Gesundheitliche Entwicklung von Jugendlichen in der Deutschen Demokratischen Republik: Eine medizinisch-soziologische Studie [Reprint 2021 ed.] 9783112573884, 9783112573877


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German Pages 130 [152] Year 1963

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Gesundheitliche Entwicklung von Jugendlichen in der Deutschen Demokratischen Republik: Eine medizinisch-soziologische Studie [Reprint 2021 ed.]
 9783112573884, 9783112573877

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Kurt

Winter

Gesundheitliche Entwicklung von Jugendlichen

Gesundheitliche Entwicklung von Jugendlichen in der Deutschen Demokratischen Republik Eine medizinisch-soziologische Studie

von P r o f . D r . m e d . h a b i l . KURT WINTER

unter Mitwirkung von D r . m e d . MAUD MASCHER-KOCH

Hygiene-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin

Mit 72 Abbildungen und 80 Tabellen

A K A D E M I E - V E R L A G • B E R L I N 1962

Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, Berlin W 8 , Leipziger Straße 3—4 Copyright 1962 by Akademie-Verlag GmbH Lizenznummer: 200 • 100/404/62 Gesamtherstellung: Druckhaus „Maxim Gorki", Altenburg Bestellnummer: 5457 ES 17 Q

VORWORT

Die beste Prophylaxe für den erwachsenen Menschen ist der umfassende Gesundheitsschutz für Kinder und Jugendliche, das heißt, ihnen eine gesunde Lebensweise und optimale Lebensbedingungen zu gewährleisten und damit die allseitige körperliche und geistige Entwicklung unabhängig von sozialen Unterschieden zu garantieren. Es ist von historischer Bedeutung, daß in der Deutschen Demokratischen Republik erstmalig für Deutschland ein umfassender Gesundheits- und Arbeitsschutz für alle Kinder und Jugendlichen geschaffen wurde. Obwohl seither erst kurze Zeit vergangen ist, erschien es uns nicht nur von wissenschaftlichem Interesse, sondern auch als eine politische Notwendigkeit, nachzuweisen, wie günstig sich sozialistische Gesellschaftsverhältnisse auf diesem Gebiet auswirken. Gleichzeitig sollte damit ein Beitrag zur Widerlegung jener reaktionären Theorien geleistet werden, die die Menschen glauben machen möchten, körperliche und geistige Leistungsfähigkeit bedingten im Kapitalismus auch die soziale Stellung, während in Wirklichkeit die Klassenverhältnisse für beides bestimmend sind. Die umfangreichen Untersuchungen zu dieser Arbeit konnten nur von einem Kollektiv bewältigt werden. Allen Beteiligten möchte ich an dieser Stelle danken. Besondere Verdienste haben sich bei der Planung und Durchführung der Untersuchungen sowie der Auswertung der Ergebnisse Dr. MAUD MASCHER-KOCH und Dr. URSULA NEELSEN erworben. Danken möchte ich auch den ehemaligen wissenschaftlichen Assistenten D. GLÖCKNER und E. HEINICKE-SOENDEROP. Anerkennung verdienen weiter Frau L. SCHULZ, unsere statistische Sachbearbeiterin, für ihre zuverlässige Arbeit bei der Ausrechnung der Werte, Frau E. DUST, Bibliothekarin, für ihre Hilfe bei der Beschaffung der Literatur und der Fertigstellung des Schrifttumsverzeichnisses, und nicht zuletzt meine Sekretärin Frau E. LÜHRS für ihre unermüdliche Unterstützung. Dem Akademie-Verlag danke ich für das Verständnis und die Unterstützung bei der Herstellung und Herausgabe. Berlin, Juni 1961

K . WINTER

INHALTSVERZEICHNIS

I. Einleitung

1

II. Geschichtlicher Überblick über den Jugendgesundheitsschutz . . .

3

Anfänge in Deutschland

3

,

Gewerbeordnung von 1869

4

Kinderarbeit um die Jahrhundertwende Kinderschutz in anderen Ländern

4 6

Schulhygienische Fragen in der Literatur

8

Historische Daten über die körperliche Entwicklung

11

Erwerbstätigkeit von Schulkindern Die weitere Entwicklung des Jugendgesundheitsschutzes

13 15

Daten über die körperliche Entwicklung von Schulkindern in der Weimarer Zeit

18

Die Entwicklung des Jugendgesundheitsschutzes in der Deutschen Demokratischen Bepublik

23

III. Material und Ergebnisse

29

A. Umfang und Methode der Untersuchung 1. Zusammensetzung der Jugendlichen 2. Soziale Anamnese •

29 29 30

B. Meßwerte und Gesundheitszustand

36

1. 2. 3. 4. 5.

Körpermaße Vergleich mit früheren Untersuchungen Menarche Rohrer-Index Gesundheitszustand

36 40 44 48 50

C. Vergleich zwischen Lehrlingen und Schülern

54

1. 2. 3. 4.

54 58 61 66

Vergleich der Meßwerte bei den Jungen Vergleich der Meßwerte bei den Mädchen Vergleich mit früheren Untersuchungen Körperliche Entwicklung, Lehrjahr und Beruf

VIII D. Soziale Fragestellung 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Meßwerte nach Beruf des Vaters bei den Jungen Meßwerte nach Beruf des Vaters bei den Mädchen Geschwisterzahl Wohnung Unterschiede zwischen Stadt und Land Arbeitsweg Schlafdauer Gesamtbelastung Sport

70 71 76 79 89 94 101 104 107 111

IV. Schlußbetrachtungen

118

V. Anhang

123

Fragebogen

123

Schlüssel

125

Literatur

128

I. Einleitung

Reihenuntersuchungen von Jugendlichen zur Beurteilung ihrer gesundheitlichen Entwicklung haben in Deutschland eine lange Tradition. Anlaß zu vorliegender Untersuchung gab die von uns ausgeübte ärztliche Betreuung Jugendlicher in einem Berliner Großbetrieb. Es traten hierbei viele Fragen auf, die besonders für die Großstadtjugend charakteristisch sind. Bei der Beschäftigung hiermit entstand das Bedürfnis nach statistisch gesicherten Meßziffern. Dabei sollte gleichzeitig geklärt werden, inwieweit die Konsolidierung der Lebensverhältnisse im Gesundheitszustand der Jugendlichen ihren Niederschlag gefunden hat. Insgesamt wurden durch die Mitarbeiter des Hygiene-Institutes — Lehrstuhl für Sozialhygiene — 7013 14- bis 18jährige untersucht. Grundlage der Untersuchung war ein Fragebogen, der eine ausführliche soziale Anamnese, eine kurze medizinische Anamnese und den Status praesens enthielt (siehe Anlage). Die Untersuchungen erfolgten an der jeweiligen Arbeitsstelle bzw. in der Schule. Die Jugendlichen wurden dazu gruppenweise in einen besonderen Raum geführt, wo sie unter Anleitung eines Arztes die anamnestischen Angaben selbst eintrugen. Die klinische Untersuchung wurde individuell vorgenommen. Selbst nach längerer Zeit der Einarbeitung benötigten wir für jeden einzelnen mindestens 15 Minuten. Die Werte für Länge und Gewicht wurden immer ohne Schuhe und in Turnbekleidung ermittelt. Die Jugendlichen setzten sich aus 2426 männlichen und 1703 weiblichen Lehrlingen, 1446 männlichen und 1438 weiblichen Oberschülern zusammen. Tabelle 1 Lehrlinge

Oberschüler

6

?

3

?

Berlin Berlin (Randgebiet) Stralsund Land

1075 579 524 248

1203 221 26 253

1446

1438

Insgesamt

2426

1703

1446









-

-

1438

5162 800 550 501 7013

In der Tabelle sind die Untersuchten nach ihrem Aufenthaltsort zur Zeit der Untersuchung aufgeführt. Hieraus geht also nicht die Herkunft hervor, auf die 1

Gesunde Jugend

2

Einleitung

wir in der Arbeit zurückkommen. Die Zusammensetzung ist selbstverständlich, nicht repräsentativ. Das war für unsere Untersuchungen unerheblich, da wir keine Normentabelle erarbeiten wollten, sondern eine Übersicht über den Gesundheitszustand. Die Untersuchungen wurden im wesentlichen 1956, 1957 und 1958 vorgenommen, und zwar jeweils in den Monaten Dezember, Januar und teilweise Anfang Februar. Ausgenommen sind hiervon 400 Lehrlinge, die bereits im Jahre 1955 untersucht wurden. Als Stichtag für die Altersbestimmung wurde jeweils der 31. Dezember festgelegt. Daraus ergibt sich, daß z. B. die als 15jährig Aufgeführten von 15 Jahre 0 Monate bis 15 Jahre 12 Monate alt sind. Da man annehmen darf, daß sich die Geburtstage gleichmäßig über das Jahr verteilen, ist die Gruppe der 15jährigen tatsächlich im Durchschnitt 15 Jahre 6 Monate alt. Entsprechend verhält es sich mit den anderen Altersgruppen. Für die Auswertung der Untersuchungsbefunde diente ein spezieller Schlüssel, nach dem die Befunde auf Kerblochkarten übertragen wurden (siehe Anlage). Um die Ergebnisse statistisch zu sichern, wurden der mittlere Fehler und die Streuungen berechnet. Für die Unterstützung hierbei sind wir unserem statistischen Mitarbeiter Dr. H E S S E L B A R T H ZU Dank verpflichtet.

II. Geschichtlicher Überblick über den Jugendgesundheitsschutz

Anfänge in Deutschland Die Anfänge des Jugendgesundheitsschutzes in Deutschland liegen in der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Mit dem Aufkommen der Industrie wurden immer mehr Frauen, Kinder und Jugendliche von den Unternehmern beschäftigt. Kinderarbeit war nichts Neues, doch mit der raschen Industrialisierung nahm die Beschäftigung, besonders der Kinder und Jugendlichen, solche Ausmaße an, daß die körperlichen Folgeerscheinungen nicht länger übergangen werden konnten. Die Kinder wuchsen zu schwachen, kranken Menschen heran, so daß jährlich immer mehr Rekruten wegen Untauglichkeit vom Wehrdienst befreit werden mußten. Schon 1827 hatte General VON HORN dem preußischen König darüber berichtet, daß aus den Industriegegenden immer weniger Taugliche für den Wehrdienst kämen [1], Auf Grund dieser Tatsache begann sich der Staat für die Arbeitsund Entwicklungsbedingungen der Kinder und Jugendlichen zu interessieren. Nach langen Diskussionen kam es, nachdem 1819 in England die Beschäftigung von Kindern unter 9 Jahren gesetzlich verboten worden, war, im Jahre 1839 in Preußen zum ersten deutschen Kinderschutzgesetz. Dieses „Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken" vom 9. März 1839 verbot die Beschäftigung von Kindern unter 9 Jahren und führte für Jugendliche bis zu 16 Jahren den lOstündigen Höchstarbeitstag bei gleichzeitigem Verbot der Nachtarbeit und Festlegung der Pausen ein [2], Dieses Gesetz bedeutete zwar den Beginn einer sozialpolitischen Gesetzgebung, änderte aber in der Praxis kaum etwas. Deshalb wurden 1845 staatlicherseits durch einen Ministererlaß Lokalkommissionen zur Aufsicht über die Einhaltung der Schutzmaßnahmen eingesetzt, die 1853 durch fakultative und 1878 durch, obligatorische staatliche Gewerbeaufsichten ersetzt wurden [2], Die Revolution von 1848 hatte auch auf die Jugendschutzgesetzgebung ihre Auswirkungen. So wurden 1849 in Preußen mit der Einrichtung von Gewerberäten den Behörden Befugnisse über die Festsetzung des Höchstarbeitstages für bestimmte Gewerbezweige einschließlich der Sonntagsruhe eingeräumt. Einen großen Fortschritt bedeutete 1853 die Erweiterung des Regulativs aus dem Jahre 1839, indem das Schutzalter von 9 auf 12 Jahre heraufgesetzt wurde. Ferner wurde die Höchstarbeitszeit für Kinder zwischen 12 und 14 Jahren auf 6 Stunden begrenzt, und für Jugendliche bis zu 16 Jahren wurde ein Arbeitsbuch eingeführt. Diesen preußischen Gesetzen folgten ähnliche in den anderen deutschen Ländern. Sachsen verbot durch das Gewerbegesetz vom 5. Oktober 1861 die Be1*

4

Geschichtlicher Überblick über den Jugendgesundheitsschutz

sehäftigung von Kindern unter 12 Jahren und legte für Kinder von 12 bis 14 Jahren den lOstündigen Höchstarbeitstag fest. Württemberg-Baden folgte 1862 mit einem ähnlichen Gesetz.

Gewerbeordnung von 1869 Der Ausgangspunkt für einen einheitlichen Rechtszustand auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes war die Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869, in deren Titel VII die von den einzelnen deutschen Ländern entwickelte Jugend- und Arbeitsschutzgesetzgebung Aufnahme fand. Diese Gewerbeordnung galt zunächst nur für den Norddeutschen Bund, wurde aber später für das Deutsche Reich übernommen. Durch zahlreiche Abänderungsgesetze wurde sie im Laufe der nächsten Jahrzehnte erheblich erweitert. Für den Jugendgesundheitsschutz haben dabei folgende Gesetze besondere Bedeutung: 1. Die bereits erwähnte obligatorische Gewerbeaufsicht aus dem Jahre 1878, die neben den ersten Grundlagen für einen besonderen Arbeitsschutz der Frauen eine Erweiterung des Jugendgesundheitsschutzes mit sich brachte. 2. Das sogenannte Arbeiterschutzgesetz vom 1. Juni 1891 zusammen mit seiner Neufassung vom 26. Juli 1900, das besondere Schutzbestimmungen für gewerblich tätige Jugendliche enthält. Im § 135 wurde bestimmt: „Kinder unter 13 Jahren dürfen nicht beschäftigt werden. Kinder ab 13 Jahre dürfen nur beschäftigt werden, wenn sie nicht mehr zum Besuch der Volksschule verpflichtet sind. Die Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren darf die Dauer von 6 Stunden täglich nicht überschreiten. Junge Leute zwischen 14 und 16 Jahren dürfen nicht länger als 10 Stunden täglich beschäftigt werden." Der § 136 verbietet für jugendliche Arbeiter bis zu 16 Jahren Nachtarbeit in der Zeit von 20 Uhr abends bis 6 Uhr morgens. Ferner müssen zwischen den Arbeitsstunden an jedem Arbeitstag regelmäßige Pausen gewährt werden. Arbeit an Sonnund Feiertagen ist verboten. 3. In einer Neuregelung des Lehrverhältnisses im Handwerk und in der Industrie wurden Rechte und Pflichten der Lehrlinge festgelegt. 4. Die Neufassung der Gewerbeordnung vom Jahre 1900 brachte als wesentliche Neuerung die Ausdehnung der Schutzbestimmungen für Jugendliche auf alle Betriebe mit 10 und mehr Beschäftigten, während die vorangegangenen Anordnungen nur für größere Betriebe Gültigkeit hatten [3].

