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German Pages 144 Year 2014
Andréa Belliger, David J. Krieger (Hg.) Gesundheit 2.0
KörperKulturen
Andréa Belliger, David J. Krieger (Hg.)
Gesundheit 2.0 Das ePatienten-Handbuch
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
0 Vorwort | 9 1 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5 1.3.6 1.3.7 1.3.8 1.3.9 1.3.10 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4 1.4.5
Lasst Patienten mithelfen | 17 Einleitung | 17 Grundlagen | 19 Die Anfänge der Bewegung | 19 Ein kurzes Glossar | 21 Zehn grundlegende Wahrheiten über Gesundheit und das Gesundheitswesen | 24 Patient ist kein Wort, das in der dritten Person steht | 24 Patienten sind die am wenigsten genutzte Ressource | 25 Wir alle wissen etwas, niemand weiß alles (nicht einmal Ärzte) | 26 Googeln ist ein Zeichen von Patientenengagement | 27 Wir leisten mehr, wenn wir besser informiert sind | 29 Informationen allein ändern das Verhalten nicht | 30 Verständlichkeit ist Macht | 32 Gesundheit ist nicht Medizin. Behandlung ist nicht Pflege und Fürsorge | 34 Das Bedürfnis, uns um unsere Familien zu kümmern, ist stark | 35 Patienten wissen, was Patienten wissen wollen | 36 Zehn Wege, um Patienten mithelfen zu lassen | 37 Lasst Patienten mithelfen: Gebt mir meine verdammten Daten! | 38 Lasst Patienten mithelfen, für ihre Familien zu sorgen | 40 Lasst Patienten mithelfen, die Welt nach Informationen zu durchforsten | 42 Lasst Patienten bei Qualität und Sicherheit mithelfen | 44 Lasst Patienten mithelfen, die medizinischen Kosten unter Kontrolle zu halten | 45
1.4.6 Lasst Patienten mitbestimmen, was welche Kosten wert ist | 47 1.4.7 Lasst Patienten ihre Kompetenzen als informierte Konsumenten nutzen | 48 1.4.8 Lasst Patienten mithelfen, Entscheidungen über Behandlungen zu treffen | 51 1.4.9 Lasst Patienten mithelfen, Forschungsprioritäten zu setzen | 52 1.4.10 Lasst Patienten sagen, was patientenzentriert bedeutet | 54 1.5 Einige Tipps, »wie man ePatient wird« und »wie man Ärzte befähigt« | 56 Epilog: Der Weg vor uns | 61 1.6 1.7 Anhang: Geben Sie die Verweigerungshaltung auf | 62
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Health 2.0 Update | 67
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.7.1 2.7.2 2.7.3 2.7.4 2.8 2.9 2.10 2.11 2.12 2.13
Einleitung | 67 Health 2.0 | 70 Porträt 1: Bas Bloem | 72 Health 2.0 in der Gegenwart | 74 Ein Gefühl der Dringlichkeit | 76 Porträt 2: Corine Jansen, Chief Listening Officer | 77 Ja, aber … | 80 Ja, aber … die Finanzen? | 81 Ja, aber … Sicherheit und Vorschriften? | 83 Ja, aber … die Zahl der Nutzer? | 83 Ja, aber … was hat Vorrang? | 84 Porträt 3: Saskia Davidse | 85 Der nächste Schritt | 88 Porträt 4: Ragna van den Berg | 90 Wird das Versprechen eingehalten werden? | 93 Zum Schluss | 94 REshaping Radboud | 95
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Vernetzte Gesundheit | 97 Einleitung | 97 Das veränderte Kommunikationsverhalten | 98
3.1 3.2
3.3 3.4 3.4.1 3.4.2 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4 3.5.5
3.7.6 3.7.7 3.8 3.9 3.10 3.10.1 3.10.2 3.11 3.12
Netzwerknormen | 101 Konnektivität | 101 ePatienten und Doktoren 2.0 | 103 Pharma 3.0 | 104 Flow | 105 Seamless Health – Mobile Health | 107 Mobile Health-Apps | 109 Mobile Gesundheitsgeräte | 110 Mobile Dienstleistungen | 110 Healing Architecture – evidenzbasierte Gestaltung von Gesundheitsbauten | 112 Kommunikation | 113 Transparenz | 115 Produkt- und Servicetransparenz | 116 Von Privacy zu Publicy – neuer Umgang mit persönlichen Daten | 116 Die Quantified-Self-Bewegung | 120 Big Data, Health Data Analytics und personalisierte Gesundheit | 121 Crowdsourced (Patient) Research – ePatient Crowdsourcing | 122 Offenheit – Open Notes | 124 Crowd Accelerated Health Innovation | 125 Authentizität | 126 Empathie | 128 Partizipation | 129 Partizipative Medizin und Shared Decision Making | 131 ePatienten-Bewegung | 132 Flexibilität (Heterogenität und Variabilität) | 133 Fazit | 134
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Über die Autoren | 137
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Zitierte und weiterführende Literatur | 139
3.6 3.7 3.7.1 3.7.2 3.7.3 3.7.4 3.7.5
0 Vorwort
Ein Handbuch dient dazu, Orientierungs- und Handlungswissen zu vermitteln. Normalerweise greift man zu einem Handbuch, wenn man sich bereits mit einem konkreten Handlungsbedarf konfrontiert sieht. Man hat etwa einen neuen Fernseher gekauft und muss das Gerät zu Hause einrichten oder hat ein Problem mit dem alten Gerät und möchte so weit wie möglich die Störungen selber beheben. Wer ein »ePatienten-Handbuch« zur Hand nimmt, erwartet, darin praktische Tipps zu finden, Anweisungen und konkrete Beschreibungen, die einen in die Lage versetzen, sich im Dschungel des neuen, »digitalen« Gesundheitswesens, in der vernetzten Welt der ePatienten und von Health 2.0 zurechtzufinden. Das sind berechtigte Erwartungen in einer Welt, die durch die Allgegenwärtigkeit von Computern, des Internets und neue Möglichkeiten der Digitalisierung von Information und Kommunikation geprägt ist. Denn diese neuen Technologien rufen wie alle größeren sozialen Veränderungen nicht nur Begeisterung, sondern auch Desorientierung und Unsicherheit hervor, nicht zuletzt, wenn es um Fragen von medizinischen Daten und Datenschutz geht. Sie haben aber auch das Potential, alte Probleme mit neuen Lösungen anzugehen, Kommunikationsprozesse zu optimieren, alte Rollen und Hierarchien aufzubrechen, die Wirksamkeit, Effizienz und Qualität medizinischer Dienstleistungen zu verbessern und letztlich auch dazu zu motivieren, unseren eigenen Umgang mit Gesundheit und Krankheit zu überdenken. Die Herausgeber hoffen, mit diesem »ePatienten-Handbuch« Anregungen in diese Richtung zu geben. Zudem soll dieses Buch dazu dienen, jenen Personen, die bis an-
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hin nicht mit Themen wie dem elektronischen Gesundheitsdossier, Online Patienten-Communities, Telemedizin oder eBeratung vertraut waren, einen Einblick in diese neue Welt der vernetzten Gesundheit zu geben. Das Buch soll nicht nur erklären, wie man zu einem ePatienten wird und weshalb dies Sinn ergibt, sondern auch, welche Veränderungen die Zukunft des Gesundheitssystems mit sich bringt. Wie in allen Bereichen der Netzwerkgesellschaft verändert die Digitalisierung von Information und Kommunikation die Art und Weise, wie Menschen mit Information umgehen und wie sie miteinander kommunizieren und kooperativ handeln. Aber nicht nur das Kommunikationsverhalten verändert sich, auch Organisationen und Institutionen in allen gesellschaftlichen Bereichen, sei dies Wirtschaft, Wissenschaft, Medien, Politik, Recht, Bildung oder eben Gesundheit, funktionieren heute anders als noch vor ein paar Jahren. Unser Alltag ist bestimmt von eShopping, eBanking, eLearning und immer mehr auch von eHealth. Das kleine »e« bedeutet zumeist »elektronisch« und verweist auf die neuen Informationsund Kommunikationstechnologien, auf das Internet und den omnipräsenten, heute meist mobilen, cloudbasierten Computer, die den technologischen Hintergrund vieler Innovationen bilden. Aber das kleine »e« steht für viel mehr als eine bestimmte Technologie. Es verweist auf eine ganze Reihe von weitreichenden sozialen und kulturellen Veränderungen. Konsumenten1 z.B. haben dank der neuen Technologien Zugang zu Information, die es ihnen ermöglicht, in vielen Fällen über Produkte und Dienstleistungen besser informiert zu sein als das Verkaufspersonal im Laden. Konsumenten sind nicht mehr passiv und machtlos gegenüber großen Unternehmen und Werbeagenturen. Sie können die Qualität von Produkten und Angeboten durch Ratingportale und Empfehlungen aus ihren sozialen Netzwerken miteinander vergleichen und online das individuell Passendste, Kostengünstigste oder Beste erwerben. Sie 1 | Bei Verwendung einer männlichen Form ist stets auch die weibliche Form mitgemeint.
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können sich mit Hilfe von Online Communities für die Verbesserung von Produkten engagieren und sich als »Prosumenten«, einer Mischung aus Konsumenten und Produzenten, an der Entwicklung neuer Produkte beteiligen. eBusiness ist nicht einfach business as usual via Computer und Internet. Das kleine »e« hat große Wirkungen. Konsumenten, Bürger und Patienten sind durch das kleine »e« nicht nur Nutzer einer bestimmten Technologie, sie sind »ermächtigt« (empowered) und werden zu aktiven Partnern von Organisationen und Unternehmen. Das verändert nicht nur unsere Einkaufsgewohnheiten und das Verhalten von Unternehmen gegenüber ihren Kunden, es kreiert vielmehr eine neue Art von Gesellschaft, eine Netzwerkgesellschaft, und verändert die Art und Weise, wie wir einkaufen, arbeiten, lernen, und auch, wie wir mit Gesundheit und Krankheit umgehen. Wenn wir von »eHealth« oder von »ePatienten« sprechen, dann stehen nicht nur die technologischen Innovationen des Computers, des Internets und der neuen sozialen Medien im Zentrum. Der Begriff »eHealth« bezieht sich vielmehr auf die sozialen Veränderungen im Gesundheitssystem und die damit zusammenhängenden Chancen, unsere Institutionen im Gesundheitswesen wirksamer und humaner zu gestalten. Dieses Buch soll vor allem den Patienten dienen, sie informieren, orientieren, motivieren und vielleicht sogar inspirieren, denn – wie es der Autor des ersten Beitrages ausdrückt – »Patient ist nicht ein Wort in der dritten Person, Patienten sind wir alle.« Der erste Beitrag zu diesem Buch heißt »Lasst Patienten mithelfen« und wurde nicht von einem Arzt oder einem Klinikdirektor verfasst, sondern von Dave deBronkart, einem medizinischen Laien, der eines Tages mit einer erschreckenden Diagnose konfrontiert war. Er erfuhr beinahe zufällig, dass er in einem fortgeschrittenen Stadium an Nierenkrebs erkrankt war und nur noch wenig Zeit zu leben hätte. Anstatt zu resignieren, wollte er mehr über diese Krankheit und mögliche medizinische Therapien erfahren. Natürlich sprach er mit seinem Arzt, aber seine Auseinandersetzung mit seiner Diagnose machte nicht an der Tür der Arztpraxis
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halt. Er loggte sich online in eine Patientencommunity ein, die sein Arzt ihm empfohlen hatte, und fand dort Menschen, die von der gleichen Krankheit betroffen waren wie er. Hunderte von direkt betroffenen Personen trafen sich dort online, um ihre Erfahrungen mit Therapien und Medikamenten auszutauschen, sich gegenseitig zu unterstützen, aber auch, um selber die neuesten medizinischen Forschungsergebnisse über Nierenkrebs zu studieren, um mögliche Lösungen zu finden. Und tatsächlich erhielt Dave deBronkart innerhalb von nur zwei Stunden Hinweise auf eine Medikation, die sein Leben schließlich rettete. Dave deBronkart verdankt sein Leben nicht nur dem Internet und anderen Patienten, sondern vor allem den Ärzten und Krankenhäusern, die bereit waren, ihn als Partner und in der neuen Rolle als aktiven Kommunikationspartner und Akteur in der medizinischer Versorgung zu akzeptieren. Heute ist Dave deBronkart unter dem Namen »ePatient Dave« bekannt und weltweit eine der führenden Personen der ePatienten-Bewegung. Vor dem Hintergrund seiner persönlichen Erlebnisse mit den Möglichkeiten vernetzter Gesundheit und aus der Begegnung mit Menschen mit ähnlichen Erfahrungen verfasste er sein eigenes ePatientenHandbuch unter dem Titel »Let Patients Help«, das 2013 publiziert wurde (deBronkart 2013). Die deutsche Fassung dieses Textes bildet den ersten Beitrag dieses Bandes und dient als Einführung in das Thema »vernetzte Gesundheit«. Zudem bietet der Text ganz praktische Anweisungen und Checklisten für ePatienten, Angehörige und Fachleute im Gesundheitswesen (health professionals). Der zweite Beitrag stammt von Lucien Engelen, einem der wichtigsten Vertreter im Bereich eHealth, vernetzte Gesundheit und der ePatienten-Bewegung in Europa. Anders als Dave deBronkart ist Lucien Engelen ein health professional. Er ist Wissenschaftler und Initiator vieler Innovationen im Gesundheitssystem in den Niederlanden. Seit Jahren arbeitet er in ganz unterschiedlichen Bereichen des Gesundheitssystems für die Anerkennung des Patienten als wichtigem Partner im Gesundheitswesen. Der Beitrag »Health 2.0 Update« (Engelen 2011) ist ein Bericht seiner Erfahrungen aus den letzten Jahren. Er lässt in seinem Beitrag engagierte Fachpersonen
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aus dem Gesundheitswesen, aber auch Patienten zu Wort kommen und lässt sie über ihre Ideen, Projekte und Erfahrungen in einem veränderten, zukunftsweisenden Gesundheitssystem erzählen. Sein Beitrag ergänzt, erweitert und komplementiert den Beitrag von ePatient Dave deBronkart, indem er – diesmal aus der Perspektive der Leistungserbringer – zeigt, dass eHealth, vernetzte Gesundheit und die ePatienten-Bewegung nicht bloß ein neuer Hype aus den USA, sondern auch in Europa verwurzelt und weit entwickelt sind. Im dritten Beitrag wird der Fokus noch stärker auf den deutschsprachigen Raum gerichtet. Andréa Belliger hat ihren Artikel »Vernetze Gesundheit« nicht nur mit dem Ziel verfasst, die Relevanz des Themas für den deutschsprachigen Raum aufzuzeigen, sondern vor allem die Hintergründe, die technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die in den ersten zwei Beiträgen vorausgesetzt werden, zu erläutern und zu hinterfragen. Es soll erklärt werden, warum eHealth und ePatienten das Gesundheitssystem verändern und welche Tendenzen in Zukunft zu erwarten sind. Dabei werden auch Studien beigezogen, die anhand von Zahlenmaterial aufzeigen, welchen Einfluss die neuen digitalen Medien und die sozialen Veränderungen, die sie hervorrufen, auf die Gesellschaft und auf das Gesundheitssystem haben und was in nächster Zukunft zu erwarten ist. Im Zuge der Web-2.0-Bewegung ist seit einigen Jahren eine vernetzte Konsumenten- und Patientengeneration mit eigenen Werten und Normen (Konnektivität, Flow, Kommunikation, Partizipation, Transparenz, Authentizität, Empathie, Partizipation und Flexibilität) am Entstehen. Diese so genannten ePatienten kommunizieren und informieren sich auf vielfältige Weise. Sie lesen und schreiben in Blogs, vernetzen sich, kommunizieren mit anderen Patienten und Ärzten in Portalen und virtuellen Sprechstunden, tauschen Gesundheitsdaten aus und beeinflussen damit Selbstdiagnose, Arztwahl, Medikation und Therapie. Dabei steht das »e« im Wort ePatient, nicht so sehr für »elektronisch«, als vielmehr für »empowered« – dem Anspruch befähigt, aktiv und kompetent zu sein und
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so wahrgenommen zu werden. ePatienten sind interessanterweise nicht nur in der Altersklasse der digital natives, bei der Internetund NetGeneration, also bei den 15- bis 30-Jährigen, die im und mit dem Internet aufgewachsen sind, zu finden. Zunehmend gesellen sich die silver surfers, Menschen ab 60, dazu. Diese neue Patientengeneration ist mittlerweile zu einer neuen Einflussgröße auf dem Gesundheitsmarkt geworden und fordert vom Gesundheitssystem Kommunikation, Partizipation und Transparenz. Dass Gesundheitsinformationen heute zunehmend via Internet erschlossen werden, ist keine neue Sache. Patienten sind aber nicht nur digital informiert, sondern zunehmend virtuell vernetzt. Online HealthCommunities, in denen sich Patienten organisieren, austauschen und moralisch unterstützen, weisen enorme Wachstumszahlen auf. Der Umgang mit Gesundheit und Krankheit geschieht zunehmend in sozialen Netzwerken. Einige Institutionen im Gesundheitswesen haben diese Tendenz erkannt und kommunizieren via Social Media mit den Patienten und ihren Angehörigen. Auch Versicherungen und die pharmazeutische Industrie sind in sozialen Netzwerken aktiv. Die Zugänglichkeit von qualitativ hochwertiger Information und die Möglichkeiten, sich zu vernetzen, verändern zudem die Rollen im Gesundheitswesen. Das Wissen liegt nicht mehr einseitig bei den health professionals, was das Verhältnis verändert und die Grenzen zwischen Experten und Laien durchlässig macht. Patienten sehen sich zunehmend weniger als passive Empfänger von Gesundheitsdienstleitungen, denn als aktive und selbstbestimmte Kommunikationspartner, als Initianten von Präventionsmaßnahmen, Verantwortliche für Gesundheitsmonitoring und Managerinnen von home based care (Pflege zu Hause). Dieser neue Partizipationsanspruch geht weit über das persönliche Gesundheitsmanagement hinaus. Das Potential der Beteiligung von Patienten an medizinischen Entscheidungsprozessen im Sinne von partizipativer Medizin und shared decision making (partizipative Entscheidungsfindung), aber auch an Innovation und gemeinsamer Wertschöpfung wird zunehmend ersichtlich. Partizipation und Entscheidungskompetenz von Patienten setzt aber Qualitätstrans-
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parenz und Vergleichbarkeit von Gesundheitsdienstleistungen voraus. Von zunehmender Bedeutung sind deshalb Online-Ratingsysteme von Krankenhäusern, Arztpraxen und Kassen. Diese erhöhen die Transparenz, begünstigen den Wettbewerb und involvieren die Konsumenten in die Qualitätssicherung. Transparenz ist aber nicht nur bei den Dienstleistungen gefordert, sondern auch im Umgang mit medizinischen Daten und Patienteninformationen. Patienten – so zeigen Studien – haben keine grundsätzlichen Ängste in Bezug auf die Digitalisierung ihrer Daten, sie fordern aber berechtigterweise die volle Kontrolle und Verwaltung der eigenen Daten und wollen eigenständig je nach Verwendung über den Datenzugang entscheiden. Die soziale Bewegung des Web 2.0 hat das Gesundheitssystem erreicht. Die Tragweite dieser Umgestaltung lässt sich nur schwer prognostizieren. Health 2.0 und die Forderungen der ePatienten nach mehr Kommunikation, Partizipation und Transparenz bergen aber auf alle Fälle ein großes Potential für die Gestaltung und Weiterentwicklung unseres Gesundheitssystems.
D ank Die Herausgeber bedanken sich an dieser Stelle bei ePatient Dave deBronkart und Lucien Engelen für ihre Bereitschaft, ihre Publikationen übersetzen zu lassen und im Rahmen dieses Bandes zu veröffentlichen, und für ihre Bereitschaft, wo nötig die Texte einem Update zu unterziehen. Wir möchten aber auch all jenen Personen danken, die in den verschiedenen Bereichen des Gesundheitssystems arbeiten, in der öffentlichen Verwaltung, bei Krankenversicherungen, als engagierte und innovative Ärzte oder Pflegefachpersonen, und jenen Personen in Pharmaunternehmen, die nicht vergessen haben, dass ihr Hauptgeschäft Gesundheit und nicht Krankheit ist. Wir danken all jenen, die etwas zur Verbesserung unserer gesundheitlichen Vorund Fürsorge beitragen und vieles darüber sagen und schreiben
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könnten, was ebenso gut in ein solches ePatienten-Handbuch gehören könnte. Dieses Buch soll auch dazu dienen, diese Institutionen zu ermutigen, Patienten als Partner im Gesundheitssystem zu betrachten.
1 Lasst Patienten mithelfen von Dave deBronkart (ePatient Dave)1
1.1 E inleitung »Da ist etwas in Ihrer Lunge.« Mit diesen Worten, die Dr. Danny Sands am 3. Januar 2007 gegen 9.02 Uhr zu mir sprach, hat sich mein Leben verändert. Am Tag zuvor unterzog ich mich einer routinemäßigen Röntgenuntersuchung der Schulter und sie stießen »zufällig«, wie sie sich in der Medizin ausdrücken, auf etwas anderes, auf einen Fleck auf meiner Lunge, der nicht da sein dürfte. Der Radiologe Dr. Sands wusste, was er sah. Der Fleck stellte sich als Nierenkrebs heraus, der sich in meinem ganzen Körper ausgebreitet hatte, mit Metastasen überall, von meinem Oberschenkelknochen über die Zunge bis zum Schädel. Ich bin fast gestorben, wurde aber von großartigen Ärzten im Beth Israel Deaconess Medical Center in Boston gerettet. Ich erhielt eine Behandlung, die in der Regel nicht erfolgreich ist, aber bei mir war sie es, und am 23. Juli – nur 6½ Monate später – war meine Behandlung abgeschlossen und mir ging es wieder besser. Die ganze Geschichte kann man in meinem ersten Buch »Laugh, Sing, and Eat Like a Pig« nachlesen. Sie können sich auch die Aufzeichnung
1 | Original: deBronkart, R.D. (2013): »Let Patients Help! A ›patient engagement‹ handbook – how doctors, nurses, patients and caregivers can partner for better care«. Ins Deutsche übersetzt durch die Herausgeber mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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einer meiner Reden auf meiner Website ePatientDave.com unter Videos ansehen. In dieser Zeit wurde ich von großartigen Chirurgen, Onkologen, Krankenschwestern und Krankenpflegern behandelt. Ich selber tat alles nur denkbar Mögliche. So schloss ich mich z.B. online mit anderen Patienten zusammen, um mehr über meine Behandlung zu erfahren und mich darauf vorzubereiten. Mein Onkologe sagt heute, er wisse nicht, ob ich überlebt hätte, wenn ich mich nicht so stark engagiert hätte. Nach meiner Krankheit wurde mir erst bewusst, dass ich wie Alice im Wunderland den Kaninchenbau hinabgestürzt war, zum »ePatienten Dave« wurde, darüber bloggte, plötzlich über meine Geschichte in Washington sprach und heute weltweit Reden darüber halte, wie mündige, engagierte, aktivierte ePatienten die Möglichkeiten der Medizin und des Gesundheitswesens verändern. Aber ich habe auch herausgefunden, dass es ein Problem gibt, ein großes Problem sogar, und darum geht es in diesem Beitrag. Das Problem ist, dass man in unserer Kultur davon ausgeht, dass Ärzte alles wissen und Patienten nichts Brauchbares beitragen können. Es sind aber nicht nur Ärzte, die das denken, die meisten Patienten tun dies auch. Aufgrund dieser kulturellen Vorgabe machen die meisten Patienten den Mund nicht auf. Und wenn engagierte Patienten es tun, werden sie oft belächelt oder mit einem höflichen »bleiben Sie vom Internet weg« abgewiesen. Das ist natürlich nicht überall der Fall. Wenn Sie eine solche Zurechtweisung, wenn auch auf freundliche Art und Weise, als Patient nicht selber erfahren haben, so fragen Sie Ihre Freunde und Nachbarn. Meiner Erfahrung nach muss man nicht lange suchen, um jemanden zu finden, der respektlos behandelt wurde. Ein Hauptproblem besteht darin, dass Personen, die eine jahrelange harte Ausbildung absolviert haben und über jahrzehntelange Erfahrung verfügen, natürlich Grund haben, sich zu fragen, was denn Leute ohne diesen Hintergrund beitragen könnten. Die Antwort lautet schlicht und einfach: eine ganze Menge. Aber es durch-
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zusetzen, bedeutet harte Arbeit. Und es stellt sich die Frage, wie sie etwas beitragen können. Meine Antwort darauf, die erfreulicherweise breite Zustimmung findet, ist gleichzeitig der Titel dieses Beitrags: Lasst Patienten mithelfen (Let Patients help!).2
1.2 G rundl agen 1.2.1 Die Anfänge der Bewegung In der Medizin hängt die Fähigkeit, einen wertvollen Beitrag zu leisten, sehr stark davon ab, wie viel man weiß. Nur wenige Menschen verstehen dies so gut wie »Doc Tom« Ferguson, der Gründer der ePatienten-Bewegung. Im Jahre 1978 promovierte Tom Ferguson an der Yale Medical School. Er hat nie eine eigene Praxis betrieben, sondern war publizistisch tätig und konzentrierte sich bei dieser Arbeit darauf, sein Wissen an Patienten weiterzugeben, um diese zu befähigen, so viel wie möglich für sich selbst und ihre Familien zu tun. Er wurde medizinischer Redakteur des »Whole Earth Catalog« und veröffentlichte die Zeitschrift »Medical Self-Care« sowie ein Buch mit dem gleichen Titel. Er trat in den populären TV-Sendungen »Today« und »60 Minutes« auf und wurde sogar in John Naisbitts bahnbrechendem Buch »Megatrends« aus dem Jahre 1982 erwähnt. Ferguson wusste, dass wir selber eine Menge für uns und unsere Familien tun können, aber er wusste auch, dass unsere Fähigkeiten durch den begrenzten Zugang zu Informationen eingeschränkt sind. Als aber das Internet aufkam, veränderte sich das schlagartig. Er beobachtete, was Leute plötzlich im Netz tun konnten, und über2 | Der Slogan (Let Patients help!) stammt aus einem Rap am Ende einer kurzen Rede, die ich auf einer TEDx-Konferenz in den Niederlanden hielt. Das Video ist zu sehen auf: http://www.ted.com/talks/dave_debronkart_ meet_e_patient_dave.html [Stand: 16.03.2014].
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legte sich, wie er diese neue Art von vernetzten Patienten bezeichnen sollte. Er entschied sich schließlich für den Begriff »ePatient«. Zunächst stand das »e« von ePatient für elektronisch. Im Laufe der Zeit kamen auch andere Bedeutungen hinzu: ermächtigt (empowered im Sinne von mündig), engagiert (engaged), ausgestattet (equipped im Sinne von ausgerüstet), befähigt (enabled im Sinne von Kompetenzen). Heute fügen einige gebildet (educated), erfahren (expert) und weitere Begriffe, die mit dem Buchstaben »e« beginnen, hinzu. Doc Tom litt an einem multiplen Myelom und starb unerwartet im Jahr 2006 während einer ziemlich routinemäßigen Behandlung im Krankenhaus. Er war gerade mit der Recherche und dem Verfassen eines Artikels für das »Pioneer Portfolio« der Robert Wood Johnson Foundation beschäftigt, in dem die Grenzbereiche des Gesundheitswesens untersucht werden sollten, um besser zu verstehen, was die Zukunft bringen könnte. Inhaltlich ging es um diese neue Art von Patienten und der Artikel trug den Titel »E-Patients: How they can help us heal healthcare«. Nach seinem Tod wurde der Artikel von seinen Kollegen fertiggestellt und man kann ihn kostenlos auf Englisch oder Spanisch von e-patients.net, dem Blog, den Tom Ferguson startete, herunterladen. 2009 beschlossen einige von Tom Fergusons Anhängern, dass es an der Zeit sei, die Arbeit zu formalisieren, und gründeten die Society for Participatory Medicine, die heute auf ParticipatoryMedicine.org zu finden ist. In Anerkennung der Bedeutung des Vernetzungsaspektes der Vision von Tom Ferguson und der neuen Art von Partnerschaft, die er sich vorgestellt hat, definierten sie partizipative Medizin als eine Bewegung, in der vernetzte Patienten sich von bloßen »Passagieren« zu verantwortungsbewussten »Fahrern« für ihre Gesundheit entwickeln und in der Gesundheitsdienstleister sie als vollwertige Partner adressieren und schätzen. Zu Tom Fergusons Anhängern gehörte Dr. Danny Sands, der zur Zeit meiner Krebserkrankung mein Hausarzt war. Die Society for Participatory Medicine ließ ihren Worten Taten folgen und
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meinte, dass diese Vereinigung, da es ja um Partnerschaft ginge, nicht von einem Arzt allein geleitet werden könne. So wählten sie Dr. Sands und mich als Kovorsitzende für die ersten paar Jahre. Ein Patient als Kovorsitzender einer medizinischen Gesellschaft – wie verrückt ist das denn? Oder vielleicht doch nicht? Können Patienten vielleicht dazu beitragen, das Gesundheitssystem zu verbessern?
1.2.2 Ein kurzes Glossar Die Kultur der Medizin und des Gesundheitswesens ist im Wandel begriffen, da unsere Überzeugungen darüber, wer was tun sollte und wer was tun kann, sich gerade ändern. Und wenn die Kultur sich ändert, verärgert das manchmal Leute, weil Person A etwas aus der neuen Perspektive heraus sagt, Person B es aber aus der alten Perspektive heraus versteht oder umgekehrt. Und wenn man nicht erkennt, dass sich Bedeutungen ändern, kann jeweils einer der Betroffenen der Ansicht sein, der andere lüge, sei einfach nur beleidigend oder ein Idiot. Es hilft, sich über Bedeutungen von Wörtern im Klaren zu sein. Im Folgenden deshalb einige Definitionen von Insiderbegriffen, die durchaus sinnvoll sind, für manche aber sonderbar klingen. Empowered (befähigt): Eine befähigte Person weiß, was sie will, und meldet sich zu Wort. Eine nicht befähigte Person, die mit einer Herausforderung konfrontiert ist, wird sagen: »Es gibt nichts, das ich tun kann.« Das ist ein Ausdruck von Hilflosigkeit. Angesichts der gleichen Herausforderung denkt eine befähigte Person: »Was kann ich tun?« … egal, wie die Aussicht auf Erfolg ist. Engagiert: Engagiert sein heißt, sich zu beteiligen, aktiv zu sein, zu reagieren. Ein engagierter Patient hört zu, antwortet, stellt Fragen, denkt für sich selbst und handelt. Ein nicht engagierter Patient sieht das Gesundheitswesen als Autowaschanlage: Er kurbelt die Fenster hoch, lehnt sich zurück und lässt sich berieseln.
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Patientenengagement: In diesem Beitrag geht es darum, was die Branche als Patientenengagement bezeichnet. Die Verwendung des Begriffs ist sehr unterschiedlich und das verursacht Missverständnisse. Für manche geht es beim Begriff »Patientenengagement« einfach darum, dass Patienten ihre Tabletten einnehmen und mehr davon kaufen. Aber wie ich bereits sagte: Engagierte Patienten beteiligen sich aktiv an allen Aspekten ihrer medizinischen Betreuung und auch an der Ausgestaltung von Pflege an sich. ePatient: Dieser Begriff bezeichnet einen Patienten, der mündig, engagiert, ausgestattet, befähigt ist (vgl. Kap. 1.2.1). Medizinische Fachpersonen: Das sind geschulte medizinische Fachkräfte, die in Praxen, Krankenhäusern usw. arbeiten, in erster Linie Ärzte sowie Pflegefachpersonen. Leistungserbringer: Damit sind Personen und Unternehmen gemeint, die medizinische Dienstleistungen anbieten. Kostenträger: Das ist ein Begriff, der mich verrückt macht, denn dabei dreht sich alles um den Geldbeutel des Leistungserbringers. Die meisten Krankenhäuser bekommen die Rechnungen von Versicherungen bezahlt. Diese sind daher diejenigen, die als Kostenträger bezeichnet werden. Das ist ironisch, denn in den meisten Fällen erhalten die Versicherer ihr Geld von uns Versicherten. Wir sind diejenigen, die bezahlen, um Leistungen zu erhalten. Patient: In diesem Beitrag bezeichnet »Patient« die Person, die aufgrund eines Problems oder einer Untersuchung medizinische Leistungen erhält. Oft schließt dies auch die Angehörigen als Betreuende des Patienten ein. Betreuende: Das sind jene Personen, z.B. Familienmitglieder, aber auch andere Personen mit oder ohne Bezahlung, die bei der Pflege einer Person, in der Regel eines Kindes, eines älteren Menschen
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oder von jemandem mit Beschwerden, helfen. Wie der Patient erhalten auch die Betreuenden Anweisungen und helfen, diese auszuführen. Konsument: Die Bezeichnung »Konsument« bezieht sich in diesem Beitrag auch auf Personen, die Leistungen erhalten, aber in einem anderen Zusammenhang. Sie tun dies als Entscheider und Käufer von medizinischen Dienstleistungen. Für manche steckt im Begriff »Konsument« eine Form von Mündigkeit (»derjenige, der Informationen sammelt und fundierte Entscheidungen trifft«), während andere den Begriff eher als Schimpfwort betrachten (»ein Spielball von Unternehmen, denen es nur um den Umsatz geht«). Ich selber verwende den Begriff, wenn es eher um einen Businesskontext und nicht so sehr um medizinische Zusammenhänge geht. Paternalismus oder paternalistische Medizin: Eine paternalistische Haltung geht davon aus, dass Patienten nichts von dem verstehen, was wesentlich ist, weshalb medizinische Fachpersonen die Verantwortung tragen müssen. Der Begriff entspringt der Tatsache, dass Eltern ihre Kinder beaufsichtigen müssen. Manche Patienten wollen auch so behandelt werden (was für mich in Ordnung ist), aber befähigte/engagierte Patienten wollen Partner sein – genauso wie Kinder, die erwachsen geworden sind, gelernt haben, selbstständig zu denken, und bereit sind, gemeinsam Verantwortung zu tragen. Compliance oder Adhärenz: Diese Begriffe sind ein direkter Auswuchs paternalistischen Denkens, wenngleich medizinische Fachpersonen sich dessen oft nicht bewusst sind. Es geht darum, ob man das, was einem gesagt wird, tut oder eben nicht: Der Arzt verschreibt Medikamente oder Behandlungen und wenn man sich daran hält, ist man compliant – ein furchtbar herabsetzender Begriff, weshalb einige ihn zu »Adhärenz« abmildern. Aber auch bei diesem Begriff geht es nach wie vor darum, ob man tut, was einem gesagt wird. Meine Meinung ist folgende: Patienten sind die ultimativen Beteiligten – diejenigen, die leben oder sterben, leiden oder
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genesen, je nachdem, wie die Sache ausgeht. Aus meiner Sicht sollten die Behandlungsziele Gegenstand einer Diskussion zwischen Ärzten und Patienten sein. Und wenn ich derjenige bin, der das Ziel der Behandlung definiert, nenne ich es meine Leistung und nicht Gehorsam. Das ist doch ziemlich inspirierend. Kommen wir nun nach dieser begrifflichen Klärung zu dem, was ich aus meiner Teilnahme an über 200 Veranstaltungen zum Thema Gesundheit und Medizin als ePatient Dave erfahren habe. Es handelt sich dabei nicht nur um meine eigene Meinung. Ich habe viel zugehört und die folgenden Themen fassen auch zusammen, was andere Personen mir erzählt haben.
