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German Pages 228 [230] Year 2020
Geschriebene und gesprochene Sprache als Modalitäten eines Sprachsystems
Linguistische Arbeiten
Herausgegeben von Klaus von Heusinger, Agnes Jäger, Gereon Müller, Ingo Plag, Elisabeth Stark und Richard Wiese
Band 575
Geschriebene und gesprochene Sprache als Modalitäten eines Sprachsystems
Herausgegeben von Martin Evertz-Rittich und Frank Kirchhoff
ISBN 978-3-11-071075-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-071080-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-071086-1 ISSN 0344-6727 Library of Congress Control Number: 2020945111 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Printing and binding: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Martin Evertz-Rittich, Frank Kirchhoff Einleitung 1 Nanna Fuhrhop, Kristian Berg Schreibdiphthonge und graphematische Silbenkerne 5 Martin Evertz-Rittich Die Geschichte und Gegenwart des graphematischen Fußes im Englischen und Deutschen 37 Silke Hamann One phonotactic restriction for speaking, listening and reading 57 Fabian Renz-Gabriel mega gut und sau schlecht 79 Vilma Symanczyk Joppe Nur ein Reflex der Morphosyntax? 115 Daniel Gutzmann, Katharina Turgay Zur (ortho)grafischen Markierung von sekundären Inhalten 145 Ilka Huesmann, Frank Kirchhoff Interpunktion und Intonation von Interjektionen im Deutschen 185 Sachregister 223
Martin Evertz-Rittich, Frank Kirchhoff
Einleitung Traditionell wird Schrift als ein sekundäres Phänomen angesehen, welches von der gesprochenen Sprache abgeleitet ist und keine oder nur marginale eigene Gesetzmäßigkeiten aufweist. So zum Beispiel schreibt Bloomfield (1973 [1933]: 21): „writing is not language, but merely a way of recording language by visible marks.“ Diese Hypothese wurde von der modernen Graphematik, der Teildisziplin der Sprachwissenschaft, die sich mit der geschriebenen Sprache und deren Verhältnis zur gesprochenen Sprache auseinandersetzt, vielfach zurückgewiesen (vgl. Dürscheid 2012 für einen Überblick). Vielmehr scheint sich die Sichtweise durchzusetzen, dass geschriebene und gesprochene Sprache Modalitäten eines zugrundeliegenden abstrakten Sprachsystems sind (vgl. Domahs & Primus 2015). In diesem Modell korrespondiert die geschriebene Sprache mit Subsystemen der gesprochenen Sprache (Phonologie, Morphologie, Syntax, etc.) und bildet mit der gesprochenen Sprache Schnittstellen. Domahs & Primus (2015) verdeutlichen dies am Beispiel der phonologischen Einheit Silbe. Sie argumentieren dafür, dass in allen sprachlichen Modalitäten1 eine solche Einheit existiert. Diese Einheit (so wie andere Einheiten der phonologischen Hierarchie wie der Fuß oder das Wort) haben modalitätsübergreifende Eigenschaften und Eigenschaften, die durch die Modalität determiniert werden. Im Falle der Silbe gehören zu den modalitätsunabhängigen Eigenschaften u.a., dass Silben Ränder aufweisen können und genau einen Kern haben. Im Kern befinden sich die salientesten Elemente der Modalität, in den Rändern weniger saliente Elemente. Beispiele für modalitätsspezifische Eigenschaften sind hingegen
1 Domahs & Primus (2015) betrachten auch Gebärdensprache als Modalität, was zweifelsohne angemessen ist. Da sich dieser Sammelband allerdings nur mit der gesprochenen und geschriebenen Sprache als Modalität auseinandersetzt, behandeln wir die gebärdete Sprache hier nicht. Wir verweisen aber auf das einschlägige Handbuch Sprachwissen: Laut – Gebärde – Buchstabe (Domahs & Primus (eds.) 2016).
Martin Evertz-Rittich, Institut für deutsche Sprache und Literatur I, Universität zu Köln, Albertus Magnus Platz, 50923 Köln, [email protected] Frank Kirchhoff, Institut für deutsche Sprache und Literatur I, Universität zu Köln, Albertus Magnus Platz, 50923 Köln, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110710809-001
Martin Evertz-Rittich, Frank Kirchhoff
die Elemente, die verfügbar sind (Laute, Gebärden, Buchstaben), und ihre Beziehungen zueinander, die sich durch Prominenzhierarchien beschreiben lassen (vgl. auch Primus 2003). Die Beiträge in diesem Sammelband untersuchen, welche neuen Einblicke ein modalitätsübergreifender Ansatz gewährt und inwiefern dieser Ansatz über die Phonologie und ihre modalitätsspezifischen Ausprägungen hinaus auch für andere Teilgebiete der Linguistik fruchtbar ist. Die Beiträge sind in thematische Blöcke geordnet. Wir beginnen mit Artikeln zu (grapho-)phonologischen Einheiten. Nanna Fuhrhop und Kristian Berg untersuchen in ihrem Artikel den Kern in phonologischen und graphematischen Silben. Sie beleuchten die Schreibung von Silbenkernen im Deutschen, Englischen, Französischen und Niederländischen und gehen dabei der Frage nach, inwiefern der Silbenkern eine besondere Autonomie besitzt. Martin Evertz-Rittich widmet sich in seinem Beitrag dem graphematischen Fuß und skizziert, wie er sich im Englischen und Deutschen in Korrespondenz zum phonologischen Fuß entwickelt hat. Silke Hamann untersucht ebenfalls ein Phänomen, welche mit dem Fuß und der Silbe verbunden ist. Sie demonstriert im Rahmen eines bidirektionalen optimalitätstheoretischen Modells die Anwendung einer modalitätsübergreifenden Beschränkung. Mit dieser Beschränkung kann sowohl die Degeminierung als auch die Geminationsschreibung im Deutschen beschrieben werden. Die nächsten Beiträge beschäftigen sich mit der grapho-morphologischen Einheit Wort. Fabian Renz-Gabriel untersucht den Wortstatus von vermeintlich gebundenen Intensivierern. Er zeigt, dass SchreiberInnen das graphematische Mittel der Spatiensetzung einsetzen, um grammatische Eigenschaften wie die syntaktische Kategorie abzubilden. Vilma Symanczyk-Joppe beschäftigt sich ebenfalls mit der Getrennt- und Zusammenschreibung. Aufgrund der Ergebnisse einer korpusbasierten Studie zur Schreibung von N-N-Komposita plädiert sie dafür, dass das graphematische Wort kein bloßer Reflex der Morphosyntax ist, und dass sich die Getrennt- und Zusammenschreibung von Komposita nicht auf derivationelle Aspekte reduzieren lässt. Die letzten zwei Beiträge beschäftigen sich mit dem Interpunktionssystem aus einem modalitätsbergreifenden Blickwinkel. Ilka Huesmann und Frank Kirchhoff untersuchen mithilfe einer Korpusstudie die Interpunktion und Intonation von Interjektionen. Sie argumentieren dafür, dass zwischen Kommasetzung und Syntax einerseits und zwischen Syntax und Intonation andererseits eine direkte und enge Verbindung angenommen werden muss. Daniel Gutzmann und Katharina Turgay untersuchen mithilfe einer Korpusstudie die graphematische Markierung von sekundären Inhalten. Dabei kommen sie zu dem Ergebnis, dass das Interpunktionssystem zahlreiche Mittel zur Kennzeichnung zur Verfügung
Einleitung
stellt (z.B. Kommas, Gedankenstriche, Anführungszeichen, etc.), dass es jedoch keine 1:1-Beziehung zwischen dem Interpunktionszeichen und den Funktionen gibt, die sie in Bezug auf sekundäre Inhalte erfüllen können.
Martin Evertz-Rittich, Frank Kirchhoff
Literatur Bloomfield, Leonard. (1933) 1973. Language. London: Allen & Unwin. Domahs, Ulrike & Beatrice Primus. 2015. Laut – Gebärde – Buchstabe. In Ekkehard Felder & Andreas Gardt (eds.), Sprache und Wissen. 125–142. Berlin/ New York: de Gruyter. Domahs, Ulrike & Beatrice Primus (eds.). 2016. Handbuch Sprachwissen: Laut – Gebärde – Buchstabe. Berlin: de Gruyter. Dürscheid, Christa. 2012. Einführung in die Schriftlinguistik. Grundlagen und Theorien. 4. überarb. und akt. Aufl. Göttingen: UTB. Primus, Beatrice. 2003. Zum Silbenbegriff in der Schrift-, Laut- und Gebärdensprache – Versuch einer mediumunabhängigen Fundierung. Zeitschrift für Sprachwissenschaft 22. 3– 55.
Nanna Fuhrhop, Kristian Berg
Schreibdiphthonge und graphematische Silbenkerne Was ist daran modalitätsspezifisch und was modalitätsübergreifend? Abstract: Zunächst wäre es naheliegend, den Begriff „Diphthong“ als einen modalitätsspezifischen, nämlich einen phonologischen zu interpretieren. Bei der Untersuchung von vier Sprachen (Deutsch, Englisch, Französisch, Niederländisch) zeigt sich jedoch deutlich, wie sinnvoll die Annahme von „Schreibdiphthongen“ ist; mit ihrer Hilfe können viele Regularitäten erfasst werden. In der Anordnung der Diphthonge finden sich überraschende Übereinstimmungen in den Sprachen, die mit der Form der Buchstaben erfasst werden können. Nach der Etablierung des Schreibdiphthongs wird das Verhältnis zum graphematischen Silbenkern diskutiert, und zwar sowohl die Frage, welche Bestandteile zum Silbenkern gehören, als auch die Frage der Abgrenzung von Schreibdiphthongen und graphematischen Hiaten. Dabei wird explizit dafür plädiert, Silbenkern als einen relationalen Begriff zu verstehen. Insgesamt zeigt sich, dass die Modellierung der Einheiten der geschriebenen und gesprochenen Sprache analog zu betrachten sind und dies der Weg ist, das Verhältnis der beiden Modalitäten zueinander zu beschreiben und dabei die Autonomie der Modalitäten zu erfassen
Einleitung In der Beschreibung von Schriftsystem mit Alphabetschriften stellt sich immer wieder die Frage, wie eng die Beziehung zwischen Lautung und Schreibung ist bzw. inwieweit die spezifische Schreibung unabhängig von der Lautung zu fassen ist. Primus (2003) diskutiert anhand der Silbe die Modalitätsspezifik bzw. Modalitätsunabhängigkeit von zunächst phonologisch eingeführten Begriffen. Wenn die Silbe graphematisch konzipiert werden kann, so ist es naheliegend,
Nanna Fuhrhop, Institut für Germanistik, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Postfach 2503, 26111 Oldenburg, [email protected] Kristian Berg, Institut für Germanisitk, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft, Universität Bonn, Am Hof 1d, 53113 Bonn, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110710809-002
Nanna Fuhrhop, Kristian Berg
dass auch eine spezifisch graphematische Konzeption des Silbenkerns möglich ist. Seit Primus 2003 gibt es eine durchaus umfangreiche Forschung zur Schreibsilbe (s. zum Beispiel Primus 2006, Fuhrhop & Buchmann 2009, Rezec 2010, Eisenberg 2013). Wir möchten mit diesem Beitrag zu Schreibdiphthongen den Weg der ‚Loslösung‘ von den ursprünglich phonologischen Konzepten weiter vorantreiben. Die Schreibdiphthonge bieten hier ein interessantes Feld, wie an folgenden Beispielen deutlich wird: 1. Die Schreibung für den (Sprech-)Diphthong /ɔi/ ist im Deutschen phonographisch nicht zu fassen; viel eher wäre eine Schreibung wie in , und zu erwarten. Innergraphematisch ist sie aber systematisch, s. unten. 2. Obwohl nun eine bevorzugte Diphthongschreibung ist, ist sie es auch nicht exklusiv: , sollen sicherlich nicht als Diphthongschreibungen klassifiziert werden; können Morphemgrenzen erkannt werden? 3. Der englische Sprechdiphthong /ai/ korrespondiert häufig mit einem Schreibmonophthong wie , aber der englische Schreibdiphthong mit dem Sprechmonophthong /i/. Mit diesen Beobachtungen lassen sich bereits Fragen zur Modalität stellen: Sind Schreibdiphthonge diejenigen Schreibungen, die mit einem Sprechdiphthong korrespondieren? Oder sind sie unabhängig von Korrespondenzen zur Lautung zu fassen? Ist Diphthong ein modalitätsspezifisches (lautlich) oder ein modalitätsübergreifendes Konzept? Davon ausgehend kann dann wiederum der Silbenkern expliziert werden – denn Diphthonge sind ja bereits in der Phonologie der kompliziertere Fall des Silbenkerns. Nicht nur das Konzept der Silbe wurde in die Schriftsystemforschung übertragen, sondern jüngst auch das Konzept des Fußes (Evertz 2018). Umgekehrt könnte man mit Lüdtke 1969 das Phonem als ein Konzept ansehen, das ohne Alphabetschrift so nicht ‚existieren‘ würde – das Phonem als Modalitätsübertragung des Buchstaben in die Lautung. Bei einer solchen Modalitätsübertragung geht es auch immer um die Spezifika in den jeweiligen Modalitäten – modalitätsspezifisch also. Auch wenn sich auf den Ebenen in der Phonologie und der Graphematik vergleichbare Einheitentypen zeigen, sind sie doch in beiden Modalitäten unterschiedlich deutlich erkennbar. So sind phonologisch Füße und Silben die deutlichen Einheiten, graphematisch sind es die Buchstaben/Grapheme und die Wörter. Die Buchstaben sind – insbesondere in gedruckten Texten – deutlich voneinander getrennt, ebenso sind es wegen der Leerzeichen die Wörter in der
Schreibdiphthonge und graphematische Silbenkerne
Schriftsprache. Die Einheiten zeigen sich unterschiedlich deutlich in den verschiedenen Modalitäten; dennoch sind alle diese Einheiten modalitätsübergreifend zu beschreiben. Die graphematische Silbe zeigt sich durch Alternationen in der Länge bzw. Kompaktheit der Buchstaben (Primus 2003: 7), so im Allgemeinen Graphematischen Silbenbaugesetz, nach dem die Kompaktheit der Buchstaben (Zentrierung auf das Mittelband, die kompaktesten Buchstaben sind , gefolgt von ) kontinuierlich zum Silbenkern zunimmt; entsprechend nimmt die ‚Länge‘ zu den Silbenrändern zu, s. auch 7.1 (Fuhrhop & Buchmann 2009). Allerdings können erstens bereits im Deutschen die Ränder leer sein und zweitens sind die Silbengrenzen sehr häufig unklar. Eine Herangehensweise ist daher, die Silbe über den Silbenkern – als Kompaktheitsmaximum – zu bestimmen; im Standarddeutschen enthält jede graphematische Silbe einen Silbenkern. Für diese Herangehensweise potentiell problematisch ist dann allerdings die ununterbrochene Häufung von Kompaktheitsmaxima, wie zum Beispiel versus ; von der Phonologie her kommend gibt es gute Gründe, diese beiden Strukturen unterschiedlich zu behandeln ( als Schreibdiphthong, als Hiat). Spätestens hier kann man feststellen, dass die graphematische Silbe als Einheit schwieriger zu erkennen ist als beispielsweise das graphematische Wort. Dennoch bleibt die Silbe interessant; die eben durchgeführte Zuspitzung macht auch deutlich, dass der Schreibdiphthong an und für sich eine interessante Einheit ist. Es wird eben auch zu fragen sein, ob es neben dem Schreibdiphthong auch eine Hiatstruktur geben sollte. Fragen dieser Art werden in diesem Aufsatz behandelt. Im Folgenden überlegen wir zunächst, was Schreibdiphthonge (als ununterbrochene Häufung von potentiellen Kompaktheitsmaxima) sein können, und zwar in vier verschiedenen Sprachen (Deutsch, Englisch, Französisch und Niederländisch). Daraus ergeben sich theoretische Implikationen, die wir im Anschluss diskutieren. Methodisch leitend können die Fragen sein, wann die Phonographie eingreift und wie weit man hier in der Beschreibung mit rein graphematischen Mitteln kommt. Inwieweit kooperieren hier die Graphematik und die Phonologie, indem zum Beispiel die Graphematik Hinweise auf phonologische Ein- und Zweisilbigkeit gibt (eindeutige graphematische Zweisilber wie mit konsonantischem Buchstaben zwischen den Vokalbuchstaben, also einer Struktur, die eine einsilbige Lesart verhindert, sind hier nicht gemeint; s. 7.2). In der Graphematik übernehmen kompakte Buchstaben (auch bezeichnet als Vokalbuchstaben, s. 7.3) die Position des Silbenkerns. In der Phonologie gibt es Bestrebungen, den Silbenkern noch weiter zu spezifizieren und im Falle einer Mehrfachbesetzung genau einem Element eine dominantere Rolle zuzuschreiben
Nanna Fuhrhop, Kristian Berg
(Wiese 2000: 14f); Primus (2003: 42) tut das bereits für die Schreibdiphthonge sehr deutlich, indem sie für jeden graphematischen Silbenkern von Vollsilben zwei Strukturpositionen annimmt. Die erste Position muss von einem Vokalbuchstaben besetzt werden, bei der zweiten kann das der Fall sein (dann haben wir zwei Vokalbuchstaben im Kern wie in Haus oder Moor), es muss aber nicht (in dem Fall füllt ein Konsonantenbuchstabe die Position wie in Nest oder Kamm). Wir möchten in diesem Aufsatz überprüfen, ob sich graphematische Silbenkerne asymmetrisch verhalten und wie sich das zeigt. Wir benutzen dafür distributionelle und formale Kriterien. Distributionell kommen bestimmte Vokalgrapheme sprachübergreifend häufiger als Erstbestandteil in Verbindungen von Vokalgraphemen vor. Diese exponierte Verteilung binden wir in einem zweiten Schritt an die besondere Form dieser Grapheme, die sie gut von den jeweiligen Zweitbestandteilen unterscheidet. Damit kann die Funktion des Silbenkerns modalitätsübergreifend genau einem Element zugeschrieben werden. Dennoch zeigt sich für das Deutsche, das Englische, das Französische und auch das Niederländische deutliche Evidenz, dass auch bei den Schreibdiphthongen solche präferiert sind, bei denen nur ein Buchstabe als Silbenkern fungiert, also klar ein Kompaktheitsmaximum auszumachen ist – oder um es mit Primus auszudrücken, ein V-Graphem die V-Position einnimmt und ein anderes VGraphem die C-Position (Primus 2003: 42). In einem zweiten Teil werden wir einige Überlegungen zum graphematischen Silbenkern anstellen. Es wird uns dabei nicht darum gehen, die phonographischen Korrespondenzen möglichst adäquat abzubilden, sondern vielmehr darum, genuine Aussagen über die graphematische Silbe und speziell über den graphematischen Silbenkern zu machen. Weil eine andere Frage uns antreibt, unterscheiden sich unsere Vorschläge von denen von Primus u.a. (Primus 2003, Primus 2010, Domahs & Primus 2014) erstellten Modellen.
Schreibdiphthonge Wann sprechen wir von einem Schreibdiphthong? Ab wann ist die Aufeinanderfolge zweier kompakter Buchstaben ein Schreibdiphthong? Drei Möglichkeiten, das zu entscheiden, möchten wir hier deutlich benennen: Möglichkeit 1: Die Verschriftung der Sprechdiphthonge Jeder Sprechdiphthong wird in seiner Korrespondenz zu seiner Verschriftlichung gezeigt – die Verschriftlichung ist der Schreibdiphthong. Für das Deutsche hat
Schreibdiphthonge und graphematische Silbenkerne
das zu guten Ergebnissen geführt; es ergibt sich ein klares System (Eisenberg 2013: 299), s. 2.1. Im Englischen würde das zum Beispiel dazu führen, als Schreibdiphthong anzunehmen, hingegen nicht, weil /ai/ unter anderem mit korrespondiert, aber mit /i/, s 3.2. Für das Französische könnte man eine solche Untersuchung gar nicht starten, weil im Französischen keine Sprechdiphthonge vorkommen (Pustka 2011: 95ff.). Außerdem ist das natürlich eine klassische phonographische Herangehensweise; möglicherweise werden so spezifische Eigenheiten des graphematischen Systems übersehen. Möglichkeit 2: Silbenbasiertheit Man geht von der oben erwähnten abstrakten ‚Skelettstruktur‘ der Silbe aus (Primus 2003, Wiese 2000), und zwar bei phonologischen Silben. Diese Struktur wird dann auf Schreibsilben übertragen, und auf dieser Grundlage werden die vorkommenden Grapheme untersucht (Primus 2003: 31ff.). Auch das ist eine legitime Herangehensweise, hängt aber eng mit Möglichkeit 1 zusammen, denn es geht unter anderem darum, den Diphthong vom Hiat zu unterscheiden. Uns treibt also auch die Frage, woran der Unterschied zu erkennen ist. Möglichkeit 3: Graphematische Quantität Man untersucht alle häufigen Kombinationen von kompakten Buchstaben, geht also über die Quantität. Für das Deutsche wird dann marginal, wichtig. Das sind brauchbare Ergebnisse. Aber sie unterscheiden sich stark von den Ergebnissen der Möglichkeit 1; es ergeben sich zwei unterschiedliche Systeme zu Schreibdiphthongen, zumindest im Deutschen. Im Englischen und Französischen wird durch diese Methode überhaupt erst etwas über Schreibdiphthonge erkennbar; so hat das Französische keine Sprechdiphthonge, sehr wohl aber die Häufung von kompakten Buchstaben. Wir gehen hier zunächst von graphematischen Einsilbern aus. Die Untersuchung wäre aber auszuweiten; die Hiate könnten erkannt werden. Zusätzlich rechnen wir alle Vorkommen als Erst- und Zweitbestandteil für jeden kompakten Buchstaben zusammen. Das Problem bei dieser Methode ist natürlich ‚Häufigkeit‘ – wo zieht man die Grenze? Und ist es adäquat, über die Häufigkeit zu gehen? Hintergrund ist dafür zum Beispiel, dass wir Kombinationen aus anderen Sprachen damit zunächst ausschließen, weil sie im Wortschatz eher selten sind – so ist eine Kombination, die ins Deutsche über das Englische und Französische
Nanna Fuhrhop, Kristian Berg
kommt (Tour); ist damit ein Fremdheitsmarker und das ist eine klare Aussage. Und wir müssen uns nichts vormachen: Auch der Bestand der Sprechdiphthonge, der angenommen wird (die Grundlage für die erste Möglichkeit) ist immer eine Auswahl über die Häufigkeit bzw. Nativität, denn auch im Deutschen gibt es ja mit den Fremdwörtern und ‚Ausrufen‘ Diphthonge wie /ɛi/ (ey, hey, Make-up) /ʊi/ (hui) usw. Für das Deutsche, Englische und Niederländische legen wir für diese quantitative Studie CELEX (Baayen et al. 1995) zugrunde (gut 50 000 – 124 000 Wörter pro Sprache); wir haben damit eine einigermaßen vergleichbare Datengrundlage. Für das Französische wählen wir die Datenbank LEXIQUE (142 000 Wörter), Wir ermitteln so graphematisch einen Bestand von Schreibdiphthongen und damit auch von Erst- und Zweitbestandteilen. Dieser wird dann in Bezug zur Phonographie gesetzt. Im Englischen wird dann also beispielsweise überlegt, mit welchem Phonem/welchen Phonemen korrespondiert, analog im Französischen. Und daraus wird dann wiederum ein System abgeleitet. Bei den Schreibdiphthongen wird die Verzahnung besonders deutlich: Die erste Möglichkeit beschreibt ausschließlich die Korrespondenz von phonologischen Diphthongen. Die dritte Möglichkeit untersucht zunächst schriftintern. Und eröffnet dann die Möglichkeit, wiederum phonographische Korrespondenzen zu untersuchen. Daraus können Aussagen darüber abgeleitet werden, ob einzelne Bestandteile denn auch allein phonographisch rekonstruierbar sind (wie im Deutschen mit zwei regulären Korrespondenzen), wie regulär Sprechdiphthonge überhaupt mit Schreibdiphthongen korrespondieren und umgekehrt. Letztendlich geht es natürlich darum, sowohl das Schriftsystem an und für sich zu verstehen als auch die Korrespondenz zu anderen Teilsystemen – bei den Schreibdiphthongen primär zum phonologischen.
