Geschichtengeneratoren: Lektüren zur Poetik des historischen Romans [Reprint 2017 ed.] 9783110963540, 9783484630024

Die vorliegenden Lektüren paradigmatischer historischer Romane von Walter Scott, Berthold Brecht und Thomas Pynchon unte

163 66 14MB

German Pages 194 [196] Year 1992

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Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkungen
Die Krise um den historischen Roman
Scott: Die Übersetzung der Geschichte
Brecht: Die Dialektik in der Medientransposition
Pynchon: Die Medientransposition auf der Suche nach der Ubersetzung
Die Poetik der Geschichtengeneratoren
Literaturverzeichnis
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Geschichtengeneratoren: Lektüren zur Poetik des historischen Romans [Reprint 2017 ed.]
 9783110963540, 9783484630024

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CÒMMUNICATI( )

Band 2

Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte

Herausgegeben von Fritz Nies und Wilhelm Voßkamp unter Mitwirkimg von Yves Chevrel und Reinhart Koselleck

Gerhard Kebbel

Geschichtengeneratoren Lektüren zur Poetik des historischen Romans

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1992

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kebbel, Gerhard: Geschichtengeneratoren : Lektüren zur Poetik des historischen Romans / Gerhard Kebbel. - Tübingen : Niemeyer, 1992 (Communicatio ; Bd. 2) NE: GT ISBN 3-484-63002-7

ISSN 0941-1704

Illustration S. VII: Gerhard Kebbel, nach einem Stahlstich von Ad. Lalauze zur Border Edition von Walter Scott, Quentin Durward (1894). © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1992 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Gerhard Kebbel Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Einband: Heinrich Koch, Tübingen

Inhalt

Die Krise um den historischen Roman

1

Scott: Die Übersetzung der Geschichte

21

Die Geschichtserzählung zwischen Leichenfledderei und Landschaftsmalerei Die Poetik des Pittoresken Die Funktion der Anmerkungen Der Held als Autor der romance Der Begriff romance Waverley Quentin Durward Der Roman als Geschichtengenerator Die Medientransposition der Ubersetzung

21 26 32 38 38 40 49 56 61

Brecht: Die Dialektik in der Medientransposition

65

Das Ende der Ubersetzung? Der Ort der Wahrheit Die Dialektik des Umschreibens Das Paradigma der Seeräubererzählung Die Struktur des Syntagmas Die Form der Elemente Die Verbindung der Elemente Das Dilemma der Wahrheit

65 69 72 76 84 84 99 102

Pynchon: Die Medientransposition auf der Suche nach der Ubersetzung

105

Der Spion und die Geschichte Die Theorie und ihre Erzählung Von der Erzählung zur Umerzählung Das Syntagma im Dialog Die duale Grundstruktur Die Geschichte in V. Die Gegenwart Epilog Das Rätsel Κ

105 114 124 135 135 137 155 163 165

Die Poetik der Geschichtengeneratoren

169

Literaturverzeichnis

179

Vorbemerkungen

Auch wenn nur ein Urheber auf dem Titelblatt genannt wird - ein Buch ist nie das Werk eines einzelnen, und auch das vorliegende macht da keine Ausnahme. So habe ich einer Reihe von Förderern und Mitarbeitern zu danken, ohne deren Hilfe ich weder den Inhalt noch die Gestaltung dieses Buches hätte fertigstellen können: Als erstem Professor Wilhelm Voßkamp, der die Anregung zu dieser Arbeit gab und ihre Entstehung über einige Jahre hinweg mit viel Geduld und produktiver Kritik behutsam lenkte; ihm und Professor Fritz Nies bin ich auch Dank für die Aufnahme in die von ihnen herausgegebene Reihe schuldig. Dr. Nikolaus Wegmann hat mir einen Pfad durch den wuchernden Dschungel der Theorie gewiesen und durch immer neue Ermutigung dafür gesorgt, daß ich, wenn auch mit langen Pausen, doch immer weiter geschrieben habe; und Professor Volker Neuhaus hat mich stetig daran erinnert, daß es neben der ganzen Theorie auch eine umfangreiche literaturwissenschaftliche Praxis gibt. Frau Professor Irmgard Bock hat die nicht immer eingängigen diskurstheoretischen Ausführungen aus der kritischen Sicht der Pädagogin betrachtet und mir so zu mancher Einsicht verholfen. Meine Freunde Robert Kellner, Schamma Schahadat und Klaus Dahm haben unermüdlich dafür gesorgt, daß auch schwer zugängliche Veröffentlichungen zu mir gelangten; und meine Mutter gewährte mir in der Schlußphase in Köln Unterschlupf. Hubert K. Hepfxnger hat mir bei der Gestaltung dieses Buches die Hand geführt, Gundula Duda schließlich erteilte zusätzlichen Rat. Ihnen allen herzlichen Dank - und all jenen namentlich hier nicht aufgeführten, die mich über die Jahre unterstützt, ermutigt und ertragen haben. Letzteres gilt besonders für meine Freundin Christiane, die mich in den letzten Wochen der Arbeit allabendlich erfolgreich vom Computer wegzerrte und so sicherstellte, daß dieses Buch fertig wurde. Seine Grundlage ist meine Dissertation, die im Wintersemester 1990/91 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommen wurde. Die Referenten waren Wilhelm Voßkamp und Volker Neuhaus, der Tag des Rigorosums war der 2. Februar 1991.

Die Krise um den historischen Roman

In diesem farbenprächtigen historischen Roman wird ein dramatisches Kapitel der Menschheitsgeschichte spannende Unterhaltung. Werbetext des List Verlags zu dem im Frühjahr 1990 erschienenen Roman Armada von Robert Carter

Präsent sind historische Romane auch heute noch allemal. D i e Regale der Buchläden sind voll von meist reichlich umfangreichen belletristischen Neuerscheinungen mit historischem Inhalt; in den Bestsellerlisten erscheinen mit schöner Regelmäßigkeit Titel, die auf Geschichtsereignisse verweisen, und Buchclubs wie der Bertelsmann Club bieten sogar eine eigene Rubrik »Historisches« an. Nur in den Feuilletons, noch immer die entscheidende Instanz für die Zubilligung eines literarischen Wertes an Neupublikationen, ist so gut wie nie etwas zu historischen Romanen zu finden. Das obige Zitat läßt ahnen, warum das so ist: W e n n ein »dramatisches Kapitel der Menschheitsgeschichte« »spannende Unterhaltung« wird, zudem »farbenprächtig«, schwingt in den Attributen das Prädikat des Trivialen mit, das durch den Verweis auf den >wahrenklassischen< Ausprägung bei Walter

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Roman

Scott identifiziert; von hieraus wurden Varianten beschrieben und Abweichungen ausgegrenzt. 1 Einen deutlichen Einschnitt in dieser Tradition markiert erst die 1 9 7 6 erschienene Dissertation von Hans Vilmar Geppert zum >anderen< historischen Roman. Der Titel verrät es: Geppert will hier gegen die trivialisierende communis opinio zum historischen Roman anschreiben, indem er Kriterien aufstellt, über die sich vom »üblichen« historischen Roman ein »anderer«, positiv zu bewertender Typ abgrenzen läßt. Gepperts Ansatzpunkt ist das zentrale Merkmal des historischen Romans: »das Paradox fiktionaler Darstellung historischer Gegenstände« (Geppert 1976:8), der »Hiatus« von Fiktion und Historie: auf der Ebene poetologischer Organisation der Texte entscheidet es sich, ob die jeweiligen Romane den Hiatus akzentuieren«, dem Leser zur Konkretisation nahelegen, oder ob sie ihn im Gegenteil zu verdecken suchen. Das erstere bildet im Sinne der Fruchtbarkeit der Grenze von Fiktion und Historie das Prinzip, die >Schreibweise< des in dieser Untersuchung interessierenden >anderen< historischen Romans [...]; das zweite hingegen, die Verschmelzung von Fiktionalität und Faktizität< konstituiert entsprechend das Prinzip des >üblichenfiktionale Biographie«, historischen Gesellschaftsroman< und >reflexiven historischen Roman« vor (34f); Mengel ( 1 9 8 6 : 4 7 f f ) präsentiert in seiner umfangreichen Areit zum englischen historischen Roman eine auf dem zugrundeliegenden Ge-

1

2

Die wichtigste Arbeit in dieser Reihe ist sicherlich Georg Lukács Studie zum historischen Roman (Lukács 1955), die trotz ihrer marxistischen Perspektive sowohl in ihrer Erhebung Scotts zum Idealtypus wie in ihrer Ablehnung des Subjektivismus der Moderne auch in der bürgerlichen Literaturwissenschaft von großem Einfluß war. In Amerika beruft sich A. Fleishman in einer der wenigen systematischen englischsprachigen Arbeiten zum historischen Roman ausdrücklich auf Lukács, wenn er noch 1971 ganz im Rahmen der Konvention die typische Handlungsstruktur des historischen Romans in der »form of an individual 's career« (Fleishman 1971:10) sieht und das Ziel historischen Erzählens in den »constants of human experience in history« (14) bestimmt. In Deutschland zeigen die vagen Versuche W. Schiffeis, multideterminierte Typen historischen Erzählens in Form von Abweichungen von der klassischen Scottschen Ausprägung zu bestimmen (Schiffeis 1975:123ff.), wie stark die Perspektive auch noch in den 70er Jahren auf Scott und seine Nachfolge eingeengt war. Zur ausführlicheren Aufarbeitung dieser Forschungstradition vgl. Geppert (1976:1 - 15). Eine dezidierte Präferenz des >anderen< historischen Romans findet sich in erster Linie b e i H . Müller (1988:18).

Die Krise um den historischen

Roman

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schichtsbild aufbauende Dreiteilung in >Geschichte als Fortschritts zyklisches Geschichtsmodell· und >Kontingenz in der Geschichten Wenn hier jeweils der >übliche< Romantyp in unterschiedlicher Weise differenziert wird, so verzichtet H. Müller (1988:16ff) in seiner Aufsatzsammlung zu deutschen historischen Romanen des 20. Jahrhunderts ganz auf typologische Neubestimmungen und versucht nur, die Dichotomie über eine Beschreibung unterschiedlicher Ausprägungen der »Kommunikationssituation des historischen Romans« (15) neu zu fundieren; dem >üblichen< Typ ist ein Dialogmodell zugeordnet, in dem der Autor als >Mitspieler< unmittelbaren Zugriff auf die Geschichte als Ko-Subjekt hat, während er sich beim >anderen< historischen Roman dem Objekt Geschichte als Beobachter mit bewußten theoretischen und ästhetischen Vorannahmen annähert. 3 Nun ist es die Frage, ob sich eine Entwicklung in der Erforschung einer Romangattung unbedingt in typologischen Differenzierungen oder gar Neuansätzen niederschlagen muß; wer jedoch darauf hofft, gegenüber Geppert deutlich fortschreitende Forschungsergebnisse in anderen Bereichen zu finden, wird ebenso enttäuscht. Geppert setzt sich in strukturalistischer Terminologie das Ziel, paradigmatische Möglichkeiten der poetischen Organisation von Texten, hier von Romanen, in ihrer syntagmatischen Realisation aufzusuchen u n d mit der >Schreibweise< der Gattung zu verbinden. ( 1 9 7 6 : 1 1 )

Geht man davon aus, daß die >Schreibweise< durch den Hiatus von Fiktion und Historie bestimmt ist, so will Geppert nichts anderes als die narrative Umsetzung dieser grundlegenden Diskontinuität in den beiden unterschiedlichen Romantypen untersuchen. Im Falle von Schabert (1981) ist schon aus dem Verständnis ihrer Arbeit als Zusammenfassung der »Erträge der Forschung« heraus zwangsläufig, daß kein neuer Ansatzpunkt entwickelt wird; was der Bericht faktisch bietet, ist ein Uberblick über Konzepte des historischen Romans, eine Typologie und ein Aufriß der Entwicklung der Gattung in England und Amerika - so geht es auch hier um das jeweilige Verständnis von Geschichte und Fiktion und dessen narrative Umsetzung. Mengel (1986) bestimmt als zentrale These seiner Arbeit die Einsicht, d a ß jeder Geschichtsdarstellung im historischen R o m a n eine Geschichtsauffassung bzw. ein Geschichtsbild zugrundeliegt und d a ß [...] das Geschichtsverständnis eines Autors [...] auch in die poetische Konzeption eingeht, sich hier sozusagen »kristallisiert«. (1986:14)

3

Vgl. M ü l l e r ( 1 9 8 8 : 1 6 f )

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Bedient sich Mengel in der Beschreibung seines Untersuchungsgegenstandes einer verdächtig statischen Metapher, so unterscheidet sich H. Müller deutlich, wenn er mit vorbildlicher Präzision die vertraute Zielrichtung vorstellt: Das Hauptaugenmerk richtet sich bei dieser Arbeit auf die Re-Konstruktion des vielseitig >extern< beziehbaren >internen< Zusammenhangs zwischen präsentierter Geschichtskonzeption und den benutzten narrativen Verfahren. ( 1 9 8 8 : 1 3 - Hervorhebung im Text)

Mit dem gleichbleibenden Ansatzpunkt ist ein übereinstimmendes Interpretationsprogramm verbunden, das mit unterschiedlicher Transparenz und Vollständigkeit realisiert wird: Auf der einen Seite geht es um Inhalt, Gedankliches, auf der anderen um Form, Strukturen, Techniken. Zwischen beiden Seiten soll jeweils eine Dialektik aufgezeigt werden, die ihren Ansatzpunkt im inhaltlichen Pol findet. Uber die Beschreibung der Differenzierungen auf der konzeptionellen wie auf der formal-strukturellen Seite erschließt sich eine spezifische konsistente Sinntotalität, die den Text in seiner jeweiligen Ausprägung der Gattung historischer Roman erfaßt. Auch unter Einbezug aller gebotenen Einschränkungen kann diese Betrachtung der wenigen verfügbaren Arbeiten, die sich innerhalb der letzten fünfzehn Jahre der Gattung des historischen Romans in größerem Umfang angenommen haben, nur zu diesem Ergebnis führen: Sowohl in der Methodik wie in den Analysen wurde höchstens in dem Sinne ein Fortschritt erreicht, daß man vertraute Instrumente verfeinert und an anderen Texten erprobt hat. Die zentrale Problematik der Gattung ist mit der Differenz zwischen den Kategorien des Historischen und des Fiktiven unzweifelhaft bestimmt; die Subklassifizierung der Gattung anhand dieser Problematik hat zur Identifizierung zweier Grundtypen geführt, die höchstens weiter differenziert werden können; der Interessenschwerpunkt für Analysen von Texten dieser Gattung ist damit eingegrenzt. Eine Möglichkeit, dieses System wieder in Bewegung zu bringen, bestände darin, Gepperts Ansatzpunkt zu wiederholen und sein Konzept des Hiatus mittels neuerer Untersuchungen zur Fiktionsproblematik grundsätzlich neu zu diskutieren; interessanter und ergebnisträchtiger scheint mir aber ein Ansetzen an der Praxis

der

Konstitution dieses Hiatus von Fiktion und Historie zu sein; das heißt aber, an den Leseweisen, die den angeführten Arbeiten zugrundeliegen. 4

4

D a ß mit dieser Fragestellung ein weiterhin virulentes Problem in der Diskussion der Theorie und der Methoden der Literaturwissenschaft aufgerufen wird, zeigt der kürzlich erschienene Versuch einer Formulierung einer >philologischen< Theorie von Ellrich und Wegmann ( 1 9 9 0 ) . In der Auseinandersetzung mit Paul de Mans Praxis und T h e o rie der Dekonstruktion kommen Ellrich/Wegmann zu der These: »Das Lesen selbst ist die epistemologische Basis des Kommentars und daher auch das die Disziplin konstituierende, weil im doppelten Sinn erste Problem der Literatur-

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Mit Ausnahme der diskurstheoretisch fundierten Arbeit Harro Müllers setzen alle beschriebenen Arbeiten, trotz mancher strukturalistischer Formulierungen, ein konventionell hermeneutisches Lesemodell voraus, in dem Leser und Text in einer Kommunikationssituation unmittelbar aufeinander bezogen sind und durch die Einbettung in eine Reihe von hierarchisch organisierbaren Kontexten näher bestimmt werden. >Geschichte< ist einer dieser Kontexte, der sich in doppelter Weise betrachten läßt: auf der einen Seite als der >HintergrundGeschichte< ein vom Untersuchungsobjekt Text kategorial unterschiedlicher Status zugeschrieben wird: Er ist nicht Text, nicht Fiktion, sondern vergangene Wirklichkeit, im Gegensatz zur Fiktion prinzipiell vollständig referentialisierbar und deshalb problematisch: Denn aus diesem Grund tut sich ja der Hiatus als Quell des Erkenntnisinteresses auf.5 Dieses Problem zu beherrschen ist das Ziel, das über die dialektische Bezugssetzung der >Geschichte< zu der internen Konstruktion der Fiktion erreicht werden soll: in der Sinntotalität der Interpretation. 6 Die scheinbar so selbstverständliche Bezugssetzung von Geschichte und Fiktion in der Analyse ist so aber ein vermittelter Vorgang, bestimmt durch ein Lesemodell, das zu einer metahistorischen Konstante verabsolutiert wird. Die hermeneutische Lektüre mit dem Ziel der Sinnerstellung soll für alle historischen Romane gelten, mögen sie nun aus dem frühen 19. oder dem späten 20. Jahrhundert stammen. Unterschieden werden sie durch die spezifische Struktur, die die dialektisch gewonnene Sinntotalität annimmt, und damit durch die Art, in der dieses Problem der Verknüpfung des Disparaten beherrscht werden soll. Grenzwerte sind offensichtlich einerseits die harmonisierende Kontinuität der >üblichen< historischen Erzählform, andererseits die autoreferentielle Partialisierung der Moderne, 7 die die Diskontinuität betont, so daß ein konsistenter Sinn erst auf einer konzeptuellen Metaebene erreicht werden kann.

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6

7

Wissenschaft: >Criticism is a metaphor for the act of reading.«! [P. de Man, Blindness and Insight, New York 1971, 107] (476) Vgl. bes. Gepperts Fundierung des >Hiatus< in einer auf Ingarden zurückgehenden Differenzierung der Seinsweisen fiktiver und historischer Gegenstände (Geppert 1976: 16 - 30). Eine relativ umfangreiche Zusammenfassung der geschichtstheoretischen Diskussion der letzten Jahre findet sich bei Menge! (1986:35 - 46); leider verzichtet Mengel bei aller Abwägung der unterschiedlichen Ansätze auf eine weitergehende Problematisierung des Anspruches der historischen Wahrheit. Vgl. zum Problem der Sinnbldung im (hermeneutischen) Lektüreprozeß die resümierende Darstellung bei Fohrmann/Müller (1986: 9ff). Die Interpretation als Suche nach dem Sinn des Werkes bestimmt überzeugend Japp (1977:105fï). Vgl. zur Partialität als allgemeines Merkmal der Moderne etwa Iser (1976/1984: 26ff).

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Die Kontrollinstanz, die hinter diesem Vorgang steht, zeigt sich am deutlichsten in der traditionalistischen Vorgehensweise von Mengel (1986). Seine c e n trale These« sucht explizit nach der U m s e t z u n g der Vorstellungen u n d damit der Intentionen des Autors im Text. W a s W u n d e r , daß er Geppert vorwirft, »den historischen R o m a n des 19. Jahrhunderts mit der Elle des 20. Jahrhunderts zu messen« (Mengel 1986:28), erweist sich Mengel doch als später, aber umso treuerer Jünger der alten Diltheyschen Maxime: »besser verstehen, als der Autor sich verstanden hat«. 8 N u n läßc sich argumentieren, daß die hier angegriffene Position von Geppert (1976) sich vom klassisch hermeneutischen Ansatz distanziert, indem sie Anregungen aus der Phänomenologie, der Rezeptionsästhetik u n d dem Strukturalismus a u f n i m m t , 9 u n d daß gerade in dieser Abweichung der Ausganspunkt für jene D e u t u n g e n zu finden ist, die Mengeis Kritik finden. W e n n auf diese Weise auch unzweifelhaft zwischen den Ansätzen Gepperts u n d Mengeis differenziert werden kann, so ändert dies doch nichts daran, daß auch Geppert hermeneutisch u n d damit: vom Konzept der Autorenintention bestimmt bleibt. W i e W e b e r (1986) in seiner Kritik des Iserschen Akt des Lesens überzeugend dargelegt hat, setzt das Konzept des Textes als intentionalem O b j e k t ein Einsetzen der transzendentalen Position des Autors voraus: The possibility of describing reading as a self-contained act, as a theoretical object capable of being treated in general, as the interaction of Text and Reader; the possibility of establishing reading as the actualization of a text that is, therefore, necessarily potentially present to itself and self-identical before and in order that such reading may take place; the possibility, finally, of >regaining< a transcendental position from which the dissensions and hostilities of critical controversy can be mediated, arbitrated, and comprehended — all this depends upon the assumption of an authorial, authoritative intention expressing itself authentically in and as >the textHiatus< unter Rückgriff auf Ingarden und Barthes ausführlich entwickelt (1976:16-43); Isers Einfluß zeigt sich bereits in Gepperts Berufung auf den Iserschen Waverley-Aukzxz (Iser 1964/1972) in der Einleitung (1976:50-

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Die Folgen dieser A n n a h m e sind n u n , wie W e b e r es präzise sagt, »anything b u t innocent« (199). D e n n die »Funktion Autorschaft« (Foucault) dient im literaturwissenschaftlichen Diskurs als ein funktionales Prinzip, by which [...] one limits, excludes, and chooses; in short, by which one impedes the free circulation, the free manipulation, the free composition, decomposition, and recomposition of fiction. [...] The author is therefore the ideological figure by which one marks the manner in which we fear the proliferation of meaning. (Foucault 1979:159)

>Ideologisch< ist dieses Prinzip in erster Linie deswegen, weil es die Illusion eines a u t o n o m e n , in seinem Willen freien Individuums als Urheber eines Werkes errichtet, damit aber einer Instanz, die durch ihre Verankerung in die klassisch-humanistische Tradition mit einer ungeheuren M a c h t ausgestattet ist: M a c h t sie es doch möglich, alle konventions- u n d kanonbildenden Institutionen u n d System e entweder ganz auszublenden oder zu nachgeordneten Bestimmungszusamm e n h ä n g e n zu degradieren. Das göttliche Prinzip des Autors ist, ob im Vorderg r u n d oder als nur scheinbar isolierte Hintergrunderscheinung, der zentrale O r d n u n g s f a k t o r der hermeneutischen Lesestrategie. 10 Uber das Faszinosum des Autors darf nicht die Rolle des Lesers übersehen werden. In seinem Versuch, Sinn zu erstellen, will der Leser die Intention des Autors idealerweise besser verstehen als er selbst: In diesem Akt des Beherrschens wird er z u m überlegenen Individuum.

W e i t entfernt davon, ein passiver Rezeptions-

vorgang zu sein, birgt der hermeneutische Leseakt damit aber das Angebot einer zumindest rollenbezogenen Ich-Findung in sich. 11 V o n den aufgeführten Arbeiten hat sich nur die Aufsatzsammlung H a r r o Müllers von den hier idealtypisch skizzierten Prämissen entfernt - o h n e allerdings bei einer Position anzulangen, die sowohl theoretisch klar bestimmt wie praktisch überzeugend umgesetzt wäre. In der Einleitung zu seinen Aufsätzen bes t i m m t Müller das >Schreibfeld< des historischen Romans, innerhalb dessen sich der Autor seine spezifische Auswahl aus einem d u r c h die vorhandenen Texte bestimmten, aber erweiterbaren Angebot von Perspektivierungsmöglichkeiten des Gegenstands >Geschichte< erstellt. 12 Auf der Suche nach den Bedingungen der Möglichkeit unterschiedlicher Ausformungen von historischen R o m a n e n nähert

10

Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung der Geburt der Funktion Autorschaft aus dem Geiste der Hermeneutik bei Kittler (1980). Eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Aporien der Foucaultschen Position findet sich bei Japp (1988). 11 Vgl. zum Verhältnis Leser-Autor bes. Kittler (1980:158ff) und Kittler (1985/1987: 1 1 5 - 1 5 3 ) . Eine knappe, aber kritische Aufarbeitung der verschiedenen Lesertheorien der 70er Jahre bietet Culler (1983:64-83). 12 Vgl. Müller (1988:16).

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Müller sich so der Bestimmung eines Diskurses an, der, folgt man einer Definition von Müller und N. Wegmann, ein formales Regelwerk darstellt: A discourse is an open, historically variable set of formal principles which is, in comparison to a grammar, less valid, complete and coercive, but which is nonetheless binding in its own way on a series of texts. (Müller/Wegmann 1985:236).

Müllers Beschreibung des Diskurses des historischen Romans bleibt allerdings in der einfachen Aufzählung eines Katalogs von Möglichkeiten stecken. In den eigentlichen >Fallstudien< konzentriert sich Müller darüberhinaus auf eine doch etwas andere Fragestellung: Er versucht, die Erfahrungszusammenhänge zu rekonstruieren, die den jeweiligen Autor zu seinen Perspektivierungen geführt haben, deren konkrete Umsetzung im Romantext zu beschreiben und schließlich die Erkenntnisse zu systematisieren, die sich einem der Intention des Autors kritisch folgenden Leser bieten. Wenn es Müller so auch gelingt, über eine diskurstheoretische Fundierung die Teilnahme am Sinnbildungsprozeß zu einem klar bestimmten Objekt einer Beobachtungsperspektive zu machen, 13 so bleibt er doch in einer Begrenzung seines Gegenstandes auf die Triade Autor-Werk-Leser befangen. Die strukturellen Bedingungen der Lektüre jenseits dieser Grenzen werden bewußt, aber nicht zum Thema gemacht. Wie aber kann diese Thematisierung nun geschehen? Der Versuch einer Antwort läßt sich meines Erachtens in vier Schritten aufbauen: Zunächst muß es darum gehen, ein Modell zur systematischen Beschreibung dieser momentan noch reichlich diffusen »strukturellen Bedingungen der Lektüre< zu finden. Von dieser Beschreibung ausgehend müssen die Operationen bestimmt werden, über die diese Bedingungssysteme die Produktion und Rezeption spezifischer Texte steuern. Anschließend muß ein Analysemodus gefunden werden, der in Abgrenzung zu den oben charakterisierten hermeneutischen Interpretationen den Vorgang dieser Steuerung in konkreten historischen Romanen erfassen kann. Und schließlich muß aus den Ergebnissen dieser Analysen eine systematische Darstellung des Gattungsdiskurses abgeleitet werden. Für die Erarbeitung der ersten beiden Schritte läßt sich eine Grundlage in der Kittlerschen Theorie der Aufschreibesysteme finden.14 Dieser Begriff bezeichnet,

'3 Vgl. zur Differenzierung von Teilnehmer- und Beobachterzuschreibungen in der Literaturwissenschaft Fohrmann/Müller (1988:1 Off.). 14 Eine allgemeine Diskussion der Problematik der Kittlerschen Theorie ist im Folgenden nicht intendiert und kann im Rahmen dieser theoretischen Grundlegung der eigenen Vorgehensweise auch kaum geleistet werden. Beabsichtigt ist, über den Rückgriff auf die Theorie der Aufschreibesysteme die konstitutiven Elemente der nachfolgenden Textanalyse zu bestimmen. Kittlers Ansatz erscheint mir dafür sowohl aus gegenstandswie aus theoriebezogenen Gründen besonders geeignet zu sein. Zum einen erfaßt er den

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wie Kittler u.a. im N a c h w o r t zur zweiten Auflage seines gleichnamigen Buches ausführt, das Netzwerk von Techniken und Institutionen [...], die einer gegebenen Kultur die Entnahme, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlauben. (Kittler 1985/ 1987:429) Das Aufschreibesystem ist damit eine Weiterentwicklung der Foucaultschen Kategorie des Archivs: W e n n Foucault dies bestimmt als »das Gesetz dessen, was gesagt werden kann«; »das, was die Diskurse in ihrer vielfachen Existenz differenziert u n d sie in ihrer genauen Dauer spezifiziert«; »das allgemeine System der Formation u n d der Transformation der Aussagen« (Foucault 1969/1981:187f, H e r v o r h e b u n g im Text), so läßt er in dieser Eingrenzung eines »historische[n] Apriorifs] von Schriftsätzen« (Kittler 1985/1987:429) eines außer Betracht: d a ß nicht jede Information g«tfgiwerden m u ß . Dieser Medienqualität von D a t e n will Kittler mit seinem vor dieser Zielsetzung allerdings etwas irreführendem Begriff R e c h n u n g tragen. >Aufschreibesystem< ist eine Kategorie innerhalb einer Archäologie, die nicht n u r Wissen, sondern »Datenspeicherung, -Übertragung u n d -berechnung in technischen Medien« (429) zu ihrem Gegenstand macht. Auf d e m H i n t e r g r u n d einer elektronischen Revolution, die Texte als eine M e n g e von in binären Codes zu speichernden Informationen behandelt, fragt Kittler, nach welchen Regeln in der Zeit vom späten 18. bis z u m frühen 20. J a h r h u n d e r t in welchen Kanälen welche Arten von Informationen verbreitet wurden. Literatur erscheint in diesem Kontext als eine historisch variable F o r m der Datenverarbeitung. V o n dieser Zielsetzung her ist es notwendig, daß Kittler sich in seiner Arbeit nicht auf die U n t e r s u c h u n g von W e r k e n beschränkt, schon gar nicht von literarischen. Er m u ß im ersten Teil seiner Systemanalyse zeigen, wie die Schrift u n d damit das Buch u m 1800 zum dominierenden M e d i u m der Datenverarbeitung geworden ist u n d welche F u n k t i o n sie hier ausübt; u n d er m u ß im zweiten Teil darstellen, in welcher Weise sich u m 1900 eine Konkurrenz verschiedener technischer Medien entwickelt u n d welche Folgen dies für das M e d i u m Schrift u n d

Gesamtbereich vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, damit aber das Spannungsfeld zwischen der Konstituierung der >klassischen< Form des historischen Romans und seiner Innovation in der Moderne; zum anderen ermöglicht es sein spezifisches Beschreibungsmodell der Bedingungen des Leseaktes, Möglichkeiten und Grenzen einer am literarischen Text vorgehenden Analyse zu erfassen. Nicht beabsichtigt ist eine unkritische Übertragung der Lektüreweisen, die Kittler vorfuhrt, auf den Gegenstandsbereich des historischen Romans. - Einführungen in Kittlers Theorie bieten neben Kittlers eigenen Darstellungen (Kittler 1986 und 1987 [Nachwort zur 2. Auflage von Aufichreibesystem 1800/1900}) v.a. die Rezensionen von Bolz (1986) und Plumpe (1986).

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darin besonders für literarische Produktionen hat. In der Allianz mit anderen Formen der Datenverarbeitung betrachtet, werden die spezifischen, historisch veränderlichen Merkmale der Literatur faßbar: Ihre F u n k t i o n als M e d i u m kann erst über den Einbezug von öffentlichen Institutionen, technischen Entwicklungen u n d außertextuellen Medien beschrieben werden. Innerhalb dieses Versuchs einer Neuschreibung der Literaturgeschichte aus der Perspektive der Datenverarbeitung setzt Kittler vertraute zeichentheoretische Konzepte zur Differenzierung der beiden grundlegenden Paradigmen ein. Das Charakteristikum des Aufschreibesystems 1800 bestimmt er als die Einheit zwischen Signifikanten u n d Signifikat: Ein organisches K o n t i n u u m , das es erlaubt, die Materialität des Zeichens zu vernachlässigen u n d unmittelbar zu seinem Sinn vorzustoßen. Das Aufschreibessystem 1900 dagegen ist dadurch bestimmt, daß der ursprüngliche Glaube an die W a h r h e i t dieses Sinns z u m Problem geworden ist. Die Materialität des Zeichens wird folgerichtig zum Z e n t r u m des Interesses, u n d zwischen d e m Signifikanten u n d d e m Signifikat tut sich ein nicht zu negierender Riß auf. N i c h t mehr die unmittelbare Beziehung zu einem Signifikat gibt d e m Signifikanten seinen Sinn; vielmehr wird er bestimmt durch die Relation zu anderen Signifikanten in d e m System, in d e m er auftritt. Die Operationen, die auf dieser Basis die Datenverarbeitung (und so die Produktion u n d die Rezeption literarischer Texte) in den beiden Aufschreibesystemen steuern, sind zum einen die Ubersetzung, z u m anderen die {Medien-) Transposition. Die Leistung der Ubersetzung im Aufschreibesystem 1800 besteht so darin, das Unübersetzliche auszublenden: Signifikanten werden übersprungen, u m einen direkten Z u g a n g z u m »reinen vollkommenen Gehalt« (Goethe) zu erlangen, eben z u m Signifikat. W a s auf diese Weise entsteht, ist ein »allgemeines Äquivalent« (Kittler 1985/1987:76) aller möglichen Diskurse, das die beliebige Überf ü h r u n g eines Diskurses in einen anderen ermöglicht. Uber verschiedene Instrumente f ü h r t dieser Prozeß zur Schaffung einer Einheit auf mehreren Bezugsebenen: Syntaktisch unifiziert der »eine Guß« oder Stil, semantisch der Primat des Signifikats, pragmatisch die Adresse, an die seit 1800 Übersetzungen gehen: Menschheit, Lesewelt, »allgemeiner Weltverkehr« [Goethe]. (78 - Hervorhebung im Text)

Gegenstand des ersten Teils von Kittlers Buch ist die Praxis, die aus der Operation der Übersetzung in verschiedenen Institutionen resultiert. So etwa in Schulen, denn an die Stelle des Auswendiglernens unverständlicher Buchstabenkombinationen tritt das Erlernen von Silben als kleinsten Sinneinheiten: Minimalsignifikaten. U n d auch in der Literatur: das Überspringen der Signifikanten auf der Suche nach d e m Signifikat f ü h r t z u m einen den Autor z u m rauschhaften Schreibakt. Auf der anderen Seite erfährt der Leser die so entstandenen Bücher in Form von optischen Halluzinationen: I n d e m er den Text zu sein e m Erleben macht, wird er selbst zum Autor.

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Als paradigmatisches Beispiel fur die grundsätzliche Einstellungsänderung, die den Übergang v o m Aufschreibesystem 1800 z u m Aufschreibesystem 1900 markiert, f ü h r t Kittler die >psychophysischen< Untersuchungen von H e r m a n n Ebbinghaus an, publiziert 1885 unter d e m Titel Ueberdas Gedächtniss. In seinem Versuch, die Leistungen des menschlichen Gehirns quantifizierbar zu machen, schließt Ebbinghaus gerade das aus, was das Aufschreibesystem 1800 begründete: den Sinn. Untersucht werden beliebige Silben u n d ihre Kombinationsmöglichkeiten, u m die Speicherkapazität des Gehirns zu beschreiben. Auf diese Weise wird das Verstehen u n d mit ihm die Ubersetzung als nicht hintergehbarer Verarbeitungsvorgang destruiert u n d die Struktur, die jeden Signifikanten in der Differenz zu allen anderen v o r k o m m e n d e n in einem spezifischen System bestimmt, z u m zentralen Gegenstand. Der T o d der Sinnsuche ist die G e b u r t der Erforschung der >SignifikantenlogikPsychophysik< konstruiert so, wie Kittler es in einer typischen Übertragung von Vokabular aus dem EDV-Bereich formuliert, im Aufschreibesystem 1900 Diskurse als »Outputs von Zufallsgeneratoren« (211). Ihre Speicherung ü b e r n e h m e n neugeschaffene technische Medien: 1887 ist Edisons Phonograph serienreif, 1891 das Kinetoskop, der unmittelbare Vorläufer von Lumières Kinoprojektor. U n d auch das M e d i u m Schrift wird durch die schon 1879 erhältliche Schreibmaschine revolutioniert: Ihre Innovation besteht nicht n u r in der Temposteigerung, sondern vor allem in der Erfahrung von Sprache als »räumlich bezeichnete u n d diskrete Zeichen« (200). Auf diese Weise wird eine Medienkonkurrenz etabliert, durch die »zum wahrhaft ersten Mal [...] Schreiben auf[hört], mit serieller Datenspeicherung synonym zu sein« (235). Die zugehörige Operation der Medientransposition entsteht in diesem n u n mehr veränderten System aus einer Destruktion des Aktes unmittelbarer Sinnschöpfung: W o das Aufschreibesystem von 1800 ein Kontinuum gehabt hat, das vom unartikulierten Minimalsignifikat organisch zu den Bedeutungen faktischer Sprachen führte, steht fortan ein Bruch. [...] Den Bruch zwischen bildlichem Signifikat und lautlichem Signifikanten kann kein kontinuierliches Ubersetzen, sondern nur die Metapher oder Transposition überspringen. (193)

Für Kittler wird diese Operation bestimmt durch punktuelle u n d serielle G r u n d mechanismen : Gegeben sei ein Medium A, organisiert als abzählbare Menge diskreter Elemente Eai... Ea„, dann besteht seine Transposition ins Medium Β darin, die internen (syntagmatischen und paradigmatischen) Beziehungen zwischen seinen Elementen auf die Menge Ebi ... Ebn abzubilden. Daß die Elementenanzahlen η und m und/oder die Verknüpfungsregeln kaum je identisch sind, macht jede Transposition zur Willkür oder Handgreiflichkeit. Sie kann nichts Universales anrufen und muß, heißt das, Löcher lassen. (271)

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Die Operation findet nicht nur zwischen den verschiedenen technischen Medien statt. Auch innerhalb des Mediums Schrift macht das Bewußtsein seiner Materialität die Transposition notwendig, wenn ein Text durch einen anderen erläutert werden soll. Wenn die Interpretation nicht mehr über die Ubersetzung zur Seele des Autors vordringen kann, muß »psychologisch-historisches Verstehen« durch einen rein sachlichen Decodierungsvorgang ersetzt werden: Interpretation ist also nur ein Sonderfall der allgemeinen Technik Medientransposition. Zwischen codierendem Autor und decodierenden Interpreten besteht keine psychologische Brücke, sondern sachliche Konkurrenz. (275)

In der Gegenüberstellung der Basisoperationen der beiden Paradigmen wird deutlich, daß die unveränderte Verwendung des Begriffs >Aufschreibesystem< gleich eine doppelte Differenz verdeckt. Z u m einen ist da die bereits benannte Medien Vielfalt in der Moderne; zum anderen zeigt sich aber auch, daß die Definition des Vorgangs der Transposition gerade in seiner Unabschließbarkeit liegt. Wenn kein ursprüngliches Signifikat den Prozeß dominiert, ist jedes Ergebnis einer Transposition nur wieder Ansatzpunkt für eine neuerliche; die >Logik< der Signifikanten liegt gerade darin, daß ihre Differenzen nicht begrenzbar sind. Was hier vorliegt, ist so im Gegensatz zum ersten, geschlossenen Paradigma ein offenes System. Trotz aller Kritik an Formulierungen: was Kittlers Theorie bereit stellt, ist zum einen eine Opposition von Bedingungssystemen für historisch unterschiedliche Leseweisen, zum anderen eine zweite Opposition von Operationen, die die Umsetzung dieser Bedingungen (auch) in die Produktion und Rezeption literarischer Texte steuern. Eine konkrete Anwendung dieser Instrumente auf eine diachrone Abfolge von literarischen Texten, die zusammen eine bestimmte Gattung wie eben den historischen Roman bilden, kann nun in folgender Weise verfahren: Sie fragt nach der Umsetzung einer Operation in einem bestimmten Text, damit aber nach dem Vorgang, durch den der Gegenstand - hier die Geschichte - in eine Fiktion verarbeitet wird. Auf diese Weise kann sie darstellen, nach welchen Regeln dieser Text in das entsprechende Aufschreibesystem eingeschrieben ist. Das Regelsystem bildet einen Diskurs, der als Poetik des Textes bezeichnet werden kann. Das - noch nach seiner Struktur zu befragende - System dieser Textpoetiken ist dann die Poetik der Gattung. N u n ergeben sich bei diesem Bestimmungsversuch eines adäquaten Modus der Textanalyse aber gleich zwei grundsätzliche Probleme. Z u m einen ist die Frage, wie sich dieser Modus nach der Relativierung der auf die Autorenintention fixierten hermeneutischen Leseweise nun konkret von der sinnsuchenden Interpretation unterscheidet; zum anderen, woher eine solche Konzentration auf literarische Texte in Anbetracht der Relativierung der Literatur als einer Diskursform innerhalb eines komplexen Systems, wie sie sich ja bei Kittler findet, ihre Berechtigung nimmt.