Kinderarbeit

um die

Jahrhundertwende

Alle diese Gesetze schützten jedoch die Kinder nur vor den schlimmsten Auswirkungen der Ausbeutung. Abgesehen von den für heutige Begriffe noch völlig unzureichenden gesetzlichen Schutzmaßnahmen, waren auch die staatlichen Kon-

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Geschichtlicher Überblick über den Jugendgesundheitsschutz

sehäftigung von Kindern unter 12 Jahren und legte für Kinder von 12 bis 14 Jahren den lOstündigen Höchstarbeitstag fest. Württemberg-Baden folgte 1862 mit einem ähnlichen Gesetz.

Gewerbeordnung von 1869 Der Ausgangspunkt für einen einheitlichen Rechtszustand auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes war die Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869, in deren Titel VII die von den einzelnen deutschen Ländern entwickelte Jugend- und Arbeitsschutzgesetzgebung Aufnahme fand. Diese Gewerbeordnung galt zunächst nur für den Norddeutschen Bund, wurde aber später für das Deutsche Reich übernommen. Durch zahlreiche Abänderungsgesetze wurde sie im Laufe der nächsten Jahrzehnte erheblich erweitert. Für den Jugendgesundheitsschutz haben dabei folgende Gesetze besondere Bedeutung: 1. Die bereits erwähnte obligatorische Gewerbeaufsicht aus dem Jahre 1878, die neben den ersten Grundlagen für einen besonderen Arbeitsschutz der Frauen eine Erweiterung des Jugendgesundheitsschutzes mit sich brachte. 2. Das sogenannte Arbeiterschutzgesetz vom 1. Juni 1891 zusammen mit seiner Neufassung vom 26. Juli 1900, das besondere Schutzbestimmungen für gewerblich tätige Jugendliche enthält. Im § 135 wurde bestimmt: „Kinder unter 13 Jahren dürfen nicht beschäftigt werden. Kinder ab 13 Jahre dürfen nur beschäftigt werden, wenn sie nicht mehr zum Besuch der Volksschule verpflichtet sind. Die Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren darf die Dauer von 6 Stunden täglich nicht überschreiten. Junge Leute zwischen 14 und 16 Jahren dürfen nicht länger als 10 Stunden täglich beschäftigt werden." Der § 136 verbietet für jugendliche Arbeiter bis zu 16 Jahren Nachtarbeit in der Zeit von 20 Uhr abends bis 6 Uhr morgens. Ferner müssen zwischen den Arbeitsstunden an jedem Arbeitstag regelmäßige Pausen gewährt werden. Arbeit an Sonnund Feiertagen ist verboten. 3. In einer Neuregelung des Lehrverhältnisses im Handwerk und in der Industrie wurden Rechte und Pflichten der Lehrlinge festgelegt. 4. Die Neufassung der Gewerbeordnung vom Jahre 1900 brachte als wesentliche Neuerung die Ausdehnung der Schutzbestimmungen für Jugendliche auf alle Betriebe mit 10 und mehr Beschäftigten, während die vorangegangenen Anordnungen nur für größere Betriebe Gültigkeit hatten [3].

Kinderarbeit

um die

Jahrhundertwende

Alle diese Gesetze schützten jedoch die Kinder nur vor den schlimmsten Auswirkungen der Ausbeutung. Abgesehen von den für heutige Begriffe noch völlig unzureichenden gesetzlichen Schutzmaßnahmen, waren auch die staatlichen Kon-

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Geschichtlicher Überblick über den Jugendgesundheitsschutz

sehäftigung von Kindern unter 12 Jahren und legte für Kinder von 12 bis 14 Jahren den lOstündigen Höchstarbeitstag fest. Württemberg-Baden folgte 1862 mit einem ähnlichen Gesetz.

Gewerbeordnung von 1869 Der Ausgangspunkt für einen einheitlichen Rechtszustand auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes war die Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869, in deren Titel VII die von den einzelnen deutschen Ländern entwickelte Jugend- und Arbeitsschutzgesetzgebung Aufnahme fand. Diese Gewerbeordnung galt zunächst nur für den Norddeutschen Bund, wurde aber später für das Deutsche Reich übernommen. Durch zahlreiche Abänderungsgesetze wurde sie im Laufe der nächsten Jahrzehnte erheblich erweitert. Für den Jugendgesundheitsschutz haben dabei folgende Gesetze besondere Bedeutung: 1. Die bereits erwähnte obligatorische Gewerbeaufsicht aus dem Jahre 1878, die neben den ersten Grundlagen für einen besonderen Arbeitsschutz der Frauen eine Erweiterung des Jugendgesundheitsschutzes mit sich brachte. 2. Das sogenannte Arbeiterschutzgesetz vom 1. Juni 1891 zusammen mit seiner Neufassung vom 26. Juli 1900, das besondere Schutzbestimmungen für gewerblich tätige Jugendliche enthält. Im § 135 wurde bestimmt: „Kinder unter 13 Jahren dürfen nicht beschäftigt werden. Kinder ab 13 Jahre dürfen nur beschäftigt werden, wenn sie nicht mehr zum Besuch der Volksschule verpflichtet sind. Die Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren darf die Dauer von 6 Stunden täglich nicht überschreiten. Junge Leute zwischen 14 und 16 Jahren dürfen nicht länger als 10 Stunden täglich beschäftigt werden." Der § 136 verbietet für jugendliche Arbeiter bis zu 16 Jahren Nachtarbeit in der Zeit von 20 Uhr abends bis 6 Uhr morgens. Ferner müssen zwischen den Arbeitsstunden an jedem Arbeitstag regelmäßige Pausen gewährt werden. Arbeit an Sonnund Feiertagen ist verboten. 3. In einer Neuregelung des Lehrverhältnisses im Handwerk und in der Industrie wurden Rechte und Pflichten der Lehrlinge festgelegt. 4. Die Neufassung der Gewerbeordnung vom Jahre 1900 brachte als wesentliche Neuerung die Ausdehnung der Schutzbestimmungen für Jugendliche auf alle Betriebe mit 10 und mehr Beschäftigten, während die vorangegangenen Anordnungen nur für größere Betriebe Gültigkeit hatten [3].

Kinderarbeit

um die

Jahrhundertwende

Alle diese Gesetze schützten jedoch die Kinder nur vor den schlimmsten Auswirkungen der Ausbeutung. Abgesehen von den für heutige Begriffe noch völlig unzureichenden gesetzlichen Schutzmaßnahmen, waren auch die staatlichen Kon-

Kinderarbeit um die Jahrhundertwende

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trollen vielfach sehr mangelhaft, und ein großer Teil der Kinder wurde gar nicht erfaßt. Die Berufs- und Gewerbezählung im Jahre 1895 stellte 214954 gewerblich tätige Kinder fest; sie ermittelte ferner, daß in der Landwirtschaft 30604 Kinder unter 12 und 104521 Kinder im Alter von 12 bis 14 Jahren tätig waren [4], Man war aber davon überzeugt, daß die wirkliche Zahl um ein Vielfaches größer sei. Von der Lehrerschaft wurde die Zahl dieser Kinder auf mindestens eine Million geschätzt. Jedes achte deutsche Kind war demnach zur damaligen Zeit erwerbstätig. Lehr er vereine in Pommern und im Rheinland schätzten noch höhere Zahlen. Sie veranschlagten allein die Zahl der in der Landwirtschaft tätigen Kinder auf zwei Millionen, wobei sie alle in diesem Erwerbszweig tätigen Kinder mit einbezogen (z. B. beim Viehhüten, beim Kartoffel-, Getreide- und Weinbau). Es ist das große Verdienst der Pädagogen, die ja täglich die Auswirkungen der Kinderarbeit vor Augen hatten, daß sie immer wieder auf die verheerenden Folgen hinwiesen und eine Regelung auf höchster Ebene forderten. Sie erreichten schließlich, daß durch den deutschen Reichskanzler eine „Erhebung der gewerblichen Kinderarbeit außerhalb der Fabriken" angeordnet wurde. Diese Erhebung sollte die Berufszählung vom Jahre 1895 ergänzen. Sie erstreckte sich auf die gewerbliche Kinderarbeit außerhalb der Fabriken; dabei wurden aber ausdrücklich die landwirtschaftlichen Tätigkeiten ausgeschlossen, die der größere Teil der Kinder ausübte. Diese Erhebung im Jahre 1898 ergab, daß außerhalb der Fabriken insgesamt 532283 Kinder unter 14 Jahren tätig waren. Nach der Art der Beschäftigung teilten sie sich wie folgt auf [4]: Industrie Handel Verkehr Gaststättenwesen Austragsdienste Laufdienste Sonstige gewerbliche Tätigkeiten

57,64% 3,31% 0,51% 4,06% 25,52% 6,75% 2,21 %

Über das „Alter gewerblich beschäftigter Kinder" gibt eine Tabelle aus Preußen Auskunft. Nach den preußischen Angaben lag bei 11891 gewerblich tätigen Kindern folgende altersmäßige Zusammensetzung vor: 6 bis V „ 8 „ 9 „ 10 „ 12 „

7 Jahre 8 „ 9 „ 10 „ 12 „ 14 „

1,5% 4,1% 7,1% 11,6% 29,5% 46,2%

In Sachsen und Thüringen wurden noch um die Jahrhundertwende einzelne Kinder schon vom 4. Lebensjahr an gewerblich beschäftigt. Diese Tatsache wirft ein anderes sehr trauriges Problem auf, nämlich das der Hausindustrie, die besonders in Sachsen, Thüringen, Württemberg und Baden

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Geschichtlicher Überblick über den Jugendgesundheitsschutz

weitverbreitet war. Nicht weniger als 306823 Kinder arbeiteten in der Hausindustrie. Somit war also der größte Teil der in der Industrie arbeitenden schulpflichtigen Kinder in solchen Gewerbszweigen tätig, die bisher nicht der Gewerbeordnung unterlagen. Wenn man auch generell verlangte, daß die Kinderschutzgesetzgebung diese Kinder mit zu erfassen habe, so sollen als Charakteristikum für die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse folgende Zeilen wörtlich zitiert werden: ,,. . . so mußte doch andererseits hierbei auf die Lebensbedingungen und die Lebenserhaltung der Bewohner, die in etwa auf die Erträgnisse der Kinder mit angewiesen sind, Rücksicht genommen werden. In Sachsen, Thüringen, Württemberg und Baden würden in den Gegenden mit ausgedehnter Kinderarbeit die Lebenshaltung vieler Familien geradezu weiter herabgedrückt werden, wenn man mit rauher Hand z. B. die gewerbliche Beschäftigung fremder und eigener Kinder unter 14 Jahren verbieten wollte; und auch die Industrie könnte sich nicht plötzlich etwa durch höhere Löhne erwachsener gewerblicher Arbeiter helfen, wenn sie noch konkurrenzfähig bleiben will" [4]. Es gab auch damals schon fortschrittliche Vertreter in der Lehrerschaft, die das Verbot jeglicher Erwerbsarbeit für Kinder forderten. Sie erkannten sehr richtig, daß jede Erwerbstätigkeit für die Entwicklung der Kinder sowohl in physischer als auch in psychischer Hinsicht schädlich sei; außerdem drücke die Kinderarbeit nur die Löhne, wobei der Profit allein der Industrie zugute käme. Diese fortschrittlichen Kräfte konnten sich jedoch gegenüber der Mehrzahl der Pädagogen und Sozialpolitiker, welche die Kinderarbeit in begrenztem Maße aus „erzieherischen" Gründen für notwendig hielten, nicht durchsetzen. Man wollte keine selbständig denkenden, keine gebildeten Menschen erziehen, sondern die Kinder frühzeitig in die ihnen zugedachte soziale Stellung einreihen, zumal die billige Arbeitskraft der Kinder nicht verlorengehen sollte. Demzufolge konnte auch das Kinderschutzgesetz vom 30. März 1903 nicht viel Neues bringen. „Das Gesetz soll", wie es in den Erläuterungen zum Kinderschutzgesetz heißt, „kein Verbot der gewerblichen Kinderarbeit sein, nur der mißbräuchlichen Ausbeutung der kindlichen Arbeitskraft und der dadurch entstehenden Schädigung der Entwicklung des Kindes durch unvernünftige und gleichgültige Eltern und durch gewissenlose Arbeitgeber soll es vorbeugen." Das Gesetz unterscheidet zwischen eigenen und fremden Kindern, indem die Beschäftigung von fremden Kindern unter 12 Jahren und von eigenen unter 10 Jahren verboten wird. Die Beschäftigung von Kindern über 12 Jahren soll nicht länger als 3 Stunden täglich betragen. Schulbehörden, Gewerbeaufsichtsbeamte und Polizei wurden beauftragt, bei groben Verstößen einzugreifen [4].

Kinderschutz

in anderen

Ländern

In anderen Ländern bestanden ähnliche Probleme in bezug auf den Kinder- und Jugendgesundheitsschutz wie in Deutschland. Die gesetzlichen Bestimmungen sind den deutschen ähnlich; sie zielen darauf ab, den Schulunterricht gegenüber

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Geschichtlicher Überblick über den Jugendgesundheitsschutz

weitverbreitet war. Nicht weniger als 306823 Kinder arbeiteten in der Hausindustrie. Somit war also der größte Teil der in der Industrie arbeitenden schulpflichtigen Kinder in solchen Gewerbszweigen tätig, die bisher nicht der Gewerbeordnung unterlagen. Wenn man auch generell verlangte, daß die Kinderschutzgesetzgebung diese Kinder mit zu erfassen habe, so sollen als Charakteristikum für die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse folgende Zeilen wörtlich zitiert werden: ,,. . . so mußte doch andererseits hierbei auf die Lebensbedingungen und die Lebenserhaltung der Bewohner, die in etwa auf die Erträgnisse der Kinder mit angewiesen sind, Rücksicht genommen werden. In Sachsen, Thüringen, Württemberg und Baden würden in den Gegenden mit ausgedehnter Kinderarbeit die Lebenshaltung vieler Familien geradezu weiter herabgedrückt werden, wenn man mit rauher Hand z. B. die gewerbliche Beschäftigung fremder und eigener Kinder unter 14 Jahren verbieten wollte; und auch die Industrie könnte sich nicht plötzlich etwa durch höhere Löhne erwachsener gewerblicher Arbeiter helfen, wenn sie noch konkurrenzfähig bleiben will" [4]. Es gab auch damals schon fortschrittliche Vertreter in der Lehrerschaft, die das Verbot jeglicher Erwerbsarbeit für Kinder forderten. Sie erkannten sehr richtig, daß jede Erwerbstätigkeit für die Entwicklung der Kinder sowohl in physischer als auch in psychischer Hinsicht schädlich sei; außerdem drücke die Kinderarbeit nur die Löhne, wobei der Profit allein der Industrie zugute käme. Diese fortschrittlichen Kräfte konnten sich jedoch gegenüber der Mehrzahl der Pädagogen und Sozialpolitiker, welche die Kinderarbeit in begrenztem Maße aus „erzieherischen" Gründen für notwendig hielten, nicht durchsetzen. Man wollte keine selbständig denkenden, keine gebildeten Menschen erziehen, sondern die Kinder frühzeitig in die ihnen zugedachte soziale Stellung einreihen, zumal die billige Arbeitskraft der Kinder nicht verlorengehen sollte. Demzufolge konnte auch das Kinderschutzgesetz vom 30. März 1903 nicht viel Neues bringen. „Das Gesetz soll", wie es in den Erläuterungen zum Kinderschutzgesetz heißt, „kein Verbot der gewerblichen Kinderarbeit sein, nur der mißbräuchlichen Ausbeutung der kindlichen Arbeitskraft und der dadurch entstehenden Schädigung der Entwicklung des Kindes durch unvernünftige und gleichgültige Eltern und durch gewissenlose Arbeitgeber soll es vorbeugen." Das Gesetz unterscheidet zwischen eigenen und fremden Kindern, indem die Beschäftigung von fremden Kindern unter 12 Jahren und von eigenen unter 10 Jahren verboten wird. Die Beschäftigung von Kindern über 12 Jahren soll nicht länger als 3 Stunden täglich betragen. Schulbehörden, Gewerbeaufsichtsbeamte und Polizei wurden beauftragt, bei groben Verstößen einzugreifen [4].