Schreibdiphthonge im Deutschen . Diphthonge im Deutschen, phonographisch Eisenberg hat bereits 1989 die Schreibung der Sprechdiphthonge im Deutschen gut erfasst: Die drei Sprechdiphthonge /ai/, /au/ und /ɔi/ werden , , , geschrieben. Eisenberg sieht hier als die beiden Erstbestandteile und und als Zweitbestandteile und . Von den fünf (einfachen) Vokalbuchstaben werden nur vier genutzt und jeder steht entweder an erster oder an zweiter Stelle. Das System ist perfekt und man begreift, wie es zur sonst phonographisch
Schreibdiphthonge und graphematische Silbenkerne
unverständlichen Schreibung für /ɔi/ kommt: Anstatt ein neues Erstelement zu benutzen () und damit das System zu erweitern, werden die vorhandenen Möglichkeiten konsequent ausgenutzt. Dass auch für /ɔi/ steht, ist morphologisch zu begründen, wie auch sonst die -Schreibung.1 Man kann noch einige Beobachtungen dazu machen, was die phonographischen Einzelbeziehungen betrifft: wird niemals direkt phonographisch interpretiert. wird immer phonographisch interpretiert, und Schreibdiphthonge mit als erstem Bestandteil werden komplett phonographisch interpretiert: und als /ai/ und /au/.
Abb. 1: System der deutschen Schreibdiphthonge, phonographisch
. Diphthonge im Deutschen, innergraphematisch Wenn man nicht von den Sprechdiphthongen ausgeht, sondern von einer Wörterliste (hier die lexikalische Datenbank CELEX), bekommt man pure Häufigkeiten von Kombinationen von Vokalbuchstaben, also ‚kompakten‘ Buchstaben. In Tabelle 1 sind alle graphematischen Einsilber mit genau zwei Vokalbuchstaben aufgelistet.
1 Das gilt für die Standardfälle wie Haus – Häuser, Maus – Mäuse, brauchen – bräuchte. Es bleiben einige wenige Fälle wie Knäuel, Säule usw., die etymologisch zu begründen sind. Solche weniger deutlichen Fälle sind für insgesamt deutlich seltener als für , s. auch Berg & Fuhrhop (2011: S. 446, FN 2).
Nanna Fuhrhop, Kristian Berg
Tab. 1: Kombinationen von zwei kompakten Buchstaben im Einsilber im Deutschen, absolute Zahlen
erster Bestandteil
zweiter Bestandteil a
e
i
o
u
ä
ö
ü
a
-
-
-
-
e
-
-
-
i
-
-
-
o
-
-
-
2
-
-
-
-
ä
-
-
-
-
-
ö
-
-
-
-
-
-
ü
-
-
-
-
-
-
-
-
u
Wie sind diese Daten zu bewerten? Welche Kombinationen sind häufig, welche selten? Um diese Frage zu beantworten, wandeln wir die absoluten Zahlen aus Tabelle 1 in relative Werte um; jede Zelle wird als Anteil an der Gesamtsumme (410) dargestellt (zur Erinnerung: Es handelt sich um einsilbige Formen, deswegen sind Kombinationen wie , die systematisch in Mehrsilbern wie auftreten, kaum belegt).
2 Wörter mit + Vokal wurden hier nicht gezählt; wir betrachten als komplexes Graphem, das den Anfangsrand besetzt.
Schreibdiphthonge und graphematische Silbenkerne
Tab. 2: Kombinationen von zwei kompakten Buchstaben im Einsilber im Deutschen, relative Zahlen
zweiter Bestandteil
erster Bestandteil
a
e
i
o
u
ä
a
.%
-
.%
.%
.%
-
e
.%
.%
.%
.%
.%
-
i
.%
.%
-
.%
.%
.%
o
.%
.%
.%
.%
.%
-
u
.%
.%
.%
.%
-
-
ä
-
.%
-
.%
.%
-
ö
-
.%
.%
-
-
-
Wir können nun als frequente Kombinationen solche auszeichnen, die in mehr als 5% aller Fälle von -Kombinationen vorkommen. Das ist natürlich eine willkürliche Festlegung, und es muss sich zeigen, inwieweit sie auch für Schriftsysteme außerhalb dieser Untersuchung tragfähig ist. Das Bild in Tabelle 2 ändert sich gegenüber der phonographischen Perspektive. Besonders auffällig (und wenig überraschend) sind die Häufigkeit von und die Seltenheit von . Dass nicht häufiger ist, liegt vermutlich an der Beschränkung auf Einsilber mit zwei Vokalbuchstaben: So sind Wörter wie Feuer, teuer etc. ausgeschlossen. Über 5% der -Kombinationen entfallen auf (1)
– 32,2%, – 22%, – 16,1%, – 5,4%
Bis auf enthalten die frequenten Verbindungen alle . Es ergibt sich folgendes System:
Abb. 2: System der deutschen Schreibdiphthonge, innergraphematisch
Nanna Fuhrhop, Kristian Berg
Bei kann also das davor oder dahinter stehen. Die Systeme unterscheiden sich je nach Herangehensweise. Bei dem letzteren wird besonders deutlich, dass in den Silbenkern drängt. Das ist auch in einem anderen Zusammenhang bekannt, nämlich bei Zweisilbern wie Trüffel, legen, Atem usw. (s. unten). Offenbar ist der präferierte graphematische Silbenkern. Wir können hier noch weitergehen und uns – unabhängig davon, ob eine bestimmte Kombination besonders häufig ist oder nicht – anschauen, ob bestimmte Grapheme positionsgebunden sind, ob sie also dazu tendieren, eher Erst- oder Zweitbestandteil von -Verbindungen zu sein. Addiert man die absoluten Werte der Buchstaben an erster und zweiter Position zusammen (ohne Doppelvokale), ergibt sich folgendes Bild: Tab. 3: Erst- und Zweitbestandteile im deutschen Einsilber, absolut a
e
i
o
u
ä
ö
ü
erster Bestandteil
–
zweiter Bestandteil
–
–
und sind bevorzugte Erstbestandteile, und bevorzugte Zweitbestandteile. , , und spielen keine Rolle in Schreibdiphthongen des Deutschen. Die Verhältnisse für und sind weniger eindeutig als für und ; das liegt an , das mit 66 Nennungen wesentlich für als Zweitbestandteil und als Erstbestandteil verantwortlich ist. Damit bestätigt diese Analyse Eisenbergs (phonographisches) System: und sind erste, und sind zweite Bestandteile.
Schreibdiphthonge im Englischen . Schreibdiphthonge im Englischen, phonographisch Die Verschriftung der englischen Sprechdiphthonge ergibt folgendes Bild (nach Berg/Fuhrhop 2011: 449):
Schreibdiphthonge und graphematische Silbenkerne
(2)
a. /ɛɪ/
(gain, feign, pay, hey)
(gate)
b. /oʊ/
(boat)
(pope)
c. /aɪ/
(night)
(side)
d. /ju/
(neuter, few)
(mute)
e. /aʊ/
(pound, cow)
—
f. /ɔɪ/
(coil, toy)
—
Alle Sprechdiphthonge haben systematisch wenigstens zwei Verschriftungen; vier der sechs Diphthonge als eine Variante die ‚Verschriftung mit distantem ‘ oder (Vokal, Konsonant, ).3 Mit dieser Auflistung ist es naheliegend, sowohl und als auch und als Alternativen (Allographen) innerhalb der Diphthongschreibungen zu interpretieren.
Abb. 3: System der englischen Schreibdiphthonge, phonographisch
Zusätzlich kommt vor. Die Abbildung zeigt, dass graphematische Erst- und Zweitbestandteile nicht willkürlich miteinander kombinieren, sondern dass Erstbestandteile sind, Zweitbestandteile; mit haben wir noch eine offene Kombination; wir kommen darauf zurück (s. 7.2).
. Schreibdiphthonge im Englischen, innergraphematisch Wir gehen also nun einen Schritt weiter und bestimmen die Schreibdiphthonge. Betrachten wir wie im letzten Abschnitt nur die -Verbindungen in graphematischen Einsilbern, so ergeben sich folgende Schreibdiphthonge mit ihrer
3 Mit dieser Sichtweise ergibt sich die Schreibung als ‚Alternativschreibung‘ zu ; der Typ ist in keinem Fall die einzige mögliche Schreibung für die entsprechenden Phoneme oder Phonemkombinationen, es gibt immer eine Alternative, das könnte eben die Begründung dafür sein, dass sich die synchron auffällige Schreibung so stabil hält.
Nanna Fuhrhop, Kristian Berg
Häufigkeit ( und sind hier zusammengefasst, weil sie regelmäßig morphologisch determiniert alternieren, z.B. – , vgl. Berg 2013): Tab. 4: Zwei kompakte Buchstaben im Einsilber im Englischen, absolute Zahlen
erster Bestandteil
zweiter Bestandteil a
e
o
u
i/y
a
e
o
u
i/y
In relativen Häufigkeiten stellt sich das englische System wie folgt dar (relative Vorkommen von mehr als 5% sind fett gesetzt): Tab. 5: Zwei kompakte Buchstaben im Einsilber im Englischen, relative Zahlen
Erster Bestandteil
zweiter Bestandteil a
e
o
u
i/y
a
.%
.%
.%
.%
.%
e
.%
.%
.%
.%
.%
o
.%
.%
.%
.%
.%
u
.%
.%
.%
.%
.%
i/y
.%
.%
.%
.%
.%
Hier wird deutlich, dass auch mit und kombiniert; wir haben (in beat, head, steak etc.) und (in coat etc.). Klammern wir wiederum die Doppelungen (im Englischen und ) aus, ergibt sich folgende Verteilung für die Buchstaben an erster und zweiter Position:
Schreibdiphthonge und graphematische Silbenkerne
Tab. 6: Anzahl der ersten und zweiten Bestandteile in englischen Einsilbern
erster Bestandteil zweiter Bestandteil
a / ,% / ,%
e / ,% / ,%
i/y / ,% / ,%
o / ,% / ,%
u / ,% / ,%
Der undeutlichste Fall ist , der deutlichste ist . Aber auch bei gibt es eine Präferenz, es ist deutlich häufiger Zweitbestandteil. ist Zweitbestandteil, außer in Kombination mit und hier insbesondere , ist Zweitbestandteil mit . passt sich seinem ‚Partner‘ an, es kombiniert mit allen anderen und kann dann entweder Erst- oder Zweitbestandteil sein. Hieraus ist ein System abzuleiten, das insgesamt interpretiert werden kann.
Abb. 4: System der englischen Schreibdiphthonge, innergraphematisch
sind Erstbestandteile, sind Zweitbestandteile, ist ein Zwitter – es kombiniert mit den anderen vieren und ist bei der Kombination mit Erstbestandteilen (also ) selber Zweitbestandteil und bei der Kombination mit Zweitbestandteilen (also ) wird es zum Erstbestandteil. Dieses System ist auf der letzten Tabelle (insgesamt Erst- und Zweitbestandteil) aufgebaut – bei den Kombinationen überhaupt fällt zusätzlich ins Gewicht.
. Zusammenfassung: Diphthonge im Englischen Geht man jetzt wieder in die Phonographie, zeigt sich, dass als Zweitbestandteil als ‚Silbenöffner‘ fungiert: Ein als Zweitbestandteil hat den gleichen Effekt wie das Muster ‚_Ce‘, welche graphematische Zweisilber sind (aber nicht mit phonologischen Zweisilbern korrespondieren): (3) a. mete – meat / peke – peak / steal – stele b. pope – boat / lone – loan
Nanna Fuhrhop, Kristian Berg
Diese Parallelität legt nahe, und als graphematischen Hiat zu betrachten – graphematisch gehören die beiden Vokalbuchstaben zu verschiedenen Silben. Damit kann man die phonographische Korrespondenz gut erfassen. Und faktisch führt dies dazu, dass innerhalb von Schreibdiphthongen im Englischen Erstbestandteil ist und an zweiter Stelle eine neue graphematische Silbe bildet, s. auch 7.2.
Schreibdiphthonge im Französischen Das Französische hat keine Sprechdiphthonge (z. B. Pustka 2011: 95). Deswegen starten wir hier mit der innergraphematischen Betrachtung und untersuchen diese dann mit Blick auf ihre lautlichen Korrespondenzen (graphophonisch).
. Schreibdiphthonge im Französischen, innergraphematisch Das französische Schriftsystem enthält viele Sequenzen von zwei oder auch sogar drei kompakten Buchstaben. In Tabelle 7 finden sich einige Beispiele für einige typische Kombinationen von kompakten Buchstaben. Die meisten dieser Beispiele enthalten recht eindeutig als Silbenkern lediglich einen Monophthong. Wir beschränken uns im Folgenden auf die Kombination zweier kompakter Buchstaben. Tab. 7: Beispiele für französische Schreibdiphthonge und Schreibtriphthonge ai au eu oi ou eau oeu ieu
mais, lait, trait, pain chaud, jaune, faux bleu, deux, fleur, neuf, bleu bois, trois, roi, froid, croix, moi, noir, soir tour, vous, bout, cou, pour, coup, tout, cour eau, beau, peau boeuf, coeur, oeuf dieu, lieu
Die folgende Tabelle zeigt, wie häufig welche Vokalbuchstaben miteinander kombinieren. Sind Varianten mit Akzentzeichen vertreten, wird die Gesamtzahl präsentiert und in der Klammer die einzelnen Häufigkeiten aufgelistet. Datengrundlage sind die 1.634 monomorphematischen graphematischen Einsilber in
Schreibdiphthonge und graphematische Silbenkerne
der lexikalischen Datenbank Lexique (New et al. 2001); gefiltert wurden einerseits Einträge mit Kombinationen von drei Vokalgraphemen (s.u.) sowie verbale Infinitive wie tuer. Tab. 8: Zwei kompakte Buchstaben im französischen Einsilber
erster Bestandteil
zweiter Bestandteil a
e
i
o
u/û
a
–
e/é
(/)
(/)
(/)
i
–
o
(/)
u
–
Überprüft man die Einträge grob und rechnet die offensichtlichsten Anglizismen heraus (die im Korpus nicht als solche annotiert sind), ergibt sich folgende relativ eindeutige Darstellung. Tab. 9: Zwei kompakte Buchstaben im französischen Einsilber, ohne offensichtliche Anglizismen
zweiter Bestandteil
erster Bestandteil
a
e
i
o
u/û
4
a
–
e/é
(/)
(/)
(/)
i
–
o
(/)
u
() 5
6
–
4 : bis auf taon, faon, paon (alle mit ) nur Fremdwörter (mao, dao, chaos, lao) 5 : 6 morphologisch komplex (z.B. tuant – tuer) 6 : nur offene Silben (8, rue, vue) und ein Anglizismus, blues
Nanna Fuhrhop, Kristian Berg
Die relativen Werte sind in Tabelle 10 aufgeführt: Tab. 10: Zwei kompakte Buchstaben im französischen Einsilber, relative Zahlen
erster Bestandteil
zweiter Bestandteil a
e
i
o
u/û
a
.%
.%
.%
.%
.%
e/é
.%
.%
.%
.%
.%
i
.%
.%
.%
.%
.%
o
.%
.%
.%
.%
.%
u
.%
.%
.%
.%
.%
Die häufigste Kombination ist hier mit einigem Abstand . Danach folgen , und sowie , und . Wenn wir die Verdoppelungen ausklammern, ergeben sich als Erst- und Zweitbestandteile: Tab. 11: Erst- und Zweitbestandteile im französischen Einsilber, absolut
a
e
é
i
o
u
û
erster Bestandteil
-
zweiter Bestandteil
-
und sind relativ deutlich auf Positionen festgelegt, als Erstbestandteil und als Zweitbestandteil (, ). Ansonsten zeigt sich bis hierher weniger Klarheit als bei den anderen Sprachen. Allerdings scheint das wesentlich an zu liegen, das vermeintlich sowohl an erster als auch an zweiter Stelle vorkommt (, ). So ist Zweitbestandteil, lediglich in der Kombination mit Erstbestandteil (, , vs. ). Betrachten wir die -Kombinationen etwas genauer. Wenn mit , oder kombiniert, an welcher Position ist dann häufiger? Ist z.B. frequenter oder ?
Schreibdiphthonge und graphematische Silbenkerne
Tab. 12: Kombinationen mit |i| im französischen Einsilber |i| als Erstbestandteil
|i| Zweitbestandteil
a und i
e und i
o und i
Lediglich in der Kombination mit ist der häufigere Erstbestandteil (chien, ciel, rien vs. beige, plein, seize, teint), in allen anderen Fällen kommt es doppelt so häufig als Zweitbestandteil vor (iambe, liage, liant vs. air, bain, baisse; fiole, fion pioche vs. trois, boire, croix). Ohne als Erstbestandteil für sind sie selbst wesentlich häufiger Erst- als Zweitbestandteile. Für diese Sichtweise holen wir uns im nächsten Abschnitt Evidenz aus der Phonographie. Tab. 13: Erst- und Zweitbestandteile im französischen Einsilber, relativ
erster Bestandteil zweiter Bestandteil
a % %
e % %
o % %
. Schreibdiphthonge im Französischen, graphophonisch Wenn der erste Bestandteil ist, steht es für einen Gleitlaut, mit der Ausnahme von am Wortende (Brie, vie). korrespondiert mit /ɥi/ (fruit, lui, nuit), außer bei den Wörtern, die mit anfangen: (4)
guiche, guide, guigne, guimpe, guinche
Das Gleiche kann man für behaupten, wenn man von der speziellen Kombination absieht, s. unten. In gewisser Weise sind also und als Erstbestandteile phonographisch – sie stehen für Gleitlaute. Bei der Kombination dieser beiden steht wie gesagt typischerweise als Erstbestandteil. Auch hier gilt: Der Erstbestandteil korrespondiert mit einem Gleitlaut, der zweite korrespondiert mit einem phonologischen Silbenkern.
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Damit ergibt sich folgendes Bild: und sind in Schreibdiphthongen Zweitbestandteile. Treten sie als Erstbestandteile auf, sind sie phonographisch als Gleitlaute zu lesen. Die übrigen Korrespondenzen sind die folgenden: Tab. 14: Korrespondenzen von frz. Schreibdiphthongen
/ɛ/
lait
/o/
chaud
/ɛ/
plein
/ø/
bleu
/wa/
trois
/u/
pour
Damit ergibt sich ein Bild, das durchaus mit dem Deutschen und dem Englischen vergleichbar ist: , und sind Erstbestandteile, und sind Zweitbestandteile. Das Französische hat phonologisch drei Gleitlaute, ‚graphematisch‘ dafür zunächst nur und . Die entsprechende Kombination wird dann mit einer Buchstabenkombination verschriftet, die als Kern für /u/ steht, in Kombination mit anderen Vokalen dann zum Gleitlaut wird, eben wie in ([dwɛl], [dwe], douane [dwan], couac [kwak], couic [kwik], oui [wi]). Interessant ist außerdem die vermeintliche Konkurrenz zwischen und , die beide mit /ɛ/ korrespondieren (, ). Das erinnert an die Konkurrenz zwischen den gleichen Graphemkombinationen im Deutschen, allerdings ist im Französischen sehr viel häufiger. Alle genannten Schreibdiphthonge korrespondieren mit einem Monophthong außer , das für /wa/ steht. Dieser Gleitlaut kommt in 54 Fällen vor, in denen VV in der Silbe steht.
Abb. 5: System der französischen Schreibdiphthonge
Schreibdiphthonge und graphematische Silbenkerne
Die Schreibdiphthonge stehen also, außer , für einfache Vokale. Sind das die normalen Verschriftungen für die Vokale? Catach (32003: 10) gibt folgendes an: Tab. 15: Korrespondenzen, relativ
/ɛ/
/o/ /ø/ /wa/ /u/
e+è ai o au eau eu oi ou
, % % % % % % % %
Hier ist zu erkennen, dass die Schreibdiphthonge recht gut etabliert sind. So sind , , für die jeweiligen Lautungen die ‚normalen‘ Schreibungen, , sind noch mit 30 bzw. 21 % vertreten.
Schreibdiphthonge im Niederländischen Im Niederländischen kommen – wie auch im Französischen – größere Anhäufungen kompakter Buchstaben vor, so Schreibungen wie , , , , . Sie werden in der Phonologie unterschiedlich diskutiert, so als ‚lange Diphthonge‘ („analyzed as tense vowels by a heteroganic semivowel consonant“, van Heuven 2012: 99); in den Beschreibungen des niederländischen Schriftsystems (Van Megen/Neijt 1998: 6 und de Schrijver/Neijt 2005: 93ff., Nunn 1998: 15) werden sie nicht als Verschriftungen der angenommenen Diphthonge aufgelistet. Daher beschränken wir uns hier auch auf die Folgen aus zwei kompakten Buchstaben neben den angenommenen Verschriftungen von Sprechdiphthongen.
. Diphthonge im Niederländischen, phonographisch Für das Niederländische nennen die Phonologien folgende Sprechdiphthonge (Nunn 1998: 10). (5)
/ɛi/, /ɶy/, /ɑu/
Nanna Fuhrhop, Kristian Berg
Van Megen/Neijt 1998: 6 und de Schrijver/Neijt 2005: 93ff. geben folgende Korrespondenzen: Tab. 16: Beispiele für niederländische Sprechdiphthonge Sprechdipthong /ɛi/
korresp. Schreibung
/ɶy/
/ɑu/
Beispiele gein, beits, rein, reis, weit, seil bijl, bijt, dijk, lijk, lijn buik, buil, fuik, duif, duits baud, dauw, faun, pauk boud, bout, gouw, gout
in Fällen (%), mit in (%) Fällen
Weil für den ersten Diphthong eine Schreibung mit (also einem nicht-kompakten Buchstaben) angegeben ist, haben wir die entsprechenden absoluten und relativen Zahlen aus CELEX mit angegeben; ist also durchaus eine präsente Schreibung. Die Sprechdiphthonge korrespondieren mit Schreibdiphthongen (, , , ), mit Ausnahme von . Dabei sind , und auf die erste Position beschränkt. und können hier beide Positionen einnehmen, als Erstbestandteil nur mit .
Abb. 6: System der niederländischen Schreibdiphthonge, phonographisch
Im Niederländischen können alle Vokalgrapheme in erster Position auftreten, das ist außergewöhnlich. In zweiter Position ist das Niederländische genauso be-
Schreibdiphthonge und graphematische Silbenkerne
schränkt wie die anderen Sprachen, zusätzlich kommt hinzu. Alle Erstbestandteile kombinieren mit genau einem Zweitbestandteil, und sind als Zweitbestandteile komplementär verteilt; als Erstglied kombiniert mit und als Erstbestandteil dann mit einem nicht-kompakten Buchstaben, nämlich . Das System sieht so aus, als würde es die einfachste Kombinatorik in dem Sinne nutzen, dass genau ein Erstglied mit genau einem Zweitglied kombinieren kann und auch nur in eine Richtung, daher ‚nutzt‘ ein Element, das ansonsten als Zweitglied vorkommt (), einen anderen Zweitbestandteil.
. Schreibdiphthonge im Niederländischen, innergraphematisch Die folgende Tabelle zeigt, wie häufig die einzelnen Kombinationen von zwei Vokalgraphemen in graphematischen Einsilbern im Niederländischen sind. Die Daten stammen aus der lexikalischen Datenbank CELEX; Einsilber mit initialem wurden ausgeschlossen. Tab. 17: Kombinationen von kompakten Buchstaben in niederländischen Einsilbern, absolut
erster Bestandteil
zweiter Bestandteil a
e
i
o
u
a
e
i
o
u
Es finden sich sehr viel Doppelvokalschreibungen (insbesondere , , ). Diese werden bei den relativen Werten in der folgenden Tabelle nicht mitgerechnet. Die Werte ab 5% sind fett gesetzt.