1.3 Z ehn grundlegende W ahrheiten über G esundheit und das G esundheitswesen 1.3.1 Patient ist kein Wort, das in der dritten Person steht Der erste Event, auf dem ich sprach, war eine halbtägige Podiumsdiskussion im Hyatt Regency in Cambridge mit brillanter Symbolik: Während der ersten Tageshälfte ließen die Veranstalter auf dem Podium einen Sitzplatz leer – den des Patienten. Nach der Pause führten sie mich aufs Podium hinauf. Im Laufe der Diskussion war ich der Letzte, der sprach. Ich war froh, da ich noch nie an einem solchen Event teilgenommen hatte. Ohne mir vorher groß etwas zu überlegen, sagte ich Folgendes: »Ich möchte vorschlagen, dass wir unsere Ausdrucksweise ändern. Wir reden alle über Patienten, als ob sie jemand wären, die sich nicht in diesem Raum befinden – jemand da draußen auf der Straße. Nun, ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass ›Patient‹ kein Wort ist, das in der dritten Person steht. Ob es Sie selbst sind, Ihr Kind, Ihr Ehepartner, Ihre Mutter – es kommt die Zeit, wenn Sie derjenige sind, der im Krankenhausbett liegt, oder derjenige, der am Krankenbett sitzt, je-
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mandem die Hand hält und leise denkt: ›Lieber Gott, ich hoffe, sie schafft es.‹« Glauben Sie mir, ob es in diesem, im nächsten oder in zehn Jahren ist: Das, was mir passiert ist, wird auch Ihnen widerfahren. Wenn Sie also über all die Themen in diesem Beitrag und in der Medizin nachdenken, sollten Sie es aus dieser Perspektive betrachten. Das Problem besteht natürlich darin, dass es schwierig ist, dies zu tun, wenn Sie noch nicht wirklich betroffen sind. Mein Freund Perry, der unter der Parkinsonkrankheit leidet, sagt dazu treffend: »Solange deine Tage noch nicht gezählt sind, weißt du nicht, was wichtig ist.« Tun Sie aber Ihr Bestes, dies zu verinnerlichen, bevor die Probleme in Ihrer Familie losgehen.
1.3.2 Patienten sind die am wenigsten genutzte Ressource Warner Slack ist Oberarzt an meiner Klinik, dem Beth Israel Deaconess Medical Center in Boston. Er ist ein kluger und wunderbarer Mann und wiederholt seit den 1970er Jahren, dass Patienten die am wenigsten genutzte Ressource sind. Ursprünglich sagte er »die am wenigsten genutzte Ressource in unseren Informationssystemen«, womit er meinte, dass Patienten selber aktiv eine Menge Daten in elektronische Patientendossiers eingeben könnten. Das war visionär. 40 Jahre später nähern wir uns seiner Vision: Patientenengagement via Patientendossier. Es erforderte einen Act of Congress und jahrelange Anhörungen, um die entsprechenden Bestimmungen zu erlassen. Warner Slack war in der Tat visionär. Heute wird er oft leicht abgewandelt folgendermaßen zitiert: Patienten sind die am wenigsten genutzte Ressource im Gesundheitswesen oder das am wenigsten genutzte Mitglied des Pflegeteams. Jeder Patient oder Angehörige, der schon einmal von medizinischen Fachkräften links liegen gelassen wurde, weiß, wie wenig wir genutzt werden.
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Sie fragen, warum das so ist? Meine Vermutung ist, dass es sich um eine Prämisse handelt, die tief in unserer Kultur verwurzelt ist: Ausgebildete medizinische Fachkräfte können Dinge tun, die sonst niemand tun kann (richtig), daher kann niemand sonst etwas beitragen (falsch). Aber das lässt sich ändern: Kultur ist eine Reihe von anhaltenden Konversationen darüber, was möglich und was angemessen ist. Die neue Konversationsregel lautete einfach: Lasst Patienten mithelfen.
1.3.3 Wir alle wissen etwas, niemand weiß alles (nicht einmal Ärzte) Diese Aussage ist etwas schwierig, da sie unserem instinktiven Wunsch widerspricht, ein Genie zu finden, das alles weiß: jemanden, der genau weiß, was uns (oder unserem Baby) fehlt, und was zu tun ist. Ich habe es am eigenen Leib erfahren, als ich krank war: Ich wollte unbedingt das Gefühl haben, am besten Ort der Welt zu sein und dass meine Ärzte alles in ihrer Macht Stehende tun würden, die Welt nach jeder möglichen Option zu durchforsten und ihre jahrelange Ausbildung und Erfahrung zu nutzen, um die perfekte Entscheidung zu treffen. Aber es ist nicht möglich. Es ist für einen Einzelnen einfach unmöglich, alles zu wissen, selbst für Ihren Arzt. Und wenn Sie und er so handeln, als ob es möglich wäre, alles zu wissen, sind Fehler vorprogrammiert. Jede Unzulänglichkeit sieht dann nach Verrat aus. Die Realität sieht viel eher so aus: Im Jahre 2010 wurden über 800.000 neue Artikel in medizinischen Fachzeitschriften veröffentlicht und diese Zahl steigt weiter. Paul Grundy MD, IBM-Direktor für die weltweite Transformation des Gesundheitswesens, erzählte mir, dass der durchschnittliche Hausarzt 1.500 bis 2.000 Patienten hat. Stellen Sie sich vor, bei wie vielen Krankheiten er auf dem Laufenden bleiben muss. Meine eigener Onkologe, Dr. David
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McDermott, bestätigt dies: »Es ist unmöglich auf dem Laufenden zu bleiben, es sei denn, Sie sind ein Subsubspezialist wie ich.« Eine wachsende Zahl an Ärzten versteht dies, viele aber noch nicht und gehen in die Defensive: »Man kann nicht alles wissen« klingt so standesfremd, so respektlos. Daher wandte ich mich an einen Experten. Doc Toms zitiert in seinem White Paper Dr. Donald Lindberg, Direktor der National Library of Medicine: »Wenn ich jeden Abend zwei medizinische Zeitschriftenartikel lesen und mir einprägen würde, würde ich am Ende des Jahres um 400 Jahre hinterherhinken.« Als ich damit begann, Reden zu halten, zitierte ich seine Aussage. Aber die Ärzte kamen nach wie vor daher und sagten, sie würden das bezweifeln. Als ich im Jahre 2010 tatsächlich an der National Library of Medicine einen Vortrag hielt, traf ich Dr. Lindberg und fragte ihn, ob seine damalige Aussage weiterhin korrekt sei. Er antwortete: »Es ist noch viel schlimmer.« Medizinische Fachpersonen werden mit Informationen überflutet. Auf der andern Seite können aber gewöhnliche Patienten Informationen via Internet beschaffen, die ihre Ärzte vielleicht gar nicht kennen. Kollidiert dies mit unserer kulturellen Prämisse? Hier eine Lektion für Patienten und Ärzte: Jeder, dessen Selbstwertgefühl davon abhängt, alles zu wissen, befindet sich in großen Schwierigkeiten. Niemand versagt, nur weil jemand mit einer geringeren Ausbildung etwas gesehen hat, was er noch nicht gesehen hat. Aber es gibt nach wie vor keinen Ersatz für das über Jahre an klinischer Erfahrung geschulte Auge, um alles ins rechte Licht zu rücken.
1.3.4 Googeln ist ein Zeichen von Patientenengagement In meiner Schulzeit gab es einen irren Tanz namens Bugaloo. Heute ist er in einer etwas anderen Form wieder da. Ich nenne ihn den ePatienten-Boogloo: das Suchen nach Gesundheitsinformationen auf Bing, Google und Yahoo.
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Googeln ist übrigens die beliebteste Methode, sich für die eigene Gesundheit zu engagieren. Eine tolle Sache, nicht wahr? Aber wenn Patienten dies ihrem Arzt sagen, verdreht dieser vielfach die Augen und rät vom Internet ab. Tatsächlich soll es in den USA täglich mehr Suchanfragen zu Gesundheitsthemen geben als Arztbesuche. Susannah Fox vom Pew Internet and American Life Project publizierte folgende Zahlen: 81 Prozent der Erwachsenen in den USA nutzen das Internet, 72 Prozent von ihnen haben im letzten Jahr nach Gesundheitsinformationen gesucht. Rechnen Sie nach: 81 Prozent × 72 Prozent = 58 Prozent der Erwachsenen in den USA haben im vergangenen Jahr online nach Gesundheitsinformationen gesucht. Und diese Zahl steigt, denn die Jüngeren werden älter und die Digital Natives werden erwachsen. »So ist es ganz und gar nicht«, sagen die Ärzte, »meine Patienten sind nicht so.« Nun, vielleicht nicht der Patient selbst, aber Pew zufolge wird die Hälfte der Suchanfragen zu Gesundheitsthemen für jemanden anderen getätigt, quasi via ePatientenstellvertreter. Ich sage nicht, dass alles, was Leute online finden, goldrichtig ist, es gibt sicherlich viel Mist da draußen im Internet. Daher gibt es in meiner Vision des Gesundheitssystems der Zukunft die Rolle des Informationscoaches – jemand, zu dem man sagen kann: »Ich habe diese Webseite gefunden, was meinst du dazu?« Menschen beizubringen, Websites zu bewerten, schafft Medienkompetenz beim Patienten und Bürger. Genau dort, wo sie nötig ist.3 Wenn Patienten nicht wissen, wie sie den Boogloo sicher »tanzen«, dann soll man sie nicht davon abhalten, sich zu engagieren. Man soll ihnen zeigen, wie es geht. Oder wie ich es 2010 in meinem Statement vor einer Arbeitsgruppe zur Erarbeitung neuer Vorschriften für elektronische Patientendossiers erklärte: Bis Menschen Erfahrungen sammeln, sind sie unerfahren! Die Lösung besteht darin, sie nicht einzuschränken und sie daran zu hindern. Ermächtigt die Menschen: Befähigt sie und bildet sie aus! 3 | Vgl. dazu das Kap. 1.5 mit den Ratschlägen von Dr. D. Sands.
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1.3.5 Wir leisten mehr, wenn wir besser informiert sind Niemand kann sein Bestes tun, wenn er über keine relevanten Fakten verfügt. Es hat sich gezeigt, dass dies eines der am weitesten verbreiteten Probleme im Gesundheitswesen ist. Wir erwarten, dass Menschen gute Arbeit leisten, selbst dann, wenn ihnen die Informationen, die sie benötigen, fehlen. Dies trifft auch auf Patienten zu: Sie können eine Krankheit oder Behandlung nicht verstehen, wenn sie keine Informationen darüber finden können. Sie können ihren Zustand nicht verstehen und reagieren, wenn wir die Informationen vor ihnen verbergen. Sie können Anweisungen nicht folgen, wenn sie nicht deutlich formuliert sind. Sie können die Kosten nicht kontrollieren, wenn wir sie vor ihnen verbergen. Paradoxerweise werden Probleme wie diese gemeinhin als Probleme der Kompetenz im Zusammenhang mit Gesundheit betrachtet, allzu oft aber sind es tatsächlich Probleme der Verständlichkeit. Bevor man also jemanden, der durchaus etwas lernen möchte, Steine in den Weg legt, sollte man versuchen, seine Informationen verständlich zu vermitteln. Diese Problematik betrifft aber auch medizinische Fachpersonen. Niemand kann eine hervorragende fachliche Leistung erbringen, wenn ihm relevante Fakten fehlen: Sie sind nicht in der Lage, die beste Behandlung zu empfehlen, wenn Sie nicht sämtliche Optionen kennen – einschließlich derjenigen, die seit Ihrer Ausbildung entwickelt wurden. Sie können auf die Bedürfnisse der Patienten nicht reagieren, wenn diese sie nicht äußern. Sie können keine fundierte Diagnose stellen oder Medikamente sicher verschreiben, wenn wichtige Informationen in der Krankenakte fehlen oder falsch sind. Denken Sie darüber nach: Bevor eine medizinische Fachperson ihre Berufslizenz erhält, muss sie eine Prüfung absolvieren. Man kann bei dieser Prüfung keine richtigen Antworten erwarten, wenn Fakten vorenthalten werden. Und dennoch wird allzu oft von den Fachpersonen erwartet, dass sie dann in der Praxis Leistungen er-
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bringen, auch wenn die Informationen, die sie erhalten, unvollständig oder unzureichend sind. Das ist nicht fair. Tipps für Leistungserbringer: Geben Sie den Patienten Informationen, die sie verstehen und nutzen können. Nehmen Sie sich Zeit, herauszufinden, ob sie sie wirklich verstehen. Lassen Sie den Patienten die ganze Krankenakte sehen und bereinigen Sie alle Fehler, die der Patient möglicherweise darin findet. Andernfalls bekommt der nächste Arzt falsche Anweisungen. An die Patienten und Betreuungspersonen: Sagen Sie, ob Sie die Informationen verstehen. Stellen Sie sich die Frage, ob Sie diese Information selber auch jenen Menschen erklären können, die Sie betreuen. Falls nicht, dann können Sie auch nicht die Verantwortung für Ihre eigene Gesundheit übernehmen. Bitten Sie darum, die Aufzeichnungen auf Fehler überprüfen zu dürfen. Wenn jemand es ablehnt, bestehen Sie darauf. Es ist Ihre Gesundheit, die auf dem Spiel steht. Es geht nicht darum, was den Ärzten (oder den »Krankenhausrichtlinien«) gelegen kommt. Treten Sie für die Person ein, deren Leben auf dem Spiel steht. Man kann niemandem, weder medizinischem Fachpersonal noch Patienten, die Schuld daran geben, Informationen nicht zu verwenden, die sie nicht haben oder nicht verstehen können.4
1.3.6 Informationen allein ändern das Verhalten nicht Wir leisten mehr, wenn wir besser informiert sind, aber das reicht nicht aus. Wenn Informationen allein ausreichen würden, etwas zu verändern, wäre alles, was wir benötigen würden, Broschüren. Doch auf Konferenzen sehe ich einen Redner nach dem anderen, der wohl denkt: »Wenn wir nur ausreichend auf den unbestreitbaren Tatsachen bestehen, werden sich die Dinge ändern. Wenn dies 4 | Wenn Sie sich wirklich amüsieren möchten, drucken Sie einige Aufkleber mit der Aufschrift »DAS IST NICHT KLAR« und lassen Sie die Leute diese überall anbringen, wo sie möchten. Dann beauftragen Sie jemanden, diese wieder einzusammeln und zu evaluieren, was nicht verstanden wird.
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noch nicht klappt, geben wir ihnen einfach noch mehr Fakten.« Falsch. Das klappt weder bei der Ernährung noch beim Sport. Es klappt auch nicht, wenn es darum geht, Leute dazu zu bringen, ihre Medikamente einzunehmen. Es klappt nicht, wenn es darum geht, medizinisches Fachpersonal dazu zu bringen, ihre Hände zu waschen. Es werden dadurch auch keine Kunstfehler verhindert. Eine Verhaltensänderung ist nicht rational. Finden Sie also Methoden, die funktionieren. Eine Erleuchtung war für mich Daniel Kahnemanns bahnbrechendes Buch »Thinking, Fast and Slow« (Kahnemann 2011) über Verhaltensökonomik, eine Studie darüber, warum und wie Menschen Wahlmöglichkeiten wahrnehmen und warum und wie sie eine Wahl treffen. Das geschieht offenbar nicht rational, selbst wenn intelligente Menschen die Informationen haben. Informationen allein verändern Verhalten nicht, auch nicht bei intelligenten Menschen. Einen anderen Hinweis findet man im Buch »Switch: How to Change Things When Change is Hard« von Chip und Dan Heath (Heath/Heath 2011). Das Buch wird häufig wegen seiner Metapher vom Elefanten, Reiter und Weg zitiert. Die Metapher beinhaltet einen Reiter auf einem Elefanten, der im Dschungel einem Weg folgt: Der Elefant besitzt die ganze Stärke, die Kraft. Der Elefant ist wie unsere Emotionen und Gefühle. Der Reiter mag zwar viel Verstand haben, aber wenn der Elefant nicht dorthin gehen will, wo der Reiter hin will, wer, was glauben Sie, gewinnt? Der Reiter ist unser Verstand, das rationale Denken. Der Weg ist die Umgebung, die Umwelt. Der Elefant kann in der Lage sein, sich seinen Weg durch das Unterholz zu bahnen, aber es ist wesentlich einfacher, dem Weg zu folgen, der Route, die bequem ist und meistens in die richtige Richtung führt. Oder auch nicht: Der Weg ist der Weg. Für uns zeigt sich »der Weg« in den vielen Einflüssen, die bestimmen, was im Leben bequem und praktisch ist. Wenn es dort, wo Sie leben, kein gutes Essen gibt, werden Sie wahrscheinlich nicht gut essen. Wenn es schwierig ist, zum Arzt zu gehen, werden
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Sie wahrscheinlich nicht hingehen. Wenn es für die Leute schwierig ist, daran zu denken, ihre Tabletten einzunehmen, werden sie es nicht tun, selbst wenn sie wissen, dass es wichtig wäre. Versuchen Sie nicht, dieses Problem zu lösen, indem Sie den Menschen mehr Fakten geben. Versuchen Sie stattdessen, einen neuen, auf der Verhaltensökonomik basierenden Ansatz: Sorgen Sie dafür, dass es einfacher wird, das Richtige zu tun. Wenn z.B. Ihre Pillendose eine GlowCap (einen leuchtenden Deckel) hat, erinnert diese Sie daran, wenn es Zeit ist, die Pillen zu nehmen, indem sie zu leuchten beginnt, piepst oder jemanden anruft. Es ist (nicht) erstaunlich, dass bei Tests die compliance von 71 Prozent auf 98 Prozent anstieg. Sehen Sie nun, was für ein Fehler es ist, fehlende compliance als Versagen des Patienten hinzustellen? Wenn Sie, als Patient oder als eine medizinische Fachperson, sehen, dass es für einen Patienten kompliziert ist, etwas zu tun, das eigentlich wichtig wäre, dann sprechen Sie es an. Und an Erfinder unter uns: Sie können problemlos ein Riesengeschäft machen, wenn Sie Dinge erfinden, die etwas einfacher machen. Die Tür für solche neuen Ideen steht sperrangelweit offen und ePatienten sind ganz wild darauf.
1.3.7 Verständlichkeit ist Macht In jedem anderen Geschäftsbereich haben Sie das Nachsehen, wenn es kompliziert ist, Ihre Produkte zu nutzen. Verkäufer lernen, darauf zu achten, dass man sie versteht – oder sie gehen unter. Genauso verhält es sich, wenn wir der Ansicht sind, dass etwas Medizinisches schwer verständlich ist. In solchen Fällen sollten wir wie ein Unternehmen denken, dessen Überleben auf dem Spiel steht, und es einfacher und verständlicher machen. Ich kenne dies aus eigener Erfahrung. Ich arbeitete einmal für ein Unternehmen, das zwei leistungsfähige Schriftsatzsysteme entwickelt hatte. Beide waren für unsere Testnutzer verwirrend und ich habe noch zwei Aussagen von Entwicklern im Kopf: »Es ist ganz einfach, sobald Sie es verstanden haben.« (Jemand antwortete: »Äh,
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das gilt auch für Kernphysik.«) Oder dann diese Aussage in einer Vorstandssitzung: »Das Problem ist die Marketingabteilung, die keine genügend intelligenten Kunden findet.« Was war die Folge? Nun, als der Schriftsatz vom Desktop-Publishing attackiert wurde, war unser Unternehmen eines der Ersten, das unterging. Den Leuten gefiel der Konkurrent besser. Informationen enthalten mehr Wert als die Information selbst. Genauso, wie ein Medikament nicht gut ist, wenn es nicht absorbiert werden kann, sind Informationen nutzlos, wenn sie nicht absorbiert werden können. Sich um Verständlichkeit zu kümmern, ist eigentlich ebenso wichtig, wie sich um Fakten und Technologien zu kümmern. Hier ein paar Beispiele: • Thomas Goetz, ehemaliger Chefredakteur von »Wired«, sah, dass seine Blutwerte für ihn unverständliche Zahlenreihen waren. Er bat seine Artdirectors, diese wie einen Investmentreport aussehen zu lassen. Sie kamen mit pfiffigen, einfach zu lesenden Grafiken zurück: einen Balken für jede Zahl, grün am positiven, rot am negativen Ende, und ein Pfeil, der anzeigte, wo der Wert gerade lag. Interessant: Die gleichen Daten, mit besserer Software präsentiert – und der gleiche lustlose »Konsument« wird plötzlich kompetent. Magisch! • Health Literacy Missouri produziert großartige Ergebnisse durch die Übersetzung medizinischen Jargons in einfach verständliche Sprache (vgl. dazu meinen Blogbeitrag »Clarity is Power«). • In der Ausgabe der Zeitschrift »Health Affairs« vom Februar 2013 stand ein Artikel über Gesundheitskompetenz – aber wissen Sie, um was es dabei wirklich ging? Um die Verbesserung der Verständlichkeit dessen, was wir dem vermeintlich relativ unwissenden Patienten mitgeben. Ausgezeichnet! Aber warum bezeichnet man es nach wie vor als »Kompetenz«? Weil die kulturelle Prämisse immer noch die ist, dass der Leistungserbringer sich auskennt und alle anderen es zwar verstehen sollten, aber nicht genug »Kompetenz« dafür besitzen.
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Wenn Sie denken, Patienten und deren Familien müssten halt einfach intelligenter werden, erinnere ich Sie gerne an meine Kollegen in der Druckbranche, die sagten, die Kunden müssten intelligenter werden. Konzentrieren wir uns besser auf das, was wirklich funktioniert: Verständlichkeit. Weil Konsumdenken und Wahlmöglichkeiten auch im Gesundheitssystem Einzug halten, ist jeder Leistungserbringer, der im Geschäft bleiben will, gut beraten, nicht länger wie jene Produktentwickler zu denken, die sagten, dass Kunden nicht intelligent genug wären. Machen Sie also das, von dem Sie möchten, dass Leute es tun, zuallererst verständlich.
1.3.8 Gesundheit ist nicht Medizin. Behandlung ist nicht Pflege und Fürsorge Ab sofort sollten wir nicht mehr von healthcare, sondern von health & care sprechen. Warum? Weil ich zunehmend erkenne, dass es zu kurz greift, bei den Veränderungen im Gesundheitswesen nur über Medizin und Behandlung zu sprechen, jenem Bereich, der ins Spiel kommt, wenn etwas schiefläuft. Wir alle – Patienten, Leistungserbringer, Versicherungen, Behörden und Industrie – müssen über Gesundheit nachdenken, und zwar jedes Mal, wenn wir uns mit einem Problem im Gesundheitswesen auseinandersetzen. Als Marketingperson bin ich mir der Macht der Sprache sehr bewusst (»Lasst Patienten mithelfen«, »Gebt mir meine verdammten Daten«). Health & care ist ein einfacher Ersatz für den üblichen Begriff »healthcare«, aber vielleicht hilft diese Formulierung, etwas neu zu denken. Hier ein paar Gedanken: • Die Healthcare-Branche beschäftigt sich vor allem mit Medizin, medizinischen Kompetenzen und medizinischen Dienstleistungen. Ich liebe die Branche, weil sie mein Leben gerettet hat, aber ich nenne Medizin »Medizin«. • Gesundheit hingegen ist Ihre Gesundheit, Ihr Wohlbefinden. Sie können sehr gesund sein, so dass Sie nie eine medizinische Behandlung benötigen.
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• Behandlungen sind gut, aber sie sind etwas anderes als Pflege und Fürsorge. Ich kenne viele Leute, die Behandlungen ohne Pflege und Fürsorge erhalten haben und umgekehrt. Sprache bestimmt unser Denken, daher finde ich es gut, sich darüber im Klaren zu sein, worüber wir diskutieren. Lassen Sie uns die Begriffe »Medizin«, »Behandlung«, »Pflege« und »Fürsorge« klar und bewusst verwenden.
1.3.9 Das Bedürfnis, uns um unsere Familien zu kümmern, ist stark Aus der Technik lernen und wissen wir, warum etwas populär ist. Einige Ideen heben die Welt aus den Angeln und andere, die genauso »sexy« sind, nicht. Das ist aber schwer vorherzusagen. Als das iPad neu auf den Markt kam, meinten einige Blogger, Apple habe etwas falsch gemacht … wie gesagt: Es ist schwierig. Daher habe ich bei meinem Eintreten für Patientenengagement darauf geachtet, jeweils zu erkennen, wann es Widerstand gibt und wann nicht, und es läuft etwa auf Folgendes hinaus: Eine Menge Leute sind sich nicht sicher, ob ein Erwachsener wie ich wirklich in seinem Patientendossier herumschnüffeln sollte. Niemand aber hindert Eltern mit einem kranken Kind oder einen Erwachsenen, der zu Hause eine ältere Person pflegt, daran. Als ich das erkannte, hörte ich auf, nur über Patienten zu reden, und ging dazu über, von »Patienten und Angehörigen« zu sprechen. Ein großer Teil der Arbeit im Bereich health & care findet in der Tat zwischen Familienangehörigen statt und ist nicht nur selfcare. Wir müssen deshalb auch Patienten und deren Angehörige aktivieren, sie zum Nachdenken anregen, dazu, dass sie Fragen stellen und sich an health & care beteiligen. Auch in diesem Fall scheint es einfacher, einem Erwachsenen beizubringen, sich für die Pflege einer anderen Person – seines Kindes oder eines älteren Familienmitglieds – zu engagieren. Ich vermute, dass wir Erfolg haben könnten, wenn wir Erwachsenen ihre ePatienten-Kompetenzen vermitteln,
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während sie eine andere Person pflegen. Dann sind sie vielleicht mit diesen Kompetenzen vertraut, wenn sie selbst krank werden. Kelly Young, die berühmte »Kämpferin gegen Gelenkrheumatismus«5, sagt, sie hätte noch nie Probleme gehabt, stark und klar den Ärzten ihrer eigenen Kinder gegenüberzutreten. So, sagt sie, habe sie gelernt, ihre »Stimme als Mutter eines Patienten« zu nutzen, um mit den eigenen Ärzten zu sprechen. Nehmen Sie sich genauso wichtig wie ihr eigenes Kind, das Sie pflegen. Sie sind ebenso der Mühe und des Engagements wert.
1.3.10 Patienten wissen, was Patienten wissen wollen Als jemand, dessen Leben durch großartige Medizin und von großartigen Ärzten gerettet wurde, weiß ich um den lebensrettenden Wert der Medizin. Es gibt lebensrettenden Wert im Wissen um die Biologie eines Tumors, eines Virus, von Bakterien. Aber es gibt auch einen Wert im Erfahrungswissen, das man nie in einer wissenschaftlichen Zeitschrift, wohl aber in Patienten-Communities findet. Warum? Weil Wissenschaftler ihre Prioritäten und Patienten ihre eigenen haben. In meinem eigenen Fall habe ich zwei Stunden, nachdem ich einer Patientencommunity beigetreten bin, Folgendes zu hören bekommen: • Nierenkrebs ist eine seltene Krankheit. Gehen Sie in eine Spezialklinik, die eine Menge solcher Fälle behandelt. • Es gibt keine Heilung, aber es gibt eine Behandlung, die in der Regel keine Wirkung zeigt, manchmal jedoch schon, und wenn dies der Fall ist, ist sie nach etwa der Hälfte der Behandlungszeit vollständig und dauerhaft. 5 | Schauen Sie sich ihren unglaublich informativen Blog unter http://RA Warrior.com [Stand: 16.03.2014] und die Rheumatoide Patient Foundation an, die sie ins Leben rief. Sie ist eine sehr engagierte, befähigte und ermächtigte Patientin – sie hat gelernt, ihre Stimme als Mutter eines Patienten zu nutzen, um für sich selbst zu sprechen, wie sie es für ihre Kinder tut.
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• Die meisten Krankenhäuser bieten sie nicht an, man sagt Ihnen daher vielleicht noch nicht einmal, dass es sie gibt. • Die Nebenwirkungen sind schwer, manchmal sogar tödlich. Daher brauchen Sie eine Spezialklinik. • Hier sind die Namen und Telefonnummern von vier Ärzten in Ihrer Nähe, die diese Behandlung durchführen. Diese Informationen sind für Patienten eindeutig von Nutzen, aber bis zum heutigen Tag gibt es keine einzige wissenschaftliche Quelle, die so etwas sagt. Warum? Weil zwar die Prioritäten der Wissenschaftler legitim sind, Patienten aber auch andere Informationen benötigen. Dann, als sich der Zeitpunkt des Behandlungsbeginns näherte, wollte ich wissen, was ich von diesen schrecklichen Nebenwirkungen zu erwarten hätte. Keine wissenschaftliche Quelle half, meine Patientencommunity aber schickte mir 15 Geschichten aus erster Hand. Keine davon würde den Anforderungen einer wissenschaftlichen Zeitschrift genügen, aber sie waren alle nützlich. Und hier ist die Pointe: Heute sagt mein Onkologe, Dr. David McDermott: »Ich bin nicht sicher, ob Sie eine derart starke Dosis toleriert hätten, wenn Sie nicht so gut vorbereitet worden wären.« Es gibt einen lebensrettenden Wert in der medizinischen Wissenschaft, aber das ist nicht alles.
1.4 Z ehn W ege , um P atienten mithelfen zu l assen Um Fehler, die durch paternalistisches Denken entstehen können, zu vermeiden, sollten Sie Patienten an sämtlichen Planungen, Entscheidungen, Konferenzen und Arbeitsgruppen teilnehmen lassen. Mein holländischer Kollege Lucien Engelen vom REshape & Innovation Center am Radboud University Medical Center der Radboud Universität in Nijmegen hat extra ein »Patients Included«-Logo entworfen, um dieses Bewusstsein zu schärfen.
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1.4.1 Lasst Patienten mithelfen: Gebt mir meine verdammten Daten! Aus unerfindlichen Gründen hatte mein erster Vortrag über Medizin den Titel »Gimme My Damn Data« (Gebt mir meine verdammten Daten!). Zu meinem eigenen Erstaunen verbreitete sich dieser Slogan viral via Internet, mit Tausenden von Links, einer Kaffeetasse, einem Rap und einem Rocksong.6 Warum die ganze Aufmerksamkeit? Weil offenbar viele Patienten ihre Daten, ihr gesamtes Datenmaterial haben möchten und viele Leistungserbringer und IT-Hersteller behaupten, dass dazu keine Notwendigkeit bestehe. Ich bin da anderer Meinung. Wem gehören denn eigentlich die Daten? Wer hat aus dem Datenmaterial, das vollständig, genau und dort zur Verfügung steht, wo es gebraucht wird, denn mehr zu gewinnen oder zu verlieren? Wer hat das Recht, mir zu sagen, was ich damit tun darf? Wir Patienten möchten einfach Zugriff auf alle jene Informationen erhalten, die Ärzte und Pflegefachpersonen sehen. Oder mit den Worten von Dr. Sands: »Wie können sich Patienten beteiligen, wenn sie nicht sehen können, was ich sehe?« Fragen Sie deshalb nach open notes (Offenlegung von ärztlichen Informationen für Patienten): In den USA ermöglichen neue Vorschriften nun den Zugang zu diesen Aufzeichnungen. Eine umfangreiche Studie aus dem Jahr 2012 mit dem Titel »OpenNotes«, hat festgestellt, dass dies Ärzten keine Probleme bereitet. Und Patienten finden es toll. »OpenNotes« war eine einjährige Studie in drei medizinischen Zentren, die von der Robert Wood Johnson Foundation finanziert wurde. Den Patienten wurde uneingeschränkter Zugang zu den Aufzeichnungen ihres Arztes in unveränderter medizinischer Fachsprache gewährt. Das hat nicht nur den Patienten gefallen 6 | Video: http://epatientdave.com/videos#med20; Tasse: http://bit.ly/ datamug; Rap: http://on.TED.com/Dave (ca. Minute 12:00); Rocksong: http://bit.ly/DataSong [Stand: 16.03.2014].
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(99 Prozent wollten weitermachen), es wurde auch über viele andere Vorteile berichtet. 85 bis 89 Prozent der Patienten sagten, es hätte einen Einfluss darauf, für welchen Leistungserbringer sie sich entscheiden würden. Und es wurde nachgewiesen, dass, entgegen der Befürchtungen, die Studie kaum Auswirkungen auf das Leben der Ärzte hatte. Als dann die Studie abgeschlossen war, hat kein einziger Arzt das Projekt aufgegeben, nicht einmal die vormaligen Skeptiker. Das ist ein frühes, aber deutliches Zeichen dafür, dass eine konsumentenorientierte Haltung Einzug in die Medizin hält: Patientenzugang ist jetzt eine Frage von Dienstleistung und Wettbewerb. An die Adresse der Patienten: Bitten Sie um Zugang. Und an die Adresse der Leistungserbringer: Machen Sie sich bereit. Es tut erwiesenermaßen nicht weh. Auf Konferenzen höre ich immer wieder Bedenken dieser Idee des offenen Datenzugangs gegenüber. Sie lassen sich etwa so zusammenfassen: »Patienten verstehen dieses Zeug ja doch nicht.« Natürlich: Wenn man nie jemanden etwas sehen lässt, versteht er es auch (noch) nicht. Meiner Meinung nach ist es paradox, Menschen im Ungewissen zu lassen und sie dann als ignorant zu bezeichnen. Recherchieren Sie mal die untenstehenden Begriffe. Sie sind erste Anzeichen für eine wirkliche Veränderung mit Potential: • »Blue Button+« für medizinische Aufzeichnungen: Ein blue button (eine blaue Schaltfläche) auf einer Website signalisiert, dass man seine eigenen medizinischen Daten herunterladen kann. Mit dem neuen »Blue Button+« können sogar Apps mit dem Patientendossier verbunden werden. • Dr. Eric Topol ist ein Guru im Bereich persönlicher Gesundheitsgeräte und der damit generierten Daten. Schauen Sie sich seinen TED-Talk »The wireless future of medicine« an.7
7 | Vgl. dazu http://www.ted.com/talks/eric_topol_the_wireless_future_ of_medicine [Stand: 16.03.2014].
