patria, 87 (1997), S. 29–39, hier S. 33. 21 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 2, Kat. Nr. A 124, S. 693: „Mille ducentenis cum sexto septuagenis / collatis annis fratris sub sede Johannis / hoc opus expletur; a praecedente iubetur / Andrea fieri; Christus velit huic misereri. / Giraldi cura signatur quaeque figura, / Matthaeusque comes fuit ipsi, Narnia proles.“ Die nicht mehr erhaltene Inschrift wird durch den Kirchenhistoriker Ferdinando Ughelli überliefert. 22 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 1, S. 31: „Die Nennung von Familienmitgliedern, Firmenteilhabern, außerfamiliären Mitarbeitern und untergeordneten Kräften spiegelt ebenso die traditionelle, familiengebundene Werkstattorganisation wie temporäre, werkstattübergreifende Arbeits­ gesellschaften wieder.“ 23 Bei den genannten Auftraggebern handelt es sich wahrscheinlich um den Stifter, Bischof Andrea di Riccardo (1257–1272), sowie um Giovanni di Aversa, der bis 1275 auf dem Bischofthron saß. Heinrich Wilhelm Schulz, Die Denkmäler der Kunst des Mittelalters in Unteritalien, Dresden 1860, Band 2, S. 161 und S. 270, sieht in dem comes Mathäus aus Narni einen Bildhauer, der auch in Ravello tätig war. Zugleich aber ist die Wahl der Begriff der Inschrift durch die Versform motiviert (cura/figura und comes/proles). 24 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 2, Kat. Nr. A 342, S. 1016/1017: + MAGISTER IACOB(VS) GRATASO/IA (ET) OGNABEN(VS) EIVUS SOCIV(S) DE / VERONA FECER(VNT) A(NC)H PORTAM / AN(N)O D(OMI)NI M CCVXXXXV. Die Inschrift befindet sich am äußeren linken Portalpfosten. 25 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 2, Kat. Nr. A 350, S. 1028–1030: + HOC MEVS ET GADDVS CEVS ANDREASQ(VE) MAGISTRI PISIS FECERVENT ARGENTI AVRIQ(VE) MINISTRI. 26 Bei den genannten Künstlern handelt es sich um die Pisaner Goldschmiede Meo di Tale, Gaddo di Giovanni di Cascina, Francesco di Colo; Anna Rosa Calderoni Masetti, Il reliquiario della croce nel Duomo di Massa Marittima, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz 22 (1978), S. 1–26, schlägt vor, den Pisaner Bildhauer Andrea Pisano als weiteren Autoren des Reliquiars zu identifizieren. 27 Peter Cornelius Claussen, Goldschmiede des Mittelalters. Quellen zur Struktur ihrer Werkstatt am Beispiel der Schreine von Sainte Geneviève in Paris, Westminster Abbey in London, St. Gertrud in Nivelles und St. John in Beverley, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 32, 1978, S. 46–86. 28 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 2, Kat. Nr. A 274, S. 910–912: PLVRIBVS EXPERTUVS FV(I)T IC CVM PATRE ROBERTV(S) // ROGERIO DVRAS REDDENTES ARTE FIGVRAS. 29 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 2, Kat. Nr. A 163, S. 751/752: +ANNO DOMINI MILLESI/MO CENTESIMO L I INDIC/CIONE XIIII EPACTA I M(EN)S(E / F(E)BR(VARII) INIENII CERTVS VARII / NICODEMVS MAGISSTRVS / HOC LEVIGARVM NICODE/MVS ADQ(VE) DOLARVM ET FA/CIES HOMINIVM VOLVDRVM / PECCODV(M)Q(VE) CONECTEM ING/NIO PATRIOQ(VE) LABORE REFLE/CTET HOC BENEDICTVS OP(VS) / DVM FECIT M(EN)TE FIDELI HOR(AT) / VT A DOMINO MEREATVR / BREMIA CELI. 30 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 1, S. 128. Weiter dazu S. 230: „Ein übersehenes, für die Kenntnis der Organisation und personellen Zusammensetzung der Werkstatt jedoch folgenreiches Detail liefert die unscheinbare Wendung, dass sich Nicodemus patrioque labore ans Werk gemacht hat, sich also der väterlichen Mitarbeit bei der Ausführung versichert hat. Damit fügt sich die Inschrift in eine Reihe von Signaturen ein, in denen der Sohn als verantwortlicher Leiter einer familiär

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geführten Werkstatt diese Intervention sicher ebenso sehr aus Gründen der Zusicherung tradierter Qualität gegenüber dem Auftraggeber wie der persönlichen Reverenz vor dem Oberhaupt der Familie und mutmaßlichem Werkstattbegründer ausdrücklich zur Sprache bringt.“ 31 Chiara Frugoni, L’autocoscienza dell’artista nelle epigrafi del Duomo di Pisa, in: L’Europa dei ­secoli XI e XII fra novità e tradizione. Sviluppi di una cultura (Miscellanea del Centro di studi medioevali 12), Mailand 1989, S. 277–344 32 Albert Dietl, Italienische Bildhauerinschriten. Selbstdarstellung und Schriftlichkeit mittelalter­ licher Künstler, in: Inschriften bis 1300. Probleme und Aufgaben ihrer Erforschung (Abhandlungen der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften 94), hrsg. von H. Giersiepen und R. Kottje, Opladen 1995, S. 175–211, S. 180/181, zu den Künstler- v. a. Bildhauerinschriften im städtischen Raum Italiens „als eine statistisch relevante Konstante der inschriftlichen Präsentation im städtischen Raum. Neben und teilweise als vertragsfähige Handlungspartner zusammen mit den gesellschaftlichen Elitgruppen – wie etwa in Bau- und Stifterinschriften – werden sie in einem erstaunlichen Maß öffentlich namensfähig.“ 33 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 1, Kat. Nr. A 11, S. 524: HOC OPUS ANDREE MEMORI CONSISTIT / HONORE AUTORIS STUDIIS / EFFECTUM PANTALEONIS HIS UT PRO / GESTIS SUCCEDAT GRATIA CULPIS / HOC OPUS FIERI IUSSIT PRO / REDEMTIONE ANIME SUE PANTALEO / FILIUS MAURI DI PANTALEONE DE / MAURO DE MAURONE COMITE / SIMEON SYRIA APOXAHLOS / ARTIFEX HUIUS LABORIS. 34 Vgl. Magdalena Bushart und Henrike Haug, formlos-formbar. Bronze als künstlerisches Material, in: formlos-formbar. Bronze als künstlerisches Material, hrsg. von M. Bushart und H. Haug, Köln u. a. 2016, S. 7–17, hier S. 9–10. 35 „Zur selben Zeit hatten die Peruginer dank dem Einfallsreichtumg und der Umtriebigkeit eines Silvestriner-Ordensbruders von dem zwei Meilen vor der Stadt liegenden Monte Paccino sehr große Wassermengen durch Bleirohre herbeigeleitet und Giovanni Pisano den Auftrag erteilt, alle Verzierungen des Brunnens auszuführen, sowohl die aus Bronze als auch die aus Marmor. [...] Und weil Giovanni meinte, in jenem Werk sehr gut gearbeitet zu haben, brachte er dort seinen Namen an.“ Giorgio Vasari. Die Leben der Bildhauer und Architekten des Duecento und des Trecento, hrsg. und komm. von H. Haug und S. Feser, Berlin 2014, S. 55. Auffällig ist, dass Vasari gut darüber unterrichtet ist, dass ein Silvestriner zumindest die Wasserleitungen legte – aber seinen Namen nicht nett und auch die weiteren über die Inschriften überlieferten Namen verschweigt. Da seine Argumentation dort, wo es seinem kunsthistorischen Entwurf entspricht, sehr stark auf Inschriften basiert, ist diese Lücke nur durch bewusstes Verschweigen zu erklären. Hervorzuheben ist zudem, dass Vasari hier noch einmal auf seine in seiner Vorrede von 1568 formulierte These zurückkommt, nach der die mittelalterlichen Künstler, weil sie sich der geringen Qualität ihrer Werke bewusst waren, diese nicht signierten. Die vermeintliche Namenlosigkeitkeit der Künstler vor 1300 erklärt Vasari aus fehlender Konkurrenz und fehlendem Streben nach Ruhm, beides Aspekte, die auch den in seinen Augen geringen Stand der Kunstfertigkeit des „Mittelalters“ erklären. 36 Kathrin Hoffmann-Curtius, Das Programm der Fontana Maggiore in Perugia, Düsseldorf 1968, S. 19. 37 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 3, Kat. Nr. A449, S. 1186–1189: ASPICE QVI TRANSIS LOCVNDVM VIVERE FONTES / SI BENE PROSPICIAS MIRA VIDERE POTES / ERCVLANE PIE LAVRENTI STARE ROGANTES / CONSERVET LATICES QVI SVPER ASTRA SEDET / ET LACVS ET LVRA CLVSINA QVOD SINT TIBI CVRA / VRBS PERVSINA PATER GAVDE NATVS SIT TIBI FRATER / BENVEGNATE BONVS SAPIENTIS AD OMNIA PRONVS / VIC OPERIS STRVCTOR FVIT ISTE PER OMNIA DVCTOR / HIC EST LAVDANDVS BENEDICTO NOMINE BLANDVS / ORDINE DOTATVM DEDIT HIC ET FINE BEATVM / NOMINA SCVLPTORVM FONTIS SVNT ISTA BONORVM / ARTE PROBATVS NICOLAVS AD OFFITIA GRATVS / EST FLOS SCVLPTORVM GRATISSIMVS ISQVE PROBORVM / EST GENITOR PRIMVS GENITVS CARISSIMVS IMVS / CVI SI NON DAMPNES NOMEN DIC ESSE JOANNES / NATVS PISANI. SINT MVLTO TEMPORE SANI / INGE-

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NIO CLARVM DVCTOREM SCIMVS AQVARVM / QVI BONNESINGNA VVLGATVR MENTE BENIGNA / HIC OPVS EXEGIT DVCTILIE QVOQVE PEREGIT / [V]ENETIIS NATVS PERVSINVS HIC PERIMATVS / FONTES COMPLENTVR SVPER ANNIS MILLE DVCENTIS / SEPTVAGINTA BIS QVATVOR ATQVE DABIS / TERNVS PAPA FVIT NICOLA TEMPORE DICTO / RODVLFVS MAGNVS INDVPERATOR ERAT. Eine etwas andere Übersetzung bring Hoffmann-Curtius 1968 (Anm. 39), S. 17/18. 38 Hoffmann Curtius 1968 (Anm. 39), S. 18; Attilio Bartoli Langeli und Nicoletta Giovè Marchioli, Le scritte incise della Fontana Maggiore, in: Il linguaggio figurativo della Fontana Maggiore di Perugia, hrsg. von C. Santini, Perugia 1996, S. 163–195, hier S. 167: +A(N)NO D(OMI)NO M CC LXX VII INDICT(IONE) V T(EM)P(OR)E REGIMINIS D(OMI)NI GERA(R)DINI DE BUSKETTIS POT(ESTATIS) ET T(EM)P(OR)E REGIM(IN)IS D(OMI)NI ANSELMI DE ALCATE CAPIT(ANEI) P(OPULI) MAG(IST)RI FUERU(N)T HUI(US) OP(ER)IS F(RATE)R VEVEGNATE OR(DINIS) S(ANCTI) B(E)NEDICTI) BO(N) ASEG(NA+ RUBEUS ME FEC(IT. 39 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 1, Kat. Nr. A 324, S. 983–985: IN DEI NO(M)I(N)E AME(N) ANNO D(DOMI) NI (M) / CC XXVI IND(ICTIONE) VIIII T(EM)P(OR)E D(OMI)N(I) / IOH(ANN)IS P(A)P(E) XXII HOC OPV(S) FAC/T(VM) FVIT T(EM)P(OR)E NOBIL(IS) ET POTE(N)TI(S) / VIRI CICCHI D(OMI)NI ACCVRI(M) BONE / DE TOLE(N)TINO POT(EST)ATIS CIV(I)/TATIS MACERATE MAG(ISTE)R MA(N)FREDVS ET DOMI(NI)CVS EIVS FRAT(ER) / I FECER(VNT) HOC OPV(S) DEO GRATIAS A(MEN). Macerata, Fonte Maggiore, 1326; der genannte Cicco degli Accorimboni war 1326 Podestà in Macerata. 40 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 2, Kat. Nr. A 5, S. 515/516, Alba Fucense: CIVIS ROMANUS DOCTISSIMUS ARTE / IOHANNES CUI COLLEGA BONUS / ANDREAS DETULIT HONUS [ONUS: DIE LAST] HOC OPUS / EXELSUM STURSSERUNT [EXTRUXERUNT] MENTE / PERITI NOBILIS ET PRUDENS ODERISIUS / ABFUIT ABAS. 41 Günther Binding, Baumeister und Handwerker im Baubetrieb, in: Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik, Ausst. Kat. (Köln, Schnütgen-Museum in der Josef-Haubrich-Kunsthalle, 1985), hrsg. von A. Legner, Köln 1985, Band 1, S.  171–183; Günther Binding, Bischof Benno II. von Osnabrück als architectus et dispositor caementarii operis, architectoriae artis valde peritus, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 44, 1990, S. 53–66; Günther Binding, architectus, magister operis, wercmeistere. Baumeister oder Bauverwalter im Mittelalter, in: Mittellateinisches Jahrbuch 34, 1999, S. 7–28. 42 Anna Maria D’Achille, Iubet hoc fieri pavimentum. Iscrizioni e ritratti di committenti laici nei pavimenti dell’XI–XIII secolo, in: Le plaisir de l’art du Moyen Âge. Commande, production et ­réception de l’œuvre d’art (Mélanges en hommage à Xavier Barral i Altet), hrsg. von R. Alcoy und D. Allios, Paris 2012, S. 670–677. 43 Den Begriff des concepteurs prägte Beat Brenk, Der Concepteur und sein Adressat, oder: Von der Verhüllung der Botschaft, in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hrsg. von J. Heinzle, Frankfurt 1994, S. 431–450; Ulrike Bergmann, Prior omnibus autor – an höchster Stelle aber steht der Stifter, in: Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik, Ausst. Kat. (Köln, Schnütgen-Museum, 1985), hrsg. von A. Legner, Köln 1985, Bd. 1, S. 117–148, u. a. S. 126: „Suger ist also geradezu das Paradebeispiel für einen mittelalterlichen Auftraggeber, der die Ausführung in allen Teilen geplant und kontrolliert hat.“ Zu Bernward S. 118 und 124/125. 44 Herbert Beelte, Bernwardus presul fecit hoc! Ein Blick in St. Bernwards Metallwerkstätten, in: Unsere Diözese in Vergangenheit und Gegenwart 29, 1960, Heft 1, S. 1–37; Günther Binding, Bischof Bernward von Hildesheim – architectus et artifex?, in: Bernwardinische Kunst. Bericht über ein wissenschaftliches Symposium in Hildesheim, hrsg. von M. Gosebruch, Göttingen 1988, S. 27–47. 45 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 2, Kat. Nr. A 588, S. 1423–1425: +ANN(O) D(OMINI) M C XL VIII EGO HVGO HVMILIS ABB(A)S HOC OPVS FIERI FECI + IOH(ANNE)S PETRVS ANG(E)L(V)S ET SASSO FILII PAVLI MARMOR(ARII) HVI(VS) OP(ER)IS MAGISTRI FVER(UNT). Peter Cornelius Claussen, Magistri

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Doctissimi Romani. Die römischen Marmorkünstler des Mittelalters (Corpus Cosmatorum 1), Wiesbaden 1987, S. 16/17. 46 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 2, Kat. Nr. A 32, S. 555–558: + HOC OPVS FECIT MAGISTE(R) AGVSTINV(S) (ET) MAGISTE(R) ANGELV(S) DE SEN(IS) M CCC XXX. 47 Giorgio Vasari. Die Leben der Bildhauer und Architekten des Duecento und des Trecento, hrsg. und komm. von H. Haug und S. Feser, Berlin 2014, S. 72. 48 „Sì come piccolo membro essercitante nell’arte di pintoria, Cennino di Drea Cennini da Colle di Valdelsa nato, fui informato nella detta arte dodici anni da Agnolo di Taddeo da Firenze mio maestro, il quale imparò la detta arte da Taddeo suo padre; il quale suo padre fu battezzato da Giotto, e fu suo discepolo anni ventiquattro. Il quale Giotto rimutò l’arte del dipignere di greco in latino, e ridusse al moderno; ed ebbe l’arte più compiuta che avessi mai più nessuno.“ Cennino Cennini. Il Libro dell’Arte o Trattato delle Pittura, hrsg. von F. Tempesti, Mailand 1984, S.  30; Cennino Cennini, Das Buch von der Kunst oder Tractat der Malerei (Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters 1), übers. und eingl. von A. Ilg, Wien 1871, S. 4/5. 49 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 1, Kat. Nr. A 236, S. 857–859: + OPERV(M) DE SENIS NATVS EX MAG(IST) RO CAMAINO IN HOC SITV FLORENTINO TINVS SCUVLPSIT O(MN)E LAT(VS) HVC P(RO) PATRE ­GENETIVO DECET INCLINARI VT MAGISTER ILLO VIVO NOLIT APPELLARI. 50 Howlett, David, The Inscriptions in the Sanctuary Pavement at Westminster, in: Westminster Abbey. The Cosmati pavements (Courtauld research papers 3), hrsg. von L. Grand und R. Mortimer, Aldershot 2002, S. 100–115. Die Inschrift aus Bronze ist bis auf sieben Buchstaben verloren; ihr Wortlaut aber kann über zwei Quellen aus der Mitte des 15. Jahrhunderts rekonstruiert werden. Die vollständige Inschrift ist sehr viel umfangreicher. 51 Howlett 2002 (Anm. 53), S. 106, die Inschrift befand sich auf dem das Fußbodenfeld umlaufenden Band:

+ XPISTI : MILLENO : BIS : CENTENO : DVODENO :



CVM : SEXAGENO : SVBDVCTIS : QVATVUOR : ANNO :



TERTIVUS : HENRICVS : REX : VRBS : ODORICVS : ET : ABBAS :



HOS : COMPERGERE : PORPHYREOS : LAPIDES :

52 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 2, Kat. Nr. A 306, S. 956: „Damit kamen allein die Namen der am Pa­ viment Beteiligten, also des Königs, der Stadt Rom, des Marmorarius Odericus und des Abtes, auf dem Streifen vor den Stufen des Hochaltars zu sitzen“; Howlett 2002, (Anm. 53) hingegen in­ seriert noch ein „der Papst in der“ in seine Übersetzung, so dass er folgende Lesart vorschlägt: „In the year of Christ, the thousandth, twice hundredth, twelfth, with the sixtieth, with four subtracted, the third King Henry, [the pope in] the City [of Rome], Odoric, and the Abbot [of Westminster] fixed together these porphyry stones.“ Dieser Einschub ist nicht zwingend und auch nicht unbedingt überzeugend – denn selbst bei dieser Lesart ist auffällig, dass nicht der Papst als Akteur, sondern die URBS genannt wird. 53 Herbert L. Kessler, Seeing Medieval Art (Rethinking the Middle Ages 1), Peterborough 2004, S. 15: „Little medieval art can be assigned to known ‚artists‘; much more of it can be attached to concepteurs or patrons than to actual makers. Chapter 2 focuses on the characteristic modes of artistic production, on the often complex interactions between artisans and clerical sponsors, corporate creations, and the emergence of commercial production. It considers both the status of craft in medieval society and various legends that assign the making of art to supernatural agents.“ Kapitel 2: „Making“, S. 45–64. 54 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 2, Kat. Nr. A 216, S. 827/828: + ANN(O) D(OMINI) M CC XX VII BARTHO/ LOMEVS MANSIONARI(VS) HOC / OPVS FIERI FECIT P(ER) MANVS MAGISTRI GEORGI DE / EPISCOPATV COM(ENSI).

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55 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 2, Kat. Nr. A 353, S. 1033/1034: + SVSTVLIT HOC PRIMVM ABBAS PRECLARVS ASYLVM TEMPORE NAMQVE LEO COMPSIT OPVS DOMINO PER MANVS ARTIFICIS GVILLIELMI IVREBENIGNI. 56 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 2, Kat. Nr. A 183, S. 779–781: + AN(N)O D(OMI)NI M CC L X V II NOS BER(ARDVS?) ABB(AS) DO(PNI) PETRVS ET NOTARII IOHANNIS HVIUS E/CCL(ESI)E CANONICI [HOC] OP(VS) FIERI FECIM(VS) P(ER) MAN(US) MA[GISTRI STEPHANI DE MOSCINO]. 57 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 2, Kat. Nr. A 132, S. 706–708: + VRSO P(RE)CEP[TOR RO] / MOALDVS A[D HEC FV] / IT ACTOR. Die Inschrift ist dreizeilig, die Enden von Zeile 1 und 2 sind Ergänzungen e ­ iner Neumontage von 1905. 58 So auch Matthias Müller, Der Künstler betritt das Stifterbild. Normen der Auftraggeber- und Künstlerpräsentation in religiösen Bildwerken des hohen und späten Mittelalters (1140–1449), in: Prozesse der Normbildung und Normveränderung im mittelalterlichen Europa, hrsg. von D. Ruhe und K.-H. Spiess, Stuttgart 2000, S. 27–53 und Bergmann 1985 (Anm. 46), die S. 130 die Inschrift auf zwei emaillierten Platten des Victoria & Albert Museum in London (ARS AVRO GEMMISQ(VE) PRIOR, PRIOR OMNIBVS AVCTOR) zitiert: „Die Kunst steht höher als Gold und Edelsteine, an höchster Stelle aber steht der Stifter (auctor)“; sie umgibt das kniende Stifterbildnis von Heinrich von Blois, Bischof von Winchester (B 10), und betont die Bedeutung, die dem Auftraggeber und damit meist auch Geldgeber des Kunstwerkes im Mittelalter zugesprochen wurde, S. 131/132: „Faszinierend ist die darin geäußerte Hochschätzung der Kunst, noch aufschlußreicher die Be­ urteilung des Stifters als wichtigster Person im Kunstprozess, Aussagen, die zweifelsohne nicht nur die individuelle Einschätzung Heinrichs ausdrücken, sondern vielmehr der alleinigen Initiatorenrolle des Kunststifters im Mittelalter Rechnung tragen: Ohne den Stifter keine Kunst.“ 59 Henrike Haug, Annales Ianuenses. Orte und Medien des historischen Gedächtnisses im mittel­ alterlichen Genua, Göttingen 2016, S. 244–246. 60 „Abbas Ricardus de Wara, qui requiescit / Hic, portat lapides, quos hic portavit ab urbe.“Peter Cornelius Claussen, Pietro di Oderisio und die Neuformulierung des italienischen Grabmals zwischen opus romanum und opus francigenum, in: Skulptur und Grabmal des Spätmittelalters in Rom und Italien, hrsg. von J. Garms und A. M. Romanini Wien 1990, S. 173–200. 61 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 2, Kat. Nr. A 312, S. 966: RECTORES DE FRATERNITA S(AN)C(T)I / NICOLAI S(CILICET) CENA MAGIST(ER) AMAT(VS) PI/STOR BONACVRSVS PLA(N)GE MA(N)DVCA/BENE PISTOR DEDERVNT C CARRA / DE PETRIS TRACTA ET PA(RA)TA IN QVIBVS // DEDER(VN)T XVII L(I)B(RAS) AD ISTOS TRES ARCVS / TE(M)PORE FLORENTINI MARBOTTI MARTINI / MEDIIVILLANI OP(ER) ARIORV(M) ANNI D(OMI)NI M C N(ON)AGINTA VIIII ME(N)SE FEBRVARII Lucca, San Pietro Somaldi, dritter Nordpfeiler im Osten, 1199. 62 Auch für am Pisaner Dom verbaute Spolien konnte nachgewiesen werden, dass sie extra aus ­Ostia – und damit aus dem römischen Hafen – importiert wurden; auch hier ist anzunehmen, dass die Provenienz in irgendeiner Form erinnert wurde, um den für die Seerepublik, die sich selbst als zweites Rom stilisierte, so wichtigen Bezug nutzbar zu machen. 63 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 2, Kat. Nr. A 121, S. 686–689: Die Inschrift ist umfangreicher, der zitierte Teil findet sich am Ende, nach der Nennung der Bauherren bzw. Geldgeber Johannes Cinquana und Johannes de Vecchiis: [hoc opus] + CVI(VS) FVIT ELECT(VS) SAGAS OP(ER)ARI(VS) PROVID(VS) (ET) SAPIENS MARCVS CALDOLARIVS / ATQ(VE) S(IB)I DEDIT(VS) FVIT OD(D)O NOT(ARIV)S HVBALDY COMPOSITOR HOR(VM) RITIMARIUVS / ET CAPVLA IOH(ANN)ES (FV)IT CAP(VT) MAGI(STER) NVNQUAM SVI(S) OP(ER)IB(VS) INVENTVS SINIXTER. 64 Dietl 1995 (Anm. 35), S. 198/199: „In diesem Umfeld, in dem eine breite Schicht oral-volkssprachlicher Kultur mit einem schmalen Überbau lateinischer Schriftkultur konfrontiert war und die Schriftwelt mehrheitlich als komplexes, autoritätsanzeigendes Zeichensystem wahrgenommen

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wurde, fungierte auch die Inschrift des Künstlers noch vor der inhaltlichen Aussage als materielles Graphem einer Schriftpartizipation: das Medium selbst transportierte damit bereits eine Botschaft des Künstlerprestiges.“ 65 Inschriftenkulturen im kommunalen Italien. Traditionen, Brüche, Neuanfänge (Materiale Textkulturen 21), hrsg. von K. Bolle, M. von der Höh und N. Jaspert, Berlin/Boston 2019, S. 6 (Einleitung von Marc von der Höh): „Inschriften müssen als beschriftete materielle Objekte betrachtet werden, die in architektonische und topographische Strukturen eingebettet sind. Als solche sind sie zugleich Ergebnis und Gegenstand von Produktions- und Rezeptionszusammenhängen.“ 66 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 2, Kat. Nr. A 117, S. 679/680: „An(no) domini MCCVVIV maji magis(ter) Rainaldinus fecit Guglielmus scripsit.“ Die Inschrift ist nicht erhalten und durch Abschrift des Paduaner Antiquars Jacopo Salomonio überliefert. Dietl schreibt dazu, S. 680: „Der an zweiter Stelle genannte Guglielmus war dem Verbum SCRIPSIT zufolge an der Herstellung der Inschrift beteiligt, angesichts der Kürze der Inschrift wohl weniger als Textautor oder Ordinator, sondern als Inschriftensteinmetz.“ Dietl 1995 (Anm. 35), S. 198–207. 67 Noch deutlicher wird die Zusammenarbeit zwischen einem schriftverfassenden Autor und einem schriftherstellenden Bildhauer an der Porta Sonsa, einem der Stadttore von Viterbo von 1095 (GOTI)FREDV DICTAVIT. ROLANDVS SCVLPSIT, Dietl 1995 (Anm. 35), S. 199. 68 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 2, Kat. Nr. A 122, S. 689–692, hier S. 690: + SUB AN(NI)S MO N(OST)RI / REDE(M)PTO(R)IS VO CCCO BINE / IND(ICTIONIS) DEI D(E)OR(VM) / D(OMI)NOR(VM) T(EM)P(O)R(E) BEC/TI ALLEATA RAYNE(R)II D(E) BALNEO / T(VR)RIS HEC FV(N)DATA / CASTELLANOR(VM) CVI(VS) / OP(ER)ARIVS FVIT / CO(N)STITVTVS BECTVS CALZOLARIVS / P(RO)VIDVS AST/VTVS VBIQVE / LOCOR(VM) / ATQVE SCRIBA PVBLICVS SIBI ASSIGNATV(S) / ELDISVS NOTARIVS QVI SIT / DEO GRATVS CELI CELOR(VM) CEFAS / HVIVUS FABRICE OPERA SEDVLA / ARCITECTOR OPTIMVS IO(H) A/N(N)ES CAPVLA MVRARIOR(VM) / PO(R)TA BEATI S(AN)C(T)I PANCRATII. 69 Dietl 2009 (Anm. 8), Band 2, Kat. Nr. A 340, S. 1013.

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Tamara Tolnai

Geteilte Aufträge an römischen Wandgrabmälern der zweiten Quattrocentohälfte Phänomenologie und Deutungsversuche

Skulptur in Rom im Quattrocento – Aufträge für das wiedererstarkende Papsttum Nach der Rückkehr des Papsttums aus Avignon ließen zahlreiche Erneuerungs- und ­Instandsetzungsarbeiten die Stadt Rom bis ins 15. Jahrhundert ihren Einfluss als künstle­ risches Zentrum zurückgewinnen. Im Zuge dieser Restauratio Urbis wuchs auch das Bedürfnis der Päpste, des erweiterten und in seiner Verantwortung gestärkten Kardinals­ kollegiums und seines Gefolges aus Geistlichen und Humanisten nach angemessener Repräsentation in der Ewigen Stadt. Auch die zahlreichen, zumeist aus der Toskana oder der Lombardei zugewanderten Bildhauer reagierten darauf. An spätmittelalterliche Bildformen anknüpfend und befeuert durch die Auseinandersetzung mit dem antiken Erbe der Stadt entwickelten sie neuartige Lösungen für die steigende Nachfrage nach Bauschmuck, der liturgischen Ausstattung von Kirchen und Kapellen mit Altären, Tabernakeln und Weihwasserbecken und der wieder an Bedeutung gewinnenden Sepulkralskulptur.1 Während des Pontifikats von Pius II. (Enea Silvio Piccolomini, 1458–1464) dominierten drei Meister den römischen Markt: Isaia da Pisa aus der Toskana, der aus dem Latium stammende Paolo Taccone, genannt Paolo Romano (beide arbeiteten zeitweilig auch als Geschäftspartner zusammen) und Mino da Fiesole, der unter anderem von dem französischen Kardinal Guillaume d’Estouteville mit prestigeträchtigen Aufträgen für Santa Maria Maggiore betraut wurde.2 Sie waren an bedeutenden päpstlichen Aufträgen beteiligt wie der Benediktionsloggia von St. Peter, dem Tabernakel für die vom Papst erworbene Andreasreliquie sowie monumentalen Standfiguren der Apostel für den Petersplatz. Erst nach dem Tod Isaias und der vorläufigen Rückkehr Minos nach Florenz bot sich um 1464 für eine zweite Generation von Bildhauern die Möglichkeit, zur Repräsentation des Papsttums unter dem frisch ernannten Papst Paul II. (1464–1471) aus der venezianischen Familie der Barbo beizutragen. Der aus Trogir an der istrischen Adriaküste stammende Giovanni

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Dalmata und der Lombarde Andrea Bregno konnten in dieser Zeit in Rom Fuß fassen und eigene Werkstätten etablieren. Sie sollten zusammen mit der Werkstatt des zu Beginn der 1470er Jahre aus Florenz nach Rom zurückgekehrten Mino da Fiesole unter Pauls II. Nachfolger Sixtus IV. della Rovere (1471–1484) die römische Skulptur des achten QuattrocentoJahrzehnts prägen.3 Neben den marktbeherrschenden Meistern mit ihren gutgehenden Werkstätten arbeitete zudem eine große Zahl von Bildhauern in der Stadt, die kleine Werkstätten unterhielten oder sich als Leihkräfte auf den zahlreichen Großbaustellen verdingten und auf Projektbasis angeheuert werden konnten.4

Das Phänomen geteilter Aufträge – Formen künstlerischer Kollaboration Die drei Grabmäler für Papst Paul II. († 1471) in Alt-Sankt Peter, für Kardinal Pietro Riario († 1474) in Santi Apostoli und für Kardinal Bartolomeo Roverella († 1476) in San Clemente gehören aufgrund des hohen Rangs der in ihnen Geehrten und der Auftraggeber, ihrer Größe, bildhauerischen Qualität und der Originalität des Gesamtentwurfs zu den bedeutendsten Wandgrabmälern des Quattrocento in Rom. Alle drei sind aus der Zusammenarbeit zweier Meister nahezu gleichzeitig im Zeitraum zwischen 1474 und circa 1480 entstanden:5 Mino da Fiesole und Giovanni Dalmata schufen das Pauls-Grabmal, Mino und Andrea Bregno das Grabmal des Kardinals Riario und für das Roverella-Grabmal zeichnen Bregno und Dalmata verantwortlich. Als bemerkenswerte Fallbeispiele künstlerischer Kooperation verdienen die drei Grabdenkmäler besonderes Augenmerk – allerdings nicht etwa aufgrund der bloßen Beteiligung mehrerer Künstler an ihrer Entstehung: Die bereits im Mittelalter entwickelte Organisation sowohl von Bauhütte als auch von Bildhauerwerkstatt als Kollektive machte Arbeitsteilung bei der Bewältigung von Skulpturenaufträgen selbstverständlich. Dies beinhaltete zum einen die Beschäftigung von Experten mit unterschiedlicher technischer Spezialisierung, deren Zusammenarbeit dem Wunsch nach einem qualitativ optimalen Endresultat geschuldet war. Zum anderen lag insbesondere dem Werkstattbetrieb eine stark ausgeprägte Hierarchie zugrunde, in der eine unterschiedlich große Zahl von unselbstständigen Mitarbeitern, Gehilfen und Schülern ihre Arbeit in den Dienst des leitenden Meisters stellten. Dass dieser die Ausführung von größeren Aufträgen zu weiten Teilen Werkstattmitarbeitern überließ, war ebenso üblich wie die sukzessive Bearbeitung des einzelnen Blocks durch mehrere Hände. 6 Belegt sind außerdem Fälle, in denen liegen gebliebene oder aufgegebene Aufträge von einem zweiten Meister fortgeführt wurden, darunter die zahlreichen beim Tod Paolo Romanos unvollendet gebliebenen Werke, zu denen das Grabmal von Papst Pius II. (1458–1464) oder das Ziborium des Hochaltars von Alt-St. Peter zählen.7 Ebenso ist überliefert, dass sich zwei Meister als socios oder compagni zu einer Werkstattgemeinschaft zusammenschlossen, um sich durch die Ergänzung ihrer Kompetenzen wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen.8

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1  Andrea Bregno und Mino da Fiesole, Grabmal des Kardinals Pietro Riario († 1474), Rom, SS. Apostoli.

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2  Mino da Fiesole und Giovanni Dalmata, Grabmal von Papst Paul II. (1464–1471), (Fotomontage der Rekonstruktion nach Guiseppe Zander).

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3  Giovanni Dalmata und Andrea Bregno, Grabmal des Kardinals Bartolomeo Roverella († 1476), Rom, S. Clemente.

Die drei hier untersuchten Grabmäler jedoch zeichnen sich vielmehr dadurch aus, dass an ihnen drei bereits etablierte Meister zusammenarbeiteten, die jeweils voneinander unabhängig operierende Werkstätten unterhielten. Außerdem fällt auf, dass die drei Meister zugleich in wechselnder Paarung kollaborierten. Auch die Tatsache, dass sie jeweils als gleichberechtigte Partner auftreten, deren paritätischer Anteil minutiös festgelegt worden war, unterstreicht die Intentionalität der Künstlerzusammenarbeit: Augenscheinlich stand sie schon bei der Auftragsvergabe fest und war zugleich strikt auf das einzelne Grabmalsprojekt beschränkt.9 Die größtenteils künstlermonografisch angelegte Forschung zum römischen Grabmal des Quattrocento, der das Verdienst der Händescheidung zukommt, reagierte zunächst mit Irritation auf das Phänomen der geteilten Aufträge. In der kennerschaftlich argumentierten Einordnung ins Gesamtwerk des einzelnen konnte dies wechselweise zur Unterordnung des jeweils anderen beteiligten Künstlers und zur Abwertung seiner Leistung,

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wenn nicht zu einer Negativbewertung der künstlerischen Qualität des gesamten Werks führen.10 Erst eine neuere Generation von Künstlermonografien, die sich zunehmend auch der Frage nach dem Entstehungskontext öffnete, merkte an, wie wenig sich die Forderung nach stilistischer Homogenität und exklusiver künstlerischer Urheberschaft zur Beurteilung von Aufträgen des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Renaissance eignet, nimmt sie doch eine neuzeitliche und durch die Rezeption von Vasaris Vite dezidiert toskanisch geprägte Perspektive ein. Als Erklärung wurde stattdessen die angeblich geringe Konkurrenz unter den beteiligten in Rom ansässigen vielbeschäftigten Bildhauerwerkstätten angeführt, die aus pragmatischen Gründen der Auftragsbewältigung frei­ willig zusammengearbeitet hätten oder von den Auftraggebern, die eine schnelle Fertigstellung wünschten, zur Kooperation verpflichtet worden seien.11 Doch auch dieser Erklärungsansatz scheint zu kurz zu greifen: Denn einerseits konnte selbst ein kleinformatiges Werk wie das Portaltympanon von San Giacomo degli Spagnoli zwischen zwei Meistern aufgeteilt werden, während andererseits die Ausführung zahlreicher größerer Aufträge – so unter anderem sämtlicher zur selben Zeit erschaffener Altarziborien  – von nur einer Meisterwerkstatt betreut wurde. Dies lässt an der Hypothese zweifeln, dass die gleichberechtigte Auftragsteilung den alleinigen Zweck erfüllte, die Bewältigung monumentaler Bildhaueraufgaben zu erleichtern und zu beschleunigen.12

4  Mino da Fiesole und Paolo Romano, Portaltympanon, Rom, S. Giacomo degli Spagnoli.

Bislang ohne große Resonanz geblieben ist die naheliegende Schlussfolgerung, dass die Auftragsvergabe an zwei gleichberechtigt auftretende anerkannte Künstler keineswegs aus der Not geboren war und der damit verbundene Stilpluralismus nicht nur hingenommen wurde, sondern positiv konnotiert war und den Projekten zusätzliches Prestige verlieh.13 Der vorliegende Artikel führt diese Überlegungen fort, indem er am Beispiel der drei geteilten Grabmalsaufträge erörtert, welche ästhetische Kriterien der Auftrags­teilung zugrunde gelegt wurden und wie sie dem Qualitätsanspruch der Auftraggeber genügten, den auch die Künstler teilten. Dazu werden die Rahmenbedingungen der Künstler-Kooperation analysiert und die untersuchten Objekte aus der Auftragsperspektive beleuchtet. In

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einem zweiten Schritt wird die Frage nach der praktischen Umsetzung auf der Werkstatt­ ebene aufgeworfen, um abschließend die Motivation von Künstlern und Auftraggebern erneut zu erörtern.

Drei Meister, drei Grabmäler Das Grabmal des im Januar 1474 überraschend verstorbenen Pietro Riario im Chor von Santi XII Apostoli hat, so belegen es die Inschrift und das Wappen im Giebel, keinen geringeren als Papst Sixtus IV. selbst zum Auftraggeber, der vom Verlust seines Lieblingsneffen schwer getroffen war.14 Es handelt sich um ein Gemeinschaftswerk von Andrea Bregno und Mino da Fiesole. Letzterer arbeitete gleichzeitig zusammen mit Giovanni Dalmata am Pauls-Grabmal (siehe unten) sowie in alleiniger Verantwortung am Monument des in ­Pistoia verstorbenen Kardinals Niccolò Forteguerri († 1473) für Santa Cecilia in Trastevere. Für diese römischen Aufträge hatte er sogar die Arbeit am Monument des Markgrafen Hugo von Tuszien in der Badia in Florenz unterbrochen.15 Das Riario-Grabmal verbindet Motive des Forteguerri-Grabmals, namentlich die den Gisant des Toten tragende auf dem geschuppten Sarkophagdeckel ruhende Kline und die Wappenschilde des Verstorbenen haltenden Genien,16 mit römischen Elementen. Dazu zählen der schon länger etablierte Typus des Ädikulagrabmals, dessen flankierende Pilaster Raum für Figurennischen bieten, ebenso wie die erst kurz zuvor eingeführte Präsentation des Verstorbenen durch Petrus und Paulus vor der Madonna als Relief an der Grabmalsrückwand.17 Das Kardinalsgrabmal gab den Impuls für die Umgestaltung des Chorbereichs von Santi XII Apostoli zur dynastischen Grablege der Papstfamilie: Vorangetrieben wurde dieses Projekt insbesondere durch Kardinal Giuliano della Rovere, den späteren Papst Julius II. (1503–1513), der Riario als Titelkardinal der Kirche und Favorit des Papsts beerbte. Er ließ für seinen Vater, Raffaele della Rovere, Bruder des Papsts und Senator von Rom, im Jahr 1477 im Chorscheitel unter der von Melozzo da Forlì ausgemalten Apsiskalotte ein von Bregno geschaffenes Grabmal errichten.18 Papst Sixtus IV. hingegen ließ den Entwurf des Riario-Grabmals wenige Jahre später am Grabmal seiner Eltern in einer ihrem Andenken gestifteten Kapelle in seiner Geburtsstadt Savona noch einmal wiederholen.19 Die Zusammenarbeit von Mino und Bregno war so fruchtbar verlaufen, dass dieses Erfolgsmodell vom direkten Umfeld des Della-Rovere-Papsts bis zur definitiven Rückkehr Minos nach Florenz um 1480 noch weiter erprobt werden sollte. Allerdings sollte das Riario-Grabmal das einzige gemeinsame Werk der beiden mit paritätischer Auftragsteilung bleiben: Zu dem Grabmal, das Kardinal Domenico della Rovere für seinen 1478 verstorbenen Bruder Cristoforo und sich selbst in einer der Kapellen des Seitenschiffs von Santa Maria del ­Popolo errichten ließ, ebenso wie zu dem als Gegenstück zum Grabmal seiner Mutter Costanza († 1477) konzipierten Grabmal des Kardinals Jacopo Piccolomini-Ammanati († 1479), das im Chor von Sant’Agostino zur Aufstellung kam, steuerte Mino lediglich die

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Reliefs der Madonna bzw. des Jüngsten Gerichts in der Lünette bei.20 Dass Mino anlässlich einer Marmorlieferung für den Piccolomini-Altar, den Bregno im Auftrag des Kardinals Todeschini-Piccolomini für den Dom von Siena schaffen sollte, für seinen Kollegen bürgte, zeugt von dem tiefen gegenseitigen Vertrauen der beiden Meister und lässt vermuten, dass ihre Zusammenarbeit den Grundstein für eine anhaltende Verbundenheit gelegt hatte, die zumindest fallweise die Grundzüge einer ökonomischen Seilschaft annehmen konnte.21 Das Grabmal des 1471 verstorbenen Papsts Paul II. Barbo wiederum ist ein Gemeinschaftswerk von Mino da Fiesole und Giovanni Dalmata. Von dem Monument sind nur noch Fragmente erhalten, deren Großteil sich heute nach der Rekonstruktion des Grabmals durch Giuseppe Zander zusammen mit einem Modell in Originalgröße im Oktagon des Simon Magus des Petersdoms befindet. Ursprünglicher Aufstellungsort des Grabmals war die Außenwand des südlichen Langhauses von Alt-St. Peter. Als die Bauarbeiten für den Neubau der Peterskirche unter Bramante 1506 begannen, wurde es zunächst ins Nordseitenschiff versetzt, bei der Errichtung des Langhauses 1606 abermals zerlegt und in die Grotten verbracht. Eine Zeichnung des Giovanni Antonio Dosio überliefert seine einstige Gestalt (Berlin, Kupferstichkabinett, Codex Berolinensis, 79.D.1, f. 82).22 Mit einer Gesamthöhe von über 10 m und überreichem Figurenschmuck, der die eschatologische Dimension von Tod, Auferstehung und Jüngstem Gericht zum Grundthema erhebt, stellt das Papstgrabmal die Monumente seiner Vorgänger in den Schatten. In einer nur durch die Zeichnung vermittelten Inschrift wird Kardinal Marco Barbo, Großneffe und Günstling des verstorbenen Papsts, als Auftraggeber bezeichnet und das Jahr 1477 genannt. Dabei handelt es sich vermutlich um das Datum der Vollendung: Barbo wurde nur wenige Monate nach dem Tod des Papsts als päpstlicher Legat ins Reich entsandt. Erst seine Rückkehr nach Rom 1474 erscheint daher als terminus post quem für den Grabmalsauftrag wahrscheinlich.23 Das Papstgrabmal entstand somit gleichzeitig mit dem Riariound wohl auch dem Forteguerri-Grabmal. Mino war für die drei prominenten Aufträge eigens von Florenz nach Rom zurückgekehrt. Giovanni Dalmata hingegen hatte nach Stationen in Padua und Norcia in den 1460er Jahren vor allem auf Großbaustellen wie dem Tempietto di San Giacomo in Vicovaro bei Tivoli oder dem Palazzo di San Marco in Rom für Portalskulptur und Bauschmuck verantwortlich gezeichnet. Seine Handschrift lässt sich vor diesem Auftrag nur mit einem weiteren Grabmal in Verbindung bringen, dem Monument für den Kardinal Jacopo Tebaldi († 1466), dessen Vollendung ihm nach dem Tod Paolo Romanos übertragen worden war.24 Bemerkenswert ist, dass mit dem Florentiner Meister und dem Dalmatier zwei Künstler aufeinandertrafen, deren Erfahrung, Rang und möglicherweise auch Werkstattorganisation ganz unterschiedlich ausgeprägt waren.25 Trotz Dalmatas Status als Nachwuchskünstler treten beide Meister in der Ausführung jedoch gleichberechtigt auf: Die Anzahl der Figuren ist peinlich genau unter Mino und Dalmata aufgeteilt, die beide auf den Tugenddarstellungen am Sockel inschriftlich als Schöpfer des Werks bezeichnet werden.26 Die

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Handschrift des istrischen Bildhauers, der sich stolz nach seiner der Republik Venedig ­zugehörigen Herkunftsregion benannt hatte, war an der venezianischen Skulptur geschult; in Palast und Kirche von San Marco hatte Dalmata zudem bereits an einem Komplex mitgearbeitet, auf den sich die Repräsentation der venezianischen Papstfamilie ­konzentrierte.27 Noch viel mehr als seine erprobte Zuverlässigkeit muss die künstlerische Zugehörigkeit Giovanni Dalmatas zur Bildhauertradition der Serenissima den Bildhauer in den Augen seines Auftraggebers vor anderen vor Ort ansässigen Meistern als geeigneten Kandidaten für die Realisierung eines Grabmals erscheinen lassen, das römische Motive mit einem venezianischen Dogengrabmälern vergleichbaren Figurenreichtum kombiniert. In diesem Zusammenhang ist es besonders aufschlussreich, dass das Grabmal Pauls II. für einen Bereich in Alt-St. Peter bestimmt war, an dem sich bereits das Grabmal eines weiteren venezianischen Papsts befand und in dem sich Stiftungen Paolo Barbos konzentrierten.28 Dalmatas Beteiligung an dem Auftrag steht folglich in engem Zusammenhang mit der Intention Marco Barbos, mit dem Grabmal der familiären Identität des Hauses Barbo und seiner Rolle als herausragendem Vertreter der venezianischen natio in Rom Ausdruck zu verleihen. Ähnliche Motive sind für das ebenfalls im Auftrag des Kardinals von San Marco abermals in gleichberechtigter Arbeitsteilung von Dalmata und Mino geschaffene Tabernakel anzunehmen, das für die von Barbo in seiner Titelkirche eingerichtete und zu seiner eigenen Grablege bestimmte Sakramentskapelle entstand.29 Das Grabmal des Kardinals von San Clemente, Bartolomeo Roverella (1406–1476), in dessen Titelkirche ist die einzige bekannte Zusammenarbeit von Giovanni Dalmata und Andrea Bregno.30 Während der Neffe und designierte Nachfolger Roverellas als Erzbischof von Ravenna, Filiaso, für die Leichenfeier seines Onkels Sorge getragen hatte, gibt die Inschrift des Grabmals als Auftraggeber eine nicht namentlich genannte Gruppe von Kardinälen an, die als Vollstrecker seines Testaments agierten. Zu ihnen wird auch der Kardinal Berardo Eroli gehört haben, der im Testament des Kardinals als alleiniger Exekutor bestimmt wurde.31 Die heute Johannes dem Täufer geweihte Kapelle im erhöhten Presbyterium von San Clemente, vor der das Grabmal errichtet wurde, wurde von Bartolomeo R ­ overella und seiner Familie erneuert, der sie im ausgehenden Quattrocento als Grablege diente.32 Der Entwurf des Grabmals, das sich durch die lebhafte Kommunikation seiner Figuren untereinander auszeichnet, setzt die am Pauls-Grabmal entwickelte Tendenz zur narrativen Strukturierung der Komposition fort.33 Der Figurenschmuck selbst hingegen ist motivisch dem Riario-Grabmal verpflichtet und wurde auch beim Roverella-Grabmal zu möglichst gleichen Anteilen unter den beiden Meistern aufgeteilt. Als einziges der drei hier untersuchten Grabmäler befindet sich das Monument noch immer am ursprünglichen Aufstellungsort und wurde selbst für die umfassenden Erneuerungen der Kirche im frühen 18. Jahrhundert nicht abgebaut.34 Es eignet sich daher am besten für Überlegungen zu den praktischen Aspekten der Arbeitsteilung, für die mangels urkundlicher Belege, die die Entstehung der drei Grabmäler beleuchten würden, einzig der erhaltene Bestand Anhaltspunkte liefern kann.35

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Die Praxis der Auftragsteilung zwischen Werkstattorganisation und Rezeptionsästhetik Auf die minutiöse Aufteilung des für die hier vorgestellten Grabmäler von den ausführenden Meistern zu liefernden Figurenschmucks wurde bereits hingewiesen. Besonders augenfällig ist der starke Wille, dies so paritätisch wie irgend möglich zu gestalten: Am Pauls-Grabmal beispielsweise führt dies dazu, dass Mino da Fiesole und Giovanni Dalmata die Engel auf jeweils einer Seite der Bekrönung und die Figuren jeweils eines der seitlichen Nischenpilaster zugeteilt wurden. Am Sockel werden die Arbeiten der beiden einander gegenübergestellt und so dem unmittelbaren Vergleich ausgesetzt. Am Riario- und Roverella-Grabmal hingegen kommt diese Art der direkten Gegenüberstellung lediglich für die Reliefs mit der Präsentation des Verstorbenen durch die Apostel Petrus und Paulus vor der Madonna zum Einsatz, während die Verteilung der übrigen Skulpturen und Reliefs eine elegantere Lösung findet, indem sie mehr dem strukturellen Aufbau des Grabmals folgt. Die Verwendung unterschiedlich großer Marmorblöcke erleichterte diese Form der Arbeitsteilung: Nicht nur erlaubte sie die gleichzeitige Bearbeitung mehrerer Blöcke durch mehrere Hände einer Werkstatt, auch die Vergabe eines Auftrags an zwei verschiedene Meister und die ihnen unterstellen Teams wurde so überhaupt erst ermöglicht. Selbst die völlig unabhängige Fertigung einzelner Elemente an getrennten Orten gerät so in den Bereich des Denkbaren. Allein, die Frage, wo monumentale Skulpturenaufträge allgemein und die geteilten Aufträge im Besonderen in Rom im Quattrocento entstanden, ist noch nicht hinreichend untersucht worden, wohl auch deshalb, weil nur sehr wenig über die tatsächlichen Arbeitsbedingungen bekannt ist, unter denen Bildhauer operierten. Zwar legen zeitgenössische Dokumente den Schluss nahe, dass die größeren Meister feste Werkstätten unterhielten und in diesen mehrere Mitarbeiter beschäftigten und Schüler ausbildeten. Doch weder für die Organisationsstruktur noch für Ort und Größe römischer Bildhauerwerkstätten finden sich ausreichend gesicherte Belege. So ist zwar überliefert, dass Mino da Fiesole in Florenz eine Werkstatt mit mehreren Mitarbeitern in einem von der Badia eigens zu diesem Zwecke gemieteten Gebäude führte. Wie er sich für seine römischen Aufenthalte organisierte, ist jedoch Gegenstand von Spekulation geblieben.36 Auch zu Ort und Zusammenstellung von Giovanni Dalmatas Werkstatt fehlen dokumentierte Informationen.37 Einzig von Andrea Bregno ist bekannt, dass er ein großes Haus auf dem Quirinal besaß, in dem er eine ansehnliche Sammlung von antiken Skulpturen und anderen Kunstgegenständen verwahrte. Hier soll auch seine Werkstatt untergebracht gewesen sein, in der er mehrere Mitarbeiter beschäftigte. Bregno vermachte das Haus mitsamt seiner Ausstattung testamentarisch seiner Frau Caterina, den Inhalt seines studio einer Gruppe von Bildhauerfreunden und lediglich die „lapides ac statuas suos et suas“ seinem in Ferrara ansässigen, ebenfalls als Bildhauer tätigen Neffen, den er zu seinem ­Alleinerben und Nachfolger bestimmte. Diesem kam zugleich die Aufgabe zu, einen liegengebliebenen Auftrag

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des verstorbenen Onkels zu vollenden und ihm ein Grabmal in Santa Maria sopra Minerva zu errichten. Allerdings scheint sich nur ein Teil der dem N ­ effen hinterlassenen Tafeln, ­Blöcke und Skulpturen im Haus Bregnos befunden zu haben: Dieses Konvolut wird im ­Testament ausdrücklich vom Erbanteil Caterinas ausgenommen, ­während der gesamte Nachlass an den Neffen mit der bezeichnenden Ortsangabe Rome existentes versehen ist.38 Ist daraus zu folgern, dass Bregno gelegentlich Blöcke auch a ­ ußerhalb der heimischen Werkstatt bearbeitete, zum Beispiel am Ort ihrer späteren Aufstellung?39 Während es für Bauskulptur seit dem Mittelalter selbstverständlich war, dass sie in den aus Bretterverschlägen improvisierten Werkstätten der Bauhütte direkt am späteren Aufstellungsort gefertigt und Material und Arbeitskräfte von der fabrica verwaltet wurden, fehlen Belege dafür, ob bei Grabmälern und anderen Ausstattungsstücken ähnlich ver­ fahren wurde. Das große Format und die Menge des für Altarziborien und auch die hier untersuchten Grabmäler zu verarbeitenden Marmors, der in der Regel eigens aus den ­toskanischen Steinbrüchen oder Ostia Antica nach Rom importiert wurde, würde eine ­Behandlung als Bildhauerarchitekturen nahelegen.40 Eine Produktion am späteren Aufstellungsort anzunehmen liegt aus den genannten arbeits- und vor allem transportökonomischen Gründen zwar nahe. Aus statisch-technischen Gründen hingegen war sie nicht unbedingt vonnöten: Zur Errichtung von Grabmälern war nur ein geringer Eingriff in die bestehende Bausubstanz erforderlich, in der Regel lediglich das einfach zu bewerkstelligende Aushöhlen einer flachen Nische in der Kirchenwand. Zudem ist zu bedenken, dass umfangreichere Bildhauerarbeiten innerhalb oder in der Nähe der Kirchengebäude – unter anderem durch Lärm und Schmutz, die sie verursachten – eine potentielle Störung der Liturgie darstellten. Da umgekehrt Grabmalsaufträge als rein private Stiftungen keine unmittelbare liturgische Funktion erfüllten, bedurfte es für die Einrichtung einer bau­ hüttenähnlichen Werkstätte vor Ort der expliziten Genehmigung durch den jeweiligen Kirchenvorstand. Gerade die drei hier vorgestellten Beispiele des Pauls-, Riario- und Roverella-Grabmals zeichnen sich jedoch dadurch aus, dass sich die in den Grabmälern Geehrten bereits zu Lebzeiten besonders für die drei Kirchen eingesetzt hatten, ein Engagement, das nach ihrem Tod zum Teil durch ihre Familie fortgesetzt wurde: Paul II. hatte sich als langjähriger Kardinal-Erzpriester um das Kapitel von St. Peter verdient gemacht und später seinen Neffen Giovanni Battista Zen in dieses Amt gebracht. Pietro Riario hatte begonnen, Kirche und Palast von Santi XII Apostoli zu erneuern, was von seinem Cousin und Nachfolger Giuliano della Rovere fortgeführt wurde und in der Umgestaltung des Presbyteriums zum Mausoleumschor kulminierte. Bartolomeo Roverella schließlich hatte sich der Kapelle des heiligen Kyrill angenommen, die später, möglicherweise unter seinem Bruder, dem Johanniterritter Florio, dem Täufer unterstellt und Gegenstand weiterer ­Stiftungen durch die Familie wurde. Es kann also vermutet werden, dass gerade in den vorliegenden drei Fällen die vorherige Förderung durch die Verstorbenen, und noch mehr die teils an größere Umbaumaßnahmen geknüpfte Stifteraktivität ihrer Nachfolger das Domkapitel von St. Peter, die Franziskaner von Santi XII Apostoli und die Ambrosianer von

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San Clemente den Familien Barbo, della Rovere und Roverella positiv gegenüberstehen ließen und so besonders günstige Bedingungen für die Entstehung der drei Grabmäler schufen. Insbesondere für die praktische Umsetzung solcher Grabmalsaufträge, bei deren Ausführung zwei Bildhauerwerkstätten involviert waren, hätte die Nähe einer temporär vor Ort eingerichteten Werkstatt darüber hinaus großen Vorteil mit sich gebracht: Musste die gleichberechtigte Teilung des Auftrags unter zwei ansonsten unabhängig operierenden Meisterwerkstätten doch zwangsläufig einen immensen Koordinationsaufwand nach sich ziehen. Unabdingbar waren ein bereits im Vorfeld bis ins letzte Detail ausgearbeiteter und strikt einzuhaltender Entwurf, der in Modellen und vor allem Zeichnungen zunächst erarbeitet und sodann für den Auftraggeber und die beiden Künstler niedergelegt wurde.41 Die Aufgaben der beteiligten Werkstätten mussten definiert, die festgelegten Maße der Einzelteile aufs Genaueste bestimmt und später strikt eingehalten werden, kurzum: es bedurfte vom Planungsprozess bis zur Umsetzung der kontinuierlichen Kommunikation nicht nur zwischen Auftraggebern und ausführenden Künstlern, sondern auch der Künstler untereinander, damit die einzelnen Blöcke sich am Ende wie die Teile eines Puzzles harmonisch zueinander fügten. Die Bildhauer konnten dabei nur zum Teil auf Erfahrungswerte aus der alltäglichen Arbeitsteilung in Werkstattbetrieb und Bauhütte aufbauen. Mit welcher Präzision vorgegangen wurde, bezeugen die vollendeten Werke: Einzig die Reliefs Bregnos und Dalmatas für die Präsentationsszene am Roverella-Grabmal lassen die Schwierigkeiten einer getrennten Bearbeitung und nachträglichen Assemblage er­ ahnen: Sie sind in unterschiedlicher Höhe gearbeitet worden und mussten später durch Anstückung verschieden hoher Streifen am oberen Rand angeglichen werden, um plausible Sichtachsen zwischen den Figuren herzustellen. Im Halbdunkel des Kirchenraums wird dies nur schwerlich zu erkennen gewesen sein.42 Dass sich innerhalb der geteilten Grabmalsaufträge keine größeren Brüche ergaben, zeugt von der gemeinsamen Bemühung der Bildhauer um ein stimmiges Gesamtergebnis, das den hohen Ansprüchen der Auftraggeber genügen musste. Offenbar wurden dafür arbeitsökonomische und finanzielle ­Aspekte ganz bewusst in den Hintergrund gestellt – eine Beobachtung, die das mehrfach von der Forschung vorgebrachte Argument entkräftet, Skulpturenaufträge seien in Rom paritätisch geteilt worden, um ihre Vollendung zu beschleunigen. Die Rolle, die die Auftraggeber bei der Werkgenese spielten, ist vielfach unterschätzt und ebenso wie die Werkstattpraxis des römischen Quattrocento bisher nur wenig untersucht worden.43 Die römischen Kurialen waren nicht nur fromme Stifter und ebenso wohlhabende wie auf ihre Repräsentation bedachte Patrone, sondern oftmals selbst hochgebildet und kunstsinnig oder doch zumindest von Humanisten umgeben und in Kunstfragen bestens beraten. Die wenigen erhaltenen Vertragsdokumente für Aufträge von Marmorbildwerken der zweiten Quattrocentohälfte in Rom bezeugen, dass sie selbst aktiv auf den Entwurfsprozess einwirkten. Die Auftraggeber machten Vorgaben zur Ikonografie und benannten teilweise konkrete Vorbilder, denen die Werke nachempfunden werden

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sollten. In einigen Fällen legten sie die Künstler auch auf den eigenhändig zu leistenden Beitrag am bestellten Werk fest: Die Arbeit von Meisterhand wurde demnach nicht nur höher geschätzt als die der Mitarbeiter. Es galt mit derartigen Vertragsklauseln auch die offenbar sehr verbreitete Praxis zu unterbinden, dass die Meister den Auftrag ganz oder teilweise als Subunternehmern angeheuerten Dritten überließen.44 Auch vor diesem Hintergrund konnte eine Auftragsteilung, wie sie an den drei untersuchten Beispielen vorliegt, keinesfalls ohne die Zustimmung der Auftraggeber und allein auf Initiative der Künstler erfolgen. Vielmehr ist bei dem besonderen Augenmerk, das ­offensichtlich darauf gelegt wurde, beide zur Kollaboration verpflichtete Meister gleichrangig zu behandeln, davon auszugehen, dass ihre Zusammenarbeit auf den ausdrück­lichen Wunsch der Auftraggeber zurückgeht. Das Prestige, das mit der Beschäftigung von gleich zwei bekannten und geschätzten Bildhauern einherging, wog augenscheinlich den dafür nötigen organisatorischen Mehraufwand und die erhöhten Kosten auf. Der Triumph­bogen Alfonso I. d’Aragons am Castelnuovo von Neapel und der Freskenzyklus an den Seitenwänden der Cappella Sistina im Vatikan sind weitere berühmte Beispiele für Aufträge, bei denen sich die Beteiligung einer Vielzahl von Meistern auf dieses Konzept zurückführen lässt, das schon in Filaretes Architekturtraktat formuliert ist und das sich, auf antike Vorbilder wie das Mausoleum von Halikarnassos Bezug nehmend, auch für Grabdenkmäler vortrefflich legitimieren ließ.45 Doch auch in Rom muss nicht lange nach einem Beispiel gesucht werden: In den Statuen der beiden Rossebändiger auf dem Quirinal, die diesem den Namen Monte Cavallo eingebracht hatten, erkannten die Gelehrten der Frührenaissance die Hände von Phidias und Praxiteles. Die Berufung auf die zu Künstler-Helden verklärten antiken Vorbilder und der direkte Vergleich mit ihnen war nicht nur Teil der humanistischen Künstlerpanegyrik.46 Papst Pius II. stellte sich 1463 in diese Tradition, als er für ein als moderne christliche Adaption des antiken Typus der Kolossalstatue konzipiertes Statuenpaar von Petrus und Paulus ganz selbstverständlich neben Romano auch Mino da Fiesole verpflichtete und somit die beiden bedeutendsten Bildhauer der Stadt für je eine Statue engagierte.47 Bereits um das Jahr 1460 hatten dieselben beiden angesehenen Meister sich als Nachfolger von Phidias und Praxiteles inszeniert, indem sie das aus nur zwei exakt symmetrischen Blöcken bestehende Tympanon von San Giacomo degli Spagnoli nach dem Vorbild der vermutlich im Quattrocento erneuerten Inschrift auf den Dioskuren signierten.48 Solch einer direkten Gegenüberstellung liegt nicht nur die besondere Wertschätzung der einzelnen Künstlerpersönlichkeit zugrunde, sondern ein Verständnis des Individualstils als charakteristische Handschrift des gereiften Meisters. Die Auffassung, dass die maniera als Ausdruck künstlerischen ingeniums über die reine Kunstfertigkeit (ars) hinausgeht, nimmt ihren Ausgang in der Rezeption Dantes und bei Petrarca und findet Nachhall in kunsttheoretischen Texten von Cennino Cennini, Ghiberti, Filarete und Alberti bis Vasari.49 An der maniera war das Werk des einzelnen Meisters erkennbar, auch ohne Signatur, die im Gegensatz zum Mittelalter im Quattrocento insbesondere im Kirchenraum als nicht dem decorum entsprechend wahrgenommen wurde.50

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An die Identifizierbarkeit des Stils eines Meisters waren auch wirtschaftliche Faktoren gebunden. So wurde 1457 der rechtmäßige Lohn, der Mantegna nach dem Tod der anderen am Auftrag beteiligten Maler für seine Arbeit an der Ovetarikapelle zustand, durch einen als Sachverständigen berufenen Kollegen aufgrund stilistischer Kriterien taxiert. Die Handschrift jedes Meisters war sein Aushängeschild und so war bei der Ausbildung von Malern und Bildhauern in der Werkstatt und in deren alltäglicher Zusammenarbeit größtmögliche stilistische Einheit mit der Meisterhandschrift oberstes Gebot für alle Gesellen und Mitarbeiter.51 Nur in wenigen Fällen, in denen sich gleichrangige Meister als Geschäftspartner zusammenschlossen oder wenn sich ein Meisterschüler aus dem Werkstattverband emanzipierte, wurde ein Nebeneinander deutlich verschiedener Handschriften toleriert. Die drei Lünetten des von Pius II. gestifteten Andreas-Tabernakels für Alt-St. Peter sind eines der wenigen Beispiele, in denen der divergierende Stil von Werkstattpartnern gezielt gegenübergestellt wurde. Sie zeigen allesamt dasselbe Motiv des Andreashaupts, wurden jedoch von drei verschiedenen Meistern ausgeführt, den Partnern Isaia da Pisa und Paolo Romano sowie dem sogenannten Piusmeister, der als Romanos Meisterschüler und Nachfolger angesehen wird (Farbabbildung 1).52 Die Einzigartigkeit von Aufträgen, die Stilpluralismus nicht nur akzeptierten, sondern regelrecht inszenierten und wie bei den hier diskutierten geteilten Grabmalsaufträgen a priori dem Projekt zugrundelegten, kann nicht genug betont werden. Sie wird besonders deutlich, führt man sich vor Augen, wie sehr stilistische Anpassung zum Tagesgeschäft eines jeden Werkstattmitarbeiters und der zahllosen Einzelbildhauer oder Equipen gehörte, die auf Großbaustellen oder als gedungene Subunternehmer den die Arbeiten überwachenden Meistern unter die Arme griffen. Die den Stilvergleich suchenden Aufträge aus der Amtszeit Pius’ II., die auf der Gegenüberstellung von durch zwei oder im Falle des Andreas-Tabernakels drei Meister geschaffenen Werkstücken nahezu identischer Komposition basieren, die jedes aus nur einem Block gehauen wurden, lassen sich als Vorläufer der geteilten Grabmalsaufträge der Zeit Sixtus’ IV. interpretieren, die sie jedoch nicht nur durch die Anzahl der zu liefernden Werkstücke, sondern auch in der formal-kompositorischen Disposition der Entwürfe weit übertrafen.

Oltre la maniera Wie gezeigt werden konnte, war die Vergabe von Grabmalsaufträgen an zwei gleichberechtigt auftretende Meister und ihre Werkstätten entgegen der landläufigen Meinung keineswegs pragmatischen Erwägungen der Künstler oder Auftraggeber geschuldet. Sie zog ganz im Gegenteil für beide Parteien enormen zusätzlichen Aufwand nach sich. Die Realisierung der Grabmalsprojekte zum Andenken an Pietro Riario, Paul II. Barbo und Bartolomeo Roverella machte detaillierte Planung im Vorfeld, eine straffe Organisation und intensive Kommunikation in der Ausführung nötig. Dadurch nahmen diese grundsätzlich

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mehr Zeit in Anspruch als andere Projekte, forderten, dass sich die Bildhauer eingehender mit ihnen auseinandersetzten, mussten durch die Auftraggeber intensiv betreut werden und zogen dadurch zwangsläufig auch höhere Kosten nach sich. Erklären lässt sich das Phänomen daher nur mit dem unbedingten Willen der Auftraggeber zur geteilten Auftragsteilung. Offenbar sah diese zu den namhaftesten Vertretern der kurialen Elite gehörende Gruppe darin ein Mittel, ihrem Anspruch nach Exzellenz in der Repräsentation ihrer verstorbenen Angehörigen und Freunde und damit auch ihrer eigenen Selbstdarstellung zu genügen. Aus der Beschäftigung von mehreren angesehenen Meistern an einem Werk per se resultierte scheinbar besonderes Prestige. Zugleich konnte durch sie der Anteil der eigenhändig geschaffenen Figuren und Reliefs erhöht und somit eine besonders hohe technische Qualität der bildhauerischen Arbeit gewährleistet werden. Das mit der Auftragsteilung erzielte Endresultat geht jedoch weit darüber hinaus, und hierin ist wohl das eigentliche Motiv zu suchen, weshalb die römischen Auftraggeber nicht den Versuch unternahmen, eine Steigerung ihres Renommees durch die Beschäftigung von noch mehr Meistern zu erlangen: Jedem der drei Monumente liegt ein einzigartiger Gesamtentwurf zugrunde, der seine Originalität und seinen innovativen Charakter gerade aus der Verbindung zweier unterschiedlicher Meister und deren wechselseitigem Austausch gewinnt. Diesen kollaborativen Charakter als Nebeneffekt abzutun verkennt den eigentlichen Mehrwert der künstlerischen Zusammenarbeit ebenso wie die Rolle der Auftraggeber, die gezielt die Rahmenbedingungen geschaffen hatten, unter denen sie sich erst entfalten konnte. Wenngleich der bildhauerische Anteil jedes der beteiligten Künstler strikt festgelegt und der handwerklich zu leistende Beitrag der Werkstätten klar getrennt waren, so ist doch auch eine gegenseitige Beeinflussung erkennbar. Sie lässt auf die Interaktion der Meister schließen und legt die Vermutung nahe, dass diese bei der Entwicklung des Entwurfs enger zusammenarbeiteten als bisher angenommen. Die Wanderung von Motiven und vor allem ihre Abwandlung kann als augenscheinlichstes Beispiel dafür herangezogen werden: So übernahm Bregno am Riario-Grabmal das von seinem Projektpartner Mino am Forteguerri-Grabmal in Rom eingeführte Motiv der Genien, die das Wappen des Verstorbenen halten, und übertrug es auf die im römischen Wandgrabmal dafür vorgesehene Stelle der die Inschrift flankierenden Wappenreliefs. Am Roverella-Grabmal hingegen variierte Dalmata das von Bregno entwickelte Motiv weiter, indem er die Genien plastischer gestaltete und den Landschaftshintergrund im rilievo schiacciato erweiterte.53 Nicht zuletzt ist die Zuschreibung des jeweiligen Entwurfs an einen der beteiligten Meister in der Forschung auch deshalb umstritten, weil die Komposition der drei Monumente Anregungen verarbeitet, die beiden Künstlern zugeschrieben werden können und deren bildhauerische Eigentümlichkeit und sogar geografische Herkunft geschickt und, wie man glauben mag, nicht ohne Hintergedanken zu vereinen weiß. So verbindet das Pauls-Grabmal typisch römische Motive wie die Tugenddarstellungen und die bis dahin üblicherweise im Fresko ausgeführte Auferstehungsszene mit dem in Florenz verbreiteten

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zweigeteilten Sockel und der Ausführung der Lünette als Bildrelief. Die Verlebendigung einzelner Figuren, die die ästhetische Grenze sprengen, beispielsweise die beherzt in die Grabmalsrahmung greifenden Engel, ist wiederum ein Charakteristikum Dalmatas. Figurenreichtum und Größe sind venezianischen Vorbildern geschuldet und stellen einen konkreten Bezug auf die auch in Heraldik und Epigrafik thematisierte venezianische Herkunft von Geehrtem und Auftraggeber her.54 Von einer Entwurfsgenese auszugehen, in der – ganz im Gegensatz zu den personalreichen Projekten von Triumphbogen und Cappella Sistina, deren komplexes Programm von Hofhumanisten für die aus diplomatischen Motiven gerufenen auswärtigen Künstler ausgearbeitet worden war55 – den Bildhauern die Möglichkeit eingeräumt wurde, sich ­einzubringen, und in der das gemeinsame Projekt unter der Ägide des Auftraggebers in einem Prozess der kontinuierlichen Adaption in mehreren Schritten entwickelt wurde, löst das Phänomen der unter dem Gebot der paritätischen Teilung entstandenen Aufträge schlüssig auf. In ihr mag auch die Ursache dafür zu suchen sein, dass die drei Meister in unterschiedlicher Verbindung nur je einen Grabmalsentwurf gemeinsam erarbeiteten. Weiterführende Studien, die dem Verhältnis von bildhauerischer Praxis und Auftraggeberschaft im römischen Quattrocento weiter auf den Grund gehen und die drei Werke als exklusive Gruppe würdigen, die ihre Entstehung der Anregung durch einen illustren Kreis humanistisch gebildeter Kardinäle und dem von diesen geförderten Klima des intellek­ tuellen und künstlerischen Austauschs verdanken, stellen sich damit aufs Neue als Forschungsdesiderat dar.56

Anmerkungen 1

Für einen Überblick vgl. u. a. La forma del Rinascimento. Donatello, Andrea Bregno, Michelangelo e la scultura a Roma nel Quattrocento, Ausst. Kat. (Rom, Museo Nazionale del Palazzo di Venezia, 2010), hrsg. von C. Crescentini und C. Strinati, Soveria Mannelli 2010; zur Auftraggeberschaft Carol Richardson, Reclaiming Rome. Cardinals in the fifteenth century (Brill’s Studies in Intellectual History 173), Boston und Leiden 2009. Eine lange angekündigte Publikation von Michael Kühlenthal zur Entwicklungsgeschichte des römischen Wandgrabmals wird von der Bibliotheca Hertziana zur Veröffentlichung vorbereitet.

2

Lediglich für Mino da Fiesole liegt eine ausführliche Studie vor, vgl. Shelley Zuraw, The sculpture of Mino da Fiesole (1429–1484), Ann Arbor 1993. Das Werk von Isaia da Pisa und Paolo Romano ist in verschiedenen Aufsätzen und Lexikonbeiträgen nur partiell erschlossen, vgl. u. a. Anna Maria Corbo, L’attività di Paolo di Mariano a Roma, in: Commentari N. F. 17, 1966, S. 195–226, Carlo La Bella, Ganti, Isaia, detto Isaia da Pisa, in: Dizionario Biografico degli Italiani 52, Rom 1999 oder ders., Scultori nella Roma di Pio II (1458–1464). Considerazioni su Isaia da Pisa, Mino da Fiesole e Paolo Romano, in: Studi Romani 43, 1995, S. 26–42 zur Aktivität der drei und der Partnerschaft zwischen Isaia da Pisa und Paolo Romano (ebd. S. 38–39).

3

Zu Dalmata vgl. Johannes Röll, Giovanni Dalmata (Römische Studien der Bibliotheca Hertziana 10), Worms 1994. Zahlreicher sind die monografischen Schriften zu Bregno, vgl. Sterling Adolph Callisen, Renaissance Sculpture of Rome with special reference to Andrea Bregno, Cambridge

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1936; Michael Kühlenthal, Andrea Bregno in Rom, in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 32, 1997/1998 (erschienen 2002), S. 179–272, der Sammelband Andrea Bregno. Il senso della forma nella cultura artistica del Rinascimento, hrsg. von C. Crescentini und C. Strinati, Florenz 2008; und Thomas Pöpper, Skulpturen für das Papsttum. Leben und Werk des Andrea Bregno im Rom des 15. Jahrhunderts, Leipzig 2010.   4 Viele von ihnen sind lediglich namentlich bekannt und nur wenigen lässt sich aufgrund erhaltener Vertragsdokumente die Mitarbeit an konkreten Werken zuordnen, vgl. zu diesem Problem zuletzt Francesco Caglioti, La „connoisseurship“ della scultura rinascimentale. Esperienze e considerazioni di un „romanista“ mancato, in: Il metodo del conoscitore. Approcci, limiti, prospettive. Convegno internazionale Connoisseurship nel XXI secolo. Approcci, limiti, prospettive (Rom 2015), hrsg. von S. Albl und A. Aggujaro, Rom 2016, S. 125–152.   5 Für die Datierung des Grabmals von Paul II. († 1471) auf den Zeitraum nach 1474 siehe die Ausführungen in Anm. 23. Pietro Riario ist 1474 und Bartolomeo Roverella 1476 verstorben. Die Rückkehr Minos nach Florenz bis spätestens 1481 und der Weggang Dalmatas nach Ungarn zu Beginn der 1480er Jahre bilden einen zusätzlichen terminus ante quem für die Vollendung. vgl. Zuraw 1993 (Anm. 2), S. 382, Kat. 52 und 68 (dokumentierte Aufträge Minos in Florenz) und Röll 1994 (Anm. 3), S. 122, die beide davon ausgehen, Mino und Dalmata hätten Rom ca. 1480 verlassen.   6 Vgl. dazu Simona Rinaldi, Tecniche e strumenti della scultura nelle fonti del Rinascimento, in: Bregno 2008 (Anm. 3), S. 459–469. Sie definiert insgesamt sieben Abstufungen von Bildhauern, die neben- und nacheinander in einer Werkstatt oder Bauhütte mit unterschiedlichen Bearbeitungsformen der Blöcke beschäftigt waren: abbozzatori, lapicidari, ornatisti, scalpellini, scultori, squadratori, statuari (ebd., S. 464).  7 In seinem Testament beglich Paolo Romano seine Schulden für liegengebliebene Projekte mit diversen Auftraggebern, vgl. Corbo 1966 (Anm. 2), S. 221–224. Darunter war auch der Bruder des Kardinals Jacopo Tebaldi († 1466), dessen Grabmal Dalmata zu Ende führte, vgl. Röll 1994 (Anm. 3), S. 116–117. Dem Kardinal Francesco Todeschini-Piccolomini restituierte Romano eine Skulptur, bei der es sich wahrscheinlich um den Gisant des Pius-Grabmals handelt, das vom sog. Piusmeister, wohl Romanos Meisterschüler, vollendet wurde. Das Ziborium von Alt-St. Peter wurde erst unter Sixtus IV. von Mino da Fiesole und Matteo da Pollaiuolo um die letzten Figuren ergänzt, vgl. für beide Carlo La Bella, Il ciborio degli Apostoli e il monumento a Paolo II. Due esempi di scultura in Vaticano, in: La Forma del Rinascimento 2010 (Anm. 1), S. 151–158; sowie Pietro Zander und Alexis Gauvain, Il ciborio degli Apostoli (Archivum Sancti Petri. Bollettino d’Archivio 15–16), Vatikanstadt 2010. Weitere Beispiele sind das Grabmal von Kardinal Antonio Martinez de Chiavez († 1447) in der Lateransbasilika (Filarete und Isaia da Pisa), vgl. Thomas Pöpper, Virtus-Personifikationen an römischen Kardinalsgrabmälern des Quattrocento. Die Monumente für Antonio Martinez de Chiavez, Astorgio Agnensi und Philippe de Levis, in: Praemium Virtutis. Grabmonumente und Begräbniszeremoniell im Zeichen des Humanismus (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 2), hrsg. von J. Poeschke, B. Kusch und T. Weigel, Münster 2002, S. 211–231, oder der von Bregno 1481 begonnene Piccolomini-Altar in Siena, dessen Figurenschmuck der alte Meister kurz vor seinem Tod an Michelangelo abtrat, vgl. Pöpper 2010 (Anm. 3), S. 87–107.   8 Belegt ist eine solche Werkstattgemeinschaft u. a. für Michelozzo und den jungen Donatello in Florenz, vgl. Harriet Mc Neal Caplow, Sculptor’s partnerships in Michelozzo’s Florence, in: Studies in the Renaissace 21, 1974, S. 145–175. In einem Dokument von 1460 treten Isaia da Pisa und Paolo Romano bei der Fertigung von Kanonenkugeln als socios auf, vgl. Corbo 1966 (Anm. 2), Dok. 17. Der Vertrag eines Tabernakels, das Vannozza Cattanei für ihre Kapelle in S. Maria del Popolo in Auftrag gab, nennt neben Bregno dessen compagno Giovanni da Larigo, der auch im Testament des Bildhauers Erwähnung findet, vgl. Pöpper 2010 (Anm. 3), Dok. 10 und 11.