Nanna Fuhrhop, Kristian Berg
Tab. 18: Kombinationen von kompakten Buchstaben in niederländischen Einsilbern, ohne Doppelvokale, relativ
erster Bestandteil
zweiter Bestandteil a
e
i
o
u
a
-
,%
,%
,%
,%
e
,%
-
,%
,%
,%
i
,%
,%
-
,%
,%
o
,%
,%
,%
-
,%
u
,%
,%
,%
,%
-
Über 5% liegen dann: . Die Schreibdiphthonge mit als Erstbestandteil kommen seltener vor, wenn dann aber als Erstbestandteil in Kombination mit und , also analog zum Deutschen (zusammengerechnet erreichen diese beiden die 5-Prozent-Grenze, daher führen wir sie in Klammern mit). Ansonsten kommen als Zweitbestandteile vor und als Erstbestandteile . Die niederländischen Diphthonge sind also vielseitig, lediglich (und ) kommen nicht als Zweitbestandteil vor. ist besonders kombinationsfreudig – mit als Erstbestandteil, mit als Zweitbestandteil und mit in beide Richtungen. Prozentual machen die beiden Schreibdiphthonge mit als zweitem Bestandteil knapp 42% aus, die mit als erstem noch einmal 17%. Nur zur Veranschaulichung: lediglich korrespondiert auch mit einem Sprechdiphthong; die anderen mit Sprechmonophthongen: – /u/; – /i/; – /ø/. Tab. 19: Kombinatorik von in niederländischen Schreibdiphthongen o i
e e e e
i u
,% ,% ,% ,%
Außer diesen vieren finden sich und : ist der einzige Buchstabe, der nicht mit kombiniert; kommt auch als Erstbestandteil vor. Es ergibt sich damit die Gesamtsystematik, dass alle Erstbestandteile entweder mit oder mit kombinieren, auch würde sich bei aller Seltenheit hier einreihen:
Schreibdiphthonge und graphematische Silbenkerne
Abb. 7: Schreibdiphthonge im Niederländischen, innergraphematisch
Daneben finden sich Kombinationen mit als zweitem Bestandteil, nämlich , und . Das Niederländische zeigt also jeweils drei Kombinationen mit und als Zweitbestandteil, mit die klassischen Buchstaben mit im Mittelband gebogenem Kopf (), mit hingegen , mit ein Buchstaben mit einen nicht gebogenen Kopf; dafür wird als Zweitbestandteil mehr etabliert. In der Verschriftung der Sprechdiphthonge finden sich die gleichen Zweitbestandteile wie in den anderen Sprachen auch. Allerdings wartet das Niederländische bei den graphematischen Diphthongen mit einer ziemlich überraschenden Komplementarität auf. So sind und in der Zweitposition komplementär verteilt. Das führt hinsichtlich der Klassenkombination bei und zu Irritationen. Der Zweitbestandteil (, ) steht typischerweise in Schreibdiphthongen, die mit Sprechmonophthongen korrespondieren (/u/,/i/). Damit ist aber im Niederländischen der graphematische Silbenkern häufig sehr viel unklarer als in den anderen Sprachen. Möglicherweise ist die Präferenz für eindeutige Kompaktheitsmaxima im Niederländischen weniger ausgeprägt als in den anderen Sprachen.
. Zusammenfassung Niederländische Diphthonge Vergleicht man die Diphthongschreibungen mit den Schreibdiphthongen, zeigen sich interessante Querverbindungen. Als Diphthongschreibungen wurden oben in Einklang mit Beschreibungen des niederländischen Schriftsystems angenommen; wir hatten festgehalten, dass jeder Erstbestandteil mit genau einem Zweitbestandteil kombiniert. Außerdem sind und an Zweitposition komplementär verteilt. Bei der innergraphematischen Verteilung hingegen sind und komplementär verteilt; ist sehr präsent in den Schreibdiphthongen.
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Tab. 20: Verschriftung von Sprechdiphthongen und Schreibdiphthonge im Niederländischen phonologisch diphthongisch
ij – /ɛi/
graphematisch und phonologisch diphthongisch – /ɑu/ – /ɑu/ – /ɛi/ – /ɶy/
graphematisch diphthongisch
– /ø/ – /u/ – /i/
Die Häufung von bei den rein graphematischen Diphthongen ist wie gesagt auffällig. Außerdem finden sich sowohl bei den rein phonologisch diphthongischen als auch bei den graphematisch diphthongisch (also in der linken und in der rechten Spalten) Schreibungen mit als erstem Bestandteil, in der mittleren Spalte kommt nur als Zweitbestandteil vor. Damit ergibt sich folgende Interpretation: steht in ‚Konkurrenz‘ zu , beide korrespondieren mit /ɛi/; der einzige e-haltige Schreibdiphthong, der mit einem Sprechdiphthong korrespondiert (und sogar als phonographisch erwartbar gelten kann), bekommt also durch eine überaus auffällige Schreibung Konkurrenz. Damit wird die phonographische Lesart von in Schreibdiphthongen weiter relativiert.
Zusammenstellung der einzelsprachlichen Diphthongsysteme Aus den Untersuchungen im Deutschen, Englischen, Französischen und Niederländischen haben sich phonographisch und graphematisch fundierte Systeme von Schreibdiphthongen ergeben, die hier noch einmal zusammengestellt werden:
Schreibdiphthonge und graphematische Silbenkerne
Abb. 8: Die verschiedenen Schreibdiphthongsysteme im Vergleich
Es ist schon sehr auffällig, dass sich in den betrachteten Sprachen die Erst- und Zweitbestandteile ähneln: In der Tendenz sind eher die Erstbestandteile und die Zweitbestandteile. Das führt zu einigen grundlegenden Überlegungen zum Silbenkern.
Nanna Fuhrhop, Kristian Berg
Überlegungen zum graphematischen Silbenkern . Ausgehend von den Diphthongen Phonologisch haben die genannten Sprachen eher schließende Diphthonge; die Sonorität der beiden Bestandteile unterscheidet sich also und das Sonoritätsmaximum liegt auf dem Erstbestandteil. Bei den Buchstaben findet sich eine Kompaktheitshierarchie oder eine Längenhierarchie. In der Längenhierarchie (Fuhrhop & Buchmann 2009, Fuhrhop & Buchmann 2011) werden verschiedene Längen- bzw. Kompaktheitsklassen angenommen. Diese Klassen lassen sich aufgrund verschiedener Formen der Buchstabensegmente festlegen: Jeder Buchstabe besteht aus mindestens zwei Segmenten, dem Kopf und der Koda. Der Kopf füllt immer wenigstens das Mittelband aus, und zwar auf dem kürzesten Weg. Und Kodas sind niemals lang – daher ist bei den Buchstaben, die mit einem Element das Mittelband ausfüllen und darüber hinausgehen, der lange Bestandteil der Kopf (|d|, |h| usw.,7 82f). Die Buchstaben mit den im Mittelband gebogenen Köpfen haben die höchste Kompaktheit. In den meisten der gefundenen Schreibdiphthonge kombinieren Buchstaben unterschiedlicher Kompaktheitsklassen miteinander. Damit ist es also im Allgemeinen möglich, ein eindeutiges Kompaktheitsmaximum auszumachen. Und dieses Kompaktheitsmaximum fungiert als Silbenkern. Wie gesagt, geht es uns nicht primär darum, phonographische Beziehungen zu beschreiben, sondern es geht uns um die genuine Schreibsilbe. Und hier zeigt sich, dass in den betrachteten Schreibdiphthongen, in denen zwei Buchstaben hoher Kompaktheitsklassen miteinander kombinieren, nicht wild durcheinander kombiniert wird; vielmehr gibt es ein sprachübergreifendes Präferenzprinzip der Mischung aus verschiedenen Kompaktheitsklassen: Präferenzprinzip für Schreibdiphthonge: Schreibdiphtonge, die aus Buchstaben aus zwei Kompaktheitsklassen bestehen, sind gegenüber solchen bevorzugt, die aus der gleichen Klasse kombinieren.
7 Zur Begründung der Klassen vs. s. auch Fuhrhop & Buchmann (2011: 83); zur Begründung von als kurzköpfig ebd.
Schreibdiphthonge und graphematische Silbenkerne
langer Kopf
schräger Kopf
b, p, q, d, g k, h, t, ß, j, f
v, w, x, z, s
kurzer gerader Kopf
gebogener Kopf
k o m p a k t
LÄNGE
m, n, r, l r, l
i, u
a, e, o
KOMPAKTHEIT
Abb. 9: Die Längenhierarchie
Der Sinn für diese deutliche Präferenz: Weicht eine Struktur von der üblichen ab, finden sich entweder Morphemgrenzen oder Hiate, also Silbengrenzen. Natürlich kann es auch in den üblichen Kombinationen Grenzen geben wie Mensauntersuchung, beirren, geurteilt, Omainsel, reinterpretieren. Hier verlaufen jeweils Morphemgrenzen zwischen den kompakten Buchstaben. Zu einer eindeutigen Erkennung ist hier sicherlich noch nicht das letzte Wort gesprochen. Im Englischen finden sich mit und zwei Fälle, in denen vermeintlich zwei Buchstaben aus einer Kompaktheitsklasse miteinander kombinieren. fungiert hier, wie in 3.2 gezeigt, als ‚Silbenöffner‘, und zwar phonographisch. Es spricht also viel dafür, hier anzunehmen, dass das nicht eine Silbe ist, sondern zwei; auch innergraphematisch würde das passen, denn es handelt sich dann um einen graphematischen Hiat und es sind zwei graphematische Silbenkerne.8
. Hiat Wir haben an verschiedenen Stellen thematisiert, ob Diphthonge von Hiaten unterschieden werden können. Dabei geht es – wie auch sonst – einerseits um die Korrespondenzen phonologischer Diphthonge und andererseits um die Frage, ob auch ‚Der graphematische Hiat‘ ein sinnvolles Konzept ist. Insbesondere geht es
8 Einzeln mag die Argumentation hier ein wenig ad hoc wirken, im Zusammenhang ist sie das aber keineswegs. Im Deutschen wird beispielsweise in vergleichbaren Fällen ein silbeninitiales gesetzt; hier handelt es sich graphematisch um sichtbar getrennte Silben und damit auch um sichtbar getrennte Silbenkerne. Im Deutschen wird aber das silbentrennende nicht gesetzt nach Schreibdiphthongen (Bauer, Feuer, Haie) – die These wäre hier, dass es im Deutschen so deutlich ist, dass nicht drei kompakte Buchstaben zu einer Silbe gehören, dass die klare Markierung nicht nötig ist.
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hier aber darum, Hinweise zu sammeln, welche Mechanismen die Schriftsysteme entwickelt haben, Unterschiede zwischen Diphthongen und Hiaten auch graphisch zu zeigen. Im Deutschen gibt es zur Verdeutlichung von Hiatstrukturen insbesondere das silbeninitiale . Es steht systematisch zwischen kompakten Buchstaben und (nahe, Nähe, drehen, drohen, Höhe, Ruhe, Mühe) mit den beiden Ausnahmen säen, Böe. Nach Schreibdiphthongen steht es eher nicht (Laie, Lauer, Feuer), nach , kommt beides vor (leier – leihen, fliehen – schrieen). Drei kompakte Buchstaben im nativen Wortschatz des Deutschen sind zweisilbig zu interpretieren. Kompakte Buchstaben können außerdem an Morphemgrenzen auftreten: beirren, beurteilen, Mensaunfall, häufig sind es aber eher unübliche Kombinationen wie beobachten, beachten. Es gibt also zwei Hinweise, Hiatstrukturen zu erkennen: Das silbeninitiale und ungewöhnliche Kombinationen (also jenseits von ei, eu, ie, au und seltener ai, äu). Dabei ist das silbeninitiale gerade kein graphematischer Hiat; graphematisch wird ja sehr deutlich eine neue Silbe gekennzeichnet, es ist eine Struktur, um einen phonologischen Hiat in der Schriftstruktur deutlich von einer einsilbigen Struktur zu unterscheiden. Im Englischen haben wir einerseits im zweiten Bestandteil als ‚Hiatstruktur‘ bezeichnet, weil es phonographisch die gleichen Korrespondenzen hat wie die entsprechenden ‚graphematisch zweisilbigen‘ Strukturen (also mete wie meat, goal wie whole usw.). Beides referiert aber auf graphematischen Strukturen. Deswegen wäre das ein graphematischer Hiat, ebenso wie whole, mete auch ausschließlich auf der graphematischen Ebene Zweisilber sind. Auch die Wechsel – und – können zum Teil so interpretiert werden: Bei power, layer usw. sichert der Wechsel die Zweisilbigkeit (*pouer – *laier). Im Französischen und Niederländischen hat sich ein Trema durchgesetzt: frz. égoïste, ndl. egoïst. Alle Sprachen entwickeln also auf unterschiedliche Weise Hiaterkennungsstrategien.
. Silbenkern, allgemeiner Der Silbenkern wird hier eindeutig als relationaler Begriff geführt s. Lieb (1999: 233). Die Kompaktheitsklassen sind hingegen kategorial. Für eine graphematische Silbe ist der Silbenkern konstitutiv. In der Phonologie gilt das Sonoritätsmaximum innerhalb einer Silbe als der Silbenkern, zumindest für die hier diskutierten Sprachen. Daraus folgt dann
Schreibdiphthonge und graphematische Silbenkerne
auch, dass ein eventuell vorhandener Vokal innerhalb der Silbe der Silbenkern ist. Sind mehrere Vokale vorhanden (so in Sprechdiphthongen), ist der sonorere der Silbenkern. Ist kein Vokal vorhanden, ist der sonorste Konsonant der Silbenkern. Offenbar kann aber nicht jeder Konsonant Silbenkern sein. Ein Sonoritätsanstieg im Endrand führt nicht zwangsläufig zur Bildung einer neuen Silbe, sondern es gibt extrasyllabische Laute. Auch hier ist wieder interessant, welche Laute extrasilbisch sein können – im Deutschen, Englischen und vielen anderen Sprachen nämlich ausschließlich alveolare und postalveolare Frikative. Für den Silbenkern bedarf es eines Mindestmaßes an Sonorität. In der Graphematik ist das Kompaktheitsmaximum innerhalb einer Silbe der Silbenkern. Wenn zwei kompakte Buchstaben vorhanden sind, ist derjenige Silbenkern, der den im Mittelband gebogenen Kopf hat, also . In der nächsten Klasse folgen die kurzköpfigen Buchstaben, die nicht nach oben angeschlossen sind, also . Die Frage wäre nun, ob auch die weiteren kurzköpfigen Buchstaben potentielle Silbenkerne sind. Für das Standarddeutsche kann hier eine sehr deutliche Antwort gegeben werden: nein. Denn solche Schreibsilben kommen nicht vor, wird in den Silbenkern geschrieben: Trüffel, Atem, legen usw. Das heißt, dass in dem Kontinuum von abnehmender Länge und zunehmender Kompaktheit das Kompaktheitsmaximum nicht auf einem kurzen nur nach oben geschlossenen Buchstaben (|n, m, r, l|) liegen kann.9 Offenbar kann also für das Standarddeutsche festgehalten werden, dass die Funktion des Silbenkerns ausschließlich von den Mitgliedern der beiden höchsten Kompaktheitsstufen ausgefüllt werden kann. Die Referenz auf das Standarddeutsche ist hier wichtig – Schreibungen wie Gustl, Dirndl aber auch heil’gen, leg’n können zeigen, dass dieses Gebot im Nicht-Standarddeutschen weniger strikt gilt.
. Fazit In den vier untersuchten Sprachen zeigen sich überraschende Korrespondenzen innerhalb der Diphthonge; so gibt es nicht an und für sich eine ‚Diphthongkorrespondenz‘, also weder korrespondieren immer Schreibdiphthonge mit Sprechdiphthongen noch umgekehrt. Aber auch wenn Schreib- und Sprechdiphthonge miteinander korrespondieren, sind es häufig keine ‚Eins-zu-eins-Korresponden-
9 In Fuhrhop & Buchmann (2009: 146) wurde gezeigt, dass lediglich |s| extrasyllabisch vorkommt, wenn man |ch| als ein Graphem begreift.
Nanna Fuhrhop, Kristian Berg
zen‘. Die Auffälligkeit, die sich auch sonst schon immer zeigt, dass die konsonantischen Korrespondenzen sehr viel deutlicher sind als die vokalischen, zeigt sich bei den Diphthongen in beide Richtungen potenziert. Die Regelmäßigkeiten der Schreibdiphthonge (und der Diphthongschreibungen) müssen also anders strukturiert sein und wir haben einige deutliche Regelmäßigkeiten zeigen können. So zeigen sich innergraphematisch interessante Regularitäten. In den untersuchten Sprachen finden sich doch überraschend viele Ähnlichkeiten, was Erstund Zweitbestandteile in den Diphthongen betrifft. Und es zeigt sich, dass innerhalb einer Silbe deutlich eher Vokalbuchstaben unterschiedlicher Kompaktheitsklassen miteinander kombinieren als gleicher. Im Gegenteil scheint es so zu sein, dass die Kombination gleicher Kompaktheitsklassen immer direkt interpretiert werden kann – im Französischen sind das die Gleitlaute, im Deutschen morphologische Grenzen (beachten), im Englischen das Silbenöffnen (boat). Aus der Beobachtung ergeben sich bestimmte Annahmen über präferierte Silbenkerne. Wir gehen davon aus, dass eine Schreibsilbe einen Silbenkern hat, sie sogar über den Silbenkern definiert ist. Die einzige Ausnahme ist . Es kann – obwohl es kein kompakter Buchstabe ist – auch als Silbenkern fungieren. Für die Diphthongbetrachtung ist diese Annahme aber auch wieder interessant. Denn innerhalb der englischen Diphthonge scheinen sich und zum Teil parallel zu verhalten, ebenso wie im Niederländischen in zumindest als diphthongnah beschrieben werden kann. Weder noch können aber die Silbenkernfunktion einnehmen. So ähnlich sich diese Buchstaben innerhalb der Diphthonge verhalten, so unterschiedlich verhalten sie sich jenseits der Diphthonge.
Schreibdiphthonge und graphematische Silbenkerne
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Martin Evertz-Rittich
Die Geschichte und Gegenwart des graphematischen Fußes im Englischen und Deutschen Abstract: Die Suprasegmentale Graphematik geht davon aus, dass Einheiten in alphabetischen Schriftsystemen existieren, die größer sind als einzelne Segmente. Während Einheiten wie die graphematische Silbe und das graphematische Wort in der Literatur Beachtung finden, ist der graphematische Fuß eine erst kürzlich vorgeschlagene Einheit in der Graphematik. Dieser Artikel soll einen Beitrag zu der Diskussion um den graphematischen Fuß leisten, indem synchrone und diachrone Sprachdaten zu dieser Einheit ausgewertet werden. Hierbei werden vor allem zwei Phänomene betrachtet, die den graphematischen Fuß besonders sichtbar machen: graphematische Geminaten im Englischen und Deutschen und das stumme im Englischen. Es wird in diesem Artikel dafür argumentiert, dass beide Phänomene in früheren Sprachstadien segmentale Informationen kodierten: Graphematische Geminaten kodierten phonologische Geminaten und das finale kodierte Schwa. In beiden Sprachen verschwanden die phonologischen Geminaten und das finale im Englischen wurde stumm. Hierdurch verloren beide graphematischen Phänomene ihre ursprüngliche Funktion. Aber anstatt zu verschwinden, haben graphematische Geminaten und das finale neue Funktionen erhalten, die mit dem graphematischen Fuß zusammenhängen. Dieser neue Zugang erweitert nicht nur die Diskussion um den graphematischen Fuß um eine diachrone Dimension, er vermag ebenfalls Hinweise darauf zu geben, warum und wie suprasegmentale Einheiten in alphabetischen Schriftsystemen entstanden sind.
Martin Evertz-Rittich, Institut für deutsche Sprache und Literatur I, Universität zu Köln, Albertus Magnus Platz, 50923 Köln, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110710809-003
Martin Evertz-Rittich
Einleitung Derzeit ist eine neue Disziplin in der Schriftlinguistik im Begriff zu entstehen, die suprasegmentale Graphematik genannt werden kann.1 Der grundlegende Gedanke dieser neuen Disziplin ist die Annahme, dass Einheiten in alphabetischen Schriftsystemen existieren, die größer als einzelne Segmente sind. Diese Einheiten sind in der sogenannten graphematischen Hierarchie organisiert. Die Existenz suprasegmentaler Einheiten und das Prinzip der hierarchischen Organisation sind keine Besonderheiten der Schriftsprache, sie kommen in allen Modalitäten der Sprache, d.h. gesprochene, gebärdete und geschriebene Sprache, vor (vgl. Primus 2003, Domahs & Primus 2015). Mehr noch: Die suprasegmentalen Einheiten in den verschiedenen Modalitäten und die Hierarchien, in denen sie jeweils organisiert sind, ähneln sich.
Abb. 1: Die graphematische Hierarchie (Evertz & Primus 2013: 2, Evertz 2018: 21)
Anhand der Einheit Silbe, die in allen Modalitäten identifiziert werden kann, machen dies Domahs & Primus (2015) deutlich: Neben modalitätsspezifische Eigenheiten existieren modalitätsübergreifende Aspekte der Silbe, u.a. die Tatsache,
1 Dieser Beitrag ist eine erweiterte Version von Evertz (2019), erschienen in „Graphemics in the 21st Century: Proceedings of the 2018 Conference“.
Die Geschichte und Gegenwart des graphematischen Fußes
dass Silben in allen Modalitäten einen obligatorischen Kern und fakultative Ränder haben und dass salientere Elemente (Buchstaben, Phone, Gesten) im Kern auftauchen, während weniger saliente Elemente in den Rändern vorkommen. Viele der Einheiten in der graphematischen Hierarchie finden in der linguistischen und psycholinguistischen Literatur Beachtung. Die Existenz und Relevanz des graphematischen Wortes (vgl. z.B. Fuhrhop 2008, Evertz 2016) ist unumstritten. Die graphematische Silbe wurde in der linguistischen und psycholinguistischen Literatur extensiv diskutiert (vgl. z.B. Butt & Eisenberg 1990, Roubah & Taft 2001, Domahs et al. 2001, Primus 2003, Rollings 2004). In diesem Beitrag steht eine Einheit im Fokus, die erst vor Kurzem für das Englische und Deutsche vorgeschlagen wurde, der graphematische Fuß (vgl. Primus 2010, Evertz & Primus 2013, Evertz 2016, Ryan 2017, Evertz 2018). Mithilfe dieser Einheit kann die graphematische Hierarchie – zumindest bis zur Wortebene – parallel zur phonologischen Hierarchie komplettiert werden, vgl. Abb. 1. Wichtig hierbei ist, dass die Einheiten innerhalb dieser Hierarchie nicht bloße Abbilder ihrer Pendants in der phonologischen Hierarchie sind, sondern unabhängig und rein graphematisch motiviert und definiert sind (Evertz 2018). In diesem Beitrag soll der graphematische Fuß, der bisher vor allem synchron betrachtet worden ist, auch von einer diachronen Sichtweise beleuchtet werden. Dies soll dazu beitragen, Einsicht zu erlangen, wie suprasegmentale Einheiten in alphabetischen Schriftsystemen entstehen und eine Grundlage dafür bilden, bisher wenig verstandene Phänomene – zumindest in den Schriftsystemen des Englischen und Deutschen – besser zu erklären. Dieser Beitrag ist wie folgt aufgebaut: Um einen Ausgangspunkt für die Diskussion des graphematischen Fußes zu schaffen, werden zunächst einige phonologische Grundlagen diskutiert. Hiernach soll die Entstehung des graphematischen Fußes behandelt werden. Es wird dafür argumentiert werden, dass die Herausbildung eines obligatorisch verzweigenden Nukleus in starken phonologischen Silben des Englischen und Deutschen, d.h. Silben, die den Kopf eines phonologischen Fußes bilden, eines der entscheidenden Entwicklungen in den prosodischen Systemen des Englischen und Deutschen war, die die Entstehung des graphematischen Fußes beeinflusste. Der Beitrag endet mit einem Fazit, in dem die zentralen Ergebnisse dieser Untersuchung zusammengefasst werden.