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• Mein Kollege Hugo Campos, dem ein Defibrillator implantiert wurde, will Zugang zu den Rohdaten seines Gerätes, damit sie ihm helfen, gesund zu bleiben. Der Hersteller des Geräts aber weigert sich, diese herauszurücken.
1.4.2 Lasst Patienten mithelfen, für ihre Familien zu sorgen Das Bedürfnis, uns um unsere Familien zu kümmern, ist stark. Unterstützen Sie als Arzt oder Pflegeperson den Wunsch der Angehörigen zu verstehen, was vor sich geht, und sich an der Pflege des Patienten zu beteiligen. • Unterstützen Sie die Bemühungen von Patienten, ihre eigenen Daten zu sehen. Meine Freundin Marge Benham-Hutchins berichtet darüber, wie sie via Krankenhausportal immer den Überblick über Laborergebnisse und andere Daten hatte, bis zu jenem Zeitpunkt, als sie ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Da ließ man sie nicht mehr reinschauen. So ein Unsinn. Ein Krankenhausaufenthalt ist wirklich nicht der Zeitpunkt, um das Patientenengagement einzustellen. Einige zukunftsorientierte Krankenhäuser lassen sogar Familienmitglieder Daten in das Dossier eintragen. Warum auch nicht. Sehen Sie Platz für Einträge durch den Patienten und dessen Familienmitglieder vor und achten Sie darauf, dass diese vom Pflegeteam auch gelesen werden. • Seien Sie offen für Fragen. Es ist nicht unhöflich von Patienten, Familienmitgliedern und Betreuungspersonen, Fragen zu stellen – das ist Patientenengagement! Seien Sie dankbar dafür. Und an die Adresse der Patienten: Fragen Sie ruhig. Respektieren Sie, dass Ärzte und Pflegefachpersonen beschäftigt sind, aber engagieren Sie sich. • Ärzte sollten am Krankenbett Schichten wechseln, damit Patienten und Familienangehörige zuhören können, wie eine Schicht der nächsten Bericht erstattet. Unzählige Studien belegen, dass
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dies Kommunikationsfehler – von Medikamentenänderungen bis hin zum Zustand des Patienten – reduziert. Denken Sie daran: Jede medizinische Fachperson, die ihre Schicht antritt, muss sich darauf verlassen können, dass die Daten stimmen. Aber leider gibt es keine Garantie dafür, dass dies der Fall ist. Wie kann man auf diese Art und Weise gute Arbeit leisten? Lassen Sie Patienten mithelfen, Fehler zu reduzieren. • Unterstützen Sie Familienmitglieder bei der Überprüfung der richtigen Medikamenteneinnahme. Es gibt auch in modernen Krankenhäusern nichts, das absolute Fehlerfreiheit garantiert. Lassen wir deshalb Patienten mithelfen. • Unterstützen Sie das Engagement der Angehörigen mit bequemen Übernachtungsmöglichkeiten. So großartig mein Krankenhaus auch war, wir fühlten uns wegen des schrecklichen »Ruhesessels«, der meiner Frau angeboten wurde, um die Nacht darauf zu verbringen, beleidigt. Wir hatten genug Stress wegen des Krebses. Muss da auch noch Schlafentzug dazukommen? Und warum soll der Behandlungsplan offengelegt werden? Allzu oft lassen wir die ganze Bürde die bereits überarbeiteten Kliniker tragen, die nicht in einem fehlerfreien System arbeiten. In seiner Rede anlässlich einer Abschlussfeier in Stanford im Jahr 2010 erzählte der berühmte Chirurg und Autor Atul Gawande von Duane Smith, der einen schrecklichen Frontalzusammenstoß überlebte. Er verlor seine Milz, aber durch einen spektakulären Eingriff wurde er Wochen später in gutem Gesundheitszustand aus dem Krankenhaus entlassen – abgesehen davon, dass man vergessen hatte, ihm die drei Impfungen zu geben, die ein Splenektomiepatient erhalten sollte. Zwei Jahre später zog er sich im Urlaub eine Infektion zu, die seinen ganzen Körper erfasste. Er erholte sich wieder, verlor aber seine Finger und Zehen. Was wäre gewesen, wenn seine Familie »Splenektomie« gegoogelt und gefragt hätte: »Hätte er nicht noch Impfungen bekommen müssen?« Oder was wäre gewesen, wenn das Krankenhaus den Behandlungsplan
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offengelegt hätte? Einige Krankenhäuser tun dies8 – warum Ihres nicht?
1.4.3 Lasst Patienten mithelfen, die Welt nach Informationen zu durchforsten Wenn Patienten und ihre Familien im Internet nach medizinischen Informationen suchen möchten, beschweren Sie sich nicht, helfen Sie ihnen. Sie möchten nur verstehen, sie möchten engagiert und informiert sein. Oder sie versuchen in einem komplexen Fall, etwas zu erkennen, was der Arzt möglicherweise übersehen hat. Das ist in keiner Weise als Beleidigung zu verstehen. Lassen wir Patienten mithelfen. Ich möchte hier noch einmal an die Aussage von Dr. Lindberg erinnern, daran nämlich, dass nicht jeder alles wissen kann. Er sagte einmal, dass, wenn er jeden Abend zwei medizinische Fachartikel lesen würde, er nach nur einem Jahr Lektüre der Forschung um 400 Jahre hinterherhinken würde. Die Lage hat sich noch verschärft. 2010 wurden allein vom Publikationssystem Medline mehr als 800.000 Artikel indiziert. Patienten wie Ärzte sollten begreifen, dass es keine Bedrohung ist, wenn ein Patient eine Information gefunden hat, die der Arzt noch nicht kennt. Hier ein paar Beispiele: • Die meisten Patienten mit meiner Krankheit hören nie etwas über die Behandlung, die ich erhielt, obwohl sie wohl der einzig mögliche Weg zur Heilung ist. Das ist nicht wirklich die Schuld des jeweiligen Arztes, denn die offizielle Krebsdatenbank ist
8 | Das Abington Memorial Krankenhaus in Pennsylvania druckt täglich einen medizinischen Bericht in allgemein verständlicher Sprache aus ihrem System aus, damit Familienmitglieder der Behandlung folgen können. Es sei gar nicht so selten, so sagen sie, dass diese dann ein Versehen erkennen. Das ist kostenloses Qualitätsmanagement!
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veraltet. Die Patientencommunity auf ACOR.org kennt aber die neuesten Informationen. • Judy Feder, eine Patientin mit metastasierendem Brustkrebs, verlängerte ihr Leben um 18 Monate, weil sie einen Forscher fand, der gerade einen interessanten biologischen Marker untersuchte. Sie erzählte ihrem Onkologen davon und fragte ihn nach seiner Meinung. Die beiden versuchten diese neue Therapie und Judy gewann 18 weitere Monate, um ihre Enkelkinder aufwachsen zu sehen. • Mike Spencer fand online ein Mittel gegen das »Hand-Fuss-Syndrom«, eine schmerzhafte Nebenwirkung der Chemotherapie, unter der seine Frau, Monique Doyle Spencer, litt: eine einfache Paste aus Henna und Zitronensaft. Das Mittel wirkte, aber keine einzige medizinische Zeitschrift hat diese Wirkung jemals beschrieben. Das soll nun nicht heißen, dass alles, was online ist, per se gut ist. Es gibt auch Müll da draußen. Aber es ist ein Fehler, Patienten zu sagen, sie sollen offline bleiben. Erinnern Sie sich an Dr. House aus der gleichnamigen TV-Serie? Ein mürrischer, eigenwilliger Arzt, berühmt für die Frage »Wann hast du denn Medizin studiert?«, wann immer Angehörige mit eigenen Behandlungsvorschlägen ankommen. Stellen Sie sich Dr. House vor, der plötzlich eine Eingebung hat: Ein Familienmitglied stürmt ins Krankenzimmer und ruft »Herr Doktor, ich habe diese Information hier online gefunden, was meinen Sie dazu?« und ein skeptischer Dr. House, der sich die Sache anschaut und findet, dass da durchaus was dran ist. Und dann hat er eine Eingebung: Patienten können vielleicht wirklich mithelfen! Stellen Sie sich dann noch eine Folgeepisode vor, in der seine jungen Assistenzärzte ratlos dastehen. Stellen Sie sich vor, Dr. House wendet sich an sie, seinen Gehstock schwenkend, und spottet: »Okay, euch sind die Antworten ausgegangen. Habt ihr vielleicht schon die Angehörigen gefragt, ob sie etwas herausgefunden haben?«
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1.4.4 Lasst Patienten bei Qualität und Sicherheit mithelfen Das ist ein sensibles Thema, weil die meisten von uns die Augen vor diesem Thema verschließen (vgl. dazu den Anhang). Tausende von Patienten sterben täglich wegen Kunstfehlern. Das ist für uns kaum vorstellbar, da ja die meisten nicht sterben. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der dieses Problem nicht aus der Welt schaffen möchte, aber ich kenne viele, die nicht darüber reden wollen. Das macht es schwierig, etwas zu verbessern. Wir können versuchen, zwei Dinge zu tun: Wir können Ärzten einbläuen, die ganze Last zu tragen, oder wir können versuchen, Patienten mithelfen zu lassen: • Wenn der Patient oder seine Angehörigen einen Blick in die medizinischen Daten werfen möchten, stellen Sie sie zur Verfügung: Die meisten Aufzeichnungen enthalten Fehler. Denken Sie daran, dass irgendwann jemand diese Daten benutzen muss. Der einzige Grund, Informationen aufzuzeichnen (auf Papier oder elektronisch), ist der, dass sie später jemand nachlesen kann. Warum also die Familie nicht Korrektur lesen lassen? • Wenn der Patient oder die Familie die Medikamente überprüfen möchte, die verabreicht werden, sollten Sie das begrüßen. • Wenn sie sagen: »Ich habe nicht gesehen, dass Sie Ihre Hände gewaschen haben«, dann danken Sie ihnen und tun Sie es. Das alles ist nicht nur eine Frage von Patientenrechten, obwohl für die Patienten bei einem Kunstfehler das meiste auf dem Spiel steht. Es ist auch ungerecht, medizinisches Fachpersonal in einem unsicheren Umfeld arbeiten zu lassen und sie dann die erdrückende Last tragen zu lassen, wenn etwas schiefläuft. Es hat mir das Herz gebrochen, als ich von jener Kinderkrankenschwester in Seattle hörte, die sich 2011 das Leben genommen hat, nachdem ein Kind, das
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in ihrer Obhut war, wegen eines Fehlers starb.9 Stellen Sie sich vor, wie schlimm sie sich gefühlt haben muss, dass sie sich als Mutter von drei Kindern das Leben nahm. Die unangenehme Wahrheit ist, dass diese jahrelang gut ausgebildeten Fachpersonen weitgehend ohne Netz und doppelten Boden arbeiten, ohne die Schutzmaßnahmen, die wir in anderen Lebensbereichen als ganz selbstverständlich betrachten. Unsere Straßen haben Bordsteine zum Schutz gegen das Fahren auf Gehwegen und ein Dieselschlauch passt nicht in den Benzintank. Und obwohl es in Krankenhäusern um Leben und Tod geht, gibt es dort häufig keine entsprechenden Schutzvorkehrungen. Wir können davor weiterhin unsere Augen verschließen und im wahrsten Sinne des Wortes beten, dass alles gut geht. Aber wir können auch hinschauen und ehrlich miteinander umgehen. Krankenhäuser und Kliniken müssen sichere Arbeitsplätze sein. Aber bis dies überall der Fall ist, sollten wir Patienten mithelfen lassen. Das Herz, das Sie dadurch davor bewahren zu brechen, könnte Ihr eigenes sein. Lasst Patienten mithelfen, vermeidbare Katastrophen und vermeidbare Gerichtsverfahren zu vermeiden.
1.4.5 Lasst Patienten mithelfen, die medizinischen Kosten unter Kontrolle zu halten Einigen Leuten wird dieses Kapitel nicht gefallen, da sie von hohen medizinischen Ausgaben profitieren. An alle andern: Legen wir los! Wenn wir Ausgaben im Gesundheitswesen reduzieren möchten, sollten wir damit beginnen, Patienten wissen zu lassen, was alles kostet, und ihnen die Optionen aufzeigen, die sie haben. Beobachten Sie, was passiert. 2012 rechnete das Institute of Medicine vor, dass es 750 Milliarden $ an unnötigen Ausgaben im amerikanischen Gesundheitswe9 | Vgl. dazu http://well.blogs.nytimes.com/2011/07/06/when-nursesmake-mistakes/ [Stand: 16.03.2014].
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sen gäbe. Das ist eine Menge Geld, und jene Leute, die es kriegen, sind nicht scharf darauf, diesen Geldfluss zu stoppen.10 Im Jahr 2011 habe ich selber z.B. eine Versicherung mit hohem Selbstbehalt gewählt, so dass die Rechnungen, die normalerweise zur Bezahlung direkt an die Versicherung gegangen wären, in meinem Briefkasten gelandet sind. Ich stellte fest, dass die Kostenaufstellungen keinen Sinn ergaben, und als ich mich nach Alternativen umschaute, erkannte ich, dass es wirklich schwierig ist, herauszufinden, welche Ausgaben notwendig sind und welche nicht. Das war überaus aufschlussreich und hat mich für dieses Thema sensibilisiert. Auf mein Nachfragen hin erhielt ich als erstes eine Erläuterung der Versicherungsdeckung eines Computertomographiescans11 – Fazit: 1.736 $ aus meiner eigenen Tasche. Ohne Erläuterung wurden 15 Einzelposten aufgeführt. Ich rief an und fragte: »Was sind das alles für Sachen?« Meine Versicherungsgesellschaft sagte: »Wir wissen es nicht.« Ich sagte: »Wie können wir feststellen, ob ich nicht irrtümlich belastet wurde oder ob es vielleicht sogar Betrug ist?« Und mir wurde geantwortet: »Ach, wenn es Betrug wäre, würden wir etwas dagegen unternehmen.« Von diesem Moment an benahm ich mich wie ein richtiger »Konsument«, und es stellte sich heraus, dass ich ein wesentlich besserer Verhandlungspartner war als meine Versicherung. Ich fragte: »Wie viel soll dieser Impfstoff kosten?«, und sie antworteten: »Wir wissen es nicht«. Ich fragte: »Wie viel soll diese Hautkrebs10 | Bereits 2006 veröffentlichte der Gesundheitsökonom U. Reinhardt einen Artikel mit dem Titel »The Pricing of U.S. Hospitals: Chaos behind a veil of secrecy«. Vgl. auch S. Brills umfangreiches Exposé »Bitter Pill: Why medical bills are killing us« im Time Magazine vom 04.03.2013. 11 | Genau genommen ist das eine Erläuterung der Vorteile, ein äußerst rätselhaftes Blatt mit Codes und Nummern, das Sie von Ihrer Versicherungsgesellschaft erhalten und das angeblich all die guten Dinge erklärt, die für Sie getan wurden. Ich habe einmal gebloggt, dass die Federal Trade Commission es verbieten sollte, etwas als eine »Erklärung« zu bezeichnen, das niemand versteht.
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behandlung kosten?«, und sie antworteten: »Wir wissen es nicht. Fragen Sie Ihr Krankenhaus.« Das Krankenhaus sagte: »Wir wissen es nicht, das hängt von Ihrer Versicherung ab.« Und dennoch hielt 2012 auf der großen TEDMED-Konferenz im Kennedy Center in Washington ein Redner von Quest Diagnostics einen Vortrag darüber, warum »Patienten miserable Konsumenten sind«. Wirklich, Quest Diagnostics? Geben Sie uns ein paar Fakten und dann werden wir sehen, wer ein guter Konsument ist. (Ihr Labor war übrigens einer jener Leistungserbringer, die sagten, »wir wissen es nicht«.) Ich beschloss, bei meinem Hautkrebs die Routinearbeit selbst zu übernehmen und so lange nachzufragen, bis ich Antworten erhielt. Ich war zu jedem, mit dem ich sprach, höflich, aber keiner hatte Informationen! Ich habe drei verschiedene Krankenhäuser angerufen und jedes Mal mussten sie erst nachforschen. Sie bemühten sich zwar, hatten aber keinerlei Erfahrung darin, die Frage nach den Kosten zu beantworten. Aber das wird sich ändern, wenn Patienten beginnen, Fragen zu stellen. Wenn Sie ein Superkäufer sind – oder einen kennen –, können Sie das Gleiche tun, was ich getan habe: Verbeißen Sie sich in diese Frage und lassen Sie nicht locker. Letztlich sind Patienten die ultimativen Stakeholder. Geben Sie Patienten Preislisten und Informationen zu Qualität und Sicherheit.
1.4.6 Lasst Patienten mitbestimmen, was welche Kosten wert ist Dies führt uns zu folgender tiefergehenden Frage: Wenn wir den Nutzen medizinischer Ausgaben steigern möchten, wer bestimmt eigentlich, was »Nutzen« bedeutet? Ist es vielleicht das, von dem ein Arzt sagt, es wäre das Beste für Sie? Wenn ja, was ist, wenn verschiedene Ärzte verschiedener Meinung sind? (Was sie in der Regel sind.) Ist es die Behandlung mit den besten Forschungsdaten? Wenn ja, messen die Daten das, was für Sie wichtig ist? Ich kenne eine Mutter, deren Baby anhaltende
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Krampfanfälle hatte. In einem großen Kinderkrankenhaus wurde der Familie gesagt, dass sie zu einer neuen Behandlungsmethode wechseln müsste, aber andere betroffene Eltern sagten ihnen, dass die neue Methode das Leben zur Hölle machen würde. Wer bestimmt, was richtig ist? Das Krankenhaus reagierte paternalistisch: Sie sagten, dass sie wüssten, was das Richtige sei, dass die Meinung der Familie nichts wert wäre, und sie zwangen die Familie schließlich, das Krankenhaus zu wechseln. Glauben Sie, dass das in Ordnung ist? Einige Leute sind der Ansicht, es sei die Pflicht der Fachkraft, darauf zu bestehen, sich nach der besten Datenlage zu richten – aber was ist, wenn es keine Daten darüber gibt, was der Familie wichtig ist, weil die Forscher nicht gefragt haben, was Patienten möchten? (Sie tun dies nur selten, weil Wissenschaftler es in der Regel als deren Aufgabe betrachten, zu wissen, was wichtig ist.) Sollten wir mehr in Therapie oder in Prävention investieren? Was ist uns mehr wert? Patienten mit chronischen Erkrankungen wollen oft eher Linderung als wissenschaftliche Erkenntnis darüber, warum es wehtut. Diese Frage wird zunehmend wichtig, weil wir übermäßige Ausgaben verhindern müssen. Mitarbeitende im Gesundheitswesen werden natürlich um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze kämpfen. Das geht für mich in Ordnung, aber wir müssen sicher sein, dass, wenn Einschnitte erfolgen, die Betroffenen nicht übergangen werden, sondern sie laut und deutlich gehört werden. Lassen wir Patienten mithelfen, Prioritäten zu setzen.
1.4.7 Lasst Patienten ihre Kompetenzen als informierte Konsumenten nutzen Die Geschäftswelt wurde durch Konsumverhalten verändert: die Fähigkeit der Käufer nämlich, ihre Optionen einzuschätzen, auszuwählen, was sie haben möchten, und jene Anbieter zu berücksichtigen, die ihren Ansprüchen entsprechen. Diese Grundhaltung hat noch nicht Einzug ins Gesundheitswesen gehalten: Betroffene
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verfügen bislang kaum über Shopping-Tools zur Suche und zum Vergleich von Angeboten. Dies ist nicht nur eine Frage von Patientenrechten. Denn wenn die besten Leistungserbringer nicht öffentlich bekannt sind, kann sie der Markt auch nicht honorieren. Deshalb: Lasst informierte Patienten mithelfen, das Gesundheitswesen zu verbessern. Wie ich bereits erwähnt habe, meinte ein Branchensprecher kürzlich auf der TEDMED-Konferenz, dass Patienten miserable Konsumenten seien. Ist das tatsächlich so? Versuchen wir doch einmal eine Definition: Befähigte Konsumenten sind Personen, die wissen, was sie wollen, ihre Alternativen (hinsichtlich Preis, Qualität, Nutzen, Service und Zufriedenheit) prüfen und dann eine fundierte Entscheidung treffen. Sind wir im Gesundheitswesen wirklich in der Lage, so zu handeln? Wenn man Ihnen sagt, Sie müssten sich der Behandlung X unterziehen, können Sie dann folgende Informationen herausfinden? • Anbieter: Wer alles in Ihrer Nähe praktiziert dieses Verfahren? Gibt es gute Alternativen in einer anderen Gegend? Wie weit liegt die Beste entfernt? • Preis: Können Sie herausfinden, wie hoch die Kosten sein werden, sowohl die Gesamtkosten als auch Ihre eigenen Kosten nach Abzug der Versicherungsdeckung?12 • Qualität: – Im positiven Sinn (Erfolgsraten): Meines Wissens gibt es nirgends veröffentlichte Informationen darüber, wie oft ein bestimmtes Krankenhaus mit einer bestimmten Behandlung Erfolg hat. – Im negativen Sinn (Komplikationen): Websites wie Hospital Compare und Hospital Safety Score von der Leapfrog Group 12 | Websites wie Healthcare Blue Book und Castlight Health bieten entsprechende Tools für Arbeitgeber, die aber nicht der Allgemeinheit zur Verfügung stehen. ClearHealthCosts ist ein junges Unternehmen, dessen Daten allgemein zugänglich sind.
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veröffentlichen Infektionsraten und allgemeine Sterblichkeitsraten aufgrund von Unfällen und Komplikationen. In den sichersten Krankenhäusern in Amerika sterben fünf Prozent der Patienten nach chirurgischen Eingriffen später aufgrund von Komplikationen. Aber es gibt (noch) keine Möglichkeit, diese Informationen für einzelne Behandlungen zu erhalten. • Bequemlichkeit betreffend Zugang und Zeiten: Das ist ziemlich einfach zu gewährleisten. Einige Leistungserbringer bieten darüber hinaus Online-Terminvereinbarung, Online-Patientendossiers und Online-Rechnungszahlung an. Solche Dienstleistungen machen im Blick auf die Kundenzufriedenheit einen großen Unterschied. • Service und Zufriedenheit: Wir haben noch keine ausreichenden Informationen darüber, welche Patienten die glücklichsten sind, aber die HCAHPS-Resultate der Regierung13 sind ein Schritt in die richtige Richtung und Websites mit Arztbewertungen wie HealthGrades sind ein Anfang. Wenn Patienten einmal über diese Art von Information verfügen, dann werden wir sehen, ob sie gute Konsumenten sind. Bis dahin ist es eine Frechheit, sie als schlechte Konsumenten zu bezeichnen. Ein letzter Hinweis zur Kultur: Haben Sie jemals ein Krankenhaus oder einen Arzt gefragt, wie hoch die Infektionsrate sei? Die meisten Leute getrauen sich nicht, solche Dinge zu fragen. Aber auch das wird sich ändern und die besten Leistungserbringer werden ihre Zahlen freiwillig publik machen. Wir können gute Konsumenten sein, aber nur, wenn wir unsere Alternativen kennen.
13 | Vgl. dazu Hospital Care Quality Information from the Consumer Perspective, http://www.hcahpsonline.org/home.aspx [Stand: 16.03.2014].
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1.4.8 Lasst Patienten mithelfen, Entscheidungen über Behandlungen zu treffen Die Medizin bewegt sich von informierter Einwilligung (»Hier ist das, was ich tun werde. Unterschreiben Sie hier, um mir Ihre Zustimmung zu geben.«) hin zu informierter Entscheidung (»Es gibt mehrere Möglichkeiten mit Vor- und Nachteilen. Lassen Sie uns darüber sprechen, bevor Sie sich entscheiden.«). Sie haben als Patient das uneingeschränkte Recht, etwas über die Alternativen zu erfahren, um eine Entscheidung zu treffen. Sie haben das uneingeschränkte Recht, Fragen zu stellen. Während meiner verhängnisvollen Vorsorgeuntersuchung 2006 sagte mir Dr. Sands, dass ich mir mit meinen 56 Jahren nun überlegen sollte, eine Prostata-Untersuchung durchführen zu lassen. Er sagte, ich solle es mir überlegen, er schrieb es mir nicht vor. Er sagte: »Die Sache ist die, es gibt keine Untersuchung, die definitiv sagt, ob ein Problem vorliegt, und selbst wenn eines vorliegt, ist nicht klar, was zu tun ist, denn es gibt keine Behandlung, die für alle die beste ist. Ein falsches positives Ergebnis kann sogar Probleme verursachen, nämlich, dass etwas behandelt wird, das gar nicht vorhanden ist.« Jahre später erst merkte ich, dass er damals vorbildhaft zeigte, wie Ärzte dieses Thema Männern gegenüber ansprechen sollten. Die Wahrheit ist, dass Prostatabehandlungsmöglichkeiten oft wesentliche Nebenwirkungen haben, einschließlich Inkontinenz (für den Rest Ihres Lebens eine Windel tragen) und Impotenz. Und jahrzehntelange Forschung hat gezeigt, dass sogar Ärzte mit den besten Absichten schwer einschätzen können, was ein bestimmter Patient will. Die Lösung ist so einfach: Erklären Sie es dem Patienten und lassen Sie ihn entscheiden. Man bezeichnet dies als partizipative Entscheidungsfindung (shared decision making). In den 1970er Jahren von Dr. Jack Wennberg begründet hat dieses Fachgebiet nun jahrzehntelange Forschungen hinter sich, die ihre Methoden und Vorteile gefestigt haben.
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Aber selbst das geht nicht einfach automatisch: Wenn ein Patient ermächtigt und befähigt sein soll, muss er die Botschaft verstehen. Und allzu oft werden die Wahlmöglichkeiten unzureichend erklärt.14 Ich meine das ernst, es ist wichtig. 2012 hatte ich das aufregende Erlebnis, gemeinsam mit Dr. Wennberg einen Vortrag zu halten, und er sagte, dass »letztlich alles entweder auf besser Pinkeln oder Sex hinausläuft. Und dass, wenn wir es so auf den Punkt bringen, die partizipative Entscheidungsfindung fast automatisch stattfindet.«
1.4.9 Lasst Patienten mithelfen, Forschungsprioritäten zu setzen Dieses Thema liegt für manche vielleicht etwas weiter weg, aber wenn jemand, den Sie lieben, an einer unheilbaren Krankheit leidet, betrifft es Sie ganz konkret. Auch Patienten-Communities sind stark in dieses Thema involviert. Zweck der Wissenschaft ist es, zu gesichertem Wissen zu kommen, damit Behandlungen und weitergehende Forschung auf einem soliden Fundament aufgebaut werden können. Aber wer bestimmt, wie das geschieht? Und wer bestimmt, welche Forschungsziele verfolgt werden? Wenn die Krankheit fortschreitet und zu einem unaufhaltsamen Zerfall führt, wenn Ihr Körper oder Ihr Verstand abbaut, was möchten Sie, dass Forscher untersuchen? Was möchten Sie?
14 | Tipp für Ärzte: Versuchen Sie es mit der Teachback-Methode. Bitten Sie den Patienten, das zu wiederholen, was Sie gerade gesagt haben. Tipp für Patienten: Wenn Sie nicht zum teachback aufgefordert werden, bitten Sie darum! Sagen Sie: »Darf ich das wiederholen, um zu sehen, ob ich es verstanden habe?« Und wenn der Arzt keine Zeit hat, rufen Sie später eine Pflegefachperson.
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• Ein tieferes Verständnis darüber, warum es passiert? Das ist wahre Wissenschaft, das Streben nach Wissen. • Eine Linderung der Symptome, selbst wenn niemand weiß, warum es funktioniert? Das ist eher wie Ingenieurswissenschaft. • Ein breiteres Spektrum an möglichen Behandlungen? Das passiert, wenn ein Rennen um Innovation stattfindet. Zu wissen, warum etwas geschieht, kann eines Tages zu einer besseren Therapie führen. Aber Sie selber sind dann vermutlich bereits tot. Auf der anderen Seite könnte dies eines Tages Ihren Nachkommen helfen. Wer setzt die Priorität? Meine Freunde, die unter Parkinson leiden, sind stark von dieser Thematik betroffen. Ebenso meine Freunde mit Rheuma, und zwar so stark, dass sie die Krankheit, basierend auf dem Nachweis, dass die Wissenschaft sie falsch bezeichnet hat, umbenannt haben: von rheumatischer Arthritis zu rheumatischen Krankheiten. Sie haben begonnen, ihre eigene Forschungsagenda zu definieren. Sollte die Wissenschaft zuhören oder das ignorieren? Das alles ist nicht im Geringsten gegen die Wissenschaft gerichtet, es geht dabei vielmehr um Partnerschaft mit der Wissenschaft. Sowohl das Parkinson’s Pipeline Project als auch die Rheumatoid Patient Foundation haben strenge Standards und werden von Wissenschaftlern respektiert. Die Fragen, die sie aufwerfen, scheinen schwierig, aber dennoch valide zu sein: • Worauf sollte sich Forschung konzentrieren? Auf bessere Therapie, Prävention oder Heilung? Und wer bestimmt das? • Wer bestimmt, wann neue Behandlungsmethoden veröffentlicht und wann sie zurückgehalten werden, weil wir nicht genau wissen, ob sie sicher und wirksam sind?15 Mein Freund Perry,
15 | Die AIDS/HIV-Bewegung protestierte lautstark und erfolgreich gegen die Prioritäten des Establishments. Ist das anders als bei anderen fortschreitenden Krankheiten?
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der unter Parkinson leidet, sagte einmal: »Solange deine Tage noch nicht gezählt sind, weißt Du nicht, was wichtig ist.« • Was ist, wenn während einer Versuchsreihe etwas Unvorhergesehenes und Positives eintritt? Das passierte schon mehrere Male während Parkinsonstudien, aber die Forscher haben die unerwarteten, guten Nachrichten zurückgewiesen, bezeichneten sie als Placeboeffekt und haben sogar einige Studien abgebrochen. Aber einige Placebowirkungen hielten nach dem Abbruch der Studie jahrelang an. Sollte die Wissenschaft untersuchen, warum? Die Haltung der betroffenen Patienten in dieser Frage ist klar: »Was immer es auch war, wir wollen mehr davon! Erforscht es!« Wenn in der Industrie aus Zufall etwas Brauchbares entsteht, so können Sie darauf wetten, dass dem nachgegangen wird. So wurden etwa die Post-it-Haftzettel erfunden (ursprünglich ein misslungener Klebstoff, der nicht kleben blieb) und so wurde sogar die magische Wirkung von Viagra entdeckt (ein Herzmedikament, von dem einige Patienten berichteten, es habe eine »tolle« Nebenwirkung). Wer bestimmt, wie Forschungsgelder investiert werden?
1.4.10 Lasst Patienten sagen, was patientenzentriert bedeutet In den kommenden Jahren wird dieser Satz zunehmend zum Imperativ. Das Gesundheitswesen muss wesentlich patientenzentrierter werden. Aber jemandem, der die Dinge stets aus der Sicht von Institutionen betrachtet hat, wird es schwerfallen, dies umzusetzen. Meine Freundin Cristin Croghan Lind hat einen untrüglichen Lackmustest dafür, ob eine Klinik patientenzentriert ist. Frage: Wenn man Ihnen einen Arzttermin nennt, ist es dann die Uhrzeit, zu der Sie dort sein müssen oder die Uhrzeit, zu welcher der Arzt Sie sieht?
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• Die patientenzentrierte Sicht ist: »Ich muss um 8.30 Uhr dort sein.« • Die institutionelle Sicht ist: »Unsere Ressourcen (der Arzt, der Scanner usw.) sind für 8.40 Uhr gebucht.« Sehen Sie? Patientenzentriert heißt aus der Sicht des Patienten. Alles andere ist nicht patientenzentriert. Bei meinem eigenen Krankenhaus war es genauso: Ich musste eine geraume Zeit vor meinem für 15.00 Uhr angesetzten CT-Scan da sein, um den mysteriösen Schleim zu trinken, damit sie meine Innereien sehen konnten. In meinen Terminkalender musste ich 13.30 Uhr eintragen, aber alles, was ich auf ihrem Patientenportal sah, war, wann deren Aktivposten (der Scanner) gebucht war: nämlich um 15.00 Uhr. Für das anschließende Treffen mit dem Pflegeteam sagte das Portal mir, dass ich drei Termine hätte, alle zur gleichen Zeit! Es stellte sich heraus, dass es ein Termin in meinem Terminkalender war, aber drei für ihre Ressourcen, an denen ich beteiligt war: drei Ärzte im gleichen Raum zur gleichen Zeit. Patientenzentrierte Sicht: ein Termin. Institutionelle Sicht: drei Termine. Zukunftsorientierte Krankenhäuser sind bereits dabei, dies zu ändern, und ich habe eine Prognose: In den kommenden Jahren werden einige Praxen und einige Krankenhäuser damit beginnen, wie kundenzentrierte Unternehmen zu arbeiten, und diejenigen, die das nicht tun, werden zunehmend als desorganisiert und unhöflich erscheinen. Und das wird das Vertrauen jedes Konsumenten erschüttern. Glücklicherweise ist die Lösung wirklich einfach: Zuhören, wirklich zuhören, was Ihre Patienten-Kunden Ihnen zu sagen versuchen. Um es zu hören, müssen Sie unter Umständen Ihre eigene Betrachtungsweise aufgeben. Kurz: Lasst Patienten mithelfen, Ihre Organisation wettbewerbsfähiger zu machen.