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  9 Die Sonderstellung der drei Grabmäler in Abgrenzung zu anderen geteilten Aufträgen betont bereits Zuraw 1993 (Anm. 2), S. 356. 10 Insbesondere das Roverella-Grabmal war harscher Kritik ausgesetzt, so z. B. Hugo von Tschudi, Giovanni Dalmata, in: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 4, 1883, S.  169–190, bes. S. 185: „unglücklich komponiert [...] unbeholfen in der Anordnung“. 11 So u. a. Zuraw 1993 (Anm. 2), S. 358: „The decision to assign the carving to more than one artist is a unique solution to the Roman interests of speed and scale“; Röll 1994 (Anm. 3), S. 14: „keine ausgeprägte Konkurrenzsituation“; Kühlenthal 2002 (Anm. 3), S. 196: „Der Grund dafür wird in dem Anliegen zu suchen sein, deren Fertigstellung möglichst zu beschleunigen“ und Pöpper 2010 (Anm. 3), S. 41 „Das Arbeiten in Kollektiven diente also der Überbrückung von Kapazitätsengpässen“. Dennoch halten diese Monografien daran fest, für den Entwurf der Grabmäler jeweils nur einen der beiden Künstler verantwortlich zu machen, siehe dazu weitere Ausführungen am Ende des vorliegenden Textes. 12 So bereits Zuraw 1993 (Anm. 2), S. 357 „the sharing of the project was intended from the beginning.“ Zur Supraporte von S. Giacomo degli Spagnoli vgl. ebd., Kat. 11. Beispiele für Altarziborien sind Minos Arbeit für den Kardinal d’Estouteville in S. Maria Maggiore (vgl. ebd., Kat. 17, zudem Meredith Jane Gill, „Where the danger was greatest“. A Gallic legacy in Santa Maria Maggiore, Rome, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 59, 1996, S. 498–522) und die Projekte Bregnos im Auftrag des Kardinals Borgia für S. Maria del Popolo (Kühlenthal 2002 (Anm. 3), S. 183–194; Pöpper 2010 (Anm. 3), S. 59–77) und für S. Maria della Quercia in Viterbo (Kühlenthal 2002 (Anm. 3), S. 235–237; Pöpper 2010 (Anm. 3), S. 77–85, Dok. S. 362–364). Für Letzteres haben sich Auftragsdokumente erhalten, die belegen, dass die Dominikanermönche ausdrücklich auf schnelle Fertigstellung Wert legten, worauf, so die Interpretation Thomas Pöppers, Bregno damit reagierte, dass er die Fertigung der Ädikula Werkstattmitarbeitern und gedungenen Hilfskräften überließ (vgl. ebd., S. 83–84). 13 In diese Richtung argumentiert lediglich Johannes Röll, Classicismo e prontezza. Giovanni Dalmata e il pluralismo delle maniere nella scultura del secondo Quattrocento a Roma, in: La forma del Rinascimento 2010 (Anm. 1), S. 159–166, bes. S. 159). 14 Zum Grabmal vgl. Zuraw 1993 (Anm. 2), Kat. 55, Kühlenthal 2002 (Anm. 3), S. 194–206 und Pöpper 2010 (Anm. 3), S. 183–197. Bei Renovierungen im Chor im frühen 19. Jahrhundert wurde das Monument ab- und vermutlich am alten Standort wieder aufgebaut, kleinere Teile gingen verloren. 15 Vgl. zuletzt Shelley Zuraw, Mino da Fiesole’s Forteguerri Tomb. A ‚Florentine‘ Monument in Rome, in: Artistic exchange and cultural translation in the Italian Renaissance City, hrsg. von S. J. Campbell und S. J. Milner, Cambridge 2004, S. 75–95. Das Vermögen Forteguerris war von Sixtus IV. eingezogen und für S. Spirito in Sassia bestimmt worden. Nichtsdestotrotz erhielt er wie auch die Kardinäle Jacopo Antonio Venerio († 1479) in S.  Clemente und Jacopo PiccolominiAmmanati († 1479) in S. Agostino, deren Erbe ein ähnliches Schicksal beschieden war, ein Grabmal in seiner Titelkirche. Für die drei Grabmäler wurde, ohne dass es dafür eindeutige Anhaltspunkte gäbe, eine Auftraggeberschaft durch Sixtus IV. selbst vermutet. Inschrift und dezidiert toskanischer ­Typus des Forteguerri-Monuments deuten eher auf die Brüder des aus Pistoia stammenden Kardinals als Urheber hin, die für die Überführung seines Leichnams nach Rom sorgten und ihm außerdem ein Kenotaph in der Kathedrale von Pistoia errichteten. 16 Die im 17. Jahrhundert verlorenen Wappenhalter sind in einer Zeichnung des 16. Jahrhunderts belegt (Windsor Castle, Royal Library, Codex Albani 201, Nr. 11900). Bregno überträgt sie auf die im römischen Wandgrabmal üblich gewordenen Wappenreliefs der Sockelzone. Zwei solche Fi­ guren mit dem della Rovere-Wappen befinden sich in der Biblioteca Lancisiana, Rom. Eunice D. Howe, Traces of the lost ciborium of the Corsia Sistina in Hospital of Santo Spirito in Sassia, in:

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Andrea Bregno 2008 (Anm. 3), S. 357–369 schreibt sie Bregno zu und vermutet ihre Zugehörigkeit zum Ziborium des Altars von S. Spirito, dem die Bibliothek untersteht. 17 Figurennischen finden sich bereits am Grabmal des Kardinals von Portugal Antonio Martinez de Chiavez († 1447), während die Präsentationsszene, die einen Vorläufer am Retabel des KettenAltars des Kardinals Nikolaus von Kues († 1464) für S. Pietro in Vincoli hat, in dieser Form erstmals am Grabmal von Pius II. (1458–1464) vorkommt, siehe oben Anm. 7). 18 Sie folgt damit dem vor allem bei adligen Stiftern beliebten Modell des Mausoleumschors, vgl. Sible de Blaauw, Grabmäler statt Liturgie? Das Presbyterium von Santi Apostoli in Rom als private Grablege 1474–1571, in: Grabmäler. Tendenzen der Forschung an Beispielen aus Mittelalter und früher Neuzeit, hrsg. von W. Maier, W. Schmid und M. Schwarz, Berlin 2000, S. 179–199, zuletzt zusammengefasst in Pöpper 2010 (Anm. 3), S. 218–237. 19 Der Auftrag ist gut dokumentiert. Er wurde von Agenten des Papstes in Savona betreut und von den beiden lokalen Meistern Michele und Giovanni d’Aria ausgeführt, vgl. Pöpper 2010 (Anm. 3), S. 198–204. 20 Zum Grabmal von Cristoforo und Domenico della Rovere vgl. zuletzt Pöpper 2010 (Anm.  3), S. 241–257, zu den Grabmälern Ammanati-Piccolomini vgl. Anett Ladegast, Liturgie und Memoria bei den Ammanati-Grabmälern in S. Agostino. Möglichkeiten und Grenzen einer Grabmalsstrategie, in: Vom Nachleben der Kardinäle. Römische Kardinalsgrabmäler der Frühen Neuzeit, hrsg. von A. Karsten und P. Zitzlsperger, Berlin 2010, S. 67–98. Die Händescheidung von Figurenschmuck und Anteil am Entwurf ist nicht unumstritten. Da es sich bei beiden Reliefs um bereits in Florenz bzw. in Rom am Pauls-Grabmal erprobte Motive des Florentiners handelt, erscheint es möglich, dass Mino gezielt angeheuert wurde, um die beiden Aufträge um einzig diese Elemente zu bereichern und so deren bildhauerische Qualität zu steigern, was theoretisch selbst nach der Rückkehr des Meisters nach Florenz möglich gewesen wäre. 21 Das Dokument zum Piccolomini-Altar ist erstmals in Zuraw 1993 (Anm. 2), S. 1109–1111 publiziert. 22 Vgl. Zuraw 1993 (Anm. 2), Kat. 54 und Röll 1994 (Anm. 3), S. 60–84. Zur Rekonstruktion vgl. Giuseppe Zander, La possibile ricomposizione del monumento sepolcrale di Paolo II, in: Rendiconti della Pontificia Accademia Romana di Archeologia 55/56, 1985, S. 175–243. Ein Teil des Sockelornaments des Grabmals befindet sich im Musée du Louvre, Paris. 23 Die Inschrift lautet: „MARCUS BARBUS CAR. S. MARCI PATRIARCHA AQUILEIUS CONSANGUINEO B. M. P. AN. SAL. MCCCCLXXVII.“ Barbo trat seine Mission als legatus de latere für Deutschland, Polen und Ungarn im Februar 1472 an und kehrte erst im Herbst 1474 nach Rom zurück. Damit wird Vasari widerlegt, der in der Vita Minos behauptet, das Grabmal sei direkt nach dem Tod des Papstes in Auftrag gegeben und bereits zwei Jahre darauf fertiggestellt worden, vgl. insbes. Zuraw 1993 (Anm. 2), S. 889–890. 24 Siehe dazu oben Anm. 7. 25 Während ein Gros von Minos Anteil als Arbeit von Werkstattmitarbeitern identifizierbar ist, zeichnet sich Dalmatas Beitrag durch große stilistische Homogenität aus. Röll 1994 (Anm. 3), S. 67 vermutet daher, dass der Istrier im Gegensatz zu Mino nur wenige Mitarbeiter beschäftigt und viel selbst Hand am Werk angelegt habe, während Zuraw 1993 (Anm. 2), S. 344 durchaus verschiedene Mitarbeiter Dalmatas ausmachen kann. 26 Zuraw 1993 (Anm. 2), S. 323 äußert Zweifel an der Authentizität der Signaturen und vermutet eine nachträgliche Ergänzung nach historischen Inschriften auf der verlorenen Architekturrahmung des Grabmals. In den Grotten erhielten die einzelnen Fragmente aus St. Peter zahlreiche Beischriften, zu denen auch die inschriftliche Bezeichnung des Papstes im Lünettenrelief des Pauls-Grabmals zu rechnen sein wird. Es ist die einzige namentliche Nennung Dalmatas auf einem seiner Werke. Die Signatur Minos hingegen (OPVS MINI) fügt sich stimmig ins Korpus des Toska-

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ners, der seinen Namen auf zahlreichen Werken hinterließ, vgl. die Zusammenstellung in David Frank Boffa, Artistic identity set in stone. Italian sculptors’ signatures c. 1250–1550, Ann Arbor 2011, S. 347–350. 27 Röll 1994 (Anm. 3), S. 73, der auch die Rolle Dalmatas als Protegé der Barbo unterstreicht, betont Bezüge zur Florentiner Skulptur im Werk Dalmatas, im Gespräch relativiert er heute diese Ansicht. Die Stationen von Dalmatas Karriere, die sich in Italien mit Ausnahme der Tätigkeit in Rom stets auf der der Adria zugewandten Seite des Apennin (Ancona, Venedig, Padua) abspielte, sprechen gegen einen direkten Kontakt mit Florenz. 28 Es befand sich in unmittelbarer Nähe zu einem von Paul II. selbst, der bereits als Kardinal aufgrund seines Amtes als Kardinal-Erzpriester von St. Peter über großen Einfluss auf das die Geschicke der Basilika leitende Kapitel verfügte, zu Ehren seines Onkels Eugen IV. gestifteten Altar, dem Grabmal Eugens IV. und dem von Paul II. ebenfalls mit Stiftungen bedachten Altar des venezianischen Nationalheiligen St. Markus, vgl. zuletzt Carol Richardson, Saint Peter’s in the fifteenth century. Paul II, the archpriests and the case for continuity, in: Old Saint Peter’s, Rome, hrsg. von R. McKitterick et al., Cambridge 2013, S. 324–347. 29 Vgl. zu diesem Auftrag Zuraw 1993 (Anm. 2), Kat. 67. Röll 1994 (Anm. 3), S. 85–91 und zuletzt Shelley Zuraw, Partnerships in commemoration. The patronage and production of the Brusati and Barbo tombs in Quattrocento Rome, in: Patronage and Italian Renaissane sculpture, hrsg. von K. Wren Christian und D. Drogin, Farnham 2010, S. 95–116, bes. S. 104–110. Der Altar wurde im Juni 1476 geweiht. 30 Das Grabmonument des Kardinals Jacopo Tebaldi († 1466) in S. Maria sopra Minerva galt lange als Werk der beiden Bildhauer. Wie Röll 1994 (Anm. 3), S. 116–117 nachweisen konnte, handelt es sich jedoch um einen von Paolo Romano begonnenen, nach dessen Tod von Dalmata vollendeten Auftrag (siehe oben Anm.  7). Zum Roverella-Grabmal vgl. ebd., S.  92–101, Kühlenthal 2002 (Anm. 3), S. 206–212 und Pöpper 2010 (Anm. 3), S. 205–215. Das Dissertationsprojekt der Autorin dieses Aufsatzes ist der Selbstinszenierung der Familie Roverella gewidmet und behandelt unter anderem die Aufträge des Kardinals und seiner Erben in Rom mit größerer Ausführlichkeit. 31 Das Testament ist publiziert in Primo Griguolo, Per la biografia del cardinale rodigino Bartolomeo Roverella (1406–1476). La famiglia, la laurea, la carriera ecclesiastica, il testamento, in: Atti e memorie dell’Accademia Galileiana di Scienze, Lettere ed Arti in Padova 115, 3, 2002, S. 133–170. Der Kardinal Eroli verstarb bereits 1479 und erhielt selbst ein Grabmal von der Hand Dalmatas, für das sein Neffe Giovanni sorgte, vgl. Röll 1994 (Anm. 3), S. 102–108. Der Schluss der Inschrift des RoverellaGrabmals „TESTAMENT·EXECUTOR·COLLEGE“ wird bereits von Philippo Rondinini, De S. Clemente papa et martyre ejusque basilica in urbe Roma, Rom 1706, S. 311 als „Testam.[sic!] executores collegae“ aufgelöst. Der Inschriftentext verwendet zwischen Wörter gesetzte Punkte konsequent nicht zur Worttrennung, sondern zur Markierung von Abkürzungen und zur Interpunktion. 32 Der Forschungsstand zur Geschichte der Kapelle wurde zuletzt von Pöpper 2010 (Anm. 3), S. 215– 218 zusammengefasst. Entgegen der landläufigen Meinung handelt es sich nicht um einen Neubau durch den Kardinal, vielmehr übernahm dieser eine bereits bestehende, wohl dem heiligen Kyrill geweihte Kapelle, die auf die Zeit der Errichtung der Oberkirche von S. Clemente um 1200 zurückgeht, vgl. Federico Guidobaldi, La tomba di S. Cirillo nella basilica paleocristiana di S. Clemente e la cappella di S. Cirillo nella chiesa medievale, in: Roma magistra mundi. Itineraria culturae medievalis, Mélanges offerts au Père L.E. Boyle à l’occasion de son 75e anniversaire, hrsg. von J. Hamesse, Louvain-la-Neuve 1998, Bd 1, S. 301–322 und Leonard Boyle, The fate of the remains of St. Cyril, in: Cirillo e Metodio i santi apostoli degli slavi, Rom 1964, S. 158–194. Neben dem Grabmal Bartolomeo Roverellas errichtete dessen Bruder Florio dem Neffen beider, dem Erzbischof von Nicosia, Giovanni Francesco Brusati († 1477) ein Grabmal, für das ein Vertrag von 1485 erhalten ist, vgl. Zuraw 2010 (Anm. 29), S. 95–104. Florio selbst wurde ebenfalls in S. Clemente bestattet.

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33 Röll 1994 (Anm. 3), S. 96, der den Entwurf Dalmata zuschreibt, beschreibt ihn treffend als „szenographisch“. 34 Während Rondinini 1706 (Anm. 31) den Zustand von S. Clemente vor den Umbauarbeiten schildert, verzeichnet eine Handschrift mit dem Titel Fabrica di S.  Clemente papa e martire anno 1716 (Rom, Biblioteca Angelica, Ms. 1643, bes. f. 185r) die im Zuge der Bauunternehmung angefallenen Kosten, darunter auch für Entwurf und Einbau der hölzernen Kassettendecke und die gründliche Reinigung diverser Monumente. 35 Dies gilt generell für die Vielzahl der römischen Kunstaufträge des Quattrocento. Als Ursache sind nicht nur durch die bewegte Geschichte Roms und die Sonderstellung des Papsthofes und seiner Angehörigen bedingte Überlieferungslücken auszumachen (so sind z. B. die Aufzeichnungen der kurialen Notare oder der zu jedem Kardinalshaushalt gehörenden privaten Schreiber nur in Ausnahmefällen erhalten). Die letzten systematischen Auswertungen der römischen Archivbestände der Frührenaissance liegen zudem mehr als hundert Jahre zurück, vgl. u. a. Eugène Müntz, Les arts à la cour des papes pendant le XV. et le XVI. siècle. Recueil de documents inédits tirés des archives et des bibliothèques romaines (Bibliothèque des Écoles Françaises d’Athènes et de Rome 4,9 und 28), Paris 1878–1882. Neuere Einzelstudien, z. B. zu einzelnen Notarspersönlichkeiten, haben zahlreiche wertvolle Dokumente zu Projekten wie dem Bau des Palazzo di S. Marco oder zum Umbau von S. Agostino durch den Kardinal Guillaume d’Estouteville ans Licht gebracht, vgl. Arnold Esch, Un notaio tedesco e la sua clientela nella Roma del Rinascimento, in: Archivio della Società romana di storia patria 124, 2001, S. 175–209 und Anna Esposito, Il notaio Benimbene e la sua clientela nella Roma del Rinascimento, in: Studi e materiali. Rivista del Consiglio nazionale del notariato 3, 2004, fasc. 1, S. 593–604. Sieht man von der sicher nicht unerheblichen Dunkelziffer von Aufträgen ab, die privat dokumentiert oder lediglich per Handschlag besiegelt wurden, ließe eine systematische Revision der römischen Archivbestände demnach durchaus auf neue Ergebnisse hoffen. 36 Vgl. Zuraw 1993 (Anm. 2), S. 37–47. Erst 1480 bezog er mit seiner Familie ein Gebäude in Florenz, das er bereits seit längerer Zeit besaß, aber zuvor, möglicherweise aufgrund der geringen Größe, für ungeeignet zur Ausübung seiner Bildhauertätigkeit angesehen hatte. Weil einige seiner Florentiner Werkstattmitarbeiter in der Stadt verblieben und dort Minos Geschäfte weiterführten, vermutet Zuraw, dass Mino nur wenige Mitarbeiter aus Florenz nach Rom mitbrachte und sich dort ansonsten auf gedungene Kräfte verließ, die er unter anderem aus der Werkstatt Bregnos abwarb. 37 Röll 1994 (Anm. 3), passim geht auf die Werkstattfrage nicht ausführlich ein, setzt aber als selbstverständlich voraus, dass Dalmata Mitarbeiter hatte. Wie seine Werkstatt organisiert war und ob Dalmata, der wie Mino viel reiste, ebenfalls auf temporäre Helfer oder Leiharbeiter zurückgriff, bleibt zu erörtern. 38 Das Testament und die zugehörigen Kodizille wurden publiziert und analysiert in Silvia Maddalo, „Andrea scarpellino“ antiquario. Lo studio dell’antico nella bottega di Andrea Bregno, in: Roma, centro ideale della cultura dell’Antico nei secoli XV e XVI, hrsg. von S. Danesi Squarzina, Mailand 1989, S. 229–236, vgl. daneben jüngst Pöpper 2010 (Anm 3), S. 306–324, sowie S. 367–384. Bei dem in den Dokumenten erwähnten studio könnte es sich, wie selbst Thomas Pöpper einräumt (ebd., S. 374), ebenso um ein studiolo handeln: Dies fügt sich nahtlos zum Antikenstudium Bregnos und den persönlichen Verbindungen, die er zum Humanistenzirkel der Accademia Pomponiana unterhielt. 39 Wenig eindeutig verhält sich auch das erste Kodizill zum Testament Paolo Romanos aus dem Jahr 1470 zu der Frage, ob und wo dieser eine dauerhafte Werkstatt unterhielt (vgl. Corbo 1966 (Anm. 2), Dok. 129 und S. 221–224, siehe außerdem oben Anm. 7). In dem Dokument listete der erkrankte Meister nicht nur minutiös seine Schuldner auf, sondern verfügte auch die Rückgabe von ihm zur Bearbeitung überlassenem Material und bereits begonnenen Werkstücken an seine

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Kunden. Hinweise darauf, wo sich diese Objekte befanden und ob sein Haus im Rione Sant’ Eustachio Raum für eine Werkstatt oder ein studio enthielt, sucht man jedoch vergebens. Das Do­ kument ist vielmehr als Indiz dafür zu werten, dass es üblich war, dass die Auftraggeber die ­Versorgung der Bildhauer mit dem nötigen Material übernahmen, das dementsprechend in bearbeitetem oder unbearbeitetem Zustand als deren Besitz angesehen wurde. Ein weiteres Beispiel dafür ist der Mino da Fiesole für die Kolossalstatue des heiligen Petrus 1463 zur Verfügung gestellte Block, den der Meister ersetzen sollte, nachdem er den Auftrag unvollendet gelassen hatte, vgl. Caglioti, Francesco Da Alberti a Ligorio, da Maderna a Bernini e a Marchionni. Il ritrovamento del „San Pietro“ vaticano di Mino da Fiesole (e di Niccolò Longhi da Viggiù), in: Prospettiva 86, 1997, S. 37–70. In anderen Fällen konnte der Künstler jedoch auch selbst für die Materialbeschaffung verantwortlich zeichnen: So verpflichteten sich die Dominikaner von S. Maria della Quercia in Viterbo gegenüber Andrea Bregno, der mit der Fertigung eines großen Altartabernakels betraut war, lediglich dazu, Gips und Metallwaren für dessen Montage zur Verfügung zu stellen, während der Bildhauer die übrigen Materialkosten selbst zu tragen hatte, vgl. Pöpper 2010 (Anm. 3), S. 364. 40 Für Materialimporte sei auf die langjährige Forschung Arnold Eschs verwiesen, der die römischen Zollregister ausgewertet hat, vgl. Arnold Esch, Economia, cultura materiale ed arte nella Roma del Rinascimento. Studi sui registri doganali romani 1445–1485 (Roma nel Rinascimento inedita 36), Rom 2007, bes. S. 251–252 und Kap. VIII für den Import von Marmor. Der von Dietrich Erben, Requiem und Rezeption. Zur Gattungsbestimmung und Wahrnehmung von Grabmälern in der Frühen Neuzeit, in: Tod und Verklärung, Grabmalskultur in der Frühen Neuzeit, hrsg. von A. Karsten und P. Zitzlsperger, Köln 2004, S. 115–135 vorgebrachte Vorschlag, Grabmäler seien auch aufgrund ihrer geringen Funktion für die Liturgie als Profanarchitektur aufgefasst worden, ist bisher nur wenig rezipiert worden. Erben untersucht das Beispiel eines Kardinalsgrabmals des späten 17.  Jahrhunderts, das dem französischen Gesandten missfiel. Seine These untermauert er vor ­allem mit nachtridentinischen Quellen, die entgegen Carlo Borromeos Forderungen monumentale Wandgrabmäler zu rechtfertigen suchten. Sie lässt sich dennoch gut auf die Frührenaissance übertragen, auch weil bereits Augustinus das Grabmal mehr der weltlichen fama als der liturgischen Totenfürsorge zuordnete. Ob sich dies auch auf die Produktionsweise auswirkte, ist bislang unerforscht geblieben. 41 Überblicksstudien zu vertraglichen Regelungen zwischen Künstler und Auftraggeber, wie sie unter anderem von Michael Baxandall, Hannelore Glasser und Michelle O’Malley angestrengt worden sind, konzentrieren sich in erster Linie auf den Florentiner Kunstmarkt und sind durch einen besonderen Schwerpunkt auf Malerei charakterisiert. An einer zunächst aus der (florentinisch geprägten) zeitgenössischen Kunsttheorie hergeleiteten Übertragung auf den römischen Markt versucht sich Rinaldi 2008 (Anm. 6). Die wenigen erhaltenen Vertragsdokumente für römische Skulpturenaufträge beziehen sich auffallend häufig nicht auf dreidimensionale, sondern auf ­gezeichnete modelli, so u. a. der Auftrag der Vannozza Cattanei an Bregno und Larigo für ein Tabernakel nach dem Vorbild eines Tabernakels aus S. Giacomo degli Spagnoli, für das der Auftraggeberin von Bregnos Werkstatt eine Zeichnung vorgelegt worden war (Pöpper 2010 (Anm. 3), S. 366). Für das Altargehäuse in Viterbo hatte es 1488 bereits „due belli modelli“ gegeben, die aber aus Kostengründen nicht realisiert worden waren (ebd., S. 363). Ein weiteres Beispiel ist der Vertrag für das Grabmal des Erzbischofs Giovanni Francesco Brusati in S.  Clemente nach der Vorlage einer Zeichnung, die, so wie es auch für den Auftrag der Fonte Gaia in Siena belegt ist, zerschnitten und je zur Hälfte dem Künstler und dem Auftraggeber ausgehändigt werden sollte (vgl. Zuraw 2010 (Anm. 29), S. 96). Diese Praxis zeugt davon, dass einem bestimmten Typus von Zeichnungen ein vertragsbindender Status zukam. Ob die Zeichnung eines Altartabernakels

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(London, British Museum, Inv. 1860,0616.38), die offenbar ein Skulpturenprojekt des Kardinals Ludovico Trevisan († 1465) für seine Titelkirche darstellt, zu den wenigen erhaltenen Zeichnungen dieser Art gehört, bleibt fraglich. Francesco Caglioti, Paolo Romano, Mino da Fiesole e il tabernacolo di S. Lorenzo in Damaso, in: Prospettiva 53,6, 1988/1989, S. 245–255 identifiziert das Blatt als finale Entwurfszeichnung, Pöpper 2010 (Anm. 3), S. 350–352 sieht jedoch weder die Bedingungen einer Werkstatt- noch die einer Präsentationszeichnung erfüllt und zieht daher mit gutem Grund auch die Möglichkeit in Betracht, dass es sich um eine – wenn auch zeitnah entstandene – Zeichnung nach dem vollendeten Werk handelt. 42 Auch ihre Rahmung weist Unterschiede in Profil und Breite auf. Die drei Reliefs, die den von Cherubim gerahmten Gottvater zeigen, der sich segnend über den Gisant neigt, fügen sich ebenfalls nicht exakt zueinander. Dies mag vor allem der Herausforderung geschuldet sein, die ihre Anbringung im Rund der Nischenkalotte darstellte. 43 Während sozialgeschichtliche Studien wie z. B. Richardson 2009 (Anm. 1) zur Repräsentation des Kardinalats einen breit gefassten, aber oft nur oberflächlichen Überblick bieten, bleiben Einzelstudien wie u. a. Meredith Jane Gill, A French maecenas in the Roman Quattrocento. The patronage of Cardinal Guillaume d’Estouteville (1439–1483), Princeton 1992 auf individuelle Fallbeispiele begrenzt. 44 Dass die Auftraggeber diese Praxis zumindest teilweise akzeptierten, belegen z. B. die Verträge mit Pinturicchio für die Ausmalung der Libreria Piccolomini oder des Appartamento Borgia, in denen er zur eigenhändigen Fertigung nur bestimmter Teile, insbesondere der Gesichter wichtiger Figuren verpflichtet wird. Ein Vertrag mit Paolo Romano über ein Sakramentstabernakel für S. Lorenzo in Damaso erlaubte diesem 1465 ausdrücklich, die Arbeit daran auch anderen zu überlassen („laborare sive laborari facere“). Und auch der bereits mehrfach erwähnte Vertrag über ein Tabernakel für die Kapelle der Vannozza Cattanei, in dem Giovanni Larigo als compagno Bregnos auftritt, wurde so interpretiert, dass sich in ihm die Auftraggeberin bereiterklärte, sich auch mit einer Fertigung durch den Mitarbeiter des Meisters zufrieden geben zu wollen, vgl. für diese Beispiele Pöpper 2010 (Anm. 3), S. 304. 45 Johannes Röll hat in einer kurzen Studie (Röll 2010 (Anm. 13), bes. S. 159–160) Stilpluralismus und dessen Inszenierung in der Skulptur der zweiten Quattrocentohälfte in Rom untersucht. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf seine Argumentation. Für den Hinweis auf das Mausoleum von Halikarnassos danke ich Wolf-Dietrich Löhr. Der von antiken Autoren ausführlich beschriebene von den besten Künstlern der Zeit dekorierte Zentralbau im heutigen Bodrum befand sich im Quattrocento in von den Johannitern beherrschtem und von der Expansion des osmanischen Reiches bedrohtem Gebiet. Von einem Erdbeben im 12. Jahrhundert zerstört, wurde er von dem Kreuzritterorden nach und nach abgetragen und nach 1523 endgültig abgebrochen. Fragmente des Skulpturenschmuckes gelangten über venezianische Seefahrer in den Westen. Seine Rekonstruktion beschäftigte insbesondere die Architekten der Renaissance, vgl. Andreas Raub, Das Mausoleum von Halikarnassos in den Zeichnungen Antonio da Sangallos des Jüngeren, in: Pegasus 16, 2014, S. 167–206. 46 Eine Ode des Porcellio in einer Gedichtsammlung, die die Epoche von Pius II. verklärt, ist Isaia da Pisa gewidmet und beschreibt diesen als zweiten Phidias (Biblioteca Apostolica Vaticana,Vat. lat. 1670), vgl. die Transkription in Müntz 1878–1882 (Anm. 35), Bd. 1, S. 255–256. Andrea Bregno wird in der Inschrift seines Grabmals in S. Maria sopra Minerva als zweiter Polyklet bezeichnet. 47 Siehe Anm. 39. Bereits 1461 hatte Paolo Romano einen ersten nahezu identischen Auftrag des Papstes erhalten und ausgeführt. Mino beendete seine Statue nicht und verließ 1464 Rom. Vasari verwandelte dies in die Anekdote eines von Mino herausgeforderten und kläglich verlorenen Wettstreits der beiden.

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48 Vgl. zu dem Relief Zuraw 1993 (Anm. 2), S. 128–130 und Röll 2010 (Anm. 13), S. 160. Mino hatte die charakteristische Signatur OPVS MINI bereits in Florenz verwendet, vgl. Boffa 2011 (Anm. 26), S. 347. Dieser hat auch bemerkt, dass Paolo Romanos Signatur zunächst an anderer Stelle auf dem Relief begonnen, dann aber nach den ersten beiden Buchstaben abgebrochen und höher angebracht wurde, um eine bessere Sichtbarkeit und gleiche Höhe mit der Inschrift auf dem Pendant zu erzielen, vgl. ebd. S. 366. 49 Für eine Zusammenfassung vgl. u. a. das dem Individualstil gewidmete Kapitel in Ulrich Pfisterer, Donatello und die Entdeckung der Stile 1430–1445 (Römische Studien der Bibliotheca Hertziana 17), München 2002, S. 55–79. 50 Im Mittelalter war diese Praxis noch weiter verbreitet; vgl. z. B. die Kataloge in Boffa 2011 (Anm. 26) und Albert Dietl, Die Sprache der Signatur. Die mittelalterlichen Künstlerinschriften Italiens (Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz, Max-Planck-Institut, 4. Folge, Band VI), Berlin 2009. 51 Vgl. u. a. Pöpper 2010 (Anm. 3), S. 124, der auf in diesem Zusammenhang entstehende Probleme der Händescheidung hinweist. Pfisterer 2002 (Anm. 49) hat am Beispiel Donatellos aufgezeigt, dass nur wenige hochangesehene Meister ihren Stil variierten und damit unter anderem den inhaltlichen Anforderungen unterschiedlicher Aufträge anpassten. In Rom lässt sich lediglich für Giovanni Dalmata eine ähnliche Stilvielfalt erkennen, die möglicherweise aus dem direkten Kontakt mit dem vom Wirken Donatellos und seiner Nachfolger geprägten Padua resultiert, z. B. im Vergleich der in recht unmittelbarer Folge entstandenen geteilten Grabmalsaufträge mit den in den Vatikanischen Grotten erhaltenen Fragmenten des Grabmals für den Kardinal Bernardo Eroli († 1479). 52 Die Zahlungen der Vatikanischen Kammer an die beiden Partner Isaia und Romano sind in Corbo 1966 (Anm. 2), S. 213–215 transkribiert. Zum Tabernakel vgl. Arianna Antoniutti, Pio II e sant’ Andrea. Le ragioni della devozione, in: Enea Silvio Piccolomini. Arte, Storia e Cultura nell’Europa di Pio II, Atti dei Convegni Internazionali di Studi 2003–2004, hrsg. von R. Di Paola, A. Antoniutti und M. Gallo, Rom 2006, S. 329–344. 53 Sie wurden aufgrund besagter Nähe zum Riario-Grabmal zunächst einstimmig als Arbeit eines Werkstattmitarbeiters von Bregno beschrieben, vgl. zuletzt Kühlenthal 2002 (Anm. 3), S. 212. So auch Pöpper 2010 (Anm. 3), S. 212–213, der allerdings auf wesentliche Unterschiede im kompositorischen Grundverständnis zur Vorlage am Grabmal in SS.  Apostoli hinweist und den wenig ­plausiblen Vorschlag macht, die Wappenhalter seien nach dem Entwurf durch Dalmata in der Bregnowerkstatt gefertigt worden, ohne dass der Meister selbst oder das Korrektiv des Werkstattverbundes eingegriffen hätten. Figurenbehandlung und rilievo schiacciato im Landschaftshintergrund verweisen stattdessen auf Dalmatas zeitnahe Arbeiten für das Pauls-Grabmal. 54 Ähnlich verhält es sich beim Roverella-Grabmal, dessen einem Triumphbogen ähnliche Anlage weniger antiken Monumenten als den venezianischen Dogengrabmälern verwandt ist. Roverella hatte seine Karriere in Rom Eugen IV. zu verdanken, er selbst und sein Neffe Filiaso unterhielten als Erzbischöfe des seit 1441 venezianisch dominierten Ravenna enge Verbindungen zur Serenissima. Bregno hingegen bediente vor der Wahl des aus Ligurien stammenden Francesco della Rovere vor allem ausländische Kurienkardinäle und wurde danach schnell zum präferierten Bildhauer der Della-Rovere-Kreise. 55 In Neapel wurden so die politischen Seilschaften des vom Papst unterstützten neuen Herrschers unterstrichen, in Rom die Bemühungen um eine Aussöhnung der Medici mit dem Papst nach der Pazziverschwörung untermauert. 56 Vgl. auch Thomas Pöpper und Tamara Tolnai, Le eccezioni confermano la regola. Collaborazioni e ‚famiglie‘ di monumenti sepolcrali nella scultura romana del Quattrocento, in: La scuola scultorea romana del Quattrocento, hrsg. von C. Crescentini und S. Risaliti, Rom 2018, S. 41–57, bes. S. 42–47.

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Birgitt Borkopp-Restle

Plurale Autorschaft Aufgaben und Anteile von Auftraggebern, Malern und Wirkern in der Gestaltung von Tapisserien

Die sogenannten „angewandten“ Künste waren für die Repräsentationsbedürfnisse und -ansprüche der frühneuzeitlichen Höfe von herausragender Bedeutung: Im diploma­ tischen Protokoll, namentlich im Kontext der Fest- und Tafelkultur, spielten ihre Objekte eine entscheidende Rolle. Zugleich gilt, dass die meisten dieser Werke nicht nur einen Autor hatten. An den komplexen Planungs- und Herstellungsprozessen waren mehrere Personen beteiligt: Entwurf und Ausführung lagen zumeist in verschiedenen Händen; in den Werkstätten wurden arbeitsteilige Verfahren praktiziert. Hinzu kommt, dass auf die Auswahl der beteiligten Künstler/Kunsthandwerker sowie auf die konkrete Ausgestaltung eines Entwurfs und die Materialien, die zu seiner Realisierung verwendet wurden, die Auftraggeber entscheidenden Einfluss nahmen. Wenngleich dies im Hinblick auf die Arbeitsabläufe in der Forschung unbestritten ist, so wurden die Beiträge, die diese Per­ sonen zur Verwirklichung eines Kunstwerks leisteten, doch zumeist sehr unterschiedlich bewertet. Dies zeigt sich insbesondere für das Verhältnis von Entwurf und Ausführung: Hier galt allein der (zeichnerische) Entwurf als kreative Leistung, während die Materialisierung als mehr oder weniger mechanische Wiedergabe (gelegentlich auch als ‚Reproduktion‘ bezeichnet) wahrgenommen wurde. Die folgende Analyse schlägt dagegen ein differenzierteres Konzept von Autorschaft vor, das sowohl die künstlerischen Praktiken der Frühen Neuzeit als auch die Bewertungen der Zeitgenossen zu berücksichtigen sucht. Herstellung und Gebrauch von Tapisserien sollen hier als Fallbeispiel für ‚plurale Autorschaften‘ untersucht werden.1 Gewirkte Bildteppiche des 15.  Jahrhunderts können zumeist lediglich einem Herkunftsort oder einer Region zugewiesen werden. Ihre Entwerfer sind kaum je namentlich bekannt,2 und vor der Einführung von Wirkermarken sind auch die Werkstätten, in denen sie ausgeführt wurden, nur in wenigen Fällen zu identifizieren. Schriftliche Quellen, die uns aus dieser Zeit überliefert sind, verbinden Tapisserien vor allem mit ihren Auftrag­ gebern und/oder Besitzern, sehr viel seltener dagegen mit den Personen, die an ihrer Herstellung mitgewirkt hatten. Dies ändert sich im 16. Jahrhundert: Inventare, Kaufverträge, Zunftakten und andere schriftliche Zeugnisse, aber auch Tapisserien selbst sind nun in größerer Zahl vorhanden, so dass die Forschung insgesamt auf eine dichtere Überliefe-

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rung zugreifen kann. Zugleich werden mit der Einführung von Wirkermarken (die Stadt Brüssel schreibt deren Anbringung, zusammen mit einer Stadtmarke, von 1528 an verbindlich vor; 1544 bestätigt ein kaiserliches Edikt die Vorschrift, die bald darauf auch in anderen Städten, in denen entsprechende Ateliers bestehen, eingeführt wird) die Werkstätten deutlicher sichtbar.3 Die kunsthistorische Forschung, die seit dem späten 19. Jahrhundert Tapisserien als Bildmedien in den Blick nahm, machte jedoch von den Möglichkeiten, die sich mit diesem Material zum Verständnis gestalterischer Praktiken, der (zeitgenössischen) Bewertung verfügbarer Optionen und der dazu notwendigen Aushandlungsprozesse eröffnen, nur in geringem Maße Gebrauch: Mit der Identifikation eines Malers als Urheber des ikonografischen Programms beziehungsweise der Bildformulierung einer Tapisserie oder Tapisseriefolge war die Frage nach dem verantwortlichen Künstler oft genug beantwortet; die Rolle der Wirker beschränkte sich nach diesem Verständnis auf die bloße Ausführung von Anweisungen, die ihnen in Zeichnungen übermittelt wurden. Doch auch dann, wenn es mittlerweile, etwa in Ausstellungskatalogen, zu Tapisserien heißt „gewirkt in Brüssel (oder in Tournai, Antwerpen, Oudenaarde ...), in der Werkstatt von ... nach Entwurf von ...“, so sind damit die beteiligten Personen, ihre konkreten Tätigkeiten und ihre Anteile an dem, was das Kunstwerk Tapisserie ausmacht, nur sehr unzureichend benannt. Bevor diese genauer gefasst werden können, seien hier zunächst die üblichen Abläufe (mit ihren Varianten) nachgezeichnet: Ein Auftraggeber (dies konnte der zukünftige Eigentümer/Nutzer sein, aber auch ein Kunsthändler/Agent oder der Leiter einer Wirkerwerkstatt – Quellen belegen die letzteren auch gelegentlich in der Rolle von Händlern) beauftragte einen Maler mit der Erstellung von Entwürfen für eine Tapisserie oder -serie. Am Anfang standen dabei kleinformatige Skizzen (Kohle- oder Rötelzeichnungen, Pinselzeichnungen), in denen jeweils die Komposition für ein Bildfeld entwickelt wurde. Als Visierungen konnten solche Zeichnungen auch dem Auftraggeber zur Genehmigung vorgelegt werden. Mit dessen Einverständnis wurden die petits patrons dann in grands cartons übertragen. Als unmittelbare Arbeitsgrundlage für die Wirker müssen die grands cartons spezifische Anforderungen erfüllen: Von gleicher Größe wie das Bildfeld, das die Tapisserie am Ende erreichen soll, zeigt der Karton alle Bildgegenstände zumindest mit ihren Konturen. Farben können angedeutet werden, entweder indem Binnenflächen ganz oder teilweise gefüllt oder Farbangaben in die Fläche geschrieben werden, sind aber nicht detailliert oder eindeutig festgelegt. Da die Wirker während ihrer Arbeit die Rückseite einer Tapisserie vor Augen haben (nur so können sie Verbindungen zwischen Fäden und Farbflächen herstellen, die auf der Vorderseite nicht sichtbar sein sollen), zeigen die grand cartons ihre Bilder – im Verhältnis zu den fertigen Tapisserien, aber zumindest in einigen Fällen auch zu den kleinformatigen vorbereitenden Zeichnungen – seitenverkehrt. Bevor die Wirker ihre Arbeit beginnen können, sind jedoch weitere Entscheidungen zu treffen, die die Wirkung des vollendeten Werkes maßgeblich mitbestimmen: Vom 16. Jahrhundert an haben nahezu alle Tapisserien Bordüren, die das Bildfeld wie ein Rahmen einfassen. Die Bordüren wer-

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den zusammen mit dem Bildfeld auf einer Kette gewirkt; Entwürfe und Kartons dafür sind jedoch zunächst unabhängig von denen der Bilder. Konkret zeigen üblicherweise die T­apisserien einer Serie die gleiche Bordüre. Wurden weitere Editionen derselben Serie angefertigt, so wählte man dafür häufig andere Bordüren; ein bestimmter Bordürenentwurf konnte jedoch auch mit unterschiedlichen Tapisseriefolgen kombiniert werden. Mit der Wahl der Materialien für eine Tapisseriefolge eröffnete sich ein weiterer Entscheidungsspielraum: Alle Brüsseler Tapisserien des 16. Jahrhunderts (wie vor ihnen bereits die burgundischen Tapisserien des 15. Jahrhunderts) wurden auf Kettfäden aus ungefärbter Schafwolle gewirkt. Diese Kettfäden werden jedoch von den Schussfäden vollkommen zugedeckt; sie sind allenfalls an den Seiten (als kurze Kettfransen) zu sehen. Entscheidend für das Erscheinungsbild der fertigen Tapisserie sind die Schussfäden. Dafür konnte gefärbte Wolle oder Seide verwendet werden, besondere Effekte wurden durch den Einsatz von Gold- und Silberfäden (Gold- oder Silberlahn, um einen seidenen Kernfaden, die sogenannte Seele, gesponnen) erreicht. In vielen Tapisserien wurden alle diese Materialien – Wolle, Seide und Metallfäden – im Schuss verwendet, allerdings in unterschiedlichen Proportionen: Mit geringerem Kostenaufwand konnte ein Bildteppich vorwiegend aus Wolle gewirkt werden; farbiges Seidengarn diente dazu, kleinere Partien mit Glanzlichtern zu versehen, und wenn überhaupt Metallfäden zur Verwendung kamen, dann wurden sie vor allem in der Darstellung von Kronen, Schmuckstücken oder anderen real aus Metall bestehenden Objekten eingesetzt. Mit höheren Anteilen von Seiden- und Metallfäden ließen sich die Lichteffekte erzielen, die den Tapisserien – etwa in einem durch Kerzen, Fackeln oder Kaminfeuer beleuchteten Festraum – ihre spezifische Wirkung verliehen; allerdings war damit auch unmittelbar ein höherer Kostenaufwand verbunden. Nur in wenigen Tapisserien überwiegen die Metallfäden; in diesen wurden Seide und Wolle lediglich eingesetzt, um innerhalb einer gleißenden Fläche Figuren und Szenen überhaupt erkennbar zu machen. Es verwundert nicht, dass wir solche Tapisserien allein aus dem Besitz des habsburgischen Hofes kennen.4 Die Wahl der Bordüre für eine Tapisseriefolge konnte von einem Auftraggeber, aber auch von der Wirkerwerkstatt (wenn sie ohne direkten Auftrag arbeitete) getroffen werden. Dasselbe gilt grundsätzlich für die Materialwahl und damit das Anspruchsniveau, das eine Folge repräsentieren sollte. Für diese letztere Entscheidung ist allerdings noch einmal hervorzuheben, dass sie gravierende Folgen für die Höhe des finanziellen Aufwandes – im Falle einer Entscheidung der Werkstatt oder eines Agenten: des Investments – hatte. An zwei Beispielen sei hier vorgestellt, was dies konkret in der Konzeption und Ausführung von Tapisserien bedeutete: Als im Jahre 1515 Papst Leo  X. entschied, für die ­Ausstattung der päpstlichen Kapelle im Apostolischen Palast – nach ihrem Erbauer Papst Sixtus IV. Cappella Sistina genannt – eine Tapisseriefolge in Auftrag zu geben, tat er dies in der Absicht, damit seinen Beitrag zur Ausstattung dieses zentralen Repräsentationsortes der Nachfolger Petri zu leisten und zugleich seinen unmittelbaren Vorgänger Julius II., der die Ausmalung des Deckengewölbes durch Michelangelo veranlasst hatte, zu über-

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treffen.5 Er beauftragte Raffael mit dem Entwurf von zehn großformatigen Bildteppichen, die Szenen aus der Apostelgeschichte darstellen sollten. Einer Reihe von Zeichnungen, in verschiedenen Techniken (Feder, Pinsel, Silberstift) ausgeführt, folgten die Kartons, an deren Ausführung außer Raffael selbst auch einige seiner Mitarbeiter beteiligt waren; Giulio Romano, Giovanni da Udine und sicher auch weitere, nicht namentlich bekannte Assistenten trugen zu diesen großformatigen Vorlagen für die Tapisserien bei (Farbabbildung 2).6 Für die Bordüren, die vergoldete Bronzereliefs nachahmen, wurden eigene Kartons her­ gestellt; sie zeigen Szenen aus dem Leben Leos X. – den großen Kompositionen untergeordnet, setzen sie gleichwohl den Auftraggeber mit ins Bild. Alle Kartons wurden dann nach Brüssel gesandt, um dort von den hochqualifizierten Wirkern, für die die Stadt berühmt war, in Tapisserien übertragen zu werden.7 Der prestigeträchtige Auftrag wurde der Werkstatt von Pieter van Aelst, die sich bereits mit Arbeiten für den habsburgischen Hof ausgezeichnet hatte, übergeben; den erfahrenen Wirkern durfte man wohl zutrauen, dass sie für die Umsetzung einer neuen malerischen Sprache in das Medium der Tapisserie Lösungen finden würden. Und Lösungen finden mussten sie, denn die Kartons boten ­ihnen keineswegs konkrete Handlungsanweisungen: Detailliert angelegte Unterzeichnungen mit (Kreuz-)schraffuren und Schattierungen sind in ihnen von teils transparenten, teils opaken Farbaufträgen überlagert; Weißhöhungen markieren belichtete Partien, gelegentlich trugen unbemalte Kartonflächen zur Gesamtfarbigkeit der Bildflächen bei. Über all diese Optionen, Volumen, Licht und Schatten darzustellen, verfügt die Wirkerei nicht; hier gibt es kein Übereinanderschichten von Linien und Farblagen, kein Sichtbarlassen eines Untergrundes – alles muss durch nebeneinander eingetragene Schussfäden sichtbar gemacht werden. Andererseits können (und in diesem Falle: sollten) sich die Tapisserien durch die Verwendung besonders wertvollen Materials auszeichnen, das in der Malerei nicht vorkommt und für dessen Platzierung es in den Kartons auch keine Direktive gab: Gold. Die Wirker mussten also das, was sie in den Kartons sahen, in ihr eigenes Medium – man möchte sagen: in ihr eigenes Idiom – übertragen und dabei gegebenenfalls auch Anpassungen vornehmen, die gewünschte Effekte mit anderen Mitteln zu erreichen suchten. Ein Vergleich der Tapisserien mit den überlieferten Kartons, den im Jahre 2010 ein Besuch des Papstes Benedikt XVI. in Großbritannien zum ersten Mal ermöglichte,8 macht deutlich, welcher Art diese Anpassungen waren: Besonders offensichtlich ist die Wahl anderer Farben für die Gewänder einiger der Apostel. Sie war vermutlich motiviert durch die Palette, die in Woll- und Seidengarnen zur Verfügung stand, und durch die Notwendigkeit, diese Farben innerhalb des Bildfeldes zu einer harmonischen Verteilung zu bringen. Die dramatischen Lichthöhungen und Schatten, die die Kartons zeigen, mussten in andere Farbtöne übersetzt werden. Goldfäden wurden vor allem in Partien verwendet, in denen die Wirkung auftreffenden Lichts dargestellt werden sollte; sie erscheinen aber auch in dekorativen Details (etwa Schmuckborten an Gewändern), die in den Kartons überhaupt nicht vorkommen, charakterisieren Metallobjekte und heben Nimben hervor. Besonders auffällig ist die Umgestaltung des Gewandes Christi in der Szene, in der der Auferstandene

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Petrus als seinen Stellvertreter einsetzt: Im Karton ist dieses Gewand weiß, mit tiefen Schatten in der lichtabgewandten Seite. In einer Tapisserie, die bedeutende Bildelemente mit Gold auszeichnen sollte, musste dafür eine besondere Lösung gefunden werden, und die Wirker realisierten sie mit ihren eigenen Mitteln, indem sie das Gewand über und über mit goldenen Sternen besetzten (Farbabbildung 3). In einigen Szenen griffen sie auch in die Darstellung der die Figuren umgebenden Landschaft ein, indem sie etwa Pflanzen hinzufügten, wo die Malerei allein auf mit dem Pinsel aufgetragene Farbübergänge gesetzt hatte. Für den Werkstattbetrieb, in dem solche ‚Übersetzungsleistungen‘ erbracht werden sollten, ist ein Weiteres zu bedenken: Die Ausführung einer mehrteiligen, großformatigen Folge ist das Werk vieler Hände. Im Atelier Pieter van Aelsts arbeiteten die Wirker parallel an mehreren Tapisserien, und an jedem Wirkstuhl waren wiederum mehrere von ihnen tätig. Die riesigen Flächen der Objekte konnten nur bewältigt werden, wenn sie gemeinsam die Arbeiten vorantrieben; für die Inkarnatpartien, namentlich für die Gesichter, waren besonders qualifizierte Spezialisten zuständig. Sollten aus diesen arbeitsteiligen Prozessen Tapisserien hervorgehen, bei denen nicht allein innerhalb eines einzigen Wirkteppichs Farbflächen, Goldpartien und Ornamentierungen in ausgewogener Verteilung erschienen, sondern Farbharmonien sowie Hell-Dunkel-Kontraste über die gesamte Folge hinweg konsistent (oder jedenfalls im Verhältnis zum Inhalt einer Szene plausibel) blieben, dann konnten Entscheidungen über die Interpretation der Kartons nicht den einzelnen Wirkern überlassen und keinesfalls spontan getroffen werden. Wir müssen annehmen, dass die Kartons – nicht nur für die Tapisserien der Apostelgeschichte, sondern in jedem Falle – im Atelier ausgelegt oder -gehängt und alle Details ihrer Ausführung beschlossen und kommuniziert wurden, bevor die Arbeit auch nur an einem einzigen Wirkstuhl konkret begann. Es scheint, dass Papst Leo X. seine Tapisserien mit Ungeduld erwartete und Pieter van Aelst sich beeilte, die Wünsche seines Auftraggebers zu erfüllen: Zur Papstmesse am 26.  Dezember 1519 konnten bereits die ersten sieben Tapisserien in der Sixtinischen ­Kapelle gehängt werden; drei weitere erreichten Rom bis 1521. Die Kartons gelangten wohl später noch einmal nach Italien, aber nicht an den päpstlichen Hof; offenbar verlangte der Papst sie nicht zurück – sie galten ihm nicht als eigenständige Kunstwerke, sondern lediglich als Arbeitsmaterial, als notwendige Zwischenschritte auf dem Weg zu den Tapisserien, denen sein Auftrag galt. Für die Wirkerwerkstatt waren die Kartons beziehungsweise das Recht, diese weiter zu verwenden, wohl Teil ihres Entgelts; solange ein Auftraggeber sie nicht eigens erwarb, um sich die Exklusivität seiner Tapisserien zu sichern,9 durften sie kopiert und für die Ausführung weiterer Editionen der Serie verwendet werden. Der Ruhm, den die Apostelgeschichte Papst Leos X. bald genoss, führte dazu, dass auch andere Fürsten die illustre Folge besitzen wollten; von 1533 an entstanden zahlreiche Ausführungen, zunächst in Brüssel, später auch in Italien und schließlich, nach dem Verkauf der Kartons an Charles, Prince of Wales (später König Charles I.) in der englischen Manufaktur Mortlake.10 Alle Folgen weisen markante Unterschiede zu den jeweils ande-

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ren Editionen auf, beziehungsweise zeichnen sich durch jeweils eigene Charakteristika aus: Immer wieder wurden andere Bordüren für die Bildteppiche gewählt, Farbklänge und die Anteile von Seiden- und Metallfäden in den Wirkereien variieren beträchtlich. Zudem umfassen nicht alle Folgen dieselbe Anzahl von Szenen/Tapisserien – ein Auftraggeber (oder eine ohne spezifischen Auftrag arbeitende Werkstatt) konnte auch für eine verkürzte Serie optieren und damit den finanziellen Aufwand begrenzen, aber auch den Raum, der für die Präsentation der Tapisserien vorgesehen war, berücksichtigen. In jedem Falle musste der Abstimmungsprozess, der in einer Werkstatt zur Festlegung der Ausführungsmodalitäten erforderlich war, für jede Edition neu erfolgen, damit im Ergebnis ein stimmiges Erscheinungsbild für die Gesamtheit der zugehörigen Tapisserien erzielt werden konnte. Betrachten wir dazu eine weitere Folge, die etwas später als die Apostelgeschichte entstand und zweifellos von dieser Anregungen empfing: Die Geschichte des Apostels Paulus,11 deren Entwürfe Pieter Coecke van Aelst (1502–1550) zu verdanken sind. Die Serie konnte aus insgesamt neun großformatigen Tapisserien bestehen; soweit rekonstruierbar, wurde sie während des 16. Jahrhunderts neun Mal ausgeführt, allerdings nicht immer im vollständigen Umfang: Die editio princeps, die König Franz I. von Frankreich 1533 erwarb, und eine weitere Folge, die 1558 im Inventar Marias von Ungarn erwähnt wird, zählten jeweils nur sieben Tapisserien.12 Auch die Serie, die die Herzöge von Lothringen besaßen und die später in die habsburgische Sammlung in Wien gelangte, hatte sieben, nicht neun Bildteppiche.13 Vollständige Editionen wurden dagegen für Heinrich VIII. von England gewirkt; er besaß deren gleich zwei, eine davon reich mit Gold- und Silberfäden ausgestattet. Eine nur mit Wolle und Seide gewirkte Ausführung, die ebenfalls neun Tapisserien umfasste, kaufte 1559 Graf Günther XLI. von Schwarzburg.14 Eine weitere Folge, weniger fein und ohne Metallfäden gewirkt, ist heute auf verschiedene Museumssammlungen verteilt; von einer anderen sind sechs Tapisserien im Museo de Santa Cruz in Toledo erhalten. Nur eine einzige, alle neun Tapisserien umfassende Edition ist vollständig überliefert; es ist diejenige, die Herzog Albrecht V. von Bayern erwarb.15 Außerdem erhalten ist der Karton der zentralen Szene des letzten Bildes der Folge, Die Enthauptung des Apostels Paulus, übrigens – von kleineren Fragmenten abgesehen – der einzige Karton, der sich in Brüssel, dem Zentrum der Tapisseriewirkerei des 16. Jahrhunderts, erhalten hat.16 Ein Vergleich des Kartons mit den erhaltenen Editionen derselben Szene erlaubt es, Malern und Wirkern gleichsam über die Schulter zu blicken: In der Werkstatt Pieter Coecke van Aelsts wurde die Komposition in schwarzer Kreide mit darübergelegter Pinselzeichnung angelegt; vor allem wichtig waren die Konturen, die den Wirkern ganz konkret als ‚Leitlinien‘ für ihre Arbeit dienen sollten. Mit dem Pinsel wurden aber auch Schatten und Vertiefungen angegeben, teils indem Lasuren übereinander gelegt wurden, teils durch Schraffuren und Kreuzschraffuren (Abb. 5). . Wie bereits erwähnt, können solche Partien in der Wirkerei nicht unmittelbar wiedergegeben werden; die Wirker mussten sie in die ihnen zur Verfügung stehenden Techniken übertragen. Dies war offenbar auch den

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5  Pieter Coecke van Aelst und Werkstatt, Karton für die Tapisserie Die Enthauptung des Apostels Paulus (Detail), Brüssel um 1535, Musée de la Ville de Bruxelles.

Kartonmalern bewusst: Sie konnten darauf verzichten (oder sich ersparen), die farbliche Ausgestaltung der Komposition detailliert anzulegen, da diese ohnehin von den Wirkern überarbeitet und der Planung für die jeweilige Edition angepasst werden würde. An einigen Stellen finden wir deshalb auch lediglich schriftliche Angaben zu den Farben, die gewählt werden sollten: „rood“ oder „blauw“ sind etwa zu lesen. Insgesamt ist Grün (in verschiedenen Nuancen bis zum Blau-Grün) die vorherrschende Farbe im Karton; der (verbräunte) Ton des Papiers trägt zum Kolorit bei, hier und da setzt ein mehr oder weniger dunkles Rot-Braun Akzente. Weißhöhungen wurden eingesetzt, um die Richtung des Lichteinfalls zu markieren. Die überlieferten Tapisserien, die auf diesem Karton basieren, lassen erkennen, wie groß die Gestaltungsfreiräume der Wirker waren. Offenbar gab es einige grundlegende Entscheidungen, die generell gelten sollten: In allen Tapisserien trägt der Apostel Paulus ein blaues Gewand und darüber einen roten Mantel. Wenn die Ausführungen heute deutlich voneinander abweichen, so liegt dies vor allem daran, dass sich Garnfärbungen von mehr oder weniger hoher Qualität unterschiedlich entwickelt haben – während einige Rot- und Blaufärbungen ihre Intensität und Leuchtkraft bewahrt haben, sind andere zu Pastelltönen verblasst. Weitere Bestandteile der Komposition konnten von Anfang an mit größerer Freiheit ausgestaltet werden: Die Rüstung des Henkers wird in metallischem Blau oder in Grün gegeben; die Gewänder anderer Figuren können in abweichenden Farben

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6 Tapisserie Die Enthauptung des Apostels Paulus, nach Entwurf von Pieter Coecke van Aelst ausgeführt in der Werkstatt von Frans van den Bossche, Brüssel vor 1563, München, Bayerisches Nationalmuseum.

erscheinen oder auch mit dekorativen Borten ausgezeichnet werden, die in anderen Tapisserien fehlen. Die Wiedergabe von Marmorflächen mit ihren Äderungen oder von Gewebemustern liegt gänzlich in den Händen der Wirker. Weitreichende Folgen hatte natürlich die Entscheidung, ob eine Tapisseriefolge mit Metallfäden (wie in den Paulus-Tapisserien von Wien und München) oder ohne diese (wie diejenigen in Madrid) gewirkt werden sollte. Nehmen wir dazu die Münchner PaulusFolge genauer in den Blick (Abb. 6): Sie ist mit besonders hohen Anteilen von Gold- und Silberfäden ausgestattet; an zahlreichen Stellen wurden die Metallfäden zudem im Verfahren der crapautage eingetragen: Sie überspannen zwei oder mehrere Kettfäden. Da diese Partien im Verhältnis zur umgebenden Fläche in feinem Relief hervortreten, erzielen sie besondere Lichteffekte; sie wurden deshalb bevorzugt in der Darstellung von Metallobjekten (Waffen und Rüstungen, Schmuckstücke) sowie dekorativer Elemente an Gewändern eingesetzt. Alle Flächen, die in den Münchner (und auch den Wiener) PaulusTapisserien mit Gold- und Silberfäden hervorgehoben wurden, waren in den Bildteppichen, die ohne Metallfäden auskommen mussten, in anderen Farbtönen darzustellen. Dabei wurden die goldleuchtenden Partien auch innerhalb einer Tapisserie nicht durchgängig in ein und dieselbe Woll- oder Seidenfärbung übersetzt, vielmehr konnten je nach Kontext Hellgelb, Hellrosa oder -blau, aber auch Weiß an deren Stelle erscheinen. Ließ sich mit dem Verzicht auf Metallfäden eine Reduktion der Materialkosten erreichen, so blieb der Arbeitsaufwand, der damit verbunden war, gleichwohl hoch.

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Ein Vergleich der Wiener und der Münchner Paulus-Folgen – beide, wie gesagt, mit hohem Einsatz von Metallfäden gewirkt – offenbart weitere Unterschiede: In der Wiener Serie erscheinen zwei der vier erhaltenen Tapisserien mit deutlich verkürzten Bildfeldern: Sowohl Die Predigt vor den Frauen von Philippi als auch Die Ergreifung Pauli im Tempel wurde jeweils auf die Kernszene reduziert; die entsprechenden Münchner Tapisserien sind wesentlich breiter und bleiben damit näher an den überlieferten Entwurfsskizzen.17 Anders ausgedrückt: Entwürfe und Kartons konnten so angelegt werden, dass sie das zentrale Thema mit Assistenzfiguren, Nebenszenen oder Ausblicken in die umgebende Landschaft umgaben; sie stellten damit Material für besonders raumgreifende Editionen bereit, erlaubten aber auch dessen Reduktion ohne Nachteil für die Aussage des Bildes. Die Entscheidung über eine breiter oder knapper auszuführende Version lag sicher in der Hand des Auftraggebers, also entweder des späteren Besitzers oder eines Agenten/Händlers, der zumindest teilweise auch die (Vor-)finanzierung übernahm; in dieser Rolle konnten, wie erwähnt, gelegentlich auch die Leiter von Wirkerwerkstätten auftreten. Nach allen Kriterien – der vollständigen Anzahl von neun Tapisserien, der breiten und detailreichen Ausformulierung der Kompositionen und der generösen Verwendung von Metallfäden sowie Seide in kontraststarken, langfristig stabilen Färbungen  – darf die Münchner Paulus-Folge als anspruchsvollste und zweifellos ursprünglich auch kostspieligste der bekannten Editionen gelten. Lange wurde deshalb angenommen, sie müsse im ausdrücklichen Auftrag Herzog Albrechts V. entstanden sein; kaum vorstellbar schien, dass eine Werkstatt oder ein Agent das Risiko einer so großen Investition auf sich genommen hätte, ohne vorher einen Kontrakt mit einem künftigen Besitzer geschlossen zu haben. In den Münchner Archiven gab es für einen solchen Auftrag keinen Beleg, doch schien die Bordüre der Paulus-Folge, die in der Planeten-Serie des bayerischen Hofes ein Pendant hat,18 ein Indiz dafür zu bieten, dass der Herzog hier seine persönlichen Entscheidungen zum Tragen gebracht hätte. Erst vor Kurzem konnte nachgewiesen werden, dass sich die Paulus- und die Planeten-Serie 1563 im Besitz des Bankiers und Agenten Hans Fugger in dessen Antwerpener Niederlassung befanden; zwei Jahre später wurden sie in einem Brief an Kaiser Maximilian II. erwähnt, der sich jedoch zu einer Erwerbung nicht entschließen konnte. Bald darauf fanden sie ihren Käufer in Herzog Albrecht V. von Bayern, in dessen Inventar von 1571 sie aufgeführt sind.19 Zweifellos war der Kreis potentieller Erwerber für Tapisserien dieser Qualitätsstufe klein; Händler und Vermittler mussten damit rechnen, auch große Serien über mehrere Jahre in ihren Lagern halten zu müssen, bevor sie ihren Einsatz zurückbekommen und einen Gewinn erzielen konnten. Zugleich kennen wir aber eine Reihe von Situationen, in denen Fürsten mehrere Serien en bloc erwarben, um für Ereignisse von hohem Repräsentationsanspruch gerüstet zu sein; es konnte sich also lohnen, genau dafür das richtige Material bereitzuhalten. Zusammenfassend lässt sich für die Herstellungsprozesse von Tapisserien sagen: Zugrunde lag ihnen immer ein Entwurf, der von einem Maler (und dessen Werkstatt) zunächst als Kompositionsskizze, dann als großformatiger Karton ausgeführt wurde. Ver-

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gleichende Analysen von Kompositionsentwürfen (petits patrons), Vorlagen für die Wirkerei im Maßstab 1:1 (grands cartons) und schließlich den Tapisserien selbst lassen erkennen, dass jedes Medium über eigene Modi der Visualisierung verfügte, die bei der Übersetzung in ein anderes Transferleistungen erforderten, damit aber auch Freiräume für die weitere Ausgestaltung eröffneten. Die Bandbreite materieller und stilistischer Ausdifferenzierungen, die die Wirkerateliers auf der Grundlage ein und derselben Kartons realisierten, legt davon eindrucksvolles Zeugnis ab. Insgesamt war der Anteil der Wirker an der Realisierung von Tapisserien außerordentlich groß: Sie interpretierten die Kartons, die ihnen als Arbeitsgrundlage zur Verfügung gestellt wurden, und nutzten dabei beträchtliche gestalterische Freiräume; im Ergebnis erreichten sie, dass sukzessive Editionen einer Serie, auch wenn sie auf denselben Kartons (oder Kopien davon) beruhten, nicht als ,Reproduktionen‘ oder gar ,Doubletten‘ anzusehen sind. Wenn nicht ein Auftraggeber (dies konnte, wie gesagt, ein zukünftiger Eigentümer/Nutzer der Tapisserien sein, aber auch ein Kunsthändler oder Agent) die Auswahl der Bordüre traf und das Ausstattungsniveau (Anteile von Wolle, Seide, Metallfäden) definierte, so wurden diese Entscheidungen durch den Leiter der Wirkerwerkstatt getroffen. Selbstverständlich mussten die Verantwortlichen dabei vor allem ihr unternehmerisches Risiko – zusammengefasst in der Frage, ob sie für eine Edition, die möglicherweise Arbeitskräfte und einen hohen finanziellen Einsatz über Jahre band, einen Käufer finden würden – in Anschlag bringen. Dies schloss aber, wie wir gesehen haben, auch die Realisierung umfangreicher und höchst qualitätvoller Serien unter solchen Bedingungen nicht aus. Nehmen wir aber schließlich auch die Auftraggeber, die – wie etwa Papst Leo X. – Tapisserien für den eigenen Gebrauch anfertigen ließen, in den Blick: Im Vergleich zum Ankauf einer Serie aus den Beständen, die Kunsthändler und Agenten zur Auswahl bereithielten oder kurzfristig vermitteln konnten, war bei der Bestellung einer eigens geplanten, vielleicht sogar exklusiven Serie immer eine längere Wartezeit, zumeist mehrere Jahre, in Kauf zu nehmen. Stand die Erwerbung von Tapisserien mit einem besonderen Ereignis (einer fürstlichen Hochzeit, einer Rangerhöhung oder Krönung, alle nicht immer langfristig planbar) in Zusammenhang, so war es sicher von Vorteil, auf unmittelbar verfügbare Tapisserien zugreifen zu können. Spielte der Faktor Zeit jedoch keine Rolle, dann bot die Bestellung einer neu anzufertigenden Serie höchst attraktive Optionen: Zunächst konnte ein Bildprogramm in Umfang und Aussage neu entworfen oder ein bestehendes Programm entsprechend modifiziert werden; bewährte Hofmaler waren mit solchen Aufgaben zu betrauen, möglicherweise konnte man aber auch einen besonders namhaften Künstler dafür gewinnen. Die Auswahl einer Bordüre, die ebenfalls Raum für individuelle Details (zusätzliche Bildfelder, Inschriften, Wappen) bot, war der nächste Schritt. Schließlich war über die Materialität der Tapisserien (Wolle und Seide in mehr oder weniger hohen Anteilen, den Einsatz von Metallfäden) zu entscheiden, die im Hinblick auf ihre künftige Verwendung von außerordentlicher Bedeutung war: Jonas Leysieffer konnte jüngst für die Praktiken des Tapisseriegebrauchs am Münchner Hof des 16. und 17. Jahrhunderts präzise herausarbei-

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ten, dass die Auswahl von Bildteppichen für einen bestimmten Anlass, den Ort ihrer Hängung und den Rang der Gäste, die mit oder im Rahmen so ausgeschmückter Räume geehrt werden sollten, einer sorgfältigen Regie unterlag. Um eine Vergleichbarkeit der Ausstattungen über eine Reihe von Ereignissen hinweg zu gewährleisten (fürstliche Gäste sowie Gesandte als Repräsentanten eines anderen Hofes sollten nicht über Gebühr ausgezeichnet, aber natürlich auch nicht gegenüber anderen zurückgesetzt werden), wurden die Entscheide schriftlich festgehalten. Dies bedeutet zwingend, dass ein Hof über Tapisserien höherer und geringerer Qualitätsstufen verfügen musste, um Rangunterschiede im Hinblick auf Ereignisse und auf die beteiligten Personen augenfällig ins Werk setzen zu können.20 Wir dürfen wohl annehmen, dass die Erwerbung von zwei Folgen zur Geschichte des Apostels Paulus durch König Heinrich VIII. von England, die eine mit, die andere ohne Goldund Silberfäden gewirkt, im Kontext solcher Repräsentationspraktiken begründet ist. Weitere Möglichkeiten der Ausdifferenzierung eröffneten sich den Besitzern/Nutzern schließlich im performativen Gebrauch der Tapisserien: Deren Auswahl für spezifische Ereignisse und die Räume (Festsäle, Appartements, gegebenenfalls auch Außenräume), in denen sie gehängt werden sollten, lag in der Entscheidung des Fürsten oder einer dazu bestimmten und mit den Erfordernissen des Zeremoniells vertrauten Person. Sie verfügten damit über ein höchst aussagekräftiges Medium politischer Kommunikation, das sowohl über die Bildinhalte als auch über die Materialität der Tapisserien funktionierte. Im Hinblick auf die Letztere ist schließlich ein weiteres Element zu nennen, das bisher in der Forschung noch keine Beachtung gefunden hat  – die anlassgebundene Ausgestaltung von Tapisserien mit Edelsteinen, Perlen und anderem wertvollen Schmuck: Als der burgundische Herzog Karl der Kühne im Oktober 1473 in Trier den Kaiser empfing, waren – so ein zeitgenössischer Bericht – alle Festräume mit Stoffen und Tapisserien von unbeschreiblicher Kostbarkeit ausgestattet. Den Bankettsaal aber schmückte die gewaltige Gideon-Folge, die der Vater Karls, Philipp der Gute, hatte anfertigen lassen; für diesen Anlass hatte man die Tapisserien mit kostbaren Edelsteinen benäht, die hervorleuchteten und funkelten wie Sterne.21 Offenbar gewann der Burgunderherzog den Tapisserien ­Effekte ab, die etwa der Malerei nicht zu Gebote standen: Die aufgesetzten Steine ver­ liehen den textilen Objekte Reliefwirkungen; im Lichte von Kerzen, Fackeln und Kaminfeuern ließen sie die großformatigen Bilder lebendig werden. Der burgundische Hof war möglicherweise der erste, jedenfalls aber nicht der letzte, an dem die Tapisserien, ohnehin die wertvollsten Objekte im Dienste fürstlicher Repräsentation, auf diese Weise in ihrer Wirkung gesteigert wurden. Festberichte, aber auch Anweisungen an die Verwalter der Schatzkammern und Mobilien belegen die Praxis. An den Tapisserien selbst lässt sie sich im Allgemeinen nicht nachvollziehen; da die Textilien für die Aufbewahrung im Depot gefaltet oder gerollt wurden, mussten aufgenähte Objekte, so klein sie auch waren, vorher wieder abgetrennt werden. Sie hätten sonst verloren gehen oder beschädigt werden, aber auch ihrerseits den empfindlichen Wirkereien Schaden zufügen können. Nach derzeitigem Kenntnisstand bezeugt allein ein aus der Kunstkammer der Münchner Residenz überlie-

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fertes Objekt die Ausstattung von Tapisserien mit Edelsteinen und Perlen: Eine heute im Bayerischen Nationalmuseum befindliche Elfenbeindose, deren Außenseiten mit Goldemails, Korallen, Lapislazuli und Edelsteinen geschmückt sind, bewahrt in ihrem Inneren zwei in Gold und Seide gewirkte Portraits der Kinder Herzog Wilhelms  V. von Bayern, Maximilian (der spätere erste Kurfürst) und dessen Schwester Christierna (Abb. 7).22 Die bayerischen Herzöge – Wilhelm V. und dessen Vater Albrecht V. sind hier vor allem zu nennen – schätzten die Bildwirkerei hoch und erwarben eine umfangreiche Sammlung für die Ausstattung ihrer Residenzen. Schon früh bemühten sie sich, Brüsseler Wirker anzuwerben und in München eine eigene Manufaktur zu begründen. Einer der ersten Brüsseler Tapissiers, der nachweislich in Diensten eines bayerischen Herzogs stand, war Jan de la Groze, den Wilhelm V. 1575 für seine Hofhaltung in Landshut gewann; er arbeitete bis 1583 für den Herzog. Nach den erhaltenen Quellen ist keines seiner Werke eindeutig zu identifizieren; großformatige Bildteppiche konnte er allein oder jedenfalls ohne erfahrene Mitarbeiter wohl kaum bewältigen. Die kostbaren Portraits, kaum 17 cm hoch, aber sind als Arbeit eines Spezialisten anzusprechen: Mit einer Kettdichte von etwa 20 Fäden pro Zentimeter sind sie außerordentlich fein gewirkt, und als Schussmaterial wurde nur Gold und farbige Seide verwendet; kleinste Details, etwa in den Spielzeugen, die die Kinder halten, ließen sich so mit äußerster Präzision darstellen. Die Vorlagen für diese Bildnisse sind wahrscheinlich einem der Hofmaler Wilhelms V. (möglicherweise Friedrich Sustris, der ab 1573 für den Herzog tätig war) zu verdanken. Beide Portraits zeigen ihre Protagonisten vor einem Fenster mit Ausblick in eine Landschaft. Eine Säule beziehungsweise ein Pfeiler im Hintergrund tragen deren Namen und Titel. Kartuschen unterhalb der Bildnisse geben das Alter der Kinder und das Entstehungsjahr 1576 für die Portraits an. Ihrem Stand entsprechend sind beide Kinder nach der zeitgenössischen Mode gekleidet: Maximilian trägt ein enganliegendes Wams mit betonten Schultern, das auf der Vorderseite mit einer Reihe dicht nebeneinandergesetzter Knöpfe geschlossen ist. Die Ärmel eines Unterwamses sind mit aufgesetzten, horizontal verlaufenden Bändern dekoriert. Halsund Handkrausen vervollständigen das Gewand. In der Öffnung des Wamses unterhalb der Taille ist die braguette der Hose eben zu erkennen; offenbar sollte diese Kleidung den offiziellen Charakter des Bildnisses unterstreichen.23 Auch die kleine Christierna tritt uns als Fürstin gegenüber: Sie trägt ein rotes, mit Perlen verziertes Gewand, dessen geschlitzte Hängeärmel die eng anliegenden, weißen Unterärmel hervorsehen lassen. Hals- und Handkrausen gehören auch zu ihrer Ausstattung. Beide Portraits – und dies ist hier hervorzuheben – wurden nicht nur in reichem Maße mit Goldfäden gewirkt, sondern auch mit wirklichen Schmuckstücken ausgezeichnet: Flussperlen, die mit feinen Golddrähten befestigt sind, bilden die Knöpfe am Wams Maximilians. Auch die geschlitzten Ärmel Christiernas sind mit Perlen besetzt; zwei gewirkte Ketten unterschiedlicher Länge rahmen den Schmuckanhänger einer dritten, kürzeren, der als Goldschmiedearbeit ausgeführt ist und einen Bergkristall in der Mitte sowie eine angehängte größere Perle trägt. Ein Diadem in ihrem Haar ist aus Perlen und winzigen Schmucksteinen und Emails, die sich zu Rosetten-

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7  Portraits von Maximilian und Christierna von Bayern, gewirkt von Jan de la Groze (Entwerfer unbekannt, möglicherweise Friedrich Sustris?), München 1576, München, Bayerisches Nationalmuseum.

blüten zusammenschließen, gebildet. Die Schmuckstücke müssen eigens für die gewirkten Bildnisse angefertigt worden sein; sie sind zu klein, als dass sie auch nur von einem Kind hätten getragen werden können (Farbabbildung 4). Wir dürfen wohl annehmen, dass sie als integrale Bestandteile bereits zur Konzeption des Kunstkammerobjekts, das die Elfenbeindose mit den Portraits darstellt, gehörten (vgl. auch Farbabbildung 4). Dünne Glasscheiben, die von hölzernen Rahmen gehalten werden, decken die Wirkereien innerhalb der Dose ab und schützen sie vor Staub wie vor Zugriffen. Zu keinem Zeitpunkt wurden diese winzigen Tapisserien eingerollt oder gefaltet; es war also nicht nötig, die Schmuckstücke auch nur gelegentlich abzunehmen und getrennt von ihren angestammten Trägern aufzubewahren. Für die großformatigen Tapisserien, die zu festlichen Ereignissen Audienz- und Bankettsäle schmückten, konnte dies nicht gelten. Perlen und Edelsteine, gelegentlich wohl auch eigens für sie angefertigte Schmuckstücke mussten nach deren Einsatz jeweils wieder an die Schatzkammer, die sie ausgegeben hatte, zurückerstattet werden.24 Festhalten lässt sich aber, dass diese Praktiken den fürstlichen Besitzern der Tapisserien erlaubten, auch noch nach deren Fertigstellung Einfluss auf das tatsächliche Erscheinungsbild ihres wertvollsten Kunstbesitzes zu nehmen. Dürfen die Tapisserien als hervorragendstes Medium politischer Kommunikation an den Höfen der Frühen Neuzeit gelten, so bot sich damit eine Möglichkeit, deren Wirkmacht noch weiter zu steigern, und die Fürsten nutzten dieses Potential und ihre eigenen Gestaltungsräume.

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Wenn wir – um die Abläufe in Entwurf, Herstellung und Gebrauch von Tapisserien nun zusammenzufassen und zu bewerten – als Akte künstlerischer Tätigkeit nicht allein die Entwicklung eines ikonografischen Programms und die zeichnerische Formulierung von Bildern anerkennen, sondern als Kunstwerke die Objekte wahrnehmen, auf die Entwurf und Ausführung zielten und die ein Auftraggeber als Erfüllung seiner Vorgaben zu erhalten wünschte, dann erscheint es folgerichtig, allen an der Realisierung dieser Kunstwerke Beteiligten auch eine Mitautorschaft zuzusprechen. Der Auftraggeber einer Tapisserie oder Tapisseriefolge bestimmte das Thema für diese; er konnte entweder aus einer Reihe verfügbarer Entwürfe/Kartons wählen oder einen Maler bestimmen, der ein neues Bildprogramm entwickeln und mit seiner Werkstatt die Kartons als Arbeitsgrundlage für die Wirker ausführen sollte. Der Auftraggeber entschied auch über Umfang und Materialität der Serie und traf damit wesentliche Vorentscheidungen für die Wahrnehmung und Bewertung der Tapisserien. Der Entwurf definierte eine Komposition oder äußere Form und zielte auf deren Realisierung/Materialisierung; zugleich nahm jedoch der Entwurfszeichner keinen Einfluss auf die konkrete Ausführung, die auch an einem weit entfernten Ort und/oder zu einem deutlich späteren Zeitpunkt stattfinden konnte. Zwischen dem Entwurfszeichner und dem Wirkeratelier gab es zumeist keine Kommunikation;25 die Arbeit dieser Personen und ihre Verantwortlichkeit für die Tapisserie als das Kunstwerk, das als Ergebnis ihrer Tätigkeiten gelten soll, sind deshalb auch nicht als ‚kooperativ‘ zu bezeichnen. Die Wirker interpretierten die Kartons auf der Grundlage der Vorgaben, die der Auftraggeber im Hinblick auf die Materialwahl definiert hatte. Sie waren dafür verantwortlich, dass die Farbigkeit einer Tapisserieserie einem übergreifenden Konzept folgte; dabei konnten sie Entscheidungen über die Farbwahl für einzelne Motive, über die ornamentale Ausgestaltung von Binnenflächen oder die Modellierung von Körpern weitgehend unabhängig von den Kartons treffen. Die Wirker sorgten dafür, dass die Tapisserien die Reliefund Lichteffekte erzielen konnten, die für die textilen Kunstwerke charakteristisch sind und die sie von gemalten Bildern unterscheiden. Bis ins 18. Jahrhundert wurden Tapisserien kaum je dauerhaft in einem Interieur installiert, sondern allein zu spezifischen Anlässen gehängt. Dabei konnten ihre Einsatzorte wechseln und selbst Außenräume einbeziehen. Die Besitzer/Nutzer wählten Räume und Anordnungen für ihre Tapisserien und definierten damit die Situationen, in denen diese als Medium höfischer Repräsentation und politischer Kommunikation wirken konnten. Durch das Hinzufügen von Perlen, Edelsteinen und anderen Schmuckelementen ließen sich diese Inszenierungen noch deutlich verstärken. Von ihrer Konzeption bis zu ihrem performativen Gebrauch waren die Tapisserien Gegen­stand einer Vielzahl von Entscheidungen, Auswahl- und auch Aushandlungsprozessen. Alle daran mitwirkenden Personen trugen verantwortlich zu dem Erscheinungsbild und dem kommunikativen Potential der Kunstwerke bei; die Anerkennung ihrer ‚pluralen Autorschaft‘ liegt darin begründet.

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Anmerkungen 1

Für anregende Diskussionen zu diesem Themenfeld danke ich Barbara Welzel, die den Begriff im Kontext ihrer Forschungen zur Druckgrafik einführte: Barbara Welzel, Zur Vielfältigkeit eines Bildmediums. Monochrome und illuminierte Druckgraphik im frühen 16. Jahrhundert, in: Der Bordesholmer Altar des Hans Brüggemann, hrsg. von U. Albrecht u. a., Berlin 1996, S. 181–189.



Auf das Medium der Tapisserie bezogen verwendete ihn Birgit Franke, Tapisserie  – ‚portable grandeur‘ und Medium der Erzählkunst, in: Die Kunst der burgundischen Niederlande. Eine Einführung, hrsg. von B. Franke und B. Welzel, Berlin 1997, S. 121–139.

2

Wenn Archivalien die Namen von Künstlern nennen, die Entwürfe oder Kartons für Tapisserien lieferten, so haben sich die zugehörigen Wirkteppiche nicht erhalten; vgl. Anna Rapp Buri und Monica Stucky-Schürer, Burgundische Tapisserien, München 2001, bes. S. 404–408.

3

Sammlungen von Wirkermarken und entsprechende Quellenstudien haben es erlaubt, nicht wenige der in die Galons der Tapisserien gewirkten Marken zu entschlüsseln; es bleiben jedoch eine Reihe von Marken, die bisher nicht aufgelöst werden konnten: Isabelle Van Tichelen und Guy Delmarcel, Merken en handtekeningen op Vlaamse wandtapijten. Een methodische bijdrage, in: Merken opmerken. Merk- en meestertekens op kunstwerken in de Zuidelijke Nederlanden en het Prinsbisdom Luik. Typologie en methode, hrsg. von Ch. van Vlierden und M. Smeyers, Leuven 1990, S. 1–22; Isabelle Van Tichelen und Guy Delmarcel, Marks and Signatures on Ancient Flemish Tapestries. A Methodological Contribution, in: Conservation Research. Studies of Fifteenth- to Nineteenth-Century Tapestry (Studies in the History of Art 42), hrsg. von L. Stack, Washington DC 1993, S. 57–70.

4

Das bekannteste erhaltene Beispiel stellt die vierteilige Marienfolge – auch Die goldenen Wirkereien genannt – dar, die Johanna von Kastilien, Gemahlin Erzherzog Philipps von Österreich, 1502 aus der Werkstatt Pieter van Aelsts erwarb: Paulina Junquera de Vega und Concha Herrero Carretero, Catálogo de Tapices del Patrimonio Nacional I, Siglo XVI, Madrid 1986, S. 1–5; Concha Herrero Carretero, Tapices donados para el culto de la iglesia vieja, in: Iglesia y Monarquía. La Liturgia, IV Centenario del Monasterio de El Escorial, Patrimonio Nacional, Madrid 1986, S. 93–116.

5

Grundlegend zur Geschichte der Tapisserien und der Kartons: John Shearman, Raphael’s Cartoons in the Collection of her Majesty the Queen and the Tapestries for the Sistine Chapel, London 1972.

6

Sieben der zehn Kartons sind erhalten. Sie sind heute Eigentum Ihrer Majestät, der Königin von England (Royal Collection); als Leihgaben befinden sie sich im Victoria and Albert Museum, London (Inv.-Nr. RCIN 912944–912950).

7

Zu den Tapisserien im Kontext der zeitgenössischen Brüsseler Produktion: Guy Delmarcel, Flemish Tapestry, New York/London 1999, bes. S. 86–94 und 142–146; Thomas P. Campbell, Tapestry in the Renaissance. Art and Magnificence, Ausst.-Kat. (New York, The Metropolitan Museum of Art, 2002), New Haven/London 2002, S. 187–218.

8

Aus Anlass dieses Staatsbesuches wurden vier der vatikanischen Tapisserien nach London gebracht und dort im Victoria and Albert Museum neben den Kartons ausgestellt; nach 500 Jahren wurde damit ein Vergleich möglich, der auch Raffael und seinem Auftraggeber verschlossen geblieben war: Raphael. Cartoons and Tapestries for the Sistine Chapel, Ausst.-Kat. (London, Victoria and Albert Museum, 2010), hrsg. von M. Evans und C. Browne, mit A. Nesselrath, London 2010.