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D a ß es zu einfach ist, die Interpretation als eine überkommene Form der Verarbeitung von literarischen Texten abzutun, wird deutlich, wenn man die grundsätzliche Struktur von Alltagserfahrungen bedenkt. Jede notwendig ja perspektivische Wahrnehmung geht schlicht nach dem Prinzip vor, das vom Einzelnen ausgehend ein Zusammenhang konstruiert wird, der wiederum das Einzelne bestimmt; und natürlich macht der Leseakt hier auch keine Ausnahme. Gleich, ob man dies nun als hermeneutischen Zirkel, Spirale oder anders bezeichnen will - sieht man hierin das konstitutive Merkmal der Interpretation, muß notwendig jede Beschreibung des Inhalts eines literarischen Textes so bezeichnet werden. Andererseits ist mit dieser Merkmalsbestimmung noch nichts über die spezifische Form des Zusammenhangs ausgesagt, der da konstruiert wird. Nicht erst Kittlers Opposition der Aufschreibesysteme legt es nahe, hier zwischen zwischen verschiedenen Vorgehensweisen zu unterscheiden. Typisch für den bis in die 80er Jahre reichenden Glauben, über die Anwendung linguistischer Analysetechniken statt einer sinnfixierten Interpretation eine anders geartete Lektüre institutionalisieren zu können, die die Struktur des Textes nachvollziehen kann, ist die Bestimmung dieser Opposition bei Japp (1977): Lektüre und Interpretation verlaufen in verschiedenen Richtungen: während die Interpretation vom Werk zur Geschichte aufsteigt und so der umfangslogische Status ihrer Aussagen immer weiter wird, dringt die Lektüre immer tiefer in die Schreibweise ein und erreicht so ständig kleinere Einheiten: die syntaktische, die lexikalische, die phonetische. [...] So folgt die Lektüre mit akribischer Genauigkeit der Spur, die der Text vorzeichnet. Sie registriert [...] das Asyndeton und die Struktur. Und indem sie so, ohne Synthesen zu entwerfen, langsam den Text durchläuft, vermag sie die Textur des Gewebes zu beschreiben, das der Text ist. (124/125)

Schon die Begrifflichkeit Japps zeigt, daß er bei Barthes Unterscheidung zweier Leseweisen in Die Lust am Text ansetzt, von denen die eine direkt zur >Anekdote< vordringt, der Ebene des Signifikats, während sich die andere auf das >Spiel der Signifikanten< konzentriert. 15 J a p p überträgt allerdings Barthes' Beschreibung primärer Lektüren unkritisch auf sekundäre, also Analysen, die ja selbst nicht unmittelbar Texte, sondern deren Erfahrung in Lektüren zum Gegenstand haben. 1 6 Er verzichtet so von vornherein auf den Versuch, eine Metaebene zu

15 Vgl. Barthes ( 1975/1976:12f). 16 Von daher stellt der Ausdruck >Textanalyse< immer schon eine Synekdoche dar: analysiert werden kann immer nur die Wahrnehmung des Textes im Leseakt. Die Problematik dieser Gegenstandsbestimmung ist v.a. von Schmidt (1980) in seiner Kritik der Interpretation geradezu exzessiv diskutiert worden; der radikale Schluß ist hier, jede Beschäftigung mit dem Inhalt von Texten auf einer vorwissenschaftliche Ebene anzusiedeln und eine Uiterztur Wissenschaft neu als empirische Sozialwissenschaft zu fundieren. Eine weniger rigorse,und deshalb für die Arbeit mit Texten produktivere Diskussion auf dem Hintergrund des Dekonstruktivismus Paul de Mans bieten Ellrich/Wegmann (1990:475).

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konstruieren, von der aus historische Leseweisen von Texten thematisiert werden könnten. Dies führt ihn einerseits zu der wenig befriedigenden Lösung, die Interpretation als den adäquaten Zugang zu traditionellen Erzählungen anzusehen und die Lektüre fur Texte der Moderne zu reservieren.17 Andererseits ist dies die Basis jener Identifizierung von Text und Leseakt, die zu dem Glauben führte, Textstrukturen könnten objektiv beschrieben werden. Daß dies eine irrige Annahme ist, beweist nicht nur die Theoriediskussion der letzten Jahre, sondern auch die kontinuierliche Produktion von Textanalysen, der Ziel vor allem eins ist: zu zeigen, wo vor ihnen falsch gelesen wurde. Mit dieser Vorgabe treten sie aber selbst ein in die Kette jener misreadings, die dann wiederum von zukünftigen Versuchen korrigiert werden. Auf dem Weg zu einer Form von Lektüre, die den obigen Beobachtungen Rechnung trägt, sind Paul de Mans Schlußfolgerungen aus dieser Praxis der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung beachtenswert, wie sie von Ellrich/Wegmann (1990) im Rahmen der Diskussion einer >philologischen< Theorie zusammenfassend dargestellt werden. De Man fuhrt die Abfolge von sich gegenseitg korrigierenden Textanalysen auf die »Natur der literarischen Sprache« selbst zurück: Denn diese »ist demnach von genau der Art, daß sie immer schon die Möglichkeit einer falschen Lektüre impliziert« (Ellrich/Wegmann 1990:480). Ursache für diesen Sachverhalt ist die Figuralität der literarischen Sprache, die die Uneindeutigkeit des literarischen Werks begründet. Der Leser sieht sich grundsätzlich bei jedem Element eines literarischen Textes vor die Entscheidung gestellt, es entweder figurai oder wörtlich zu verstehen; doch, so de Man in seiner paradigmatischen Rousseau-Lektüre, eben dies führt ihn in eine Aporie: Die Entscheidung für eine Lesart verfehlt immer schon die gleich stark begründete, gemessen an der Unterscheidung von figurai und wörtlich: entgegengesetzte Lektüre. Das Literarische definiert sich als das, was immer nur falsch gelesen werden kann [...]. Der >immanentedekonstruktive< Lektüre darauf abzielt, in einem literarischen Text die notwendig paradoxe Struktur zu entdecken, und so der hermeneutischen Grundstrategie eine neue Wendung gibt. 18 Offensichtlich ist auch, daß sie dieses Ziel nur dadurch erreichen kann, daß sie da weiteifragt, wo andere Lektüren einen Abschluß in sinnstiftenden oder zumindest kohärenten Zusammenhängen gefunden haben. Über eine dekonstruktive Strategie lassen sich so die Systemstellen eines Textes identifizieren, die seine Leseweisen bestimmen; und über eine Aufarbeitung der Abfolge dokumentierter Lektüren dieses Textes (also in erster Linie vorausgegangener Textanalysen) läßt sich eine Rezeptionsgeschichte als eine Geschichte der misreadings schreiben. Problematisch ist in diesem Zusammenhang nur der Wahrheitsanspruch der Dekonstruktion: Indem sie die Bedingungen der Möglichkeit des Mißverstehens bestimmt, droht sie sich selbst von diesem Prozeß auszunehmen. 1 ' Entscheidend ist des-

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Nicht nur durch diese Form der naiven Imitation de Mans ist >Dekonstruktion< inzwischen ähnlich wie »Diskurs« zum schillernden Begriff geworden. Eine gewisse Klärung kann schon durch eine Differenzierung zwischen der philologischen Dekonstruktion de Mans und der philosophischen Derridas erreicht werden, wie sie Ellrich/Wegmann (1990:490ff) bieten. Andererseits ist der Begriff >Dekonstruktion< schon zu Beginn seines Auftretens auch in einer allgemeinen Bedeutung verwendet worden, die bewußt die verschiedenen Ausprägungen subsumieren wollte. Vgl. dazu die Systematisierung der verschiedenen Wege des Deconstructive Criticism bei Culler (1983:180ff.). Die vielleicht eingängigste Begriffsbestimmung stammt noch immer von Barbara Johnson: »The de-construction of a text does not proceed by random doubt or arbitrary subversion, but by the careful teasing out of warring forces of signification within the text itself. [...] A deconstructive reading is a reading that analyzes the specifity of a text's critical difference from itself.« (Johnson 1980:5) Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang der berühmt-berüchtigte und oftmals kritisierte apodiktische Ton de Mans. Vgl. dazu Culler (1983:272ff) und Ellrich/Wegmann (1990:476 u.ö.)

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halb, daß auch die Dekonstruktion nicht anders kann, als an der nicht hintergehbaren Erfahrung der eigenen Lektüre anzusetzen, und so notgedrungen in ihrer Rekonstruktion des paradoxen System des Textes der Gefahr ebensolcher Mißverständnisse unterworfen ist wie andere, weniger reflexiv vorgehende Analysen vor ihr - nur an anderen Stellen. Die Dekonstruktion kann den Prozeß des Mißverstehens nicht beenden: Sie kann ihm nur über die Reflexion zu einem anderen Status im kritischen Bewußtsein verhelfen. Im Falle des historischen Romans besteht eine Systemstelle der beschriebenen Art offensichtlich im Problem des Hiatus von Fiktion und Historie. Jeder Romantext verwendet Elemente, die dem Leser aus einem (vorgeblich) außerliterarischen Kontext bekannt sind, wodurch er per se verführt ist, sie wörtlich zu lesen, als unmittelbare Wiedergabe von Wirklichem zu verstehen; zugleich sind sie ja nun aber eingebunden in ein System, das per definitionem als fiktiv bestimmt ist, und dessen Elemente somit andererseits grundsätzlich figurativ verstanden werden können, bezogen auf das System der Fiktion selbst. Doch im historischen Roman wird diese Konfrontation auf die Spitze getrieben, indem diese Elemente Texten entnommen werden, zu denen der grundsätzliche Konsens besteht, daß sie vergangene Wirklichkeit wahrheitsgetreu schildern: eben der Geschichtsschreibung. Das wörtliche Verständnis dieser Elemente ist damit institutionalisiert. Auf diese Weise kann der Text des historischen Romans gar nicht anders, als den Gegensatz von Fiktion und Historie immer schon selbst zu schaffen. Der Gegensatz besteht jedoch nicht zwischen ontologisch differenzierten Kategorien, sondern zwischen divergenten Elementen in der Rhetorik des Textes. U n d doch ist Gepperts Klassifikation des >üblichen< vs. des >anderen< historischen Romans durchaus richtig, versteht man sie bezogen auf die Verarbeitungsmechanismen, die zwischen diesen Elementen stattfinden, um eine Zusammenführung in einem spezifischen Textsystem zu ermöglichen. U n d hier finden nun die Kittlerschen Operationen in der oben bestimmten Weise ihr Anwendungsfeld - mit dem Ziel, zu differenzierteren Ergebnissen zu gelangen, als Geppert sie präsentieren konnte. Das oben dargestellte Verständnis des grundsätzlichen, die Gattung kennzeichnenden Paradoxons erlaubt es darüberhinaus aber auch, die Problematik der jeweiligen Verarbeitungsvorgänge zu bestimmen; zu zeigen, an welchen Stellen im System des Textes die spezifische Form der Geschichtserzählung sich gegen sich selbst wendet und so das immer schon vorhandene Paradoxon akzentuiert. Somit ist nun aber in einer spezifischen Form der Lektüre eine Analysemodus für den historischen Roman bestimmt, der sich zunächst dadurch von der sinnstiftenden Interpretation abgrenzt, daß er über den Bezug auf sogenannte Aufschreibesysteme historisch variable Kontexte definiert, die unterschiedliche Formen der Verarbeitung von Daten in Textsysteme produzieren; und der demnach in der Textanalyse nicht nach einem auf die Institution des Autors fixierten Sinnzusammenhang fragt, sondern nach dem Regelsystem, das die spezifische

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Konstruktion des jeweiligen Textes auf der Basis eines bestimmten Verarbeitungsvorgangs steuert. Darüberhinaus n i m m t diese Lektüre als eine zumindest für den Zeitraum von 1800 bis zur Gegenwart gültige Konstante an, daß sich literarische Texte durch eine bestimmte F o r m der sprachlichen Darstellung auszeichnen, in der die kategoriale Unterscheidung von wörtlichem vs. figurativem Verständnis zum Problem wird; im Falle des historischen Romans manifestiert sich dies in der V e r k n ü p f u n g von Fiktion u n d Historie. I n d e m eindeutige Entscheidungen so unmöglich werden, endet jeder Versuch einer abschließenden Lektüre notgedrungen in einer Aporie, stößt er doch auf nicht aufzulösende Paradoxien. In der Erarbeitung der Regelsysteme als Textpoetikeneben diese Paradoxien zu formulieren, läßt sich als das übergreifende Ziel der Lektüre bestimmen. Uber diese Zielvorgabe läßt sich die Berechtigung der Lektüre darstellen: D e n n sie zeigt, daß m i t der Analyse bestimmter literarischer Texte sowohl deren Leseweisen in ihrer historischen Variabilität wie auch in ihren grundsätzlichen Aporien mit z u m Gegenstand werden. D a m i t ist aber eine Komplexität erreicht, die es rechtfertigt, die Allianz zwischen d e m literarischen Diskurs u n d anderen Diskurssystemen im Falle des historischen Romans unmittelbar n u r in der F o r m der Beziehung zwischen Geschichtserzählung u n d Geschichtsschreibung zu thematisieren u n d in ihrer konkreten U m s e t z u n g in paradigmatischen literarischen Texten zu beschreiben. Für die konkrete Analyse bedeutet dies zunächst, daß sie die heuristische Setzung, daß einem bestimmten historischen R o m a n ein zeitlich entsprechender Verarbeitungsvorgang zugeordnet werden kann, anhand von Texten belegen m u ß . Als Ergebnis soll so bestimmt werden, wie >Geschichte< in diesem Fall überh a u p t begriffen werden m u ß , u m z u m O b j e k t des angesetzten Verarbeitungsvorgang zu werden, u n d welche spezifischen Aufgaben dieser Vorgang d a n n zu bewältigen hat. Die Analyse m u ß dabei an Texten ansetzen, in denen dieser Verarbeitungsvorgang z u m Gegenstand wird. H a n d e l t es sich u m theoretische Texte, in denen der Autor die Bestimmung seiner Verarbeitung offenlegt, kann eine Strategie entwickelt werden, die das spezifische Erscheinungsbild des Verarbeitungsvorgangs im Spannungsfeld zwischen Autorenintention u n d Aufschreibesystem bestimmt. Handelt es sich u m fiktionale Texte, m u ß die Strategie in der Weise modifiziert werden, daß sie n u n ein Spannungsfeld zwischen dem Aufschreibesystem u n d einem verarbeitenden Text errichtet, der sich der Konstruktion einer expliziten Autorenintention entzieht. Sind auf diese Weise die Ansprüche bestimmt, die in der Formulierung eines spezifischen Verarbeitungsvorgangs an den Romantext gemacht werden, so m u ß es im nächsten Analyseschritt d a r u m gehen, zu zeigen, in welcher Form dieser Vorgang im System des vorliegenden historischen Romans umgesetzt wird u n d inwieweit dabei die Ansprüche eingelöst oder zurückgewiesen u n d verändert werden. Hierbei lassen sich zwei Dimensionen unterscheiden: Die Frage, in wel-

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eher Weise sich der Text auf den Gegenstand des Verarbeitungsvorgangs bezieht, also die (in bestimmter Form gefaßte) Geschichte, verweist auf die paradigmatische Ebene des Textes; die Frage, in welcher Weise dieser Bezug im narrativen Diskurs entwickelt wird, auf die syntagmatische Ebene. Als Arbeitshypothese wird hier angenommen, daß sich in jeder Ausprägung des historischen Romans eine spezifische Form der Selbstreflexivität zeigt: Der Verarbeitungsvorgang des Romans wird auch in der Erzählung selbst thematisiert. Läßt sich diese These bestätigen, kann an dem Ergebnis die abschließende Frage ansetzen, in welcher Form sich die Aporien seiner Lektüre im Text selbst manifestieren. Was auf diese Weise erstellt werden soll, ist eine Textpoetik. Fraglich ist nun allerdings, wie von hier der Schritt zur Poetik der Gattung vollzogen werden kann. Die Komplexität der Fragestellung legt es schon aus rein quantitativen Gründen nahe, paradigmatische Romane auszuwählen, bei denen Entstehungsdatum, Rezeption und Forschungslage den Verdacht einer Bruchstelle in der Entwicklung der Gattung nahelegen. Naheliegend ist die Wahl von Walter Scott, denn mit seinen Romanen begann ja das, was über mehr als 150 Jahre hinweg die Vorstellung von einem historischen Roman weltweit geprägt hat. Die Analyse hat die Romane Waverley (1814) und Quentin Durward (1823) zum Gegenstand: Zum einen Scotts Erstling, das Muster für seine mehr als zwanzig weiteren historischen Romane, speziell für die bis heute v.a. von der englischsprachigen Kritik hochgeschätzten scotch novels, zum anderen eine der romances, die fur das spätere Schlagwort Geschichte als Abenteuer ûs Modell gedient haben und zunächst Scotts Popularität beim Publikum, später aber auch seine Abqualifizierung zum Kinderbuchautor begründeten. Quentin Durward ist auch ein Roman Scotts, der gleich mehrmals verfilmt wurde; die Opposition zwischen Übersetzung und Medientransposition läßt sich hier deshalb in prägnanter Form an einem Beispiel darstellen. Wenn als Repräsentant für die nächste Bruchstelle Bertolt Brechts Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar (1938) ausgewählt wurde, so in erster Linie deswegen, weil der Roman in einzigartiger Form den Konflikt zwischen einer avantgardistischen, subjektdezentrierten narrativen Textorganisation und einer subjektzentrierten Didaktik zeigt. Brecht wendet sich gegen ein hermeneutisches Geschichtsverständnis, wie es Scott und seinen >klassischen< historischen Roman kennzeichnet, doch seine marxistische Dialektik fuhrt ihn zu Ansprüchen, die den Strukturen seines Romantextes nicht gerecht werden können. Mit dem dritten und letzten Gegenstand schließlich bewegt sich die Analyse über den historischen Geltungsbereich der Kittlerschen Aufschreibesysteme hinaus, indem sie einen Gegenwartsroman wählt. Thomas Pynchons V. (1963) thematisiert die Differenz zwischen Ubersetzung und Transposition selber, damit aber in Form eines historischen Romans die vorausgegangenen Versionen des historischen Romans. Die Trias findet nicht entsprechend der klassischen Dialektik in der letzten Stufe ihre aufhebende Synthese, sondern mündet vielmehr in

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der Dekonstruktion der zugrundeliegenden Differenz. Die Frage nach der Lösung der Spannung zwischen den vorausgegangenen Romanformen wird im Roman beantwortet, indem sie in eine unendliche Kette von Fragen überführt wird. Damit wird nicht nur das Konzept >Geschichte< dekonstruiert, sondern auch das des historischen Romans. Entstehen kann über die Beschreibung der drei paradigmatischen Poetiken ein Diskurs der Brüche, keine Darstellung einer kontinuierlichen Gattungsentwicklung. Am Schluß dieser Arbeit kann deshalb auch weder ein Abriß der Geschichte des historischen Romans noch ein formales Regelwerk stehen. Umrissen werden kann nur der Spielraum des historischen Romans; erst dessen Ausfüllung und Uberprüfung anhand weiterer Romantexte kann zu einer systematischen Formulierung einer Gattungspoetik fuhren. Innerhalb dieser relativierten Zielsetzung scheint mir ein Erkenntnisgewinn auf drei Ebenen möglich zu sein: Indem die zentrale Problematik des historischen Romans, der Hiatus zwischen Fiktion und Historie, als ein notwendiges Paradoxon verstanden wird, dem mit historisch variablen Operationen begegnet wird, ist es möglich, Gepperts starre Opposition >üblicher< vs. »anderen historischer Roman zu differenzieren. Was Gepperts >anderen< Typus auszeichnet, die Akzentuierung des Hiatus, ist grundsätzlich in jedem historischen Roman zu finden; es ist eher eine Frage der Lektürewege, diese Manifestation des grundlegenden Paradoxons zu finden. Diese Wege zu beschreiben, ist eine Aufgabe der jeweiligen Textpoetik. Indem sie das komplexe Verhältnis zwischen der spezifischen Verarbeitung der Opposition von Fiktion und Historie und der ihr zugrundeliegenden Paradoxie erfaßt, ortet sie die Position des jeweiligen Textes im Spielraum des historischen Romans. Das Ergebnis dieses Prozesses wird am Schluß jeweils in einer Variante der Metapher des Geschichtengenerators formuliert: In ihren unterschiedlichen Ausprägungen faßt sie die jeweiligen Formen der Verarbeitung von Geschichte in Geschichten zusammen. W e n n Geschichte in Geschichten überfuhrt wird, stellt sich auch die Frage: wessen Geschichten. Scott führte den von Georg Lukács so benannten »mittleren Helden< ein, der als Beobachter die geschichtlichen Ereignisse erlebt; der Roman ist so auch die Geschichte seiner Entwicklung. Fleishmans bereits zitierter Satz, die typische Handlungsstruktur des historischen Romans sei »an individual's career« 20 , zeigt, wie bestimmend diese Individualisierung der Geschichte für die Einschätzung der Gattung bis in die Gegenwart hinein geblieben ist. Auf dem Hintergrund der unterschiedlichen Positionen zum Konzept der Individualität in den Aufschreibesystemen 1800/1900 kann nach den Modifikationen gefragt werden, die dieser Prozeß der Individualisierung mit dem Wechsel der grundlegenden Verarbeitungsvorgänge durchläuft. Wenn der mittlere Held bei Scott

Vgl. Anmerkung 1, S. 2.

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Geschichte erlebt, so übersetzt er sie ja für den Leser; als These läßt sich damit aber formulieren, daß er zur Figur des Autors ebenso wie des Lesers wird. Als spezifische U m s e t z u n g der Selbstreflexivität wird so die U m s e t z u n g der Autorschaft in der handlungstragenden Figur des R o m a n s zu einem T h e m a , das in den späteren Ausprägungen des historischen Romans offensichtlich eine andere Form annehmen muß. In diesen beiden auf den Gegenstandsbereich des historischen Romans bezogenen Ebenen beweist sich die Effizienz des beschriebenen Lektüreprogramms. Auch hier droht, wie bei allen Umsetzungen theoretischer Reflexionen, ein Mißverhältnis zwischen d e m Anspruch der Theorie u n d den Leistungsmöglichkeiten der Praxis; doch wie erklärungskräftig die hier bestimmten Konzepte u n d T e r m i n i wirklich sind, k ö n n e n n u r die nächsten k n a p p dreihundert Seiten zeigen. W a s in ihnen angestrebt wird, ist, in Abgrenzung zur hermeneutischphänomomenologischen Autorenfixierung der Rezeptionsästhetik 2 1 ebenso wie z u m exzessiv formalistischen Konstruktivismus S.J. Schmidts, 2 2 eine E r k u n d u n g des Potentials von Texten in der Beschreibung der Grenzen ihrer Lektüren. Uber die U m s e t z u n g der Zielsetzungen auf diesen drei Ebenen hoffe ich, den historischen R o m a n in seiner Brüchigkeit u n d Vielseitigkeit etwas prägnanter erscheinen lassen zu können. D e n n zum einen sind auch die sogenannten >üblichen< historischen R o m a n e nicht per se das Interesse nicht wert, denn viele müssen nur anders gelesen werden, u m in ihnen mehr zu entdecken; z u m anderen erscheinen auch immer wieder sich deutlich als >andere< gerierende, die größte Aufmerksamkeit erhalten, w e n n auch nicht als historische Romane: M a n denke n u r an Ecos II nome della rosa u n d II pendolo di Foucault oder auch an Pynchons neuesten R o m a n Vineland. D o c h N o m e n k l a t u r e n sollten besser das Gebiet der Marketingabteilungen der Verlage sein. Aufgabe der Wissenschaft wäre es, nach den Regeln zu fragen, die zu ihnen führen.

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Vgl. die Kritik der Rezeptionsästhetik der Jaußschen Prägung aus dekonstruktivistischer Perspektive bei de Man (1982/1986). Vgl. bes. die grundsätzliche Darlegung der >empirischen Literaturwissenschaft« bei Schmidt (1980); ein Abriß der Theorie in Abgrenzung zur Diskursanalyse findet sich bei Schmidt (1988).

Scott: Die Übersetzung der Geschichte

It is from the great book of Nature, the same through a thousand editions whether of black letter or wire-wove or hot pressed, that I have venturously essayed to read a chapter to the public. Walter Scott, Waverley (1814)

Die Geschichtserzählung zwischen Leichenfledderei und Landschaftsmalerei Theoretische Äußerungen Walter Scotts zum historischen Roman finden sich in erster Linie in den Einleitungen zu seinen Waverley Novels. Zweierlei Arten sind zu unterscheiden: Der größte Teil der Einleitungen entstand erst nach der Auflösung des bis 1827 gewahrten Autoren-Inkognitos für die vollständige Ausgabe von 1829ff, dem sogenannten magnum opus. Scott berichtet hier aus der Retrospektive über die Entstehung und die Quellen des jeweils nachfolgenden Romans und gibt dabei in erster Linie Hintergrundinformationen, deren Nennung ihm sein Inkognito vorher unmöglich machte; das Hauptargument für die Verfassung dieser Einleitungen scheint denn auch der erhoffte größere Verkaufsanreiz gewesen zu sein.1 Einige andere Einleitungen, im magnum opus nach den zusätzlich verfaßten aufgeführt, entstanden jedoch gemeinsam mit den nachfolgenden Romanen und erschienen auch in den Erstausgaben. In ihnen nimmt Scott zu Fragen der zeitgenössischen Diskussion um den historischen Roman Stellung und verteidigt seine Romanpraxis. Aufgrund des Inkognitos läßt Scott hier meits fiktive Sprecher zu Wort kommen. Als wichtigste dieser Einleitungen darf wohl die dem Roman Ivanhoe (1819) vorangestellte »Dedicatory Epistle To The Rev. Dr. Dryasdust, F.A.S.« gelten. Im Folgenden geht es mir zunächst weniger darum, die v.a. von Wolff (1970:28ff) untersuchte Funktionsteilung zwischen hi-

1 Vgl. bes. Millgate (1985).

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Die Geschichtserzählung zwischen Leichenfledderei und Landschaftsmalerei

storischem Roman und Geschichtsschreibung, wie Scott sie hier entwickelt, neu aufzugreifen, als vielmehr zu zeigen, wie sich in diesem Text das Verhältnis zwischen >der Geschichte< und der neu begründeten Form der >Geschichtserzählung< darstellt, um hierin einen Ansatz zur Klärung dieses Begriffspaares zu finden. Die »Epistle« ist ein fiktiver Brief des fiktiven Autors von Ivanhoe, Laurence Templeton, an den ebenfalls fiktiven Antiquar Dr. Dryasdust. Obwohl Templeton zu Beginn jeden Vergleich seines Werkes mit den »idle novels and romances of the day« (Scott 1819/1983:13) weit von sich weist, versucht er mit seinen weiteren Ausführungen nichts anderes, als die Legitimation seines aus der englischen Geschichte schöpfenden Romans von eben diesen Produkten herzuleiten. Da ihre Behandlung der schottischen Geschichte ausfuhrlich diskutiert wird, sind sie unschwer als die vorausgegangenen Waverley Novels Scotts zu erkennen. 2 Im anfänglichen Bericht eines Gesprächs mit Dr. Dryasdust über diese Romane wird dessen Hauptargument gegen die Übertragbarkeit ihrer Verfahrensweise auf Stoffe aus der englischen Geschichte genannt: You insisted upon the advantage which the Scotsman possessed, from the very recent existence of that state of society in which his scene was to be laid. [...] All those minute circumstances belonging to private life and domestic character, all that gives verisimilitude to a narrative, and individuality to the persons introduced, ist still known and remembered in Scotland; whereas in England, civilisation has been so long complete, that our ideas of our ancestors are only to be gleaned from musty records and chronicles, the authors of which seem perversely to have conspired to suppress in their narratives all interesting details [...]. (15)

Scott bedient sich hier einer recht subtilen Ironie: Gerade einem Antiquar, also einem mit der Auswertung historischer Dokumente betrauten Forscher, wird das Argument untergeschoben, potentiell jederzeit aufzufindende Augenzeugen gewährleisteten die Glaubwürdigkeit der erzählten Geschichte eher als schriftliche Dokumente, denn über sie ließe sich die Authentizität der Darstellung unproblematischer überprüfen. Auf diese Weise ist aber auch schon das Ziel benannt, das ein den schottischen vergleichbarer englischer historischer Roman anstreben muß: die Authentizität der Sinneswahrnehmung. Die den Bericht abschließende Metapher weist auf die Dimension dieses Unterfangens hin: Templeton erinnert Dryasdust daran, daß dieser in ihrem Gespräch den schottischen Romanautor mit einem Zauberer verglich, der einen gerade auf dem Schlachtfeld Erschlagenen wieder zum Leben erweckt, während die englische Geschichte den potentiellen Autor nur mit dem »dust of antiquity« (15) beglücken könne. Einerseits werden dem Romanautor hier vom Antiquar

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Ivanhoevjix insgesamt der neunte historische Roman Scotts und der erste, dessen Handlung nicht im Schottland des 17. bzw. 18. Jahrhunderts angesiedelt war, sondern im England des 12. Jahrhunderts.

Scott: Die Übersetzung der Geschichte

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magische Kräfte zugesprochen, mit denen er Leben wiedererschafft, andererseits erscheint er jedoch als Leichenfledderer; ein Kompliment weder fur Romancier noch für Antiquar, denn der Leichnam ist ja das Objekt der Arbeit beider, die Geschichte, von der im Falle Englands sogar nur noch Staub übrig ist. Sollte diese Charakterisierung nun zutreffen, so müßte die Lebendigkeit, damit die Attraktivität und nicht zuletzt die Konsumierbarkeit der Geschichtserzählung von der Erzählung an die Geschichte herangetragen werden; erst in der Erzählung könnte die Geschichte eine Funktion im kulturellen System der Zeit gewinnen. Der Ursprung dieses Vorgangs läge aber im unergründlichen Bereich der Schwarzen Magie. Eine Erklärung durch den Verweis auf das Unerklärliche ist nun weder besonders zufriedenstellend noch vertrauenserweckend. Betrachtet man die Metapher als ein Mittel zur Charakterisierung ihres fiktiven Urhebers, Dry-as-dust, so kann das Ergebnis nicht gerade positiv ausfallen. Die figurative Ebene steht der wörtlichen hier diametral entgegen. 3 Wenn Templeton im weiteren Verlauf seiner Argumentation auf einen gothic novelist Wie Horace Walpole Bezug nimmt, um zu zeigen, daß die Kombination von historischem Material und unterhaltender Erzählung möglich ist, treibt er sich selbst in eine defensive Position. Auch andere Zeitgenossen als der »severe antiquary« könnten ihm bei einem solchen Vorbild den Vorwurf machen, that, by thus intermingling fiction with truth, I am polluting the well of history with modern interventions, and impressing upon the rising generation false ideas of the age which I describe. (17)

Allerdings ist damit nun der entscheidende Einwand gegen den historischen Roman genannt und die Basis gelegt für eine Argumentation ex negativo, in der die Charakteristiken der neuen Gattung in der Abweichung von aufgerufenen anderen Formen umso deutlicher hervortreten können. Templeton treibt die Degradierung des Authentizitätsanspruchs des historischen Romans zunächst noch weiter, indem er einräumt: It is true, that I neither can, nor do pretend, to the observation of complete accuracy, even in matters of outward costume, much less in the more important points of language and manners. (17)

Die Grenzen, die sich hier zeigen, sind zunächst einleuchtend: Dialoge in Angelsächsisch wären absurd, der Druck in historischen Schrifttypen zumindest irritierend. Templeton leitet hieraus die Schlußfolgerung ab:

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In des Literatur wird bei dieser Metapher durchgängig allein der positive Aspekt der Wiederbelebung der Geschichte herausgehoben. So auch Wolff (1970:20f).

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Die Geschichtserzählung zwischen Leichenfledderei und Landschaftsmalerei It is necessary, for exciting interest of any kind, that the subject assumed should be, as it were, translated into the manners, as well as the language, of the age we live in. (17 meine Hervorhebung)

Den Faktor, der diese Ubersetzung gewährleistet, findet Scott im »neutral ground«, the large proportion, that is, of manners and sentiments which are c o m m o n to us and to our ancestors, having been handed down unaltered from them to us, or which, arising out of the principles of our c o m m o n nature, must have existed alike in either state of society. (18)

Damit wird die Verständlichkeit der Geschichte für Templeton und damit für Scott durch das Ahistorische gewährleistet; und dies bedeutet hier nichts anderes als die Universalie des Allgemein-Menschlichen. Besonders das erste Beispiel Templetons zeigt, daß auf diese Weise das anfänglich aufgestellte Ziel der Imitation sinnlicher Wahrnehmung erreicht werden soll: Die durch ihre Orthographie so antiquiert wirkende Sprache Chaucers, argumentiert Templeton, verliere ihre Fremdheit, wenn sie von einem Freund laut vorgelesen wird. Das Signifikat erschließt sich in scheinbarer Unmittelbarkeit, indem die Materialität der Signifikanten in der Oralisierung ausgeblendet wird. Problematisch bei dieser Übersetzung der Geschichte in der Erzählung ist der Verbleib der Historizität. Nicht umsonst bereitet Erwin Wolff in seiner Analyse der »Epistle« das Argument des »neutral ground« Schwierigkeiten, denn es widerspricht seiner Grundthese, daß die Entstehung des historischen Romans, wie wir sie im W e r k Scotts beobachten können, als die funktionale U n t e r o r d n u n g des Romans unter das historistische Geschichtsverständnis u n d als Ergebnis einer Leistungsteilung zwischen historistischer Geschichtsschreibung und Roman verstanden werden kann. (Wolff 1970:30).

Wolffs Lösung, den »neutral ground« als »eine andere Metapher für das künstlich und künsderisch erweiterte Schlupfloch, das dem modernen Leser den Weg in das Land der Abenteuer erschließt,« (31) anzusehen, ist wenig überzeugend. Aufschlußreicher ist die von Templeton abschließend gebrauchte Metapher des Landschaftsmalers, die Wolff außer acht läßt. Indem Templeton den Landschaftsmaler zu einem Modell für den Autor des historischen Romans macht, überträgt er der Sinneswahrnehmung die Funktion, als Bestimmungsgrundlage für den Vorgang der Romanproduktion zu dienen. Maler und Objekt wie Autor und Geschichte stehen sich in einer Beobachtungssituation gegenüber, die durch bestimmte Regeln gekennzeichnet ist: So far the painter is b o u n d down by the rules of his art, to a precise imitation of the features of Nature; but it is not required that he should descend to copy all her more minute features, or represent with absolute exactness the very herbs, flowers, and trees,

Scott: Die Übersetzung der Geschichte

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with which the spot is decorated. These, as well as all the more minute points o f light and shadow, are attributes proper to scenery in general, natural to each situation, and subject to the artist's disposal, as his taste or pleasure may dictate. (Scott 1 8 1 9 / 1983:20)

Natur und Geschichte sind eins: in ihrer Vollständigkeit nicht übersetzbar, und gerade deshalb Objekt der Übersetzung, denn nur diese Zwangslage ist die Legitimation für die Singularität des Künstlers. 4 Das Malerauge ist, will es seiner Bezeichnung gerecht werden, in der Lage, die Trennung zu ziehen zwischen dem Essentiellen, das von der Natur kopiert werden muß, um sie als solche erkennbar werden zu lassen, und dem Natürlichen, dem puren Material, das stets vorhanden und deshalb subtrahierbar ist. Der Maler verfälscht nur dann die Natur, wenn er inkonsistente Details einführt. Das Gleiche gilt für den Romanautor, wobei Konsistenz hier negativ definiert ist. Alles, was nachweisbar zur Zeit der darzustellenden historischen Epoche nicht vorhanden war, ist mit ihrer Konsistenz nicht vereinbar: It is one thing to make use o f the language and sentiments which are common to ourselves and our forefathers, and it is another to invest them with the sentiments and dialect exclusively proper to their descendants. (20)

Die übersetzte Geschichte kann so nur ein Konstrukt sein, das jedoch in seiner Eigenart legitimiert ist. Die Metapher des Landschaftsmalers widerspricht der des leichenfleddernden Zauberers in einem entscheidenden Punkt: Objekt des einen ist die lebendige Natur, Objekt des anderen der Tod. Wenn Templeton zum Abschluß seines Briefes von zwei Fällen berichtet, bei denen historische Denkmäler von Anwohnern zerstört wurden, weil die große Zahl der Bewunderer den Alltagsablauf störte, und zugleich in einer Fußnote erzählt, daß die Postkutsche unter dem Gewicht der Pakete an die »Society of Antiquaries« zusammenbrach, so wird deutlich, wodurch die Geschichte erst zum Leichnam geworden ist: Es ist die Haltung der Antiquare, die isolierte Relikte zu toten Objekten gegenwartsfremder Studien machen. Der Romanautor braucht dann nicht zum Leichenfledderer zu werden, wenn er es versteht, die Geschichte allein als Natur zu sehen. Die Konsistenz dieser Ansicht ist die Legitimation für die Übersetzung einer Epoche in eine Verbindung von überzeitlichen Kontinua und ex negativo bestimmten historischen Details. Wenn sich damit zum Abschluß des Textes ein Widerspruch zur Interpretation der ersten Metapher auffinden läßt, so bedeutet dies allerdings nicht, daß diese Metapher ausgelöscht ist. Mit dem Bild des Geschichtserzählers als Landschaftsmalers läßt sich die Erinnerung an den Romanautor als zweiten Frankenstein nicht völlig verdrängen. So ausgeprägt die Polemik gegen den Antiquar

Vgl. Kittler ( 1 9 8 5 / 1 9 8 7 : 7 7 ) .

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Die Poetik des Pittoresken

auf der figurativen Ebene auch ist, gleichzeitig wird hier doch auch ein Element der wörtlichen Ebene verstärkt: die unleugbare Verwandtschaft des Geschichtserzählers mit diesem Antiquar. Der Autor, der dem Antiquar das Produkt seiner »antiquarian researches« (Scott 1819/1983:13) widmet, bezeugt seine Nähe; der Schatten der Leichenfledderei in der Landschaftsmalerei verweist auf dieses Geständnis. Auch der Geschichtserzähler muß auf die toten Daten des Antiquars zurückgreifen. Das Ziel, Geschichte allein als Natur zu sehen, muß Anspruch bleiben. In dieser Situation bleiben zwei Probleme offensichtlich. Zunächst stellt sich die Frage, wie sich dem Geschichtserzähler die Konsistenz erschließen soll, wenn er doch aufgrund seiner Abhängigkeit von toten Schriftstücken nicht die unmittelbare Anschauung besitzt, die Voraussetzung der Arbeit des Landschaftsmalers ist. Darüberhinaus reduziert die Metapher der Landschaftsmalerei die Geschichte ausgerechnet um ihre zeitliche Dimension: Sie wird zum Bild. Noch erzählt der Geschichtserzähler nicht, sondern beschreibt höchstens einen Gegenstand, bei dem nur die Elemente und ein relativ unbestimmtes strukturelles Merkmal benannt sind. Die Metapher verweist allerdings bereits auf eine Problemlösung: Sie liegt im Begriff des Pittoresken.

Die Poetik des Pittoresken Das Pittoreske, engl, picturesque, heißt seit 1700, wie Lobsien (1986:169) ausführt, »nichts weiter als: typisch für Gemälde; effektvoll nach der Art eines Bildes; eingestellt sein auf die Wirklichkeit hinsichtlich ihrer Bildqualitäten.« Damit ist allerdings noch keine inhaltliche Bestimmung vorgenommen; diese gibt Lobsien in Form einer Beschreibung der »syntagmatischefn] Konstitution des pittoresken Gegenstands« (169): einfache Ausgangsideen werden spielerisch dissoziiert und differenziert, bis sie jenen Punkt überschreiten, von dem an sie durch eigene, aktive Rezeptionsleistungen wiedergewonnen werden müssen. (170)

Grundfiguren dieser Dissoziierung sind nach William Gilpin, dem ersten Theoretiker des Pittoresken im ausgehenden 18. Jahrhundert, contrast und variety. Über diese Figuren werden Objekte in Kontiguitätsverhältnissen und damit in metonymischer Folge nebeneinandergestellt, ohne daß sich jedoch aus dieser Reihung unmittelbar eine Gesamtstruktur oder Bedeutung ableiten ließe; diese muß vielmehr aus einer anderen Ordnung an sie herangetragen werden. Auf diese Weise reflektiert das Pittoreske in seiner syntagmatischen Struktur den Vollzug des Bewußtseinsakts in der empiristischen Theorie des 18. Jahrhunderts: »die particular things [die konkreten, unendlich komplexen Phänomene] werden in simple ideas [die verallgemeinernden Bewußtseinsakte] zerlegt, diese werden ih-

Scott: Die Übersetzung der Geschichte

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rerseits in binäre Oppositionen geordnet, nicht aber zu complex ideas aufgestuft.« (171) Das Prädikat »pittoresk« beschreibt damit die auf Similarität g r ü n d e n d e Übertragung eines Vorgangs des W a h r n e h m u n g s b e w u ß t s e i n s ins W a h r g e n o m mene. Für den pittoresk Sehenden sind nicht-signifikative Elemente in der Landschaft nicht mehr sichtbar: Über den Bezug auf das pittoreske Strukturprinzip m a c h t jedes Element von vornherein Sinn; eine Analyse, die diese Schwelle in Richtung auf kleinere Konstituenten überschreiten will, ist im Diskurs des Pittoresken weder möglich noch brauchbar. Überträgt m a n Kittlers Analyse der Sprache im Aufschreibesystem 1800 auf die pittoreske Lndschaft, so entspricht dieses landschaftliche Einzelelement der Silbe; es ist als kleinster Bedeutungsträger ein nicht hintergehbares Minimalsignifikat.5 Es w ü r d e wohl zu weit gehen, in den von Scott in der »Epistle« aufgeführten Elementen des Objekts des Landschaftsmalers - »feudal tower«, »elevation of rock, or precipitate descent of cataract« (Scott 1819/1983:19) — bereits die Skizze einer pittoresken Landschaft erkennen zu wollen. Es ist jedoch sicherlich möglich, aus diesen Elementen eine solche zu entwickeln; u n d da die pittoreske Landschaft, wie Lobsien ausführt, »im Z u s a m m e n h a n g der englischen Tradition z u m Inbegriff von Landschaft überhaupt« (Lobsien 1986:163) wird, ist diese M ö g lichkeit im damaligen Landschaftsdiskurs auch angelegt. Auf diese Weise wird aber die in der M e t a p h e r des Landschaftsmalers bestimmte Situation modifiziert: Der Maler sieht eine Übersetzung seines eigenen Anschauungsaktes. In der Übertragung der M e t a p h e r des Landschaftsmalers erschließt sich das Pittoreske auch als Strukturprinzip der Geschichtserzählung. W e n n Kittlers Analyse zutrifft, daß die D i c h t u n g im Aufschreibesystem 1800 dadurch eine Sonderstellung e i n n i m m t , daß sie - im Gegensatz zu den anderen Künsten, auch der Malerei - kein sinnliches M e d i u m besitzen kann, d a n n stellt sich das Problem, daß der für die Erfahrung des Pittoresken in der sinnlichen Kunst der Malerei grundlegende W a h r n e h m u n g s a k t in der R o m a n p r o d u k t i o n (als Form der Dichtung) d u r c h einen anderen Vorgang ersetzt werden m u ß . Z u leisten hat dieser Vorgang »die Übersetzung anderer Künste in ein unsinnliches u n d universales M e d i u m « (Kittler 1985/1987:120). Dies kann n u r »der wunderbare Sinn [sein], der uns alle Sinne ersetzen kann« (Novalis): die Einbildungskraft. 6 Die Konsistenz des Bildes der Geschichte liegt begründet in seiner inneren Erfahrung, d e n n auf sie verweist dieses Bild. Als Thematisierung der inneren Erfahrung läßt sich die pittoreske Darstellung der Geschichte als H e r m e n e u t i k lesen, die an einem speziellen Gegenstand exemplifiziert wird.