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Phonologische Grundlagen Die Theorie der prosodischen Phonologie (z.B. Selkirk 1980, 1981; Nespor & Vogel 1986) besagt, dass das sprachliche Subsystem Phonologie auf der Basis von hierarchisch organisierten Einheiten operiert, die größer als einzelne Segmente sind. Diese Einheiten bilden Domänen für phonologische Regeln bzw. Beschränkungen und sind in der so genannten prosodischen oder phonologischen Hierarchie organisiert. Die meisten Theorien stimmen darin überein, dass die phonologische Hierarchie mindestens die Silbe, den Fuß, das phonologische Wort und einen oder mehrere Einheiten oberhalb der Wortebene enthält (vgl. ShattuckHufnagel & Turk 1996 für einen Vergleich der Inventare der phonologischen Hierarchie in einigen der einussreichsten Ansätze). In diesem Beitrag werden wir uns auf die Silbe und den Fuß konzentrieren. Unter minimalen Annahmen sind die Hauptbestandteile der Silbe der Silbengipfel und die beiden Ränder, die oft Onset und Coda genannt werden. Der Silbengipfel enthält das sonorste Segment, wobei Sonorität eine abstrakte Eigenschaft eines Segments ist (Zec 2007). Der Silbengipfel ist definiert als der einzige Sonoritätsgipfel einer Silbe und wird durch die strukturelle Position V repräsentiert. V dominiert nicht notwendigerweise einen Vokal. In Sprachen wie dem Englischen und Deutschen kann die V-Position in unbetonten Silben auch von Liquiden und Nasalen besetzt sein. Nicht-Gipfel-Positionen werden durch CPositionen repräsentiert und müssen nicht notwendigerweise einen Konsonanten dominieren; dies ist beispielsweise bei Diphthongen der Fall, bei denen der zweite Vokal des Diphthongs von C dominiert wird (vgl. Clements & Keyser 1983). Ein nichtlineares Silbenmodell, wie das CV-Modell, kann die Vokalopposition zwischen langen/ gespannten und kurzen/ ungespannten Vokalen in Sprachen wie dem modernen Englisch und Deutsch durch die Assoziation von langen/ gespannten Vokalen mit zwei strukturellen Positionen darstellen, während kurze/ ungespannte Vokale mit einer strukturellen Position verbunden sind. In Abb. 2a wird der Vokal der ersten Silbe nur von V dominiert, während in Abb. 2b der Vokal der ersten Silbe von V und C dominiert wird. Die strukturellen Darstellungen von Filler und Poker in Abb. 2 gelten sowohl für das Deutsche als auch das Englische.2
2 Im Standarddeutschen ist die jeweils letzte Silbe von Poker und Filler offen und enthält [ɐ]. Im amerikanischen Englischen enden beide Wörter in [ɚ]. Die Illustrationen in Abb. 2 sind Näherungen (vgl. Evertz 2018: 13).
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In vielen Varianten des modernen Englischen (einschließlich Received Pronunciation und General American English) werden einige gespannte Vokale als Diphthonge realisiert (vgl. Giegerich 1992: 44-47). Ein Diphthong wie in der Received Pronunciation von Poker wird als ein zugrunde liegender gespannter Vokal analysiert und repräsentiert, wie in Abb. 2b gezeigt. Gespannte Vokale und Diphthonge alternieren, wie in line – linear, provoke – provocative und bathe – bath. Das phonetische Korrelat dieses Vokalkontrasts ist Gegenstand von Diskussionen und die Terminologie variiert erheblich (z. B. gespannt – ungespannt, lang – kurz, free – checked). Aufgrund der strukturellen Eigenschaft der gespannten Vokale und Diphthonge, zwei strukturelle Positionen einzunehmen, folge ich der Terminologie von Evertz & Primus (2013) und Evertz (2008) und werde sie binäre Vokale nennen. Ungespannte Vokale besetzen eine strukturelle Position und sind daher unär. Zusätzlich zur CV-Schicht nehmen die meisten Phonologen die Existenz subsilbischer Konstituenten an. Eine Silbe besitzt im Silbenstrukturmodell, das in diesem Beitrag genutzt wird, einen obligatorischen Reim (Rh), der einen Kern (Nu) dominiert, welcher wiederum eine V-Position dominiert. Optionale subsilbische Konstituenten sind der Anfangsrand (On) und Endrand (Co), vgl. Abb. 2.
Abb. 2: Phonologische Repräsentation von filler und poker im modernen Englischen und Deutschen (vgl. Evertz & Prims 2013: 4)
Eine wichtige Beobachtung im modernen Englischen und Deutschen ist, dass betonte Silben niemals mit einem unären Vokal enden. Eine betonte Silbe (z.B. in einem lexikalischen und monosillabischen Wort) wie */pɪ/ oder */pɛ/ ist nicht wohlgeformt, sowohl im Englischen als auch im Deutschen. Dies kann durch eine Beschränkung erklärt werden, die verlangt, dass der Kern einer betonten Silbe
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komplex ist, d.h. verzweigt (vgl. Becker 1996). Nach Wiese (2000: 46-47) haben alle Vollsilben – betont oder unbetont – einen verzweigenden Nukleus, der die V-Position und die unmittelbar folgende C-Position dominiert. Eine ähnliche Beschränkung wird von Giegerich (1992: 182) formuliert. Wir werden sehen, dass diese Beschränkung mit Entwicklungen im phonologischen System des Altenglischen und Althochdeutschen zusammenhängen. Die Entwicklung des verzweigenden Nukleus‘ ist zentral für die Herausbildung des graphematischen Fußes im Englischen und Deutschen. Die in der phonologischen Hierarchie nächsthöhere Einheit ist der phonologische Fuß. Dieser ist definiert als eine Folge von einer oder mehreren Silben, in der genau eine Silbe der Kopf des Fußes, d.h. betont/ stark, ist. Kopf bezeichnet in diesem Kontext das hierarchisch höchste Element einer Einheit. Dies bedeutet, dass der Kopf das einzige obligatorische Element der Einheit darstellt und die Eigenschaften andere Elemente in derselben Einheit und die der Einheit als Ganzes determiniert. Im Deutschen und Englischen ist die kanonische Form des Fußes der Trochäus, d.h. Füße im Deutschen und Englischen sind kopfinitial und bestehen aus maximal zwei Silben. Für einen Überblick und einen Vergleich der Eigenschaften der phonologischen Füße im Englischen, Deutschen und Niederländischen vgl. Domahs et al. (2014). Die Fußstruktur hat einen Einfluss auf die Eigenschaften von Silben. Wie oben beschrieben haben betonte Silben einen obligatorisch verzweigenden Nukleus. Welche Silbe betont ist, hängt von der Fußstruktur ab: Innerhalb eines Fußes gibt es genau einen Kopf und damit genau eine starke bzw. betonte Silbe. Wie frühere Arbeiten zum graphematischen Fuß zeigen, gibt es zu den phonologischen Beschränkungen und Strukturen, die in diesem Abschnitt besprochen wurden, parallele Beschränkungen und Strukturen in der Graphematik (vgl. Evertz & Primus 2013, Fuhrhop & Peters 2013, Evertz 2018). So z.B. stimmen bisherige Arbeiten darin überein, dass graphematische Füße ebenfalls kopfinitial sind und maximal zwei (Evertz & Primus 2013, Evertz 2018) oder drei Silben (Fuhrhop & Peters 2013) umfassen. Silben in Kopfposition werden in der Graphematik nicht betont und unbetont, sondern modalitätsübergreifend stark und schwach genannt. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass die graphematischen Strukturen und Beschränkung nicht von ihren phonologischen Pendants abgeleitet sind. In dem vorliegenden Modell sind Phonologie und Graphematik zwei unabhängige Systeme, die durch bidirektionale Korrespondenzen miteinander verbunden sind (vgl. Evertz & Primus 2013, Evertz 2018).
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Vor und während der Entwicklung des obligatorisch verzweigenden Nukleus‘ In diesem Beitrag werden die Sprachstufen des Deutschen und Englischen vor und nach der Entwicklung des obligatorisch verzweigenden Nukleus‘ untersucht. Diese Sprachstufen sind Altenglisch (AE; ca. 450 bis 1150 n.Chr.) und Althochdeutsch (AHG; ca. 700 bis 1050 n.Chr.), Mittelenglisch (ME; ca. 1150 bis 1500 n.Chr.) und Mittelhochdeutsch (MHD; ca. 1050-1350 n.Chr.) sowie modernes Englisch (ab ca. 1550) und modernes Deutsch (ab ca. 1650). Die Entwicklung des obligatorisch verzweigenden Nukleus' begann jeweils in den Mittelperioden der beiden Sprachen.
. Phonologische Realisierung von Gemination und finalem –e Im Altenglischen (1) und Althochdeutschen (2) kontrastieren lange Konsonanten (Geminaten) mit einfachen bzw. kurzen Konsonanten. Die folgenden Minimalpaare zeigen, dass Geminaten im Altenglischen und Althochdeutschen Relevanz auf phonemischer Ebene besaßen und sich phonologisch von einfachen Konsonanten unterschieden (vgl. Simmler 2000, Britton 2012). (1) (2)
wike /k/ ‚woche‘ vs. wikke /kː/ ‚böse‘; sune /n/ ‚Sohn‘ vs. sunne /nː/ ‚Sonne‘ miti /t/ ‚mit‘ vs. mitti /tː/ ‚Mitte‘; filu ‚viel‘ /l/ vs. fillu /lː/ ‚(Ich) schlug‘
Das finale Schwa entwickelte sich in der Periode des Mittelenglischen aufgrund der Reduktion von Vollvokalen in prosodisch schwachen Silben. Das geschriebene in den folgenden Beispielen ist daher nicht stumm, sondern korrespondiert zu Schwa und kontrastiert mit anderen Vokalen. (3)
bode ‚Nachricht‘ vs. bodi ‚Körper‘; dule ‚Teufel‘ vs. duly ‚wahrhaft‘
Die Beispiele in diesem Abschnitt demonstrieren zwei Dinge: Erstens gab es in früheren Sprachstufen des Englischen und Deutschen einen Kontrast zwischen langen und kurzen Konsonanten. Dieser Kontrast wurde graphematisch sichtbar gemacht: phonologische Geminaten wurden durch graphematische Geminaten, d.h. durch Buchstabenverdopplung kodiert; einfache Konsonanten wurden
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durch einzelne Buchstaben kodiert. Zweitens war das finale im Englischen nicht stumm, sondern korrespondierte zu einem Vokal: Schwa.
. Gemination und Vokalquantität im Altenglischen und Althochdeutschen In den späteren Phasen des Altenglischen und Althochdeutschen begannen sich die Vokalquantitäts- und Akzentsysteme beider Sprachen zu verändern. Eines der bedeutendsten Entwicklungen im Altenglischen war vowel shortening. Lange Vokale und Diphthonge wurden in starken Silben gekürzt, insbesondere vor Geminaten, vor drei aufeinanderfolgende Konsonanten und vor Konsonantengruppen in mehrsilbigen Wörtern, wenn mindestens zwei weitere schwache Silben folgten (Lahiri et al. 1999: 346). Dieser Prozess scheint durch die Vermeidung von überlangen Silben motiviert zu sein. Eine ähnliche Tendenz kann auch in der Spätphase des Althochdeutschen beobachtet werden, allerdings wurde hier die Überlänge nicht durch Vokalkürzungen, sondern durch Degemination vermieden (Lahiri et al. 1999: 346). (4) Vermeidung überlanger Silben im Altenglischen (a, b) und Althochdeutschen (c, d) a. ǣnne → enne ‚eins‘ b. blǣddre → blæddre ‚ Blase’ c. slāffan → slāfan ‚schlafen’ d. lūttar → lūtar ‚rein‘ Vokalkürzungen konnten auch in Wörtern vorkommen, die nicht zu der Beschreibung weiter oben passen, d.h. in denen keine überlangen Silben vorkommen, z.B. in altenglischen Wörtern wie hlǣder ‚Leiter‘. Wenn in einem Wort wie diesem der Vokal gekürzt wurde, konnte diese Kürzung durch die Gemination des unmittelbar folgenden Konsonanten kompensiert werden. Vokalkürzungen konnten also auch Gemination auslösen (Hickey 1986). (5) Kompensation von Vokalkürzungen im Altenglischen a. hlǣder → hlædder ‚Leiter‘ b. fōder → fodder ‚ Futter‘ Betrachten wir die Silbenstrukturen der starken Silben in den Beispielen in (4). Man kann diese Beispiele interpretieren als eine Optimierung der Silbenstruktur. In Wörtern wie ǣnne kann man davon ausgehen, dass der Vokal der starken Silbe
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zwei Positionen im Nukleus ausfüllt, während die Geminate eine Position in der Koda dieser Silbe und gleichzeitig eine Position im Onset der folgenden Silbe besetzt. In den Beispielen zeigt sich, dass in den späteren Phasen des Altenglischen und Althochdeutschen Kodas durch Vokalkürzung und Degemination systematisch vermieden werden. Im Falle der Vokalkürzung besetzt der Vokal nur noch eine Position, die V-Position. Die Koda kann so vermieden werden, dass die Geminate die freigewordene Position im Nukleus (und gleichzeitig eine Position im Onset der folgenden Silbe) besetzt. Im Falle der Degemination wird die Koda dadurch vermieden, dass der Konsonant eine Position verliert und nur noch die Position im Onset der folgenden Silbe besetzt. Die Beispiele in (5) scheinen auf den ersten Blick zu der soeben beschriebenen Entwicklung zur systematischen Vermeidung von Kodas widersprüchlich zu sein, da Material im Silbenauslaut hinzugefügt wird. Tatsächlich geschieht aber durch die Gemination in den Wörtern in (5) lediglich ein Ausgleich zur vorher erfolgten Kürzung und keine Längung: In Wörtern wie hlǣder besetzt der Langvokal der ersten Silbe zwei Strukturpositionen; mit anderen Worten, in dieser Silbe verzweigt der Nukleus. Wenn nun durch Vokalkürzung der Vokal der ersten Silbe kurz wird, besetzt er nur noch eine Strukturposition und die zweite Strukturposition wird frei. Die zweite Nukleusposition in starken Silben kann durch einen Vokal (Langvokal oder Teil eines Diphthongs) oder einen Konsonanten besetzt sein. In diesem Fall wurde die freigewordene Position durch die Gemination des intervokalischen Konsonanten gefüllt. Dies weist darauf hin, dass es eine Notwendigkeit gab (und immer noch gibt), die zweite Nukleusposition in starken Silben zu besetzen. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Beispiele in (5) zeigen, dass der Nukleus in den späten Phasen des Altenglischen begann, obligatorisch zu verzweigen. Die phonologische Struktur von Wörtern mit geminierten Konsonanten kann wie in Abb. 3a. rekonstruiert werden (die Illustration in der Abbildung orientiert sich an der phonologischen Struktur von Geminaten in modernen Sprachen, vgl. Davis 2011).
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Abb. 3: Phonologische Fußstruktur von Wörtern mit Geminaten im Altenglischen und Althochdeutschen (a.) und ihre graphematische Struktur (b.), Beispiel AHD mitti ‚Mitte‘
Die Positionen der phonologischen Geminaten in der Silbenstruktur ist im Altenglischen und Althochdeutschen identisch: Der intervokalische Konsonant besetzt die letzte Position des Reims der ersten Silbe und gleichzeitig die erste Position des Onsets der folgenden Silbe. Er ist mit zwei Strukturpositionen assoziiert und daher lang. In der graphematischen Repräsentation wird der geminierte Konsonant durch einen geminierten, d.h. in diesem Fall verdoppelten, Buchstaben kodiert. Die phonologische und graphematische Repräsentation sind auf struktureller Ebene identisch, zwischen den V-Positionen befinden sich zwei CPositionen. Lediglich auf der segmentalen Ebene unterscheiden sich die phonologische und graphematische Repräsentation, während die phonologische Geminate aus genau einem Segment besteht, welches zwei Strukturpositionen einnimmt, besteht die graphematische Geminate aus genau zwei Segmenten, die jeweils mit einer Strukturposition verbunden sind, vgl. Abb. 3b.
. Finales –e und Vokaldehnung Im vorigen Abschnitt wurde gezeigt, dass bereits im Altenglischen zu beobachten war, dass sich der Nukleus dahingehend entwickelte, obligatorisch verzweigend zu werden. Mit anderen Worten, es wurde notwendig, dass die Strukturposition, die den Silbengipfel markiert, und die unmittelbar darauffolgende Strukturposition segmental besetzt sind; betonte Silben, in denen eine dieser Positionen frei ist, sind ungrammatisch. In der Mittelperiode des Englischen setzt sich dieser Trend fort und auch im Mitteldeutschen ist diese Entwicklung erkennbar.
Die Geschichte und Gegenwart des graphematischen Fußes
Ab dem 12 Jahrhundert kann im Mitteldeutschen eine Dehnung kurzer Vokale in offenen Silben beobachtet werden (Szulc 1987: 124f.), im Frühneuhochdeutschen wird sie endgültig vollzogen (Szczepaniak 2007, 233). Dieses Phänomen kann ebenfalls mit der Entwicklung des obligatorisch verzweigenden Nukleus‘ erklärt werden: Ein einzelner kurzer Vokal kann lediglich eine Strukturposition im Nukleus besetzen. Um die zweite Position ebenfalls segmental zu besetzen, muss der kurze Vokal entweder gedehnt werden oder die zweite Position muss konsonantisch geschlossen werden. Auch im Mittelenglischen wurden kurze Vokale in offenen Silben gedehnt, was in der Literatur meist open syllable lengthening genannt wird (Lahiri et al. 1999: 350). Zur gleichen Zeit kann ein weiterer Prozess, die Vokalreduktion, im Mittelenglischen und Mittelhochdeutschen beobachtet werden, der Vollvokale in unbetonten Silben zu Schwa reduziert (Minkova 1991, Ramers 1999, 87, Szczepaniak 2007, 155-157, 233-235, Nübling et al. 2017, 45), vgl. die Beispiele in (6) und (7). (6)
AE a. wǔdu b. nǎma c. nǒsu (7) AHD a. hǎso b. lědar c. nǎmo
ME → wōde → nāme → nōse MHD → hǎse → lēder → nǎme
‚ Holz‘ ‚Name’ ‚Nase‘ Frühnhd. → hāse ‚Hase‘ → lēder ‚Leder‘ → nāme ‚Name‘
Strukturell kann die Vokaldehnung so beschrieben werden, dass die leere Position nach dem Silbengipfel dadurch gefüllt wird, dass der Vokal mit beiden Strukturpositionen des Nukleus‘ assoziiert wird. Abb. 4 ist eine Rekonstruktion der phonologischen Struktur des mittelenglischen Wortes name. In diesem Beispiel öffnet das finale Schwa die erste Silbe des Wortes, indem der intervokalische Nasal Onset der zweiten Silbe wird. Die Struktur der graphematischen Repräsentation von name ist identisch zur Struktur ihres phonologischen Pendants.
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Abb. 4: Die phonologische Fußstruktur von Wörtern mit finalem –e und einem intervokalischen Konsonanten, Beispiel name (Mittelenglisch)
. Zwischenfazit Wie in den vorigen Abschnitten gezeigt wurde, wurden Gemination, Degemination und Vokaldehnung durch die Reorganisation der prosodischen Systeme des Englischen und Deutschen mit Hinsicht auf Vokalquantität und des Akzentsystems verursacht. Aus struktureller Sicht war eine der Hauptveränderungen die Entwicklung des verzweigenden Nukleus‘ in betonten Silben. Gemination und finales Schwa wurden transparent kodiert: Phonologische Gemination wurde durch graphematische Gemination verschriftet, d.h. durch die Verdoppelung des korrespondierenden Buchstabens. Da das finale -e zu einem Vokal, Schwa, korrespondierte, wurde es durch verschriftet. In den Mittelperioden verschwanden die phonologischen Geminaten im Englischen und Deutschen und das finale -e (Schwa) wurde im Englisch – nicht aber im Deutschen – stumm. Nachdem phonologische Geminaten verschwanden und das finale -e im Englischen stumm3 wurde, wurden die Verdoppelung von Konsonantenbuchstaben und das finale - im Englischen obsolet. Diese graphematischen Phänomene verschwanden aber nicht aus den Schriftsystemen der Sprachen, sondern erhielten neue Funktionen, die mit dem graphematischen Fuß, d.h. der graphematischen Markierung phonologischer Fußstrukturen (Evertz 2018) verbunden sind, wie ich in den folgenden Abschnitten zeigen werde.
3 Diese Veränderungen können ebenfalls auf die Entwicklung hin zur gegenwärtigen Silbenund Fußstruktur zurückgeführt werden, vgl. Ritt (2012).
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Nach der Entwicklung des obligatorisch verzweigenden Nukleus‘ . (De)Kodierung von Ambisilbizität Da betonte Silben einen obligatorisch verzweigenden Nukleus besitzen, ist ein einzelner Konsonant adjazent zu zwei Vokalen ambisilbisch, wenn der erste Vokal kurz ist und zu einer betonten Silbe gehört, vgl. Abb. 5a (Giegerich 1992: 170172; Wiese 2000: 46-47; McMahon 2001: 111-112).4 Ein ambisilbischer Konsonant ist ein konsonantisches Segment, das gleichzeitig zum Reim einer Silbe und zum Onset einer unmittelbar folgenden Silbe gehört. Zu den frühen einussreichen Ansätzen zur Ambisilbizität im Englischen gehören Kahn (1976) und Gussenhoven (1986); zu den einussreichen frühen Ansätzen zur Ambisilbizität im Deutschen Vennemann (1982). Ambisilbizität kann als eine relativ neue Erscheinung in den Sprachsystemen des Deutschen und Englischen angesehen werden, die durch die weiter oben beschriebene Reorganisation des Vokalquantitäts- und Akzentsystems verursacht wurde. Um dieses neue Phänomen zu verschriften, reinterpretierte das graphematische System das Mittel zur (De-)Kodierung von Geminaten, das durch den Schwund der Geminaten obsolet wurde, als Mittel zur (De-)Kodierung von Ambisilbizität, vgl. Abb. 5b und Abb. 3b.
4 Sowohl im Englischen als auch im Deutschen kann die letzte Silbe mit einem vokalischen Konsonanten produziert werden. Abb. 5a ist eine Näherung an die phonologische Struktur des Wortes in beiden Sprachen.
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Abb. 5: a.: Ambisilbizität im Engl. und Dt.; b.: graphematische Gemination; Beispiel mitten (Engl. ‚Fäustling‘/ Dt.)
Es muss eingeschränkt werden, dass es im modernen Englischen und Deutschen zu dem hier präsentierten System einige Ausnahmen gibt. Zum einen unterscheiden Evertz & Primus (2013) und Evertz (2018) zwischen sogenannten kanonischen und nicht-kanonischen Strukturen. Graphematische kanonische Strukturen zeichnen sich dadurch aus, dass sie zweisilbig sind und in einer reduzierten Silbe enden, die enthält (Evertz & Primus 2013: 5; Evertz 2018: 75, 96). In kanonischen Strukturen ist die Kodierung von Ambisilbizität durch graphematische Geminaten regulär, in nicht-kanonischen Strukturen ist die (De)Kodierung von Ambisilbizität weniger systematisch (vgl. z.B. , was dem hier vorgestellten System entspricht, vs. ). Zum anderen weisen Evertz & Primus (2013: 9) auf unabhängige Beschränkungen hin, die die Verdopplung von Konsonantenbuchstaben blockieren. Zum Beispiel werden komplexe Grapheme (z.B. im Englischen oder im Deutschen) und einige spezielle Buchstaben wie nicht verdoppelt. Wörter wie navvy und skivvy sind marginal im Englischen (Cook 2004: 60), sie zeigen aber die Tendenz, eine hochrangige Beschränkung (‚ darf nicht verdoppelt werden‘) zu verletzen, um dem System der (De-)Kodierung von Ambisilbizität zu entsprechen (vgl. auch Ryan 2010: 31). Wörter wie give und dive sind in Bezug zum hier diskutierten Vokalkontrast opak.