9

Dies geschah, soweit erhaltene Quellen Auskunft dazu geben, nur sehr selten. Belegt ist der Vorgang für die Anfertigung der berühmten Gideon-Folge für Herzog Philipp den Guten; der Herzog bezahlte 8960 écus d’or, eine enorme Summe, für die Tapisserien und 300 écus d’or für die Kartons. Die Letzteren werden später nie mehr erwähnt, es scheint, dass sie als eigenständige Kunstwerke keine Rolle spielten; die Erwerbung zielte allein darauf, eine weitere Edition der Folge zu verhindern.

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10 Zu den frühen Auftraggebern für die Folge gehörten König Franz I. von Frankreich und Heinrich VIII. von England. Bis ins späte 17. Jahrhundert wurden etwa fünfzig Editionen der Apostelgeschichte nach Raffael gewirkt. 11 Zuletzt ausführlich in: Grand Design. Pieter Coecke van Aelst and Renaissance Tapestry, Ausst.Kat. (New York, The Metropolitan Museum of Art, 2014), hrsg. von E. Cleland, New York 2014, bes. S. 124–145 (Guy Delmarcel). 12 Die Tapisserien im Besitz der französischen Krone wurden 1797 verbrannt. Von den sieben PaulusTapisserien Marias von Ungarn sind fünf in der Sammlung des Patrimonio Nacional, Madrid, erhalten: Junquera de Vega und Herrero Carretero 1986 (Anm. 4), S. 230–235. 13 Von ihr werden heute noch vier Tapisserien im Kunsthistorischen Museum, Wien, bewahrt. – Rotraud Bauer, Tapisserien der Renaissance nach Entwürfen von Pieter Coecke van Aelst, Ausst.-Kat. (Schloss Halbturn, 1981), Eisenstadt 1981, S.  37–53.  – Katja Schmitz-von Ledebur, Fäden der Macht. Tapisserien des 16. Jahrhunderts aus dem Kunsthistorischen Museum, Ausst.-Kat. (Kunsthistorisches Museum, 2015), hrsg. von S. Haag, Wien 2015, bes. S. 45–65. 14 Fragmente dieser sicher ursprünglich prestigeträchtigen Erwerbung werden heute im Schlossmuseum Arnstadt bewahrt: Günther XLI. Graf von Schwarzburg. Flämische Tapisserien des 16. Jahrhunderts, Ausst.-Kat. (Arnstadt, Schlossmuseum, 2010), hrsg. von M. Klein, Jena 2010, bes. S. 189–203 (Matthias Klein). 15 Sie gehört heute zum Sammlungsbestand des Bayerischen Nationalmuseums. Die neun großen, querrechteckigen Tapisserien wurden zu Beginn des 17. Jahrhunderts in der Tapisserie-Manufaktur, die Kurfürst Maximilian I. an seinem Hof begründet hatte, um zwei Entre-fenêtres mit den Figuren der Apostel Petrus und Paulus ergänzt; dazu Birgitt Borkopp-Restle und André Brutillot, L’Histoire de Saint Paul et ses additions – une série de tapisseries du Musée national de Bavière, in: Flemish Tapestry in European and American Collections. Studies in Honour of Guy Delmarcel, hrsg. von K. Brosens, Turnhout 2003, S. 185–190, Abb. S. 220–222. 16 Musée de la Ville de Bruxelles. Der Karton, der, aus 61 Einzelblättern bestehend, 342 cm in der Höhe und 384 cm in der Breite misst, wurde von 2015 bis 2017 aufwendig restauriert (https:// www.brusselscitymuseum.brussels/fr/decouvrir/chefs-doeuvre/le-martyre-de-saint-paul [zuletzt aufgerufen 2. April 2020]). Die Ergebnisse eines begleitenden Forschungsprojekts sollen demnächst publiziert werden. 17 Eine fein ausgearbeitete Tuschezeichnung zur Predigt vor den Frauen von Philippi (ein petit patron, seitenverkehrt im Verhältnis zur Tapisserie) besitzt die Staatliche Graphische Sammlung, München (Inv.-Nr. 1927:79 Z); die hier ausgeführte Szene ist sogar noch breiter als die der Tapisserie des Bayerischen Nationalmuseums. – Die Wiener Ergreifung Pauli im Tempel gibt nur eine von zwei Teilszenen wieder und reduziert das Bildfeld gegenüber der Münchner Ausführung auf etwa die Hälfte. Vgl. Grand Design 2014 (Anm. 11), S. 150–153 und 162–164. 18 Katja Schmitz-von Ledebur, Die Planeten und ihre Kinder. Eine Brüsseler Tapisserienserie des 16. Jahrhunderts aus der Sammlung Herzog Albrechts V. in München (Studies in Western Tapestry 3), (Diss., Universität Bonn, 2000), Turnhout 2009. Zur Bordüre der Paulus-Serie: Saskia DurianRess, Die Bordüre der Münchner Paulus-Serie, in: Documenta Textilia. Festschrift für Sigrid MüllerChristensen (Forschungshefte des Bayerischen Nationalmuseums 7), hrsg. von M. Flury-Lemberg und K. Stolleis, München 1981, S. 213–233. 19 Vgl. Delmarcel, in: Grand Design 2014 (Anm. 11), S. 131, mit detaillierten Angaben zu den Archivalien. 20 Jonas Leysieffer, Reputation und Affection. Tapisserien als Teil der politischen Kultur der Frühen Neuzeit. Die Tapisseriesammlung von Albrecht V., Wilhelm V. und Maximilian I. von Bayern (Diss., Universität Bern, 2018), Druck in Vorbereitung.

94 I Birgitt Borkopp-Restle

21 Libellus de magnificentia ducis Burgundiae in Treveris visa conscriptus, in: Basler Chroniken, hrsg. von C. C. Bernoulli, Bd. 3, Leipzig 1887, S. 332–364. 22 Bayerisches Nationalmuseum, Inv.-Nr. R 1554, vor 1868 überwiesen aus den königlichen Sammlungen. – Brigitte Volk-Knüttel, Jan de la Groze, ein Brüsseler Tapissier am Hof Wilhelms V. von Bayern, in: Documenta Textilia. Festschrift für Sigrid Müller-Christensen (Forschungshefte des Bayerischen Nationalmuseums 7), hrsg. von M. Flury-Lemberg und K. Stolleis, München 1981, S. 234–250; Birgitt Borkopp-Restle, Mit großen Freuden, Triumph und Köstlichkeit. Textile Schätze aus Renaissance und Barock. Bestandskatalog des Bayerischen Nationalmuseums, München 2002, S. 38–41. 23 Üblicherweise trugen Knaben in so jungem Alter noch keine Hosen, sondern lange Kleidchen, die denen der Mädchen ähnelten; zahlreiche zeitgenössische Portraits belegen diese Praxis. 24 Die Frage, zu welchen Anlässen und in welchem Umfange dies geschah, und noch grundlegender an welchen Höfen solche Auszeichnungen mehr oder weniger regelmäßig vorgenommen wurden, kann derzeit noch kaum beantwortet werden; sie ist Teil eines größeren Forschungsprojekts, das einschlägige Quellen neu in den Blick nimmt. 25 Dies änderte sich in dem Moment, in dem Werkstätten oder Manufakturen an den Höfen gegründet wurden und dort Maler in unmittelbaren Austausch mit den Wirkern traten; als Beispiel – mit höchst eindrucksvollen Ergebnissen – darf etwa die unter Kurfürst Maximilian I. am bayerischen Hof eingerichtete Werkstatt gelten (Brigitte Volk-Knüttel, Wandteppiche für den Münchener Hof nach Entwürfen von Peter Candid, München 1976).

Plurale Autorschaft I 95

Stefania Girometti

Guido Reni Inventor? Zur Entstehung kreativen Potentials in Renis Bologneser Werkstatt

Degli allievi della sua scuola è impossibile il metterne assieme un registro, anche mediocre, perchè talora fu che ne contammo sino a dugento di ben cogniti, fra i quali uomini insigni, e maestri grandi [...]1

Die Behauptung des Bologneser Künstlerbiografen Carlo Cesare Malvasia (1616–1693), dass mehr als 200 Maler als Schüler Guido Renis (1575–1642) betrachtet werden könnten, ist vermutlich unrealistisch und übertrieben, bestätigt jedoch den weit über die Landesgrenzen hinausreichenden, die Alpen überquerenden Ruhm des Meisters.2 Malvasia zufolge befanden sich neben den Italienern mehrere Flamen und Franzosen unter seinen Mitarbeitern. Angesichts der Schülerschar stellt sich die Frage nach Renis Atelierpraxis. Sich diese vorzustellen ist schwierig, da wir über die konkreten Abläufe nur durch Malvasia informiert sind, der diese Informationen wiederum von Renis früheren Mitarbeitern oder Auftraggebern hatte, jedoch nie direkt die Werkprozesse im Atelier beobachtete. Unmittelbare Alltagsbeschreibungen, wie sie ein Mitarbeiter hätte verfassen können, sind hingegen nicht überliefert. Diese könnten sicherlich den heutigen Wissensstand über Transferprozesse innerhalb der Werkstatt erheblich bereichern und über die Organisation der Arbeit unter den Beteiligten sowie über die Kontakte zu Kunden und Materialhändlern Auskunft gegeben. Bedingt durch Renis Arbeitspraxis stellt die Unterscheidung zwischen „Original“ und „Kopie“, also zwischen einem eigenhändigen und allein durch den Meister ausgeführten Gemälde und einer Werkstattproduktion, eine der größten Herausforderungen der Forschung dar. Der vorliegende Beitrag soll skizzieren, wie die Arbeitsorganisation innerhalb der großen Werkstatt Renis zu denken ist, welche Gestaltungsmöglichkeiten den dynamischkreativen Prozess der Werkgenese prägten und inwieweit die Hierarchisierung der arbeitsteiligen Produktion Einfluss auf die Verbreitung der Modelle außerhalb der Werkstatt hatte. Als Akteur innerhalb dieses Netzwerks3 wirkte in erster Linie Reni selbst, der meistgefeierte unter den Bologneser Malern des 17. Jahrhunderts. Erst in den letzten drei Jahrzehnten hat in der kunsthistorischen Forschung die langsame Rehabilitierung seiner Mitarbeiter eingesetzt, deren wichtige Rolle im Kontext der Werkstattkooperation bislang

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jedoch nicht flächendeckend untersucht worden ist.4 Um diese Lücke zu schließen, wird im zweiten Teil des Aufsatzes im Rahmen einer Fallstudie die Rolle von Michele Desubleo, eines zu Unrecht wenig beachteten Mitarbeiters, analysiert.

Organisation der Werkstatt Zu Beginn der 1630er Jahre war Reni sowohl in Bologna als auch jenseits der städtischen Grenzen auf dem Höhepunkt seines Ruhmes. Wie der Seicento-Experte Daniele Benati zu Recht betont, wurde der Meister nicht nur von dem traditionell kunstaffinen (Hoch-)Adel und dem Klerus, sondern auch von den reichen Händlern geschätzt – ein Werturteil, das mit der Organisation seines Ateliers eng verbunden ist.5 Bedeutet doch eine zahlreiche Kundschaft die Produktion von einer großen Anzahl von Kunstwerken, die der Meister zu liefern hat – so muss er über eine Werkstatt verfügen, die zur raschen Produktion von Gemälden logistisch in der Lage ist. Schüler und Mitarbeiter wurden deshalb dazu ausgebildet, Kopien und Varianten von Renis Werken anzufertigen (die sogenannten „varianti di studio“), anhand derer die Bilderfindungen des Meisters nicht nur bei wohlhabenden Adelsfamilien, sondern auch bei der Universität verbundenen Intellektuellen und (Groß-) Händlern Verbreitung finden konnten.6 Renis Antwort auf die stetig wachsende Nachfrage nach Bildern konkretisierte sich zugleich in einer differenzierten Produktpalette. Dazu zählten Heiligendarstellungen, profane und biblische Szenen, die von dem in jeder Arbeitsphase persönlich betreuten Meisterwerk bis zu der von Schülern angefertigten und vom Meister überarbeiteten Replik reichten.7 Besonders gefragt waren die genuinen Bologneser „quadri da stanza“, die sowohl adlige Galerien als auch (Groß)Händlerwohnungen schmückten und die Reni eine schichtenübergreifende Präsenz in den Kunstsammlungen seiner Stadt sicherten.8 Um diese deutlich auf die Befriedigung einer großen Nachfrage ausgerichtete „Massenproduktion“ bewältigen zu können, nutzte Reni das System eines großen Ateliers, das möglicherweise von Raffaels römischer Werkstatt inspiriert und hierarchisch unter strenger Leitung des Meisters organisiert war.9 Um dies zu verstehen, müssen zunächst die Begrifflichkeiten in Bezug auf Renis Arbeitsort geklärt werden. Wie Raffaella Morselli überzeugend darlegt, können die stanze in der Bologneser Via delle Pescherie nicht als bottega (Geschäft) bezeichnet werden, da dort keinerlei Verkaufsraum mit direktem Zugang zur Straße und Schaufenster existierte. Vielmehr handelte es sich um Räume (stanze), die auf zwei obere Stockwerke verteilt waren, in denen Reni sowohl arbeitete und seine Schüler ausbildete als auch wohnte. Wenn es um die Bezeichnung von Guido Renis stanze geht, trifft daher etymologisch betrachtet der moderne Begriff des Ateliers am besten zu.10 Die Organisation der Werkstatt basiert auf den ökonomischen Bedingungen, die den Zugang und die Mitarbeit regelten: Betont doch Malvasia, wie Guido Reni von seinen Schülern monatlich eine doppia (als Gebühr) für die Ausbildung im Atelier verlangte:

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Diceva [Guido Reni] parimente, che come s’usa alla scuola di Grammatica, così in quella del disegno dovrebbero pagare gli scolari al Maestro una doppia al mese; perch’egli con qualche amore e per debito avria insegnato loro, ed essi per non buttare il denaro e non averne rimproveri da’ genitori, sariano andato alla stanza per istudiare, non per far tanto chiasso, quanto allora si costumava; oltre che non potendo tutti pagar tanto, la canaglia non si sarìa posta a sì nobile professione [...].11

Laut Malvasia begründete Reni die Gebühr damit, dass seine Schüler aufgrund der hohen Zahlung motivierter arbeiten würden und ihre Lehrzeit ernster genommen hätten. Gleichzeitig habe er die vergleichsweise hohe Summe dazu genutzt, die weniger Interessierten von seinem Atelier fernzuhalten. In Bologna und anderen Städten der italienischen Halbinsel, darunter Florenz, war diese Praxis eine Seltenheit: Vielmehr stellten Lehrlinge ihre Arbeitskraft dem Meister zur Verfügung und erhielten dafür einen Lohn.12 Ungeachtet dieser Maßnahme nahmen die Zahlen von Renis Schüler stets zu.13 Malvasia unterscheidet in seiner Beschreibung der Werkstattorganisation zwischen zwei Praktiken in Renis Atelier: die erste betrifft Aufträge, die vom Meister selbst entworfen und mit einiger Hilfe seiner Schülern aus dem Atelier ausgeführt wurden, die zweite Praxis sieht Renis Einsatz lediglich für Retuschen der von Schülern angefertigten Gemälde vor.14 Interessant ist Malvasia Aversion gegen diese zweite Praxis, da jene retuschierten Kunstwerke seiner Meinung nach nicht als Original betrachtet werden konnten. Tatsächlich bot sie die Möglichkeit zum Missbrauch: Wie Giovan Pietro Bellori in seiner ReniBiografie anprangerte, verkauften die Schüler die vom Meister retuschierten Kopien als Originale und erzielten damit hohe Gewinne.15 Auch Malvasia und Giovan Battista Passeri betonten, dass das Vorgehen Renis Reputation sowohl unter den Sammlern als auch in der Künstlergemeinschaft beschädigte.16 Diese von Reni praktizierte und von seinen Zeitgenossen kritisierte Werkstattorganisation verschärft  – aus aktueller kunsthistorischer Perspektive – die Schwierigkeiten bei der ohnehin bereits heiklen Unterscheidung zwischen Renis Originalen und den vom Atelier angefertigten Kunstwerken.17 Wie Malvasia berichtet, war der Produktionsprozess in mehrere Schritte unterteilt.18 Einer ersten Phase mit der idea folgte das kreative Moment, in dem die Komposition ­zunächst entworfen wurde, um dann kontinuierlich und substantiell nachgebessert zu werden. Für die Skizzierung der Bildidee und die genaue Festlegung der Disposition der Bildelemente war Reni als Werkstattleiter selbst zuständig. Die weitere Ausführung, zu der Farbenauftrag und Farbenmodellierung zählten, überließ er hingegen den Schülern – dies auch im Einklang mit zeitgenössischen kunsttheoretischen Positionen, die im Entwurf das eigentliche künstlerische Vermögen sahen, die künstlerische Ausführung aber in Teilen als „mechanisch“ abwerteten. Aus diesem Grund sind für die Erschließung der Praktiken innerhalb der Werkstatt die erhaltenen Entwurfszeichnungen von höchster Relevanz. Hierzu muss gesagt werden, dass die heute bekannte Anzahl von 300 Zeichnungen nur ein Drittel der im Inventar von Renis Atelier genannten Blätter umfasst.19 Zwar steht die geringe Anzahl der überlieferten Zeich-

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8  Guido Reni, Petruskopf für „Himmelfahrt“, roter und schwarzer Stein, Weißkreide auf beigem Papier, 1616–1617, Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi

nungen mit der oben angesprochenen fortschreitenden Reduktion von Renis Zeichnungspraxis in Verbindung, jedoch unterscheidet diese Besonderheit Renis Produktion von derjenigen seines Zeitgenossen Domenico Zampieri (genannt Domenichino), von dem mehrere Tausend Zeichnungen bekannt sind.20 Besonders ab den 1620er Jahren werden Renis vorbereitende Zeichnungen immer skizzenhafter; der Bologneser Meister schenkte beispielsweise den ikonografischen Merkmalen seiner Figuren immer weniger Aufmerksamkeit. Ein Blick auf die zwei Zeichnungen mit dem Petruskopf (Abb. 8) und dem Marienkopf (Farbabbildung 5) genügt, um sich ein Bild des allmählichen Vereinfachens seiner Studien zu machen. Zwischen beiden Blättern liegen sieben Jahre. Die detaillierte Darstellung des Petruskopfes setzt sich aus zahlreichen, in Intensität und Form stark variierenden Strichen zusammen, die, gekoppelt mit den Weißhöhungen, eine beeindruckende Dreidimensionalität suggerieren. Dahingegen zeichnet sich Marias Kopf durch minimalistische, schnelle Striche und sparsame Weißhöhungen aus. Daran zeigt sich ein essentielles Merkmal von Renis künstlerische Praxis. Denn anders als seine Meister Denis Calvaert und die Carracci ging der Bologneser Maler besonders ab den frühen 1630er Jahren in seinen Zeichnungen mit anatomischen Details

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deutlich sparsamer um – ein Indiz dafür, dass der überwiegende Teil des Kreativprozesses erst während der malerischen Ausführung stattfand.21 Somit wird ersichtlich, welche Konsequenz Renis zunehmend vereinfachte Entwürfe auf die Werkgenese hatten, da die Ausführung und die detaillierten Formfindung an seine Werkstatt delegiert wurden. Daraus folgt, dass Renis Ablehnung akribischer Vorbereitungsstudien auch in unmittelbarem Zusammenhang mit der zunehmenden Einbeziehung der Mitarbeiter bei der Ausführung stand. Diese konnten den Stil des Meisters so gut nachahmen, dass seine Vorentwürfe als Grundlage für die erst durch die Mitarbeiter auszuführenden Kompositionen genügten, bevor die Werke von Reni am Ende ausgebessert wurden. Der erste große ­Auftrag, bei dem die Einbindung der Werkstatt nachweisbar ist, umfasst die Ausmalung der Cappella dell’Annunziata im Quirinalspalast, der päpstlichen Residenz von Paul  V. ­Borghese in Rom.22 Zu den Mitarbeitern zählten Antonio Carracci, Alessandro Albini, Francesco Albani und Giovanni Lanfranco.23 Dank der Beteiligung dieser vielen Werkstattmitarbeiter wurde die Freskierung der Decken und Wände der 540 m2 großen Kapelle in ungefähr sieben Monaten fertiggestellt, so dass die Räumlichkeiten zum Ende des Jahres 1610 eröffnet werden konnten. Aber nicht allein aufgrund der Fresken ist die Kapelle berühmt, sondern auch und vor allem durch eine Anekdote aus Renis Biografie: Traf doch Paul V. bei seinem täglichen Besuch der Kapelle nicht Guido auf dem Gerüst an, sondern seinen Mitarbeiter Lanfranco. Zornig beschwerte sich der Papst über die hohe Summe, die Reni für die Ausstattung verlangt haben soll, ohne sich jedoch direkt an den Arbeiten zu beteiligen. Daraufhin entschuldigte sich Guido beim Papst mit der überlieferten Aussage, dass „sgraffire, sbozzare e campire“ nur Zwischenarbeitsschritte seien, die den beiden eigentlichen Hauptleistung durch den Meister nachfolgen bzw. vorangehen: „oltre che i pensieri e disegni sono i miei, tutto ricopro, finisco e rifaccio“ 24. Guido Reni rückt also seine Autorschaft der invenzioni, das Auffinden der Bildidee sowie deren zeichnerischen Formulierung, sowie die Endretuschen ins Zentrum und bezeichnet sich somit selbst als einzig legitimen inventor der Fresken; die Übertragung des Entwurfs auf die Wand und das Auftragen der Farben, die er von der Werkstatt ausführen lässt, aber wertet er als rein untergeordnete Arbeitsschritte ab. Die häufig in den Verträgen zu findende Formulierung „di sua propria mano“ gilt in der kunsthistorischen Forschung als Bezeichnung für das ingegno, für Renis Idee, die zwangsläufig über seine physischen Hände hinausgeht und die intellektuelle Konzeption als entscheidendes Moment betrachtet.25

Zur Hierarchisierung der arbeitsteiligen Produktion und Verbreitung der Modelle außerhalb der Werkstatt Der kollaborative Charakter der Werkgenese intensivierte sich, als Reni in den 1630er Jahren den Höhepunkt seiner Karriere erreichte. Konzentrierte sich der Meister auf die Köpfe des Bildpersonals, so wurden die übrigen anatomischen Partien durch die Mitarbeiter ausgeführt,

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eine Organisation der Zusammenarbeit, die sowohl dem Meister als auch den Schülern zu Gute kam.26 Zum einen ging diese Praxis mit einer erheblichen, bei den hohen Auftragszahlen notwendigen Beschleunigung der Arbeit einher. Zum anderen war Reni aufgrund mangelnder ikonografischer Kenntnisse Schülern wie Giovanni Andrea Sirani besonders eng verbunden.27 Dieser begabte Zeichner blieb seit den 1630er Jahren bis zu Renis Tod im Jahr 1642 in der Werkstatt und erwies sich dank seines ikonografischen Wissens als einer der wichtigsten Mitarbeiter für den bekanntlich wenig gelehrten Meister.28 Zugleich entsprach die Ausführung der von Reni entworfenen Werke einem unerlässlichen Teil der Schülerausbildung. Was nicht offiziell Teil der Ausbildung war, sich jedoch bald zur Gewohnheit entwickelte, war die Verwendung der im Atelier geläufigen Motive in den Werken der Schüler. Besonders gut lässt sich dieses Phänomen bei unterschiedlichen Kopfmodellen beobachten, die nach Renis endgültiger Rückkehr aus Rom 1614 zirkulierten.29 So ist beispielsweise der Petruskopf aus der 1617 fertiggestellten Genueser Himmelfahrt Mariens mit leichten Abweichungen in mehreren Werken von Renis Schülern wiederzufinden – etwa bei Francesco Gessis Tod des Heiligen Josephs und Giovan Giacomo Sementis Madonna mit dem Kind und Heiligen.30 Vergleichbares lässt sich für zwei Zeichnungen Renis aus den späten 1620er Jahren nachweisen: Sowohl Maria als auch der Engel dienten seinem Schüler Giovanni Maria Tamburini als Vorlage für die Verkündigung mit dem Heiligen Laurentius in Santa Maria della Vita in Bologna. Malvasia berichtet darüber, dass das Gemälde von Tamburini ausgeführt wurde, jedoch auf einem „ischizzo“ von Reni basierte und vom Meister retuschiert wurde.31 So ist Reni als Entwerfer der Verkündigung zu betrachten, deren Ausführung jedoch hauptsächlich von Tamburini übernommen wurde.32 In diesem kooperativ geprägten modus operandi galt Renis Impuls als Ausgangspunkt. Dies führte dazu, dass der Meister einige von Schülern angefertigten Gemälde als seine eigenen Werke ausgab.33 Dass dies zu einem möglichen Ideenraub seitens seiner Schüler führen konnte, schien den Meister nicht allzu zu besorgen. Laut Malvasia fürchtete Reni vielmehr die Möglichkeit, dass die Lehrlinge ihre eigenen Ideen entwickeln und ihm gleichkommen könnten: [...] e soggiuntogli, che [gli scolari] gli rubavano i pensieri di peso: lasciangli fare, rispose; sin che tolgono da me, non mi danno fastidio; me lo dariano bensì, se facessero di propria invenzione e mi pareggiassero.34

Die Aussage verdeutlicht, welch einer Wert Reni auf die Nachahmung seines Stils legte, um zu vermeiden, dass die Schüler eine eigene maniera entfalten konnten. Dieser Nachahmungsprozess wurde zur Grundlage der Ausbildung.35 Anders als in der Carracci-Akademie waren in Renis Atelier Wettbewerbe unter den Schülern nicht erlaubt.36 Wer sich von den Kompositionen des Meisters allzu sehr distanzierte, riskierte erhebliche Schwierigkeiten mit Reni, die bis zum Ausschluss aus dem Atelier reichen konnten, wie das bekannte Beispiel von Simone Cantarini genannt il Pesarese belegt.37 Der hochbegabte Maler wurde von Reni für die Ausführung einer Transfiguration für Papst Urban VIII. ausgewählt, hielt

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sich jedoch nicht konsequent an die Vorgaben seines Meisters. Daraufhin forderte ihn Reni vor den anderen Schülern auf, das inzwischen beinahe fertige Gemälde gemäß der von ihm entworfenen, vorbildlichen Komposition umzuändern. In diesem „Machtkampf“ zwischen Reni und Cantarini erreichte die topische Rivalität zwischen Meister und Schüler ihren Höhepunkt: Cantarini weigerte sich, sein Werk den Forderungen des Meisters anzupassen, und drehte stattdessen die Leinwand gegen die Wand – ein Zeichen von Cantarinis übergroßem, von Reni nicht toleriertem Selbstbewusstsein, das zum endgültigen Ausschluss des Schülers aus der Werkstatt führte.38 Die streng hierarchische Organisation innerhalb von Renis Atelier wird in einer weiteren Anekdote aus der Felsina pittrice exem­ plarisch vorgeführt. Hauptperson ist Ercole de Maria, ein höchst begabter Kopist, der Renis Stil perfekt imitieren konnte und als Gegenbeispiel zu Cantarini fungieren kann.39 Malvasia berichtet, wie de Maria den Transport von Renis Heiligem Michael nach Rom begleiten durfte. Dort angekommen sollte er die während der Reise eventuell entstandenen Beschädigungen reparieren sowie die im Vorfeld vereinbarten Kopien anfertigen. Nachdem Urban VIII. de Marias ausgezeichnete Kopie gesehen hatte, bat er den Maler, ein eigenes Gemälde für Sankt Peter anzufertigen. Statt das ehrenvolle Angebot anzunehmen und eventuell als eigene Künstlerpersönlichkeit hervortreten zu können, lehnte Renis Schüler mit den Worten ab, er „sei nur ein Kopist und kein Erfinder (eigenständiger) Bilderzählungen“ („essere solo copista, ma non inventore“).40 In der Werkstatt nahmen Stecher einen äußerst wichtigen Platz ein, deren Aufgabe es war, die invenzione des Meisters zu verbreiten. Malvasia berichtet, dass es Guidos Wille war: „far passare, oltre i monti [...] il suo nome“41. Dafür war es unentbehrlich, Spezialisten des Kupferstichs und des Holzschnitts wie Agostino Parisini und Bartolomeo Coriolano in die Werkstatt zu holen.42 Der Wert, den Reni der Verbreitung seiner invenzioni mittels der Reproduktionsgrafik beimaß, ist anhand des Handbuchs „Esemplare per li principianti del disegno“ nachvollziehbar, das der Meister 1633 veröffentlichte. Dabei handelte es sich um eine Sammlung von zwölf Körperstudien, vornehmlich von Händen und Köpfen, die er aus seinen berühmtesten Kunstwerken abgezeichnet hatte, um sie seinen Schülern zum Kopieren vorzulegen.43 Francesco ­Curtis fertigte Radierungen nach Renis Zeichnungen an, womit sich die Schüler und Mitarbeiter die wichtigsten Merkmale von Renis Stil aneignen konnten. Im Anschluss konnten die jungen Künstler für die entsprechenden Gemäldepartien bei unterschiedlichen Aufträgen eingesetzt werden und somit schnellere Arbeitsabläufe im Atelier garantieren.

Jenseits der Werkstattwände – Das Fallbeispiel Michele Desubleo Dennoch zeigten einige Mitarbeitern trotz der strikten Forderungen von Reni Originalität und einen eigenen Stil, was vor allem damit zusammenhängt, dass sie zum Zeitpunkt ihres Eintritts in die Werkstatt des Meisters bereits eine Ausbildung bei anderen Malern absol-

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viert hatten.44 Zu dieser Gruppe gehören berühmte Künstler wie Guido Cagnacci und der bereits erwähnte Simone Cantarini, aber auch der weniger bekannte Michele Desubleo. Der im Jahr 1601 in der damals flämischen Kleinstadt Maubeuge (im heutigen Frankreich) geborene Michel De Zaubleau wurde vermutlich in den ersten zwei Jahrzenten des 17.  Jahrhunderts in seiner flämischen Heimat ausgebildet. Diese Karrierephase konnte ­allerdings aufgrund mangelnder Quellen bisher noch nicht eingehend untersucht werden.45 Es wird vermutet, dass er seinem circa 14 Jahre älteren Stiefbruder Nicolas Régnier zum Antwerpener Maler Abraham Janssen gefolgt ist, jedoch liegen hierfür keine dokumentarischen Beweise vor.46 Ein Indiz für Desubleos mögliche Tätigkeit in einer Werkstatt in der Stadt Namur liefert seine Namensvariante „Michele da Namburgo“. Diese wurde im 18. Jahrhundert vom Künstlerbiographen Marcello Oretti alternativ zu „Michele Desubleo“ angegeben, um den Flamen zu bezeichnen.47Jedoch stellte eine Überprüfung der bei der Malergilde in Namur eingeschriebenen Mitglieder klar, dass dort zu Beginn des 17. Jahrhunderts kein Michel De Zaubleau (oder ähnliche Namensvarianten) eingetragen war.48 Nach Bologna kam Desubleo über Rom, wo er zwischen 1624 und 1625 bei seinem Stiefbruder wohnte, dem berühmten Caravaggisten, Kunsthändler und späteren peintre du roi Nicolas Régnier.49 Die Chronologie von Desubleos Werken stellt bis heute ein Problem dar, doch eins ist sicher: Als er Anfang der 1630er Jahre in Renis Atelier aufgenommen wurde, war der Maler bereits mindestens 28 Jahre alt und hatte nicht nur seine erste Ausbildung längst hinter sich, sondern sich auch mit den zahlreichen ausdifferenzierten künstlerischen Impulsen auseinandergesetzt, die Rom Mitte der 1620er Jahre anzubieten hatte. Das Studium einiger der damals berühmtesten Kunstwerke der Stadt hatte eine große Wirkung auf Desubleos Bildproduktion, zu ihnen zählen in erster Linie Referenzwerke aus den Jahren um 1600: Caravaggios Gemälde, wie die frei zugängliche und dem Flamen sicherlich bekannte Kreuzigung Petri aus der Cerasi-Kapelle in Santa Maria del Popolo, und Annibale Carraccis Fresken in der Galleria Farnese.

Nachahmung vs. Eigenständigkeit Mit diesem Erfahrungswissen kam Desubleo zu Divin Guido, dem ersten Maler Bolognas, in dessen Werkstatt die Nachahmung seines Stils wie dargelegt als Grundvoraussetzung galt. In der Folge entwickelte er in der Werkstatt einen eigenen hybriden Stil, bei dem teils flämische, teils manieristisch konnotierte Reminiszenzen mit renianischen Archetypen harmonisiert wurden. Wie erfolgreich diese Strategie war, belegt die Präsenz seiner Werke in wichtigen zeitgenössischen Sammlungen wie denjenigen von Don Lorenzo de’ Medici, Lorenzo Onofrio Colonna, Francesco I. d’Este und Ranuccio II. Farnese. Mehrere seiner ­Gemälde wurden Jahrhunderte lang anderen Meistern zugeschrieben, darunter in erster Linie Guido Reni.50 Ein Beispiel hierfür stellt das Ölgemälde Ruhe auf der Flucht nach Ägypten dar (Farbabbildung  6).51 Angekauft durch die apulische Familie Acquaviva

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9  Guido Reni, Flucht nach Ägypten, Öl auf Leinwand, um 1620–1625, Bradford, City Art Gallery

d’Aragona für ihre Sammlung in Conversano taucht es erstmals 1666 in deren Inventar als „Fuga in Egitto di Guido Rene“ auf.52 Dabei zeigt ein Vergleich mit Renis Flucht nach Ägypten deutlich, dass der Flame seine Komposition eigenständig entwickelte und versuchte, sich vom Vorbild explizit zu lösen. Bislang ungeklärt ist, ob die Familie Acquaviva d’Aragona das Gemälde als „Original Reni“ oder als Desubleo ankaufte. Da Desubleo mindestens 10 Jahre lang im Bologneser Atelier mitwirkte, ist es nicht verwunderlich, dass er in der Lage war, den Meisterstil souverän zu imitieren. Doch für die Wertschätzung des Flamen ist es sicherlich vielsagend, dass mehrere seiner Kompositionen lange Zeit nicht als eigenhändig, sondern als diejenigen seines zweiten Meisters galten. Hinzu kommt, dass die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten eine besonders große Aufmerksamkeit und damit verbunden breite Rezeption in der Kleinstadt Conversano erfuhr. Es ist bekannt, dass ­mindestens vier Kopien nach dem Original gemacht wurden; eine davon wird heute im Musée de Soissons aufbewahrt und galt bis 2016 – fälschlicherweise – als Teil der berühmten ­römischen Sammlung Campana, deren Kern das Musée du Louvre 1861 erwarb und die seitdem zwischen Paris und anderen französischen Museen aufgeteilt ist.53

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10  Michele Desubleo, Venus trauert um Adonis, Öl auf Leinwand, um 1630–1635,Bologna, Pinacoteca Nazionale

Ein weiteres Beispiel aus Desubleos Bildproduktion bezeugt seine Fähigkeit, die multizentrische Ausbildung effektiv zu inszenieren, und zwar in seinem um 1630–1635 in Bologna entstandenen Bild Venus trauert um Adonis, heute in der dortigen Pinacoteca Nazionale. Der Flame wird bei der Ausführung seines Gemäldes mit Sicherheit zwei berühmte rö­ mische Beispiele präsent gehabt haben: Michelangelos vatikanische Pietà und Annibale Carraccis Pietà mit Engeln aus der Sammlung des Kardinals Odoardo Farnese. Desubleo erneuerte das vertraute kompositorische Schema und fügte dem pyramidalen Paradigma einen weinenden Amor hinzu, wodurch eine ikonografische Abgrenzung zur christlichen Pietà entstand. Gleichzeitig stellt diese Ergänzung ein Beispiel für die strategische Positionierung handlungsrelevanter Elemente im Bild dar. Denn Desubleo betonte Amor als wichtigen Akteur des Mythos und wies ihm daher eine zentrale Rolle im Bild zu. Amor wird hier mit Pfeil und Bogen dargestellt, denjenigen Attributen, die ihn als Liebesgott identifizieren und die er verwendete, damit Venus sich in Adonis verliebte. Mit diesem Bildmotiv rekurrierte Desubleo auf bekannte Beispiele der Bologneser Malerei wie Annibales Engel in der bereits genannten Pietà. In Annibales Gemälde formulieren sie vorbild-

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haft für den Betrachter, welche Affekte er angesichts der Haupthandlung zu empfinden habe. Ähnliches machte Desubleo, indem er Amor als Affektfigur und nicht als Assistenzfigur konzipierte. Insofern bietet das Gemälde die Darstellung einer komplexen Handlung, deren wichtigste Etappen und Akteure Desubleo dem Betrachter anhand sorgfältig ausgewählter Elemente klar präsentiert. Schließlich können Amors leicht manieristische Züge als Reminiszenz an Desubleos frühe Ausbildungsjahre in Flandern interpretiert werden. Das Bildzentrum und zugleich den Höhepunkt der pyramidalen Komposition bildet das feine Gesicht der Venus. Hier manifestieren sich Anklänge an Renis Heroinen, die für ihre zum Himmel gerichteten Blicke bekannt sind, etwa die Potsdamer Lucretia – eine Hommage Desubleos an seinen zweiten Meister. Für den Kenner all dieser Meister und Schulen verbindet Desubleo also in dieser Bildfindung römische, Bologneser und flämische Elemente und lädt die Betrachterinnen und Betrachter dazu ein, die Allusionen im gelehrten Gespräch aufzudenken.54 Desubleo scheint mit seinen Werken das hierarchische Verhältnis von Vorbild und Nachbild in Frage zu stellen, indem er eine Verflechtung tradierter und innovativer Bildkonzepte vornahm und in dieser Verflechtung seine eigene künstlerische Ambition offenbarte. Ähnlich wie bei Raffael stellt sich auch bei Desubleo die Frage, in welchem Maße er seine erste Ausbildung und damit die flämische Herkunft beim Konstituieren eines neuen Stils verleugnete, um sich dem Geschmack der Kunstsammler in verschiedenen italienischen Städten anzupassen.55 Denn die Erfahrungen aus seiner mutmaßlichen Lehrzeit in dem Atelier von Abraham Janssen amalgamieren sich mit der R ­ ezeption von römischen visuellen Impulsen und den künstlerischen Ergebnissen seiner Zusammenarbeit mit Guido Reni. Dank seiner originellen Kompositionen wird Desubleo als eigenständiger Künstler sichtbar, der jedoch gleichzeitig vertraute darstellerische Mittel aus der römischen und renianischen Tradition in seinen Werken einsetzte, um somit attraktiv für ein breites Publikum zu wirken.

Fazit: Von Werkstattmitarbeit zur eigenen Karriere In der Werkstatt von Guido Reni waren es vor allem die Produkte, also die Gemälde, die als Konnektoren eine Verbindung zwischen den unterschiedlichen Akteuren ermöglichten und begünstigten. Die besprochene Auswahl an Werken aus Renis Produktion hat g ­ ezeigt, welche Gestaltungsmöglichkeiten sich durch die Interaktion von Meister und Schülern eröffneten und wie diese sich konkret artikulierten. Laut Malvasia war der Meister für die invenzione und die Endretuschen zuständig, während die eigentliche Ausführung größtenteils den Mitarbeitern und Schülern überlassen war. Zweifelsohne hat diese Hierar­ chisierung der arbeitsteiligen Produktion in Renis Werkstatt dazu beigetragen, dass die Entfaltung des individuellen kreativen Potentials der Schüler wenig gefördert wurde. Die dortige Ausbildung zielte auf die Nachahmung von Renis Stils mit der unmittelbaren

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Folge, dass allzu unabhängige Schüler und Mitarbeiter nicht lange Teil des Ateliers blieben. Wie das Beispiel Simone Cantarini gezeigt hatte, waren Freiräume in der Realisierung sehr begrenzt, und die Nutzung der eigenen konzeptuellen Fähigkeiten konnte eher ein Hindernis als ein Vorteil sein. Was die Interdependenzen betrifft, war Reni auf seine ­Schüler angewiesen und umgekehrt. Bei den stets zunehmenden Aufträgen musste er seine Mitarbeiter einsetzen und sich auf ihre im Laufe der Ausbildungsjahre entwickelten Kompetenzen verlassen. Darüber hinaus war Reni aufgrund seiner mangelnden ikono­ grafischen Kenntnisse Schülern wie Giovanni Andrea Sirani besonders eng verbunden. Gleichzeitig konnten sich die Schüler der Nachahmung von Renis Stil nicht entziehen, da diese nicht nur als grundlegender Teil ihrer künstlerischen Ausbildung galt, sondern auch eine geschätzte Erfahrung für ihre spätere Karriere als eigenständige Künstler bildete. Die Hierarchisierung der Produktion in Renis Atelier hat dazu geführt, dass sich die Forschung bislang vornehmlich auf den Meister und seine berühmtesten Mitarbeiter konzentriert hat. Doch wie das kurz geschilderte Fallbeispiel Michele Desubleos bezeugt hat, sind auch die zahlreichen, bisher weniger berücksichtigten Künstler unentbehrliche Akteure dieses Netzwerkes. Durch ihre Arbeit haben sie zum Erfolg der Marke „Guido Reni“ beigetragen. Gleichzeitig lässt sich am Beispiel Desubleo zweierlei zeigen: erstens, dass Renis Werkstatt nur eine Etappe im Ausbildungsprozess einer eigenen Künstlerpersönlichkeit ­bildete, und zweitens, dass in einem solchen Kontext das Stil-Konzept als Markenzeichen kollektiv vorangetrieben wurde. Daraus folgt, dass Stil weitaus mehr erlernbare Fähigkeiten als angeborenes Talent und Genialität involviert. Mit Sicherheit werden eingehendere Untersuchungen der zahlreichen, bisher wenig erforschten Mitarbeiter von Renis Werkstatt weitere Beweise für die Fruchtbarkeit künstlerischer Kooperationen liefern.

Anmerkungen 1

„Es ist unmöglich, die Anzahl der Lehrlinge seiner [Renis] Schule in einem Register – wenn auch bescheiden – festzuhalten. Denn wir zählten bis zu 200 gut ausgebildete [Lehrlinge], drunter berühmte Männer und große Meister [...].“ Carlo Cesare Malvasia. Felsina pittrice, hrsg. von G. Zanotti, Bologna 1841, Band 2, S. 43.

2

Zur Schule von Guido Reni und ihrer Heterogeneität siehe Armanda Pellicciari, La bottega di Guido Reni, in: Accademia Clementina. Atti e Memorie 22, 1988, S. 119–141; dies., L’eredità di Guido Reni, in: La pittura in Emilia e in Romagna. Il Seicento, hrsg. von A. Emiliani, Bologna 1992, S.  185–206; Emilio Negro und Massimo Pirondini, La scuola di Guido Reni, Modena 1992; Armanda Pellicciari, Il carattere cosmopolita della scuola di Guido Reni. Alcuni inediti di Sementi, Gessi e Desubleo, in: Crocevia e capitale della migrazione artistica, hrsg. von S. Frommel, Bologna 2012, Bd.1, S. 347–379.

3

Mit Netzwerk ist hier die Arbeitsgemeinschaft der Werkstatt gemeint, bestehend aus Reni und seinen Mitarbeitern bzw. Schülern. Für eine im Hinblick auf die Kunstgeschichte fruchtbare Netzwerkanalyse siehe Julia Gelshorn und Tristan Weddigen, Das Netzwerk. Zu einem Denkbild in Kunst und Wissenschaft, in: Grammatik der Kunstgeschichte. Sprachproblem und Regelwerk im

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Bild-Diskurs. Oskar Bätschmann zum 65. Geburtstag, hrsg. von H. Locher und P. J. Schneemann. Zürich/Emsdetten/Berlin 2008, S. 54−77.   4 Simone Cantarini stellt das berühmteste Beispiel eines früheren Reni-Schülers dar, dessen Oeuvre systematisch untersucht wurde. Vgl. Simone Cantarini detto il Pesarese (1612–1648), Ausst.-Kat. (Bologna, Pinacoteca nazionale, 1997–1998), Mailand 1997. Anderen Mitarbeitern wie Jean Boulanger oder Giovanni Andrea Sirani wurde trotz ihrer Anerkennung noch keine umfassende ­Studie gewidmet.   5 Für eine ausführlichere Darstellung der Verbreitung von Renis invenzioni siehe Daniele Benati, Alessandro Tiarini. L’opera pittorica completa e i disegni, Milano 2001, S. 136–175.   6 Zur Verbreitung des Sammelwesens bei unterschiedlichen Bologneser Gesellschaftsschichten siehe Raffaella Morselli, Collezionisti e quadrerie nella Bologna del Seicento. Inventari 1640–1707 (Italian inventories 3), München 1998; dies., Tendenze e aspetti del collezionismo bolognese del Seicento, in: Geografia del collezionismo (Collection de l’École Francaise de Rome 287), hrsg. von O. Bonfait, Rom 2001, S. 61–81; Adelina Modesti, Patrons as agents and artists as dealers in Seicento Bologna, in: Art market in Italy 15th–17th centuries, hrsg. von M. Fantoni, L. C. Matthew und S. F. Matthews-Grieco, Modena 2003, S. 367–388; Francesca Candi, D’après le Guide. Incisioni seicentesche da Guido Reni (Nuovi diari di lavoro 3), Bologna 2016, S. 62.  7 Eine interessante Ausstellung über Kunstwerke von Renis Atelier fand 2014–2015 in Bologna unter dem Titel Alla maniera di Guido Reni. Dipinti dai depositi della Pinacoteca Nazionale di Bologna statt. Die Auswahl an Werken von unter anderem Simone Cantarini, Jean Boulanger, Giovanni Andrea Sirani und Michele Desubleo wurde zum ersten Mal in dieser Konstellation aus dem Museumsdepot herausgeholt und dem Publikum gezeigt. Trotz ihrer hohen wissenschaftlichen Qualität wurde zur Ausstellung bedauerlicherweise kein Katalog herausgebracht, weshalb eine umfangreiche Veröffentlichung zu den wichtigsten Malern aus Renis Atelier bis heute aussteht. Zur Ausstellung siehe lediglich die Seite: http://www.pinacotecabologna.beniculturali.it/esposizioni/archivio-mostre/506alla-maniera-di-guido-reni-dipinti-dai-depositi-della-pinacoteca-nazionale-di-bologna-23-dicembre2014–6-aprile-2015-apertura-prorogata-al-7-giugno-2015.html [zuletzt aufgerufen 14. Juni 2019].   8 „Né solo i più ricchi e nobili, ma i meno comodi ancora ed i più bassi artigiani ebbero una tale ambizione di possedere i quadri di Guido Reni, allor vieppiù che videro sempre ricompensato questo loro ardire da eccessivi guadagni nelle rivendite: onde a ciò vennero ansiosamente mossi e spinti non meno che da una virtuosa dilettazione, da un applaudito interesse.“ Malvasia 1841 (Anm. 1), Bd. 2, 23. Die Ambition, Renis Gemälde zu besitzen, ruhte laut Malvasia in erster Linie auf der Kunstleidenschaft, bezog jedoch bald auch gewisse ökonomische Interessen beim Verkaufen der hochgeschätzten Kunstwerke mit ein, die hohe Summe erzielen ließen. Eine tiefgreifende Untersuchung der Rahmenbedingungen, die das Aufblühen der „quadri da stanza“ in Bologna begünstigten, steht noch aus.  9 Le „stanze“ di Guido Reni. Disegni del maestro e della sua scuola, Ausst.-Kat. (Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe, Uffizien, 2008), hrsg. von B. Bohn, Florenz 2008, S. XVI. 10 Die Verfasserin ist Raffaella Morselli für den hilfreichen Hinweis und die anregende Diskussion sehr dankbar. 11 Malvasia 1841 (Anm. 1), Bd. 2, S. 53; Le „stanze“ di Guido Reni 2008 (Anm. 9), S. XXXVIII. Eine doppia bolognese entsprach zwei goldenen scudi. Giuliano Dinarelli, ein Mitarbeiter Renis, bekam monatlich ein scudo plus Verpflegung, was 17 Mal dem Verdienst eines Seidenwebers entsprach. Vgl. dazu Malvasia 1841 (Anm. 1), Bd. 2, S. 24; Raffaella Morselli, Bologna, in: Painting for Profit. The Economic Lives of seventeenth-century Italian Painters, hrsg. von R. E. Spear und P. Sohm, New Haven-London 2010, 145–172, hier S. 158. Zum Wert der doppia im 17. Jahrhundert und darüber hinaus siehe Angelo Cinagli, Le monete de’ papi descritte in tavole sinottiche, Rom 1848, S. 93.

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12 Richard Spear, The „Divine“ Guido. Religion, Sex, Money and Art in the World of Guido Reni, New Haven/London 1997, S. 225; Gabriele Bleeke-Byrne, The Education of the Painter in the Workshop, in: Children of Mercury. The Education of Artists in the Sixteenth and Seventeenth Cent­ uries, Ausst.-Kat. (Providence, David Winton Bell Gallery, 1984), hrsg. vom Department of Art, Brown University, Providence, RI, 1984, S. 28–39, bes. 28–29. Wie bereits Martin Wackernagel schilderte, wurde ein Lehrling im Florenz des 16. Jahrhunderts „im Haus des Meisters aufgenommen und erhielt überdies für die mancherlei Handreichungen, zu denen man ihn im Werkstattbetrieb verwenden konnte, auch eine Bargeldvergütung, die von 6 Fiorini im ersten Lehrjahr auf 10 Fiorini im dritten Jahre steigen sollte.“ Vgl. Martin Wackernagel, Der Lebensraum des Künstlers in der florentinischen Renaissance, Leipzig 1938, S.  338. Zur Ausbildung der Bologneser Künstler vor dem Beitritt einer Werkstatt vgl. zudem Charles Dempsey, Some Observations on the Education of Artists in Florence and Bologna During the Later Sixteenth Century, in: Art Bulletin 62, 4, 1980, S. 552–569, bes. S. 559–564. Für die Diskussion über Renis Umgang mit Lehrlingen sei an dieser Stelle Babette Bohn herzlich gedankt. 13 Die bereits genannte Anzahl von mehr als 200 Malern wird in der Forschung für unrealistisch gehalten, zumal Malvasia selbst betont, dass die Schätzung aus keinen konkreten Quellen (etwa Zahlungen, Listen o. Ä.) hervorgehe. Dennoch gelten mehrere Dutzend Maler des 17. Jahrhunderts als ehemalige Schüler und Mitarbeiter von Renis Werkstatt, so dass diese zu einer der größten des 17. Jahrhunderts zählt. Siehe dazu Pellicciari 1988 (Anm. 2); Negro und Pirondini 1992 (Anm. 2). Es ist zu bedauern, dass im Gegensatz zu Guercino kein Rechnungsbuch von Renis Atelier überliefert ist. Dies hätte aufgrund der abgegebenen Gebühr eine präzisere Unterscheidung zwischen Mitarbeitern stricto sensu und Schülern ermöglicht, und dabei eine unabhängigere Quelle als Malvasias Biografien dargestellt. Zu Guercinos Rechnungsbuch siehe Giovanni Francesco Barbieri. Il libro dei conti, hrsg. von B. Ghelfi und D. Mahon, Bologna 1997. 14 Zur Aufteilung der Aufgaben siehe Le „stanze“ di Guido Reni 2008 (Anm. 9), S. XXXVI, S. 64. 15 Giovan Pietro Bellori. Le vite de’ pittori, scultori ed architetti moderni, hrsg. von E. Borea, Turin 1976, S. 528. 16 Malvasia 1871 (Anm. 1), Bd. 2, S. 24; Giovanni Battista Passeri. Vite de’ pittori scultori ed architetti che anno lavorato in Roma. Die Künstlerbiographien, hrsg. von J. Hess, Leipzig 1934, S.  277, S. 372. Zu den Atelierkopien siehe Spear 1997 (Anm. 12), S. 225–274, bes. S. 240. 17 Le „stanze“ di Guido Reni 2008 (Anm. 9), S. XXXVI. 18 „Solea dire, stimare egli [Guido] que’ quadri solo che si poteano fare in pezzi; alludendo alla ­finezza delle parti, ch’era suo principale intento [...]“. Malvasia 1841 (Anm. 1), Bd. 2, S. 53. 19 Le „stanze“ di Guido Reni 2008 (Anm. 9), S. XV. 20 Allein die Windsor Collection besitzt mehr als 1700 Zeichnungen von Domenichino. Vgl. Ann Sutherland Harris, Guido Reni’s „First Thoughts“, in: Master Drawings 37, 1, 1999, S. 3–34, hier S. 3. 21 Le „stanze“ di Guido Reni 2008 (Anm. 9), S. XVI–XXV. 22 Zur Kapelle siehe Stephen Pepper, Guido Reni. A complete catalogue of his works, Oxford 1984, S. 224–225; Judith Mann, The Annunciation chapel in the Quirinal Palace, Rome. Paul V, Guido Reni, and the Virgin Mary, in: The art bulletin 75, 1993, S. 113–134; Angela Negro, „Avant-propos“ per la Cappella Paolina del Quirinale. Note in margine al restauro, in: Restauri al Quirinale, hrsg. von L. Morozzi, Rom 1999, S. 349–364. 23 Malvasia 1841 (Anm. 1), Bd. 2, S. 15–16. 24 Malvasia 1841 (Anm. 1), Bd. 2, S. 15. 25 Spear 1997 (Anm. 12), S. 254. 26 Le „stanze“ di Guido Reni 2008 (Anm. 9), S. 55.

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27 Le „stanze“ di Guido Reni 2008 (Anm. 9), S. XXIV. 28 Le „stanze“ di Guido Reni 2008 (Anm. 9), S. XLVII–XLVIII. 29 Le „stanze“ di Guido Reni 2008 (Anm. 9), S. XXVIII. 30 Francesco Gessi, Tod des Hl. Joseph, um 1630, Öl auf Leinwand, Rom, S. Giovanni e S. Petronio dei Bolognesi; Giovan Giacomo Sementi, Madonna mit dem Kind und Heiligen, nach 1626, Öl auf Leinwand, Vatikan, Vatikanische Museen, Depot. 31 „è di Tamburini, con ischizzo del sig. Guido, e qualche poco dal gran Maestro rittocca.“ Carlo Cesare Malvasia. Le pitture di Bologna (Fonti e studi per la storia di Bologna e delle province emiliane 1), hrsg. von A. Emiliani, Bologna 1969, S. 312/7. Zur Einsetzung von Renis Zeichnung vgl. auch Le „stanze“ di Guido Reni 2008 (Anm. 9), S. XXXIII–XXXIV, 63–64. 32 Marina Cellini, Giovanni Maria Tamburini, in: Negro und Pirondini 1992 (Anm. 2), S. 383–390, bes. S. 383. 33 Malvasia 1841 (Anm. 1), Bd. 2, S. 15. 34 Malvasia 1841 (Anm. 1), Bd. 2, S. 54. 35 Diesbezüglich stellt sich Renis Atelier in eine Linie mit der in Rom gängigen Praxis, dem Kopieren von Kunstwerken des Meisters als unabdingbarem Teil des Lernprozesses der Schüler. Vgl. dazu Patrizia Cavazzini, Il mercato delle copie nella Roma di primo Seicento, in: La copia. Connoisseurship, storia del gusto e della conservazione, hrsg. von C. Mazzarelli, Florenz 2010, S. 257–270, hier S.  257. Inwieweit dieser Aspekt der Zusammenarbeit von einigen Schülern in Frage gestellt wurde, soll durch Michele Desubleos Fallbeispiel anschließend erläutert werden. 36 Spear 1997 (Anm. 12), S. 247. 37 Cantarini ist einer der bekanntesten Schüler Renis, die sich der strengen Hierarchie im Bologneser Atelier nicht lange unterworfen haben. Vgl. Simone Cantarini detto il Pesarese 1997 (Anm. 4). 38 Malvasia 1841 (Anm. 1), Bd. 2, S. 57; Spear 1997 (Anm. 12), S. 226; Le „stanze“ di Guido Reni 2008 (Anm. 9), S. XXXVII–XXXVIII. 39 Zu Ercole De Maria siehe Massimo Pulini, Ercole De Maria. Pittore umilissimo, in: Parma per l’arte 13, 2007, S. 79–84. 40 Malvasia 1841 (Anm. 1), Bd. 2, S. 253. Zur Anekdote siehe auch Spear 1997 (Anm. 12), S. 232. 41 Malvasia 1841 (Anm. 1), Bd. 2, S. 24. 42 Malvasia 1841 (Anm. 1), Bd. 2, S. 50–51. Zu den beiden Stechern siehe Candi 2016 (Anm. 6), S. 61–84. 43 Zum „Esemplare“ siehe Candi 2016 (Anm. 6), S. 72. 44 Le „stanze“ di Guido Reni 2008 (Anm. 9), S. XLII. 45 Die verschollene Geburtsurkunde erschwert die ohnehin komplizierte dokumentarische Rekonstruktion von Desubleos Biografie. Vgl. dazu Alberto Cottino, Michele Desubleo, Soncino 2001, S. 35; Annick Lemoine, Nicolas Régnier alias Niccolò Renieri (ca. 1588–1667), Paris 2007, S. 20, 23, 82, 103–107. 46 Freundlicherweise bestätigte Dr. Joost Vander Auwera, Autor einer nie veröffentlichten Monografie über Nicolas Régnier, dass weder De Zaubleau noch ähnliche Namen unter Janssens Lehrlingen zu finden sind. Das Antwerpener Atelier bestand seit ca. 1602 bis kurz vor Janssens Begräbnis am 25. Januar 1632. In dieser Zeitspanne lassen sich keine schriftlichen Quellen – weder über die Anwesenheit von Régnier noch über jene von Desubleo in Janssens Atelier – finden. 47 Biblioteca Comunale dell’Archiginnasio Bologna, Manoscritto B 129, fol. 216r–218v. 48 Für die Recherche und die Hinweise sei an dieser Stelle Dr. Pierre-Yves Kairis vom Institut Royal du Patrimoine Artistique herzlich gedankt. Auch die Notarakten von Namur lieferten keine Informationen. Selbst im Fall einer Ausbildung in dieser Stadt wäre Desubleo zu jenem Zeitpunkt zu jung gewesen, um überhaupt einen durch einen Notarakt abgeschlossenen Auftrag zu be­ kommen.

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49 In ihrer umfassenden Monografie über Nicolas Régnier veröffentlichte Annick Lemoine unter anderem den ersten dokumentarischen Nachweis von Desubleos Präsenz in Rom als Mitbewohner seines Stiefbruders in den Jahren 1624 und 1625. Vgl. Lemoine 2007 (Anm. 45), S. 372. 50 Odysseus und Nausikaa (heute Neapel, Museo Nazionale di Capodimonte) galt bis 1986 als Werk von Guido Reni. Vergleichbares gilt für zwei weitere Werke: So wurden Erminia und Tankred (Florenz, Uffizien; dazu siehe Cottino 2001 (Anm. 45), S. 91) Ottavio Vannini sowie David mit dem Kopf des Goliaths (Budapest Szepmüvészeti Muzeum; Cottino 2001 (Anm. 45), S. 95) Domenichino zugeschrieben. 51 Über das heute in Musée National d’Histoire et d’Art du Luxembourg aufbewahrte Gemälde ist bislang wenig bekannt. Eine erste Darlegung seiner Geschichte lieferte Alberto Cottino, Michele Desubleo, in: Caravaggism and the Baroque in Europe, hrsg. von A. Poggi und M. Voena, Turin 2007, S. 26–29. Zu den Repliken und besonders zu derjenigen im Musée de Soissons siehe Stefania Girometti, Michele Desubleo, Repos pendant la fuite en Egypte (copie anonyme d’après), in: Le musée sort de sa réserve. Une collection redécouverte, Ausst.-Kat. (Soissons 2016), hrsg. von S. Laroche, Gent 2016, S. 18–20. 52 Francesco Lofano, Riposo durante la fuga in Egitto, in: Paolo Finoglio e il suo seguito. Pittori a Conversano nei decenni centrali del Seicento, Ausst.-Kat. (Conversano, Pinacoteca Comunale, 2012), hrsg. von G. Lanzillotta, Conversano 2012, S. 90–91. 53 Aufgrund der Kriegszerstörungen im Museumsarchiv in Soissons ist es der Verfasserin trotz intensiver Recherchen nicht gelungen, die Provenienz des Bildes zu rekonstruieren. Die Leinwand wird nicht in dem 1894 von Emile Collet verfassten Museumskatalog erwähnt, was einen wichtigen Terminus post quem liefert und zu der bekannten Verwechselung mit einem bislang nicht identifizierten Bild aus der Sammlung Campana geführt hat. Erst in der Liste der 1926 restaurierten Kunstwerke des Museums taucht eine „sainte Famille“ auf, bei der es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um die Kopie von Desubleos Komposition handelt, da die andere Heilige Familie im Museumsbesitz erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Teil der Sammlung wurde.­ Insofern wird das Gemälde vermutlich zwischen 1894 und 1926 vom Museum erworben bzw. als Geschenk angenommen worden sein. 54 Für eine tiefgreifende Analyse des Entstehungskontextes des Gemäldes sowie der Technik Desu­ bleos siehe Diego Cauzzi, Stefania Girometti und Claudio Seccaroni, Venere piange la morte di Adone. Sguardi incrociati tra Michele Desubleo e Nicolas Régnier, in: Bollettino ICR 33, 2016 (2018), S. 29–39. 55 Einem Auszug aus Vasaris Leben des Raffael zufolge machte sich der urbinate erneut zum Schüler, sobald er einen guten neuen Stil entdeckte. Dieses Phänomen wird besonders anschaulich, als Raffael zum ersten Mal Michelangelos Kartons für die Cascina-Schlacht sah und daraufhin ­Peruginos Lehre in den Hintergrund trat. „[Raffaello] smorbatosi e levatosi da dosso quella maniera di Pietro per apprender quella di Michelagnolo, piena di difficultà in tutte le parti, diventò quasi di maestro nuovo discepolo, e si sforzò con incredibile studio di fare, essendo già uomo, in pochi mesi quello che arebbe avuto bisogno di quella tenera età che meglio apprende ogni cosa, e de lo spazzio di molti anni.“ Vgl. Giorgio Vasari. Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori nelle redazioni del 1550 e 1568, hrsg. von P. Barocchi und R. Bettarini, Florenz 1966–1987, Bd. 4, S. 205.

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Tafelteil

Farbabb. 1 Paolo Romano, Isaia da Pisa und der sog. Piusmeister (von oben nach unten), Lünetten des Andreas-Tabernakels aus Alt-St. Peter (Zusammenstellung nach Arianna Antoniutti), Rom, Vatikanische Grotten.

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Farbabb. 2  Raffael und Werkstatt, Karton für die Tapisserie Der Auftrag des Auferstandenen an Petrus („Weide meine Lämmer“), Rom 1515–1516, London, The Victoria & Albert Museum.

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Farbabb. 3 Tapisserie Der Auftrag des Auferstandenen an Petrus („Weide meine Lämmer“), nach Entwurf von Raffael ausgeführt in der Werkstatt von Pieter van Aelst, Brüssel 1517, Rom, Musei Vaticani.

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Farbabb. 4 Portraits von Maximilian und Christierna von Bayern, Detail: Schmuck der Fürstin, gewirkt von Jan de la Groze (Entwerfer unbekannt, möglicherweise Friedrich Sustris?), München 1576, München, Bayerisches Nationalmuseum.

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Farbabb. 5 Guido Reni, Marienkopf für „Himmelfahrt“ und „Unbefleckte Empfängnis“, roter und schwarzer Stein, Weißkreide auf grauem Papier, 1623–1625, Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi.

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Farbabb. 6 Michele Desubleo, Ruhe auf der Flucht nach Ägypten, Öl auf Leinwand, um 1640–1641, Luxembourg, Musée National d´Historie et d`Art.

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Farbabb. 7 Karl Friedrich Schinkel, Werkzeichnung für einen Kronleuchter im Palais des Prinzen Albrecht, 1830/1831, Berlin, Kupferstichkabinett, SM 46.16.

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Farbabb. 8

Joseph Caspar nach Karl Friedrich Schinkel, Kandelaber.

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Farbabb. 9 Georg Meistermann, Hildegard von Bingen, Bleiverglasung, Echtantikglas, Opal- und Opaküberfangglas, Schwarzlotmalerei, 1981 (Ausführung Glaswerkstatt Gossel, Lahntal-Caldern), Maria Laach, Johanneskapelle

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Farbabb. 10 Georg Meistermann, Hildegard von Bingen (Zweitausführung), Bleiverglasung, Echtantikglas, Opal- und Opaküberfangglas, Schwarzlotmalerei, um 1990 (Ausführung: Glaswerkstatt Oidtmann, Linnich), Karlsruhe, Badisches Landesmuseum.

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Farbabb. 11 Georg Meistermann, Hildegard von Bingen (Zweitausführung), Bleiverglasung, Echtantikglas, Opal- und Opaküberfangglas, Schwarzlotmalerei, um 1990 (Ausführung Glaswerkstatt Gossel, Lahntal-Caldern ), Solingen, Deutsches Klingenmuseum.



Farbabb. 12 Essen, St. Suitbert, Innenraum. Der quer überwölbte Einraum von St. Suitbert umfängt die um den Altar versammelte Gemeinde, gleichzeitig betont die architektonisch überhöhte Altarwand das Sakrale.

Tafelteil I 123



Farbabb. 13 Nam June Paik, Ausstellungsplakat für Exposition of Music – Electronic Television, Galerie Parnass, Wuppertal, 1963.

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Farbabb. 14 Luigi Kurmann, Planungsskizze für die Platzierung neuer Details in Otterlo; links eine Detailzeichnung des „Bohrwerkzeuges“ von Dennis Oppenheim.

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Farbabb. 15 Dennis Oppenheim, To-do-Liste mit Angaben zu Materialien und Dimensionen noch zu produzierender Teile.

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Farbabb. 16

Sankt Gallen, Stiftung Sitterwerk, Schublade des Werkstoffarchivs.

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CAMP, r and r, Colonies of Lallubhai Compound, März 2016.

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Dirigismus, Kompromiss und Kooperation Karl Friedrich Schinkels Zusammenarbeit mit Bildhauern und Kunsthandwerkern

Karl Friedrich Schinkel war ein Ausnahmekünstler, ein vielseitig Begabter, der heute vorwiegend als Architekt wahrgenommen wird, der aber eben auch Maler war und Designer, selbst Kunsttheoretiker. Ab 1810 im Staatsdienst tätig und als Mitglied der Oberbau­ deputation für die ästhetische Expertise aller öffentlichen Prachtgebäude und Hofbauten zuständig, 1829 gar zum Hofarchitekten ernannt, galt er als oberste künstlerische Instanz Preußens.1 Zu seinen wichtigsten Bauten zählen in Berlin vor allem die Bauakademie von 1836, aber auch die Neue Wache, die Friedrichswerdersche Kirche und das Schauspielhaus, vier Gebäude, auf die noch zurückzukommen sein wird. In seinem Selbstverständnis als Architekt sah Schinkel sich berufen zum „Veredler aller menschlichen Verhältnisse, er muß in seinem Wirkungskreise die gesammte schöne Kunst umfassen. Plastik, Malerei und die Kunst der Raumverhältnisse nach Bedingungen des sittlichen und vernunftgemäßen ­Lebens des Menschen schmelzen bei ihm in einer Kunst zusammen.“2 Als Designer hat Schinkel durch den nach ihm benannten Schinkelstil das preußische, zumindest aber das Berliner und Potsdamer Kunstgewerbe seiner Zeit dominiert.3 Seine Entwurfsarbeiten für dekorative Ausstattungen, kunstgewerbliche Objekte sowie baugebundene und teils freistehende Skulptur sind im Umfeld der deutschen Klassik als Teil des ambitionierten und ins Große zielenden Versuchs zu verstehen, die Kulturideale einer auf gesellschaftlichem Konsens beruhenden Nation moderner Staatsbürger zu verbreiten. 4 Schinkel verfolgte dabei weniger privatgewerbliche Interessen als vielmehr gesamtgesellschaftlich gemeinte Ambitionen: Es war der öffentliche Nutzen, dem sein Streben galt. Sich selbst als an vorderster Front einer Avantgarde definierend, die das Volk, die Nation, per ästhetischer Bildung zu moralischer Läuterung und gesellschaftlicher Freiheit führt, adaptierte er Friedrich Schiller und mehr noch Karl Philipp Moritz, der, weit über Ersteren hinausgehend, auch die Alltagskultur in dieses politisch perspektivierte Konzept allgemeiner Volksbildung einzubinden suchte.5 Das Publikum „zu sich heraufzuziehen“: diese an die Künstler adressierte Handlungsaufforderung zielte explizit auch auf die Gestaltung des Alltagsgegenstandes.6

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Nun hat es auch schon früher selbstverständlich Entwurfsarbeiten großer Künstler für das Kunsthandwerk gegeben, oft im Rahmen von Gelegenheitsarbeiten. Neu war bei Schinkel die umfassende Breite seines Wirkens, der Versuch, die eigenen künstlerischen Schöpfungen in die Lebenswelt des ganzen Volkes, selbst in die allgemeine Gebrauchskultur zu überführen. Indem er Manufakturbesitzer und Fabrikunternehmer in sein Konzept einzubinden vermochte, bediente er sich geschickt des privatkapitalistischen Gewinnstrebens, der „Zauberrute“ des industriellen Fortschritts.7 In der sich konstituierenden modernen Konsumgesellschaft avancierte Design zum kulturellen Phänomen und gar selbst zum Produktionsmittel, das Wettbewerbsvorteile generierte: Formvollendete, gestalterisch attraktive Produkte besitzen einen höheren Kaufanreiz; sie sind im besten Falle auch im internationalen Vergleich konkurrenzfähig. Es war indessen kein Zufall, dass Schinkel bevorzugt an den Unternehmen des Luxussegments ansetzte. Denn dem didaktischen Impetus seines Strebens entsprach, dass er quasi von oben herab auf die ästhetische Bildung der Gesellschaft einzuwirken suchte. Schon wenige Jahre nach seinem Eintritt in den Staatsdienst war Schinkel bereits in vielen Bereichen des Berliner Gewerbes mit Entwurfsarbeiten hervorgetreten, in den „Teppichund Bortenwebereien, [...] Zeug- und Papierdruckereien, [...] Meublefabriken“ ebenso wie in den Töpfereien, Gold- und Silberfabriken, den Bronzefabriken und Lackierereien und selbst bei den Produzenten von Tapeten, Stoffmustern und Perlenstickereien.8 Doch hier soll es nicht darum gehen, zu ergründen, was Schinkel antrieb und ob er mit seinen Arbeiten, die ja oft auf Aufträge des Königshauses zurückgingen, tatsächlich eine Breitenwirksamkeit entfalten konnte, sondern vielmehr darum, wie er seine künstlerischen Kreationen in die Gegenständlichkeit transformierte, auf welche Weise sich praktisch die Zusammenarbeit mit Kunstschaffenden bzw. Kunstproduzenten vollzog. Und in der Tat nutzte Schinkel ein ausdifferenziertes Vokabular, mit dem er flexibel darauf zu reagieren suchte, mit wem er es konkret zu tun hatte. Das war insofern von Bedeutung, da er in Folge der voranschreitenden Arbeitsteilung auf die technisch Ausführenden elementar angewiesen war – denn allein „Technik und Handwerk“ könnten, wie Goethe einmal bemerkte, „dem höchsten Gedanken des Künstlers zuletzt erst die Wirklichkeit verleihen“.9 In der Zeit der Frühindustrialisierung schied sich generell die künstlerische Produktion bereits recht scharf in die kreativen Bereiche des Entwurfs (Architekt/Künstler) und des Modells (Bildhauer) sowie in den der Reproduktion (Handwerker). In diesem Gesamtprozess nahm Schinkel als Entwurfskünstler die führende Position für sich mit Selbstverständlichkeit in Anspruch. Er gab den Takt vor und bestimmte, was und in welcher Form und Qualität gefertigt werden sollte. Wie aber zu zeigen sein wird, waren dabei Impulse in die Gegenrichtung, also von unten nach oben, keineswegs ausgeschlossen. Grundsätzlich muss man bei Schinkels Kunstproduktion – und hier meine ich plastische Arbeiten, Architektur und Kunstgewerbe – von drei klar trennbaren Produzentengruppen ausgehen:

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1. Ist das der einfache, wenn auch exklusiv agierende Handwerker, oft ein Hof-Handwerker, der als kleingewerblich Tätiger jedoch nur einen eingeschränkten Aktionsradius besaß. 2. Ist es der bildende, mithin renommierte Künstler, darunter die wichtigsten Berliner Bildhauer, wie Christian Daniel Rauch und Friedrich Tieck, aber auch Ludwig Wichmann und anfangs ­Johann Gottlieb Schadow. 3. Zwischen sie und die Handwerker aber schieben sich als dritte Gruppe die Großfabrikanten: Das waren gewöhnlich gut ausgebildete, innovative Persönlichkeiten mit umfangreichen, auch künstlerischen Kenntnissen und hervorragenden Positionen im gesellschaftlichen Leben Berlins.

Die Handwerksmeister Wenden wir uns der ersten Gruppe zu, den Handwerkern. Diese verfügten gewöhnlich nur über begrenzte Werkstatt- und Personalkapazitäten, was sie zu exklusiven Produktionschargen mit geringen Stückzahlen prädestinierte. Schinkel hatte hier mit den Spitzenkönnern ihrer Branche zu tun, also Handwerksmeistern, die über ein gewisses Werkstattwissen verfügten und denen ein überdurchschnittliches Qualitätsbewusstsein zu ­eigen war.10 Dennoch sah Schinkel sie grundsätzlich nur in der Rolle der technisch Ausführenden, zumal er ein fundiertes Misstrauen gegen solche Handwerker hegte, die, ganz traditionell, auch die Entwurfstätigkeit für sich reklamierten.11 Zwar gab es Zeichen- bzw. Kunstschulen an der Kunstakademie, die für den Handwerkernachwuchs vorgesehen ­waren, doch wurde dort Geschmacksbildung betrieben und versucht, künstlerische Grundkenntnisse zu vermitteln, die u. a. dazu befähigen sollten, den Entwurf eines Künstlers richtig lesen zu können – nicht aber, selbst kreativ zu werden.12 Für den künstlerischen Akt des Entwerfens zuständig aber war für Schinkel nur die dazu einzig kompetente Künstlerund Designerhand, und in den meisten Fällen eben seine eigene. Kleingewerblichen Handwerkern, zumal mit eingeschränkten Kunstkenntnissen, begegnete Schinkel daher von vornherein mit rigorosem Dirigismus. Das war  – sehr gewollt  – mit der resoluten ­Beschneidung der schöpferischen Autonomie auf Seiten der technisch Ausführenden verbunden.13 Schinkel seinerseits empfand diese Entwurfsarbeiten oft lediglich als Gelegenheitstätigkeiten, beispielsweise, wenn es um ein „Paar Meubles“ ging, denn „darüber lassen sich leicht mehrere leichte und doch dabei verständliche Entwürfe machen, auch hängt da von der Wahl dieser oder jener Form so viel nicht ab“.14 Selbst noch in diesen Arbeiten aber strebte er nach einer gewissen Allgemeingültigkeit, was das Klassisch-Beruhigte, Glatte und eben auch Problementhobene der Schinkel’schen Formenwelt erklärt. Den hohen Anspruch an die technisch exakte Umsetzung seiner Designkreationen suchte Schinkel beispielsweise Tischlern, Metallarbeitern und Rahmenbauern gegenüber mit aufwändigen Werkzeichnungen und Detailskizzen durchzusetzen: präzise, teils 1:1

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gehaltene Zeichnungen, die mitunter laviert waren und unmissverständlich und kontrollierbar die einmal gefundene Formfindung final fixierten (Farbabbildung 7).15 Bettina von Roenne hat 2012 diesen Befund am Beispiel der Rahmenentwürfe Schinkels dargelegt: Die präzisen, oft maßstabsgetreuen Entwurfszeichnungen und detaillierten Angaben Schinkels zur Fertigung der Rahmen ließen den Handwerkern bei der Ausführung keinerlei Spielräume. Ob die Leisten zu Verleimen [waren] oder mit Hilfe von Schrauben unterstützt werden mussten, aus welchem Material die Ornamente gefertigt und wie diese auf die Leisten aufgebracht werden sollten, in welchem Ton die Vergoldung gedacht war und wie dieser erzielt werden konnte: Schinkel bedachte und kontrollierte jedes Detail.16

Weshalb aber konnte Schinkel in dieser Form auftreten, was gab ihm die Befugnis zu diesem Dirigismus? Zwar war er als preußischer Kunstbeamter sogar oberster Staatskünstler, aber zu einem quasi absolutistischen Durchgriff auf das Produktdesign von Gewerbebetrieben, zumal solchen in Privathand, legitimierte ihn diese behördliche Kompetenz ja keineswegs. Dieses Dilemma von Anspruchswillen und realer Durchsetzungsschwäche suchte er aufzulösen, indem er sein Design gezielt in die Sortimente von Privatbetrieben und Staatsunternehmen einfließen ließ, als Muster guten Geschmacks. Das geschah seltener durch Aufträge, die ihm selbst von den größeren Unternehmen angetragen wurden, sondern, und das war die Regel, durch die Vergabe exklusiver Aufträge im Rahmen der von ihm behördlich betreuten Umbau- oder Einrichtungsmaßnahmen am Königshof. Letzteres Verfahren gab Schinkel einen starken wirtschaftlichen Hebel in die Hand, denn es war der Auftrag selbst, der – vertraglich fixiert – den Handwerker verpflichtete, sich bedingungslos dem Gestaltungsdiktat Schinkels zu unterwerfen. Erleichternd kam für Schinkel hinzu, dass auch die sozialen Statusunterschiede keinen Zweifel daran ließen, wer in dieser geschäftlichen Beziehung das Sagen hatte. Im Endeffekt war Schinkel mit dieser ­rigorosen Politik erfolgreich, denn Reibungsverluste zwischen Entwurf und Endprodukt blieben tatsächlich gering. Doch war der Preis für ihn persönlich sehr hoch: Der Planungsund Kontrollaufwand war enorm, denn detaillierte Werkzeichnungen und die ständigen Werkstattbesuche kosteten Zeit und Energie. So berichtete Schinkel um 1828/1829 in einer Überlastungsanzeige auch von seiner Entwurfstätigkeit für Vasen, Monumente, Meubles ppp. Da diese Gattung von Arbeiten gewöhnlich ganz neu erdachte Formen betrifft so sind überall eine Masse von Detail-Zeichnungen in der Natur-Größe und oftmalige und sehr specielle Instructionen für die ausführenden Künstler und Handwerker nothwendig sowie ein stetes Wachen über die Ausführung selbst, welches alles mit großem Zeitaufwand verbunden ist, auch nicht durch Mittelspersonen, sondern von mir unmittelbar selbst bewirkt werden kann.17

Hinzu kam, dass Schinkel, der sich notgedrungen um eine ins Detail gehende Einfühlung in die technische Umsetzung bemühen musste, eben doch teils gravierende Kon­

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struktionsfehler unterliefen, beim Einsatz fragiler Dekorelemente an berührungsinten­ siven Stellen beispielsweise oder bei der Verwendung neuer Werkstoffe, zu denen Langzeiterfahrungen fehlten. So ließ er an den Vorderbeinen von Prunkstühlen plastische Dekorelemente aus „Holzbronze“, einer stuckartig-formbaren Masse aus Gips und zermahlenem Holz, anbringen, statt sie massiv aus Holz schnitzen oder aus Metall gießen zu lassen. Da diese Elemente jedoch weit herausragten, waren sie nutzungsbedingten Stoßbelastungen ausgesetzt, die in der Folge zum Verschleiß des Holzbronze-Dekors ­führten. An Schinkels Stuhlmodellen, vor allem an deren Rückenlehnen, fallen oft ohnehin die zierlich durchbrochenen und daher belastungsempfindlichen Zierelemente ins ­Auge.18 Um seine Entwürfe „verlustfrei“ umsetzen zu können, setzte sich Schinkel in derartigen Fällen offensichtlich recht autoritär über die sicher erfolgten Einwände der aus der Praxis kommenden und über entsprechendes Erfahrungswissen verfügenden Tischlermeister hinweg.