5 Vgl. Kittler (1985/1987:48ff) Vgl. Kittler (1985/1987:120ff). Eine Übersicht über die wichtigsten Einschätzungen zur Einbildungskraft aus der Zeit der Klassik findet sich bei H o m a n n (1972:348-355).

6

28

Die Poetik des Pittoresken

Auf diese Weise löst sich aber auch das Problem der fehlenden unmittelbaren Anschauung von Geschichte auf. Denn wenn die innere die äußere Erfahrung, ersetzt, ist die sinnliche Wahrnehmung nur noch insofern von Bedeutung, als sie signifikative Gegenstände liefert, an denen die Einbildungskraft ansetzen kann, um Dichtung hervorzubringen. O b es nun ein Augenzeuge oder ein Schriftstück ist - beide besitzen dann Leben, und das heißt: unmittelbare Gegenwart, wenn in ihnen das Wirken der Einbildungskraft gesehen werden kann. Die Übersetzung der Geschichte in die Gegenwart schafft die Illusion unmittelbarer Anschauung (und imitiert die sinnliche Wahrnehmung), indem sie in der Geschichte die pittoreske Struktur entdeckt, die auch der Struktur der Einbildungskraft entspricht. Wenn die syntagmatische Konstitution des Pittoresken auf der Figur der Metonymie gründet, so löst dies auch das Problem der fehlenden zeitlichen Dimension in der Ansicht der Geschichte. Uber die metonymische Reihung wird eine spatiale Achse eröffnet, die die Möglichkeit der Illusion zeitlicher Abläufe in sich birgt und damit die Voraussetzung für die Erstellung einer Erzählung schafft. 7 In einem autobiographischen Fragment von 1809 bestimmt Scott die spezielle Form des geschichtsbezogenen Pittoresken als Realisierung eben dieser Möglichkeit. In der Retrospektive beschreibt er das Hauptinteresse seiner Wanderungen durch Schottland während seiner Jugend: My principal object in these excursions was the pleasure of seeing romantic scenery, or what afforded me at least equal pleasure, the places which had been distinguished by remarkable historical events. [...] I do not by any means infer that I was dead to the feeling of picturesque scenery; on the contrary, few delighted more in its general effect. But I was unable with the eye of a painter to dissect the various parts of the scene, to comprehend how the one bore upon the other, to estimate the effect which various features of the view had in producing its leading and general effect. [...] But show me an old castle or a field of battle, and I was home at once, filled it with combatants in their proper costume, and overwhelmed my hearers with the enthusiasm of my description.!...] I mention this to show the distinction between a sense of the picturesque in action and in scenery.8 D e m Aufzeigen der Similarität zwischen Landschaftsmaler und Geschichtserzähler folgt hier die Bestimmung ihrer Differenz. Die Anschauung der pittoresken Landschaft liefert dem Erzähler Signifikate, in denen seine Einbildungskraft gleich komplexe Zeichensysteme in Form von Erzählungen entdeckt. Der Terminus >picturesque in action< weist darauf hin, daß diese Systeme analog zum Bild der Landschaft eine pittoreske Struktur besitzen. Die Feststellung von Horst Tippkötter, Scott meine mit diesem Begriff »einerseits den Charakter, die Ei-

7 8

Vgl. Jacobson (1956/1971), insbes. S. 90ff. Das Fragment ist aufgeführt in der von seinem Schwiegersohn J. G. Lockhart verfaßten ersten Biographie Scotts, Memoirs of the Life of Sir Walter Scott, Bart., Edinburgh 1 8 3 7 - 1838. Zitiert nach Tippkötter (1971:156).

Scott: Die Übersetzung der Geschichte

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genart oder die Haupteigenschaft des pittoresk genannten Gegenstandes und andererseits den durch seine Betrachtung ausgelösten Erregungszustand der Einbildungskraft« (Tippkötter 1971:157), übersieht das, was beide Realisationen verbindet: ihre Struktur. Das Pittoreske in Aktion, wie ich picturesque in action in Anbetracht der hier im Gegensatz zur statischen Landschaft entfalteten Dynamik frei übersetzen möchte, ist so, präziser beschrieben, die Benennung des Diskurses, der von dieser Struktur geordnet wird. Wenn Scott nun aus diesem Diskurs die Geschichtserzählung, den historischen Romantext, herstellt, so ist eben in dieser pittoresken Struktur ein geeigneter Ansatzpunkt für die Poetik dieses Textes zu sehen. Grundlegende Elemente des picturesque in action sind zunächst entsprechend pittoreske Geschehnisse bzw. Epochen in der Geschichte. Im Vorwort zu seinem Roman The Fortunes of Nigel (1822) hat Scott diese charakterisiert. 9 Als Ansatzpunkt dient wiederum ein pittoreskes Landschaftserlebnis, analog zu dem ein pittoreskes Geschichtserlebnis bestimmt wird: [...] the most picturesque period of history is that when the ancient rough and wild manners of a barbarous age are just becoming innovated upon, and contrasted, by the illumination of increased or revived learning, and the instructions of renewed or reformed religion. T h e strong contrast produced by the opposition of ancient manners to those which are gradually subduing them, affords the light and shadows necessary to give effect to a fictitious narrative [...]. (Scott 1822/1893: XXV)

Scotts realistische Erzählkonventionen lassen die Darstellung der abstrakten »manners« in erster Linie in der Personifizierung zu. Hieraus läßt sich ableiten, daß die pittoreske Grundstruktur zunächst für die Figurenkonstellation bestimmend wird: Der Kontrast zwischen altertümlichen und modernen Sitten wird in entgegengesetzte Figurengruppierungen umgesetzt, die nach dem Prinzip der variety in den Haupt- und Nebenfiguren weiter differenziert werden. Diese Grundstruktur läßt sich in allen Romanen Scotts finden und ist von der Kritik seit Coleridge immer wieder herausgestellt und in unterschiedlichster Weise interpretiert worden. 1 0 Darüberhinaus kann sich die pittoreske Struktur im Figurenbereich in zwei Richtungen manifestieren: zum einen im Erscheinungsbild der Einzelfiguren, zum anderen in der Präsentation von Figurenkonfigurationen in Tableaus. Horst Tippkötter hat Scotts Umsetzung beider Formen am Beispiel der Romane Old Mortality (1817) und Quentin Durward (1823) ausführlich analysiert. 11 Wichtig ist dabei vor allem, daß Scott hier stets das picturesque in action aus dem picturesque in scenery ableitet, wie er es theoretisch in den zitierten Texten vorexerziert

9 Vgl. die ausführliche Darstellung bei Tippkötter ( 1971:173ff). 10 Vgl. den Überblick bei Gamerschlag (1978). " Vgl. Tippkötter (1971:178ff)

30

Die Poetik des Pittoresken

hat. Das äußere Erscheinungsbild einer Figur erzählt von ihrem Charakter als Basis ihrer Handlungsmöglichkeiten, aus den Kontrasten und Variationen in einem Tableau erschließt sich die Struktur der Handlung. Wenn die Betrachtung einer pittoresken Landschaft zum Paradigma von Beschreibung wird, ist jedes auf diese Weise gespeicherte Element bereits ein Minimalsignifikat, das entsprechend der Relation von scenery und action die syntagmatische Konstitution der Geschichtserzählung ermöglicht. 12 Die Frage ist nun, welche Merkmale eine Figur im Pittoresken in Aktion besitzen muß, um Träger der Handlung werden zu können. Wenn in der pittoresken Landschaft jedes Element Minimalsignifikat ist, dann ist der Akt der Sinngebung immer schon vollzogen. Die Anwesenheit des Betrachters stellt die stille Voraussetzung der Existenz des Pittoresken dar. Ubertragen auf das Pittoreske in Aktion bedeutet dies, daß die Voraussetzung der Erzählung die Anwesenheit des Geschichte vergegenwärtigenden Ichs ist. Der Akt der Vergegenwärtigung schließt die Imitation sinnlicher Wahrnehmung in der Einbildungskraft ein; dieses Ich wird also die Form einer die Geschichte unmittelbar erlebenden Figur annehmen. Georg Lukács hat diese Figur als >mittleren< oder >mittelmäßigen< Helden bezeichnet und seine Funktion damit beschrieben, daß er als »neutraler Boden« fungiert, »auf welchem die einander extrem gegenüberstehenden gesellschaftlichen Kräfte in eine menschliche Beziehung gebracht werden können.« (Lukács 1937/1955:30). Wolfgang Iser modifiziert diese Bestimmung mit rezeptionsästhetischer Absicht, wenn er die Funktion des Titelhelden von Waverley charakterisiert: Waverley muß die historischen Vorgänge von 1745 mit der Gegenwart vermitteln und erweist sich somit als eine Verkörperung des neutral ground, in dem die Umsetzung historischer Wirklichkeit für die Vorstellung des Lesers erfolgt. (Iser 1972:142)

Wenn der mittlere Held nichts anderes ist als eine Verkörperung des neutral ground, so ist das Instrument, das die Ubersetzung der Geschichte in die Gegenwart sicherstellt, nun wiederum nichts anderes als die Einbildungskraft. Der Vorgang der Geschichtsübersetzung läßt sich auf dieser Basis nun endlich präzise analysieren. Herbert Butterfields Aussage, die schottischen Highlands »throw out their history in the form of episodes that ask to be turned into a story« (Butterfield 1924:57), faßt die traditionelle Ansicht dessen zusammen, was hier das Pittores-

12

Scotts pittoreske Figurencharakterisierung war seit dem ersten Erscheinen seiner Romane Gegenstand heftiger Kritik. Von Hazlitt über Carlyle bis hin zu E.M. Forster reicht die Reihe der Kritiker, die Scott vorwarfen, daß er sich »allzu stark auf äußerliche Details konzentriere, die Erfassung innerer, seelischer Eigenschaften und Vorgänge darüber aber vernachlässige« (Gamerschlag 1978:38).

Scott: Die Übersetzung der Geschichte

31

ke in Aktion benannt ist: Die Geschichte besitzt einen objektiven Sinnzusammenhang, der durch den Autor m die Form des Romans übersetzt wird. 13 Nach der obigen Analyse kann aber >die Geschichte< im Diskurs des Pittoresken in Aktion nur deshalb als Signifikat fungieren, weil sie sich auf ein ihr vorgeordnetes allgemeines Äquivalent< bezieht, daß ihre Ubersetzbarkeit begründet: die Einbildungskraft. Als Bedingung der Möglichkeit des Pittoresken in Aktion kann diese Beziehung nicht selbst Gegenstand des Diskurses werden. Im Diskurs wird als selbstverständlich vorausgesetzt und damit verschwiegen, daß die Einbildungskraft geschichtliche Vorgänge vergegenwärtigt und auf diese Weise das Geschichtliche, die historische Materialität, subtrahiert wird. Erst aus diesem Ausschalten der Signifikanten resultiert der >objektive< Sinnzusammenhang. >Die Geschichte< ist das Produkt der Ubersetzung geschichtlicher Vorgänge in die Sprache des Pittoresken in Aktion. »Übersetzern bedeutet so nichts anderes als: Signifikate zu transportieren. U m das Signifikat übersetzbar zu machen, muß es den Buchstaben oder Signifikanten zunächst entnommen und dann übergeordnet werden: Eben dies ist die Arbeit der Einbildungskraft. 14 Nachdem die Signifikanten subtrahierbar geworden sind, vollzieht sich der Transport als Austausch eines Signifikantensystems durch ein anderes. Scotts in der »Epistle« beschriebene Übersetzung der Geschichte in die Gegenwart erscheint auf diesem Hintergrund als ein zweistufiges Unterfangen. Die erste Stufe besteht darin, das Objekt der Übersetzung als das zentrale Signifikat des Pittoresken in Aktion zu identifizieren. In der zweiten Stufe transportiert der Autor dieses Signifikat in den Romantext, um auf diese Weise einen historischen Romantext mit pittoresker Struktur entstehen zu lassen, in dem geschichtliche Vorgänge für die Gegenwart - und das heißt ja die Leserschaft um 1814 - konsumerabel ist. Die puren historischen Daten sind das Material, aus dem sich der Gegenstand der Darstellung rekrutiert, die Signifikanten, die die Übersetzung der Einbildungskraft in >die Geschichte< gewährleisten und gleichzeitig in diesem Akt ausgeblendet werden - denn das Signifikat >die Geschichte< ist ja nur dann Gegenwart, wenn die Historizität seiner faktischen Basis verschwindet. Was Scott mit bzw. in den Metaphern des neutral ground und der Landschaftsmalerei beschreibt, ist eben dieser Akt. Scott hat diese Geburt des historischen Romans aus der Einbildungskraft im General Preface zu den Waverley Novels ( 1829) in Form eines autobiographischen Erlebnisses geschildert:

13

Vgl. auch die Darstellung des Verständnisses von Geschichte als Dichterin bei Schabert (1981:24ff). - Die Verwendung der Metapher »Translation« bei Scott untersucht Neuhaus (1990). Seine auf das Thema der Illusionskonstitution ausgerichtete Darstellung bestätigt dabei weitgehend die vorliegende Analyse. Vgl. Kittler (1985/1987:76).

32

Die Funktion der

Anmerkungen

Familiar acquaintance with the specious miracles of fiction brought with it some degree of satiety, and I began, by degrees, to seek in histories, memoirs, voyages and travels, and the like, events nearly as wonderful as those which were the work of imagination, with the additional advantage that they were at least in a great measure true. (Scott 1829/1986:350 - meine Hervorhebung)

Diese Aussage ruft das Problem der Authentizität des im Roman Erzählten wieder auf. Die Authentizität ist mit der Historizität der erzählten Ereignisse dadurch verbunden, daß beide als Funktionen der faktischen Basis dieser Ereignisse erscheinen, die im pittoresken Diskurs als Signifikanten fungieren. Der Anspruch auf Wahrhaftigkeit wäre damit der Ubersetzung des Historischen in den Diskurs des Pittoresken in Aktion diametral entgegengesetzt. Dadurch, daß das Pittoreske in Aktion im Transport in den Romantext mit dem Diskurs der Romanproduktion verknüpft wird, tritt das Paradox in aller Deutlichkeit hervor. In der paradigmatischen Situation der Betrachtung einer pittoresken Landschaft ist die Wahrheit der Beschreibung unmittelbar zu überprüfen; bei der Ausweitung zum Pittoresken in Aktion ist der Anspruch zumindest dann offensichtlich, wenn, wie in der »Epistle« von Dr. Dryasdust gefordert, in der Gesamtheit von Landschaft und Kultur das Vergangene noch so gegenwärtig ist, daß es sich der Betrachter direkt erschließen kann. Die Grenzen zwischen sinnlicher Wahrnehmung und ihrer Illusion sind verwischt. Der Roman ist nun aber die schriftliche Fixierung eines »work of imagination«, bei dem die Illusion gleich in einer Doppelung vorliegt: Die Illusion der sinnlichen Wahrnehmung einer imaginären Welt wird präsentiert durch einen illusionären Erzähler. Uberprüfung durch unmittelbare Anschauung ist in dieser Lesesituation nicht mehr möglich. Die Anschauung m u ß über den Verweis auf die Quellen der Darstellung simuliert werden. In den Waverley Novels geschieht dies durch einen umfangreichen Anmerkungsapparat.

Die Funktion der Anmerkungen Die Motivation fur den Anspruch auf die historische Überprüfbarkeit der imaginativen Erzählung stellt Scott in einer weiteren Einleitung dar, dem »Preparatory Letter from the Reverend Doctor Dryasdust of York to Captain Clutterbuck [...]«, der dem Roman Peveril of the Peak (1822) vorangestellt ist. Der wohlbekannte Dr. Dryasdust berichtet hier von einem Gespräch mit dem »Author of Waverley«, bei dem er diesem den Vorwurf macht, mit seinen Romanen werde er zum Verführer: But this will lead you still accountable for misleading the young, the indolent, and the giddy, by thrusting into their hands works which, while they have so much the appearance of conveying information, as may prove perhaps a salve to their consciences for

Scott: Die Übersetzung der Geschichte

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employing their leisure in the perusal, yet leave their giddy brains contented with the crude, uncertain, and often false statements, which your novels abound with. (Scott 1822/1900: XXVI) Der fiktive Dryasdust faßt damit die schon in der »Epistle« in der Quellenmetapher erwähnte ethische Kritik am historischen R o m a n zusammen, die zu Lebzeiten Scotts gerade in puritanischen Kreisen weit verbreitet war, wobei die realen Kritiker die gefährdete G r u p p e allerdings nicht n u r in Kindern, Faulen u n d Leichtlebigen sahen. 1 5 D e r historische R o m a n verspielt den moralischen Kredit, den er dadurch erringt, daß er sich auf wahre Ereignisse bezieht u n d sich von den rein imaginativen Produkten absetzt, w e n n er die Fakten verzerrt oder gar in Lügen überführt. Der Autor rechtfertigt sich mit d e m Verweis auf die didaktische F u n k t i o n seiner Romane: I am doing a real service to the more ingenious and the more apt among them; for the love of knowledge wants but a beginning - the least spark will give fire when the train is properly prepared; and having been interested in fictitious adventures, ascribed to an historical period and characters, the reader begins next to be anxious to learn what the facts really were, and how far the novelist has justly represented them. (XXVII) M i t diesem Impetus wird, folgt m a n Ferris (1983:386), der private Diskurs des R o m a n s an den »public, non-fictional discourse of history« angeschlossen. Vollzogen werden kann dieser Anschluß n u r über den Nebentext der A n m e r k u n g e n , der damit einen Bruch mit d e m fiktionalen Diskurs innerhalb des Romantextes vollzieht. Die im Vergleich zur gesamten Literatur zu Scott relativ kleine M e n g e der Arbeiten, die sich näher mit der F u n k t i o n der A n m e r k u n g e n beschäftigt, 1 6 hat sich vor allem auf den Aspekt des aus diesem Bruch erwachsenden Paradoxons konzentriert: in der Fußnote spricht der Schriftsteller, als >Historikeractuality< und >reality< Erzähltes und Geschehenes. Der Raum zwischen Text und Fußnote wird zu scharfen

15

Vgl. die detaillierte Übersicht über die zeitgenössische Scott-Kritik bei Hillhouse (1936). Ein charakteristisches Extrem stellt ein Artikel im amerikanischen Christian Observer von 1823 dar, den Hillhouse wie folgt zusammenfaßt: »Here fiction is divided into three levels, the vicious, the indifferent, and the good, with the Waverley series in the limbo of the second. The Observer regrets that Scott's novels have been allowed in many Christian homes where novels in general are forebidden; merely trifling books are too widely read, and their bulk is altogether too great. Scott, it is admitted, has no bad intentions [...]. He has great genius and it is a pity that he should waste it in triviality. The very real evils of novel-reading are clearly shown by the fact that thorough novel-readers find the Waverley series tame, not voluptuous enough.« (Hillhouse 1936:83) 16 Vgl. bes. Demetz (1964), Sühnel (1969), Müllenbrock (1975), Geppert (1976: 82ff), Waswo (1980), Ferris (1983), Millgate (1985) und Mengel (1986:27).

34

Die Funktion der Anmerkungen Grenze zwischen zwei Welten; indem die dokumentarische Fußnote die Wahrscheinlichkeit der Fiktion zu steigern trachtet, entlarvt sie die Fiktion zugleich als Fiktion. (Demetz 1964:21)

Uber die Anmerkungen wird damit der von Geppert (1976) so benannte >Hiatus< zwischen >Fiktion< und >Historieüblichen< historischen Romans, in dessen Haupttext laut Geppert durch das ungebrochene >Hineinversetzen< in die Vergangenheit eben dieser Hiatus verdeckt wird und Fiktionalität und Faktizität verschmelzen. 17 Die einzige Ausnahme, die Geppert gelten läßt, ist Scotts Erstling Waverley. Eine Akzentuierung des Hiatus erkennt Geppert hier in der »Verschränkung eines kreativ souveränen und in seinen historischen Aussagen verläßlichen Autors einerseits mit einem teilweise privilegierten Erzähler, zum anderen mit einem zentralen, Geschichte erschließenden und seinerseits selbst historisierten Personen-Subjekt« (Geppert 1976:84). Offen bleibt, warum die Anmerkungen als Ort unmittelbarer Autorenaussagen im Falle von Waverley in der Aktzentuierung fungieren, im Falle von Ivanhoe aber nicht beachtet werden. Ungestellt bleibt auch die Frage, welche Struktur eigentlich diese Autorenaussagen besitzen. Auf dem Hintergrund der Analyse der Poetik des historischen Romantextes wird diese Frage jedoch relevant. Über ihre Beantwortung läßt sich die Beziehung zwischen Hauptund Nebentext in Scotts historischen Romanen präziser beschreiben. Die magnum-Ausgabe von Waverley etwa enthält 86 Anmerkungen, von denen ungefähr ein Drittel als reine Wort- bzw. Gegenstandserklärungen eingestuft werden können. In der mir vorliegenden Ausgabe von 1986 sind 24 Anmerkungen länger als 10 Zeilen; drei fallen in dieser Gruppe durch besondere Länge auf: die Schilderung des Todes des Colonel Gardiner (Anmerkung 76/69 Zeilen), die Diskussion des Charakters des Pretenders Charles Edward (Anm. 82/142 Z.) und die Schilderung seiner Flucht (Anm. 83/99 Z.). Alle drei Anmerkungen enthalten ausführliche Zitate aus Memoiren bzw. Biographien, die die Struktur von Erzählungen besitzen. Besonders deutlich wird dies in der Darstellung des Todes Gardiners. Den Anfang macht die Beschreibung der Vorbereitungen des Obersts auf die Schlacht am Morgen des folgenden Tages; darauf folgt eine szenische Darstellung des Kampfgeschehens, konzentriert auf die Person des Obersts und folgerichtig mit dessen T o d als Abschluß. Der Erzähler dieser Geschehnisse reflektiert zunächst bedauernd die Differenz zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit (»Events of this kind pass in less time than the description of them can be written, or than it can be read«, Scott 1829/1986:403) und bemüht sich anschließend, diese Differenz so weit wie möglich zu verringern, bis hin zur Verwendung wörtlicher Rede. Seine Bemühungen um größtmögliche Authentizität

17

Vgl. die allerdings recht knappe Interpretation von Ivanhoe (Geppert 1976: 103f).

Scott: Die Übersetzung der Geschichte

35

führen ihn aber auch dazu, daß er dieser Annäherung durch eingeschobene K o m mentare zu der Frage, wer den tödlichen Schlag ausführte und welche Waffe dabei verwendet wurde, wieder entgegenwirken muß. D i e Handlung dieser Erzählung entspricht

der kürzeren

im

Haupttext -

mit einer

entscheidenden

Abweichung: In der Erzählung innerhalb der fiktiven W e l t des Romans ist natürlich deren Protagonist anwesend, Waverley, der es nicht vermag, dem Colonel zu Hilfe zu eilen, und schließlich nur dem Sterbenden gegenüber treten kann. Dies hat zur Folge, daß die in der Quellenerzählung genannte letzte Geste des Obersts, ein W i n k mit seinem H u t als Zeichen für den Burschen, sich zurückzuziehen, ersetzt werden muß; Scott wählt das Falten der Hände »as if in devotion« ( 2 2 6 ) , das konsistent ist mit der in einer vorangehenden Anmerkung ausführlich dargestellten Gläubigkeit des Obersts. 1 8 D i e Analyse bestätigt zum einen Demetz' Charakterisierung der paradoxen Funktion der Anmerkungen. Das Zitieren der Quelle der Romanepisode belegt die Ubereinstimmungen genauso wie die Abweichungen, die Glaubwürdigkeit der Episode ebenso wie ihren fiktiven Status. Zugleich aber zeigt sie die strukturelle Gleichheit von Roman und Quelle, bis hin zu den Authentizitätsverweisen. Eine Kette wird eröffnet, die auf einen Ursprung im realen Geschehen verweist. Sobald dieses Geschehen aber zum Signifikat wird, ist es auch Element im erzählerischen Diskurs. Ist die Möglichkeit nicht mehr gegeben, das Geschehen unmittelbar zu beobachten - und dies ist ja bei jeder Entfernung, räumlich wie zeitlich, von diesem Geschehen der Fall - , bleibt nur noch der Bezug auf seine Darstellung im Diskurs. Deren Prädikat >authentisch< ist dann eine Interpretation, die ihre Legitimität aus der Glaubwürdigkeit des Darstellenden ziehen m u ß . D e r soziale Nexus der Interpretation gibt der Quelle ihre Identität. 1 9 Das Paradox der Anmerkungen ist somit komplexer als von Demetz vermutet. Indem die Fiktion ihre Glaubwürdigkeit durch Verweis auf das Faktische unter Beweis stellen will, entblößt sie nicht nur sich selbst als Fiktion, sondern dekonstruiert

auch

die kategorische

Unterscheidung

zwischen

fiktiver

und

faktischer Darstellung. I m Bemühen um Glaubwürdigkeit akzentuiert der Autor diese Unterscheidung zunächst, wenn er mit größter Penibilität bei jeder Gelegenheit entweder sich selbst als Urheber von Tatsachenerzählungen nennt oder andere Autoren namentlich auffuhrt. D e n n dem Leser wird hierdurch eine Autorität benannt, die die Wahrheit des Authentizitätsanspruchs belegen kann,

is Vgl. Anmerkung 30 (Scott 1829/1986:391). 1 9 Vgl. Waswo (1980), insbes. S. 314. Waswos Ausführungen zur Funktion der Öffentlichkeit in der Konstitution der Historie sind Teil einer umfangreichen Argumentationskette, deren Zentralthese darin besteht, daß der Grund fur die Lektüre historischer Literatur als Literatur darin liegt, daß »the relation between writer and reader presented by the text is construed in the same way as that between the hero and society presented in the text.« (324) Vgl. hierzu auch S. 38ff.

36

Die Funktion der Anmerkungen

und auf diese Weise die Identität der Quelle unterstrichen. Zugleich motiviert diese Benennung von Augenzeugen aber wiederum die erzählerische Struktur ihrer Aussagen; auf diese Weise werden sie zu Illusionen unmittelbarer sinnlicher Wahrnehmung. Der Versuch, größtmögliche Faktentreue zu erlangen, produziert Halluzinationen. Sobald eine Anmerkung so umfangreich wird, daß sie über die bloße Feststellung eines Sachverhalts hinausgeht und erzählerische Strukturen entwickelt, reflektiert sie den Prozeß, dessen Resultat sie darstellt, und wird wieder selbst potentielles Objekt von Anmerkungen. Einige der Anmerkungen, in denen der Autor sich selbst als Augenzeugen anführt, fügen noch eine Ebene zu diesem komplexen System hinzu. Ein charakteristisches Beispiel liefert die Anmerkung 60 zum Schloß Doune. Der einleitende Satz »This noble ruin is dear to my recollection, from associations which have been long and painfully broken« (399) führt zu zwei anekdotenhaften Erzählungen: Zunächst der knappen Schilderung der Hinrichtung des Schloßerbauers, anschließend der recht detaillierten Darstellung der Flucht einiger Gefangener während des Aufstands von 1745. Damit führt diese Anmerkung aber exakt das vor, was Scott in seiner anfänglich zitierten Erinnerung an seine Wanderungen durch Schottland beschrieben hat: die Konstitution des Pittoresken in Aktion aus der Landschaftsbeobachtung. Die Anmerkung wird zur Demonstration des Prozesses der Romanproduktion. So läßt sich nun als ein erstes Ergebnis der Analyse festhalten, daß über die Anmerkungen eine paradigmatische Achse im Roman eröffnet wird. Das Paradox, das durch die Eröffnung dieser Achse manifest wird, besteht darin, daß der pittoreske historische Roman innerhalb des Textes zum einen die Differenz zwischen Realität (als geschichtlichen Vorgängen) und Fiktion (als Geschichtserzählung) aufbaut, indem er neben dem geschichtserzählenden Diskurs einen (zumindest vorgeblichen) geschichtsschreibenden etabliert; zum anderen aber mit >der Geschichte< ein Signifikat schafft, das in beiden Diskursen erscheint und damit ihre Übersetzbarkeit ermöglicht. Auf struktureller Ebene manifestiert sich diese Vereinheitlichung im Prinzip des Pittoresken in Aktion, das aus aller Schreibung, die den notwendigen Umfang besitzt, eine Erzählung macht. 20 Wenn die Anmerkungen so Parallelerzählungen, »illustrations«, wie Scott sie selber nannte, 21 zu Elementen der fiktiven Welt präsentieren, kann aber ein diametraler Gegensatz zwischen Authentizitätsanspruch und Ubersetzung der Geschichte gar nicht erst zustande kommen, weil diese >Geschichte< immer schon als Minimalsignifikat, also in übersetzter Form, erscheint. Aus dem Paradox von

20

Vgl. hierzu die bereits in der Einleitung zitierten weiterfiihreden Thesen Kittlers zur Einführung »diskursiver Einheiten« (auf den Ebenen der Syntax, der Semantik und der Pragmatik) im Aufschreibesystem 1 8 0 0 (Kittler 1 9 8 5 / 1 9 8 7 : 7 8 ) . Näheres zur Pragmatik des pittoresken historischen Romans auf S. 56ff.

21 Vgl. Millgate ( 1 9 8 5 : 9 4 ) .

Scott: Die Übersetzung der Geschichte

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Fiktion und Faktum entspringt die Demonstration der Produktion von Erzählungen aus Erzählungen. Nur der Konsens, daß einer Erzählung das Prädikat >fiktivauthentisch< zusteht, setzt der Kette ein Ende. Dieses Ergebnis trifft nicht nur auf die Anmerkungen in Waverley zu. Im Falle von Quentin Durward (1823) bezog Scott das Material für seine Erzählungen nicht aus der jüngeren schottischen Geschichte, sondern aus dem französischen Mittelalter. Der Moment der pittoresken Betrachtung mußte sich nun in der Einbildungskraft abspielen; Scott tat sich hier recht schwer, da sein Quellenmaterial so unzulänglich war, daß er beispielsweise große Probleme hatte, eine Beschreibung des Schlosses von Ludwig XI. in Plessis-les-Tours zu entdecken. 22 An Stelle der Augenzeugenerzählungen finden sich so häufiger Erläuterungen durch längere Zitate aus dem Quellenmaterial, insbesondere den Memoiren von Philippe de Comines; der Charakter der Parallelerzählung ist jedoch nicht minder ausgeprägt. 23 Im Gegensatz zu Waverley finden sich hier aber drei Anmerkungen, in denen signifikante Abweichungen von den historischen Quellen eingestanden werden. 24 In allen drei Anmerkungen wird die historisch belegte Version der Geschehnisse präsentiert; die längere Anmerkung zur Ermordung des Bischofs von Lüttich schließt mit einem Kommentar zur Differenz zwischen Fiktion und Historie: Such is the actual narrative of a tragedy which struck with horror the people of the time. The murder of the Bishop has been fifteen years antedated in the text, for reasons which the reader of romances will easily appreciate. (349f - meine Hervorhebung)

An dieser Stelle ist exakt die Situation eingetreten, die der Dialog zwischen Dryasdust und dem »Author of Waverley« beschreibt: Der Roman begeht eine Geschichtsfälschung, klärt diese aber durch eine Anmerkung auf, die die historische Wahrheit anführt. Scotts Kommentar zeigt, daß sich das Problem allerdings so einfach nicht aus der Welt schaffen läßt. Schließlich kann man hier eine Verzerrung des Vorgangs der Ubersetzung erkennen: In der Konstitution des Signifikats der fiktiven Erzählung ist der Einfluß der Einbildungskraft so groß geworden, daß eine Differenz zum Signifikat der anerkannterweise authentischen

22

23

24

Vgl. die Einführung von Andrew Laing zur Border Edition von Quentin Durward (Scott 1823/1894:X). Vgl. etwa die Anmerkung VII/Vol. II, die am Tode des Astrologen Ludwigs XI., Galeotti, ansetzt, dann eingesteht, daß ein Ausspruch Galeottis im Roman nicht historisch ist und anschließend gleich zwei Anekdoten um diesen Ausspruch präsentiert, von denen die erste von Tacitus stammt, die zweite auf keine Quelle zurückgeführt wird, aber Ludwig XI. mit einem nicht näher benannten Astrologen zeigt. Den Abschluß bilden zwei Erzählungen zum Aberglauben Ludwigs. Es handelt sich um die längere »Note I., p.79 - Murder of the Bishop of Liege« (Scott 1823/1894:11/349) und zwei kürzere Anmerkungen zur Heirat und zum Tode William de la Mareks (11/313 bzw. II/ 343f).

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Der Held als Autor der romance

Erzählung unübersehbar wird. Das Signifikat scheint nicht einfach von einem Diskurs in den anderen transportiert, sondern offensichtlich verändert zu werden. Scott appelliert an den reader of romances, um diese Veränderung zu rechtfertigen. Damit stellt sich die Frage nach der konkreten Ausführung der syntagmatischen Dimension des Romans, dem, was aus dem Diskurs des Pittoresken in Aktion den historischen Roman werden läßt. Scott benutzt hierfür nicht nur die reichlich unhistorische Gattungsbezeichnung romance, sondern verbindet mit dieser Gattung auch ein Leserverhalten, das historische Genauigkeit offensichtlich anderen Werten unterordnet.

Der Held als Autor der romance Der Begriff romance Scotts Verwendung der Gattungsbezeichnung romance zum Verweis auf die Struktur des historischen Romans ist alles andere als unproblematisch. Schon zu Lebzeiten Scotts unterschied die Mehrzahl der Kritiker die späteren, zumeist im Mittelalter angesiedelten Romane streng von den ersten, im Schottland des 17. und 18. Jahrhunderts spielenden Werken, die eindeutig positiver bewertet wurden; diese Einschätzung stand allerdings im Gegensatz zur deutlich größeren Popularität der späteren Romane. 2 5 Spätestens seit der viktorianischen Zeit läßt sich eine unterschiedliche Benennung für die beiden Gruppen feststellen: Während die ersteren als romances bezeichnet wurden, galten letztere als scotch novels.26 In der weiteren Entwicklung der Scott-Rezeption hat sich das kritische Urteil immer mehr verfestigt; bis in die Gegenwart hinein werden v.a. im angelsächsischen Raum die scotch novels als Scotts bleibender Beitrag zur Literaturgeschichte angesehen, während die romances abschätzig als Unterhaltungsliteratur eingestuft werden, deren Wirkung auf die Periode ihres Erscheinens beschränkt war. 2 7 Auf den ersten Blick scheint sich ein Argument für diese Begriffsdifferenzierung im Untertitel des ersten im Mittelalter spielenden Roman Scotts zu finden: Ivanhoe wird hier seit der Erstausgabe von 1819 als »A Romance« bezeichnet. Verschiedene Teilsammlungen erschienen allerdings andererseits noch zu Leb-

25 Vgl. Hillhouse (1936) u n d Gamerschlag (1978:26ff). Vgl. Gamerschlag (1978:51f). 27 Charakteristische Urteile aus dem angelsächsischen Raum finden sich etwa bei Cockshut (1969:7), der außerhalb der scotch novels »sensible, superficial stuff« sieht, »much [that] was exciting at the time it was written« u n d »some [that] is downright sensational and trashy«, oder auch bei Mayhead (1968:8), der kühl feststellt: »Reconstructions of English and other non-Scottish historical periods, though some may be enjoyable to the specialist, are hardly to be counted a m o n g his [Scott's] signifi-

Scott: Die Übersetzung der Geschichte

39

z e i t e n S c o t t s u n t e r T i t e l n w i e » N o v e l s a n d Tales« ( 1 8 2 0 f f ) , » H i s t o r i c a l R o m a n ces« ( 1 8 2 2 f f ) , » N o v e l s a n d R o m a n c e s « ( 1 8 2 4 f f ) u n d »Tales a n d ( 1 8 2 7 f f ) , bis h i n z u r v o l l s t ä n d i g e n A u s g a b e , d e m

magnum

Romances«

opus, d a s v o n 1 8 2 9

bis 1 8 3 2 u n t e r d e m T i t e l » W a v e r l e y N o v e l s « e r s c h i e n . 2 8 D a m i t liegt n u n allerd i n g s k e i n e klare B e g r i f f s d i f f e r e n z i e r u n g v o r , s o n d e r n e h e r e i n e B e g r i f f s v e r w i r rung, die v e r m u t e n läßt, d a ß eine Differenzierung entweder nicht möglich oder nicht beabsichtigt war. Romance

ist n u n a l l e r d i n g s ein Begriff, d e r in d e r e n g l i s c h e n L i t e r a t u r k r i t i k

d e s 18. J a h r h u n d e r s a u s g i e b i g d i s k u t i e r t w o r d e n ist; 2 9 S c o t t k n ü p f t h i e r a n , w e n n er i n e i n e m fiiir d i e Encyclopaedia

Britannica

v e r f a ß t e n »Essay o n

Romance«

(1822) eine D e f i n i t i o n beider Begriffe zu geben versucht A composition may be a legitimate romance, yet neither refer to love nor chivalry - to war nor to the middle ages. T h e »wild adventures« are almost the only absolutely essential ingredient in Johnsons's definition. W e would be rather inclined to describe a Romance as »a fictitious narrative in prose or verse; the interest of which turns upon marvellous and u n c o m m o n incidents;« being thus opposed to the kindred term Novel, which Johnson has described as » a fictitious narrative, differing from the Romance, because the events are accommodated to the ordinary train of h u m a n events, and the mod e m state of society.« (Scott 1822/1837:265). D i e s e D e f i n i t i o n e n l e g e n d e n S c h l u ß n a h e , d a ß in d e n romances

ein >freierer
Freiheit< i n d e r V e r a r b e i t u n g d e r >authentischen< E r z ä h l u n g e n u n d d i e W a h l d e s h i s t o r i s c h e n Z e i t r a u m s l a u f e n a b e r keinesfalls p a r a l l e l ; 3 0 d a r ü b e r h i n a u s

cant productions. T h e y will therefore not be reperesented in the extracts which follow this Introduction.« Relativ wenige Arbeiten im englischsprachigen Raum sind überhaupt u m nicht unmittelbar wertende Interpretationen der romances bemüht; hervorzuheben sind hier besonders D u n c a n (1955), H a r t (1966), Fleishman (1971) u n d Sroka (1979). Vgl. hierzu auch Gamerschlag (1978:12Iff). Im deutschsprachigen Raum findet sich ein ausführlicheres Plädoyer für die strikte Unterscheidung der beiden R o m a n g r u p p e n bei Müllenbrock (1980:33ff). Müllenbrock argumentiert hier, den Romangestalten fehle »die Verankerung in der spezifischen gesellschaftlichen Wirklichkeit des historischen Zeitraums«; als Folge überwiege z.B. in Ivanhoe »eindeutig die Tendenz, das Theatralisch-Romanzenhafte als das Geschichtliche auszugeben.« (35/36) Vgl. hierzu bes. S. 56ff. 28 Vgl. Gamerschlag (1978:5). 29 Besonders hervorgetan haben sich hier H e n r y Fielding u n d Dr. Johnson. Fielding bestimmt die comic romance in Abgrenzung zur serious romance im »Preface« zu Joseph Andrews (1742); Dr. Johnson befaßt sich in seinen Artikeln für die Wochenschrift The Rambler (1750) mit der comic u n d der heroic romance. Scott greift in seiner Bestimm u n g von novel u n d romance auf Überlegungen Johnsons in der Quarterly Review zurück. Vgl. hierzu V o ß k a m p (1973:178ff). 30

Vgl. etwa die fiktive Landung des Pretenders Charles Edward in d e m eindeutig den scotch novels zuzurechnenden R o m a n Redgauntlet.