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1.5 E inige Tipps , » wie man e Patient wird « und » wie man Ä rz te befähigt« Zehn Dinge, die ePatienten sagen, um sich für ihre Gesundheit zu engagieren: 1. Die magische Zauberformel lautet: »Ich möchte so viel wie möglich über meine Gesundheit verstehen. Darf ich ein paar Fragen stellen?« 2. »Ich fand diese Website. Was halten Sie davon?« 3. »Wie kann ich online oder offline Kontakt zu anderen Patienten aufnehmen?« 4. »Wie viel wird das kosten?« Zum heutigen Zeitpunkt weiß das kaum jemand. Helfen Sie, das zu ändern, indem Sie immer wieder fragen. 5. »Gibt es Alternativen?« »Was passiert, wenn ich mich entscheide, gar nichts zu tun?« 6. »Wie überzeugend ist die Evidenz für die eine oder andere Alternative?« 7. »Wie hoch ist Ihre Infektionsrate?« 8. »Kann ich mein Patientendossier (oder, falls Sie berechtigt sind, das meiner Mutter, meines Kindes, meines Freundes, meiner Partnerin) sehen?« 9. »Hier ist etwas, das in meinem Patientendossier nicht stimmt, nicht eingetragen wurde, nicht so umgesetzt wurde. Bitte korrigieren Sie das.« 10. »Wie sieht die standardmäßige Behandlung für meine Krankheit aus? Wann wurde sie aktualisiert?« Zehn Dinge, die Ärzte sagen, um Patientenengagement zu fördern (nach Dr. Danny Sands): 1. »Ich bin hier, um gemeinsam mit Ihnen an Ihrer Gesundheit zu arbeiten. Wir sind ein Team.«
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2. »Finden Sie so viel wie möglich über Ihre Krankheit heraus. Hier sind einige Möglichkeiten, um damit zu beginnen.« 3. »Sprechen Sie mit anderen Patienten mit der gleichen Diagnose.« 4. »Ich ermuntere Sie, sich ein Zweitgutachten einzuholen, bevor Sie eine Entscheidung hinsichtlich eines größeren chirurgischen Eingriffs oder einer Therapie treffen.« 5. »Ich weiß die Antwort auf Ihre Frage nicht. Lassen Sie uns gemeinsam danach suchen.« 6. »Es gibt eine Reihe von Alternativen mit Vor- und Nachteilen. Lassen Sie uns über Ihre Präferenzen sprechen.« 7. »Sie können sich gerne online mit mir in Verbindung setzen.« 8. »Hier sind die Punkte, die ich heute gerne ansprechen möchte. Was sind Ihre Anliegen?« 9. »Bin ich auf alle Ihre Anliegen eingegangen? Gibt es sonst noch etwas?« 10. »Sie können gerne Ihre Testergebnisse und den übrigen Teil Ihres Patientendossiers online einsehen, wann immer Sie dies möchten. Sie können auch unsere Website nutzen, um einen Termin zu vereinbaren, um ein neues Rezept anzufordern oder um andere administrative Aufgaben zu erledigen.« Zehn Dinge, die Ärzte sagen (oder tun), die demotivierend sind für das Patientenengagement (nach Dr. Danny Sands): 1. »Sie tun jetzt Folgendes.« 2. »Bleiben Sie vom Internet weg. Wenn Sie etwas im Internet suchen, bringen Sie es nicht zu uns. Wir haben keine Zeit für so was.« 3. »Wir rufen Sie an, wenn etwas nicht stimmt. Wenn Sie Ihre Testergebnisse haben möchten, vereinbaren Sie einen Termin.« 4. »Wenn Sie Ihr Patientendossier einsehen möchten, melden Sie sich bei der Administration. Man wird Ihnen sagen, wie hoch die Gebühr ist.« 5. »Versuchen Sie nicht, sich selbst zu diagnostizieren und zu behandeln. Ich bin der Arzt.«
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6. »Ich weiß, unsere Telefone sind immer besetzt, aber Sie können uns nur so erreichen.« 7. Normalerweise wird Folgendes gedacht, aber nicht ausgesprochen: »Ich bin nicht besonders glücklich darüber, dass Sie sich ein Zweitgutachten eingeholt haben. Haben Sie kein Vertrauen zu mir?« 8. Fixer Ablauf des Arztbesuchs ohne nach den Anliegen des Patienten zu fragen. 9. »Wir haben alles erledigt, was ich heute vorhatte. Leider haben wir keine Zeit mehr für Ihre persönlichen Anliegen. Bitte vereinbaren Sie einen neuen Termin.« 10. Patienten nicht zurückrufen, sondern Sie stattdessen in die Praxis kommen lassen. Zehn Dinge an die Adresse von Patienten, wie sie effektiv mit ihren Ärzten zusammenarbeiten (von Dr. Danny Sands und bestätigt von ePatient Dave): 1. Akzeptieren Sie, dass der Umgang mit Gesundheit und Krankheit eine Zusammenarbeit zwischen dem Patienten, den Betreuungspersonen, den Angehörigen und den Ärzten sein sollte. 2. Zollen Sie den jeweiligen Beiträgen der anderen gebührenden Respekt. Ihr Arzt ist ein Experte auf dem Gebiet der Medizin, aber Sie sind ein Experte, wenn es um Sie selbst geht. 3. Übernehmen Sie Verantwortung für Ihre Gesundheit. Der Umgang mit Gesundheit und Krankheit ist kein Zuschauersport, sondern partizipativ. 4. Bereiten Sie sich auf Ihren Arztbesuch vor: Lesen Sie über Ihre Krankheit, überprüfen Sie Ihr medizinisches Dossier, erstellen Sie eine Liste, damit Sie nichts vergessen, und besprechen Sie die Agenda im Voraus. 5. Seien Sie sich bewusst, dass Sie nicht der einzige Patient Ihres Arztes sind. Respektieren Sie also, dass er nicht unbeschränkt Zeit für Sie hat. Wenn einige Probleme wirklich warten können, ist vielleicht ein zusätzlicher Termin angebracht. Beachten Sie
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auch den Zeitaufwand in Ihrer Online-Kommunikation. Versuchen Sie nicht, etwas in eMails zur Sprache zu bringen, das Ihr Arzt lieber telefonisch oder während eines Arzttermins bespricht. 6. Kommunizieren Sie. Und wenn Ihr Arzt nicht in der Lage ist zu kommunizieren, also weder zuhören, noch mit Ihnen sprechen kann, dann finden Sie einen anderen, der es kann. Wenn die Kommunikation scheitert, sind Sie derjenige, der am meisten darunter leidet. 7. Machen Sie sich Notizen und beschaffen Sie sich Kopien der Notizen Ihres Arztes. 8. Fordern Sie nicht einfach Tests oder Therapien von Ihrem Arzt. Besprechen Sie sie mit ihm. Ihr Arzt kann gute Gründe dafür oder dagegen haben. Seien Sie ein guter Partner. 9. Tragen Sie Verantwortung für Ihr Wohlbefinden. Bleiben Sie aktiv. Leisten Sie Ihren Beitrag, tun Sie, was Sie können, um für sich selbst zu sorgen, und holen Sie sich professionelle Hilfe, wenn dies erforderlich ist. 10. Geben Sie Ihrem Pflegeteam konstruktives, positives oder kritisches Feedback. Hören Sie sich Rückmeldungen an und akzeptieren Sie Feedback. Das ist Partnerschaft. Dr. Danny Sands Regeln für eine intelligente Nutzung des Internets: Es gibt eine Fülle von Online-Gesundheitsinformationen. Die meisten davon sind von hoher Qualität und kostenlos erhältlich. Aber inmitten der Goldmine gibt es auch Müll: falsche oder einseitige Informationen, weil der Autor etwas verkaufen möchte, weil er eine fehlerhafte Meinung vertritt oder aufgrund von kommerziellem Sponsoring ohne klare redaktionelle Richtlinien, die eine klare Trennlinie zwischen Sponsoring und medizinischen Inhalten ziehen. Folgen Sie einigen einfachen Regeln, um nicht in die Irre geführt zu werden oder sich selbst Schaden zuzufügen: 1. Fragen Sie Ihren Arzt, ob er Vorschläge hat, wo man mit der Suche beginnen sollte. Er kennt vielleicht einige nützliche Websites.
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2. Lernen Sie, gute von schlechten Gesundheitswebsites zu unterscheiden, und zwar mit Richtlinien wie MLANet der Website der Medical Library Association16, die Videos und CoolTools von MedlinePlus17 oder den Code of Conduct bei Health on the Net (HON)18. 3. Auch andere Patienten können Ihnen oft nützliche Websites empfehlen. Aber nur weil sie von einem anderen Patienten empfohlen werden, sind sie nicht automatisch zuverlässig. Wenden Sie die oben genannten Richtlinien auch auf diese Websites an. 4. Nehmen Sie eine Online-Diagnose nicht allzu ernst, bevor sie von einer medizinischen Fachperson bestätigt wurde. Sie kann korrekt sein, aber es kann durchaus auch sein, dass Sie sich unter Umständen über etwas wesentlich Ernsthafteres Sorgen machen, als über das, was Sie wirklich haben (oder umgekehrt). Vermeiden Sie insbesondere Online-Diagnosen, wenn Sie zu Ängstlichkeit neigen. 5. Gesundheitsbehörden haben oft ausgezeichnete Online- Gesundheitsressourcen. In den USA ist dies z.B. MedlinePlus.gov. Einige Leistungserbringer wie etwa Kaiser, die Veterans Administration und die Mayo Clinic verfügen ebenfalls über gute Informationsressourcen. 6. Websites zu klinischen Studien wie ClinicalTrials.gov und andere können nützlich sein, wenn Sie unter einer schweren Erkrankung leiden. 7. Seien Sie nicht überrascht, die gleichen Artikel auf verschiedenen Websites zu sehen. Viele Websites beziehen ihre Artikel aus den gleichen Quellen. 16 | Vgl. dazu http://MLAnet.org/resources/consumr_index.html [Stand: 16.03.2014], vgl. z.B. deren MLA User’s Guide to Finding and Evaluating Health Information on the Web und Deciphering Medspeak. 17 | Vgl. dazu http://nlm.nih.gov/medlineplus/videosandcooltools.html [Stand: 16.03.2014], z.B. die Rubriken Evaluating Health Information und Understanding Medical Words. 18 | Vgl. dazu https://www.hon.ch/ [Stand: 16.03.2014].
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8. Informieren Sie Ihren Arzt über Websites, die Sie als hilfreich empfinden. Er möchte sie sich vielleicht anschauen und anderen Patienten empfehlen. 9. Ihr Arzt hat vielleicht Zugang zu ausführlicheren Online-Ressourcen, für die man ein Abonnement abschließen muss, und kann Ihnen vielleicht vorübergehenden Zugang oder Kopien beschaffen. Manchmal gibt es sogar unterschiedliche Versionen für Patienten und medizinische Fachkräfte. Fragen Sie nach solchen, die Sie leicht verstehen können. 10. Verwenden Sie Google Scholar (scholar.google.com) oder PubMed der National Library of Medicine (pubmed.gov), wenn Sie wissenschaftliche Veröffentlichungen zu einem bestimmten Thema suchen.19 Aber denken Sie daran, dass nur deshalb, weil ein Beitrag in einer Zeitschrift erscheint (selbst wenn behauptet wird, dass sie dem Peer-Review-Verfahren unterzogen wurde), dies nicht automatisch bedeutet, dass es sich dabei um eine solide wissenschaftliche Arbeit handelt. Einige Zeitschriften haben höhere Standards als andere.
1.6 E pilog : D er W eg vor uns Die Rolle der Patienten im Gesundheitswesen verändert sich allmählich. Die Zeitschrift »Health Affairs« hat im Februar 2013 eine ganze Ausgabe mit dem Titel »New Era of Patient Engagement« (Eine neue Ära des Patientenengagements) herausgegeben. Darin wird darauf verwiesen, dass immer mehr Forschungsergebnisse vorliegen, die belegen, dass es engagierten Patienten besser geht 19 | In vielen Fällen können Sie nur eine kurze Zusammenfassung kostenlos lesen. Die Herausgeber verlangen bisweilen einen lächerlich hohen Geldbetrag für den Zugang zu einzelnen Artikeln. Allerdings erhalten Sie unter Umständen über Ihr Krankenhaus, Ihre lokale medizinische Hochschulbibliothek oder über Ihren Arzt kostenlosen Zugriff auf den Volltext (aber fragen Sie mit Bedacht, weil es schon Umstände macht).
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und sie zudem weniger Kosten verursachen. Aber die Zeitschrift verdeutlicht auch, dass wir noch viel dazulernen müssen, um das Ganze nachhaltig zum Erfolg zu führen. Genau diese Herausforderung fasziniert mich bei meiner heutigen Arbeit. Wir schaffen eine neue Kultur. Unabhängig davon, was auf der politischen Ebene passiert, ist Kulturveränderung nur dann real, wenn sie Eingang in die zwischenmenschliche Kommunikation findet. Und hier kommen Sie ins Spiel, Sie als Patient, Sie als Leistungserbringer: genau Sie und das, was Sie sagen. In diesem Artikel habe ich meine Ansicht über die ePatientenBewegung in kurzen Zusammenfassungen mit jeweils zehn Merkpunkten und zehn Anweisungen unter dem noch einfacheren Titel »Lasst Patienten mithelfen« zusammengefasst. Warum so kurz und einfach? Weil umfangreiche Bücher nicht gelesen werden, während prägnante Anweisungen leicht verständlich sind. Und ich möchte, dass meine Ideen verstanden werden.
1.7 A nhang : G eben S ie die V erweigerungshaltung auf Niemand möchte darüber reden, aber es ist eine Tatsache: Medizin kann gefährlich sein und Ärzte arbeiten ohne Netz und doppelten Boden. Eine der schmerzhaftesten Wahrheiten, die es für mich zu akzeptieren galt, war jene der Fehlerquote in der Medizin und ihre schrecklichen Folgen für Patienten, ihre Familien und die beteiligten Ärzte. Fast jeder Aspekt des Umgangs mit Gesundheit und Krankheit krankt daran, dass wir nicht ehrlich damit umgehen. Die Verweigerungshaltung macht uns unfähig, das Problem zu lösen, und lässt jeden medizinischen Fehler überraschend, schockierend und schmerzhaft erscheinen. Es sollte allen klar sein: Es ist riskant, jemanden aufzuschneiden (man nennt das Chirurgie), und es kann riskant sein, starke
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Chemikalien in jemanden zu pumpen (Medikamente). Bakterien gibt es überall und sie gelangen in Wunden. Körper sind komplex und variabel. Dinge gehen schief. Wussten Sie, dass in den besten Krankenhäusern in Amerika jeder zwanzigste Patient eines chirurgischen Eingriffes an einer Komplikation stirbt? Nach der Operation!20 In den schlechtesten Krankenhäusern ist es jeder Sechste. Kaum zu glauben. Wenn bei Ihnen ein chirurgischer Eingriff anstünde, würde Sie das nicht zum Nachdenken bringen? Vermutlich würde die Schlussfolgerung, noch etwas abzuwarten, durchaus als vernünftig erscheinen. Man wird Ihnen wahrscheinlich die spezifischen Risiken einer Operation nennen, aber hat man Ihnen die Sterblichkeitsrate durch Komplikationen in diesem Krankenhaus genannt? Sie möchten das schon wissen, nicht wahr? Aber viele Menschen wollen es nicht. Möchten Sie nicht wissen, welche Krankenhäuser die besten sind? Wenn Sie in eine neue Stadt ziehen, würden Sie nicht gerne neben Ratings von Schulen und der nächstgelegenen Feuerwehr auch jene der Krankenhäuser kennen? Die Schwierigkeit besteht darin, dass wir das Problem nicht lösen können, indem wir auf den Leistungserbringern herumhacken, denn nicht alle Fehler werden durch Nachlässigkeit verursacht. Einige Fehler natürlich schon, aber es wäre ein Irrtum anzunehmen, dass dies bei allen so ist. Medizin ist kompliziert und unsere Systeme sind nicht fehlersicher. Jeder, der Medizin studiert, kennt die Studie aus dem Jahre 1999 mit dem Titel »To Err is Human« (Irren ist menschlich), in der geschätzt wurde, dass in Amerika bis zu 98.000 Todesfälle pro Jahr Kunstfehlern geschuldet sind. Das sind 15 Personen pro Stunde, und diese Zahl verdoppelt sich, wenn man Todesfälle durch im Krankenhaus eingefangene Infektionen mit einschließt.21 Nur we20 | Vgl. dazu http://HospitalSafetyScore.org [Stand: 16.03.2014]. 21 | Nosokomiale Infektion mag zwar harmlos klingen, ist aber grausam: Es sind Infektionen, welche die Körper der Patienten befallen und töten. Meine Freundin Pat Mastors, Autorin von »Design to Survive« (Mastors 2013),
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nige wissen, dass eine Überprüfung von Medicare im Jahre 201022 zeigte, dass 15 Prozent der Medicare-Patienten, die in ein Krankenhaus eingewiesen wurden, dort Schaden erlitten, was zu 15.000 zusätzlichen Todesfällen pro Monat führt. 500 Todesfälle pro Tag! Dies sind wohlgemerkt Todesfälle durch Komplikationen, nicht aufgrund von Krankheiten. Es handelt sich hier um eine Mischung aus zwei gefährlichen Faktoren. Erstens: Die Leistung von Ärzten ist nicht perfekter als die Leistung von Patienten. Patienten wie Ärzte halten sich nur etwa die Hälfte der Zeit an den Behandlungsplan: • Infektionen geschehen, wenn Bakterien von Patient zu Patient wandern, oft über die Hände, die Kleidung und die medizinischen Geräte der Ärzte. Trotzdem waschen sich Ärzte im Durchschnitt nur in der Hälfte der Fälle zwischen zwei Patienten die Hände. Also: Wenn Sie sich in einem Krankenhaus befinden, sei es als Patient oder als Besucher, bestehen Sie darauf! • Ärzte verschreiben nur etwa in der Hälfte der Fälle den Behandlungsstandard23, beispielsweise Baby-Aspirin für bestimmte Herzpatienten, Inspektion der Füße eines Patienten mit Diabetes usw. Der andere Faktor ist, dass Ärzte ohne Netz und doppelten Boden arbeiten: Im Unterschied zu vielen Arbeitsplätzen haben Krankenhäuser wenig »eingebaute« Sicherheitsmaßnahmen, um einfache menschliche Fehler zu vermeiden. hatte das schreckliche Erlebnis, ihren Vater sechs Monate lang leiden zu sehen, als Bakterien (clostridium difficile) ungezügelt in seinen Darm eindrangen und seine Eingeweide zum Explodieren brachten. Er starb. Das geschah nach einer einfachen Kniegelenkersatzoperation. 22 | Vgl. dazu http://oig.hhs.gov/oei/reports/oei-06-09-00090.pdf [Stand: 16.03.2014]. 23 | Vgl. dazu den Bericht von S. Fox auf http://e-patients.net/archives/ 2011/12/world-aids-day.html [Stand: 16.03.2014].
Lasst Patienten mithelfen
• 2007 wurde den zwei Wochen alten Zwillingen von Dennis Quaid versehentlich eine 1.000-fach zu hohe Dosis Blutverdünner verabreicht und sie begannen innerlich zu verbluten. Erstaunlicherweise wurden sie gerettet. Die Analyse ergab, dass die richtige und die falsche Flasche nahezu identisch aussahen und im gleichen Bereich des Medizinschranks gelagert wurden: Es war ganz einfach, die falsche Flasche zu nehmen, ohne es zu merken. • Denken Sie an die Geschichte von Duane Smith, der auf wundersame Weise nach einem Frontalzusammenstoß mit dem Auto gerettet wurde, aber später seine Finger und Zehen verlor. Das Pflegeteam war großartig, aber es hatte keinen fehlersicheren Arbeitsablauf, um sicherzustellen, dass alles erledigt wurde. Es gibt zwar Verbesserungen, aber die Fehlerquoten sind real. Manchmal kann eine Verbesserung aus anderen Branchen, die auf gesundem Menschenverstand basiert, helfen. Mir wurde erzählte, dass Anästhesiefehler stark reduziert wurden, nachdem die Schläuche für verschiedene Gase in unterschiedlichen Größen hergestellt wurden. Nun kann man nicht länger das falsche Gas in den falschen Schlauch pumpen. In anderen Lebensbereichen sind solche physischen Sicherheitsvorkehrungen ganz normal: Sie können keinen 220-Volt-Wäschetrockner in eine 110-Volt-Steckdose einstecken und an Tankstellen sind die Diesel- und Benzinpumpen nicht zu verwechseln. In der Medizin aber fehlen solche Schutzmechanismen häufig. Unserer Verweigerungshaltung, diese Risiken zu sehen, kommt uns teuer zu stehen. Sie verführt uns dazu zu vergessen, so vorsichtig zu sein, wie wir es sollten und könnten. Und wenn etwas schiefgeht, kann dies eine erdrückende Last für den Experten mit sich bringen, der den Fehler begangen hat. Denken Sie an die Kinderkrankenschwester, die nach einem Fehler Selbstmord begangen hat. Stellen Sie sich die Schuldgefühle vor, die zu so einer Tat geführt haben mögen. Es ist schlicht ein Irrtum zu glauben, dass die Ursache von Fehlern Unmenschlichkeit wäre.
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Damit soll nicht gesagt sein, dass Experten nicht für ihre Fehler verantwortlich sind. Manchmal sind sie es. Aber es ist ein genauso großer Irrtum anzunehmen, dass alle Fehler auf Fahrlässigkeit beruhen. Gute Menschen können verletzt werden, und zwar auf beiden Seiten. Was tun? Hören wir auf, die Gefahren und die Notwendigkeit zur Vorsicht zu ignorieren. An Patienten und Angehörige: • Erwarten Sie keine Perfektion. Erwarten Sie Vorsicht und Sorgfalt, Händewaschen inklusive, und zwar jedes Mal. • Fragen Sie nach dem Behandlungsplan, damit Sie helfen können, ihn einzuhalten. Beteiligen Sie sich, informieren Sie sich, so gut Sie können. • Realisieren Sie, dass Ihre Ärzte möglicherweise Risiken leugnen, was gefährlich ist. Helfen Sie, dass alles auf der richtigen Spur bleibt. • Überprüfen Sie Dinge wie z.B. die richtige Medikamentenabgabe. • Sagen Sie, dass Sie das Patientendossier überprüfen möchten. • Fragen Sie, wie Sie mithelfen können, nichts Wichtiges aus dem Auge zu verlieren. An Ärzte: • Handeln Sie nicht so, als gäbe es keine Risiken. • Seien Sie vorsichtig. Waschen Sie Ihre Hände und halten Sie Ihre Kollegen an, dies ebenfalls zu tun. Gegenseitige Unterstützung ist nicht unhöflich, sondern patientenzentriert. • Lassen Sie Patienten mithelfen. Wenn Patienten fragen, wie sie helfen können, die Sicherheit zu gewährleisten, seien Sie froh darüber.
2 Health 2.0 Update von Lucien Engelen1
2.1 E inleitung Die Beziehungen sowohl zwischen Patienten und medizinischem Fachpersonal als auch jene unter Fachleuten verändern sich. Es ist klar, dass das Internet und insbesondere die Social Media zu einem unverzichtbaren Instrument und einem wichtigen Treiber in diesem Prozess geworden sind. Zugleich wird deutlich, dass Health 2.0 mehr bedeutet als einfach nur der Einsatz digitaler Technologien. Das Gesundheitswesen ist im Wandel begriffen. Medizinische Fachleute und Patienten verändern und verbessern ihre Beziehung. Aber es besteht weiterhin eine Kluft zwischen den Wünschen der Patienten und dem, was health professionals tun, und es bleibt deshalb eine wichtige Aufgabe, diese Kluft zu überbrücken. Was muss getan werden, um künftige Entwicklungen zu ermöglichen? Wenn Sie sich im Internet umschauen, werden Ihnen die Online-Communities auffallen, die sich mit Gesundheitsfragen befassen und einen enormen Zulauf erfahren. Dies ist in meinen Augen ein unverzichtbarer Prozess. Diese Umkehr im Wettbewerb ist unwiderruflich, und die Konsumenten werden letztlich entscheiden, welche Community verschwinden und welche bleiben wird. Ich vermute, dass der Grad des Engagements der Gründer der Com1 | Original: Engelen, L. (2011): The Health 2.0 Update. Eburon. Netherlands. Ins Deutsche übersetzt und leicht redigiert durch die Herausgeber mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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munities ein entscheidender Faktor sein wird und dass Internetgemeinschaften ohne Community-Manager große Schwierigkeiten bekommen werden. Die Herausforderung wird schließlich sein, Information und Erfahrung auf jenen Websites zu kombinieren, die von allen involvierten Gruppen anerkannt werden. Das Radboud University Medical Center (Radboudumc) der Radboud Universität in Nijmegen hat in den vergangenen Jahren verstärkt daran gearbeitet zu verstehen, welche Arten von Beziehungen sich in der Ära von Health 2.0 entwickeln werden. Wir haben ganz einfach angefangen mit einer digitalen Poliklinik, der AYA4-Community und dem Aufbau des Radboud REshape & Innovation Centers. In kleinen Schritten lernen wir mehr über das Gesundheitswesen von morgen und manchmal erschaffen wir es – gemeinsam mit den Patienten – auch selbst. Unser Fokus liegt dabei nicht mehr ausschließlich auf dem Patienten, sondern auf der Behandlung des Patienten durch ein Team von Gesundheitsdienstleistern – und zu diesem Team gehören in der Tat mehr als nur die Fachleute des Radboudumc. Wir leben in interessanten Zeiten, wir haben mehr Fragen als Antworten und wir wollen uns aktiv mit einer nach der anderen befassen. Der europäische Gesundheitssektor steht vor großen Herausforderungen. Die Situation in den Niederlanden ist da keine Ausnahme. Wir werden immer älter, und aus diesem Grund steigt auch die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Die Kosten des Gesundheitswesens steigen, während die Regierung uns weitere Budgetkürzungen auferlegt. Auf kurze Sicht wird es wahrscheinlich nicht genügend Personal geben, um die Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen zu decken. Endzeitpropheten sagen voraus, dass diese Entwicklungen unwiderruflich die Qualität der verfügbaren Gesundheitsversorgung verringern werden oder aber dass die Gesundheitsversorgung für manche Menschen einfach unbezahlbar wird. Aber es gibt auch Pioniere in der Gesundheitsversorgung, die glücklicherweise sagen, dass es Hoffnung gibt. Und diese Hoffnung heißt: Health 2.0. Das Interesse an Health 2.0 steigt gerade rapide an. In der Praxis bleibt es jedoch noch den Pilotprojekten, Versuchen und Pio-
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nieren vorbehalten. Dieser Beitrag soll nicht so sehr erklären, was Health 2.0 alles umfasst, sondern vielmehr die derzeitigen Bedingungen skizzieren. Was motiviert Menschen mitzumachen? Warum zögern viele Leistungserbringer und Behörden, sich auf diese Möglichkeiten einzulassen? Inwieweit sind ihre Bedenken gerechtfertigt? Gibt es eine reale Option, sich diesem Trend zu verweigern? Und wird Health 2.0 wirklich zur Lösung der Probleme in der Gesundheitsversorgung beitragen? Wir sprachen mit sechs Pionieren und Experten im Bereich Health 2.0, um Antworten auf diese Fragen zu finden. Es sind dies: • Winette van der Graaf, Professorin für Medizinische Onkologie am Radboudumc, Initiatorin des Projektes AYA4 für junge Menschen mit Krebs; • Dick Herfst, Direktor der ZZG Care Group; • Chiel Bos, ehemaliger Direktor der Krankenversicherung The Netherlands und Pionier, wenn es um Innovationen im Gesundheitswesen geht; • Daan Dohmen, Pflegedienstunternehmer, Fokus Cura; • Marcel Visser, Mitglied des Leitungsgremiums des ElisabethKrankenhauses Tilburg, und • Melvin Samsom, CEO des Radboudumc. Diese Gespräche bilden die Grundlage dieses Beitrages. Dazu zeigen vier Porträts die enorme Leidenschaft und das Engagement für Health 2.0: • Bas Bloem, Arzt und Professor für Neurologie am Radboudumc, Nijmegen, Initiator von ParkinsonNet und MyCareNet (MijnZorgNet); • Corine Jansen, Chief Listening Officer am REshape & Innovation Center; • Saskia Davidse und • Ragna van den Berg.
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2.2 H e alth 2.0 Health 2.0 ist ein Sammelbegriff2 für die großen Veränderungen in der Welt des Gesundheitswesens. Neue Beziehungen zwischen Leistungserbringern und Patienten nehmen Formen an, die das Ergebnis der Möglichkeiten des Internets, insbesondere von Social Media und anderer technologischer Entwicklungen, sind. Technologie ist dabei kein Selbstzweck, sondern das Mittel zur Veränderung der Gesundheitsversorgung. Health 2.0 bietet Betreuung unabhängig von Zeit und Raum. Die Kommunikation zwischen Patienten und Pflegepersonen unterliegt drastischen Veränderungen. Alles dreht sich um Partizipation, Interaktion und das Teilen und Mitteilen von Informationen. Allmählich entsteht ein neues Muster der partizipativen Gesundheitsversorgung, in der Patienten und Ärzte die Behandlung gemeinsam planen. Die Patienten werden zu ihren Meinungen und Erfahrungen befragt und sind stark am Entscheidungsprozess beteiligt. Dies geschieht über das gesamte Spektrum der Gesundheitsversorgung hinweg, von der Prävention bis zur Forschung, von der Behandlung bis zur Genesung. »Wir würden sehr gerne auch außerhalb der Mauern des Krankenhauses Betreuung anbieten. Das sollte möglich sein, indem wir effizienter arbeiten und eine andere Form der Kommunikation schaffen, nicht wahr?«
Es gibt einen kleinen Raum, dort stehen drei große Schreibtische. Auf zwei von ihnen liegen Papierkopien von Patientenakten, Artikel, Seminararbeiten von Studenten und Bücher herum. Der kleinste Tisch wurde mit sichtbarer Anstrengung leer gehalten, um so hin und wieder Gespräche führen zu können. »Entschuldigen Sie bitte das Chaos, aber ich hatte sehr viel zu tun«, sagt Winette van der Graaf, 2 | Wir haben in der Zeitschrift Journal of Medical Internet Research einen Artikel zu diesem Thema publiziert und 46 Definitionen für Health 2.0 gefunden, vgl. Engelen et al. 2010.
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Professorin für Medizinische Onkologie am Radboudumc. Ihr Büro zeigt, wie Gesundheitsversorgung immer noch vielerorts organisiert wird: eine Menge Papier, Plenarsitzungen, enge Wartezimmer, übervolle Zeitpläne. »Im Allgemeinen arbeiten wir langsam und ineffizient. Dadurch haben wir weniger Kontakt mit unseren Patienten, als wir eigentlich gerne hätten«, sagt van der Graaf. »Als Arzt bekommen Sie nur einen kleinen Teil des Lebens Ihrer Patienten zu sehen: zehn Minuten während einer Beratung oder die kurze Zeit, wenn jemand auf Ihre Station eingeliefert wurde. Wobei das Entscheidende außerhalb dieser Zeit geschieht. Wie ist ihre Situation zu Hause, mit welchen Schwierigkeiten sind sie als Patienten konfrontiert? Wir würden die Patienten auch gerne außerhalb der Mauern des Krankenhauses betreuen. Dies sollte möglich sein, indem wir effizienter arbeiten und eine andere Form der Kommunikation praktizieren, nicht wahr?« Dick Herfst, Direktor der ZZG Care Group, hat sich seit Jahren in die Welt von Health 2.0 vertieft. »Könnte Technologie in irgendeiner Weise Unterstützung bieten bei Fragen zur (Heim-)Pflege? Könnte sie möglicherweise Menschen ersetzen, falls irgendwie ein Mangel an Personal eintreten sollte? Könnte sie irgendwie helfen und Klienten oder Patienten dazu bringen, selbstständiger zu werden? Solche Fragen und mögliche Antworten darauf faszinieren mich. Die medizinische Versorgung kann durch Health 2.0 verbessert werden, aber auch die soziale Infrastruktur, da Health 2.0 den Menschen eine Möglichkeit der zusätzlichen Interaktion mit ihrer Umwelt bietet. Die Beziehung zu den Patienten verändert sich, selbst wenn das über einen Monitor geschieht.« Es gibt einen wachsenden Bedarf für neue Strukturen in der Gesundheitsversorgung. Auf der einen Seite haben wir den Ehrgeiz, Gesundheitsversorgung schneller, effizienter und billiger zu gestalten. Dies muss nicht notwendigerweise die Qualität oder die Verfügbarkeit herabsetzen, die sogar verbessert werden könnten. Auf der anderen Seite haben wir die Mittel, um die Kommunikation zu verbessern, indem der Patient sozusagen zu einem Mitglied des Behandlungsteams werden könnte. Health 2.0 könnte eine wichtige Rolle in diesem Prozess spielen.