Die Bildhauer Kommen wir zur zweiten Gruppe, zu den bildenden Künstlern und hier insbesondere zu den Bildhauern. Bei der Zusammenarbeit mit ihnen zeigten sich Schinkels integrative ­Fähigkeiten. Bekanntlich lag eine der Stärken Schinkels in der Einbindung von Skulptur in architektonische Zusammenhänge. Da er dazu renommierter Bildhauer bedurfte, wie Rauch, Tieck und Wichmann, musste er deren Anspruch auf eigenständiges Schöpfertum flexibel begegnen. So gab er zwar bei bildhauerischen Aufgaben die Inhalte und Motive vor, räumte aber gewisse gestalterische Freiräume ein, indem er die eigenen Entwürfe nur grob skizzierte, die detaillierte Endfassung aber dem Bildhauer überließ und überhaupt bereit war, dessen Interventionen zu folgen.19 Hinsichtlich der endgültigen Form­ findung aber erwuchs zwischen Architekt und Bildhauer eine produktive Dynamik, die im Idealfall bildkünstlerische Lösungen von bleibendem Wert hervorbrachte. Besonders fruchtbringend war dabei die Zusammenarbeit mit Tieck und Wichmann, wie am Portal der Friedrichswerderschen Kirche, wo beide Bildhauer Modelle für die Reproduktion in Terrakotta bzw. Gusseisen zu liefern hatten – also in jenen patriotisch aufge­ ladenen W ­ erkstoffen, die so bedeutsam für die preußische Industrialisierung geworden waren.20 Wichmann übernahm die Modellierung des portalbekrönenden Figurenprogramms, das auch die technisch äußerst aufwändige Erzengelfigur aus gebranntem Ton einschloss, während Tieck für die Tondi der in Gusseisen auszuführenden Portaltüren zuständig war. Rolf H. Johannsen hat 2011 am Beispiel des Schauspielhauses die Kooperation Schinkels mit Rauch und Tieck näher untersucht.21 Denn hier gab es im Bereich der Bauplastik eine enge gestalterische Verzahnung, auch hinsichtlich der Urheberschaft. Bei den Reliefs der Giebelfelder gab Schinkel zunächst nur die Inhalte und Motive vor, während Tieck, der

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11  Friedrich Jügel nach Karl Friedrich Schinkel, Das neue Schauspielhaus in Berlin, Aquatinta, 1820, Berlin, Stadtmuseum Berlin, GDR 64/109.

mit der plastischen Ausführung betraut war, bei der Binnengestaltung freie Hand erhielt: Hauptentwurf und technische Ausführung lagen bei ihm.22 Doch gab es gleichwohl kollegial abgestimmte Änderungen: Für das Relief des Gendarmenmarkt-Giebels sah Schinkel zunächst zwei gegeneinander anstürmende Kentauren mit Amoretten vor. Um die Leerstelle im Zentrum zu füllen, fügte Schinkel selbst noch eine Athenafigur ein, dann jedoch, wohl nach Diskussion mit Tieck, einen Eros. Im weiteren Verlauf tauschte man dann wiederum die Kentauren gegen Figurationen der Psyche aus, ausgestattet mit einer tragischen bzw. einer komischen Maske, passend zur Bestimmung des Gebäudes. Demnach handelt es sich bei diesem Giebelrelief um einen gemeinschaftlichen Entwurf von Tieck und Schinkel. Gleiches trifft auf die Nord- und Westgiebel zu. Vor allem an Ersterem wich das ausgeführte Werk entschieden vom ursprünglichen Entwurf des Architekten ab, nicht zuletzt in Fragen der Ikonografie, in denen Tieck seine herausragende archäologische ­Expertise einzubringen vermochte. Kontrovers diskutierten Schinkel und Rauch dagegen die figürlichen Dachbekrönungen und Akrotere.23 Schinkel hatte eine monumentale Quadriga auf dem Dachfirst vor­ gesehen, ähnlich der auf dem Brandenburger Tor, anders als diese aber mit Phoibos ­Apollon als Wagenlenker. Rauch kritisierte diese Idee inhaltlich, da er diese Gottheit im Zusammenspiel mit den im Dachbereich platzierten Musenfiguren als deren Anführer,

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12  Karl Friedrich Schinkel, Entwurf zum Apollon Musagetes mit Greifengespann als Bekrönung des Ostgiebels, 1819, Berlin, Kupferstichkabinett, SM 39d.171.

als Apollon Musagetes, definiert wissen wollte – plausibel erschien daher eine von G ­ reifen gezogene Biga. Schinkel ließ sich darauf ein, skizzierte dieses Ensemble, und Tieck, der das Modell für die in Kupfer zu treibende Gruppe dann ausführte, orientierte sich daran. Ebenfalls auf Intervention Rauchs hin entfiel schließlich auch die Greifenfigur auf der entgegengesetzten Firstseite. Stattdessen kam ein Pegasus zur Aufstellung, den dann wiederum Tieck ausführte. Dieser von Kooperation geprägte Umgang mit Künstlerkollegen war für Schinkel keineswegs selbstverständlich: Noch an der Neuen Wache, nur wenige Jahre vor dem Schauspielhaus errichtet, hatte er in dieser Beziehung Lehrgeld gezahlt (Abb. 13). Dieses repräsentative Wachgebäude war Schinkels erste große Bauaufgabe im Staatsdienst, er wurde Anfang 1816 von König Friedrich Wilhelm III. damit beauftragt. Für das Giebelfeld an der Front des Gebäudes hatte er ein vielfiguriges Relief entworfen, mit dessen Ausführung er Johann Gottfried Schadow betraute. Darauf pochend, die Gestaltungshoheit innezu­ haben, meinte Schinkel mit Schadow, der immerhin gerade Akademiedirektor geworden war und – noch – als Schwergewicht unter den Berliner Bildhauern galt, ebenso dirigistisch umgehen zu können wie mit seinen Bauhandwerkern und Tischlermeistern.24 Daher kam es rasch zum Zerwürfnis, vordergründig, weil der Architekt das Relief, ohne an eine ­Honorarerhöhung für Schadow zu denken, noch zweimal erweiterte, bis er zuletzt bei

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13  Karl Friedrich Schinkel, Neue Wache, Berlin-Mitte.

30 Figuren und vier Pferden ankam. Doch mutete der junge Baumeister dem gestandenen Bildhauer tatsächlich zu, lediglich die plastische Ausführung, die Modellierung zu übernehmen, ohne ihm irgendwelche Freiheiten beim Entwurf zuzugestehen. Schinkel sei, so resümmierte Schadow im Rückblick, „zu verliebt in seine Zeichnung“ gewesen, um konstruktive Kritik anzunehmen.25 Der brüskierte Bildhauer übernahm dann zwar noch die Modellierung der zehn Viktorien am Gebälk, die aber, trotz seiner Intervention, von Schinkel zu klein dimensioniert worden waren und zudem anfangs noch einen schwarzen Anstrich besaßen: Das Berliner Publikum kritisierte diesen ästhetischen Missgriff heftig, nannte die Viktorien „Fledermäuse“; Rauch sprach von „aufgehangenen Kleidern“, Bettina von Arnim gar von „Schmeißfliegen“.26 Schadow, auf den die Sache ja zurückfiel, war letztlich froh, dass Schinkel seinerseits die Zusammenarbeit beendete und den Vertrag aufkündigte. Im weiteren Verlauf scheute Schinkel die erneute Konfrontation mit Schadow oder einem Bildhauer aus dessen Umkreis. Da Rauch, Tieck und Wichmann diesmal nicht zur Verfügung standen, weil sie sich im Ausland aufhielten, beauftragte er kurzerhand den gerade aus der Schweiz nach Berlin berufenen Medailleur Henri Francois Brandt, also einen Meister der Kleinkunst, mit dieser bildhauerisch höchst anspruchsvollen Aufgabe.27 Brandt, der in seinem Metier Hervorragendes leistete, war jedoch damit völlig überfordert, er scheiterte. Das Giebelfeld blieb daraufhin leer und wurde erst nach Schinkels Tod mit einem andersartigen Relief ausgestattet.

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Die Großunternehmer Kommen wir zur dritten Gruppe, also jenen Kunstproduzenten, die zwischen den einfachen Handwerkern und den Bildhauern standen. Es handelt sich hier um größere Unternehmen, die, typisch für die Frühindustrialisierung, durch die Inhaber und Betreiber selbst hochgradig personalisiert waren. Traf Schinkel auf diese gestandenen Anbieter, war er wiederholt dazu bereit, zu kooperieren und Kompromisse einzugehen. Denn es handelte sich bei diesen Unternehmensinhabern und deren Werkmeistern um technisch und auch künstlerisch versierte Fachleute. Mitunter besaßen sie selbst den Titel eines „Akademischen Künstlers“ bei der Akademie der Künste, ein Prädikat, das, anders als die reguläre Akademiemitgliedschaft, allerdings einzig den Kunsthandwerkern vorbehalten war. Hinzu kam, dass gerade die Fabrikbesitzer als selbstbewusste Persönlichkeiten galten. Sie verfügten über ein gewisses gesellschaftliches Renommee und hatten einen sozialen Status inne, der sie vielleicht nicht mit Schinkel gleichziehen ließ, der aber doch Tendenzen der Kollegialität förderte. Mitunter firmierten diese Unternehmer auch als Hofhandwerker und waren teils freundschaftlich, teils familiär mit der Baubeamtenschaft und selbst mit dem Königshof verbunden. Schinkel begegneten sie aus einer Position der eigenen Stärke heraus, es waren wohlhabende Leute, Prominente, die im gehobenen Bürgertum und deren Institutionen, wie der Kaufmannschaft, fest verankert zu denken sind. Um welche Unternehmen handelte es sich hier? Johann George Hossauer wäre hier zu nennen, der berühmte Goldschmied mit seiner expandierenden Gold- und Plattierfabrik, selbst künstlerisch ambitioniert.28 Und Moritz Geiß, ein Industriepionier, der die Zinkgusstechnologie in Berlin etablierte und für die Anwendung in Kunst und Architektur verfügbar machte. Oder der Seidenfabrikant George Gabain, der die Stoffbezüge zu Schinkels Möbeln und die Seidentapeten für Innenausstattungen lieferte – Schinkel hat eine Zeitlang sogar in Gabains Haus gewohnt. Mit dieser Firma in Zusammenhang standen die Brüder Gropius, die neben dem Panorama, an dem Schinkel zeitweilig beteiligt war, auch einen Betrieb für Bauornamente unterhielten. In diese Reihe ist Tobias Christoph Feilner zu stellen, ein umtriebiger Tonwarenfabrikant, der Ziergefäße und Kachelöfen herstellte und sich von Schinkel zur Produktion von Bauterrakotta anregen ließ. Die Holzbronzefabrik von Carl August Mencke ist zu nennen ebenso wie die Bronzefabrik von Werner & Neffen und – hier wird die Grenze zum Handwerksmeister wieder fließender – der Steinmetz Christian Gottlieb Cantian, in dessen Haus das „geistige Berlin“ ein und aus ging. Man könnte hier auch den Hofmaurermeister Christian August Hahnemann anführen, der einem florierenden Bauunternehmen vorstand und der immerhin drei Bildungsreisen nach Italien unternahm.29 Ein Sonderfall sind die von Beamten geführten Staatsbetriebe, wie KPM und Königliche Eisengießerei, die dem künstlerischen Einfluss Schinkels und übrigens auch der Beuth’schen Politik des offenen Musterbetriebes viel selbstverständlicher unterworfen waren.30 Bei den genannten Unternehmen handelt sich zumeist um große, personalstarke Betriebe, die oft sowohl Massenprodukte anboten als auch das Luxus- und Kunstsegment

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bedienten. Schinkel förderte diese Unternehmen besonders, es waren seine Leuchttürme, über die vorbildhaft schönes Design verbreitet werden sollte. Fabriken und Manufakturen aber boten ihm mehr: Er war begeistert von den dort zur Anwendung kommenden seriellen Fertigungsmethoden und modernen Reproduktionsverfahren, die bei signifikant höherem Warenausstoß den individuellen Arbeitsaufwand senkten und wo, nicht zuletzt durch Maschineneinsatz, „die größte Genauigkeit sich mit der größten Schnelligkeit verbindet“.31 Schinkel hegte eine Vorliebe für industrielle Gusstechniken und Presstechnologien, da sie die Risiken klein hielten, die sich aus der Abhängigkeit von der Handarbeit und damit vom individuellen Können des Einzelnen ergaben. Die schon 1797 geäußerte Kritik Goethes an den „mechanischen Künstlern“ und ihren Vervielfältigungstechnologien (das 1.000ste Werk ist wie das erste und es „existieret am Ende auch tausendmal“) kehrte Schinkel ins absolut Positive.32 Technologien, bei der sich „die Arbeit über das Handwerksmäßige erhebt“, würden, so ein von Schinkel mitunterzeichnetes Gutachten der Oberbaudeputation, „auf leichtere Weise“ zum Ziel führen und das Kunstwerk selbst preiswerter machen.33 Kunst werde dadurch verfügbar auch für jene, die bislang nicht daran Teil haben konnten. Freilich verlagere sich des Künstlers Schaffen dadurch mehr auf „das Geistige der Produktion“, notierte Schinkels Freund Peter Beuth dazu, derweil „dem Gewerbe, durch eine leichte treue Vervielfältigung des Kunstwerkes, dessen allgemeine Verbreitung unter alle Klassen möglich wird“.34 Deutlich wird hier, wie radikal im Gefolge der beginnenden industriellen Revolution auch die Kunstpraxis im Wandel begriffen war. Diese neuen Konstellationen bezogen sich allerdings nun nicht nur auf die Fertigung von Kunstwerken. Denn selbst massenhaft produziertes Gebrauchsgut, Haushaltsgeschirr beispielsweise, erhielt durch den dem Design zugrundeliegenden Künstlerentwurf das Flair von Exklusivität.35 Wie aber verlief die praktische Zusammenarbeit zwischen Schinkel und diesen Großbetrieben? Erkennbar ist, dass der Architekt bereits in den Entwürfen Rücksicht auf die Bedürfnisse der Fabrikfertigung nahm, so durch die Anwendung des Baukastenprinzips oder bei der Sekundärnutzung bereits vorhandener, älterer Detaillösungen und Modelle. Er ignorierte damit selbst die Grenzen zwischen den Gewerbebranchen, indem dasselbe Design, und sei es nur im Detail, in den verschiedensten Anwendungszusammenhängen und in variablen Werkstoffen Verwendung fand. In der einschlägigen Forschung ist diese Praxis als Entwurfseffizienz und Entwurfsökonomie von Seiten des Künstlers bezeichnet worden.36 Doch scheinen hier eher die Interventionen der beteiligten Produzenten, die an der Effizienz des Produktionsprozesses interessiert waren, die treibende Kraft gewesen zu sein. Derartige Interventionen, meist wohl im direkten Gespräch in der Werkstatt vorgetragen, lassen sich nur ausnahmsweise auch archivalisch belegen. So hatte Georg Friedrich Christoph Frick, der Dirigent der KPM, auf einer von Schinkel stammenden Entwurfszeichnung für ein Porzellangefäß das technisch Unausführbare einer Detaillösung moniert und diese kategorisch abgelehnt: „Dieser Henkel ist in Porzellan an dieser Vase nicht auszuführen weil er anders schwindet als die gedachte Vase“.37

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Am Beispiel der Tonwarenfabrik von Tobias Feilner wird indessen deutlich, dass Unternehmer wie Feilner auch größere Eingriffe in die Entwürfe Schinkels riskieren konnten. Feilners Kerngeschäft bildete die Herstellung von Kachelöfen, sowohl ganz einfachen für den Massenbedarf als auch solchen für das Luxussegment. Durchschnittlich führte die ­Fabrik um die 180 Modelle im Sortiment, das beständig modernisiert und verjüngt wurde. Obwohl aber anscheinend ein großer Teil dieser Modelle auf Entwürfe Schinkels zurückging, hatte Feilner es nie für relevant befunden, diese Konstellation öffentlichkeitswirksam herauszustreichen; der üblicherweise so werbeträchtige Name Schinkel spielte im Marketing dieser Fabrik keine große Rolle.38 Auch waren die Geschäftsbeziehungen ­zwischen beiden keineswegs eine Einbahnstraße. Schinkel war zwar meist der Besteller, doch konnte Feilner dem Architekten gegenüber ebenso als Auftraggeber auftreten, nämlich dann, wenn gegen Honorar Entwürfe für dekorative Arbeiten zu liefern waren.39 Beide standen folglich in einer besonderen, von gegenseitigen Abhängigkeiten geprägten Beziehung zueinander, ihre wechselnde Positionierung als Auftraggeber bzw. -nehmer folgte pragmatischen Überlegungen. Anders als ein einfacher Handwerker konnte es sich Feilner daher leisten, durchaus korrigierend in die Entwürfe des Architekten einzugreifen, zumal in Fällen, wo es um technische Machbarkeit ging, um Effizienz vor allem und um die Verkaufbarkeit der zu produzierenden Waren. Tatsächlich hat Feilner es gewagt, Schinkels Entwurf für ein repräsentatives Wohnhaus, das der Fabrikherr neben dem Werksgelände errichten wollte, persönlich abzuändern.40 Das war möglicherweise als Affront zu verstehen, zumindest mag es aus heutiger Sicht so scheinen. Denn bedenkt man die große Verehrung, die Feilner, wie viele andere, dem ­Architekten entgegenbrachte, war es als Auszeichnung zu verstehen, dass er überhaupt mit einem Architekturentwurf des ganz überwiegend in Bauprojekten von Staat und Hof Beschäftigten bedacht wurde. Schinkel, der erst in einer bereits fortgeschrittenen Bau­ planungsphase einen Alternativentwurf vorlegte, der dann auch gebaut wurde, hat wenig später seine Bauzeichnungen zum so genannten Feilnerhaus in der Publikationsfolge der „Architektonischen Entwürfe“ veröffentlicht.41 „Mancherlei besonders eingetretene Verhältnisse“, schrieb er da, seien der Grund gewesen, dass seine Entwürfe nicht 1:1 ausgeführt worden seien. Das Feilnerhaus, 1829 erbaut, im letzten Krieg zerstört, gilt als Vorläufer der Bauakademie. Es ist eines der wenigen Bürgerhäuser, die Schinkel überhaupt entworfen hat. Schinkel entwickelte an diesem Gebäude die bereits an Militär- und Gewerbebauten erprobte, unverputzte Backsteinarchitektur konsequent weiter, indem er deren sachliche Strenge, hierin norditalienischen Vorbildern folgend, durch Bauschmuck aus Terrakotta aufwertete und gefälliger zu machen suchte. Im Inneren des Hauses hatte Schinkel ein repräsentatives Raumgefüge vorgesehen mit schräg eingestellten Schlaf- und Festräumen, die jedoch im Endeffekt schwierig bespielbare Nischen und Eckräumchen nach sich zogen. Noch auf einer fertig lavierten Zeichnung ist erkennbar, wie Schinkel mit Bleistift-Korrekturen um eine Optimierung kämpfte.42 Feilner aber dampfte diese Planung selbstbewusst

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14  Karl Friedrich Schinkel, Ansicht und Grundriss des Feilnerhauses, zwei Brüstungsplatten, 1829.

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auf das Nötigste ein und ließ schließlich ein davon abweichendes, weitgehend konventionelles Raumgefüge ausführen. An der Straßenfassade aber kürzte Feilner gar das ambitionierte Bildprogramm Schinkels: Dieser hatte hier Brüstungsplatten unter den Fenstern vorgesehen, allesamt als Relief ausgeführt vom Bildhauer Ludwig Wichmann. Für jede dieser 26 Platten lag ein eigenes Motiv vor, arrangiert aus paarweise zugeordneten nackten Genien, eingewoben in ein dekoratives Rankenwerk. Einzelne Elemente, wie ein Feuersalamander, stellten den Bezug zur Profession des Bauherrn her.43 Schinkel ging hier von der ästhetischen Gesamtwirkung aus, denn die im Ganzen vereinheitlichte Bürgerhausfassade mit ihren überall gleichrangig behandelten Bauteilen wartete mit diesen an den Hausöffnungen platzierten Reliefs mit einer geradezu filigranen Detailvielfalt auf. Der spannungsvolle Reiz dieser Fassade erwuchs aus dem Gegensatz von großen glatten Ziegelflächen einerseits und diesen kleinteiligen, eingehegten Dekorzonen andererseits.44 Anders als Schinkel aber trieb Feilner die Frage nach der Effizienz des Produzierens an: Wenn jede Reliefplatte eigens modelliert werden muss, steigen auch die dafür aufzuwendenden Kosten an. Ohnehin aber kam Feilners Fabrik durch die Herstellung der für die Fassade erforderlichen Gesimse, Leisten und reliefierten Gewändeplatten bereits an Ka­ pazitätsgrenzen. Er setzte daher durch, dass nur ein einziges Motiv für alle 26 Platten verwendet wurde, er schränkte also die dekorative Vielfalt und auch die inhaltliche Aussage des Bilderzyklus’ radikal ein. Hier zeigte sich bürgerliche Bescheidenheit, ja Sparsamkeit, denn Feilner verzichtete sehr bewusst auch auf die Marketingrelevanz dieses Bild­ programmes, zumindest in ästhetischer Hinsicht. Die Werbewirkung dieser Gebäudefassade aber hatte Schinkel durchaus einkalkuliert, was bereits in der Bauphase vom Fachpublikum wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde.45 Andererseits ist diese „zusammengestrichene“ Variante aber auch sichtbarer Beleg für die technische Leistungsfähigkeit des Unternehmens, das mittels serieller Produktionsprozesse ein und dasselbe Motiv exakt reproduzieren konnte. An die Stelle des künstlerischen und handwerklichen Einzelstückes hat Feilner das industriell hergestellte Serienprodukt gesetzt. Dass Feilner auch in weiteren Fällen Eingriffe an den Entwürfen Schinkels vornahm, ist an den Produkten seiner Tonwarenfabrik gut abzulesen. Bei den von Schinkel kreierten Stubenöfen, bei Gefäßen und Bauterrakotten, ist mitunter das Bestreben Feilners spürbar, den ausufernden Gestaltungswillen des Architekten zu bändigen. Schinkel hat hier gewiss nicht auf eigenen Antrieb gehandelt, sondern muss den Interventionen Feilners und dessen fachlicher Expertise gefolgt sein. Dem Unternehmer ging es vor allem darum, den Modellieraufwand zu beschränken, Kosten zu sparen, beispielsweise dadurch, dass ältere, bereits vorhandene Modelle und Detaillösungen recycelt wurden. Ein schönes Beispiel dafür ist der berühmte Schinkelkandelaber aus Terrakotta, erstmals ausgeführt im Sommer 1824 in der Fabrik Feilner (Farbabbildung 8). Entworfen von Schinkel, ging das Modell gemeinschaftlich auf den Bildhauer Wichmann, der die figürlichen Arbeiten schuf, und den bei der Fabrik angestellten Töpfer Ferdinand Hanisch zurück.46 Die beiden Prototypen

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dieses Kandelabers wurden in der Kunstausstellung der Preußischen Akademie der Künste im Herbst 1824 gezeigt, dort vom König angekauft und kamen direkt in den gerade fertiggestellten Neuen Pavillon am Schloss Charlottenburg.47 Schinkel veröffentlichte das Modell im Tafelwerk der Vorbilder für Fabrikanten und Handwerker, das durch Beuth bei der Technischen Deputation herausgegeben wurde. Der Kandelaber ist eine der schönsten und ausgewogensten Leuchterschöpfungen Schinkels, unverkennbar hat er sich dabei an Vorbildern der römischen Antike orientiert. In der Forschung gilt der Entwurf zu diesem Kandelabermodell bis heute als sozusagen aus einem Guss stammend. Nun stellte sich aber jüngst heraus, dass die bekrönende Schale bereits Jahre vorher, ausgestattet mit einem Fuß, als Aufsatzschale in Gebrauch war.48 Sie tauchte schon vor 1820 im Modellbestand der Feilnerfabrik auf – Schinkel hat also ein älteres Detail wiederverwendet, indem er diese Schale gekonnt dem Gesamtbild organisch einordnete. An dem Kandelaber aber fällt noch mehr auf: Die Sphingen an der Basisecken finden sich nämlich in identischer Form und Größe auch an einem Kachelofenmodell wieder, dessen Entwurf offenbar ebenfalls Schinkel zuzuschreiben ist.49 In diesen Details aber folgt wohl der Ofen zeitlich dem Kandelaber.50 Von diesem Schinkel’schen Ofen aber führt die Spur weiter zu einem Kaminmodell. Sowohl am Ofen als auch an diesem aus Terrakotta gebrannten Kamin sitzt nämlich im zentralen Bereich eines plastischen Frieses ein Mädchenkopf, der auf einer Blüte platziert ist. Dem Kamin wird gleichfalls ein Entwurf Schinkels zugrunde liegen  – ein Exemplar dieses Modells lieferte Feilner 1837 zu den ­Römischen Bädern im Park Sanssouci.51 Schinkel folgte hier mit Sicherheit den Forderungen seines Produzenten nach größtmöglicher Effizienz. Er ist in diesen und vergleichbaren Fällen tatsächlich Kompromisse eingegangen, wenn es darum ging, den Aufwand an künstlerisch-handwerklicher Arbeit klein zu halten. Denn bemerkenswerterweise war Schinkels Herangehenspraxis, auch und vor allem bei seinen großen Bauten, nie auf Einsparung angelegt, es war immer das ins Große Gehende, das Ausufernde, das ihn auszeichnete – das Budget musste dann eben nachgebessert werden, so wie eigentlich immer an seinen Staatsbauten.52 Auch dort, wo ihm die neuen Technologien und Materialien eigentlich die Möglichkeit eröffneten, sparsam zu wirtschaften, nutze er diese nicht, sondern lotete stattdessen deren Potenziale aus: Statt konsequenter Standardisierung und kluger Beschränkung setzte er offenbar auf quantitativen Überfluss, ästhetisch maßvoll gedacht in anspruchsvoller Vielfalt, aber eben realisiert als eine exemplarische Anwendungspraxis, die auf zur Schau gestellte Potenzierung und musterhafte Vorbildhaftigkeit setzte – letztlich, um zu zeigen, was möglich ist, wenn man die modernen Mittel richtig anzuwenden weiß.53 Beim Backsteinbau der Friedrichswerderschen Kirche beispielsweise stützte er sich zwar auf eine begrenzte Palette normierter Steinformate, fügte aber immer wieder Sonderformen ein, so an den Fenstern, Gesimsen und Portalen.54 Allein für das große Südfenster waren es über 120 unterschiedliche Formen. Da diese Steine jeweils individuell in Größe und Form per Hand geformt werden mussten, widersprach diese Praxis eklatant dem zugrunde liegenden Prinzip der

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Serialität. So hatte der größte Zulieferbetrieb dieses Bauprojektes, die königliche Ziegelei in Joachimsthal, sich bereits auf eine serielle, von Maschinen untersetzte Produktionsweise umgestellt, beispielsweise durch die Anschaffung von Tonschneidemaschinen und mechanischen Ziegelpressen.55 Sonderformate aber bedeuteten einen höheren Anteil an quali­ fizierter Handarbeit, steigerten damit die Kosten und führten zu terminlichen Verzögerungen. Technische Effizienz und Rationalität waren für Schinkel möglicherweise keine primären Kategorien. Denn die kurze Zeit später entstandene Bauakademie wies dann sogar eine signifikant höhere Anzahl spezieller Steinformate auf als noch der Bau der Friedrichswerderschen Kirche, kein Gesims glich hier dem anderen, alle Fassadenelemente hatten ein eigenes Formsteinprogramm.56 Schinkel förderte zwar offensiv die neuen ­Produktionsformen und schätzte die Potenziale, die sich aus den industriellen Verfahren ergaben. Aber er mied dann doch die konsequente Anwendung des Seriellen bis in die architektonischen Detailformen hinein.

Schlussbetrachtung Schinkel stand bei der praktischen Umsetzung seiner Entwürfe für Kunst, Architektur und Kunstgewerbe ein nuanciertes Kommunikationspotenzial zur Verfügung, das je nach Gegenüber – Handwerker, Fabrikherr oder Künstler – differenziert von ihm eingesetzt werden konnte. Dabei nahm er selbst unmissverständlich die führende Position ein, legitimiert durch die tradierte Vorstellung von der hierarchisch strukturierten Kunstproduktion, an deren Spitze die Entwurfstätigkeit stand. Um die detailgenaue Überführung seiner Schöpfungen in das Kunstwerk oder das kunstgewerbliche Objekt sicherzustellen, übernahm Schinkel persönlich die detaillierte Instruktion der Produzenten und auch die stete Kontrolle des Herstellungsprozesses. Dass brachte insbesondere für die kleingewerblichen Handwerker den Verlust schöpferischer Autonomie mit sich. Gegenüber Künstlerkollegen, vor allem Bildhauern, war Schinkel dagegen bereit Kooperationen einzugehen, die dann durchaus zu gemeinschaftlichen Entwurfstätigkeiten führen konnten. Aktuelle Forschungen machten es nun möglich, eine dritte Produzentengruppe näher zu definieren. Diese ist angesiedelt in der Mitte zwischen den von Schinkel streng dirigistisch geführten Handwerkern und den autonom agierenden Künstlern, die auf dessen Kollegialität zählen konnten: Es sind die Betreiber der großen kunstgewerblichen Unternehmen, darunter solchen mit früher Massenproduktion. Ihnen kam Schinkel mit einer gewissen Kompromissbereitschaft entgegen. So akzeptierte er durchaus radikale Eingriffe in seine Entwürfe, zudem ließ er sich darauf ein, bereits vorhandene Detaillösungen erneut einzusetzen. Dabei handelt es sich interessanterweise gerade um jene industriellen Unternehmen, die sich schon vor Schinkels Ableben im Jahr 1841 zumindest ansatzweise vom Geschmacksdiktat des preußischen Staates zu emanzipieren suchten. Die Abwendung des Privatgewerbes vom spätklassizistischen Hofstil Schinkels hin zu den Retrostilen des ab

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1835 aus Frankreich herüberschwappenden Zweiten Rokoko und der Neorenaissance ist als deutliches Zugeständnis an den von Moden abhängigen Konsumentengeschmack zu verstehen.57 Die einschlägige Kunstkritik zeigte sich freilich irritiert angesichts des sich ­radikal wandelnden Produktdesigns, wie es schon zur Allgemeinen Deutschen Gewerbe­ ausstellung 1844 in Berlin zu sehen war und dann mit Vehemenz 1851 auf der Londoner Weltausstellung auftrat.58 Dabei setzte das Berliner Kunstgewerbe auf Formengut, das traditionell noch von den Architekten der Schinkelschule kommen konnte, wie August Stüler und Heinrich Strack, aber eben doch bereits auch von fest angestellten Musterzeichnern und Designern, die sich mehr als diese dem Aspekt der Verkaufbarkeit der herzustellenden Waren verpflichtet fühlten – mit dem Verblassen der Bildungsideale der Zeit um 1800 schwand offenbar auch die reflexhafte Angst vor der Willkür der Publikumsgunst.59 Ein behördlich agierender, mit seinem Offizialdesign allgegenwärtiger Staatskünstler wie Schinkel aber war in diesem sich beschleunigenden, industriellen Modernisierungsprozess ein Phänomen des Übergangs und damit ein Auslaufmodell.60 Die frühere Omnipräsenz seines Designs klang indessen noch lange nach Schinkels Tod im Sortiment der preußischen Gewerbebetriebe nach.

Anmerkungen 1

Aus der umfangreichen Literatur zu Schinkel siehe zuletzt Karl Friedrich Schinkel. Geschichte und Poesie. Das Studienbuch, hrsg. von H.-T. Schulze Altcappenberg u. a., Berlin 2012; Karl Friedrich Schinkel. Geschichte und Poesie, Ausst.-Kat. (Berlin, Kupferstichkabinett, 2012, und München, Kunsthalle Hypo-Kulturstiftung, 2013), hrsg. von H.-T. Schulze Altcappenberg u. a., Berlin 2012; Christoph von Wolzogen, Karl Friedrich Schinkel. Unter dem bestirnten Himmel, Frankfurt/Main 2016.

2 Aus Gedanken zur Baukunst, zit. nach Karl Friedrich Schinkel. Briefe, Tagebücher, Gedanken, hrsg. von H. Mackowsky, Berlin 1922, S. 192. 3

Andreas Haus, Karl Friedrich Schinkel als Künstler. Annäherung und Kommentar, Berlin/München

4

Gert Selle, Geschichte des Designs in Deutschland, Frankfurt/Main 2007, S. 36–41; Jan Mende, Karl

2001, S. 305–318. Friedrich Schinkel und das Schöne im Alltag. Entwürfe für das preußische Kunstgewerbe (13. Februar 2018), in: Goethezeitportal. URL: http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/bildende_kunst/ mende_schinkel.pdf [zuletzt aufgerufen 7. Mai 2019]. 5

Iwan D’Aprile, „Das Alltägliche individualisiren“. Karl Philipp Moritz‘ urbanes Ästhetikprogramm, in: Karl Philipp Moritz in Berlin 1789–1793, hrsg. von U. Tintemann und C. Wingertszahn, Hannover 2005, S. 141–157; vgl. auch Jan Mende, Der Berliner Kachelofen. Ein Erfolgsmodell in Preußen, in: Kunst in Preußen. Preußische Kunst? (Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, NF, Beiheft 13/1), hrsg. von P. Betthausen und F.-L. Kroll Berlin 2016, S. 233–251, bes. 233, 234.

6

Zit. nach Hans Kania, Hans-Herbert Möller, Mark Brandenburg I (Schinkel Lebenswerk 10), Berlin 1960, S. 121.

7

„Privatnutzen und persönliches Interesse ist die Zauberrute, die hier Wunder tut“, äußerte der Weimarer Verleger Bertuch 1793 in einem vergleichbaren Zusammenhang, zit. nach Siglinde

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­Hohenstein, Friedrich Justin Bertuch (1747–1822) – bewundert, beneidet, umstritten, Berlin/New York 1989, S. 79.   8 Geheimes Staatsarchiv Berlin PK I.HA Rep. 120A Ministerium des Handels und der Gewerbe Abt. V, Fach II, Nr. 5, Bd. I. Jahresberichte des Wirklichen Geheimen Oberregierungsraths Kunth über den Zustand der Gewerbsamkeit von 1819–1825, Allgemeiner Bericht über den Zustand des ­Fabriken- und Handelsgewerbes, 22.4.1819, fol. 53.   9 Schreiben Goethes an Rauch, Weimar, 11. März 1828, zit. nach „Mit vieler Kunst und Anmuth“. Goethes Briefwechsel mit dem Bildhauer Christian Daniel Rauch, hrsg. von R. Johannsen, Göttingen 2011, S. 85, 86. 10 Vgl. Johannes Sievers, Die Möbel (Schinkel Lebenswerk 6), Berlin 1950. 11 Am Beispiel von Maurer- und Zimmerermeistern, die, althergebracht, als entwerfende Baumeister auftraten, erläutert bei Hartmann Manfred Schärf, Die klassizistischen Landschlossumbauten Karl Friedrich Schinkels, Berlin 1986, S. 259. 12 Matthias Hahn, „... ächte vollendete Werke der bildenden Künste im Kleinen, worauf im Großen das Wohl des Staates sich bildet“. Gewerbeförderung und ästhetische Edukation in Preußen am Beispiel der kunstgewerblichen Erzeugnisse der Königlichen Eisen-Gießereien, in: Berliner Eisen. Die Königliche Eisengießerei Berlin. Zur Geschichte eines preußischen Unternehmens (Berliner Klassik. Eine Großstadtkultur um 1800, 9), hrsg. von C. Schreiter und A. Pyritz, Hannover 2007, S. 187–207, bes. 187–190. Am Beispiel der Weimarer Zeichenschule erläutert bei Hohenstein 1989 (Anm. 7), S. 54. 13 In einem Umkehrschluss hat man derartige Praktiken wie bei Schinkel auch als Versuch gewertet, den als Folge der Auflösung der Zunftverfassung aufkommenden Verlust „künstlerisch-schöpferischen Produktionsdenkens des Ausführenden“ aufzufangen, z. B. bei Marlies Lammert, Zu Problemen der klassizistischen Architekturentwicklung, in: Studien zur deutschen Kunst und Architektur um 1800 (Fundus-Reihe 75/76), hrsg. von P. Betthausen, Dresden 1981, S. 53–78, hier S. 74, 75. 14 Schreiben Schinkels an den Berliner Theaterintendanten Brühl, 14. Februar 1818, zit. nach Felix Hasselberg: Unbekannte Briefe von und an Schinkel, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 48, 1931, H. 1, S. 25–28, hier S. 26. 15 Birgit Kropmanns, Die Möbelzeichnungen Karl Friedrich Schinkels. Versuch einer Kategorisierung, in: Geschichte und Poesie 2012 (Anm. 1), S. 235–242. 16 Bettina von Roenne: Bilderrahmen neu entdeckt. Das in Vergessenheit geratene Rahmenwerk Schinkels, in: Geschichte und Poesie 2012 (Anm. 1), S. 225–234, hier S. 230. 17 Staatliche Museen Berlin, Zentralarchiv, Nl Schinkel, Mappe Kunsthandwerk, Schreiben Schinkels an König Friedrich Wilhelm III., um 1828/1829. Vgl. Karl Friedrich Schinkel. Architektur, Malerei, Kunstgewerbe, Ausst.-Kat. (Berlin, Staatliche Schlösser und Gärten/Nationalgalerie 1981), Berlin 1981, S. 89–91. 18 Ulrike Eichner u. a., Untersuchung und Restaurierung der vergoldeten Sitzmöbelgarnitur, in: Karl Friedrich Schinkel. Eine vergoldete Sitzmöbelgarnitur für das Palais Prinz Friedrich in Berlin. Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (Patrimonia 375), hrsg. von der Kulturstiftung der Länder, Berlin 2016, S. 21–33, hier S. 27–30. 19 Rolf H. Johannsen, Karl Friedrich Schinkel. Entwürfe für Bildhauer, Ausst.-Kat. (Berlin, Kupferstichkabinett/Alte Nationalgalerie, 2011), Berlin 2011. 20 Jan Mende, Eisen und Terrakotta. Technische und künstlerische Parallelen, in: Berliner Eisen 2007 (Anm. 12), S. 171–186. 21 Johannsen 2011 (Anm. 19), S. 27, 28. 22 Auch für das Folgende: Bernhard Maaz, Christian Friedrich Tieck, 1776–1851. Leben und Werk unter besonderer Berücksichtigung seines Bildnisschaffens, mit einem Werkverzeichnis, Berlin 1995, S. 58–66, 315–321, Kat. 114–123.

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23 Johannsen 2011 (Anm. 19), S. 27, 28. 24 Auch für das Folgende: Helmut Börsch-Supan, Schadow und Schinkel, in: Der Bär von Berlin. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins 30, Berlin 1981, S. 7–28, hier S. 22–24. 25 Zitiert nach Johannsen 2011 (Anm. 19), S. 41. 26 Zit. nach Börsch-Supan 1981 (Anm. 24), S. 23. 27 Brandt wurde 1818 erster Medailleur an der Königlichen Münze. 28 Einen Überblick über diesen und die folgend erwähnten Fabrikunternehmer gibt Angelika ­Wesenberg, Schinkel, Beuth und die Gewerbeförderung in Preußen, in: Karl Friedrich Schinkel 1781–1841, Ausst.-Kat. (Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, 1980), Berlin 1982, S. 255–286. 29 Uwe Kieling, Berliner Baubeamte und Staatsarchitekten im 19. Jahrhundert, Berlin 1986, S. 26. 30 Vasilissa Pachomova-Göres, Schinkels Wirken für die königliche Porzellanmanufaktur Berlin, in: Forschungen und Berichte der Staatlichen Museen zu Berlin 25, Berlin 1985, S.  154–167; Die ­Königliche Eisen-Gießerei zu Berlin. 1804–1874, Ausst.-Kat. (Berlin, Stadtmuseum Berlin, 2004), hrsg. von E. Bartel, Berlin 2004. 31 Zit. nach Johann Wolfgang von Goethe, Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, in: Johann Wolfgang von Goethe Werke (Hamburger Ausgabe, Bd. 14), 9. Aufl., München 1998, S. 7–269, hier S. 13. 32 Zit. nach Johann Wolfgang von Goethe, Kunst und Handwerk (Handschrift aus dem Nachlass, entstanden nach dem 15.9.1797), in: Johann Wolfgang von Goethe, Schriften zur Kunst 1 (DTV), München 1962, S. 67–70, hier S. 69. 33 Geheimes Staatsarchiv Berlin PK I.HA Rep. 93B Ministerium der öffentlichen Arbeiten, Nr. 2520 betreffend den Neubau der Friedrichs-Werderschen Deutschen und Französischen Kirchen in ­Berlin 1824–1830, Bl. 146–150: Schreiben der Oberbaudeputation (unterzeichnet von Eytelwein, Schinkel u. a.) an das Ministerium des Inneren, 15. Juli 1829. 34 Zit. nach Tilmann Buddensieg, Englisches „Maschinenwesen“ und preußischer „Gewerbefleiß“. Goethes Blick auf Wedgwood, Beuth und Schinkel, in: Die Grenzen sprengen. Edzard Reuter zum Sechzigsten, Berlin 1988, S. 257–288, hier S. 277. 35 Am Beispiel von Flaxmans Arbeiten für die Steingutfabrik Wedgwood erläutert bei David Bindman, Das Umreißen einer Idee. Ein künstlerischer Neubeginn, in: Schönheit und Revolution. Klassizismus 1770–1820, Ausst.-Kat. (Frankfurt/Main, Städel Museum, 2013), hrsg. von M. Bückling und E. Mongi-Vollmer, Frankfurt/Main 2013, S. 191–196, hier S. 193. 36 Zu Schinkels Entwurfsökonomie z. B. Johannsen 2011 (Anm. 19), S. 33. 37 Zit. nach Pachomova-Göres 1985 (Anm. 30), S. 164, Kat. 689 Entwurf einer Vase, 1828. Der Verf. dankt Frau Eva Wollschläger, KPM-Archiv, für den Hinweis auf dieses Blatt und für weiterführende Informationen zu Frick. 38 Jan Mende, Die Tonwarenfabrik Tobias Chr. Feilner. Kunst und Industrie im Zeitalter Schinkels (Kunstwissenschaftliche Studien 178), Berlin/München 2013, S. 210–211. – Vielleicht setzte das informierte Publikum diese Information ja ohnehin voraus, was jeden weiteren Verweis darauf unnötig machte. Die deutschlandweit und bis nach England, Russland und Italien vertriebenen Öfen gingen jedenfalls unter dem Namen Berliner Öfen und Feilner’sche Öfen in den Handel. Unter Feilners Vorgänger waren gelegentliche Hinweise auf die Entwurfsschöpfer der eigenen Waren noch durchaus üblich, vgl. Jan Mende, Johann Gottfried Höhler (1744–1812). Ein Berliner Hoftöpfermeister und Fabrikant von Tonwaren, in: Hofkünstler und Hofhandwerker in deutschsprachigen Residenzstädten der Vormoderne, hrsg. von A. Tacke, J. Fachbach und M. Müller, ­Petersberg 2017, S. 301–319, hier S. 313–315. 39 Mende 2013 (Anm. 38), S. 204. 40 Zum Feilnerhaus siehe Mende 2013 (Anm. 38), S. 118–121, 239–244, Kat. E4–E8.

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41 Karl Friedrich Schinkel, Sammlung architektonischer Entwürfe enthaltend theils Werke, welche ausgeführt sind, theils Gegenstände, deren Ausführung beabsichtigt wurde, Potsdam 1818–1835, Neuauflage Princeton New York 1989, Blatt 113, 114. 42 Karl Friedrich Schinkel: Grundriss des ersten Obergeschosses des Feilnerhauses, 1828, Kupferstichkabinett SMB, SM 32.1. 43 Paul Ortwin Rave, Berlin III. Bauten für Wissenschaft, Verwaltung, Heer, Wohnbau und Denkmäler (Schinkel Lebenswerk 11), Berlin 1962, S. 217; Mende 2013 (Anm. 38), S. 240. 44 Schinkel 1989 (Anm. 41), Blatt 113, 114. 45 Wer dieses Haus „ansieht, wird sogleich wissen, dass er vor der berühmten Berlinischen Ofen-Fabrik steht“: Heinrich Weber, Über das Äussere Ansehen der Fabrik-Gebäude, in: Zeitblatt für Gewerbtreibende und Freunde der Gewerbe 1, Berlin 1828, S. 157, 158, hier S. 158. 46 Mende 2013 (Anm. 38), Kat. C1–C7. 47 Mende 2013 (Anm. 38), Kat. C1, C2. 48 Mende 2013 (Anm. 38), Kat. B15, Abb. 41. 49 Mende 2013 (Anm. 38), Kat. A67. 50 Das Sphinxmotiv hat Schinkel auch in anderen Zusammenhängen verwendet, so an einem um 1830 entstandenen Tisch für das Schloss Glienicke des Prinzen Carl oder auch an einem 1825 entworfenen Modell eines Armlehnsessels für die Kronprinzenwohnung im Berliner Schloss. Ausst.-Kat. Schinkel 1982 (Anm. 28), Kat. 354, 359. 51 Mende 2013 (Anm. 38), Kat. A59. 52 Zu den überbordenden späten Architekturphantasien Schinkels, beispielsweise für Schloss Orianda auf der Krim, siehe Rolf H. Johannsen, Der Traum vom Bauen, Bilden und Schauen. Die späten Utopien, in: Geschichte und Poesie 2012 (Anm. 1), S. 257–281. 53 Martina Abri, Schinkels Backsteinbauten am Beispiel der Friedrichswerderschen Kirche und der Bauakademie, in: Karl Friedrich Schinkel. Aspects of his Work/Aspekte seines Werkes, hrsg. von S. M. Peik, Stuttgart/London 2001, S. 50–56, hier bes. S. 52. 54 Martina Abri, Die Friedrich-Werdersche Kirche zu Berlin. Technik und Ästhetik in der BacksteinArchitektur K. F. Schinkels, Berlin 1992, S. 117–142, zum Südfenster bes. S. 66, 126–134. 55 Martina Abri und Christian Raabe, Die Friedrichswerdersche Kirche, in: Die Friedrichswerdersche Kirche. Schinkels Werk, Wirkung und Welt, hrsg. von B. Maaz, Berlin 2001, S. 43–78, hier S. 55. 56 Abri 2001 (Anm. 53), S. 52. 57 Barbara Mundt, Ein Institut für den technischen Fortschritt fördert den klassizistischen Stil im Kunstgewerbe, in: Berlin und die Antike. Architektur, Kunstgewerbe, Malerei, Skulptur, Theater und Wissenschaft vom 16. Jahrhundert bis heute, in: Ausst.-Kat. (Berlin, Deutsches Archäologisches Institut/Staatliche Museen Berlin, 1979), hrsg. von W. Arenhövel, Berlin 1979, S. 455–472, hier bes. S. 472. 58 Mundt 1979 (Anm. 57), S. 469. 59 Exemplarisch zum Dilemma des künstlerischen Schaffens zwischen intellektuellem Bildungsanspruch und der Willkür der Publikumsgunst vgl. Rüdiger Safranski, Goethe und Schiller. Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt/Main 2011, S. 90, 104, 120. 60 Selle 2007 (Anm. 4), S. 38–41.

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Wenn ich Beethoven wäre, dann wärst Du Yehudi Menuhin Zur Zusammenarbeit von Georg Meistermann und den Glaswerkstätten

Die moderne Glasmalerei seit Anfang des 20. Jahrhunderts ist geprägt durch eine enge Zusammenarbeit zwischen entwerfendem Künstler auf der einen und ausführender Glaswerkstatt auf der anderen Seite. Der bekannteste Reformer innerhalb der modernen Glasmalerei war der Berliner Unternehmer Gottfried Heinersdorff (1883–1941), Inhaber der Vereinigten Werkstätten für Mosaik und Glasmalerei Puhl & Wagner, Gottfried Heinersdorff. Neben der Rückbesinnung auf die Technik einer architekturgebundenen Glasmalerei des Mittelalters ist ihm vor allem die Trennung von Entwurf (Künstler) und Ausführung (Kunstglaser) im Arbeitsprozess zu verdanken – eine Idee, die auf die Arbeitsteilung in mittelalterlichen Bauhütten rekurriert.1 Diesen Gedanken hob Karl Scheffler in seiner Einleitung zu Heinersdorffs Schrift Die Glasmalerei. Ihre Technik und ihre Geschichte aus dem Jahr 1914 hervor, nachdem er die zeitgenössische Zuordnung der Glasmalerei zum Kunsthandwerk und Kunstgewerblichen bemängelt hatte: Die Glasmalerei ist nicht eine kunstgewerbliche Technik für sich, sondern in jeder Weise Teil einer Gesamtarchitektur, der auf alle anderen Teile zurückweist. Der romanisch-gotische Baugedanke ist eine der grössten Kunstideen, die die Menschheit jemals verwirklicht hat.2

Und weiter führt er zum Gedanken einer einheitlichen Bauhütte aus: Wir sehen aus dem Geiste der Gotik eine neue, seltsame, kostbare Kunst [...] entstehen. [...] Eine Kunst, die dann überging an die Bauhütten der gotischen Dome, wo sie zu einer einheitlich geleiteten Werkstattarbeit wurde [...]. Wenn die Heutigen die Meisterwerke der romanischen und gotischen Epoche wieder stark zu empfinden beginnen, so ist die Ursache ihr Drang zu einer neuen Gesamtarchitektur [...].3

Auf dieser Grundlage und mit dem Verweis auf die mittelalterliche Bauhütte argumentierte Heinersdorff dann in seinem eigenen Beitrag. Da auch im Mittelalter aus ökonomi-

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schen und künstlerischen Gründen vermutlich bereits Entwürfe sowohl von Glasmalern als auch von externen Malern geliefert wurden (er verweist in diesem Punkt auch auf spätere Epochen, z. B. Hans Holbein (1497/1498–1543) und Albrecht Dürer (1471–1528), sei dies auch für die Gegenwart zu empfehlen.4 Die erfreuliche Entwicklung der Glasmalerei in dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hat denn wohl auch bereits denen recht gegeben, die die besten Künstler neben den tüchtigsten ausführenden Glasmalern sehen wollen. Nur so kann sich die Glasmalerei wieder die Bedeutung und das Ansehen verschaffen, die sie einstmals mit Recht besaß.5

Neben Bedeutung und Ansehen ging es Heinersdorff vor allem auch um eine formale ­Erneuerung der Glasmalerei, die er eben nur durch diese Arbeitsteilung umsetzbar sah.6 Damit einher ging die bis heute übliche Einbindung zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler als Entwerfer wie im Beispiel Heinersdorff etwa Max Pechstein (1881–1955), ­César Klein (1876–1954) und Johan Thorn Prikker (1868–1932). An diesem Vorbild orientierten sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und bis heute,7 auch andere, tradi­tionsreiche Glasmalereiwerkstätten in Deutschland.

Georg Meistermann und seine Annäherung an die Glasmalerei Als interessantes Fallbeispiel erscheint Georg Meistermann (1911–1990) in seiner Zu­ sammenarbeit mit den Glaswerkstätten Derix in Kevelaer und Düsseldorf-Kaiserswerth, ­Oidtmann in Linnich und Gossel in Caldern-Lahntal. Bislang wurden die wenigen Analysen dieser Kooperationen in der Forschung auf den technischen Prozess des Entwurfes und der Ausführung beschränkt und dies meist aus der Perspektive des Künstlers. Selten wurde jedoch die Verteilung der Kreativität zwischen Künstler und ausführendem Kunstglaser und meist auch nicht das wichtige Netzwerk der Glaswerkstätten eingehender analysiert.8 Der Aufstieg und die Entwicklung Meistermanns zu einem der innovativen Glaskünstler nach 1945 war jedoch engstens an eben diese Kooperationen und den intensiven Austausch mit den Glaswerkstätten geknüpft. Dies betraf sowohl den technischen Arbeitsprozess als auch die Nutzung des Netzwerkes an Mitarbeitern, Geschäftsverbindungen und Bekanntschaften rund um diese Werkstätten. Meistermann studierte Anfang der 1930er Jahre drei Semester an der Düsseldorfer Kunstakademie bei Werner Heuser (1880–1964), Heinrich Nauen (1880–1940) und Ewald Mataré (1887–1965). Der Glasmalerei näherte er sich jedoch autodidaktisch, studierte eingehend die mittelalterlichen Glasmalereien u. a. Chartres und setzte sich intensiv und schon vor seinem ersten Glasmalerei-Auftrag mit der zeitgenössischen Glasmalerei, etwa von Johan Thorn Prikker, auseinander.9 Zudem kam er vermutlich schon an der Düsseldorfer

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Kunstakademie mit der Gattung Glasmalerei in Berührung – wie überhaupt das Rheinland ein Zentrum für die Monumentalkünste war.10 Seine frühen Aufträge führte ab 1938 die 1866 in Goch gegründete Glaswerkstatt Wilhelm Derix aus, die 1896 einen weiteren Standort in Kevelaer eröffnet hatte. Hein Derix (1904–1987) leitete ab 1939 zusammen mit seinem Vetter Wilhelm (1904–1946) den Betrieb in der dritten Generation. Bereits zwei Jahre später kam es zu einer Trennung: Hein Derix blieb in Kevelaer, während Wilhelm Derix in Düsseldorf-Kaiserswerth eine eigene Werkstatt aufbaute; das Auftragsgebiet wurde zwischen beiden aufgeteilt.11 Beide Cousins studierten an der Kunstgewerbeschule Krefeld und in den 1920er Jahren bei dem Glasmaler Johan Thorn Prikker an der Kölner Werkschule. Zudem waren beide u. a. in München eine Zeit lang an der von Richard Riemerschmid (1868–1957) geleiteten Kunstgewerbeschule eingeschrieben. Die Studienzeit weckte bei ihnen ein besonderes Gespür für aktuelle Tendenzen nicht nur in der Glasmalerei, sondern auch Malerei. So standen sie in Verbindung zu zahlreichen zeitgenössischen Künstlern, die sie als Entwerfer für ihre Werkstätten hinzuzogen. Zu nennen sind neben Thorn Prikker etwa Heinrich Campendonk (1889–1957), Heinrich Dieckmann (1890–1963) und Anton Wendling (1891–1965) sowie Architekten, wie Dominikus Böhm (1880–1955), Gottfried Böhm (*1920) und andere.12 Nach einer Ära des Historismus unter dem Kirchenmaler Friedrich Stummel (1850–1919) folgte damit eine völlige Renovatio des Stils der Werkstatt.13 Die Glaswerkstatt beschrieb sich selbst 1966 wie folgt: In den letzten fünfzig Jahren haben sich auf dem Gebiet der Glasmalerei außerordentliche Ver­ änderungen vollzogen. [...] Es handelt sich [...] um Veränderungen, die den ganzen traditionellen Kanon sowohl der technischen Praktiken wie der gestalterischen Prinzipien der Glasmalerei ­betreffen und zu denen vor allem auch eine neue Relation zwischen dem künstlerischen Entwurf und der technischen Ausführung gehört. Die Derixschen Werkstätten für Glasmalerei und Mosaik in Kevelaer haben diese Entwicklung mit beachtlicher Aufgeschlossenheit mitvollzogen und sich dabei konsequent von der Rolle einer gewissermaßen autark produzierenden Kunst­ anstalt auf die Rolle eines im Dienste des schöpferischen Künstlers tätigen gewerblichen Unter­ nehmens gestellt.14

Meistermann traf Ende der 1930er Jahre somit in dieser Glaswerkstatt auf eine modernste Auffassung von Glasmalerei, die seinen eigenen, noch von Expressionismus und Kubismus geprägten Entwürfen entgegenkam.15 Glasmalerische Arbeiten sind Resultate eines reziproken Entwicklungsprozesses zwischen künstlerischem Entwerfer und ausführender Werkstatt, vor allem in technischer Hinsicht. Gerade in den frühen Arbeiten Meistermanns lässt sich in der Zusammenarbeit mit der Werkstatt eine experimentelle, teilweise lang­sam vortastende Herangehensweise an die Technik der Glasmalerei ablesen, von der beide Parteien profitierten. Retrospektiv beurteilte der Autodidakt Meistermann das Erlernen der Glasmalerei ­folgendermaßen:

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Glasmalerei ist genauso erlernbar wie der Umgang mit jeder anderen Farbe auch – nur fragt sich, ob Sie Maler werden oder Anstreicher. Und wenn Sie die Methoden und Kniffe der Glasmalerei kennen, fragt sich, ob Sie Künstler sind oder jemand, der Fenster nur in dieser Art macht.16

Dieser Vorgang der Aneignung von Technik im gegenseitigen Austausch zwischen Künstler und Glashandwerker ist vor allem bei seinen frühen Aufträgen, besonders bei einem Auftrag für das Klostergebäude der Franziskaner in Werl, nachzuvollziehen. Hein Derix zog bei diesem, wie auch bei anderen Aufträgen bis Mitte der 1940er Jahre, den Kunsthistoriker August Hoff (1892–1971) hinzu. Ab 1936 war dieser als künstlerischer Berater in der Glaswerkstatt Derix tätig – eine Aufgabe, die er zuvor (1924–1934) in der eingangs erwähnten Glaswerkstatt Puhl & Wagner, Gottfried Heinersdorff in Berlin ausgeführt hatte.17 Als ehemaliger Direktor des Duisburger Museums (1924–1929) und Dozent an der Kunstakademie Düsseldorf (1929–1932)18, als einer der führenden Unterstützer einer neuen kirchlichen Kunst (zu diesem Thema publizierte er ausgiebig) und nicht zuletzt als ehemaliger Berater von Heinersdorff brachte Hoff sein umfangreiches Netzwerk und seine Kontakte zu progressiven Künstlern und Architekten, Museumsleuten und aufgeschlossenen Klerikern sowie vor allem sein Kunstwissen mit in die Glaswerkstatt Derix ein. Hoff war dementsprechend im Wesentlichen für den Kontakt und auch die Vermittlung zwischen Werkstatt, Künstler und Auftraggeber zuständig.19 Nicht nur in der Vermittlung von Aufträgen an Meistermann war er beteiligt, sondern  – aufgrund seines besonderen ­Verständnisses der Kunst, vor allem der Glasmalerei – auch während des Entwurfs- und Ausführungsprozesses eng miteinbezogen.20 Meistermann schätzte zu diesem Zeitpunkt, Ende der 1930er/Anfang der 1940er Jahre, das (kunsthistorische) Urteil August Hoffs sehr.21 Die Glaswerkstatt Derix verfügte somit über beste Kontakte und vor allem ein tiefes Verständnis und große Aufgeschlossenheit der modernen Glasmalerei gegenüber, was wie ein ­Katalysator auch für Meistermanns Aufträge wirkte. 1943 erhielt Meistermann von den Franziskanern in Werl den Auftrag, ein großformatiges Rundbogenfenster für das Klostergebäude zu entwerfen.22 Das Werler Kloster war zum damaligen Zeitpunkt Sitz des Provinzialates der Saxonia. Das Fenster Stigmatisation des Hl. Franziskus befindet sich am Ende eines Flures in einer der oberen Etagen des Klostergebäudes. Bilddominierend und nahezu die gesamte Bildfläche in Höhe und Breite auslotend ist das monumentale Kreuz mit Christus, von dessen Wunden Strahlen auf den knienden Franziskus ausgehen. Dessen rechte Hand ist empfangend zu den Händen Christi emporgehoben. Das Moment der Stigmatisation ist begleitet von Symbolen für Gott Vater (hinweisende/schenkende Hände) sowie der Geisttaube. Die das Kreuz links und rechts flankierenden Sonne und Mond sind als kosmische Symbole zu verstehen. Die Darstellung ergänzen Fische, Vögel und Getreide, die auf die Fisch- und Vogelpredigt des Franziskus verweisen könnten. Die Komposition setzt sich aus der schwarzen Zeichnung auf hellem Bildgrund und aus weißen und hellgrauen Echtantikglasscheiben zusammen, die durch den Herstellungsprozess Bläschen und Schlieren aufweisen. Die Motive des Gekreuzigten,

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15  Georg Meistermann, Stigmatisation des Hl. Franziskus, 1943/1944, Bleiverglasung, Echtantikglas, Opalfangglas, Schwarzlot- und Silberlotmalerei, Werl, Franziskanerkloster, Ausf.: Glaswerkstatt Hein Derix, Kevelaer.

die Hände Gott Vaters und die Geisttaube als Symbole für die Dreifaltigkeit sowie Sonne und Mond bleiben vor diesem Bildgrund, der mit Silberlot gewischt ist, unbearbeitet und weiß stehen, während das Kreuz, die Tiere und Pflanzen mit Schwarzlot bearbeitet sind. Lediglich die braune Ordenstracht des Franziskus und wenige Farbakzente, die der Hervorhebung bestimmter Bildpartien (Blutstropfen, Taube usw.) und der Rhythmisierung des Bildes dienen, sind farbig ausgeführt.23 Die Ideen um eine adäquate Ausführung in Glas wurden zwischen Meistermann, Derix und Hoff gemeinsam besprochen, wie etwa Fragen zur Dichte des Glases sowie dessen Bearbeitung. Die Bildideen Meistermanns stießen hierbei bei der Werkstatt auf Verständnis, sowohl was Inhalte als auch die Materialästhetik anging. So schreibt der Künstler: Sehr sagt mir Ihre Methode zu, indem Sie die gegenständlichen Dinge mit Schwarzlot wischen (Kreuz, Tiere im unteren Teil, Pflanzen), den Korpus, die Hände Gottes und die Taube des Geistes, wie alle kosmischen Gebilde (Sonne, Sterne), lassen Sie ganz weiß, die letzteren besonders hell.

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Und die übrigen Teile des Fensters wischen Sie auf Silberstruktur. [...] ich finde Sie haben den rechten Weg gefunden, indem Sie Schwarzlot, Silberlot und blanke Scherben vereinigt haben. So sollte es bleiben. Alle drei Mittel so verwandt [,] wie Sie es hier probeweise getan haben, müsste einen großen Reichtum ergeben.24

Auch Meistermann machte seinerseits Vorschläge zur Bearbeitung des Glases, wie z. B. die weißen Gläser mit Silberlot, einer gelblichen Glasmalfarbe, zu bearbeiten. Diese unübliche Vorgehensweise wurde von Derix trotz Bedenken aufgegriffen. Hein Derix schreibt: Den Vorschlag mit Silberlot auf Struktur zu wischen[,] halte ich für sehr gewagt, da ich befürchte, dass durch die vielen feinen gelben Haarlinien und Bläschen Unruhe ins Fenster gebracht wird. [...] Ich will beim nächsten Brand Versuche machen und berichte Ihnen dann darüber bzw. schicke­ ­Ihnen Proben ein. Über den Fortgang der Arbeit, die ich sehr gerne ausführe, weil sie aus dem Rahmen des Alltäglichen herausfällt, berichte ich Ihnen.25

Die Rückmeldung und der intensive, partnerschaftliche Austausch bei dieser nahezu schon experimentellen Herangehensweise waren dem Autodidakten Meistermann in der Arbeit mit der für ihn neuen Gattung besonders wichtig: „Ich bin Ihnen [=Hein Derix] für jede Meinungsäußerung stets dankbar. Man kann nur daraus lernen.“26

„Da muss die Chemie stimmen“ Das Verständnis des Glashandwerkers für den Entwurf oder vielmehr für die Idee des Künstlers sowie der wechselseitige Werk- und Inspirationsprozess waren für Meistermann essentiell; dies lässt sich bei allen seinen Kooperationen mit Werkstätten beobachten. So arbeitete er nur mit wenigen Glaswerkstätten und in der Regel mit bestimmten Mitarbeitern der jeweiligen Werkstatt zusammen, die seine Kartons in idealer Weise in Glas übersetzen konnten. Elisabeth Derix, Geschäftsführerin der Glaswerkstatt am Standort Kaiserswerth in vierter Generation, erläutert hierzu retrospektiv: Da muss die Chemie genau stimmen. So wie die Charaktere der Künstler sehr verschieden sind, so gestaltet sich auch die Arbeit für den Glasmaler stets neu. [...] Georg Meistermann war [...] die Umsetzung seiner Idee besonders wichtig und das organische Fließen der Linien, auch wenn es dabei schon einmal zu kleineren Abweichungen kam.27

Es war das große Glück Georg Meistermanns, Ende der 1930er Jahre an die innovativen Werkstätten Derix, Kevelaer bzw. später Düsseldorf-Kaiserswerth gelangt zu sein, die seine Arbeiten bis etwa Anfang der 1960er Jahre, und vereinzelt dann wieder in den 1980er Jahren, ausführten. Die Werkstatt stand den Entwürfen Meistermanns offen gegenüber,

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die sich in den 1940er Jahren noch stark vom Expressionismus und von den Glasarbeiten Thorn Prikkers geprägt zeigten und sich dann in den frühen 1950ern Jahren an interna­ tionalen Tendenzen der Bildenden Kunst orientierten.28 Wilhelm Derix unterstützte ­Meistermann nicht nur bei der technischen Umsetzung seiner Entwürfe, sondern auch bei Unstimmigkeiten mit den Auftraggebern, wie etwa bei dem noch während des Zweiten Weltkrieges begonnenen Auftrag für einen 8-teiligen Zyklus in der Kirche in FrechenBuschbell bei Köln.29 Die Streitigkeiten, die in dieser Zeit schon eine politische Dimension einnahmen, bezogen sich vor allem auf den künstlerischen Stil der Fenster. Vermittelnde Instanz der Glaswerkstatt zwischen Auftraggeber und Künstler war abermals August Hoff, der vermutlich auch am Bildprogramm (Heiligen- und Madonna-Darstellung) beteiligt war.30 Der dortige Pfarrer Rudolf Peil (1901–1983) kritisierte den kubistisch-expressionistisch beeinflussten Stil der Entwürfe Meistermanns stark, sprach in Briefen von einer „verwirrenden Unruhe“31 der kaum erkennbaren Figuren. Hilfe kam Meistermann und Hoff in Gestalt des Kölner Stadtdechanten und aufgeschlossenen Kunsthistorikers Robert Grosche (1888–1967) entgegen, der die Entwürfe im Generalvikariat des Erzbistums Köln genehmigte. Grosche dozierte 1932 an der Düsseldorfer Akademie und war Meistermann eventuell dort bereits begegnet.32 Die Unstimmigkeiten zwischen Pfarrer und Künstler wurden in Gesprächen mit diesen drei der modernen ars sacra gegenüber fortschrittlich eingestellten Männern August Hoff, Robert Grosche sowie dem Kölner Pfarrer Joseph Geller (1877– 1958)33 an St. Kolumba geschlichtet, so dass der Zyklus ausgeführt werden konnte. Auf dieser Grundlage und mit dieser Unterstützung eines progressiven Netzwerkes unter anderem seitens der Werkstatt, aber auch auf Seiten der Auftraggeber verlief die Entwicklung Meistermanns nach 1950 rasant. Mit Arbeiten wie der Glaswand im WDR in Köln aus dem Jahr 1952, die ganz dem Zeitgeist der 1950er Jahre geschuldet war und ein Konglomerat an Einflüssen der zeitgenössischen Kunst zeigte, oder der großen Spirale in Bottrop, der ersten ungegenständlichen Monumentalarbeit und einem Meilenstein in der Entwicklung der sakralen Glasmalerei, erlangte Meistermann internationale Bekanntheit.34

Verteilte Kreativität im Arbeitsprozess Während bereits die Zusammenarbeit mit der Werkstatt Hein Derix bei den frühen Arbeiten ein gemeinsamer Prozess zwischen Werkstatt und Künstler war, lässt sich dies auch bei den späteren Werken, die vor allem von den Wilhelm Derix in Kaiserswerth, Gossel in Lahntal-Caldern und Oidtmann in Linnich ausgeführt wurden, feststellen, mehr noch: Es scheint hier zwischen Entwurf und Ausführung zu einem gemeinsamen Kreativprozess gekommen zu sein. Der Herstellungsprozess eines Glasfensters erfolgte nach der Anfertigung des maßstabsgetreuen Kartons mit Kennzeichnung des Fenstergerüsts durch die Werkstatt in drei großen Arbeitsschritten: 1) der Entwurf, 2) die Besprechung seiner Ausführung in der Werkstatt mit Materialauswahl und 3) die technische Ausführung durch

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den Kunstglaser. Während Schritt 1 weitgehend von Meistermann und Schritt 3 weitgehend von den Glasmalereien ausgeführt wurde, kann Schritt 2 als gemeinsamer, kreativer Arbeitsprozess in der Werkstatt gesehen werden. Meistermann entwarf seine Fenster direkt und maßstabsgetreu auf den von der Werkstatt angefertigten Kartons mit Angaben des Fensteraufbaus (z. B. Steinprofilen etc.), nach Gesprächen mit den Auftraggebern sowie eventuell Architekten, nach genauem ­Studium des Gebäudes beziehungsweise Raumes oder Modellen davon und des dortigen Helligkeitsvolumens sowie der eventuell schon vorhandenen Ausstattung. 35 Auf den ­Karton zeichnete Meistermann das Bleiliniennetz und die Farbangaben. Bei den Farbangaben sind verschiedene Herangehensweisen zu unterscheiden, die sich auch in Kombination finden: 1) Der Karton wurde vollkommen koloriert, 2) im Karton finden sich in den Feldern strichweise Farbangaben, 3) die Farbe wurde schriftlich oder mit einem Zahlencode angegeben, der mit der Glaswerkstatt anhand der gemeinsam ausgewählten Mustergläser eigens abgesprochen wurde.36 Nach Abschluss des Entwurfs wurden die ­Kartons in der Glaswerkstatt gemeinsam besprochen. Justinus Maria Calleen bemerkt hierzu, dass im Zuge dieser Werkstattbesprechungen die Kartons nicht nur gemeinsam von Künstler und Kunstglaser begutachtet, sondern gegebenenfalls auch korrigiert wurden.37 Meistermann umschreibt hierbei die Zusammenarbeit mit dem Kunstglaser Hans Bernd Gossel (1933–2003) an den Entwürfen ähnlich experimentell, wie sie sich mit Hein Derix darstellte: [Wir] sind miteinander verbunden und haben uns manches zusammengerauft an Ausführungstechnik und Tricks, so daß die Arbeiten, die Herr Gossel macht, bei weitem das übersteigen, was andere Werkstätten hervorbringen.“38

Meistermanns Sichtweise auf die Aufgaben und die Rolle des Kunstglasers lässt sich besonders gut an eben seinen Äußerungen über den Kunstglaser Hans Bernd Gossel nachvollziehen. Dieser war der bevorzugte Glashandwerker Meistermanns, der es nach Meinung des Künstlers verstand, auf besondere Weise seine Kartons in Glas und Blei zu übertragen.39 Meistermann lernte den Kunstglaser Ende der 1940er Jahre in der Glaswerkstatt Derix kennen, arbeitete seit Mitte der 1950er Jahre vermehrt und ab den 1970er Jahren nahezu ausschließlich mit ihm in dessen eigener Werkstatt zusammen. Gossel absolvierte ab 1945 in der Dombauhütte Köln seine Lehre, wo die Glaswerkstatt Derix bis Anfang der 1960er Jahre eine Restaurierungswerkstatt eingerichtet hatte (1950–1955 war Gossel dort als ­Angestellter beschäftigt). 1956 folgte er Meistermann an die Frankfurter Städelschule und leitete dort bis 1966 die Glasmalereiwerkstatt. Im folgenden Jahr gründete er seine eigene Werkstatt in Frankfurt-Urberach, zog dann 1973 nach Schalkenmehren in die Eifel, in die Nähe von Meistermanns Atelier in Schüller, wo die meisten Entwürfe Meistermanns der 1970er und 1980er Jahre entstanden. 1984 erfolgte der Umzug samt Werkstatt nach Caldern im Lahntal.40

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Das gegenseitige tiefe Verständnis zwischen Gossel und Meistermann während des Kreativprozesses veranlasste den Künstler zu folgendem Vergleich: „Wenn ich Beethoven bin, dann wärst Du Yehudi Menuhin“41. Diesen musikalischen Vergleich griff auch Gossel auf: Kunstglaserei ist im Grunde Interpretationsarbeit. Das ist ja nicht so, daß man etwas Neues hinzufügen darf, sondern man muß das, was da auf dem Karton geschrieben bzw. entworfen ist, wie eine Partitur interpretieren.42

An anderer Stelle führte er zu diesem Vergleich weiter aus: „Wenn Sie heute Dirigenten [haben], die Beethoven oder Mozart interpretieren, dann haben sie die Partituren, jeder hat die gleiche Partitur. Nur sieht sie jeder anders.“43 Die Spuren des kreativen Arbeitsprozesses sind in die Entwürfe und ihre Ausführungen eingeschrieben. Beispielhaft sei dies an dem Karton der Hildegard von Bingen aus der Johanneskapelle in der Abtei Maria Laach erläutert, der zu einem 1981 entstandenen Zyklus von insgesamt vier Heiligen (neben Hildegard von Bingen Benedikt von Nursia, Johannes der Täufer und Christophorus), dem Gekreuzigten und dem Lamm Gottes gehört.44 Der Karton zeigt den völlig weiß gestalteten und blockhaften Körper Hildegards von Bingen in Profilansicht.45 Ihr linker Arm liegt unter ihrem weiten Gewand eng am Körper, die linke Hand hält eine langstielige Rose, während ihre rechte Hand den Blütenkopf berührt. Der Kopf ist mit einer Kapuze verhüllt, das linke Auge mit einem einzelnen Punkt im ansonsten nur angedeuteten Gesichtsprofil angegeben. Während der Oberkörper vor einer großteiligen weißen Fläche steht, ist ihr Unterkörper in kleinteilige, helle und dunkelgraue Flächen eingestellt. Der Karton beruht ausschließlich auf der schwarzen Kreidezeichnung, die in breiten Streifen und Linien die mit Schwarzlot verbreiterten Bleiruten der Ausführung markieren, mit schmalen, dünnen Linien hingegen die lineare Schwarzlotzeichnung. Verschiedene Spuren des Arbeitsprozesses sind in der Zeichnung ablesbar. Da ist einmal die Komposition selbst zu betrachten. Während die meisten Linien sehr deutlich erscheinen, sind andere dagegen blasser eingezeichnet, wirken wie ausradiert oder verwischt, so dass es scheint, als habe Meistermann verschiedene Linien nicht nur dünner gestalten, sondern wieder entfernen wollen. Dies ist etwa im Bildgrund am linken Bildrand um den Blütenkopf ­herum zu beobachten, in der rechten Bildhälfte auf Höhe der Schulter, in der Bordüre im Bogenfeld und schließlich bei der wohl ehemals angedachten vertikalen Strukturierung des grauen Feldes rechts unten. Auch an den figurativen Elementen wurden Linien scheinbar wieder entfernt: ein Blatt am Blütenkopf, Linien an der linken Hand, so dass diese klarer erscheint, wie auch am Ärmel. Der dunkelgrau eingefärbte Block rechts unten fällt zudem auf: Entweder ist dieser als Markierung für ein dunkles Feld gemeint oder die ehemals eingeschriebene vertikale Strukturierung soll ausgelöscht werden und somit als homogene Fläche erscheinen.

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16  Georg Meistermann, Entwurf Hildegard von Bingen, Maria Laach, Johanneskapelle, 1981, Kreide auf Karton, Wittlich, Stadthaus.

In den einzelnen Feldern der Komposition oder am Rand daneben finden sich schriftliche Angaben zu ihrer farbigen Ausführung. Farben sind entweder ausgeschrieben, mit ein­ zelnem Buchstaben (w=Weiß) oder per Zahlencode eingeschrieben (z. B. 170=Blau oder Ultramarinblau). Auffällig ist die Differenzierung der Farbnuancen, etwa bei der Farbe Grün (z. B. „grün moosig“, „hellgrün“, „hellblau grünlich“). Auch Benennungen von Abtönungen, wie z. B. „schattierend“, „heller“ oder „etwas gräulich“ finden sich. Auffällig sind mitunter Angaben, die sich widersprechen, z. B. die Angabe „170“ (=Blau) und „hellblau-grünlich“ im gleichen Feld. Des Weiteren finden sich Angaben zur Ausformulierung des Bleiliniennetzes („Stege müssen dünn sein“, Angabe am Bogen links) und die Einzeichnung des Grundrisses der Johanneskapelle mit Positionierung des Fensters links des Eingangs (von innen gesehen) am Kartonrand rechts oben. Auch der Abdruck eines Schuhs findet sich auf dem Karton, der vermutlich während des Entwurfs- oder Ausführungsprozesses auf den am Boden liegenden Karton kam.

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17  Georg Meistermann, Entwurf Hildegard von Bingen, Detail: Hand, Maria Laach, Johanneskapelle, 1981, Wittlich, Stadthaus.

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Eine Erklärung, von wem die erwähnten Änderungen (verwischte Linien, widersprüchliche Farbangaben) im Sinne einer Händescheidung stammen, ist aufgrund der intensiven Gespräche in der Werkstatt tatsächlich kaum mehr möglich; Calleen sieht vor allem Meistermann als deren Urheber.46 Interessant ist, vor allem aufgrund der sichtbaren Arbeitsspuren, ein Vergleich dieses Entwurfs mit der Erst- und den verschiedenen folgenden (auch posthumen und von der Witwe Edeltrud Meistermann-Seeger autorisierten) Ausführungen von Werkstätten, mit denen Meistermann jahrzehntelang zusammengearbeitet hat (Gossel, Oidtmann). Diese scheinen zu offenbaren, was Meistermann und Gossel mit einem möglichen Interpretationsspielraum des Kunstglasers meinten. Die Erstausführung der Hildegard in Maria Laach aus dem Jahr 1981 wurde, wie der gesamte dortige Zyklus, von Hans Bernd Gossel in seiner Werkstatt in Lahntal-Caldern ausgeführt (Farbabbildung 9). Ein Vergleich zwischen Karton und Ausführung zeigt, dass die blassen, scheinbar entfernten Linien im Karton in der Regel nicht übernommen wurden; die Ausnahme bildet das linke Blatt an der Rose, das von Gossel eingezeichnet wurde. Dem Karton fehlt, wie auch demjenigen mit der Darstellung des Hl. Benedikts, die breite Bordüre, die sich in der Ausführung findet. Dies hatte mit einem Fehler im Aufmaß zu tun, der nachträglich über die gestaltete Bordüre ausgeglichen wurde und vermutlich von Gossel angefügt und von Meistermann abgenommen wurde. Anders stellt sich dagegen die Zweitausführung der Glaswerkstatt Oidtmann in Linnich dar, die neben anderen Zweitausführungen für die Meistermann-Ausstellungen in Aachen und Romont um 1990 angefertigt wurde (Farbabbildung  10).47 Ein Vergleich mit dem ­Karton zeigt, dass die scheinbar entfernten Linien sowohl übernommen (Linie am Ärmel, Linien am linken Rand) wie auch weggelassen (zweites Blatt an der Blüte, die Lineaturen der rechten Hand) wurden. Interessant ist die Verwendung der strukturierten Echtantikscheiben im Falle der Oidtmannschen Ausführung, die nicht im Karton vermerkt sind, eventuell aber in gemeinsamen Werkstattgesprächen und während der Auswahl der ­Gläser besprochen wurden: Die den Echtantikgläsern eigene Strukturierung scheint den Aufbau der Figur aufzunehmen, indem die Verläufe der den Gläsern eigenen Schlieren gegeneinandergesetzt wurden (Kopf horizontal strukturiert, Oberkörper vertikal, Unterkörper horizontal gegliedert); des Weiteren scheint sich auch die ehemals vertikale Anordnung des im Karton eingefärbten grauen Blockes rechts unten in der vertikalen Strukturierung des Glases widerzuspiegeln. Betont wird zudem das Umfeld der Rose durch das strukturierte Glasmaterial. In der Erstausführung dagegen scheinen die Gläser in ihrer Struktur harmonisch ineinander überzugehen.48 Auch wenn beide Glaswerkstätten dem Entwurf in seinen farbigen Vorgaben weitgehend folgen, sind an wenigen Stellen Abweichungen hiervon zu beobachten, vor allem im unteren, kleinteiligen Bereich der Fenster, links und rechts der Figur. Bei verschiedenen Farbangaben in einem Feld, z. B. „170“ (Blau) und „hellblau-grünlich“, folgen beide Kunstglaser der ausgeschriebenen Farbangabe. An anderen Stellen wiederum wählten beide Glaswerkstätten andere Farben als die im Karton markierten Angaben, z. B. wurde statt „170“ (Blau) ein Weiß

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gewählt. Eventuell ergaben sich diese Änderungen in Werkstattgesprächen. Interessant sind die Stellen in den Fenstern, wo beide Glaswerkstätten unterschiedliche Farben wählten: Während Gossel unten links in einem schmalen langen Vertikalstreifen in der Erstausführung das im Karton angemerkte Ultramarinblau umsetzte, wählte Oidtmann ein Braun-Rosa; im Feld schräg darüber folgte Gossel wiederum der Angabe im Karton („grün moosig“), Oidtmann hingegen entschied sich für ein Blau. Auch eine unterschiedliche Auffassung von Farbnuancen ist erkennbar: So wurde rechts unten ein Feld mit „B“, vermutlich als Braun gekennzeichnet, am Rand findet sich hierzu ein Fragezeichen und dann eine nähere Spezifizierung „dunkel grün grau“, die von Gossel in der Erstausführung in einem Grau-Grün, von Oidtmann in einem moosigen Grünton umgesetzt wurde. Besonders bei der Wahl der Farben verweist Gossel darauf, dass die Kenntnis des Raumwertes der Farben, d. h. die Unterscheidung zwischen den auf Papier eingetragenen Farbangaben und den Farbwerten des (eingebauten) Glases, eine der Aufgaben der Glaswerkstatt sei;49 eventuell lassen sich damit Unterschiede erklären. Während diese Differenzen in der Gesamtkomposition kaum ins Gewicht fallen, fallen große Unterschiede zur Zweitausführung Gossels für das Deutsche Klingenmuseum in Solingen auf (Farbabbildung 11). Sie stammt aus dem Jahr 1990 und wurde von der Stiftung Stadtsparkasse ­Solingen anlässlich ihres 150-jährigen Jubiläums finanziert.50 So ist etwa ein Unterschied zwischen der Erst- und Zweitausführung Gossels an der rechten Hand Hildegards erkennbar, wo Gossel in der Zweitausführung die scheinbar ausradierten Linien übernahm. Auch wurde die kleinteilige und farbig reichere Partie links unten zu Gunsten großflächiger Glasfelder fallen gelassen und das große, in der Erstausführung in einem Moosgrün ausgeführte Glasfeld zu Gunsten eines Rotbraun-Tons aufgegeben.51 Obgleich also den verschiedenen Ausführungen der gleiche Karton zugrunde lag und alle Kunstglaser langjährige Erfahrung in der Umsetzung der Entwürfe Meistmanns hatten, scheint es an verschiedenen Stellen zu eigenen Interpretationen gekommen zu sein, die schließlich von Meistermann bzw. der Ehefrau Meistermanns, Edeltrud MeistermannSeeger, final abgenommen wurden.

„Mir sind die Kartons lieber als die Fenster“ Trotz dieser engsten, inspirierenden Symbiose zwischen Künstler und Kunstglaser blieben die Rollen klar verteilt. Ungeachtet der Virtuosität des Glashandwerkers definierte sich Meistermann als Künstler und Kompositeur in dieser Beziehung. Dies zeigen zwei Vorgehensweisen: Erstens legte Meistermann die Entwürfe (nahezu ausschließlich) im Originalformat auf Karton an, um den menschlichen Maßstab in der Zeichnung zu erhalten und um seinen Duktus dem Bild einzuschreiben. Dieser gehe, so Meistermann, durch die Übertragung der Skizze in den Karton verloren.52 Dieser Übertragungsprozess oblag üblicherweise den Kunstglasern. Seine Kartons sah Meistermann als seine eigentliche originäre künstlerische Leistung innerhalb des glasmalerischen Arbeitsprozesses an. Er ordnete ent-

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sprechend diese unter der Gattung der Zeichnung ein und bewertete sie nicht etwa als Nebenprodukt der Glasmalereien.53 „Mir sind die Kartons lieber als die Fenster, weil ich meinen Strich in ihnen eher wieder finde“54, so Meistermann. Die Kartons bewahrte er in seinem Atelier auf.55 Zweitens ordnete Meistermann neben den Kartons auch seine sogenannten Glaszeichnungen in die Gattung Zeichnung ein. Diese kleinformatigen Scheiben entstanden ab den 1970er Jahren in der Regel unabhängig von Aufträgen als freie Arbeiten.56 Auf besonderen Glasstücken, die Meistermann in der Gaswerkstatt fand, trug er eigenhändig Zeichnungen mit Schwarzlot auf. Dies geschah zwar vereinzelt auch bei den architekturgebundenen Arbeiten, doch war dies die Ausnahme, häufig auch nur auf einzelne Partien beschränkt. Neben der Eigenhändigkeit der Glaszeichnung fällt zudem die deutliche Nähe zu seinem malerischen und zeichnerischen Werk in Form wie auch im Inhalt auf, wie ­beispielhaft bei der Glaszeichnung „Ohne Titel“, um 1981, der Tuschezeichnung „Ohne Titel“, 1981, sowie dem Gemälde „Großes Grün“, 1970.57 Die Glaszeichnung zeigt aus dem Zentrum leicht nach rechts verschoben eine kreuzförmige Schwinge, die von horizontalen und einer vertikalen Linie begleitet wird. Eingefasst und nach den Außenrändern die Glasscheibe abschließend wird das Motiv von einem an drei Seiten breiten, in feinsten Strichlagerungen nach innen ausfasernden schwarzen Rahmen, der lediglich am rechten Rand, und damit in Flugrichtung, lasurhaft aufgebracht ist. Ähnlich arbeitete Meistermann in Tuschezeichnung und Gemälde: Das für Meistermanns freie Arbeiten bedeutsame Schwingenmotiv58 befindet sich im Bildzentrum und ist von einem breiten, streckenweise in Strichlagerungen ausfasernden Rahmen eingefasst. Als alleiniger Autor dieser Glaszeichnungen ist Georg Meistermann zu benennen. Anders ist dies bei den architekturgebundenen Arbeiten zu beantworten. Stammten Idee und Entwurf eines Werkes von Meistermann, so trat in der Werkstatt ein gemeinsamer Prozess in Gang, der auch Änderungen am Entwurf bedingen konnte. Die Umsetzung oblag dem Kunstglaser, der bestmöglich den Duktus und die Eigenheiten des Künstlers übertrug. Dazu erklärte Gossel: „Wichtig ist, daß man die Frische des Kartons und vor allem die Linie erhält und nicht einfach stur die Pausen durchzeichnet. Nämlich dann wird die Sache stumpf, langweilig und tot.“59 Wie bereits zitiert, umschrieb Meistermann an anderer Stelle: Wir [= Meistermann und Gossel] sind seit 1948 befreundet, miteinander verbunden und haben uns manches zusammengerauft an Ausführungstechnik und Tricks, so daß die Arbeiten, die Herr Gossel macht, bei weitem das übersteigen, was andere Werkstätten hervorbringen.60

Von einer verteilten Kreativität zu sprechen scheint bei den architekturgebundenen Arbeiten zwischen Entwurf und Ausführung angebracht. Die Wahl der Glaswerkstatt, das Verständnis und auch das dortige Netzwerk sind somit im Falle Meistermanns ein wichtiger Baustein innerhalb seiner Entwicklung zu einem der Protagonisten der Glasmalerei nach 1945.