40

Der Held ab Autor der romance

hat Scott selbst seine Romane trotz des Titels der Gesamtausgabe generell als romances bezeichnet. 31 Sroka (1979:659) leitet hieraus die These ab: »Scott acknowledged and was himself a practitioner of a mixed form of fiction«; diese zeichne sich dadurch aus, daß tradierte Darstellungsformen in bestimmter Weise verändert würden. So würde die »romance from a form which treated the >marvellous and uncommom to one which became more realistic in presenting >the ordinary train of human eventsdie Wahrheit* zu entscheiden. Bereits im Vorfeld der Verhandlung bestärkt Quentin seine Loyalität gegenüber dem König: »I have been threatened with foul play in the execution of the King's commission,« answered Quentin; »but I have had the good fortune to elude it - whether his Majesty be innocent or guilty in the matter, I leave to God and his own conscience. He fed me when I was a-hungered - received me when I was a wandering stranger. I will never load him in his adversity with accusations which may indeed be unjust, since I heard them only from the vilest mouths.« (11/249)

Der mittlere Held ist hier an einem entscheidenden Schritt in seiner Entwicklung angekommen. War es zu Beginn ein abstrakter, seiner Gegenwart und sozialen Umgebung inadäquater Ehrbegriff, der Quentin leitete, so erreicht er mit diesem Verzicht auf eine in dieser Situation vernichtende Kritik am König eine Haltung, die Loyalität mit Einsicht in politische Notwendigkeit verbindet und sich damit des Konsenses seiner Umgebung versichern kann. Von seinem Kommandanten befragt, traut sich Quentin darüber hinaus auch noch zu, die Gräfin Isabelle zu beeinflussen: [...] I doubt not that I can persuade her to be as silent as I shall unquestionably myself remain [...]. (11/252)

Spätestens hier hat die Realpolitik über den anachronistischen Ehrbegriff gesiegt. Wenn Quentins Entschluß, selbst zu schweigen, noch mit der von ihm so hoch

Scott: Die Übersetzung der Geschichte

55

angesetzten Ritterlichkeit vereinbar ist, weil die Loyalität gegenüber dem eigenen Herrn höher einzuschätzen ist als die Rache fur ergangenes Unrecht, so kann die Überzeugung Isabeiles nicht aus derselben Loyalität motiviert sein, denn sie steht in keinem Abhängigkeitsverhältnis zu Ludwig und ist eher noch mehr als Durward ein Spielball seiner Ränke gewesen. Ihr Schweigen kann nur dadurch erreicht werden, daß die politischen über die privaten Motive dominant gesetzt werden: King Louis deserves nothing better at your hand, of all others, than to be proclaimed the wily and insidious politician which he really is. But to tax him as the encourager of your flight - still more as the author of a plan to throw you into the hands of De la Marek - will at this moment produce perhaps the King's death or dethronement; and at all events, the most bloody war between France and Burgundy which the two countries have ever been engaged in. (256)

Von der anfänglichen Naivität scheint nicht viel übrig geblieben zu sein. Wollte Quentin zu Beginn seiner quest noch mit seinem Fürsten an der Spitze in die Schlacht reiten, so ist jetzt die Friedensbewahrung sein Ziel. Durward scheint zu einem in seiner Gesellschaft akzeptierten und damit erfolgreichen Autor geworden zu sein, weil er seine Erzählung den Erwartungen dieser Gesellschaft angepaßt hat. Allerdings erringt Durward das Prädikat >authentisch< nur, weil er bewußt bestimmte Elemente in seiner Erzählung unterdrückt. Seine Übersetzung des vergangenen Geschehens in den Diskurs der Realpolitik ist damit offensichtlich manipuliert: U m ein bestimmtes Signifikat konstruieren zu können, wird Quentins Autorenanteil (und damit auch seine private Erzählung) subtrahiert. Pittoreske oder romanzenhafte Aspekte sind auf dieser Ebene ausgeblendet, und es geht in erster Linie um eine Machtfrage: Indem er sich bewußt zum funktionierenden Element in Ludwigs Erzählung reduziert, findet Quentin die Akzeptanz, die Voraussetzung dafür ist, daß seine private Erzählung überhaupt die Möglichkeit eines positiven Ausgangs erhält. Doch bevor es dazu kommt, findet die Aussöhnung zwischen Ludwig und Karl statt. Quentins und Isabelles Zeugenaussagen bereiten diese Aussöhnung allerdings nur vor; entscheidend wird ein brutaler Spaß: Gerade in dem Moment, da die Augenzeugen fur Ludwig ausgesagt haben, sogar Crèvecoeur für den König spricht und Karl einen seiner Tobsuchtsanfälle zu bekommen scheint, wird ein Herold von De la Marek gemeldet. Karl und Ludwig entlarven ihn gemeinsam als einen Betrüger, der zwar von De la Marek kommt, aber kein Herold ist, und lassen ihn von Hunden aus dem Palast jagen. Als Folie zu Ludwig und Quentin demonstriert der Fall des falschen Herolds das fatale Scheitern eines Autors: Seinem Anspruch auf Authentizität wird die Anerkennung verweigert, ja, er muß für seine damit festgelegte Lüge mit dem Leben bezahlen. Für Karl und Ludwig ist sein Auftritt ein Surrogat für den Streitpunkt, das geeignet ist, einen Konsens zwischen beiden herbeizuführen, ohne daß einer von ihnen sein Gesicht zu verlieren brauchte.

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Der Roman als Geschichtengenerator

Der Abschluß der Handlung um den mittleren Helden wird schließlich möglich durch eine Bedingung der Versöhnung zwischen den Fürsten: eine Strafexpedition gegen De la Marek in Lüttich. Isabelle wird nach ihrer erneuten Weigerung, eine ihr aufgezwungene Ehe einzugehen, als Preis für denjenigen ausgesetzt, der De la Marek tötet. Nach etlichen Komplikationen und geheimen Botschaften, die es Quentin erst ermöglichen, De la Marek überhaupt zu finden, kommt es zum Zweikampf zwischen den beiden. Quentin muß ihn jedoch mittendrin abbrechen, weil die Tochter des Lütticher Bürgermeisters, die ihm bei der Flucht aus der Stadt half, nun ihn um Hilfe ruft. Dennoch kommt es am Schluß zum obligatorischen happy ending, da Durwards Onkel Le Balafré De la Marek erschlägt und den Preis an seinen Neffen abtritt. Die satirische Uberzeichnung der Ritterlichkeit in dieser Szene steht der Darstellung des pragmatisch handelnden mittleren Helden im Vorfeld seiner Aussage diametral entgegen. Quentin verirrt sich in den Ansprüchen, die die Rolle des romanzenhaften Ritters an ihn stellt, und scheitert als Autor seiner eigenen Romanze. Nur durch den Zufall wird er doch noch zum Erfolg geführt. Das heißt aber: es sind die Regeln des Systems, das den Ablauf des Gesamttextes als romance steuert, auf das hier verwiesen wird. Quentin muß es gelingen, seine private Erzählung an die öffentliche anzuschließen, weil die Regeln der romance die Struktur des gesamten Handlungsablaufes bestimmen. Die Schlußszene relativiert damit Quentins Entwicklungsprozeß: In seinem Erfolg trotz Scheiterns als Autor manifestiert sich sein Status als Objekt einer in ihrem Ablauf prädeterminierten Erzählung. Wenn der mittlere Held aber als Metapher für den Romanautor verstanden werden kann, so ist seine Systemabhängigkeit die figurative Darstellung des in ein Diskurssystem eingeschriebenen Autors.

Der Roman als Geschichtengenerator Die vergleichende Untersuchung der syntagmatischen Ebene einer scotch novel und einer romance hat zwei unterschiedliche Formen der Autoreflexivität zutage gefördert. Während in Waverley die Reflexion auf den Produktionsprozeß der Erzählung abzielt, ist ihr vorrangiger Gegenstand in Quentin Durward das Regelsystem, das das Ergebnis dieser Produktion in ihrer Struktur bestimmt: der Diskurs der romance als spezifische Form des Pittoresken in Aktion. Deutlichstes Zeichen dieser Verlagerung ist die Differenz in der Bedeutung des in beiden Texten auftretenden Begriffspaars romance vs. real history. In Waverley schienen die Begriffe den Kontrast: romanzenhafte Illusion vs. Wirklichkeit zu benennen; erst eine genauere Analyse konnte die Gegenstände genauer als: Handlungen mit illusionärem Ziel vs. gesellschaftlich akzeptierte Erzählung eben dieser Handlungen bestimmen. In Quentin DurwardWirá das Begriffspaar durch die Dominanz des Kontextes in seiner Bedeutung beschränkt: Romance und real history werden

Scott: Die Übersetzung der Geschichte

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so deutlich als Kategorien innerhalb einer romance präsentiert, daß sich als Referenz n u r die O p p o s i t i o n privates vs. politisches Geschehen (bzw. Erzählung) ergeben kann. Gelingt es Waverley als mittlerem Helden, z u m Schluß der H a n d lung als erfolgreicher, w e n n auch kritisch betrachtbarer Autor zu fungieren, so ist Durwards Erfolg als Autor nur durch eine bestimmte politische Situation begründet u n d wird unmittelbar nach deren Auflösung wieder in Frage gestellt. Zwar kann er sich dadurch, daß er sich in der Schlüsselsituation der Verhandlung der Intrige, also: Erzählung Ludwigs unterordnet, paradoxerweise der Bestimm u n g Ludwigs entziehen, doch er bleibt Marionette der prädeterminierten Handlungsstruktur, die sich in der fiktiven Welt des Romans als Eingriff des Z u falls manifestiert. D a m i t zeigt sich, daß die zu Beginn formulierten Anforderungen an den Handlungsträger der Romanze als pittoresker Erzählung in differenzierter Weise realisiert werden. Beiden Texten gemein ist jedoch trotz aller Differenzen, daß diese Figur in einem Entwicklungsprozeß dargestellt wird, der einen P u n k t erreicht, an dem sie vergangenes Geschehen erfolgreich vergegenwärtigt: Sie wird zumindest zeitweise akzeptierter Autor in ihrer unmittelbaren sozialen Umgebung. D a m i t tritt hier ein M o m e n t in den Vordergrund, das bereits im Zusamm e n h a n g der A n m e r k u n g e n Funktionsträger war: der Konsens der Öffentlichkeit, der über den Status des Autors entscheidet. Kriterium ist der Erfolg der Ubersetzung eines bestimmten Gegenstands in den Diskurs, der in einer bestimmten Situation die Öffentlichkeit regelt, die den Autor umgibt. Waswo (1980) hat n u n herausgestellt, daß es eben diese Akzeptanz durch die Öffentlichkeit war, die Scott erst dazu gebracht hat, die beachtliche Zahl von 2 7 R o m a n e n zu veröffentlichen. Die Identität als Autor, die der Erfolg Scott verschaffte, war jedoch durch sein Inkognito in bezeichnender Weise von seiner privaten Person getrennt. Der R o m a n a u t o r firmierte bis 1827 in fiktiven Personae wie d e m zu Beginn hervorgetretenen Laurence T e m p l e t o n oder unter der ebenfalls oben erwähnten schlichten Bezeichnung »the author of Waverley«. D a m i t war die Autorenidentität an einen bestimmten Typus von Erzählung gekoppelt, den Scott für sich in Anspruch n a h m erfunden zu haben, u n d auf diese Weise auch an den Diskurs, der diesen T y p u s kontrollierte - eben den des Pittoresken in Aktion, bzw., enger gefaßt, der romance. M i t seinem Inkognito verpflichtete Scott sein Publikum auf den Diskurs, an d e m seine Produktionen, u n d das heißt: seine Ubersetzungen zu messen waren. A u f diesem H i n t e r g r u n d erklärt sich das Problem der eingestanden Abweic h u n g von der historischen Wahrheit< in Q u e n t i n D u r w a r d . W i e Q u e n t i n bei seiner Aussage vor Karl, so manipuliert auch Scott als R o m a n a u t o r die ihm vorliegenden Erzählungen aus der Vergangenheit, u m die Struktur seiner romance optimieren zu k ö n n e n . Der Einsatz der Einbildungskraft ist eben interessegeleitet; u n d so stellt Scott in diesem Fall das Interesse an einer möglichst gut gef o r m t e n u n d damit erfolgsträchtigen romance über alles andere u n d reduziert das

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Der Roman als Geschichtengenerator

historische Datum der Ermordung des Bischofs zu einem für den geschichtlichen Gehalt entbehrlichen Signifikanten. Dem didaktischen Anspruch wird mit der aufklärenden Anmerkung Rechnung getragen, so daß der Vorwurf der Brunnenvergiftung ins Leere gehen muß, und gleichzeitig wird dem Leser der Weg gewiesen, über den er dieser Art der Ubersetzung seine Akzeptanz zukommen lassen kann: Er muß sich der Identität des reader of romances überlassen. Das Rollenangebot besagt nichts anderes, als daß der Leser eben den Bewertungsmaßstab ansetzen soll, den schon der Autor seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat: den Optimierungsgrad der Romanzenstruktur. Das wechselseitige Spiel der Identitätsvergabe von Autor und Leser geht allerdings über die sich hier eröffnende Beziehung noch hinaus. Indem der Leser seine Überlegenheit zum mittleren Helden parallel zu dessen Genese als Autor abbaut, rückt er über die Identifikation selbst in die Autorenrolle. Was die syntagmatische Ebene in die Fiktion kleidet, präsentiert die paradigmatische aber im unmittelbaren Entstehungsprozeß: das Spiel der Ubersetzung von Erzählungen in neue Erzählungen. Im Zusammenwirken von syntagmatischer und paradigmatischer Ebene wird der historische Roman Scottscher Provenienz zum Geschichtengenerator, der denjenigen, der sich seiner Mechanismen bedient, unweigerlich zum Autor macht, denn er kann gar nicht umhin, den Ubersetzungsprozeß, der ihm auf der syntagmatischen Ebene graduell näher gebracht wird, in der Bezugsetzung zu den Parallelerzählungen auszuführen. 41 Und doch läßt sich am Schluß des Produktionsprozesses dieses Generators eine Schleife entdecken, die zeigt, daß dieses Bild keineswegs erschöpfend ist. In Waverley besteht sie in der impliziten Kritik an den abschließenden Erzählungen des Helden, die auch den Konsens seines Publikums und damit den Standard des pittoresken Diskurses fragwürdig werden lassen. Waverleys Erzählungen sind pittoresk, deshalb verfälschen sie das Gewesene, und deshalb finden sie auch den Konsens des innerfiktiven Publikums. So kann die Verfälschung nicht bei der Umdatierung der Ermordung des Bischofs als Verstoß gegen die Diskursregeln abgetan werden; sie ist das zwangsläufige Ergebnis des Befolgens der Regeln.

41

Vgl. Scotts Kommentar in der magnum-Ausgabe: »I have done all that I can do to explain the nature of my materials, and the use I have made of them; nor is it probable that I shall again revise or even read these tales. I was therefore desirous rather to exceed in the portion of new and explanatory matter which is added to this edition, than that the reader should have reason to complain that the information communicated was of a general and merely nominal character. It remains to be tried whether the public (like a child to whom a watch is shown) will, after having been satiated with looking at the outside, acquire some new interest in the object when it is opened, and the internal machinery displayed to them.« (Scott 1829/1986:360 - meine Hervorhebung) Die Beziehung der Uhrenmetapher zur problematischen Funktion den Anmerkungen untersucht ausführlicher Neuhaus (1990).

Scott: Die Übersetzung der Geschichte

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Daß der Text auf diese Weise in einer Aporie mündet und so das System dekonstruiert, auf dem seine Identität basiert, ist allerdings erst das Ergebnis gegenwärtiger Lektüren. Die bald nach Waverley erwachsende Flut von historischen Romanen und der bei seinen Zeitgenossen anhaltende Erfolg Scotts zeigt, daß der Geschichtengenerator funktioniert hat. Andererseits begann die Wertschätzung Scotts schon bald nach seinem Tod zu sinken; lange scheint der Mechanismus nicht intakt geblieben zu sein. Warum? Eine Antwort läßt sich durch eine nähere Betrachtung der etwas anderen Situation in Quentin Durward finden. Im Moment, da er die Akzeptanz seines Publikums findet, schreibt sich Durward nur indirekt in den pittoresken Diskurs ein, denn das seine Erzählung kontrollierende System ist das des pragmatischen Handelns, das allerdings innerhalb einer romance erscheint, damit aber in einer spezifischen Form des Pittoresken in Aktion. Der direkte Zugang zu diesem Diskurs bleibt dem mittleren Helden verwehrt; am Schluß fungiert er erst recht als Objekt des Handlungsablaufs der romance. Und nicht nur ihm ergeht es so: Wie etwa die Umstände der Aussöhnung zwischen Karl und Ludwig zeigen, sind auch sie dem Zufall ausgeliefert, damit aber der prädeterminierten Struktur der Erzählung. In dem Moment, da sein Mechanismus Selbstzweck wird, blockiert der Generator: Indem der Produktionsprozeß der Erzählung sich ihm als abgeschlossen präsentiert, wird dem Leser die Möglichkeit genommen, überhaupt in die Autorenfunktion zu finden. Das selbstbewußte Hervortreten der Illusion als Illusion besiegelt auf diese Weise den Tod der Geschichte: Schien in Waverley die historische Erzählung noch unmittelbar aus dem Material an Erzählungen aus der Geschichte emporzuwachsen, so gibt sie sich jetzt als Überarbeitung zu erkennen. Ironischerweise läßt sich der ironisch lächelnde Autor, der stolz darauf hinweist, wie gut er sein Regelwerk beherrscht, tatsächlich von eben diesem beherrschen. Die Ubermächtigkeit der Romanzenstruktur macht sie selbst zum Schema und die Erzählungen aus der Geschichte zum austauschbaren Material. Der Landschaftsmaler ist vom Leichenfledderer überwältigt worden. So läßt sich denn nun abschließend die Differenz zwischen Waverley als scotch novel und Quentin Durward als romance noch etwas präziser bestimmen. Besitzen sie auch beide dieselbe pittoreske bzw. romanzenhafte Grundstruktur, so liegt der Unterschied doch in der Dominanz ihrer Erscheinung. Tippkötters Beobachtung der »Reduktion der figuralen Kontraste« und der »damit verbundenen Schwerpunktverlagerung auf die Handlungs- und Situationsspannung« beschreibt exakt die Folgen einer Überdimensionierung der Präsenz der Romanzenstruktur. Auf diese Weise ist aber gleichzeitig der Unterhaltungswert des Romans gestiegen, denn zum einen erleichtert die Schematisierung des Handlungsablaufs die Konsumierbarkeit des Textes, zum anderen verliert durch die Betonung des Illusionscharakters der Bezug von syntagmatischer und paradigmatischer Ebene an Bedeutung. Es sind die romances, die Scott zum Bestsellerautor machen und

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Der Roman als Geschichtengenerator

die allerdings bei der Mehrzahl der Kritiker beliebteren scotch novels in den Hintergrund drängen. 42 Doch spätestens mit der wachsenden Verwissenschaftlichung der Geschichtsauffasung im Viktorianismus geraten die bequemen Bestseller in solchem Umfang ins Kreuzfeuer der Kritik, daß sich auch der Publikumsgeschmack von ihnen abwendet. Ironischerweise ist es gerade das Merkmal, das zunächst Scotts Erfolg begründet, das ihm nun zum Vorwurf gemacht wird: die Prominenz des Pittoresken in Aktion in seiner Ausprägung als Romanze. Je genauer das historische Wissen über die von Scott als Material verwendeten Ereignisse und Epochen wird, desto mehr erscheint seine Präsentation der Geschichte als Signifikat im pittoresken Diskurs als Verfälschung. Der Authentizität der Ubersetzung wird der öffentliche Konsens entzogen. Prominente Autoren historischer Romane auf dem Höhepunkt der viktorianischen Ära wie etwa Edward Bulwer Lytton reduzieren das Anwendungsfeld der Imagination auf das Innenleben der auftretenden historischen Persönlichkeiten und bemühen sich, die Authentizität der dargestellten Ereignisse durch einen gegenüber Scott noch ausgebauten Anmerkungsapparat zu begründen. Als sich die englische Geschichtswissenschaft unter dem wachsenden Einfluß des deutschen Historismus nach 1850 auch von diesen historiographischen Ansprüchen der Belletristik immer stärker zu distanzieren beginnt, verliert die Frage der Authentizität allmählich an Bedeutung. Stevensons historische Romane aus den 80er Jahren kommen schließlich ohne Apparat aus. 43 Schon einige Zeit davor, genau 1871, zum 100. Geburtstag Scotts, hat der renommierte Kritiker Leslie Stephen in einem Essay Scotts romances als »amusing nonsense« bezeichnet, der inzwischen von der Bibliothek ins Kinderzimmer verbannt worden sei.44 Aber nicht nur in England ist Scott zu diesem Zeitpunkt längst zum Jugendbuchautor geworden. 1864 ist die erste deutsche Bearbeitung von Ivanhoe »für die Jugend< erschienen. Die umformenden Bearbeitungen wollen, wie das Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur (1979:366) charakterisiert, »durch Kürzungen des Originals auf Kosten des Faktischen den Illusionsfaktor erhöhen und die Unterhaltungsfunktion hervorheben.« Beliebtes Opfer ist, wie sich selbst noch an den zur Zeit in Deutschland erhältlichen ScottUbersetzungen zeigt,4? der Anmerkungsapparat. In einem solchen Text ist der Ubersetzungsprozeß nur noch rudimentär nachzuvollziehen. Der Reiz der erzählten Geschichte liegt in dieser Form im voyeuristischen Leseabenteuer.

«

Vgl. Hillhouse (1936). Eine genauere Darstellung der Entwicklung des englischen historischen Romans in der Nachfolge Scotts mit besonderer Beachtung der Rolle Bulwer Lyttons liefern Simmons (1971) und Müllenbrock (1979). « Vgl. Gamerschlag (1978:50). 4 5 Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Kapitels (Frühjahr 1991) sind auf dem deutschen Buchmarkt die folgenden Romane Scotts in deutscher Ubersetzung lieferbar: 43

Scott: Die Übersetzung der Geschichte

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Die Medientransposition der Übersetzung M i t d e m A u f k o m m e n neuer Medien wie etwa d e m Film im f r ü h e n 20. Jahrh u n d e r t wird d e m Vorgang der Übersetzung die Grundlage entzogen. »Ein M e d i u m ist ein M e d i u m ist ein M e d i u m « (Kittler 1985/1987:271): ein allgemeines Äquivalent, das den ungehinderten Signifikatetransport gewährleistet, ist hier nicht mehr denkbar. Die Medientransposition kann nichts anderes vollziehen, als die A b b i l d u n g der paradigmatischen u n d syntagmatischen V e r k n ü p f u n g e n zwischen den Elementen eines M e d i u m s auf ein anderes abzubilden. »Daß die Ele-

The Black Dwarf unter dem Titel »Der schwarze Zwerg« beim Ullstein Verlag, Frankfurt/Berlin (1989); The Heart of Midlothian u. d. T. »Das Herz von Midlothian« beim Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek (1987); Ivanhoe beim Arena Verlag, Würzburg (geb. Ausgabe 1983, Tb. 1986), beim Diogenes Verlag (1990) und beim Insel Verlag, Frankfurt (1984); A Legend of Montrose u.d.T. »Eine Sage von Montrose« beim Ullstein Verlag, Frankfurt/Berlin (1989); The Talisman u.d.T. »Der Talisman« beim Ullstein Verlag, Frankfurt/Berlin (1989). Von diesen Ausgaben bietet nur der in der anspruchsvollen Reihe »Rowohlt Jahrhundert« erschienene Band einen vollständigen Text mit Vorworten und Anmerkungsapparat. Die in der Reihe »Ullstein Abenteuer« erschienen Ausgaben greifen auf die deutschen Erstausgaben zurück, die wenigstens einige Anmerkungen enthalten; alle drei lieferbaren Romane sind anerkennenswerterweise mit einem Nachwort versehen, das den Leser mit Scotts Leben und seinem Typus des »historischen Romans< bekannt macht. Wieso allerdings Scott und die von ihm möglicherweise entfachte »Leselust einiger Unentwegter« gegen das »Fieber der Computer- und Videospiele« (Der Talisman, 319) ausgespielt werden muß, ist einigermaßen unbegreiflich, wenn man sich zum einen die Geschichtengeneratoren-Funktion des Scottschen Romantypus und zum anderen die reiche Auswahl an Abenteuer-Spielen vor Augen führt, in denen der Spieler ja nichts anderes werden soll als Mit-Spieler (und so yiit-Autor) in der fiktionalen Welt, die sich da als Erzählung vor ihm eröffnet. So wie einst das >sittliche< Lesen der Bibel gegen die >unsittliche< Roman-Lektüre ausgespielt wurde (vgl. Anm. 15, S. 33), so wird Scott jetzt benutzt, um den >wertvolleren< Akt des Lesens pauschal gegen die >wertlose< Konsumierung anderer Medien abzugrenzen. Alle anderen Ausgaben reduzieren den Text auf die reine Erzählung; die Ivanhoe-Ausgabe des auf Jugendbücher spezialisierten Arena Verlags ist zudem noch bearbeitet, wie schon die neu eingefügten Kapitelüberschriften zeigen. In England sind von mehreren Scott-Romanen (so z.B. Waverley, The Heart of Midlothian, Redgauntlet, Old Mortality) neuere, ausführlich kommentierte Ausgaben der Oxford University Press bzw. des Penguin Verlags erhältlich. Auch die erstmals 1906 erschienene und weiter lieferbare Ivanhoe-Ausgabe aus der weitverbreiteten »Everyman« Library« des Dent Verlags enthält zum vollständigen Text eine Einleitung des Herausgebers, eine Auswahlbibliographie und ein Glossar.

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Die Medientransposition der Übersetzung

mentenanzahlen η und m und/oder die Verknüpfungsregeln kaum je identisch sind, macht jede Transposition zur Willkür oder Handgreiflichkeit.« (271) Die Verfilmungen von Scotts Romanen sind hierfür gute Beispiele. Nachdem Ivanhoe 1913 noch zu Stummfilm tagen sowohl in Großbritannien wie in den USA verfilmt worden war, trat erst eine längere Pause ein, bis sich Hollywood wieder an den Autor Walter Scott erinnerte. 1952 beauftragte die Metro-Goldwyn-Mayer den Regisseur Richard Thorpe damit, Ivanhoe zu verfilmen; 1956 folgte dann Quentin Durward. Die Titelrolle spielte jeweils Robert Taylor. Beide Filme sind unter den Titeln Ivanhoe bzw. Liebe, Tod und Teufel in deutschen Kinos gelaufen und werden in schöner Regelmäßigkeit im Nachmittags- oder sogar, wie erst im September 1988 im Falle von Quentin Durward geschehen, im Abendprogramm des deutschen Fernsehens wiederholt. Größeres Publikumsinteresse muß also vorausgesetzt werden können. 46 Schon der deutsche Titel von Quentin Durward zeigt deutlich, daß in der Transposition in das Medium Film das Moment der zumindest angestrebten Authentizität keine Funktion mehr haben wird. Die in ihrer fatalen Neigung zur Anthropologisierung nun wirklich zeitlose, allerdings auch nicht weniger klischeehafte Formulierung Liebe, Tod und Teufel kündigt eher etwas Märchenhaftes denn etwas Historisches an. Das Erscheinungsbild des Helden bestätigt diesen Eindruck: Robert Taylor sieht als Quentin Durward, sieht man einmal von den wechselnden Rüstungen ab, exakt genauso aus wie als Ivanhoe - bis hin zum sorgsam gestutzen Bart. Die Differenz von nahezu 300 Jahren reduziert sich unter den Ansprüchen des Wiedererkennungswertes für den zahlenden Zuschauer auf einige metallene Kleidungsstücke. Die Handlung des Films weicht über weite Strecken recht deutlich von der des Romans ab, ohne jedoch die Fixpunkte der Handlung um den mittleren Helden zu verändern. Zwar wird Durward zu Beginn der Handlung von seinem Onkel, Lord Crawford, nach Burgund geschickt, um für diesen um die Hand der reichen Gräfin Isabelle anzuhalten, und kommt dann in der Verfolgung der vor dieser Heirat geflüchteten an den Hof Ludwigs, doch folgt der mittlere Teil dann recht eng der Handlung des Romans; allerdings weicht Quentin nicht in eigener Verantwortung nach dem Belauschen des Führers vom Plan des Königs ab, sondern muß sich und Isabelle im Kampf gegen De la Mareks Männer wagemutig aus der Falle retten. Der dritte Teil ist im Film gegenüber dem Roman stark verkürzt: In Lüttich rettet Quentin Isabelle aus den Händen De la Mareks, der zuvor den Bischof umgebracht hat, weil er sich weigerte, De la Marek und Isabelle zu trauen. In einem spekatakulären Showdown im Glockenturm, in dem die beiden Kontrahenten an den Glockenseilen hängend aufeinander einschlagen, tötet Quentin De la Marek. Als Ludwig bald darauf in Perenne von einem geflüchte46

Diese Angaben verdanke ich einer Recherche von Jürgen Labenski aus der Redaktion Spielfilm des ZDF.

Scott: Die Übersetzung der Geschichte

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ten Lütticher Priester als Anstifter des Mordes am Bischof bezeichnet wird, weil Quentin sich gegenüber D e la Marek in einer Finte als Gesandter Ludwigs ausgab, rettet Quentin als Zeuge den König, indem er das Resultat vorzeigt, das diese Finte schließlich erbrachte: den K o p f D e la Mareks. Z u m krönenden Abschluß erweist sich Ludwig als dankbar, indem er sich schelmenhaft geschlagen gibt, als Karl nach vergeblichem Hin- und Herverhandeln auf Durward als Ehemann für Isabelle besteht. Diese knappe Inhaltsübersicht zeigt bereits, daß der Film — wie von einem auf Bewegung aufbauenden Medium ja auch kaum anders zu erwarten - die weitaus action-trächtigere Handlung um den mittleren Helden in den Vordergrund rückt und Ludwig zur eher komisch denn dämonisch wirkenden Nebenfigur reduziert. Die größte Anlehnung an die Darstellung des Romans findet sich in einzelnen Szenen mit potentiell besonders großem Erinnerungswert fur den Leser des Romans — beispielsweise Quentins versuchter Errettung eines Gehängten und der darauffolgenden drohenden eigenen Hinrichtung oder der ja schon im Roman aus heutiger Sicht beinahe filmisch wirkenden Kriegserklärungsszene Burgunds an Frankreich. Ansonsten ist der Film bemüht, das action-Moment durch neue, entsprechend spektakuläre Szenen zu steigern - wie es am deutlichsten wohl der Showdown zeigt, der einer gewissen unfreiwilligen Komik aber gerade deswegen kaum entbehren kann — und auch die wachsende Liebe zwischen Q u e n t i n und Isabelle, die im Roman ja in der T a t eher angedeutet bleibt, durch die komplexere Motivation, längere Dialoge und vereinzelte Umarmungen und Küsse stärker in Bild und Handlung umzusetzen. Für den pittoresken Grundkonflikt des Romans, der Ablösung ritterlicher Ehrbegriffe durch die Maximen der Realpolitik, bleiben hier nur noch Erwähnungen in einzelnen Dialogen. So warnt der schottische Gesandte am burgundischen H o f Durward vor dessen Abreise zu Ludwig: Heute kämpft man nicht mehr mit Schwertern. Schießpulver bringt die Gerechtigkeit zum Schweigen. Die Entwicklung hat eine neue Situation geschaffen: grausam, berechnend, mißtrauisch, gewalttätig. Und Ludwig ist ihr Symbol. U n d Q u e n t i n sagt zu Isabelle, als ihm die Intrige Ludwigs deutlich geworden ist: Ich habe immer dem Schwert und dem Wort die Treue gehalten, ich habe an überholte Gesetze von Recht und Anstand geglaubt. Aber ich bin jetzt wieder in der Wirklichkeit - durch Pulver und Blei und eines Königs Verrat. [...] Und ich werde in aller Torheit weiter an die Dinge glauben, die in meinem bisherigen Leben wichtig waren - bis ich irgendwann ein ganz unrühmliches Grab finden werden.47

47

Abschrift nach der deutschen Synchronfassung von Quentin Durward.

64

Die Medientransposition der Übersetzung Hier zeigt Quentin schon Anklänge an eine tragische Figur. Die Tatsache,

daß seine Ritterlichkeit am Ende doch noch belohnt wird, und zwar ausgerechnet vom Symbol der Zeit, die dieser Ritterlichkeit ja den Garaus bereiten soll, ändert das Bild dann aber ganz erheblich: Die anchronistischen Werte haben gesiegt, die Romanze ist Wirklichkeit geworden. Wenn das Ende des Films den komplexen Schluß des Romans auf diese Weise nicht nur vereinfacht, sondern ja massiv umdeutet, so ist dies nur die konsequente Folge aus den oben knapp charakterisierten Merkmalen der Transposition in das andere Medium. In seiner Synthese aus beweglichem Bild, Sprache und entsprechend dramatischer, pompöser oder auch sentimentaler Musik bietet der Film die Halluzination eines unmittelbar gegenwärtigen Geschehens, eine abgeschlossene Illusion, deren Inhalt die Realisierung der Illusion feiert. Die Authentitzität des Geschehens steht überhaupt nicht zur Debatte. Der Kostümfilm gewinnt seine Identität nicht aus der Beziehung zu seinem Referenten, sondern aus seiner Struktur als Genre seines Mediums. Anmerkungsapparat und Autorenfunktion des mittleren Helden haben hier keine Funktion mehr. Mit ihnen hat sich auch der Vorgang der Ubersetzung in der Transposition des Mediums verflüchtigt.

Brecht: Die Dialektik in der Medientransposition

Es ist List nötig, d a m i t die W a h r h e i t verbreitet wird. Bertolt Brecht, F ü n f Schwierigkeiten beim Schreiben der W a h r h e i t

(1935)

Das Ende der Übersetzung? Der Prozeß der Medientransposition ist nicht auf die Produktion von Filmen auf der Basis von Literatur beschränkt. Er wird, wie Kittler (1985/1987) im zweiten Teil seines Buches ausführt, zum grundlegenden Verarbeitungsvorgang des Aufschreibesystems von 1900: dem Nachrichtennetz der Moderne. Die schwierige Position, die Bertolt Brecht in diesem System einnimmt, läßt sich aus einer Lektüre der 1939/40 entstandenen Texte des Fragments Der Messingkauf entwickeln. Der Messingkauf beginnt als Dialog zwischen Schauspielern, einem Dramaturgen, einem Bühnenarbeiter und einem Philosophen über die Funktion des Theaters; eine Gesprächsentwicklung ist jedoch nur ansatzweise ausgeführt. Essays und dialogische Bruchstücke, teils mit anderen Figuren, wechseln sich in den vier Teilen, der ersten bis vierten Nacht, ab. Präsentiert wird auf diese Weise eine zwar fragmentarische, aber u m so facettenreichere Theorie des epischen Theaters. 1

Es k a n n nicht Aufgabe der folgenden A u s f ü h r u n g e n sein, eine differenzierte Auseinandersetzung m i t den verschiedenen Entwicklungsstadien der Brechtschen Ästhetik u n d ihrer Rezeption zu liefern. I m R a h m e n dieser Arbeit geht es lediglich daru m , die G r u n d p o s i t i o n e n zur Zeit der Niederschrift des Caesar-Romans herauszuarbeiten u n d ihre Beziehung zu d e n diskursanalytischen T h e o r e m e n von Kittler ( 1 9 8 5 / 1 9 8 7 ) zu entwickeln. Eingehendere Analysen des Messingkaufs liefern v.a. K . D . Müller ( 1 9 6 7 / 1 9 7 2 : 3 3 © u n d (1972), H e c h t (1970), Mayer (1971:227ff) u n d , m i t d e m S c h w e r p u n k t der »Straßenszene« als Modell f ü r das epische T h e a t e r , Fiebach (1978); umfangreichere K o m m e n t a r e z u m Text m i t kritischen Hinweisen auf die Re-

66

Das Ende der Übersetzung:?

Grundlegend ist dabei die Opposition des »K-Typus« und des »P-Typus« in der Dramatik, die in einem essayistischen Text der zweiten Nacht eingeführt wird. »K-« leitet sich ab von »Karussell«, das als erklärende Metapher herangezogen wird. Der Karusselfahrende hat das Gefühl, von dem Mechanismus unweigerlich mitgerissen zu werden (es gibt Höhen und Tiefen), andererseits die Fiktion, selber zu dirigieren. (Brecht 1967:XVI/542).

Die beiden für den Vergleich mit dem Theater zentralen Momente sind so benannt: Es sind die Einfiihlung und die Fiktion. Uber die Einfühlung verwandelt das Drama des K-Typus den Zuschauer in einen fiktiven »König, Liebhaber, Klassenkämpfer, kurz, in was ihr wollt«,(544) um ihn nach Ende der Vorstellung wieder in die Realität des Alltags zu entlassen. Das Gegenmodell, der P-Typus, wird abgeleitet von der Metapher des Planetariums, das »die Bewegungen der Gestirne [zeigt], soweit sie uns bekannt sind.« (541) Uber die Unvollkommenheit des Bildes wird anschließend die Aufgabe des dramatischen P-Typus bestimmt: Diese ingeniöse Apparatur hat noch einen Mangel, und zwar da, wo sie zu schematisch ist: ihre vollkommenen Kreise und Ellipsen geben die wirklichen Bewegungen nur unvollkommen wieder, da diese, wie wir wissen, unregelmäßiger sind. Unsere Dramatik muß die Bewegungen der Menschen nicht als mechanische darstellen, denn wenn wir auch auf mittlere summarische Aussagen hinauswollen [...] so müssen wir doch diesen mittleren summarischen Charakter unserer Aussagen stark betonen, indem wir den Einzelfall, mit dem wir es in der Dramatik zu tun haben, als solchen bezeichnen, seine Abweichungen vom »Gesetzmäßigen« immer wieder angeben. (541)

So verzichtet der P-Typus auf jede Einfühlung und beläßt den Zuschauer in seiner Rolle. Er beobachtet eine Fiktion, in der das individuelle Geschehen als Modell für Gesetzmäßigkeiten dient. Ihre Erkenntnis »setzt ihn [..] instand, zu handeln.« (543) Die gesellschaftliche Dimension dieser Intention wird durch die anschließenden Beispiele für die beiden dramatischen Typen bestimmt. Bezeichnenderweise sind es keine literarischen: Für den P-Typus dient eine Straßenszene als Modell, für den K-Typus sind es die Reden Hitlers. Bestimmend für die »Theatralik des Faschismus« ist für Brecht, bzw. im so betitelten Dialog für die Figur des Thomas, ein Moment: die Einfühlung. Hitler als Redner

zeption finden sich bei Knopf ( 1980:448flf) und v.a. bei K.D. Müller e.a. (1985: 21 Iff). Zu weiterführenden Fragen zur Ästhetik Brechts vgl. v.a. Klotz (1957:11 Iff), Grimm (1959/1965) und (1965), Hultberg (1962), K.D. Müller ( 1967/1972:167ff), Mayer (1971), Riedel (1971), Brüggemann (1973), Claas (1977) und Thiele (1981).

Brecht: Die Dialektik in der Medientransposition

67

ist eine Einzelperson, ein Held im Drama und versucht, das Volk, besser gesagt das Publikum, sagen zu machen, was er sagt. Genauer gesagt, fühlen zu lassen, was er fühlt. Es kommt also alles darauf an, daß er selber stark fühlt. Um stark fühlen zu können, spricht der Anstreicher [Hitler] als Privatmann zu Privatmännern. [...] Ohne Zweifel hat der Anstreicher [...] ein theatralisches Mittel in der Hand, durch das er sein Publikum dazu bringen kann, ihm ziemlich blindlings zu folgen. Er veranlaßt damit jeden, seinen Standpunkt aufzugeben, um seinen, des Agierenden, Standpunkt einzunehmen, seine Interessen zu vergessen, um seine, des Agierenden Interessen zu verfolgen. (564/65).

Wenn mit dieser Kritik der faschistischen Rhetorik die Einfühlung als ein Erkenntnis verhinderndes Instrument herausgestellt wird, so bedeutet dies nichts anderes als eine Abkehr von der traditionellen Hermeneutik. Der redende Hitler übersetzt seine Botschaft: Uber Personalisierung und Emotionalisierung unterdrückt er die Materialität der Signifikanten, um seine Zuhörer in die unmittelbare Präsenz des Signifikats zu bringen. Der Zuhörer, der sich auf diesen Prozeß einläßt, der die Ubersetzung versteht und damit rück-übersetzt, ist aber laut Brecht verloren: Denn der Status des Signifikats kann im Netzwerk der Übersetzung überhaupt nicht be urteilt werden. Das Verstehen und damit: die Übersetzung ist in dieser Situation als Mittel der Verständigung untauglich geworden. Denn die Bedingung der Möglichkeit dieses Vorgangs ist nicht mehr erfüllt, wenn die Wahrheit des Signifikats, das dem zugehörigen Aufschreibesystem zugrundeliegt, nicht mehr gegeben ist. Der Ort, an dem das Aufschreibesystem 1800 seinen Orientierungspunkt gefunden hat, ist das Signifikat »Die Mutter«. 2 W e n n man aus Brechts Kritik schließt, daß »Der Führer« eben diesen Platz eingenommen hat, so bedeutet dies nicht nur, daß aus dem Aufschreibesystem 1800 im Jahre 1939 bloße Ideologie geworden ist. Die Verschiebung macht vielmehr offenbar, daß die Möglichkeit der Ideologie in der Struktur des Systems angelegt ist. Erst das Ersetzen durch ein anderes Aufschreibesystem mit anderen Verarbeitungsvorgängen kann zur Erkenntnis dieser Möglichkeit führen und damit die Grundlage für ihre Verhinderung schaffen. Denkt man von hieraus in den Kittlerschen Kategorien weiter, so läßt sich Brechts Darstellung einer Straßenszene als Modell für den dramatischen P-Typus auf diesem Hintergrund als die Präsentation einer Medientransposition deuten: Der Augenzeuge eines Verkehrsunfalls demonstriert einer Menschenansammlung, wie das Unglück passierte. [...] die Hauptsache ist, daß der Demonstrierende das Verhalten des Fahrers oder des Uberfahrenen oder beider in einer solchen Weise vormacht, daß die Umstehenden sich über den Unfall ein Urteil bilden können. (546)

2

Vgl. Kittler (1985/1987:59ff, bes. 63:» Mutter und Wahrheit werden synonym.«).