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2.3 P ortr ät 1: B as B loem »Dieser runde Tisch mit diesen vier Stühlen, das ist Health 2.0! Es hat überhaupt nichts mit Informatik (ICT) zu tun.«
Bas Bloem hat einen Traum: Das Gesundheitswesen braucht eine Veränderung und er wird sie verwirklichen. »Ich bin Arzt. Und als Arzt regt mich die Art und Weise auf, in der Ärzte Gesundheitsversorgung betreiben. Wir haben die Patienten hoffnungslos aus den Augen verloren. Wir haben uns für unseren Berufsstand aus den richtigen Gründen entschieden, nämlich um Menschen zu helfen, aber wir haben den Einfluss auf das System verloren. Es hat sich mit perversen Anreizen aufgeladen. Es ist eine große Befriedigung für mich, viele kranke Menschen zu behandeln und viel Forschungsarbeit zu leisten. Doch die Ärzte des chinesischen Kaisers wurden für jeden Tag bezahlt, an dem der Kaiser nicht krank war. Wenn der Kaiser sich also nicht gut fühlte, kam sein Arzt angerannt, so schnell er konnte. Bezahlt die Ärzte für ihre gesunden Patienten. Hört auf, das Gesundheitswesen zugunsten der Ärzte zu organisieren. Hört auf, die Patienten als passive Objekte zu behandeln, sondern betrachtet sie als aktive Subjekte. Ermöglicht Ihnen mitzubestimmen, was gute Pflege ist. Wenn ich dem Patienten ein Medikament gebe, das nicht hilft, dann ist das mein Fehler. Wenn ich dem Patienten erkläre, dass ich mich nicht zwischen zwei Therapieformen entscheiden kann, und wir dann gemeinsam entscheiden, welchen Weg wir gehen wollen, dann können wir uns den Erfolg teilen, wenn es funktioniert, und den Misserfolg, wenn es nicht funktioniert. Heutzutage sind Ärzte Götter. Aber sie sollten zu Begleitern und Coaches werden, die Menschen bei ihren Entscheidungen unterstützen. Das ist absolut nicht bedrohlich, die Arbeit wird sogar mehr Spaß machen. Ich bevorzuge ein gleichberechtigtes Spielfeld ohne Hierarchie. In meinem Büro steht ein Tisch mit vier Stühlen
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drum herum. Ich habe keinen eigenen Schreibtisch. Am Anfang sind die Menschen verwirrt: ›Wo soll ich mich setzen, Herr Doktor?‹ Ich stehe nicht über ihnen, ich sitze einfach gemeinsam mit ihnen an einem runden Tisch. Ausgehend von MyCareNet werden wir eine private Community gründen, wohin der Patient all die Personen einladen kann, die mit seiner Gesundheit befasst sind – vom Hausarzt über den Neurologen bis zum Ernährungsberater. Das ist eine bessere Lösung als die elektronische Patientenakte, die eigentlich angemessener ›elektronische Ärztedatei‹ genannt werden sollte. Ausgehend von den Patienten möchten wir ein echtes ›persönliches Gesundheitsdossier‹ erstellen. Solche Communities sind radikal. Ich mache mir nichts vor, indem ich glaube, dass die Menschen sie sofort nutzen würden. Aber wir haben gerade Geld dafür erhalten, Patienten über die digitale Welt zu informieren. Es ist ein hartnäckiger Irrglaube, dass Health 2.0 sich nur um ICT dreht. So kann man es natürlich sehen. ›Health 2.0‹ ist eine veraltete Bezeichnung. Besser wäre: ›kollaborative Pflege‹ – Zusammenarbeit in der Gesundheitsfürsorge. Noch besser: ›partizipative Gesundheit‹ – gemeinsam für Gesundheit. Health 2.0 steht für Interaktivität. Dieser Tisch mit den vier Stühlen, das ist Health 2.0. Es hat überhaupt nichts mit ICT zu tun. Die Technologie ist ein Mittel, nicht das Ziel. Ich habe eine Vision, wie die Dinge verbessert werden könnten. Ich habe wirklich Spaß an der Innovation. Als Akademiker widme ich mich der Forschung, und zum Glück verfüge ich über eine große Menge Energie. Außerdem habe ich ein tolles Team um mich herum versammelt. Im Großen denken, klein anfangen, schnell handeln. So möchte ich das Monster der Gesundheitsversorgung bekämpfen. Mehr und mehr Menschen wollen auf diesen Zug aufspringen. Ich möchte die Dinge in den Niederlanden verändern, und danach im Ausland. Das Gesundheitswesen muss wirklich verändert werden. Das ist mein Ehrgeiz. Nicht durch kleine Verbesserungen wie bei kosmetischer Chirurgie, sondern durch das Werfen einer Handgranate und den Neuauf bau des Ganzen. Dies ist ein
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unwiderruflicher Prozess. Was sich jetzt in Bewegung gesetzt hat, kann nicht mehr aufgehalten werden. Ich möchte in der ersten Reihe kämpfen und an der Spitze der Truppen marschieren.« Bas Bloem ist Professor für Neurologie an der Radboud Universität in Nijmegen und Initiator von ParkinsonNet und MijnZorgNet. ParkinsonNet, eine Initiative der Neurologen Bas Bloem und Marten Munneke, ist ein niederländisches Netzwerk von Leistungserbringern im Gesundheitswesen und ist spezialisiert auf die Behandlung von Menschen mit Parkinson. Als Ergebnis dieses Netzwerkes hat die Kompetenz und Qualität der Gesundheitsversorgung zugenommen. Über 60 regionale Netzwerke haben sich nun ParkinsonNet angeschlossen, das MyCareNet nutzt, welches seinerseits eine Dienstleistungsorganisation für Patienten, Pflegepersonal und professionelle Leistungserbringer im Gesundheitswesen ist. Unsere Mission: Gemeinsam am Auf bau des Patienten-Gesundheits-Netzwerks arbeiten, und zwar durch Foren, Blogs und durch Mitgliedschaft in oder Neuauf bau von Communities. Mittlerweile wurde MyCareNet vom neuen Dienst »Hereismydata™« (Engelen 2013), eine der neusten Innovationen des REshape Center, abgelöst.
2.4 H e alth 2.0 in der G egenwart Das Versprechen von Health 2.0 ist zwar real, aber die Einhaltung dieses Versprechens ist eine andere Geschichte. Die ideale Startposition für Health 2.0 findet sich in den Niederlanden. Die Niederländer sind sehr präsent im Internet und haben in dieser Hinsicht wohl weltweit eine führende Position. Im Jahr 2010 hatten 94 Prozent der niederländischen Bevölkerung Zugang zum Internet. Ungefähr 60 Prozent der Niederländer haben ein oder mehrere Profile auf sozialen Netzwerken (Facebook, Twitter, Linkedln, Hyves usw.).
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Health 1.0 ist zu einer Tatsache geworden: Patienten suchen eigenständig nach Informationen über Krankheit oder Beschwerden und betreten das Wartezimmer mit »Dr. Google« in ihrer Tasche. Im Jahr 2010 haben neun von zehn Menschen das Internet genutzt, um Informationen über ihre Gesundheit oder zu gesundheitsbezogenen Themen zu finden; acht von zehn haben diese Informationen mit anderen geteilt. Ein Viertel der Menschen besucht gelegentlich Websites, um Ärzte oder Krankenhäuser zu vergleichen. Wenn ein Krankenhaus schlecht abschneidet, geht der Patient möglicherweise ins nächste Krankenhaus. Es ist mit anderen Worten wichtig, dass Anbieter von Gesundheitsdienstlungen sich dieser Situation bewusst sind. »Die Patienten sind den Profis voraus.«
Nichts von dem oben Genannten ist bereits Health 2.0. Bei Health 2.0 geht es viel eher um Interaktion. Inzwischen gibt es eine wachsende Zahl von Studien und Pilotprojekten, durch die die Kommunikation und Interaktion zwischen Patienten und Leistungserbringern im Gesundheitswesen neu gestaltet werden. Z.B. gibt es TwitterSprechstunden, in denen die Leute den Ärzten ihre Fragen stellen können. Falls erforderlich werden die Fragenden an ihren eigenen Hausarzt verwiesen. Eine weitere Initiative ist OncoQuest, bei der die Patienten vor dem Besuch eines Facharztes einen Online-Fragebogen ausfüllen. Während des Eintrittsgesprächs werden dann jene Themen angesprochen, die sich aus den Antworten auf den Fragebogen ergeben haben. Oder nehmen Sie Health Bridge, wo Ärzte und Spezialisten miteinander in Videokonferenzen kommunizieren, oft im Beisein ihrer Patienten. Seit 2011 ist zudem FaceTalk3 im Einsatz, ein Videokonferenzsystem, das Patienten via Laptop oder Tablet-PC ohne zusätzliche Hardware zur sicheren Kommunikation mit ihren medizinischen Betreuungspersonen nutzen können. 3 | Vgl. dazu http://www.facetalk.nl oder http://vimeo.com/50385112 [Stand: 16.03.2014].
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2.5 E in G efühl der D ringlichkeit »Es gibt eine relativ kleine, aber wachsende Gruppe von Anbietern von Gesundheitsdienstleistungen und Behörden, die sich aktiv für Health 2.0 engagieren«, sagt Chiel Bos, ehemaliger Direktor der Krankenversicherung The Netherlands und Pionier, wenn es um Innovationen im Gesundheitswesen geht. »Vor ein paar Jahren waren es nur ein paar Einzelpersonen, aber jetzt sehen wir immer mehr sich dafür begeisternde medizinische Leistungserbringer. Die Patienten selbst sind den Profis voraus. Sie sind aktiver im Internet und den Social Media engagiert und warten nicht, bis ihre Ärzte soweit sind. Sie möchten die Vorteile dieser Möglichkeiten wahrnehmen und sich dafür einsetzen, einen echten Fortschritt zu sehen. Sie finden einander im Internet und tauschen Informationen untereinander aus, z.B. über die Qualität ihrer Klinik oder die Behandlung ihrer Krankheit. Falls erforderlich, nehmen die Patienten die Sache in die eigene Hand.« »Weniger direkter Kontakt bedeutet nicht, dass der Patient weniger im Zentrum steht. Das ist eine Perspektive der traditionellen Denkweise betreffend Gesundheitswesen.«
Dieses Gefühl der Dringlichkeit verstärkt sich laut Daan Dohmen, einem Entrepreneur im Gesundheitswesen, bei Behörden und Leistungserbringern in der letzten Zeit. Seine Firma Fokus Cura setzt Technologie ein, damit Menschen länger zu Hause bleiben können. Unter anderem entwickelte er zusammen mit der ZZG Care Group den PAL4 (Personal Assistant 4 Life), der es älteren Menschen oder chronisch Kranken erlaubt, Kontakt mit einem Pflegedienstzentrum, aber auch mit Enkeln oder Bekannten zu pflegen. Man kann damit auch spielen, allein oder gemeinsam, z.B. Bingo. Dohmen sagt: »Vor einigen Jahre noch wurden wir oft kritisiert, dass Fernbetreuung ›kalte Betreuung‹ sei.« Aber der Widerstand ist spürbar rückläufig. Das Vertrauen in diese Möglichkeiten steigt, was aber nicht bedeutet, dass die Mehrheit bereits überzeugt ist.«
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Dohmen fragt sich, inwieweit Health 2.0 das Versprechen einhalten wird, dass der Patient in Zukunft Kontrolle ausüben kann. »Viele Veränderungen werden durch die Tatsache motiviert, dass die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen steigt, während zu wenig Geld und Personal zur Verfügung stehen. Wir haben weniger direkten Kontakt und müssen uns sehr anstrengen, um sicherzustellen, dass es wirklich um den Patienten geht.« Dick Herfst zufolge gibt es keine Alternative zur Fernpflege. »Die Notwendigkeit liegt auf der Hand. Ältere Menschen bleiben immer länger zu Hause, es gibt mehr und mehr Menschen mit chronischen Erkrankungen. Wenn wir all diesen Menschen helfen wollen, dann müssen wir anders arbeiten. Weniger direkter Kontakt bedeutet nicht, dass der Patient weniger im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Das wäre eine veraltete Sichtweise.« Herfst erwähnt das Beispiel der digitalen Überwachung von Patienten mit der Atemwegserkrankung COPD. »Gemeinsam mit Fokus Cura und dem Canisius Hospital haben wir mit der Fernüberwachung dieser chronisch kranken Patienten begonnen. Zu Hause füllen sie einen digitalen Fragebogen aus und führen bestimmte Messungen durch. Eine Krankenschwester überprüft die Informationen. Sie gibt ein Feedback, und wenn etwas nicht stimmt, nimmt sie sofort Kontakt auf.« (Vgl. dazu auch Engelen 2013)
2.6 P ortr ät 2: C orine J ansen , C hief L istening O fficer »Habt Ihr Ärzte irgendeine Ahnung, was dies auf die Patienten und ihre Angehörigen für Auswirkungen hat?«
Wenn ich zurückdenke ins Jahr 2008, dann erinnere ich mich daran, dass ich öfters medizinische Fachpersonen traf, die weder die Zeit noch den Willen hatten zuzuhören, was Patienten wirklich zu sagen hatten. Ich stamme aus einer Unternehmerfamilie und ein solches Verhalten wäre in all unseren Firmen absolut undenkbar ge-
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wesen. Ich musste also auf irgendeine Art und Weise in dieser Branche ein Bewusstsein schaffen und schaute mich nach einer Person um, die diese Rolle übernehmen konnte. Ich traf Corine Jansen, nahm sie in mein REshape-Team auf und gab ihr den Job des Chief Listening Officer – soweit ich weiß der erste derartige Job überhaupt auf der ganzen Welt. Sich für Patienten und ihre Betreuungspersonen zu engagieren, ist Corine Jansens Leidenschaft. »Ärzte haben 17 Jahre lang studiert. Das verführt sie oft zum Glauben zu wissen, was das Beste für ihre Patienten ist. Ich behaupte: Das tun sie nicht. Ich frage die Ärzte: ›Warum haben Sie damals mit Ihrer Ausbildung begonnen? Lassen Sie nicht zu, dass die Bürokratie Ihr Mitgefühl einschränkt. Erkennen Sie, dass es ausschließlich um den Patienten geht. Was wissen Sie denn über deren Umgebung, deren Fragen, deren Sorgen? Ermutigen Sie gleichzeitig die Patienten, es zu wagen, Fragen zu stellen und über ihre Bedürfnisse zu sprechen.‹ Ich habe eine enorme angeborene Leidenschaft, mich für Patienten und ihre Betreuungspersonen starkzumachen. Wenn sie das wünschen, sollten sie sich gleichberechtigt an dem Team von Pflegepersonen und Ärzten beteiligen. Diese Gleichstellung ist noch nie dagewesen. Meine Tätigkeit bei AYA4, einer Online-Community für junge Menschen mit Krebs, ist einer der ersten Schritte in diese Richtung. Wir haben diese Community auf Initiative der Patienten gegründet, nicht durch das Angebot gelenkt, sondern durch die Nachfrage. AYA4 muss die Beste der Besten werden. Weil die Betroffenen es so sehr verdienen, weil sie so wichtig sind. Stellen Sie sich vor, Sie haben Krebs. Sie werden überschwemmt mit Fragen und Emotionen. Sie sind 20, mitten in der Blüte des Lebens. Werden Ihnen Ihre Studiengebühren erstattet werden, können Sie noch Kinder bekommen, wo findet man die schönste Perücke im Land? Auf dieser Webseite können Patienten skypen und chatten und gemeinsam über diese Dinge twittern. Wenn Sie morgen Ihre Untersuchungsergebnisse erhalten, werden Sie hier Wärme und Anteilnahme unter jungen Erwachsenen finden, die besser als jeder andere wissen, wie nervenaufreibend dies ist. Sie kämpfen gemeinsam um Besserung. Wenn
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das nicht mehr möglich ist, werden sie gemeinsam am Abschied arbeiten. Und dies in einer sicheren Umgebung, in der man einfach alles sagen kann, ohne neugierige Blicke. Am Ende werden wir alle Patienten sein. Wir werden uns alle irgendwann mit Gesundheitsversorgung befassen müssen. Das tut etwas mit einem. Manche werden unsicher, andere sehr entschlossen. Einer der jungen Männer, der bei der Einrichtung dieses Projektes mitgewirkt hat, wusste, dass er sterben würde. Ich fragte ihn, wie er sein Leben gelebt hat. Er sagte: ›Die Sache ist nicht zu sterben, während du lebst, sondern zu leben, während du stirbst.‹ Was kann ich mehr sagen? Das ist meine Leidenschaft. Ich war mein ganzes Leben lang mit Krankheit konfrontiert. Ich habe aus nächster Nähe gesehen, was Krankheit bei Menschen anrichtet. Ich habe daneben gestanden und jedes Mal gefragt: ›Habt Ihr Ärzte eine Ahnung, was dies auf die Patienten und ihre Angehörigen für Auswirkungen hat?‹ Ich bemerkte, dass ihre Aufmerksamkeit fest auf den Behandlungsprozess des Patienten gerichtet war. Logisch, aber es gibt so viel mehr als das. Man muss genau zuhören und ihnen das Gefühl geben, dass sie, ihre Sorgen und ihre Fragen wichtig sind. Niemand zweifelt daran, dass die Ärzte für ihren Beruf studiert haben und daher sehr viel Wissen besitzen, aber es gibt immer mehr chronisch kranke Menschen, und Menschen, die chronisch krank sind, wissen, was sie brauchen. Sie kennen ihren Körper, ihre Medikamente und ihre Bedürfnisse sehr gut. Patienten und Betreuungspersonen wollen den Ärzten nicht ihr Know-how wegnehmen, sie wünschen vielmehr, es mit ihnen zu teilen. Health 2.0 ist für mich ein Weg, um zu diesem Austausch von Wissen zu kommen. Viele Menschen wissen, dass es so etwas wie ›Google-Weisheit‹ nicht gibt. Health 2.0 kann hoffentlich dazu beitragen, wirklich gute Informationen verfügbar zu machen. Als Betreuungsperson habe ich dies vermisst.« Corine Jansen arbeitet für das Radboud REshape & Innovation Center, das am Radboudumc angegliedert ist. Das Ziel des Zentrums ist die Integration von Health 2.0 ins Gesundheitswesen, und zwar durch Inno-
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vation, Forschung, Bildung und Initiieren einer öffentlichen Diskussion zu den Herausforderungen im Gesundheitswesen. AYA4 ist ein Projekt von und für junge Menschen mit Krebs. Jugendliche und junge Erwachsene mit Krebs im Alter von 18 bis 35 Jahren leben oft mit einem schwierigen Dilemma. Sie sind zu alt für onkologische Kinderbetreuung, während die normale onkologische Versorgung oft keine Antworten auf die Fragen hat, mit denen diese spezifische Gruppe sich auseinandersetzen muss: Fragen über Studium, Beziehungen, Arbeit, Lebensbedingungen und die Möglichkeit, Kinder zu bekommen. Im Jahr 2009 begann das Radboudumc mit der Entwicklung von AYA4, einer einzigartigen Online-Community von und für junge Menschen mit Krebs. Das Krankenhaus stellt die Technologie zur Verfügung, während die Patienten die Inhalte selbst bestimmen und bereitstellen. Diese Community bietet jungen Menschen einen digitalen Ort, an dem sie untereinander oder mit ihren Angehörigen kommunizieren und wichtige Informationen austauschen, Fragen stellen und ihre Erkenntnisse und Gefühle miteinander teilen können. Diese Online-Kommunikation macht unzählige Krankenhausbesuche obsolet. Und die Patienten bekommen ihre Krankheit besser in den Griff, weil sie ein besseres Verständnis für deren Verlauf haben. AYA4 wurde im Februar 2013 mit einem großen Startevent im Fussballstadion von Nijmegen landesweit lanciert.
2.7 J a , aber … Trotz ihrer Motivation dauerte es eine Weile, bevor Winette van der Graaf, Initiatorin von AYA4, richtig loslegen konnte. »Ich hatte viele Fragen und wusste zuerst nicht, wo ich anfangen sollte.« »Sicherlich will nicht jeder an Bord kommen, die Menschen verbleiben lieber in alten Strukturen.«
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Das gleiche Zögern manifestiert sich praktisch bei jedem Arzt, der gern mit Health 2.0 loslegen würde: Welche Technologie sollen wir einsetzen, wie sollen wir Prioritäten festlegen, werden wir mit der Organisation klarkommen, was ist mit Sicherheit und Vorschriften, werden wir die Zielgruppe erreichen, wie werden wir dafür bezahlen können, wie kann sichergestellt werden, dass wir nicht in etwas investieren, das zum Scheitern verurteilt ist? Chiel Bos, Direktor der ZZG Care Group, setzt sich hin, um darüber nachzudenken: »Eigentlich sind all diese Bedenken fehl am Platze. Das sind die Einwände von Leistungserbringern im Gesundheitswesen und Behörden, die noch nicht für radikale Innovationen bereit sind. Weil das, womit wir es hier zu tun haben, eine absolut neue Art zu denken darstellt. Sicherlich will nicht jeder an Bord kommen, die Menschen verweilen lieber in alten Strukturen. Und dies, während es eigentlich gar keine andere Wahl gibt.«
2.7.1 Ja, aber … die Finanzen? Viele Pläne werden wegen der Finanzfrage auf Eis gelegt. Daan Dohmen sieht »finanzielle Ungewissheit« als ein realistisches Problem. »Die meisten Initiativen stützen sich auf Subventionen. Die Projekte haben oft nichts mit normaler Gesundheitsversorgung zu tun, sie sind kein Ersatz für sie. Zuschüsse werden nur für neue Ideen gegeben, als Ergebnis versuchen es die Gesundheitseinrichtungen immer mit den neuesten Errungenschaften und es gibt nicht genügend Aufmerksamkeit für Initiativen, die sich bereits bewährt haben.« Daan Dohmen zufolge bleiben in der Folge die Projekte oft klein. »Dies macht es schwierig, auf der Grundlage von Erfahrung und Anwendung zu beweisen, dass eine Initiative tatsächlich die Gesundheitsversorgung oder die Kommunikation mit den Patienten verbessert. Krankenkassen sind daher zurückhaltend und weigern sich noch, Health-2.0-Projekte in ihre Erstattungskataloge aufzunehmen. Für sie stellen sie eher Mehrkosten statt eine Alternative dar. Und die Konsumenten – Patienten oder ältere Menschen – ha-
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ben meist keine Möglichkeit, für die Kosten aufzukommen, z.B. für eine Video-Verbindung«. Chiel Bos erkennt an, dass die gegenwärtige Struktur der Finanzierung ein Hindernis darstellt, glaubt aber, dass dies keine Entschuldigung sein sollte. »Kommunikation mit Patienten ist Teil des Berufs, so ist es auch die Pflicht als Arzt, diese Kommunikation gut zu organisieren. Viele Jahre lang war Kommunikation jedoch keineswegs eine Vorzeigekompetenz. Als ich Vorsitzender der Krankenversicherung The Netherlands war, war ich regelmäßig mit teuren Projekten und mit den neuesten technologischen Meisterleistungen wie etwa tele- und computerassistierte Chirurgie befasst. Die Möglichkeiten sind endlos! Aber es kostet viel Geld. Doch wenn ich anschließend diese Ärzte kontaktieren wollte, kam ich nicht weiter als bis ins Sekretariat«, sagt Bos empört. »Kommunikation im Gesundheitswesen ist oft dramatisch. Sogar – oder in der Tat: vor allem – mit den Patienten. Mit Health 2.0 ist das Problem recht einfach zu lösen, ohne dass es viel kosten muss. Lasst uns damit beginnen! Natürlich gibt es Kosten für die Umsetzung und in einem gewissen Maß auch für Wartung und Reparatur. Die Tatsache, dass es bisher noch keine Versicherungserstattung dafür gibt, sollte kein Grund sein, es nicht zu tun.« »Zuschüsse werden nur für neue Ideen gegeben, als Ergebnis versuchen es die Gesundheitseinrichtungen immer mit den neuesten Errungenschaften, und es gibt nicht genügend Aufmerksamkeit für Initiativen, die sich bereits bewährt haben.«
Chiel Bos ist zuversichtlich, dass dies keine zusätzlichen Kosten verursachen wird. Die Investition zahlt sich aus. »Wenn ein Patient seine Behandlungen und Tests über digitale Polikliniken abrufen kann wie bei dem Radboudumc, muss eine Pflegeperson nicht all diese Telefonate führen. Ein Patient kann selbst bestimmen, wann er die Information suchen möchte, und ist nicht auf den Zeitplan des Krankenhauses angewiesen. Möglicherweise werden sich zu Beginn die Kosten verdoppeln, aber am Ende wird es ein Gewinn sein.«
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2.7.2 Ja, aber … Sicherheit und Vorschriften? Die Möglichkeiten von Health 2.0 sind enorm, aber viele Gesundheitsdienstleister und Behörden fragen sich, ob es regulationskonform und sicher ist. EU-Kommissarin Neelie Kroes bietet Health 2.0 Raum, um sich auf europäischer Ebene zu entwickeln. Wie dies genau Gestalt annehmen soll, bleibt unklar. In den Niederlanden hat die Regierung ebenfalls gute Absichten. Es ist das Ziel, Regulierungen, die Health 2.0 behindern, aus dem Weg zu schaffen. Laut Chiel Bos sind Bedenken bezüglich Sicherheit und Privatsphäre relativ. »Dokumente in Papierform sind viel leichter zu verlieren als eine valide Online Alternative.« Es stehen mittlerweile verschiedene Lösungen zur Verfügung, die sicher sind und die Einhaltung der gesetzlichen Anforderungen garantieren. »Es gibt wirklich keinen Grund, sich hinter solchen Einwänden zu verstecken. Die medizinische Versorgung hat die Tendenz zu kontrollieren, im Sinne der Beschränkung, aber wir könnten eine viel bessere Kontrolle praktizieren, im Sinne der Datenpflege. Und diese Möglichkeiten sind reichlich vorhanden.«
2.7.3 Ja, aber … die Zahl der Nutzer? Bei der Aktivierung einer 2.0-Initiative ist eine wichtige Frage: Wie viele Menschen werden diesen Service nutzen? Die beteiligten Gesundheitsdienstleister stehen zu dem Projekt, die Unterstützung ist gut, aber was tun, wenn die Zahl der Patienten, die am Chat teilnehmen, Fragen stellen und Erfahrungen austauschen, gering ist? Wir wissen, dass nur zwei Prozent der Nutzer aktiv kommunizieren. Der Rest schaut, liest, findet Informationen, aber man wird ihre Präsenz nicht bemerken. In dieser Hinsicht ist es schwierig, den tatsächlichen Wirkungsradius zu messen. Im Moment ist es noch so, dass nur relativ wenige Patienten alle Möglichkeiten wirklich nutzen. Vor wenigen Jahren besaßen nur sehr wenige Menschen Profile in sozialen Netzwerken wie Facebook. Heute ist die Mehrheit dabei. Deswegen ist es wichtig, heute funktionsfähige
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Communities und Plattformen zu schaffen, um mit einer funktionierenden Infrastruktur ausreichend vorbereitet zu sein, wenn die Massen vor der Tür stehen. Mit anderen Worten: Es ist eine Frage der Ausdauer. Die ZZG Care Group bietet PAL4 für ältere Menschen in Nijmegen an. Bisher haben sich rund 200 Menschen mit der Initiative verbunden. »Das ist noch nicht viel, aber wir lernen aus der Erfahrung«, sagt Dick Herfst. »Außerdem bietet es eine Chance zur Erweiterung und Verbesserung des Systems. Wie vermittelt man Kontakte mit einem Gesundheitszentrum, welche Art von Inhalten ist erforderlich, wird es möglich sein, das System für andere Interessengruppen wie etwa bei der Vorsorge im Rahmen der Mutterschaft anzuwenden? Wir machen kleine Schritte auf dem Weg nach vorne, so dass wir immer mehr Menschen erreichen können.« Auch der neue Dienst Hereismydata™ (Engelen 2013) wird bei der Betreuung älterer Personen eingesetzt.
2.7.4 Ja, aber … was hat Vorrang? »Wir finden die patientenzentrierte Kommunikation sehr wichtig«, sagt Marcel Visser, Mitglied des Leitungsgremiums des ElisabethKrankenhauses in Tilburg. Im Jahr 2009 startete das Krankenhaus eine Kampagne mit dem Namen »Dear Hospital«, die sich auf patientenzentrierte Pflege und echte Aufmerksamkeit für die Menschen konzentriert. »Das ist zu 100 Prozent unsere Richtung. Aber wenn es um technologische Innovationen geht, wollen wir keine führende Stellung einnehmen. Unserer Meinung nach wird das nicht dauerhaft sein. Als Krankenhaus kann man sich nicht an jeder gut gemeinten Initiative beteiligen. Man muss Prioritäten setzen und realistisch bleiben«, erklärt Visser. »Die Einführung neuer Technologien hat oft eine 2-×-2-×-2-Entwicklung: es dauert doppelt so lange, kostet doppelt so viel und resultiert in einem Produkt, das nur die Hälfte von dem bietet, was von ihm erwartet wurde. Es ist ein langer Weg. Wir haben entschieden, unsere eigenen elektronischen Patientendossiers zu entwickeln. In den nächsten paar Jahren
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werden wir diese Dossiers weiter zu einer Patientengesundheitsakte entwickeln, in welcher der Patient seine eigenen Gesundheitsdaten pflegt. Das heißt, man kann einen Termin über das Web oder eine App vereinbaren. Anstelle der Investition in kleine, wenn auch starke Initiativen unternehmen wir allgemeinere Schritte, von denen all unsere Patienten profitieren werden. Wenn die Zeit dafür reif ist, werden wir uns gewiss erfolgreichen Initiativen anschließen. Aber wir haben Geduld. In nur wenigen Jahren werden die guten Beispiele erkennbar werden.« »Als Krankenhaus kann man sich nicht an jeder gut gemeinten Initiative beteiligen. Man muss Prioritäten setzen und realistisch bleiben.«
2.8 P ortr ät 3: S askia D avidse »Twitter wurde zu meiner Rettungsleine zur Außenwelt.«
Saskia Davidse wird jeden Tag mehr »zwei-Punkt-Null«. Health 2.0 erleichtert ihr das Leben mit der Krankheit MS. Und Health 2.0 könnte noch mehr helfen. »Twitter, mein Blog, mein Facebook, mein Hyves und mein Flickr: Alles kommuniziert miteinander. Was ich auf einem meiner Benutzerkonten veröffentliche, erscheint auch auf den anderen. Ich schreibe über mein Leben. Vom Beginn meiner Krankheit im Jahr 2007 an wurde mein Weblog ein Mittel, um mich abzureagieren. Später, als ich von dem Krankenhausaufenthalt und der Rehabilitation zurückkehrte, wurde Twitter zu meiner Rettungsleine zur Außenwelt. Ich konnte nicht ausgehen, da meine Wohnung sich auf der zweiten Etage befand, ohne Aufzug. In den aktivsten Zeiten hatte ich 120 Tweets pro Tag. Als ich krank wurde, befand ich mich im letzten Jahr meines Hauptfachs Kommunikation. Dieser Background in Kommunika-
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tion, zusammen mit meiner lauten Klappe und meiner zunehmenden Abneigung, immer wieder allen und jedem zu erklären, was ich habe und wie es mir geht, führte mich zu der Entscheidung, über mein Leben, meine Erfahrungen und meine Krankheit zu bloggen. Meine Oma kaufte sich einen Computer vor allem, um meinen Blog zu lesen, die Kollegen meiner Mutter müssen nicht mehr ständig fragen, wie es mir geht. Meine Motivation war also weitgehend praktischer Natur. Später erwies sich das Schreiben auch als ein Teil meiner Verarbeitung der Situation – auch wenn eine solche Situation nie wirklich verarbeitet werden kann. Reden fällt mir über das Internet leichter, und es hilft manchmal dabei, Dinge loszuwerden: ›Verdammt, warum muss ich das haben?‹ Darüber hinaus, obwohl das eher ein netter Nebeneffekt ist, kann ich auch anderen chronisch kranken Menschen helfen. Vielleicht erkennen sie sich in meinen Kurzgeschichten wieder. In letzter Zeit bin ich sogar noch mehr zwei-Punkt-Null geworden. Heute Morgen habe ich meine digital healthcare declaration abgeschickt. Drei Klicks und es war getan. In drei Tagen wird sie auf meinem Konto sein. Ich habe eFarma entdeckt. Sie sind in der Lage, abgepackte, portionierte Pillen zu liefern: Man erhält sie in kleinen Tüten in genau bemessenen täglichen Rationen. Das ist bequem, weil ich 20 Tabletten pro Tag nehmen muss. Es war allerdings nicht einfach, meinen Arzt davon zu überzeugen, das digitale Rezept, das ich vorgelegt hatte, zu überprüfen und zu unterzeichnen. ›Wir haben keine eMail, wir werden es in die Apotheke faxen‹, wurde mir gesagt. Er ruft an und er faxt, und das ist alles. ›Es funktionierte doch früher so gut, also warum die Dinge ändern?‹, nenne ich diese Einstellung. Aber ich gehöre nicht zu denen, die schnell aufgeben, und ich weiß, dass das, was ich verlange, möglich ist. Am Ende rief mich die Sekretärin zurück und sagte, sie würde mir die eMail-Adresse dieses eine Mal geben, aber dass ich sie sofort vergessen soll, weil sonst das Ende nicht absehbar sei. Mein Arzt hat das Rezept ausgedruckt, unterschrieben und es zu eFarma gefaxt. Wäre es nicht phänomenal, wenn es eine Internetplattform gäbe,
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über die Sie Ihre Apotheke autorisieren könnten, Zugang zu Ihren medizinischen Daten zu erhalten? Heute muss ich selber den Überblick über meine Pillen behalten, um sicherzustellen, dass der Vorrat reicht. Ich würde es vorziehen, wenn es eine zentrale Website gäbe, eine Art von iGoogle. Damit könnte man Menschen dazu berechtigen, ihre Gesundheitsdaten einzusehen. Damit würde man sofort an Glaubwürdigkeit gewinnen. Denn das ist es, womit ich manchmal kämpfen muss. Ärzte handeln manchmal so, als ob sie Gott seien. Und das Problem ist, dass sie es tatsächlich sind. Denn sie müssen mir meine Medikamente verschreiben. Wenn ich mit meinem Neurologen vereinbart habe, von Prednison zu Prednisolon zu wechseln, weigert sich mein Arzt, sofort ein Rezept zu unterschreiben, weil er offenbar nicht bereit ist, mir zu glauben. Gäbe es eine digitale Plattform, die die Diagnose zusammenfasst, welche Medikamente ich nehme und was ich noch für Bedürfnisse habe, dann könnte jede beteiligte Partei, die ich autorisiert habe, sofort Einblick haben. Das würde mir eine Menge Anrufe mit Sekretärinnen ersparen.« Lange Zeit dachten die Ärzte, dass Saskia Davidse an Morbus Devic litt, einer entzündlichen Erkrankung des Rückenmarks und der Sehnerven. Vor kurzem ergab ein MRI-Scan eine andere Diagnose. Saskia hat nicht die Devic-Krankheit, sondern wahrscheinlich multiple Sklerose (MS) mit einer begrenzten Form von Devic. Das verbessert ihre Aussichten etwas. Im Moment scheint sich Saskias Zustand aufgrund ihrer Medikamente stabilisiert zu haben. Aber es ist nicht möglich, eine Prognose zu geben. Sie kann nicht richtig laufen, hat neurogene Schmerzen in den Beinen, leidet an Tremor und ist sehr schnell erschöpft. Die Entzündung ihres Gehirns verursacht auch psychologische Probleme wie z.B. Angst- und Panikattacken.