Kinderschutz

in anderen

Ländern

In anderen Ländern bestanden ähnliche Probleme in bezug auf den Kinder- und Jugendgesundheitsschutz wie in Deutschland. Die gesetzlichen Bestimmungen sind den deutschen ähnlich; sie zielen darauf ab, den Schulunterricht gegenüber

Kinderschutz in anderen Ländern

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der gewerblichen Kinderarbeit zu sichern, und verbieten die Beschäftigung überhaupt bzw. gestatten diese nur innerhalb gewisser Grenzen. In England, wo die Industrialisierung sehr früh begann und somit die gewerbliche Kinderarbeit mit ihren ernsten Folgen ebenfalls früher als anderswo zur Diskussion stand, wurde bereits im Jahre 1802 das erste Kinderschutzgesetz erlassen, dem ein zweites im Jahre 1819 folgte. In diesem Gesetz wurde die Beschäftigung von Kindern unter 9 Jahren verboten; für Kinder von 9 bis 16 Jahren wurde die Arbeitszeit auf 10 Stunden begrenzt. Die praktische Durchführung, die ebenfalls auf großen Widerstand stieß, sollte durch eine im Jahre 1833 eingeführte Gewerbeaufsicht gewährleistet werden. Das Fabrik- und Werkstättengesetz vom 17. Mai 1878, ergänzt und abgeändert durch Novellen aus den Jahren 1883, 1891 und 1895, verbot u. a. die Beschäftigung von Kindern unter 11 Jahren in Fabriken und Werkstätten. „Ältere Personen" bis zu 16 Jahren durften nur beschäftigt werden, wenn sie ein ärztliches Zeugnis über ihre Tauglichkeit zur Fabrikbeschäftigung beibrachten. Das Gesetz enthielt ferner Bestimmungen über die Höchstarbeitszeit. Diese gesetzlichen Anordnungen waren für Fabriken und Werkstätten aller Produktionsgewerbe bestimmt, also auch für die Hausindustrie, nicht aber für die sogenannten „domestic Workshops", d. h. für solche Betriebe, in denen ohne Maschinenkraft gearbeitet wurde und nur Mitglieder von Familien beschäftigt waren, die in den Räumen wohnten. In den letztgenannten Betrieben waren halbtägige Arbeitsschichten, die nicht länger als 5 Stunden ohne Pause dauerten, bei Gewährleistung des Schulbesuches gestattet. In Frankreich wurde die industrielle Kinderarbeit durch das Gesetz vom 2. Oktober 1892 in der Weise geregelt, daß Kinder erst nach Vollendung des 13. Lebensjahres, also erst nach Beendigung der Schulpflicht, in gewerblichen Betrieben beschäftigt werden durften. Das Gesetz galt für Fabriken, Bergwerke und alle kleineren Werkstätten. Ausgenommen waren Betriebsstätten ohne Motorbetrieb, also die Hausindustrie, sowie Handels- und Verkehrsgewerbe, Läden und Büros. Die Gesetze der übrigen Länder entwickelten sich ähnlich. Die industrielle Kinderarbeit wurde verboten. Die Verordnungen über die Hausindustrie waren uneinheitlich; landwirtschaftliche und Handelsbetriebe blieben überall unberücksichtigt. Die bisherigen Ausführungen geben uns einen Einblick in die schwerwiegenden Probleme, mit denen sich der Kinder- und Jugendgesundheitsschutz im vorigen Jahrhundert zu befassen hatte. Es wäre jedoch irrig, zu glauben, daß sich die Fürsorge für Kinder und Jagendliche in dem teilweisen Verbot der Kinderarbeit bzw. in deren Kontrolle erschöpfte. Selbstverständlich war diese Aufgabe vorrangig, und die erzielten Erfolge bei der Abschaffung der gröbsten Ausbeutung der Kinder und bei der Gewährleistung eines einigermaßen geregelten Schulbesuches sind beachtenswert, da sie nicht losgelöst von der damaligen gesellschaftlichen Situation betrachtet werden dürfen.

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Geschichtlicher Überblick über den Jugendgesundheitsschutz

Schulhygienische Fragen in der Literatur Daneben wurden Fragen der Schulhygiene und der schulärztlichen Betreuung seit der Entstehung des Schulwesens in Deutschland im 16. Jahrhundert immer wieder aufgeworfen. J O H A N N P E T E R F R A N K weist in seinem Werk „System einer vollständigen medicinischen Polizey" auf die Bedeutung hin, welche die Sauberhaltung der Schulen, die Beleuchtung und Lüftung der Schulräume, die Temperatur in ihnen und die Einrichtung der Schulen im Hinblick auf die gesundheitliche Entwicklung der Kinder haben. Er erkennt auch bereits den Einfluß, den unpassende Schulbänke auf die Entstehung von Haltungsschäden ausüben [5], In seiner „Akademischen Rede vom Volkselend als der Mutter der Krankheiten" (Pavia 1790) deckt J . P. F R A N K die soziale Not des Volkes auf und weist auf deren Auswirkung bereits in frühester Jugend hin: „Kaum haben die Söhne der Armut das Knabenalter erreicht, so heißt man sie schon, gezwungen durch die Not ihrer Eltern, sich an allzu harte Arbeiten zu machen. Davon rührt die Abnahme der Größe, der Ebenmäßigkeit, der natürlichen Vollkommenheit, davon die Verschlechterung der menschlichen Rasse, die man bei dieser Klasse von Bürgern ebenso wie bei ihren Haustieren beobachten kann, daß nämlich die Teile, die vorzeitig in harter Arbeit angespannt wurden, sehr klein bleiben und so der Körper um seine Wohlgestalt, Kraft und natürliche Schönheit betrogen wird." [6] Der Gesundheitskatechismus von B E R N H A R D C H R I S T O P H F A U S T aus dem Jahre 1792 fand in den Schulen eine weite Verbreitung und Beachtung [7], Eine heftige Diskussion verursachte die von L O R I N S E R , Medizinalrat in Oppeln, im Jahre 1836 veröffentlichte Schrift „Zum Schutz der Gesundheit in den Schulen" [8], In dieser Arbeit machte L O R I N S E R die Schule für eine Reihe von Erkrankungen verantwortlich und sprach sich vor allem gegen eine Überbelastung der Gymnasiasten aus. So führte er aus, „daß es im allgemeinen mit der Gesundheit der Schüler mieslicher als jemals bestellt ist, daß die jetzige Unterrichtsweise zur Entwicklung von Krankheitsanlagen sehr geeignet und daß es meistens schwer und oft unmöglich ist, bei diesem System eine normale und kräftige Ausbildung des Körpers zu erzielen". Obwohl L O R I N S E R auf großen Widerstand stieß, fand er doch die Unterstützung einiger Pädagogen und Ärzte. R O B E R T F R O R I E P , Prosektor und Konservator des pathologischen Museums der Charité und Vorgänger von V I R C H O W , machte eine Reihe von Vorschlägen, die den schädlichen Einfluß der Schulen ohne eine Benachteiligung der schulischen Ausbildung beseitigen sollten : 1. Festsetzung genauer Altersgrenzen, bei denen eine bestimmte Stundenzahl nicht überschritten werden darf. 2. Täglich eine Stunde körperliche Übungen. 3. Keine zu frühen Einschulungen. 4. Beim Entwerfen des Lehrplanes muß darauf geachtet werden, daß die Lehrgegenstände nicht zu mannigfaltig und auch für das Alter der Kinder geeignet seien. 5. Die Schulbehörden sind einzuschalten, wenn die in den einzelnen Klassen geforderten Leistungen durch die Bemühungen der Lehrer die festgesetzte

Schulhygienisehe Fragen in der Literatur

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Stufe übersteigen. (Nach einer Mitteilung F R O R I E P S waren die Examina in Preußen mehr eine Kontrolle des Lehreres als des Schülers, woraus sich ein Wettbewerb der Lehrer entwickelte.) 6. Eine Verordnung ist zu erlassen über die Aufnahme junger Menschen in die Elementarschule nicht vor dem 9. Lebensjahr, in die Gelehrtenschule nicht vor dem 11., und in die Universität nicht vor dem 20. Lebensjahr [9]. Diese Vorschläge lassen erkennen, daß eine Reihe von ihnen auch heute noch Gültigkeit hat. Auch R U D O L F VIECHOW hat sich eingehend mit den Fragen der Schulhygiene befaßt. I n seiner im Jahre 1869 erschienenen Abhandlung „Über gewisse die Gesundheit benachteiligende Einflüsse der Schulen" machte er für eine Anzahl von Erkrankungen, wie z . B . die Myopie, Verkrümmungen der Wirbelsäule, Erkrankungen der Brusteingeweide, Tuberkulose, ansteckende Krankheiten, die Schule mit verantwortlieh. Als Ursache zitierte V I R C H O W : „1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Luft im Schullokal, Licht im Schullokal, Sitzen im Schullokal, körperliche Bewegungen, geistige Anstrengungen, Strafen, Trinkwasser."

VIRCHOW verlangte die Einstellung von Schulärzten, die sich mit der Beseitigung von Mißständen in den Schulen befassen sollten, welche die körperliche Entwicklung der Kinder negativ beeinflussen [10]. Der Verein für öffentliche Gesundheitspflege in Nürnberg erklärte im J a h r e 1877: „Das jetzige Unterrichtssystem in den Schulen wirkt nach verschiedenen Seiten hin . . . störend auf die allgemeine körperliche Entwicklung, zumeist auf das Sehorgan" [11]. Der Breslauer Augenarzt C O H N hatte bereits im Jahre 1 8 6 7 an H a n d von Augenuntersuchungen an Schulkindern nachgewiesen, daß die Anzahl der Myopien im Verlaufe der Schulzeit ansteigt, wofür er einmal die Schulgebäude mit ihren Mängeln und zum anderen schlechte häusliche Angewohnheiten verantwortlich machte. Eine Untersuchung von 1060 Schülern hatte folgendes ergeben: Der Anteil der Kurzsichtigen betrug in:

Dorfschulen städtischen Elementarschulen Mittelschulen höheren Töchterschulen Realschulen Gymnasien und bei 410 Studierenden

5,2%, 14,7%, 19,2%, 21,9%, 24,1%, 31,7% 68,0%.

10

Geschichtlicher Überblick über den Jugendgesundheitsschutz

stellte ferner fest, daß nicht nur die Zahl der Kurzsichtigen sich vergrößere, sondern auch der Grad der Myopie [12]. Alle diese Untersuchungsergebnisse, Warnungen und Forderungen konnten auf die Dauer nicht ungehört bleiben. So stellten Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die Städte Frankfurt (Main), Dresden, Leipzig und Nürnberg erstmalig Schulärzte ein. Diese waren zunächst in erster Linie für die hygienischen Belange in der Schule verantwortlich. Erst das „Wiesbadener Schularztsystem" aus dem Jahre 1897 stellte den Ärzten die Aufgabe, die gesundheitliche Betreuung der Schulkinder zu übernehmen [13]. Die Wiesbadener Schularztordnung wurde auf Grund von Ergebnissen aufgestellt, welche vier in Wiesbaden nebenamtlich eingestellte Ärzte bei Untersuchungen von 7000 Schülern ermittelt hatten. Die Ärzte stellten bei den von ihnen untersuchten Schülern eine große Zahl pathologischer Befunde fest, die zum Teil in Unzulänglichkeiten der Schule mit begründet lagen. Die Prinzipien dieser Schularztordnung haben noch heute Gültigkeit und sind ein wesentlicher Bestandteil des Schulgesundheitswesens in Deutschland geblieben. Damals wurde die Schulanfängeruntersuchung zur Bestimmung der Schultauglichkeit eingeführt; weitere Untersuchungen im 3., 5. und 8. Schuljahr sowie die laufende Kontrolle der körperlichen Entwicklung durch jährliches Wiegen und Messen wurden vorgeschlagen. Ein Gesundheitsbogen wurde eingeführt, welcher den Schüler während seiner ganzen Schulzeit begleiten sollte. Besondere Aufmerksamkeit sollte der Arzt den sogenannten Überwachungsschülern (gesundheitsgefährdeten Kindern) schenken und bei der späteren Berufswahl den Jugendlichen beratend zur Seite stehen. Alle diese Forderungen gehören noch heute zu den Aufgaben des Schulgesundheitswesens und stellen bei ihrer praktischen Durchführung unsere Schulärzte noch immer vor teilweise schwierige Aufgaben. Trotz der ärztlich begründeten Notwendigkeit kam es damals zu keiner generellen Einführung einer schulärztlichen Betreuung in Deutschland. Ausgenommen war der kleine Staat SachsenMeiningen, der im Jahre 1901 den schulärztlichen Dienst an allen Schulen einführte. Es blieb den Gemeinden bzw. den einzelnen Ländern und damit also der Einsicht und Bereitwilligkeit der jeweiligen Stadtväter überlassen, inwieweit sie eine gesundheitliche Betreuung der Schulkinder für notwendig erachteten [14]. Überbückt man die Entwicklung, die der Kinder- und Jugendschutz in den beschriebenen wenigen Jahrzehnten genommen hat, so sind infolge der damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse Erfolge nur in den dadurch gegebenen Grenzen zu verzeichnen. Die Erwerbstätigkeit von Schulkindern konnte erheblich reduziert werden; Anfänge einer schulärztlichen Betreuung waren zu verzeichnen. Die damaligen Schutzbestimmungen und die gesundheitliche Betreuung sind jedoch keineswegs mit den unsrigen vergleichbar; es gab sogar große Gebiete in Deutschland, wo selbst die wenigen gesetzlichen Schutzbestimmungen nur sehr ungenügend eingehalten wurden oder für die sie, wie z. B. in den meisten Landgemeinden, gar nicht galten. Verantwortungsbewußte Pädagogen, Ärzte, Staats- und Militärbeamte — letztere wohl mehr aus „vaterländischem Interesse" — waren auf die Mängel der körperlichen und gesundheitlichen Entwicklung der Kinder COHN