. Finales –e im modernen Englisch Wie in Abschnitt 3.3 gezeigt wurde, öffnet das finale -e in Wörtern wie name die erste Silbe: Der intervokalische Konsonant wird Onset der zweiten Silbe, die
Die Geschichte und Gegenwart des graphematischen Fußes
durch das finale -e konstituiert wird. In den späteren Phasen des Mittelenglischen und im frühen modernen Englischen verlor das finale -e seine phonologische Korrespondenz, es wurde stumm. Die graphematische Struktur von Wörtern mit finalem -e blieb jedoch konstant. Im Schriftsystem des Englischen wurde dies als Zeichen für Vokallänge reinterpretiert, vgl. Abb. 4. Strukturell kann dies wie folgt beschrieben werden: Das finale konstituiert eine graphematische Silbe, welche zusammen mit der vorangehenden graphematischen Silbe einen graphematischen Fuß bildet. Da der Nukleus in der starken Silbe (auch in der Graphematik) verzweigt, wird der einzelne Vokalbuchstabe so interpretiert, dass er mit zwei Strukturpositionen assoziiert ist. Eine Leserin kann daher schließen, dass das dieser Vokalbuchstabe mit einem binären (langen) Vokal korrespondiert. Das bedeutet, dass obwohl das finale -e stumm ist, es die erste Silbe in Wörtern wie visuell öffnet, vgl. Abb. 6 b. Da die erste Silbe in solchen Wörtern visuell geöffnet ist, kann eine Leserin schließen, dass die korrespondierende phonologische Silbe einen verzweigenden Nukleus besitzt, dessen Strukturpositionen durch den Vokal besetzt werden, vgl. Abb. 6 a.
Abb. 6: Phonologische (a.) und graphematische (b.) Fußstruktur des Wortes name
Allerdings gibt es auch zu diesem Modell Ausnahmen im modernen Englisch, wie Evertz & Primus (2013: 9) berichten. Sie nennen folgende Strukturen, die von dem hier vorgestellten Modell abweichen: i. o+Nasal+e> bei unären Vokalen: done, one, come, some ii. nach zur Unterscheidung von stammfinalen und flexionsbedingten : goose, mouse, cheese, dense, tense. Diese Art von dient nicht der Desambiguierung des phonologischen Wertes des ersten Vokals. iii. idiosynkratische Fälle: camel, belle, tulle
Martin Evertz-Rittich
Einige Ausnahmen zu dem hier vorgestellten Modell können durch ihren nichtnativen Ursprung erklärt werden: Die Schreibung der Wörter belle mit einem unären (kurzen) Vokal und einem überfüssigen stummen und tulle mit binären (langem) Vokal und einer unregelmäßigen Verdopplung eines Konsonantenbuchstabens sind durch ihren französischen Ursprung erklärbar (vgl. Venezky 1999: 86).
Zusammenfassung In diesem Beitrag wurden neue Einsichten präsentiert, wie sich der graphematische Fuß im Englischen und Deutschen entwickelt hat. Der graphematische Fuß ist eine Einheit in den Schriftsystemen des Deutschen und Englischen, der bidirektional mit dem phonologischen Fuß korrespondiert. Es gibt zwei Phänomene in den Schriftsystemen des modernen Englischen und Deutschen, die den graphematischen Fuß besonders sichtbar machen, graphematische Geminaten (d.h. verdoppelte Konsonantenbuchstaben) und das stumme im Englischen. In früheren Sprachstufen haben graphematische Geminaten und das finale segmentale Informationen kodiert, nämlich phonologische Geminaten (lange Konsonanten) und Schwa. Phonologische Geminaten und Schwa wiederum sind in einigen Fällen aufgrund von suprasegmentalen Bedingungen aufgetreten: Sie spielten eine wichtige Rolle in den prosodischen Systemen (insbesondere in Bezug zur Vokalquantität und Betonung) in beiden Sprachen. Während der Reorganisation der prosodischen Systeme des Englischen und Deutschen verschwanden Geminaten und das finale -e wurde stumm im Englischen. Hierdurch verloren die graphematischen Korrespondenten, d.h. die graphematischen Geminaten und das wortfinale im Englischen, ihre Funktion. Aber anstatt ebenfalls aus den Sprachen zu verschwinden, haben die graphematischen Geminaten und das wortfinale neue Funktionen erhalten. Im Mittelenglischen und Mitteldeutschen wurden die Nuklei von betonten Silben obligatorisch verzweigend; das bedeutet, dass der Silbengipfel und die unmittelbar folgende Strukturposition einer betonten Silbe nicht leer sein dürfen. Hieraus folgt, dass offene betonte Silben niemals einen einzelnen kurzen Vokal enthalten können. In zweisilbigen Wörtern, die einen einzelnen intervokalischen Konsonanten zwischen einer starken ersten und einer schwachen zweiten Silbe aufweisen, führt dies zur Ambisilbizität dieses Konsonanten. Um ambisilbische
Die Geschichte und Gegenwart des graphematischen Fußes
Konsonanten, eine neuere Erscheinung im Englischen und Deutschen, zu verschriften, wurden die graphematischen Geminaten, die ihre ursprüngliche Funktion verloren hatten, neu interpretiert. Das stumme hingegen wird im heutigen Englischen zu (De-)Kodierung von Vokalquantität genutzt. Obwohl das finale im heutigen Englischen stumm ist, vermag es graphematische Silben visuell zu öffnen. Da der Nukleus einer starken Silbe – sowohl in der Phonologie als auch in der Graphematik des Englischen und Deutschen – verzweigt, muss ein einzelner Vokalbuchstabe in einer offenen graphematischen Silbe, welche Kopf eines graphematischen Fußes ist, als binär interpretiert werden und somit als zu einem langen Vokal korrespondierend. Kurz gesagt: Nachdem phonologische Geminaten verschwanden und das finale -e im Englischen stumm wurde, haben ihre graphematischen Korrespondenten, graphematische Geminaten und das finale , neue Funktionen erhalten, die mit dem graphematischen Fuß verbunden sind. Abb. 7 ist ein zusammenfassendes Modell der Entwicklung der graphematischen Geminaten (im Deutschen und Englischen) und des stummen (im Englischen).
Abb. 7: Zusammenfassendes Modell der Entwicklung zweier graphematischer Phänomene (finales –e; Ambisiblizitätsdekodierung), die mit dem graphematischen Fuß zusammenhängen
Martin Evertz-Rittich
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Silke Hamann
One phonotactic restriction for speaking, listening and reading The case of the no geminate constraint in German Abstract: This article illustrates the cross-modal application of the phonotactic no geminate constraint that disallows geminate consonants within a prosodic word in German. In phonological production, forms like |hat+tə| ‘have-3SG.PST’ surface as /hatə/ (instead of */hatːə/) due to this constraint. In speech perception, phonetic forms with geminates like [bʁoːtːaɪk] ‘bread dough’ are perceived as consisting of two prosodic words because of this constraint. And in the reading process, orthographic forms with double consonantal graphemes like and are read as /wal/ and /tɛlɐ/, not */walː/ and */tɛlːɐ/ due to this constraint. I show that this observation can be formalized in Optimality Theory by applying the same phonotactic constraint in phonological production, in the perception grammar (Boersma 2007) and in the reading grammar (Hamann & Colombo 2017). In both the perception and the reading grammar, this constraint interacts with constraints that handle the arbitrary mapping between the sensory input (auditory or written) and a surface phonological form. This approach is shown to be preferable to previous analyses of reading double consonantal graphemes in German, which either lack an explicit formalization of the phonological knowledge or reduplicate this in their phoneme-to-grapheme mappings.
Introduction The standard variety of New High German (henceforth: German) has no geminates in its phoneme system, i.e. it does not distinguish consonants by their duration only as e.g. Italian does. Due to inflection, geminates could occur within prosodic words (also called phonological words; henceforth: p-words) but are
Silke Hamann, University of Amsterdam, Postbus 1642 1000 BP Amsterdam, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110710809-004
Silke Hamann
avoided via a phonological degemination process (Wiese 2000: 41, 230), see the examples in (1).1 (1)
Morphemes hat + tə lad + t ʁaɪ͡s + st leːz + st zɪts͡ + st ts͡aɪ͡çən + n
Realization [hatə] [lɛːt] [ʁaɪ͡st] [liːst] [zɪts͡t] [ts͡aɪ͡çən]
Meaning have 3SG.PST load 3SG.PRS tear 2SG.PRS read 2SG.PRS sit 2SG.PRS sign DAT.PL
Derived, so-called fake geminates can occur across p-word boundaries in German. Degemination is optional in this context; see the examples in (2), but is more likely in fast speech (Wiese 2000: 231) and when the two syllables containing the fake geminate are unstressed (Kohler 2001). (2)
Morphemes a. ʃʁɪft + tuːm
Realization [ʃʁɪftːuːm]~[ʃʁɪftˑuːm]~[ʃʁɪftuːm]
ʃɪf + faːʁt bʁoːt + taɪg b. ɪl + legaːl an + neːmən ʊm + moːdəln
[ʃɪfːaɐt]~[ʃɪfˑaɐt]~[ʃɪfaɐt] [bʁoːtːaɪk]~[bʁoːtˑaɪk]~[bʁoːtaɪk] [ɪlːegaːl]~[ɪlˑegaːl]~[ɪlegaːl] [anːeːmən]~[anˑeːmən]~[aneːmən] [ʊmːoːdəln]~[ʊmˑoːdəln]~[ʊmoːdəln]
Meaning ‘professional literature’ ‘shipping’ ‘bread dough’ ‘illegal’ ‘to assume’ ‘to remodel’
This second degemination process is considered in this article to be phonetic, due to its different context, optional application and speech-rate dependence (see Hamann 2016 for a detailed discussion and a comparison to similar phonological and phonetic degemination processes in Dutch). Such a strict distinction between phonetic and phonological processes is only possible in a modular generative grammar theory (following Chomsky & Halle 1968) with a phonological module
1 The umlaut and ablaut processes occurring in some of these examples are not further discussed in this article. The interested reader is referred to Wiese (2000), who also discusses the degemination of only the second part of the affricate /ts͡/, see the second to last example in (1).
One phonotactic restriction for speaking, listening and reading
that maps an underlying form onto a phonological surface form and that is different from the phonetic module, which maps the phonological surface form onto a phonetic form. While traditional generative models, whether rule-based or Optimality-theoretic (Prince & Smolensky 1993 [2004]; henceforth: OT), restrict themselves to the description of the production process (starting with a lexical form and ending in a phonetic output), the present article includes the perception/comprehension process (starting with a phonetic form, the auditory input, and ending in a lexical form), following the model of Bidirectional Phonetics and Phonology by Boersma (henceforth: BiPhon; within OT: Boersma 2007; within neural networks: Boersma, Benders & Seinhorst to appear). In the process of speech perception, the knowledge that fake geminates are only possible across p-word boundaries will be shown to guide the German listener in parsing phonetic forms like [ʃʁɪftːuːm] into two separate p-words, and forms like [hatə] into one.2 The application of the same no geminate restriction both in phonological production and in speech perception is formalized within BiPhon-OT. The no geminate restriction is further shown to apply in the reading process, formalized in Hamann & Colombo’s (2017) reading grammar, thereby forming the first cross-modal application of the same structural constraint in perception, production and reading. The application of no geminate in reading is illustrated with so-called orthographic ‘sharpening’ (German ‘Schärfung’, e.g. Maas 1992; Neef 2002): German uses graphemes consisting of two identical consonantal letters to indicate the shortness and usually laxness3 of the preceding stressed vowel within p-words. This is necessary as single vowel letters can be used in German to stand for a short or a long vowel, e.g. can express /a/ and /aː/, and both /ɪ/ and /iː/. Examples of ‘sharpened’ words are given in (3), their long counterparts in (4). (3)
Orthography
Realization [ʁatə] [dan] [wal] [wɪɐ] [ɔfən]
Meaning ‘rat’ ‘then’ ‘rampart’ ‘confused’ ‘open’
2 There are, of course, further cues such as vowel duration and intensity (indicating stress) that guide the parsing process but these will not be dealt with in the present article. 3 Exceptions to the correlation of long with tense in German are the low short vowel /a/, that only differs from /aː/ in length, and the long vowel /ɛː/, that only differs from /ɛ/ in length.
Silke Hamann
(4)
Orthography
Realization [ʁaːtə] [kaːm] [waːl] [wiːɐ] [oːfən]
Meaning ‘rate’ ‘come’ 1/3 SG.PST ‘whale’ ‘we’ ‘oven’
In the reading process, the double consonant grapheme in each word in (3), all of them single p-words, cannot be interpreted as a fake geminate, because of the no geminate constraint. Together with other phonological restrictions, this constraint thus restrains the German-specific mappings from graphemes to phonemes (just as it restricts phonological production and speech perception). This article is structured as follows. Section briefly 2 discusses earlier accounts of the use of double consonantal graphemes in German. Section 3 provides the present account with a cross-modal no geminate constraint. It illustrates how this applies in phonological production and perception of German words with single and double consonants, and in the reading of German words written with double consonantal graphemes. Section 4 provides a conclusion.
Earlier accounts of double consonantal graphemes in German The use of double consonantal graphemes, henceforth: , in German has been the topic of many studies. Much of the discussion centered on the question whether expresses the quality and quantity of the preceding vowel (see e.g. Wiese 1987 and Ramers 1999), or the ambisyllabicity of the consonant itself (see e.g. Eisenberg 1999; Sternefeld 2000). The second interpretation neglects the fact that sharpening is also employed in word-final position, e.g. in the monosyllabic words in (3) such as [dan] ‘then’, where cannot represent an ambisyllabic consonant, and requires additional machinery to account for such cases. Most of the previous studies on sharpening focus on the writing direction, and if providing a formalization, employ grapheme-phoneme correspondence rules as introduced by Bierwisch (1972). These rules are analogous to generative phonological rules (Chomsky & Halle 1968), and often include phonological contexts, thereby duplicating phonological knowledge.
One phonotactic restriction for speaking, listening and reading
Wiese (2004) provides the first OT account of German writing. In his analysis, underlying phonological input is mapped onto a written form. Despite their different nature, the mapping between these two forms is evaluated by correspondence constraints such as MAX, DEP and IDENT, which in OT phonology are used to compare two abstract phonological forms (Prince & Smolensky 1993 [2004]). The exact workings of these constraints in Wiese’s account is therefore unclear. Though his account is restricted to writing, Wiese correctly points out that the “bidirectional nature of correspondence relations [in OT] allows for constraints looking into both directions” (p. 316). Neef (2002, 2012) describes and partially formalizes the reading process, i.e. the transformation of a written form into a ‘surface form’4 (calling this process ‘recoding’, as is tradition in psycholinguistic literature). Since his account includes sharpening, it is described here in more detail. Neef uses correspondence rules such as →[m] and additional graphematic constraints that capture general properties of the writing system. All outputs generated by correspondence rules and graphematic constraints are checked for their phonological wellformedness via a phonological filter. The two graphematic constraints from Neef (2012: 211) responsible for orthographic sharpening are given in (5). (5)
a. In a sequence of identical letters, all non-initial ones may be recoded as zero. b. A vowel letter does not correspond to a tense vowel if it is immediately followed by […] a sequence of identical consonantal letters.
For the written input ‘lamb’, for instance, the correspondence rules provide the forms [la(ː)mm], and the graphematic constraint (5a) the additional alternative outputs [la(ː)m]. Constraint (5b) restricts this set to [lam] and [lamm], and the phonological filter discards the ungrammatical output [lamm], leaving [lam] as the output of this recoding process. Neef (2012) claims that it is not necessary to assume a particular ordering in the application of these constraints and rules, and that the “phonological filter applies every time when necessary” (p. 222). An unordered application of constraints that can enlarge (as in (5a)) or restrict (as in (5b)) the candidate set, and the multiple application of phonological restrictions leave this analysis rather unrestricted. Furthermore, the phonological filter is not made explicit, nor is its continuous influence on the recoding process.
4 Neef makes no distinction between phonological surface and phonetic form.
Silke Hamann
Another drawback of Neef’s proposal is that for lexically stored irregular orthographic forms, which “have priority over the set of regular correspondences” (2002: 172), it is not elaborated how such lexical knowledge can interfere with the correspondence relations that bypass the lexicon. We will see in the following how an explicit formalization of German phonotactic restrictions and the phonological process of degemination both in speech production and recognition make a full-fledged model of the reading process (including lexical access) possible which avoid the shortcomings of Neef’s proposal.
No geminate constraint in production, perception and reading The restriction that geminates are only allowed across p-words in German, exemplified in (1) and (2), is captured in the present proposal with the OT constraint in (6). (6)
*GEM
Assign a violation mark to every geminate that is not spanning a lower p-word boundary.
Constraint (6) prohibits two identical adjacent elements within a p-word, thus follows from the Obligatory Contour Principle (OCP; McCarthy 1986), and is based on Rose’s (2000) no geminate constraint. While Rose’s constraint banned all long consonants, the constraint in (6) is restricted to true geminates, i.e. those that do not span p-word boundaries. It is further restricted to geminates spanning lower p-word boundaries, and does not apply to recursive p-words of compounds (Ito & Mester 2008) or of certain prefixed verbs illustrated in (2b) (see Raffelsiefen 2000 for a discussion). This constraint is proposed to apply cross-modally: in phonological production and speech perception for spoken language, and in reading for written language. For the formalization thereof, I employ the BiPhon model by Boersma (2007), as shown in Figure 1. BiPhon is a linguistic model that provides an explicit formalization of phonology and phonetics in both processing directions, i.e. production and comprehension.
One phonotactic restriction for speaking, listening and reading
Fig. 1: The BiPhon grammar (Boersma 2007) with the structural constraint *G EM in red restricting the phonological surface form, thus applying both to the output of perception (lower left) and the output of phonological production (upper right).
The right side of Figure 1 shows the production direction, starting from an underlying form, which is mapped onto a surface form in phonological production (traditionally called ‘phonology’) via faithfulness and structural constraints. In phonetic implementation, the surface form is then transformed into a phonetic form via cue and articulatory constraints. On the left side of Figure 1, we see the comprehension process: there, the starting point is the phonetic form (lower left), which is mapped onto a surface form. This is performed by the so-called ‘perception grammar’ (Boersma 2007, Boersma & Hamann 2009). The surface form is then mapped onto an underlying, lexical form in speech recognition.5 The same constraints that are employed in the production direction also apply in the comprehension direction. In both processing directions, structural constraints like *GEM restrict the phonological surface form. In production, they apply to the output of the phonological production, where they interact with
5 Though production and comprehension are described in the present article as each consisting of two serial steps, these two steps can be performed in parallel. Parallel evaluation of surface and underlying form in comprehension, for instance, is necessary to account for the Ganong effect, i.e. the influence of lexical information on speech perception (Ganong 1980), see the formalization in Boersma (2012).
Silke Hamann
faithfulness constraints. This is illustrated in section 3.1 below with phonological degemination in German. In listening, they restrict the output of the perception process. Here they interact with cue constraints, as illustrated in section 3.2 for the perception of auditory forms with long and short consonants in German. To account for the reading process, Hamann & Colombo (2017) introduced a reading grammar, which works very similar to the BiPhon perception grammar. Both involve the mapping of a sensory input onto a phonological surface form. In speech perception, the sensory input is the auditory form, in reading the written form. Instead of cue constraints, a reading grammar uses orthographic constraints (ORTH), mapping graphemes onto phonemes. The output of both perception and reading grammar is restricted by the same structural constraints, e.g. *GEM. This reading grammar is represented in Figure 2.
Fig. 2: Reading grammar (Hamann & Colombo 2017): mapping of a written form onto a phonological surface form via ORTH(OGRAPHIC) constraints, which interact with structural restrictions on the surface form, here represented by *GEM.
The surface form that results from this mapping undergoes the same recognition process as the surface form resulting from the perception process (left upper part of Fig. 1), and is thus influenced by the existence or non-existence of a corresponding underlying form in the lexicon (cf. FN 5). In section 3.3 below the workings of the reading grammar is illustrated with the case of orthographic sharpening in German. Note that the reading grammar as depicted in Fig. 2 describes silent reading. The process of reading aloud needs the additional component of mapping the surface form onto a phonetic form, i.e. the phonetic implementation part of the BiPhon grammar in Fig. 1.
One phonotactic restriction for speaking, listening and reading
. Phonological production and phonetic implementation In phonological production, the obligatory phonological process of degemination applies whenever two identical consonants are adjacent to each other within a p-word as a result of morphophonological concatenation. Phonological degemination is illustrated in the following with the two words in (7). In line with the conventions of the BiPhon model, underlying forms are given in straight lines, surface forms in slashes, and phonetic forms in square brackets. Transcriptions of the surface form include brackets for lower p-word boundaries and dots for syllable boundaries. Consonants between a stressed short, lax vowel and an unstressed vowel (i.e. in foot-internal position) as in (7a) are assumed to be ambisyllabic, following e.g. Becker (1996) and Wiese (2000). (7)
a. |hat+tə| b. |ʃʁɪft+tuːm|
/(haṭə)/ /(ʃʁɪft)(tuːm)/
‘had’ ‘professional literature’
In (7a) degemination applies to avoid two identical consonants adjacent to each other within a p-word, due to the structural constraint *GEM. In (7b), on the other hand, the two identical consonants are separated by a lower p-word boundary, *GEM is satisfied, and degemination is blocked. For a complete modeling of phonological degemination, the structural constraint *GEM is not sufficient. We also need a restriction on forming incorrect pwords, because their boundaries could potentially block degemination. For this, we employ Hall’s (1999: 114) full vowel constraint (FVC), given in (8). (8)
*FVC:
Assign a violation mark to every p-word that does not contain at least one full vowel.
The high ranking of this constraint in German avoids that e.g. for the input form |hat+tə| in (7a) the output candidate */(hat)(tə)/ with two separate p-words and a fake geminate wins, see the first candidate in tableau (9). The actual occurring degeminated form, candidate two, violates the faithfulness constraint DEP-C since one underlying |t| does not surface. Candidate three retains the double consonant, but violates the highranked structural constraint *GEM. Please note that
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the assignment of syllable boundaries and stress are not formalized in this and the following tableaux as they would go beyond the scope of the present paper.6 (9)
Phonological production of |hat+tə| |hat+tə|
*GEM
/(hat)(tə)/
FVC
/(haṭə)/ /(hat.tə)/
DEP-C
*! * *!
The non-application of degemination across p-word boundaries is formalized for the example (7b) in tableau (10). The same ranking of structural and faithfulness constraints as in (9) applies. (10)
Phonological production of |ʃʁɪft+tuːm| |ʃʁɪft+tuːm|
*GEM
FVC
DEP-C
/(ʃʁɪft)(tuːm)/ /(ʃʁɪfṭuːm)/ /(ʃʁɪft.tuːm)/
*! *!
In this case, candidate one with two p-words and a fake geminate wins, because two separate p-words with two full vowels can be formed from the input (without violating FVC). As we saw in the overview of the BiPhon model above, phonological production is complemented by phonetic implementation, where discrete phonological surface forms are mapped onto a continuous, non-discrete auditory form consisting of several cues. This mapping is handled by cue constraints (Escudero & Boersma 2004). Two cue constraints relevant for the present data are given in (11). (11)
*/tt/[t]:
Assign a violation mark for every two alveolar plosives in the surface form that are mapped onto a short closure phase in the phonetic form.