68

Das Ende der Übersetzung?

Der Augenzeuge liefert keinesfalls eine Illusion ab: »Das Ereignis hat stattgefunden, hier findet die Wiederholung statt.« (548) Vielmehr imitiert er die Handlungen bestimmter Figuren »und gestattet dadurch Schlüsse auf sie« (551), denn »seine Demonstration verfolgt praktische Zwecke, greift gesellschaftlich ein.« (548) Zwischen dem Ereignis und seiner Wiederholung kann somit aber das Verhältnis zweier Medien gesehen werden: Beide besitzen eine kaum identische Menge von Elementen, die nach jeweils unterschiedlichen Strukturen organisiert sind. Die Transposition der Elementenkette vom ersten Medium in das zweite hat das Ziel, bestimmte Regeln der Organisation zu bestimmen. Dies bedeutet, daß »die Wirklichkeit« ihren Status als Signifikat verloren hat: Sie ist nur noch eine Signifikantenkette, deren Struktur es zu beschreiben gilt. Hier liegt der Ansatzpunkt für eine Differenzierung der vorläufig umrissenen Brechtschen Form der Medientransposition von der kommerziellen Literaturverfilmung. Die Verfilmung von Quentin Durward ersetzt die Ubersetzung durch die Medientransposition, ohne diesen Vorgang für hinweisenswert zu halten: Denn die Illusion des Films, unmittelbar gegenwärtiges Geschehen vorzuführen, basiert auf der Kontinuität zwischen Signifikanten und Signifikat, die die Ubersetzung gewährleistet. So m u ß das Medium Film eben diesen Status verbergen, um diese Illusion aufrechtzuerhalten; und so muß sein Publikum, um die Illusion überhaupt erleben zu können, in diesen Pakt einwilligen und sich in einen Zustand versetzen, in dem es vorgibt, den Vorgang des Ubersetzens (des Verstehens, des Einfühlens ...) auszuführen. Was aus Brechts Perspektive als Musterbeispiel für das Errichten einer Ideologie erscheinen muß, kann auch als folgenloses Spiel betrachtet werden: Denn der tatsächliche Status der »Wirklichkeit« steht ja völlig außerhalb der abgeschlossenen Fiktion. Erst in dem Moment, da die Fiktion auf ihre Struktur hin befragt wird, gerät ihr Status als Medium, und das heißt ja: als autoreferentielle Signifikantenkette 3 ins Blickfeld. Genau dies ist aber das Ende der Illusion. Was im Falle des pseudo-übersetzenden Films gerade unterbleiben muß, um den Ablauf des illusionären Erlebnisvorgangs sicherzustellen, erscheint bei Brecht nun aber als ein Etappenziel im Rezeptionsprozeß: Die Erkenntnis der Struktur des Vorführens ist Voraussetzung für das Urteil über das Vorgeführte. Die Verankerung diese Vorgangs im Alltagsleben ist allerdings nicht unproblematisch, ist doch die Idealisierung in der Darstellung des räsonnierenden Publikums der Straßenszene offensichtlich: Sie ist ein artifizielles Modell, in dem es darum geht, bestimmte erklärungsrelevante Handlungen möglichst prägnant vorzuführen. Das Original dieses Modells kann nur im epischen Theater selber

3

Vgl. S. 6Iff.

Brecht: Die Dialektik in der

Medientransposition

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gesucht werden. 4 Der Versuch, »die Wirklichkeit« als Grundlage für die Neufundierung des Mediums Theater zu benutzen, zeigt vor allem anderen seine eigene Fragwürdigkeit: Denn diese Wirklichkeit ist ja nur in einem Modell bestimmbar, das seine Struktur aus dem Medium bezieht, das es doch gerade legitimieren soll. In dieser Situation stellt sich die Frage, woher diese Legitimation denn gewonnen werden kann, wenn der unmittelbare Bezug auf die Wirklichkeit doch offensichtlich verschlossen bleibt. An ihrer Notwendigkeit kann kein Zweifel bestehen: Ein Pluralismus prinzipiell gleichwertiger Wirklichkeitsmodelle, die nach der Stringenz ihrer jeweiligen internen Organisation beurteilt werden, ist mit der politischen Didaktik des Marxisten Brecht unvereinbar. Es geht Brecht eindeutig darum, eine Erkenntnis der »Wahrheit« und deren praktische Umsetzung zu vermitteln. Für Brecht ist der Weg dorthin, wie es das Verhältnis zwischen dem modellhaften Original der Straßenszene und dem originalen Modell des epischen Theaters schon zeigt, bestimmt durch die Anwendung der Dialektik.

Der O r t der Wahrheit Brechts Verständnis der materialistischen Dialektik ist, wie Herbert Claas in seiner Untersuchung zur politischen Ästhetik Brechts zusammenfassend dargestellt hat, stark von der Lehre des Marxisten Karl Korsch beeinflusst worden. 5 Für Korsch ist die Dialektik die »Methode der vollständigen Erfassung konkreter Situationen und Abläufe aus der Perspektive der handelnden Subjekte, die ihre Wirksamkeit in den jeweiligen historischen Prozeß einbringen.« (Claas 1977:58). Brechts spezifische Perspektive zeigt sich für Claas schon in der Wahl des Begriffs »Betrachtungsweise«: Er zielt ab »auf die praktische szenische Demonstration von geschichtlichen Vorgängen« (47). Dieser von Brecht als »Historisierung« gefaßte Akt ist von ihm in einer Reihe von theoretischen Schriften beschrieben worden. 6 So heißt es im Zweiten Nachtrag zur Theorie des »Messingkaufs« (1940):

4

5

6

Vgl. K.D. Müller e.a. (1985:220). Für Müller verweist die Idealisierung der Straßenszene auf ein prekäres Dilemma der Ästhetik Brechts: »Die Gesellschaftsordnung, in der Kunst lebenspraktisch verankert wäre, ist allererst herbeizuführen.« (221) Dieses Dilemma kann auch Fiebach (1978) nicht lösen, wenn er bemüht ist, die Straßenszene in einen Kontext mit avantgardistischen Kunstformen wie dem Happening zu stellen und hieraus ein synthetisches Modell für ein neues sozialistisches Theater zu entwickeln. Vgl. hierzu S. 102ff. Vgl. Claas (1977:45ff). Brechts Verhältnis zu Korsch ist nach der ersten ausführlichen Darstellung bei Rasch (1963) zu einem der beliebtesten Topoi der Brecht-Forschung geworden. Uber die übliche Chronologie geht v.a. K.D. Müller (1967/1972) hinaus; vgl. auch seine zusammenfassende Darstellung (K.D. Müller e.a. 1985:204ff). Vgl. die detaillierte Analyse bei K.D. Müller (1967/1972:30ff).

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Der Ort der Wahrheit Bei der Historisierung wird ein bestimmtes Gesellschaftssystem vom Standpunkt eines anderen Gesellschaftssystem aus betrachtet. Die Entwicklung der Gesellschaft ergibt die Gesichtspunkte. Wichtiger Punkt: die aristotelische Dramaturgie berücksichtigt nicht, das heißt gestattet nicht zu berücksichtigen die objektiven Widersprüche in den Prozessen. Sie müßten in subjektive (im Helden verlagerte) umgewandelt werden. (Brecht 1967:XVI/ 653)

Historisieren bedeutet demnach Kontrastieren zweier dialektisch aufeinander bezogener Prozesse mit dem Ziel der Bestimmung der ihnen innenwohnenden objektiven Widersprüche, die eine Entwicklung bewirken. »Die Geschichte ist ein Medium der Erkenntnis, nicht primär ihr Gegenstand« (K.D. Müller 1967/1972:40); vielmehr relativiert »die historische Perspektive [...] die Menschen auf die sozialen Verhältnisse; diese sind als Faktor, der das Menschsein bestimmt, das eigentlich Darzustellende.« (38) Der zeitliche Abstand zum Geschehen ist demnach ein unwichtiger Faktor; die Gegenwart kann ebenso historisiert werden wie jedes andere zeitlich festzulegende Geschehen, indem die beschriebene doppelte Perspektive 7 angewandt wird. Deren Medium ist die Verfremdung, der »Schlüsselbegriff« der ästhetischen Theorie Brechts. 8 Um den V-Effekt zu setzen, muß der Schauspieler die restlose Verwandlung in die Bühnenfigur aufgeben. Er zeigt die Figur, er zitiert den Text, er wiederholt einen wirklichen Vorgang. (Brecht 1967:XVI/655)

Das Zitieren des Textes durch den Schauspieler: über diese Formulierung aus dem Vierten Nachtrag zur Theorie des »Messingkaufi« (1940) läßt sich die Verfremdung als eine ironische Form der Medientransposition verstehen. Denn in ihrer Umsetzung auf der Bühne bedingt die doppelte Perspektive nicht nur ein Zitieren des Textes, sondern auch ein Zitieren des Zitierens. Die Transposition des Mediums Schrift in das Medium Theater beinhaltet die Transposition dieser Transposition in das Medium V-Effekt. Die Darstellung des eigentlich Darzustellenden besitzt demnach aber eine weitaus komplexere Form als diese Formulierung glauben machen möchte. Denn dieses eigentlich Darzustellende kann ja, folgt man der vorangegangenen Analyse, nicht den Status eines Signifikats annehmen, auf das von Signifikanten unmittelbar verwiesen wird: Es erschließt sich vielmehr aus dem wechselseitigen Bezug zweier Signifikanten. Dann ist es allerdings nicht mehr Signifikat, sondern

^ 8

Vgl. zu diesem Begriff v.a. Klotz (1957), bes. 65ff, und Grimm (1959/1965), bes. 24f und 63f. Vgl. Grimm (1959/1965:14). Eine ausführliche Aufarbeitung der verschiedenen Aspekte des Begriffs und ihrer Rezeption in der Literatur zu Brecht bietet Knopf (1980:378ft)

Brecht: Die Dialektik in der Medien transposition

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nur noch dessen Metapher. Damit dieser Prozeß nun aber auch nachvollziehbar wird, m u ß er in der Darstellung mit dargestellt werden: Die Metapher verweist auf sich selbst. Der gesamte Vorgang wäre allerdings für Brecht »primitiv«, endete »in einem Amüsement«, wie er es im Messingkauf den Surrealisten bei ihrer Verwendung der Verfremdungstechnik vorhält, 9 wenn ihm die didaktische, und das heißt bei Brecht: die politische Dimension fehlte. In der programmatischen antifaschistischen Schrift Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit (1935) bestimmt Brecht im Abschnitt »Die List, die Wahrheit unter vielen zu verbreiten« die politische Funktion der Dialektik: Eine Betrachtungsweise, die das Vergängliche besonders hervorhebt, ist ein gutes Mittel, die Unterdrückten zu ermutigen. Auch, daß in jedem D i n g u n d in jedem Zustand ein Widerspruch sich meldet und wächst, ist etwas, was den Siegern entgegengehalten werden m u ß . Eine solche Betrachtungsweise (wie der Dialektik, der Lehre vom Fluß der Dinge) kann bei der Untersuchung von Gegenständen eingeübt werden, welche den Herrschenden eine Zeitlang entgehen. (Brecht 1967:XVIII/237)

Der Zweck des Mittels der Dialektik besteht hiernach in der Unterstützung der Unterdrückten im Klassenkampf. Die Erkenntnis des eigentlichen Darzustellenden ist somit unvollständig ohne die Einsicht, daß die Realität des Zuschauers von eben denselben Widersprüchen bestimmt wird wie das dargestellte Gesellschaftssystem und über eingreifendes Handeln zu verändern ist. Die Historisierung ist damit aber mit einer konkreten Handlungsaufforderung verbunden. Die Plausibilität dieser Handlungsaufiforderung ist der Anspruch, der für Brecht den komplizierten Mechanismus seiner Darstellungstechnik notwendig macht. In der Uberprüfbarkeit dieser Plausibilität besteht die Differenz zwischen der marxistischen Lehre und einer Weltanschauung, wie es der Philosoph im Messingkauf seinen Zuhörern vom Theater deutlich macht: Die marxistische Lehre stellt gewisse Methoden der Anschauung auf, Kriterien. Sie k o m m t dabei zu gewissen Beurteilungen der Erscheinungen, Voraussagen und Winken für die Praxis. Sie lehrt eingreifendes Denken gegenüber der Wirklichkeit, soweit sie dem gesellschaftlichen Eingriff unterliegt. Die Lehre kritisiert die menschliche Praxis u n d läßt sich von ihr kritisieren. Die eigentlichen Weltanschauungen jedoch sind Weltbilder, vermeintliches Wissen, wie alles sich abspielt, meist gebildet nach einem Ideal der Harmonie. Für euch ist der Unterschied [...] wichtig, weil ihr eure Nachahmungen von Vorfallen beileibe nicht als Illustrationen zu etwaigen von den Marxisten aufgestellten Sätzen bilden sollt [...]. Ihr m ü ß t alles untersuchen und alles beweisen. (Brecht 1967:XVI/531)

9

Brecht (1967:XVI/612).

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Die Dialektik des Umschreibens

Es ist die stets neu zu erstellende Dialektik zwischen der »Nachahmung von Vorfällen«, dem Theater, und der Wirklichkeit, die die Wahrheit der Darstellung begründet; eine Wahrheit, die immer überprüfbar bleiben m u ß und daher nur zwischen Darstellung und Wirklichkeit greifbar ist. Denkt man nun aber an das problematische Verhältnis von epischem Theater und Straßenszene zurück, so zeigt sich, daß sich in dieser Eingrenzung der Wahrheit ein Widerspruch auftut: Denn während die Analyse der Darstellungsstruktur zu dem Ergebnis gelangt, daß das »eigentlich Darzustellende«, die gesellschaftliche Struktur als Bestimmungsgrund der Wirklichkeit, immer nur in der uneigentlichen Form der Metapher erscheinen kann, zeigt die Beschreibung der Brechtschen Didaktik, daß dieser Metapher hier das Potential gegeben wird, unmittelbar auf die Wirklichkeit und ihre Bedingungen einzuwirken. Präziser faßbar wird dieser Widerspruch, wenn man die Formen betrachtet, in denen sich die Metapher präsentiert, wenn die Dimension der Bühnenpräsentation wegfällt: in der Kontrastierung geschriebener Texte.

Die Dialektik des Umschreibens Wie Claas (1977:52ff) zeigt, hat sich Brecht in den dreißiger Jahren unter dem Einfluß des logischen Positivismus darum bemüht, das Verfahren der Kontrastierung von Texten über die Sprachanalyse näher zu bestimmen. So entwickelt er einen eigenen Fragenkatalog, der die Regeln bestimmt, nach denen Einzelsätze auf ihre gesellschaftspolitische Funktion überprüft werden können: Darstellung von Sätzen in einer neuen Enzyklopädie 1. W e m nützt der Satz? 2. W e m zu nützen gibt er vor? 3. Z u was fordert er auf? 4. Welche Praxis entspricht ihm? 5. Was für Sätze hat er zur Folge? Was für Sätze stützen ihn? 6. In welcher Lage wird er gesprochen? Von wem? (Brecht 1967:XX/174)

Brechts Fragen sind ein Analyseinstrumentarium, das auf die gesellschaftlichen Interessen, die Äußerungen zugrundeliegen, und ihre gesellschaftlichen Folgen ebenso abzielt wie auf den sprachlichen und den situativen Kontext. Wie die Überschrift zeigt, soll mittels dieses Instrumentariums eine enzyklopädische, also: systematisiertes Wissen vermittelnde Darstellung entwickelt werden. Auf die Struktur dieser Darstellung geht Brecht in einer anderen Notiz ein, indem er zwischen »auftretenden«, »politischen« und »eingreifenden« Sätzen unterscheidet: 1. Die auftretenden oder zu konstruierenden (zusammenfassenden) Sätze müssen da gefaßt werden, wo sie als ein Verhalten wirken, also nicht nur einseitig als Spiege-

Brecht: Die Dialektik in der Medientransposition

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lungen, Ausdrücke, Reflexe. 2. Die Sätze müssen aus den Köpfen auf die Tafeln. 3. Auf den Tafeln müssen sie ergänzt werden durch andere Sätze, die sie benötigen, mit denen vereint sie auftreten. Es müssen die Tangenten zu politischen Sätzen gezogen werden. Dies nennt man »das Β zum A suchen«. Aufzusuchen sind also die Strukturen von Satzkonglomeraten, Ganzheiten. Dies nennt man »das Konstruieren eines axiomatischen Feldes«. 4. Zu lernen ist: Wann greift ein Satz ein? (Brecht 1967:XX/173)

Die Antwort auf die letzte Frage gibt Brecht in einer Bestimmung des »eingreifenden Denkens«: Das eingreifende Denken. Die Dialektik als jene Einteilung, Anordnung, Betrachtungsweise der Welt, die durch Aufzeichnung ihrer umwälzenden Widersprüche das Eingreifen ermöglicht. (Brecht 1967:XX/170/171)

Ein Satz, als Umsetzung des Denkens, »greift« demnach dann »ein«, wenn ihm eine (materialistische) dialektische Struktur zugrundeliegt. Voraussetzung für die Entstehung dieser Struktur ist die Bezugsetzung von isolierten bzw. aus bestimmten Vorgängen abgeleiteten Sätzen und politischen Sätzen, was innerhalb der Gedankenwelt des reifen Brechts nichts anderes heißen kann als: marxistischen Sätzen. Erst wenn diese Tangente gezogen ist, kann der Brechtsche Fragenkatalog angewandt werden, denn nun ist die Bedingung dafür geschaffen, daß die Fragen nach der gesellschaftlichen Funktion des aufgetretenen Satzes überhaupt beantwortet werden können: Die Struktur der zunächst als Konglomerat aufgefundenen Satzmenge ist bestimmt, ein axiomatisches Feld konstruiert - damit aber die nicht hintergehbare, aber auch nicht beweisbare Basis für die weitere Analyse bereitgestellt. Brechts Text verliert allerdings da an Deutlichkeit, wo er »auftreten« und »konstruieren« bzw. »zusammenfassen« sowie »benötigen« und »vereint auftreten« zusammenfügt, werden so doch die Positionen des erkennenden Subjektes und des Erkenntnisgegenstandes verwischt. 10 Immerhin: ist dieser Erkenntnisschritt getan, können die Fragen angewandt werden. Ihre Aufgabe ist es, die Position des axiomatischen Feldes in der dialektischen Gesellschaftsentwicklung, also: im Klassenkampf zu bestimmen. Mit der Beantwortung dieser Fragen wird das Denken eingreifend: Es bezieht Stellung im Klassenkampf. Sprachliche Umsetzung ist der eingreifende, politisch aktive Satz. Ein Beispiel für die praktische Realisierung dieses Programms ist Brechts Aufsatz Uber die Wiederherstellung der Wahrheit (1934). Brecht liefert hier zwei Paralleltexte, in denen die in einzelne Sätze zergliederten Ausschnitte aus Reden von

io Vgl. Anmerkung 11, S. 75.

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Die Dialektik des Umschreibens

Göring und Hess mit einer umgeschriebenen Fassung konfrontiert werden. Das Verhältnis zwischen beiden beschreibt die Einleitung: In Zeiten, wo die Täuschung gefordert und die Irrtümer gefördert werden, bemüht sich der Denkende, alles, was er liest und hört, richtigzustellen. Was er liest und hört, spricht er leise mit, und im Sprechen stellt er es richtig. Von Satz zu Satz ersetzt er die unwahren Aussagen durch wahre. Dies übt er so lange, bis er nicht mehr anders lesen und hören kann. (Brecht 1967:XX/191)

Der authentische, aber unwahre Satz Görings: Gerade an der Darstellung der Abwehr und der Überwindung der kommunistischen Gefahr wird man die Methoden des Nationalsozialismus, die dem Kommunismus in jeder Hinsicht entgegengesetzt sind, klar erkennen. (192)

wird also kontrastiert mit seiner nicht authentischen, aber wahren Umschreibung: Gerade an der Art, wie die Abwehr und die Uberwindung der Gefahr, daß unter der Herrschaft des arbeitenden Teils der Bevölkerung die Ausnutzung des Eigentums zum Zwecke der Ausbeutung abgeschafft werden könnte, öffentlich hingestellt wird, wird man die Methoden des Nationalsozialismus, die, da sie lügnerisch sind, denen des Kommunismus völlig entgegengesetzt sind, klar erkennen können. (192 - meine Hervorhebungen)

Die Technik des Umschreibens besteht somit darin, einen aufgetretenen Satz um einen zugehörigen politischen Satz zu ergänzen, um auf diese Weise einen neue Satzform zu schaffen, die Ansatzpunkt für das eingreifende Denken, damit aber: die Bildung eingreifender Sätze sein kann. Das Nebeneinander von ursprünglich aufgetretenem und auf diese Weise erarbeitetem Satz ermöglicht die Identifizierung der einzelnen Bestandteile als Basis für die Beantwortung des Fragekatalogs, der wiederum das dialektische, eingreifende Denken in Gang zu bringen hat. Das Beispiel zeigt es: durch Einfügung der politischen Sätze Der Kommunismus besteht darin, daß unter der Herrschaft des arbeitenden Teil der Bevölkerung die Ausnutzung des Eigentums zum Zwecke der Ausbeutung abgeschafft wird; Die kommunistische Gefahr besteht darin, daß dies öffentlich hingestellt wird; Die Methoden des Nationalsozialismus sind lügnerisch

in den aufgetretenen Satz wird dieser in einer solchen Weise umgeschrieben, daß die Fragen nach seinem tatsächlichem und vorgegebenem Nutzen, nach der zugehörigen gesellschaftlichen Praxis, nach seinen Folgen und Voraussetzungen, kurz: seiner Funktion im Klassenkampf unschwer zu beantworten sind. Voraussetzung ist, daß der umgeschriebene Satz als solcher erkannt wird, daß er also mit seiner neben ihm stehenden Antithese, damit aber gegen sie gelesen wird. Erst über diesen Prozeß verliert die Spaltenüberschrift »Wiederherstellung der Wahrheit« über dem umgeschriebenen Satz den Status der bloßen Behauptung.

Brecht: Die Dialektik in der Medien transposition

75

Damit läßt sich der Widerspruch zwischen der Analyse der Brechtschen Poetik des Umschreibens als einem Programm der Medientranspositionen und dem politischen Anspruch der Brechtschen Didaktik präzise formulieren. Denn wenn sich in der Kontrastierung zweier Texte »Wahrheit« ergibt, so bedeutet dies, daß die Bezugssetzung dieser beiden Texte durch diese Benennung vollständig bestimmt ist: Es gibt keine weiteren Relationen, oder wenn es sie gibt, sind sie irrelevant. Die Wahrheit der Synthese dominiert These und Antithese eindeutig, und hier liegt die Basis für die Unmißverständlichkeit der Handlungsaufforderung zum Eingreifen. Das Signifikat würde demnach durch die Hintertür wieder eingeführt, und die Metapher wäre ein reines Instrumentarium, dessen Funktion darin bestände, den Vorgang der Signifikatbildung durchschaubar zu machen. Die Brechtsche Medientransposition wäre dann aber nur eine modifizierte Form der Übersetzung, die sich vom Aufschreibesystem 1 8 0 0 distanziert hat, sich aber auch dem Einschreiben in das Aufschreibesystem 1 9 0 0 verweigert. 11 In der Einleitung wird dieser Ablauf im Bild des leise mitsprechenden Lesers gefaßt, der einen Text liest, ihn im Lesen zugleich mündlich umschreibt und auf diese Weise richtigstellt. Die Frage ist, ob bzw. wie weit dieses Bild den gemeinten Prozeß tatsächlich beschreiben kann. Hierin liegt der Ausgangspunkt für die Beschreibung der Struktur von Brechts historischem Roman Die Geschäfte des

Herrn Julius Caesar. 11

Dies scheint exakt der Standpunkt von Jan Knopf zu sein, wie er sich etwa in seiner Bestimmung der »Leistung des eingreifenden Denkens« zeigt. Sie besteht fur ihn darin, »sowohl theoretisch die Voraussetzung zu bilden, daß praktisch eingegriffen werden kann, als auch das Denken so den materiellen und historischen Prozessen anzupassen, daß die Dinge auch in ihrem realen Sein erkennbar werden, daß reales Bewußtsein entsteht.« (Knopf 1980a:69) Knopf bestimmt das Auffinden der politischen Sätze als eine Leistung des eingreifenden Denkens, ihre Existenz aber als eine Funktion der gesellschaftlichen Realität. Indem er — sehr viel kategorischer als der hier, wie in der obigen Analyse gezeigt, merkwürdig unsichere Brecht - nicht-reales und reales Sein unterscheidet, fuhrt er »die Wirklichkeit« wieder als Signifikat ein: es erschließt sich dadurch, daß die als Sätze auftretenden Signifikanten der Sprache in das dialektische System eingefügt werden, das das reale Sein der gesellschaftlichen Wirklichkeit begründet. Die Unterscheidung zwischen Ubersetzung und Medientransposition wäre demnach insofern relativiert, als sie nur verschiedenartige Vermittlungsvorgänge von unterschiedlichen Transzendentalsignifikaten darstellen: auf der einen Seite steht die idealistische Metaphysik, auf der anderen Seite ihre materialistische Antithese. Nicht nur die Analyse historischer Romane wird auf dieser Basis zu einem ideologiekritischen Exerzitium. Jacques Derrida hat diese Perspektive als »metaphysischen Materialismus« (Derrida 1972/1986:128) kritisiert, der über eine entsprechende sprachliche Analyse zu dekonstruieren ist. Die folgende Beschreibung der Poetik des Brechtschen historischen Romans ist um eine ähnliche kritisch dekonstruierende Perspektive bemüht, ohne der Methodologie der Derridaschen Analyse nachzueifern. Vgl. zum Begriff >Dekonstruktivismus« und zur Kritik an der Derridaschen Lektürepraxis Ellrich/Wegmann (1990: 490-499).

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Das Paradigma der Seeräubererzählung

Das Paradigma der Seeräubererzählung Im November 1937 berichtet Brecht in einem Brief an Karl Korsch von seiner Arbeit an einem neuen Theaterstück: Und jetzt mache ich mich an ein — Caesarenstiick: »Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar« für Paris, wo eine Aufftihrungschance ist. Das ist schwer, und Sie fehlen beträchtlich. Ich will nicht ein Anspielungsstück machen, die Verhältnisse liegen so sehr anders in der Antike. Immerhin ist Caesar das große Vorbild, und zumindest zwei Dinge kann ich beleuchten: 1) wie der Diktator zwischen den Klassen pendelt und damit die Geschäfte einer Klasse fuhrt (hier der Equités) und 2) daß Kriege (hier der Gallische) zu Ausbeutung des eigenen Volkes unternommen werden, nicht mehr des bekriegten. [...] Die Schwierigkeit: Caesar bedeutet immerhin einen Fortschritt, und die Anführungszeichen zu Fortschritt sind so riesig schwer zu dramatisieren. Man kann so schwer deutlich machen, daß dieses Fortschreiten für die neuen Diktatoren wegfällt! Es soll natürlich eine Dreigroschenhistorie werden. Wissen Sie Literatur? Ich habe: Plutarch, Dio, Sueton, Mommsen, Max Weber, Fowler (einen Oxfordprofessor, sehr schwach). Ich brauchte was über die Klassenkämpfe und die Ökonomie, (zitiert nach Jeske 1984a:251) Anfang 1938 ist aus dem Stück ein Roman geworden. 1 2 Brechts Schwiergkeiten mit der Darstellung des relativen Forschritts in der Diktatur Caesars, die als Unterdrückung ja zugleich eine negative Kraft im Klassenkampf darstellt, und seine Suche nach historischen Darstellungen zur Ökonomie zeigen, daß für ihn im Versuch der Darstellung eines historischen Stoffes auch die Darstellung selbst zum Problem geworden ist. Präzise bestimmt Klaus-Detlef Müller in seiner Arbeit zur Funktion der Geschichte bei Brecht diese dialektische Perspektive, indem er ihr drei Zielsetzungen zuordnet: 1) die Darstellung des relativen Forschritts, den der Ubergang von der Senatsherrschafi: zum Imperium bedeutet; 2) die Entmythologisierung Caesars und in ihm des historischen Helden; 3) das Problem einer >objektiven< Historiographie, d.h. der Nachweis, daß die materialistisch-dialektische Geschichtsbetrachtung der einzige Weg zur Wahrheit der Geschichte ist. ( K D . Müller 1967/1972:105) 1 3

12

Vgl. die Darstellung zur Entstehung des Romans bei Knopf (1984/1986: 370f). 13 Mit Müllers Aufstellung sind die zentralen Themen der Forschung zu Brechts CaesarRoman benannt. Aus der Perspektive der vorliegenden Lektüre ist die letztgenannte Zielsetzung die grundlegende, aus der die Frage nach den beiden vorangehenden abgeleitet werden kann; weitergehende Problemstellungen wie die Beziehung zwischen den dargestellten historischen Vorgängen und dem Geschehen im für Brecht gegenwärtigen Dritten Reich oder die Wertung der Person Caesars durch Brecht können in diesem Rahmen nicht näher behandelt werden.

Brecht: Die Dialektik in der

Medientransposition

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Das formale Mittel, das zur Erfüllung der grundlegenden letzten Zielsetzung geeignet zusein scheint, ist bereits bestimmt worden: die Umschreibung. Das nun ja auf die Bedingungen des fiktionalen Textes zu übertragende Verfahren »wird anfangs einmal paradigmatisch vorgeführt: am Beispiel der SeeräuberAnekdote.« ( K . D . Müller 1 9 8 0 : 2 6 8 ) . Diese Anekdote, in den antiken Quellen am umfangreichsten von Plutarch in seiner Parallelbiographie von Alexander und Caesar erzählt, wird im R o m a n vom namenlosen Erzähler berichtet, einem Historiker, der zwanzig Jahre nach Caesars T o d dessen Biographie schreiben will. Z u dieser Erzählung aufgefordert wird er von Mummlius Spicer, ursprünglich Gerichtsvollzieher, später Caesars Bankier, von dem er sich Aufschlüsse, möglichst Quellenmaterial fur seine Arbeit verspricht. D e r T e x t der Anekdote folgt, bis auf kleine Abweichungen, 1 4 fast wörtlich Plutarch. Brecht läßt den Historiker diesen Zitatcharakter ausdrücklich hervorheben: Ich gab meiner Stimme ein wenig von dem Tonfall, in dem ich Gelerntes vor meinem griechischen Lehrer aufzusagen pflegte, als ich die so berühmte Anekdote zitierte. (Brecht 1967:XIV/1187) Dieses gut Gelernte umfaßt die Geschichte von dem auf einer griechischen Insel von Piraten gefangengenommenen Caesar, der das verlangte Lösegeld stolz mehr als verdoppelt, während seiner Gefangenschaft seine Bewacher verhöhnt und ihnen scherzhaft droht, er werde sie alle aufhängen lassen, um dies nach seiner Freilassung umgehend eigenmächtig in die T a t umzusetzen, als der römische Statthalter in Asien eine Anklage verschleppen will, um an den von Caesar erorberten Piratenschatz zu kommen. D i e Umschreibung fuhrt Spicer aus: Caesar schmuggelte Sklaven

nach

Kleinasien, wurde dabei von den dortigen Sklavenhändlern, die ein M o n o p o l besaßen, abgefangen, aber trotz seiner Anmaßungen gut behandelt und nach der Zahlung des Schadenersatzes freigelassen, den er sich unter dem Vorwand, es handele sich um Lösegeld, von den kleinasiatischen Städten besorgt hatte. Kaum wieder frei, holte er sich mit Hilfe von Fechtersklaven seine Sklaven und das Geld zurück; dazu raubte er einige Sklavenhändler inklusive ihrer Vorräte. V o m Statthalter zur Rede gestellt, verlangte er ihre Hinrichtung wegen Piraterie; als die tatsächlichen Umstände ans Licht zu k o m m e n drohten, ließ er gefälschte T o desurteile ausführen und verschwand bei Nacht und Nebel, nicht ohne das Geld mitzunehmen. D e m Statthalter erwuchsen hieraus große Schwierigkeiten, denn:

14

Vgl. Dahlke (1968:141) und Lebek (1983:195), die beide v.a. die von Brecht eingefügte »Präsenz eines Kochs« aufführen, die an die Caesar betreffenden Verse aus den Fragen eines lesenden Arbeiters anknüpft (»Cäsar schlug die Gallier./Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?« - Brecht 1967:IX/656). In der idealistischen Ankedote ist diese Hinzufugung, wie Lebek schon anmerkt, »nicht ganz glücklich angebracht.«

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Das Paradigma der Seeräubererzählung Es war damals noch nicht so, daß m a n die kleinasiatischen Firmen offiziell Piraten nennen konnte. Sie heißen jetzt so in den Geschichtsbüchern. D a sie von uns geschrieben sind, konnten wir natürlich unsere A n s c h a u u n g der D i n g e zur G e l t u n g bringen. ( 1 1 9 1 )

War Caesars Aktion auch gegen die geltenden Gesetze, so nahm sie doch eine ökonomische Entwicklung vorweg, die Jahre nach dem Vorfall Realität wurde: Die römischen Firmen erreichten durch Denunziation der Kleinasiaten als Piraten, daß »ihre Sache zur Sache Roms gemacht wurde« (1191) und das Monopol an sie fiel. Spicers Erzählung ermöglicht die konsequente Anwendung des Brechtschen Fragenkatalogs: Uber den Vergleich mit der Anekdote zeigt sich, daß diese nur den Besitzenden nützt, weil sie die wahren Vorgänge vertuscht, indem sie das Geschehen auf eine Illustration von Caesars Charakter reduziert; dieser Nutzen in Form einer lehrreichen Erbauung für den Leser ist damit aber nur vorgegeben. Aufgrund dieser Verfälschung fordert der Text nur zu passiver Betrachtung, vielleicht zu Bewunderung, womöglich zur Nachahmung auf. Ihm entspricht die Praxis der Unterdrückung der ökonomischen Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung, und Sätze, die hierzu beitragen, sind seine Folge; ja, wie seine Verwendung als Schullektüre zeigt, ist dies eben seine Intention. So kann er nur von der herrschenden Klasse bzw. ihren bewußten oder unbewußten Anhängern im Klassenkampf gesprochen werden. Mit diesen Folgerungen ist aber bereits ein starker Abstraktionsgrad erreicht, der die konkrete historische Darstellung überspringt, die aus der Verknüpfung der aufgetretenen Sätze, also der idealistischen Anekdote, mit den entsprechenden politischen Sätzen entsteht. Auf der Ebene dieser Darstellung scheinen zumindest die beiden ersten von K.D. Müller benannten Brechtschen Zielsetzungen in diesem Modell erfüllt zu werden: Caesar wird entmythologisiert, indem die Taten, die seine individuelle Größe darstellen sollten, als verbrecherische Aktionen mit rein ökonomischen Zielen enttarnt werden, die zudem keine individuellen sind, sondern von der Händlerklasse in Rom generell angestrebt wurden; als »junger Laffe aus einer senatorischen Familie« (1190) fand Caesar allerdings eine Situation vor, in der er zumindest versuchen konnte, etwas auszuführen, was die Klasse erst um einiges später offiziell erreichen sollte. Caesars Handlungen sind so nur scheinbar individuell motiviert, tatsächlich aber Funktion gesellschaftlicher Interessen: Er nimmt persönlich den ökonomischen Fortschritt vorweg, der sich auf gesellschaftlicher Ebene erst später durchsetzt. »Der Held wird in ein Kräftespiel eingefügt und seine Persönlichkeit dadurch an die Peripherie gedrängt.« (K.D. Müller 1967/1972:117) Die Erfüllung der dritten Zielsetzung wird von vornherein auf schwierigere Wege verwiesen. Folgt man K.D. Müller (1967/1972:126), so hält sich Brecht »an die von der Geschichtsschreibung überlieferten Fakten [...], sie sind nachweislich authentisch«; auch im Brecht-Kommentar \on 1980 bezeichnet Müller den Roman als »historisch [...] abgesichert« (241). 1967 beruft sich Müller hier-

Brecht: Die Dialektik in der Medientransposition

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zu auf die Angaben bei Witzmann (1964:65f)> die jedoch nur Beispiele nennen und die Seeräuber-Anekdote beiseite lassen. Hinsichtlich der Faktentreue ist Knopf (1984/1986) noch drastischer als Müller, wenn er die These aufstellt, Brechts »Frage nach dem historisch Faktischen« (379) erhielte im Roman eine eindeutige Antwort: »Bei ihm setzen sich die »Fakten«, setzt sich die äußere Realität durch.« (395) Allerdings hat bereits Dahlke (1968:144) ausgerechnet dem Modell für die Darstellungstechnik eine Ausnahmerolle zugebilligt: Dennoch ist dieser [der Historiker] von Spicers Version überrascht, und nicht nur er. Auch den Leser dürfte sie erstaunen. Denn fiir Spicers Auslegung gibt es im Gegensatz zu anderen Ausdeutungen Brechts bei aller fiktiven Authentizität keine historischen Belege. Sie ist nur in einem literarischen Sinne legitim, im Interesse der satirischen Wirkung des Romans.

Lebek (1983:196) spitzt diese Beobachtung noch zu, indem er feststellt, Brechts Umdeutung habe »keinerlei Probabilität«, und daraus den Schluß ableitet: Brechts Umgang mit der Uberlieferung läuft auf eine plumpe Verfälschung hinaus, deren Richtschnur das ideologische Vorurteil ist.

Lebeks Polemik besitzt das Manko, voreilig zu sein. Denn die Umschreibung im Roman wird von der fiktiven Figur des Spicer ausgeführt, wie etwa Dahlke es auch herausstellt. Damit kommt aber die Einschränkung zum Tragen, die Brecht im Messingkaufíüi die Dramatik des P-Typus macht. Wenn das Ziel in »mittleren summarischen Aussagen« besteht, so muß dies dadurch erreicht werden, daß wir den Einzelfall, mit dem wir es in der Dramatik zu tun haben, als solchen bezeichnen, seine Abweichungen vom »Gesetzmäßigen« immer wieder angeben. (541)

Das Faktum, daß die Umschreibung Spicers die Ableitung von »mittleren summarischen Aussagen« zur allgemeinen Gesellschaftsentwicklung erlaubt, legitimiert darum nicht den Rückschluß, daß seine Darstellung der spezifischen historischen Geschehen Fakten präsentiert. Denn die Figur des Spicer wird, allerdings in recht komplexer Weise, als Einzelfall präsentiert: durch Relativierungen auf verschiedenen Ebenen. Auf der innerfiktiven Ebene wird Spicer zunächst durch seine Klassenzugehörigkeit charakterisiert: Als Bankier ist er geradezu der Inbegriff der Ausbeutung. Als Mitglied der herrschenden Klasse weiß er seine Erzähl pragmatisch nach der jeweiligen Erzählsituation auszurichte, so hat er ebenso bei den verfälschenden Geschichtsbüchern mitgeschrieben^ wie er jetzt dem Historiker die

15

Vgl. Spicers Kommentar zu Caesars Gallischem Krieg in einem Fragment zum unvollendeten fiinten Buch des Romans: »ich habe das manuscript damals sehr genau durchgegeangen, bevor es ausgeschrieben wurde, ich glaube nicht, daß irgend etwas interessantes darin stehen geblieben ist.« (zitiert nach Jeske 1984a:318).