11

Historische Daten über die körperliche Entwicklung

und Jugendlichen aufmerksam geworden und traten für eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen ein. So ist es nicht verwunderlich, daß gerade in der Zeit um •die Jahrhundertwende die ersten größeren Untersuchungen von Jugendlichen stattfanden, die teilweise von Militärärzten durchgeführt wurden, denen die unterschiedliche Tauglichkeit und Körperverfassung von Rekruten aus verschiedenem Milieu zu denken gab. Aber auch andere Ärzte interessierten sich für •den Gesundheitszustand der Kinder. Die folgenden Tabellen sollen einen Einblick in die körperliche Entwicklung (Länge und Gewicht) von Jugendlichen um die Jahrhundertwende geben. Historische

Daten über die körperliche

Entwicklung

Um die Frage des Rückganges der Wehrtauglichkeit in Berlin näher zu analysieren (1907 - 31,4%, 1910 - 27,6%), stellte MEINSHAUSEN, Militärarzt in F r a n k f u r t (Oder), eine Reihe von Untersuchungsergebnissen dieser Jahre zusammen [15]. Vorwiegend handelte es sich dabei um Längenmaße, da die Gewichte bei den früheren Untersuchungen nur selten regelmäßig festgestellt wurden. S C H W I E N I N G h a t in seinem Aufsatz „Über die Zunahme der Körpergröße der militärpflichtigen Jugend in einigen europäischen Staaten" nachgewiesen, daß in den Jahren 1894 bis 1903 die MiHtärpflichtigen größer geworden sind, d. h. die Zahl derjenigen mit größerer Länge zugenommen hat [16]. J e 100 untersuchte Militärpflichtige konnten in folgende Größengruppen unterteilt werden: bis 155,0 cm

155,1 bis 160,0 cm

160,1 bis 165,0 cm

165,1 bis 170,0 cm

170,1 bis 175,0 cm

175,1 bis 180,0 cm

über 180 cm

3,8 3,6

11,3 10,4

26,8 26,2

30,2 30,2

19,5 20,4

7,0 7,4

1,6 1,8

-0,2

-0,9

+0,9

+0,4

+0,2

1894 bis 1898 1899 bis 1903 Differenz

-0,6

±0,0

BRUINSMA berichtet über stärkeres Längenwachstum der Jugendlichen in den Niederlanden und f ü h r t dieses auf eine Verbesserung der Ernährung und der hygienischen Verhältnisse zurück. Als Beweis für den positiven Einfluß günstiger sozialer Umweltbedingungen bringt er einen Vergleich der Längenmaße zwischen •den aus sozial besser gestellten Schichten stammenden 18jährigen Kadetten und Freiwilligen und den 19jährigen Milizen [17]. I n den Jahren 1895 bis 1904 hatten von je 100

19jährigen Milizen 8,2 52,5 39,3

18jährigen Kadetten 2,2 34,0 63,8

eine Körpergröße von 155 bis 159 cm, 160 bis 169 cm, 170 cm und mehr.

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Historische Daten über die körperliche Entwicklung

und Jugendlichen aufmerksam geworden und traten für eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen ein. So ist es nicht verwunderlich, daß gerade in der Zeit um •die Jahrhundertwende die ersten größeren Untersuchungen von Jugendlichen stattfanden, die teilweise von Militärärzten durchgeführt wurden, denen die unterschiedliche Tauglichkeit und Körperverfassung von Rekruten aus verschiedenem Milieu zu denken gab. Aber auch andere Ärzte interessierten sich für •den Gesundheitszustand der Kinder. Die folgenden Tabellen sollen einen Einblick in die körperliche Entwicklung (Länge und Gewicht) von Jugendlichen um die Jahrhundertwende geben. Historische

Daten über die körperliche

Entwicklung

Um die Frage des Rückganges der Wehrtauglichkeit in Berlin näher zu analysieren (1907 - 31,4%, 1910 - 27,6%), stellte MEINSHAUSEN, Militärarzt in F r a n k f u r t (Oder), eine Reihe von Untersuchungsergebnissen dieser Jahre zusammen [15]. Vorwiegend handelte es sich dabei um Längenmaße, da die Gewichte bei den früheren Untersuchungen nur selten regelmäßig festgestellt wurden. S C H W I E N I N G h a t in seinem Aufsatz „Über die Zunahme der Körpergröße der militärpflichtigen Jugend in einigen europäischen Staaten" nachgewiesen, daß in den Jahren 1894 bis 1903 die MiHtärpflichtigen größer geworden sind, d. h. die Zahl derjenigen mit größerer Länge zugenommen hat [16]. J e 100 untersuchte Militärpflichtige konnten in folgende Größengruppen unterteilt werden: bis 155,0 cm

155,1 bis 160,0 cm

160,1 bis 165,0 cm

165,1 bis 170,0 cm

170,1 bis 175,0 cm

175,1 bis 180,0 cm

über 180 cm

3,8 3,6

11,3 10,4

26,8 26,2

30,2 30,2

19,5 20,4

7,0 7,4

1,6 1,8

-0,2

-0,9

+0,9

+0,4

+0,2

1894 bis 1898 1899 bis 1903 Differenz

-0,6

±0,0

BRUINSMA berichtet über stärkeres Längenwachstum der Jugendlichen in den Niederlanden und f ü h r t dieses auf eine Verbesserung der Ernährung und der hygienischen Verhältnisse zurück. Als Beweis für den positiven Einfluß günstiger sozialer Umweltbedingungen bringt er einen Vergleich der Längenmaße zwischen •den aus sozial besser gestellten Schichten stammenden 18jährigen Kadetten und Freiwilligen und den 19jährigen Milizen [17]. I n den Jahren 1895 bis 1904 hatten von je 100

19jährigen Milizen 8,2 52,5 39,3

18jährigen Kadetten 2,2 34,0 63,8

eine Körpergröße von 155 bis 159 cm, 160 bis 169 cm, 170 cm und mehr.

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Geschichtlicher Überblick über den Jugendgesundheitsschutz

Obwohl die Kadetten 1 Jahr jünger waren, überragten sie die aus schlechterem sozialem Milieu stammenden Milizen in ihrer Körpergröße. Einen weiteren Einblick in Untersuchungsergebnisse aus der Zeit um 1900 gewährt die folgende Zusammenstellung: Tabelle 2 Länge und Gewicht von 14- bis 21jährigen männlichen Jugendlichen ^ ERISMANN

Großrussen

WRISSENBERG

Südrussische _ . Juden

W . CAMERER

KOCH-HESSE

KONIGSFELDER

Jena

Kadetten

_ Berlin

Alter

Länge

Länge

Gewicht

Länge

Länge

Gewicht

14 15 16 17 18 19 20 21

141,2 146,7 153,2 158,6 161,8 163,6 164,4 164,4

145,3 149,1 157,1 161,3 161,9 163,5 164,1 165,2

37,9 41,0 46,3 51,4 54,0 56,8 56,6 58,5

151 157 164 168 170

152,7 158,6 164,9 168,2 169,2 170,3 (171) (175,3)

42,5 48,0 54,0 57,4 59,4 62,7

Länge Gewicht (158). 167,8 170,3 171,0 172,4 173,0 —

174,3

(45) 53,9 58,7 61,6 62,9 64,1 —

64,3

E R I S M A N N gewann seine Ergebnisse bei Untersuchungen russischer Fabrikarbeiter 1 8 8 9 [18, 19], W. C A M E R E R [ 2 0 ] untersuchte Berliner Kinder (die Werte wurden 1906 veröffentlicht), und die Jenenser Untersuchungen wurden 1905 an „wohlhabenden deutschen Jünglingen" durchgeführt [21]. Erstmalig erscheinen in der Literatur auch Ergebnisse von Brustumfangsuntersuchungen .

Tabelle 3 Brustumfangsdifferenz 14- bis 22jähriger männlicher Jugendlicher [22]

Alter

14 15 16 17 18 19 20 21 bis 22

_

RIETZ ,.

WRISSENBERG

Berliner _ , „ . _ Schulkinder

5,1 5,3 5,4 4,9 5,0 5,2 5,1 4,9

5,9 7,0 6,3 6,5 6,2 -

KONIGSFELDER

, , Kadetten

(5,6) 6,1 7,4 8,8 9,8 10,1 9,9

Erwerbstätigkeit von Schulkindern

13

Aus dem Jahre 1903 stammt die Arbeit von E. RIETZ „Das Wachstum Berliner Schulkinder während der Schuljahre", in der er über die Ergebnisse der Untersuchung von 5134 Berliner Schulkindern berichtet. RIETZ untersuchte in mehreren Berliner Bezirken Kinder und Jugendliche von Gymnasien, Gemeindeschulen und einer Höheren Töchterschule. Die folgende Tabelle gibt seine Ergebnisse auszugsweise wieder. (Die Meßwerte der Kinder von 6 bis 13 Jahren wurden nicht berücksichtigt) [23]. Tabelle 4 Knaben Gymnasien Alter

Länge

Gewicht

14 15 16 17 18 19

156,0 162,4 165,8 169,0 171,0 (171,1)

46,1 51,7 56,3 59,1 64,4 65,5

Gemeindeschulen Länge Gewicht 146,6

37,5

Mädchen Höhere GemeindeTöchterschulen schulen Länge Gewicht • Länge Gewicht 156,6 158,0

49,7 51,2

150,5

43,1

Alle hier zitierten Untersuchungsergebnisse zeigen deutlich die Abhängigkeit der körperlichen Entwicklung von sozialen Umweltfaktoren: Sowohl die Kinder in den Gemeindeschulen als auch die einberufenen Rekruten waren ihren gleichaltrigen Kameraden aus sozial besseren Verhältnissen in Länge und Gewicht unterlegen. Erwerbstätigkeit

von

Schulkindern

Die geschaffenen Gesetze gaben wohl einen Schutz vor der schlimmsten Ausbeutung der Kinder, Kinderarbeit selbst war aber nach wie vor für sozial schlecht gestellte Bevölkerungsschichten üblich und wirkte sich zusammen mit den übrigen schlechten Lebensbedingungen (Ernährung, Wohnung u. a.) nachteilig auf die körperliche Entwicklung der Kinder aus. Die deutsche Berufszählung aus dem Jahre 1907 ergab, daß 23402 Knaben und 9050 Mädchen unter 14 Jahren gewerblich tätig waren. Aber diese Zahlen geben die Wirklichkeit nicht richtig wieder. Eine österreichische Statistik, die auf der im Jahre 1908 durchgeführten Erhebung des arbeitsstatistischen Amtes im Handelsministerium beruht, ermittelte folgendes Bild [24] (siehe Tabelle 5, nächste Seite): Über die Abhängigkeit der Kinderarbeit von weiteren sozialen Bedingungen, z. B. darüber, ob es sich bei den Kindern um Halb- oder Vollwaisen handelt, gibt •die bereits erwähnte österreichische Untersuchung ebenfalls Auskunft (Tab. 6).

Erwerbstätigkeit von Schulkindern

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Aus dem Jahre 1903 stammt die Arbeit von E. RIETZ „Das Wachstum Berliner Schulkinder während der Schuljahre", in der er über die Ergebnisse der Untersuchung von 5134 Berliner Schulkindern berichtet. RIETZ untersuchte in mehreren Berliner Bezirken Kinder und Jugendliche von Gymnasien, Gemeindeschulen und einer Höheren Töchterschule. Die folgende Tabelle gibt seine Ergebnisse auszugsweise wieder. (Die Meßwerte der Kinder von 6 bis 13 Jahren wurden nicht berücksichtigt) [23]. Tabelle 4 Knaben Gymnasien Alter

Länge

Gewicht

14 15 16 17 18 19

156,0 162,4 165,8 169,0 171,0 (171,1)

46,1 51,7 56,3 59,1 64,4 65,5

Gemeindeschulen Länge Gewicht 146,6

37,5

Mädchen Höhere GemeindeTöchterschulen schulen Länge Gewicht • Länge Gewicht 156,6 158,0

49,7 51,2

150,5

43,1

Alle hier zitierten Untersuchungsergebnisse zeigen deutlich die Abhängigkeit der körperlichen Entwicklung von sozialen Umweltfaktoren: Sowohl die Kinder in den Gemeindeschulen als auch die einberufenen Rekruten waren ihren gleichaltrigen Kameraden aus sozial besseren Verhältnissen in Länge und Gewicht unterlegen. Erwerbstätigkeit

von

Schulkindern

Die geschaffenen Gesetze gaben wohl einen Schutz vor der schlimmsten Ausbeutung der Kinder, Kinderarbeit selbst war aber nach wie vor für sozial schlecht gestellte Bevölkerungsschichten üblich und wirkte sich zusammen mit den übrigen schlechten Lebensbedingungen (Ernährung, Wohnung u. a.) nachteilig auf die körperliche Entwicklung der Kinder aus. Die deutsche Berufszählung aus dem Jahre 1907 ergab, daß 23402 Knaben und 9050 Mädchen unter 14 Jahren gewerblich tätig waren. Aber diese Zahlen geben die Wirklichkeit nicht richtig wieder. Eine österreichische Statistik, die auf der im Jahre 1908 durchgeführten Erhebung des arbeitsstatistischen Amtes im Handelsministerium beruht, ermittelte folgendes Bild [24] (siehe Tabelle 5, nächste Seite): Über die Abhängigkeit der Kinderarbeit von weiteren sozialen Bedingungen, z. B. darüber, ob es sich bei den Kindern um Halb- oder Vollwaisen handelt, gibt •die bereits erwähnte österreichische Untersuchung ebenfalls Auskunft (Tab. 6).