6 I follow Wiese (2000) in assuming default stress is penultimate and assigned via a rightaligned trochaic foot; cases of final or antepenultimate stress are then irregular and lexically stored. For an alternative account where German is assumed to be quantity-sensitive, see e.g. Fery (1998).
One phonotactic restriction for speaking, listening and reading
*/t/[tː]:
Assign a violation mark for every single alveolar plosive in the surface form that is mapped onto a long closure phase in the phonetic form.
A set of cue constraints all referring to the same surface form, e.g. /tt/, and the same auditory cue dimension, such as closure duration, is inherently ranked according to how well the values on the dimension cue the surface form. This is illustrated in (12) with two sets of constraints, one referring to double consonants in the surface form (12a), the other to single consonants (12b), both dealing with closure duration. Note that the continuous auditory dimension of closure duration is restricted here to three realizations, short [t], middle [tˑ], and long [tː]. (12) a. */tt/[t] b. */t/[tː]
>> >>
*/tt/[tˑ] */t/[tˑ]
>> >>
*/tt/[tː] */t/[t]
As evidence to the contrary is lacking, I assume that the two hierarchies in (12) with three strata each can be collapsed into one hierarchy with three strata. In phonetic implementation, the process of phonetic degemination across pword boundaries takes place, cf. example (13) with its output forms that depend on speech style and rate. (13)
/(ʃʁɪft)(tuːm)/ [ʃʁɪftːuːm]~[ʃʁɪftˑuːm]~[ʃʁɪftuːm] ‘professional literature’
For the phonetic implementation of a word like /(ʃʁɪft)(tuːm)/, not only cue constraints but also articulatory effort plays a role, more precisely how effortful the phonetic realization of a closure phase is. This is formalized as gradient *EFFORT constraint, which is violated more often in realizations with a long closure duration than in those with a short one. Tableau (14), with cue constraints (12a), shows that if the cue constraints */tt/[t] and */tt/[tˑ] are ranked above *EFFORT, this results in a careful pronunciation of /(ʃʁɪft)(tuːm)/ with a long closure phase: (14)
Phonetic implementation of /(ʃʁɪft)(tuːm)/ in slow, careful speech /(ʃʁɪft)(tuːm)/
*/tt/[t]
*/tt/[tˑ]
[ʃʁɪftːuːm] [ʃʁɪftˑuːm] [ʃʁɪftuːm]
*! *!
*EFFORT
*/tt/[tː]
***
*
** *
High-ranked *EFFORT, on the other hand, results in a realization with a short closure phase, cf. (15), with the same cue constraints and their ranking as in (14).
Silke Hamann
(15)
Phonetic implementation of /(ʃʁɪft)(tuːm)/ in quick speech /(ʃʁɪft)(tuːm)/
*EFFORT
[ʃʁɪftːuːm]
**!*
[ʃʁɪftˑuːm]
**!
[ʃʁɪftuːm]
*/tt/[t]
*/tt/[tˑ]
*/tt/[tː] *
*
*
*
For the phonetic implementation of /(haṭə)/, with a single surface alveolar plosive, the cue constraints in (12b) are relevant, see the formalization in tableau (16). The exact ranking of the *EFFORT constraint in this tableau is irrelevant, since both the ranking of the cue constraints and *EFFORT favor the same, third candidate. This means that the phonetic realization of this form is not dependent on speech rate. (16)
Phonetic implementation of /(haṭə)/ /(haṭə)/ [hatːə]
*/tt/[t]
*/tt/[tˑ]
*!
[hatˑə] [hatə]
*EFFORT
*/tt/[tː]
*** *!
** *
*
This section showed how obligatory phonological degemination within p-words is formalized in the phonology module with the high-ranked structural constraint *GEM, while optional phonetic degemination across p-words is formalized in the phonetics module with an articulatory *EFFORT constraint whose ranking depends on speech rate. In the following section, we will see that the same highranked phonological *GEM plays a role in speech perception.
. Perception and recognition The process of speech comprehension consists of perception and recognition. In speech perception, an auditory input has to be mapped onto a phonological surface representation, recall Figure 1. Listeners use auditory durational cues to perceive a consonant with short closure duration as singleton and a consonant with long closure duration as geminate. This is formalized with the same cue constraints as given for phonetic implementation in (11), though now they are interpreted in the reverse direction, e.g. */tt/[t] as “Assign a violation mark for every short closure phase that is mapped onto two alveolar plosives”. Articulatory con-
One phonotactic restriction for speaking, listening and reading
straints like *EFFORT play no role in perception. Instead, the output of this mapping is restricted by the structural constraints *GEM and FVC that we know already from phonological production. The interaction of cue and structural constraints is illustrated in tableaux (17) for the perception of [ʃʁɪftːuːm], with a long closure duration, and (18) for the perception of [hatə], with a short closure duration. Only those cue constraints from (12) are included that refer to the auditory cues in the respective inputs. A listener faced with the auditory input [ʃʁɪftːuːm] “perceives” this as containing two separate p-words, see the winning candidate in (17), because the long closure phase has to be mapped onto two surface /tt/ (otherwise the cue constraint */t/[tː] is violated, see candidate two), and interpreting these two surface /tt/ as belonging to one p-word is not allowed (as it would violate *GEM, see candidate three). (17)
Perception of [ʃʁɪftːuːm] [ʃʁɪftːuːm]
*GEM
FVC
*/t/[tː]
/(ʃʁɪft)(tuːm)/
*
/(ʃʁɪfṭuːm)/ /(ʃʁɪft.tuːm)/
*/tt/[tː]
*! *!
*
For the input [hatə] in (18), on the other hand, the short closure phase cannot be mapped onto two surface /tt/ (this would violate the cue constraint */tt/[t], see candidates one and three). Candidate one, with two p-words, additionally violates FVC because the second p-word has no full vowel, and candidate three has a geminate within a p-word and violates *GEM. (18)
Perception of [hatə] [hatə]
*GEM
/(hat)(tə)/
FVC
*/t/[tː]
*(!)
*(!)
/(haṭə)/ /(hat.tə)/
*/tt/[tː] *
*(!)
*(!)
Winner is the second candidate, and a listener perceives the phonetic form [hatə] as surface /(haṭə)/. However, this form has to be retrieved in the lexicon as consisting of the stem |hat| and the inflectional suffix |tə|. A reconstruction of the correct underlying form, that is the undoing of phonological degemination, happens in the recognition process with the help of lexical information: the lexicon does not contain a monomorphemic entry |hatə|. This is formalized with a lexical
Silke Hamann
restriction LEX: “only employ words that exist in your lexicon” (based on Boersma 2001), see tableau (19). Candidates one and two violate LEX because they result in non-existent underlying forms. Candidate three, the winning candidate, violates the faithfulness constraint DEP-C, which militates against insertion of consonants in the recognition process: The winning candidate has one plosive in the surface form, but two in the underlying form. (19)
Recognition of the surface form /(haṭə)/ /(haṭə)/
LEX
|hatə|
*!
|hat+ə|
*!
|hat+tə|
DEP-C
*
For [hatə], the perception and recognition together result in |hat+tə|, the only possible parse in German. For homonyms with different morphological structure, e.g. German [matə] for monomorphemic |matə| ‘mat’ and bimorphemic |mat+tə| ‘dull-F’, however, lexical information alone would always result in |matə| as winning candidate, because this candidate does not violate DEP-C, while |mat+tə| does. In such cases, syntactic and semantic context are necessary to retrieve the correct meaning. This could be formalized with separate semantic and syntactic representations and corresponding constraints, or with LEX constraints that include semantic context (for an example of the latter, see Boersma 2001). Due to lack of space I do not provide a formalization of this. A similar reconstruction of the correct underlying form as we saw in (19) is also necessary for the extremely shortened [ʃʁɪftuːm] in very quick speech. [ʃʁɪftuːm] is perceived with the perception grammar employed before as surface /(ʃʁɪf)(tuːm)/, cf. the winning third candidate in tableau (20).7
7 A candidate /(ʃʁɪfṭuːm)/ with an ambisyllabic coronal plosive and only one pword is not included in this tableau (or the earlier production tableaux (9) and (10) and the perception tableaux (17) and (18). It would violate a constraint requiring that every (primarily or secondarily) stressed full vowel forms the head of its own p-word (see e.g. Raffelsiefen 2000 for a similar argument), which I left out for reasons of clarity and space.
One phonotactic restriction for speaking, listening and reading
(20)
Perception of [ʃʁɪftuːm] [ʃʁɪftuːm]
*GEM
FVC
/(ʃʁɪft)(tuːm)/ /(ʃʁɪft.tuːm)/
*/tt/[t]
*/t/[t]
*! *(!)
*(!)
/(ʃʁɪf)(tuːm)/
*
Perceiving the short closure phase as /tt/, as in the first and second candidate, violates the cue constraint */tt/[t]. This “misperception” of a phonetically shortened fake geminate as surface /(ʃʁɪf)(tuːm)/ can only be corrected via lexical information: the lexicon does not contain an entry with the form |ʃʁɪf|. This recognition phase for /(ʃʁɪf)(tuːm)/ is formalized in tableau (21), with the same constraints and ranking as in recognition tableau (19): (21)
Recognition of the surface form /(ʃʁɪf)(tuːm)/ /(ʃʁɪf)(tuːm)/
LEX
|ʃʁɪft+tuːm| |ʃʁɪf+tuːm|
DEP-C *
*!
. Reading In section 3.2, we saw how the high-ranked structural constraint *GEM influences both phonological production and speech perception of German. In this section, I illustrate how the same constraint is relevant in the process of reading German, and will formalize this process with a reading grammar (Hamann & Colombo 2017). Figure 2 above showed that a reading grammar maps a written form onto a surface phonological form with the help of orthographic constraints. Two orthographic constraints necessary for the present analysis, and their ranking, are given in (22): (22a) maps a single-letter grapheme onto a phoneme, and constraint (22b) a vowel grapheme in a specific orthographic context onto a phonological feature. The latter accounts for German sharpening, i.e. the fact that a stressed vowel has to be phonologically short/tense if it is written with a vowel grapheme that is followed by two identical consonantal letters.8
8 The native reader needs to make a distinction between vowel and consonantal letters in order to be able to interpret this constraint, see Neef (2002: 171) for a similar assumption.
Silke Hamann
(22) a. /t/:
Assign a violation mark for every grapheme that is not mapped onto a surface form /t/, and vice versa. b. /–long/: Assign a violation mark for every vowel grapheme followed by two identical consonantal letters that is mapped onto a surface long vowel. c. /–long/ >> /t/
In the German written form for phonological /(maṭə)/ ‘mat’, one of the two graphemes is thus used solely to express the shortness of the preceding vowel, and does not map onto its own surface /t/. This shows that a constraint regulating the mapping between single consonantal graphemes and single consonantal phonemes as in (22a) has to be ranked below the shortening constraint (22b), with the resulting ranking given in (22c), in order to yield the correct reading of German. Tableau (23) formalizes the reading of , where the two orthographic constraints in (22) interact with the by now familiar structural constraints *GEM and FVC, to render the correct output. Recall that in German, the same vowel graphemes are used for both the short and the long low vowel of the same/similar quality, thus can stand for /a/ or /aː/, and that orthographic sharpening is used exactly to disambiguate between these two possibilities.9 (23)
Reading of native
*GEM
FVC
/(maː.tə)/ /(mat.tə)/ /(mat)(tə)/ /(maṭə)/
/–long/
/t/
*!
*
*! *! *
The first candidate maps the vowel grapheme followed by two identical consonantal graphemes onto a [+long] vowel, thereby violating the sharpening constraint (22b). Candidate one furthermore violates the orthographic constraint /t/, and so does candidate four, because one of the two graphemes in the input form is not mapped onto a surface /t/. Candidate two and three, on the other
9 Other ways to orthographically disambiguate phonological vowel length in German are the use of double vowel letters or a single vowel letter followed by for phonologically long/tense vowels. A full formal account of these mechanisms and their exceptions would go beyond the scope of this paper and are left for future studies.
One phonotactic restriction for speaking, listening and reading
hand, have two corresponding consonants (/tt/) in the surface form. While in candidate two, these surface consonants occur in the same p-word and thus violate *GEM, they are assigned to different p-words in candidate three, the second without a full vowel and therefore violating FVC. The winner is candidate four with a single surface /t/ preceded by a short vowel. Parallel to the evaluation in (23), the bimorphemic ‘had’ results in the phonological surface /(haṭə)/. In order to arrive at the correct underlying form |hat+tə|, the recognition process needs to take into account that |hatə| does not exist in the lexicon. This step has been formalized already with LEX in the recognition grammar, see tableau (19) above. The word /(mat)/ ‘dull-M/N’ shows that German orthographic sharpening also applies in p-word final position, because the two final identical graphemes are again interpreted as one single surface consonant. For a formalization, see tableau (24). (24)
Reading of native
*GEM
FVC
/(maːt)/ /(matt)/
/–long/
/t/
*!
*
*!
/(mat)/ /(maːtt)/
* *!
Fake geminates preceded by a short vowel are also read correctly with the present reading grammar. This is illustrated with the word ‘shipping’ in (25), where /f/ is used instead of /t/. (25)
Reading of
/(ʃɪff)(faːɐt)/
*GEM
FVC
/–long/
*!
/(ʃɪf)(faːɐt)/
*
/(ʃɪf̣ aːɐt)/ /(ʃiːf)(faːɐt)/
/f/
**! *!
*
The first candidate maps all three graphemes onto their own surface /f/, and by doing so violates *GEM. In the second, winning candidate one is not mapped onto a surface /f/, but this candidate suffices the structural constraints and the sharpening constraint. Candidate four maps the grapheme onto a long vowel, and thereby violates the sharpening constraint.
Silke Hamann
Words such as |bʁoːt+taɪg| ‘bread dough’, with a vowel that is not orthographically marked as long (by a double vowel grapheme or a following ) and is followed by a fake geminate, are read by the present reading grammar as having a short vowel because of the sharpening constraint, see tableau (26). (26)
Reading of
*GEM
FVC
/(bʁoːṭaɪ͡g)/ /(bʁoːt.taɪ͡g)/
*(!)
/–long/
/t/
*!
*
*(!)
/(bʁɔt)(taɪ͡g)/ /(bʁoːt)(taɪ͡g)/
*!
The first two candidates illustrate that the orthographic word has to be interpreted as consisting of two p-words with a fake geminate. Candidate three, the winning candidate, interprets the grapheme sequence as having a short vowel, and thus follows the sharpening constraint, as opposed to candidate four. We assume that the winning surface form /(bʁɔt)(taɪg)/ is correctly interpreted in the recognition process as |bʁoːt+taɪg| with the help of the lexical knowledge that |bʁɔt| is not an existing German word form (formalized with LEX). For words like |ʃʁɪft+tuːm| ‘professional literature’, the reading grammar results in two winning candidates, see tableau (27). The two identical consonant graphemes are preceded by another consonant grapheme, and therefore the sharpening constraint does not apply, and phonotactically, both short /ɪ/ and long /iː/ are possible in this context. (27)
Reading of
*GEM
/(ʃʁɪfṭuːm)/ /(ʃʁɪft.tuːm)/
FVC
/–long/
/t/ *!
*!
/(ʃʁɪft)(tuːm)/ /(ʃʁiːft)(tuːm)/
For cases like these, where the quantity of the vowel is orthographically not specified, the recognition process will provide again the correct underlying form. 10
10 Ramers (1999: 57) observes that vowel graphemes followed by two (or more) consonantal graphemes/letters in German are usually short, which could be formalized as an orthographic
One phonotactic restriction for speaking, listening and reading
Discussion and conclusion In this article, I illustrated that the same high-ranked no geminate constraint that restricts the phonological production in German also applies in the processes of speech perception and reading. This cross-modal application was formalized in the OT BiPhon grammar (Boersma 2007) with the extension of a reading grammar (Hamann & Columbo 2017). As opposed to earlier accounts of reading and writing, where phonological knowledge such as phonotactic constraints and phonological processes is either reduplicated in the orthographic mapping or not formalized at all, the present model employs the independently needed phonological module to restrict the reading process. Several issues have not or only very superficially been dealt with in the present article. To illustrate the workings of a reading grammar, I used German orthographic sharpening. Other orthographic encodings of German vowel duration, such as the use of double vowel graphemes, the grapheme or one vowel followed by for phonologically long/tense vowels were not discussed. A full reading grammar of German would of course need to incorporate all of these mappings. Secondly, reading of an alphabetic script was consistently viewed as proceeding via the so-called sub-lexical route, i.e. the mapping of an orthographic form via a phonological surface onto a lexical form. Psycho- and neurolinguistic studies, however, provide evidence for the simultaneous existence of a direct lexical route, especially in proficient readers, where the visual input of the written form is mapped directly onto a lexical form (the dual route model; see e.g. Coltheart et al. 1993, Coltheart et al. 2001, Grainger et al. 2012). This lexical route can be included in the present OT model by constraints mapping whole orthographic word forms onto pairs of meaning and underlying forms. These constraints can interact in a parallel evaluation with the sublexical route constraints, allowing for a competition between the two routes. The elaboration of this topic is left for future research. And lastly, this article did not deal with the writing process. As illustrated for cue and faithfulness constraints, all mapping constraints in the BiPhon model can be used bidirectionally, i.e. for the speaking as well as the listening direction. This bidirectionality also holds for the orthographic constraints in the reading constraint /–long/ in the reading process (see Neef 2002 for a similar proposal). However, due to the considerable number of exceptions both in monomorphemic words and in inflected verbs, this constraint could only be low ranked, and the exceptions would still need to be “repaired” in the recognition process.
Silke Hamann
grammar. Hamann & Colombo (2017) show with examples from Italian, a language with a very transparent orthography, how orthographic constraints can be used in the reverse direction to formalize the writing process. How the orthographic sharpening constraint introduced in this article is applied in the writing process in German, and how it interacts with possible constraints on the orthographic output (such as “double graphemes like or are not allowed”) needs to be elaborated in future work.
Acknoledgements: The content of this manuscript was presented at the workshop “Geschriebene und gesprochene Sprache als Modalitäten eines Sprachsystems” as part of the 38th Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft in Konstanz. Parts of it were also presented at the 24th Manchester Phonology Meeting. I would like to thank especially the audience of the latter for very productive discussions. I also thank an anonymous reviewer for helpful comments.
One phonotactic restriction for speaking, listening and reading
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Fabian Renz-Gabriel
mega gut und sau schlecht Zum Wortstatus vermeintlich gebundener Intensivierer Abstract: Produktive gebundene Intensivierer wie sau-, super- und mega- weisen im gesprochenen Substandard typische Eigenschaften expressiver Intensitätspartikeln auf. Diese Wortfähigkeit wirkt sich auch auf die Schreibung aus: In Internetkommunikation lässt sich bei der Modifikation von Adjektiven durch diese Intensivierer sehr häufig Getrenntschreibung feststellen. Das graphematische Mittel der Spatiensetzung wird dabei – trotz gegensätzlicher Normvorgabe – genutzt, um grammatische Eigenschaften abzubilden.
Einleitung In der gesprochenen Umgangssprache werden Adjektive häufig durch intensivierende Morpheme wie sau-, super- oder mega- modifiziert (saukalt, superschnell, megagut).1 Werden diese Formen verschriftlicht, lässt sich in informellen Kontexten eine Varianz zwischen Getrennt- und Zusammenschreibung feststellen, wie die Internetbelege in (1) bis (3) zeigen.2 (1)
a. Die Nacht war saukalt und sehr kurz. https://michigoes2mexico.wordpress.com/tag/tec-de-monterrey/
b. Die Nacht war sau kalt und es ging nix. https://www.facebook.com/dargaclaudia/posts/436653986492499
(2) a. Hallo ihr zwei, die Ware ist superschnell dagewesen, bin absolut begeistert von Eurem Shop. http://www.amazon.de/Schwei%C3%9Fgitter-verzinkt-1000-Rolle-Maschenweite/product-reviews/B008368A5U
b. Das Sweatshirt ist super schnell dagewesen. https://www.amazon.de/Star-Wars-Langarmshirt-UN503Schwarz/dp/B017RMA3T6?ie=UTF8&*Version*=1&*entries*=0
Fabian Renz-Gabriel, Deutsches Seminar, Universität Tübingen, Geschwister-Scholl-Platz 72074 Tübingen, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110710809-005
Fabian Renz-Gabriel
(3) a. Szczesny nicht vergessen, hat gegen Deutschland ein megagutes Spiel gemacht. http://www.transfermarkt.de/em-quali-schottland-vs-polska-8-10-20-45-polska-vs-irland-11-10-20-45-/thread/forum/68/thread_id/96599/page/7
b. Hummels hat auch ein mega gutes Spiel gemacht. http://www.transfermarkt.de/deutschland-schlagt-italien-erstmals-nach-21-jahren/thread/forum/228/thread_id/74943/lesenswerteBeitraege/1
Eine derartige Varianz tritt, wie die Daten belegen, gleichermaßen vor prädikativ, adverbial und attributiv gebrauchten Adjektiven auf. Außerdem ist festzustellen, dass die Belege ansonsten keine auffälligen Normabweichungen, Rechtschreiboder Tippfehler aufweisen. Die Getrenntschreibung in den b-Belegen verstößt jedoch gegen dezidierte Normvorgaben. So heißt es im Regelwerk zur deutschen Rechtschreibung (2006, § 36): „Es wird zusammengeschrieben, wenn der erste Bestandteil bedeutungsverstärkend oder bedeutungsabschwächend ist.“ Als Beispiel wird dort u.a. super- genannt. Eine derartige Varianz tritt, wie die Daten belegen, gleichermaßen vor prädikativ, adverbial und attributiv gebrauchten Adjektiven auf. Außerdem ist festzustellen, dass die Belege ansonsten keine auffälligen Normabweichungen, Rechtschreib- oder Tippfehler aufweisen. Die Getrenntschreibung in den b-Belegen verstößt jedoch gegen dezidierte Normvorgaben. So heißt es im Regelwerk zur deutschen Rechtschreibung (2006, § 36): „Es wird zusammengeschrieben, wenn
1 Für diese Form der Wortbildung werden in der Literatur unterschiedlichste Bezeichnungen gewählt, vor allem ‚Intensivierung‘ (van Os 1989, Heymann 2006, Rainer 2015), ‚Gradation‘ (Kühnhold et al. 1978, Fleischer & Barz 2012 u.a.), ‚Graduierung‘ (Eichinger 2000), ‚Gradierung‘ (Motsch 2004), ‚Steigerung‘ (Pittner 1996, Altmann 2011, Klara 2009, 2012), ‚Verstärkung‘ (Elsen 2011), ‚Augmentation‘ (Ruf 1996) und ‚Amplifikation‘ (Kammerer 2001); im Folgenden wird von ‚Intensivierung‘ die Rede sein. Auch bei der Klassifikation des Wortbildungstyps besteht in der Literatur keine Einigkeit, so werden beispielsweise auf Nomen basierende Morpheme wie saumal als ‚Präfixoide‘ (z.B. Elsen 2011), mal als nominale ‚Erstglieder‘ (z.B. Fleischer & Barz 2012) und mal als ‚Steigerungsglieder‘ (mit eigenem Wortbildungstyp ‚Steigerungsbildung‘, Pittner 1996, Klara 2009, 2012, Altmann 2011) analysiert. Zur Diskussion über die Notwendigkeit einer Kategorie der ‚Affixoide‘ (seltener auch ‚Halb-Präfixe‘) vgl. u.a. Schmidt (1987), Motsch (1996), Elsen (2009). Die Frage nach dem Wortbildungstyp ist für die hier angestellten Überlegungen jedoch nachrangig, es wird schlicht von ‚morphologischen Intensivierern‘ oder ‚gebundenen Intensivierern‘ die Rede sein. 2 Sämtliche Internetseiten in diesem Artikel wurden im Januar/Februar 2016 aufgerufen. Wo es der Übersichtlichkeit dient, sind in den Daten im Folgenden Intensivierer fettgedruckt und intensivierte Elemente (‚Intensifikanden‘) unterstrichen.
mega gut und sau schlecht
der erste Bestandteil bedeutungsverstärkend oder bedeutungsabschwächend ist.“ Als Beispiel wird dort u.a. super- genannt. Im Folgenden wird deutlich werden, dass die Getrenntschreibung dennoch kompatibel ist mit den graphematischen Regularitäten des Deutschen. Einige standardsprachlich ausschließlich als morphologische Intensivierer verwendete Morpheme werden in der Jugendsprache nämlich seit einiger Zeit als syntaktisch eigenständige Wörter verwendet – als Intensitätspartikeln (vgl. Androutsopoulos 1998: 111-112, 461). Diese Art der Verwendung ist mittlerweile im (konzeptionell) gesprochenen Substandard weit verbreitet. Eine Form wie mega_gut kann demnach auch als eine Kombination zweier Wörter, einer Intensitätspartikel (ab hier mit „IntP“ abgekürzt) und eines intensivierten Adjektivs, „gemeint“ sein, analog zu voll gut oder total gut. In diesem Fall liegen also zwei syntaktische Einheiten vor, zwischen denen obendrein eine syntaktische Relation besteht – dies sind bekanntermaßen relevante Kriterien für Getrenntschreibung (Maas 1992: 177, Günther 1997, Fuhrhop 2007: 182, 2010, 2015: 56). Im Folgenden soll mit Hilfe von Korpusdaten nachgewiesen werden, dass zahlreiche vermeintlich gebundene Intensivierer typische Eigenschaften von (expressiven) IntPn aufweisen, sprich: Wortstatus haben, und dass dieser Umstand Auswirkungen auf die Schreibung hat, indem sich bei diesen Intensivierern vermehrt Getrenntschreibung feststellen lässt. In Abschnitt 2 wird der Frage nachgegangen, welche Morpheme für eine derartige Entwicklung überhaupt infrage kommen und welche nicht; zu diesem Zweck werden mögliche Intensivierer anhand einer quantitativen Untersuchung des DECOW14-Webkorpus auf ihre Produktivität hin untersucht. In Abschnitt 3 wird anhand bestimmter syntaktischer Eigenschaften (Verbintensivierung, NP-externe Stellung, Superlativendung) für alle als produktiv ermittelten Intensivierer eine Verwendung als IntP nachgewiesen; da das DECOW-Korpus hierfür zu klein ist, wird auf eine Google-Suche zurückgegriffen. Abschnitt 4 behandelt einige resultierende Fragen und zieht ein Zwischenfazit. In Abschnitt 5 wird erneut eine quantitative Auswertung des DECOW14-Webkorpus vorgenommen, die zeigt, dass sich für die Intensivierer mit Wortstatus bei der Modifikation von Adjektiven häufig Getrenntschreibung feststellen lässt (z.B. ), für auf morphologische Intensivierung beschränkte Morpheme hingegen kaum (z.B. #). Abschnitt 6 zieht ein Fazit.