Das Paradigma der Seeräubererzählung

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»geschäftliche Seite der Unternehmungen« Caesars eröffnet (Brecht 1967:XIV/ 1174). Aus diesem Kontrast entsteht nun allerdings der Eindruck, daß Spicer mit diesen Schilderungen die Wahrheit sagt, Fakten präsentiert. Spicer selbst stellt dies als seine Absicht heraus, etwa, wenn er auf die Erzählung der Seeräuberanekdote mit der Bemerkung reagiert: So sieht fast alles in seinem Leben jetzt schon aus. Ich werde Ihnen sagen, was es war. Es war Sklavenhandel. (1188)

Zusätzlich verstärkt wird der Wahrheitscharakter durch die ungläubige Haltung des noch im idealistischen Geschichtsverständnis verhafteten Historikers, die sich in seinen Zwischenfragen, vor allem aber im abschließenden Kommentar zu diesen ersten Gesprächen mit Spicer deutlich zeigt: Es war erstaunlich, wie wenig ich von Mummlius Spicer, der ihn so viel Jahre gekannt hatte und während des ganzen gallischen Feldzuges sogar sein finanzieller Sachberater gewesen war, über den wirklichen Caesar erfahren hatte. (1195)

Ein Kommentar nimmt allerdings eine Sonderrolle ein, da er als Fußnote erscheint: Ich weiß nicht, was ich von Spicers Beschreibung der Piraten als gutbürgerlichen Kaufleuten halten soll, aber bei alten Schriftstellern ist es immerhin bezeugt, daß sie in zivilisierten Verhältnissen lebten. Sie sollen eine ausgezeichnete Literatur gehabt haben. Ich zitiere: »Niemals vor- oder nachher erschallten an den Küsten des Mittelmeeres so süße Gesänge, niemals fanden unter seinem Himmel so tiefsinnige und gewählte Gespräche statt als in jener Blütezeit der Sklaverei.« (1189)

Wenn Brecht hier die Tradition der erläuternden Anmerkung aufgreift, so offensichtlich mit dem Ziel, auf diese Weise ein ironisches Spiel mit der Rückführung von Erzähltem auf Faktisches zu treiben. Als Anmerkung steht der Kommentar außerhalb der erzählten Szene; er gibt jedoch keinen Beleg dafür, daß ein Element im Erzähltem ein Faktum wiedergibt, sondern zieht eine Schilderung gerade in Zweifel, um dann wenigstens ihre Probabilität aufzuzeigen - allerdings mittels eines Zitats, das zum einen nur ungenau identifiziert und damit kaum nachprüfbar ist, das zum anderen durch seine hyperbolische Sprache als sachliche Beschreibung fragwürdig erscheint. Zu allem Uberfluß bleibt die Anmerkung innerhalb der Grenzen der Fiktion, denn im »Ich« gibt sich der Historiker zu erkennen. Der Kommentar m u ß jedoch einer anderen fiktiven Zeitebene als das laufende Geschehen zugeordnet werden: Er kann nur eine Ergänzung zum Zeitpunkt der Niederschrift durch den Historiker darstellen. Damit entstammt sie aber auch einer anderen, im Folgenden noch näher zu charakterisierenden 16 Erkenntnisebene des Historikers.

16 Vgl. S. 99ff.

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Auch zu diesem Zeitpunkt, zu dem das Vorhaben der Biographie Caesars aufgegeben und an seine Stelle die Darstellung der Quellen getreten ist, die dieses Vorhaben verhindert haben, erscheint dem Historiker die Faktizität der konkreten Schilderungen Spicers zumindest an einer Stelle zweifelhaft. Spicer selber relativiert den Wahrheitsgehalt seines Berichts an anderer Stelle paradoxerweise gerade dadurch, daß er sich auf einen Augenzeugen beruft: Das Weitere, was ich Ihnen jetzt erzähle, habe ich von dem Prokonsul Junius, der damals unten amtierte und den ich als alten Mann kennenlernte. Er untersuchte die Angelegenheit, weil ein großer Skandal entstand. (1190)

Zum einen lag also zwischen dem Augenzeugenbericht und dem Geschehen ein langer Zeitraum, zum anderen hatte dieser Augenzeuge eine Angelegenheit untersucht, in die er mit verwickelt war — insofern sind seine Angaben doppelt relativ. Auf diese Weise wird aber schon auf innerfiktiver Ebene der erst aufgebaute Eindruck, Spicer spreche die Wahrheit, auch wieder sachte zurückgenommen denn auf der Ebene des konkreten Geschehens, der Einzelfälle also, präsentiert er nur das, was ihm als Fakten erscheint, bzw. für seinen Zuhörer so erscheinen soll. Zusätzliche Relativierungen erhält Spicers Umschreibung auf struktureller und sprachlicher Ebene. In ihrer Handlung erinnert Spicers Darstellung stark an einen Bandenkrieg, wie man ihn eher in London oder im Chicago der zwanziger Jahre als in der Antike erwarten würde: Caesar schmuggelt und verstößt damit gegen ein Monopol, er wird gefangengenommen, gegen Zahlung freigesetzt, dreht den Spieß um, scheitert mit einer falschen Anklage, beendet den Bandenkrieg aber dennoch siegreich mit geschickt eingefädelten Morden. Brecht verstärkt diese handlungsstrukturelle Verfremdung, indem er Spicer typische Begriffe aus der Geschäftswelt des Kapitalismus in den Mund legt: So ist von »Firmen« die Rede, von der »City«, vom »Konkurrenzkampf«, von »Monopolpreisen«. Die Funktion dieser sprachlichen Verfremdung hat, wie nicht anders zu erwarten, eine dialektische Struktur. Wird der V-Effekt dem Zuschauer auf der Bühne vorgefahrt, indem der Schauspieler, »ein fremdes Gesicht schneidend, sein eigenes [nicht] völlig verwischt«, ihm also »das Sichüberschneiden der beiden Gesichter«17 zeigt, so fehlt dem Erzähltext ja eben diese Präsenz: Er bleibt Schrift, die gelesen werden muß. Mit dem Anschluß eines Textes an andere (potentielle) Texte aus einer anderen historischen Epoche erreicht Brecht in diesem Medium nun eine analoge Funktion: Das Dargestellte wird zunächst in seiner Fiktivität offensichtlich, denn sowohl Sprache als auch Handlungsstruktur übersteigen das am historischen Ort überhaupt Sagbare. Über diese unmittelbare Enthistorisierung wird aber zugleich

17 Brecht, »Der V-Effekt.« In: Der Messingkauf (Brecht 1967:XVI/610).

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Das Paradigma der Seeräubererzählung

eine Historisierung auf anderer Ebene erreicht: Die Identität der Struktur zweier historischer Prozesse wird akzentuiert und so wiederum eine »mittlere summarische Aussage« formulierbar gemacht. Konkret auf Spicers Umschreibung bezogen bedeutet dieser dialektische Bezug, daß zum einen der fiktive Charakter der gesamten Erzählsituation, somit aber der Figur ebenso wie ihrer Erzählung bezeichnet wird; zum anderen, daß der Wahrheitsanspruch der abstrakten Folgerungen aus der Kontrastierung von Anekdote und Umschreibung verstärkt wird. Zum Problem wird die Frage, inwieweit die Darstellung der spezifischen historischen Situation zutreffend ist. Eine Antwort läßt sich am ehesten finden, wenn man sich die Reihe der relativierenden Modifikationen vor Augen fuhrt, die das Verfahren der Umschreibung hier in seiner Durchführung durch eine fiktive Figur erfährt. Betroffen ist davon zunächst das in der Umschreibung unmittelbar Dargestellte: Über den Bezug zur sprechenden Figur wird die Aussagefunktion der Darstellung relativiert. So sehr Spicer auch die Wahrheit der von ihm berichteten Vorgänge betont, sie stellen nur das dar, was ítzu Fakten erklärt. Sein Bericht wird durch VEffekte auf der Ebene der Handlungsstruktur und der Wortwahl zusätzlich relativiert: Ist die idealistische Darstellung der Vorgänge als Anekdote auch eine Form der Erzählung, also eine Fiktionalisierung mit dem Ziel der Erfüllung einer gattungstypischen Struktur, so präsentiert sich ihr materialistisches Gegenstück in der Verfremdung ebenso als eine gestaltete Form: Über die Ausrichtung am Muster des Bandenkriegs wird es zur satirischen Erzählung. Betroffen sind aber auch die aus der Kontrastierung von Anekdote und Umschreibung zu folgernden »mittleren summarischen Aussagen« über die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten historischer Entwicklung, denn sie werden durch die Verfremdung zusätzlich akzentuiert. Und betroffen ist schließlich auch die Richtigkeit der Beschreibung der spezifischen historischen Situation: Denn wenn diese Beschreibung in Form einer perspektivegebundenen, nach dem Modell von Vorgängen aus einer anderen Zeit bewußt geformten Erzählung erscheint, muß ihre Adäquanz fraglich werden. So kann eine Erfüllung der dritten von K.D. Müller formulierten Zielsetzung für Brechts Roman auf der Basis der Seeräuber-Episode nicht gelingen, da allenfalls »die Wahrheit« der geschichtlichen Entwicklung abgeleitet werden kann, nicht aber »die Wahrheit« der dargestellten geschichtlichen Epoche. Damit ist aber auch die Erfüllung der beiden ersten Zielsetzungen wieder fraglich geworden. Gerade hierin manifestiert sich jedoch die Modellfunktion dieser Episode: Sie ist nicht nur, dank ihrer dialektischen Kontrastierung zweier Erzählungen, eine Metapher für die Schreibung der spezifischen Geschichte, sondern dank ihrer Unabgeschlossenheit auch deren Metonymie, die sich nur durch die Fortfuhrung in anderen Metaphern zu einem Ganzen erweitern läßt. Somit ist mit dieser Figur das komplizierte Verhältnis zwischen Geschichtsschreibung und Geschiehtserzählung in Brechts historischem Roman umrissen:

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Denn nicht nur dadurch, daß sie in der Fiktion mündlich vorgetragen wird, wird die Umschreibung innerhalb eines solchen Textes zur Umerzählung. 18 Hat die Seeräuber-Anekdote ursprünglich den innerhalb des zugehörigen Aufschreibesystems legitimen Anspruch, als Übersetzung Geschichtsschreibung darzustellen, so wird sie durch die dialektische Kontrastierung mit Spicers Darstellung in ein anderes Aufschreibesystem eingeschrieben, hierdurch aber in ihrem Status grundsätzlich verändert: Das von ihr bezeichnete Signifikat wird als Konstrukt entlarvt, das nur vorgibt, wahr zu sein. Die Ubersetzung erschließt sich als Medientransposition, die sich selbst verbergen will. In der Terminologie von Hans Vilmar Geppert wird auf diese Weise der Hiatus zwischen Fiktion und Historie akzentuiert; zugleich erfährt er jedoch auch wieder eine scheinbare Aufhebung: Denn Spicers Gegendarstellung erhebt ja nun wiederum auch den Anspruch, Fakten zu präsentieren, Geschichte zu schreiben. Erst indem auch dieser scheinbare Bericht über die in ihm angelegte Relativierung als Erzählung deutlich wird, gerät der Hiatus von Fiktion und Historie konsequent zum Vehikel hermeneutischer Probleme und Prozesse: er schiebt sich ganz unmittelbar zwischen die verschiedenen Geschichtserzählungen und ihren Gegenstand und setzt so die Frage nach einer nichtigem Geschichte in Gang. (Geppert 1976:64)

Hieraus ergeben sich nun aber auch Rückschlüsse für die Funktion der Erzählenden: Denn anders als Waverley, dem es im Ubergang von seiner romance zur real history zumindest innerhalb seiner Gesellschaft gelingt, als Autor erfolgreich zu sein und akzeptiert zu werden, scheitern zumindest diese ersten beiden Erzählenden in Brechts Variante des historischen Romans auch schon auf der Ebene der innerfiktiven Gesellschaft. Mit der Verschiebung des Aufschreibesystems kann ihr Anspruch, Geschichte zu schreiben, in ihrer Erzählung nicht mehr eingelöst werden. Wenn also die Frage für die Weiterentwicklung des Modells zum Roman lautet: Wie kann man Geschichte schreiben, so ist damit auch verbunden: Wie kann man zum Autor werden? Mit der Beschreibung des Paradigmas der Seeräuber-Anekdote als Verbindung von Metapher und Metonymie ist das Grundelement der Poetik des Brechtschen historischen Romans benannt; unbeantwortet bleiben muß zu diesem Zeitpunkt noch die Frage, inwieweit diese Strukturen auch auf Intentionen des Autors zurückgeführt werden können; die Poetik des Brechtschen Romans muß schließlich nicht die Brechts sein. Die weitere Darstellung der syntagmatischen Ebene wird zunächst danach fragen müssen, welche Form die dem Modell nachfolgenden Elemente des Syntagmas annehmen, um von hieraus zu bestimmen, ob und wie das Syntagma zu einem Schlußpunkt kommt; erst hier können die formulierten Fragen beantwortet werden. 18

Vgl. zur Verwendung dieses Begriffs im Zusammenhang des Brechtschen Caesar-Romans Geppert (1976:63) und H. Müller (1988:68).

Die Struktur des Syntagmas

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Die Struktur des Syntagmas Die Form der Elemente Die weitere Erkundung der Caesar-Biographie durch den Historiker geschieht im Kontakt mit verschiedenen Zeitgenossen Caesars - einem ehemaligen Legionär, dem Juristen Afranius Carbo und dem Dichter Vastius Aider - und durch die Lektüre der Unterlagen, die der Anlaß fiiir seine Reise zu Spicer waren: die Tagebücher des Sklaven Rarus, Caesars Privatsekretär. Die Struktur dieser multiperspektivischen Darstellung ist eines der bevorzugten Themen der Forschungsliteratur zu Brechts Caesar-Roman. '9 Im Zusammenhang der formalen Bestimmung der Einzelperspektiven sind zwei Aspekte von grundlegender Bedeutung: die paradigmatische Dimension der Einzelperspektiven und ihre wechselseitige Relation. Im Gegensatz zum Modell der Seeräuber-Umerzählung berichten die weiteren Darstellungen Caesars nicht die idealistische Sicht seiner Unternehmungen: Vielmehr setzen sie sie als Bildungsbesitz voraus, denn nur in der Zuordnung der neuen Deutung zu den bekannten Fakten wird der ästhetische Reiz der Erzählweise voll erkennbar. (K.D. Müller 1980:268)

Nun hat aber die Seeräuber-Episode bereits gezeigt, daß es bei der Kontrastierung von traditioneller und veränderter Darstellung um weit mehr geht als um »bekannte Fakten« und einen »ästhetischen Reiz«. Für den formalen Status der auf das Modell folgenden Caesar-Darstellungen bedeutet diese Verkürzung, daß sie zunächst einmal als Varianten der Seeräuber-Umerzählung erscheinen und auf der Basis dieses Standards eingeschätzt werden; daß also die Frage, in welcher Weise sie Umerzählungen darstellen, stets nur in Relation zu diesem ersten, vol ständigen Paradigma gesehen werden kann. Darüberhinaus führt die Verkürzung aber auch dazu, daß der fiktionale Text über sich selbst hinausweist: Er schließt sich an einen Diskurs an, der in Form von anderen Texten zur Geschichte Roms und der Biographie Caesars vorliegt. Wenn die Umschreibung nun wirklich die durch die Fiktion modifizierte Grundfigur des Brechtschen Romans ist, dann geht es bei diesem Anschluß zunächst einmal darum, die Ideologie des traditionellen Diskurses herauszuarbeiten; die fehlende Präsenz dieses Diskurses über das Anfangsmodell hinaus macht es aber kaum möglich, die vorgeführte dialektische Analyse auszuführen und auftretende Sätze mit politischen

19 Vgl. bes. Witzmann (1964:54ff), K.D. Müller (1967/1972:105® und (1980:258ff), Lehmann (1977), Werner (1977), Busch (1982: 74ff), Lebek (1983), Knopf (1984/1986:3930. H. Müller (1988:68f).

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zu verbinden. Andererseits ist die Aufrechterhaltung der dialektischen Perspektive, die den vorliegenden Text immer in einem produktiven Kontrast zu seinem traditionellen Pendant sieht, die Grundlage fur eine Weiterführung der Frage nach der »richtigen« Geschichtsschreibung. Ausgangsmodell und nachfolgende Elemente werden so aber in einer solchen Relation stehen müssen, daß bei aller eigenen und gegenseitigen Relativierung sich doch eine solche Konvergenz herstellen läßt, daß ein Rückbezug auf die Ideologiekritik der Ausgangssituation angelegt ist und hierüber die Kontinuität der dialektischen Perspektive sichergestellt wird. W e n n hierdurch auf der einen Seite der Spielraum der Relation zwischen den einzelnen Perspektiven begrenzt ist, so wird andererseits erst durch die Verkürzung des Paradigmas eine Montagetechnik überhaupt ermöglicht, denn die dauernde Wiederholung einzelner Geschehnisse in zwei Varianten hätte jede Dynamik in der Konstruktion des Textes schnell erstickt. Unter diesen Voraussetzungen ist die Relation der einzelnen Perspektiven zunächst bestimmt durch die ihnen zugeordneten Zeitebenen. Während der Historiker dem Legionär, Carbo und Aider im Laufe seines Aufenthaltes bei Spicer begegnet, ihre Darstellungen also den Status von Erinnerungen an ein Jahrzehnte zurückliegendes Geschehen haben, 20 ist es das zentrale Charakteristikum der Tagebücher des Rarus, eben diese Distanz nicht zu besitzen: Sie sind unmittelbare Schilderungen von Vorgängen, über deren Ausgang der fiktive Autor nur Vermutungen anstellen kann. Die Struktur, aber auch die Relation der Einzeldarstellungen ist in ihren Möglichkeiten durch diese Positionierung bestimmt: Das Tagebuch des Rarus fungiert als Vermittlung einer Faktenbasis, die von den Erinnerungen interpretiert werden kann, um auf diese Weise eine gegenseitige Relativierung zu ermöglichen. 20

Die Zeitebenen in Brechts Roman sind Objekt einer längeren Auseinandersetzung in der Forschungsliteratur gewesen. Der Text gibt, wie erstmals Dahlke (1968:149) festgestellt hat, zwei unterschiedliche Zeitangaben fiir die Rahmengeschichte: sagt der Historiker zu Beginn seines Berichts, Caesar »war eben zwanzig Jahre tot« (Brecht 1967:XIV/1176), so stellt er nach der Lektüre der ersten Tagebücher des Rarus fest, »daß doch drei Jahrzehnte seit diesen Geschehnissen [...] vergangen waren« (1313). W ä h r e n d die erste Zeitangabe auf das Jahr 24 v.Chr. schließen läßt, gelangt man, da die von Rarus berichtete Verschwörung des Catilina 6 3 v.Chr. stattfand, über die zweite Angabe zur Datierung 33 v.Chr. K.D. Müller (1980:263) sieht die Ursache der Diskrepanz einfach in einem Versehen Brechts; Jeske (1984:296f) argumentiert dagegen, daß sich hierin die Differenz zwischen dem Besuch des Historikers bei Spicer und dem Zeitpunkt der Niederschrift der Erlebnisse manifestiert. Was bei Jeske noch vorsichtig als Möglichkeit formuliert wird, ist bei Knopf (1984/1986:383) wieder einmal ein Fakt u m geworden. So einleuchtend Jeskes Argumentation auch ist, irritierend bleiben die Datierungsdifferenzen doch: Zusammen mit den letzten Sätzen des Abschnitts gelesen (»Das sollte meine geplante Biographie tun. Die Unterlagen hatte ich jetzt.« - 1176), scheint die Referenz der ersten Zeitangabe doch in der erzählten, nicht der kommentierenden Ebene zu liegen.

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Über Ausmaß und Form dieser gegenseitigen Relativierung herrscht in der Forschungsliteratur eine erstaunlich große Uneinigkeit. Während K.D. Müller in seinem Brecht-Kommentar (1980:265) schlicht feststellt, daß die drei durch ihren unterschiedlichen Zeitbezug gestaffelten Perspektiven [Rarus, Augenzeugen, Historiker] jeweils fiir sich genommen falsch sind und sich gegenseitig relativieren. Die historische Wahrheit ist auf keiner dieser Ebenen gegeben, sie muß erst in ihrer kritischen Beurteilung hergestellt werden.

sieht Lebek (1983:173f) Müllers Formulierung, die Perspektiven seien einzeln falsch, als »weniger glücklich« an und stellt seinerseits die These auf: Vor allem aber wird durch die Mehrzahl der Erzählerperspektiven der Eindruck erweckt oder zumindest intendiert, daß die von Brecht so vielfach beleuchtete Gestalt Caesars in ihren wahren historischen Konturen erkannt ist. Die Mulitperspektivität führt nicht zu einer Zerlegung des Phänomens Caesar in disparate Teilaspekte, sondern konvergiert in einer einheitlichen Gesamtschau.

Diametral entgegengesetzt zu dieser Sicht, die für den Leser offenbar nur die Schwierigkeit sieht, über den Status des dargestellten Caesar-Bildes in Zweifel zu geraten, ist das rezeptionsästhetisch motivierte Leseprotokoll von Werner (1977:348): Aus allem folgt fiir den Leser, daß ein und derselbe Vorgang in verschiedenen Lesarten erscheinen kann, die sich wechselseitig spiegeln und dialektisch aufheben, d.h. die zweite Lesart steht quer zur ersten, erzeugt eine Widersprüchlichkeit, erzwingt die neue Lektüre der ersten Lesart auf erweiterter Erkenntnisstufe und schließlich die Aufhebung beider in einem neuen Erkenntnisakt.

Allen drei Aussagen ist eigen, über die Relation hinaus immer schon eine Perspektive für die Zusammenfuhrung der wie auch immer divergierenden Einzelaussagen aufzustellen. Bevor jedoch diese näher analysiert werden kann, erscheint es sinnvoll, die offensichtlich nicht unproblematische Divergenz genauer zu überprüfen. Der erste weitere Augenzeuge, dem der Historiker nach dem Gespräch mit Spicer begegnet, ist ein ehemaliger Legionär Caesars. Die Erwartungen des Historikers werden vor dem Treffen klar benannt: Ich war überzeugt, daß dieser einfache Legionär, einer der alten wackeren Kämpen, deren abgöttische Verehrung fiir den großen Feldherrn aus unzähligen rührenden Zügen in den Monographien spricht, mir mehr sagen würde. (Brecht 1967:XIV/1195)

Damit ist wieder die Heldenverehrung des idealistischen Caesar-Bildes aufgerufen, der, dem Muster der Seeräuber-Ankedote entsprechend, nun die materialistische Umerzählung folgen müßte. Im Falle des Legionärs kommt es nicht zu mehr als einem schwerfälligen Dialog zwischen dem Historiker und dem Legionär, der über Caesar nur die Auskünfte geben kann, er habe ihn nur zweimal aus der Nähe gesehen (»500 Schritt das eine Mal, 1000 Schritt das andre Mal« -

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1196); Caesar habe als »fix« gegolten; es hieß, er habe auch auf die Verpflegung geachtet (1196); und schließlich, auf die Frage, wie Caesar denn ausgesehen habe: »Verlebt.« (1198) Zumindest ein wenig ausführlicher sind seine Erzählungen zu seiner eigenen Vergangenheit, die zwei der für die spätere Schilderung der Catilina-Verschwörung zentrale Motive einfuhren: das Problem des Kornpreises, dessen Fallen die Landbevölkerung in die Verelendung treibt, und die Sklavenfrage. In diesem Spannungsfeld ist der Legionär zum Opfer der ökonomischen Bedingungen geworden: Aufgrund der Beschränkungen des elterlichen Hofes gezwungen, nach einer eigenen Zukunft zu suchen, bleiben ihm durch die Konkurrenz zu den Sklaven kaum Möglichkeiten; als römischer Bürger wird er schließlich ausgehoben und kommt zum Militär. Die Relativierung der Aussagen nimmt in diesem Falle ein solches Ausmaß an, daß die Eigencharakterisierung des Sprechers gegenüber der Fremdcharakterisierung Caesars deutlich in den Vordergrund rückt. Die Funktion des Legionärs ist es, ein Gegengewicht zur Heldenverehrung zu präsentieren: Er nimmt die Rolle des Kochs ein, nach dem in Brechts berühmten »Fragen eines lesenden Arbeiters« gesucht wird. 21 Die Subjektivität seiner Einschätzung Caesars steht außer Frage; zugleich kommt ihr jedoch ein völlig anderer Stellenwert zu als etwa den Äußerungen Spicers, denn anders als jener präsentiert sich der Legionär als passives Objekt der ökonomischen Bedingungen. Sie haben fur ihn existentielle Auswirkungen, ohne daß er sie durchschauen oder gar benutzen könnte; wie sich im Antagonismus zu den Sklaven zeigt, kann er nicht einmal ein Klassenbewußtsein entwickeln, das zumindest einen Ansatz zur Beherrschung der ökonomischen Situation darstellen würde. Anders als Spicer erhebt der Legionär so aber überhaupt nicht den Anspruch, Geschichte zu schreiben: Seine Äußerungen sind Augenzeugenberichte wie auch die von Scott in seinen Anmerkungen aufgeführten Quellen; anders als dort ist ihre Funktion jedoch nicht, die Authentizität des beschriebenen Gegenstands sicherzustellen. Als (fiktiver) Verarbeitungsprozeß im Aufschreibesystem 1900 bezeugen die Aussagen nicht die Wahrheit eines Signifikats, sondern verweisen auf die Bedingungen ihrer Konstitution als Medientransposition. Diese Bedingungen sind aber die ökonomischen Zwänge der fiktiven Gegenwart: Sie bestimmen das Bild, das der Legionär überhaupt von Caesar haben kann. Auf diese Weise gewinnt die Sicht der ökonomischen Bedingungen als allgemeiner Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Entwicklung weiter an Plausibilität. Andererseits werden sowohl die Darstellung der spezifischen historischen Situation wie auch das Bild Caesars nur durch eine weitere Facette ergänzt, die der idealistischen Beschreibung diametral entgegengesetzt und mit der materialistischen Sicht problemlos vereinbar ist, aber in ihrer Subjektivität keinerlei

21 Vgl. Anmerkung 11, S. 75.

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Objektivierungsfunktion besitzen kann. Wie Lebek (1983:179f) zeigt, ist die Haltung des Brechtschen Legionärs historisch auch kaum als typisch anzusehen, denn »deren alle Widerstände überwindende Gefolgschaftstreue gegenüber ihrem Feldherrn [war] ein politisch-historisches Faktum ersten Ranges«. Lebeks mit dieser Aussage verbundene Polemik gegen den geschichtsverfälschenden Brecht geht allerdings wieder einmal ins Leere: Denn der Anspruch auf unbedingte Faktentreue jeder fiktiven'Aussage im Roman, wie immer diese auch zu belegen sei, ist nur das Resultat einer spezifischen Lektüreform. Die Relativierung der Caesar-Darstellung durch den Legionär geht damit aber so weit, daß kaum noch von einer ausgeführten Umerzählung gesprochen werden kann; die fragmentarischen Hinweise, die der Legionär gibt, sind nur das Material, aus dem die Umerzählung erstellt werden kann - durch den Leser, dem über die Anschlußmöglichkeiten an die vollzogene Umerzählung Spicers die entsprechende Perspektive eröffnet wird. Der abschließende Kommentar des Historikers: »Die menschliche Unfähigkeit, Größe da zu sehen, wo sie ist, schien mir lästiger denn je.« (1199) zeigt, daß er zu diesem Zeitpunkt weiter an seinem idealistischen Caesar-Verständnis festhält. Die nächste Prüfung für dieses Bild folgt unmittelbar: ein Treffen mit dem »große[n] Juristen]« (1199) Afranius Carbo. Wieder hat der Historiker hohe Erwartungen: Von ihm durfte ich mir, wie schon seine ersten Sätze bewiesen, endlich ein auf das Große u n d Ideelle gerichtetes Interesse erwarten. (1199)

Wieder aber soll er enttäuscht werden. Pronunzierter noch als Spicer formuliert Carbo das, was er von einer Caesar-Biographie erwartet: Der Gedanke des Imperiums! Die Demokratie! Die Ideen des Fortschritts! Endlich ein auf wissenschaftlicher Grundlage geschriebenes Buch, das der kleine M a n n lesen kann und der M a n n der City. Sein Sieg, ihr Sieg! Fakten! [...] D a ß wir ein solches Buch nichts schon lange haben, daß wir unsere Geschichte, eine Geschichte, so heroisch wie irgendeine, nicht geschrieben haben, ein schweres Versäumnis! [...] wir haben es nie verstanden, den Handel selbst, seine Ideale ins rechte Licht zu setzen. Die großen, demokratischen Ideale! ( 1199/1200 - Hervorhebungen im Text)

Die Relativierung seiner eigenen Aussagen liefert Carbo also gleich als Auftakt: Er macht keinen Hehl daraus, Partei zu sein, und versteht Geschichtsschreibung auf diesem Hintergrund als ein public relations Projekt für seine Partei, die City. Interessant ist allerdings, worin für ihn das Ergebnis dieser Anstrengung besteht: in Fakten. War Spicer so distanziert gegenüber den eigenen Klasseninteressen, daß er die offizielle Geschichtsschreibung als ein Mittel zum Vertuschen der wirklichen Zusammenhänge sah, so will Carbo etwas anderes: keine traditionell idealistische Geschichtsschreibung, sondern eine Wirtschaftsgeschichte, die den ökonomischen Prinzipien zur weiteren Durchsetzung verhilft. Dies ist nichts an-

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deres als eine Übersetzung, deren Signifikat in den Idealen der wirtschaftlich aufstrebenden Klasse besteht. I m Folgenden ist Carbo b e m ü h t , zunächst einmal diese Ideale zu beschreiben: Ihr Kern liegt in der Fortsetzung des Krieges im Handel. Auch hier sind Siege zu feiern, zudem solche, die auf d e m G e d a n k e n f u ß e n , »daß m a n aus einem M e n schen m e h r herausholen kann als nur die Gedärme.« (1201) Insofern stellt der H a n d e l gegenüber d e m Krieg eine H u m a n i s i e r u n g dar, denn die Parole lautet jetzt »leben u n d leben lassen«, w e n n auch »>leben< für den Milchtrinker u n d >leben lassen< für die Kuh.« (1202) W a s sich anschließt, ist eine knappe Schilderung des Krieges, der d e m Durchsetzen dieses Ideals vorausging: die Bürgerkriege der Gracchen u n d Sullas bis hin zur Errichtung des Imperiums durch Caesar - der Etablierung des Handels als W e i t e r f ü h r u n g des Krieges mit anderen Mitteln. K a u m einem Leser dürfte diese Phase der römischen Geschichte so präsent sein, daß er problemlos den Grad der Umerzählung durch Carbo erkennen könnte. W i e Lebek (1983:181 f) zeigt, gehen Carbos Schilderungen weitgehend auf M o m m s e n s Römische Geschichte zurück, w e n n vieles in Carbos Darstellung auch auf die pure Brutalität der M o r d h a n d l u n g reduziert wird. Allerdings entspricht dieser Z u g ja n u r der fiktiven Darstellungsintention Carbos: W e n n es gilt, den K a m p f zu zeigen, der z u m Erreichen des Ideals des kriegerischen, aber h u m a n e r e n Handels führte, so kann es n u r im Sinne der Darstellung sein, wenn dieser K a m p f so blutig u n d grausam wie möglich erscheint - d e n n umso höher ist der Sieg einzuordnen, u n d umso h u m a n e r erscheint der Handel. Auch Carbos Sicht ist so von der ökonomischen Perspektive bestimmt, keineswegs aber in d e m M a ß e materialistisch wie Spicers Darstellung. W e n n auf diese Weise der Anschluß an die dort ausgeführte Idealismuskritik auch leicht fällt, so ist Carbos Umerzählung doch in der Weise relativiert, d a ß zentrale M e r k m a l e der idealistischen Geschichtssicht bestehen bleiben. Auf diese Weise wird sie selbst potentielles O b j e k t einer weiteren Umerzählung: Sie bleibt personenzentriert, u n d sie läuft auf Caesar als Inkarnation der Interessen der City hinaus; damit konzentriert sie sich aber auf das persönliche Schicksal bestimmter Personen als Symbolträger einer Idee. Erst über den decouvrierenden Vorspann wird diese Idee als Klasseninteresse entlarvt, u n d erst über diese Entlarvung wird Carbos Pseudo-Ubersetzung zur ideologischen, sich selbst verschweigenden M e dientransposition. W e n n sich die Materialmenge über Caesar so auch weiter gesteigert hat, so ist der Historiker doch auch von diesen Anregungen wenig angetan, d e n n er will ja der Wissenschaft dienen u n d keine Öffentlichkeitsarbeit leisten. W e n n er am Schluß verärgert anmerkt: »Für diese beiden H e r r e n war mein Buch schon geschrieben« (1204), so betont er seine Unzufriedenheit mit den angebotenen Lösungen für das Problem der Biographie; er weist aber auch daraufhin, daß eine Alternative nicht in Sicht ist, denn die idealistische Darstellung kann nach diesen Konfrontationen ihre Ansprüche nicht mehr aufrechterhalten.

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In dieser Situation übergibt Spicer dem Historiker die Tagebücher des Rarus zum Catilina-Aufstand, die das 2. Buch des Romans bilden (»Unser Herr C.«). Im Sinne einer systematischen Analyse der Einzeldarstellungen erscheint es allerdings sinnvoller, zunächst die Begegnung mit dem Dichter Vastius Aider zu behandeln, die im 3. Buch (»Klassische Verwaltung einer Provinz«) stattfindet. Der Dichter Vastius Aider wird vom Historiker in zwiespältiger Weise vorgestellt: Auf der einen Seite wird seine heldenhafte Vergangenheit betont, eroberte er doch vor einigen Jahrzehnten die Stadt Acme, wobei er »an der Spitze seiner Legionäre, mit dem Schwert in der Faust, im Handgetümmel gekämpft« hatte (1327); und besitzt er doch einen hohen Stellenwert als Dichter, denn er »hatte die lateinische Sprache um mehr Wörter bereichert als irgendein anderer vor ihm.« (1327). Z u m Zeitpunkt der Begegnung hat diese so schon etwas zweifelhafte Berühmtheit allerdings »etwas von einer Mumie an sich« und lebt »einzig seinem Ruhm« (1327). Wie in der Forschungsliteratur wiederholt angemerkt wird, 2 2 kann in dieser Darstellung eines von der Zeit überholten Wortkünstlers ein satirisches Porträt von Gabriele d'Annunzio (1863 — 1938) gesehen werden, der mit seinem antikisierenden, martialischen Nationalismus und seinem Status als »Dichterfürst« Brecht zutiefst zuwider gewesen sein muß. 2 3 Alders Darstellung Caesars beginnt mit einer direkten Charakterisierung aus der Sicht des Poeten, der Dichtung: »Ein großer Mann« lautet der Anfang, doch dann wird dieser Mann zu einer austauschbaren Figur, die »abgemalt [wird] von einem Buch ins andere, durch die Jahrtausende« (1328), nicht mehr als eine »Usance«, eine Gepflogenheit im Geschäftsverkehr, wenn auch »im Weltmaßstab« (1328); etwas, das aufgrund dieser Austauschbarkeit keine Patina ansetzt, keinen Kunstwert bilden kann; und so zweifelt Aider denn, ob ein Dichter, geneigt, über ihn zu schreiben, mehr als zwei Zeilen zu Papier brächte. (1328)

Immerhin, der assoziativ reihende Monolog des Dichters zu Caesar geht dann doch noch etwa zwei Buchseiten weiter. T h e m a ist der Moment, da »die große Usance« sich einmal vergaß: die Catilina-Affäre. Aiders Monolog wird so zum Kommentar auf die vorausgegangene Schilderung in den Tagebüchern des Rarus; zu einem Kommentar, der erst kolportagehafte Versatzstücke aneinanderreiht (»Catilina! Der Schandfleck. Die Verschwörung. Briefe und geschlossene Türen! Dolche und Schwüre. [...]« — 1329), dann aber zum Verhältnis zwischen Senat und »City« auf der einen und der Plebs auf der anderen Seite kommt, den »Ausgepowerten« (1330): für Caesar ein Druckmittel, über das er den Senat,

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Die Beobachtung findet sich zuerst bei Dahlke (1968); ausführlicher begründen die Anspielung Jeske (1984:284) und bes. Knopf (1984/1986:382). Vgl. zu Brechts gebrochenem Verhältnis zu den bürgerlichen Wortkünstlern u n d Intellektuellen im allgemeinen etwa Mayer (1971:2l4ff).

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die »privilegierten Räuber« ergänzen k o n n t e d u r c h die »unprivilegierten Räuber« (1331). Auf diese Weise verhalf Caesar auch einem kleinen Teil jener Masse dazu, aufzusteigen, eben privilegiert zu werden; doch er beendete zugleich den alten Senat u n d schuf etwas anderes: »eine Markthalle« (1331). Der große M a n n war eben nichts anderes als ein Angestellter der Finanz - so das r u n d e n d e E n d e des Alderschen Monologs. Alders Beitrag ist n u n weder der Versuch einer Geschichtsschreibung noch ein Augenzeugenbericht: Er liefert eine Glosse zu einem d e m Leser zu diesem Z e i t p u n k t durch die Tagebücher des Rarus vertrauten Geschehen. In dieser Konstellation kann sie nicht anders als ein Verarbeitungsvorgang zu einer vorausgegangenen Verarbeitung erscheinen. W i e d e r u m ist die Subjektivität der Darstellung offensichtlich; durch die abfälligen K o m m e n t a r e Spicers (»Er ist nur so schnell gegangen [...], u m sein Geschwätz sogleich aufzuschreiben.« — 1331) u n d des Historikers (»... der Dichter u n d Soldat war so weit gelangt, daß er fast schon wieder schmatzte.« - 1331) wird sie sogar als pejoratives M e r k m a l herausgestellt. D e n n o c h ist diese »poetische« Behandlung des T h e m a s in ihren Aussagen zunächst unschwer mit den im Vorfeld präsentierten Ansichten zu vereinbaren: Die Figur des Caesar erscheint als Funktion ökonomischer Strukturen u n d Interessen, die Catilina-Affäre als eine Episode innerhalb eines umfassenderen ökonomischen Prozesses. Darüberhinaus stellt Aider diese Episode aber auch als diejenige im Leben Caesars dar, die, als Krise, Stoff für eine - in Stichworten ausgeführte - Erzählung bietet. Brecht liefert hier eine ironische Begründung dafür, daß ausgerechnet die Verschwörung des Catilina, die weder zu den bekannteren noch zu den historisch besonders gut belegten Abschnitten im Leben Caesars gehört, 2 4 z u m primären Erzählgegenstand wird. Aider fährt aber noch weiter fort, u n d dieses Weitere d ü r f t e im Z u s a m m e n h a n g der Begründung noch wichtiger als der Anlaß zur Kolportage sein (den Brecht in den Tagebüchern des Rarus weidlich ausnutzt, wie noch zu zeigen sein wird): In der Verkürzung seines Rückblicks b e n e n n t Aider die archetypische Situation des Klassenkampfes. Die Privilegierten bedroht der »Aussatz« aus den »verwanzten W o h n b u d e n des Crassus« (1329); statt daß es jedoch zu einem Aufstand k o m m t , wird dieser Aussatz von einer progressiven, also: M a c h t verlangenden G r u p p e am Rande der Privilegierten benutzt, u m dieses Ziel zu erlangen. Als N e b e n p r o d u k t steigen einzelne der Masse mit auf. So wird die Bedrohung geschickt aufgebaut, u m sie in Kanäle zu lenken, die die Masse an ihrem Platz hält, indem ihr im Aufstieg einzelner ein Erfolgsmythos erbaut wird. Berichtet wird dies von einem, der selbst auf diese Weise h o c h g e k o m m e n ist: wie Spicer ist Aider »niedriger H e r k u n f t « (1331). Ähnlich d e m Legionär zeigt sich hier also auch ein O b j e k t der Verhältnisse, das aber sehr wohl in der Lage ist,

«

Vgl. Lebek (1983:170).

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diese Bedingungen seiner Existenz zu fassen - ohne jedoch Stellung zu beziehen. Aider besitzt den Zynismus des Intellektuellen, des »Tuis« in der Brechtschen Terminologie, der zwar genau beschreibt, aber daraus nur die Konsequenz zieht, gegenüber dem Gegenstand der Beschreibung eine verächtliche Distanz zu wahren und sich an seiner eigenen Eloquenz zu begeistern. Den Äußerungen des Legionärs vergleichbar, bei aller fragmentarischen und ausgeprägt subjektiven Qualität aber auf einer ungleich höheren Reflexionsebene, liefert Alders Darstellung Versatzstücke für eine noch zu erstellende Umerzählung. Als bewußt relativierte Variante zu demselben Thema wie die Tagebücher des Rarus kann sie zum einen vertraute Elemente verstärken - Caesar als Objekt ökonomischer Strukturen, den Klassenkampf als Grundprinzip der Geschichte - , zum anderen zwei wichtige Aspekte als weitere Facetten in der Bilderreihung hinzufügen: die Praxis der Ruhigstellung der unterdrückten Klasse durch Mythenbildung und, als Selbstcharakterisierung des Sprechers, den passivegozentrischen Zynismus des Intellektuellen. Sind die bisher aufgeführten Darstellungen Caesars überschaubare Erinnerungen im Rahmen von Gesprächen, so nehmen die Tagebücher des Rarus einen weit umfangreicheren Raum ein: Sie sind ein Text im Text, gegenüber dem das restliche Geschehen zur Rahmenerzählung wird. Die Tagebücher zur zweiten Hälfte des Jahres 691 (= 63 v.Chr.), der Zeit der Verschwörung Catilinas, nehmen das gesamte 2. Buch ein; im 3. Buch folgen die Eintragungen zum Jahre 6 2 v.Chr., Caesars Amtszeit als Prätor; sie sind jedoch sporadischer und enden mit der Vergabe der Provinz Spanien an Caesar. Die Rahmenerzählung, die zwischen dem ersten und dem zweiten Teil der Tagebücher nur kurz einsetzt - Spicer stellt knapp seine Position in der behandelten Zeit dar: Als Angestellter einer Bank werden für ihn Caesar astronomische Schulden zur Chance seines Lebens - , nimmt nun wieder größeren Raum ein: Auf Alders Monolog folgt eine längere Erzählung von Spicer zu Caesars Stellung nach der Catilina-AfFäre, den Umständen seiner Abreise und schließlich der Bedeutung seiner Provinzverwaltung: Sie war »die erste, die nach vernünftigen, das heißt geschäftlichen Gesichtspunkten erfolgte.« ( 1 3 4 3 ) Spicers Ergänzungen sind auch darin motiviert, daß Rarus Caesar nicht nach Spanien begleitet; seine Aufzeichnungen werden erst wieder relevant, als es um Caesars Bewerbung um das Konsulat nach seiner Rückkehr aus Spanien geht. Geschildert wird dies im 4. Buch (»Das dreiköpfige Ungeheuer«), das wieder vollständig aus Tagebucheintragungen besteht und den Abschluß des Romanfragments bildet. 2 5 Es ist allerdings bereits unvollendet; während der Titel sich auf das im Winter 60/59 von Caesar, Pompejus und Cras-

25

Über die geplante Weiterführung des Romans im 5. - 7. Buch unterrichtet eine Skizze Brechts (»Inhalt der noch unfertigen letzten drei Bücher des Romans«), abgedruckt u.a. bei Claas ( 1 9 7 7 : 1 8 1 ff) und Jeske (1984a:299ff).