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Geschichtlicher Überblick über den Jugendgesundheitsschutz Tabelle 5 Erwerbsarbeit der Schulkinder in Österreich

Von den arbeitenden Schulkindern sind beschäftigt:

nur in einem Arbeitszweig im Haushalt in der Landwirtschaft in der Industrie einschl. Gewerbe- und Heimarbeit im Gast- und Schankgewerbe im Handel und Verkehr als Austräger, Laufburschen auf sonstige Weise in mehreren Arbeitszweigen zugleich

insgesamt

Knaben

Mädchen

%

%

%

55,8

59,4

51,7

18,4 23,8 10,5 0,6 0,9 1,3 0,3 44,2

11,1 33,2 11,0 0,9 1,1 1,7 0,4 40,6

26,5 13,4 9,9 0,3 0,7 0,8 0,1 48,3

100,0

100,0

100,0

Tabelle 6 Erwerbstätige Schulkinder nach

Familienverhältnissen Schulkinder

Von den in die tabellarische Bearbeitung einbezogenen Schulkindern sind

a) ehelich hiervon: mit lebenden Eltern halb verwaist ganz verwaist

überhaupt 396679

34,6

137386

345645 46543 4491

b) unehelich hiervon: mutterlos

[24] Hiervon arbeiten in absoluten . m /o Zahlen

21712

116956 18564 1866 8088

2336 Summe:

418391

33,8 39,9 41,5 37,3 48,8

1139 145474

34,8

Die Gesamtbelastung, die dem Schulkind aus der Summierung von Schul- und Erwerbsarbeit erwächst, geht aus einer Erhebung im Kanton St. Gallen aus dem Jahre 1909 hervor, die 29614 Kinder erfaßte (Tab. 7). Von den Kindern waren 32,44% erwerbstätig [24] (nächste Seite oben). A . F I S C H E K wertet die Probleme der Kinderarbeit sehr richtig, wenn er die eigentlichen Ursachen in der damaligen gesellschaftlichen Situation sucht. Er sagt: „Vom Standpunkt der Gesundheitspflege aus wird man zu der Frage

15

Die weitere Entwicklung des Jugendgesundheitsschutzes Tabelle 7 Die Oesamtbelastung

Stunden:

I

der Schulkinder

nach

Stunden

bis5 5bis 6 6bis 7 7 bis8 8bis9 9 bis 10 10bis 11 11 bis 12 über 12

aller Kinder 4,7 der Knaben 4,3 der Mädchen 5,1

3,9 3,6 4,4

10,6 10,6 10,6

18,2 19,4 16,6

17,7 17,2 18,3

13,5 13,4 13,6

7,9 7,7 8,2

3,9 3,9 4,0

2,0 2,1 1,9

gedrängt, ob es nicht erforderlieh wäre, mit Hilfe der Gesetzgebung die Kinder von jeglicher Erwerbsarbeit fernzuhalten. Aber es ist sehr zweifelhaft, ob den Kindern mit einem solchen Verbot unter den gegebenen Zuständen gedient wäre. Wir sehen ja, daß es vorzugsweise verwaiste, mutterlose Kinder sind, die erwerbstätig sein müssen; und die Kinder, welche noch Eltern besitzen und doch zur Arbeit gezwungen sind, um Geld zu verdienen, werden hierzu nur durch die soziale Notlage gezwungen. Ein vollkommenes Arbeitsverbot für Kinder wäre nur dann am Platze, wenn zuvor dafür gesorgt wäre, daß die Eltern über die Einnahmen, die zur Bestreitung der Lebenshaltung erforderlich sind, verfügen . . . Infolge des wirtschaftlichen Elends der Eltern müssen die Kinder erwerbstätig sein, was zu einer Behinderung ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung f ü h r t ; und infolge dieser Ungunst fehlt ihnen zumeist wiederum das Maß von Tüchtigkeit, um später so viel zu verdienen, daß ihre Kinder sich der Erwerbsarbeit enthalten können" [24]. Die weitere Entwicklung

des

Jugendgesundheitsschutzes

Der Jugendgesundheitsschutz machte in den folgenden Jahren keine weiteren Fortschritte, die durch die damalige gesellschaftliche Situation gesetzten Grenzen waren erreicht. Die Kinder- und Jugendschutzbestimmungen schützten die Kinder vor der schärftsten Ausbeutung und schirmten die größten Gefahren f ü r die Gesundheit der Jugendlichen ab. Die Sorgen über die Wehrtüchtigkeit der Jugendlichen waren durch die erlassenen Gesetze zunächst einmal beseitigt, und auch das „Gewissen" war beruhigt. Sozial bedingte Unterschiede in bezug auf die physische und psychische Entwicklung, wie sie bei den zeitgenössischen Untersuchungen offenkundig wurden, nahm man als selbstverständlich und unabwendbar hin und deutete sie entsprechend der Ideologie der Bourgeoisie „wissenschaftlich" als erblich bedingte Auslese. Die Kinder der herrschenden Klasse, die später ihre Väter bei der Führung der Ausbeutung ersetzen sollten, waren ja nicht gefährdet; sie waren ja nicht gezwungen, durch ihre Arbeit als Laufbursche, Gehilfe, landwirtschaftlicher Arbeiter u. a. zum Familienunterhalt beizutragen. Man muß jedoch betonen, daß auch damals immer wieder verantwortungsbewußte Menschen f ü r eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Kinder u n d Jugendüchen eingetreten sind. Dies gilt vor allem für die Vertreter der deutschen

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Die weitere Entwicklung des Jugendgesundheitsschutzes Tabelle 7 Die Oesamtbelastung

Stunden:

I

der Schulkinder

nach

Stunden

bis5 5bis 6 6bis 7 7 bis8 8bis9 9 bis 10 10bis 11 11 bis 12 über 12

aller Kinder 4,7 der Knaben 4,3 der Mädchen 5,1

3,9 3,6 4,4

10,6 10,6 10,6

18,2 19,4 16,6

17,7 17,2 18,3

13,5 13,4 13,6

7,9 7,7 8,2

3,9 3,9 4,0

2,0 2,1 1,9

gedrängt, ob es nicht erforderlieh wäre, mit Hilfe der Gesetzgebung die Kinder von jeglicher Erwerbsarbeit fernzuhalten. Aber es ist sehr zweifelhaft, ob den Kindern mit einem solchen Verbot unter den gegebenen Zuständen gedient wäre. Wir sehen ja, daß es vorzugsweise verwaiste, mutterlose Kinder sind, die erwerbstätig sein müssen; und die Kinder, welche noch Eltern besitzen und doch zur Arbeit gezwungen sind, um Geld zu verdienen, werden hierzu nur durch die soziale Notlage gezwungen. Ein vollkommenes Arbeitsverbot für Kinder wäre nur dann am Platze, wenn zuvor dafür gesorgt wäre, daß die Eltern über die Einnahmen, die zur Bestreitung der Lebenshaltung erforderlich sind, verfügen . . . Infolge des wirtschaftlichen Elends der Eltern müssen die Kinder erwerbstätig sein, was zu einer Behinderung ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung f ü h r t ; und infolge dieser Ungunst fehlt ihnen zumeist wiederum das Maß von Tüchtigkeit, um später so viel zu verdienen, daß ihre Kinder sich der Erwerbsarbeit enthalten können" [24]. Die weitere Entwicklung

des

Jugendgesundheitsschutzes

Der Jugendgesundheitsschutz machte in den folgenden Jahren keine weiteren Fortschritte, die durch die damalige gesellschaftliche Situation gesetzten Grenzen waren erreicht. Die Kinder- und Jugendschutzbestimmungen schützten die Kinder vor der schärftsten Ausbeutung und schirmten die größten Gefahren f ü r die Gesundheit der Jugendlichen ab. Die Sorgen über die Wehrtüchtigkeit der Jugendlichen waren durch die erlassenen Gesetze zunächst einmal beseitigt, und auch das „Gewissen" war beruhigt. Sozial bedingte Unterschiede in bezug auf die physische und psychische Entwicklung, wie sie bei den zeitgenössischen Untersuchungen offenkundig wurden, nahm man als selbstverständlich und unabwendbar hin und deutete sie entsprechend der Ideologie der Bourgeoisie „wissenschaftlich" als erblich bedingte Auslese. Die Kinder der herrschenden Klasse, die später ihre Väter bei der Führung der Ausbeutung ersetzen sollten, waren ja nicht gefährdet; sie waren ja nicht gezwungen, durch ihre Arbeit als Laufbursche, Gehilfe, landwirtschaftlicher Arbeiter u. a. zum Familienunterhalt beizutragen. Man muß jedoch betonen, daß auch damals immer wieder verantwortungsbewußte Menschen f ü r eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Kinder u n d Jugendüchen eingetreten sind. Dies gilt vor allem für die Vertreter der deutschen

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Geschichtlicher Überblick über den Jugendgesundheitsschutz

Arbeiterbewegung, denen sich auch Ärzte anschlössen. Ihre Bemühungen scheiterten jedoch an den Bestrebungen des deutschen Monopolkapitals, das im Interesse der Steigerung seines Profits den ersten Weltkrieg vom Zaune brach, der unter seinen Trümmern selbst die Anfänge eines Kinder- und Jugendgesundheitsschutzes in Deutschland begrub. Ein weiterer Fortschritt wurde erst nach dem ersten Weltkrieg und der Novemberrevolution 1918 erzielt. Die Arbeiter erkämpften die Verwirklichung des schon Jahrzehnte geforderten Achtstundentages. Damit war zunächst auch einmal die Frage der Arbeitszeit der Jugendlichen geklärt. Bedingt durch die große Not der Kriegs- und Nachkriegszeit, war die Jugend zu einem besonders großen Problem geworden, was zur Schaffung des Jugendgerichts- und Jugendwohlfahrtsgesetzes beitrug [25], Im Jugendgerichtsgesetz, erlassen am 16. Februar 1923 und am 1. J u n i 1923 in K r a f t getreten, wird festgelegt, daß Jugendlicher ist, wer älter als 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist. Taten von Jugendlichen unter 14 Jahren sind nicht strafbar; Straftaten von Jugendlichen gehören in die Zuständigkeit der Jugendgerichte. Das Reichsgesetz für Jugend Wohlfahrt wurde am 9. Juli 1922 erlassen und t r a t am 1. April 1924 in K r a f t ; es umfaßt 6 Abschnitte. Erstmalig übernimmt der Staat den Jugendlichen gegenüber zumindest einige grundsätzliche Verpflichtungen. I m ersten Abschnitt, § 1 des Gesetzes, heißt es: „Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit. Insoweit der Anspruch des Kindes auf Erziehung von der Familie nicht erfüllt wird, t r i t t unbeschadet der Mitarbeit freiwilliger Tätigkeit öffentliche Jugendhilfe ein." Der Abschnitt 2 befaßt sich mit den Jugendwohlfahrtsbehörden, ihrer Organisation und ihren Aufgaben. So sollen in allen Gemeinden bzw. Gemeindeverbänden Jugendämter eingerichtet werden, deren hauptamtliche Mitarbeiter eine Ausbildung in der Jugendwohlfahrt erhalten haben. Neben diesen leitenden Beamten sind u. a. der Kreisschulrat, der Kreismedizinalrat, der Gewerberat und der Vormundschaftsrichter berechtigt, an den Sitzungen der Jugendämter mit beratender Stimme teilzunehmen. Die Koordinierung der Arbeit der Jugendämter und die Aufstellung gemeinsamer Richtlinien geschieht durch die Landesjugendämter; als oberste Behörde in Fragen der Jugendwohlfahrt fungiert das Reichsjugendamt. Besondere Bedeutung kommt dem § 4 des Gesetzes zu, worin als weitere Aufgabe der Jugendämter festgelegt wird, „Einrichtungen und Veranstaltungen anzuregen, zu fördern und gegebenenfalls zu schaffen f ü r : 1. 2. 3. 4. 5.

Beratung in Angelegenheiten der Jugendlichen, Musterschutz vor und nach der Geburt, Wohlfahrt der Säuglinge, Wohlfahrt der Kleinkinder, Wohlfahrt der im schulpflichtigen Alter stehenden Jugend außerhalb des Unterrichts, 6. Wohlfahrt der schulentlassenen Jugend."'

Die weitere Entwicklung des Jugendgesundheitsschutzes

.

17

Der dritte Abschnitt befaßt sich mit dem Schutz der Pflegekinder, der vierte mit der Stellung des Jugendamtes im Vormundschaftswesen, der fünfte mit der öffentlichen Unterstützung hilfsbedürftiger Minderjähriger, und im sechsten Abschnitt werden die Schutzaufsicht und die Fürsorgeerziehung behandelt. Dieses Oesetz ist in sozialpolitischer Hinsicht ohne Zweifel von größter Bedeutung. Leider aber — und das ist bezeichnend für die damalige gesellschaftliche Situation — war das Gesetz bei seinem Inkrafttreten nur noch ein Rudiment dessen, was in verantwortungsvoller Arbeit festgelegt worden war. Heftige Auseinandersetzungen hatten zu zahlreichen Verordnungen geführt, welche die bedeutendsten Teile des Gesetzes bereits wieder aufgehoben hatten, noch bevor sie überhaupt in K r a f t getreten waren, so den § 78, der lautet: „Für die aus der Durchführung dieses Gesetzes den Trägern der Jugendwohlfahrt erwachsenden Kosten gewährt das Reich den Ländern einen Betrag, der bis zu anderweitiger gesetzlicher Regelung, mindestens aber für die nächsten drei Jahre, auf jährlich hundert Millionen Mark festgesetzt wird." Die Gründung eines Reichsjugendamtes entfiel, die Schaffung von Landesjugendämtern wurde dem Ermessen der Länder überlassen, ja deren Aufgaben konnten sogar „einer anderen geeigneten Amtsstelle" übertragen werden. Auch für die im Interesse des Kinder- und Jugendgesundheitsschutzes so bedeutsamen Aufgaben des § 4 bestand „eine Verpflichtung zur Durchführung" nicht. Es war also von dem so groß angelegten Gesetz kaum etwas übriggeblieben. Die Arbeit, welche die Jugendämter gerade in dieser Zeit leisteten, soll durch die Schilderung dieser Tatsachen nicht geschmälert werden; es konnte sich aber mehr oder weniger nur um karitative Maßnahmen handeln, die, ohne die eigentlichen Ursachen an der Wurzel zu erfassen — nämlich die gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern —, nur die gröbsten sozialen Mißstände linderten. Wertvolle Arbeit leisteten in diesen Jahren auch viele Ärzte, besonders Stadt-, Schul- und Kinderärzte. So wurden in zahlreichen deutschen Städten bei Kindern und Jugendlichen umfangreiche Erhebungen von Größe und Gewicht durchgeführt, um Normwerte zu erhalten, die den Schulärzten helfen sollten, die bedürftigsten Kinder für die Anfang der zwanziger Jahre stattfindende „Quäkerspeisung" (Schulspeisung mit ausländischer Hilfe) zu ermitteln. Die folgenden Tabellen sind eine kleine Auswahl aus der großen Zahl von Meßwerten der damaligen Untersuchungen [26].