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2.9 D er nächste S chrit t Jahrelang wurde über Health 2.0 geredet. Die Gruppe der Anhänger wächst, aber in der Praxis dreht es sich immer noch um Pilotprojekte, Versuche und Pioniere. »Wir stehen am Anfang der nächsten Phase«, sagt Chiel Bos. Gesundheitsdienstleister oder -Institutionen verpassen möglicherweise den Zug, wenn sie jetzt nicht aufspringen. Wenn sie nicht bereit sind, ihre Art der Kommunikation mit ihren Patienten zu ändern, könnten diese Patienten sich auf die Suche nach einem anderen Mediziner oder einem anderen Krankenhaus machen, das diesen Schritt getan hat. Dick Herfst sagt dazu: »Ich glaube, dass es Gesundheitsorganisationen gibt, die nicht dieser Strömung folgen und als Folge davon verschwinden werden. Bald wird sich niemand mehr dieser Tendenz entziehen können. Die Funktionsweise des Systems wird sich wesentlich verändern.« Was muss passieren, um die wahrgenommenen Barrieren zu durchbrechen und andere zum Mitmachen zu bewegen? Wie kann eine Verschiebung der Gleichgewichte gefördert werden? Zuerst und in erster Linie ist es notwendig, einen Kulturwandel bei den Leistungserbringern im Gesundheitswesen und den Behörden zu erreichen. Sie müssen lernen, sich mit den Möglichkeiten von Health 2.0 anzufreunden und sich für neue Arten der Kommunikation zu öffnen, in denen die Patienten sehr viel stärker als gleichberechtigt betrachtet werden. Diese Verlagerung scheint jetzt stattzufinden. »Ohne die Begeisterung der Ärzte werden Sie nirgendwo hinkommen«, sagt Marcel Visser, »und wir spüren, dass sie jetzt bereit sind.« Als Nächstes müssen sie verstehen, wie der Anfang aussehen soll. »Es gibt wahrscheinlich auf jede Frage eine Antwort, aber man muss auch in der Lage sein, diese Antwort zu finden«, sagt die Onkologin Winette van der Graaf. »Wir sollten auf jeden Fall in die Verbreitung des Wissens über Health 2.0 investieren. All die praktischen Probleme können gelöst werden, und es gibt Menschen, die wissen, wie das zu tun ist und was möglich ist. Profitieren Sie von diesen Netzwerken!«
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Chiel Bos fügt hinzu, dass »Health 2.0 mehr ist, als ein praktisches Werkzeug für die Verbesserung der Patientenversorgung. Miteinander teilen bedeutet vervielfachen.« Es bedeutet z.B. auch, dass man während des Studiums sein Augenmerk auf Health 2.0 richten sollte, so dass man alles über diese Möglichkeiten lernt. Und vergessen Sie nicht die Patientenbildung. Wir haben es immer noch mit einem zu niedrigen Niveau der Medienkompetenz zu tun: Nicht jeder ist vertraut mit den digitalen Möglichkeiten. Ab September 2014 gilt an der Medizinischen Klinik der Radboud Universität ein neues Curriculum für Medizinstudenten, das auch Themen wie eHealth, Health 2.0 und Innovation im Gesundheitswesen zum Inhalt hat. Abgesehen vom Kulturwandel und Wissensaustausch, spielen auch Finanzen eine Rolle. Wie Daan Dohmen bereits angedeutet hatte, sind viele Projekte im kleinen Maßstab und auf Subventionen angewiesen. In diesem Sinne kann es schwierig sein, Effizienz nachzuweisen und eine optimale Größe zu erreichen. »Es ist eine echte Herausforderung, den Teufelskreis der Neuerfindung des Rades zu durchbrechen und drittmittelfinanzierte Projekte ins Leben zu rufen«, sagt Daan Dohmen. Er macht einen Vorschlag: »Sie sollten klare Leistungsvereinbarungen mit der Krankenkasse treffen, mit anderen Worten finanzielle Transparenz: Z.B. setzt ein Krankenhaus Fernüberwachung ein und kann 250 anstelle von 200 Patienten pro Jahr mit dem gleichen Personal behandeln, und zwar ohne Qualitätseinbußen. Mit anderen Worten werden sie nachweislich effizienter arbeiten. Das sollte belohnt werden.« »Belegen Sie Ärzte und Krankenhäuser, die die Teilnahme verweigern, mit einer Gebühr.«
Chiel Bos sucht nicht allein bei den Tarifen in der Krankenversicherung nach Antworten. »Helfen, belohnen, besteuern«, das ist es, worum sich laut Bos alles dreht. Er erklärt, dass »wir wirklich die Entscheidungsfreiheit aufgeben sollten, ob man bei Health 2.0 mitmacht oder nicht. Wenn es Initiativen gibt, die großflächig umge-
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setzt werden können, dann muss dies auch geschehen. Aber da gibt es noch etwas, das ich hinzufügen sollte: Belegen Sie die Ärzte und Krankenhäuser, die die Teilnahme verweigern, mit einer Gebühr. Auf die Art können Sie sagen: Ab nächstem Jahr werden Sie kein Geld mehr für den Betrieb einer Papieradministration erhalten. Anbieter im Gesundheitswesen werden dann zusätzliche Kosten dafür haben, dass sie ihre Teilnahme an Innovationen verweigert haben. Ich wette, dass sie dann sehr bald ihre Meinung ändern werden.« Auch wenn dies offensichtlich klingen mag, diese Entwicklungen müssen gemeinsam angegangen werden. Chiel Bos meint: »Es ist nicht der Arzt oder der Patient oder der Krankenhausdirektor, der für den nächsten Schritt in Health 2.0 verantwortlich ist. Sie müssen gemeinsam entscheiden, welche Initiativen erfolgreich sind und wie man sie an andere weitergeben kann. Jeder sollte in diesem Prozess Verantwortung übernehmen.«
2.10 P ortr ät 4: R agna van den B erg »Es ist schade, dass viele meiner medizinischen Ansprechpersonen meinen Blog als ein Hobby betrachten.«
Ragna van den Berg arbeitete im Bereich der Online Gesundheitsversorgung, als sie selbst plötzlich medizinische Hilfe benötigte. Seitdem versteht sie noch deutlicher, dass die Gesundheitsversorgung eine radikale Veränderung braucht. »Bevor ich eine Hirnblutung hatte, arbeitete ich im Bereich der Online Gesundheitsversorgung für Menschen mit psychosozialen Problemen. Aufgrund der Art meiner Arbeit konnte ich überall leben, z.B. im Heimatland meines Mannes, und dennoch in der Lage sein, meine Arbeit in meiner Muttersprache zu verrichten. Online-Gesundheitsdienstleistungen anzubieten, reduziert zudem Zeit, Aufwand und Kosten. Für mich ist es klar, besonders seitdem ich selbst
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krank wurde, dass es in der Gesundheitsversorgung viel zu verbessern gibt. Es ist jedoch schwierig, leidenschaftliche Menschen und neue Initiativen in das aktuelle Gesundheitswesen zu integrieren. Unser System ist ein Kontrollsystem, eines mit vielen Formalitäten, starren Regeln, ein System der großen Organisationen und der diffusen Verantwortlichkeiten. Es ist unhandlich und unfreundlich, ohne ein menschliches Gesicht und mit viel Misstrauen zwischen Leistungserbringern im Gesundheitswesen und Patienten. Das Pflege- und Behandlungspersonal verbringt die meiste Zeit mit der Bearbeitung von Berichten, Plänen, Zuständigkeiten und Registrierungen – auf Kosten der Patientenversorgung. Nach Inbetriebnahme meiner eigenen Praxis hatte ich gehofft, diesem kafkaesken Alptraum zu entkommen. Meine Leidenschaft für den Beruf zu bewahren. Im Juni 2010 hatte ich eine Hirnblutung. Ich bin immer noch in der Rehabilitationsphase. Ich musste mit dem frustrierten Arzt umgehen, der keine Zeit für mich hatte. Er war guten Willens, aber er musste sich den Vorschriften anpassen. Er verschrieb mir Tabletten, um sicherzustellen, dass ich in die Situation hineinpasste, weil er keine Zeit hatte, die Situation mit mir zu analysieren und meine Umgebung so neu zu gestalten, dass sie für mich passte. Ich musste hart kämpfen, damit die Dinge so liefen, wie ich wollte. Meine Welt wurde furchtbar klein. Durch Bloggen konnte ich etwas von meinem Selbstwertgefühl aufrechterhalten. Mein Blog ist für mich ein Zeugnis darüber, was mir passiert ist. Der ist mir dienlich, da mein Gedächtnis nicht mehr das gleiche ist wie früher. Darüber hinaus kann ich erzählen, wie es mir geht, ohne dass ich meiner Familie die gleiche Geschichte hundertmal erzählen muss. Für mich ist es wirklich schade, dass viele meiner medizinischen Ansprechpersonen denken, mein Blog sei ein Hobby. Als ob es etwas wäre, das nichts mit unserer Rehabilitationsbeziehung zu tun hat. Für mich ist er mein eigenes Gesundheitsdossier mit Notizen von Pflegepersonen, mit der Einschätzung des Arztes und ein Instrument, um die Fortschritte, die ich mache, messen zu können.
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Meine Ergotherapeutin hat meinen Blog entdeckt. Sie kann lesen, welche Auswirkungen ihre Aufgaben auf mich haben und wie ihre Worte manchmal anders von mir interpretiert werden. So ist es gleichzeitig eine Rückmeldung über ihr eigenes Handeln. Unsere Kommunikation über meinen Rehabilitationsprozess ist besser geworden, seit wir den Blog einbezogen haben. Darüber bin ich wirklich sehr froh. Ich bin auch sehr zufrieden zu lesen, dass mein Blog einen wertvollen Beitrag für jemand anderen liefern kann. Eine Frau, die ihren Mann aufgrund meiner Geschichten besser versteht, ein Arzt, der meinen Blog an einen Patienten weiterleitet, der im gleichen Boot sitzt. Auch Twitter hat mir sehr viel gegeben: Aufmerksamkeit, Unterstützung und den Raum, um mal Dampf abzulassen, oder einfach Zeit für Spaß. Und anschließend wirkte das Ganze auf mein reales Leben ein: Karten, Blumen, Menschen, die mich – über Monate – zur Rehabilitationsklinik und zurück fahren wollten. Durch Twitter habe ich meinen Glauben an die Großzügigkeit und Großherzigkeit der Menschen zurückgewonnen. Ich bin noch am Leben, weil ich in der Lage gewesen bin, die Vorteile der Social Media zu nutzen. Auch wenn ich nicht physisch anwesend bin, hat man mich nicht vergessen. Und wenn ich wieder die physische Welt betreten werde, wird der Übergang nicht so schwierig sein. Health 2.0 bedeutet eine Kultur des Vertrauens, des Mitgefühls und der gemeinsamen Verantwortung; eine Kultur, in der die Patientin die Kapitänin auf ihrem eigenen Schiff ist und Beistand durch einen Skipper und alle anderen erfährt, die gemeinsam sicherstellen, dass das Schiff nicht auf Grund laufen wird. Ich habe wirklich die Hoffnung, dass die Health-2.0-Bewegung den Rummel um diesen Begriff überleben wird.«4
4 | Ragna van den Berg sprach 2011 auf der ersten von Lucien Engelen und dem REshape Center organisierten TEDxMaastricht-Konferenz, vgl. dazu http://w ww.youtube.com/watch?v=7_f49qyRuy8 [Stand: 16.03.2014].
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2.11 W ird das V ersprechen eingehalten werden ? Werden wir schon in den nächsten Jahren über Skype mit unserem Arzt sprechen, werden wir unsere Gesundheitsdaten digital zu den besten Spezialisten mitnehmen, die wir online gefunden haben, wird Großmutter Heimpflege durch eine Videoverbindung erhalten? Diese Entwicklungen sind jedenfalls bereits über den Hype hinaus. Dick Herfst meint: »In kürzester Zeit werden wir es genauso normal finden, miteinander über digitale Kanäle zu reden, wie von Mensch zu Mensch. Aber ich bin nicht in der Lage vorherzusagen, welche Form die Dinge in einigen Jahren annehmen werden, niemand kann das. Wir arbeiten alle hart daran, um Lösungen für die Gesundheitsversorgung der Zukunft zu finden. Vielleicht werden die Lösungen von heute schon übermorgen überholt sein. Nur die Zeit wird das zeigen.« »Selbstverständlich werden große Veränderungen im Gesundheitswesen und in der Kommunikation mit den Patienten stattfinden«, sagt Marcel Visser, »aber man muss realistisch bleiben. Es wird nicht passieren, dass die gesamte Gesundheitsversorgung morgen über das Internet geschehen wird.« Lucien Engelen: »Wir wissen ehrlich nicht, wie groß das alles werden wird und was sich durchsetzen wird und was nicht, oder wie viele Menschen die Möglichkeiten, die Health 2.0 bietet, nutzen werden. Aber es hat das Potential zu wirklicher Größe.« »Ich wiederhole«, sagt Chiel Bos, »Health 2.0 kann nicht mehr fehlschlagen. Vor 15 Jahren habe ich gelegentlich aus dem Urlaub ein Telegramm geschickt mit der Mitteilung: ›Ich bin sicher angekommen.‹ Wer kann sich heutzutage noch eine solche Art der Kommunikation vorstellen? Und so wird es auch in der Gesundheitsversorgung sein. Dessen bin ich mir sicher.«
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2.12 Z um S chluss Melvin Samsom, CEO des Radboudumc, meint: »Health 2.0 ist nicht mehr nur ein Ausblick in weiter Ferne. Es ist die Gegenwart. Jede Person, die hier zu Wort gekommen ist, beweist das. Wir reden nicht mehr über Ideen, wir haben den Prozess der Umsetzung begonnen. Aufgrund der Herausforderungen an die Gesundheitsversorgung und der Forderung nach gemeinsam getragenen Innovationen gibt es keinen besseren Weg als intensive Zusammenarbeit zwischen Leistungserbringern im Gesundheitswesen und den Patienten. Gleichzeitig haben einige Interviewpartner zu Recht bemerkt, dass Health 2.0 noch eine breitere Umsetzung erfordert. Was mich betrifft, gilt dies insbesondere für den Gesundheitssektor an sich. Als ich vor einiger Zeit mit 30 Forschungsassistenten sprach, war ich überrascht herauszufinden, dass keiner von ihnen Health 2.0 kannte. Nicht ein einziger! Obwohl sie in ihrem Privatleben offensichtlich das Internet und Social Media intensiv nutzen. Zu oft zwingen wir zukünftige Gesundheitsfachleute in die Zwangsjacke der traditionellen Gesundheitsversorgung. Das muss sich ändern, denn wir riskieren, den Kontakt mit dem Patienten zu verlieren. Einige der Porträts in diesem Beitrag zeigen auch, wie unvoreingenommene Menschen über Social Media ihren eigenen Weg durch das Gesundheitswesen finden. Natürlich gibt es Hindernisse bei der Entwicklung von Health 2.0. Meiner Meinung nach kann der Staat helfen, indem er grenzüberschreitende Diagnose- und Behandlungskombinationen entwickelt, indem er weiter daran arbeitet, die Sicherheit privater Daten zu gewährleisten, und indem er nicht verzweifelt kriselnde Gesundheitseinrichtungen unterstützt. In Bezug auf die Finanzierung würde ich auf jeden Fall für eine stärker unternehmerische Rolle des Gesundheitswesens plädieren. Ich bin nicht wild auf ein weiteres Programm wie ZonMw (The Netherlands Organization for Health Research and Development). Wir vom Radboudumc haben uns z.B. bewusst entschieden, das Radboud REshape & Innovation Center auf-
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zubauen. Ich denke, dass dieser Ansatz unsere führende Position in diesem Bereich erklärt. Wir haben gerade erst angefangen. Manchmal höre ich, wie Leute sagen, dass der Health-2.0-Hype vorbei ist. Aber ich finde, schon der Begriff ›Hype‹ stellt eine Abwertung dessen dar, was hier geschieht. Ich glaube, wir erleben hier einen Paradigmenwechsel. Ich weiß, dass es eine Tendenz im Gesundheitssektor gibt, die glaubt, dass es bei Health 2.0 lediglich um Technologie geht, doch die digitalen Möglichkeiten sind nur eine Vorbedingung. Diese Publikation unterstreicht, dass wir wirklich in Richtung einer anderen Art von Gesundheitsversorgung unterwegs sind.«
2.13 RE shaping R adboud In fast allen meinen Vorträgen betone ich eines: »Hört auf, darüber zu sprechen, tut etwas.« Indem wir selber diesem Mantra folgten, konnten wir viele innovative Projekte umsetzen. Es liegt in der Natur der Sache, dass nicht alle erfolgreich waren, aber wir hatten immer mehrere gleichzeitig am Start, so dass doch einige erfolgreich überlebt haben (zumindest bisher). Als Inkubator für all diese Projekte dient uns das Radboud REshape & Innovation Center, aber sobald die Projekte eine gewisse Reife erreichen, lassen wir sie gehen, zurück ans Medizinische Zentrum der Radboud Universität, wo sie in reguläre Prozesse implementiert werden können. Selbstverständlich bleiben wir mit den Projekten verbunden, um sie zu betreuen und zu evaluieren. Aus der Erfahrung mit Innovationsprojekten, die nicht erfolgreich eingeführt oder skaliert wurden, haben wir unseren Innovationsprozess am REshape Center in drei Phasen unterteilt, die sich an die Methodologie der »Hype Cycles« von Gartner5 anlehnen: Design,
5 | Vgl. dazu http://www.gartner.com/technology/research/methodologies/ hype-cycle.jsp [Stand: 16.03.2014].
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Implementierung und Skalierung. Diese drei Phasen benötigen jeweils unterschiedliche Kompetenzen und Zugangsweisen. Und es ist wirklich schön zu sehen, wie diese Projekte ihren Weg finden in die täglichen Routinen von Pflegefachpersonen und Ärzten, von Verwaltungspersonen und der Geschäftsleitung. Wir erforschen ihre Evidenz, indem wir ihre Wirksamkeit wissenschaftlich untersuchen, und wir lassen unsere Vision und unsere Innovationen ins Curriculum der medizinischen Ausbildung einfließen. Und alles immer gemeinsam mit den Patienten, die mit uns am gleichen Tisch sitzen, meist zusammen mit ihren Familien, und so hoffentlich immer in Verbindung mit der informellen Pflege.
3 Vernetzte Gesundheit von Andréa Belliger
3.1 E inleitung »Vernetzte Gesundheit« drückt in einem Begriff – quasi reduced to max (reduziert auf das Wesentliche) – aus, was sich in unserer Welt in den letzten paar Jahren verändert hat, was Gesundheit und Krankheit heute bedeuten, welche Normen und Grundprinzipien im Umgang mit Gesundheit und Krankheit gelten und welche neue Rolle Patienten im Gesundheitssystem spielen. Wir leben in einer Netzwerkgesellschaft, einer Welt, die online und offline von Netzwerken geprägt ist. Wie in allen Gesellschaftsbereichen erleben wir deshalb auch im Gesundheitswesen gegenwärtig einen interessanten Paradigmenwechsel, den Wandel vom System- hin zum Netzwerkdenken. Netzwerke bilden heute den Hintergrund für die Auseinandersetzung mit den Themen Gesundheit und Krankheit. Der Umgang mit Gesundheit und Krankheit geschieht heute nicht mehr isoliert zwischen Arzt und Patient, zwischen health professional und Gesundheitskonsument, sondern stets in einem offenen und komplexen Netzwerk unterschiedlichster Akteure. Netzwerke sind flexible, nicht hierarchische, soziotechnische – also aus menschlichen und nicht menschlichen Akteuren bestehende – komplexe Gebilde von Assoziationen mit offenen Grenzen und eigenen Bedingungen des Mitmachens, der Konstruktion, Transformation und Erhaltung. Und Netzwerke haben ihre eigenen Normen: Konnektivität und Flow, Kommunikation, Transparenz,
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Partizipation, Authentizität, Menschlichkeit, Heterogenität und Variabilität. An diesen Normen werden heute Personen und Organisationen, Dienstleistungen, Produkte und Konversationen im Gesundheitswesen gemessen.
3.2 D as ver änderte K ommunik ationsverhalten Unser Kommunikationsverhalten hat sich in den letzten Jahren ziemlich verändert. Blogger enthüllen private, manchmal sogar intime Details aus ihrem Leben, auf Youtube lassen sich die Videomitschnitte der letzten Party abrufen und auf Facebook und anderen Plattformen wird munter und öffentlich drauflos geliked und gegruschelt … (gruscheln ist übrigens eine Mischung aus grüßen und kuscheln). Diese Entwicklung ist erstaunlich. Während noch vor 30 Jahren die Angst vor dem Überwachungsstaat herrschte, die Volkszählung oder Fichenaffäre1 vieldiskutierte Themen waren und jeder darauf bestand, seine Daten nicht preiszugeben, weil ansonsten der Staat viel zu viele Informationen über die Bürger hätte, werden heute offenbar allzu bereitwillig persönliche Informationen und Begebenheiten, Vorlieben und Leidenschaften ins Web gestellt. Andererseits sind heute die Gefährdungen der Privatsphäre aber so groß wie nie: Videoüberwachung, Internetnutzungsprofile, mobile Rufdatenerfassung, Vorratsdatenspeicherung, Identitätsmanagement, Online-Fahndung und, nicht zu vergessen, internationale Spionageaffären. Fast täglich berichtet die Presse über diese Thema und trotzdem lässt dieser Umstand die meisten Nutzer kalt, den Umgang mit digitalen Medien beeinflussen diese Meldungen 1 | Der sogenannte Fichenskandal (auch Fichenaffäre) ist ein Skandal der neueren Schweizer Geschichte in der Endphase des Kalten Krieges. Fiche ist die französische Bezeichnung für Karteikarte. Davon abgeleitet hat sich in der Schweiz das Wort «Fichenstaat» als Umschreibung für einen «Schnüffelstaat» gebildet. Etwa 900.000 Staatsschutz-Fichen wurden zwischen 1900 und 1990 angelegt, sie befinden sich heute im Bundesarchiv.
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kaum. Auf sozialen Netzwerkplattformen und anderen Medienformaten herrscht vielmehr eine gewisse Begeisterung über mediale Selbstdarstellung. Und es ist doch schon so: Wenn man in Google den eigenen Namen eingibt und nichts findet, dann ist das doch irgendwie bedenklich! Dienstleistungen in den Bereichen eBusiness, eBanking, eShopping oder eLearning werden online abgewickelt. Online-ShoppingPortale informieren aufgrund von Kundenprofilen gezielt und personalisiert über neue Angebote oder Aktionen. So finden wir heute nicht nur das beste Reiseangebot oder den billigsten Flug, sondern den passenden Studienplatz, einen neuen Job, Geld für das nächste Kunstprojekt, Freunde und vielleicht sogar den Lebenspartner online. Die Grenzen zwischen virtuellen Räumen und real existierenden Gegebenheiten sind in den letzten Jahren fließend geworden: Google Earth bietet mir einen direkten Blick in den Garten meines Nachbarn; Amazon kennt mein Kundenprofil, weiß, was ich geschäftlich wie privat gerne lese, und macht mir entsprechende Vorschläge, was mich interessieren könnte; die Businessplattformen Xing oder LinkedIn kennen mein geschäftliches Beziehungsnetzwerk und dank diesen Plattformen weiß ich, was meine Geschäftskontakte gerade tun, und sie wissen es von mir. Und der Webdienst 23andMe kennt sogar mein genetisches Profil. Für lediglich 99 Dollar habe ich mein Genom analysieren und im Web veröffentlichen lassen. Ich habe nun über eine persönliche Webumgebung nicht nur Zugriff auf meine genetisch veranlagten Krankheitsrisiken, sondern weiß auch, ob ich Trägerin gewisser Genveränderungen bin und auf welche Medikamente ich etwa mit Unverträglichkeiten reagiere. Im Rahmen des Angebots »Sharing & Community« kann ich weltweit nach Menschen suchen, die genetisch mit mir verwandt sind. Dies sind nur ein paar Beispiele, um aufzuzeigen, wie sich unser Kommunikationsverhalten und damit die Nutzung unseres Leitmediums, des Internets, in den letzten Jahren verändert haben. Diese Veränderung der Informations- und Kommunikationsgewohnheiten hat nicht zuletzt mit der fortschreitenden Entwicklung
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des Internets zu tun. Das Web hat sich in den letzten Jahren von einem Medium der Informationspublikation hin zu einer Kommunikationsplattform entwickelt. Diese Entwicklung wird als Web 2.0 bezeichnet. Facebook, Youtube, Plattformen wie Xing, LinkedIn oder Pinterest, Blogs, Wikis, Twitter und Hunderte von anderen, zumeist kostenlosen Applikationen gehören dazu. Aus einem Trend, der 2005 begonnen hat, ist eine Bewegung geworden. Das Interessante und Neue an dieser Entwicklung kommt in den Begriffen »social software« und »soziale Netzwerke« zum Ausdruck. Treiber der Entwicklung ist – wie der Name sagt – nicht so sehr eine technologische Innovation, sondern eine soziale Bewegung. Im Zentrum des Web 2.0 steht eine einfache, aber bestechende Philosophie, jene des Teilens, Mitteilens, des Interagierens und des Partizipierens. Zusammenfassend könnte man sagen: Wenn das Web 1.0, also das Internet bis etwas 2004, die Vernetzung von Dokumenten war, dann ist Web 2.0 ab 2005 die Vernetzung von Personen. Ein Blick auf die Nutzer des Web 2.0 und sozialer Netzwerke zeigt, dass es sich dabei längst nicht mehr nur um die computerverrückten Kleinen handelt. Zunehmend gesellt sich eine andere Generation dazu, die so genannten silver surfer, Menschen ab 60. Die silver surfer gehören zur am schnellsten wachsenden Population, wenn es um die Nutzung sozialer Medien geht. Web-2.0-Anwendungen basieren auf dem Willen, gemeinsam mit anderen Inhalte herzustellen oder zu teilen, egal ob es sich dabei um Wissen, Kurioses, Videos, Musik oder Gesundheitsinformationen handelt. Das Web 2.0 ermöglicht es, einen besonderen Sozialraum, einen Mix aus physischer und virtueller Realität zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zu schaffen, in dem neue Formen der persönlichen und sozialen Identität und neue Dienstleistungen ganz unterschiedlicher Art realisiert werden können. Physische und virtuelle Realität fließen ineinander über und bilden eine Kontinuität, die als mixed reality 2 bezeichnet wird. 2 | Unter mixed reality werden Umgebungen oder Systeme zusammengefasst, die die reelle (physische) Welt mit einer virtuellen Realität vermischen.
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3.3 N e t zwerknormen Wir leben in Netzwerken. Und es sind Netzwerke, die nicht nur Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Bildung beeinflussen, sondern auch unsere Art, mit Gesundheit und Krankheit umzugehen. Wie die vorangegangene Industriegesellschaft, so hat auch die heutige Netzwerkgesellschaft ihre eigenen Strukturen und ihre eigene Institutionen, ihre Normen und Prinzipien. Wie beeinflussen die uns umgebenden Netzwerkstrukturen unser Leben und unsere Welt? Welche Normen und Prinzipien treiben Netzwerke an? Wie wirken sich diese neuen Verhaltensregeln auf unseren Umgang mit Gesundheit aus? Auf Basis verschiedener Analysen und Studien (Castells 2001; Latour 2007; Tapscott 2008) lassen sich einige konstitutive Prinzipien und Normen der Netzwerkgesellschaft feststellen. Es sind dies: Konnektivität, Flow, Kommunikation, Transparenz, Partizipation, Authentizität und Flexibilität. Es handelt sich dabei aber nicht um eine vollständige Auflistung aller wesentlichen Eigenschaften und Strukturprinzipien von Netzwerken als solche, sondern vielmehr um Prinzipien, die einerseits Kommunikationsund Handlungsstrukturen formen und leiten und die andererseits als normative Richtlinien für die Teilnahme an sozialen Prozessen – auch im Gesundheitswesen – dienen. Im Folgenden schauen wir uns diese Normen etwas näher an. Die ersten zwei Netzwerknormen sind Konnektivität und Flow und meinen so viel wie: »vernetze dich und lass Informationen fließen«.
3.4 K onnek tivität Konnektivität bedeutet »Vernetztsein«. Wir sind in der Tat ziemlich vernetzt. In der Schweiz sind über 85 Prozent der Gesamtbevölkerung im Internet, in Deutschland 84 Prozent und in Österreich 81 Prozent (Broadband Commission for Digital Development 2013). Rund drei Viertel der Schweizer Onliner sind in mindestens einem
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sozialen Netzwerk angemeldet. 70 Prozent sind aktive Nutzer. Über drei Millionen Schweizer – also rund 40 Prozent der Bevölkerung – nutzen Facebook. Bei den unter 30-Jährigen sind sogar 96 Prozent Mitglied in einem sozialen Netzwerk. Global bedeutet dies rund eine Milliarde Facebook-Nutzer. Das ist nur Facebook, wir haben hier die anderen social networks noch nicht einmal betrachtet. Schätzungen zufolge werden in den nächsten zehn Jahren über 66 Prozent der Weltbevölkerung Internetzugang haben. Dies ermöglicht völlig neue Formen der Interaktion und Kommunikation. Vielleicht kennen Sie das Projekt Virtual Choir von Eric Whitacre3, das als ein kleines Experiment mit den Möglichkeiten sozialer Netzwerke begann. Der Komponist und Dirigent schrieb ein Chorstück, machte die Musiknoten dazu online zugänglich, und jeder, der wollte, konnte sich am Projekt beteiligen, indem er beim Singen mit Mikrofon und Videokamera zu Hause vor dem Computer seine Stimme aufnahm. Die Videos wurden anschließend an Whitacre zurückgeschickt, der sie aggregiert zu einem virtuellen und weltumspannenden Chor zusammenfügte und als Video auf Youube stellte. Mehrere tausend Menschen, die sich noch nie live getroffen haben, nie gemeinsam im gleichen Raum oder zur gleichen Zeit anwesend waren, erschaffen gemeinsam Musik. Dieser Chor war unglaublich erfolgreich. Über vier Millionen Menschen haben sich allein das Video zum Stück »Lux Aurumque« seit 2010 auf Youtube angesehen. Und so kitschig das Ganze auch daherkommt, so treffend ist es doch als Bild für das Prinzip der Konnektivität, das sich auch im Umgang mit Gesundheit und Krankheit zeigt.
3 | Vgl. dazu http://ericwhitacre.com/the-virtual-choir und Eric Withacres Rede anlässlich der TEDTalks 2011 auf http://www.ted.com/talks/eric_whit acre_a_virtual_choir_2_000_voices_strong.html [Stand: 16.03.2014].
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3.4.1 ePatienten und Doktoren 2.0 Dass Gesundheitsinformationen zunehmend via Internet erschlossen werden, ist keine neue Sache. Über 80 Prozent der Internetnutzer nutzen das Web zur Recherche nach gesundheitsbezogenen Themen (vgl. z.B. die Studie Swisscom 2011). Patienten überprüfen ihre Diagnosen vermehrt online und sprechen ihren Arzt auf die Informationen aus dem Netz an. Und diese recherchierten Informationen verändern das Verhalten der Patienten. Mehr als ein Drittel der Patienten hat deshalb bereits einen Arzttermin vereinbart oder abgesagt oder die Einnahme von Medikamenten geändert. Auch Angebote zur primären Prävention kommen heute ohne das Netz nicht mehr aus. Turnschuhe z.B., die via Smartphone-App die Distanz und Geschwindigkeit beim Joggen messen, OnlineCommunities zur Bekämpfung von Übergewicht oder mein persönlicher virtueller Personaltrainer Max, der mir freundlicherweise von meiner Krankenversicherung zur Verfügung gestellt wurde, damit ich regelmäßig Sport treibe. Konnektivität bedeutet aber, dass Patienten und Gesundheitskonsumenten heute längst nicht mehr nur digital informiert, sondern zunehmend digital vernetzt sind. Online-Health-Communities wie PatientsLikeMe, CureTogether oder Acor, auf denen Patienten sich selbst organisieren, austauschen und moralisch unterstützen, weisen enorme Wachstumszahlen auf. Der Umgang mit Gesundheit und Krankheit geschieht zunehmend in sozialen Netzwerken. Krank sein bedeutet in der heutigen Welt nicht mehr, isoliert zu sein, sondern verbunden und vernetzt mit vielen Menschen, die sich – sei es als Patient oder health professional – mit der gleichen Krankheit auseinandersetzen. Aber nicht nur Patienten, sondern auch Ärzte und Pflegepersonen sind zunehmend vernetzt, tauschen sich in Communities aus wie etwa DocCheckFaces, auf dem über 900.000 deutschsprachige health professionals ein Profil angelegt haben, twittern zu medizinischen Themen und besuchen Konferenzen mit Namen wie »Doctors 2.0 & You«.
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3.4.2 Pharma 3.0 Unter dem Begriff »Pharma 3.0« vernetzt sich auch die Pharmabranche zunehmend und direkt mit dem Endkunden und Patienten. Und die Businessmodelle entwickeln sich weg von BlockbusterMedikamenten. Die Lloyds Pharmacy z.B. stellt einen Online-Arzt, Dr. Tom, inklusive Labor zur Verfügung, der via Online-Fragebogen und Online-Konsultation ärztliche Rezepte ausstellt und direkt dem Patienten nach Hause liefert. Pharmaunternehmen erhalten über diese neuen Kanäle direktes Feedback zu Medikamenten und Therapien, können die Anwendung und Nutzung von Medikamenten besser kontrollieren und dadurch den Fokus – so die Hoffnung – vermehrt auf health outcomes 4 richten. Pharma 3.0 ist in den letzten Jahren zu einem Begriff für das Interesse der Pharmaunternehmen an umfassenden health outcomes mittels Patientendialog und mit Hilfe eines Netzwerkes von anderen Leistungserbringern im Gesundheitssystem geworden. Konnektivität bedeutet: Wir haben heute Zugang zu allem Wissen der Welt. Wer Information sucht, schlägt bei Google oder Wikipedia nach, was in zehn Sekunden ermöglicht, wozu früher der Gang zur Bibliothek nötig war. Information und Wissen ist in unermesslicher Fülle für jeden da. Sie sind nicht nur den Experten vorbehalten. Aber das Netz verbindet nicht nur Menschen mit Informationen, sondern Menschen mit Menschen. Interessant in diesem Zusammenhang ist ein Blick auf den Bereich Bildung. Auch dort setzt man sich mit dem Phänomen der Vernetzung auseinander. Man spricht von einer neuen Art zu lernen, von neuen Möglichkeiten, mit Wissen umzugehen, und sogar einer dazu passenden neuen Lerntheorie, dem so genannten Konnektivismus (Downes 2012). Konnektivismus ist eine relativ junge Theorie, die vom kanadischen Lerntheoretiker George Siemens entwickelt wurde. Anders als bestehende Lerntheorien sieht der Kon4 | Unter health outcome versteht man das Endergebnis einer Behandlung oder eines Eingriffs.