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sus gebildete Triumvirat bezieht, 26 enden die Tagebucheintragungen am Vorabend der Konsulatswahlen im Juli 60. Grundlegend für die gesamte Erzählstruktur der Tagebücher ist ihr bereits benanntes Merkmal der Unmittelbarkeit: 2 ? Da der Tagebuchschreiber ein Geschehen nicht aus einer Retrospektive sieht, die ihm einen weitreichenderen Überblick verschaffen würde, sondern unmittelbar im Lauf eines Geschehen seine Beobachtungen notiert, sind seine Möglichkeiten einer Sinnstiftung immer auf den Vorgang der Konstruktion von Episoden und der Projektion einer weiteren Entwicklung beschränkt. Auf diese Weise steht ihm aber die Funktion als Autor ^x nicht erst offen: Er kann nur Beobachter, Dokurnentator sein, der keine Erzählungen nach konsistenten Grundmustern liefern, sondern nur Einzelelemente benennen kann, deren Erzählungentwurf immer nur vorläufig ist und von der nächsten, zukünftigen Eintragung schon überholt werden kann. Auf diese Weise gelingt es Brecht aber, die Basis für eine vom tradtionellen historischen Erzählen deutlich abweichende Darstellungsweise zu legen. Beschwert er sich in seinem Arbeitsjournal über die Geschichtsschreiber, die »die suche nach den gründen für alles geschehene [...] zu fatalisten« macht, 28 und bezeichnet er es dort als »für den CAESAR roman von größter bedeutung, vom Standpunkt der retrospektive herunterzukommen«, 29 so findet er in der Tagebuchfiktion das geeignete Medium zur Umsetzung dieser Ansprüche. Wie Jeske (1984:312) betont, bedient sich Brecht dieses Mediums in einer aus einem anderen Medium entnommenen Technik: Während Rarus in >NahaufnahmenÜbersicht< ermöglichen, die Vorgänge in gedehnter oder geraffter Folge je nach Lage der Dinge festhält, können die übrigen Berichterstatter aus der zeitlichen Distanz in >Rückblenden< zumindest >Teiltotalen< des Geschehens geben [...] Während Rarus die Vordergrundinformation über das unmittelbar Sichtbare gibt - er registriert die Preiserhöhungen (14, 1250), die Kapitalflucht (14, 1221), kann aber nur Fragen stellen: »Was bezwecken sie?«, »wozu?« (14, 1250 u.ö.) - legt Spicer die Hintergründe dar, eben »die Vorgänge hinter den Vorgängen«.

Durch diese Suche nach den »eigentlichen« Vorgängen tritt nicht nur, wie es K.D. Müller unermüdlich betont, »der Erkenntnisakt in den Vordergrund« (1967/1972:107); die Darstellung übernimmt auf diese Weise auch Züge eines Kriminalromans. Brecht hat sie in seinem Essay Uber die Popularität des Kriminalromans präzise bestimmt: Aber der intellektuelle Genuß kommt zustande bei der Denkaufgabe, die der Kriminalroman dem Detektiv und dem Leser stellt.

M 27 28 29

Vgl. Knopf (1984/1986:387). Vgl. K.D. Müller (1967/1972:107). Zitiert nach Jeske ( 1984a:255). Zitiert nach Jeske (1984a:258).

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Die Struktur des Syntagmas Zunächst bekommt die Beobachtungsgabe ein Feld, auf dem sie spielen kann. Aus den Deformierungen der Szenerie wird der Vorgang aufgebaut, der sich abgespielt hat; aus dem Schlachtfeld wird die Schlacht rekonstruiert. Das Unerwartete spielt eine Rolle. Wir haben Unstimmigkeiten zu entdekken. [...] Dieses Beobachtungen-Anstellen, daraus Schlüsse-Ziehen und damit zu EntschlüssenKommen gewährt und allerhand Befriedigung schon deshalb, weil der Alltag uns einen so effektiven Verlauf des Denkprozesses selten gestattet [... - Brecht 1967:XIX/453/54]

Exakt diese »wissenschaftlich-kriminologische Recherche« (Werner 1977:346) ist es, die Rarus aus seinem S t a n d p u n k t des immer unzureichend Informierten, der mit der von Niekisch (1949) geprägten u n d von W i t z m a n n (1964) ausgebauten Formulierung der »Kammerdiener«-Perspektive n u r sehr unzureichend beschrieben ist, vorexerziert. 3 0 Die von Brecht konstatierte Andersartigkeit der Alltagserfahrung wird von ihm kurze Zeit später in bezug auf die M o d e r n e relativiert: Wir machen unsere Erfahrungen im Leben in katastrophaler Form. Aus Katastrophen haben wir die Art und Weise, wie unser gesellschaftliches Zusammensein funktioniert, zu erschließen. Zu den Krisen, Depressionen, Revolutionen und Kriegen müssen wir, denkend, die »inside story« erschließen. [...] Was also hat wer gemacht? Hinter den Ereignissen, die uns gemeldet werden, vermuten wir andere Geschehnisse, die uns nicht gemeldet werden. Es sind dies die eigentlichen Geschehnisse. Nur wenn wir sie wüßten, verstünden wir. Nur die Geschichte kann uns belehren über diese eigentlichen Geschehnisse — soweit es den Akteuren nicht gelungen ist, sie vollständig geheimzuhalten. Die Geschichte wird nach den Katastrophen geschrieben. (Brecht 1967:XIX/456f. — Hervorhebungen im Text) D a m i t erschließt sich die Tagebuchfiktion des Rarus aber als ein Modell für die Erkenntnisweise des m o d e r n e n Menschen, die den Kriminalroman an Adäquanz noch übertrifft: 3 1 Jener bietet z u m Zweck der genußvollen Denkaufgabe »ausgezirkelte Lebensabschnitte« (454), denen aufgrund ihrer zielgeleiteten Konstruiertheit notwendig eine (den Kriminalroman im Brechtschen Verständnis gerade mitdefinierende) Wirklichkeitsfremde anhaften m u ß . Die Geschichte des Rarus überwindet eben diese Fremde, da sie auf ein Geschehen zurückgreift, d e m als geschichtlichem der Status zugeschrieben wird, wirklich gewesen zu sein. D o c h diese vertraute Geschichte ist eben nur der nach der Katastrophe geschriebene G r u n d , der in der Tagebuchfiktion umerzählfw'ud: auf die Weise, daß der Leser vor die Katastrophe zurückgeführt wird u n d ihr Entstehen, damit aber: die »inside story« mit Rarus zu erfahren sucht. D a m i t wird das im Vorgang des U m schreibens beschriebene Aufsuchen der politischen Sätze zu einer F u n k t i o n des Erzählvorgangs, an der der Leser über die Identifikation mit d e m Erzähler Rarus u n d seinen Erkenntniszielen aktiv teilhat. 30 Vgl. v.a. die Kritik von K.D. Müller (1980:277f). 31 Vgl. H. Müller (1988:57f).

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Doch Brecht wäre nicht Brecht, wenn die Tagebuchfiktion mit dieser eindimensionalen Struktur schon beschrieben wäre. Rarus ist eben nicht Dr. Watson, der dem genialen Sherlock Holmes immer einen Schritt hinterher ist und gerade dadurch das Genie dem Leser begreifbar macht: Diesem Dr. Watson ist vielmehr Holmes abhanden gekommen, und was bleibt, ist eine verwirrende Menge von clues, aus der sich kein rechter Sinn erschließen lassen will. U n d dieser Mangel liegt auch nicht in einer Unfähigkeit der Figur begründet: Es ist das Geschehen selbst, das aufgrund seiner Kontingenz jede Konsistenzbildung zum waghalsigen Akt macht - bis die Katastrophe schließlich passiert ist und die Elemente an ihren Platz fallen: Es wird Licht! Uber das ganze schreckliche, verworrene halbe Jahr verbreitet sich jetzt plötzlich die Klarheit des Herbstes und des Bankrotts. (Brecht 1967:14/1306)

Doch es ist eben nicht die Kombinationsgabp des Detektiven, die die Auflösung erzwingt, sondern die Auflösung in Form der Katastrophe, die die Kombination möglich macht. Hiermit ist aber nur eine Geschichte zu einem Ende gebracht: Eine neue beginnt sogleich, mit exakt denselben Bedingungen und Begrenzungen, in der nächsten Tagebuchrolle. Eingebettet sind sie in einer übergreifenden Geschichte, die Rarus in seiner Perspektive überhaupt nicht zu begreifen in der Lage ist - hierzu sind andere retrospektive Erzählungen notwendig. Somit ist diese Variante der Umerzählung aber im Vergleich zu den anderen Perspektiven zum einen dadurch gekennzeichnet, daß der Anspruch der Faktenpräsentation in womöglich noch stärkerem Maße in den Vordergrund tritt als im Falle von Spicers Korrektur der Seeräuber-Anekdote: Mit der Tagebuchfiktion wird der klassische Authentizitätsanspruch dieser Form aufgerufen, gepaart mit dem Erlösungserlebnis der Wahrheitsfindung, das der vorgeführte erfolgreiche Recherchevorgang notwendig vermittelt. U n d obwohl die idealistische Fassung der Geschehnisse als Text ja nur aufgerufen, aber nicht präsent ist, wird der Korrekturanspruch offensichtlich: Alle Einzelfiguren, ebenso aber die übergreifenden Institutionen wie Senat und City sind nur Produkte eines ökonomischen Systems, das alle zu durchschauen und zu benutzen meinen, während tatsächlich das System sie benutzt und am Ende zu Verlierern macht: Die Catilinasache hatte vom Beginn bis zum Ende nicht die geringste Chance. U n d wir mit unsern Grundstückkäufen! Sie sind heute wertlos. [...] Die City hat ihr Spiel verloren, da sie die U n r u h e n nicht lange genug aufrechterhalten konnte. Sie bekam selbst kalte Füße! Ihre asiatischen Kontrakte mit Pompejus sind heute nicht mehr das Papier wert, auf das sie geschrieben sind. Der Senat wird sie nie sanktionieren. U n d auch die massen der römischen Arbeitslosen haben kalte Füße bekommen u n d ihr Spiel verloren. Sie, die Senat u n d City in Furcht versetzen wollten, fürchteten die Sklaven! Dieser Zusammenbruch wird das ganze Weltreich in den Grundfesten erschüttern. (1308)

Ironischerweise ist es Caesar selber, der aus dieser Situation die zynische Lehre zieht:

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Die Struktur des Syntagmas »Und doch haben wir richtig gelegen, als wir die ganze Sache nur als eine Gelegenheit für Geschäfte betrachteten. [...]« (1308)

Wiederum wird der Leser auf »mittlere summarische Aussagen« gestoßen, die die Ökonomie als geschichtsbestimmende Kraft, den entmythologisierten Caesar als ihr Produkt und eine Kampfsituation zwischen den divergierenden gesellschaftlichen Kräften des Senats, der City, der römischen Bürger und der Sklaven als Inbegriff der spezifischen historischen Situation präsentieren. Wiederum steht auf der anderen Seite aber ein komplexer Apparat von Relativierungen: Das Tagebuch ist in einer betont modernen, knappen und sachlichen, teilweise an den Telegrammstil heranreichenden Sprache gehalten und hebt sich so schon deutlich vom getragenen Stil der traditionellen Schilderungen der Antike ab, wie sie die Seeräuber-Ankedote vorexerziert; die bekannten Verfremdungselemente der kapitalistischen Terminologie tun ein übriges, um die Fiktion der Tagebuchs herauszustellen und den aufgerufenen Authentizitätsanspruch zu ironisieren. Auf der anderen Seite k o m m t das M o m e n t der homosexuellen Liebe zwischen Rarus und dem Sklaven Caebio hinzu, das wohl als »antikisierendes« Element verstanden werden kann, das die Distanz zwischen dem modernen Leser und der Figur des Rarus wieder betonen soll. Vor allem aber liegt wieder ein direkt korrigierender Kommentar zu den Schlüssen des Rarus vor, diesmal von Spicer. »Aber etwas von dem großen Z u g fehlt den Aufzeichnungen des kleinen Rarus doch. Er hat den Optimismus des kleinen Mannes im kleinen und seinen Pessimismus im großen. Seine Darstellung der Vorgänge des Jahres gibt im ganzen ein zu pessimistisches Bild.« (1332)

Z u pessimistisch deswegen, weil »C. [...] nach der gewiß unglücklich verlaufenden Catilinasache doch anders, nämlich gefestigter da[stand] als vorher.« (1332) Erst hierdurch gewinnt er die Voraussetzungen für seinen weiteren Aufstieg: das Amt des Prätors, die Übernahme der Provinz Spanien. Die Katastrophe wird für ihn zur Chance, zum Beginn des Aufstiegs. Als Ergebnis dieser Beschreibung der einzelnen Elemente der syntagmatischen Ebene läßt sich zunächst einmal festhalten, daß sich die Erwartung einer Konvergenz auf der Ebene der »mittleren summarischen Aussagen« erfüllt hat: Alle Perspektiven stellen die ökonomische Struktur der Gesellschaft als Bestimmungsgrund des sozialen und damit historischen Handelns heraus, sei es durch explizite Benennung, sei es auf implizite Weise, in der ungewollten Eigencharakterisierung als Objekt wirtschaftlicher Verhältnisse. H a n d in H a n d hiermit geht eine Darstellung Caesars als ebensolchen Objektes; Divergenzen zeigen sich hier allerdings in der Bewertung dieses Objektes und in der Gewichtung der Position der wirtschaftlichen Institutionen: Spicer sieht Caesar recht zynisch als durchschnittlichen Vertreter seiner Klasse, dem es durch glückliche Umstände und eine jenseits jeden Verantwortungsgefühls stehende Dreistigkeit gelingt, allgemeinere ökonomische Entwicklungen in seinem persönlichen Handeln vor-

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wegzunehmen und so eine Vorreiter-Rolle zu spielen; für Carbo ist Caesar die Inkarnation der Interessen der City - womit er gegenüber Spicer nur die Gewichtung der beschriebenen Merkmale verändert und die Person Caesars in den Vordergrund rückt; Umrisse erhält diese Person allerdings nur durch die Bestimmung eben dieser Interessen. Rarus charakterisiert Caesar als talentierten Patrizier, der aufgrund seiner sozialen Stellung, seiner Bestechlichkeit und seiner enormen Schulden zum einem bevorzugten Objekt der Interessen der wirtschaftlich Mächtigen, der »City« wird, durch seine Unfähigkeit, Situationen richtig einzuschätzen, letztlich aber doch nicht in den Besitz größerer Macht gelangt. Und für Carbo ist Caesar nichts als eine berühmt gewordene Gepflogenheit im Geschäftsverkehr, an der nur ihr Straucheln in der Catilina-Affäre interessant ist. Mithin: der Mythos Caesar wird nicht nur im Modell der Seeräuber-Umerzählung, sondern durchgängig entschieden demontiert - denn auch die ansonsten wenig aussagenkräftige Beschreibung des Legionärs findet insofern ihren Platz, als sie ja der Legende vom abgöttisch verehrten Feldherrn diametral entgegensteht. Mit der Konvergenz in diesen Punkten setzt sich auch das Dilemma der problematischen Faktizität der konkreten geschichtlichen Darstellung fort. Auf diese Weise wird aber deutlich, daß der Brechtsche historische Romantext ein raffiniertes Spiel mit der Errichtung und Untergrabung eines historischen Wahrheitsanspruches eröffnet. Nimmt man die deutlich als subjektive Meinungsäußerungen herausgehobenen Beiträge des Legionärs und des Dichters einmal aus, so präsentieren auch die dem anfänglichen Modell nachfolgenden Darstellungen Gtsàiichxsschreibungen, deren Verfasser Anspruch auf historische Wahrheit erheben, und die im Aufrufen vertrauter Namen und Vorgänge auch eben diesen Eindruch erzeugen, gerade weil sie das Vertraute in unerwartete Zusammenhänge stellen und so eine neue Sicht produzieren. Andererseits fungieren in allen Einzelelementen explizite und implizite Charakterisierungen dieser Verfasser, sei es durch die Figuren selbst, sei es durch andere, als Relativierung der Darstellung; vor allem aber betonen die V-Effekte der Sprache und der Erzählstruktur zusätzlich ihre Fiktivität. Die vom Modell des Anfangs eröffnete metonymische Reihung wird so von den weiteren Elementen stetig fortgesetzt: Die Frage nach der eigentlichen, richtigen Schreibung der Geschichte wird immer weiter verschoben. Bei all diesen Konvergenzen besitzen die aufeinanderfolgenden Perspektiven aber doch eine klare Gewichtung, über die sich ihre Divergenzen beleuchten lassen. Durch ihre Einbindung in das erste Buch, den ersten beiden Tagen des Besuchs des Historikers bei Spicer, bilden die Seeräuber-Episode und die Gespräche mit dem Legionär und Carbo eine Einheit, in der das traditionelle idealistische Caesar-Bild mit drei durch die Ökonomie determinierten Schilderungen konfrontiert wird. Nach dem Abbruch der Rahmenerzählung folgen die ausführlichen Tagebücher des Rarus, die, als Erzählung der Catilina-Affäre, es dem Leser

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Die Struktur des Syntagmas

ermöglichen, nicht nur diese Zeit, sondern auch die Suche nach ihren politischen Determinanten nachzuerleben. Mit der Wiederaufnahme der Rahmenerzählung kommt es zur beschriebenen Montage zwischen den Kommentaren Alders zur Catilina-Affäre sowie Spicers zur weiteren Entwicklung Caesars und den knapperen Fortsetzungen der Tagebücher. In dieser Trias aus Exposition, Hauptteil und struktureller Komplikation mit plötzlichem Abbruch könnte der Hauptteil durchaus für sich alleine stehen, ist er doch ein sowohl ausdehnungsmäßig wie in der erzählerischen Komplexität eindeutig dominierender Binnentext. Was die anderen Perspektiven über die Bereitstellung eines Orientierungsmodells, konvergenter Betonungen der ökonomischen Bedingungen und von Hintergrundsinformationen zum Verständnis der Catilina-Affäre noch bieten, ist zunächst die Bewußtmachung der Pluralität der geschichtlichen Erfahrung. Die jeweilige Relativierung der Einzelperspektiven zeigt, wie veränderte soziale und ökonomische Determinanten zu verschiedenartigen Sichtweisen historischer Vorgänge führen. Hierüber wird es dann aber möglich, im Nebeneinander kompatibler und doch divergenter Geschichtsszenarien die Kontingenz der geschichtlichen Vorgänge faßbar zu machen. Rarus' Suche nach der »inside story« muß die Kanalisierung der Bedrohung durch die Ausgebeuteten im persönlichen Erfolgsmythos, die Aider erkennen läßt, ebenso verborgen bleiben wie Aider und Rarus die von Spicer geschilderte Funktion Caesars als Vorreiter ökonomischer Strukturentwicklungen. Im Nebeneinander erschließt sich das geschichtliche Geschehen aber nicht nur als ein Netz von Vorgängen, das alle drei Sichtweisen zuläßt; in diesem Netz eröffnen sich über jede dieser Sichtweisen auch Anschlußmöglichkeiten für eine niemals realisierte Fortführung der jeweils entworfenen Geschichte. 32 So zeigt sich, daß die Einzelelemente in ihrer Abfolge weder nur »jeweils für sich genommen falsch sind und sich gegenseitig relativieren« noch allein »in ei-

32 V.a. Lehmann (1977:367f) und Busch (1982:830 zählen »alternative historische Entwicklungsmöglichkeiten« (Busch 84) auf: Lehmann erwähnt die von Rarus berichtete Plünderung der Wechselstuben durch das Volk (Brecht 1967:XIV/1258f), Busch Reflexionen zur Sklavenbefreiung, die Brecht fur das nicht ausgeführte 6. Buch geplant hatte. Nur Lehmann weist auf die damit ausgedrückte Kontingenz der geschichtlichen Entwicklung hin: »Vielmehr ergeben die Widersprüche nur Anhaltspunkte für mögliches veränderndes Handeln und zugleich für die Schwierigkeiten der Veränderung« (Lehmann 368); aber auch er geht kaum auf die bedingenden Textstrukturen ein: denn es ist ja erst die Differenz zwischen den Perspektiven des Textes und zu der auf einem ganz anderen geschichtlichen Wissen aufbauenden Sicht des Lesers, die dieses Urteil ermöglicht. Vgl. in diesem Zusammenhang auch H. Müllers abschließendes Urteil, der Roman behaupte auf der einen Seite eine ökonomische Determination der Geschichte, demonstriere auf der anderen aber »eine nichtnotwendige, eine nichtteleologische Gerichtetheit der Geschichte [...], der prinzipiell Kontingenz zu unterstellen ist.« (H. Müller 1988:70)

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ner einheitlichen Gesamtschau« konvergieren und auch weit davon entfernt sind, sich »wechselseitig [zu] spiegeln und dialektisch auf[zu]heben«. Sie bilden ein komplexes System von Konvergenzen und Divergenzen, in dem sowohl das Bestreben jeder Geschichtsschreibung nach Konsistenz wie auch die ihr entgegenstehende Kontingenz ihres Gegenstandes dargestellt werden. Doch hiermit sind die Fragen danach, wie man Geschichte schreiben und wie man Autor werden kann, noch nicht befriedigend beantwortet. Denn Brechts Roman beschreibt ja auch einen Lernprozeß: er besteht in der Suche des Historikers nach der Biographie Caesars. Die Verbindung der Elemente Scotts »mittlerer Held«, die Verkörperung des »neutral ground«, stellte als alter ego des Lesers die Erfahrbarkeit der Geschichte sicher und ließ über seinen Bildungsprozeß hin zum Autor den Leser zum Mitspieler im Geschichtengenerator des Romans werden. Der erzählende Historiker in Brechts Roman hat einen weitaus unsichereren Stand. Immerhin stellt auch er das Bewußtsein dar, in dem das vielfältige geschichtliche Geschehen konvergiert und so für den Leser begreifbar wird. Doch was bei Scott die Form einer in eine Abenteuerhandlung gebetteten, zunächst reichlich unbestimmten Entwicklung annahm, ist bei Brecht erst einmal ein simpler Lektüreprozeß, der von einem pragmatischen Ziel kontrolliert wird: dem Schreiben der Biographie Caesars. Allerdings besitzt der Historiker hier eine dem Scottschen Helden vergleichbare Naivität, die jedoch nur langsam deutlich wird. Er hat das hehre Ziel, die »wahren Beweggründe der Taten« des »großen Politikers« zu finden (Brecht 1967:XIV/1171), und er sieht diese Taten in wahrhaft epochemachenden Dimensionen: Er hatte ein neues Zeitalter eingeleitet. Vor ihm war Rom eine große Stadt mit einigen zerstreuten Kolonien gewesen. Erst er hatte das Imperium gegründet. Er hatte die Gesetze kodifiziert, das Münzwesen reformiert, sogar den Kalender den wissenschaftlichen Erkenntnissen angepaßt. Seine Feldzüge in Gallien, welche die römischen Feldzeichen bis ins ferne Britannien trugen, hatten dem Handel und der Zivilisation einen neuen Kontinent eröffnet. Sein Standbild stand unter denen der Götter, nach ihm nannten sich Städte und ein Jahresmonat, und die Monarchen fügten seinen erlauchten N a m e n zu den ihrigen zu. Es war schon klar, daß er das unerreichbare Vorbild aller Diktatoren werden würde. (1176)

Was sich hier präsentiert, ist der idealistische Geschichtsmythos des epochalen Individuums. Wie die vorangegangene Untersuchung gezeigt hat, erweist sich dieses Verständnis in der Konfrontation mit der Seeräuber-Umerzählung und den weiteren Caesar-Darstellungen zunächst als verständnishemmend und bald als nicht mehr tragbar. Der Historiker tut sich allerdings schwer mit dieser Erkenntnis. Das erste Zeichen dafür, daß bei ihm nicht nur Ärger über die falsche

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Sichtweise seiner Gesprächspartner, sondern so etwas wie Erschütterung über die vergangenen Vorgänge frei wird, ist eine Äußerung nach der Lektüre des ersten Tagebuchs des Rarus: Ich fühlte plötzlich wieder mit einem Aufatmen, daß doch drei Jahrzehnte seit diesen Geschehnissen, von denen ich gelesen hatte, vergangen waren. (1313)

Innerhalb der Ebene der fiktiven Ereignisse folgt nur noch ein weiterer Kommentar des Historikers, der eine fortschreitende Veränderung seiner Position zeigt: Ich war noch keineswegs so weit, daß ich mir von einer Behandlung größter politischer Ereignisse, eines Geschehens von welthistorischer Bedeutung vom rein geschäftlichen Standpunkt aus viel Erleuchtung versprach. Meine Haltung war bewußt die des geduldigen Zuwartens. (1335)

Dennoch gibt es zwei Belege dafür, daß der Historiker auch einmal mit seiner Geduld am Ende ist. Z u m einen ist da die Vorbemerkung zum vierten Buch, die man dem fiktiven Herausgeber zuschreiben muß, der zum ersten und einzigen Mal in der Unterzeile zur Kapitelüberschrift »Aufzeichnungen des Rarus 3« erwähnt wird, und zwar als derjenige, der diese Tagebücher »verkürzt« hat (1351). Da es kaum sinnvoll ist, in diesem Herausgeber eine an dieser Stelle unangekündigt und überraschend neu eingeführte Figur zu sehen, liegt es nahe, ihn mit dem Historiker zu identifizieren. Die Äußerung verrät n u n allerdings eine deutliche Distanzierung von der anfänglichen Begeisterung und ein ebenso deudiches Bemühen um eine Identifikation der politischen Kräfte hinter Caesar: Die maßgebende Geschichtschreibung, vertreten durch alle tiefer blickenden Historiker, sieht in diesen Ereignissen den Versuch des Senats, einen T r i u m p h Caesars über Spanien zu verhindern. Die demokratischen Kräfte in Rom bemühen sich, einen Feldherrn aus ihren Reihen zum Konsul zu machen. Caesar, vor die Wahl gestellt zwischen Ehre und Macht (Triumph und Konsulat), entscheidet sich unbedenklich fur die Macht. (1351)

Wird der Sinneswandel hier v.a. durch die Einreihung in die »maßgebende Geschichtsschreibung« herausgestellt, so ist doch der Beleg, an dem er sich am präzisesten und umfassendsten demonstrieren läßt, die Erzählung selber: Als Erzähler und Herausgeber bestimmt der Historiker schließlich auf fiktiver Ebene ihre Konstruktion. In der Forschungsliteratur ist die Erzählung als fiktives Produkt des Historikers wiederholt als Ausdruck eines erfolgreichen, wenn auch im Text nicht explizit zu Ende geführten Erkenntnisprozesses gesehen worden. 3 3 Am ausführst

Vgl. neben den im Folgenden näher behandelten Arbeiten von K.D. Müller u n d Knopf auch Dahlke (1968:157), Werner (1977) u n d Lebek (1983:175). Differenzierter äußert sich Geppert (1976: 64), der in der schließlich erreichten Erkenntnis »etwas fun-

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lichsten hat dies K. D. Müller dargestellt ( 1967/1972:105ff und 1980:2590). Für ihn mündet der Erkenntnisvorgang in die Einsicht, daß die Struktur der Geschichte entscheidend von ökonomischen Gesetzmäßigkeiten u n d Erfordernissen bestimmt ist, mithin in das dialektische Geschichtsbild der materialistischen Ö k o n o m i e des Marxismus. (1967/1972:115)

Was das ursprüngliche Vorhaben des Historikers verhindert und damit diese Einsicht ermöglicht, sind für Müller »die Fakten«; hier stimmt er mit Knopf (1984/1986:393) überein, der diesen Aspekt ja besonders herausstellt. Dai? der Leser vom Roman aufgefordert wird, dem Historiker in diesem Lernprozeß zu folgen, macht Müller deutlich, wenn er ihn später als »implizite, erzählerisch gestaltete Rezeptionsanweisung« deutet (1980:261). Die dieser Lektüre zugrundeliegende Strategie ist bestimmt durch ein traditionell hermeneutisches Leseverständnis, das auf die Bildung eines konsistenten, die Bewegung des Textes kontrollierendes Signifikat abzielt. W e n n das Ziel des Erkenntnisvorgangs im Text unformuliert bleibt, übernimmt der Leser die Autorenfunktion und erzählt dieses Ziel fìir sich, um auf diese Weise seine Lektüre zu retten: Denn wenn die Kontrolle durch das Signifikat zusammenbricht, fallen auch die traditionellen Rollen des Autors und des Lesers. Genau dies geschieht aber, wenn man den Brechtschen Romantext nicht auf die Erkenntnis eines »wahrhaften« Geschichtsbildes reduziert und die Multiperspektivität der Darstellung als didaktisches Instrument zur Rezeptionssteuerung oder, wie Knopf (1984/1986:395), als materialistische Umsetzung der gesellschaftlichen Dialektik abtut. Versteht man die Reihung der Darstellungen als metonymische Montage von Medientranspositionen, erreicht die Bildung der Konvergenz hinsichtlich der Ökonomie als Bestimmungsgrund der Geschichte nie den Status eines alles kontrollierenden Signifikats: Sie bleibt ein Strukturelement im gegenseitigen Verweissystem der Elemente, dem jedoch die Kontingenz, die in der Pluralität dieser Elemente erscheint, entgegensteht. Der ökonomische Bestimmungsgrund strebt danach, die Geschichte als ein regelgeleitetes, teleologisch ablaufendes System zu fassen, während die prinzipiell nicht abschließbare metonymische Reihung der metaphorischen Umerzählungen sich eben dieser Bewegung entzieht. Das bedeutet aber auch, daß der Historiker nie zum sinnstiftenden Autor werden kann. So ist seine Erzählung ja auch das D o k u m e n t eines Scheiterns: Er präsentiert gerade nicht eine konsistente Umschreibung der idealistischen Geschichtsschreibung, sondern ein Netz von mehr oder weniger artikulierten U m -

damental Ungeschlossenes« sieht, das für ihn an »eine veränderte Kommunikationssituation« appelliert, die Geppert später bei Habermas zu finden glaubt. Weitere kritischere Deutungen finden sich in den bereits erwähnten Ausführungen von Lehmann (1977) und H . Müller (1988). Vgl. hierzu Anmerkung 32, S. 98.

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erzählungen, die das Projekt einer solchen Geschichtsschreibung verhindert haben. Was Scotts Waverley am Ende seiner Reise erreicht: in seiner Gesellschaft anerkannter Autor zu sein, bleibt dem Historiker verwehrt; und indem er diese Situation zum Gegenstand seiner Erzählung macht, entdeckt er dem Leser ihre Notwendigkeit. W e n n man also auch bei Brecht von einem Geschichtengenerator sprechen will, so ist es hier einer, der nicht Geschichten und damit Autoren, sondern nur deren Figuren produzieren kann; Figuren, die sich sowohl in metaphorischer wie in metonymischer Richtung in einer permanenten Bewegung des Verweisens befinden. Der Generator verbleibt in einem unendlichen Produktionsleerlauf, in dem nie abgeschlossene Produkte erzeugt werden. Das Ergebnis der Arbeit des Romantextes kann deshalb auch nicht in Sinnstiftung und Identitätsvergabe gefunden werden, die erst über das Entdecken einer verborgenen Schleife zu dekonstruieren sind. Es besteht in dieser Struktur des endlosen wechselseitigen Verweisens, in der sich die einzelnen Elemente immer neu das Ziel der Konsistenzbildung setzen und immer im Versuch befangen bleiben. Im Fragment findet diese Struktur ihren folgerichtigen Abbruch. W e n n die Rollenvergabe an den Autor ein Bemühen bleibt, kann es seinem alter ego, dem Leser, nicht anders ergehen. So ist die Angst vor dem T o d als Leser sicher eines der Motive, warum gerade die beiden wichtigsten Interpreten von Brechts Ceasar-Roman an der Lektürestrategie der positiven Erkenntnisbestimmung festhalten. Doch damit ist das Problem noch nicht gelöst. Denn es bleibt die Frage, wie das ja nicht nur auf Wahrheitsvermittlung, sondern darüberhinaus auf eingreifende politische Sätze, also: Handlungen ausgerichtete dialektische Modell des Umschreibens mit dem offenen fiktionalen System der Umerzählungen zu vereinbaren ist, mithin: wie der Widerspruch zwischen der Fundierung der Poetik des Brechtschen historischen Romans in der Medientransposition und dem metaphysischen Materialismus des Autors zu lösen ist.

Das Dilemma der Wahrheit Im Zusammenhang der Beschreibung des Modells der Straßenszene bestimmt Brecht im Messingkauf die Funktion des V-Effekts: Der Zweck des Effekts ist, dem Zuschauer eine fruchtbare Kritik vom gesellschaftlichen Standpunkt zu ermöglichen. (Brecht 1967:XVI/553)

Hier zeigt sich noch einmal in konzentrierter Form, daß die Wirkungsabsicht Brechts »subjektzentriert und idealistisch« ist: »Sie will Subjekteffekte erzielen: Effekte beim Subjekt und Effekte von Subjektivierung, Subjekt-Werdung.« (H. Müller 1988:74) Von diesem Ziel her versteht sich die Verwendung der dialektischen Methode, so etwa in der Technik des Umschreibens: Ein Gegenüber, sei

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er nun Leser oder Zuschauer/hörer, soll überzeugt werden, von einer uneigentlichen Wirklichkeitssicht zur eigentlichen geführt werden; auf dem Hintergrund der vorangegangenen Untersuchung läßt sich auch sagen: von einem Aufschreibesystem in ein anderes geleitet werden. Hier tut sich nun aber ein ganzes Netzwerk von Problemen auf. Um diesen dialektischen Umschreibevorgang überhaupt verstehen zu können, muß dieses Gegenüber ja Wissen um die Texte und Diskurse haben, die in dem Vorgang aufgerufen werden. Im Falle der Reden von Göring und Hess ist dies eine für den adressierten Zeitgenossen relativ leicht zu erfüllende Anforderung; notfalls kann man die relevanten Stellen auch zitieren, wie geschehen. Im Falle eines Romans wie Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar sind die Anforderungen schon schwieriger zu erfüllen: Denn über das Wissen um Caesar - und zwar offensichtlich mehr als die berichtete Seeräuber-Anekdote - hinaus ist ja auch ein Vertrautsein mit Erzähltraditionen nötig, um in dieser andersartigen Ästhetik einen zum Weiterlesen animierenden Reiz zu entdecken. Das, was Brecht voraussetzt, sind somit Elemente bürgerlicher Bildung. »Kritik vom gesellschaftlichen Standpunkt aus« ist den bürgerlichen Traditionen nun aber aggressiv entgegengesetzt: Denn hiermit sind ja eingreifende Sätze gefordert, aktives Handeln im Prozeß des Klassenkampfes. Subjektwerdung heißt damit: Aufgeben vertrauter Orientierungsmuster und Finden einer Identität im Erarbeiten der klassenlosen Gesellschaft. Zum einen setzt dies eine sicherlich nicht einfach vorauszusetzende Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit von Seiten des Adressaten voraus. Zum anderen fragt sich, wie tragfähig die Textstrukturen sind, die diese Arbeit stützen und leiten sollen. Die Analyse der Poetik des fiktionalen Textes hat gezeigt, daß die Einsetzung eines Signifikats durch die permanente Bewegung des Verweisens verhindert wird. Die Basis für diese Bewegung liegt in der Relativierung jeder Einzelaussage durch ihre Rückführung auf gesellschaftliche, historische, erzähltheoretische und sprachliche Determinanten. Das bedeutet aber: das textuelle Einzelelement wird an andere, innerhalb des fiktionalen Textes nur aufgerufene Texte bzw. Diskurse angeschlossen und so aus einer idealisierten Einzelstellung gelöst. Im Rahmen der Intention der Dialektik des Umschreibens hat diese Bewegung keinen Platz; doch die Struktur der Textkontrastierung ruft sie dennoch auf. Denn sobald der umschreibende Text der Möglichkeit der Relativierung preisgegeben, also: in Richtung auf andere Diskurse geöffnet wird, bricht der Anspruch der Wahrheit und damit die Herrschaft des Signifikats zusammen. Die Dialektik öffnet sich zu einem offenen System, denn jedes scheinbare Signifikat erweist sich nur als seine Figur, als potentiell unendliche Verweiskette von Signifikanten. Der exakte Ort des Widerspruchs ist damit aber zwischen der Struktur der aufgeführten fiktionalen wie nicht-fiktionalen Texte und der ihnen vom Autor (und offensichtlich ebenso von einigen Interpreten) zugeschriebenen Intention

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zu finden. Die prinzipiell subjektdezentrierte Struktur wird von einer streng subjektgerichteten Wirkungsabsicht instrumentalisiert, ohne sie kontrollieren zu können. Brechts Versuch, diese Struktur mit der Rückführung auf die Straßenszene im Alltagsleben, also: der Wirklichkeit zu fundieren, produziert nur ein neuerliches Modell von Wirklichkeit, damit aber: ihre Figur. Die »andere« Übersetzung ist nichts anderes als eine Medientransposition, die die Unmöglichkeit des Rückgriffs auf das, was doch hinter dem Medium zu sein scheint, nicht wahrhaben will. Max Frischs inzwischen selber klassisches Diktum, Brecht habe »die durchschlagende Wirkungslosigkeit eines Klassikers«,34 findet damit aber einen ergänzenden Kommentar. Wenn Brecht Figuren von Wirklichkeit präsentiert, mit diesen aber eine wirklichkeitsverändernde Intention verbindet, macht er es seinen Adressaten leicht, diese Figuren als irrelevante Konstruktionen abzutun und sich allein dem ästhetischen Spiel zu überlassen - das allerdings in seiner Komplexität und Traditionsdurchbrechung nicht gerade einfach zu konsumieren ist; doch gerade darin kann ja sein besonderer Reiz gesehen werden. Teilt der Adressat aber Brechts Identifizierung der Figur mit der Wirklichkeit, ist die Wirkungsintention schon vor dem Einsatz der Argumentationsstruktur eingelöst und ihre pragmatische Dimension wieder hinfällig. Ihre Komplexität, der hohe Anspruch an Vorkenntnissen wird im Falle des proletarischen Adressaten leicht zum Rezeptionshindernis. 35 Was auch eine gegen die materialistische Intention und mit der beschriebenen Poetik vorgehende Lektüre als positive Erkenntnis gewinnen kann, ist eine Einsicht in Möglichkeiten und Grenzen der Wirklichkeitsbeschreibung, damit aber der Geschichtsschreibung und -erzählung. Doch die Frage bleibt, wie auf dieser Basis Handeln, das, in welcher Weise auch immer, eingreifen will, möglich sein soll. Denn wird der umschreibende Text selbst als Objekt eines Umschreibevorgangs entdeckt, kann die Identifizierung von politisch und marxistisch ebenso wie die eindeutige klassenkämpferische Besetzung der eingreifenden Handlung nicht mehr aufrechterhalten werden: in dieser Lektüre werden sie zur Illusion. So hat im Rahmen der politischen Situation, die Handlungen verlangt, die Dialektik des listigen Bert Brecht eine sinnstifiende Funktion: Sie läßt sich als Lektüreanweisung verstehen, die aus dem, was strukturell Illusion ist, die pragmatische Wahrheit macht, die politisches Handeln erst ermöglicht.

34 Vgl. Frisch, »Der Autor und das Theater« (Frisch 1976:342). 35 Vgl. zu diesem Problemkreis bes. Mayer (1971).

Pynchon: Die Medientransposition auf der Suche nach der Ubersetzung

»Events seem to be ordered into an ominous logic.« It repeated itself automatically and Stencil improved on it each time, placing emphasis on different words — »events seemv, »seem to be ordereck; »ominous logic« - pronouncing them differently, changing the »tone of voice« from sepulchral to jaunty: round and round and round. Events seem to be ordered into an ominous logic. He found paper and pencil and began to write the sentence in varying hands and type faces.

Thomas Pynchon, V. (1963)

Der Spion und die Geschichte Anders als Walter Scott oder Bertolt Brecht hat sich Thomas Pynchon theoretischer Äußerungen zu den Verfahren seiner literarischen Arbeit weitgehend enthalten. Der einzige Text, in dem er sich zu seinem Werk äußert, ist die »Introduction« zu der Sammlung seiner vor dem Roman V. entstandenen Erzählungen, Slow Learner (1985:5 - 25). Hier beschäftigt er sich mit den Entstehungsbedingungen dieser Erzählungen, den Themen und Hintergründen, die in sie einflossen, und der Skepsis, die ihn bei der erneuten Lektüre dieser frühen Werke überkam. So auffällig solche Äußerungen bei dem ansonsten geradezu pathologisch öffentlichkeitsscheuen Pynchon sind - nicht nur sein Aufenthaltsort ist ebenso wie der größte Teil seiner Vita unbekannt, es existiert sogar nur ein veröffentlichtes Foto von ihm, das ihn als Jugendlichen zeigt1 - , fur die Frage nach den Verarbeitungsvorgängen seiner Texte geben sie nur einige clues her. Rele-

1

Vgl. Winston (1975:285). Winstons Aufsatz verfolgt Pynchons Stammbaum zwar bis ins elfte Jahrhundert zurück, hat aber nur sehr wenig über die Biographie des Autors zu sagen — denn es gibt kaum sichere Daten. Das reichlich nichtssagende Jugendfoto schmückt immerhin die deutschen Taschenbuchausgaben der Werke Pynchons im Rowohlt Verlag.