2

Gesunde Jugend

18

Geschichtlicher Überblick über den Jugendgesundheitsschutz

Daten über die körperliche Entwicklung von Schulkindern in der Weimarer Zeit Tabelle 8 Größe und Gewicht von männlichen Jugendlichen in Berlin im Dezember 1920 (zusammengestellt von Stadtrat Prof. Dr. W . 0ETTINGER) Fortbildungsschulen

r

Höhere Schulen

Anzahl

Größe

Gewicht

Anzahl

Größe

Gewicht

15 167a 16 1672

346 105 118 86 141

148,1 150,9 154,0 158,4

37,8 41,5 43,7 47,3

224 228 175 145

156,3 159,3 162,1 164,2

167a bis 17 17 bis 177a

81 113

158,9 162,7 163,6

48,2 52,1 52,0

168 119 116 113 71 63

167,3 169,7 170,6 171,5 172,4 172,4

43,3 45,7 49,0 50,0 54,3 56,1 57,7 58,5 60,3 59,3

14

bis 14V2

14V2 15 1572 16

bis bis bis bis

177a bis 18 18 bis 187a 187a bis 19 Tabelle 9

Größe und Gewicht von männlichen und weiblichen Jugendlichen (Leipzig 1922) Fach- und Fortbildungsschulen

Höhere Schulen

Anzahl

Größe

Gewicht

Anzahl

Größe

Gewicht

147 1005 928 880 763 387 293

148,1 149,3 151,9 153,2

38,3 39,3 41,4 43,4 46,0 49,4 51,5

489 404 414 303 302

151,1 155,5 156,9 161,5 163,6 166,0 168,0 170,6

39,8 43,2 44,4 48,4 50,8 53,1 55,4 57,5

153,8 155,2

43,8 44,9

155,8 156,4 158,0 158,7 159,1

46,4 46,9 49,2 51,9 51,8

Knaben 137a 14 147ü 15

bis bis bis bis

14 1472 15 1572

'157a b i s ! 6 16 bis 167a 1672 bis 17 17 bis 177a

156,0 159,1 161,7

196 189 115

Mädchen 137a bis 14 ,14 bis 147a

166 1005

148,6 149,3

147a bis 15 15 bis 157a

928

. 151,9 153,2 156,0 159,1 161,7

157a bis 16 16 bis 167a 167a bis 17

880 763 387 293

40,5 39,3 41,7 43,4 46,0 49,9 51,5

144 468 485 384 341 100 107

19

Daten über die körperliche Entwicklung in der Weimarer Zeit

Ähnliche Untersuchungen wurden in Thüringen, Schlesien, Sachsen, in Bonn, München, Augsburg, Würzburg, Stuttgart, Karlsruhe, Freiburg und anderen Städten vorgenommen. Wie Vergleiche mit späteren Untersuchungen zeigen werden, waren in den zwanziger Jahren die Jungen und Mädchen in Gewicht und Länge unseren Jugendlichen deutlich unterlegen. Weiterhin findet man, daß die Kinder aus armen Verhältnissen ihren gleichaltrigen Kameraden aus sozial bessergestellten Schichten in ihren Körpermaßen auffallend nachstanden. Die Unterschiede sind teilweise so groß, daß man an ihnen eine chronische Unterernährung ablesen kann. In dieser sozialen „Untermaßigkeit", die bis heute noch nicht ganz überwunden ist, treten besonders deutlich die sozialen Probleme der damaligen Zeit zutage. Für die Notlage der Jugendlichen in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg sprechen die Ergebnisse von Untersuchungen in Münchener Fortbildungsschulen aus den Jahren 1913, 1920 und 1922 [26], Tabelle 10 Größe und Gewicht von männlichen

(nach Schularzt Dr.

Alter 14 bis 147 2 bis 15 bis 157 2 bis 16 bis 167 2 bis 17 bis 1772 b i a

147 2 15 1572 16 1672 17 177 2 18

Jugendlichen

TH. FÜRST)

Größe

Gewicht

1913

1920

1922

1913

1920

1922

148,5 150,5 152,5 155,7 158,3 161,2 162,3 164,8

148,3 149,8 150,9 152,9 155,1 157,8 162,1 164,1

146,1 149,1 151,9 156,7 157,4 160,1 161,2 163,6

39,0 40,7 42,8 45,4 47,5 49,9 52,0 53,6

38,1 40,3 42,0 43,1 46,2 47,4 50,6 51,7

37,7 39,2 42,9 46,7 48,5 48,7 51,1 53,7

In all diesen Jahren wurden auf dem Gebiet des Jugendgesundheitsschutzes zahlreiche wertvolle Untersuchungen durchgeführt. Besondere Beachtung wurde gerade den sozial benachteiligten Jugendlichen geschenkt, und die Ergebnisse dieser Erhebungen gewähren uns einen Einblick in die Vielzahl und den Umfang der sozialen Belastungen, wenn man auch gleichzeitig betonen muß, daß die Ärzte damals wenig Möglichkeiten besaßen, die gewonnenen Erkenntnisse zu einer Veränderung der Lage zu verwenden. Die soziale Herkunft ist bei allen Untersuchungen der entscheidende Faktor. Man erhält hier nicht allein Auskunft über den Beruf des Vaters, sondern — und das gilt uneingeschränkt für die damalige Zeit — hier wird zugleich die wirtschaftliche Situation der Familie charakterisiert. Wohnverhältnisse, Kinderzahl, Belastungen und Erwerbstätigkeit der Kinder hingen eng mit dem Beruf des Vaters zusammen. 2*

20

Geschichtlicher Überblick über den Jugendgesundheitsschutz

Der spätere Beruf des Jugendlichen war weitgehend vom Beruf des Vaters oder zumindest von der sozialen Wertigkeit seines Berufes abhängig. So schreibt LAZARSFELD : „Der Übergang in die nächst höhere Einkommensklasse ist um so unwahrscheinlicher, je geringer die Höhe des Einkommens. Am schwierigsten muß demnach der soziale Aufstieg für die einkommensschwächsten Schichten sein" [27]. Nach Untersuchungen von NOTHAAS rückten jeweils nur ungefähr 10% der jungen Arbeitergeneration in sozial höhere Stellungen ein [28]. Bei den höheren Berufen stammten auf Grund einer Erhebung an über 10000 „berühmten Zeitgenossen" im Jahre 1927 aus Arbeiterkreisen:

von Prozent

Intelligenz _ _ und Beamte

„ Kunstler

Wirtschafts.... fuhrer

5953 1,0

2159 2,3

1273 1,7

Politiker

Insgesamt

540 20,3

9925 2,8

Der numerische Anteil des Arbeiternachwuchses an den Studenten aller deutschen Hochschulen betrug: im %

Sommersemester 1928 1,9

im Wintersemester 1928/29

im Sommersemester 1929

2,2

2,7

Zu erwähnen ist, daß die Arbeiterschaft zu dieser Zeit etwa 2 / 3 der Gesamtbevölkerung ausmachte. Die soziale Herkunft drückt sich weiter in der unterschiedlichen Kinderzahl und in den Wohnverhältnissen aus. So schreibt W E B N I C K E : „Die Überfüllung der Wohnungen ist um so größer, je geringer die Zimmerzahl der Wohnungen." [29]. Es kamen nach einem Gesamtdurchschnitt mehrerer genau untersuchter deutscher Städte bei einzimmrigen Wohnungen 2,4 bis 3,8 Personen auf 1 Wohnraum, „ drei- „ „ 1,5 bis 1,8 „ „ 1 „ fünf- „ „ 1,0 Person ,, 1 ,, BREGMANN, Magdeburg, befaßte sich in seiner Arbeit „Zur Großstadtlehre der Landjugend" mit den besonders schweren Bedingungen, die Lehrlingen aus ländlichen Gemeinden bei einer Stadtlehre erwachsen. Arbeitszeit, Arbeitsweg, Schlafdauer, Mahlzeiten und andere Faktoren wurden von ihm dabei berücksichtigt [30]. B. MEWES erzielte bei einer im Auftrage des Reichsausschusses deutscher Jugendverbände durchgeführten Erhebung folgende Ergebnisse (127500 männliche und 71600 weibliche Jugendliche) [31]:

Daten über die körperliche Entwicklung in der Weimarer Zeit

21

Der Arbeitsweg der Jugendlichen beträgt in Gemeinden mit mehr als 100000 Einwohnern Std. Weg zur Arbeitsstätte reine Arbeitszeit eingesprengte Pausen Überstunden Aufräumungsarbeiten Berufsschule außerhalb der Arbeit Rückweg von der Arbeitsstätte

8 1

11 Std.

Min. 25 30 15 15* 10 10* 25 10 Min.

mit weniger als 5000 Einwohnern Std.

9 1

12 Std.

Min. 15 45 10 5* 10 25* 25 15 Min.

* Diese Zahl entsteht dadurch, daß die Jugendlichen, die überhaupt keine Überstunden leisten, bzw. diejenigen, deren Schulzeit ganz in die Arbeitszeit fällt, mit in die Durchschnittsbildung einbezogen werden.

Nach dieser Aufstellung wurden die Jugendlichen im Durschschnitt täglich 11 bis 12 Stunden von ihrer Erwerbstätigkeit in Anspruch genommen. Hinzu kommt, daß nach Aussagen des Verfassers 12,9% der Jugendlichen 4 bis 8 Stunden Sonntagsarbeit leisten mußten. Über die Urlaubsverhältnisse gibt die nachstehende Tabelle Auskunft. T a b e l l e 11 Es hatten Urlaub im Jahr gar nicht

bis einschl. 5 Tage

6 bis 10 Tage

über 10 Tage

Knaben Mädchen

27,9% 12,7%

24,1% 21,7%

41,6% 43,4%

6,4% 22,2%

Zusammen

23,1%

23,3%

42,2%

11,4%

Alle sozialen Faktoren zusammen fanden ihren Ausdruck in der körperlichen und gesundheitlichen Entwicklung der Jugendlichen. Jede Vergleichsuntersuchung bei Schülern und bei Lehrlingen bzw. jugendlichen Arbeitern zeigte große Differenzen zugunsten der Schüler; denn hier herrschten bessere soziale Verhältnisse, und hier fanden auch die Ärzte den besseren körperlichen Allgemeinzustand vor. Umfangreiche Lehrlingsuntersuchungen wurden von BÜSING in den Jahren 1924 bis 1928 in Kiel vorgenommen, wobei soziale Faktoren berücksichtigt

22

Geschichtlicher Überblick über den Jugendgesundheitsschutz

wurden, so z. B. die unterschiedliche körperliche Entwicklung bei einzelnen Lehrberufen [32, 33], COERPER, KATJP und FÜRST führten ebenfalls größere Untersuchungen Jugendlicher durch [34, 35], Entsprechende Ergebnisse zeitigten die Untersuchungen weiblicher Jugendlicher; auch hier fand sich eine deutliche Abhängigkeit der Körpermaße von der sozialen Herkunft. Das zeigten Erhebungen der Durchschnittswerte von Länge und Gewicht in Berlin, Leipzig, Stuttgart und Bonn, ausgeführt von FÜRST [26] in den Jahren 1921 bis 1924. Weitere Untersuchungen wurden u. a. durchgeführt v o n K A U F , SZAGUNN [36], B e r u f s s c h u l ä r z t i n i n B e r l i n - C h a r l o t t e n b u r g , KOCH [37], L e i p z i g , u n d v o n EMILIE DUENTZER [38, 39]. T a b e l l e 12 Gewicht und Länge der Charlottenburger Höheren Schülerinnen und im Winterhalbjahr 1922/23 (SZACUXX) Lyzeen und Studienanstalten

14 15 16 17

bis bis bis bis

15 16 17 18

Fortbildungsschülerinnen

Fortbildungsschule

Zahl

Länge

Gewicht

Zahl

Länge

, Gewicht

277 280 194 72

156,7 157,7 160,0 162,4

48,3 51,6 53,5 55,9

297 156 129 136

154,0 154,9 156,8 156,5

46,2 48,3 51,1 51,8

Das nächste Kinderschutzgesetz stammt aus dem Jahre 1938 [40]. In dem „Gesetz über die Kinderarbeit und über die Arbeitszeit der Jugendlichen" vom 30. April 1938 wird das Schutzalter grundsätzlich auf 18 Jahre festgelegt und gilt für alle Jugendlichen unabhängig von der Größe des Betriebes und unabhängig davon, ob es sich um eigne oder fremde Kinder handelt. Kinderarbeit wird verboten. „Kind ist, wer noch nicht vierzehn Jahre alt ist. Jugendlicher ist, wer über vierzehn, aber noch nicht achtzehn Jahre alt ist. Auf Jugendliche, die noch volksschulpflichtig sind, finden die Vorschriften über die Beschäftigung von Kindern Anwendung." Der dritte Abschnitt des Gesetzes beschäftigt sich mit der Arbeitszeit der Jugendlichen: „Die tägliche Arbeitszeit der Jugendlichen darf acht Stunden, ihre Wochenarbeitszeit achtundvierzig Stunden nicht überschreiten." Die Unterrichtszeit in der Berufsschule wird auf die Arbeitszeit angerechnet und wie diese bezahlt. Erstmalig wird auch der Urlaub gesetzlich festgelegt. Der Arbeitgeber muß jedem Jugendlichen, der länger als drei Monate ohne Unterbrechung des Arbeits- oder Lehrverhältnisses bei ihm tätig war, unter Fortgewährung des Lohnes Urlaub geben. Die Mindestdauer an Urlaub betrug für Jugendliche unter 16 Jahren 15 und für Jugendliche über 16 Jahren 12 Werktage. Das Gesetz brachte wesentliche Neuerungen, wenn es auch nicht für alle Arbeitsgebiete Gültigkeit hatte. So blieb die Beschäftigung in der Hauswirtschaft, Land-

Die Entwicklung des Jugendgesundheitsschutzes in der DDR

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Wirtschaft, Forstwirtschaft und einigen anderen Erwerbszweigen unberücksichtigt und sollte besonders gesetzlich geregelt werden. Dieses Gesetz ist praktisch nie voll wirksam geworden, denn bereits ein J a h r nach seinem Erlaß wurde mit Beginn des zweiten Weltkrieges eine Reihe von wichtigen Punkten durch Abänderungen und Ausnahmeverordnungen stark eingeschränkt, z. B. durch die Abänderungen vom 1. September und 11. September 1939 oder durch den „Durchführungserlaß zur Überschreitung des 10-StundenTages und zur Beschäftigung von Frauen und Jugendlichen in Nachtschicht" (12. Dezember 1939) [41]. Weitere Abänderungen folgten in den nächsten Jahren. Das Gesetz war in seiner Anlage nicht schlecht. Wie stark es jedoch von der faschistischen Ideologie durchsetzt war, die deutsche Jugend durch bestmöglichen Schutz und Förderung zu einer „Herrenrasse" heranzubilden, zeigen am besten die Maßnahmen gegenüber ausländischen Kindern und Jugendlichen. Mit dem gleichen Gesetz wurde im Kriege durch Zusatzverordnungen die Gültigkeit der Schutzmaßnahmen für ausländische Jugendliche aufgehoben. Diese Kinder und Jugendlichen waren der Macht und Willkür ausgeliefert, und für viele endete der Weg im Konzentrationslager. Aber auch für die deutschen Jugendlichen hatte das Gesetz nur theoretische Bedeutung, denn der Faschismus führte sie im Interesse des deutschen Monopolkapitals zu Millionen in Krieg, Vernichtung und unsagbares Elend. Nach 1945 wurden in der Deutschen Demokratischen Republik die jahrzehntealten Forderungen von Ärzten, Lehrern und Sozialpolitikern, vor allem aber der Arbeiterklasse, verwirklicht. Es wurde ein umfassender Jugendschutz aufgebaut. Der Faschismus hatte dem deutschen Volk ein schweres Erbe hinterlassen. Deshalb ist es um so beachtenswerter, daß bereits am 13. Oktober 1947 in der damaligen sowjetischen Besatzungszone Deutschlands in Ausführung des Befehls 234 eine erste Verordnung über Jugendarbeitsschutz erschien. Die Arbeitszeit der Jugendlichen im Alter von 14 bis 16 Jahren wurde auf wöchentlich 42 Stunden und die der Jugendlichen bis zu 18 Jahren auf wöchentlich 45 Stunden festgesetzt. Die Dauer des Urlaubs war bereits durch eine Verordnung vom 13. Mai 1947 dahingehend geregelt, daß Jugendlichen unter 16 Jahren 18 und Jugendlichen von 16 bis 18 Jahren 15 Arbeitstage Urlaub gewährt wurde [42],