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nektivismus den Mensch nicht als isoliertes, sondern als vernetztes Individuum. Dieser Theorie zufolge ist Lernen nicht etwas, das ein Individuum allein tut, sondern der Lernende ist verbunden mit anderen Personen, Lernenden und Lehrenden, mit Informationsressourcen, Bildungsinstitutionen und sogar mit prospektiven Arbeitgebern. Lernen ist nach Ansicht der Konnektivisten etwas, das im Netzwerk geschieht. Die Tätigkeiten der verschiedenen Akteure im Netz beeinflussen einander gegenseitig und tragen dazu bei, dass alle sich ändern. Das ganze Netzwerk »lernt«. Das Netzwerk und nicht das Individuum ist maßgeblich für das Lernen. Ähnlich verhält es sich mit Gesundheit. Gesundheit ist nicht etwas, das ein Individuum allein mehr oder weniger »hat«, sondern etwas, das über ein ganzes Netzwerk von Akteuren verteilt ist. Konnektivität im Gesundheitswesen lässt sich in folgenden Punkten zusammenfassen: Patienten und Gesundheitskonsumenten sind nicht als isolierte, sondern vernetzte Individuen zu betrachten. Soziale Netzwerke sind einflussreich und ermöglichen neue Formen des Umgangs mit Gesundheit und Krankheit und neue Formen medizinischer Dienstleistungen. Die Akteure in einem vernetzten Gesundheitssystem sind anders zusammengesetzt als bisher, denn in einem Netzwerk kann jeder Akteur zu einem hub, einer zentralen Verbindungsperson von Akteuren im Netzwerk, werden – auch Patienten. Soziale Netzwerke ermöglichen neue Formen der Kommunikation und Kooperation.
3.5 F low Eine zweite Netzwerknorm könnte als Flow (Fließen), als kontinuierliche Bewegung von Inhalten durch das Netzwerk entlang der vielfältigen Verbindungen bezeichnet werden. Flow bedeutet, dass in Netzwerken alles in Bewegung ist: Güter, Dienstleistungen, Menschen, Informationen, Geld usw. Konnektivität in der Netzwerkgesellschaft ist derart komplex, flexibel und offen, dass dieses Fließen in der Regel nicht vollständig voraussehbar und kontrollier-
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bar ist. Man muss sich darauf einlassen, dass in komplexen, nicht linearen Netzwerken Transaktionen, Interaktionen und Kräfte zur Wirkung kommen, die sich nicht nach den geschlossenen, zentral steuerbaren Organisationsmustern der Hierarchie richten. Flow bedeutet, dass auch Informationsflüsse nicht vollständig identifizierbar oder kontrollierbar sind. Das kann zur Folge haben, dass z.B. vernetzte Patienten über mehr Informationen oder besseren Zugang zu Wissensressourcen verfügen als nicht vernetzte health professionals. Online-Communities für Personen, die von einer bestimmten Krankheit betroffen sind, sammeln Informationen von überall auf der Welt, durchforsten wissenschaftliche Publikationen oder Forschungsberichte über neue Medikamente, die noch nicht publiziert sind. Sie vergleichen untereinander ihre Erfahrungen mit Medikamenten und Therapien und verfügen somit über Informationsressourcen, über die ein einzelner Arzt so nicht verfügt. Damit werden Online-Communities zu riesigen Wissensnetzwerken. In der Intelligenzforschung wird interessanterweise unterschieden zwischen »flüssiger« und kristalliner« Intelligenz. Kristalline Intelligenz fasst alle geistigen Fähigkeiten zusammen, welche der Erfahrung entspringen oder kulturell tradiert sind. Flüssige Intelligenz hingegen bezeichnet die Geschwindigkeit, mit der wir Informationen erfassen, anwenden, neue Informationen aufnehmen und lernen. Diese Intelligenz gewährleistet unsere Orientierungsfähigkeit in neuen Situationen, eine grundlegende Kompetenz in der vernetzten Gesellschaft. Analog zur flüssigen Intelligenz haben Netzwerke eine fließende Dynamik, sie kennen keine starren Grenzen wie klassische Systeme diese etwa haben. Auch Organisationsgrenzen im Gesundheitswesen werden längst bloggend und twitternd unterwandert, gelockert und erweitert. Ich kann z.B. meine Röntgenbilder oder mein MRI digital erhalten und diese bei Bedarf im Internet posten und meine Online-Community bitten, die Interpretation meines Arztes zu überprüfen. Ich kann die Behandlungsabläufe im Krankenhaus in meinem Blog posten und Kommentare von anderen health professionals über die Qualität der Behandlung erhalten. Patienten können Ärzte, Krankenhäuser, Krankenkassen
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und andere Leistungserbringer im Gesundheitssystem auf OnlinePortalen bewerten und vergleichen. Auch health professionals haben die Möglichkeit, sich in Bezug auf eine Diagnose oder Therapie unkompliziert Rat von anderen Spezialisten einzuholen, und Krankenhäuser können kontrollieren, ob entlassene Patienten ihre Medikamente korrekt einnehmen. Die Dämme der geschlossenen Institutionen im Gesundheitssystem sind durchbrochen und die Informationsströme fließen in alle Richtungen.
3.5.1 Seamless Health – Mobile Health Die Netzwerknormen Konnektivität und Flow, die fließende Dynamik von Kommunikation in der Netzwerkgesellschaft, legen vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung mobiler Technologien im Gesundheitswesen nahe, sich über das Thema seamless health, nahtlose Gesundheit, ein paar Gedanken zu machen. Mit seamless health bezeichnen wir die Tatsache, dass die Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit zu einem Kontinuum geworden ist, das nicht mehr an den Grenzen des Krankenhauses oder der Arztpraxis haltmacht, sondern sich über verschiedene Orte, Zeiten, Technologien und soziale Settings, formell oder informell hinweg bewegt und ohne Unterbrechung oder Lücke alle relevanten Informationen und Ressourcen zu einer Krankheit, einer Therapie oder einer Behandlung zusammenfügt. Hier spielt der Megatrend der Mobiltechnologien und von mHealth bzw. mobile health eine große Rolle. Kein Technologietrend hat sich rasanter etabliert als die Mobilkommunikation. 3,2 Millionen Schweizer und die Hälfte der 9- bis 16-jährigen Jugendlichen greifen via Smartphone und Tablet-PC auf das Web zu. Seit 2013 gibt es weltweit erstmals mehr Mobilgeräte als Menschen, und wir sind die erste Generation, die überall einen kostenlosen WLAN-Internetzugang erwartet. Die intuitiv zu bedienenden Mobilgeräte sind in wenigen Jahren zu Türöffnern für den Zugang zu Informationen, Kommunikation und Partizipation für ganz unterschiedliche Generationen geworden.
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Verschiedenste Tätigkeiten verlagern sich immer mehr auf mobile Endgeräte. eMails werden gelesen und beantwortet, neue Kontakte geknüpft, Fotos mit anderen geteilt oder Videos geschaut. Mobilgeräte sind in erster Linie social tools, sie haben den ubiquitären Zugang zum Internet eröffnet. Und natürlich bedienen sich unter dem Begriff mobile health oder mHealth auch Gesundheits- und Wellnessaktivitäten zunehmend mobiler Technologien. mHealth steht dabei für alle Dienstleistungen in den Bereichen Prävention, Diagnose, Therapie, Genesung und Rehabilitation, die auf Basis von Biosensor-, Mobilfunk- und Internettechnologien operieren. mHealthServices und -Anwendungen erheben, speichern, verarbeiten und verbreiten unterschiedliche gesundheitsbezogene Daten. Mobile Geräte und spezielle Softwareanwendungen, insbesondere in Form von Apps, registrieren Vitaldaten, führen automatisierte Funktionen aus und ermöglichen Kommunikation. Dabei nutzen sie in vielen Fällen Sensortechnologien zur Messung physikalischer oder chemischer Eigenschaften wie etwa Beschleunigungs-, Temperatur- oder Pulsmesssensoren, Sensoren zur Messung des Leitungswiderstands, GPS-Ortungstechnologien zur Aufzeichnung von Bewegung oder Sensoren zur Messung von Hirnströmen bzw. des Hirnstrompotentials z.B. für die Erfassung des Schlafrhythmus oder des Gemütszustandes. Diese Sensoren werden in ganz unterschiedliche mobile Geräte wie WLAN-Waagen, Blutzucker- und Blutdruckmessgeräte mit Bluetooth, in Mobiltelefone oder andere Geräte eingebaut, die dann Puls, Schrittzahl, Höhendifferenzen, Kalorienverbrauch, Blutzucker usw. messen und die Daten an den eigenen mobilen oder stationären Rechner oder direkt an die medizinische Betreuungsperson senden. Ein Diabetiker kann z.B. laufend seine Blutzuckerwerte mit einem mobilen Gerät messen und die Daten direkt seinem Arzt oder an sein webbasiertes Patientenportal senden. Alle Personen, welche für seine Betreuung zuständig sind und mit ihm im Austausch stehen, seien es Ärzte, Pflegefachpersonen, Familienangehörige oder andere Diabetiker in einer Online-Patientencommunity haben, falls dies vom Betroffenen so erwünscht ist, überall und je-
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derzeit Zugang zu seinen Daten und können im Zweifelsfall therapeutisch oder unterstützend intervenieren. Studien attestieren diesen neuen Möglichkeiten der Datenerfassung, -auswertung und -kommunikation ein Potential der Zeit- und Kosteneinsparung, der Reduktion von Fehlern und der Personalisierung von Präventions- und Gesundheitsdienstleistungen, was mHealth zu einem der bedeutendsten Zukunftstrends macht. Das weite Feld von seamless und mobile health lässt sich grob in die vier Bereiche mobile Health-Apps, mobile Gesundheitsgeräte, mobile Services und eine Reihe von Trends unterteilen.
3.5.2 Mobile Health-Apps Der Markt für mobile Health-Apps für Smartphones wächst kontinuierlich. Vor allem in den USA und Kanada lässt sich auf dem Sektor der Gesundheitsfürsorge eine rasante Entwicklung beobachten. Inzwischen sind über 40.000 eHealth-Programme auf dem Markt, die speziell für Tablet-PCs und Smartphones konzipiert sind. Einsatzgebiete sind beispielsweise die Blutdrucküberwachung beim Fitnesstraining, Diätunterstützung, mentale »Wellnessprogramme«, Selbsthilfe und Therapieunterstützung bei Schlafstörungen, Depressionen, Psychotherapien, Diabetes, Herz- oder Asthmaerkrankungen. Ein paar Zahlen aus dem Jahr 2012 (vgl. Fox/Duggan 2012): 247 Millionen Menschen in den USA oder Kanada haben sich eine Gesundheitsapplikation auf ihr Smartphone geladen, doppelt so viele wie im Jahr 2011. Der gesamte Smartphonemarkt wächst jährlich um 39 Prozent. Von den heute 18 bis 29 Jahre alten Personen nutzen gemäß der mHealth-Studie von Pew Internet schon 15 Prozent mHealth-Programme, aus der Gruppe der über 65-Jährigen immerhin fünf Prozent. Die US-Bundesbehörde zur Überwachung von Nahrungs- und Arzneimitteln, FDA, hat 2013 einen Genehmigungsprozesses für alle neu veröffentlichten Applikationen im Bereich Gesundheit eingeführt, und britische Ärzte verschreiben Apps wie Medikamente.
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3.5.3 Mobile Gesundheitsgeräte Neben den unzähligen Apps gibt es auch eine unglaubliche Fülle an mobilen Gesundheitsgeräten, wie ein Blick in den nächsten Apple-Laden zeigt: Blutdruckmessung via Mobiltelefon, Überwachung des Babys über eine interaktive Fußmanschette, Blutzuckermessung und -monitoring via Mobiltelefon, smartwatches für die Überwachung von Stress nach Traumata, z.B. in der Folge eines Kriegseinsatzes, mobile Ultraschallgeräte für den Einsatz in Entwicklungsländern oder interaktive Pillendosen, die zu leuchten beginnen, wenn die Pille eingenommen werden muss. Wenn das nicht passiert, beginnen sie zu piepsen, immer lauter, dann senden sie eine SMS, und wenn weiter nichts passiert, werden Familie und Freunde per eMail informiert.
3.5.4 Mobile Dienstleistungen Auf diesen Mobiltechnologien und mobilen Geräten bauen eine ganze Reihe von Dienstleistungen wie eConsulting, ePrescription oder Telemedizin auf. Videokonsultationen wie z.B. das niederländische Angebot FaceTalk 5 ermöglichen über eine sichere Verbindung eine Tablet-PC-Konsultation mit Patienten oder den Austausch zwischen entfernten Experten. Das Produkt wird insbesondere in der Betreuung von chronisch kranken Personen, wie etwa Parkinsonpatienten, eingesetzt. Neben Apps, Geräten und Dienstleistungen ist mHealth ein Ort für ständige Innovation. Im Moment liegen Themen wie Sprachsteuerung z.B. bei elektronischen Gesundheitsakten, transient electronics – elektronische Sensoren, die sich nach getaner Arbeit im Körper auflösen –, Biosensoren zur nicht invasiven Datenmessung, künstliche Intelligenz, die »Gamifizierung« im Bereich Prävention und Therapie sowie ambient assisted living (Assistenzsysteme für ein gesundes und unabhängiges Leben) im Trend, um nur ein paar Bei5 | Vgl. dazu http://www.facetalk.nl [Stand: 16.03.2014].
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spiele zu nennen. Und angetrieben von den Entwicklungen im Bereich mHealth rücken auch weitere Trendthemen ins Blickfeld wie etwa die Quantified-Self-Bewegung6, Big Data, health data analytics 7, ePatient crowdsourcing 8 oder die personalisierte Gesundheit, auf die wir weiter unten noch zu sprechen kommen. Der Markt für mHealth-Anwendungen hat sich in den letzten Jahren rasch entwickelt und zeichnet den zeitlichen Entwicklungsverlauf von der initialen Test- und Versuchsphase (bis 2008), über die gegenwärtige Kommerzialisierungsphase (2008–2015) bis zur künftigen Implementierungsphase (ab 2015). Studien9 attestieren diesen neuen Möglichkeiten der Datenerfassung, Datenauswertung und Kommunikation ein Potential der Zeit- und Kosteneinsparung durch effizienteres Kommunikationsund Workflowmanagement, partizipative Entscheidungsfindung und neue Möglichkeiten der Personalisierung von Präventions- und Gesundheitsdienstleistungen. Indem die Gesundheitsversorgung zunehmend »communitybasiert«, in das Alltagsleben der Patienten und Bürger integriert wird, fördert mHealth patientenzentrierte 6 | Die Quantified-Self-Bewegung ist ein Netzwerk aus Anwendern und Anbietern von Methoden sowie Hard- und Softwarelösungen, mit deren Hilfe umwelt- und personenbezogene Daten aufgezeichnet, analysiert und ausgewertet werden können. Ein zentrales Ziel stellt dabei der Erkenntnisgewinn u.a. zu persönlichen, gesundheitlichen, sportlichen, aber auch gewohnheitsspezifischen Fragestellungen dar. Vgl. Kap. 3.7.3. 7 | Analyse und Auswertung grosser Datenmengen aus dem Gesundheitsbereich. Vgl. Kap. 3.7.4. 8 | Dieser Ansatz in der medizinischen Forschung misst dem Patienten eine neue Rolle zu. Ausgerüstet mit Self-tracking-Technologien, Informationszugang, der Vernetzung in Online-Communities und der Möglichkeit, ihre medizinischen Daten ins Netz einzuspeisen, tragen Patienten maßgeblich dazu bei, die Qualität und den Umfang medizinischer Forschung zu verbessern. Vgl. Kap. 3.7.5. 9 | Z.B. PricewaterhouseCoopers (2012), Deloitte (2012), research2guidance (2013), Fox/Duggan (2012).
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Modelle von Gesundheitsdienstleistungen. Treibende Kraft hinter vielen Entwicklungen im Bereich mHealth sind interessanterweise häufig die Patienten selbst. Interessant an diesem Trend ist, dass das Potential von mHealth nicht allein auf technologische Innovationen in Software, Hardware und deren Vernetzung zurückzuführen ist, sondern auf eine tiefgreifende Veränderung des gesellschaftlichen Kommunikationsverhaltens. Im Zentrum steht die Vision einer offenen, dezentralen, verteilten und interaktiven Kommunikation, die das Teilen, Mitteilen, Interagieren und Partizipieren in den Vordergrund stellt. mHealth nimmt in diesem Sinne keine Sonderstellung ein, sondern ist als bedeutende Tendenz im Gesundheitssystem zu verstehen, das in einen weltweiten sozialen Transformationsprozess hin zu einer Netzwerkgesellschaft eingebettet ist.
3.5.5 Healing Architecture – evidenzbasierte Gestaltung von Gesundheitsbauten Das Prinzip des Flows, der entgrenzte Umgang mit Gesundheit und mobile health bedeuten auch, dass wir uns Gedanken darüber machen, wie denn unsere Orte für Gesundheit und Krankheit, z.B. ein Krankenhaus der Zukunft, für eine vernetzte Patienten- und Health-professionals-Generation aussehen müsste. Der interessante Bereich der »Healing Architecture« (Nickl/Nickl-Weller 2013) an der Schnittstelle von Architektur, Kommunikationswissenschaft und Medizin beschäftigt sich mit der Konzeption und Gestaltung von gebautem Raum und dessen Auswirkung auf die Bewältigung und Überwindung von Krankheit. Im Zentrum steht die Frage, wie Architektur zur Heilung beitragen kann und wie Umgebungen geschaffen werden können, die den Menschen unterstützen, gesund zu werden und darüber hinaus auch gesund zu bleiben.
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3.6 K ommunik ation Eine der bedeutendsten Normen der Netzwerkgesellschaft neben Konnektivität und Flow ist Kommunikation. Soziale Netzwerke verlangen eine offene Form der Kommunikation, so genannte naked conversation. Kommunikation in der Netzwerkgesellschaft muss offen, selbstkritisch, respektvoll und ehrlich sein. Sie erinnern sich vielleicht an das Dell-Debakel 2005, das als Dell-hell in die Geschichte einging. Damals hat der US-Professor und Blogger Jeff Jarvis seinen Frust über den Kundenservice und die Produkte von Dell, einem der größten Computerhersteller der Welt, in seinem Blog niederschrieben. Dell hat ihn belächelt und ignoriert. Doch viele andere teilten sein Schicksal, waren wütend auf Dell und wollten Gerechtigkeit. Die Sache wurde viral und das Debakel war perfekt. Dell musste ein hohes Lehrgeld bezahlen. Die Verkäufe und die Aktienkurse sanken, das Image war angeschlagen, und als Folge davon übernahm Michael Dell wieder die Unternehmensführung. Oder erinnern Sie sich noch an die Aktion von Greenpeace 2010, die zur Krise des Schokoladenriegels Kitkat geführt hat? 2010 lancierte Greenpeace ein Video, in dem ein Büroangestellter beim Verzehr eines vermeintlichen Kitkat-Riegels gezeigt wird. Statt eines Riegels isst er einen abgehackten Orang-Utan-Finger. Die Botschaft ist klar: Kitkat enthält Palmöl, dieses wird unter anderem in Indonesien produziert. Für die Produktionsflächen wird Regenwald abgeholzt und damit der Lebensraum der Orang-Utans zerstört. Das Video verbreitete sich im Netz in Windeseile und schon bald sind erste negative Beiträge auf der Facebook-Fanseite von Kitkat zu lesen. Auch Nestlé nimmt keine Stellung zu den Anschuldigungen, stattdessen verbot es das kritische Thema. »Das wird gelöscht. Es ist unsere Seite. Wir machen die Regeln. So war’s immer.« Allmählich wandte sich die ganze Fanbasis gegen Nestlé und begann Bilder und Videos mit blutverschmierten Kitkat-Logos hochzuladen. Als Folge davon schaltet Nestlé die Fanseite einfach ab. Doch Twitter-Kommentare und Blogeinträge ließen sich dadurch nicht verhindern.
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Solche so genannten Shitstorms –Empörungskampagnen – werden jedes Mal durch die mangelhafte Kommunikation ausgelöst. Einwegkommunikation ist passé. Dell hat damals gut reagiert: Sie luden Konsumenten zum Dialog ein und zeigten, dass Dell bereit war zuzuhören. Einige Institutionen im Gesundheitswesen haben diese Tendenz der offenen Kommunikation erkannt und kommunizieren via Social Media mit den Patienten und ihren Angehörigen. Die amerikanische Mayo Clinic tut dies sehr erfolgreich via Blog, Podcast, Diskussionsforen, Videokanal auf iTunes und Youtube, Facebook und Twitter.10 Auch Versicherungen und die pharmazeutische Industrie kommunizieren in sozialen Netzwerken aktiv. Viele Pharmafirmen nutzen etwa Twitter als Medium zur Krisenkommunikation oder twittern über Konferenzen und Studien. Dieser Kommunikationskanal ist sehr fragil und funktioniert nur, solange geeignete Informationen ins Netzwerk gestellt werden, der Gedankenaustausch gefördert wird und ein Dialog z.B. mit Patientengruppen stattfindet. Auffallend ist, dass Pharmafirmen eher zwitschern als zuhören. An Grenzen stieß die naked conversation der Pharmaindustrie und ihr Pharma-3.0-Ansatz bei der Facebook-Nutzung: Ab 2011 galten nämlich neue Nutzerregeln für Facebook-Konten. Neu mussten Firmen Kommentare auf ihren Facebook-Seiten zulassen. Die Reaktion: Mehr als 30 Unternehmen löschten ihre Facebook-Auftritte ganz, darunter Sanofi, Johnson & Johnson (Psoriasis 360), AstraZeneca und Merck. Sie fürchten nicht nur Kommentare enttäuschter Patienten, sondern öffentliche Beschreibungen von Medikamentennebenwirkungen – die nämlich müssten die Firmen sofort an die
10 | Vgl. dazu http://mayoclinic.org; http://podcasts.mayoclinic.org; http:// newsblog.mayoclinic.org; http://sharing.mayoclinic.org; https://www.face book.com/MayoClinic; https://twitter.com/mayoclinic; http://www.youtube. com/user/mayoclinic; vgl. auch: Mayo Clinic Center for Social Media unter http://network.socialmedia.mayoclinic.org/mccsm/ [Stand: 16.03.2014].
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Zulassungsbehörden weiterreichen. Mittlerweile sind die meisten aber wieder in den sozialen Netzwerken vertreten. Health professionals im deutschsprachigen Europa nutzen die neuen Medien noch sehr wenig für Patientenkommunikation. Auch die Digitalisierung ist noch nicht weit fortgeschritten. Der tipping point (Umkipp-Punkt) ist noch nicht erreicht. Interessante Beispiele gibt es aber genug aus anderen Ländern. Dr. Jay Parkinson in den USA z.B. verbindet online und offline medizinische Dienstleistungen. Dr. Ed ist die erste deutschsprachige Online-Arztpraxis. Und einige Krankenhäuser twittern bereits ganz aktiv. Kommunikation mit Ärzten und Pflegepersonen wird in vielen Studien als Hauptgrund für Patientenzufriedenheit und health outcomes genannt (Manary et al. 2013). In Europa wird diesem Thema noch wenig Beachtung geschenkt. Gefordert ist eine offene, ehrliche dialogische Kommunikation in allen Bereichen des Gesundheitssystems und unter allen Beteiligten.
3.7 Tr ansparenz Transparenz ist zu einer Grundnorm der Netzwerkgesellschaft geworden. Wer heute als Firma, Organisation, aber auch als Einzelperson nicht transparent ist, ist suspekt. Wenn z.B. Pharmamitarbeitende auf Wikipedia scheinbar anonym negative Medikamenteneinträge bereinigen, fliegt das sehr schnell auf – so geschehen mit Astra Zeneca, aber auch mit Regierungen, Scientology, dem Vatikan oder Disney. Das Thema Transparenz im Gesundheitsbereich ist extrem facettenreich und bildet den Hintergrund für einige interessante Entwicklungen und Herausforderungen im Gesundheitswesen, die bisher von den Hauptakteuren nur wenig berücksichtigt wurden: Produkt- und Servicetransparenz, Quantified-Self-Bewegung, Big Data, health data analytics und personalisierte Medizin sowie das Thema crowdsourced patient research.
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3.7.1 Produkt- und Ser vicetransparenz Transparenz bedeutet, dass heute jedes Produkt online und öffentlich geratet wird, egal ob Kaffeemaschine, Unternehmen, Hotel, Fluggesellschaft, Restaurant, Lehrperson und Schulen, Arzt, Krankenhaus oder Krankenkasse. Im Bereich der Wirtschaft hat die Forderung nach Transparenz die Art und Weise, wie Unternehmen mit Kunden umgehen, grundsätzlich verändert. Via Internet sind Kunden heute oft besser über Produkte und Dienstleistungen informiert als das Verkaufspersonal im Laden. Konsumenten sind zu »Prosumenten« geworden, zu aktiven Partnern im Innovations-, Herstellungs- und Vertriebsprozess, die sich für die Verbesserung der Qualität von Produkten und Dienstleistungen einsetzen. Konnektivität, Flow, Kommunikation und Transparenz ermöglichen es, dass Kunden sich aktiv in diese Prozesse einmischen. Partizipation und Entscheidungskompetenz von Kunden im Gesundheitssystem setzt Qualitätstransparenz und Vergleichbarkeit von Gesundheitsdienstleistungen voraus. Von zunehmender Bedeutung sind deshalb Onlineratingsysteme von Krankenhäusern, Arztpraxen und Kassen.11 Diese erhöhen die Transparenz, begünstigen den Wettbewerb und involvieren die Konsumenten in die Qualitätssicherung. Transparenz ist aber nicht nur bei den Produkten und Dienstleistungen gefordert, sondern auch im Umgang mit den persönlichen Daten und Informationen der Patienten.
3.7.2 Von Privacy zu Publicy – neuer Umgang mit persönlichen Daten Mit der Digitalisierung und Vernetzung im Gesundheitswesen und dem rasanten Aufstieg von Mobiltechnologie und cloudbasierten Lösungen werden immer mehr Patienteninformationen elekt11 | Vgl. z.B. http://RateMDs.com, http://medicosearch.ch, http://docinsider. de, https://www.HealthTap.com (Ärzte bewerten Ärzte) [Stand: 16.03.2014].
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ronisch gesammelt und verteilt. Desktops und Enterprise-Systeme werden wohl über kurz oder lang an Bedeutung verlieren und allmählich aus dem Gesundheitswesen verschwinden. Damit schließt das Gesundheitswesen nahtlos an eine IT-Entwicklung an, die auch in anderen Branchen zu verzeichnen ist. Obwohl in der Schweiz z.B. gegenwärtig nur etwa zwölf Prozent der frei praktizierenden Ärzte ihre Patientenakten elektronisch dokumentieren, ist allen klar, dass von Patientenseite der Druck zunehmen wird, medizinische Daten zugänglich zu machen und darüber hinaus die Schnittstellen zu anderen Leistungserbringern im Gesundheitssystem zu öffnen und die Daten freizugeben, damit Kooperation und Koordination optimiert werden können. Mit dieser Entwicklung stellt sich aber auch die Frage, wem denn nun die Daten, die z.B. mein Herzschrittmacher generiert, gehören.12 Wer soll aber darüber entscheiden können, wer welche Daten einsehen soll? Auf gesundheitspolitischer Ebene werden diese Fragen kontrovers diskutiert: Eine Offenlegung der Daten und Informationen zwecks effizienter Datenbearbeitung und Abrechnung fordern die Versicherer, die Bewahrung des Arztgeheimnisses die Ärzte und den unantastbaren Schutz des Patientengeheimnisses die Datenschützer und Patientenorganisationen. Die Bevölkerung hat – so zeigte z.B. bereits 2007 die Studie »Unsere Gesundheitsdaten im Netz« (Denzler 2008) – mit Blick auf Gesundheitsdaten ihre ganze eigene Meinung: Gesundheitskonsumenten und Patienten haben keine grundsätzlichen Ängste in Bezug auf die Digitalisierung ihrer Daten. Sie fordern aber berechtigterweise die volle Kontrolle und Verwaltung der eigenen Daten und wollen eigenständig je nach Verwendung über den Datenzugang entscheiden. Und der Slogan »Gimme my damn data!« von ePatient Dave deBronkart, Autor des ersten Beitrags in diesem Buch, drückt 12 | Vgl. dazu die Geschichte des Herzpatienten Hugo Campos unter http://w ww.youtube.com/watch?v=oro19-l5M8k und http://www.mddion line.com/blog/devicetalk/access-your-device-data-thatll-be-797 [Stand: 16.03.2014].
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die Erwartungen und Forderungen von ePatienten in Bezug auf ihre medizinischen Daten unmissverständlich aus. Dieses Verhalten im Umgang mit persönlichen medizinischen Daten und Gesundheitsinformation gibt einen Hinweis auf eine viel breitere gesellschaftliche Entwicklung im Umgang mit Daten, nämlich ein neues konzeptionelles Verständnis von Privatheit. Wir erleben quasi live einen soziokulturellen Wandel in Richtung Aufhebung der Leitdifferenz zwischen öffentlich und privat. Es ist ja nicht das erste Mal, dass sich die Vorstellung von Privatheit aufgrund des Einflusses von Medien verändert. Die Boulevardpresse breitet seit der Wende zum 20. Jahrhundert private Details von öffentlichen Personen, Berühmtheiten und Stars aus, deren Veröffentlichung früher für »unschicklich« gehalten wurde. Das Privatfernsehen hat dies mit Talkshows, Dokusoaps, Reality-TV und Castingformaten, in denen bis dahin unvorstellbare private Dinge öffentlich gemacht wurden, fortgesetzt. Mit dem Internet und insbesondere mit Web-2.0-Technologien geschieht nun ein weiterer Schritt. Die beiden Begriffe »privat« und »öffentlich«, die sich auf den Wertekanon der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts beziehen, werden heute überlagert durch so etwas wie eine Sozialsphäre oder eine Art »publicy« – nicht Publizität! –, als Gegenentwurf zu privacy, die weder dem Bereich des Privaten noch des Öffentlichen zugeordnet werden kann. Web-2.0-Anwendungen basieren auf dem Willen, mit anderen Inhalte zu teilen, egal ob Wissen, Kurioses, Videos, Musik oder eben Gesundheitsinformationen. Das Web 2.0 ermöglicht es dem Einzelnen, so einen eigenen Sozialraum zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zu schaffen. Diese Sozialräume entstehen dort, wo Nutzer ihre Erlebnisse, Gedanken, Erfahrungen und Meinungen mit ihrem sozialen Netzwerk teilen. Diese Sozialsphäre ist kein homogener Raum, sondern besteht aus unterschiedlichen sozialen Kontexten, in denen sich ein Individuum bewegt. Was ich meinen Geschäftspartnern auf der Plattform Xing an Informationen über mich mitteile, unterscheidet sich
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von jenen Informationen, die ich auf Facebook oder in meinem Blog öffentlich mache. In den unterschiedlichen Kontexten sind jeweils andere Informationen über mich öffentlich oder privat. Ich bewege mich also in verschiedenen Rollen in unterschiedlichen teilöffentlichen Kontexten oder Netzwerken, deren Größe, Struktur und Dauerhaftigkeit variiert. Anstatt an der Unterscheidung zwischen privat und öffentlich festzuhalten, sollten wir daher vielleicht zwischen verschiedenen sozialen Kontexten unterscheiden. Diese haben jeweils spezifische Normen, die die Weitergabe persönlicher Informationen regeln. Nur wenn diese Normen eingehalten werden, ist die Integrität des Kontextes und der darin organisierten Sozialbeziehungen gewährleistet. Man könnte dies als »kontextuelle Integrität« bezeichnen. Aufgabe von Datenschutz und Privacy-Bemühungen ist es, diese kontextuelle Integrität der Daten und die informationelle Selbstbestimmung der Patienten zu sichern, das heißt, zu gewährleisten, dass die Informationen in dem Kontext bleiben, in dem Patienten oder Gesundheitskonsumenten diese geäußert haben. In diesem Sinn ist der traditionelle Umgang mit Gesundheitsdaten, wie er sich z.B. im Arztgeheimnis manifestiert, in der Tat ein Auslaufmodell, da es nur das Entweder-oder zwischen öffentlich und privat kennt und die netzwerkartige Sozialsphäre auf den engen Kontext der Arzt-Patient-Beziehung reduziert. Diese neuen Entwicklungen im Umgang mit Gesundheitsdaten bilden in Kombination mit den technologischen Entwicklungen im Bereich mHealth den Ausgangspunkt für einige weitere interessante Entwicklungen und Herausforderungen im Gesundheitswesen, die bisher von den Hauptakteuren nur wenig berücksichtigt und adressiert wurden: die Quantified-Self-Bewegung, das Boomthema Big Data und damit verbunden die Themen health data analytics und personalisierte Gesundheit sowie das facettenreiche Thema ePatient crowdsourcing.