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Anmerkungen  1 Wände aus farbigem Glas. Das Archiv der Vereinigten Werkstätten für Mosaik und Glasmalerei Puhl & Wagner, Gottfried Heinersdorff, Ausst.-Kat. (Berlin, Martin-Gropius-Bau, 1990), hrsg. von H. Geisert, Berlin 1989; Kai Habermehl, Einführung – Lichtsteine. Gottfried Heinersdorff und die Erneuerung der Glasmalerei in Deutschland, in: Farblicht. Kunst und Künstler im Wirkungskreis des Glasmalers Gottfried Heinersdorff, Ausst.-Kat. (Ahlen, Kunst-Museum u. a., 2001), hrsg. von B. Leismann, Hagen 2001, S. 8–9, 11; Dagmar Schmidt, Expressionistische und konstruktive Tendenzen in der profanen Glasbildkunst, in: Farblicht (ebd.), S. 16–17; Gottfried Heinersdorff, Die Trennung zwischen Kartonzeichner und Maler, in: Zeitschrift für alte und neue Glasmalerei und verwandte Gebiete, 1912, S. 126–129; Gottfried Heinersdorff, Die Glasmalerei, Berlin 1914, S. 34–36.   2 Karl Scheffler, Einleitung. Allgemeine Ästhetik, in: Gottfried Heinersdorff, Die Glasmalerei. Ihre Technik und ihre Geschichte, Berlin 1914, S. 5–6.   3 Scheffler 1914 (Anm. 1), S. 8, 12.   4 Heinersdorff 1914 (Anm. 1, 2), S. 34–35.   5 Heinersdorff 1914 (Anm. 1), S. 36.   6 Heinersdorff 1914 (Anm. 1, 2), S. 47.   7 Zuletzt verwies Iris Nestler auf diesen Umstand; Iris Nestler, Einleitung. Architekturgebundene Kunst – kulturelles Erbe in Europa, in: Meisterwerke der Glasmalerei des 20. Jahrhunderts in den Rheinlanden, hrsg. von I. Nestler, Bd. 2, Mönchengladbach 2017, S. 18–19.   8 Vgl. Franz Joseph van der Grinten, Glasmalerei, in: Georg Meistermann. Monographie und Werkverzeichnis, hrsg. von K. Ruhrberg und W. Schäfke, Köln 1991, S. 226–227; Justinus Maria Calleen, Georg Meistermann in St. Gereon zu Köln (Diss. Köln 1993), Köln 1993, Kap. IV.4 und Kap. IV.10; Christine Jung, „Im Zusammenwirken von Kunst und Handwerk“. Fünf Künstler und ihre Werkstätten, in: Glasmalerei der Moderne. Faszination Farbe im Gegenlicht, Ausst.-Kat. (Karlsruhe, Badisches Landesmuseum 2011), bearb. von J. Dresch, Karlsruhe 2011, S. 123–125.   9 Calleen 1993, S. 133–135. Liane Wilhelmus, Georg Meistermann. Das glasmalerische Werk (Diss. Saarbrücken 2011), Petersberg 2014, S. 75. 10 Wilhelmus 2014 (Anm. 9), S. 75–76. 11 Archiv Glaswerkstatt Hein Derix, Derix an GM, 5.8.1941. 12 100 Jahre Glasmalerei Derix Kevelaer. 1866–1966, bearb. v. M. T. Engels, Kevelaer 1966, S. 30; Die Glasmaler-Werkstätten Hein Derix. Zum 80. Geburtstag von Hein Derix, Ausst.-Kat. (Kevelaer, Museum für Volkskunde u. Kulturgeschichte, 1984), hrsg. von H. Derix, Kevelaer 1984, S. 17; Kunstzeiten. Glasmalerei und Mosaik, bearb. von D. Täube, hrsg. von E. Derix, Mönchengladbach 2016, S. 11–12. 13 100 Jahre Glasmalerei Derix Kevelaer 1966 (Anm. 12), S. 12–16, S. 29–30; Die Glasmaler-Werkstätten Hein Derix 1984 (Anm. 12), S. 56–57. 14 100 Jahre Glasmalerei Derix Kevelaer 1966 (Anm. 12), S. 39. 15 Abb. in Wilhelmus 2014 (Anm. 9), S. 244–250. 16 Georg Meistermann 1979, zitiert nach: Manfred de la Motte, Georg Meistermann über Glasfenster. Ein Gespräch mit Manfred de la Motte, in: Georg Meistermann. Die Fenster der Feldkirche (Galerie Hennemann: Sonderreihe Œuvrekataloge), hrsg. von Galerie Hennemann, Bonn 1979, S. 15. 17 Zur Tätigkeit Hoffs in der Glaswerkstatt Puhl & Wagner, Gottfried Heinersdorff vgl. Farblicht 2001 (Anm. 1), S. 44, 55. Zu seiner Tätigkeit als Berater in der Werkstatt Derix vgl. 100 Jahre Glasmalerei Derix Kevelaer 1966 (Anm. 12), S. 30. 18 Meistermann besuchte in den Jahren 1930 bis 1933 für drei Semester die Düsseldorfer Kunstakademie und kann August Hoff eventuell auch dort bereits begegnet sein; Calleen 1993 (Anm. 8), S. 202. Zu August Hoff vgl. auch Wilhelmus 2014 (Anm. 9), S. 76, sowie Ulrike Wendland, Bio­

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graphisches Handbuch deutschsprachiger Kunsthistoriker im Exil. Leben und Werk der unter dem Nationalsozialismus verfolgten und vertriebenen Wissenschaftler, München 1999, Bd.  1, S. 312–314. 19 100 Jahre Glasmalerei Derix Kevelaer 1966 (Anm. 12), S. 30. 20 Archiv Wilhelm Derix, Ordner Meistermann, Georg Meistermann 16.7.1942, 20.5.1943, 26.11.1945. 21 Vgl. Meistermann, 6.8.1943, in: Martin Bock, „Es gehört Mut zu solchen Bildern“. Neue Erkenntnisse zu den Meistermann-Fenstern in Alt St. Ulrich, in: Jahrbuch des Frechener Geschichtsvereins e.V., Bd. 10 (2014), S. 240. 22 Zu diesem Auftrag vgl. Wilhelmus 2014 (Anm. 9), S. 253–255. 23 Die Wahl einer insgesamt hellen Farbpalette lag darin begründet, dass außen das Dach eines Nachbargebäudes vorgelagert und der Lichteinfall vermindert war, zudem war es die einzige Lichtquelle in dem langen Flur. 24 Archiv Hein Derix, Ordner Meistermann, Georg Meistermann 15.6.1943. Auf ein Probefenster, das Meistermann erhielt, um die neue Technik zu überprüfen, zeichnete er mit Tusche, um Verschiedenes zu testen; Archiv Hein Derix, Ordner Meistermann, Hein Derix 2.4.1943. 25 Archiv Hein Derix, Ordner Meistermann, Hein Derix 15.4.1943. 26 Archiv Hein Derix, Ordner Meistermann, Georg Meistermann 8.6.1943. 27 Elisabeth Derix 2016, zitiert nach: Kunstzeiten 2016 (Anm. 12), S. 27. 28 Wilhelmus 2014 (Anm. 9), Kap. 1 und 2. 29 Zu diesem Auftrag vgl. Wilhelmus 2014 (Anm. 9), S. 256–260 (WV Nr. 46.1) sowie in Ergänzung dazu Bock 2014 (Anm. 21), S. 229–282. 30 Vgl. Archiv Wilhelm Derix, Ordner Meistermann, Georg Meistermann 20.5.1943; Georg Meistermann. Werke und Dokumente (Neue Folge 3), Ausst.-Kat. (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, 1981), hrsg. vom Archiv für Bildende Kunst im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, bearb. von C. Pese, Klagenfurt 1981, S. 66; Bock 2014 (Anm. 21), S. 230–231. 31 Zu Peil vgl. Georg Meistermann. Werke und Dokumente 1981 (Anm. 30), S. 64. 32 Zu Grosche vgl. Friedrich Wilhelm Bautz, Grosche, Robert, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Band 2, Hamm 1990, Sp. 357–358; Richard Goritzka, Der Seelsorger Robert Grosche (1888–1967). Dialogische Pastoral zwischen Erstem Weltkrieg und Zweitem Vatikanischem Konzil, Würzburg 1999. 33 Zu Geller vgl. August Hoff, Oberpfarrer Josef Geller zum 80. Geburtstag, in: Das Münster, 10.1957, 138–139. Geller wurde vor allem durch die Auftragsvergabe des viel beachteten Glasmalereizyklus in der Kirche Hl. Dreikönige in Neuss an Thorn Prikker im Jahr 1911 bekannt. 34 Abb. vgl. Wilhelmus 2014 (Anm. 9), S. 275 (WV Nr. 52.6) und S. 332 (WV Nr. 57.9). 35 Der technische Prozess zur Herstellung einer Glasmalerei vom Entwurf bis zu seiner Ausführung im Werk Meistermanns ist von Justinus Maria Calleen bereits ausführlich beschrieben worden (Calleen 1993 (Anm. 8), Kap. IV.4 und IV.10). Der Fokus liegt im Folgenden auf der Untersuchung einer – möglicherweise verteilten – Kreativität anhand von Beispielen. Zum Begriff des Helligkeitsvolumens vgl. ebd. sowie Wilhelmus 2014 (Anm. 9), Kap. II.4. 36 Justinus M. Calleen differenziert eingehend die unterschiedlichen Herangehensweisen; vgl. Calleen 1993 (Anm. 8), S. 154. 37 Justinus Maria Calleen, Hildegard von Bingen. Glasfenster für die Andachtskapelle im Kloster Maria Laach, in: Glasmalerei der Moderne 2011 (Anm. 8), S. 209. 38 Vgl. Georg Meistermann, „Insofern hänge ich also an dieser Stadt Wittlich ...“, in: Georg Meistermann. Druckgraphiken, Zeichnungen, Glasfenster-Kartons, Glasbilder, Ölgemälde, Ausst.-Kat. (Wittlich, Altes Rathaus, 1992), hrsg. von J. Maria Calleen 1992, S. 38. 39 Vgl. Meistermann 1992 (Anm. 38), S. 38.

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40 Vgl. Calleen 1993 (Anm. 8), S. 153; Georg Meistermann – Hans Bernd Gossel. Eine vierzigjährige Partnerschaft, Ausst.-Kat. (Wittlich, Galerie Bose, 2001), hrsg. von Galerie Bose, Wittlich 2001, S. 3; http://glasmalerei-gossel.de/ [zuletzt aufgerufen 21. April 2017]. Neben Entwürfen von Meistermann arbeitete Hans Bernd Gossel u. a. auch mit Albert Burkart, Wilhelm Buschulte, Hermann Göpfert, Gotthard Graubner, Siegfried Neuenhausen, August Peukert, Jochem Pönsgen und J­ohannes Schreiter zusammen. Seit 2003 führt Claudia Satzke die Werkstatt. 41 Meistermann zit. n. Calleen 1993 (Anm. 8), S. 156. 42 Gossel 19.2.1991, zitiert nach Calleen 1993 (Anm. 8), S. 156. 43 Interview der Verfasserin mit Hans Bernd Gossel, 26.2.2002. 44 Vgl. zu diesem Auftrag Wilhelmus 2014 (Anm. 9), S. 495–498. 45 Hildegard von Bingen, 1981, 168 x 90,8 cm, Kreide auf Karton, Inv.-Nr. K/78, Stadt Wittlich. 46 Calleen 2011 (Anm. 37), S. 209. 47 Friedrich Oidtmann im Gespräch mit der Verfasserin, 9.3.2006; vgl. auch Georg Meistermann – Ludwig Schaffrath. Glasgemälde, Zeichnungen (Aachen, Ludwig-Museum, 1990 u. a.), hrsg. von S. Trümpler, Aachen 1991. 48 Wie Justinus M. Calleen darlegt, stellte die Materialästhetik des Echtantikglases einen wichtigen Teil bei der Auswahl der Gläser dar. So Meistermann (10.12.1987): „Gossel ist der einzige, der es versteht, diese verschiedenen Fenster mit ihren Schlieren in einen über die einzelnen Fenster­ flächen verlaufenden Rhythmus zu verbinden, ohne Unterbrechungen oder abrupte Richtungsänderungen. Die Schlieren stehen bei ihm in einem Fluß.“ (vgl. Calleen 1993 (Anm. 8), S. 155). Bereits für die Glasmalerei der Expressionisten, wie beispielsweise Karl Schmidt-Rottluff, ist der Einsatz der Glasstrukturierung ein wesentlicher Bestandteil der Komposition, so etwa im Christuskopf, um 1921; vgl. Brücke-Museum Berlin. Malerei und Plastik, komment. Verzeichnis der ­Bestände, hrsg. von M. M. Moeller, München 2006, S. 310; Abb. ebd, S. 311. 49 Vgl. Hans Bernd Gossel, Glasmalerei Hans Bernd Gossel in Frankfurt am Main. Zur Situation der Glasmalerei von heute, in: Das Münster, 15, 1962, S. 445–447. 50 In diesem Zusammenhang wurden weitere Fenster des Laacher-Zyklus ausgeführt (Johannes, Benedikt) sowie für das Solinger Kunstmuseum Zweitausführungen weiterer Fenster Meistermanns. Ein zuerst angedachter neuer Entwurf für die Verglasung von romanischen Arkaden im 1. Obergeschoss zwischen Klostergebäude und Deutschem Klingenmuseum kam aufgrund des plötzlichen Todes Meistermanns nicht mehr zustande, weshalb Zweitausführungen hergestellt wurden (Arnold Lück, Solingen, im Gespräch mit der Verfasserin, 2.10.2002). 51 Gründe hierfür könnten eventuell finanzieller Art sein, zum Beispiel weniger Materialverbrauch und Arbeit bei großen Feldern statt einer farbreicheren kleinteiligen und arbeitsaufwändigen Aufteilung. 52 Vgl. Meistermann, in: Calleen 1993 (Anm. 8), S. 138. 53 Vgl. Georg Meistermann, [Fragebogen 1] Druckgrafik, Zeichnung, Collage, in: Archiv für Techniken und Arbeitsmaterialien zeitgenössischer Künstler, Bd. 1, hrsg. von E. Gantzert-Castrillo, Wiesbaden 1979, o. S.; Wilhelmus 2014 (Anm. 9), S. 170. 54 Calleen 1993 (Anm. 8), S. 142. 55 Ich danke Simone Röhr, Wittlich, für die Möglichkeit der Einsichtnahme des Kartons „Hildegard von Bingen“ (K/78), Stadthaus Wittlich. 56 Die Abnahme der Aufträge für architekturgebundene Glasmalereien führte Ende der 1960er/ Anfang der 1970er Jahre zur Aufnahme der Arbeit an den autonomen Glasscheiben; vgl. Wilhelmus 2014 (Anm. 9), Kap. 9. 57 Abb. der Glaszeichnung in Wilhelmus 2014 (Anm. 9), S. 562 (WV Nr. 80er.5), der Zeichnung in ebd., S. 172, des Gemäldes in Inge Herold, Studie zur künstlerischen Entwicklung, in: Georg Meistermann 1991 (Anm. 8), S. 192.

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58 Zu diesem Motiv vgl. Inge Herold, Studie zur künstlerischen Entwicklung, in: Georg Meistermann 1991 (Anm. 8), S. 96–101, 103–105; Justinus Maria Calleen, Zwischen loslassen und festhalten, in: Glasmalerei der Moderne 2011 (Anm. 8), S. 14–25; Wilhelmus 2014 (Anm. 9), S. 63–66. 59 Gossel 19.2.1991, zitiert nach Calleen 1993 (Anm. 8), S. 156. 60 Meistermann, zitiert nach Calleen 1993 (Anm. 8), S. 156.

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Sonja Hnilica

Entwerfen als Ping-Pong-Spiel Zu den Kooperationen des Ingenieurs Stefan Polónyi mit den Architekten Josef Lehmbrock und Fritz Schaller

Das Verhältnis zwischen Architekten und Ingenieuren wird zumeist als ein hierarchisches begriffen. Der Architekt gilt als Schöpfer eines Entwurfs. Wenn der Architekt fertig entworfen hat, beginnt der Statiker zu rechnen, um den Entwurf baubar zu machen. Die im Tagesgeschäft häufig verwendete pejorative Titulierung der Ingenieure als „Rechenknechte“ macht deutlich, dass üblicherweise nur der Anteil der Architekten am gemein­ samen Werk als kreativ verstanden wird. Der bekannte Bauingenieur Ove Arup hat sogar einmal gesagt, dass der Ingenieur im Allgemeinen als das „Gegenteil eines Künstlers“ gilt.1 Gegensätzliche Fachkulturen gehen einher mit einem gegensätzlichen Habitus, der bereits im Studium kultiviert wird. Auf der einen Seite stehen die kühl kalkulierenden Ingenieure, ordentlich und von den Architekten als eher brav empfunden, und auf der anderen die Künstlerarchitekten, die von den Ingenieuren widerumals als chaotisch und tendenziell exaltiert wahrgenommen werden.2 Die unterschiedlichen Fachkulturen stehen der kooperativen Zusammenarbeit an einem gemeinsamen (Bau-)Werk jedoch häufig im Wege. Während Architekten die Tragwerksplaner oft als nach- und untergeordnet auffassen, stilisieren sich Ingenieure gerne als „Vertreter der Vernunft“, die die Kreativität der Architekten als verstiegene Verrücktheiten abwerten, wie der britische Ingenieur Peter Rice, ein Schüler Ove Arups, kritisch angemerkt hat.3 Andrew Saint hat die konfliktgeladene Beziehung der Disziplinen treffend als „sibling rivalry“ bezeichnet.4 Dabei ist die Aufspaltung der bauenden Zunft in Künstlerarchitekten und rechnende Bauingenieure in dieser Ausprägung noch recht jung, denn die Baustatik hatte sich im Hochbau erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts mit der Industrialisierung des Bauwesens etabliert. Doch entwickelten sich zwischen Architekten und Ingenieuren bald ganz unterschiedliche Fachkulturen, die bis heute wirksam sind. Zur Festigung der Disziplingrenzen trug die Formalisierung der Ausbildung entscheidend bei.5 Die entscheidende Bedeutung der Konstruktion für die Architektur spiegelt sich in der Antike in der Vitruv‘schen Trias, die neben die venustas gleichberechtigt die firmitas (und die utilitas) stellt. Auch Karl Friedrich Schinkel schrieb um 1825 in seinem Lehrbuch: „Architektur ist Construction. In der Architektur muss alles wahr sein, jedes Maskiren,

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­Verstecken der Construction ist ein Fehler. Die eigentliche Aufgabe ist hier jeden Teil der Construction in seinem Charakter schön auszubilden.“6 Doch um die Wende zum 20. Jahrhundert wurde dieser allgemeine Grundsatz durch die Vorstellung entscheidend verstärkt, dass sich die Form aus der Konstruktion (und der Funktion) quasi zwingend ableiten müsse.7 „Jede Bauform ist aus der Konstruktion entstanden und sukzessive zur Kunstform geworden“, schrieb etwa der Wiener Architekt Otto Wagner 1902 in Moderne Architektur.8 Viele Architekten der Avantgarde feierten Ingenieure gar als Helden und Protagonisten einer architektonischen Erneuerung. So erklärte etwa Le Corbusier in Vers une Architecture 1922 Dampfschiffe und Autos, Eisenbahnbrücken und Getreidesilos zum Vorbild für eine neue Architekturästhetik: „Man sehe sich die Silos und Fabriken in Amerika an, prachtvolle Erstgeburten der neuen Zeit. Die amerikanischen Ingenieure zermalmen mit ihren Berechnungen die sterbende Architektur unter sich.“9 Eine Architektur, bei der Form und Konstruktion nicht nur im Einklang stehen, sondern sich die Form aus der Konstruktion sogar entwickelt, erfordert aber eine kooperative Zusammenarbeit der so unterschiedlichen Fachpersönlichkeiten im Entwurfsprozess. Dies war und ist – allen anderslautenden Beteuerungen zum Trotz – in der Praxis zwar eher selten. Dennoch gibt es Beispiele, in denen sich dieser Entwurfsprozess als kreatives „Ping-PongSpiel“ zwischen gleichberechtigten Partnern entfaltet, wie der Architekt Fritz Schaller seine Zusammenarbeit mit dem Ingenieur Stefan Polónyi einmal beschrieben hat.10 Um diese Form der Zusammenarbeit soll es im folgenden Artikel gehen. Dabei wird die übliche Perspektive umgekehrt und die Wissenschaft in den Blick genommen, die die Kunst ermöglicht. Ausgangspunkt ist das Werk des 1930 geborenen Bauingenieurs Stefan Polónyi. Polónyis Vorlass wird im Baukunstarchiv NRW in Dortmund verwahrt. Im Zuge einer Ausstellung über Polónyi 2012 habe ich einen Teil davon ausgewertet, der Polónyis Engagement im Sakralbau betrifft.11 Von den rund zwanzig Kirchenbauten, für die Polónyi in den sechziger Jahren die Tragwerke entwickelte, werden im Folgenden zwei in den Fokus genommen: St. Suitbert in Essen (entstanden in Zusammenarbeit mit Josef Lehmbrock) und St. Paulus in Neuss (entstanden in Zusammenarbeit mit Fritz Schaller). Tragwerk und architektonische Raumschöpfung gehen in beiden Fällen eine besondere Synthese ein

Aufbruch zu neuen Ufern im Kirchenbau und im Betonbau Der Kirchenbau war in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland ein höchst produktives Feld; Kerstin Wittmann Englert hat das umfassend dargestellt.12 Die Liturgische Bewegung hatte als kirchliche Erneuerungsbewegung seit Beginn des Jahrhunderts viele Traditionen hinterfragt. Die Gemeinschaft der Gläubigen sollte in die sonntägliche Eucharistiefeier aktiv einbezogen werden, etwa indem die Messe in der jeweiligen Landessprache gelesen wurde (und somit nicht nur dem in der lateinischen Sprache geschulten Klerus vorbehalten war, sondern für jeden einzelnen Gottesdienstbesucher verständ-

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lich wurde). Die liturgische Debatte wurde in beiden christlichen Konfessionen parallel geführt. Auf katholischer Seite mündete sie in eine Liturgiereform, die im zweiten Vatikanischen Konzil 1962–1965 kodifiziert wurde. Demensprechend sollten die Kirchenbauten nicht mehr als Haus Gottes aufgefasst werden, sondern zum Ort der Zusammenkunft der Gläubigen werden, die an der Messe tätig teilnahmen. Die Liturgische Bewegung traf auf Architekten, die ebenfalls auf der Suche waren – nach einer dem modernen Leben und der modernen Technik entsprechenden Architektur. Es entstanden zahlreiche verhältnismäßig kleine sogenannte Einräume, die nicht in Schiffe gegliedert oder durch Pfeilerstellungen optisch getrennt waren, um das gewandelte Selbstverständnis der Kirche als Gemeinde auszudrücken. Dabei kamen neue Bautechnologien und Materialien zum Einsatz, allen voran der Stahlbeton. Um den neuartigen Kirchenräumen mit modernen Mitteln sakralen Charakter zu verleihen, begannen Architekten, mit dem Tragwerk zu experimentieren. Unterschiedlichste Dachformen, Raumgeometrien und Oberflächen, Öffnungen und Lichtführungen wurden erprobt.13 Eine wichtige Rolle spielte dabei der (Beton-)Schalenbau. Der Architekturhistoriker Hugo Schnell befand 1973, dass die bedeutendsten Impulse in der Außen- und Innenraumgestaltung der Kirche des 20. Jahrhunderts aus dem Schalenbau resultieren.14 Einer der Protagonisten des Schalenbaus war Stefan Polónyi. Der 1930 geborene Polónyi hatte in Budapest studiert, wo er schon in den frühen 1950er Jahren mit Betonschalen und Faltwerken zu experimentieren begann. 1957 eröffnete er ein Büro in Köln. Ab 1965 hatte er den Lehrstuhl für Tragwerkslehre an der Technischen Universität Berlin inne, b ­ evor er 1973 an die Technische Universität Dortmund wechselte. Polónyi konstruierte zahlreiche innovative Flächentragwerke im In- und Ausland. In Westdeutschland gab es zu dieser Zeit im Schalenbau wenig Expertise, während in der DDR Ulrich Müther und in der Schweiz Heinz Isler wegweisende Bauten verwirklichten.15 Zunächst wurden Schalen v­ orwiegend im Industriebau ver­ wendet. Polónyi entwickelte Anfang der 1960er mehrere Typen von Tankstellendächern, von denen rund 4.000 Stück gebaut wurden. Außerdem baute er Industriehallen aus Fertigteilen wie etwa für GLYCO in Wiesbaden, deren hauchdünne Betonschalen mit nur 3,5 cm Dicke eine technische Meisterleistung waren.16 Doch suchte Polónyi bald nach einer Möglichkeit, das ­Potenzial der neuen Konstruktion auch für andere Bauaufgaben unter Beweis zu stellen.

Eine Hyparschale für St. Suitbert in Essen-Überruhr Als sehr fruchtbar erwies sich Polónyis Zusammenarbeit mit Josef Lehmbrock aus Düsseldorf. Der gelernte Tischler Lehmbrock baute als Autodidakt unmittelbar nach dem Krieg Kirchen aus Trümmerteilen. Als Katholik engagierte er sich in der liturgischen Bewegung und beschäftigte sich mit Romano Guardini, was im Versammlungscharakter der von ihm gebauten Kirchen zum Ausdruck kommt. In seinen Bauten nahm Lehmbrock Entscheidungen des zweiten Vatikanums vorweg.

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Als Kirchenbauer bekannt geworden war Lehmbrock mit seiner „Flammenkirche“ Heilig Geist in Düsseldorf-Rath (1956–1958). Der in mystisches Halbdunkel getauchte Innenraum wird von einer geschwungenen Wand aus flammenförmigen Betonformsteinen umhüllt und von einem Raumfachwerksystem aus Stahlrohren überspannt. In einer Zeit der politischen wie spirituellen Neuorientierung war Lehmbrock ein Suchender, der mit neuen Konstruktionsweisen experimentierte, auch mit filigranen Deckenkonstruktionen.17 Die Kirche Sankt Albertus Magnus in Leverkusen-Schlebusch (1957–1959) überfing er zum Beispiel mit einem hölzernen Zollinger-Lamellendach.18 Jedoch standen für Lehmbrock die technischen Experimente nicht im Vordergrund, vielmehr sah er sie als Mittel zum Zweck, „das alte und immer wieder neue Geheimnis des Sakralen spürbar zu machen.“19 In seinem Artikel „Gesellschaft Kirchenbau. Kirchenbau Gesellschaft“ stellte er 1966 die Frage: „Darf das Bauwerk ‚eine schöne Beschwörung des himmlischen Jerusalems‘ sein [...] oder muss es bewusst von jeder Steigerung über die reine Zweckerfüllung freigehalten werden?“20 Die Antwort war für ihn klar: er wollte alle architektonischen Mittel ausschöpfen, um einen wahrhaft sakralen Raum als Kunstwerk zu schaffen.21 Mit der Kirche St. Suitbert in Essen-Überruhr (1964–1965) setzten Lehmbrock und Polónyi diese Überlegungen und die neuen liturgischen Anliegen gleichermaßen um. Der Pfarrer hatte gewünscht, dass die Gemeinde im Halbkreis um den Altar angeordnet sein sollte. Gemäß den Ideen der liturgischen Bewegung sollte der Alter ins Zentrum rücken. Er wurde wieder zum Tisch, um den sich eine überschaubare Gemeinde versammeln konnte – mit dem Pfarrer als primus inter pares.22 Lehmbrock und Polónyi entwarfen eine frei­ tragende Hypar-Schale aus Stahlbeton.23 Die hauchdünne Betonschale spannt 38 Meter quer über einen ungewöhnlich breiten elliptischen Kirchenraum. Sie ist punktförmig gelagert. Die Fundamente der Betonschale sind durch Spannbeton-Zugglieder unterirdisch verbunden. Die beiden wandhohen Widerlager nahmen gleichzeitig die Beichtstühle auf, was die fundamentale Bedeutung des Beichtsakraments unterstrich.24 Das Werk Lehmbrocks ist bislang nur in Teilen aufgearbeitet worden.25 Der Architekt hat sich aber in einem Videointerview explizit zu seiner Zusammenarbeit mit Polónyi ge­ äußert. Das Interview wurde von Katherin Bollenbeck und Gavrilo Zambon 1995 für die Ausstellung „Glaube und Raum“ geführt, die in Groß St. Martin zu Köln gezeigt wurde. Posthum wurde eine Schriftfassung publiziert.26 Lehmbrock betont darin, dass die Initiative für das gewagte Experiment von Polónyi ausgegangen sei: Ich bin sehr froh, mit dem Stefan Polónyi zusammengewesen zu sein, der beim Ungarnaufstand nach Deutschland geflohen ist. Mit großer Spürnase hat er mich gleich entdeckt, hat mich am Schlips genommen und wollte nun endlich seine Schalenkonstruktionen bauen. Der hat mir dermaßen oft in den Ohren gehangen –‚bauen wir erst mal‘ – dann haben wir im Kirchenbau mit dem Schalenbau angefangen. [...] Das ist ganz gut gegangen, so wie man es machen sollte: diese aus der Historie sich ergebenden Grundelemente einerseits, andererseits die neue Form! Im Grundriss aber diese ganzen Geschichten, die sich aus der Liturgie ergeben.27

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18  Essen, St. Suitbert, Baustellenfoto der fertiggestellten Hypar-Schale. Ohne die abschließend aufgebrachte Kupferverblechung erkennt man, wie hauchdünn die Betonschale ist, Aufnahme 1965.

Die um den Altar versammelte Gemeinde wurde von einem wie „über den Raum gewor­ fenen“28 sattelförmigen Dach umfangen. Gleichzeitig betont die architektonisch überhöhte Altarwand das Sakrale. Eingangs- und Altarseite sind als geneigte Faltwände ausgebildet, die mit der Schale keine Verbindung haben. Das betont nicht nur das „Fliegen“ des Dachs, sondern ermöglicht eine raffinierte Lichtführung: Durch den Glasstreifen zwischen Deckenschale und Wand fällt Streiflicht auf die vorhangartig wirkenden Wände (Farbabbildung 12). Der Bau der Schale hatte auch in technischer Hinsicht experimentellen Charakter, denn zu dieser Zeit existierten noch keine statischen Vorschriften für Schalen – sie waren zu neu, um genormt zu sein. Polónyi verhandelte daher mit dem zuständigen Beamten im Bauamt persönlich um die für die Baubewilligung erforderliche Dicke, wobei man sich schließlich auf einen Kompromiss von 5 cm einigte. Dabei hatte Polónyi eigentlich 4 cm durchsetzen wollen, denn so dünn waren die Hypar-Schalen, die Felix Candela Outeriño seit den frühen 1950er Jahren in Mexiko gebaut hatte. Der „Vater des Schalenbaus“ hatte die Konstruktionsweise zwar nicht erfunden, doch hatte er sie anwendbar gemacht, indem er mit den Membranspannungsgleichungen ein einfach handhabbares Berechnungssystem entwickelte, und dann in zahlreichen Varianten erprobt. Frei Otto nannte Candelas hauchdünne Gebilde „Segel aus künstlichem Stein“.29

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Hypar-Schalen (der Begriff leitet sich ab von der geometrischen Figur des Hyperbolischen Paraboloids) haben ganz besonders günstige statische Eigenschaften. Hyperbolische Paraboloide sind zweifach gekrümmte Flächen, die viel formstabiler sind als einfach gekrümmte Flächen wie etwa Tonnen oder Zylinder. Außerdem sind hyperbolische Paraboloide geometrisch gesehen „Regelflächen“, was bedeutet, dass sie von zwei Scharen gerader Erzeugender gebildet werden können. Dieser Umstand bedingt, dass die Schalung vergleichsweise günstig aus geraden Brettern hergestellt werden kann (anders als etwa bei einer kugelförmigen Kuppel). Und eine effiziente Schaltechnik ist – abgesehen von der teuren Handarbeit beim Bewehren und Betonieren – für die ökonomische Rentabilität von Betonschalen entscheidend. Zwar ist der Materialaufwand für die Schale selbst im Vergleich zum umbauten Raum gering, doch muss vor dem Betonieren ein aufwändiges Schalungsbauwerk errichtet werden. Da die gesamte Schale in einem Stück fugenlos betoniert wird, braucht man ein sehr großes Gerüst.30 Auf die Schalung wird die Bewehrung aus Stahlmatten aufgebracht. Der Eisenanteil im Beton ist vergleichsweise hoch. Eigentlich kann man sich eine Betonschale eher als ein mit etwas Beton ummanteltes Stahlgewebe vorstellen. Der Beton wurde im Torkret-Verfahren aufgespritzt. Er wird dabei nicht geschüttet, sondern mit Hochdruck geblasen und gleichzeitig durch die Aufprallenergie verdichtet, wodurch das Rütteln entfallen kann. Man braucht nur an der Unterseite ein Schalungsbauwerk. Im Falle von St.  Suitberg hatte sich die Beullast der Schale vorab nicht rechnerisch nachweisen lassen, da die technischen Möglichkeiten zur Verarbeitung großer Datenmengen damals noch nicht gegeben waren. Deshalb war eine Justiervorrichtung ein­ gebaut worden, wodurch der Schalenrand nachträglich in die richtige Lage gedrückt ­werden konnte. Sobald dieser der optimalen Krümmungslinie folgte, wurde die Schale stabil. Baustellenfotos dokumentieren außerdem eine Belastungsprobe mit Kartoffel­säcken, die durchgeführt wurde, nachdem beim Betonieren Schäden aufgetreten ­waren.31 So improvisiert das Vorgehen in diesem Zusammenhang erscheinen mag – vor der Einführung computergestützter Rechenverfahren in der Baustatik waren 1:1-Belastungstests eine durchaus gängige Verfahrensweise. Als Franz Dischinger in den 1920er Jahren bei Dyckerhoff & Widmann AG die ersten Schalenbauten entwickelte, führte er ebenfalls Belastungstests an Versuchsbauten durch, um anschließend abzumessen, ob und wie sich das Tragwerk verformt hatte. Die Last wurde ebenfalls in Säcken aufgebracht. Die hier geschilderten Arbeitsschritte und Experimente bei Bau der Hypar-Schale in Essen sind in Polónyis Vorlass durch zahlreiche Baustellenfotos überliefert, die – in ein ­Album eingeklebt – alle Abläufe dokumentieren. Daneben existieren Fotoserien, die offensichtlich für Publikationszwecke gedacht waren. Ein spektakuläres Foto der Bewehrung etwa brachte es 1965 auf das Cover des Branchenblattes Baustahlgewebe-Nachrichten.32 Offenbar war es dem Ingenieur und den Baufirmen wichtig, ihre Arbeit, die eine Pionierleistung darstellte, auch als solche zu dokumentieren. Polónyi hat später häufig

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19  Essen, St. Suitbert, Belastungsprobe der Schale mit Kartoffelsäcken, Baustellenfoto zu Dokumentationszwecken, Aufnahme 1965.

erzählt, dass dieser Bau sein „Meisterstück“ gewesen sei, das ihm die Berufung an die Technische Universität Berlin eingebracht habe Die weitere Geschichte des Essener Bauwerks selbst ist etwas weniger heroisch, wie hier der Vollständigkeit halber angefügt werden soll. Der Turm und ein Eingangsraum mit Taufkapelle, die in einem zweiten Bauabschnitt hätten folgen sollen, wurden nie errichtet. Stattdessen wurde in den 1980er Jahren eine Sanierung durchgeführt, die aus heutiger Sicht fragwürdig erscheint. Sie folgte offenbar dem Bedürfnis der Gemeinde, die als zu nüchtern empfundene Kompromisslosigkeit des Raums zu brechen. Die Stirnwand aus Sichtbeton wurde farbig gestaltet, der Steinboden durch ein Stirnholzpflaster ersetzt sowie eine Orgelempore und neue Beichtstühle eingebaut. Außen wurde das Dach saniert, der Sichtbeton mit Thermoputz ummantelt und ein von dünnen Rundsäulen getragener Eingangsbaldachin angesetzt. Inzwischen ist die Kirche, wie so viele andere, aufgrund der schrumpfenden Gemeinden nur noch Filialkirche. 2005 stand sogar ein Abriss zur Debatte, wogegen sich die Gemeinde jedoch erfolgreich wehrte. Stattdessen wurde das Bauwerk im Rahmen einer Erfassungskampagne 2006 als denkmalwert eingestuft und unter Schutz gestellt.33 Eine neuerliche Sanierung, die mit einem Rückbau der Ein- und Anbauten einhergehen soll, wird derzeit vorbereitet.

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Ein Faltwerk für St. Paulus in Neuss-Weckhofen Mit dem Kölner Kirchenbaumeister Fritz Schaller baute Polónyi ab Mitte der 1960er Jahre vier Kirchen, von denen die erste, St. Paulus in Neuss-Weckhofen (1965–1967), für die vorliegende Betrachtung besonders interessant ist, da hier das Zusammenspiel aus Tragwerk und Kirchenraum am überzeugendsten gelöst wurde.34 Der regimetreue Schaller entstammte einer anderen Generation, hatte in den 1930er Jahren Thingbühnen für die NS-Organisation „Schönheit der Arbeit“ errichtet und war während des Zweiten Weltkriegs als Mitarbeiter an den Anlagen der Ernst Heinkel Flugzeugwerke „unabkömmlich“ gestellt. Seit 1947 wirkte er auf Einladung von Rudolf Schwarz im Bistum Köln, insgesamt baute er 30 Kirchen.35 Seine frühen Sakralbauten waren überwiegend orthogonale Kompositionen basilikalen Typs. Durch Stützen gegliedert, zeichnen sie sich durch sorgfältige Lichtführung und Materialbehandlung aus, wie etwa die Kirche St. Maria Königin in Kerpen (1955–1956) zeigt.36 In seinem Spätwerk begann Schaller sich für Einräume zu begeistern, die immer stärker durch die Dachkonstruktionen geprägt waren. Dies war die Phase, in der er die Kooperation mit Polónyi suchte.37 Schaller kontaktierte den Tragwerksplaner, kurz nachdem er den Auftrag erhalten hatte, für Neuss ein Gemeindezentrum zu entwerfen. Ausgangspunkt, so berichtete Schaller später, sei der Wunsch gewesen, mit einem Faltwerk einen stützenfreien Kirchenraum zu umhüllen.38 Polónyi erzählte rückblickend in seiner Werkdokumentation, dass der 25 Jahre ältere Architekt ihn zunächst eingeladen habe, einen Sonntag lang seine Kirchen zu besichtigen.39 Dann, so erinnerte Polónyi weiter, habe er Schaller diverse Konstruktionsarten in verschiedenen Materialien skizziert. In Abwägung der Raumvorstellung Schallers entschieden sie sich für ein Stahlbetonfaltwerk: Fritz Schaller wollte eine lange und hohe Kirche entwerfen. [...] Ein solches Kirchenschiff lässt sich nicht ohne weiteres mit einer Fläche überdachen. Das lässt sich an einem Modell einfachster Art demonstrieren, indem man ein Blatt Papier um die Längsachse biegt und feststellt, dass die so erhaltene Form nicht stabil ist. Zerknittert man das Blatt jedoch vorher, so bleibt die Form erhalten.40

Eine sehr dünne raumabgrenzende Tonne wurde durch Faltung stabilisiert. Diese Idee entsprach Polónyis Verständnis von Tragwerksplanung, die er häufig so formulierte: „Wie kann die raumabgrenzende Fläche gestaltet werden, damit sie selbst trägt, und wenn das nicht möglich ist, was muss noch hinzugefügt werden, damit sie die Tragfunktion übernehmen kann?“41 Die gefaltete Tonne wurde dann von den beiden unter Mitarbeit von Schallers Sohn Christian, ebenfalls Architekt, abgewandelt. Polónyi hat über den Entwurfsprozess Folgendes berichtet:

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20  Neuss, St. Paulus, Außenansicht nach Fertigstellung, 1970. Der fast fensterlose Bau mit seiner Kupferdeckung, hier noch ohne die charakteristische hellgrüne Patina, kauert neben dem Turm wie ein gepanzertes Insekt. Der Turm war eigentlich ebenfalls als Stahlbetonfaltwerk gedacht, wurde aus Kostengründen dann aber als Holzkonstruktion realisiert.

Jetzt kam die Phase, in der wir dieses Faltwerk formten. Dabei sagte Schaller, dass die zwei Längsträger in den beiden Firsten ruhig höher sein könnten. Ich erwiderte, dass ich sie nicht höher brauchte, da das Haupttragelement der Dreigelenk-Bogen sei, dass aber auch aus architektonischen Gründen meiner Meinung nach der niedrige Träger besser sei, ich ihm aber in diese Ange­legenheit nicht hineinreden wolle, weil das schließlich sein Ressort sei. Darauf sagte Schaller: „Das ist unser gemeinsames Werk und ich möchte keinen Strich ziehen, mit dem Sie nicht einverstanden sind.“42

Es entstand ein Faltwerk mit in Grund- und Aufriss komplexer Geometrie. Der zweifach konische Grundriss ist auf beiden Seiten mit Doppelapsiden abgeschlossen. Statisch gesehen, ist die Schale in der Querrichtung als Dreigelenkbogen ausgebildet, der über knapp 30 Meter spannt und beiderseits auf einem niedrigen Sockel lagert. Dieser Sockel ist unten eingespannt und unterirdisch durch Zugglieder verbunden, um die Horizontalkräfte aufzunehmen.43 Die Stahlbetonplatten des Faltwerks waren nur 7 cm dick, außen wurde eine Kupferblechverkleidung auf einer Lattenschalung aufgebracht.

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21  Neuss, St. Paulus, Faltwerk. Die Atmosphäre des stützenfrei überspannten Innenraums wird von dem komplizierten Faltwerk und der dramatischen Lichtführung dominiert, Aufnahme 1968.

Von außen hat der fast fensterlose Bau eine etwas abweisende Anmutung, er kauert ­gewissermaßen neben dem Turm wie ein gepanzertes Insekt. Atemberaubend in seiner Wirkung aber ist der Innenraum. Zunächst hatte Schaller offenbar daran gedacht, unter das Faltwerk noch einen Baldachin einzustellen, der von vier schlanken Stützen getragen werden sollten. Christian regte dann an, diesen Baldachin in das Faltwerk zu integrieren und dabei auf die Stützen zu verzichten.44 In Längsrichtung erscheint der Raum wie von einer Wirbelsäule mit ausgreifenden dünnen Rippen überspannt. Papierdünn wirkt die komplizierte Faltung, das Streiflicht aus den verdeckten Oberlichtern illuminiert den schalungsrauen Sichtbeton und betont die scharfen Kanten.45 Die sorgfältig belichtete Faltung der raumabschließenden Schale bildet zugleich den einzigen Schmuck des in mystisches Halbdunkel gehüllten Raums, der auch als „kristallinplastisch“ beschrieben worden ist.46 Mit Recht zählt St. Paulus zu den herausragenden Kirchenbauten der Nachkriegszeit weltweit.47 Schon seit 1997 steht er unter Denkmalschutz.

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22  Statisches Versuchsmodell aus Acrylglas von St. Paulus zur Dehnungsmessung am Institut für Modellstatik der TU Berlin. Wegen der komplizierten Geometrie des Faltwerks waren etwa 400 Messstellen erforderlich. Anhand der Messergebnisse wurden die Berechnungen überprüft.

Für den Tragwerksplaner war das geometrisch so komplizierte Faltwerk eine technische Herausforderung, weil es die Grenzen des damals rechnerisch Nachweisbaren überschritt. Die Spannungen konnten nur durch sehr vereinfachende Annahmen rechnerisch ermittelt werden. Deshalb wurde das Tragverhalten am Institut für Modellstatik der Technische Universität Berlin, das Polónyi selbst aufgebaut hatte, überprüft. An einen Acrylglasmodell wurden in einem Belastungstest mithilfe von Dehnungsmessungen die auftretenden Spannungen ermittelt. Der Vergleich der Rechen- und Messergebnisse ergab zufriedenstellende Übereinstimmung.48 Auch die Detailplanung und die Ausführung waren herausfordernd. Die Eckbewehrung der nur 7 cm dicken Stahlbetonschale war kompliziert, da an den Ecken große Biegebeanspruchungen auftreten und die Bewehrung von einer Platte in die andere übergreifen muss. Die Bewehrungspläne zeichnete der junge Konstrukteur Georg Hörnicke, der die Details unter anderem mit gebogenen Büroklammern testete. Offenbar waren die komplexen Zeichnungen schwierig zu lesen, wie Polónyi rückblickend berichtet hat:

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Die Pläne haben wir nach Neuss geschickt, und der Eisenbieger hat gesagt, er kann das nicht ausführen. Da kam Herr Hörnicke für einige Wochen auf die Baustelle und hat die Bewehrung auf einer Seite selbst mit verlegt. Dann sagte der Polier: Vielen Dank, auf der anderen Seite kann ich es jetzt selber!49

Schalen im Kirchenbau Die beiden hier vorgestellten Sakralbauten verdeutlichen, dass Flächentragwerke nicht nur Raumabschluss und Tragstruktur in einem sind, sondern auch zeichenhafte und atmosphärische Kirchenbauten schaffen konnten. Für kurze Zeit passte alles zusammen: S­ chalen entsprachen als „ehrliche Konstruktion“ und perfekte Übereinstimmung von Funktion und Form dem Ethos der Moderne. In seinem Artikel „Flächentragwerke im Kirchenbau“ von 1966 schloss Polónyi mit den Worten: „Die Flächentragwerke erlauben uns, Räume zu bilden, die in jedem Punkt die Funktion richtig zum Ausdruck bringen. Eine Fülle von bisher nicht geahnten Raumerlebnissen wartet auf uns.“50 Auch die Auftraggeber bewiesen Mut. Die Erzdiözese Köln nahm ausdrücklich in Kauf, dass aus dem innovativen Charakter der Konstruktion finanzielle Unwägbarkeiten erwuchsen, wie aus den Bauakten hervorgeht.51 Entgegen den hochgesteckten Erwartungen sollte der Schalenbau in der Architekturgeschichte jedoch Episode bleiben. Bereits in den 1970er Jahren erlahmte das Interesse wieder. Der arbeitsaufwändige (und damit in Zeiten knapper Arbeitskräfte unverhält­ nismäßig teure) Schalenbau verlor an Bedeutung gegenüber vorgefertigten Skelettkon­ struktionen, die trotz des höheren Materialaufwands deutlich ökonomischer waren. Im Kirchenbau kamen burgartig-plastische Kompositionen auf, daneben setzte sich mit den Gemeindezentren die profane Form durch.52

Die Arbeitsteilung und das Selbstverständnis der Tragwerksplaner Abschließend soll das Problem der entwerferischen Arbeitsteilung wieder aufgegriffen werden. Die Unterschiede im Selbstverständnis der Disziplinen und die übliche Hierarchisierung der Beiträge als „künstlerisch-genial“ und „technisch-ausführend“ wurden bereits eingangs angesprochen. Hinzu kommt, dass Architekten sich als Generalisten verstehen, deren Aufgabe es ist, unterschiedlichste Interessen und Wissensformen zu bündeln – und dabei stets die Gestaltungsmacht zu behalten. Im Gegensatz dazu sind Tragwerksinge­ nieure Spezialisten, die – im Verbund mit anderen Spezialisten wie Haustechnikern, Lichtplanern oder Landschaftsgärtnern – ihr spezifisches Tiefenwissen in einen komplexen Planungsprozess einbringen. Die Kommunikation erfordert es also auf beiden Seiten, über

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den eigenen Schatten zu springen. Ove Arup nannte die Zusammenarbeit zwischen Ingenieur und Architekt einmal eine sehr intime Angelegenheit. Wie eine Ehe erfordere sie Fingerspitzengefühl, Toleranz und Zuwendung.53 In den beiden hier betrachteten Fällen erlebten die beteiligten Architekten die Zusammenarbeit als außergewöhnlich. Lehmbrock betonte, dass die Initiative für die Kollaboration von Polónyi ausgegangen sei. Und Schaller benutzte den schon erwähnten Ausdruck kreatives „Ping-Pong-Spiel“, um die ungewöhnlich enge und gelungene Zusammenarbeit mit dem Ingenieur zu charakterisieren.54 Beiden Architekten war es offensichtlich wichtig, Polónyis Anteil am Entwurf herauszustellen und diesen als gemeinsames Werk zu kennzeichnen. Auch der Tragwerksplaner beanspruchte einen Anteil an der Autorschaft für sich, was ebenfalls außergewöhnlich ist.55 Der Architekt Frei Otto, bekanntlich selbst ein Experte für experimentelle Tragwerke, hat seinen Kollegen Polónyi einmal beschrieben als „Denker, der Menschen beim Zusammenfügen anleitet“.56 Vermutlich kann man sich die Dialoge so ähnlich vorstellen wie die Zwiegespräche bei Entwurfskorrekturen, bei denen es darum geht, zunächst die Entwurfsidee herauszuarbeiten und dann die Umsetzung daraus abzuleiten. Polónyis eigene Aussagen über die Zusammenarbeit zielten noch in eine andere Richtung: Nicht nur die Projekte selbst wollte er kommentieren, er reflektierte auch zugleich die eigene Fachkultur. Seine Erinnerung an die Zusammenarbeit mit Fritz Schaller schloss er mit den Worten: „Diese Geschichte habe ich später oft meinen Studenten erzählt, ­damit sie wissen, wie ein Architekt mit seinem Ingenieur-Partner umgehen sollte.“57 In Umrissen wird so das Selbstverständnis eines Bauingenieurs deutlich, der sich nicht als technokra­ tischer Handlanger verstand, sondern als Tragwerksplaner. Polónyis britischer Fachkollege Peter Rice verwahrte sich grundsätzlich dagegen, dass die Rolle von Ingenieuren als unkreativ wahrgenommen werde. Dabei plädierte Rice keineswegs dafür, die Grenzen der Disziplinen zu verwischen, sondern führte aus, dass die Antwort von Architekten auf eine gestellte Aufgabe grundsätzlich kreativ (creative) und die von Ingenieuren erfinderisch (inventive) sei.58 Rice knüpft hier an die alte Tradition des Ingenieurs als Erfinder an, wie sie etwa mit dem technischen Werk Leonardo da Vincis verbunden ist. Indem Ingenieure eine konsequente Konstruktion im Sinne des architek­ tonischen Grundgedankens entwickeln, so das Selbstverständnis von Tragwerksplanern, lösen sie die Bauaufgabe gemeinsam mit den Architekten. Zudem betont Rice, dass sie durch die wissenschaftliche Erforschung eines Materials und durch die technische Ermöglichung neuer Konstruktionen originelle eigene Beiträge zu einem gemeinsamen Architekturwerk lieferten.59 Auch Polónyi hat die Aufgabenteilung zwischen Architekt und Ingenieur immer respektiert. Anders als sogenannte Ingenieurarchitekten, also rechnende Architekten oder entwerfende Ingenieure, die beide Pole in einer Person vereinen, verstand sich Polónyi ausdrücklich als Wissenschaftler, der mit einem entwerfenden Architekten zusammenarbeitet. Dennoch war er ein Grenzgänger. Mit seinen unkonventionellen Methoden hat er

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sein eigenes Fach an die Grenzen geführt, indem er das etablierte Wissenschaftsverständnis hinterfragte. „Der Ingenieur soll dem Architekten nicht sagen, dass etwas nicht geht, sondern er soll ihm sagen, wie es geht“, ließ sich Polónyi häufig zitieren.60 Ulrich Conrads schrieb, Polónyi interpretierend: „Und es ist dieses bewusste Erleben gemeinsamer Arbeit, das jene Komplizenschaft, jene Solidarität stiftet, die es nicht weiter gestattet, den kalkulierenden Ingenieur und den Architekten als Gestaltgeber gegeneinander auszuspielen.“61 Häufig hat Polónyi seinen Ingenieurskollegen vorgeworfen, dass sie zu sehr auf das Rechnen fixiert seien. Vielen gehe es nicht um sinnvolle Konstruktionen, sondern um gute Rechenbarkeit nach gängigen Modellen.62 Grundsätzlich geht es in der Baustatik ja darum, das Tragverhalten einzelner Bauteile vorab rechnerisch zu ermitteln und die Kon­ struktion entsprechend zu gestalten. Ziel ist es, den Aufwand, also den Materialverbrauch und Arbeitsaufwand bei der Herstellung, zu minimieren und gleichzeitig die Standfestigkeit des Bauwerks sicherzustellen. Bei den Berechnungen können allerdings niemals alle tatsächlichen Kraftverläufe erfasst werden, dazu sind diese viel zu kompliziert. Man bildet stark idealisierte Modelle. Diese werden mit Methoden der Mathematik nach Gesetzen der Mechanik logisch-deduktiv hergeleitet. Um die Bauteile zu dimensionieren, werden die theoretischen Modelle mit empirisch erhobenen Materialeigenschaften kombiniert. Dieses Kombinieren von Theorie und Empirie ist nicht trivial. Es ist auch nicht unumstritten. Zwar wurden bereits in der Antike Bauten mit gewaltigen Spannweiten errichtet und die ersten Gesetze der Mechanik formuliert. Doch wurden Theorie und Baupraxis über Jahrhunderte nicht in Verbindung gebracht. 1742/1743 wendeten Mathematiker das erste Mal wissenschaftliche Statik auf ein Bauwerk an: die instabil gewordene Kuppel des Petersdoms in Rom wurde mittels theoretisch-mathematischer Überlegungen untersucht und ein einzubauender Teil durch Rechnung dimensioniert. Architekten sahen darin zunächst einen „Missbrauch der Mathematik“.63 Im 19. Jahrhundert, dem „heroischen Zeit­ alter“ der Baustatik, nutzte man neue Baustoffe wie Eisen, Stahl und Eisenbeton für neue Bauaufgaben wie Eisenbahnbrücken und Hallen, für die genaue Berechnungen unabdingbar waren. Die dafür eingesetzten Methoden entwickelten sich rasant und konnten schon bald nur mehr durch ein wissenschaftliches Studium erlernt werden.64 Zunehmende Spezialisierung war die Folge. Bald schien es so, „als ob [...] jedes Problem durch Rechnung gelöst werden könnte“, schreibt Hans Straub in seiner Geschichte der Bauingenieurskunst.65 Dabei waren und sind statische Berechnungen niemals Zweck an sich. Die Kunst ist es, ein Gleichgewicht zwischen wissenschaftlicher Exaktheit und praktischer Handhabbarkeit zu finden. Stefan Polónyi kritisierte, Bauingenieure seien oft so auf ihre Modelle fixiert, dass sie die Architektur, zu deren Realisierung diese beitragen sollten, ganz aus den A ­ ugen verlören. „Die vermeintlich wissenschaftliche Lehre hat zur Folge, dass wir unsere Kon­ struktionen nach der Statik trimmen, anstatt die Statik der sinnvollen Konstruktion anzupassen.“66 Um seine Visionen der Zusammenarbeit umzusetzen, baute Polónyi an der Technischen Universität Dortmund gemeinsam mit dem Architekten Harald Deilmann das „Dortmun-

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der Modell Bauwesen“ mit auf, in dem Architekten und Ingenieure gemeinsam ausgebildet werden – bis heute.67 Die Idee ist, dass Studierende des Bauingenieurwesens zunächst konstruieren lernen, um dann erst zu abstrahieren und zu rechnen.68 Damit wollte Polónyi unter Ingenieuren ein neues Berufsethos etablieren, das nicht darauf zielt, elegante Berechnungen zu produzieren, sondern elegante Bauwerke.

Anmerkungen   1 Ove Arup, Art and Architecture. The architect  – engineer relationship, in: RIBA Journal 8, 1966,S. 350–359, hier S. 350 (im Original: „the antithesis of an artist“).   2 Andrew Saint, Architect and engineer. A study in sibling rivalry, New Haven u. a. 2007, S. 1–2.  3 Peter Rice, The Role of the Engineer, in: ders., An Engineer Imagines, London 1994, S. 71–80, hier S. 76.   4 Saint 2007 (Anm. 2).   5 Vgl. Antoine Picon, L’invention de l’ingénieur moderne. L’École des Ponts et Chaussées 1747– 1851, Paris 1992; Ulrich Pfammatter, Die Erfindung des modernen Architekten. Ursprung und Entwicklung seiner wissenschaftlich-industriellen Ausbildung, Basel 1997.   6 Karl Friedrich Schinkel, Das architektonische Lehrbuch, Berlin 1979, S. 115; vgl. dazu auch Adrian Forty, Words and buildings. A vocabulary of modern architecture, London 2000, S. 297.   7 In einer berühmten Passage formulierte der amerikanische Architekt Louis Sullivan 1896: „Whether it be the sweeping eagle in his flight, or the open apple-blossom, the toiling work-horse, the blithe swan, the branching oak, the winding stream at its base, the drifting clouds, over all the coursing sun, form ever follows function, and this is the law. [Hervorhebung S. H.]“ Louis Sullivan, The Tall Office Building Artistically Considered, in: Lippincott’s Magazine, 1896, H. 57, S. 403–409, hier S. 408.   8 Otto Wagner, Moderne Architektur, Wien 1902, S. 98.  9 Le Corbusier. Ausblick auf eine Architektur [1922], übers. H. Hildebrandt, neu überarb. E. Gärtner, Braunschweig/Wiesbaden 1982, S. 40. 10 Emanuel Gebauer, Fritz Schaller. Der Architekt und sein Beitrag zum Sakralbau im 20. Jahrhundert, Köln 2000 (Stadtspuren: Denkmäler in Köln 28), S. 315. 11 Vgl. Sonja Hnilica, Tragwerk und Transzendenz. Kirchenbauten von Stefan Polónyi, in: Stefan Polónyi. Tragende Linien – Tragende Flächen, hrsg. von U. Kleefisch-Jobst u. a., Stuttgart 2012, S. 59–67. 12 Kerstin Wittmann-Englert, Zelt, Schiff und Wohnung. Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne, Lindenberg/Allgäu 2006. 13 Vgl. Barbara Kahle, Deutsche Kirchenbaukunst des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 1990, S. 136. 14 Hugo Schnell, Der Kirchenbau des 20. Jahrhunderts in Deutschland, München 1973, S. 195–196. 15 Vgl. Tanja Seeböck, Schwünge in Beton. Die Schalenbauten von Ulrich Müther, Schwerin 2016; Ekkehard Ramm und Eberhard Schunk, Heinz Isler Schalen, Zürich 2002. 16 Vgl. Stefan Polónyi und Wolfgang Walochnik, Architektur und Tragwerk, Berlin, 2003, S. 91–95., 131–133. 17 Vgl. Josef Lehmbrock, Die Kirche Heilig Kreuz Düsseldorf-Rath, in: Das Münster. Zeitschrift für christliche Kunst 5/6, 1966, S. 184. 18 Schnell 1973 (Anm. 14), S. 98, 119; Kahle 1990 (Anm. 13), S. 150; Stephan Strauss, Josef Lehmbrock, in: Das Münster 66, 2013, S. 338–344.

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19 Josef Lehmbrock, Gesellschaft Kirchenbau. Kirchenbau Gesellschaft, in: Das Münster 5/6, 1966, 177–185, hier S. 185. 20 Ebd., S. 184. 21 Vgl. Josef Lehmbrock, Kirchenbau in der Krise, in: DAI Deutsche Architekten-und Ingenieur Zeitschrift 12, 1968, S. 2–7. 22 Vgl. Kahle 1990 (Anm. 13), S. 1–20, Schnell 1973 (Anm. 14), S. 7–8. 23 o.V., Schalen und Faltwerke, in: Bauwelt 36, 1967, S. 908–913, S. 908–909.; Polónyi/Walochnik 2003 (Anm. 16), S. 212–16; Tanja Seeböck, Nachdenken über Denkmalpflege, in: kunsttexte.de 2006, H. 2, S. 5; Wittmann-Englert 2006 (Anm. 12), S. 73–74. 24 Leider wurden die Beichtstühle inzwischen zugemauert und durch mobile Beichtstühle aus Holz ersetzt. 25 Zu Biografie und Werk vgl. Schwarz auf Weiss. Informationen und Berichte aus der KünstlerUnion Köln, H. 1, 2000. Für den Hinweis darauf und weitere Informationen zu Josef Lehmbrock und seinem Werk danke ich Herrn Dr. Karl Josef Bollenbeck herzlich. Der Nachlass Lehmbrocks wird im Architekturmuseum der TU München verwahrt. Einen Überblick über Lehmbrocks Kirchenbauten gibt Strauss 2013 (Anm. 18), S. 338–344. 26 ‚Das Konzil ist für mich zu spät gekommen.‘ Josef Lehmbrock im Interview, in: Schwarz auf Weiss 2000 (Anm. 24), S. 6–34. 27 Ebd., S. 19. 28 Wittmann-Englert 2006 (Anm. 12), S. 73. 29 Frei Otto, Über Candela, in: Arcus 18, 1992, S. 6–9, S. 7. Vgl. Colin Faber, Candela und seine Schalen, München 1965.; Enrique X. De Anda Alanis, Candela 1910–1997. Die Beherrschung der Grenzen, Köln 2008. 30 Vgl. Herrmann Rühle, Wie wurden Schalen gebaut. Ein erlebter Rückblick, in: Arcus 18, 1992, S. 32–49. 31 „Kirche St.  Suitbert Essen-Überruhr (1964)“, Baubeschreibung im Vorlass Polónyi, Typoskript, 2 Seiten, Baukunstarchiv NRW; Fotodokumentation Bauablauf, Vorlass Polónyi, Baukunstarchiv NRW; Polónyi/Walochnik 2003 (Anm. 16), S. 212–16. Vgl. Werner Lorenz, Roland May und Jürgen Stritzke, Die Großmarkthalle Leipzig (Historische Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst in Deutschland 14), Berlin 2013, S. 45. 32 Vgl. o.V., Zu unserem Titelbild: St. Suitbert in Essen-Überruhr, in: Baustahlgewebe-Nachrichten 1965, H. 11, o. S. 33 Vgl. Sigrid Auberg-Watzlawik, Alexander J. Schmidt und Tanja Seeböck, Architektur und Städtebau 1960 bis 1972 in Essen. Gutachten im Auftrag der Stadt Essen, Institut für Denkmalschutz und Denkmalpflege, Essen 2006. Unveröffentlichte Studie, Stadtarchiv Essen, S. 253–263. 34 Außer der hier diskutierten Kirche sind das die Heilige Ewalde in Wuppertal-Cronenberg (1967, ein Zeltdach aus Betonfaltwerk in Kombination mit einem Holzsparrendach), St. Markus in KölnSeeberg (1970, ein Flachdach als Trägerrost aus Stahlbeton-Fertigteilen) und St.  Remigius in Wuppertal-Sonnborn (1970–1974, Stahlbeton-Kegelschalen auf einem elliptischen HohlkastenRingträger). Vgl. Karl Josef Bollenbeck (Bearb.), Neue Kirchen im Erzbistum Köln 1955–1995, Köln 1995; Wittmann-Englert 2006 (Anm. 12), S. 66; Polónyi/Walochnik 2003 (Anm. 16), S. 222–224. 35 Vgl. Gebauer 2000 (Anm. 10). Der Nachlass Schallers wird im Historischen Archiv des Erzbistums Köln (AEK) verwahrt. 36 Gebauer 2000 (Anm. 10), S. 106. 37 Ebd., S. 302. 38 Ebd., S. 315. 39 Polónyi/Walochnik 2003 (Anm. 16), S. 219.

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40 Stefan Polónyi, Der Tragwerksentwurf, in: ders., ...  mit zaghafter Konsequenz. Aufsätze und Vorträge zum Tragwerksentwurf 1961–1987, Braunschweig/Wiesbaden 1987, S.  105–124, hier S. 114. 41 Stefan Polónyi, Die Tragkonstruktion als architektonische Dominante, in: Über Tektonik in der Baukunst, hg von H. Kollhoff, Braunschweig 1993, S. 26–37, S. 33. 42 Polónyi/Walochnik 2003 (Anm. 16), S. 219. 43 Zitiert nach Gebauer 2000 (Anm. 10), S. 316. 44 Dies berichteten Vater und Sohn später übereinstimmend. Von der Baldachin-Variante zeugen außerdem Zeichnungen im Nachlass Schallers. Vgl. Gebauer 2000 (Anm. 10), S. 319. 45 Dokumentation im Vorlass Polónyi, Baukunstarchiv NRW; Sonja Hnilica, Ingenieur und Architekt. Kirche St. Paulus, Neuss, 1966–1967 von Fritz Schaller und Stefan Polónyi, in: u. a. Auf den zweiten Blick. Architektur der Nachkriegszeit in Nordrhein-Westfalen, hrsg. von S. Hnilica u. a., Bielefeld 2010, S. 218–225; Schalen und Faltwerke 1967 (Anm. 23), S. 912; Kahle 1990 (Anm. 13), S. 152; Herrmann Rühle, Räumliche Dachtragwerke, Berlin 1969, Bd. 1, S. 217; Wittmann-Englert 2006 (Anm. 12), S. 66–67. 46 Kahle 1990 (Anm. 13), S. 152. 47 Vgl. Edward Norman, The House of God, London 1990, S. 301. 48 Polónyi/Walochnik 2003 (Anm. 16), S. 218; Hnilica 2010 (Anm. 45). 49 Zitiert in Hnilica 2010 (Anm. 45), S. 219. 50 Stefan Polónyi, Flächentragwerke im Kirchenbau, in: Das Münster. Zeitschrift für christliche Kunst 1966, H. 5/6, S. 202–204, hier S. 204. 51 Historisches Archiv des Erzbistums Köln (AEK), Bauakten der Erzdiözese Köln, Brief Stefan Polónyi an Fritz Schaller, 1. Oktober 1969; Brief Fritz Schaller an Erzdiözesanbaumeister Wilhem Schlombs, 10. Oktober 1969. 52 Zur Entwicklung im Schalenbau vgl. Jürgen Joedicke, Schalenbau. Konstruktion und Gestaltung, Stuttgart 1962, S.  10; Rühle 1992 (Anm.  30); zum Kirchenbau vgl. Wittmann-Englert 2006 (Anm. 12), S. 113–117. 53 Ove Arup talks to Peter Rawstone, in: RIBA Journal, 1965, H. 4, S. 178–183, hier S. 180; Arup 1966 (Anm. 1), S. 359. 54 Vgl. Gebauer 2000 (Anm. 10), S. 315. 55 Die Tatsache, dass Polónyi eigene Werkmonografien herausgegeben hat, spricht für sich (u. a. Polónyi/Walochnik 2003 (Anm. 16); Kleefisch-Jobst u. a. 2012 (Anm. 11)). Im Allgemeinen sind Werkmonografien unter Ingenieuren nicht üblich. 56 Frei Otto, Laudatio für Stefan Polónyi. Vortrag anlässlich der Verleihung des Großen DAI-Preises am 22. Mai 1998 in Stuttgart, in: Baukultur 5, 1998, S. 56–58, hier S. 56. 57 Polónyi/Walochnik 2003 (Anm. 16), S. 219. 58 Rice 1994 (Anm. 3), S. 72. 59 Ebd., S. 77. 60 Etwa in: Enrico Santifaller, Zeigen, wie es geht. Der Tragwerksingenieur Stefan Polónyi im M:AI, in: Bauwelt 22, 2012, S. 2. 61 Ulrich Conrads, Denken – Konstruieren – Lehren. Eine Vorbemerkung, in: Polónyi 1987 (Anm. 40), S. 6–8, hier S. 7. 62 Polónyi 1993 (Anm. 41), S. 30; Ders., Trennende Wissenschaft. Architekt und Ingenieur, in: db. Deutsche Bauzeitung 1992, H. 7, S. 62–69.; Ders., Prinzipien zum Tragwerksentwurf, in: Arcus 1986, H. 3, S. 121–126. 63 Hans Straub, Die Geschichte der Bauingenieurkunst. Ein Überblick von der Antike bis in die Neuzeit, Basel 1964, S. 147, 153.

Entwerfen als Ping-Pong-Spiel I 183

64 Vgl. Karl-Eugen Kurrer, Geschichte der Baustatik, Berlin 2002; Walter Kaiser und Wolfgang König (Hg.), Geschichte des Ingenieurs. Ein Beruf in sechs Jahrtausenden, München, Wien 2006. 65 Straub 1964 (Anm. 64), S. 295. 66 Stefan Polónyi, Wissenschaftsverständnis, Tragkonstruktion, Architektur, in, Daidalos 18, 1985, S. 33–45, hier S. 38. 67 Vgl. Katrin Lichtenstein, Modell oder Schule? Das ,Dortmunder Modell Bauwesen‘, in: Architekturschulen. Programm, Pragmatik, Propaganda, hrsg. von K. J. Philipp, Tübingen 2012, S. 219–232; Fakultät Architektur und Bauingenieurwesen der Technischen Universität Dortmund (Hg.), Das Dortmunder Modell Bauwesen. Die gemeinsame Ausbildung von Architekten und Ingenieuren (Festschrift zum 50jährigen Jubiläum), Dortmund 2014. 68 Vgl. etwa Polónyi/Walochnik 2003 (Anm. 16), S. 337–341.

184 I Sonja Hnilica

Kirsten Maar und Fiona McGovern

Gemeinsam zwischen den Künsten Kollaborative Ansätze in Produktion und Präsentation von Musik, Tanz und bildenden Künsten seit den 1960er Jahren

Geteilte Arbeit – geteilte Wissenschaft Die „geteilte Arbeit“, die für diesen Sammelband sowie das vorangegangene Symposium titelgebend war, ist in diesem Beitrag im doppelten Sinne zu verstehen. Sie bildet nicht nur den Gegenstand, sondern auch die methodische Grundlage für die folgende Argumentation. Unsere Überlegungen zu kollaborativen Ansätzen in Produktion und Präsentation von Musik, Tanz und bildenden Künsten seit den 1960er Jahren fußen auf dem Austausch von zwei verschiedenen Wissenschaftsperspektiven – der kunsthistorischen und der tanzwissenschaftlichen. Dieser methodologische Ansatz erscheint uns angemessen nicht nur, weil wir damit einen inzwischen mehrjährigen Austausch, den wir im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ an der Freien Universität Berlin begonnen haben, weiter fortführen können, ­sondern vor allem angesichts der Tatsache, dass der Gegenstand unseres Interesses selbst zwischen den Fachgrenzen angesiedelt ist. So möchten wir im Folgenden einen Blick darauf werfen, warum und unter welchen Bedingungen Künstler*innen, Musiker*innen, Komponist*innen, Tänzer*innen und Choreograph*innen in den 1960er Jahren vermehrt miteinander in Form von Workshops, einzelnen Events oder auch Veranstaltungsreihen in Austausch traten. Dies erfordert eine komparatistische Perspektive, welche die jeweils spezifische Entwicklung der Künste ebenso wie den sich damals verändernden Kunstbegriff von einer allgemein theoretischen Ebene aus in den Blick nimmt. Zudem möchten wir unsere Analysen an die Frage koppeln, inwiefern sich zum einen durch kollektive Arbeitsweisen sowohl die Produktionsprozesse als auch Präsentationsformate geändert und zum anderen wie diese Veränderungen wiederum zu Formen kollaborativer Arbeit geführt haben. Exemplarisch stellen wir hier die Entwicklungen von Fluxus und der Judson Church einander gegenüber, wobei wir sowohl die technologischen Veränderungen, die in jener Zeit eine wichtige Rolle bezüglich der Veränderungen kompositorischer Verfahren spielten, berücksichtigen als auch die Ansätze kollektiver Zusammenarbeit über eben jene Verfahren und Praktiken verorten. Inwiefern setzten die hier skizzierten Ansätze eine spezifische Form von Gemeinschaft voraus?

Gemeinsam zwischen den Künsten I 185

Angesichts der sich seit den frühen 2000er Jahren vollzogenen Verschiebung weg von den einzelnen Disziplinen und ihren herkömmlichen Präsentationskontexten, wie dem Konzertsaal oder dem Bühnenraum, in den Ausstellungsraum möchten wir mit einer kurzen Perspektivierung der gegenwärtigen Lage schließen, die auch eine Reflexion der aktuellen Wissenschaftslandschaft beinhaltet. Doch zunächst ein Blick zurück.

Institutionalisierung und Rekurse: Sattelzeit 1960er Jahre Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann sich ein intensiver Austausch zwischen den verschiedenen Künsten abzuzeichnen, die in den Jahrhunderten zuvor eher in einem Verhältnis des Wettstreits (Paragone) gedacht wurden. In den frühen Avantgardebewegungen wie dem Ballets Russes oder dem Bauhaus wurden entsprechend den Ansätzen der Lebensreformbewegung nicht nur die Entgrenzung der Künste, sondern auch die Entgrenzung von Kunst und Leben emphatisch gefeiert, die in der Umbruchszeit um 1960 in veränderter Form wieder aufgegriffen wurden.1 Einen prägenden Vorläufer für die Entwicklungen der 1960er Jahre bildete das alternative Lehrmodell des Black Mountain College, dem im Jubiläumsjahr 2017 unter anderem die Ausstellung Black Mountain. Ein interdisziplinäres Experiment 1933–57 im Hamburger Bahnhof in Berlin gewidmet war.2 In Nachfolge des Bauhauses und dessen reformpädagogischer Ideen setzte das von 1933 bis 1957 existierende Black Mountain College auf einen interdisziplinären Ansatz, auf das Zusammenleben der Lehrenden und Teilnehmenden sowie eine spezifische Auffassung von ästhetischer Erfahrung im Sinne John Deweys. An diesem Ort führte John Cage, der an der Schule lehrte, 1952 Untitled Event auf, das als erstes Happening in die Geschichte eingehen sollte. Parallele Aktionen von unterschied­ lichen Akteuren wie Merce Cunningham, Charles Olson, Robert Rauschenberg, M.  C. Richards und David Tudor wurden innerhalb einer räumlichen Anordnung ausgeführt, die auch die Rolle des Publikums als lediglich passive Betrachter*innen in Frage stellten. Vom Black Mountain College aus lassen sich vielfältige Entwicklungen der Künste in den 1960ern weiterverfolgen. John Cage, Merce Cunningham und Robert Rauschenberg wirkten in den folgenden Jahren in New York und entfalteten dort nicht nur im Feld ihrer je eigenen Künste einen maßgeblichen Einfluss. Der Umgang mit Scores, offenen Parti­ turen, wie sie Cage und in der Folge auch verschiedene Personen aus dem Fluxusumfeld entwickelten, ermöglichte eine große Variabilität in der Umsetzungsform und erforderte alternative Herangehensweisen – und im Tanz andere Trainingsweisen und Techniken. In La Monte Youngs An Anthology of Chance Operation von 1963 fanden die Scores von Musiker*innen, bildenden Künstler*innen und Tänzer*innen eine erste programmatische Zusammenführung.3 Cages Idee der Unbestimmtheit (indeterminacy) hat wenig mit herkömmlichen Vorstellungen von Improvisation zu tun: Exakte Zeiteinteilungen und detaillierte Anweisungen tragen dazu bei, Unbestimmtheit als Relation zwischen Notation und

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23  Buckminster Fullers Geodäsische Kuppel, beim Austesten der Druck­ spannung mit seinen Studenten, Black Mountain College, Sommer 1949.

ihrer Realisation zu verstehen – und damit als ein operatives Modell, innerhalb dessen es möglich wird, Strukturen spielerisch zu erkunden.4 Aber auch Anweisungen wie La Monte Youngs „Draw a straight line and follow it“ (Composition 1960 #10) zeigen, dass sich ihre Bestimmung erst in der Aktualisierung durch andere erfüllt. Die Interpret*innen führen weniger Anweisungen aus, als dass sie zu Ko-Autor*innen werden, die diese Arbeiten erst komplettieren. Ein Score fordert in seiner Potentialität verschiedene Realisierungen heraus: „[A] score is a realized composition of articulations, that urges for other realizations, interpretations and translations. It is a ‚partition‘ of sensible agencies that communicates and shares modes of perceptibility“5, ähnlich dem, was Jacques Rancière als „partage du sensible“ bezeichnet. Diese Definition betont die Verwandtschaft von Partitur – im Französischen partition – und partage: Aufteilung und Teilhabe.6 Sie betrifft jenen Bereich choreografischen Denkens, der die Bedingungen der Produktion hinterfragt und in dem kommunikative Strategien in der Aushandlung von Produktionsprozessen im Rahmen kollaborativer Projekte im Mittelpunkt stehen. Denn in der Zusammenarbeit verändern sich auch die Bedingungen des choreografischen Entwerfens und damit auch die der Komposition: „A score is not a genre, but a generator of what escapes from it: its realization.“7 Die Partitur ist also auch jenseits ihrer Realisierung durch ihre Potenzialität gekennzeichnet. Sie beschreibt eine An-Ordnung, innerhalb derer sich Bewegung entfalten kann. Im Sinne eines solchen Entwurfsdenkens stellen Kompositionen die Frage nach generativen Verfahren und Operationen und sind somit den Veränderungen von künstlerischen Produktions­ weisen eng verbunden, wie sie insbesondere seit den 1960er Jahren zu verfolgen sind.

Gemeinsam zwischen den Künsten I 187

San Francisco Dancer’s Workshop und die Judson Church Gruppe Bereits seit den 1950er Jahren entwickelten in Marin County bei San Francisco Anna und Lawrence Halprin neue Methoden wie improvisationsbasierte Ansätze, scoring practices sowie den Umgang mit sogenannten task-basierten und objekt-orientierten Verfahren, die für die folgende Generation wegweisend waren.8 Darüber hinaus verbanden Anna und Lawrence Halprin ihre künstlerische Arbeit eng mit gesellschaftspolitischem Engagement: Noch zu Zeiten der strengen rassifizierenden Segregation gründete Anna Halprin den San Francisco Dancer’s Workshop, in dem sie mit Schwarzen und weißen, professionellen und nicht-professionellen Tänzer*innen gemeinsam arbeitete. Auch initiierte sie die City Dances, die sie in politischen Krisenzeiten, z. B. nach dem Attentat auf den homosexuellen Stadtrat Harvey Milk, mit den Bürger*innen der Stadt aufführte.9 Das „Gemeinsame“ weitete sich aus auf langfristige Akte der Partizipation – im gemeinsamen Prozess mit den Bürger*innen der Stadt Inklusion und Toleranz zu üben. Ein ähnlicher Gedanke der Demokratisierung spiegelte sich auch in dem von Halprin favorisierten Format des Workshops wieder, der prinzipiell allen Interessierten offenstand (und daher ein entsprechend breites Publikum anzog) und verschiedene neue (auch ältere) Trainingsweisen für alle zugänglich machte. So fand sich 1960 in einem dieser Workshops eine Gruppe zusammen, zu der u. a. Simone Forti und Robert Morris, Yvonne Rainer, Trisha Brown, Robert Rauschenberg und La Monte Young gehörten, um task-basierte Improvisation und scoring practices zu erproben. Kurze Zeit später sollten einige aus dieser Gruppe im Rahmen des Kollektivs der Judson Church gemeinsam den Tanz revolutionieren und das entwickeln, was später als Post Modern Dance bezeichnet wurde. Sie hinterfragten herkömmliche Vorstellungen von Tanz als Ausdruck eines Inneren und wandten sich gegen Theatralität und Virtuosität. Stattdessen nahmen sie Alltagsbewegungen in den Tanz auf. In ihrem NO-Manifesto von 1965 brachte Yvonne Rainer dies besonders deutlich auf den Punkt, in dem sie sich gegen jedwede Form von Spektakel aussprach: Mit den Sätzen „No to spectacle, no to virtuosity, no to transfomations and make-believe, no to glamour and the transcendence of the star image [...]“10 wandte sie sich vor allem gegen Aufführungsformen des klassischen Balletts und des Modern Dance. So arbeitete Rainer im Rahmen der Judson-Aktivitäten auch mit nicht-professionellen Performer*innen und Tänzer*innen wie zum Beispiel Robert Morris und Robert Rauschenberg, andere, wie Trisha Brown und Lucinda Childs, widmeten sich der Erforschung minimaler oder serieller Strukturen (und das durchaus eigenständig, wenn auch in Auseinandersetzung mit den Entwicklungen der Minimal Art). Entscheidend waren für alle die scoring practices, die sie in Anlehnung an Halprin und Cage nutzten und die zu einer Schwächung des herkömmlichen Autorschaftsparadigmas beitrugen, denn mit den offenen Partituren wurden die jeweiligen Interpret*innen quasi zu KoAutor*innen. Darüber wurden improvisatorische Strukturen zu einem zentralen Motiv, sei

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24  Teilnehmer*innen an Anna Halprins Workshop auf dem Dance Deck in Kentfield, Kalifornien 1960.

es in der Findung von Bewegungsmaterial im Umgang mit den Scores, in der Probenarbeit oder später in der Contact Improvisation auch als Aufführungspraxis. Diese Verfahren trugen dazu bei, das traditionell oft hierarchische Verhältnis von Choreografie als (konzeptuelle) Anordnung und Tanz neu zu befragen; infolgedessen veränderten sich auch die Trainingsmethoden grundlegend. „[When] everything could be a score“, wie es Lawrence Halprin formulierte,11 was bedeutete das dann für den Tanz? „Everything could be a dance“,12 – dies erprobte Simone Forti mit ihren dance instructions und Yvonne Rainer in ihren Stücken – Rennen, Gehen, einen Apfel auf der Bühne Essen oder eine wachsende Zwiebel auf einem Flaschenhals Positionieren, bis das Ensemble das Gleichgewicht verliert, erweiterten den Begriff von Tanz und Choreografie und adressierten doch zugleich auch genuin tanzspezifische Fragen der Dauer und der Schwerkraft. Auch das gewählte Präsentationsformat, die Concerts der Judson Church, war geprägt durch eine offene Struktur, in der alle Beteiligten und befreundeten Künstler*innen Beiträge zeigen konnten. Diese enge und intensive Form der Zusammenarbeit bestand bezeichnenderweise jedoch nur knapp zwei Jahre (1962–1964). Anschließend nutzten die mit der Judson Church assoziierten Tänzer*innen, Musiker*innen, Komponist*innen, Choreograph*innen und Künstler*innen diesen Zusammenschluss zwar weiterhin für organisatorische Zwecke und wirkten auch nach wie vor in den Stücken der anderen mit, gingen aber weitgehend jeweils eigene Wege.13 Ein Paradigma, das sich aus diesen Jahren jedoch entwickelte und bis heute fortwirkt, betrifft die veränderten Rollenbilder im Tanz: von der Hierarchie zwischen Choreograph*in und Tänzer*in hin zu Tänzer*innenChoreograph*innen, die beide Rollen abwechselnd erfüllen. Vielleicht ist die Demokratisierung der Kunst, wie sie die Tanzkritikerin Sally Banes für die Judson Church beschrieben hat,14 dem Tanz als einer Kunstform, die per se relational organisiert ist und eine gemeinschaftliche Zusammenarbeit erfordert, näher als anderen Kunstformen. Bemerkenswert ist

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25  Yvonne Rainer: Parts of Some Sextets, März 1965, von links nach rechts: Robert Morris, Lucinda Childs, Steve Paxton, Yvonne Rainer, Deborah Hay, Tony Holder, Judith Dunn, Robert Rauschenberg, Sally Gross, Joseph Schlichter.

jedoch, wie sich in diesen Jahren jene nicht-hierarchischen Prinzipien und die Verhandlung von Verfahren über die verschiedenen Künste hinweg ausdifferenzierten und ­verbreiteten. Hinzu kam die enge Kooperation mit bildenden Künstler*innen wie etwa Carole Schneemann oder Robert Morris und Robert Rauschenberg, die zum Teil aus den Verkäufen ihrer Werke Veranstaltungen ko-finanzieren konnten.