Die Entwicklung des Jugendgesundheitsschutzes in der Deutschen Demokratischen Republik Bei der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik wurden erstmalig der Jugendschutz und die Rechte der Jugend in der Verfassung verankert [43]. So heißt es im Artikel 18 der Verfassung: „Die Jugend wird gegen Ausbeutung geschützt und vor sittlicher, körperlicher und geistiger Verwahrlosung bewahrt, Kinderarbeit ist verboten." I m Artikel 39 heißt es: „Jedem Kind muß die Möglichkeit zur allseitigen Entfaltung seiner körperlichen, geistigen und sittlichen Kräfte gegeben werden. Der Bildungsgang der Jugend darf nicht abhängig sein von der

Die Entwicklung des Jugendgesundheitsschutzes in der DDR

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Wirtschaft, Forstwirtschaft und einigen anderen Erwerbszweigen unberücksichtigt und sollte besonders gesetzlich geregelt werden. Dieses Gesetz ist praktisch nie voll wirksam geworden, denn bereits ein J a h r nach seinem Erlaß wurde mit Beginn des zweiten Weltkrieges eine Reihe von wichtigen Punkten durch Abänderungen und Ausnahmeverordnungen stark eingeschränkt, z. B. durch die Abänderungen vom 1. September und 11. September 1939 oder durch den „Durchführungserlaß zur Überschreitung des 10-StundenTages und zur Beschäftigung von Frauen und Jugendlichen in Nachtschicht" (12. Dezember 1939) [41]. Weitere Abänderungen folgten in den nächsten Jahren. Das Gesetz war in seiner Anlage nicht schlecht. Wie stark es jedoch von der faschistischen Ideologie durchsetzt war, die deutsche Jugend durch bestmöglichen Schutz und Förderung zu einer „Herrenrasse" heranzubilden, zeigen am besten die Maßnahmen gegenüber ausländischen Kindern und Jugendlichen. Mit dem gleichen Gesetz wurde im Kriege durch Zusatzverordnungen die Gültigkeit der Schutzmaßnahmen für ausländische Jugendliche aufgehoben. Diese Kinder und Jugendlichen waren der Macht und Willkür ausgeliefert, und für viele endete der Weg im Konzentrationslager. Aber auch für die deutschen Jugendlichen hatte das Gesetz nur theoretische Bedeutung, denn der Faschismus führte sie im Interesse des deutschen Monopolkapitals zu Millionen in Krieg, Vernichtung und unsagbares Elend. Nach 1945 wurden in der Deutschen Demokratischen Republik die jahrzehntealten Forderungen von Ärzten, Lehrern und Sozialpolitikern, vor allem aber der Arbeiterklasse, verwirklicht. Es wurde ein umfassender Jugendschutz aufgebaut. Der Faschismus hatte dem deutschen Volk ein schweres Erbe hinterlassen. Deshalb ist es um so beachtenswerter, daß bereits am 13. Oktober 1947 in der damaligen sowjetischen Besatzungszone Deutschlands in Ausführung des Befehls 234 eine erste Verordnung über Jugendarbeitsschutz erschien. Die Arbeitszeit der Jugendlichen im Alter von 14 bis 16 Jahren wurde auf wöchentlich 42 Stunden und die der Jugendlichen bis zu 18 Jahren auf wöchentlich 45 Stunden festgesetzt. Die Dauer des Urlaubs war bereits durch eine Verordnung vom 13. Mai 1947 dahingehend geregelt, daß Jugendlichen unter 16 Jahren 18 und Jugendlichen von 16 bis 18 Jahren 15 Arbeitstage Urlaub gewährt wurde [42],

Die Entwicklung des Jugendgesundheitsschutzes in der Deutschen Demokratischen Republik Bei der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik wurden erstmalig der Jugendschutz und die Rechte der Jugend in der Verfassung verankert [43]. So heißt es im Artikel 18 der Verfassung: „Die Jugend wird gegen Ausbeutung geschützt und vor sittlicher, körperlicher und geistiger Verwahrlosung bewahrt, Kinderarbeit ist verboten." I m Artikel 39 heißt es: „Jedem Kind muß die Möglichkeit zur allseitigen Entfaltung seiner körperlichen, geistigen und sittlichen Kräfte gegeben werden. Der Bildungsgang der Jugend darf nicht abhängig sein von der

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Geschichtlicher Überblick über den Jugendgesundheitsschutz

sozialen und wirtschaftlichen Lage des Elternhauses. Vielmehr ist Kindern, die durch soziale Verhältnisse benachteiligt sind, besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Der Besuch der Fachschule, der Oberschule und der Hochschule ist Begabten aus allen Schichten des Volkes zu ermöglichen. Es besteht Schulgeldfreiheit. Die Lernmittel an den Pflichtschulen sind unentgeltlich. Der Besuch der Fachschule und Hochschule wird im Bedarfsfalle durch Unterhaltsbeihilfen und andere Maßnahmen gefördert." Der Artikel 15 der Verfassung verbürgt das Recht auf Arbeit: „Der Staat sichert durch Wirtschaftslenkung jedem Bürger Arbeit und Lebensunterhalt", wobei jedem ein seinen Fähigkeiten entsprechender Arbeitsplatz nachgewiesen werden muß. Im westdeutschen Grundgesetz wird man vergeblich nach einer Verpflichtung des Staates suchen, für jeden Bürger einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen. Im Artikel2, Abs. 1 des Grundgesetzes heißt es: „Alle Deutschen haben das Hecht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstelle frei zu wählen." In der Klassengesellschaft besagt das aber, daß auch weiterhin soziale Herkunft bzw. finanzielle Lage und nicht in erster Linie die Fähigkeiten die Ausbildung und somit den späteren Beruf bestimmen. Während in Westdeutschland nur wenige Kinder aus Arbeiter- und Bauernkreisen die Möglichkeit haben, an einer Universität oder Hochschule zu studieren (im Wintersemester 1950/51 waren unter den männlichen Studierenden 3,9% Arbeiter und 4,4% Landwirte und Bauern, unter den weiblichen Studierenden 1,2 und 2,7%) [44, 45], waren in der Deutschen Demokratischen Republik im Jahre 1956 von insgesamt 60184 Studenten 55% Arbeiter- und Bauernkinder [46]. Ausgehend von den Grundsätzen einer neuen gesellschaftlichen Ordnung, wurde am 8. Februar 1950 das Gesetz „Über die Teilnahme der Jugend am Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik und die Förderung der Jugend in Schule und Beruf, bei Sport und Erholung" erlassen. Das Gesetz gliedert sich in die folgenden Abschnitte: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Teilnahme der Jugend am Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik; Weitere Verbesserung der Schulbildung der Jugend; Förderung der Berufsausbildung der Jugend; Hochschulbildung für Berufstätige; Häuser, Bibliotheken und Theater für Kinder; Schaffung einer neuen Jugend- und Kinderliteratur; Förderung des Sports, des Wanderns und der Erholung.

Bereits aus dieser kurzen Übersicht ersieht man, daß sich das Gesetz nicht in arbeitsrechtlichen und sozialen Anordnungen erschöpft, sondern die gesetzliche Grundlage für eine umfassende und allseitige Entwicklung der Jugend bei bestmöglicher Ausschaltung aller eine gesunde physische und psychische Entwicklung hemmenden Faktoren bildet. Die „Verordnung zum Schutze der Arbeitskraft" (25. Oktober 1951) [47] befaßt sich im Abschnitt VI mit dem besonderen Schutz der werktätigen Frauen und Jugendlichen. Es wird noch einmal festgelegt: „Die Arbeit von Kindern unter

Die Entwicklung des Jugendgesundheitsschutzes in der DDR

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14 Jahren sowie von Jugendlichen, die nach Vollendung des 14. Lebensjahres noch die Grundschule besuchen, ist verboten." Die Betriebsleiter sind verpflichtet,alle Jugendlichen vor der Einstellung sowie für die Dauer der Beschäftigung in periodischen Abständen ärztlich untersuchen zu lassen. „Ergibt die ärztliche Untersuchung des Jugendlichen, daß gesundheitliche Schäden zu befürchten sind, so ist er in demselben Betrieb mit einer anderen Arbeit zu beschäftigen oder in einem anderen Lehrberuf auszubilden." Eine Reihe von Arbeiten sind für Jugendliche bis zum vollendeten 16. bzw. 18. Lebensjahr verboten. Auch für schwere Arbeiten, die mit Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten verbunden sind, wurden Höchstgrenzen festgelegt. So dürfen in andauernden Arbeitsleistungen Jugendliche bis zu 16 Jahren höchstens mit 10 kg und von 16 bis zu 18 Jahren mit 15 kg belastet werden. Bei einer unvermeidbaren Einzelleistung darf die anzuwendende Kraft für einen Jugendlichen bis zu 16 Jahren 25 kg nicht überschreiten. In der Verordnung über Erholungsurlaub (7. Juni 1951) wird die Urlaubsdauer für Jugendliche bis zu 16 Jahren auf 21 und für Jugendliche von 16 bis zu 18 Jahren auf 18 Arbeitstage festgesetzt. Der Umfang der gesetzlichen Anordnungen auf dem Gebiet des Jugendschutzes erforderte die Schaffung einer zentralen Behörde, welche die Koordination und Anleitung in allen Jugendfragen übernehmen konnte. Handelt es sich doch bei den gesetzlichen Anordnungen nicht mehr wie vor etwa 10 Jahren nur um Maßnahmen gegen grobe Auswirkungen von Kinderarbeit und um einen Schutz vor den schwersten gesundheitlichen Schäden; unsere Gesetze bieten vielmehr die Grundlage für eine allseitige Entwicklung der Jugendlichen. Sie enthalten alle Möglichkeiten eines vorbildlichen Gesundheitsschutzes und bieten den Jugendlichen die Voraussetzungen für eine optiitiale berufliche und gesellschaftliche Entwicklung. So wurde am 18. Mai 1955 das „Amt für Jugendfragen" bei dem f ü r Jugendfragen zuständigen Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates gebildet. Der Leiter des Amtes für Jugendfragen hat im Rahmen seiner Aufgaben Weisungsrecht gegenüber den Abteilungen für Jugendfragen bei den Räten der Bezirke und den Abteilungen für Jugendfragen bei den Räten der Kreise. Das Amt für Jugendfragen muß in allen Fragen, die der Förderung der Jugend dienen, anleiten, koordinieren und kontrollieren. Dazu gehören alle Maßnahmen zur Durchführung des Gesetzes über die Teilnahme der Jugend am Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik, wie Förderung der Jugend in Schule und Beruf, bei Sport und Erholung, Fragen der Feriengestaltung, die Schaffung von Jugendherbergen und Sportstätten sowie viele andere Aufgaben. Die weitgesteckten Ziele der beruflichen und gesellschaftlichen Entwicklung kann unsere Jugend aber nur erreichen, wenn sie sich in einem guten Entwicklungsund Gesundheitszustand befindet. Deshalb wird einer gesunden körperlichen Entwicklung unserer Kinder und Jugendlichen allergrößte Bedeutung beigemessen. Wie in Zukunft die Prophylaxe bei der medizinischen Betreuung der Menschen überhaupt einen immer breiteren Raum einnehmen muß, so gilt dies ganz besonders für die gesundheitliche Betreuung der Jugendlichen. Es kommt darauf

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Geschichtlicher Überblick über den Jugendgesundheitsschutz

an, die Gesundheit in der Jugend so zu fördern und zu schützen, daß die Möglichkeit einer späteren Erkrankung stark reduziert wird. Die Jugendlichen, die bereits in einem Arbeits- oder Lehr Verhältnis stehen, werden vom Betriebsarzt betreut. Vor der Arbeitsaufnahme findet eine Einstellungsuntersuchung statt, und einmal im Jahr wird der Gesundheitszustand bei einer Reihenuntersuchung kontrolliert (7. Durchführungsbestimmung zur Verordnung über die weitere Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter und die Rechte der Gewerkschaften vom 23. Juni 1955) [48]. Während früher die Aufgaben des Arztes nur darin bestanden, die Jugendlichen vor den schwersten Schäden zu bewahren, sind die Aufgaben unserer Betriebsärzte viel umfangreicher. Neben der ärztlichen Betreuung im Krankheitsfall und einer laufenden gesundheitlichen Überwachung muß der Arzt sich mit der Arbeit der Jugendlichen vertraut machen, er muß die damit verbundene Arbeitsbeanspruchung und die Leistungsfähigkeit des Jugendlichen kennen. Die Lösung all dieser Aufgaben wird durch unsere fortschrittliche Gesetzgebung ermöglicht. Damit sind die Voraussetzungen gegeben, eine optimale ärztliche Betreuung der Jugendlichen zu entwickeln. Die gesundheitliche Überwachung der Kinder und Jugendlichen in der Schule geschieht durch den Schularzt. Auch hierbei konnten auf Grund der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse jahrzehntealte Forderungen von Ärzten und Pädagogen verwirklicht werden. Die 1897 erlassene Wiesbadener Schularztordnung ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Schulgesundheitswesens. Während es damals trotz der von Ärzten und Pädagogen begründeten Notwendigkeit zu keiner generellen Einführung einer schulärztlichen Betreuung kam — nur der kleine Staat Sachsen-Meinungen machte bekanntlich eine Ausnahme —, erstreckt sich heute die schulärztliche Betreuung bis in die kleinste Gemeinde. Gesetze und Verordnungen schaffen die rechtliche Basis und legen Ärzten und Pädagogen gleichzeitig die Verpflichtung auf, alles zu tun, um eine gesunde Entwicklung der Kinder zu gewährleisten. Die Anleitung und Kontrolle des Gesundheitsschutzes für Kinder und Jugendliche wird vom Jugendarzt in der Abteilung Gesundheitswesen des Rates des Kreises bzw. des Bezirkes koordiniert. Beim Ministerium für Gesundheitswesen besteht eine beratende Kommission für Jugendgesundheitsschutz ; sie setzt sich zusammen aus Wissenschaftlern, Kinder- und Jugendärzten aus der Praxis, aus Fürsorgerinnen, aus benannten Vertretern des Ministeriums für Volksbildung, aus Pädagogen und aus einem benannten Vertreter des Zentralrates der FDJ. Zur Zeit versorgt ein hauptamtlich tätiger Jugend- bzw. Schularzt etwa 6000 bis 8000 Kinder; auf 4000 Kinder kommt eine Fürsorgerin. Die „Anordnung über die laufende gesundheitliche Überwachung für Kinder und Jugendliche" vom 27. Februar 1954 [49] sowie die erste Durchführungsbestimmung dazu erstreckt sich auf Kinder und Jugendliche vom beginnenden vierten bis zum vollendeten achtzehnten Lebensjahr. Im § 3 heißt es: ,,Es ist darauf hinzuwirken, möglichst einmal im Jahr alle Schüler, alle Kinder in Kinder-