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3.7.3 Die Quantified-Self-Bewegung Mobiltechnologien, Cloudspeicher, vernetzte Geräte, Biosensoren und eine kaum überschaubare Fülle an Health-Apps machen es heute möglich, die eigene sportliche oder gesundheitliche Entwicklung anhand von Daten nachzuvollziehen und zu steuern, eine Tätigkeit, die früher auf Chroniker oder Spitzensportler beschränkt war. Der Slogan der Quantified- Self-Bewegung lautet: »Self-Knowledge through numbers« – bessere Gesundheit durch Überwachung der eigenen Vitalfunktionen. Menschen messen heute alles: Ich z.B. messe den Puls mit meinem iPhone, greife online und mobil auf meine Genomdaten zu und mein kleiner Fitbit misst nicht nur Schritte, Höhenmeter und Kalorien, sondern auch ganz zuverlässig meinen Schlafrhythmus und fasst das Ganze in meiner ureigenen Langzeitstudie in meinem »Health Self-Management Tool« zusammen. Ich mess’ mich, also bin ich. Neben Anwendungen im Bereich der Vitalfunktionen findet der Grundgedanke der Quantified-Self-Bewegung seine Umsetzung auch in der Betrachtung von täglichen Routinen und ihrer Auseinandersetzung mit unserer Umwelt. Alltägliches wie eMailverkehr, Telefonnutzung oder die Häufigkeit von Meetings und damit verbundenem Stress oder das eigene Essverhalten können so in den Fokus der Analyse rücken. Neben der Erfassung von Daten zur Selbstbeobachtung zielen viele Produkte auf die Motivation des Anwenders ab und versuchen diesen zu einem von ihm angestrebten Verhalten zu animieren. Gesamtgesellschaftlich gesehen ist die Quantified-Self-Bewegung in eine viel weiter zu fassende Do-it-yourself-Bewegung einzuordnen, eine Bewegung, die sich von einer neuen auf Wissen und Leidenschaft basierenden Ökonomie veränderte Arbeitswelten, ein besseres Leben und einen anderen Lifestyle für breite Schichten der Gesellschaft erhofft. Personaltracking als Vernetzung mit seinen eigenen Daten wird, so die Voraussage, das Gesundheitswesen ähnlich verändern wie
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der PC damals die IT: Er befreite sie aus der Macht einiger Weniger und machte sie zu einem Tool für die Massen. Mit der Zugänglichmachung und Demokratisierung persönlicher Gesundheitsdaten schaffen die unzähligen Start-ups mit ihren Visionären und Entrepreneuren eigentliche »enabling tools« und die Grundlage für patient empowerment (Patientenbefähigung). Dass sich ein radikaler Wandel in der Art und Weise, wie Daten und Information generiert und genutzt werden, abzeichnet, ist offensichtlich. Dennoch ist den Akteuren im Gesundheitswesen noch weitgehend unklar, wie Konsumenten, Patienten und Dienstleister diese Daten wirklich nutzen können. Die Daten werden aus ganz unterschiedlichen Quellen generiert, und diese in einer brauchbaren Art und Weise Patienten und health professionals zugänglich zu machen, ist tatsächlich eine Herausforderung. Das Potential dieser Daten für eine Verbesserung der informationsbasierten medizinischen Entscheidungsfindung am point of care (direkt beim Patienten) wird erst langsam erkannt.
3.7.4 Big Data, Health Data Analytics und personalisierte Gesundheit Über Social-Media-Anwendungen, Quantified-Self-Gadgets und neue Dienstleistungen wie consumer genomics liefern heute neue, mächtige und im Gegensatz zu früher dynamische Informationsquellen auf Basis neuartiger Geschäftsmodelle eine Flut an gesundheitsbezogenen, strukturierten und unstrukturierten Daten, so genannte Big Data. Big Data ist zu einem Trendthema geworden und unter dem Stichwort smart data governance (Datensteuerung) von strategischer Bedeutung für Regierungen und Firmen. Mit den Big Data kommt aber auch die Herausforderung, wie diese Daten analysiert, Muster erkannt und interpretiert werden. Das junge Forschungsfeld health data mining and analytics, das an der Schnittstelle von Informatik, Soziologie, Gesundheitsforschung, Medizin, Statistik, Datenvisualisierung und eben Big Data angesie-
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delt ist, beschäftigt sich mit der Interpretation großer gesundheitsspezifischer Datenmengen. Spätestens seit den Enthüllungen durch Edward Snowden, den ehemaligen Mitarbeiter des amerikanischen Geheimdienstes National Security Agency, wird das Thema der massenhaften Datenanalyse, möglicher Schutzmechanismen und das Verständnis eines grundsätzlich neuen Datenregimes in breiteren gesellschaftlichen Kreisen diskutiert. Wenngleich das Thema Big Data unser Gesundheitssystem im Moment überfordert, die regulatorischen Rahmenbedingungen noch weit von einer Lösung entfernt und die Erwartungen der Wirtschaft (zu) hoch gesteckt sind, zeigen sich an der Schnittstelle von quantified self, Big Data und neuen partizipativen Ansätzen des Umgangs mit persönlichen Daten interessante Entwicklungen. Im Kontext von Big Data ist z.B. das Thema personalisierte Gesundheit von einiger Bedeutung. Der Ansatz der personalisierten Gesundheit hat zum Ziel, Individuen aufgrund von genetischen, biochemischen oder anderen persönlichen Messgrößen möglichst gezielt abgestimmte Präventionsmaßnahmen zukommen zu lassen, Krankheitsrisiken frühzeitig festzustellen oder Therapien anzubieten, so dass die Betroffenen durch präventive Maßnahmen die Erkrankung verhindern, hinauszögern oder deren Schwere vermindern können.
3.7.5 Crowdsourced (Patient) Research – ePatient Crowdsourcing Patienten wollen nicht nur über ihre eigenen Daten verfügen, sie sind durchaus auch bereit, ihre eigenen Daten weiterzugeben und zu teilen. Von großem Interesse ist ein weiterer Aspekt der gesundheitsbezogenen Datengenerierung, das so genannte ePatient crowdsourcing.13 13 | Vgl. dazu auch den Artikel von U. Schönberg, »Crowdpower in the Era of Health 2.0« (2012), und die Studie von KMPG, »Accelerating Innovation: The Power of the Crowd« (2012).
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Der Ansatz des ePatient crowdsourcing misst dem Patienten als citizen scientist (Bürgerwissenschaftler) eine neue Rolle in der medizinischen Forschung zu. Ausgerüstet mit Self-tracking-Technologien (vgl. Kap. 3.7.3), Informationszugang, der Vernetzung in Online-Communities und der Möglichkeit, ihre medizinischen Daten ins Netz einzuspeisen, tragen Patienten maßgeblich dazu bei, die Qualität und den Umfang medizinischer Forschung zu verbessern. Tatsache ist, dass allein über die Consumer-genomics-Plattform 23andMe 76 Prozent der rund 450.000 Personen, die ihr Genom analysieren ließen, ihr Einverständnis dazu gegeben haben, dass ihre Genomdaten zu Forschungszwecken genutzt werden. Damit stehen – crowdsourced und cloudbased – ungeahnte Datenmengen für neue Forschungserkenntnisse zur Verfügung. Zudem bilden sich ganz neue Allianzen: Die Firma 23andMe hat sich mit dem Parkison’s Institute zusammengetan und über die eigene Daten- und Kundenbasis bereits neue Assoziationen für Parkinson gefunden. Die gemeinsamen Daten und Forschungsergebnisse werden nicht etwa gebunkert, sondern als Open-access-Publikationen14 z.B. über Plos One oder Cureus öffentlich gemacht. Und längst sieht sich diese Firma nicht mehr als Dienstleisterin im Bereich der Genomanalyse, sondern als veritables Forschungsinstitut. Und es ist erstaunlich, wie Wissenschaft auf diesem Weg funktioniert: Die Zeitdauer bis zur Veröffentlichung von neuem Wissen wird durch neue Formen der Datenerhebung, der Datenaggregation und neue Formen der Publikation von sechs Jahren auf ein Jahr verkürzt. Crowdpower (Macht der Masse) als Wirkungsansatz beeinflusst das Gesundheitswesen weit über die reinen Informations- und Unterstützungsfunktionen von Communities oder Online-Ratingsystemen von Ärzten, Krankenhäusern oder Krankenkassen hinaus. Sie beschreibt vielmehr, wie sich die Gesundheitsforschung 14 | Als open access (englisch für offener Zugang) wird der freie Zugang zu wissenschaftlicher Literatur und anderen Materialien im Internet bezeichnet. Vgl. Kap. 3.7.6.
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etwa im Bereich von Open-Source-drug-discovery oder Open-Sourcebiomedical-research aufgrund der technologiebasierten Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Gesundheitskonsumenten und Patienten verändert und wie Krankheiten möglicherweise mit Hilfe der vernetzten Gesellschaft und neuen Möglichkeiten personalisierter Medizin frühzeitig festgestellt, besser behandelt oder sogar verhindert werden können.
3.7.6 Offenheit – Open Notes Dass das Offenlegen von Gesundheitsdaten keine einseitige Angelegenheit ist, zeigen die Open-notes- und Open-social-doctor-data-Initiative15 sowie Ansätze von Open-Source-drug-discovery und OpenSource-biomedical-research16. Die Open-notes-Initiativen laden Patienten dazu ein, die Notizen und Informationen von Ärzten, Pflegepersonen und Labors einzusehen, um partnerschaftlich und besser informiert am Management der eigenen Gesundheit teilhaben zu können – ein interessanter Ansatz in Zeiten, in denen seitens der Leistungserbringer noch mehrheitlich elektronische Abstinenz herrscht, elektronische Patientendossiers kaum vorhanden und der Patientenzugriff darauf immer noch verschwindend klein ist, Studien aber zeigen, dass zwei Drittel der Befragten es begrüßen würden, wenn sie ihre Befunde, Röntgenbilder oder Blutdruckwerte zu einer neuen medizinischen Ansprechperson mitnehmen und die eigenen Gesundheitsdaten im Internet einsehen zu könnten (Swisscom 2011).
15 | Vgl. dazu http://www.myopennotes.org [Stand: 16.03.2014] sowie die folgenden Beiträge: Walker/Leveille 2013; Trotter 2012; Vodicka et al. 2013; Feldmann et al. 2013; Delbanco et al. 2012; Woods et al. 2013; Walker 2013; Dhanireddy et al. 2013; Leveille et al. 2012; Delbanco/Walker 2012. 16 | Vgl. z.B. das Projekt OpenSourceMalaria unter http://openwetware. org/wiki/Open_Source_Drug_Discovery_-_Malaria [Stand: 16.03.2014].
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In Richtung Zugänglichmachung von Daten zielt auch die Bluebutton-Bewegung17, die weltweit auf großes Interesse stößt. Ein blauer Downloadknopf auf der Website einer Klinik, eines Arztes oder einer Behörde zeigt dem Patienten an, dass er seine medizinischen Daten anschauen, herunterladen und auf Wunsch in andere Applikationen integrieren kann. Die Blue-button-Bewegung ermöglicht aber auch den Datentransfer in die andere Richtung: data donation (Datenspende). Die Idee besteht darin, Patienten die Möglichkeit zu geben, ihre Daten, ganz ähnlich wie Organe, zu spenden, wenn sie das möchten. Warum? Weil z.B. ein Haupthindernis in der Entwicklung wirklich guter personal health software darin besteht, dass die Entwickler aufgrund bestehender datenschutzrechtlicher Vorgaben über keine realen klinischen Daten verfügen. Die Blue-button-Idee umgeht dieses Hindernis, indem die Patienten selbst ihre Daten zur Verfügung stellen.
3.7.7 Crowd Accelerated Health Innovation Projekte im Bereich von crowd accelerated health innovation wie das niederländische MedCrowdFund18 unter der Leitung von Lucien Engelen, Autor des Beitrags »Health 2.0 Update« in diesem Buch, gehen noch einen Schritt weiter und binden Patienten als Partner in den ganzen Innovations- und Finanzierungsprozess medizinischer Entwicklungen ein. Es handelt sich dabei um einen einfachen, dreiphasigen Prozess: Die Community von Patienten und ihren Angehörigen bringt neue Forschungsideen ein. Denn: Dass sie es sind, die die Krankheit haben, macht sie zu den eigentlichen und wirklichen Experten. Aus all den Ideen wählt die Patienten-Community mittels eines Votingsystems die Top-3-Forschungsideen aus, die in der Folge von einem professionellen research writer (Forschungs17 | Vgl. dazu http://www.healthit.gov/bluebutton und http://www4.va.gov/ bluebutton/ [Stand: 16.03.2014]. 18 | Vgl. dazu http://www.medcrowdfund.org [Stand: 16.03.2014].
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autor) in einen Forschungsplan umgeschrieben werden, genaugenommen in zwei Forschungspläne: einen zum Einreichen bei forschungsfinanzierenden Institutionen, einen anderen in ganz einfach verständlicher Sprache. Dann wird gemeinsam im Rahmen eines Crowdfunding-Projektes das initiale Startkapital zusammengetragen und von der Community im Rahmen von crowdpitches (Wettbewerbspräsentation) beschlossen, welcher Forschende die Forschung letztlich durchführen darf. Die Forschungsergebnisse gehören selbstredend den Patienten, die im Zuge dieses Prozesses zu einer Art Stakeholder werden. Transparenz hat in der vernetzten Welt immer auch mit den zwei Forderungen nach Authentizität und Empathie zu tun.
3.8 A uthentizität In den 1950er Jahren hat Erwing Goffman, ein amerikanischer Soziologe, viel über alltägliche soziale Interaktionen als dramaturgische Inszenierungen geschrieben. Seine Hauptaussage, die bis zurück zu Shakespeare reicht: Wir Menschen sind wie Schauspieler und unsere sozialen Interaktionen sind wie das Spielen von »Rollen« auf einer Bühne. Nach Goffman gibt es wie im Theater auch für soziale Interaktionen einen »Frontstage«-Bereich, einen Bühnenort, wo wir das erwünschte soziale Verhalten gleichsam zur Schau stellen. Daneben gibt es aber auch den Backstagebereich, wo wir unsere Masken abnehmen und uns zeigen, wie wir wirklich sind, Online- und Offline-Identität sozusagen. Mit dem Aufkommen des Internets in den 1990er Jahren meinten viele, sie hätten nun endlich einen Ort gefunden, an dem sie sich völlig anonym so darstellen könnten, wie sie schon immer wollten – das Internet als Ort anonymer Interaktion. Studien über die Selbstdarstellung im frühen Internet berichten von einem unter dem Schutz der Anonymität freien Experimentieren mit Identität (Turkle 1998). Das mag vielleicht für das Web 1.0 Gültigkeit gehabt haben, spätestens mit dem Aufkommen des Web 2.0 und seinen sozialen
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Netzwerken änderte sich die Situation grundlegend. Eine Studie der Psychologischen Fakultät der Universität von Texas aus dem Jahr 2011 zeigt, dass soziale Netzwerke keine Backstagebereiche sind, keine Fluchtorte vor der Realität, sondern viel eher eine Ausweitung des bestehenden sozialen Kosmos und eine Erweiterung des Offline Verhaltens, wobei sich die Offline- und Online-Charakteristika einer Person weitgehend decken (Gosling et al. 2011). Im Gegensatz zu den ersten Versuchen, Identität im Internet als Simulation, Verfälschung und unverbindliches Spiel zu inszenieren, zeigt sich das Selbst in sozialen Netzwerken offenbar authentisch und unverfälscht. Die oft zitierte Anonymität virtueller Kommunikation, die im Web 1.0 zu Willkür und postmoderner Beliebigkeit in der Selbstrepräsentation führte, lässt sich im Web 2.0 nicht mehr realisieren. Nichts wird vergessen. Jeder Kommentar im Blog, jeder Tweet, jeder Online-Kauf oder Facebook-Eintrag bleibt im Netz hängen und konstituiert sich zu einem Selbstbild, das zwar Widersprüche, Spannungen und Variabilität toleriert, aber doch eine Einheit und einen Charakter repräsentieren muss. Netzwerke sind Räume, in denen Identität etabliert und sozial zur Geltung gebracht wird. Knoten in einem sozialen Netzwerk sind nicht vorgegebene Individuen, die nur darauf warten, dem Netzwerk hinzugefügt oder subtrahiert zu werden. Sie sind Konstrukte kommunikativer Handlungen, aus denen das Netzwerk besteht. Mit anderen Worten: Der Mensch konstruiert seine Identität, persönlich wie auch sozial, im Rahmen einer netzwerkbedingten mixed reality, deren konstitutive Prinzipien und Normen weder umgangen noch missachtet werden dürfen. Dass virtuelle Kommunikation weitgehend »entkörpert« und der üblichen Parameter von Zeit und Raum entbunden ist, bleibt jedoch ein Problem für die Netzwerkgesellschaft. Der Medientheoretiker Manuel Castells verweist auf den grundlegenden Widerspruch zwischen verkörperter, materieller und lokaler Bedingtheit des Menschen und dessen virtuell-realer Existenz im »Raum der Ströme« der Netzwerkgesellschaft. Dieser Zustand der »struktu-
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rellen Schizophrenie«, den Castells als »bipolaren Gegensatz zwischen dem Netz und dem Ich« bezeichnet, führt dazu, dass die Suche nach Identität in der Netzwerkgesellschaft »zur grundlegenden Quelle gesellschaftlicher Sinnstiftung« wird. (Castells 2001, 466ff.) Im Bereich von Gesundheit und Krankheit zeigt sich dieses Netzwerkprinzip der Authentizität z.B. darin, dass es immer weniger die formal erworbenen Titel sind, die zählen, sondern die Kompetenz, das Engagement und die Offenheit der Kommunikation. Patienten oder ihre Angehörigen können aufgrund ihrer Erfahrungen wertvolle Informationen durch die Teilnahme an Online-Communities oder im Austausch mit Ärzten und Fachpersonen weitergeben, vorausgesetzt, sie werden akzeptiert und als Experten für ihre Krankheit ernst genommen. Authentizität hat mit Vertrauen zu tun. Wer sich zeigt und offen kommuniziert, erweckt Vertrauen und fördert konstruktive und kooperative Lösungen. Wenn es um Krankheit und Gesundheit geht, sind Halbwahrheiten, Masken und Unehrlichkeit fehl am Platz. Dies gilt natürlich auch für Ärzte und medizinische Fachpersonen. Halbgötter in Weiß und Autoritäten werden erst dann Partner im Gesundheitswesen, wenn sie authentisch und offen kommunizieren, ihre Unsicherheiten zugeben, aber auch ihre dezidierte Meinung vertreten. Authentische Kommunikation führt zu einer vernetzten und kooperativen Gesundheitsvorsorge.
3.9 E mpathie Eine weitere Netzwerknorm ist Menschlichkeit oder Empathie. Ein Beispiel: Jose Avila, ein Programmierer aus den USA, zog nach Tempe in Arizona, um dort zu arbeiten. Weil ihm das Geld fehlte, Möbel für seine Wohnung zu kaufen, kam er auf die Idee, aus den herumliegenden FedEx-Boxen Stühle, Tisch, Bett und Büroeinrichtung zu basteln. Seine Freunde bewogen ihn, die Bilder der Möbel ins Internet zu stellen. Seine Seite fand unglaublich viel Beachtung und Avila setzte einen Spendenbutton auf die Seite, um Geld für die Internetbandbreite zu bekommen. FedEx fand das gar nicht lustig
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und verklagte ihn wegen Verletzung der Rechte geistigen Eigentums und Zuwiderhandlung gegen die Verwendungszwecke von FedEx-Verpackungsmaterial. Das Ganze wurde online und in den traditionellen Medien publik: David gegen Goliath. Da es niemandem ersichtlich war, warum die lustigen Möbel aus FedEx-Schachteln der Firma in irgendeiner Art und Weise schaden könnten, trug FedEx einen immensen Reputationsschaden davon. Was wäre gewesen, wenn FedEx die originelle Idee unterstützt und ein paar neue Schachteln geschickt oder Jose Avila einfach menschlich behandelt hätte, ohne zuerst mit grobem Geschütz auf ihn loszugehen? Beispiele der Bedeutung dieser Netzwerknorm im Gesundheitssystem finden sich in den bereits oben erwähnten Online-Patientencommunities, in denen nicht nur direkt Betroffene einander unterstützen, sondern auch viele health professionals und Organisationen im Gesundheitswesen sich unentgeltlich engagieren.
3.10 Partizipation Das führt uns direkt zur nächsten Netzwerknorm: Partizipation. Das Credo der Netzwerkgesellschaft lautet: Nicht Wissen und Information hüten, sondern Wissen und Informationen teilen, führt zu neuem Wissen. Wir teilen übrigens aus guten Gründen – nicht weil wir naiv oder exhibitionistisch wären. Wir teilen übrigens – z.B. unsere Bilder auf Facebook oder unsere Genomdaten – aus guten Gründen, nicht weil wir naiv oder exhibitionistisch wären. Wir teilen, weil wir einen Vorteil darin sehen. Teilen ist eine soziale Handlung: Sie verbindet uns, stellt Beziehungen her, bildet Vertrauen, Fremde werden zu Freunden. Im Web und insbesondere in den Social Media zeigen sich völlig neue und interessante partizipative Netzwerkeffekte. Es passiert immer wieder, dass plötzlich aus einer Bündelung loser Verbindungen, die für sich genommen gar nichts Besonderes sind, eine neue Qualität entsteht. Ein elektrisierender Impuls. Und danach ist da
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plötzlich eine Idee, ein Projekt oder eine Community, die es anders nie gegeben hätte. Eine neue Kultur des Teilens hat unter der Bezeichnung sharing economy 19 Einzug gehalten. Oder wie es ein Journalist zu Beginn dieser Entwicklung 2009 in der New York Times ausdrückte: »Sharing is clean, crisp, urbane, postmodern. Owning is dull, selfish, timid, backward.« (Levine 2009) Diese neue Kultur des Teilens gepaart mit der Zugänglichkeit von qualitativ hochwertiger Information und der Möglichkeit, sich zu vernetzten, verändert die Rollen im Gesundheitswesen. Das Wissen liegt nicht mehr einseitig bei den healthcare professionals. Das verändert das Verhältnis und macht die Grenzen zwischen Experten und Laien durchlässig. Laien und Patienten sehen sich zunehmend weniger als passive Empfänger von Gesundheitsdienstleitungen, sondern als aktive und selbstbestimmte Kommunikationspartner, als Initianten von Präventionsmaßnahmen, Verantwortliche für Gesundheitsmonitoring und Managerinnen von home based care – als befähigt, kompetent und empowered. Diese Art der Partizipation geht weit über das persönliche Gesundheitsmanagement hinaus. Das Potential der Beteiligung von Patienten an Innovation und gemeinsamer Wertschöpfung im Sinne einer value co-creation wird durch Social Media zunehmend ersichtlich. Für das Thema Gesundheit und Krankheit bedeutet diese Norm, dass Konzepte in den Vordergrund rücken, die die klassische Arbeitsteilung zwischen Experten und Laien, health professionals und Patienten auf brechen und mit patientenzentriert, communityorientiert und partizipativ beschrieben werden können.
19 | Der Begriff sharing economy wurde vom Harvard-Ökonom Martin Weitzman geprägt und besagt im Kern, dass sich der Wohlstand für alle erhöht, je mehr unter allen Marktteilnehmern geteilt wird.
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3.10.1 Partizipative Medizin und Shared Decision Making Unter partizipativer Medizin und shared decision making 20 wird eine bedeutende, neue Art der Arzt-Patient-Kommunikation und -Kooperation verstanden. Kernelemente der partizipativen Entscheidungsfindung sind eine partnerschaftliche anstelle einer traditionell paternalistischen Beziehung zwischen Patient und Arzt, das Bemühen um einen möglichst gleichen Informationsstand bezüglich verschiedener Therapien und Behandlungsmöglichkeiten sowie gemeinsam getroffene Entscheidungen. Patient und Arzt übernehmen damit gleichberechtigt die Verantwortung. Dieser Trend ist nicht nur auf der zunehmenden Bereitschaft vieler health professionals, Patienten mithelfen zu lassen, begründet, sondern auf dem anerkannten Recht der Patienten, selbst und eigenverantwortlich über medizinische Behandlungen zu bestimmen. Partizipativ bedeutet: Der Patient steht im Vordergrund und sein Vermögen, die neuen, vernetzten Technologien eigenverantwortlich und systematisch im Blick auf den für ihn adäquaten Umgang mit seiner Gesundheit und Krankheit einzusetzen. Ein ganz einfaches Beispiel für einen partizipativen Ansatz im Gesundheitswesen liefert die Website washabich.de. Seit 2011 übersetzt ein ehrenamtliches Team aus Medizinstudenten und Ärzten kostenlos Arztbefunde in verständliches Deutsch. Das Projekt liefert in gleich zwei Richtungen entscheidende Impulse für das Gesundheitswesen: Zum einen unterstützt es mit seinem Service einen besser aufgeklärten und fachlich gut informierten Patienten. Zum anderen bereitet die Befunderklärung die Medizinstudenten auf das spätere Berufsleben und eine patientengerechte Kommunikation vor. In diesem Zusammenhang ist auch der EU-Aktionsplan 2012– 2020 zur Nutzung digitaler Lösungen im Gesundheitssystem mit dem Titel »Putting patients in the driving seat: A digital future for 20 | Vgl. dazu das Salzburg Statement on Shared Decision Making (2012) und Oshima Lee/Emanuel (2013).
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healthcare« zu sehen (European Commission 2012): Die EU will Patienten mehr Kontrolle über Gesundheitsdienstleistungen ermöglichen, nicht zuletzt, um dadurch Kosten zu sparen. Oder das patient engagement framework des National Health Collaborative mit den fünf Phasen: inform me, engage me, empower me, partner with me und support my eCommunity (informiere mich, binde mich ein, befähige mich, arbeite partnerschaftlich mit mir zusammen und unterstütze meine Online-Community). Lucien Engelen, Mitautor dieses Buches und Direktor des REshape Institute an der Radboud Universität in den Niederlanden bringt den partizipativen Ansatz auf den Punkt, indem er in Anlehnung an George Clooney schlicht und einfach meint: »Patients, what else.« Diese neue Grundhaltung setzt er seit Jahren eindrucksvoll in die Praxis um, z.B., indem er am eigenen Krankenhaus eine neue Funktion, die des CLO – des chief listening officer – eingerichtet hat, dessen Aufgabe nichts weiter beinhaltet, als den Patienten und ihren Angehörigen zuzuhören. Dass sogar medizinische Forschung und Innovation partizipativ gestaltet werden können, hat er sehr erfolgreich am Beispiel von MedCrowdFund gezeigt, einem Projekt, das Patienten als Stakeholder in den ganzen Innovationsprozess medizinischer Entwicklungen einbindet (vgl. dazu Kap. 3.7.7).
3.10.2 ePatienten-Bewegung Die Forderungen nach mehr Mitbestimmung und Partizipation im Gesundheitswesen wurden maßgebend von den Vertretern einer neuen Konsumenten- und Patientengeneration, den ePatienten, vorgebracht. ePatienten kommunizieren und informieren sich auf vielfältige Weise. Sie lesen und schreiben in Blogs, vernetzen sich, kommunizieren mit anderen Patienten und Ärzten in Portalen und virtuellen Sprechstunden, tauschen Gesundheitsdaten aus und beeinflussen damit Selbstdiagnose, Arztwahl, Medikation und Therapie. Dabei steht das kleine »e« vor ePatient, nicht so sehr für »elektronisch«, als vielmehr für »empowered« – befähigt, aktiv, kompetent.
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ePatienten sind nicht nur in der Altersklasse der NetGeneration, bei den 15- bis 35-Jährigen, die im und mit dem Internet aufgewachsen sind, zu finden. Zunehmend gesellen sich die silver surfers, Menschen ab 60, dazu. Die ePatienten sind zu einer neuen Einflussgröße auf dem Gesundheitsmarkt geworden und fordern vom Gesundheitssystem Kommunikation, Partizipation und Transparenz. Der erste Beitrag zu diesem Handbuch von ePatient Dave deBronkart (vgl. Kap. 2) zeigt in aller Deutlichkeit, wie wichtig diese ePatienten-Bewegung geworden ist.
3.11 F le xibilität (H eterogenität und Variabilität) Eine weitere Netzwerknorm ist Flexibilität verbunden mit der Aufforderung, die eigenen Netzwerke so komplex, variabel und heterogen wie möglich zu machen und damit Möglichkeitsräume zu eröffnen. Netzwerke sind smart und innovativ, wenn sie heterogen sind. Der amerikanische Soziologe Mark Granovetter hat in den 1970er Jahren berühmte Studien zu engen und losen Verbindungen (strong and weak ties) in sozialen Netzwerken durchgeführt (Granovetter 1973). Seine Einsicht: Überraschenderweise sind es die weak ties, also die losen, schwachen Netzwerkverbindungen, die als wichtige Brücken dienen, damit Information fließen kann; je mehr weak ties in einem Netzwerk sind, umso schneller verbreitet sich Information in entfernte Netzwerke. Strong ties, enge, verbindliche und gefestigte Verbindungen hingegen, lassen Information nur in lokalen engen Netzen zirkulieren. Sie führen zu Redundanz. Je mehr ich also die Variabilität meiner Verhaltensmöglichkeiten erhöhe, desto eher bin ich in der Lage, mich unterschiedlichen Bedingungen anzupassen. Für das Gesundheitswesen bedeutet dies, dass wir nicht versuchen sollten, die Dinge durch Standardisierung oder Effizienzimperative einfacher zu machen, sondern eher komplexer. Health professionals sollten z.B. möglichst das ganze komplexe soziale Netzwerk
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der Patienten – online wie offline – in ein umfassendes Wissensnetzwerk und care team (Pflegeteam) einbinden. Denn je mehr Variabilität alle Player haben, umso besser können wir auch komplexe Probleme bewältigen, uns an neue Situationen anpassen und den Forderungen einer sich schnell ändernden Welt gerecht werden.
3.12 F a zit Das überall präsente Internet verändert unser Leben weitgehender und tiefgreifender als irgendeine andere Technologie zuvor. Durch die Allgemeinverfügbarkeit von Information und Wissen werden alte Besitzstände wertlos, die Gesellschaft teilt sich neu auf und lässt sich nicht mehr einfach durch bisher gültige Mechanismen, etwa die normative Unterscheidung zwischen Laien und Experten, verwalten und regieren. Tradiertes, kristallines Wissen verliert immer mehr an Bedeutung. Stattdessen zählt, wie souverän, flexibel und kompetent man mit dem überall verfügbaren Wissen im Netzwerk umgeht. Netzwerke bilden heute den Hintergrund für die Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit. Der Umgang mit Krankheit geschieht heute nicht mehr isoliert zwischen Arzt und Patient, zwischen health professional und Gesundheitskonsument, sondern stets in einem komplexen Netzwerk unterschiedlichster Akteure. Netzwerke als Organisationsformen sind flexible, nicht hierarchische, soziotechnische – also aus menschlichen und nicht menschlichen Akteuren bestehende – komplexe Gebilde von »Assoziationen« mit offenen Grenzen und eigenen Bedingungen des Mitmachens, der Konstruktion, Transformation und Erhaltung. Und sie haben ihre ganz eigenen Normen: Konnektivität und Flow, Kommunikation, Transparenz, Partizipation, Authentizität, Menschlichkeit, Heterogenität und Variabilität. Diese Normen sind mehr als Schlagworte. Sie sind eine Realität der Netzwerkgesellschaft. An ihnen werden auch im Gesundheitsbereich Personen und Organisationen,
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Dienstleistungen, Produkte und Konversationen im Gesundheitswesen heute gemessen. Vielleicht sollten wir deshalb nicht von eHealth oder von mHealth, sondern konsequenterweise von cHealth für connected health (vernetzte Gesundheit) sprechen. Oder dann aber, wie es Lucien Engelen 2011 auf der Konferenz Doctors 2.0 vorgeschlagen hat, eHealth als empowered health definieren.21
21 | Vgl. dazu das Video seines Vortrags unter http://www.videum.com/ video-it/295_keynote-lucien-engelen-doctors-20-you-2011.html [Stand: 16.03.2014].
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4 Über die Autoren
Prof. Dr. Andréa Belliger ist Prorektorin der Pädagogischen Hochschule Luzern und Co-Leiterin des Instituts für Kommunikation & Führung. Sie forscht, lehrt und berät Organisationen zu Fragen von Trends und Veränderungen im gesellschaftlichen Kommunikationsverhalten, insbesondere in den Bereichen Bildung, Verwaltung und Gesundheit. Sie konzipiert Weiterbildungsmaßnahmen, entwickelt Lehrpläne und Curricula, unterstützt Organisationen bei Entwicklungsarbeiten, hält Vorträge, Inputs und Inhouse-Schulungen in Organisationen ganz unterschiedlicher Art. Dave deBronkart (ePatient Dave) ist ein führender Sprecher für die Patienten-Engagement-Bewegung, ein hoch bewerteter internationaler Referent und politischer Berater. Er bloggt auf dem Blog von »Forbes« »Let Patients Help« und auf seiner eigenen Website ePatientDave.com. Lucien Engelen ist Gründer und Direktor des REshape & Innovation Center am Radboud University Medical Center der Universität Nijmegen. Er lehrt, forscht und berät Organisationen zu Fragen von Veränderungen und Trends im Gesundheitswesen, insbesondere in den Bereichen Health 2.0, partizipatives Gesundheitswesen und Patienteninklusion. Er ist Dozent an der Singularity University im Silicon Valley. Das LinkedIn-influencer-Programm ernannte ihn zu einem der weltweit 150 einflussreichsten Vordenker.
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Das ePatienten-Handbuch
Prof. Dr. David Krieger ist Leiter des Instituts für Kommunikation & Führung in Luzern. Er ist tätig in Forschung, Lehre und Beratung für Organisationen in den öffentlichen und privaten Sektoren als Experte in Fragen der digitalen Gesellschaft, Grundlagentheorien des Sozialen sowie Semiotik, Systemtheorie, Akteur-Netzwerk-Theorie und verwandten Themen. Er konzipiert, leitet und beteiligt sich als Dozent und Trainer an Weiterbildungsangeboten in diesen Themenbereichen.
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Das ePatienten-Handbuch
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Zeitdiagnosen bei transcript Felix Hasler
Neuromythologie Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung (4. Auflage 2014)
2012, 264 S., kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1580-7 Stopp dem Neurowahn! Felix Haslers scharfsinnige Streitschrift gegen den brachialen Reduktionismus der Neurowissenschaften räumt auf mit dem Mythos, die Hirnforschung könne unsere gesamte Lebenswelt erklären. »Dem Autor [gelingt] auf sehr bemerkenswerte und differenzierte Weise [...] eine umfassende Kritik der Hirnforschung. Sehr lesenswert.« (Felix Ekardt, taz, 23.01.2013) »Gegen die irreführende modulare Denkweise und andere Verkürzungen und falsche Versprechungen auf dem Feld der Neurowissenschaften tritt Felix Hasler an.« (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.11.2012) »Das Buch ist so lesenswert, weil sich hohe Kompetenz mit Verständlichkeit und ›sachlicher Polemik‹ paart. Empfehlung: unbedingt lesen.« (Karl-Heinz Heinemann, WDR 5 – Leonardo, 19.04.2013)
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