Loftkonzerte, Events und Festivals Vor allem der Umstand, dass die Mieten in NYC damals vergleichsweise gering waren, ermöglichte es künstlerisch Tätigen, ihre großflächigen Studios oder Lofts als einen Ort der Zusammenkunft zu nutzen und darüber den Austausch mit ihren Zeitgenoss*innen zu befördern. Hierdurch wurde Downtown Manhattan zu einem Ballungszentrum künstle­ rischer Aktivitäten und verwandelte zahlreiche Lofts in produktive Arbeitsstätten und ­informelle Aufführungsorte jenseits der etablierten institutionellen Räume.15

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26  „Concert“ in Yoko Onos Chambers Street Loft, New York City, 1960. Zu sehen sind u. a. Richard Maxfield, Yoko Ono und La Monte Young.

Eine der bekanntesten, kollaborativ und interdisziplinär angelegten Veranstaltungsreihen war die sogenannte Chambers Street Series, die Yoko Ono zusammen mit dem Komponisten La Monte Young von Dezember 1960 bis Juni 1961 in ihrem Loft veranstaltete. In diesem Rahmen präsentierten sie zahlreiche und zum Teil sehr gut besuchte Abende mit Künstler*innen, Musiker*innen, Tänzer*innen und Komponist*innen, deren Arbeiten sich oft zwischen den Medien und Künsten bewegten. Letzteres führte auch zu einer teils betont egalitären Stellung der einzelnen Teilnehmenden. Im Programmzettel zu Simone Fortis Abend Five Dance Constructions & Some Other Things etwa, zu dem La Monte Young die Musik beisteuerte, war etwa von „participants“ und nicht „dancers“ die Rede.16 Sowohl Ono als auch Young waren zumindest zu dieser Zeit auch mit Fluxus assoziiert. Fluxus wies einen engen Musikbezug auf und wendete sich mit seinen Events zugleich gegen das etablierte, bürgerlich konnotierte Format des klassischen Konzerts. Während die Judson Church für ihre Aufführungen den Begriff des „Concerts“ favorisierte, war es im Fluxus-Kontext eher der des „Events“. Letzterer wurde von George Brecht geprägt, der wie etwa auch Dick Higgins oder Alan Kaprow die Kompositions-Klasse von John Cage an der New York School of Social Research besucht hatte. Das von mit Fluxus assoziierten Künstler*innen bevorzugtes Format für die Aufführung der oft ebenfalls Score-basierten Arbeiten bzw. „Events“ war das Festival. Unter der Schirmherrschaft von George Maciunas, dem selbsterklärten Wortführer dieses bald landesübergreifend agierenden Netzwerks von Künstler*innen, fand 1962 eine erste öffentliche Aufführung im Rahmen von FLUXUS: Internationale Festspiele Neuester Musik im Hörsaal des Museum Wiesbaden statt. Es folgten zunächst in diversen europäischen und später auch amerikanischen Städten in variierender Besetzung rasch weitere Aufführungen. Das Format des Festivals ermöglichte Fluxus-Künstler*innen eine überwiegend spontane und offene Organisationsform, in deren Rahmen eine Vielzahl von Personen mit unterschiedlichen professionellen, kulturellen und sozialen Hintergründen ihre Arbeiten präsentieren konnten und die an keinen festen Ort gebunden war. Gerade klassisch ausgebildeten Musiker*innen, wie

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27  Benjamin Patterson, Paper Piece, aufgeführt im Hypokriterion Theater, Amsterdam, 23. Juni 1963.

etwa dem Kontrabassisten Benjamin Patterson, bot dieser Kontext die Möglichkeit, experimentellere Stücke zu entwickeln und eben auch jenseits des Kontextes eines verhältnismäßig konservativen Symphonieorchesters aufzutreten und mit anderen Musiker*innen zu kollaborieren. Aufgrund seines zunehmenden Engagement in der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung und mangelnder Solidarität seiner weißen Kolleg*innen rückte er mit der Zeit allerdings auch innerhalb von Fluxus in eine Außenseiterposition.17 Ungeachtet der zentralen Rolle, die Musik bei Fluxus spielt(e), waren die Festivals an Kunstinstitutionen oder -hochschulen angegliedert, so etwa das FESTUM FLUXORUM. FLUXUS. Musik und Antimusik. Das Instrumentale Theater 1963, das als vierte Station der von Maciunas geplanten internationalen Fluxus-Tournee in der Aula der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf stattfand.18 Dieser Umstand war überwiegend persönlichen Kontakten der Fluxus-Künstler*innen geschuldet, so dass die Festivals meist zudem einem eher kleinen Publikum vorbehalten blieben und nur von wenigen Gleichgesinnten Zuspruch fanden. Zugleich ist hierin eine der zentralen Ursachen dafür zu vermuten, dass die Rezeption von Fluxus  – obwohl mit klar musikalischem Schwerpunkt  – vor allem in der Kunstgeschichte angesiedelt ist.

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28  Plakat der Fluxus Internationale Festspiele Neuester Musik, Wiesbaden, 1963. 29  Poster des zweiten New Yorker Festival of the Avant Garde, organisiert von Charlotte Moorman, 1964.

Parallel zu den skizzierten Entwicklungen im europäischen Raum begann die ebenfalls klassisch ausgebildete Cellistin Charlotte Moorman 1963 in New York ihre AvantgardeFestivals zu organisieren. Was als einfaches Konzertprogramm anfing, umfasste mit den Jahren bis zu zwanzig unterschiedliche und in diesem Rahmen absolut gleichberechtigt präsentierte Kunstformen von Jazz über Poesie und Tanz zu kinetischer Lichtkunst, Computerkunst und Film. Das Festival erwies sich auch hier augenscheinlich als das Format, das genug Spielraum bot, neue Entwicklungen und experimentelle Ansätze innerhalb der Künste auf möglichst umfassende Weise zu zusammenzubringen. In unermüdlicher und oft durchaus chaotischer Weise organisierte Moorman bis 1980, als ihre Krebserkrankung sie zum Rückzug zwang, insgesamt fünfzehn Festivals an unterschiedlichen Orten der Stadt, darunter auch im Central Park oder auf der Staten-Island-Fähre19 – ein Umstand, der ihr die Ungunst Maciunas einbrachte, da dieser hierin Konkurrenz witterte.20 So war es auch Moorman, die 1964 durch die Vermittlung von Nam June Paik Karlheinz Stockhausens gemeinsam mit der Künstlerin Mary Bauermeister geschriebene Originale im Rahmen ihres zweiten New York Festival of the Avant-Garde in der Judson Hall zur

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Aufführung brachte. Das Stück, das drei Jahre zuvor in anderer Besetzung in Köln uraufgeführt worden war, verdeutlicht die Ambivalenz, die sich zu dieser Zeit hinsichtlich der Autorschaft abzeichnet: Das Gros der Performer*innen war innerhalb der Kölner bzw. New Yorker Avantgarde einschlägig bekannt, wobei Paik als das verbindende Glied beider Performances fungierte. Zu der New Yorker Aufführung zählte neben ihm u. a. Allan Kaprow als „stage director“, Billy Klüver als „light director“, Allan Ginsberg als „poet“, Dick Higgins als „actor“ und Charlotte Moorman als „string player/street singer“ .21 Insofern stehen all diese Figuren hier einerseits in der Tat für „Originale“, d. h. in irgendeiner Weise herausragende Künstler*innenpersönlichkeiten, die somit durchaus noch dem Geniegedanken verhaftet sind, aber zugleich miteinander kooperierten und erst darüber das „Werk“ konstituierten. Dessen ungeachtet fand Mary Bauermeisters Anteil an der Autorschaft der Originale jedoch kaum Beachtung.22 Deutlich wird sowohl an den Bestrebungen Maciunas’ als auch Moormans, dass es trotz zum Teil großer persönlicher Differenzen ein Bedürfnis gab, über die Ländergrenzen miteinander zu kooperieren. So betonen etwa die mit Fluxus assoziierten Künstler*innen immer wieder, dass sie keine geschlossene Gruppe gewesen seien, sondern vielmehr ein loses Netzwerk von künstlerisch aktiven Personen, die eine ähnliche Haltung teilten. Dabei waren sie international so gut vernetzt wie keine künstlerische Bewegung zuvor. Dies lag zum Teil auch an der damals sich verbreitenden Mail Art, einer neuen Kommunikationsform, deren Einsatz durch die Tätigkeiten Maciunas’ und seiner Künstlerkollegen bei der US-Army und deren administrativer Infrastruktur maßgeblich begünstig wurde. Dass etablierte Kunstinstitutionen gezielt Musik mit in ihr Programm aufnahmen, begann hierzulande dagegen erst Mitte der 1970er Jahre. Begleitend zu der Ausstellung Hören, um zu sehen in der Düsseldorfer Kunsthalle 1975 etwa gab es eine Konzertreihe mit u. a. Auftritten von Charlotte Moorman und Nam June Paik, die jedoch nicht in der Ausstellung, sondern parallel dazu stattfanden. Während die Kunsthalle also noch eine verhältnismäßig klassische Aufteilung auch jenseits des Konzertsaals beibehielt, setzte Paik hingegen sich schon Anfang der 1960er mit dem Ausstellungsformat als Präsentationskontext für Sound auseinander. Er reagierte 1963 auf die von der Galerie Parnass in Wuppertal ausgesprochenen Einladung zu einer Solopräsentation mit seiner Exhibition of Music. Electronic Television (Farbabbildung 13). Diese erste Ausstellung von Paik markierte seinen Übergang von der klassischen Komposition zu Aktionen und Videoexperimenten. Schon der Titel war damals etwas Neues.23 Auf drei Stockwerken – vom Keller bis zum Wohnzimmer – präsentierte er u. a. präparierte Klaviere, seine ersten manipulierten Fernseher sowie zum Teil interaktive Schallplatten- und Soundinstallationen. Hinter dem zunächst widersprüchlich wirkenden Titel, der die heute mehr denn je aktuelle Frage nach der Ausstellbarkeit von Musik evoziert, verbirgt sich somit eine Übertragung des von Karlheinz Stockhausen stammenden Konzepts der Raummusik, die eine neue Wahrnehmung von Klang in Raum und Zeit ermöglichen sollte.24

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30  Karlheinz Stockhausen, Originale, 2nd Annual New York Avant Garde Festival, Judson Hall, New York, 1964.

31  Besucher an Nam June Paiks SchallplattenSchaschlik, Galerie Parnass, Wuppertal, 1963.

Neue Medien, Verfahren und Arbeitsmodelle Die Entgrenzung zwischen den Künsten und neuen Technologien, die nun nach dem Zweiten Weltkrieg erneut und in veränderter Form das Alltagsleben durchdrangen,25 spiegelte sich nicht nur im von Dick Higgins geprägten Begriff „intermedia“26, sondern führte auch zu experimentellen Formaten, wie Experiments in Art and Technology (E.A.T.).27 Wie der Titel bereits andeutet, ging es hier vor allem um das Experiment, weniger um ein perfektes Ergebnis. Im Rahmen des Projekts 9 evenings, initiert von Robert Rauschenberg und Billy Klüver von den Bell-Laboratories, das neben dem Pepsi-Cola-Pavillion auf der Weltausstellung 1970 in Osaka als eines der bekanntesten Projekte von E. A. T. gelten kann, arbeiteten jeweils Künstler*in und Ingenieure mit zusätzlich beteiligten Wissenschaftler*innen zusammen. John Cage, David Tudor, Yvonne Rainer, Lucinda Childs, Alex Hay, Steve Paxton, Robert Whitman und Öyvind Fahlström entwickelten gemeinsam mit den Ingenieuren Arbeiten, die insbesondere auf dem Einsatz technischer Neuerungen beruhten. Rückkopplungseffekte, der Doppler-Sonar-Effekt, der Bewegung in Sound übertrug, die Nutzung von Überwachungskameras und einer Infrarotkamera, die Bewegung in der absoluten Dunkelheit aufnahm – diese Techniken, die nun künstlerisch eingesetzt wurden,

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erweiterten das Spektrum der scoring practices. Generell lassen sich die beschriebenen Arbeiten als Kollaborationen mit offenem Ausgang beschreiben, die auch Misserfolge mit in Kauf nahmen. In der Tat waren sie keinesfalls von Anfang an erfolgreich. Zumeist wurden sie innerhalb der jeweiligen Künstler*innen-Communities aufgeführt. Die Kollaborationen von E. A. T. lassen jedoch noch eine andere Perspektive aufscheinen: die Durchdringung von unterschiedlichen Arbeitsmodellen, von künstlerischer und nicht-künstlerischer Arbeit, die sich in den 1960er Jahren neben dieser technisch-kompositorischen Dimension auch auf die Fragen nach Arbeitszeit und parallel zu gesellschaftlich-ökonomischen Entwicklungen vom Fordismus zum Postfordismus ausweitete. Jene „Arbeitsmodelle“ veränderten sich in den 1960er Jahren durch verschiedene Umstände, innerkünstlerischer und gesellschaftlicher Art. Das Interesse am Prozess, das anstelle eines Werks und der Orientierung auf ein abgeschlossenes Objekt zeitbasierte, offene Arbeitsweisen beförderte, ging einher mit der Ablehnung eines tradierten Autorschaftsbegriffs und des einzelnen Künstlergenies28 (obwohl die Kollaborationen in vielen Fällen auch nur neue Formen der Hierarchisierung hervorbrachten, wie am Beispiel der Originale deutlich wird). Diese waren verknüpft mit der Infragestellung von tradi­ tionellen Techniken, Verfahren, Herangehensweisen und Virtuosität; an deren Stelle bil­ deten sich alternative Formen von Kunstfertigkeit heraus.29 Jenseits der Hervorbringung eines Werks wurde damit auf Verfahren der Reproduktion und Reproduzierbarkeit in den Künsten rekurriert, wie sie beispielsweise die Vertreter*innen der Minimal Art einsetzten. Die Auflösung jener Medienspezifik, wie sie noch Clement Greenberg geprägt und ­Michael Fried verteidigt hatte,30 und die Herausbildung neuer Genres wie der Installation, des Environments, des Happenings, der Performance sowie ortsspezifischer Arbeiten forderten die jeweiligen künstlerischen Fertigkeiten ebenso heraus wie die aufkommende Conceptual Art. Mit Lucy Lippards und John Chandlers These von der „Dematerialization of the Art Object“31 im Rahmen der Entwicklung der Conceptual Art, welche den gedanklichen Prozess in der geistigen Konzeptionierung des Kunstwerks betonte und die Arbeit des Künstlers bzw. der Künstlerin vom Studio zur „study“ verlagerte, wurden die handwerkliche, technische Fähigkeiten, wenn auch nicht obsolet, so doch zweitrangig. Der Kunsthistoriker John Roberts hat in diesem Zusammenhang von einem „de- und reskilling“ in der Kunst nach dem Ready-made gesprochen.32 Mit der Infragestellung vorherrschender Konventionen und ihrer Institutionen gewannen konzeptuelle Fähigkeiten wie Selbstpräsentation und -organisation sowie kommunikative Fähigkeiten mehr und mehr an Bedeutung. Der Begriff der „immaterial labor“33, der in diesem Zusammenhang durchaus in Nähe zu „dematerialization“ zu denken ist, beschreibt eine Verschiebung des Tätigkeitbereichs hin zur Konzeptualisierung, Kontextualisierung und (Selbst-)Präsentation als konzep­ tuellen Tätigkeiten, die in Parallelität zur Arbeitswelt auch das Kunstfeld veränderten. Sie bringt andere Formen von Virtuosität hervor, die jenseits des technischen vor allem auf dem kommunikativen Öffentlichkeitscharakter der Aufführung oder Ausstellung beru-

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hen. So werden also andere Modelle von Autorschaft wichtig, die Kreativität vorwiegend kommunikativ und konzeptuell verorten und die gesamte Persönlichkeit des Künstlers/der Künstlerin einfordern, Arbeitszeit und Freizeit ineinander verschwimmen lassen. Diese Entwicklungen nehmen in den 1960ern ihren Anfang und lassen sich bis in die neo-liberalen Gesellschaften von heute nachverfolgen. Dass jedoch die Kommerzialisierung und Kommodifizierung nicht nur der statischen Kunstobjekte, sondern auch der „immateriellen“, prozessorientierten Arbeiten inzwischen längst institutionalisiert ist, wird spätestens deutlich, seitdem diese vermehrt im Ausstellungskontext präsentiert werden. Gesteigert wurde diese Tendenz durch das Aufkommen des „Kuratorischen“ seit den ausgehenden 1960er Jahren (allen voran ist hier die neue Figur des freien Kurators zu ­erwähnen, wie er von Harald Szeemann als einem der ersten verkörpert wurde). Von diesen Verschiebungen ausgehend lässt sich konstatieren, dass kuratorische Tätigkeiten, wie die oben genannten konzeptuellen oder immateriellen Tätigkeiten, zunehmend das Feld der künstlerischen Arbeit bestimmt haben. Damit verändert sich auch die Frage nach der Kolla­boration bzw. nach geteilter Arbeit – als Art und Weise der Arbeitsteilung stellt sich Kollaboration mehr und mehr als Zwang zum Networking dar.

Dispositive Mit dem sogenannten „curatorial turn“ stellt sich die Frage, warum das von Rosalind Krauss so bezeichnete „Late Capitalist Museum“ (1990)34 zu dem Ort geworden ist, der die Künste heute weitaus effektiver zu vereinen scheint, als es beispielsweise das Theater mit seiner Idee des Gesamtkunstwerks, wie sie um die Jahrhundertwende euphorisch propagiert wurde, heute noch vermag. Wenn Krauss 1991 den Wandel vom diachronen, auf historische Wissensvermittlung angelegten Museum hin zum synchronen, auf Erlebnisse und Erfahrungsräume zielenden Museum beschreibt und dessen Ursprünge im Minimalismus situiert, so formuliert sie damit auch eine Kritik an der Ästhetisierung der Lebenswelten, innerhalb derer insbesondere die Begriffe des Ereignisses, der ästhetischen Erfahrung und der immersiven Affizierung zunehmend eine Rolle spielen. Jenseits bürgerlicher Wissensakkumulation wird das Museum mehr und mehr zu einem Ort, der immersive Erfahrungsräume anbietet und die Besucher involviert. Partizipative Tendenzen sind damit eng verbunden. „Der Museumsbesucher als Erfahrungsgestalter“35 ist nicht als Einzelner adressiert, sondern als Gestalter eines Dialogs zwischen verschiedenen Akteur*innen und Aktanten. Die kollaborative Praxis im Produktionsprozess spiegelt sich auf der Ebene der Rezeption. Krauss trifft mit ihrer Beschreibung bereits einige Jahre zuvor einen Punkt, der auch die zunehmende Tendenz reflektiert, die sogenannten Live-Arts, die aufgrund ihrer Flüchtigkeit jahrelang ein Schattendasein fristeten, „auszustellen“. Begriffe wie „Ereignis“, „Erfahrung“, „Präsenz“ und „Authentizität“ speisen dabei vor allem die ökonomischen Überlegungen um Besucherauslastungen. Ob allerdings den „Live-Arts“ – jenseits

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der Kommodifizierung eines auf dem Markt zirkulierenden Kunst-Objekts – ein vermeintlich utopisches Potential eignet, das den flüchtigen Kunstformen und noch mehr den körperbasierten Künsten spezifisch wäre, ist durchaus zu hinterfragen – zumal auch diese längst in den Markt von Festival, Retrospektiven und anderen Formaten eingespeist sind bzw. neue hervorbringen, wie etwa die Einbindung von diskursiven Formaten, wie Lecture Performances oder Artistic Research, in Ausstellungsformate. So hat in den letzten Jahren in den Museen die Präsentation von Tanz, Performance und Musik einen immer größeren Stellenwert eingenommen. Diese Entwicklung bringt durchaus ihre Problematiken mit sich. Für Tänzer*innen gibt es im Museum meist keine adäquaten Bedingungen – von fehlenden Proberäumen, Duschen und Umkleidemöglichkeiten bis hin zu den Präsentationsbedingungen selbst sind sie angesichts der vielen zu füllenden Stunden oft geringfügiger bezahlt als in der ohnehin prekären „freien Szene“. Auch die Präsentation von Sound im Museum ist trotz zunehmender Popularität nach wie vor ein vieldiskutiertes Problem, gerade weil hier ein akustisches Zeitmedium räumlich erfahrbar gemacht werden soll.36 Wenn sich in den 1960er Jahren innovative Formate wie Workshops, interdisziplinäre Concerts, Aktionen und Happenings oder ortsspezifische Arbeiten im Rahmen der Gegenkultur gerade jenseits etablierter Strukturen entwickelten, so werden diese heute eingebunden in eine alternative Wissenskultur.37 Daraus ergeben sich auch die bereits erwähnten Formatverschiebungen, die angesichts der Herausbildung neuer Genres sowohl auf der Ebene der Produktion als auch der Rezeption das Bedürfnis nach anderen Formen des Lernens, des Probens, der Vermittlung in Workshops oder Festivals artikulieren.

Kanonisierung und Institutionalisierung Eng verknüpft ist diese Entwicklung mit Prozessen der Kanonisierung, an der die Museen im Wesentlichen beteiligt sind. E. A. T. wurde vor Kurzem in Salzburg eine erste, umfassende Ausstellung gewidmet, ebenso Carole Schneemann oder Charlotte Moorman. Moormann wird erst seit jüngster Zeit losgelöst von Nam June Paik, mit dem sie über lange Zeit gemeinsam arbeitete, in den Fokus der Forschung gerückt und – vergleichbar mit Simone Forti, die lange im Schatten ihrer Ehemänner Robert Morris und Robert Whitman stand – durch Publikationen und Ausstellungen als Künstlerin gewürdigt. Auch Originale wurde 2014 in der New Yorker Performance Institution The Kitchen in neuer Besetzung wiederaufgeführt. Im mumok in Wien wurde bereits 2009 Paiks Exposition of Music in Teilen wieder und neu kontextualisiert gezeigt, was zugleich eine stärkere Aufmerksamkeit gegenüber Sound in den bildenden Künsten markierte. Bemerkenswert ist, dass sich der größere Teil dieser performativen Ausstellungen bzw. Aufführungen vor allem im Rahmen von Retrospektiven und Reenactments präsentiert. An diesen Rückgriffen lassen sich verschiedene Aspekte verdeutlichen: Es wäre zu fragen, aus welchen Gründen diese

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Künstler*innen lange in Vergessenheit geraten waren und was genau sich im Bedürfnis nach diesen Rückblenden in Bezug auf die heutige Zeit ausdrückt, welche Verschiebungen hierin deutlich und welche Perspektiven rückblickend auf die damaligen Positionen und Ansätze entwickelt werden. Dazu, dies zu analysieren, zu kategorisieren und zu kanonisieren, haben sowohl die Kritiker*innen als auch die Schreibenden verschiedener Kunstfelder und ihrer jeweiligen Wissenschaftsdisziplinen beigetragen. Rosalind Krauss und andere haben oft lediglich eine bestimmte – durch die kunsthistorische Perspektive geprägte – Sichtweise der Judson Church formuliert, die vornehmlich auf einzelne, kunsthistorische Aspekte der Rezeption fokussierte, was in den nachfolgenden Jahre und teilweise bis heute zur Fokussierung auf eher konzeptuelle Künstler*innen wie Yvonne Rainer beitrug, wohingegen andere Künstler*innen wie Simone Forti, die weniger konzeptuell, sondern eher im Feld der Bewegungsrecherche forschten, im Schatten verblieben.38 Aber auch im Feld des zeitgenössischen Tanzes haben sich zahlreiche Choreo­ graph*innen (Quatuor Albrecht Knust, Xavier Le Roy, Andrea Bozic, Mette Ingvartsen u. v. m.) im Zuge des bereits erwähnten Interesses für die Tanzgeschichte in Reenactments oder Re-Konstruktionen insbesondere auf Yvonne Rainer bezogen. Die Gründe hierfür liegen zum einen in der medialen Vermittlung von Trio A als einzigem Video aus den ­frühen Judson-Jahren sowie im Bekanntheitsgrad, den Rainer durch ihren Wechsel zum Film in den frühen 1970ern erlangte. Darüber hinaus liegt das auch in ihrer kontinuier­ lichen Schreibpraxis begründet, die den Bezug zur Minimal und zur aufkommenden ­Conceptual Art reflektierte und damit eine leichtere Möglichkeit der Zuordnung garantierte. Bestimmte choreografische Verfahren, wie die in den 1960er Jahren entwickelten Scoring-Praktiken, stehen in jener Tradition, die Kunsthistoriker*innen wie Benjamin Buchloh39 oder Liz Kotz als grundlegend für die Entwicklung der Conceptual Art beschrieben haben und so zur Kanon-Bildung beigetragen haben. Dass gerade das minimalistische und konzeptuelle Erbe dieser Zeit als Bezugspunkt gilt, liegt sicher nicht allein an der problematischen Quellenlage bzw. der teils mangelnden medientechnischen Überlieferung. Der Tanzwissenschaftler und Kunsthistoriker Ramsay Burt hat in seiner Monografie zum Judson-Church-Theater darauf hingewiesen, dass gerade jene Arbeiten, die eher rational und männlich konnotierte Ansätze favorisierten (schließlich waren die damals bekannten Künstler*innen der Zeit vorwiegend (weiße) Männer: Robert Morris, Donald Judd, Dan Flavin, Carl André, Sol LeWitt, Joseph Kosuth u. v. m.) gegenüber jenen Ansätzen, die als camp, als gay oder queer galten, nicht nur in den Kritiken, sondern insbesondere in der kunsthistorischen Rezeption und Historiografie bevorzugt, und andere Ansätze, wie sie bei David Herko, David Gordon o. a. zu finden waren, lange als Nebenstränge abgetan wurden.40 Doch mit dieser Form der Kanonisierung und Institutionalisierung stellt sich abschließend die eingangs erwähnte Frage des wissenschaftlichen Schreibens: Wer schreibt über Musik und Tanz im Ausstellungskontext? Zumeist werden die Katalogartikel in diesen

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­Fällen im Wesentlichen von Kunsthistoriker*innen verfasst, eine Politik, die wiederum die Frage der Wissenschaftsdisziplinen und ihrer Hoheiten betrifft. Als Tendenz der letzten Jahre kann sicherlich konstatiert werden, dass zunehmend Kunsthistoriker*innen sich eben diesem Feld  – der Performance, dem Tanz, der Musik und ähnlichen ephemeren Künsten – widmen41 und damit allein aufgrund der tradierten und höheren Sichtbarkeit ihres Wissenschaftsfelds auch ganz anders wahrgenommen werden. Dies bedeutet jedoch auch, dass Deutungen entsprechend bestimmter fachspezifischer Methodologien und vorgegebener Genealogien vorgenommen werden. Damit einher geht eine vorbestimmte Perspektive, die andere je kunstspezifische Aspekte vernachlässigt. So fehlt z. B. eine für die Betrachtung von Tanz angemessene bewegungsanalytische Kompetenz. Ohne diese werden z. B. technische Aspekte ausgeblendet und die Künstler*innen oftmals wieder in einen bereits vorhandenen Kanon einspeist. Ähnliches lässt sich für die Musik feststellen: Während Kunsthistoriker*innen häufig eine musikwissenschaftliche Expertise fehlt, gibt es umgekehrt nur verhältnismäßig wenige Musikwissenschaftler*innen, die sich mit Phänomen wie Fluxus auseinandersetzen oder Musik und Sound im Ausstellungs- bzw. Kunstkontext verhandeln.42 Erst über das relativ neue Phänomen der „Sound Art“ sowie damit zusammenhängende Präsentationsformen und Studiengänge scheint dies möglich und wissenschaftlich legitimiert.43 Dabei lässt die Wiedergabe von Musik und Sound im Ausstellungskontext qualitativ häufig zu wünschen übrig. Historische Unkenntnis etwa über die kritische Auseinandersetzung mit den Aufführungsbedingungen von Komponist*innen und Musiker*innen führt zu tendenziell oberflächlichen Schlussfolgerungen. So mögen zwar einzelne Forschungsprojekte den interdisziplinären Ansatz hochhalten, jedoch werden die einzelnen Disziplinen letztlich doch – nicht zuletzt durch die fachspezifischen Förderstrukturen und Auswahlkriterien – häufig wieder auf ihre traditionelle Herkunft reduziert, welche weder den künstlerischen Arbeiten gerecht werden kann noch dazu beiträgt, jene erforderliche Reflexion der komparatistischen Übertragungen von methodischen Ansätzen zu vertiefen.

Anmerkungen 1

Wir übernehmen den von Reinhart Koselleck geprägten Begriff „Sattelzeit“ im Anschluss an den Kunsthistoriker Stefan Germer, um die 1960er Jahre als Umbruch der Kunstgeschichte zwischen Moderne und Nachmoderne zu beschreiben. Auf dem XXV. Kunsthistorikertag in Jena 1999 etwa war eine von Julia Bernard geleitetet Sektion „Sattelzeit 60er Jahre“ betitelt, deren Konzeption auf die Anregungen des ein Jahr zuvor verstorbenen Germer zurückging. Vgl. Gregor Stemmrich, Ästhetisch vereinbarte Räume und ihre Überschreitung, in: Sowohl als auch dazwischen. Erfahrungsräume der Kunst, hrsg. von J. Schlaff und B. Wihstutz, Paderborn 2015 S.115–130, hier S. 129, FN. 11.

2

Die Ausstellung fand vom 05.06.–27.09.2015 statt und wurde begleitet durch zwei von der Freien Universität Berlin und dem Hamburger Bahnhof konzipierte Symposien und ein von Arnold Dreyblatt initiiertes Projekt, innerhalb dessen Studierende verschiedener Kunsthochschulen mit dem

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Archiv des BMC im Rahmen eines Artistic-research-Projekts arbeiten und diese Ansätze in der Ausstellung selbst präsentieren konnten.   3 La Monte Young: An Anthology of Chance Operations by George Brecht, hrsg. von La Monte Young und J. Mac Low. Layout von G. Maciunas, New York 1963. Vgl. zum Umgang mit Scores v. a. Liz Kotz, Post-Cagean Aesthetics and the Event Score, in: John Cage, october files #12, hrsg. von J: Robinson, Cambridge, Mass. 2011, S. 101–140. orig. dies: Kap 2. Aus Words to be looked at Language in 1960s Art, Cambridge, Mass. 2007.   4 Liz Kotz, Words to be looked at. Language in 1960s Art, Cambridge, Mass. 2007, S. 62.   5 Petra Sabisch, A little inventory of scores, in: Maska. Performing Arts Journal, Issue: Open Work, hrsg. von B. Cvejic, Vol. XX, Autumn-Winter 2005, S. 30–35, hier: S. 31.  6 Ebd., S. 31.  7 Ebd.   8 Task-basierte Verfahren beruhen auf bestimmten Aufgabenstellungen, die als Regel in choreografische Verfahren implementiert werden und die in vielen Fällen Objekte miteinbeziehen, an die jene Aufgaben geknüpft sind. Vgl. auch Abb 5: In Yvonne Rainers Parts of Some Sextets wurden zum Beispiel Matratzen über die Bühne getragen, um den Charakter von Alltagsbewegungen zu erzielen, die in der Erfüllung einer Aufgabe bestanden und deswegen frei von Virtuosität ausgeführt wurden.   9 Inwiefern die Entwicklungen hin zu kollektiven, interdisziplinären Kunstformen auch durch aktivistische Aktionen seit den 1970ern mit geprägt wurden, wäre eine Frage, die in einem eigenen Beitrag zu klären wäre. 10 Yvonne Rainer, Some retrospective notes on a dance for 10 people and 12 mattresses called Parts of Some Sextets, performed at the Wadsworth Atheneum, Hartford, Connecticut, and Judson Memorial Church, New York, in March, 1965 (zuerst publiziert in: Tulane Drama Review 10.2, 1965), wiederabgedruckt in: Yvonne Rainer, Work 1961–73, hrsg. von K. König, New York, 1974, S. 45–51, No-Manifesto auf S. 51. 11 Lawrence Halprin: The RSVP Cycles. Creative Processes in the Human Environment, New York: Georges Braziller Inc., 1970. 12 Simone Forti, Handbook in Motion. An account of an ongoing personal discourse and its manifestations in dance, hrsg. von K. König, Halifax/New York 1974,. 13 Jedoch kamen viele von ihnen 1970–1976 wieder zusammen in der Improvisationsgruppe der Grand Union, die aus Yvonne Rainers Arbeit an CPAD Continuous Project Altered Daily hervorging; siehe dazu: Margaret Hupp Ramsay, The Grand Union (1970–76). An Improvisational Performance Group, New York, 1986. 14 Sally Banes, Democracy’s Body, Judson Church Dance Theatre 1962–62, Durham 1993. 15 Später wurden diese zum Teil selbst institutionalisiert, wie beispielsweise im Fall des Lofts der Videokunst-Pioniere Steina und Woody Vasulka, in dem sich heute The Kitchen befindet, eine der zentralen Institutionen in New York, die primär den performativen Künsten gewidmet ist. Im Loft des Komponisten und Musikers Phil Niblock hingegen finden nach wie vor regelmäßig Konzertabende statt. 16 Julia Robinson, Prime Media, in: ± 1961. Founding the Expanded Arts, Ausst.-Kat. (Madrid, Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofìa 2013), S. 15–41, hier S. 29. 17 Vgl. Dieter Daniels und Benjamin Patterson: „I’m glad you asked me this question“, in: Benjamin Patterson. Born in the State of FLUX/us, Ausst.-Kat. (Houston, Contemporary Arts Museum, 2010/2011), hrsg. von V. Cassel Oliver, Houston 2012, S. 108–116 sowie George E. Lewis: In Search of Benjamin Patterson. An Improvised Journey, in ebd., S. 118–129. 18 Eine umfassende Aufarbeitung der Fluxus-Festivals bot die Wanderausstellung „The Lunatics Are On the Loose“. European Fluxus Festivals 1962–1977, zuerst gezeigt in der Berliner Akademie der

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Künste 2012, sowie die in diesem Zusammenhang erschienene, gleichnamige Publikation (Down with Art!: Potsdam 2012). 19 Vgl. hierzu A Feast of Astonishment. Charlotte Moorman and the Avant-Garde 1960s–1980s, Ausst.-Kat. (Evaston, Mary and Leigh Block Museum of Art, 2016 u.a.), hrsg. von L. Graziose Corrin und C. Granof, Evanston/Ill. 2016. 20 Vgl. u. a. Thomas Kellein, Der Traum von Fluxus. George Maciunas. Eine Künstlerbiografie, Köln 2007, S. 88. 21 Aus dem Programmzettel des Abends, wiederabgedruckt in: Mark Bloch, On Originale, in: Robert Delford Brown. Meat, Maps and Militant Metaphysics, hrsg. von M. Bloch, Wilmington/NC 2008. 22 Vgl. auch Mary Bauermeisters Äußerungen hierzu in ihrer Biografie Ich hänge im Triolengitter. Mein Leben mit Karlheinz Stockhausen, München 2013, S. 73 („Das Stück war eine Synthese aus Stockhauses streng durchstrukturierter Kompostionsmethode und allem, was in meinem Atelier stattgefunden hatte an Spontanem, Anarchischem, spielerisch Experimentellem, auf jeden Fall Unvorhersehbarem.“) und S.  91 („Bei Originalen 1961 hatte ich zwar mitkonzipiert, aber das wurde in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Ich war nur eines der achtzehn Originale, Stockhausen der Komponist, es galt als sein Stück.“) 23 Manfred Leve, in: Leve sieht Paik. Manfred Leves Fotografien von Nam June Paiks Ausstellung „Exposition of Music – Electronic Television“, Wuppertal 1963, Nürnberg 2005, S. 10. 24 Vgl. z. B. Karlheinz Stockhausen: „Musik im Raum“, in: Ders.: Aufsätze 1952–1962 zur Theorie des Komponierens, Köln 1963, S. 152–175. 25 Das überaus spannende Verhältnis von kybernetischen und systemtheoretischen Ansätzen dieser Zeit und dem Aufkommen der Scoring-Praktiken wäre ein weiteres, aber diesen Beitrag überschreitendes Feld. 26 Dick Higgins, Intermedia [1965] – with an Appendix by Hannah Higgins, in: Leonardo 34, 2001, S. 49–54. 27 Siehe dazu den Ausstellungskatalog: E. A. T. Experients in Art & Technology, Ausst.-Kat. (Salzburg, Museum der Moderne, 2015), hrsg. von S. Breitwieser, Salzburg 2015. 28 Zu beachten ist in diesem Kontext, dass die in diesem Zusammenhang immer wieder angeführten Aufsätze von Roland Barthes zum Tod des Autors und Michel Foucaults Was ist ein Autor? erst 1966 erschienen. 29 Siehe dazu z. B. Yvonne Rainer, Work 1962–74, hrsg. von K. König, Halifax 1974. 30 Vgl. Clement Greenberg, Modernist Painting (1960), in: ders. The Collected Essays and Criticism, Bd. 4, Chicago 1993, S. 85–93, Michael Fried, Art and Objecthood (1967), in: Minimal Art. A Critical Anthology, hrsg. von G. Battcock, Berkeley 1995, S. 116–147. 31 Lucy Lippard und John Chandler, The Dematerialization of the Art-Object, in: Conceptual Art. A Critical Anthology, hrsg. von Alexander Alberro und Blake Stimson, Cambridge, Mass. 1999, S. 46–50. 32 John Roberts, The Intangibilities of Form. Skill and de-skilling in Art after the Readymade, ­London 2009. 33 Siehe dazu z.B: Maurizio Lazzarato: Immaterial Labor (1998), http://www.generation-online.org/c/ fcimmateriallabour3.htm [zuletzt aufgerufen 02. Januar 2017]. 34 Rosalind Krauss, The Cultural Logic of the Late Capitalist Museum, in: October 54, 1990, S. 3–17. 35 Sandra Umathum, Der Museumsbesucher als Erfahrunsggestalter, in: Kunsthandeln, hrsg. von K. Gludovatz u. a., Berlin/Zürich 2010, S. 59–72. 36 Vgl. hierzu etwa: Helmut Draxler, How Can We Perceive Sound as Art?, in: See This Sound. Versprechungen von Bild und Ton, hrsg. von C. Rainer u. a., Köln 2009, S. 26–31. 37 Tom Holert, Art in the Knowledge-based Polis, unter http://www.e-flux.com/journal/03/68537/artin-the-knowledge-based-polis/ [zuletzt aufgerufen 02.  Januar 2017]; ders., Künstlerische For-

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schung. Anatomie einer Konjunktur“, in Texte zur Kunst, Heft 82, Juni 2011, Artistic Research, S. 38–63. 38 So z. B. im Kapitel 6 „Mechanical Ballet“ ihres Bands Passages in Modern Sculpture, Cambridge, Mass./London 1981, S. 201–242. 39 Benjamin Buchloh, Conceptual Art 1962–1969. From the Aesthetics of Administration to the Critique of Institutions, in October. 55, 1990, S. 105–143; Kotz 2007 (Anm. 4). 40 Ramsay Burt, Judson Dance Theatre. Performative Traces, London/New York 2006, darin: Kap. 4: „Allegories of the Ordinary and the Particular“, S. 88–115. 41 So z. B. Julia Bryan-Wilson, Brandon Joseph, Liz Kotz, Carrie Lambert-Beatty und Sabeth Buchmann, um nur wenige zu nennen. 42 Der Musiker, Komponist und Musikwissenschaftler George Lewis bildet hier eine entscheidende Ausnahme. 43 Vgl. hierzu etwa Alan Licht, Sound Art. Beyond Music, Between Categories, New York 2007; sowie Jonathan Sterne (Hg.), The Sound Studies Reader, London 2012.

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„Hallo? ... Hallo! ...“ oder wie man durch den Eisernen Vorhang hindurch musiziert Kooperative Praktiken in Telefonmusik: Wien–Berlin–Budapest  (1983)

Am 15. April 1983 initiierte die Gruppe BLIX (1983–1986) das künstlerische Telekommunikationsprojekt Telefonmusik. Wien–Berlin–Budapest, für das eine akustische Verbindung zwischen den im Titel genannten drei Städten hergestellt wurde. Über herkömmliche ­Telefonleitungen wurden Audiobeiträge, wie etwa Stücke lokaler Bands, aber auch live erzeugte Geräuschkulissen aus den jeweiligen Veranstaltungsorten, hin und her gesendet. Telefonmusik war – was nach Robert Adrian, einem der beteiligten Künstler, prinzipiell für Telekommunikationsprojekte gilt – eine „Gemeinschaftsarbeit“.1 Denn in Telefonmusik fand eine Zusammenarbeit sowohl von diversen Teilnehmenden über geografische Distanzen hinweg als auch von Künstler*innen, Ingenieur*innen, den Musiker*innen und dem Publikum vor Ort statt. Das Telefon, das für das Projekt als Kommunikationsmedium verwendet wurde, ermöglichte dabei nicht nur die Interaktionen zwischen den beteiligten Personen in den drei Städten, sondern bestimmte auch wesentlich deren Form und Struktur. Insofern umfasst Telefonmusik unterschiedliche Aspekte der Kooperation, nämlich neben der Operation der Beteiligten in der technischen Infrastruktur auch die interdisziplinäre Arbeitsteilung und die Partizipation des Publikums. Die verschiedentlich praktizierten Kooperationen waren jedoch nicht bloß nebensächliche Tätigkeiten, die letztendlich in dem eigentlichen Ergebnis, dem Kunstwerk, mündeten. Vielmehr bestand das LiveEvent aus der beständigen Aktualisierung der kooperativen Handlungen der menschlichen und nicht-menschlichen Akteur*innen, weshalb Zusammenarbeit selbst als wesentlicher Inhalt von Telefonmusik zu betrachten ist. Im vorliegenden Aufsatz möchte ich den diversen Beteiligten nachgehen, die zur ­Realisierung des Telekommunikationsprojekts Telefonmusik beitrugen. Dies wird anhand der Betrachtung von drei verschiedenen Formen der Zusammenarbeit geschehen: erstens der Kooperation zwischen Menschen und Dingen im Allgemeinen und dem Telefon im Speziellen, zweitens der interdisziplinären Kooperation von Künstler*innen und

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Ingenieur*innen und drittens der Kooperation der Künstler*innen mit dem Publikum. Hierfür beginne ich mit einer Beschreibung von Telefonmusik als einer besonderen Form telekommunikativer Infrastruktur, um mich anschließend dem Telefon als einem Medium der Kooperation zu widmen. Den Aspekt der interdisziplinären Zusammenarbeit beleuchte ich sodann am Beispiel der Wiener Künstlergruppe BLIX. Abschließend beschreibe ich die Aufführungssituation im Budapester Artpool Archiv, um auf partizipative Momente seitens des Publikums einzugehen.

Telefonmusik. Wien–Berlin–Budapest (1983): Eine Projektbeschreibung Initiiert wurde Telefonmusik. Wien–Berlin–Budapest von der Gruppe BLIX aus Wien, die einige Monate zuvor, im Januar desselben Jahrs, von den Künstlern Robert Adrian, Helmut Mark und Zelko Wiener sowie den Ingenieuren Karl Kubaczek und Gerhard Taschler zwecks der Konzeption und Durchführung von Telekommunikationsprojekten gegründet worden war. Für die bis 1986 in wechselnder Besetzung aktive Gruppe war Telefonmusik die erste gemeinsame Arbeit.2 Hierzu hatte BLIX in den Räumen des Österreichischen Kulturservice-Studios eine selbst eingerichtete Telefonschaltzentrale aufgebaut, über die Wien und die beiden anderen Veranstaltungsorte für ein gemeinsames Konzert miteinander verbunden werden konnten (Abb. 32). Die Projektpartner von Telefonmusik waren neben dem Wiener Kulturservice-Studio die Galerie Aufbau-Abbau in Westberlin und das Artpool Archiv in Budapest (Abb. 33). Während in Wien die Gruppen Pas Paravent und Halofern für das musikalische Programm sorgten, spielten in Berlin unter der Leitung von Rainald Schuhmacher Nervous Service und Creax Apart; dazu trug Andre Pechmann, begleitet von Anno Dittmer auf der Violine, Texte vor (Abb. 34). Von Budapest wurden LivePerformances der Gruppe INDIGO3 gespielt zusammen mit vorab aufgenommenen Klangbeiträgen von Bizottság, Mihály Víg, Vetö-Zuzu, Európa Kiadó, Jurij Kozmos, Vágtázó Halottkémek (VHK), Péter Méry und Trabant (Janos Vetö/Lázló Kiss).4 Das Konzert begann mit der Übertragung beziehungsweise dem Empfang des Programms aus Budapest, ­worauf nacheinander die Beiträge aus Berlin und schließlich Wien folgten.5 Das Telefonnetzwerk, welches die drei Stationen miteinander zu einem simultanen Live-Konzert verband, wurde dabei von BLIX koordiniert. Dazu wurden sowohl Berlin als auch Budapest von Wien aus angerufen. Über die derart hergestellten Telefonverbindungen konnten die angerufenen Stationen entweder ihre Audiobeiträge an Wien senden oder aus Wien empfangen. Wien fungierte also als Schnittstelle, die nicht nur eigene Audiobeiträge versendete und fremde zum Hören empfing, sondern auch die Beiträge der anderen beiden teilnehmenden Städte weiterleitete. Demnach wurde das Klangprogramm von Budapest über die durch den Telefonanruf von BLIX hergestellte Verbindung über Wien mittels ­einer zweiten Leitung weiter nach Berlin geschickt und umgekehrt gingen auch die

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32  BLIX (Personen im Vordergrund von links nach rechts: Helmut Mark, Robert Adrian, Karl Kubaczek) im Österreichischen Kultur-Service Studio, Wien, 1983.

33  Galerie Aufbau-Abbau, Berlin-Charlottenburg, 1983.

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34  Nervous Service (Gitarre: Herbert von der Gruppe Endart, Keyboard: Alexander Christou) in der Galerie Aufbau-Abbau, Berlin-Charlottenburg, 1983.

Klänge von Berlin wiederum über Wien bis nach Budapest. Das eigene Programm sendete Wien, indem es die Klänge über je eine Telefonleitung nach Berlin und Budapest leitete. An den empfangenden Stationen wurden die Audiobeiträge dann über Verstärkeranlagen und Lautsprecher in den Veranstaltungsraum eingespielt, so dass in allen drei Städten zur gleichen Zeit die gleichen Beiträge zu hören waren. Das Programm endete schließlich mit einer Live-Performance, bei dem die Beteiligten aus den drei Städten Berlin, Budapest und Wien für die Dauer von etwa 25 Minuten zusammen musizierten.

Telefonmusik als zu wartende Infrastruktur Doch auch wenn Telefonmusik an drei Orten simultan vernommen werden konnte, so doch nicht überall in derselben Weise. Aufgrund der schmalen Frequenzbreite war die über Telefon übertragene Musik von hörbar geringerer Klangqualität als die Live-Performances vor Ort. Zudem wurden die Übertragungen begleitet von Unterbrechungen, Verzerrungen und anderen Störgeräuschen. Derartige Unregelmäßigkeiten rücken die zugrundeliegenden Infrastrukturen in den Blick, die bei einem reibungslosen Ablauf eher unbeachtet bleiben, wie Susan Leigh Star und Karen Ruhleder gezeigt haben. In ihrem

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Aufsatz über die Worm Community System Software, einer Plattform für Biologen, listen sie als eines von acht Merkmalen von Infrastrukturen auf, dass diese „beim Zusammenbruch sichtbar [werden]“.6 Den Gedanken weiter ausführend machen Stephen Graham und Nigel Thrift Szenarien der „Reparatur und Wartung“ aus, die jenseits katastrophaler Zusammenbrüche und Ausfälle ebenfalls zur bewussten Wahrnehmung von Infrastruk­ turen beitragen.7 Die diversen Prozesse der Instandhaltung, für welche die Autoren beispielhaft die Bereitstellung von Software-Updates, die Beratung durch Callcenter, den Ausbau des Netzwerks von Autowerkstätten und Abschleppdiensten, die Ausbesserung von Schlaglöchern oder auch die Ausbildung von Fachkräften nennen, sorgten letztendlich für das Funktionieren und den Erhalt von bestehenden Infrastrukturen wie die der Telekommunikation, der Elektrizitätsversorgung und der Automobilität. Da Infrastrukturen die Eigenschaft haben, zu veralten und sich abzunutzen, müssen diese kontinuierlich ausgebessert und in Stand gehalten werden. Reparatur und Wartung betreffen also nicht nur außergewöhnliche Situationen und kommen nicht erst bei gravierenden Unfällen zum Tragen, sondern sind notwendige Bedingungen und somit Teil auch intakter Infrastrukturen. Die Praxis der Reparatur und Wartung umfasst dabei all die diversen Handlungen, mit denen Störungen behoben, verhindert oder umgangen werden. Es handelt sich um Maßnahmen zur Fehlerbehebung, die je nach Situation mal routiniert ablaufen, mal der Improvisation bedürfen, weshalb Reparatur und Wartung ein Impetus für Innovationen sein können.8 Versteht man Telefonmusik als eine spezifische, nämlich ästhetische Manifestation telekommunikativer Infrastruktur, so lassen sich die Momente des Projekts, in denen mit technischen Widrigkeiten umgegangen wurde, als solche der Reparatur und Wartung im Sinne von Graham und Thrift betrachten. Indem verzerrte Töne adjustiert, die Lautstärke reguliert, Mikrofone getestet und die Telefonleitungen geprüft wurden, wurde schließlich gewährleistet, dass Telefonmusik funktionierte. Die Allgegenwart von Handlungen der Reparatur und Wartung, mit denen Wege gefunden wurden, das Gemeinschaftskonzert gelingen zu lassen, lässt sich erahnen, wenn man die Fotografien betrachtet, auf denen wiederholt Personen zu sehen sind, die sich Telefon- und Kopfhörer ans Ohr pressen, Wählscheiben und Regler betätigen. Dazu dokumentieren Audioaufnahmen des Abends, wie wiederholt vor der Übertragung des eigentlichen musikalischen Programms ein fragendes „Hallo?“ oder ein „Könnt ihr mich hören?“ über die Telefonleitungen geschickt wurde, um nachzuprüfen, ob die durch den Anruf hergestellte Verbindung tatsächlich verlässlich war und man in der entfernten Stadt gehört wurde. Die Filmdokumentation von Telefonmusik wiederum beginnt mit einer Aufnahme von Kubaczek und Mark, die den über die Lautsprecher laufenden Ton im Wiener Kulturservice-Studio prüfen und einstellen.9 Kubaczek steht währenddessen hinter dem als Schaltzentrale für die telefonischen Übertragungen fungierenden Schreibtisch, der unter anderem von Verstärkern, Kabeln, Klebebandrollen, diversen beschrifteten Papierbögen, einem Mischpult und Telefonen zugestellt ist. Im Laufe des Films ist zu sehen, wie Kubaczek fortwährend die Knöpfe der zu einem kleinen Turm gestapelten Geräte ausrich-

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tet und die Regler am Mischpult einstellt. Bei den beschriebenen Situationen handelt es sich um solche, in denen zwar (noch) kein katastrophaler Zusammenbruch eingetreten ist, jedoch aufgrund der Störanfälligkeit der Infrastruktur eine beständige Pflege und regulierende Handgriffe notwendig sind, um das weitere Funktionieren von Telefonmusik zu sichern. In diesen ‚brüchigen‘ Momenten rücken sowohl die menschliche Arbeit als auch die materiellen und technischen Ressourcen des Projekts in den Fokus. Die Elektrizität, mit der die technischen Geräte betrieben werden, die Telefonapparate und das internationale Telekommunikationsnetzwerk mit seinen Kilometern von unter- und oberirdisch verlaufenden Kabeln, über welche die Audiosignale von einer Stadt zur nächsten geleitet werden, sowie die diversen Mikrofone, Verstärker und Lautsprecher rücken als relevante technisch-materielle Akteure ins Bewusstsein und erscheinen neben den menschlichen Beteiligten als wirkmächtige Kooperationspartner zur Realisierung des Konzerts. Dass die Infrastruktur von Telefonmusik nur durch eine andauernde Investition von Arbeit aufrechterhalten werden konnte, zeichnet diese als eine dynamische aus. Demnach handelt es sich nicht um eine statische Konstruktion, die einmal aufgebaut wird und dann unverändert bestehen bleibt. Vielmehr konstituiert sich die Infrastruktur des Projekts durch das fortwährende Zusammenwirken von Apparaten, anderen physischen Komponenten und Personen. Für die Infrastruktur von Telefonmusik gilt nämlich, genauso wie für eine Infrastruktur im Allgemeinen, dass sie „analytisch gesehen [...] nur als eine relationale Eigenschaft [erscheint], nicht als ein von seiner Nutzung befreites Ding“10. Mit anderen Worten, Telefonmusik stabilisierte sich immer wieder durch die diversen Prozesse kooperativer Arbeit. Daher ist die ihr zugrunde liegende Infrastruktur nicht essentialistisch zu verstehen, sondern stellt zu jedem Zeitpunkt eine kontingente Konstellation von miteinander verwobenen heterogenen Elementen dar. Dieser prozessuale Charakter von Infrastrukturen hat dazu geführt, dass in der Theoriebildung auf Ausführungen zur AkteurNetzwerk-Theorie (ANT), wie sie von Michel Callon, Bruno Latour und John Law formuliert worden sind, zurückgegriffen wurde.11 Wie die ANT geht auch die Infrastrukturforschung davon aus, dass die Dinge aus dem Zusammenspiel oder der „Assoziation“12 verschiedener Akteur*innen konsolidiert erscheinen, wobei die Bedeutung nicht-menschlicher (non-human) und somit materieller Faktoren betont wird.13 Der Gedanke, dass nicht nur Menschen, sondern auch Dinge einen entscheidenden Effekt auf die Welt haben, eint auch die diversen Ansätze, die Diana Coole und Samantha Frost als New Materialisms bezeichnen.14 Da aber die Dinge in Telefonmusik nicht als vereinzelte Objekte, sondern immer eingebunden in Prozesse mit weiteren Dingen, Tätigkeiten und Personen auftreten und erst im jeweils konkreten Zusammenhang als sinnvolle Akteure hervortreten, lässt sich mit einer reinen Auflistung oder auch einer detaillierten Beschreibung der materiellen Bedingungen allein das künstlerische Telekommunikationsprojekt nicht adäquat darstellen. Erst aus dem Zusammenwirken von menschlichen wie auch nicht-menschlichen, dinglichen Akteur*innen konstituiert sich so die für Telefonmusik spezifische Infrastruktur, die daher immer schon kooperativ definiert ist.

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Das Telefon als ein Medium der Kooperation Das dem Projekt namensgebende Telefon kann am besten als ein „Medium der Kooperation“ verstanden werden, welches zum einen Kooperation bedingt, zum anderen immer schon kooperativ genutzt und gestaltet worden ist.15 Demnach wird das Telefon nicht als eine feststehende Entität betrachtet, welche durch den Vergleich mit weiteren distinkten Einzelmedien bestimmt wird. Vielmehr definiert sich das Telefon durch seine Einbindung in vielfältige kooperative Prozesse, wobei es gleichzeitig durch solche hervorgebracht und temporär gefestigt wird. Telefonieren wird dann als eine durch die Verwicklung ästhe­ tischer, sozio-kultureller wie auch technischer und ökonomischer Aktivitäten bestehende Handlung verstanden, anhand derer Formen der Zusammenarbeit in Telefonmusik beleuchtet werden können. Charakterisiert als ein Medium, das sich dadurch auszeichnet, dass es mindesten zwei sich an jeweils unterschiedlichen Orten befindende Personen miteinander verbindet, scheint das Telefon bereits rein konzeptuell, wenn nicht auf ein zielgerichtetes gemeinsames Handeln, so doch zumindest auf eine basale Form des Sich-Zusammen-Verhaltens ausgerichtet zu sein. Zwar mag es geschehen, dass die Person am anderen Ende der Leitung nicht zuhört, man sich nicht versteht oder es sonst auch ‚keinen Anschluss‘ gibt, aber sollte das Telefon auch vergeblich klingeln, dann wurde der Anruf doch in der Annahme getätigt, dass es theoretisch zum Aufbau einer Verbindung und der Interaktion mit einem potentiellen Gegenüber kommen könnte. Dieses dialogische Potential des Mediums Telefon korrespondiert dabei mit dem besonderen Reiz von Telekommunikationsprojekten, welcher auf der kooperativen, medialen Überwindung geografischer Distanzen gründet, und manifestierte sich in Telefonmusik auf verschiedene Weise. So hatten sich die teilnehmenden Personen zwar auf eine Grundkonzeption verständigt, jedoch bedurfte das Projekt während der Durchführung selbst immer wieder der detaillierten Absprache über dessen Verlauf. Dass die Anrufe dabei stets von Wien aus initiiert wurden, war darin begründet, dass ein vom Österreichischen Kulturservice bereitgestelltes Budget BLIX erlaubte, die Telefonkosten für das Projekt zu decken. Die Organisator*innen in den drei beteiligten Städten telefonierten während des Konzerts wiederholt miteinander, um etwa nochmals die Dauer und Reihenfolge der Übertragungen zu besprechen und sich etwaige technische Probleme mitzuteilen. Abgesehen von solchen Formen des verbalen Austauschs, bei denen es um die Übermittlung von Informationen zwecks der Koordinierung des Projekts ging, gab es aber auch solche Telefongespräche, deren semantischer Gehalt eher nebensächlich war. Die zuvor als Wartungsaktivitäten beschriebenen Kurzdialoge, die zumeist aus einer wiederholten Folge von „Hallos?“ bestanden, die im günstigen Fall mit einem „Hallo!“ am anderen Ende der Leitung beantwortet wurden, vermittelten keine für den Fortgang von Telefonmusik relevanten Inhalte, sondern hatten ihre Bedeutung vor allem im gelungenen Vollzug der wechselseitigen Rede und Gegenrede selbst. Denn mit dem telefonischen Austausch wurden zum einen die technischen Bedingungen

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für die Übertragungen validiert; konnte man sich gegenseitig hören, bedeutete dies, dass die Telefonleitungen so weit stabil waren, dass mit der Übertragung des jeweiligen Beitrags begonnen werden konnte. Zum anderen waren die Teilnehmenden in den Städten Berlin, Budapest und Wien mit den Gesprächen, so kurz und inhaltlich trivial sie auch ­waren, bereits vor Beginn des musikalischen Programms in zusammen umgesetzter Aktivität miteinander verbunden. Dieses Phänomen kann mit den Worten Marshall McLuhans als „der Aspekt von Kommunikation als die Teilhabe an einer gemeinsamen Situation“ (the aspect of communication as participation in a common situation) beschrieben ­werden.16 In einer kritischen Auseinandersetzung mit dem für ihn als verengend empfundenen Begriff der sogenannten Massenmedien konstatierte McLuhan, dass Kommunikation mehr ist als die Übermittlung von Informationen und Daten. McLuhan betonte ­deshalb die Form der Kommunikation und nahm in dem kurzen Essay Notes on the Media As Art Forms von 1954 Ideen vorweg, die er später in seiner Publikation Understanding Media. The Extensions of Man (1964) als sein medientheoretisches Programm ex­ plizierte, und welches sich in dem Ausspruch „Das Medium ist die Botschaft“ (The Medium is the Message) – zugleich Titel des ersten Kapitels – auf prägnante Weise ausgedrückt findet.17 Das Telefon als kooperativ verfasstes Medium war in Telefonmusik somit nicht nur wesentlich für die Organisation und Koordination des Gemeinschaftskonzerts, sondern brachte die Teilnehmer*innen des Projekts auch unabhängig von inhaltlichen Aspekten in einer kommunikativen Situation zusammen. Telefonieren in Telefonmusik bedeutete daher, sich auszutauschen und Nachrichten mitzuteilen bei gleichzeitiger Teilhabe an einer mehrere Akteur*innen in verschiedenen Städten involvierenden Handlungskon­ stellation. Die Ästhetik dieser telefonischen Kommunikation unterschied sich dabei deutlich von der einer Face-to-face-Kommunikation. Dazu heißt es in einer Definition darüber, was ­Telefonmusik sei: Musik, die über Telefon gespielt wird, ist TELEFONMUSIK, denn – egal wie reich und wunderbar die Musik ist, wenn sie in das Telefon hineintönt, – wenn sie hundert, tausend oder zehntausend Kilometer weiter weg herauskommt, wird sie ein Telefongeräusch sein.18

Was zunächst als ein Bedauern über die defizitäre Klangqualität bei der telefonischen Übertragung gelesen werden kann, weist tatsächlich darauf hin, dass Telefonmusik als eine eigenständige musikalische Form betrachtet werden kann. Das Telefongeräusch ist dann nicht Inbegriff von schlechtem, sondern anderem Klang, dessen Spezifik sich gerade durch die Verzerrungen, dem der schmalen Frequenzbreite geschuldeten flach erscheinenden Ton und dergleichen auszeichnet. Das klanglich spezifische Telefongeräusch bezeichnet demzufolge keinen qualitativen Mangel, sondern ein ästhetisches Merkmal telekommunikativer Kooperation.

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Die Bedeutung des „unterstützenden Personals“ (support personnel) In Telefonmusik fand aber nicht nur eine Zusammenarbeit über geografische Distanzen hinweg statt. Das Projekt bestand auch aus der beständigen Aktualisierung der kooperativen Handlungen der Teilnehmenden vor Ort. In Wien kümmerte sich während des Konzerts Helmut Mark von BLIX um das lokale musikalische Programm der von ihm zuvor organisierten Bands, Robert Adrian machte Aufnahmen mit der Fotokamera. Währenddessen saß Karl Kubaczek an einem großen Schreibtisch im Wiener Kulturservice-Studio, um die ein- beziehungsweise ausgehenden Klänge zu koordinieren und zu regulieren. Zwar wird bei der Beschreibung von Telefonmusik zwischen der Konzeption der Arbeit durch die Künstler Adrian und Mark sowie der technischen Koordination durch den ausgebildeten Ingenieur Kubaczek differenziert. Jedoch ist diese Unterscheidung nicht als eine hierar­ chische, sondern vielmehr rein analytische zu verstehen. Bedenkt man etwa, dass erst durch eine improvisierte Telefonkonferenzleitung Kubaczeks die musikalische Abschlusssequenz zustande kam, in der die Teilnehmenden aller drei Städte gemeinsam musizierten, was trotz einiger Probleme einen Höhepunkt des Abends darstellte, sind die praktische, technische Ausführung und der konzeptuelle Entwurf gewiss als gleichwertig zu erachten. Gemeinsam gegründet von Künstlern und Ingenieuren, basierte BLIX tatsächlich von Anfang an auf dem Gedanken der interdisziplinären Kooperation. Die Kooperation von Personen auch oder gerade mit verschiedener Expertise ist ­jedoch weder ein erst für moderne künstlerische Arbeiten relevantes Konzept, noch ist es ein exklusives Charakteristikum von Telekommunikationsprojekten. Dem Soziologen Howard S. Becker zufolge entstehen künstlerische Arbeiten grundsätzlich kooperativ und setzen wie menschliche Arbeit überhaupt stets die Zusammenarbeit mehrerer Personen mit unterschiedlichen Fertigkeiten voraus. Am Abspann eines Spielfilms veranschaulicht Becker exemplarisch, wie groß die Anzahl der Personen und wie divers die Fülle an Tätigkeiten ist, die an der Produktion einer künstlerischen Arbeit beteiligt sind.19 Doch was am Beispiel des Spielfilms deutlich wird, gelte prinzipiell für den gesamten Bereich der Kunst. Sogar so scheinbar autark erscheinende Künste wie die Malerei oder die Dichtkunst seien letztendlich abhängig von der Arbeit Anderer. Damit etwa ein Gemälde entstehen kann, bedürfe es zusätzlich zu den malenden Künstler*innen Personen, die Leinwände, Farben und Pinsel herstellen, Kurator*innen, die das Bild ausstellen, des Weiteren Kritiker*innen, die sich mit der Arbeit auseinandersetzen, Sammler*innen, die derartige Werke protegieren, eines rezipierenden Publikums, aber auch der Arbeit von anderen Künstler*innen, zu denen sich die neue Arbeit positionieren kann.20 Obgleich auch die nicht von den Künstler*innen selbst ausgeführten Tätigkeiten wesentlich für das Kunstwerk sind, würden diese für gewöhnlich bloß als Zu­ arbeit von lediglich assistierender Funktion wahrgenommen. Diese gängige Meinung wiederspiegelnd bezeichnet Becker die Personen, die diese Tätigkeiten ausführen, als „support personnel“ (unterstützendes Personal).21 Tatsächlich leistet das support personnel nach Be-

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cker allerdings einen genauso signifikanten Beitrag zur spezifischen Ausgestaltung eines Kunstwerks wie die sogenannten Künstler*innen, weshalb er zu dem Schluss kommt: „The artist thus works in the center of a network of cooperating people, all of whose work is essential to the final outcome.“22 Auf diese Weise lenkt Becker den Blick auch auf Personen und Aktivitäten, die ansonsten nicht als ‚künstlerisch‘ gelten. Anstatt Tätigkeiten hierarchisch zu bewerten, betont Becker dabei, dass alle in die Entstehung eines Kunstwerks involvierten Tätigkeiten relevant seien. Die von Becker beschriebene grundlegend kooperative und interdisziplinäre Verfasstheit von künstlerischen Arbeiten bildet BLIX in ihrer personellen Aufstellung ab. Des Weiteren manifestiert sie sich in Telefonmusik in der gleichberechtigten Zusammenarbeit von Künstler*innen und Ingenieur*innen.

Zusammenarbeit über geografische Distanzen hinweg als subversive Taktik Die Idee der Arbeitsteilung oder Kooperation reicht bei Telefonmusik jedoch noch über den engeren Kreis der mitwirkenden Künstler*innen und Ingenieur*innen hinaus; sie umfasste in Budapest auch die Personen, die zunächst als Publikum das Artpool Archiv aufsuchten. Das von Artpool für die telefonische Übertragung vorbereitete einstündige Programm alternierte zwischen vorab auf Band aufgenommenen Musikbeiträgen und dem live performten Hammerkonzert der Gruppe INDIGO. Während die Künstler*innen von INDIGO im gleichmäßigen Rhythmus mit Hämmern auf eine Furnierplatte, eine metallene Waage mit aufmontierten Kugeln, einen Schwamm, einen Schlüssel, einen Fotoapparat, einen Kugelschreiber, Pfefferminzbonbons und weitere Oberflächen einschlugen, beschrieb ein Sprecher für die Zuhörenden in Berlin und Wien das Geschehen in deutscher Sprache. Im letzten Part des dreiteiligen Konzerts stimmte das Publikum zum andauernden Hammerklopfen der Künstler*innen die Internationale in Ungarisch an. Die prägnante Melodie des Lieds, welches als eine kämpferische Hymne auf den internationalen Zusammenhalt der sozialistischen Arbeiterbewegung bekannt ist, setzte einen hörbaren Akzent hinsichtlich des Bedeutungskontexts von Hammerkonzert, das als Solidaritätsbekundung zur unabhängigen ungarischen Friedensbewegung intendiert war. Beim anschließenden Simultankonzert, zu dem die Beteiligten aller drei Städte zeitgleich zusammen musizierten, gestaltete das Publikum in Budapest ebenfalls die Klangkulisse mit. Diverse im Archiv spontan verfügbare Gegenstände wurden vom Publikum dazu verwendet, Geräusche zu erzeugen, die in das gemeinsame Konzert mit Berlin und Wien einflossen. Júlia Klaniczay, die zusammen mit György Gálantai Artpool im Jahre 1979 gegründet und Telefonmusik in Budapest mitorganisiert hatte, schrieb dazu: Während des Konzertes hier waren alle sehr begeistert, und ich glaube es war wirklich ein Ereignis oder ein Happening. Da das Publikum wirklich mitgemacht hat, war es auch ein echtes Gemein-

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schaftskonzert – nicht wie in Wien oder Berlin, wo es die Gruppen und ein Publikum gab. Hier bei uns hatten die Leute das Gefühl, zu einer universalen Kultur zu gehören, in der man mit Hilfe der Kunst und der Musik kommunizieren kann. Es war ein sehr schönes, utopisches Gefühl.23

Das Publikum in Budapest setzte mit seinem Beitrag somit akustisch einen interpretativen Rahmen für Hammerkonzert und trug zudem durch sein Mitmusizieren wesentlich dazu bei, dass Telefonmusik als nicht nur für Künstler*innen, sondern grundsätzlich offenes Kommunikationsnetzwerk erfahren wurde. Die Idee einer globalen Vernetzung von Gleichgesinnten ist dabei nicht ausschließlich Telekommunikationsprojekten eigen. So gründet beispielsweise die Mail Art auf eben diesem Gedanken.24 Dieser verbindet sich weiter mit der utopischen Vorstellung, dass mit dem so geschaffenen kreativen, alternativen Netzwerk geografische und infrastrukturelle Realitäten und damit einhergehende Vorstellungen von Zentrum und Peripherie überwunden werden können. Die Vernetzung hatte im Falle von Telefonmusik, da die Kooperation Orte umfasste, die verschiedenen politischen Systemen angehörten, auch politische Bedeutung. Vor allem die aus Budapest übermittelten Soundbeiträge waren in ihrer inhaltlichen Aussage durchaus mal mehr – wie in Mihály Vígs Lied „Der feige sowjetische Mann spricht nicht von Politik“ (Gyáva szovjet ember nem beszél politikáról) – oder weniger explizit politisch konnotiert. Telefonmusik wurde von BLIX nochmals im Dezember, diesmal unter Beteiligung von Künstler*innen aus Wien, Vancouver, Westberlin und Warschau realisiert. Auch in dieser zweiten Ausführung war mit Warschau eine Stadt aus dem damals kommunistischen Osten beteiligt. Bei beiden Telefonmusik-Events bedeutete – abgesehen von den konkreten übermittelten Inhalten – der demonstrative Akt der Zusammenarbeit an sich schon eine poli­ tische Aussage: Auch wenn die repressive Politik der kommunistischen Regierung der Ungarischen Volksrepublik beziehungsweise der Volksrepublik Polen eine freie Meinungsäußerung behinderte und den Austausch und die Kommunikation zwischen verschiedenen Ländern erschwerte, hatte man es dennoch geschafft, gemeinsam eine künstlerische Aktion durchzuführen. In diesem Sinne kann Kooperation ein subversiver Akt sein, wenn trotz herrschender Restriktionen und Zwänge, die einer Zusammenarbeit entgegenstehen, diese bewusst praktiziert wird. Insbesondere im Falle von künstlerischen Projekten in autoritären Systemen wie der damals kommunistischen Ungarischen Volksrepublik (1949–1989) war der Austausch mit Personen andernorts auch in dieser Hinsicht bedeutsam, als damit alternative Kommuni­ kationskanäle geschaffen wurden, über welche die staatliche Zensur und Kontrolle umgangen werden konnten. Hier wurde Distanz nicht nur im Sinne von geografischer Entfernung überwunden, sondern auch diejenige Distanz, die durch unterschiedliche Ideologien und politische Grenzziehungen geschaffen worden war. Wenn Projekte dabei nicht immer nach Plan verliefen, darf dies daher nicht sogleich als Misserfolg oder Scheitern abgetan werden. Auch wenn die technische Durchführung nicht reibungslos verlief, war es doch gelungen, eine Verbindung herzustellen und etwas gemeinsam zu tun.

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35  Hammerkonzert von INDIGO im Artpool-Studio, Budapest, 1983.

36  Montage von György Gálantai mit Zeichnungen von György Kozma zu Telefonmusik im Artpool-Studio.

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Anmerkungen   1 Robert Adrian, Interview, in: Robert Adrian X, Ausst.-Kat. (Wien, Kunsthalle Wien, 2002), hrsg. von Kunsthalle Wien, L. Gehrmann und G. Matt, Wien 2001, S. 46–67, hier S. 62: „Die zwei Grundprinzipien für die künstlerische Arbeit mit Kommunikationstechnologien sind erstens, dass es notwendigerweise eine Gemeinschaftsarbeit und zweitens, dass der Standort des Werks der Raum zwischen den Teilnehmern ist.“   2 Reinhard Braun, Robert Adrian X. One Has To Slide Off Into Some Other Territory (Man muss in ein anderes Gebiet abgleiten), in: Robert Adrian X 2002 (Anm. 1), S. 90–123, hier S. 114; BLIX, in: Art + Telecommunication, hrsg. von H. Grundmann, Vancouver/Wien 1984, S. 101; Robert Adrian, Telecommunications Projects, http://alien.mur.at/rax/ [zuletzt aufgerufen 12. Dezember 2017].  3 INDIGO steht für „Interdisziplinäres Denken“ auf Ungarisch und wurde Ende der 1970er Jahre von Miklós Erdély gegründet.   4 Die Details zum vorliegenden Projekt mit Auflistungen der beteiligten Musiker*innen und Künstler*innen finden sich in den nachfolgend genannten Publikationen, wobei es abweichende Angaben dazu gibt, wer etwa den Budapester Beitrag koordiniert hat. So wird an einer Stelle Júlia Klaniczay, an andere Stelle János Vetö genannt. Telefonmusik. Wien–Berlin–Budapest, in: Art + Telecommunication 1994 (Anm. 2), S. 100; Artpool. The Experimental Art Archive of EastCentral Europe. History of an active archive for producing, networking, curating and researching art since 1970, hrsg. von G. Galántai und J. Klaniczay, Budapest 2013, S. 80; auf der Webseite von Robert Adrian sind zusätzlich zu den englischen Texten aus dem von Heidi Grundmann herausgegebenem Buch Schwarz-Weiß-Fotografien zum Projekt zu finden: http://alien.mur.at/rax/ [zuletzt aufgerufen 12. November 2017].   5 Die Klangbeiträge aus Budapest sind mit einigen Ausschnitten der Berliner und Wiener Beiträge in der achtteiligen Audiokassettenreihe Radio Artpool erschienen, von der die dritte Edition Telefonkonzert gewidmet ist. Alle Editionen sind auf den Webseiten von Artpool online zugänglich. Radio Artpool No. 3. Budapest–Wien–Berlin. Concert Over the Phone, April 15th 1983, kompiliert von György Galántai, http://www.artpool.hu/sound/radio/3.html [zuletzt aufgerufen 12. November 2017]. Einen Einblick in die Veranstaltung in Wien gibt die Videodokumentation Telephone Music, 1983, Farbe, Ton, 19 Min., produziert von BLIX/Österreichisches Kulturservice.   6 Susan Leigh Star und Karen Ruhleder, Schritte zu einer Ökölogie von Infrastruktur. Design und Zugang für großangelegte Informationsräume [1995/1996], in: Susan Leigh Star. Grenzobjekte und Medienforschung, hrsg. von S. Gießmann und N. Taha, Bielefeld 2017, S. 359–401, hier S. 363.   7 Stephen Graham und Nigel Thrift, Out of Order. Understanding Repair and Maintenance, in: Theory, Culture and Society 3, 2007, S. 1–25.   8 Graham und Thrift 2007 (Anm. 7), S. 5.   9 Obgleich die Fotografien und das filmische Material Telefonmusik nicht in ihrer Gesamtheit zu erfassen vermögen, können sie abgesehen von ihrer dokumentarisch-abbildenden Funktion, in welcher sie einen anschaulichen Eindruck des Gemeinschaftskonzerts geben, den Ausgangspunkt dafür bieten, sich die disperse Infrastruktur von Telefonmusik vorzustellen. Dazu, inwiefern filmisches wie auch fotografisches Material zur Analyse von Infrastrukturen dienen kann, siehe: Lisa Parks, „Stuff You Can Kick“. Toward a Theory of Media Infrastructure, in: Between Humanities and the Digital, hrsg. von P. Svensson und D. T. Goldberg, Cambridge, Mass./London 2015, S. 355– 373. Angewandt findet sich dieses Verfahren etwa im Artikel von Jennifer Holt und Patrick Vonderau, „Where the Internet Lives“. Data Centers as Cloud Infrastructure, in: Signal Traffic. Critical Studies of Media Infrastructure, hrsg. von L. Parks und N. Starosielski, Urbana u. a. 2015, S. 71–93. 10 Leigh Star und Ruhleder 2017 (Anm. 6), S. 362.

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11 Michel Callon, Some Elements of a Sociology of Translation. Domestication of the Scallops and the Fishermen of St Brieuc Bay, in: Power, Action and Belief. A New Sociology of Knowledge?, hrsg. von J. Law, London 1986, S. 196–223; Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt/Main 2007; John Law, Technology and Heterogeneous Engineering. The Case of Portugese Expansion, in: The Social Construction of Technological Systems. New Directions in the Sociology and History of Technology, hrsg. von W. E. Bijker, T. P. Hughes und T. J. Pinch, Cambridge, Mass. 1987, S. 111–134. 12 Latour 2007 (Anm. 11), bes. S. 16–19. 13 Brian Larkin, The Politics and Poetics of Infrastructure, in: The Annual Review of Anthropology 42, 2013, S. 327–343; Lisa Parks, Earth Observation and Signal Territories. Studying U. S. Broadcast Infrastructure Through Historical Network Maps, Google Earth, and Fieldwork, in: Canadian Journal of Communication 3, 2013, S. 285–307; Gabriele Schabacher, Medium Infrastruktur. Trajektorien soziotechnischer Netzwerke in der ANT, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2, 2013, S. 129–148; Susan Leigh Star, The Ethnography of Infrastructure, in: American Behavioral Scientist 3, 1999, S. 377–391. 14 New Materialisms. Ontology, Agency, and Politics, hrsg. von D. Coole und S. Frost, Durham, NC 2010. 15 Erhard Schüttpelz und Sebastian Gießmann, Medien der Kooperation. Überlegungen zum Forschungsstand, in: Navigationen. Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften 1, 2015, S. 7–55, bes. S.  10, http://dokumentix.ub.uni-siegen.de/opus/volltexte/2015/929/pdf/Navigationen_Medien_der_Kooperation.pdf [zuletzt aufgerufen 12. November 2017]. 16 Marshall McLuhan, Notes on the Media as Art Forms (1954) (Marshall McLuhan – Unbound 15), hrsg. von E. McLuhan und W. Terrence Gordon, Corte Madera, CA 1955. 17 Marshall McLuhan, Understanding Media. The Extensions of Man, New York 1964. 18 Telefonmusik 1984 (Anm. 4), S. 100. 19 Howard S. Becker, Art Worlds [1982], Berkeley, CA 2008, S. 7–9. 20 Becker 2008 (Anm. 19), S. 13–14. 21 Becker 2008 (Anm. 19), S. 17 und bes. S. 77–92. 22 Becker 2008 (Anm. 19), S. 25. 23 Brief von Júlia Klaniczay an Robert Adrian, in: Art + Telecommunication 1984 (Anm. 2), S. 106. 24 John Held, Mail Art. An Annotated Bibliography, London 1991.

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Luigi Kurmann

Arbeiten für und mit Dennis Oppenheim Dennis Oppenheim (* 1938 Electric City, † 2011 New York) ist vor allem für seine Land- und Body-Art-Projekte bekannt geworden, obwohl der weit größere Teil seines Gesamtwerkes aus Installationen und Skulpturen besteht. Bereits auf der von Harald Szeemann kuratierten documenta 5, 1972 war Oppenheim mit Video-Arbeiten vertreten. Auf der documenta 6, 1977 war eine Installation von ihm zu sehen. 1979 begann Oppenheim Skulpturenprojekte im Außenraum zu realisieren. Mit diesen als Factories bezeichneten Projekten und den Arbeiten der Fireworks Series war er auf den wichtigsten, damals populär werdenden Skulpturenausstellungen präsent. Unsere Zusammenarbeit begann mit seiner Einzelausstellung in der Kunsthalle Basel im Mai 1979, die ich im Anschluss auf ihrer Tournee zu den Stationen ARC Musée d’Art moderne de la Ville de Paris sowie Württembergischer Kunstverein in Stuttgart begleitete. Zwischen 1980 und 1985 war ich für die Realisierung der Arbeiten von Dennis im Innenund Außenbereich in Europa zuständig. In den Jahren bis 1992 hat sich unsere Zusammenarbeit stetig ausgeweitet – die Projekte wurden komplexer und vor allem technisch anspruchsvoller. In einer Art kreativen Zusammenspiels spornten wir uns gegenseitig an, so dass Oppenheims Projekte im Außenraum immer ambitionierter wurden. Dennoch habe ich diese Zusammenarbeit nie als Kollaboration verstanden und würde sie auch nicht als solche bezeichnen – schon gar nicht als künstlerische –, sondern als eine Form intensiver Kooperation, als zweckgerichtetes Zusammenwirken, dessen Ziel es war, mit Oppenheim seine künstlerischen Ideen umzusetzen. Meine Arbeit bestand darin, Strukturen zu erstellen und einzelne Elemente zu gestalten, die in diesen Strukturen Platz fanden. Oppenheims künstlerische Absicht erschloss sich mir meist erst im Laufe der Realisation des Projektes durch seine Erläuterungen der Funktion einzelner Teile. Für Oppenheim jedoch stand das Gesamtgebilde im Vordergrund. Die Umsetzung seiner übergreifenden Ideen war das künstlerische Werk und in diesem Prozess kam mir die Rolle eines technischen Beraters und Realisators zu. Zudem war meine Sicht der Dinge durch Projekte geprägt, die ich während dieser Zeit als Assistent von Jean-Christophe Ammann an der Kunsthalle Basel umsetzte1. Meine Hauptaufgabe in Basel bestand darin, raumbezogene Installationen für die Ausstellungen der eingeladenen Künstler zu realisieren, wobei eine pragmatische Herangehensweise gefragt war, da es sich meist um temporäre Projekte handelte.