Fabian Renz-Gabriel
Gebundene Intensivierer als IntPn – welche Morpheme kommen infrage? Eine Verwendung von standardsprachlich gebundenen Intensivierern als IntPn wurde für die Jugendsprache bereits in den 1990er Jahren festgestellt, nämlich für mords, super, mega, ultra (Androutsopoulos 1998: 111-112)3 und ur (SchliebenLange 1995). Gutzmann & Turgay (2012, 2014) erkennen eine solche Nutzung auch für sau. Es dürfte mittlerweile jedoch zu einem weitgehenderen Ausbau des Inventars gekommen sein. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, welche Morpheme für eine derartige Entwicklung überhaupt infrage kommen. Das Inventar der (Adjektive) intensivierenden Morpheme im Deutschen ist nämlich immens groß, wie die alphabetische Auflistung in (4) verdeutlicht. Nicht zuletzt da es sich bei intensivierenden Morphemen um eine offene Klasse handelt, die ständig durch Innovationen erweitert wird, kann diese Auflistung keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Sie enthält jedoch diejenigen Morpheme, die in der einschlägigen Literatur regelmäßig genannt werden (v.a. Kühnhold et al. 1978: 191-214, Pittner 1996, Motsch 2004: 278-284, Elsen 2011: 145-147, Fleischer & Barz 2012: 310-3144). Zusätzlich sind in (4) mit hammer- und end(s)- zwei Intensivierer aufgelistet, die sich fast ausschließlich in Beschreibungen der Jugendsprache (v.a. Androutsopoulos 1998) bzw. in Jugendsprache-Wörterbüchern (z.B. Ehmann 1996, Pons 2001, Langenscheidt 2008) finden.5
3 Wobei eine derartige Verwendung für mords und für super älter sein dürfte als für mega und ultra. Androutsopoulos (1998: 111) verweist in diesem Zusammenhang auf Küpper (1987), wo der Beginn eines selbstständigen Auftretens von mords auf ca. 1910 datiert wird, von super auf die Zeit nach 1945. Allerdings bezieht sich Küpper (1987) dabei auf eine adjektivische Verwendung, die zwar mit einer Etablierung als IntP in Zusammenhang stehen dürfte (s. Exkurs 1 in Abschnitt 2.2), allerdings nicht mit ihr gleichgesetzt werden darf. 4 Diese Literatur dient im folgenden Abschnitt 2.1 auch als Grundlage für die Angaben zu den Kombinationsmöglichkeiten mit bestimmten Adjektivstämmen, ergänzend fungiert hier die Liste im Anhang von van Os (1989); punktuell werden auch eigene Beobachtungen beigefügt. 5 Andere dort genannte gebundene Intensivierer wurden aufgrund offensichtlich geringer Produktivität oder extrem geringer Frequenz aussortiert, etwa bums-(fidel), fuck-(egal), furz-(trocken), sack-(doof) oder schrott-(dumm). Andere jugendsprachliche Intensivierer, die zum Teil in der Literatur überhaupt nicht auftauchen und durch Sprachbeobachtung ermittelt wurden, werden wegen ihrer geringen Frequenz und ihrer Beschränkung auf wenige Adjektive (v.a. geil) hier ignoriert, obwohl sich für sie mindestens in Ansätzen auch die im weiteren behandelten IntPEigenschaften feststellen lassen. Es handelt sich dabei um die Morpheme mörder-, todes- und gottes-; auf einige dieser Morpheme wird in Abschnitt 3 kurz eingegangen.
mega gut und sau schlecht
(4)
affen-, arsch-, blitz-, blut-, bomben-, brand-, end(s)-, erz-, grotten-, hammer-, hoch-, hunde-, hyper-, knall-, mega-, mords-, ober-, ratten-, riesen-, sau-, scheiß-, schweine-, stein-, stink-, stock-, super-, tief-, tod-, über-, ultra-, ur-
Da IntPn immer mit unterschiedlichsten Adjektiven kombinierbar sind (wenn sie auch womöglich anfangs auf bestimmte Bewertungen beschränkt sind, wie das etwa für schrecklich oder furchtbar galt, vgl. Breindl 2007: 400), dürfte ein wichtiger Anhaltspunkt die Produktivität der Morpheme sein. Anders gesagt: Nur ein Intensivierer, der auch als gebundenes Morphem schon mit unterschiedlichen Adjektivstämmen kombiniert werden kann, wird für eine Verwendung als IntP infrage kommen. Im Weiteren sollen die Morpheme aus (4) auf ihre Produktivität hin untersucht werden; dies geschieht in erster Linie anhand der Kombinierbarkeit mit den hochfrequenten, antonymen Adjektiven gut und schlecht sowie groß und klein. Da in der Jugendsprache Wertungen im Allgemeinen und Wertadjektive im Speziellen eine große Rolle spielen (vgl. Androutsopoulos 1998: 19, 435), werden die Morpheme dabei auch auf eine mögliche Verbindung mit einem der häufigsten substandardsprachlichen Wertadjektive hin untersucht: geil.6
6 Dem Adjektiv geil wurde immer wieder ein Bedeutungsverlust in der Jugendsprache beschieden (so schon bei Hullen 1989: 182), auch Jugendliche selbst zählen es seit einiger Zeit zu den „uncoolen Wörtern“ (Pons 2010: 136). Das verwundert nicht: Dem Adjektiv geil ist ein weitgehender Übergang in den Standard gelungen (Androutsopoulos 2005), für Jugendliche wird es damit weniger interessant (alternativ haben sich in der Jugendsprache Varianten wie geilo, geilomat, geilomatiko, geilo-meilo, geilon und goil gebildet). Zum einen ist jedoch davon auszugehen, dass Jugendliche in der Sprachwirklichkeit nach wie vor häufig auf geil zurückgreifen (dafür sprechen auch die Lemmata supergeil, kontrageil/contrageil, leider geil, ungeil, Alles Geile!, vergeilern und Geiligkeiten in neueren Jugendsprache-Lexika (z.B. Langenscheidt 2014, 2015, 2017, Pons 2014, 2015)), zum anderen ist eine hohe Frequenz im Substandard für die hier angestellten Untersuchungen ausreichend, da davon ausgegangen wird, dass auch die hier untersuchten Phänomene bereits nicht mehr auf die Jugendsprache (im engeren Sinne) beschränkt sind.
Fabian Renz-Gabriel
. Intensivierende Morpheme mit geringer Produktivität Als erstes können diejenigen Morpheme aussortiert werden, die auf Einzelbildungen oder auf wenige mögliche Kollokationen beschränkt sind; dies gilt für blut-, ratten-, brand-, knall-, riesen-7 und stein-, vgl. (5).8 (5) a. blutjung; aber: #blutgeil, #blutgut, #blutschlecht, #blutklein, #blutgroß b. rattenscharf; aber: ?rattengeil, #rattengut, #rattenschlecht, #rattengroß, #rattenklein c. brandneu, brandaktuell, brandgefährlich; aber: #brandgeil, #brandgut, #brandschlecht, #brandgroß, #brandklein d. knallhart, knallbunt, knall[Farbe], knalleng; aber: #knallgeil, #knallgut, #knallschlecht, #knallgroß, #knallklein e. riesengroß, riesenhoch; aber: ?riesengeil, #riesengut, #riesenschlecht, #riesenklein f. steinhart, steinreich, steinalt; aber: #steingeil, #steingut, #steinschlecht, #steingroß, #steinklein Die Verwendung der Morpheme grotten- und hunde- geht mit einer negativen Haltung des Sprechers einher (vgl. Pittner 1996: 47, Altmann 2011: 58). Diese Intensivierer sind also noch nicht ausreichend desemantisiert bzw. neutralisiert, um als IntPn infrage zu kommen; eine Kombination mit positiven Wertadjektiven ist unmöglich: #grottengeil, #grottengut, #hundegeil, #hundegut, vgl. (6). (6) a. grottenschlecht, grottenhässlich, grottenlangweilig, …; aber: #grottengeil, #grottengut, #grottengroß, #grottenklein b. hundeelend, hundemüde, hundeschlecht9, …; aber: #hundegeil, #hundegut, #hundegroß, #hundeklein
7 Das Morphem Riesen- ist allerdings bei der Nomen-Modifikation (s. Exkurs 2 in Abschnitt 4.2) höchst produktiv (Riesenspaß, Riesensauerei etc.). 8 Die Bewertung mit der Raute (#) zeigt an, dass es sich um Verbindungen handelt, die als stark markiert betrachtet werden müssen, hochgestellte Fragezeichen (?) sollen einen vermuteten geringeren Grad an Markiertheit anzeigen. Die Ergebnisse der Korpusstudie 1 in Abschnitt 2.2 untermauern diese Einschätzungen. Es sei noch darauf hingewiesen, dass sich diese Bewertungen nur auf die intensivierende Modifikation beziehen und nicht auf eine Lesart als gewöhnliches Kompositum (z.B. blutgeil in der Lesart ‚geil auf Blut‘). 9 Beispielsweise ist das Zitat „Ich befinde mich hundeschlecht“ des Dichter Heinrich Heine belegt (http://www.br.de/radio/bayern2/wissen/radiowissen/heinrich-heine-hundeschlecht100.html).
mega gut und sau schlecht
Eine Beschränkung auf negative Kontexte wird in Kühnhold et al. (1978: 205-206) auch für sau- konstatiert, die dort (ebenso wie die in Küpper 1968) genannten Adjektivstämme sind somit auch alle negativ konnotiert (z.B. sauschlecht, saudumm, saudämlich); eine Ausnahme ist die Vergleichsbildung sauwohl (etwa: ‚so wohl, wie es einer Sau geht‘). Schon im „Wörterbuch der deutschen Umgangssprache“ von 1987 (Küpper 1987) finden sich dann jedoch zahlreiche Bildungen mit positiv wertenden Adjektiven (z.B. saugut, saugemütlich, saufroh). Eine Verwendung gerade auch mit semantisch gegenläufigen Adjektiven ist ein typisches Indiz für eine weitgehende Grammatikalisierung als IntP (z.B. schrecklich schön, höchst niedrig, vgl. Hentschel 1998, Breindl 2007: 400). Das Morphem sau- ist also desemantisiert und produktiv und wird in Abschnitt 2.2 genauer betrachtet. Die Morpheme blitz-, stink-, stock- und tod- bilden zwar längere Reihen als die bis hierhin betrachteten Intensivierer, auch hier kann jedoch nicht von einer wirklichen Produktivität die Rede sein, wie (7) zeigt. (7) a. blitzschnell, blitzblank, blitzsauber, blitzgescheit, blitzgefährlich, …; aber: #blitzgeil, #blitzgut, #blitzschlecht, #blitzgroß, #blitzklein b. stinkfaul, stinkreich, stinklangweilig, stinksauer, stinknormal, …; aber: ?stinkgeil, #stinkgut, #stinkschlecht, #stinkgroß, #stinkklein c. stockdunkel, stockfinster, stocksteif, stocknüchtern, stockkatholisch, …; aber: #stockgeil, #stockgut, #stockschlecht, #stockgroß, #stockklein d. todsicher, todmüde, todunglücklich, todernst, todschick, …; aber: ?todgeil, #todgut, #todschlecht, #todgroß, #todklein Die Intensivierer hoch- und tief- sind zwar produktiv, unterliegen dabei aber bestimmten Beschränkungen: hoch- wird in erster Linie „mit mehrsilbigen Basisadjektiven verbunden“ (Kühnhold et a. 1978: 197),10 vgl. (8a), tief- wird nur mit Farbadjektiven und „gefühlsmäßige Beteiligung, Ergriffenheit oder Betroffenheit“ ausdrückenden Adjektiven verwendet (ebd.: 198), vgl. (8b). Auch in diesen Fällen kann man also nicht von einer Produktivität, die eine IntP-Verwendung zur Folge haben könnte, sprechen. (8) a. hochinteressant, hochaktuell, hochanständig, …; aber: #hochgeil, #hochgut, #hochschlecht, #hochgroß, #hochklein b. tiefschwarz, tieftraurig, tiefreligiös, …; aber: #tiefgeil, #tiefgut, #tiefschlecht, #tiefgroß, #tiefklein
10 Von 55 bei Pittner (1996) gelisteten Adjektivstämmen ist nur einer einsilbig (hochrot).
Fabian Renz-Gabriel
Die Produktivität des Morphems erz- beschränkt sich auf Adjektive, die „politische oder weltanschauliche Haltungen“ ausdrücken (Motsch 2004: 282), vgl. (9). Andere in der Literatur genannte Verbindungen wie erzböse, erzfaul oder erzdumm sind veraltend, Neubildungen wie #erzschlecht oder #erzklein kaum möglich. (9)
erzkonservativ, erzkatholisch, erzreaktionär, …; aber: ?erzgeil, ?erzgut, #erzschlecht, #erzgroß, #erzklein
Das Morphem affen- unterscheidet sich von den bis hierhin betrachteten Intensivierern darin, dass es in der Kombination mit dem Adjektiv geil hochfrequent auftritt und darum gerade für typische jugendsprachliche Entwicklungen prädestiniert scheint. Allerdings liegt die Hochphase von Wörtern wie affengeil und affenstark bereits einige Jahrzehnte zurück (vgl. z.B. Hoppe 1984, Schönfeld 1986, Ehmann 1992), sie dürften schon seit längerem ‚aus der Mode‘ sein. Zu einer Reihenbildung kam es offensichtlich nicht: Verbindungen mit anderen Adjektiven sind kaum möglich, vgl. (10). (10)
affengeil, affenstark, affenscharf; aber: #affengut, #affenschlecht, #affengroß, #affenklein
Für das Morphem bomben- lassen sich neben den etablierten Verwendungen bombensicher und bombenfest im Internet zwar durchaus Belege mit anderen Adjektivstämmen finden, so für bombengeil, bombenschlecht und bombenglücklich. Allerdings scheint bomben- vor allem Wertadjektive zu intensivieren (und auch das nur mit geringer Frequenz), Bildungen wie #bombenklein und #bombengroß sind sehr stark markiert, vgl. (11). Außerdem liegt mit dem auf ein denominales Adjektiv zurückgehenden bombe eine IntP desselben lexikalischen Ursprungs vor, die eine vergleichbare Nutzung von bomben vermutlich ohnehin blockieren würde (ähnlich verhält es sich mit scheiß, s. Abschnitt 3). (11)
bombenfest, bombensicher, …; aber: ?bombengeil, ?bombengut, ?bombenschlecht, #bombengroß, #bombenklein
mega gut und sau schlecht
. Intensivierende Morpheme mit (relativ) hoher Produktivität Nach dem bisherigen Ausschlussverfahren sind noch 14 intensivierende Morpheme übrig, für die im Weiteren eine (zumindest substandardsprachlich) produktive Verwendung nachgewiesen werden soll; sie sind in (12) aufgelistet. (12)
arsch-, end(s)-, hammer-, hyper-, mega-, mords-, ober-, sau-, scheiß-, schweine-, super-, über-, ultra-, ur-
Korpusstudie 1: Produktivität und Frequenz der untersuchten gebundenen Intensivierer: Als Anknüpfungspunkt soll hierzu eine quantitative Auswertung des DECOW14-Korpus (Schäfer & Bildhauer 2012, Schäfer 2015) dienen, welches Web-Texte insbesondere aus dem Zeitraum von 2000 bis 2014 enthält und nach Schäfer & Bildhauer (2012: 493) zu ca. einem Viertel aus ‚quasi-spontanen‘ Daten besteht. Für die Untersuchung wird die Gesamttrefferzahl der Verbindungen von den in (12) genannten Intensivierern und den Adjektiven geil, gut, schlecht, groß und klein ermittelt, wobei auch flektierte Formen der Adjektive berücksichtigt werden, wie sie in attributiver Verwendung aufträten, und sowohl Zusammenschreibung im engeren Sinn als auch Bindestrichschreibung miteinbezogen wird (vgl. dazu Bredel 2011: 32-36). In (13) sind beispielhaft die für eine Kombination von super und geil berücksichtigten Optionen aufgelistet.11 (13)
, , , , , , , , , ,
Das gewählte Vorgehen hat einige Probleme zur Folge: So kann nicht ausgeschlossen werden, dass Zitationen, Doppelbelege und bewusste Thematisierungen der gesuchten sprachlichen Form enthalten sind. Auch können Homonyme nicht restlos ausgeschlossen werden – wo diese jedoch erwartbar waren oder sich bei einer stichprobeartigen Sichtung der Daten zeigten, wurden sie aussortiert. 12
11 Streng genommen ist diese Liste noch nicht vollständig, da Groß- und Kleinschreibung ignoriert wurde und somit auch Belege mit z.B. oder in den Trefferzahlen enthalten sind. Auch deshalb sind in den Treffern Nominalisierungen eingeschlossen wie in Du bist ja eine Supergeile. 12 Dies gilt für Obergut als ‚oberes Weingut‘, Urgut als ‚ursprüngliches Gut‘, Urschlechter als Eigenname und Urgroß mit normwidriger Spatiensetzung wie in .
Fabian Renz-Gabriel
Belege, die auf Tippfehler zurückgehen, können ebenfalls nicht ausgeschlossen werden. Durch die Einbeziehung der Flexionsendung -er können auch Komparativformen von prädikativ oder adverbial gebrauchten Adjektiven enthalten sein (z.B. Deine Party war supergeiler als meine), während die entsprechenden attributiven Formen (z.B. eine supergeilere Party) und Superlativformen (z.B. die supergeilste Party) ausgeschlossen bleiben. Diese Einschränkungen ändern jedoch, wie sich zeigen wird, nichts an der generellen Aussagekraft der Daten. Tabelle 1 zeigt die Ergebnisse der Korpusstudie. Der Übersichtlichkeit halber sind die Intensivierer nach der Zahl der Adjektive sortiert, mit denen sie im Korpus mit relevanter Frequenz belegt sind; als relevante Frequenz wird hier eine Trefferzahl von ≥5 festgelegt. Bei weniger als fünf Belegen lässt sich nicht ausschließen, dass es um idiosynkratische Bildungen einiger weniger Sprecher handelt. Selbstverständlich sind zwischen den Gruppen (Gruppe A, Gruppe B, Gruppe C) keine Trennlinien anzunehmen, sie markieren jedoch in groben Zügen Bereiche auf einer Skala der abnehmenden Produktivität, die mit einer abnehmenden Wahrscheinlichkeit einer IntP-Verwendung korrelieren dürfte. Innerhalb der Gruppen sind die Intensivierer nach abnehmender Trefferzahl der Verbindung mit geil sortiert. Erwähnt sei noch, dass Bindestrichschreibungen maximal 15 Prozent der jeweiligen Gesamtanteile ausmachen, meist ist der Wert jedoch noch deutlich niedriger. Tab. 1: Produktivität und Frequenz der untersuchten gebundenen Intensivierer + (-)geil + (-)gut Gruppe A: Auftreten mit allen fünf Adjektiven sau super mega ultra Gruppe B: Auftreten mit vier Adjektiven hammer end(s) ober über ur mords Gruppe C: Auftreten mit drei Adjektiven arsch schweine hyper scheiß/-ss
+ (-)schlecht
+ (-)groß
+ (-)klein
()
() () -
() () () -
() ()
() ()
mega gut und sau schlecht
Die intensivierenden Morpheme, die in Abschnitt 2.1 bereits aussortiert wurden, finden sich – wenn überhaupt – nur in Kombination mit zwei dieser Adjektive; wobei eines dieser beiden Adjektive dann immer geil ist, also ein von jugendsprachlicher, innovativer Modifikation häufig betroffenes Adjektiv.13 Beispielhaft seien in Tabelle 2 zum Vergleich (Gruppe V) die Trefferzahlen für die Morpheme affen-, grotten- und riesen- wiedergegeben, die weitestgehend auf eines der ausgewählten Adjektive beschränkt sind: affen- auf geil, grotten- auf schlecht und riesen- auf groß.14 Diese Morpheme werden auch im Weiteren als Vergleich herangezogen. Tab. 2: Produktivität und Frequenz ausgewählter Vergleichsmorpheme + (-)geil + (-)gut + (-)schlecht Gruppe V: Auftreten mit einem (bzw. maximal zwei) Adjektiven affen grotten () riesen () ()
+ (-)groß
+ (-)klein
()
() ()
Zur Gruppe A: Wie bereits angesprochen war das Morphem sau- zunächst auf negativ wertende Adjektive beschränkt (vgl. Küpper 1968, Kühnhold et al. 1978: 205-206), bevor es spätestens ab den 1980er Jahren einen enormen Ausbau erfuhr. Küpper (1987) listet unter anderem die Lemmata saugut, sauschön, saufroh, saugemütlich und saunett auf.15 Das Morphem hat seitdem seine Produktivität noch ausgebaut, während es gleichzeitig nichts an seiner hohen Frequenz eingebüßt hat. Es dürfte mittlerweile mit nahezu jedem intensivierbaren Adjektiv kombinierbar sein. Im Korpus ist sau- derjenige produktive Intensivierer, der in Verbindung mit den Adjektiven geil und schlecht die höchsten Trefferzahlen hat.