Die Entwicklung des Jugendgesundheitsschutzes in der DDR

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tagesstätten und Heimen zu erfassen und in einer Reihenuntersuchung zu überprüfen. Grundsätzlich ist jedes Kind bei der . . . Einschulung, im vierten, achten, zehnten Schuljahr und die Berufsschüler im zweiten Berufsschuljahr sorgfältig ärztlich zu untersuchen." Zu den weiteren Aufgaben des Schularztes gehören: Einzel- und Überwachungsuntersuchungen gefährdeter Schüler, jugendärztliche Sprechstunden für Schüler, Eltern und Lehrer. Nur durch eine kollektive Zusammenarbeit zwischen Arzt, Eltern und Lehrer können die umfangreichen Aufgaben des Jugendgesundheitsschutzes gelöst werden. Die Dispensairebetreuung für Sitzenbleiber, defektive Kinder, Kinder mit einem besonderen Leiden (Cor, Diabetes itsw.) und für Kinder aus schwierigem sozialem Milieu ist eine wichtige Aufgabe des Schularztes. Die Durchführung des Impfschutzes (BCG-Impfung, Pockenwiederimpfung, Diphtherie- und Tetanusnachimpfung und Poliomyelitis-Schutzimpfung), die Überwachung der Schulhygiene, der Schulspeisung, die gesundheitliche Belehrung der Schüler, Eltern und Lehrer und die ärztliche Betreuung von Ferienlagern vervollständigen sein Aufgabengebiet. Eine besonders große Verantwortung tragen die Ärzte bei der Überwachung der Körpererziehung und bei Fragen der Turnbefreiung. Der Sport hat große Bedeutung für die gesunde körperliche Entwicklung, und nur in wirklich ärztlich begründeten Fällen sollten Schüler ganz vom Sport befreit werden, und auch das jeweils nur für eine begrenzte Zeit. Die ärztliche Berufsberatung ist eine der wichtigsten Aufgaben des Schularztes. Hier wird ein für das weitere Leben des Kindes entscheidender Entschluß gefaßt, und der Arzt muß Schüler, Eltern und Lehrer fachkundig darüber beraten können, ob der erstrebte Beruf von dem Jugendlichen ohne irgendwelche Gefahr für seine Gesundheit ausgeübt werden kann oder ob vielleicht Schäden zu befürchten sind, die später einen Berufswechsel erforderlich machen. Selbstverständlich wird mit den hier zitierten Aufgaben keine erschöpfende Auskunft über die Arbeit der Schulärzte gegeben. Dieses war auch nicht beabsichtigt, wir wollten lediglich einen Überblick über das Aufgabengebiet des Schulgesundheitswesens geben und dabei auf die engen Beziehungen zwischen gesundheitlicher Betreuung und Gesellschaftsordnung hinweisen. Für den Jugendgesundheitsschutz ist weiter von Bedeutung die „Anordnung über die Jugendzahnpflege" vom 27. Februar 1954 [50]. Hierin wird festgelegt, „daß alle Kinder und Jugendlichen bis zum vollendeten 18. Lebensjahr einmal im Jahr zahnärztlich untersucht und, falls notwendig, behandelt werden". Die „7. Durchführungsbestimmung zur Verordnung zur Verbesserung der Arbeit der allgemeinbildenden Schulen" vom 30. November 1954 [51] befaßt sich noch einmal mit der Bedeutung des Jugendgesundheitsschutzes für die demokratische Schule. Gesundheitswesen und Volksbildung werden gemeinsam verpflichtet, an Hand eines aufzustellenden Rahmenarbeitsplanes Maßnahmen zu treffen, welche die gesundheitliche Betreuung in den allgemeinbildenden Schulen garantieren. Weiter sind zu erwähnen: die „Anordnung zur Durchführung der Schulspeisung" vom 29. März 1950 [52], die „Anordnung über die Einrichtung von Kindersport-

28

Geschichtlicher Überblick über den Jugendgesundheitsschutz

schulen" vom 29. August 1952 [53], die „Verordnung über die körperliche Erziehung der Schüler an den allgemeinbildenden Schulen" vom 30. April 1953 [54], die „Richtlinien zur Durchführung der Sommerferiengestaltung ,Frohe Ferientage für alle Kinder'" vom 8. Mai 1955 [55] und noch vieles andere mehr. Von grundlegender Bedeutung ist der Beschluß der Staatlichen Plankommission vom 11. März 1959 [56] zur Verwirklichung des beschleunigten Aufbaues der obligatorischen lOklassigen allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule. Damit soll erreicht werden, daß alle Kinder so erzogen und ausgebildet werden, daß sie den vielfältigen Anforderungen des Lebens von morgen in der sozialistischen Gesellschaft gerecht werden. Die obligatorische lOklassige Oberschule wird bis 1964 in allen Bezirken eingeführt sein. Das Bildungsprivileg, das früher die besitzende Klasse für sich in Anspruch nahm, ist damit endgültig überwunden. Es ist Aufgabe der polytechnischen Erziehung, die Schüler mit den wichtigsten Zweigen der Industrie und Landwirtschaft vertraut zu machen und ihnen mit einigen gebräuchlichen Werkzeugen und Meßgeräten Arbeitsfertigkeiten zu vermitteln. „Die Tätigkeit während des Unterrichtstages in der Produktion muß gesellschaftlich nützlichen Charakter tragen und den Schülern vielfältige Kenntnisse und Fähigkeiten vermitteln" (Beschluß der Staatlichen Plankommission vom 7. Januar 1959) [57], In der Deutschen Demokratischen Republik entwickelt sich mit der „Hygiene des Kindes- und Jugendalters" ein Wissenschaftszweig, der sich mit den gesamten hygienischen Fragen dieses Alters befaßt. Erstmalig beschäftigt man sich auch mit der bisher so vernachlässigten psychischen Entwicklung und Reifung im Kindesalter. Auf Grund einer engen Zusammenarbeit gerade dieser Arbeitsgruppe mit Pädagogen ist es zur Schaffung einer pädagogisch-medizinischen Arbeitsgemeinschaft beim Ministerium für Volksbildung gekommen. Nach 1945 wurde in der Deutschen Demokratischen Republik eine Vielzahl von Gesetzen und Anordnungen erlassen, die unseren Kindern eine gesunde Entwicklung und ein glückliches Leben ermöglichen. Die Forderungen und Bestrebungen, für die verantwortungsbewußte Ärzte, Pädagogen und Sozialpolitiker jahrzehntelang gekämpft haben, sind bei uns verwirklicht; auf dem Boden dieser Gesetze kann sich der Jugendgesundheitsschutz voll entfalten.

III. Material und Ergebnisse

A. Umfang und Methode der

Untersuchung

1. Z u s a m m e n s e t z u n g d e r J u g e n d l i c h e n Vom Hygiene-Institut der Humboldt-Universität, Berlin, Abteilung Sozialhygiene, wurden in den Jahren 1956 bis 1958 7013 Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren untersucht. Es handelte sich bei diesen Jugendlichen um 2426 männliche und 1703 weibliche Lehrlinge und um 1446 männliche Oberschüler und 1438 Oberschülerinnen in folgender Altersverteilung: Männlich

14 15 16 17 18

Weiblich

Lehrlinge

Oberschüler

Lehrlinge

Oberschüler

241 627 724 472 362

289 437 289 273 158

217 605 507 286 88

366 480 287 220 85

2426

1446

1703

1438

Die Lehrlinge arbeiteten in Berliner Betrieben, im Randgebiet Berlins, im Kreise Demmin und in der Volkswerft Stralsund. Die Mehrzahl von ihnen erlernte metallverarbeitende Berufe, wie Dreher, Schlosser, Fräser, Schmied, Mechaniker und Werkzeugmacher; daneben waren aber auch viele andere Berufe vertreten, wie Elektriker, Traktoristen, Maler, Lackierer, technische Zeichner u. a. Die Mädchen arbeiteten vorwiegend als Buchhalterinnen, technische Zeichnerinnen, Verkäuferinnen; es waren aber auch Säuglingspflegerinnen, Stenotypistinnen und Vertreterinnen metallverarbeitender Berufe darunter. Die 135 männlichen und 175 weiblichen Anlernlinge reihten wir bei den Lehrlingen ein; gegebenenfalls -wird dies bei späteren Auswertungen berücksichtigt. Die Schüler besuchten Berliner Oberschulen in den Bezirken Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Die in den einzelnen Bezirken teilweise unterschiedliche soziale Struktur glauben wir mit der Auswahl der Schulen aus den genannten drei Bezirken berücksichtigt zu haben. Bei unseren Erhebungen legten wir neben der klinischen Untersuchung ganz besonderen Wert auf eine umfassende soziale Anamnese, wie aus dem beigefügten

30

Material und Ergebnisse

Fragebogen hervorgeht. Wir können uns also ein recht gutes Bild darüber machen, wie unsere Jugendlichen leben; ihre soziale Umwelt ist uns weitgehend bekannt, ebenso die Belastungen und nicht zuletzt Körperverfassung und Gesundheitszustand. Um die Entwicklung unserer Lehrlinge und Schüler, ihre Leistungsfähigkeit und die an sie gestellten Leistungsanforderungen richtig beurteilen zu können, müssen wir uns zunächst damit beschäftigen, um was für Jugendliche es sich handelt, wo und wie sie leben und wie ihre tägliche Umwelt aussieht. 2. S o z i a l e A n a m n e s e Die soziale Herkunft, und damit in erster Linie der Beruf des Vaters, hat auch heute noch entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung des Kindes, wie wir an späteren Untersuchungen zeigen werden. Bei unseren Jugendlichen haben die " Väter folgende Berufe: T a b e l l e 13 Beruf des

Lehrlinge

Oberschüler

männlich weiblich

männlich weiblich

absolut

absolut

absolut

absolut

240 9,9 590 24,3 526 21,7 85 3,5 86 3,5 58 2,4 77 3,2 691 28,5 73 3,0

202 11,9 380 22,3 365 21,5 30 1,7 59 3,4 36 2,1 62 3,6 454 26,7 115 6,8

69 4,8 299 20,7 446 30,9 203 14,0 2 0,1 53 3,6 31 2,1 264 18,3 79 '5,5

54 3,8 234 16,3 469 32,6 203 14,1

o/ /o

Arbeiter, un- und angelernt Facharbeiter Angestellter Intelligenz Bauer Gewerbetreibender Rentner verstorben ungeklärt und geschieden

Vaters

o/ /o

o/ /o

o/ /o

— —

74 5,1 31 2,2 304 21,1 69 4,8

Insgesamt absolut

0//o

565 8,0 1503 21,4 1806 25,7 521 7,4 147 2,0 221 3,1 201 2,8 1713 24,4 336 4,7

Wie aus Tabelle 13 und Abbildung 1 klar hervorgeht, stammen die Lehrlinge überwiegend aus Arbeiterkreisen, die Väter der Oberschüler dagegen sind vor-

31

Umfang und Methode der Untersuchung

wiegend Angestellte oder Angehörige der Intelligenz. Dort, wo die Kinder ohne Vater aufwachsen — sei es, daß der Vater verstorben ist oder daß die Eltern getrennt leben —, haben die Jugendlichen nach Beendigung ihrer Grundschulzeit zum großen Teil eine Lehrausbildung aufgenommen. Bei einem Viertel unserer Probanden (24,4%) waren die Väter verstorben; sie waren fast ausschließlich im Kriege gefallen. Bei Feststellung der Berufstätigkeit der Mütter ergab sich, daß 52,3% von ihnen nicht erwerbstätig, also nur Hausfrauen waren; 16,6% waren als Arbeiterinnen tätig und 26,1% als Angestellte bzw. gehörten zur Gruppe der Intelligenz. Die Mütter der Lehrlinge waren vorwiegend als Arbeiterinnen beschäftigt, die der Schüler als Angestellte. Bei den

Oberschüler Lehrlinge

-

P7-I ! / ///; 1i:

ni / / /

ii'i ii

Arbeiter

/

I / /

/

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/

7.

1

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Iii

Angestellte

Intelligenz

; Sonstige

/ / / Vater gefallen, verstorben Ehe geschieden

Abb. 1. Beruf des Vaters

Lehrlingen war die Zahl der nicht erwerbstätigen Mütter größer als bei den Oberschülern. Eine geringe Kinderzahl und wahrscheinlich eine teilweise höhere berufliche Qualifikation der Mütter der Oberschüler sind hierbei mit von Bedeutung. Auffallend ist auch, daß mehr Mütter von weiblichen Lehrlingen und Schülern berufstätig sind als von männlichen Jugendlichen; hier spielt vermutlich die größere Mithilfe der Töchter im Haushalt eine Rolle. Zum besseren Verständnis der Tabelle 14 ist noch zu sagen, daß bei der Berufstätigkeit der Mutter nur der zur Zeit ausgeübte Beruf erfaßt wurde; wenn demnach die Mutter einen erlernten Beruf hatte, diesen zur Zeit aber nicht ausübte, so wurde sie in die Gruppe „Hausfrau" eingeordnet. Als ein wichtiger sozialer Indikator erwies sich auch die Anzahl der Kinder pro Familie. Eine Übersicht vermittelt Tabelle 15.

32

Material und Ergebnisse T a b e l l e 14 Beruf der Mutter Lehrlinge

Oberschüler

männlich weiblich

Arbeiter, un- und angelernt Facharbeiter Angestellte Intelligenz Bauer Gewerbetreibende Hausfrau verstorben ungeklärt

absolut o/ /o

absolut o/ /o

328 13;5 105 4,3 439 18,1 23 0,9 32 1,3 15 0,6 1383 57,1 87 3,6 14

302 17,8 74 4,3 349 20,5 5 0,3 29 1,7 5 0,3 871 51,2 64 3,7 4

männlich

weiblich

absolut o/ /o

absolut o/ /o

Insgesamt absolut /o

111 123 7,7 8,6 61 63 4,2 4,4 426 518 29,5 36,0 45 33 3,1 2,3 1 0,069 12 13 0,9 0,8 659 752 45,8 52,1 23 28 1,6 1,9 6 10 0,7 0,4

864 12,3 303 4,3 1732 24,6 106 1,5 62 0,9 45 0,6 3665 52,3 202 2,9 34 0,5

% 60

Oberschüler

50

Lehrlinge

40

30

20

¡ill!1 Arbeiterinnen

Angestellte

Sonstige

Hausfrauen

Abb. 2. Berufstätigkeit der Mutter

Mutter

verstorben

33

Umfang und Methode der Untersuchung Lehrlinge

Voter

Oberschüler V /

Intelligenz

V

%/,

:

Angestellter

d'I

•s,-'.-

Facharbeiter