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Im Ausstellungsbetrieb der Kunsthalle, wie vermutlich in den meisten Ausstellungs­ institutionen der 1970er und 80er-Jahre, die vorwiegend zeitgenössische Kunst zeigten, war es unabdingbar, die Kosten so gering wie möglich zu halten, weil die finanziellen Mittel äußerst knapp bemessen waren. Dennoch war es mir wichtig, perfekte Lösungen zu finden, die den Wünschen der Künstler entsprachen. Die meisten der Werke, die ich in dieser Zeit baute, wurden nur für jeweils diese eine Ausstellung hergestellt. Manchmal wurden Arbeiten rekonstruiert, nur selten wurde eine ganze Ausstellung von anderen Kunsthallen oder Museen weitergereicht. Möglichst viel vor Ort, das heißt in den Ausstellungsräumen zu produzieren, war meist kostengünstiger als das Verschicken ganzer Installationen. Nach Ausstellungsende wurden die vor Ort entstandenen Werke in der Regel zerstört. Einerseits wollte sie damals kaum ein Sammler kaufen, andererseits fehlte den meisten Institutionen der Platz für solch sperrige Einlagerungen. So ging es nicht nur um die Frage, was die Künstler oder Künstlerinnen produzieren wollten, sondern ich musste auch vorwiegend Lösungen finden, die ich allein oder mit Hilfe eines kleinen Teams umsetzen konnte. In der Regel habe ich zunächst nach vorgefertigten Teilen in Eisenwarenhandlungen gesucht: Befestigungsmaterial, Metallprofilen und mechanischen Teilen wie Rollen, Kugellagern oder gar Getrieben, die ich den Vorstellungen der Künstler und Künstlerinnen entsprechend verwenden oder abwandeln konnte. Bei unserer ersten Begegnung in Basel wollte Oppenheim als Erstes einen Eisenwarenladen sehen. Er war neugierig darauf, wie die in Europa industriell vorgefertigten Teile und Geräte aussahen. Obwohl es sich bei Eisenwaren in erster Linie ja um rein funktionale Teile handelte, die nicht speziell designt waren, unterschieden sie sich deutlich von jenen in den USA. Oppenheims Herangehensweise war mir somit vertraut. Auch bei ihm war sie aus der Notwendigkeit geboren, mit wenigen Mitteln ein Maximum zu erreichen. Daher war eine hohe Flexibilität in der Ausführung gefordert. Im Wissen darum, dass die ganze Sache temporär war und daher nur so stabil sein musste, dass es für die Dauer der Ausstellung funktionierte, wurde die günstigste Lösung gesucht. Notfalls konnten Teile ersetzt oder während der Ausstellung repariert werden. Selbstverständlich mussten wir manchmal auch Sonderteile produzieren lassen, dies betraf beispielsweise alle Stahl­ arbeiten wie konische oder gebogene Formen, die es nicht normiert ab Stange zu kaufen gab. In diesen Fällen musste ich einen Hersteller suchen, der einen Sinn für Kunst hatte und daher breit war, einen möglichst niedrigen Preis zu gewähren. Bei Ausstellungs­ tourneen wurden in erster Linie diese Spezialanfertigungen weitergereicht und weiterverwendet. Aus dem Französischen stammt der für diese Art von Arbeitsprozess verwendete Begriff der Bricolage. Dennis Oppenheim hatte ein Faible für Bricolage und bis er 1978 mit der Serie der Factories begann, ging er in der Regel selbst in Holz- oder Eisenwarenhandlungen und zu anderen Anbietern in der Canal Street in New York, um Materialien zu finden, mit denen er seine Machine-Pieces realisieren konnte. Er hat zwar nur selten selbst Hand angelegt, hatte aber ein gutes Verständnis für Materialien und deren Eigenschaften.

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Er ließ sich gerne von bestehenden industriell geprägten und genutzten Objekten inspi­ rieren. Manchmal war auch erst das technische Teil da, das er dann unverändert in seine Arbeit einbaute. Der Umsetzung der Installation für die Basler Kunsthalle von 1979 ging keine große Planung voraus. Alles wurde während des Aufbaus vor Ort entwickelt. Einige Arbeiten bzw. Teile waren aus den USA angeliefert worden, aus denen ich bereits realisierte ­Machine Pieces wieder zusammengebaut und zum Laufen gebracht habe (z. B. Land Grab, Falling Room, beide 1979). Da die Ausstellung nach Stuttgart weiterwanderte, bat mich Dennis, auch dort den Aufbau zu übernehmen. Alle Werke, die in Basel gezeigt wurden, wurden im Baden-Württembergischen Kunstverein in Stuttgart wiedereingerichtet. Für den riesigen Hauptraum von fünfzig mal fünfzig Metern wartete Dennis jedoch mit der Idee zu einer neuen Arbeit auf. Neben einer großen Blaupause hatte er für diese Arbeit aus New York zwei elektrische Tontauben-Wurfmaschinen mitgebracht – in seinem Handgepäck! Die zwei Wurfmaschinen für die Arbeit Scan, 1979 wurden diagonal in den Ecken des Raumes einander gegenüber platziert. Um die beiden Maschinen daran zu hindern, sich gegenseitig zu zerstören, entwarf Dennis zwei identische Schilde aus Holz mit Schlitzen. Sie wurden dann so justiert, dass die gleichzeitig abgeschossenen Tonscheiben in der Mitte des Raumes innerhalb eines großen Rades kollidierten, was hie und da auch tatsächlich geschah.2 Verglichen mit den späteren Herausforderungen war dies eine für mich leicht zu bewältigende, aber trotzdem spannende Aufgabe. Das nötige technische Wissen stand mir zur Verfügung, weil ich mich schon als Jugendlicher für Technisches interessiert und in jahrelanger Praxis handwerkliche Fähigkeiten erworben habe, etwa in Ferienjobs beim Schreiner in der Nachbarschaft oder bei einem Automechaniker, der mir das Schweißen beibrachte. Im Vertrauen auf meine Erfahrung war meine Sicht auf die zu lösenden Probleme nicht auf technische Spezifikationen fixiert und meine Herangehensweise offen. – Prägend war hierbei mein Vater, der ein technisch versierter Handwerker war. Mit ihm zusammen haben wir Geschwister unser altes Bauernhaus von 1832 in der Gegend von Luzern sukzessive umgebaut. Mein Vater erklärte eigentlich nur auf Nachfrage, wie etwas funktionierte. Er hat uns aber immer in unserer Neugierde bestärkt und nachahmen lassen. Wenn es wiederholt schiefging, korrigierte er Handgriffe. Auch faszinierten mich mechanische Werkzeuge und Maschinen, deren Funktionsweise, vor allem deren mechanische Umsetzung von Kraft und Bewegung. Entsprechend besaß ich in meiner Jugend einen technischen Baukasten. Wenn ich ein Problem nicht selbst lösen konnte, suchte ich andere Personen mit dem notwendigen Fachwissen, die ich fragen konnte. Für Dennis war ich in den folgenden Jahren Berater, Gestalter, Kurator, Techniker, Projektmanager und zu Beginn auch handwerklich Ausführender. Dass ich ein theoretisches Interesse für neueste technische und wissenschaftliche Entwicklungen hatte, kam der Art und Weise, wie Dennis seine Projekte entwickelte, entgegen. Ich konnte mir vorstellen, worum es ging. Die Installation in Stuttgart bezieht sich auf eine Anlage für Teilchen­

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physik, wie sie das CERN, das europäische Laboratorium für Teilchenforschung, in Genf entwickelt hatte. Dennis war sehr interessiert an dieser Art hochtechnischer Forschung und hatte vom Beschleuniger-Komplex, der als ein Proton-Antiproton Collider im Untergrund von Genf in Betrieb war, gehört. Zu dieser Zeit waren CERN und Fermilab, das amerikanische Pendant bei Chicago, in Verbindung mit der Entdeckung von subatomaren Teilchen der Materie häufiger in den Nachrichten. Darauf bezogen beschrieb Dennis in Gesprächen die Tonscheiben von Scan als körperliche Metaphern für projizierte Gedanken. Viele der Ideen, die Dennis in seinen Werken aufgriff, knüpften jedoch an Vorgänge an, die ich aus dem Alltag kannte oder an industriell geprägten Orten schon irgendwo wahrgenommen hatte. Da Dennis ein industrielles Aussehen seiner Factories anstrebte, waren mir viele Aspekte seiner Ästhetik vertraut, die fern jeder industriellen ­Romantik stand. Dies erleichterte die Verständigung zwischen uns. Es ermöglichte mir, seine künstlerischen Vorstellungen intuitiv zu erfassen. So machten mir die Wahl des ­Materials und die damit verbundene technische Verwendung oder Verarbeitung bereits klar, wie ein zu fertigendes Teil im Detail aussehen sollte. Dennis interessierte die äußere Erscheinung, was zu Konstruktionszwecken oder innen verdeckt geschah, war letztlich meine Sache. Dennis war für meine Flexibilität dankbar, da ich es schaffte, seine Ideen in der beim Ausstellungsaufbau meist sehr kurz bemessenen Zeit umzusetzen. Dies hatte Einfluss auf den Arbeitsprozess und unsere weitere Zusammenarbeit. Dennis konzentrierte sich zunehmend auf seine künstlerischen Ideen, die er im Wissen darum, dass ich alles daransetzte, sie auch anhand sehr grober Skizzen zu verwirklichen, frei entfalten konnte. Um die Details der Fabrikation musste er sich immer weniger kümmern. Dennis Oppenheims Vorgehen beim Entwerfen seiner Skulpturen war von steter Auseinandersetzung geprägt, ein Prozess, der selbst während der Realisierung einer Skulptur und auch danach nie zu einem Ende kam. Ständig dachte er seine Projekte weiter. Dennis sah seine Factories als ein Zusammenspiel von Modulen, analog zu den kognitiven „Modulen“, die beim kreativen Prozess im Gehirn aktiv sind. Die Elemente, die er dafür entwarf, setzte er wie ein Vokabular ein. Sie stehen jeweils für bestimmte Ideen, die dem Betrachter Sachverhalte vor Augen führen sollen, wobei sie auf alltägliche Erfahrungen Bezug nehmen und mögliche Abläufe evozieren. Es ging dabei weniger um die Symbolik der Einzelteile als um allgemeine Assoziationen, die industriell anmutende Formen der Produktion im Betrachter wachrufen. Einmal gefundene Lösungen konnten so als Module für spätere Arbeiten übernommen und wiederverwendet werden. Die „Blinders“ zum Beispiel, beweglich auf Schienen montierte Schilde oder Blenden, finden sich sowohl bei Station for Detaining and Blinding Radio-active Horses, 1980 wie auch in Formula Compound: A Combustion Chamber: An Exorcism from the Fireworks Series, 1982 oder in einer etwas modifizierten Version in Launching Structure #2. An Armature for Projection, 1982. Dies erleichterte auch mir den Planungsaufwand an Details, jedoch nicht den Aufwand und die Kosten für die Herstellung.

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In vielen Fällen führte Dennis’ Vorgehensweise zu ausgedehnten Nachtschichten und auch oft zu Kostenüberschreitungen. Unsere gute Zusammenarbeit hatte überdies den Effekt, dass die Projekte immer größer und waghalsiger wurden. In diesem Sinne bezeichnete Dennis mich als seinen special effect artist und in einer Diskussion mit ihm, ob ich nicht in die USA kommen wolle, um dort für ihn zu arbeiten, spekulierte er, dass ich neben dem Engagement für ihn auch in der Filmindustrie Fuß fassen könnte. Die Entwicklung unserer Zusammenarbeit lässt sich vielleicht am besten an zwei Skulpturenprojekten darstellen: an Station for Detaining and Blinding Radio-active Horses von 1980–1982, das in zwei Versionen erstellt wurde, sowie Formula Compound: A Combustion Chamber: An Exorcism from the Fireworks Series, 1982, dem technisch anspruchsvollsten Projekt, das ich für Dennis umgesetzt habe. Darüber hinaus zeigen die beiden Arbeiten aber auch, wie ich im Folgenden erläutern werde, dass bei wachsender Komplexität die Einschränkungen durch äußere Vorgaben zunahmen, was meinen Einfluss auf die ­Gestaltung bei der technischen Umsetzung verringerte.

Bricolage-Modus zu Beginn in Basel 1979 wurde Dennis Oppenheim eingeladen, für die im darauffolgenden Jahr vom Mai bis September im Wenkenpark in Riehen bei Basel geplante Ausstellung „Skulptur im 20. Jahrhundert“ ein Projekt zu realisieren. Die Idee, eine große Skulpturenausstellung in einem öffentlichen Park bei Basel zu organisieren, wurde von Ernst Beyeler, dem Galeristen und späteren Gründer des Beyeler Museums, lanciert. In einem Interview mit Bice Curiger erklärte Dennis, er wolle dafür, „ein Objekt schaffen, das aussieht, als komme es von irgendwo her, das fremd ist an diesem Ort, als würde es diesen gleich wieder verlassen [...].“3 Er fügte hinzu, dass die für die Ausstellung in der Kunsthalle Basel produzierte Arbeit Landing Craft for Dark Jump diesen Anschein erwecke. Die Arbeit, die Dennis schließlich für den Wenkenpark entwarf, war eine riesige, industriell anmutende „Fabrik“ inmitten einer gepflegten Gartenanlage. Station for Detaining and Blinding Radio-active Horses ist die erste Arbeit aus der Serie Thought Collision Factories, die in Europa im Freien realisiert wurde. Die zentrale Struktur hatte mit mehr als fünf mal zehn Metern und einer Höhe von sieben Metern etwa die Größe eines Hauses. Besucher durften in die Skulptur eintreten und fanden sich nach Durchschreiten von Drehtüren in einer Art Labyrinth wieder, das aus Trommeln, Walzen, Draht-Gitter-Toren und weiteren drehbaren Paneelen in verschiedenen Formen und Winkeln bestand. War mehr als eine Person im Labyrinth, konnte es vorkommen, dass die drehbaren Trommeln und beweglichen Paneele sich gegenseitig blockierten. Dann war eine Absprache erforderlich, um wieder hinauszugelangen. In einem anderen Abschnitt der Hauptstruktur gab es ein ganzes System aus Katapulten, Flaschenzügen und Schienen sowie Mulden, Behältern und Löchern im Boden. Die Schlingen der Katapult-Vorrichtung

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37  Station for Detaining and Blinding Radio-active Horses, 1980 im Wenkenpark Riehen (Hauptstruktur mit Skulptur von Max Bill rechts daneben im Hintergrund und Sicht auf die Reithalle).

38  Station for Detaining and Blinding Radio-active Horses, 1980 im Wenkenpark Riehen.

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39  Station for Detaining and Blinding Radio-active Horses, 1980 im Wenkenpark Riehen (Detail).

waren in einem Auffangtank befestigt, der in den Boden eingelassen war. Sie standen unter Spannung, um zu suggerieren, dass die Steine jederzeit herausgeschleudert werden könnten. Andere Teile der Anlage bezogen sich auf Formen, wie sie im Bergbau und Energiesektor vorkommen. Auf der Rückseite der Anlage befanden sich vier „Gruben“, von denen Schienen zur sogenannten Mittelstation führten. Mit Rohmaterial gefüllte Schlitten wurden von Gummizügen unter Spannung gehalten (vgl. Abb. 38). Sie sollten dem Betrachter die Dynamik vermitteln, die entstehen würde, wenn die Schlitten aus der Grube herausund in die Mittelstation hineingeschleudert würden. Alle diese Geräte sowie die Schornsteine und Kamine auf dem Dach der Installation sollten die Vorstellung erwecken, dass sich die Besucher des Wenkenparks vor einer Produktionsanlage befanden. An der Frontseite der Arbeit waren sieben Starttore installiert, wie man sie in ähnlicher Form auf Rennbahnen findet. Die nach vorne zu kippenden Türen standen in unterschiedlichen Positionen, um so den Moment anzudeuten, in dem die im Titel der Arbeit genannten Pferde losrennen. Schilde oder Blenden auf Schienen, die im Feld davor aufgereiht waren, konnten hin- und hergeschoben werden, um die imaginären „radioaktiven Pferde“ abzulenken oder, wie Oppenheim einmal anmerkte, um die losgesetzten unsichtbaren Kräfte oder Gedanken umzulenken. „Blinders“ hat im Englischen aber auch die Bedeutung von Scheuklappen. Hinter den Starttoren waren die „Detainers“, die Schilde zur Abschirmung, montiert, deren psychologische Bedeutung durch die Tatsache betont wird, dass Oppenheim sie zusammen mit den „Blinders“ im Titel der Arbeit erwähnt. Dennis Oppenheims Ziel war es, Prozesse in einer Weise zu veranschaulichen, dass sie ohne Beschreibung nachvollziehbar waren, dass der Eindruck von Bewegung entstand, auch wenn sich nichts bewegte. Die erste Visualisierung der geplanten Arbeit, die ich sah, war eine Polaroidaufnahme einer isometrischen Zeichnung der Anlage, die ich von Dennis per Post erhielt. Er schickte mir außerdem einen Stapel briefpapiergroßer Schwarzweißkopien eines Übersichtsplans und diverse Kopien, die Details mit Größenangaben zeigten, genug zum Berechnen der benötigten Materialien und Kosten, was nun meine Aufgabe war. Dennis war in planerischer Hinsicht sehr gut organisiert. Da er selbst eine Weile für seinen Vater auf Bauplätzen in Hawaii gearbeitet hatte, kannte er die Vorgehensweise und auch die baulichen Abläufe, auf jeden Fall waren seine Skizzen klar. Wir wussten, dass wir vor der Eröffnung nur drei Wochen Zeit hatten, um die Arbeit vor Ort im Wenkenpark zu realisieren. Das bedeutete, dass ich so viel wie nur möglich im Voraus vorbereiten und ein verlässliches Team organisieren musste. In einem Treffen mit Dennis wurden weitere Details geklärt, die sich aufgrund meiner detaillierten Planung ergaben: So wollte Dennis zum Beispiel keine sichtbaren Diagonal-Verstrebungen auf der Außenseite des Hauptrahmens, wie ich sie zunächst vorgeschlagen hatte. Um die Struktur zu stabilisierten, musste ich diese Elemente deshalb in den waagerechten Teil des Daches verlegen, so dass sie die optische Erscheinung nicht störten.

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40  Erste Arbeitsunterlagen (Polaroidaufnahme der Projektzeichnung).

Neben der Projektorganisation hatte ich nach allen Arten von Materialien zu suchen und diejenigen Teile zu identifizieren, die in einer Metallwerkstatt im Voraus produziert ­werden konnten, vorgefertigte Elemente wie Zylinder, Muldenauskleidungen, Tanks und Metallrahmen. Andrew Ginzel, ein Künstler und herausragender Schweißer, wurde aus New York eingeflogen. Wir hatten bereits bei Dennis’ großer Ausstellung im Pariser ­Musée

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41  Schwarzweißkopien der Skizze der Hauptstruktur mit Arbeitspuren von Dennis Oppenheim und Luigi Kurmann.

d’Art moderne de la Ville im Dezember 1979 zusammengearbeitet, die wir in zehn Tagen und Nächten realisierten. So konnte ich sicher sein, dass wir es in so kurzer Zeit schaffen würden. Die anderen im Team waren Freunde und junge Künstler aus Basel. Wir verwandelten den Ort – eine großzügig angelegte Grünflache im Park – in eine Produktionsstätte mit Metallkreissäge und Schutzgas-Schweißanlage. Während ich die Metallstangen, -profile und -rohre ablängte, schweißte sie Andrew zusammen. So entstanden die tragende Struktur und parallel dazu Rahmen und Unterkonstruktionen. In einem Raum in der sogenannten Reithalle wurden diese Träger dann weiterbearbeitet, mit Blech beschlagen verwandelten sich diese zu Trommeln, mit Draht-Gittern zu Toren. Blenden und Schutzschilde wurden genäht. Dennis kam nur eine Woche vor der Eröffnung in Basel an. Dies hatte auch zur Folge, dass ich für die Platzierung der Skulptur auf der vom Kurator Martin Schwander vorgesehenen Wiese verantwortlich war. Entgegen dem ersten Plan von Dennis habe ich die ganze Anlage um rund 180 Grad gedreht und so etwas näher an den Weg herangerückt, was den Schienen mit den darauf platzierten „Blinders“ mehr Raum gab. Die wichtigsten Argumente lieferten die Topografie des Geländes und die Besucherwege. Auf jeden Fall

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hat Dennis meinem Vorschlag ohne Weiteres aufgrund meiner Beschreibung der Situation via Telefon und Fax zugestimmt. Am Tag der Eröffnung des Skulpturenparks am 9. Mai war die Installation bis zu dem Punkt fertiggestellt, wie Dennis dies in seinen Zeichnungen vorgegeben hatte. Außerdem waren wir im Rahmen des Budgets. Dennoch war auch den Organisatoren der SkulpturenAusstellung klar, dass dies nicht die letzte Etappe war. Gleich nach seiner Ankunft hatte Dennis begonnen, neue Elemente zu entwerfen, um der Skulptur so gleichsam ein Innenleben zu verpassen. Tatsächlich haben wir die Arbeiten erst drei Wochen nach der Eröffnung abgeschlossen. Die Arbeit hat sich während dieser Zeit beträchtlich verändert. Vieles wurde vor Ort ausprobiert, Teile wurden abgeändert und auch ergänzt. Die beweglichen Elemente im Innern der Struktur wurden erst in diesem Stadium eingefügt (vgl. Abb. 39). Dennis hat diese Teile in einem Interview im Jahr 1981 als „a network of booby traps, short circuits, counter-launches, revolving mesh templates, detention and separating-screens“ beschrieben.4 Ganz oben auf dem Dach fügte er eine Art Gasverarbeitungseinheit hinzu sowie Tröge, die eine Verbindung zum unteren Teil der Struktur herstellten. Farbige Kabel – an Porzellan-Isolatoren am Dach befestigt – führten zu einer Telefonstange und von dort in den nahen Wald.5 Dennis wollte so die Vorstellung eines Kraftwerks verstärken. Zusammen mit dem Titel verweist die ganze Anlage auf ein nukleares Kraftwerk. Die Besucher der Ausstellung schienen dieses Konstruieren vor Ort zu mögen. Eine Ausnahme war der Bildhauer Max Bill, der den Kurator unmissverständlich aufforderte, seine Arbeit auf die andere Seite des Weges zu verschieben. Er mochte nicht auf der gleichen Wiese präsentiert werden wie dieser „Haufen rostiger Schrott“, wie er es nannte (vgl. Abb. 37). Dennis musste für die Ergänzungen zusätzliche finanzielle Mittel finden. Zum Glück kam ein paar Tage vor der Eröffnung Jean Tinguely mit seinem Assistenten auf unseren Werkplatz, um zu fragen, ob er für eine Reparatur seiner Installation im Teich des Gutshauses unsere Schweißanlage ausleihen könnte. Tinguely war in der Folge sehr unterstützend. Ich glaube, er mochte Dennis’ Werk nicht zuletzt wegen des Bricolage-Charakters. Als enger Freund der Familie Hoffmann-LaRoche ermöglichte er ein Treffen bei einem Mittagessen im Hause von Vera Oeri-Hoffmann. Um Dennis’ Projekt im Wenkenpark zu unterstützen, erwarb Vera Oeri wenig später vier große Zeichnungen für die HoffmannStiftung. Die Zeichnungen befinden sich heute im Museum für Gegenwart in Basel. Da von Anfang an klar war, dass der Standort für die Skulptur nicht permanent sein würde, suchten Dennis und Martin Schwander ein Museum, das die Arbeit übernehmen und neu installieren würde. Frans Haks, der Direktor des Groninger Museums, war sehr am Werk interessiert. Er sagte allerdings schließlich ab, weil er zu viele Schwierigkeiten erwartete. Er befürchtete, dass es für Besucher zu gefährlich wäre, da man ja in die Skulptur hineingehen sollte. Auch die fragile Struktur machte ihm Sorgen, da absehbar war, dass sie kontinuierlicher Pflege und Instandsetzung bedurfte. Dennoch kontaktierte er das Kröller-Müller Museum in Otterlo, das glücklicherweise bereit war, dem Werk in seinem

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Skulpturenpark ein neues Zuhause zu geben und für die Demontage und erneute Montage der Arbeit aufzukommen. Die Skulptur erhielt dadurch nicht nur ein zweites Leben, sondern auch ein neues Aussehen.

Kooperationen mit lokalen Handwerkern in Otterlo In Otterlo arbeiteten wir mit einer lokalen Schmiede zusammen. Während wir in Basel in einer Art Bricolage-Modus vorgingen, der es ermöglichte, die Dinge im Verlauf der Realisation ohne Aufwand zu modifizieren, wechselten wir nun zu einem mehr architektonischen Modus mit detaillierten Plänen für die Teile, die in Otterlo neu hinzukamen oder abgeändert wurden. Alle beweglichen Teile mussten überarbeitet werden, um das Werk dauerhafter zu machen. Bereits in Basel waren wir mit dem Problem konfrontiert, dass Besucher die Stabilität einzelner Elemente testeten oder sogar versuchten, an der Skulptur hochzuklettern. Wir mussten herausfinden, wie man dies verhindern konnte. In Otterlo vermieden wir die großmaschigen Gitter, die wir in Basel im unteren betretbaren Bereich für die Begrenzung des Labyrinthes genutzt hatten. Außerdem montierten wir Wellblech auf bestimmten Teilen des unteren ­Daches, so dass die Querstreben überdeckt waren und nicht mehr zum Hangeln animierten.

42  Planungsskizze von Luigi Kurmann, die im Prozess der Platzierung der neuen Aufbauten in Otterlo entstanden ist.

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43  Skizze von Dennis Oppenheim, die im Prozess der Realisierung neuer Einbauten in Otterlo entstanden ist.

44  Station for Detaining and Blinding Radio-active Horses, 1981–1982, Kröller-Müller Museum, Otterlo (Neues Detail).

Statt der Gitter-Abschrankung des Labyrinthes bauten wir auf meinen Vorschlag hin eng gestellte kleinere vertikale Dreieck-Elemente, die sich drehen ließen, an denen hochzuklettern aber schwierig war. Die meisten an Flaschenzüge und Gegengewichte erinnernden Elemente der Basler Version gab Dennis aus Wartungsgründen auf. Die Fallen und Tröge wurden durch eine einfachere und klarere Struktur ersetzt. Ein großes auf dem Dach platziertes, mittig gestütztes Metallrohr, das wie die Arme einer Balkenwaage funktionierte, hielt nun an einem Ende eine große „Bombe“ in der Luft, die als Gegengewicht für ein grobmaschiges Sieb am anderen Ende diente. Das Sieb selbst wurde durch eine riesige Spiralfeder zurückgehalten, die mit einem im Boden eingelassenen Auffangbecken verbunden war. Die Schienen für die Blenden, die vor den „Starttoren“ platziert waren, wurden jetzt auf Stützen gesetzt und erhöht über dem Boden montiert, da sich in Basel gezeigt hatte, dass sie sehr schnell vom Gras überwachsen und damit kaum mehr sichtbar waren. Die Schlitten und die gespannten Gummibänder ersetzte Dennis in Otterlo durch Schaukeln. Die Schlitten wurden auf Räder und in die Schaukeln hinein gesetzt, so dass sie sich, der Schwerkraft folgend, innen frei hin- und her bewegen konnten. Die wippenden Elemente erinnerten nun eher an eine Ölförderanlage. Das letzte Teil, das Dennis hinzufügte, war ein riesiges „Bohrwerkzeug“, das sich mit der „Förderschraube“ bereits in den Boden ein-

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45  Station for Detaining and Blinding Radio-active Horses, 1981–1982, Kröller-Müller Museum, Otterlo (Haupt­ struktur).

gegraben hat (vgl. Farbabbildung 14). Nachdem ich dem Leiter der für die Metallarbeiten zuständigen Schmiede Dennis’ Zeichnung gezeigt hatte, holte er die massive Förderspirale aus seinem Metalllager, und wir haben sie als Bohrkopf wiederverwertet. Die Veränderungen dienten einerseits dazu, die Konstruktion zu vereinfachen, sicherer und langlebiger zu machen: Die Haupt-Struktur wirkte nun geschlossener. Sie wurde selbst zu einer Art Anlage, die paradoxerweise auch der Abschirmung und der Kontrolle der möglichen Aktivitäten der Museumsbesucher diente. Andererseits wollte Dennis das Bild des Bergbaus und der Zirkulation von Materialien intensivieren, das die Anlage evozieren sollte. Während Dennis in Basel noch ganz konkret von Uran als Rohstoff gesprochen hatte, symbolisiert durch die Steine in den Schlitten, wurden die Verweise auf den Bergbau jetzt mit den „Schaukeln“ und dem „Bohrwerkzeug“ viel abstrakter. Interessant ist auch, dass er sich in Otterlo entschied, Kortenstahl zu verwenden. So konnte er den Verweis auf den Korrosionsprozess erhalten, der sonst durch die notwendig werdende Veredelung und Farbanstriche der ganzen Anlage in Otterlo verloren gegangen wäre: Im Laufe der Zeit bildete sich eine charakteristische Rostschicht. Der Korrosionsprozess war in der Basler Version jedoch bedeutend sichtbarer. Hinter der Arbeit Station for Detaining and Blinding Radio-active Horses steht die zentrale Idee, dass Radioaktivität nicht kontrolliert, dass ihre unsichtbaren Kräfte nur einge-

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dämmt und umgelenkt, aber nicht aufgehalten werden können. Aber es ist auch eine Arbeit über das Denken, und ich erinnere mich, dass wir an einem bestimmten Punkt über eine „Gedanken-Generator-Station“ gesprochen haben. Ich habe auch noch in Erinnerung, dass der zentrale Teil des Werkes einem auf dem Boden liegenden Kopf entsprechen sollte. Schon 1992 wurde die Installation wegen des hohen Aufwandes für den Unterhalt und des schlechten Zustandes des Werkes wieder demontiert und formell an den Künstler zurückgegeben. Ähnlich wie die Fotografien der Land-Art-Arbeiten, die gemacht wurden, nachdem das Werk fertiggestellt war, schuf Dennis nach der Vollendung seiner Werke große farbige Zeichnungen. Diese Zeichnungen halten nicht nur den endgültigen Zustand fest, den ein Werk erst im Laufe der Aufbauarbeiten erlangte, sondern sind oft auch das einzige künstlerische Zeugnis der Arbeit, weil die Beiträge für zeitlich begrenzte Außenprojekte heute nicht mehr existieren. Außerdem hat er diese Zeichnungen verkauft, meistens, um so neue Projekte zu finanzieren oder Finanzierungslücken zu stopfen. Es war bezeichnend für ihn, dass er immer ans Limit der finanziellen Möglichkeiten ging und oft darüber hinaus. Notfalls war er bereit, eigene Mittel einzuschießen, um eine Idee umzusetzen. Auch rechnete er nicht damit, diese Arbeiten an Sammler verkaufen zu können.

Die Fabrikation der Feuerwerksskulptur für die Fattoria di Celle in Santomato di Pistoia Eine Ausnahme bildet allerdings Formula Compound: A Combustion Chamber: An Exorcism from the Fireworks Series, 1982, die privat beauftragt und vollständig mit privaten Mitteln finanziert wurde. Es handelt sich um die technisch avancierteste Skulptur, die ich für Oppenheim realisiert habe. Sie gehört zur Serie der Feuerwerksmaschinen, die Oppenheim zwischen 1981 und 1984 im Innen- und Außenraum konzipierte, eine mit Feuerwerkskörpern bestückbare und durch deren Energie aktivierbare Vorrichtung. Sie ist die einzige Feuerwerksmaschine, die in Europa realisiert und auch voll funktionstüchtig gebaut wurde.6 In Santomato di Pistoia, einem kleinen Dorf zwischen Florenz und Pisa, begann Giuliano Gori, ein in Prato tätiger Besitzer eines Textilhandelsunternehmens, 1980 einen Skulpturenpark auf seinem Anwesen, genannt Villa Celle, einzurichten. Der Kurator des Skulpturenparkes war Amnon Barzel, der Gori die Projekte jeweils vorschlug. Bildhauer, die damals eingeladen wurden, vor Ort Werke zu schaffen, waren neben Dennis Oppenheim auch Alice Aycock, George Trakas, Robert Morris, Ulrich Rückriem und Richard Serra. Alice Aycock war ich zeitweise ebenfalls bei der Installation ihrer Arbeit in der Villa Celle behilflich. Dennis präsentierte seinen Vorschlag im Februar 1982. Gori war mit dem Projekt zufrieden; vor allem die Art und Weise, wie Dennis sich mit der Topografie befasste, überzeugte ihn: Er sah vor, auf einer ziemlich steil abfallenden Wald-Lichtung, die einen nach innen

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46  Dennis Oppenheim, Formula Compound: A Combustion Chamber: An Exorcism from the Fireworks Series, 1982, Fattoria Celle, Santomato di Pistoia.

geneigten Halbkreis um eine riesige Eiche bildete, eine etwa 50 Meter lange Maschinerie zu platzieren, deren Hauptteil links oberhalb der Eiche zu stehen kam.7 Nach einer Diskussion über die Erfordernisse des Unterhaltes der Anlage war klar, dass für Gori als Material für die

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Skulptur nur rostfreier Stahl in Frage kam, ein Material, das Dennis bisher nicht verwendet hatte. Es war das erste Mal in unserer Zusammenarbeit, dass Fragen nach der Beständigkeit und dem Zeithorizont, den die Werke überdauern sollten, in diesem Ausmaß mit dem Künstler diskutiert wurden und zu einer sichtbaren ästhetischen Veränderung seines Werkes führten. Bezeichnenderweise trat gerade hier zum einzigen Mal der Fall ein, dass Dennis ein Detail der Tragstruktur so missfiel, dass er es mit einem Blech überdecken ließ, eher zum Unmut der italienischen Metallarbeiter in Florenz, die, im Bewusstsein, ein Kunstwerk zu bauen, sich gerade bei diesen Teilen besonders viel Mühe gegeben hatten. Dennis ist Goris Wünschen nach Dauerhaftigkeit und Perfektionierung nur widerwillig gefolgt. Der Unterhalt eines mit Menning geschützten und lackierten Stahles wäre mit einem entsprechend hohen, wiederkehrenden Aufwand verbunden gewesen. Alle paar Jahre hätte die Skulptur neu gestrichen werden müssen, um sie zu erhalten. Da Gori ein unproblematisches Werk haben wollte, war er auch bereit, die wesentlich höheren Kosten für rostfreien Stahl zu tragen. Die Skulptur ist denn auch die einzige von mir realisierte Arbeit von Oppenheim im Freien, die heute noch existiert. Die Anlage wurde zunächst vollständig in einer Fabrikhalle in Florenz gebaut, zerlegt und dann vor Ort erneut montiert. Meine Arbeit bei diesem Projekt umfasste die technische Entwicklung und Berechnung der Konstruktion sowie der Fundamente, die Er­stellung von technischen Zeichnungen und die Leitung der Produktion wie auch der Montage. So gesehen ist es ein industriell gefertigtes Produkt, wenn auch das Maß an Detailplanungen weit geringer war, als dies etwa in der Schweiz oder Deutschland hätte der Fall sein müssen. Vieles wurde auch in diesem Fall im Laufe der Herstellung ad hoc entschieden.8 Manchmal geschah dies über Nacht. Wenn Oppenheim sein Projekt überarbeitete und Änderungen vornehmen wollte, gab er mir am anderen Morgen eine To-do-Liste, welche Elemente noch herzustellen, zu ändern oder zu entfernen waren (Farbabbildung 15). Als Reaktion auf die steile Hanglage des Geländes sind die meisten beweglichen Elemente dieser Feuerwerksmaschine so entworfen worden, dass sie sich frei über Grund bewegen konnten. Im Vergleich zu bisherigen Arbeiten spielte sich hier alles in der Luft ab. Von drei Seiten führen von Stützen ausgehende Kabel und Metallbänder in die zentrale Kammer, die „Brennkammer“, wie Dennis sie nannte. Gleiter oder Schlitten, die mit Leuchtraketen und Feuerwerkkörpern geladen werden können, sind auf Rollen an diesen Kabeln und Schienen befestigt. Sollte eine Zündung sie aktivieren, würde der Rückstoß der Leuchtraketen die Wagen oder „Spinner“ in Richtung Brennkammer treiben. Etwas verzögert würden die Raketen, die vorne in den Wagen steckten, entzündet und in die Brennkammer feuern, wo sie weitere Feuerwerkskörper zündeten und so weiter. Das ­Motiv der Kettenreaktion hat Oppenheim in mehreren Arbeiten genutzt, auch schon bei Station for Detaining and Blinding Radio-active Horses, in den Feuerwerksmaschinen aber wurde es zum vorherrschenden Prinzip. Die Grundidee war, eine Feuerwerksmaschine zu konstruieren, die einmal im Jahr in Betrieb gesetzt werden sollte. Oppenheim hatte diese Idee zuvor für die Stadt Genf ent-

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47  Skizze von Dennis Oppenheim für Formula Compound, wie er sie jeweils anfertigte, wenn wir Details besprachen. Links eine Skizze der „Brennkammer“.

48  Entwurfszeichnung von Dennis Oppenheim für die verschiedenen Arten von „Spinners“ für Celle.

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wickelt, wo die Feuerwerksmaschine Launching Structure #3 bei einem jährlich stattfindenden Volksfest hätte gezündet werden sollen. Für das Projekt habe ich im Wintersemester 1981/1982 mit Studenten der École supérieure d’art visuel (ESAV) ein Modell im Maßstab 1:5 gebaut.9 Der Maßstab des Modells war so groß angelegt, damit wir die Funktionstüchtigkeit einzelner motorbetriebener Aktivierungsmodule der Feuerwerksmaschine testen konnten. Realisiert wurde das Projekt in Genf jedoch letztlich nicht. Lange bevor das Modell der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, begann eine Kontroverse in der Stadt Genf.10 Nach einer ersten Ankündigung durch die Association pour un Musée d’art moderne (AMAM), dass Dennis der Stadt Genf eine Skulptur schenken würde, er hätte auf ein ­Honorar verzichtet, begann eine Partei am rechten Flügel, die sich „Vigilance“ nannte, eine Kampagne gegen die „Riesen-Raketen-Abschussrampe“ im Parc Bertrand. Als Ende Januar 1982 das Modell schließlich der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, ging die Debatte weiter, und es war klar, dass es nicht nur um Dennis’ Skulptur ging, sondern um eine allgemeine Kontroverse über zeitgenössische Kunst: „Ce cadeau n’a rien d’une oeuvre d’art“, oder „Un snobisme qui coûte deux millions“ versus „Une cathédrale du 20ème siècle“ oder „Genève et sa Tour Eiffel“ waren einige der Schlagzeilen. Zu dieser Zeit nahm Oppenheim an vielen Wettbewerben teil, vor allem in den USA. Damals hat er die oben beschriebene Arbeitsweise mit Modulen noch forciert, da die ­Maschinen zu einer mit Feuerwerkskörpern aktivierbaren Vorrichtung wurden und ­dadurch die Performance im Vordergrund stand. Die Arbeit für die Fattoria Celle geht auf einen bereits vorhandenen Entwurf für Oakland, California zurück, den er an das Gelände anpasste.11 Der ursprüngliche Entwurf wurde quasi spiegelverkehrt realisiert, jedoch hat er ihn wie üblich weiterentwickelt. Die im gleichen Jahr von der Organisation Creative Time temporär für die Ausstellung Art on the Beach im Battery Park Landfill, New York gebaute Formula Compound #1: A Combustion Chamber: An Exorcism, 1982, ist eine wesentlich kleinere Version der Arbeit in Celle, mit weniger, vereinfachten, aber klar an die Arbeit in Celle anschließenden Abschusseinrichtungen. Für Launching Structure #2, die Dennis für die Bonlow Gallery in Soho, New York konzipierte, zeigte, verwendete er einige motorbetriebene Module, die er für das Genfer Projekt entworfen hatte und die wir für das Modell gebaut und auch zum Teil mit Feuerwerk bestückt und im Hof der Hochschule getestet hatten. Aus der Arbeit für Celle verwendete er die an hängenden Metallbändern gleitenden Schlitten. Im Unterschied zum Genfer Entwurf verzichtete Dennis in Celle auf motorbetriebene Elemente, was den damit verbundenen größeren technischen Schwierigkeiten und den Kosten geschuldet war. Mit Feuerwerk eine Kettenreaktion zu konstruieren ist verhältnismäßig einfach, da ein Funke genügt, das nächste Paket zu entzünden; sie zu kontrollieren ist die Herausforderung. Deshalb entwarf Dennis Gleiter und Schlitten, die auf vorgegebenen Bahnen eine gewisse Kontrolle über das Geschehen ermöglichten. Eine wirklich funktionstüchtige Maschine zu bauen und nicht nur Prozesse gleichsam metaphorisch zu visualisieren, diesem Ziel ist Dennis mit den Feuerwerksmaschinen am nächsten gekommen.

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49  Studie für Formula Compound (From the Fireworks Series), Projekt for Oakland California, 1982.

Noch während der Bauphase in Celle, am 27. Mai 1982, hatte Dennis in der Bonlow Gallery in New York die Skulptur Launching Structure #2 vor der Presse aktiviert, was nach kurzer Zeit und vielen Schreckminuten im Feuerregen mit dem Einsatz der Feuerwehr endete.

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50  Planzeichnung von Luigi Kurmann für die Platzierung von Formula Compound im Gelände mit einer Notiz des Werkstattleiters.

Dagegen wurde die US-amerikanische Version Formula Compound #1: A Combustion Chamber: An Exorcism, 1982 am 10. Juli 1982 im Rahmen von Art on the Beach, Battery Park Landfill in New York erfolgreich in Aktion gesetzt. In Europa wurde keine der Feuerwerkarbeiten aktiviert. In den Ausstellungen im Innenraum war das nicht erlaubt. Eine Aktivierung der Feuerwerksmaschine in Santomato wurde diskutiert und wäre, obwohl sie sich in einem Naturschutzgebiet befand, unter Auflagen sogar möglich gewesen. Doch Gori fürchtete zu hohe Kosten, da jeweils während einer Woche eine Feuerwache für den Park nötig geworden wäre. Dennis war jedoch mehr daran interessiert, das kreative, imaginäre Potenzial seiner Skulpturen zu ergründen und zu erweitern. Für ihn war das Problem der mangelnden Kontrolle über einen anderen Geist, das in der Arbeit angesprochen wird, bereits im Namen des Ortes präsent. „Santomato“ bezieht sich auf Franziskus von Assisi, der mit Tieren gesprochen haben soll, und bedeutet schlicht „verrückter Heiliger“ (Santo Mato).

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Formula Compound: A Combustion Chamber: An Exorcism wurde zur Kunst produ­ zierenden Maschine weiterentwickelt. Dennis war es wichtig, dies auch optisch sichtbar und funktionell nachvollziehbar zu machen. In der sogenannten Brennkammer wurden bewegliche, rotierbare und kippbare Kupferplatten in Rahmen installiert. Die aktivierten Feuerwerkskörper hätten durch den Aufprall Flecken und Markierungen auf diesen Platten erzeugt. Die Spuren der in Gang gesetzten Skulptur hätten nach erfolgter Aktion ­demontiert und als Druckplatten für Radierungen dienen können. In einem Interview betonte Dennis, dass seine Maschinen-Arbeiten immer auch auf die Denkprozesse verwiesen, die als Idee hinter dieser Kunst stünden: „I see the art process, like the machine process, as operating with an energy flash as the mind does when producing an idea“,12 und „the ‚Fireworks‘ pieces were an attempt to situate this high energy. A rocket [...] is not a weapon. It moves. It makes a line. It’s like a pencil. But it’s also transactional in that it can hit another line [...]. It was a more dynamic kind of pencil.“13 Damit wäre die Ästhetik dieser von einer Maschine hergestellten Kunstwerke außerhalb der Kontrolle des Künstlers gewesen. Es scheint diese Idee des Kontrollverlustes zu sein, die Oppenheim mit seinem neuen Konzept der Skulptur als Handlungsträger untersuchen wollte. Jedenfalls hat Dennis von der physischen Kraft der aktivierten Feuerwerksmaschine und den anschließenden Diskussionen mit den Journalisten nach der Aktivierung in der­ Banlow Gallery begeistert berichtet, aber auch das bedrohliche Moment der Aktion ­thematisiert. Vor allem erinnere ich mich aber, dass es ihm um den Versuch ging, die Produktion von Ideen und deren Komplexität zu visualisieren, aber auch deren Widersprüchlichkeit. Die letzte temporär realisierte und am 1. August 1984 aktivierte Feuerwerksmaschine Newton Discovering Gravity, 1984 im Artpark, Levinston, New York verbindet nun die stilisierte Form eines Kopfes – ähnlich wie in Basel – mit der Dynamik und Unkontrollierbarkeit von Gedanken, wenn wie in dieser Arbeit aus einem stilisierten Kopf nun Feuerwerkskörper wie Geistesblitze schießen. Leider war ich bei keiner der Aktivierungen anwesend, aber aufgrund unseres Tests in Genf konnte ich mir die Wirkung gut vorstellen. Die Veränderung der institutionellen Rahmenbedingungen während meiner Arbeit für Dennis hat zu unterschiedlichen Produktionsformen geführt. Diese haben das Aussehen seiner Arbeiten maßgeblich beeinflusst. Eine Arbeit wie die im Park der Villa Celle wäre im öffentlichen Raum nur mit großer Mühe zustande gekommen. Die in Genf Verantwortlichen haben versucht, mit dem Verweis auf das Geschenk und ein jährlich stattfindendes Volksfest die Genfer Bürger zu gewinnen, sind letztlich aber am Widerstand der Anwohner gescheitert, die keine als Kunst deklarierte, hochtechnische Feuerwerkrampe in ihrem Park haben wollten. Auch wären die Produktions- und Aktivierungskosten an diesem Ort sehr viel höher gewesen, da die Sicherheitsanforderungen im öffentlichen Raum strikter sind. Die Arbeiten der Fireworks Series, die Oppenheim in den USA realisieren konnte, sind alle im geschützten Rahmen eines Kunstparks entstanden und auch nur temporär realisiert worden.

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In Berlin konnte ich für Dennis 1985 im Britzer Garten im Rahmen der BUGA, der ­Bundesgarten- und Landschaftsausstellung, ein letztes Skulpturen-Projekt in Europa verwirklichen. 2011 wurde die Arbeit ohne Vorwarnung abgerissen. Selbst das OppenheimStudio, das nach Dennis‘ Tod seine Interessen vertritt, wurde nicht informiert. Die Skulptur, die in den ganzen sechsundzwanzig Jahren nie gewartet wurde, hätte durchaus instandgesetzt werden können. Es fehlte jedoch der Wille, den finanziellen Aufwand ­dafür zu erbringen, und die Verantwortlichen entledigten sich lediglich eines „Problems“, da sich zu diesem Zeitpunkt niemand mehr für die Skulptur in einem Erholungspark interessierte. Die finanziellen Auswirkungen der Ölpreiskrise von 1979/1980 hatten zur Folge, dass ab 1984 die Haushalte der Kulturinstitutionen schrumpften und diese Art von Großprojekten im Freien für viele Jahre unmöglich zu realisieren waren. Aufgrund dieser Umstände beschloss Dennis Oppenheim eine Auszeit zu nehmen. Ermöglicht hat ihm dies auch der US-amerikanische Unterhaltungskonzern Warner Communications, der ihm zu diesem Zeitpunkt einen Pauschalbetrag anbot für zehn Werke und zusätzlich eine Entschädigung für den Aufwand, den er hatte, um diese Werke zu produzieren. Dennis war frei, fünf Museumssammlungen in den USA und fünf in Europa zu wählen, die dann diese Werke als Geschenk erhalten sollten. So erhielt zum Beispiel das Kröller-Müller Museum in Otterlo in den Niederlanden Land Crab und ein weiteres Machine Work als Geschenk.14 Dadurch haben einige der Arbeiten, die für Innenräumen realisiert worden sind, überdauert; vor allem die ersten Arbeiten, die ich 1979 mit Kristin Jones und Andrew Ginzel für das Musée d’Art moderne de la Ville de Paris realisiert habe, weil das Museum in Paris genügend Platz hatte, diese etliche Jahre aufzubewahren, sowie Revenge (heute Kunsthaus Zürich), Saturn Up-Draft (Wexner Center for the Arts, Columbus Ohio), The Switchman’s Dilemma – the Raw and the Cooked (CAPC musée d’art contemporain de Bordeaux). Infolge dieser Auszeit endete auch unsere Zusammenarbeit, die sich im Verlaufe von sechs Jahren zu einem eingespielten Zusammenwirken entwickelt hatte. Geteilte Arbeit umschreibt dies meiner Meinung nach recht zutreffend. Da der Weg zum Werk nicht vorgegeben war und die Prozesse des Entwerfens und des Herstellens nie klar voneinander getrennt werden konnten, war der Grad des Zusammenspiels hoch. Man könnte rückblickend sogar versucht sein, von einer Kollaboration zu sprechen. Diese Sicht widerspricht jedoch der klaren Trennung, die immer gegeben war zwischen der künstlerischen Arbeit Oppenheims, seinen Entwürfen, und meinem Beitrag, der technischen Beratung und der Realisierung der Skulpturen.

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Anmerkungen Herzlich danken möchte ich Iris Wien, meiner Frau, für die Anregung zu dieser eingehenden Auseinandersetzung mit meiner Zusammenarbeit mit Oppenheim, die mit einem Vortrag am Henry Moore Institute in Leeds begann. Ohne die eingehenden Gespräche und ihr Insistieren wäre diese nicht in dieser Form zustande gekommen. Danken möchte ich auch den Herausgeberinnen für die Möglichkeit, diesen Text mit ihnen zu diskutieren, und für ihre kritischen Anmerkungen.   1 Ich war für Ammann von 1974–1977 im Kunstmuseum Luzern als Assistent tätig und habe mit ihm 1978 an die Kunsthalle Basel gewechselt.   2 Die Rauminstallation war ein 1:1-Modell für ein Außenprojekt. Hier wären die Tontauben durch zwei gleich lange, unter Bodenniveau liegende Beton-Tunnels, jeweils etwa 23 Meter lang und mit einem Durchmesser von 3,6 Metern, abgefeuert worden. Der einzige sichtbare Teil der ganzen Anlage wäre der obere Teil des Rades gewesen. Nur an diesem Punkt hätten die Betrachter die Kollision der zwei Tontauben verfolgen bzw. „scannen“ können.   3 Dennis Oppenheim, Kunstwerke sollen physisch wirken, Interview von Bice Curiger, in: Basler Magazin 22, 2. Juni 1979, S. 7.   4 Germano Celant, Dennis Oppenheim. Explorations, Milano 2001, S. 234.   5 Die farbigen „Kabel“ waren grobe Wäscheleinen, Dennis hatte sie in einem Eisenwarenladen in Basel entdeckt und wollte sie unbedingt verwenden. Die Telefonstange jedoch war authentisch. Ich hatte das aussortierte Exemplar vom Werkhof der Stadt Riehen organisiert.   6 Das weitaus größte Projekt der Serie, das Dennis für die Stadt Genf entworfen hat, wurde nur als Modell realisiert und befindet sich heute noch in der Collection du Fonds d’art contemporain de la Ville de Genève.   7 Dieser Baum wurde leider von einem schweren Sturm im Jahr 2005 gefällt und liegt, wie man selbst auf Google Maps sehen kann, heute abgestorben neben der Skulptur.   8 Da formell keine statische Prüfung vorgeschrieben war, gab es bei der Ausführung keine planerische Beschränkung.   9 Im bewährten erweiterten Bricolage-Verfahren, auch mit dem mir aus meiner Jugend vertrauten technischen Baukasten Stokys, dessen Metallteile die richtigen Größen aufwiesen. Möglich wurde die Zusammenarbeit durch einen Lehrauftrag an der École supérieure d’art visuel, einem Institut der Universität Genf. 10 Vgl. Dennis Oppenheim, Kat. AMAM (Association pour un Musée d’art moderne) und Galerie Eric Franck, Genève 1984. 11 Ortsspezifik war immer ein schlagendes Argument. Da Oppenheim mit seinen Arbeiten immer bestimmte Ideen umzusetzen versuchte, die er kontinuierlich weiterverfolgte, konnte er für den jeweils aktuellen Ort ein ortsspezifisches Arrangement mit seinen Modulen entwerfen. 12 Germano Celant 2001 (Anm. 6), S. 231. 13 Interview mit Dennis Oppenheim von S. Boettger, Juli–August 1995, Archives of American Art, Smithsonian Institution, Washington 1995, https://www.aaa.si.edu/download_pdf_transcript/ ajax?record_id=edanmdm-AAADCD_oh_215885 [zuletzt aufgerufen 21. November 2019]. 14 Ein Geschenk mit Folgekosten, da ich die mechanischen Teile auch bei diesen Arbeiten überarbeiten musste, um sie dauerhaft zu machen.

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Hanna Baro

Von Künstlern und Kollaborateuren Das Beispiel der Kunstgiesserei St. Gallen

Felix Lehner, Leiter der Kunstgiesserei in St. Gallen, beurteilt seinen Anteil an der Produktion eines Kunstwerkes – wenig erstaunlich, aber dennoch bemerkenswert – als Mitarbeit, wenn er sagt: „Wir sind keine Künstler, höchstens Kollaborateure“.1 Wenig erstaunlich, da er damit tradierten (europäischen) Vorstellungen von Kunst folgt, die im Entwurf und der Formfindung den ‚eigentlichen’ kreativ-künstlerischen Akt erkennen, die Ausführung hingegen in den Bereich des ‚Kunsthandwerklichen’ verweisen. Bemerkenswert, da er anstelle von Begriffen wie ‚Umsetzer’, ‚Handwerker’ oder ‚Ausführender’ das Wort des ‚Kollaborateurs’ verwendet und damit anzeigt, dass seinem Verständnis nach die Werkgenese doch mehr enthält als die rein formale Lösung und dass die kunsttechnische ­Ausführung und das Arbeiten im Material als „Mitarbeit“ am Kunstwerk verstanden und damit aufgewertet werden muss. Diese Kollaboration zwischen Künstlern und Kunsthandwerkern soll im Folgenden anhand der Kunstgiesserei St. Gallen näher vorgestellt werden. Das Reich des Kunstgiessers Felix Lehner befindet sich in den westlichen Ausläufern St. Gallens: von der schmalen Sittertalstrasse aus fällt der Blick auf das gleichnamige kleine Tal, in dem sich eine Ansammlung fabrikähnlicher Gebäude sowie ein imposanter Schornstein ausmachen lassen. Dieses Areal bietet ein nahezu einzigartiges Zusammenspiel an Möglichkeiten für Künstler und Kunstschaffende, Wissenschaftler und Forscher, die es auf den folgenden Seiten zu erkunden und auszuloten gilt. Felix Lehner, ursprünglich gelernter Buchhändler, verantwortet mit der Kunstgiesserei St. Gallen und der Stiftung Sitterwerk ein Zentrum für Kunst und Produktion. Denn auf dem gerade einmal einige wenige hundert Quadratmeter großen und idyllisch in einer Flussbiegung der Sitter gelegenen ehemaligen Industrieareal, in dem noch bis in die 1980er Jahre eine Textilfärberei aktiv war, befinden sich neben der Giesserei noch eine Kunstbibliothek (inklusive Gästezimmer), ein Werkstoffarchiv, das ehemalige Kesselhaus, welches heute als Galerie und Ausstellungsort des Schweizer Bildhauers Hans Josephsohn fungiert, und ein Fotolabor. Zusätzlich existiert ein Atelierhaus, in dessen zwei Künstlerateliers regelmäßig Gastkünstler residieren, um vor Ort zu recherchieren oder auch um ihre Werke zu planen und/oder zu reali­ sieren.2 So zum Beispiel der Kanadier Geoffrey Farmer, der im Sommer 2016 während ­eines mehrwöchigen Aufenthalts seinen Auftritt im kanadischen Pavillon auf der Biennale di Venezia 2017 vorbereitete. Lehner selbst wohnt gemeinsam mit seiner Frau, der Foto­

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grafin und Künstlerin Katalin Deér, nur wenige Meter vom Schmelzofen entfernt auf dem Dach des Kesselhauses. Dort hat er sich ein ehemaliges Schnellrestaurant der Architekten Annette Gigon und Mike Guyer, welches eines Tages in Luzern zum Verkauf stand und von Lehner nach St. Gallen transferiert wurde, zum privaten Wohnraum umfunktionieren lassen.3 Die wohnliche Nähe Lehners zu seiner Giesserei ist emblematisch für die starke und enge Bindung, die er zu dieser Arbeits- und Wirkungsstätte hat.4 Der folgende Beitrag soll einen kurzen Einblick in die einzelnen ‚Bausteine‘ geben, aus denen sich dieses „Kunstkraftwerk“5 im Sittertal zusammensetzt und die enger mitein­ ander verzahnt sind, als es auf den ersten Anschein vermuten mag. „Denkfabrik“6, „Kultur-ort am Fluss“7, „Denk- und Entwicklungsort“8, oder auch „Kompetenzzentrum“9, „Kreativlaboratorium“10 und auch „Wunderkammer der Kunst“11 sind weitere Bezeichnungen, die immer wieder in Verbindung mit Kunstgiesserei und Sitterwerk fallen und die allesamt mehr als geeignet scheinen für dieses höchst ungewöhnliche Konglomerat in dem kleinen, beschaulichen Tal.

Die Geschichte der Kunstgiesserei St. Gallen und der Stiftung Sitterwerk Mit gerade einmal 22 Jahren und nach nur eineinhalb Jahren Kunstgießerlehre gründete Felix Lehner in den 1980er Jahren seine eigene Gießerei in Beinwil am See. Knapp zehn Jahre später zog er 1994 mitsamt der Gießerei in die Hallen der ehemaligen Färberfabrik Sittertal und vergrößerte seinen Betrieb stetig. Mittlerweile arbeiten zwischen fünfzig und sechzig Mitarbeiter in der Kunstgiesserei; darunter finden sich viele unterschiedliche Berufszweige wie zum Beispiel Metallbauer, Grafiker, Steinmetze, Steinbildhauer, Schreiner, Kunstgießer, Polymechaniker, Architekten, Farbdesigner, Modellbauer, Restauratoren und viele mehr. Darüber hinaus werden regelmäßig Lehrlinge in den eigenen Werkstätten ausgebildet. Aus den Interessen Lehners und den Projekten der Kunstgiesserei heraus entstanden nach und nach weitere Bereiche wie die Kunstbibliothek, das Werkstoffarchiv, das Atelierhaus und das Kesselhaus Josephsohn. Um die nicht kommerziellen Bereiche zu vereinen und zu stärken, wurde 2006 von Felix Lehner gemeinsam mit Hans Jörg Schmid und Daniel Rohner die Stiftung Sitterwerk ins Leben gerufen.12 Erklärtes Ziel der Stiftung Sitterwerk ist das Aufeinandertreffen und Zusammenkommen von Handwerkern, Künstlern, Forschern und Wissenschaftlern und der daraus resultierende Austausch untereinander. Aufgrund der immer zahlreicher und größer werdenden Aufträge an die Kunstgiesserei beschloss Lehner 2012 eine Tochtergesellschaft in Shanghai zu eröffnen, die Kunstgiesserei St. Gallen (Shanghai). In der dortigen Niederlassung werden verschiedenste Techniken angeboten, vom klassischen Bronzeguss bis hin zu Treibarbeiten in Chromstahl. Auch werden in Shanghai Werke gefertigt, die für die Räumlichkeiten im Sittertal zu groß sind. So zum Beispiel etwa Untitled (Big Clay #3) des in New York lebenden und in der Schweiz

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51  Blick in das Sittertal mit Kunstgiesserei St. Gallen und Einrichtungen der Stiftung Sitterwerk.

52  Eingang zur Kunstbibliothek mit Kesselhaus Josephsohn im Hintergrund und Felix Lehners und Katalin Deérs Wohn-Pavillon auf dem Dach.

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53  Das Team der Kunstgiesserei St. Gallen, Aufnahme 2018.

geborenen Künstlers Urs Fischer, auf das später noch näher eingegangen wird. Manche der Errungenschaften verblüffen Lehner auch heute noch selbst, so etwa die Tatsache der eigenen Energiegewinnung mittels großer Turbinen vor Ort, die noch aus der Zeit der Textilfärberei stammen: „Dass wir in unserer Giesserei mit der Energie aus dem kalten Sitterwasser das Metall schmelzen können, fasziniert mich immer wieder“13. Kunstgießereien existieren zuhauf, und auch modernere Produktionsstätten, in denen zeitgenössische Künstler ihre teils sehr komplexen und überdimensionalen Werke anfer­ tigen lassen, gibt es viele.14 Besonders seit den 1990er Jahren entstanden aufgrund der Nachfrage von Künstlern und Ausstellungsmachern nach Produktionsstätten, in denen großformatige Werke hergestellt werden konnten, zahlreiche Institutionen: die Werkstatt Kollerschlag in Österreich, die Firmen mixedmedia und SculptureBerlin in Deutschland, Kunstbetrieb AG Münchenstein in der Schweiz oder auch Marco della Torre und Pier ­Vincenco Rinaldi in Italien, das Mike Smith Studio in London oder Ted Lawson mit prototype NY in New York, um nur einige zu nennen. Besonders in Italien hat sich nur hundert Kilometer von Florenz entfernt im kleinen Ort Pietrasanta, nahe den Marmorsteinbrüchen Carraras, eine hohe Dichte sehr gut ausgebildeter Kunstgießer, Steinmetze und Produk­ tionswerkstätten angesiedelt.15 Die Kunstgiesserei St.  Gallen jedoch ist aufgrund der

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54  Felix Lehner (Mitte) und Mitarbeiter beim Bronzeguss in der Kunstgiesserei St. Gallen.

­Kreativität, Neugierde und Offenheit für Neues sowie der Experimentierfreude von Felix Lehner und seinen Mitarbeitern, gekoppelt mit der Anbindung an die Stiftung Sitterwerk und den aus der Kunstgiesserei und deren Arbeit entstandenen Initiativen (Werkstoff­ archiv, Kunstbibliothek etc.), wahrscheinlich einzigartig. Allein in der Kombination von Biblio­thek und Werkstatt, von Materialforschung und Kunstproduktion zeigt sich das besondere Verständnis des Ortes, der sich nicht rein als ausführender Handwerksbetrieb entwirft. Bedeutsam aber ist, dass ebenso wenig – wie das oben genannte Zitat anschaulich zeigt – ein künstlerischer Status erlangt werden soll, also die Kunstgiesserei St. Gallen nicht anstrebt, die Künstler aus dem Prozess auszuschließen. Vielmehr geht es darum, den Anteil der handwerklichen, der ausführenden Seite der Kunsttechnik des Metallgießens zu betonen. Dazu zählen sowohl das Wissen über die unterschiedlichen Materialien, die Kenntnis unterschiedlicher Produkte von Gießprozessen, der Aufbau eines Werkstoffarchivs, um dieses Wissen zu protokollieren und vermittelbar zu machen, sowie die Schaffung eines Ortes, an dem Künstler und Kunsthandwerker gemeinsam an formalen Lösungen arbeiten. Die Kenntnis des traditionellen Kunstgießerhandwerks ist eine wichtige Grundlage dieses Projektes, trifft aber gleichzeitig auf ein unbändiges Interesse an technologischen Innovationen, Materialexperimenten und generell dem Ausloten neuer Wege in der Produktion von zeitgenössischen Kunstwerken und der Umsetzung künstlerischer Ideen. ­Lehner und seine Mitarbeiter werden zuweilen als „nicht nur Tüftler, sondern auch Materialfetischisten und zugleich Sammler aussterbender Handwerkstechniken und Maschinen“ beschrieben.16 Aus diesem Grund wenden sich viele namhafte zeitgenössische Künstler aus aller Welt an Felix Lehner und sein Team, wenn es um komplexe Umsetzungen ihrer Arbeiten und Ideen geht. Dabei spielen aber nicht nur die Expertise der Gießerei-Mitarbeiter und das

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ausgeklügelte Equipment vor Ort eine entscheidende Rolle, sondern auch die besondere Atmosphäre in der Kunstgiesserei St. Gallen und der Stiftung Sitterwerk. Für Künstler, die ihren Entwurf nicht einfach an eine ausführende Werkstatt delegieren, sondern selbst am Werkprozess teilhaben wollen beziehungsweise vom Materialwissen und der Kenntnis kunsttechnologischer Verfahren für die eigene Arbeit profitieren, bieten Kunstgiesserei und Sitterwerk somit einen idealen Wirkungsort an. Der indische Künstler Subodh Gupta zählt zu ihnen: „Das Know-how und die Atmosphäre hier sind einmalig. Es gibt sogar ein Hochgeschwindigkeits-Fräszentrum und einen Fräsroboter. Für meine Installation Black and White wurden damit zwei Deckenventilatoren in Polyurethanschaum gefräst, mit ­Epoxylaminat und Glasfaser laminiert und geschliffen und schließlich in Schwarz und Weiß gespritzt.“17

Kunstgießer oder Künstler? Bekanntermaßen ist die Bronzeplastik eine der Kunstgattungen, bei denen sich Entwurf und Ausführung meist getrennt voneinander ereignen: Dies bedeutet, dass sowohl von Seiten einer Kunsttheorie, die im disegno die eigentliche künstlerische Seite sieht, als auch von Seiten der kunsttechnischen Praxis häufig der ausführenden Bronzewerkstatt eine unwichtige, rein mechanisch-technisch umsetzende Rolle innerhalb des Werkprozesses zugestanden wird. Von zahlreichen Künstlern der frühen Neuzeit wissen wir, dass sie den finalen Guss ihrer Werke in Bronze anderen überließen und teilweise nicht einmal beim Prozess des Gießens anwesend waren oder diesen überwachten. So heißt es, dass Donatello niemals selbst gegossen hat, dass Antonio Lombardo lokale Glockengießer in Padua mit der Ausführung seiner Werke beauftragte und Jacopo Sansovino für seine Bronzen in Venedig Experten heranzog. Nicht einmal Leonardo da Vinci, argumentiert Michael Cole in dem Kapitel „Casting, Blood, and Bronze“ seiner Ausführungen über Benvenuto Cellinis Skulpturen, versuchte sich an dem Guss seiner Werke und schickte Ludovico Sforza nach Florenz, um Hilfe für den Bronzeguss zu beschaffen. „As a rule, sculptors were not casters [...]“18, konstatiert Cole. Eine große Ausnahme stellte hier Benvenuto Cellini dar, von dem wir eine akribische Dokumentation und Verschriftlichung des Gussprozesses seines berühmtesten Werkes überliefert haben, des bronzenen Perseus in Florenz. Cellini wird nicht müde, in seinen Schriften zu betonen, dass er dieses Werk eigenständig und ohne jede fremde Hilfe goss, auch wenn dies von der Forschung stark angezweifelt und widerlegt wird.19 Giambologna, der später in diesem Beitrag noch eine Rolle spielen wird, unterhielt kurz nach Cellini eine umfangreiche Werkstatt in Florenz, aus der eine große Zahl an Werken, darunter zahlreiche klein- und großformatige Bronzefiguren, hervorging. Diese von Charles Avery als „sculptural production line“20 umschriebene Werkstattproduktion umfasste natürlich Gehilfen, die an den Arbeitsschritten beteiligt waren und die technischen Ausführungen teils auch selbstständig vornahmen.

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Ähnlich wie Cellini inszenierte sich Medardo Rosso im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert als Künstler, der – je nach Bedarf – seine vormals in Wachs, Gips oder Ton gearbeiteten Werke selbst in Bronze goss. Ganz anders verfuhr sein Zeitgenosse Auguste Rodin, der bekannt dafür war, eine „professionelle arbeitsteilige Großwerkstatt“ zu führen, die „zu einer regelrechten Reproduktionsmanufaktur“21 wurde. Nicht nur den Bronzeguss überließ Rodin anderen, sondern auch die weitere Ausführung seiner in Ton oder Gips hergestellten Modelle in Marmor wurde an eigens dafür vorgesehene und spezialisierte Assistenten delegiert. Bei Rodin tritt die für das 19. Jahrhundert charakteristische Arbeitsteilung wie bei kaum einem anderen Künstler dieser Zeit hervor. Auch der Inhaber der Kunstgiesserei St. Gallen, Felix Lehner, wird häufig mit der Frage konfrontiert, ob er sich selbst denn als Künstler sehe. Darauf Bezug nehmend, antwortet er: Nein. Als Jugendlicher hatte ich vielleicht diesen Traum. In der Rolle des Kunstgiessers ist es für mich persönlich nicht möglich, einem Künstler ebenfalls als Künstler zu begegnen. Das heisst aber nicht, dass wir nicht wesentlich am Kunstwerk mitbeteiligt sind und in künstlerischen Kategorien mitdenken. Wir sind keine Künstler, höchstens Kollaborateure.22

Bei manch anderen Kunstproduzenten sind die Grenzen zwischen Künstler und Hersteller sicherlich fließender, wie Glenn Adamson und Julia Bryan-Wilson im Kapitel Fabricating in ihrer Studie Art in the Making von 2016 konstatieren: „the boundary between fabricator and artist is a permeable one.“23 Sie nennen einige Beispiele aus England, in denen Mitarbeiter von Kunstgießereien gleichzeitig auch eine künstlerische Karriere verfolgen und/ oder als Künstler begonnen hatten, bevor sie anfingen in größeren Betrieben für andere Künstler an deren Produktionen mitzuarbeiten. So zum Beispiel auch Londons bekanntester Kunstproduzent Mike Smith, der einst Teil der aufstrebenden Künstlergeneration der Young British Artists war. Smith absolvierte eine klassische Kunstausbildung am Camberwell College of Arts in London, wo er bis 1989 Malerei studierte. Bereits während seines Studiums und auch danach assistierte er anderen Künstlern bei deren Produktionen, so etwa Damien Hirst, Edward Allington, Angus Fairhurst oder auch Anya Gallaccio.24 Nach dem Moment gefragt, wann er sich entschied, nicht weiter als Künstler, sondern mit Künstlern zu arbeiten, antwortet Smith: It really occurred when I decided that working with other artists rather than working on my own work would essentially offer me more opportunities to produce a greater variety of things and would challenge me more mentally. The challenge of actually figuring out how to make something or how to realise an idea was actually much more interesting to me than working by myself and making things for myself.25

Lehner jedoch sieht sich, wie bereits erwähnt, als Kollaborateur der Künstler. Die Freude am Experimentieren, dem ‚forschenden Arbeiten‘ und Ausprobieren von Materialien und

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Techniken, die er und sein Team sichtlich haben, erkennt man auch an den kleinen, eher unspektakulären und wenig publikumswirksamen Unternehmungen wie etwa seinem „Experiment zu antiken Reparatur- und Schweißtechniken“ im Rahmen eines Forschungsprojektes zum sogenannten Xantener Knaben.26 In einer „Laboranordnung“ in der Kunstgiesserei St. Gallen versuchten sich Felix Lehner und Sebastian Rossmann an antiken Verfahren im Bronzeguss, um zur wissenschaftlichen Erkenntnis der Herstellungsprozesse dieser 1858 aus dem Flussbett des Rheins bei Xanten/Lüttingen geborgenen Bronze aus dem 2.–1.  Jahrhundert vor Christus beizutragen. In verschiedenen Experimenten und ­Versuchen zu den antiken Fügeverfahren und dem Angusschweißen im Bronzeguss wurden „Methoden und Materialien angewendet, die den belegten Möglichkeiten antiker Gießereibetriebe entsprachen“ und, so Lehner und Rossmann in ihren Ausführungen ­weiter, „lediglich das Aufschmelzen der Bronze erfolgte im neuzeitlichen Ofen“27. Lehner und Rossmann führten drei Versuche unter gleichen Bedingungen, aber mit unterschiedlichen Formmaterialien durch: erstens mit einem Gips-Ziegelsand-Gemisch (Gipsschamotte), dann mit einem dem antiken Skulpturenguss angelehnten Gemisch aus sandhaltigem, gemagertem Ton mit zugesetzten Tierhaaren und drittens ein „Versuch nach antikem Vorbild“ mit gemagertem Lehm und Tierhaarzusätzen. Die elaborierten Aufzeichnungen und Ausführungen zu den durchgeführten Versuchen in der Kunstgiesserei inklusive der detaillierten Dokumentation mittels Fotografien und Skizzen verdeutlichen einmal mehr das Selbstverständnis Felix Lehners, mit seiner Kunstgiesserei nicht nur Produzent zeitgenössischer Werke und Herstellungsprozesse zu sein, sondern auch einen aktiven Experimentierund Forschungsort für historische Kunsttechniken zu stellen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Kunstgiesserei St. Gallen und die Stiftung Sitterwerk zum Ort erklärt werden, „wo das Handwerk noch die unabdingbare Voraussetzung für die Neuschaffung, Nachbildung oder Erhaltung eines Werkes ist“28 und nicht – wie es teils bei vielen Kollaborationen zwischen zeitgenössischen Künstlern und großen Kunstproduzenten kritisiert wird – das traditionelle Kunsthandwerk und dessen Techniken verdrängt werden. Die Liste der Künstler, mit denen die Kunstgiesserei St. Gallen zusammenarbeitet, ist lang und es finden sich viele große Namen der internationalen Kunstszene darunter: Fischli und Weiss, Berlinde de Bruyckere, Rita McBride, Katharina Fritsch, Sean Scully, Paul McCarthy, Mariana Castillo Deball, Jonathan Monk, Simon Starling, Roman Signer, Elmgreen & Dragset, Pierre Huyghe, Urs Fischer, Isa Genzken und Subodh Gupta sind nur einige der über hundert Künstlernamen, die auf der Webseite der Gießerei gelistet sind. Dass sowohl Kunstgiesserei als auch Künstler so offen mit ihrer Kollaboration umgehen, ist keine Selbstverständlichkeit im Bereich der heutigen Kunstproduktion. Als 2003 eine Publikation von Patsy Craig aus dem Studio des bereits erwähnten Londoner Künstlers und Kunstproduzenten Mike Smith erschien, in der Werke gezeigt wurden, die in seinem Betrieb entstanden sind, waren nicht alle der in Smiths Studio produzierenden Künstler glücklich mit dieser Zurschaustellung der Arbeitsprozesse und vor allem der damit verbun-

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denen Arbeitsteilung.29 Die über 500 Seiten starke Publikation mit dem spielerisch zweideutigen Titel Making Art Work setzt sich aus einem umfangreichen Katalogteil mit zahlreichen Fotografien der Herstellungsprozesse innerhalb des Studios sowie dazugehöriger Skizzen und Notizen und entsprechenden Interviews mit den beteiligten Künstlern zusammen. Insgesamt werden neunzehn Künstler vorgestellt, von denen wiederum dreizehn mit Interviews über ihre Zusammenarbeit mit Mike Smith und dessen Studio vertreten sind, so zum Beispiel Mona Hatoum, Rachel Whiteread oder auch Michael Landy. Warum allerdings Doug Aitkens oder Jake und Dinos Chapmans Arbeiten ohne entsprechende Interviews und/oder Kommentare der Künstler auskommen müssen, bleibt leider ungeklärt. Besonders interessant sind auch die ersten drei Doppelseiten des Buches. Noch vor dem Inhaltsverzeichnis und einem kurzen Abriss des bekannten italienischen Kurators und Kritikers Germano Celant über die Geschichte der künstlerischen Kollaboration speziell des letzten Jahrhunderts – von Kurt Schwitters Merzbau über Andy Warhols Factory bis hin zu Mike Smiths Studio – findet sich eine Zeitleiste der in Mike Smiths Studio realisierten Projekte und deren Künstler von den Anfängen 1988 bis 2003. Diese Zeitleiste listet nicht nur die im Band vertretenen Künstler und weitere Projekte, an denen das Mike Smith Studio beteiligt war, sondern es werden auch die Mitarbeiter des Studios namentlich genannt und den jeweiligen Zeiträumen zugeordnet, in denen sie dort tätig waren. Hier werden diejenigen Personen erwähnt, die normalerweise in den Herstellungs- und Produktionsprozessen von Kunstwerken völlig im Hintergrund bleiben und selten bis nie in Erscheinung treten. Mehr als ihre Namen erfährt man über sie in dieser Publikation jedoch auch nicht. Viel interessanter als die bloßen Namen, mit denen Felix Lehner und die Kunstgiesserei St. Gallen bereits zusammengearbeitet haben, sind jedoch die Werke, die in diesem Zusammenhang dort entstanden. Einige Künstler arbeiten mit mehreren Gießereien und Produktionsstätten zusammen, andere wiederum wenden sich regelmäßig an Felix Lehner und sein Team, wie zum Beispiel Urs Fischer. „Having assistants is horrible“, sagt Fischer. Aber, so der Künstler weiter: You need a certain intimacy to operate, but the people who work for you want to know what to do, and some days you just don’t know what that is. They expect things from you: They want to be successful, or just want a job, or think you’re stupid. You’re running a small business, which takes a lot of energy. Hiring people outside the studio isn’t the same. They work; they have a place; they’re fulfilled with what they do. I usually work with old friends, and because we have a history, we can do things very simply. You don’t start from scratch.30

Auch wenn Fischers Äußerungen häufig widersprüchlich sind, scheint es ihm angenehmer zu sein, mit Profis außerhalb seines eigenen Studios zusammenzuarbeiten und ihnen die komplexen Arbeiten zu überlassen, als selbst geeignete Assistenten einzustellen und diese dann anleiten und beaufsichtigen zu müssen. Auffällig daran ist, dass es sich bei den in

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Lehners Werkstätten entstandenen Kunstwerken meist um sehr komplexe und arbeitsaufwändige Projekte handelt. Die Frage nach Kunst und ihrer Produktion ist besonders in der zeitgenössischen Kunst, in der viele Künstler gar nicht mehr ohne großen Mitarbeiterstab agieren, ein vieldiskutiertes Thema, das immer wieder großes Interesse hervorruft und Gegenstand zahlreicher Studien ist. 2007 widmete die Zeitschrift Artforum diesem Thema eine ganze Sonderausgabe (The Art of Production) und ließ zahlreiche Akteure der Kunstwelt zu Wort kommen, unter anderem auch Mike Smith und Urs Fischer.31

Die Kunstgiesserei St. Gallen: Von der Schweiz nach Shanghai in alle Welt Anhand des Produktionsprozesses von Urs Fischers Untitled (Big Clay #3) lässt sich die Zusammenarbeit und auch Arbeitsteilung der Kunstgiesserei und ihrer Auftraggeber – also der Künstler – recht anschaulich illustrieren. Ausgangspunkt dieses Werkes ist ein etwa fünf Zentimeter großes Stück feuchten Tons, den Fischer wenige Sekunden knetete und so seine Fingerabdrücke in dem formbaren Material hinterließ. Dieses kleinformatige Objekt wurde daraufhin in vielen Arbeitsschritten und über mehrere Monate hinweg in eine ­beinahe elf Meter hohe Aluminiumskulptur übersetzt. Nachdem mittels Computer-Tomografie ein Model des kleinen Tonklumpens erstellt worden war, kam die riesige FünfachsFräsmaschine der Kunstgiesserei St. Gallen ins Spiel und übertrug die Rillen von Fischers Fingerabdruck bis ins kleinste Detail, jedoch in hundertfacher Vergrößerung, in Styropor. Die daraus entstandenen 48 Modellteile wiederum wurden in die Dependance nach Shanghai transportiert, um dort in einer speziellen Aluminiumlegierung und einem extra hierfür gefertigten Schmelzofen abgegossen zu werden; die überdimensionale Größe dieses Werkes überschritt die räumlichen Kapazitäten im Sittertal bei Weitem. Um die Stabilität dieser monumentalen Skulptur am späteren Aufstellungsort (Connecticut, USA) zu garantieren, mussten die Mitarbeiter der Kunstgiesserei eine diffizile Innenkonstruktion aus Chromstahl erarbeiten. Der Künstler selbst war bei vielen dieser Arbeitsschritte vor Ort anwesend, sowohl in St. Gallen als auch in Shanghai, die Ausführungen und Umsetzungen übernahmen jedoch Maschinen und Mitarbeiter.32 An einem weiteren Werk Urs Fischers lässt sich eine ebenso spannende wie komplexe Arbeitsteilung der unterschiedlichen Produktions- und Herstellungsschritte verfolgen. 2011 sahen sich die Besucher der Biennale in Venedig einer täuschend echten Replik der sechs Meter hohen Marmorstatue Raub der Sabinerinnen des Bildhauers Giambologna gegenüber, die sich seit 1583 in der Loggia dei Lanzi in unmittelbarer Nähe des Palazzo Vecchio in Florenz befindet. Fischers Kopie dieser berühmten Statue bestand jedoch nicht wie das Original aus Marmor, sondern aus Wachs und entpuppte sich bei näherem Hinsehen als überdimensionale Kerze, welche innerhalb der ersten Monate der Biennale abbrannte, bis das Werk beinahe völlig verschwand. Diese in der Kunstwelt großes Aufsehen

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55  Fünfachs-Fräsmaschine bei der Erstellung von Big Clay #3, Kunstgiesserei St. Gallen.

56  Detail der Fräsarbeiten bei der Produktion von Big Clay #3, Kunstgiesserei St. Gallen.

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57  Aufbau von Urs Fischers Big Clay #3 am Aufstellungsort.

erregende Wachsreplik entstand ebenfalls in Felix Lehners Kunstgiesserei und wurde dort in einem aufwändigen Prozess hergestellt, an dem zahlreiche Mitarbeiter und Bereiche der Gießerei beteiligt waren. Den Anfang jedoch machte ein nächtlicher und minutiöser digitaler Scan von Giambolognas Marmorstatue am Florentiner Originalschauplatz. Zentimeter für Zentimeter wurde die Skulptur von einem mehrköpfigen Team gescannt, um am Computer eine präzise dreidimensionale und hoch aufgelöste digitale Version zu erhalten, mit der dann in St. Gallen weitergearbeitet werden konnte. Es folgten Drucke in der 3-DWerkstatt und aufwändige Fräsarbeiten sowie eine weitere Bearbeitung seitens des Künstlers in seinem New Yorker Studio. Dem wiederum folgte die Herstellung der Negative in St. Gallen und letztendlich der Guss der einzelnen Teile in Wachs, dessen Farbigkeit bereits im Negativ angelegt wurde, um das wächserne Material dem Marmor täuschend ähnlich wirken zu lassen.33 Überreste der vielen Versuche zur Herstellung der richtigen Wachsmischung beim Gussverfahren finden sich auch später noch auf dem Gelände der Gießerei wieder. Die Kunstgiesserei beschreibt Fischers Arbeiten wie folgt: „Dem Anschein des Leicht-Fertigen zum Trotz: Urs Fischers Arbeiten sind immer Ergebnis aufwändiger handwerklicher und hochtechnologischer Prozesse und entstammen seinem aussergewöhnlich präzisen Sinn für Raum und Materialien.“34

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58  Überreste von Wachsguss­ versuchen.