13 Von den in Abschnitt 2.1 aussortierten Intensivierern finden sich einige im DECOW-Korpus in sehr geringer Frequenz in Verbindung mit geil, ohne dass sich für diese Morpheme generell eine produktive Nutzung feststellen ließe, z.B. rattengeil, stinkgeil, todgeil, erzgeil. 14 Bei den drei Belegen für affengroß handelt es sich um eindeutige Vergleichs-Komposita mit der Bedeutung ‚groß wie ein Affe‘; da derartige Verwendungen jedoch auch z.B. bei saugroß und schweinegroß nicht ausgeschlossen werden können, bleiben diese Treffer hier mitberücksichtigt. Homonyme in anderen Wortarten wurden jedoch auch hier wieder aussortiert; das gilt für Riesengut in der Bedeutung ‚ein sehr großes Gut‘. 15 Zu dieser Zeit entstand auch der folgende literarische Beleg: „Meine Frau, Spät, sie ist nicht nur saulebenslustig gewesen, saureich und saukatholisch, sie ist auch sauschön.“ (Dürrenmatt: Justiz, 1985).
Fabian Renz-Gabriel
Das Morphem super- wurde unter dem Einfluss des Englischen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland gebräuchlich und war insbesondere in der Werbesprache beliebt (vgl. Kühnhold et al. 1978: 193), wie in superbequem, superweich und superschnell (ebd.: 194, Küpper 1987). Auch bei Ruf (1996: 82-107) und Androutsopoulos (1998: 105) gehört es zu den am häufigsten belegten Intensivierern; im Korpus ist es derjenige produktive Intensivierer, der am häufigsten mit den Adjektiven gut und klein belegt ist, in Verbindung mit geil wird es lediglich von sau- und hammer- übertroffen. Als intensivierendes Morphem wird mega- bis in die 1980er Jahre weder in einschlägigen Werken zu Wortbildung (z.B. Kühnhold et al. 1978) und Intensivierung (z.B. van Os 1989) noch in (Umgangssprache-)Wörterbüchern genannt (z.B. Küpper 1987, DUW 1989); selbst Jugendsprache-Lexika listen mega- meist nicht auf (z.B. Rittendorf et al. 1984, Heinemann 1990). Ab den 1990er Jahren dann dürfte dieser Intensivierer jedoch eine rasante Zunahme sowohl an Frequenz als auch an Produktivität erfahren haben: In den sprachwissenschaftlichen Untersuchungen von Ruf (1996: 195-196), Androutsopoulos (1998: 115) und Motsch (1999: 283) werden zahlreiche Verbindungen genannt, darunter megageil, megacool, megagut, megaschlecht, megaviel und megateuer. Im Korpus finden sich auch 30 Belege für eine Kombination mit dem der ursprünglichen augmentativen Semantik von mega- entgegenstehenden Adjektiv klein. Ein weiteres, nicht-natives Morphem, das dem Vorbild super- folgt, ist ultra-. Diente es früher vor allem der „politischen ‚Lokalisierung‘“ (Kühnhold et al. 1978: 195), wie in ultrakonservativ, ultralinks etc., wurde es zunehmend in der Werbesprache verwendet (z.B. ultraleicht, ultradünn, vgl. ebd., Müller 1992). Wie superund mega- entwickelte sich ultra- in der Jugendsprache zu einem produktiven Intensivierer, der sich mit häufigen Adjektiven wie geil, cool und gut verbindet (vgl. Ehmann 1992, Androutsopoulos 1998: 115); auch ultraschlecht, ultraklein und ultragroß sind im Korpus belegt. Allerdings erreicht ultra- nicht die Frequenz von super- und mega-. Zur Gruppe B: Das Morphem hammer- wird von nahezu allen standardsprachlichen Beschreibungen ignoriert. Androutsopoulos (1998: 106) findet Belege für hammerhart16 und hammerblöde, im „Wörterbuch der Jugendsprache“ von 2001 (Pons 2001) wird hammer- allgemein als intensivierendes Morphem aufgeführt. Abgesehen von klein ist hammer- im Korpus mit allen Adjektiven belegt, in der Verbindung mit geil hat es nach sau- die zweithöchste Trefferzahl.
16 Das gleichnamige Lied der Band Absolute Beginner („Hammerhart“) erschien 1999.
mega gut und sau schlecht
Obwohl das intensivierende Morphem end(s)- zuvor bereits in Jugendsprache-Lexika erwähnt wurde (z.B. Ehmann 1992),17 findet Androutsopoulos (1998) in seiner umfassenden Untersuchung der Jugendsprache keine Belege für eine Verwendung dieses Intensivierers. Dies könnte an einer regionalen Beschränkung des Morphems liegen.18 Mittlerweile dürfte end- aber nicht nur in Verbindung mit geil hochfrequent sein (im Korpus finden sich mehr Belege für endgeil als z.B. für megageil oder affengeil), das Morphem ist auch produktiv, wie die Korpusbelege für endgut, endschlecht und endgroß zeigen.19 Während das Morphem ober- im Standard auf einige wenige Adjektivstämme beschränkt ist (z.B. oberschlau), stellt es in der Jugendsprache „einen Fall substandardspezifischer Produktivität dar“ (Androutsopoulos 1998: 110). Im Korpus von Androutsopoulos (1998), wo ober- nach super- das zweihäufigste ‚Intensivpräfix‘ ist, finden sich unter anderem Belege für obergeil, obercool, obergenial und oberpeinlich (ebd.: 105, 115). Im Korpus ist ober- mit allen gewählten Adjektiven außer klein belegt. Das Morphem über- schwankt standardsprachlich zwischen Intensivierung (z.B. überglücklich) und dem „Ausdruck des ‚Zuviel‘, der Normüberschreitung“ (Fleischer & Barz 2012: 313, vgl. auch schon Graser 1973) wie in übereifrig oder übervorsichtig; auf diese Verwendung ist auch die immens hohe Trefferzahl für übergroß im Korpus zurückzuführen. Für die Jugendsprache stellt Androutsopoulos (1998: 116) eine „semantische Nivellierung“ dieser Unterschiede fest und belegt das Vorkommen von z.B. übergenial, übergöttlich und überpeinlich. Im Korpus ist über- auch mit den Wertadjektiven geil, gut und schlecht belegt. Leitform für eine intensivierende Verwendung von ur- ist nach Kühnhold et al. (1978: 192) „die Prägung uralt, in der das Präfix zugleich zeitliche (‚ursprünglich‘, ‚anfänglich‘) und graduative (‚sehr‘) Merkmale aufweist“; als weitere geläufige Verbindungen werden unter anderem urgemütlich und urkomisch genannt. Insbesondere im Sprachgebrauch Jugendlicher im Wiener Raum ist dieses Morphem produktiv und hochfrequent (vgl. Lenzhofer-Glantschnig 2016); neben urgeil und urcool finden sich in Jugendsprache-Lexika unter Bezug auf österreichische Jugendliche auch die Lemmata urkeksi und urflaschig (z.B. Pons 2010). Auf
17 Die Vorlage bot hier wohl das zunächst beschriebene Nomen Endhärte (Rittendorf et al. 1984). 18 Studentische Informanten verorten eine hochfrequente Verwendung von end(s)- vor allem in München. 19 Jugendsprache-Wörterbücher verzeichnen außerdem die Lemmata endmadig (Pons 2001), endsbrontal (Ehmann 2005), endlaser (Pons 2014) und endteflon (Langenscheidt 2015).
Fabian Renz-Gabriel
diese areale Beschränkung dürften auch die im Vergleich mit den bislang beschriebenen Intensivierern geringeren Trefferzahlen im Korpus zurückzuführen sein. Das Morphem mords- dürfte von den hier untersuchten gebundenen Intensivierern derjenige sein, der bereits am längsten produktiv Adjektivstämme modifiziert. Küpper (1987) datiert eine Verwendung von z.B. mordsfidel, mordsgut oder mordsdumm auf das 19. Jahrhundert und listet insgesamt 21 Adjektive auf, für die eine Verbindung mit mords- – Stand 1987 – üblich ist; bei van Os (1989) findet sich auch mordsschlecht und mordsgroß sowie viele weitere Verbindungen. Mittlerweile ist das Morphem weitgehend ‚aus der Mode‘,20 was auch der Grund für die geringen Trefferzahlen im Korpus sein dürfte (das in erster Linie Daten aus dem 21. Jahrhundert enthält): Es finden sich z.B. nur sechs Belege für mordsgut und acht für mordsgroß. Für die hier angestellten Untersuchungen ist mords- dennoch sehr interessant: Es dürfte als erstes intensivierendes Morphem eine Verwendung als selbstständiges Wort mit intensivierender Funktion erfahren haben (vgl. die Lexikoneinträge von mords in Rittendorf et al. 1984 und Schönfeld 1986).21 Zur Gruppe C: Die Morpheme arsch- und schweine- kommen zwar im Korpus häufiger in Verbindung mit dem Adjektiv geil vor als ultra-, über-, ur- und mords, auch sind Kombinationen wie in arschglatt und arschkalt bzw. schweinekalt und schweineteuer geläufig (vgl. Pittner 1996, Elsen 2011: 146), allerdings scheinen beide Morpheme nur begrenzt produktiv zu seIn In Verbindung mit schlecht, groß und klein weisen sie im Korpus nur geringe Trefferzahlen auf. Auch das Morphem hyper-, das in der Standardsprache eine Normüberschreitung ausdrückt (z.B. hypernervös, hyperkorrekt, vgl. Fleischer & Barz 2012: 213), weist eine deutlich geringere Produktivität und Frequenz auf als z.B. die anderen nicht-nativen Intensivierer super-, mega- und auch ultra- (so auch bei Androutsopoulos 1998: 105).22
20 Häufig wird es jedoch als augmentativer Modifikator von nominalen Stämmen (s. Exkurs 2 in Abschnitt 4.2) verwendet (Mordsgaudi, Mordsspektakel etc.). 21 Der denkbare Einwand, dass gerade diese Wortfähigkeit die geringen Trefferzahlen verursachen könnte, da mords- in sehr viel größerem Maße schon mit Getrenntschreibung auftreten könnte, lässt sich durch eine Stichprobe nicht bestätigen: für und (mit den jeweiligen Flexionsformen des Adjektivs) findet sich im Korpus sogar jeweils nur ein Beleg. 22 Vergleichsweise oft scheint hyper- als rechtsstehender Bestandteil von mehrgliedrigen Intensivierern verwendet zu werden, wie in mega-super-hyper-geil.
mega gut und sau schlecht
Für das Morphem scheiß- stellen schon Kühnhold et al. (1978: 206) fest, dass es „Ansätze zur Reihenbildung“ erkennen lässt, und zeigen anhand von Beispielen wie scheißfreundlich, scheißklug und scheißvornehm, dass sich dieses Morphem zwar meist mit positiv wertenden Adjektiven verbindet, zugleich aber eine negative Wertung des Sprechers ausdrückt. Eine weitgehende Beschränkung auf positive Wertadjektive bestätigt sich im Korpus: scheißgeil und scheißgut sind dort belegt, #scheißschlecht hingegen nicht. Ob sich scheiß- mittlerweile auch mit einer positiven Sprechereinstellung verknüpfen lässt, könnte ein bei Pittner (1996: 47) und Gutzmann & Turgay (2012: 153) vorgeschlagener Test zeigen, der in (14) – in modifizierter Form – auf scheiß- angewendet wird: (14) a. Igitt, das Bier ist scheißkalt, das kann man nicht trinken! b. ?#Genial, das Bier ist scheißkalt, das kommt genau richtig bei der Hitze! Selbst wenn (14b) akzeptabel sein sollte, zeigen die Ergebnisse der Korpusstudie, dass scheiß- weder in Bezug auf die Produktivität noch auf die Frequenz mit anderen Intensivierern wie sau- mithalten kann. Exkurs 1: Evaluative Adjektive: Zu einigen der untersuchten Intensivierer gibt es im Gegenwartsdeutschen Wertadjektive desselben lexikalischen Ursprungs. Neben den intensivierenden Morphemen hammer-, scheiß-, super-, mega-, ultraund hyper- gibt es auch die Adjektive hammer, scheiße, super, mega, ultra und (selten) hyper.23 Alle diese Adjektive können attributiv (und dabei unflektiert),24 prädikativ und adverbial verwendet werden, vgl. (15). (15) a. Du hast gestern eine {hammer/scheiß/super/mega/ultra/hyper} Party verpasst. b. Die Party gestern war {hammer/scheiße/super/mega/ultra/hyper}.
23 Für eine Kategorisierung von hammer und scheiße als Adjektiv vgl. Androutsopoulos (1998: 187) und Pittner & Berman (2006). Für super- wurde ein freies Auftreten als evaluatives Adjektiv bereits frühzeitig beschrieben (Welter 1964, Kann 1973: 206) und hat sich mittlerweile in der Standardsprache etabliert. In jüngerer Vergangenheit verbuchen standardsprachliche Beschreibungen auch für mega- einige derartige Verwendung (z.B. DUW 2011). Für ultra- und hyper- finden sich solche Einordnungen nur in jugendsprachlichen Untersuchungen oder Lexika (z.B. Müller 1992, Langenscheidt 2008). 24 Hier geraten alle diese Adjektive in Konkurrenz zu den Nomen-Intensivierern (eine Hammerparty/Megaparty etc.); dieser Aspekt (der ja für die Schreibung/Spatiensetzung ebenfalls von Relevanz ist), wird im Exkurs 2 in Abschnitt 4.2 behandelt. Dieses Vorbild dürfte auch dafür verantwortlich sein, dass attributiv statt scheiße die Schwa-lose Form scheiß steht.
Fabian Renz-Gabriel
c. Die Band hat {hammer/scheiße/super/mega/ultra/?hyper} gespielt. Auch wenn zwischen Evaluation und Intensivierung (auch und gerade zwischen Evaluation und der Verwendung eines Lexems als IntP) ein enger Zusammenhang zu bestehen scheint,25 wird sich anhand der Intensivierer sau, end(s), ober, über, ur und mords zeigen, dass eine Verwendung als evaluatives Adjektiv keine notwendige Bedingung für eine Verwendung vormals obligatorisch gebundener Intensivierer als IntPn ist. Diese Morpheme zeigen eine derartige Verwendung nämlich (s. Abschnitt 3), ohne als Adjektive gebraucht zu werden, vgl. (16). (16)
*Die Party gestern war {sau/end(s)/ober/über/ur/mords}.
Auf den Zusammenhang zwischen den Verwendungen eines Morphems als morphologischer Intensivierer und als Adjektiv kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden (vgl. dazu u.a. Wellmann 1975: 138-139, Androutsopoulos 1998: 109-110, 191-193, Pittner & Berman 2006, van Goethem & Hüning 2015, Battefeld et al. 2016).
Der Nachweis: Vormals ausschließlich gebundene Intensivierer als IntPn Im Folgenden soll erstmals systematisch nachgewiesen werden, dass Intensivierer wie sau, super und mega im Gegenwartsdeutschen in intensivierender Funktion als selbstständige Wörter vorkommen. Dies kann zum einen über eine Betrachtung der möglichen ‚Intensifikanden‘, also der Elemente, die im Skopus der Intensivierung stehen können, geschehen. Während intensivierende Morpheme nämlich auf eine Verbindung mit Adjektiven (und einige Adverbien: sauoft, supergerne) beschränkt sind (zur Modifikation von Nomen s. Exkurs 2 in Abschnitt 4.2), können IntPn auch Verben bzw. Verbalphrasen modifizieren (vgl. Helbig 1994: 46, Breindl 2007: 405). Dies gilt für konventionelle IntPn wie sehr und überaus und für ‚expressive‘, dem Substandard zurechenbare IntPn wie voll und total (vgl. hierzu Gutzmann & Turgay 2012, 2014, Gutzmann 2019: 124-171), vgl. (17).
25 Das verdeutlichen auch die vielen (jugendsprachlich) evaluativen Adjektive, die als expressive IntPn verwendet werden (ohne auch als gebundene Intensivierer vorzukommen), z.B. brutal, krass, pervers u.v.m. (vgl. Androutsopoulos 1998: 439-440, 461).
mega gut und sau schlecht
(17)
Ich habe mich über deinen Anruf sehr/überaus/voll/total gefreut.
Eine zweite Möglichkeit bietet die sogenannte ‚NP-externe Stellung‘, wie sie für expressive IntPn wie voll und total seit einiger Zeit beobachtet wird (vgl. Schlieben-Lange 1995, Androutsopoulos 1998: 342-363, Meinunger 2009, Gutzmann & Turgay 2012, 2014, Wiese 2013, Schmidlin 2015, Lenzhofer 2017: 241-269, Gutzmann 2019: 124-171). Dabei stehen Intensivierer, selbst wenn sie mit Skopus über ein attributives Adjektiv interpretiert werden, vor dem definiten Artikel, vgl. (18b).26 Gutzmann & Turgay (2014: 215) gehen davon aus, dass diese Struktur durch Bewegung des Intensivierers aus seiner Basisposition vor dem Adjektiv (vgl. (18a)) entsteht. Für konventionelle IntPn wie sehr und überaus ist die externe Position nicht verfügbar. (18) a. Du hast gestern eine sehr/überaus/voll/total geile Party verpasst. b. Du hast gestern *sehr/*überaus/voll/total die geile Party verpasst. Für die hier angestellten Untersuchungen ist dieser Aspekt vor allem in Hinblick auf die Wortkriterien ‚Nichtunterbrechbarkeit‘ und ‚Bewegbarkeit‘ relevant. Ob man mit Wurzel (2000: 39) davon ausgeht, dass Wörter „nicht durch lexikalisches Material unterbrechbar“ sind (vgl. hierzu auch schon Bloomfield 1933: 180), oder mit Jacobs (2005: 130) annimmt, dass Bewegbarkeit von einem von zwei ‚Teilausdrücken‘ Getrenntschreibung bedingt, in diesem Fall also zwei Wörter vorliegen (vgl. Lyons 1968: 203, Wurzel 2000: 33-34) – beides führt gleichermaßen zu dem Ergebnis, dass beim Auftreten von sau die geile nicht von einem ‚Wort‘ saugeile ausgegangen werden kann, sondern von zwei Wörtern: sau und geile.
26 Mittels Internetrecherche lässt sich nachweisen, dass mittlerweile zahlreiche Intensivierer in dieser Stellung auftreten, darunter viele ursprüngliche Adjektive (z.B. brutal, heftig, krass, pervers, richtig, übel, verdammt, häufig auch Formen mit Superlativendung wie übelst), aber auch die Satzadverbien echt, wirklich sowie die Lexeme dermaßen, so und sowas von. Für eine syntaktische und semantische Analyse dieser Struktur vgl. Gutzmann & Turgay (2012, 2014), Gutzmann (2019: 124-171); hingewiesen sei z.B. auf die interessante Tatsache, dass dieses Phänomen für gewöhnlich mit einem definiten Artikel einhergeht, obwohl die NP als Ganzes indefinit interpretiert wird. Schmidlin (2015) liefert einen Überblick über mögliche Entstehungsszenarien und Funktionen dieser Struktur. Auch für einige der hier untersuchten Morpheme wurde eine NPexterne Positionierbarkeit bereits festgestellt, nämlich für ur (Schlieben-Lange 1995), end (Pittner & Bermann 2006), sau, mords (Gutzmann & Turgay 2012, 2014) und mega (Schmidlin 2015).
Fabian Renz-Gabriel
Zum dritten könnte ein Auftreten von Superlativendungen für einen Wortstatus der Intensivierer sprechen (saust, superst, megast etc.). Zwar sind Superlativendungen auch bei Erstgliedern innerhalb von komplexen Wörtern möglich (z.B. schnellstmöglich, weitestgehend), dieses Kriterium dürfte also weniger belastbar sein als die vorigen. Allerdings zeigt sich, dass von Intensivierern, die Adjektiven entstammen, sehr häufig auch die Superlativform intensivierend verwendet wird (z.B. extrem/extremst geil, übel/übelst geil), während gebundene Intensivierer dieses Verhalten nicht zeigen (*grottenstschlecht, *riesenstgroß).27 Korpusstudie 2: Wortstatus der untersuchten Intensivierer: Es bieten sich somit drei Möglichkeiten an, für die untersuchten Intensivierer einen Wortstatus als (expressive) IntPn nachzuweisen: Sie müssten folgende Eigenschaften aufweisen (können): I. Die Intensivierung von Verben bzw. Verbalphrasen II. Das Auftreten in NP-externer Stellung III. Eine Verwendung mit Superlativendung Zwar wurden für einige der untersuchten Intensivierer einige dieser Fähigkeiten bereits festgestellt, eine systematische Untersuchung steht jedoch noch aus. Diese soll im Folgenden durchgeführt werden, indem mittels der Suchmaschine Google durch die in (19) aufgeführten Suchanfragen nach mindestens fünf eindeutigen Belegen in der intendierten Verwendung gesucht wird. Eine Google-Suche bietet sich zu diesem Zweck an, da durch sie (auch) Daten ‚konzeptionell mündlicher‘ Schriftlichkeit (vgl. z.B. Marx & Weidacher 2014: 110) bzw. ‚neuer Schriftlichkeit‘ (vgl. Androutsopoulos 2007) ermittelt werden können. (19)
Suchanfragen: ad I.: „freu mich Int“ / „ärger mich Int“ / „nervt Int“ / „kotzt mich INT an“ ad II.: „Int {der/die/das/den/dem/des} {geile(n)/coole(n)/lustige(n)}“ ad III.: „Int-(s)t {geil(-e/-er/-es/-en/-em)/cool(-e/-er/-es/-en/-em)/lustig(e/-er/-es/-en/-em)}“
27 Entsprechend wird z.B. hoch- in intensivierender Funktion als gebundenes Morphem interpretiert und meist mit Zusammenschreibung verwendet (hochinteressant, s. Abschnitt 2.1), während sich höchst zur Intensitätspartikel entwickelt hat, die – außer in Verbindung mit wahrscheinlich – Getrenntschreibung bedingt (höchst interessant). Zur (äußerst häufigen) Verwendung von Superlativformen in der Jugendsprache vgl. Androutsopoulos (1998: 204-208), von den hier untersuchten Intensivierern wurde bislang lediglich oberst in einer Verwendung als IntP beschrieben (Hullen 1989, Schlieben-Lange 1995), urst wird im ostdeutschen Raum schon länger als Adjektiv verwendet (vgl. Ehmann 1992: 129).
mega gut und sau schlecht
Die Verben (sich freuen, sich ärgern, nerven, ankotzen) und die Adjektive (geil, cool, lustig) wurden auf die Beobachtung aufbauend ausgewählt, dass expressive Intensivierer häufig in evaluativen Äußerungssituationen und mit einer emotionalen Sprechereinstellung verwendet werden; das erklärt unter I. auch die Beschränkung auf die 1.Pers.Sg. bzw. auf den Sprecher als Experiencer. 28 Untersucht wurden zum einen die produktiven Intensivierer aus den Gruppen A, B und C, zum Vergleich jedoch auch die nicht-produktiven Intensivierer affen-, grottenund riesen- aus Gruppe V (s. Abschnitt 2.2). (20)
Untersuchte Intensivierer: Gruppe A: sau, super, mega, ultra Gruppe B: hammer, end(s), ober, über, ur, mords Gruppe C: arsch, schweine, hyper, scheiß Gruppe V: affen, grotten, riesen
In den folgenden Abschnitten werden die Ergebnisse der Studie vorgestellt: I. Verbintensivierung: Für alle Intensivierer aus den Gruppen A und B lassen sich Belege mit V(P)-Intensivierung finden, vgl. die Daten in (21), während die Intensivierer aus Gruppe C in einer solchen Verwendung nur vereinzelt (