Besonders frappierend ist hier, dass sich ein zeitgenössischer Künstler wie Urs Fischer eine beinahe 500 Jahre alte Skulptur zum Vorbild nimmt und diese in einem hochkomplexen Verfahren mit Hilfe digitaler Technologien und traditionellen Handwerks in ein anderes Material ‚übersetzt‘. An diesem über Wochen, wenn nicht Monate, währenden Arbeitsprozess waren sowohl in Florenz als auch in New York und besonders in St. Gallen ganz im Sinne einer Werkstatt-Arbeit zahlreiche Personen beteiligt. Auch Giambologna bediente sich damals – wie bereits erwähnt – einer Werkstatt und Mitarbeiter bei der Ausführung von Aufträgen und der Herstellung unterschiedlicher Skulpturen; dies allerdings hauptsächlich bei den Werken, die in Bronze ausgeführt wurden. An den großformatigen Marmorstatuen, so heißt es, arbeitete der Künstler allein.35 Grund für die eigenständige Arbeit an den Marmorskulpturen war für Giambologna mit Sicherheit die zur damaligen Zeit in Florenz vorherrschende Meinung, dass die bildhauerische Arbeit mit Marmor die höchste und wertvollste Form innerhalb der Skulptur sei, da sie mental und physisch anspruchsvoller sei als jede andere Form der Bildhauerei und ihre Bezüge in der Antike zu finden sind. Diesem dem Paragone – dem Wettstreit der Künste – geschuldeten Anspruch der Florentiner Zeitgenossen wollte Giambologna in nichts nachstehen und schuf ein Meisterwerk, mit dem er, Borghini zufolge, „endgültig seine Kunstfertigkeit in der Marmorbearbeitung

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unter Beweis stellen ,wollte‘“.36 Dies könnte ein möglicher Grund für Urs Fischer gewesen sein, genau diese Skulptur, die nach wie vor an prominenter Stelle in Florenz steht, für sein Werk und die Transformation in Wachs zu wählen. Ob Fischer wusste, dass ausgerechnet für diese Skulptur zwei Modelle aus rotem Wachs existieren, die sich heute im Victoria and Albert Museum in London befinden, bleibt offen.37

Ein Material- und Wissensarchiv der besonderen Art: Kunstbibliothek und Werkstoffarchiv Trotz – oder auch aufgrund – der später hinzugekommenen Orte (Kunstbibliothek, Atelierhaus, Galerie) wird die Kunstgiesserei St. Gallen selbst jedoch nach wie vor als „Impulsgeber des ganzen Konglomerats“38 gesehen; ein zentraler und wichtiger Faktor, der die Aktivitäten der in unmittelbarer Nachbarschaft liegenden Bereiche maßgeblich bedingt und beeinflusst. Beispielsweise stammen viele der im Werkstoffarchiv aufbewahrten Materialproben direkt aus der Gießerei selbst, so dass Werkprozess und Protokollierung des Verfahrens und seiner einzelnen Produkte eng ineinandergreifen.39 Zu den im Archivschrank versammelten Objekten zählen Materialien in ihrem ursprünglichen Rohzustand, aber auch Reste und Nebenprodukte von Gießversuchen. Dadurch wird den Besuchern des Werkstoffarchives die seltene Möglichkeit geboten, ganz unmittelbar die einzelnen Produktions- und Fertigungsschritte (und auch die dabei teilweise entstandenen Fehlver­ suche) von zum Beispiel neuen Aluminiumlegierungen und Fräsmustern anhand der Werkproben zu verfolgen. Diese Proben oder auch Reste sind teilweise nur wenige Stunden zuvor in der gerade einmal zehn Meter entfernten Gießerei entstanden.40 Das Werkstoffarchiv ist Teil des Schweizer Material-Archivs, eines Zusammenschlusses von acht unterschiedlichen Institutionen, die sich gemeinsam als ein „Bildungsnetzwerk für Lehre, Forschung und Praxis“41 verstehen. Jede dieser beteiligten Institutionen verfügt über eine auf die eigenen Schwerpunkte zugeschnittene Materialsammlung, deren Informationen über eine gemeinsame, frei zugängliche Online-Datenbank abrufbar sind. Mittlerweile existieren dort Datensätze zu über 1.000 Materialien, deren Eigenschaften und ihrer Verwendung. Außer der Online-Datenbank gibt es aber noch die analogen Sammlungen der Werkstoffe und Materialien, die über die jeweilige Institution zugänglich sind. Neben dem Sitterwerk sind das Gewerbemuseum Winterthur, die Hochschule Luzern mit den Fachbereichen Design und Kunst sowie Architektur und Technik, die Zürcher Hochschule der Künste, die ETH Zürich, die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und die Hochschule der Künste Bern an diesem einzigartigen Netzwerk zu Materialien, Materialität und Werkstoffen beteiligt.42 Von großem Vorteil in der Stiftung Sitterwerk ist vor allem, dass sich Kunstbibliothek und Werkstoffarchiv unter einem Dach und sogar im gleichen Raum befinden. Diese Aufteilung lässt an Kunstkammersammlungen der frühen Neuzeit denken, bei denen – im Idealfall – die Sammlung von Objekten, eine Bibliothek sowie anschließende ‚Laborato-

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59 Kunstbibliothek und Werkstoffarchiv der Stiftung Sitterwerk.

rien‘ ebenso miteinander in enger Verbindung standen. Und auch unter einem anderen Aspekt schließt das Sammeln von Metallen und ihrer verschiedenen Verarbeitungsstufen an Praktiken aus der frühen Neuzeit an. So bestimmt beispielsweise Samuel Quiccheberg in seiner Lehrschrift Inscriptiones vel tituli theatri amplissimi, dass Mineralien in der Dritten Klasse (7. Überschrift) aufzubewahren seien: Metalle und metallische Stoffe aus Bergwerken und dann die eigentlichen Urformen der Metalle, Mineralien, Zinkerz etc. Außerdem feste Röhren aus den reinsten Metallen. Schließlich alle Nachbildungen in der Form eines Kunstwerks: einerseits Metalle, die schrittweise das Feuer erprobt haben, und andere, die mehr oder weniger ausgekocht und getrennt worden sind.43

Wie im Sitterwerk fordert auch der Sammlungstheoretiker Quiccheberg im 16. Jahrhundert, dass nicht allein die Metalle in ihren Urformen und Proben des – artifiziell erstellten – gediegenen Metalls aufbewahrt werden. Mit dieser Sammlung soll der Prozess der Verhüttung über einzelne Objekte nachvollziehbar werden, zudem können so die verschiedenen Verarbeitungsstufen der Metalle ausgestellt sein. Nur so kann eine Sammlung aufgebaut werden, die sowohl die Formen der natürlichen Ressourcen als auch ihres Abbaus und ihrer Produkte abbildet – ist es doch schwer zu entscheiden, welche Form des Metalls die ‚eigentliche‘ sei, gerade auch in Bezug auf künstlich erstellte Metalllegierungen wie die Bronze. Sowohl die Sammlung im Sitterwerk als auch das Beispiels Quicchebergs bezeugen anschaulich, dass hier nicht im Sinne eines Naturkundemuseums vermeintliche ‚Urformen‘ von Metallen und unveränderte Fundzusammenhänge ausgestellt werden. Vielmehr zielen beide Sammlungen

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darauf, im Bereich der Metalle die verschiedenen Formen, die immer auch einen menschlichen Zugriff und die Transformation der Ressource umfassen, abzubilden, von der natürlichen Erzstufe bis hin zum verhütteten reinen Endprodukt sowie Proben aus den unterschiedlichen Stufen des Werkprozesses. Im Sitterwerk können die Besucher sich somit in die Lektüre der vielen Bücher über Materialien und Herstellungsprozesse oder in Künstlermonografien vertiefen, um dann im nächsten Moment eine der großen Schubladen des wenige Schritte entfernten Archivschrankes zu öffnen, die entsprechenden Materialproben direkt in die Hand zu nehmen und deren unmittelbare Beschaffenheit und Materialität genauer zu betrachten und auch zu ertasten (Farbabbildung 16). Das Werkstoffarchiv dient dem Forscher und Besucher mit all seinen mit Material befüllten Schubladen somit als „haptisch-visuelles Nachschlagewerk“44. In der Bibliothek selbst befinden sich etwa 35.000 Publikationen; von technischen Abhandlungen zum Schmelzverfahren verschiedener Metalle über Ausstellungskataloge und Künstlermonografien bis hin zu theoretischen Werken findet sich hier ein Schatz an Kunstliteratur, der mit der Kunstgiesserei und den Projekten vor Ort ­gewachsen ist. Kern der Präsenzbibliothek ist die Sammlung von Daniel Rohner und Felix Lehner zu Kunst- und Architekturgeschichte, Material- und Gusstechnologie sowie Materialkunde und -ikonografie. Weit über das Sittertal hinaus bekannt ist das innovative dynamische Ordnungssystem dieser Fachbibliothek. Dem Besucher wird schnell aufgefallen sein, dass keines der Bücher eine sichtbare Signatur aufweist. Es existiert sozusagen keine vorgegebene Ordnung in dieser Bibliothek; die Ordnung entsteht mit jedem Besucher und Leser neu und verändert sich ständig, so dass sie immer wieder aufs Neue die Arbeit und Forschung ihrer Benutzer widerspiegelt. Jedes Buch kann wieder an einen beliebigen Ort in den Regalen zurückgestellt werden, denn einmal am Tag werden die Reihen automatisch gescannt. Die Positionen der Bücher werden somit ständig aktualisiert und sind dadurch mit Hilfe der Radiofrequenztechnik jederzeit auffindbar.45 Es ist sogar explizit erwünscht, dass die Besucher die von ihnen konsultierten Bücher am Ende des Tages – oder auch nach mehreren Tagen Recherche – gebündelt zurück in die Regale stellen. So ergeben sich für den nächsten Besucher spannende und teils aussagekräftige ‚Werkgruppen‘ über die zuvor konsultierte Literatur und diese thematischen Gruppierungen können interessante Rückschlüsse über die gerade getätigten Recherchen in der Kunstbibliothek geben. In der Stiftung Sitterwerk und der Kunstgiesserei St. Gallen durchdringen und befruchten sich Kreation, Produktion, Forschung, Vermittlung, Erhaltung und Präsentation von Kunst und Handwerk gegenseitig, verschmelzen zu einer einzigartigen Atmosphäre und lassen so immer wieder Neues und Unerwartetes entstehen. So ist es leicht möglich, dass man nach einem Vormittag in der Kunstbibliothek und dem Werkstoffarchiv aus dem Gebäude heraustritt und sich plötzlich vor einer gerade angefertigten Arbeit wiederfindet, die soeben aus der Gießerei zum Weitertransport nach draußen gebracht wurde. Dieser Ort ist ohne Frage eine „Bricolage auf hohem Niveau“46, der von der Begeisterung ihres Gründers und seiner Mitarbeiter für Kunst und Künstler, traditionelles Handwerk und neue Technologien und der Liebe zum Material lebt und getragen wird.

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Anmerkungen   1 Ich danke der Kunstgiesserei St. Gallen sowie der Stiftung Sitterwerk und deren Mitarbeitern für die Gastfreundschaft, Offenheit und Bereitschaft, zahlreiche Fragen zu klären. Besonderer Dank gilt Julia Lütolf, Roland Früh und Felix Lehner.

Felix Lehner im Gespräch mit Oliver Prange: „Als er das Kesselhaus und die Wirkung seiner Arbeit darin sah, war er sofort dabei“, in: Du. Die Zeitschrift der Kultur 856 (Hans Josephson), Mai 2015, S. 80–97, hier S. 83.

  2 Lehner betreut den Nachlass des Bildhauers Josephson und vertritt ihn gemeinsam mit der­ Galerie Hauser & Wirth. Die Auswahl der Gastkünstler für die Atelieraufenthalte erfolgt durch ein Gremium, vgl. Felix Lehner und Ariane Roth, Whatever Works, in: Frieze, Juni-August 2016, S. 16–18, hier S. 16.   3 Vgl. Kaspar Surber, Das Leben ist kein Museum, in: Hochparterre (Beilage), 12/2011, S. 30. Die Umbauten zum Wohnatelier ließ Lehner von den Züricher Architekten Flury + Furrer vornehmen, die auch für einige weitere Umbauten in der Kunstbibliothek und dem Kesselhaus Josephson verantwortlich zeichnen. Weitere Fotos finden sich auf deren Webseite: https://www.fluryfurrer.ch [zuletzt aufgerufen 10. November 2018].   4 Vgl. Johannes Hedinger, „Berührtsein ist der beste Antrieb für jede Art von Arbeit“. Johannes Hedinger im Interview mit Felix Lehner, in: Schweizer Monat 91/987, 2011, S. 64–69. Es existieren zahlreiche Zeitungsartikel über die Kunstgiesserei und das Sitterwerk, sowie einige kurze ­Aufsätze und Interviews von und mit Felix Lehner. Eine umfassende Studie zum Sitterwerk, der Gießerei und deren Arbeit steht allerdings noch aus.   5 So beschreibt Axel Simon Kunstgiesserei und Sitterwerk in seinem gleichnamigen Aufsatz zur Architektur des Gesamtkomplexes. Vgl. Axel Simon, Das Kunstkraftwerk. Einst eine Färberei, heute eine Kunstgiesserei, in: Hochparterre: Zeitschrift für Architektur und Design 24/3, 2011, S. 40–45   6 Nathalie Grand, Denkfabrik im Sittertal, in: St. Galler Tagblatt, 09.03.2006, S. 46.   7 Ursula Badrutt Schoch, Kulturort am Fluss, in: Kunst-Bulletin, 1/2005, S. 18–23. Siehe auch Anna Hohler, Le Sitterwerk, un fabrique culturelle, in: Tracés. bulletin technique de la Suisse romande 137 (2011), Heft 23–24, S. 12–18.   8 Lisa Späni, Kultur- und Kunstproduzenten, in: Werkspuren, 2/2009, S. 16–19.   9 Simon Baur, Kompetenzzentrum, in: Antiquitäten-Zeitung, 14.07.2006, S. 36. 10 Eva Karcher, Das Narrenschiff, in: Artinvestor, 3/2011, S. 58. 11 Barbara Basting, Denken, Erfinden, Giessen. Besuch in einer Wunderkammer der Kunst, in: werk, bauen + wohnen, 12/2012, S. 38–43. 12 In der Stiftung Sitterwerk ist nur der museale, nicht aber der kommerzielle Teil – die Galerie – des Kesselhauses Josephsohn inbegriffen. 13 Vgl. Lehner, zitiert nach Surber 2011 (Anm. 3), S. 30. Siehe auch Hedinger 2011 (Anm. 4), S. 64–69. 14 Einen aufschlussreichen Einblick in die Geschichte der Kunstgießereien und Produktionsstätten insbesondere der 1960er und 1970er Jahre gibt Michelle Kuo in ihrem Artikel Industrial Revolution. On the History of Fabrication, in: Artforum, Oktober 2007, S. 306–315 und S. 396. Eine der wohl bekanntesten Firmen in den USA war Lippincott, Inc., gegründet 1966 von Donald Lippincott. Künstler wie Claes Oldenburg, Barnett Newman, Robert Morris, Louise Nevelson oder auch Ellsworth Kelly zählten zu den Kunden; siehe hierzu auch Jonathan Lippincott, Large Scale. Fabricating Sculpture in the 1960s and 1970s, Princeton 2010. Bezogen auf die 1960er Jahre in den USA schreiben Glenn Adamson und Julia Bryan-Wilson: „Already in its early days, then, the fabrication business was more than a contracting service: it was a node within a network.“ Vgl.

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Glenn Adamson und Julia Bryan-Wilson, Art in the Making. Artists and their Materials from the Studio to Crowdsourcing, London 2016, S. 161. 15 Für weitere Ausführungen speziell zu Pietrasanta und den dort ansässigen Produktionsstätten siehe vor allem Barbara Stoltz, Der Bronzeguss in der zeitgenössischen Kunst. Tradition einer Herausforderung, in: kunsttexte.de / Sektion Gegenwart, 1/2015 (20 Seiten), www.kunsttexte.de [zuletzt aufgerufen 10.  November 2018] und Chiara Celli, Dalle Case  – Studio al Museo dei Bozzetti. Scultori Contemporanei a Pietrasanta, in: Abitare il museo, hrsg. von M. Guderzo, Crocetta del Montello 2014, S. 317–327. 16 Basting 2012 (Anm. 11), S. 40. Lehner erwarb beispielsweise einen Vakuumschmelzofen aus dem Experimentallabor eines Maschinenbauers und verfügt über einen Schrank mit Proben chemischer Elemente, wie etwa Titan, Wolfram oder auch Cer, deren Charakteristika er interessierten Besuchern gerne vorführt. 17 Subodh Gupta, zitiert nach Karcher 2011 (Anm. 10), S. 60. 18 Zur Arbeitsteilung zwischen Künstler und Gießer und zu detaillierten Ausführungen über die Geschichte des Perseus-Gusses siehe Michael Cole, Cellini and the principles of sculpture, Cambridge, Mass. 2002, und hier besonders das Kapitel Casting, Blood, and Bronze, S. 43–78. 19 „Cellini’s tale is in the first place the account of a technical process, a demonstration of his knowledge of how metals work. [...] Even its hyperbole, whatever the detail, is specific in its aim: The account argues that Cellini could cast, and it argues that casting, as an act, was heroic.“ Vgl. Cole 2002 (Anm. 18), S. 43–44 und für Ausführungen zu Cellinis Perseus in Bronze und seines Narziß in Marmor im Spiegel seiner literarischen Selbstinszenierung siehe Gerhard Wolf, Der Splitter im Auge. „Cellini“ zwischen Narziß und Medusa, in Benvenuto Cellini. Kunst und Kunsttheorie im 16. Jahrhundert, hrsg. von A. Nova und A. Schreurs, Köln 2003, S. 315–337. 20 Vgl. Charles Avery, Giambologna. The Complete Sculpture, Oxford 1987, S. 10. 21 Vgl. Christiane Wohlrab, Non-finito als Topos der Moderne. Die Marmorskulpturen von Auguste Rodin, Paderborn 2016, S. 67; für einen knappen Vergleich der Arbeitsweise bei Rodin und Rosso siehe S. 139–141. 22 Vgl. Prange 2015 (Anm. 1), S. 82–83. 23 Vgl. Adamson und Bryan-Wilson 2016 (Anm. 14), S. 169. 24 Zu Mike Smith und der Arbeit seiner Londoner ‚Werkstatt‘ siehe Patsy Craig (Hg.), Making Art Work. The Mike Smith Studio, London 2003. Diese vom Studio selbst angefertigte Publikation beschreibt die Arbeits- und Herstellungsprozesse in Smiths Studio und illustriert viele der gefertigten Werke vom Entwurf bis zur Fertigstellung („from the blueprint to the final product“). Eine eingehendere Analyse des Mike Smith Studio lässt sich ganz aktuell in Danielle Childs Publikation Working Aesthetics. Labor, Art and Capitalism, London 2019 finden, speziell in Kapitel 2: Neo-liberalism and the facilitator. Mike Smith Studio (1989–), S. 41–62. 25 Mike Smith im Interview mit William Furlong in Craig 2003 (Anm. 24), S. 24–30, hier S. 24–25. 26 Siehe hierzu Felix Lehner und Sebastian Rossmann, Experiment zu antiken Reparatur- und Schweißtechniken, in: Der Xantener Knabe. Technologie, Ikonographie, Funktion und Datierung, hrsg. von U. Peltz und H.-J. Schalles, Darmstadt 2011, S. 155–164. Die Bronzestatue befindet sich heute in der Antikensammlung der Berliner Museen. 27 Lehner und Rossmann 2011 (Anm. 26), S. 155. 28 Späni 2009 (Anm. 8), S. 16. 29 Siehe hierzu auch den Beitrag von Karen van den Berg und Ursula Pasero, Large scale art fabrication and the currency of attention, in: Contemporary art and its commercial markets. A report on current conditions and future scenarios, hrsg. von M. Lind und O. Velthuis, Berlin 2012, S. 153– 181. Die Publikation Making Art Work von Patsy Craig (Anm. 24) wird auf der Webseite des Mike

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Smith Studios wie folgt beworben: „The objective was to reveal how this collaborative process redefines an earlier form of art production linked with the Renaissance studio and a more unified vision of the arts and sciences. To revise studio practice and allow a view at the complexity of the production process that takes place here. To unveil what ultimately constitutes a history of art that remains widely misunderstood.“ Vgl. https://mikesmithstudio.com/book/ [zuletzt aufgerufen 10. November 2018]. 30 Urs Fischer in Production Notes auf Seite 351 der Artforum-Ausgabe The Art of Production von Oktober 2007 (Anm. 14). 31 Vgl. Artforum 2007 (Anm. 14). Siehe hier vor allem die von Michelle Kuo moderierte Diskussion The Producers. A Roundtable zwischen Kuratoren (Lynne Cooke), Künstlern (Angela Bulloch und Charles Ray), Kunsthändlern (Jeffrey Deitch) und Kunstproduzenten (Mike Smith, Peter Carlos und Ed Suman). Für eine theoretischere Abhandlung zum Thema siehe John Roberts, The Intangibilities of Form. Skill and Deskilling in Art After the Readymade, London 2007 und zum Thema Handwerk aus soziologischer Perspektive das gleichnamige Buch von Richard Sennett, Handwerk, Berlin 2007. 32 „The immense effort of the many hands, bodies, and machines it took to make an eleven-meter high aluminum cast stands in a sharp and ironic contrast with the sloppy squeezes that produced the vaguely shaped piece of clay.“ Vgl. Ann-Sophie Lehmann, Taking Fingerprints. The Indexical Affordances of Artworks’ Material Surfaces, in: Spur der Arbeit. Oberfläche und Werkprozess, hrsg. von M. Bushart und H. Haug, Köln u. a. 2018, S. 199–218, hier S. 214. 33 Siehe hierzu auch die aufschlussreichen Abbildungen der einzelnen Produktionsschritte auf der Seite der Kunstgiesserei zu diesem Projekt: www.kunstgiesserei.ch/DE/Work/271/Urs-Fischer_ Untitled_Giambolgona_2011 [zuletzt aufgerufen 8. April 2020]. 34 https://www.kunstgiesserei.ch/kuenstlerwerke/urs-fischer/ [zuletzt aufgerufen 10.  November 2018]. 35 Zur Arbeitsteilung in Giambolognas Florentiner Werkstatt bezüglich unterschiedlicher Materialien siehe auch Edgar Lein, Bronzestatuetten und das Problem der Vervielfältigung von Skulpturen, in: formlos – formbar. Bronze als künstlerisches Material, hrsg. von M. Bushart und H. Haug, Köln 2016, S. 57–78. 36 Vgl. Dimitrios Zikos, Die edlen Formen der Maniera. Praxis und Ideal im bildhauerischen Schaffen Giambolognas, in: Giambologna. Triumph des Körpers, Ausst.-Katalog (Wien, Kunsthistorisches Museum, 2006), hrsg. von W. Seipel, S. 35–69, hier S. 59. Zum Paragone-Wettstreit und Giambolognas Positionierung als Künstler in Florenz siehe Avery 1987 (Anm. 20), S. 73–74 und speziell zur Skulptur Raub der Sabinerinnen und deren Rezeption S. 109–114. 37 Zu den beiden kleinformatigen Wachsmodellen Giambolognas in London siehe Avery 1987 (Anm. 20), S. 69–70. 38 Lehner und Roth 2016 (Anm. 2), S. 16. 39 Julia Lütolf ist seit 2011 Leiterin des Werkstoffarchives, sie ist Möbelschreinerin und studierte Konservatorin. Die Leitung der Bibliothek hat Roland Früh inne. 40 Lehner und Roth 2016 (Anm. 2), S. 18. 41 http://materialarchiv.ch/cms/de/ [zuletzt aufgerufen 10. November 2018]. 42 Zum Materialarchiv siehe u. a. auch den Beitrag von Mario Pellin, Farbe und Material, eine Sprache mit anspruchsvoller Grammatik. Über das Schweizer Materialarchiv, in: GesprächsStoff Farbe. Beiträge aus Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft, hrsg. von A. Karliczek und K. Scheurmann, Köln 2017, S. 127–137. 43 Vgl. hierzu das von Harriet Roth herausgegebene und kommentierte Traktat von Quiccheberg in ihrer veröffentlichten Dissertationsschrift: Der Anfang der Museumslehre in Deutschland. Das

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Traktat „Inscriptiones vel tituli theatri amplissimi“ von Samuel Quiccheberg, Berlin 2000, S. 58–59: „Classis Tertia, Inscriptio Septima: Metalla & metallicae fodinarum materiae tum’que verae r­adices metallorum, & minerae cadmiae’que etc. Item eodum modo solidae venae purissimorum metallorum. Denique artificio ista omnia imitata: & metalla ignem gradatim experta, alia’que plus, alia minus excocta segregata’que.“ 44 Julia Lütolf, Künstliche Stoffe in der Kunstproduktion, in: Ferrum 89, 2017, S. 123–127, hier S. 123. 45 Zur dynamischen Ordnung der Kunstbibliothek siehe die Ausführungen von Marina Schütz, Kunstbibliothek Sitterwerk. Buch, Material und Kunst, in: Bibliothek Forschung und Praxis 37/3, 2013, S. 306–315. 46 Simon 2011 (Anm. 5), S. 40.

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Rachel Mader

Neue Verbindlichkeit Kunstkollektive im 21. Jahrhundert

Es ist schwer zu sagen, ob kollektive Praktiken in der Kunst tatsächlich zugenommen haben, wie dies die stattliche Anzahl an Veranstaltungen und Publikationen dazu in den letzten Jahren vermuten ließe, ob also The collaborative turn, wie ihn Maria Lind 2007 programmatisch zum Titel eines Textes erhoben hat, eine steigende Anzahl von unter diesem Begriff subsumierten Organisationsformen meint, oder ob damit eher die thesenhafte Losung für einen Zeitgeist gefunden worden ist, dessen Konturen dadurch in gleicher Weise erst gefasst wie bestimmt werden. Letzteres suggeriert der Text von Lind, indem er durch Verweise auf einschlägige theoretische Referenzen, wie dem von Deleuze und Guattari vorgeschlagenen Modell des Rhizoms, Hardt und Negris Ausführungen zu den ‚Commons‘ oder auch Jean-Luc Nancys Reflexionen in Die verleugnete Gesellschaft, von der Notwendigkeit spricht, angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Verfasstheit auf kollaborative Verfahren zu setzen. Denn trotz deren problematischer Popularisierung im Rahmen ökonomischer Verwertung erachten Lind und mit ihr zahlreiche weitere Autor*innen die gemeinschaftliche Arbeitsweise in der Kunst weiterhin als alternatives und kritisches Modell zu den traditionellen Formen der Kunstproduktion.1 Genau dieses Potential scheint auch den Hintergrund für eine ganze Reihe in den letzten Jahren erschienener Publikationen zu Kollektiven in der Kunst zu bilden, die dabei jedoch höchst unterschiedliche inhaltliche und methodische Perspektiven gesetzt haben. Dazu gehört der bereits erwähnte Text von Lind, der mit der Bezeichnung des collaborative turn nicht nur dessen Aktualität behauptet, sondern das Phänomen als Ausdruck eines grundlegenden Wandels festlegt, obwohl durchaus auf weiter zurückliegende Formen der Zusammenarbeit verwiesen wird.2 Eine dezidiert historische Einbettung entlang ausgewählter kollektiver Gruppierungen nehmen Blake Stimson und Gregory Sholette in Collectivism after Modernism. The Art of Social Imagination after 1945 vor. Dabei beschreiben sie, durchaus in Parallele zu Maria Linds These einer emanzipatorischen Geste aktueller kollaborativer Praktiken, das Kollektiv als soziale Kraft und sehen ihre Aufzeichnungen als „an episodic overview of the postwar history of social sculpture“.3 Stimson und Sholette er­ achten kollektive künstlerische Praktiken als Teil einer Geschichte politischer Bestrebungen in der Kunst, die auch darum bisher zu wenig beachtet worden seien, weil sich aus ihnen kein sogenannter -ismus und damit kein Stil ableiten ließ. Dennoch, so die beiden

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weiter, habe sich der Kunstbetrieb in den letzten Jahren auf die sich stets weiter ausdif­ ferenzierenden Formen von Kollektivität gut einzustellen gewusst, und die jüngeren Gruppen sich ihrerseits nicht mehr in strikter Opposition zum traditionellen Kunstsystem verstanden. Dass es sich um neue Formen des kollaborativen bzw. kollektiven Agierens handle, vertreten u. a. auch die Kulturwissenschaftlerin Gesa Ziemer in ihrer Studie zur Komplizenschaft und der Filmmacher und Kurator Florian Schneider in seinem Text Collaboration. The Dark Side of the Multitude. Beiden Autor*innen dienen eigentlich negativ konnotierte Begriffe, einmal der der Komplizenschaft und das andere Mal der der Kollaboration, als Ausgangslage für eine strategisch ausgerichtete Adaption dieser Aktivitäten im Feld der Kunst. Komplizenschaft leitet Ziemer direkt aus dem Strafrecht ab, dort werden ihm die folgenden Kriterien zugeschrieben: „KomplizInnen sind MittäterInnen, sie fassen gemeinsam einen Entschluss, planen ein Tat miteinander und führen sie zusammen aus.“4 Die Verbandelungen sind lediglich temporärer Natur, haben keinen Anspruch auf Dauerhaftigkeit, sondern spannen auf Basis gemeinsamer Interessen gezielt Akteur*innen unterschiedlichster Herkunft zusammen. Schneiders Vorschlag zielt auf durchaus ähnliche Kriterien zur Bestimmung aktueller Varianten gemeinschaftlichen Agierens, rückt aber die Stellung des Individuums ins Zentrum. So unternimmt er eine Neubesetzung des Begriffes der Kollaboration, der, in Absetzung zu Kooperation, nicht auf klar identifizierbare und organisatorisch zugeordnete Individuen zielt, sondern auf heterogene Einzelpersonen, die sich punktuell und selbstbestimmt auf bestehende Strukturen einlassen, immer mit der Intention, diese den eigenen Interessen bzw. politischen Absichten entsprechend zu verändern.5 Gerade die letztgenannten Publikationen betonen in ihren theoretisch basierten ­Reflexionen die taktischen und/oder strategischen Motive des Handelns in kollektiven ­Zusammenhängen und damit deren temporäre und fluide Organisationsform. Die nachfolgend im Zentrum stehenden Zusammenschlüsse schließen zwar durchaus an diese Überlegungen an, basieren ihr Selbstverständnis aber, dies die These dieses Textes, auf Haltungen und Werten, die eine neue Form von Verbindlichkeit postulieren und erzeugen. Damit reagieren diese Kollektive auf aktuelle gesellschaftliche Konstellationen, die in gleicher Weise geprägt sind von der Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen wie von einer anhaltenden Skepsis gegenüber institutionellen Gefügen und insofern als Versuche einer neuen Art der Organisation kulturellen Agierens zu verstehen sind. Ich konzentriere mich dabei auf drei nach der Jahrtausendwende gegründete Kollektive – das in London basierte Cluster Critical Practice, die in St. Petersburg etablierte Gruppe Chto Delat und das von Mumbai aus agierende Studio CAMP –, die alle in höchst unterschiedlichen sozialen und kulturellen Konstellationen situiert sind und wirken. Dabei interessiert auch, inwiefern die Modalitäten der Organisation, die Legitimationen des Handelns und die Konzeption des jeweiligen Selbstverständnisses trotz der unterschiedlichen Kontexte dennoch Parallelen aufweisen.

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Konturen des neuen ‚Wir‘ Das ‚Wir‘ ist zwar nicht ausschlaggebendes Alleinstellungsmerkmal der im Folgenden ­diskutierten Kunstkollektive des 21. Jahrhunderts. Ich rücke es dennoch ins Zentrum meiner Ausführungen, weil sich in ihm die Verbindlichkeit aktueller kollektiver Bestrebungen verdichtet und weil es als das programmatische Kernstück des Tuns und der Identität ­dieser Zusammenschlüsse bezeichnet werden kann. Bei allen drei Kollektiven wird das ‚Wir‘ als Sprecherposition eingesetzt, wenn auch in unterschiedlich prominenter Weise, ein Umstand, der in gleichem Ausmaß Auskunft über das Selbstverständnis gibt wie auf den kulturellen Kontext verweist, innerhalb dessen eine Positionierung stattfindet. Der Webauftritt von Critical Practice setzt das ‚Wir‘ bereits auf der Einstiegsseite als zentrales Merkmal an den Anfang der Selbstbeschreibung: „Who are we?“, so der Titel des einführenden Textes, an dessen Anfang Critical Practice mit der Bezeichnung ‚Cluster‘ gefasst und mit dem Hinweis auf diverse Berufsbezeichnungen – „artists, designers, curators and other researchers“  – als eine obzwar interdisziplinäre, so doch klar dem Kreativsektor zuordenbare Gruppierung umschrieben wird. In den programmatisch ausgerichteten Ein­führungsvoten wechselt das Subjekt des Satzes zwar vom emphatischen ‚Wir‘ immer wieder zum distanzierten ‚Critical Practice‘, was wohl primär als sprachästhetische Entscheidung gewertet werden muss, mit der verhindert werden soll, dass nahezu jeder Satz in der ersten Person Plural beginnt.6 Genau damit aber, also mit dem emphatischen ‚Wir‘, beginnen sämtliche der sechs Zielformulierungen von Critical Practice, die verdichtet zu je einem Satz einen durchaus apodiktisch anmutenden Auftritt abgeben. Gestützt wird dieser Eindruck durch die darin konzentriert kommunizierten Inhalte, die in gleicher Weise versuchen das Vorhaben in groben Zügen zu umreißen, wie sie politische oder zumindest gesellschaftskritische Positionierungen vornehmen.7 Namen werden auf den mit generellen Informationen gefüllten Seiten keine genannt, diese finden sich vor allem auf projektspezifischen Unterseiten und dort weniger als Hinweis auf eine Autorschaft als vielmehr im Sinne einer protokollarischen Auflistung von Anwesenheiten bei Treffen und von Zuständigkeiten.8 Vor diesem Hintergrund fällt die Formulierung „a cluster of individual artists, designers, curators and other researchers“ besonders auf: die Betonung von „individual“ ist für die Beschreibung der vielfältigen Professionen an sich nicht nötig und gerade darum eigens hervorzuheben. Critical Practice scheint es wichtig darauf zu verweisen, dass ihre ‚Mitglieder‘, dies die übliche Bezeichnung in sämtlichen Dokumenten, als eigenständige Persönlichkeiten Teil des Clusters sind und sich darin nicht auflösen. Die Nennung der fachlichen Hintergründe ist als Hyperlink markiert und führt auf eine Unterseite mit einer Liste von rund zwanzig Namen, die diese Vermutung insofern bestätigt, als die den Namen beigefügten Bezeichnungen und die einem weiteren Link folgenden Statements der Mitglieder durchaus individuellen Charakter aufweisen.9 Die personelle Konturierung von CAMP weist zu derjenigen von Critical Practice Parallelen, aber ebenso aussagekräftige Differenzen auf. Allen inhaltlichen Aussagen vorange-

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stellt ist auf der bis Ende Januar 2018 gültigen Website die Beschreibung der Gruppe durch die Namen der vier Gründungsmitglieder, Ashok Sukumaran, Sanjay Bhangar, Shaina Anand und Zinnia Ambapardiwala. Diese Aufzählung wird allerdings mit der Wendung „CAMP’s current members are“ eingeleitet, die suggeriert, dass die Gruppenzusammenstellung sich konstant verändern könnte, und impliziert so eine prinzipielle Offenheit gegenüber neuen Mitgliedern, was offensichtlich auch praktiziert wird, werden doch auf der seit Februar 2018 aktualisierten Seite zwei neue Mitglieder aufgeführt.10 Auf einen kurzen Abschnitt, in dem Gründungsjahr (2007) und -mitglieder (bis auf Zinnia Ambapardiwala sind es die oben genannten) benannt und in zwei Sätzen grundlegende Statements zu Gestalt („CAMP is not an ‚artists collective‘, but rather a studio“) und inhaltlicher Positionierung aufgeführt sind, folgt eine Liste von Zielsetzungen, die zurückhaltend mit „We wish (2007)“ eingeführt werden.11 Auffällig ist diese eher vorsichtige Formulierung vor allem darum, weil die darauf folgenden Wünsche in ihrer gesellschaftskritischen ­Positionierung derjenigen von Critical Practice in nichts nachstehen. So sollen Kategorien wie Autorität, Besitz, Macht oder Öffentlichkeit genauso mit künstlerischen Mitteln befragt und in ihren gesellschaftlichen Dimensionen erweitert werden, wie es darum geht, Plattformen zur Vermittlung von Kultur und Wissen neu zu entwickeln. Die Idee, dass ­infrastrukturelle Rahmenbedingungen kulturellen Schaffens inhaltlich ins Zentrum ihres Tuns gestellt werden sollen, findet ihre Entsprechung in der von Critical Practice postulierten Aufmerksamkeit gegenüber organisatorischen Aspekten, die in jedem ihrer Projekte neu verhandelt werden.12 Die bereits erwähnte potentielle Offenheit gegenüber weiteren Mitwirkenden findet sich bei CAMP im abschließenden Vorsatz, sowohl gegenüber Ideen wie Leuten gastfreundlich zu sein.13 Das russische Kollektiv Chto Delat wiederum präsentiert sich auf seiner Website aus der Perspektive der dritten Person Singular und damit als vorerst wenig greifbare Struktur, der erst nach ausführlichen Schilderungen über die Gründung eine grobe Charakterisierung der beruflichen Herkunft der Mitglieder, eine Schilderung des Selbstverständnisses des Kollektivs sowie die Aufzählung von Namen folgen. Die neun namentlich genannten Personen werden als „core group“ vorgestellt, deren Aufgabe es ist, die Aktivitäten von Chto Delat zu koordinieren, was darauf schließen lässt, dass anlässlich konkreter Projekte eine unbestimmte Anzahl weiterer Personen oder Gruppen involviert sind. Dass dem auch tatsächlich so ist, zeigt bereits eine kurze Durchsicht einzelner Ausstellungsbeteiligungen der Gruppe, die vor allem in den letzten Jahren eine beachtliche Präsenz gerade auch im westlichen Kunstbetrieb vorzuweisen hat. Diese Beteiligungen werden auf der Website denn auch in einer Weise aufgeführt, wie es für Künstlerbiografien üblich ist, und dienen so als Ausweis internationaler Anerkennung. Unterstrichen wird dieser Eindruck durch eine auf die Liste der Ausstellungen folgende Aufzählung von Werken in namhaften Sammlungen, darunter diejenigen des Museum of Modern Art in New York, des Centre Pompidou in Paris oder auch der Tretjakov Art Gallery in Moskau.14 Spezifisch und interessant im Vergleich mit Critical Practice und CAMP ist bei Chto Delat die Verbindung der Gruppenidentität mit ei-

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ner politisch-programmatischen Positionierung sowie die Adaption der Künstlerbiografie zur Darstellung des Leistungsausweises. Erinnert die Darstellung über das Kollektiv und der Einsatz des emphatischen ‚Wir‘ durchaus an Künstlergruppen des frühen 20. Jahrhunderts, wie etwa die Futuristen oder ‚Der Blaue Reiter‘,15 so unterscheidet sie sich von diesen wiederum im Umgang mit dem Verhältnis zwischen den Mitgliedern untereinander und punktuell Mitarbeitenden. Führte die enge Fassung und strenge Handhabung der Gruppenkonstellation vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder zum Streit und zur anschließenden Auflösung der Kollektive,16 so hat die Offenheit der hier im Fokus stehenden Gruppen gegenüber der Kooperation mit einem weit ausgreifenden Netz an weiteren Personen in einer neuartigen Weise programmatischen Charakter. Anstelle einer verschwörerischen Zusammenballung gegenüber einer feindlichen oder zumindest ignoranten Außenwelt verstehen sich jüngere Kollektive als Keimzellen, von denen zwar eine inhaltliche Orientierung ausgeht und die als Zentrum für die Kommunikation wirken, die sich dafür aber in unterschiedlichster Weise mit weiteren Akteuren verbünden. Und obwohl die innere Verbandelung durchaus auf gegenseitige Stärkung zielt, braucht sie dazu weder die Abschottung gegen außen noch eine strikte innere Einheit. Vielmehr wird gerade die Diversität der einzelnen Mitglieder betont – etwa in Bezug auf ihren fachlichen oder disziplinären Hintergrund – und die Offenheit gegenüber potentiellen Neuzuzüglern und möglichen Kooperationspartnern herausgestrichen. Auch die Einzelauftritte von Mitgliedern werden als solche deklariert und nicht als Konkurrenz zur übergreifenden Gruppenstruktur gelesen. Der zumindest latente Zwang zur Unterordnung, sei dies unter eine gemeinsame inhaltliche Ausrichtung oder eine dominante, das Kollektiv prägende Leit­ figur, ist nicht zu finden, vielmehr deuten die Deklarationen zu Selbstverständnis und Organisationsweise auf eine ausgeprägte Sensibilität für genau diese Mechanismen. Dies zeigt sich etwa dann, wenn CAMP in der Beschreibung ihrer selbst allem voran darauf beharrt, kein „‚artists collective‘, but rather a studio“ zu sein und damit die ihrer Meinung nach einschränkenden Implikationen, die mit dem traditionellen Begriff des Künstlerkollektivs einhergehen, zurückweisen.17 Die von Hans-Peter Thurn für die Künstlerkollektive des frühen 20. Jahrhunderts konstatierte Unmöglichkeit, „Ichverwirklichung und Sozialbindung dauerhaft aufeinander“ abzustimmen,18 ist ein Jahrhundert später in unterschiedlichen Modellen nicht nur widerlegt. Vielmehr wird genau dieses Verhältnis in die Organisation und die programmatischen Setzungen in einer Weise eingeschlossen, die von einer gegenseitigen Bedingtheit dieser beiden sozialen Existenzweisen ausgeht.

Das ‚Wir‘ als Programm und Praxis Nichtsdestotrotz ist auch bei den aktuellen Gruppenbildungen die mindestens teilweise formalisierte Gemeinschaft nicht nur Mittel zum Zweck, sondern auch Ausdruck einer inhaltlichen und meist auch politischen oder gesellschaftskritischen Positionierung. Und die Ent-

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scheidung, sich einem Kollektiv anzuschließen, ist auch eine Absage an die Idee einer singulären Künstlerpersönlichkeit, die ihre Kreativität einzig aus sich selbst schöpft. Diese Zurückweisung basiert in gleicher Weise auf einer Kritik an der im Kunstbetrieb zunehmend präsenten „celebrity culture“19 wie auf einem Verständnis von Gesellschaft, das Solidarität und Teilhabe, politisches Engagement gegen Diskriminierung und soziale Ungerechtigkeit oder auch das Prinzip der Selbstorganisation zur Grundlage nimmt. Solche Haltungen bilden den Hintergrund für die Konzeption des jeweiligen Kollektivs und zeigen sich sowohl in der Organisation selbst wie auch in sämtlichen Aktivitäten. Die Ausgestaltungen nehmen jedoch sehr heterogene Formen an, was gleichermaßen mit dem konkreten politischen und gesellschaftlichen Kontext zusammenhängt wie mit dem Verhältnis zum Kunstbetrieb, den jedes Kollektiv auf je eigene Weise bespielt. Diese Parallelen und Differenzen sind für eine Diskussion zur Spezifik von Kunstkollektiven im 21. Jahrhundert auch darum von Interesse, weil sich daran ein prinzipielles Unterscheidungsmerkmal gegenüber den Vorläufern u. a. des frühen 20. Jahrhunderts festmachen lässt, wie anschließend an konkreten Beispielen nachgezeichnet wird: Eine dezidierte, gesellschaftskritisch basierte Programmatik, wie sie für zahlreiche jüngere Kollektive ausgemacht werden kann, geht in den wenigsten Fällen mit einer rigiden Konzeption der inneren Organisation dieser Gruppierungen einher. Viel eher zeigt sich hier eine große Bereitschaft zu Offenheit, Transparenz und Flexibilität, Kriterien, die ihrerseits zu Grundsätzen der meisten Verbünde geronnen sind. So stellt etwa Critical Practice in der Beschreibung ihres Selbstverständnisses eine direkte Verbindung her zwischen der Kritik an den herkömmlichen Produktionsmodalitäten im Kunstbetrieb und der Handhabung ihrer Organisationsform: Critical Practice seeks to avoid the passive reproduction of art, and uncritical cultural production. Our research, projects, exhibitions, publications and funding, our very constitution and administration are legitimate subjects of critical enquiry. All art is organised, so we are trying to be sensitive to issues of governance. Governance emerges whenever there is a deliberate organisation of interactions between people, we are striving to be an ‚open‘ organization, and to make all decisions, processes and production, accessible and transparent. We post all agendas, minutes, budget and decision-making processes online for public scrutiny.20

Und auch die Ziele sind weniger als fixe Vorhaben, sondern als eine maximal weit ausgreifende Stoßrichtung formuliert, die an einer Vielfalt von Formaten ebenso interessiert ist wie an einer offensiven Einbindung zusätzlicher Partner: We will explore new models for creative practice, and engage those models in appropriate public forums, both nationally and internationally; we envisage participation in exhibitions and the institutions of exhibition, seminar and unconferences, film, concert and other event programmes. We will work with archives and collections, publication, broadcast and other distributive media; while actively seeking to collaborate.21

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Das ‚Wir‘ von Critical Practice ist nicht nur interdisziplinär und mit der Wendung „other researchers“ potentiell offen gegenüber möglicherweise gar nicht über bekannte professionelle Kategorien fassbaren Interessen; es zielt zudem auf eine stete personelle Erweiterung, setzt die vielfältige und durchaus auch schwierige Auseinandersetzung im und mit dem öffentlichen Raum als zentralen inhaltlichen Fokus, wird aber dezidiert, wenn es um die Charakterisierung einer Haltung geht, die allen Mitgliedern eigen zu sein scheint und entschieden ist in der Absicht, sich in ihrem Tun mit anderen zu verbünden oder zumindest auszutauschen. Die bislang realisierten Projekte, die in Länge, Auftritt, Organisation und Anspruch sehr different sind, geben dennoch eine Vorstellung davon, wohin die organisatorische Rahmung in der inhaltlichen Umsetzung zu zielen vermag. So finden sich etwa Versuche, die Idee des Archives unter alternativen und kritischen Blickpunkten neu zu konzipieren, Radtouren als Teil eines alternativen Curriculums zu etablieren, kleinere Gartenprojekte zur Rettung beim Umzug liegen gebliebener Pflanzen oder auch eine nahezu unübersichtliche Anzahl von Workshops aller Spielarten, instruktive Spaziergänge, kleinere und Kleinstpublikationen, Vorträge und weiteres mehr.22 Zu diesen von Mitgliedern der Gruppe veranstalteten Aktivitäten kommen zahlreiche Einladungen im internationalen Kontext, denen nach interner Absprache jeweils eine kleinere Gruppe von Personen folgte. Den allermeisten dieser Initiativen ist eigen, dass sie trotz Anlehnung an bekannte Formate – Workshop, Screening, Konferenz – diese neu zu interpretieren beabsichtigen. Die meisten Adaptionen zielen dabei auf eine Aktivierung des Publikums, das, obzwar mit einer ausgewählten Thematik konfrontiert, seinen jeweils eigenen Zugang entwickeln soll. Dies etwa bei der im Mai 2010 durchgeführten Parade – Public Modes of Assembly and Forms of Address. Zusammen mit dem polnischen Kurator Kuba Szreder wurde im Innenhof des Londoner Chelsea College of Art and Design, an welches Critical Practice organisatorisch angebunden ist, ein marktähnliches Setting aufgebaut. An einzelnen Ständen, die aus einfach stapelbaren schwarzen Plastikgetränkekästen zusammengestellt waren, präsentierten sich rund zwanzig Initiativen äußerst unterschiedlicher Art: darunter ein von Designern lanciertes Projekt zur Verbesserung der Wohnqualität in einem Quartier im Süden Londons, das Vorschläge zur Temporeduktion auf den Straßen, zur Ausdehnung von Aufenthaltszonen für Anwohner*innen oder auch zum Aufbau und der selbstständigen Bewirtung von Grün- und Bepflanzungsanlagen enthielt. Als Giveaway konnte, wer wollte, kleine Säckchen mit Samen etwa von Kräutern mitnehmen, dies verbunden mit der auf dem kleinen Sack angebrachten Aufforderung, die Initiierenden des Projektes wissen zu lassen, wo die Saat sprießen werde. Daneben gab es das Open Music Archive, initiiert durch Ben White und Eileen Simpson, ferner ein unterhaltenes Musik-Archiv, das sogenannte Out-of-copyright-Produktionen nicht nur sammelt und online zur Verfügung stellt, sondern sich zudem als Plattform für Austausch und Kollaboration versteht. Es wurden öffentliche Round-Tables zur Frage, wie und von wem Öffentlichkeit in Zukunft gestaltet werden soll, organisiert, und auch

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60  Critical Practice, Parade. Public Modes of Assembly and Forms of Address, Chelsea College of Art & Design, 22./23. Mai 2010.

kleine Künstlergruppen stellten ihre Praktiken vor. So auch das in Genf ansässige Kollektiv microsillon, das die Besucher in Gespräche über ihre Utopien von Schule zu verwickeln suchte. Daraus resultierte eine Sammlung an Vorschlägen, die in Form von Würfeln aufbereitet wurden, mit Hilfe derer man sich spielerisch für eine Strategie entscheiden konnte. Dazu wurden die Besucher der Parade hervorragend verpflegt: an den meisten Ständen wurden Getränke und häufig auch kleine Knabbereien offeriert, Kinder erhielten kleine Säckchen mit Süßigkeiten, so dass das reiche Angebot an kreativen Praktiken und die mitunter offensiven Gesprächsofferten in einer Weise von Behaglichkeit und Zugänglichkeit geprägt waren, die in der Tat an einen Markt erinnerte. Das im indischen Mumbai basierte Kollektiv CAMP teilt mit dem britischen Cluster ­Critical Practice die theoretisch fundierte und alle Bereiche durchdringende Selbstreflexion ihres Tuns sowie die Weigerung, als statische Einheit aufzutreten, und präsentiert sich mit dem Hinweis auf die „current members“ programmatisch als veränderbares Konstrukt. Die Gruppenkonstellation veränderte sich dennoch über die Jahre eher geringfügig, ­während die sozialen Kontexte, in denen CAMP ihre Projekte einbrachte, nicht selten als Kooperationspartnerschaften Berücksichtigung fanden.23 Umgesetzt wurde dies beispielsweise 2016 im Projekt r and r, einem „centre for artistic and cultural activity“, das im Rahmen des Forschungsprojektes Draft, das seinerseits von Institut für Gegenwartskunst an der Zürcher

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61  Critical Practice, Giveaways des Abundant Amelia Project. Parade. Public Modes of Assembly and Forms of Address, Chelsea College of Art & Design, 22./23. Mai 2010.

62  Critical Practice, Microsillons. Drawing an Utopian School. Public Modes of Assembly and Forms of Address, Chelsea College of Art & Design, 22./23. Mai 2010.

Hochschule der Künste initiiert wurde, entstanden ist.24 r and r positionierte sich innerhalb einer sehr konkreten lokalen Konstellation:25 Das Zentrum befindet sich genau auf der Grenze zwischen einer neuen staatlich initiierten Sozialbausiedlung und einem Slum in Mumbai. Die wenigen Quadratmeter, auf denen r and r nun steht, waren eine ursprünglich unverplante Fläche, auf der sich bereits eine Art Hütte befand. CAMP baute darauf eine architektonische Struktur, die maximal veränderbar und wenig prätentiös sein sollte (Farbabbildung 17). Denn dieser Raum, der vorher nicht als nutzbar wahrgenommen wurde, sollte von den Anwohnenden nicht nur besucht, sondern auch mitgestaltet werden. Das lösten die Initiierenden ein, indem sie eine Bibliothek auch durch die Besuchenden selbst bestücken ließen und zugleich als Ort konzipierten, den die Nachbarschaft auch für andere Anlässe nutzen konnte, etwa wenn auf deren Anregung hin ein Workshop zum Gardening veranstaltet wurde, um das schmale Bord vor dem Gebäude zu begrünen. Dieses Vorhaben erwies sich, wohl auch den Umständen geschuldet, als Herausforderung. Das Bild dieses schmalen Streifens Brachland, eingezwängt zwischen einem Wohn-

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63  Critical Practice, Microsillons. Drawing an Utopian School. Public Modes of Assembly and Forms of Address, Chelsea College of Art & Design, 22./23. Mai 2010.

block und einer Mauer, zeigt den Versuch, einigen Metern dieses ansonsten mit Müll übersäten Landstriches durch die Anpflanzung von Gras und dessen Reinhaltung zu neuem Leben zu verhelfen. In der die Abbildung begleitenden Kurzbeschreibung klingen die Schwierigkeiten dieses Unterfangens an: „The latest in many attempts at keeping this space clean, free of rats and usable. This one involves at first, a surface of grass in the first 1/3 of the garden. The situation before is visible beyond the green edge.“26 Danach, also nach dem 20. Juli 2017, scheint es auf diesem Streifen keine weiteren Aktivitäten mehr gegeben zu haben, das zumindest lässt sich aus der Dokumentation des Projektes auf der Website schließen. Für die zweite Hälfte des Jahres 2017 wurde ein mehrmonatiges Filmfestival angekündigt, dessen Durchführung aber im Ungewissen bleibt, wird doch das auf der Website versprochene Programm nicht aufgeführt. Es ist daher nicht auszuschließen, dass die Aktivitäten rund um r and r versiegt sind oder zumindest stark reduziert und ­jedenfalls von CAMP nicht mehr eng begleitet wurden. Die Vermutung, dass die Gruppe sich diesem komplexen Gefüge, in das sie sich mit dem Projekt r and r einschrieb, nicht genügend verbindlich zu verpflichten bereit sei, wurde bereits anlässlich der Präsentation des Vorhabens an der internationalen Konferenz Draft, die im Sommer 2016 in Zürich durchgeführt wurde, geäußert. Eine eigens zur Kommentierung der Projekte eingeladene Theoretikerin kritisierte das Vorgehen von CAMP mit dem für derartige künstlerische

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64 CAMP, r and r, Colonies of Lallubhai Compound, Garden Update, 20. Juli 2017.

­Strategien häufig geäußerten Vorwurf, sich nicht in adäquater Weise auf die jeweilige ­Situation vor Ort einzulassen. Stattdessen würde eine von außen eingebrachte Idee gleichsam über einen spezifischen lokalen Kontext gestülpt und lediglich so weit betreut, wie dies im Rahmen einer künstlerischen Laufbahn möglich sei, ungeachtet der effektiven Bedürfnisse der involvierten Parteien, in diesem Fall der lokalen Gemeinschaft.27 Mit Blick auf weitere Projekte, die CAMP seit seinem Bestehen initiiert und begleitet hat, lässt sich diese Kritik insofern relativieren, als dass das Bemühen um lokale An- und Einbindung auf eine Vielzahl von Aktivitäten der Gruppe zutrifft. Dies gilt auch weiterhin, obwohl die zunehmende internationale Anerkennung CAMP mehr und mehr Auftritte innerhalb der globalisierten Kunstszene beschert. So sammelt das mehrjährige Projekt Past – Present – Future Geschichten von Menschen aus Bombay/Mumbai, die Gruppe nutzt das Dach ihres Studiogebäudes weiterhin für Filmvorführungen wenig gezeigter Produktionen oder setzt sich im Rahmen von Umbrella Library für eine bessere Zugänglichkeit und die lokale Distribution von Büchern ein.28 Die situations- bzw. ortsspezifische Bezugnahme ist vielfältig und zielt auf unterschiedliche Ebenen, umfasst genauso die historisch ausgerichteten

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Befragungen gängiger Narrative zu spezifischen Aspekten indischer Geschichte wie medienkritisch motivierte Veranstaltungen oder interventionistisch angelegte Aktionen mit einer ausgewählten Nachbarschaft. Die Diversität dieser Aktivitäten wird durch ein theoretisch und gesellschaftskritisch fundiertes Vokabular aus den Kultur- und Medienwissenschaften gerahmt, das kein Programm abgibt, aber doch einen Bezugsrahmen herstellt, auf den sich sämtliche Projekte beziehen. Die regelmäßigen Auftritte von CAMP in Bildungskontexten legen nahe, dass ihre Beiträge zu wissenschaftlichen Diskursen auch von den entsprechenden Expert*innen für wertvoll erachtet werden. Die programmatische Ausrichtung von Chto Delat ist dagegen weit konkreter und, den Umständen geschuldet, politischer gefasst. Und es finden sich, dies eine Parallele zu Critical Practice, dezidierte Äußerungen zum Verhältnis zwischen den deklarierten Grundsätzen und den konkreten Umsetzungen: All of the platform’s initiatives are based on principles of self-organization and collectivism. These principles are realized through the political coordination of working groups, the contemporary analogue of soviets. The projects undertaken by any of these groups represent the entire platform and are closely coordinated with one another. At the same time, the existence of the platform creates a common context for interpreting the projects of its individual participants. We are likewise guided by the principle of solidarity. We organize and support mutual assistance networks with all grassroots groups who share the principles of internationalism, feminism and equality.29

Die dem Kollektiv gemeinsamen Prinzipien werden als verbindlicher Referenzrahmen ­deklariert, deren Einhaltung gefordert und zur Voraussetzung für Kooperationen mit weiteren Partnern erklärt wird. Die sehr allgemein formulierten Grundsätze zielen nicht auf eine künstlerische Spezifik, sondern beschreiben die Eckpfeiler der Organisation sozialer Verbindungen, für die Chto Delat auch in der Kunst Gültigkeit einfordert. Die Wichtigkeit und Dringlichkeit, die dieser Rahmung zugeschrieben werden, zeigt sich dann aber sowohl in den künstlerischen Werken selbst wie in der beachtlichen Textproduktion der Gruppenmitglieder und auch im Tonfall, der den meisten dieser Äußerungen eigen ist. Die Dringlichkeit findet sich bereits im Namen der Gruppe, der übersetzt ‚Was tun?‘ bedeutet und sich sowohl an Nikolai Chernyshevskys gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1863 als auch an Lenins Bezugnahme darauf in seiner gleichnamigen Schrift von 1902 anlehnt. Sowohl Chernyshevsky als auch Lenin behandeln in ihren Texten die Bedeutung und Möglichkeiten der Organisation von Arbeiter*innen im damaligen Russland in der Absicht, daraus Vorschläge abzuleiten, wie diese effektiv und im Sinne einer klassenkämpferischen Emanzipation umzusetzen sei. Daran anschließend versteht sich Chto Delat nicht nur als „artitstic cell“, sondern auch als „community organizer“ und folgt so ihrem Vorsatz, politische Theorie, Kunst und Aktivismus zu verbinden. Dieser Verbindung verpflichtet ist auch Rosa’s House of Culture, eine 2014 – im Rahmen desselben Projektes, in dem CAMP r and r initiierte – gegründete Institution, die angesichts der wachsenden Zensur in Russ-

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land einen Ort gegenkultureller Öffentlichkeit herzustellen beabsichtigte. Zur Mitarbeit eingeladen wurden folgerichtig all jene Gruppierungen, die sich unter den aktuellen politischen Bedingungen nicht mehr für ihre Interessen einsetzen oder ihre aktivistischen und/ oder kulturellen Aktivitäten nicht mehr durchführen konnten. Bereits nach wenigen ak­ tiven Monaten in den Räumlichkeiten der Galerie ArtMuza in St. Petersburg wurde Chto Delat der Mietvertrag aufgekündigt, weil der Direktor des kommerziellen Kunstraumes angesichts von Drohungen seitens staatlicher Organe um sein Geschäft fürchtete.30 Diese Anekdote illustriert die Gründe, weshalb das Kollektiv trotz beachtlicher Hindernisse auch auf der Etablierung einer konkreten eigenen Infrastruktur beharrte, war die Kooperation mit anderen Akteur*innen des Kunstsystems doch einer gewissen Willkür ausgesetzt und boten eigene Räume genau für ihr auch politisch ausgerichtetes Handeln einen Schutzraum. Dies unterscheidet Chto Delat nicht nur von einem Großteil aktueller Kollektive, sondern ebenso von den historischen Vorläufern, die kaum je mittels fixer Räumlichkeiten, allenfalls über gemeinsame Ausstellungstätigkeiten an die Öffentlichkeit traten. Im Fall von Chto Delat übernimmt der reale Raum die Funktion eines Bollwerkes der Solidarität innerhalb einer äußerst unwirtlichen kulturellen Sphäre, das unterstützt von inhaltlichprogrammatischen Voten immer wieder aufs Neue behauptet und verteidigt werden muss. Die Veröffentlichung der Grundsätze des Kollektivs unter dem Begriff der Deklaration (Declaration of Politics, Knowledge and Art)31 und die manifestartig formulierten Statements sind dagegen wenig typisch für aktuelle Kollektive. Sie schließen in Tonfall und Argumentationsweise viel eher an Gruppen des frühen 20. Jahrhunderts an, deren Zusammenhalt auch durch die Abgrenzung gegenüber einem von ihnen als feindlich gesinnt eingestuftem Außen konstituiert wurde.32 Nichtsdestotrotz interpretiert Chto Delat das Kollektiv nicht als strenges Korsett, sondern als solidarischen Zusammenhang, der Rückgrat und Ausgangspunkt für die einzelnen künstlerischen Projekte ist.

Neue Verbindlichkeit des ‚Wir‘ und dessen Anerkennung Längste Zeit erwies sich die Anerkennung kollektiver Identitäten im Kunstbetrieb als problematisch. Mit Verweis auf zahlreiche Beispiele aus dem frühen 20. Jahrhundert kommt Hans-Peter Thurn zum Schluss, dass es nicht selten der unterschiedliche Karriereverlauf der Mitglieder war, der dazu führte, dass die Gruppen oft im Streit auseinanderbrachen.33 Auftrittsmöglichkeiten als Kollektiv fanden die meisten bloß in selbstorganisierten Ausstellungen oder Publikationen. Julie Ault, langjähriges Mitglied von Group Material, einer v. a. in den 1980er Jahren in New York tätigen Gruppe, äußerte sich noch gegen Ende der 1990er Jahre enttäuscht über die fehlende Anerkennung ihrer kollektiven Aktivitäten, was sie mit der Ausrichtung des Kunstsystems auf traditionelle Koordinaten wie Einzelautorschaft oder auch der weiterhin dominierenden Objekthaftigkeit von Kunst begründete.34 Mit diesem grundlegende Hadern des Kunstbetriebes mit kollektiven Arbeitsmodel-

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len sehen sich die wenigsten aktuellen Gruppenkonstellationen konfrontiert, nicht wenige davon agieren heute erfolgreich im internationalen Umfeld, dazu gehören auch CAMP und Chto Delat. Beide Kollektive weisen neben vielen lokalen und regionalen Aktivitäten rege Ausstellungsbeteiligungen im globalen Kunstkontext auf, dies, obwohl zumindest Chto Delat sehr grundsätzliche Kritik an der aktuellen Funktionsweise des Kunstbetriebes äußert. Und auch die Reibungsflächen, die aus diesen internationalen Einladungen resultieren und die mit den mannigfaltigen Kooperationen zusammenhängen, in die sich die Kollektive vor Ort immer wieder zu verstricken beabsichtigen – oben geschildert am Beispiel von CAMP –, werden zwar fortlaufend thematisiert oder gar problematisiert, sind aber der Anerkennung nicht grundsätzlich abträglich. Diese vermehrte und breite Rezeption kollektiver Tätigkeiten im Feld der Kunst hängt mit dem bereits eingangs erwähnten steigenden Interesse an der Thematik auch in einschlägigen theoretischen Bereichen an der Schnittstelle von Kunst, Politik und Aktivismus zusammen, das sich allerdings keineswegs nur – das machen die Hinweise auf philosophische Texte von Maria Lind wie auch die Referenzen von Gesa Ziemer und Florian Schneider deutlich – auf den Kunstkontext bezieht. Dabei betonen insbesondere die beiden letztgenannten analytischen Konzepte die strategischen Aspekte, die den Formen der kollektiven künstlerischen Tätigkeit heute häufig eigen zu sein scheinen. Sowohl Gesa Ziemers Absage an freundschaftliche und somit verbindliche Qualitäten von Zusammenschlüssen wie auch Florian Schneiders Betonung pragmatischer Motivationen hinter kollektiven Prozessen vermögen so aber nur teilweise die Spezifika aktueller Formen kollektiven Agierens zu erfassen. Denn ihr Fokus wird weder genügend in Verhältnis gesetzt zu den programmatischen Statements noch zu den verbindlichen Organisationsformen, mit denen diese Kollektive ihr strukturell offenes ‚Wir‘ umschließen. Diese Betrachtungen sind durch Einschätzungen wie diejenige von Isabelle Graw zu ergänzen. Sie positioniert die besprochenen Aktivitäten vor dem Hintergrund des sogenannten „Netzwerk-Imperativs“, den sie im Anschluss an die Ausführungen von Luc Boltanski und Eve Chiapello auch für das Kunstsystem als gültig beschrieben hat.35 Genauso wie die erwähnten Kollektive ihre Aktivitäten also in Abgleich mit kulturkritischen Bestrebungen verortet sehen wollen, agieren sie im Lichte dieses Imperativs, dem sie jedoch keineswegs ausgeliefert sind, ihn vielmehr auf Basis fundierter Kenntnisse über die darin wirksamen Mechanismen und Hierarchien bespielen. So ist die Anbindung von Critical Practice an das renommierte Chelsea College in London eine im Sinne von Ziemer komplizenhafte Aneignung einer Struktur mit punktuell brauchbaren Ressourcen. Mit externen Partnern wiederum organisiert sich das Cluster weitgehend über kollaborative Verbünde, innerhalb derer die Ausrichtung auf gemeinsame ideelle Ziele auch längerfristige und verbindliche Zusammenschlüsse erfordert, ohne dabei jedoch den Anspruch an eine eingeschworene und exklusive Gemeinschaft zu formulieren. Die schriftlichen Positionierungen wiederum zeigen einen verbindlichen Zusammenhang, der verpflichtende Stellungnahmen zu gesellschaftlichen Themen und der

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Praxis des Kooperierens vorgibt. Diese reflektierte, ausdifferenzierte und situativ angepasste Modellierung des Zusammenarbeitens ist Kennzeichen der aktuellen Konstellationen. Sie finden sich auch bei CAMP und Chto Delat, wenn auch letztere, den Umständen geschuldet, die gesellschaftskritische Positionierung mit konkreten politischen Haltungen und Forderungen verbinden. Gerahmt werden diese vielfältigen Verstrickungen mit einem emphatischen ‚Wir‘, das zu gleichen Teilen selbstverständlich deklariert, solidarisch postuliert und strategisch eingesetzt wird und das sich als Ergänzung, aber nicht in Konkurrenz zum individuellen Auftritt versteht.

Anmerkungen   1 Maria Lind, The Collaborative Turn, in: Taking the Matter into Common Hands. On Contemporary Art and Collaborative Practices, hrsg. von J. Billing, London 2007, S. 15–31.   2 Mit dem Verweis auf historische Beispiele ist es Lind weniger um eine genealogische Perspektivierung zu tun, sie unternimmt auch keine Typisierung einzelner kollaborativer Praktiken. Vielmehr verweist sie auf die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich die künstlerischen Praktiken zu verorten hatten und von denen sie auch eingenommen wurden. So verweist Lind auf die Arbeitsbedingungen im Postfordismus, zu dessen zentralen Merkmalen auch kollaborative und kommunikative Verfahren zählen. Vgl. Lind 2007 (Anm. 1), S. 29.  3 Collectivism after Modernism. The Art of Social Imagination After 1945, hrsg. von B. Stimson und G. Sholette, Minneapolis/London: 2007, S. 14.   4 Gesa Ziemer, Komplizenschaft. Neue Perspektiven auf Kollektivität, Bielefeld 2013, S. 82.   5 Florian Schneider, Collaboration. The Dark Side of the Multitude, in: Sarai Reader 06: Turbulence, hrsg. von M. Narula u. a., Delhi 2006, S. 572–576.   6 Vgl. dazu die Webseite von Critical Practise, http://www.criticalpracticechelsea.org/wiki/index. php?title=Main_Page [zuletzt aufgerufen 31. Januar 2018].  7 http://www.criticalpracticechelsea.org/wiki/index.php?title=Aims [zuletzt aufgerufen 31. Januar 2018].   8 http://www.criticalpracticechelsea.org/wiki/index.php?title=04_05_16_minutes [zuletzt aufgerufen 31. Januar 2018].  9 http://www.criticalpracticechelsea.org/wiki/index.php?title=Artists,_researchers,_academics_and_ others [zuletzt aufgerufen 31. Januar 2018]. 10 https://studio.camp/about/ [zuletzt aufgerufen 5. März 2018]. Die Aktualisierung der Website umfasst, nebst der Ergänzung der beiden neuen Mitglieder, allem voran die Projekte und Events, die grundlegenden Aussagen wurden nicht verändert. 11 https://studio.camp/ [zuletzt aufgerufen 31. Januar 2018]. 12 So schreibt Critical Practice: „All art is organised, so we are trying to be sensitive to issues of governance. Governance emerges whenever there is a deliberate organisation of interactions between people [...]“ http://www.criticalpracticechelsea.org/wiki/index.php?title=Main_Page [zuletzt aufgerufen 31. Januar 2018]. 13 „To be hospitable to ideas and to people“ lautet der letzte Wunsch der Aufzählung von CAMP. https://studio.camp/ [zuletzt aufgerufen 31. Januar 2018]. 14 https://chtodelat.org/ [zuletzt aufgerufen 31. Januar 2018]. 15 Sowohl die eher strikte Auffassung einer geschlossenen Gruppe sowie das Postulieren von Haltungen über ein ‚Wir‘ findet sich verdichtet in den zahlreichen Manifesten, die in jenen Jahren

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veröffentlicht wurden. Vgl. dazu 100 Artists’ Manifestos. From the Futurists to the Stuckists, hrsg. von A. Danchev, London u. a. 2011. 16 Der Soziologe Hans-Peter Thurn hat eine Typisierung sowie ein Muster der Entwicklung von Künstlerkollektiven v. a. der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts skizziert. Darin benennt er Spannungen und Konflikte sowie die darauffolgenden „inneren Auflösungstendenzen“ als nahezu unumgehbare Etappen, die in gleicher Weise dann eintreffen, wenn die Gruppe keinen Erfolg hat, wie auch dann, wenn die Einzelmitglieder eine individuelle Karriere vorantreiben. Nicht in jedem Fall ist die Auflösung ein ausgesprochener Akt, nicht selten gestaltet sie sich als wenig gesteuerter Zerfallsprozess. Hans-Peter Thurn, Die Sozialität der Solitären. Gruppen und Netzwerke in der Bildenden Kunst, in: Kunstforum International  116, November/Dezember 1991, S. 100–129. 17 https://studio.camp/ [zuletzt aufgerufen 31. Januar 2018]. 18 Thurn 1991 (wie Anm. 16), S. 119. 19 Isabelle Graw, Der große Preis. Kunst zwischen Markt und Celebrity Culture, Köln 2008. 20 http://www.criticalpracticechelsea.org/wiki/index.php?title=Main_Page [zuletzt aufgerufen 31. Januar 2018]. 21 Ebd. 22 Eine vollständige Projektliste findet sich auf der Website von Critical Practice: http://www.criticalpracticechelsea.org/wiki/index.php?title=Furturising_the_Curriculum [zuletzt aufgerufen 31. Januar 2018]. 23 Seit Februar 2018 verfügt CAMP über eine neue Website, auf der auch die Liste der Mitglieder aktualisiert wurde. Konkret wurde die einstige Vierergruppe um zwei Personen – Simpreet Singh und Zulekha Sayyed – ergänzt. https://studio.camp/about/ [zuletzt aufgerufen 27. Februar 2018]. Die neue Website umfasst zudem eine umfassende Auflistung sämtlicher Projekte und Veranstaltungen der letzten Jahre, die von der beachtlichen Produktivität und der internationalen Anerkennung der Gruppe zeugt. 24 http://www.draftprojects.info/home.html [zuletzt aufgerufen 31. Januar 2018]. 25 r and r steht für resettlement and rehabilitation, die Bezeichnung für ein staatliches Programm, mittels dessen Slumbewohner, die aufgrund größerer Stadtplanungsprojekte ihre Hütten verlassen müssen, umgesiedelt werden. Zum Projekt selbst und der in diesem Rahmen realisierten Aktivitäten vgl.: https://aarandaar.net/ [zuletzt aufgerufen 31. Januar 2018]. 26 https://aarandaar.net/ [zuletzt aufgerufen 27. Februar 2018]. 27 Sämtliche Vorträge und Diskussionen sind einsehbar unter: http://www.draftprojects.info/conferences/zurich-2016.html [zuletzt aufgerufen 27. Februar 2018]. 28 Eine umfassende Auflistung der in den letzten Jahren realisierten Projekte und Veranstaltungen findet sich auf der Website von CAMP: https://studio.camp/ [zuletzt aufgerufen 27. Februar 2018]. Die Einordnung der einzelnen Projekte ist nicht immer einfach, dies nicht nur, weil sie jeweils sehr knapp beschrieben werden, sondern auch, weil sie in vielfältiger Weise ineinandergreifen und dennoch über je spezifische und meist eher komplexe Konstellationen verfügen. 29 Chto Delat, Declaration on Politics, Knowledge and Art, in: When Artists Struggle Together, Spezialausgabe Online-Newspaper von Chto Delat, https://chtodelat.org/b8-newspapers/12–50/ a-declaration-on-politics-knowledge-and-art/ [zuletzt aufgerufen 2. März 2018]. 30 Details zu Geschichte und Aktivitäten von Rosa’s House of Culture vgl. die Kurzbeschreibung auf der Website von Chto Delat: https://chtodelat.org/category/c215-embodied-projects/ [zuletzt aufgerufen 2. März 2018] sowie die darauf verlinkte Facebook-Seite des Projektes, auf der sämtliche Projekte dokumentiert werden. Dort wird auch ersichtlich, dass im letzten Jahr neue Räume gefunden wurden, in denen bis heute Veranstaltungen durchgeführt werden.

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31 https://chtodelat.org/category/b5-announcements/a-6/ [zuletzt aufgerufen 5. März 2018]. 32 Thurn 1991 (wie Anm. 16), S. 113–115. 33 Ebd., S. 119–125. 34 Julie Ault anlässlich einer Präsentation der Aktivitäten von Group Material an der Ecole Supérieure d’Art Visuel in Genève 1997. 35 Isabelle Graw, Der grosse Preis. Kunst zwischen Markt und Celebrity Culture, Köln 2008, S. 110.

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Bildnachweise Beitrag Tolnai 1

in: Michael Kühlenthal, Andrea Bregno in Rom, in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 32, 1997/1998 (erschienen 2002), S. 195.

2

in: Giuseppe Zander, La possibile ricomposizione del monumento sepolcrale di Paolo II, in: Rendi-

3

in: Michael Kühlenthal, Andrea Bregno in Rom, in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana

conti della Pontificia Accademia Romana di Archeologia 55/56, 1985, S. 235. 32, 1997/1998 (erschienen 2002), S. 207. 4

in: Caglioti, Francesco Da Alberti a Ligorio, da Maderna a Bernini e a Marchionni. Il ritrovamento del „San Pietro“ vaticano di Mino da Fiesole (e di Niccolò Longhi da Viggiù), in: Prospettiva 86 (1997), S. 42.

F1 in: Arianna Antoniutti, Pio II e sant’Andrea. Le ragioni della devozione, in: Enea Silvio Piccolomini. Arte, Storia e Cultura nell’Europa di Pio II, Atti dei Convegni Internazionali di Studi 2003–2004, hrsg. von R. Di Paola, A. Antoniutti und M. Gallo, Rom 2006, Taf. 12 (Farbe).

Beitrag Borkopp-Restle F2 © London, The Royal Collection © Her Majesty Queen Elizabeth II. F3 © Rom, Musei Vaticani. 5

© Jonas Leysieffer.

6

© München, Bayerisches Nationalmuseum.

7

© München, Bayerisches Nationalmuseum.

F4 © München, Bayerisches Nationalmuseum.

Beitrag Girometti 8

© Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Inventar-Nr. 811 E.

F5 © Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Inventar-Nr. 1577 F. F6 © Luxembourg, Musée National d’Histoire et d’Art. 9

© Bradford, City Art Gallery.

10 © Bologna, Pinacoteca Nazionale.

Beitrag Mende F7 © Berlin, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin. 11 © Berlin, Stadtmuseum Berlin. 12 © Berlin, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin.

Bildnachweise I 281

13 © Berlin, Foto: J. Mende. 14 in: Karl Friedrich Schinkel, Sammlung architektonischer Entwürfe enthaltend theils Werke, welche ausgeführt sind, theils Gegenstände, deren Ausführung beabsichtigt wurde, Potsdam 1818– 1835, Blatt 113. F8 in: Vorbilder für Fabrikanten und Handwerker, hrsg. von der Königlich technischen Deputation für Gewerbe, 2. Aufl., Berlin 1863, Abt. II, Taf. 1.

Beitrag Wilhelmus 15 © Georg-Meistermann-Nachlassverwaltung, Dr. J. M. Calleen/VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Fotografie: Liane Wilhelmus, Trier, 2017. 16 © Georg-Meistermann-Nachlassverwaltung, Dr. J. M. Calleen/VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Fotografie: Liane Wilhelmus, Trier, 2017. 17 © Georg-Meistermann-Nachlassverwaltung, Dr. J. M. Calleen/VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Fotografie: Liane Wilhelmus, Trier, 2017. F9 © Georg-Meistermann-Nachlassverwaltung, Dr. J. M. Calleen/VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Fotografie: Liane Wilhelmus, Trier, 2017. F10 © Georg-Meistermann-Nachlassverwaltung, Dr. J. M. Calleen/VG Bild-Kunst, Bonn 2020; © Badisches Landesmuseum Karlsruhe. Foto: Thomas Goldschmidt. F11 © Georg-Meistermann-Nachlassverwaltung, Dr. J. M. Calleen/VG Bild-Kunst, Bonn 2020; © Deutsches Klingenmuseum, Solingen. Foto: Lutz Hoffmeister.

Beitrag Hnilica 18 © Vorlass Polónyi, Baukunstarchiv NRW, TU Dortmund. F12 © Foto: Sonja Hnilica. 19 © Vorlass Polónyi, Baukunstarchiv NRW. 20 © Nachlass Schaller, Historisches Archiv des Erzbistums Köln. 21 © Nachlass Schaller, Historisches Archiv des Erzbistums Köln. 22 © Vorlass Polónyi, Baukunstarchiv NRW.

Beitrag Maar/McGovern 23 in: Eva Diaz, The Experimenters. Chance and Design at Black Mountain College, Chicago and London 2015, S. 123. 24 in: Susan Rosenberg, Trisha Brown. Choreography as Visual Art, Middletown, Connecticut, 2017, S. 29. 24 in: Yvonne Rainer. Raum Körper Sprache / Space Body Language, hrsg. v. Y. Dziewior, Barbara Engelbach, Kunsthaus Bregenz / Museum Ludwig Köln, Köln 2012, S.105. 26 in: A Feast of Astonishments. Charlotte Moorman and the Avantgarde, 1960s–1980s, hrsg. von L. Graziose Corrin und C. Granof, Evanston/Ill. 2016, S. 62. 27 in: Benjamin Patterson. Born in a State of FLUX/us, Ausst.-Kat. (Contemporary Arts Museum Houston, 2010 u.a.), hrsg. von V. Cassel Oliver, Houston, Tex. 2012, S. 175.

282 I Bildnachweise

28 in: +/- 1961. Founding the Expanded Arts, Ausst.-Kat. (Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia 2013), hrsg. von J. Robinson und Ch. Xatrec, Madrid 2013, S. 201. 29 in: A Feast of Astonishments. Charlotte Moorman and the Avantgarde, 1960s–1980s, hrsg. von L. Graziose Corrin und C. Granof, Evanston/Ill. 2016, S. 97. 30 in: A Feast of Astonishments. Charlotte Moorman and the Avantgarde, 1960s–1980s, hrsg. von L. Graziose Corrin und C. Granof, Evanston/Ill. 2016, S. 60. F13 in: +/- 1961. Founding the Expanded Arts, Ausst.-Kat. (Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia 2013), hrsg. von J. Robinson und Ch. Xatrec, Madrid 2013, S. 227. 31 in: Nam June Paik. Exposition of Music. Electronic Television Revisited, Ausst.-Kat. (Museum Moderne Kunst Stiftung Ludwig Wien 2009), hrsg. von Museum Moderne Kunst Stiftung Ludwig Wien und S. Neuburger, Köln 2009, S. 193.

Beitrag Kim 32 in: Artpool Letter 4, 1983, S. 14. Courtesy of Artpool Art Research Center. 33 © Anno Dittmer (Berlin). 34 © Anno Dittmer (Berlin). 35 © György Galántai, in: Artpool Letter 4, 1983, S. 10. Courtesy of Artpool Art Research Center. 36 in: Artpool Letter 4, 1983, S. 12–13. Courtesy of Artpool Art Research Center.

Beitrag Kurmann 37 © Luigi Kurmann. 38 © Luigi Kurmann. 39 © Luigi Kurmann. 40 © Luigi Kurmann. 41 © Luigi Kurmann. 42 © Luigi Kurmann. 43 © Luigi Kurmann. 44 © Luigi Kurmann. 45 © Luigi Kurmann. F14 © Luigi Kurmann. 46 © Courtesy Dennis Oppenheim Estate and Gori Collection, Photo: A. Amendola. F15 © Luigi Kurmann. 47 © Luigi Kurmann. 48 © Luigi Kurmann. 49 © Courtesy Dennis Oppenheim Estate, Photo: David Sundberg. 50 © Luigi Kurmann.

Beitrag Baro 51 © Kunstgiesserei St. Gallen, Fotografie: Katalin Déer. 52 © Stiftung Sitterwerk, Fotografie: Katalin Déer.

Bildnachweise I 283

53 © Kunstgiesserei St. Gallen, Fotografie: Katalin Deér. 54 © Kunstgiesserei St. Gallen, Fotografie: Katalin Deér. 55 © Urs Fischer, Courtesy the artist and Kunstgiesserei St. Gallen. 56 © Urs Fischer, Courtesy the artist and Kunstgiesserei St. Gallen. 57 © Urs Fischer, Courtesy the artist and Kunstgiesserei St. Gallen. 58 © Hanna Baro. 59 © Stiftung Sitterwerk, Fotografie: Katalin Deér. F16 © Stiftung Sitterwerk, Fotografie: Katalin Deér.

Beitrag Mader 60 © Courtesy Critical Practice, Foto: Rachel Mader. 61/62  © Courtesy Critical Practice. 63 © Courtesy Critical Practice. F17 © CAMP. 64 © CAMP.

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