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Der Spion und die Geschichte

vante Informationen lassen sich nur den fiktionalen Texten selber entnehmen. In der Öffentlichkeit ist Thomas Pynchon eben, wie es der Klappentext zu seinem neuesten Roman Vineland{ 1990) demonstriert, nichts anderes als sein Werk: Thomas Pynchon is the author of V., The Crying of Lot 49, Gravity's Rainbow, and Slow Learner, a collection of short stories. Die Tradition, auf die ein Schriftsteller zurückblickt, der nach dem Ende der klassischen Moderne Geschichte thematisieren will, ist in den vorausgegangenen Kapiteln beschrieben worden. In der klassischen, übersetzenden Geschichtserzählung Scottscher Prägung offenbart sich dem Autor die Geschichte von vornherein als Erzählung. Zum Thema des Romans wird, wie im Umgang mit der Geschichte ein Autor von neuen Geschichtserzählungen entsteht; dieselbe Rolle nimmt der Leser ein, wenn er die Erzählungserstellung zum einen über diese Genese, zum anderen durch die Bezugssetzung von Haupttext und quellenbenennenden Fußnoten nachvollzieht. Was damit zur Darstellung und zur Umsetzung im Leseakt gelangt, ist der Diskurs der übersetzenden Geschichtserzählung selbst. Bedingung der Möglichkeit dieses Vorgangs ist die unmittelbare Einheit von Signifikat und Signifikanten. Wenn der Glaube an diese nicht hintergehbare Sinnoffenbarung verloren geht, klafft zwischen bildlichem Signifikat und buchstäblichen Signifikanten ein Riß, der nur über die Metapher bzw. ihre Instrumentalisierung, die Medientransposition, zu überbrücken ist. Die Übersetzung ist hier nicht mehr möglich; sie kann nur noch imitiert werden, wie etwa im kommerziellen Film. Der moderne historische Roman eines Bertolt Brecht transponiert denn auch die Geschichte: Hier ist die Geschichtserzählung eine Folge von Versuchen der Umschreibung der traditionellen übersetzenden Geschichtsschreibung, die jedoch, entgegen Brechts didaktischen Zielen, keine neue Sinneinheit produzieren können: Die Umschreibungen bleiben relativierte Umerzählungen, die in einer potentiell unendlichen Kette stehen. Die Identitätsvergabe kann nicht mehr funktionieren, denn die Bewegung bleibt in einer permanenten Geste des Verweisens befangen und produziert nur die Figuren von Geschichten und Autoren. Pynchons erster Versuch der Thematisierung von Geschichte ist seine Erzählung Under the Rose (1961/ 1985). Wie er in seiner »Introduction« darstellt, war die zentrale Datenquelle für die Erzählung Karl Baedekers Ägyptenftihrer aus dem Jahre 1899 (Pynchon 1985: 19). Das geschichtliche Ereignis, das zu einem der Gegenstände der Erzählung wird, hat Pynchon jedoch kaum im Baedeker gefunden: die Faschoda-Krise im Jahre 1898. In die sudanesische Ortschaft Faschoda am linken Ufer des Weißen Nils marschierte im Juli 1898 der französische Major Marchand mit einem Expeditionscorps ein, um auf diese Weise das Gebiet des Oberen Nils, ein britisches Interessengebiet, für Frankreich zu reklamieren. Die Aktion war eine direkte Provokation des gerade zuvor im nördlichen Sudans siegreichen Generals

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aufder Suche nach der

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Kitchener, der denn auch sogleich Order bekam, Faschoda von den Franzosen zu räumen. Wäre es dazu gekommen, hätte die unmittelbare Gefahr eines Krieges zwischen Frankreich und England in Europa bestanden. Im letzten Moment lenkte Frankreich jedoch ein, zog Marchand zurück und verzichtete im März 1899 per Vertrag auf das Nilgebiet, wofür England als Gegenleistung die französische Herrschaft in Westafrika anerkannte. 2 Aus dieser Datenbasis wird bei Pynchon eine Erzählung, die auf der äußeren Handlungsebene einen Spionagefall zum Inhalt hat, 3 auf der inneren aber die Sinnkrise eines der Hauptakteure in diesem Fall, des alternden britischen Spions Porpentine. Wie Fowler (1984:34) anmerkt, erscheint die Faschoda-Krise selber heute schon eher romanhaft denn real: ... the »Fashoda-Crisis«, one of those 19th century diplomatic-military incidents that seem from the vantage of our own era so stylized with chivalric gesture as to belong less to history than to Tennyson or Walter Scott.

Mit der Sinnkrise Propentines wird dieses Moment zum Thema der Erzählung. Denn der Gegenstand dieser Krise besteht im Untergang eben jener Ritterlichkeit. Mit dem nahenden Ende des Jahrhunderts endet für den Geheimagenten auch eine Tradition in der Spionage »where everything was tacitly on a gentlemanly basis« (Pynchon 1961/1985:96). Was damit verschwindet, ist der Maßstab von Porpentines Handeln: Sein Leben ist bestimmt durch >The Ruless die ihm die Mittel in die Hand geben, um >The Situation zu erkennen und die richtige Lösung zu suchen. Letzten Endes besteht für ihn diese Lösung darin, >Armageddon< zu verhindern: den apokalyptischen Krieg, den seine Feinde in Gestalt des deutschen Spions Moldweorp und seiner Leute herbeiführen wollen. Porpentine ist sich jedoch dessen bewußt, daß dieses Ziel längst sein persönliches geworden ist, das von seinem Auftraggeber nur geduldet wird: Fortunately for Porpentine the Foreign Office had enough of the old spirit left to give him nearly free hand. Although if they did suspect he'd have no way of knowing. W h e re his personal mission coincided with diplomatic policy, Porpentine would send back a report to London, and no one ever seemed to complain. (101/102)

In diesem persönlichen Kampf ist Porpentine an seine Gegner gekettet. Eine Verbindung zwischen ihm selbst, den seine Gegner »il semplice inglese« (96)

2 3

Vgl. zu den historischen Geschehnissen die Darstellung bei Fowler (1984:34ß. Auf den Spionagefall bezieht sich der nicht unmittelbar verständliche Titel der Erzählung. W i e Patteson (1984:306) erläutert, ist »Under the Rose< »a translation of the latin sub rosa [which] refers to the custom of hanging a rose over the council table to bind all those present to secrecy. Hence, anything done »under the rose« is done secretly.«

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Der Spion und die Geschichte

nennen, und dem »veteran spy« (96) Moldweorp sieht Porpentine darin, daß sie beide aus dem gleichen Holz geschnitzt sind: comrade Machiavellians, still playing the games of Renaissance Italian politics in a world that had outgrown them. (101)

Den Status, den diese Welt angenommen hat, analysiert Porpentine kritisch: ... a Western World where spying was becoming less an individual than a group enterprise, where the events of 1848 and the activities of anarchists and radicals all over the Continent seemed to proclaim that history was being made no longer through the virtu of single princes but rather by man in the mass; by trends and tendencies and impersonal curves on a lattice of pale blue lines. So it was inevitably single combat between the veteran spy and il semplice inglese. They stood alone - God knew where - on deserted lists. (101)

Dies hat immerhin zur Folge, daß sich beide Seiten an >The Rules< halten, wobei sich Propentine allerdings in der unterlegenen Position sieht: They would continue to use so fortunate an engine: would never seek his life, violate The Rules, forbear what had become for them pleasure. (97)

Denn so klar auch die Ubereinstimmungen sind, ebenso deutlich ist, daß Porpentine und Moldweorp doch in feindlichen Lagern stehen. Der entscheidende Punkt läßt sich in der »perverse idea of what is clean« (112) zusammenfassen: Für Porpentine ist es eben diese Reinheit, die Moldweorp und seine Leute anbeten, die sie den Krieg suchen läßt, und die sie also zu Menschenverachtern macht. Porpentine dagegen sieht sich als Retter dieser Menschheit - was allerdings auch Probleme mit sich bringt: Porpentine found it necessary to believe if one appointed oneself savior of humanity that perhaps one must love that humanity only in the abstract. For any descent to the personal level can make a purpose less pure. (112)

Praktisch bedeutet dies für den Spion, daß >The Rules< hier die Form eines konkreten Verhaltenskodexes annehmen: You do not feel pity for the men you have to kill or the people you have to hurt. You do not feel any more than a vague esprit de corps toward the agents you are working with. Above all, you do not fall in love. (107 - Hervorhebung im Text)

Porpentine hat sich damit selbst in eine Rolle gedrängt, die ihn notwendigerweise einerseits in die persönliche Einsamkeit zwingt, andererseits zur Hypersensibilität gegenüber jedem Anzeichen auf einen weiteren Schritt in Richtung des gefürchteten Untergangs treibt. Mit der sich anbahnenden Faschoda-Krise hat sich ein fruchtbarer Gegenstand gefunden. Porpentine fühlt sich gefordert, denn seine Gegner könnten Lord Cromer, den britischen Generalkonsul in Ägypten, ermorden und damit das Pulverfaß zur Explosion bringen.

Pynchon: Die Medientransposition auf der Suche nach der Übersetzung

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Die Situation des Protagonisten besitzt somit aber Übereinstimmungen mit der eines Scottschen mittleren Helden. Porpentine befindet sich in einer Zeit des Umbruchs, in der alte und neue Werte aufeinanderprallen; er wird unmittelbar in den Kampf involviert, da dieser sich in seiner direkten Umgebung personifiziert. Anders als Waverley oder Quentin Durward ist Porpentine allerdings selbst Träger des einen, überalterten Prinzips; das andere, neue wird primär von Moldweorps neuem Untergebenem Bongo-Shaftsbury verkörpert, der Porpentine als die Inkarnation der »new ones« (117) begegnet, die vor allem eines auszeichnet: »Not observing The Rules, surely.« (117) Die Analogie zu Scott kann dennoch aufrechterhalten werden, denn Porpentine bleibt bis zur Schlußphase der Erzählung in der Position der Beobachterfigur: Ohne selbst zu handeln, fokussiert er das Geschehen für den Leser. Erzähltechnisches Mittel hierfür ist die konstant verwendete erlebte Rede. Auf dieser Basis wird die Frage nach der Funktion der Autorschaft relevant. Im Rahmen seines Codex ist Porpentine potentiell in der Lage, als Autor zu fungieren: Die zentrale Sinneinheit >The Situation kann von ihm mittels des Instrumentariums >The Rules< zur Lösung geführt werden. Was hier vorliegt, ist schlicht ein Ubersetzungsvorgang. Porpentines Aufgabe ist es, in der Situation, die sich ihm eröffnet, die Erzählung zu entdecken und sie zu einem möglichst positiv besetzten Ende zu führen. Sein Bericht an das Foreign Office ist materieller Ausdruck seiner Autorschaft: Abschluß seines Agierens im Diskurs der gentlemanly espionage. In dem Moment, da dieser Diskurs problematisch wird, ist auch Porpentines Funktion als Autor in Frage gestellt. Seine Sinnkrise manifestiert sich in Form von Reflexionen über die schwindende Gültigkeit des Regelsystems des Diskurses. Auf dem Spiel steht nichts anderes als Porpentines Identität: Ist es doch der Diskurs, der ihn erst zum Spion macht. Sichtbarer Ausdruck ist der Name, den er in diesem Diskurs besitzt - >il semplice inglesec the label was a way of fixing identity in this special haut monde before death — individual or collective - stung it to stillness forever. (96 - Hervorhebung im Text)

Wenn der Name aber permanente Stasis mit sich bringt, hat der Diskurs die Anschlußmöglichkeit an andere Diskurse verloren: Seine Signifikate sind nicht mehr transportabel, er ist nicht mehr übersetzbar. Pynchons Porpentine hat damit einen Punkt erreicht, zu dem ein Scottscher Held nie gelangen könnte: Von einem Diskurs bestimmt, der keine Konsensfdhigkeit mehr besitzt, muß er in vollem Bewußtsein dieser Situation versuchen, seine Identität auf anderem Wege sicherzustellen. Dies kann nur bedeuten: über andere Diskurse. Der prägnanteste Versuch in dieser Richtung ist die Identifizierung mit dem Chevalier Des Grieux aus Puccinis Oper Manon Lescaut. Wie der Leser gleich zu Beginn der Erzählung erfährt, haben Porpentine und sein Partner Goodfellow

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Der Spion und die Geschichte

die umjubelte Premiere der Oper 1893 in Turin besucht, bei der Cremonini Des Grieux sang.4 Porpentines Identifikation ist paradoxerweise bereits gebrochen: Er beneidet Des Grieux um seine reine, in ihrer Eindeutigkeit aber auch hoffnungslose Leidenschaft, ist sich zugleich aber der Unerreichbarkeit dieses Zustandes für sich bewußt. He was no Des Grieux. Des Grieux knows, soon as he sees that young lady off the diligence from Arras, what will happen. He does not make false starts or feints, this chevalier, has nothing to decode, no double game to play. Porpentine envied him. (122)

Aus dieser Frustration heraus sieht Porpentine sich als eine unfähige Kopie des großen Cremonini: [He] would remain instead an inept Cremonini singing Des Grieux, expressing certain passions by calculated musical covenant, would never leave a stage where vehemences and tendresses are merely forte and piano, where the Paris gate at Amiens foreshortens mathematically and is illuminated by the precise glow of calcium light. (112)

Porpentines Versuch einer aktiven Identitätsfindung über Analogien scheitert so aber schon im Ansatz. Er kann sich erst gar nicht in den fremden Diskurs einschreiben, da ihm von vornherein der Glaube daran fehlt, daß seine Situation sich überhaupt in diesen Diskurs übersetzen läßt. Von der Unproduktivität des ihn bestimmenden Diskurs der gentlemanlike espionage überzeugt, ist Porpentine nicht fähig, sich aus den Begrenzungen dieses Regelsystems zu befreien. Eine Identität zugewiesen wird der Figur des Porpentine mit dieser Aussage jedoch auf der Ebene der Erzählung. Und mit der Identitätsvergabe hat das Thema dieser Erzählung eine sehr viel präzisere Benennung gefunden. Denn was nun in Pynchons Under the Rose gesehen werden kann, ist die Darstellung eines Autors am Ende des Aufschreibesystems 1800 - vollzogen mit den Mitteln des nachfolgenden Systems. Auf der Ebene der Erzählung gelingt, was der erzählten Figur des Porpentine verwehrt bleibt: die Analogie zu Manon Lescaut. Denn indem in der Erzählung kontinuierlich Parallelen zur Oper Puccinis gezogen werden, kann deren Handlung in der Lesererwartung zum Muster für die weitere Entwicklung Porpentines werden. Propentine, innerhalb der Grenzen des überkommenen Aufschreibesystems verhaftet, vermag sich nicht in Des Grieux zu übersetzen; fur den Leser kann die Entwicklung dieser Figur jedoch zur Metapher des weiteren Geschehens werden. Die Geschichte Porpentines erscheint in diesem Moment als eine Transposition von Manon Lescaut.

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Vgl. Pynchon 1961/1985:99. Die Funktion des Manon LescauP-Moms wird ausfuhrlich von Cowart (1977) und daneben auch von Fowler (1984:36f und 41) analysiert.

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Am deutlichsten wird dies in der Schlußphase der Erzählung. Nachdem sich Marchand und Kitchener in Faschoda gegenüberstehen und der Krisenpunkt erreicht ist, befürchten Porpentine und sein Partner Goodfellow, daß Moldweorp das Attentat auf Cromer an einem Opernabend ausführen wollen. Gegeben wird nichts anderes als Manon Lescaut. Als Porpentine glaubt, das Attentat stehe unmittelbar bevor, verquickt die Erzählung geschickt das Geschehen auf der Bühne mit dem Erleben des Spions: Porpentine centered his sights on Bongo-Shaftsbury, then let the muzzle drift down and to the right until it pointed at Lord Cromer. It occurred to him that he could end everything for himself right now, never have to worry about Europe again. He had a sick moment of uncertainty. Now how serious had anyone ever been? Was aping BongoShaftsbury's tactics less real than opposing them? Like a bloody grouse, Goodfellow had said. Manon was helped down from the coach. Des Grieux gaped, was transfixed, read his destiny on her eyes. Someone was standing behind Porpentine. He glanced back, quickly in that moment of hopeless love, and saw Moldweorp there looking decayed, incredibly old, face set in a hideous though compassionate smile. Panicking, Porpentine turned and fired blindly, perhaps at Bongo-Shaftsbury, perhaps at Lord Cromer. (127)

In dem Moment, da er sieht, wie Des Grieux auf der Bühne seinem Schicksal begegnet, ist Porpentine ironischerweise völlig verunsichert gegenüber seiner eigenen Situation. Was ihm nicht bewußt ist, kann der Leser über die Parallele ersehen: Wie Des Grieux hat der Spion einen fatalen Moment erreicht, an dem sich für ihn alles ändern wird. Porpentines Manon heißt allerdings Moldweorp, und was der knappe Dialog zwischen beiden aussagt, ist nichts anderes als der endgültige Untergang des Regelsystems der gentlemanlike espionage·. »Please, dear fellow,« Moldweorp gasped. »Don't go after them. You are outnumbered.« Porpentine had reached the top step. »Three to two,« he muttered. »More than three. My chief and his, and staff personel...« Which stopped Porpentine dead. »Your - « «I have been under orders, you know.« The old man sounded apologetic. Then, all in a nostalgic rush: »The Situation, don't you know, it is serious this time, we are all for it — « Porpentine looked back, exasperated. »Go away,« he yelled, »go away and die.« And was certain only in a dim way that the interchange of words had now, at last, been decisive. (127/128)

Nachdem Porpentine innerhalb seines Diskurses schon so verunsichert war, daß er seine Situation nicht nur nicht mehr einschätzen konnte, sondern auch schon blind handelte, ohne Kontrolle, was aus seiner Handlung entstehen könnte, nach dieser völligen Aufgabe jeder Autorschaft also muß er nun noch erkennen, daß der Diskurs noch weitaus zerrütteter war als von ihm angenommen, daß er auch von Moldweorp, bei dem ihm doch der Konsens sicher zu sein schien, nur benutzt worden ist: Denn Moldweorp entdeckt sich plötzlich als ein Teil einer Struktur und zerstört so Porpentines Glauben an das glorreich unabhängige Individuum. Porpentine ist damit aber ebenso wie Des Grieux

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Der Spion und die Geschichte

the victim of his own idealism: it is suggested that »his Manon« was always a creature of convenience and cupidity — that for Moldweorp the duello was a thing to be observed as long as it was convenient. A Des Grieux unable to see his Manon for the mercenary creature she was, the Englishman had, like a fool, played fair all along. (Cowart

1977:164) Porpentines Reaktion ist der eindeutige Verstoß gegen die Regeln der gentlemanlike espionage. Er verflucht Moldweorp haßerfiillt. In diesem Moment ist der Spion sich jedoch der Tragweite seines Handelns noch nicht bewußt. Hierzu ist erst die abschließende Verfolgungsjagd notwendig, die, wie der letzte Auftritt von Des Grieux, in der Wüste endet: unter der Sphinx. Mit der Verfolgungsjagd werden jedoch die Grenzen der Opern-Metapher deutlich überschritten. Denn der Schluß der Erzählung nimmt die Form eines showdown an, wie er sich schon bei Walter Scott findet (so in Quentin Durward), und wie ihn Spionageerzählungen, mehr aber noch Spionagefilme zum vertrauten, ja unabdingbaren Element des Genres gemacht haben. Damit besitzt das Ende eine doppelte Ironie: Zum einen benötigt Porpentine für seine Bewußtwerdung des Untergangs jener Ritterlichkeit, die sein Leben bestimmt hat, ausgerechnet deren klassisches Klischee: das Duell. Es findet jedoch nicht zwischen ihm und Moldweorp statt; dessen Rolle wird folgerichtig vom Vertreter der neuen Generation von Spionen eingenommen, von Bongo-Shaftsbury. Da ja aber das zugehörige Diskurssystem eben von denen, die sich da duellieren, zersetzt worden ist, kann dieses Duell nur noch seine eigene ironische Figur sein. So fehlt es denn auch nicht an entsprechenden Details: Porpentines Pistole ist leer, als er endlich seine Feinde stellt, Bongo-Shaftsbury legt den Schalter an seinem Arm, mit dem er zu einem früheren Zeitpunkt einem Kind demonstrieren wollte, daß er eine elektrische Puppe sei, im entscheidenden Moment ostentativ um (von Porpentine kommentiert mit »A boyish gesture«, 130), und als Anlaß für den tödlichen Schuß muß tatsächlich Porpentines Verfluchung Moldweorps herhalten. Uber diese Elemente verweist die Schlußszene auf den sie steuernden Diskurs. Doch, und hier läßt sich die zweite Ebene der Ironie sehen, dieser Diskurs ist keiner mehr, der nur schriftliche Erzählungen generiert: Denn die Dominanz des Mediums Films im Genre der Spionagegeschichten erlaubt es dem Leser, in dieser Szene die Transposition eines entsprechenden Filmendes zu sehen. Anbieten würde sich etwa der berühmte showdown von Hitchcocks North by Northwest, in dem sich Gut und Böse an den Präsidentenköpfen des Mount-Rushmore-Monuments gegenüberstehen; dieser klassische Spionagefilm kam im selben Jahr heraus, in dem, laut Pynchons Darstellung in Slow Learner (1985:19), die Erzählung entstand: 1959. Wenn als das Thema von Under the Rose denn der Bruch zwischen zwei Aufschreibesystemen gesehen werden kann, so findet dieses Thema eine differenziertere Darstellung, als der einfache Verlauf der Erzählung zunächst ahnen läßt.

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Der Protagonist Porpentine scheitert an seiner Befangenheit in einem nicht mehr konsensfähigen Diskurssystem und findet entsprechend der Regeln des Diskurses, der die Darstellung dieses Vorgangs steuert, eben der Spionageerzählung, den Tod. Dieser Diskurs erscheint jedoch nicht mehr als geschlossene Einheit: über die Verwendung von Versatzstücken verweist er auf andere Diskurse, eröffnet eine Kette von Transpositionen, ohne jedoch darüber seine Identität aufzugeben: Under the Rose bleibt als Spionageerzählung klassifizierbar. 5 Die Funktion, die das geschichtliche Ereignis in diesem Vorgang hat, wird durch die letzten Sätze der Erzählung akzentuiert. Durch sie wird das dargestellte Geschehen zu einem Element in einer Serie, denn Porpentines Partner Goodfellow wiederholt dessen Haltung in entsprechendem Abstand: Sixteen years later, of course, he was in Sarajevo, loitering among crowds assembled to greet the Archduke Francis Ferdinand. Rumors of an assassination, a possible spark to apocalypse. He must be there to prevent if he could. His body had become stooped and much of his hair had fallen out. From time to time he squeezed the hand of his latest conquest, a blonde barmaid with a mustache who described him to her friends as a simple-minded Englishman, not much good in bed but liberal with his money. (131 - meine Hervorhebungen)

Das geschichtliche Ereignis hat damit aber nicht mehr als nur eine katalytische Funktion: Es dient allein dazu, die drohende Apokalypse konkret werden zu lassen, und ist so in seiner jeweiligen Substanz austauschbar; wie die Ägypten-Informationen im Baedker ist es ein abrufbares Datum. Pynchons eigene Sicht der »interesting question underlying the story - is history personal or statistical?« (Pynchon 1985:20) zeigt, worin der eigentliche Gegenstand der Erzählung besteht. Die Frage bezieht sich nicht auf das einzelne geschichtliche Ereignis, sondern auf dessen Verknüpfung zu einem System. Allerdings bedient sich Pynchon mit der Formulierung dieser interesting question< einer Naivität, die der Komplexität der Erzählung diametral entgegengesetzt ist. Natürlich bezeichnet >Geschichte< den Verlauf von Geschehnissen ebenso wie dessen Darstellung; doch eine Identifizierung der Darstellung mit dem Verlauf ist genau die Haltung, die in der Erzählung zum Problem wird. Nicht die Frage unterliegt der Erzählung, sondern die Bedingung ihrer Möglichkeit: Die Konfrontation der Diskurse, die die verschiedenen Formen der Geschichtserzählung steuern. Anders als bei Brecht werden diese Diskurse jedoch in Under the Rose nicht auch zum Gegenstand der Handlung. Indem er konventionelle Erzähl- und Handlungsmuster verwendet, grenzt sich Pynchon hier deutlich von der klassi-

5 Belege für die Einbindung von Under the Rose in das Genre der >classic spy novel· sammelt Calendrillo (1984). Porpentines Tod aufgrund der Verletzung des Spionagecodex ist danach ein typisches Element der Spionageerzählung; es findet sich beispielsweise in Greenes The Confidential Agent ebenso wie in Le Carrés The Spy Who Came in From the Cold.

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Die Theorie und ihre Erzählung

sehen Moderne ab. Daß auch mit diesen Mitteln sehr viel komplexere Konstruktionen möglich sind, zeigt Pynchons monumentaler erster Roman V., dessen 3. Kapitel die Erzählung in einer weitergeführten Form aufgreift. Bevor diese Komplexität beschrieben werden kann, ist es notwendig, einen ftir die Struktur des Pynchonschen Werkes zentralen Begriff einzuführen: den der Entropie. Pynchons erste Verarbeitung dieses Konzeptes ist die Erzählung Entropy.

Die Theorie und ihre Erzählung Webster's Third New International Dictionary of the English Language unterscheidet vier Bedeutungen von »entropyc 1 in thermodynamics: a quantity that is the measure of the amount of energy in a system not available for doing work [...] 2 in statistical mechanics: a factor or quantity that is a function of the physical state of a mechanical system and is equal to the logarithm of the probability for the occurrence of the particular molecular arrangement in that state 3 in communication theory, a measure of the efficiency of a system (as a code or language) in transmitting information, [...] indicating the degree of initial uncertainty that can be resolved by any one message 4: the ultimate state reached in the degradation of the matter and energy of the universe: state of inert uniformity of component elements: absence of form, pattern, hierarchy, or differentiation [...] Wie Pynchon in seiner Introduction darstellt, ist die erste Bedeutung die älteste und wurde 1869 von dem deutschen Physiker Rudolf Clausius geprägt: Entropy, or >transformation-contents< was introduced as a way of examining the changes a heat engine went through in a typical cycle, the transformation being heat into work. If Clausius had stuck to his native German and called it Verwandlungsinhalt instead, it could have had an entirely different impact. As it was, after having been worked with in a restrained way for the next 70 or 80 years, entropy got picked up on by some communication theorists and given the cosmic moral twist it continues to enjoy in current usage. I happened to read Norbert Wiener's The Human Use of Human Beings [...] at about the same as The Education of Henry Adams, and the >theme< of the story is mostly derivative of what these two men had to say. (Pynchon 1985:14/15 Hervorhebungen im Text) Die Grundlage für den von Pynchon angesprochenen »cosmic moral twist« war schon in der BegrifFsverwendung von >Entropie< bei Clausius angelegt. Er benötigte das Konzept für seine Formulierung des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik. Sagt der klassische Erste Hauptsatz aus: »The total quantity of energy remains constant, in a closed isolated system.« (Brillouin 1963:114), so

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Zitiert nach Bischoff ( 1976:226).

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stellt der Zweite fest, »that entropy S must always increase or at least remain constant« (114); auch dies bezieht sich aber nur auf geschlossene Systeme, also solche, »die Energie, jedoch keine Materie, austauschen« (Rifkin 1980/1989:48). Daß damit auch eine Grundlage für sachliche Berechnungen der statistischen Wahrscheinlichkeit von Molekularsystemen geschaffen wurde, zeigt die zweite Wortbedeutung. Auf einen für die Phantasie fruchtbareren Boden fiel diese Aussage jedoch schon frühzeitig in der Kosmologie, der die vierte im Webster angeführte Wortbedeutung zuzuordnen ist. Dieses Konzept von Entropie fungiert in der vom Physiker Hermann von Helmholtz aufgestellten Theorie vom >Wärmetod< des Universums. Sie besagt, daß die Uhr des Universums allmählich abläuft und es schließlich den Zustand maximaler Entropie erreichen und den Wärmetod erleiden wird. Die gesamte verfugbare Energie ist dann verbraucht und jegliche Aktivität erloschen. Der Wärmetod des Universums entspricht einem Zustand ewiger Ruhe. (Rifkin 1980/1989:59)

Der positivistische amerikanische Historiker Henry Adams hatte ebenso wie später der Mathematiker Norbert Wiener entscheidenden Anteil an der Popularisierung dieser Konzepte. Adams schildert in seiner von Pynchon angeführten Autobiographie (1907) die Genese seiner >dynamischen< Geschichtstheorie, die die Geschichte von Energien bestimmt sieht, die es mit Hilfe naturwissenschaftlicher Konzepte zu beschreiben gilt. Die Opposition zwischen Progressionskonzepten wie der Darwinschen Evolutionstheorie und Degradationskonzepten wie eben dem Zweiten Hauptsatz wurde für Adams zu einem grundlegenden Problem, das er in Werken wie A Letter to American Teachers of History (1910) ausführlich diskutierte, ohne eine praktikable Lösung anbieten zu können. Wohl aus dem besonders in seiner Education prominenten Bewußtsein heraus, hier gescheitert zu sein, prognostizierte Adams in dem Essay The Rule of Phase Applied to History (1911) einen nahenden entropischen Endpunkt des menschlichen Denkpotentials. Wiener beschäftigt sich in The Human Use of Human Beings. Cybernetics and Society (1950) mit der Fundierung einer Informationstheorie auf der Basis der thermodynamischen Gesetze. Zentral ist dabei seine pragmatische Perspektive, die ihn nicht nur zu der Frage führt, welche Art von Kommunikationsmaschinen auf der Basis der entwickelten Theoreme konstruiert werden können, sondern auch zu dem Thema der diesen Maschinen zugrundeliegenden Ethik. In diesem Zusammenhang greift er auch Adams Problem auf: Yet, as we have seen, the second law of thermodynamics, while it may be a valid statement about the whole of a closed system, is definitely not valid concerning a non-isolated part of it. There are local and temporary islands of decreasing entropy in a world in which the entropy as a whole tends to increase, and the existence of these islands enables some of us to assert the existence of progress. (Wiener 1950/1954:36).

Die Theorie und ihre Erzählung

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V o r a u s s e t z u n g f ü r W i e n e r s zentrales T h e m a , die A b l e i t u n g d e r d r i t t e n aus d e r ersten B e g r i f f s b e d e u t u n g , ist eine rein q u a n t i t a t i v e D e f i n i t i o n d e r I n f o r m a t i o n , w i e sie später Brillouin ( 1 9 6 3 : 1 5 2 ) z u s a m m e n g e f a ß t h a t : W e considered a situation in which there were Po different possible cases or events of equal a priori probability. Information Ii is required to reduce the number of possible cases to Pi, and the logarithm of the ratio Po/Pi measures Ii. M i t d e m G e w i n n v o n I n f o r m a t i o n w i r d so die Z a h l m ö g l i c h e r Ereignisse v e r r i n gert u n d a u f diese W e i s e ein O r d n u n g s s c h e m a g e s c h a f f e n . D i e Z u n a h m e v o n O r d n u n g b e d e u t e t die A b n a h m e v o n E n t r o p i e . I n f o r m a t i o n k o r r e s p o n d i e r t so m i t negativer E n t r o p i e , d e r s o g e n a n n t e n Negentropie.

J e g r ö ß e r die N e g e n t r o p i e ,

je k o m p l e x e r das erreichte O r d n u n g s s c h e m a , d e s t o u m f a n g r e i c h e r a u c h d i e I n formation.7 D i e relativ zahlreiche L i t e r a t u r zu P y n c h o n s E r z ä h l u n g 8 g e h t allgemein v o n d e r v o n P y n c h o n selber in d e r introduction

u n t e r s t ü t z t e n A n n a h m e aus, d a ß in

d e m b e s c h r i e b e n e n K o n z e p t d e r Schlüssel f ü r das V e r s t ä n d n i s d e r E r z ä h l u n g liegt. C h a r a k t e r i s t i s c h ist die a u s f ü h r l i c h e I n t e r p r e t a t i o n P e t e r Bischoffs, die a u f d e r T h e s e a u f b a u t , d i e E r z ä h l u n g f ü h r e eine » V e r s c h m e l z u n g v o n N a t u r w i s s e n schaft u n d Literatur« (Bischoff 1 9 7 6 : 2 2 6 ) h e r b e i , die d a d u r c h g e k e n n z e i c h n e t sei, d a ß ein naturwissenschaftliches Konzept ein literarisches Werk in der Weise füllt, daß dieses zum literarischen Ausdruck jenes Konzeptes wird. (227) Bischoff sieht d i e b e i d e n H a n d l u n g s e b e n e n d e r E r z ä h l u n g d e n n a u c h als u n t e r schiedliche U m s e t z u n g e n des E n t r o p i e - K o n z e p t e s . D i e i m d r i t t e n S t o c k w e r k ei-

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Diese Begriffsverwendung ist in der Kybernetik keineswegs eindeutig. Wieners Schüler Shannon, der die grundlegenden Formeln zur Beziehung zwischen Entropie und Information aufstellte, beschrieb den Zusammenhang zwischen Entropie und O r d n u n g genau in der entgegengesetzten Bedeutung wie oben dargestellt; sein Begriff der Entropie entspricht dem obigen Negentropie-Konzept. (Vgl. Brillouin 1963:161). U m eine möglichst eindeutige Verwendung des Begriffs fiir beide Objektbereiche sicherzustellen, versucht Brillouin denn in seinem zitierten Standardwerk, den Begriff der Unordnung mittels des Informationsbegriffs neu zu bestimmen. Entropie bezieht sich demnach auf »the lack of information about the actual structure of the [physical] system« (160). ' So sinnvoll Brillouins Ansatz für eine effiziente naturwissenschaftliche Terminologie sein mag, was ihm nicht gelingt, ist die Tilgung der über Shannons ursprüngliche Prägung eingeführten Differenzen und des hervon ausgehenden metaphorischen Potentials. Vgl. hierzu auch Anmerkung 16, S. 123. Die Differenz zwischen wissenschaftlicher und metaphorischer Verwendungsweise von Entropie beschreibt Schuber (1983). Vgl. v.a. Tanner (1971/1978:17f) und (1982:20 - 39), Slade (1974/ 1978), Bischoff (1976), Redfield/Hays (1977), Plater (1978:135fif), Seed (1981), Schaub (1981:5f und 7 6 f f ) , Schuber (1983), Simons (1977), Tabbi (1984a) und (1984b), Hays (1985).

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aufder Suche nach der

Übersetzung

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nes Wohnhauses in Washington ablaufende Party ist für ihn gekennzeichnet durch die »Reduktion der zwischenmenschlichen Kommunikation im emotionellen Bereich« (230), die ihre symbolische Darstellung in der »mechanisch-pantomimischen Musik« (230) des >Duke di Angelis Quartets< findet: Sie führen die Musik nicht mehr aus, sondern imaginieren sie nur noch. Die Entwicklung dieser Party zielt auf eine ständige Z u n a h m e der Entropie ab, denn »mit wachsendem Chaos auf der Party verringert sich die zwischenmenschliche Kommunikation und endet schließlich in grotesken Handlungen und physischer Gewalt« (231). W e n n am Ende der Erzählung ein en tropischer Endzustand doch nicht erreicht wird, dann deswegen, weil der Gastgeber, >Meatball< Mulligan, sich aufrafft und eine gewisse O r d n u n g wieder herstellt. Er macht damit, so Bischoff, genau das, was Wiener dem Menschen im Angesicht der Entropie empfehle: Er schafft eines der »islands of locally decreasing entropy« (234). Die zweite Handlungsebene, auf der sich die Erzählung alternierend zur ersten bewegt, ist das Appartement über Mulligans Party. Hier hat sich der 54jährige Intellektuelle Callisto mit seiner Geliebten Aubade einen >hothouse jungle< konstruiert, »einen tropischen Mikrokosmos von ökologischer Ausgewogenheit und poetisch-musikalischer Harmonie« (232). Er ist Callisto ein Schutz vor seiner »paranoiden Wahnvorstellung« (232): der Entwicklung allen Bestehenden hin zum Zustand der Entropie. Callisto formuliert seine Angst in seiner Autobiographie, die er seiner Geliebten, Henry Adams gleich, in der dritten Person diktiert. Ein Krisenmoment ist erreicht, als der kranke Vogel, den Callisto dadurch heilen will, daß er ihn in der H a n d hält und ihm seine W ä r m e überträgt, plötzlich stirbt. Aubade reagiert, indem sie das Fenster, die Grenze zur Außenwelt, einschlägt: Suddenly then, as if seeing the single and unavoidable conclusion to all this she moved swiftly to the window before Callisto could speak; tore away the drapes and smashed out the glass with two exquisite hands which came away bleeding and glistening with splinters; and turned to face the man on the bed and wait with him until the m o m e n t of equilibrum was reached, when 3 7 degrees Fahrenheit should prevail both outside and inside, and forever, and the hovering, curious dominant of their separate lives should resolve into a tonic of darkness and the final absence of all motion. (Pynchon 1960/1985:94)

Damit ist, in Erfüllung der Paranoia Callistos, für beide ein Zustand der Entropie herbeigeführt: »im Bewußtsein Callistos [gerät] das Klima in Stillstand« (Bischoff 1976:234). Bischoff sieht für diese kontrapunktische Entwicklung verschiedene Interpreationsebenen. Neben einer politischen Deutung 9 ist dabei vor allem die Be9

Bischoff zieht ein Zitat aus V. heran, in dem das >hothouse< als der Aufenthaltsort der Rechten, die Straße aber als der O r t von Massenunruhen der Linken auf ihrem Weg zur >dreamscape of the future< gesehen wird. Vgl. Bischoff (1976:231).

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Die Theorie und ihre Erzählung

trachtung dieser Opposition als eines Paradigmas für das moderne Bewußtsein von Bedeutung: 1 0 Der in Metballs Wohnung angesiedelten physischen Natur des Menschen steht im oberen Stockwerk der ordnende Intellekt und die künstlerische Imagination [...] gegenüber. (232) Die Opposition der beiden Stockwerke wäre d e m n a c h auch »ein metaphorischer Konflikt zwischen körperlicher u n d geistiger Welt, zwischen Chaos u n d O r d nung, kurz zwischen Entropie u n d Gegen-Entropie« (232). Das zweifache E n d e demonstriert für Bischoff die entgegengesetzten H a l t u n g e n der Repräsentanten dieser beiden Welten z u m P h ä n o m e n der Entropie: Mulligan, »dessen Betrachtungsweise den Horizont des »Naheliegenden« nicht zu überschreiten u n d der daher das Chaos n u r in den Grenzen der Party zu erfassen vermag« (234), wird zum aktiven Ordnungsstifter; Callisto fällt »durch seine intellektuelle Sichtweise einem kosmologischen Pessimismus anheim« (234) u n d kann so n u r noch das Wirklichkeit werden lassen, was er imaginiert: die Realisierung der Entropie. Bischoff gelingt es vor allem deswegen, mit seiner Lektüre seine These einzulösen, weil er sie als Strategie zur Reduzierung der Komplexität der Erzählung benutzt. Auf der Strecke bleibt dabei vor allem die Ironie der Darstellung, die auf der Ebene des Figurenentwurfs bei Callisto am deutlichsten wird. Callisto ist derjenige, durch den das Konzept der Entropie zum Gegenstand der H a n d l u n g wird. In einer seiner Reflexionen erinnert er sich, wie für ihn die Einsicht in die zweite im Webster aufgeführte W o r t b e d e u t u n g von >Entropie< z u m W e n d e p u n k t seines Lebens wurde: only then did he realize that the isolated system - galaxy, engine, human being, culture, whatever — must evolve spontaneously toward the Condition of the More Probable. He was forced, therefore, in the sad dying fall of middle age, to a radical réévaluation of everything he had learned up to then [...]. (Pynchon 1960/1985:83 - meine Hervorhebung) Diese N e u b e w e r t u n g n i m m t die Form an, daß Callisto in der Entropie »an adequate metaphor to apply to certain p h e n o m e n a in his own world« sieht (84 - meine Hervorhebung). Das Ergebnis ist äußerst pessimistisch: He [...] envisioned a heat-death for his culture in which ideas, like heat-energy, would no longer be transferred, since each point in it would ultimately have the same quantity of energy; and intellectual motion would, accordingly, cease. (84/85)

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Bischoff greift hier eine Interpretation Tony Tanners auf. Vgl. Tanner (1971/1978: 17).

Pynchon: Die Medientransposition aufder Suche nach der Übersetzung

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Formal wie inhaltlich wird Callisto durch dieses Zitat zur Parodie Henry Adams'. Adams, der Historiker, wollte naturwissenschaftlich Geschichte untersuchen und verfuhr doch hermeneutisch; Callisto, seine ironische Figur, glaubt, eine Metapher zu verwenden und macht sie doch zur zentralen Sinneinheit in seinem Leben. Denn wie es das >whatever< im obigen Zitat schon andeutet, ist Callisto völlig unfähig, irgendeine Erscheinung seiner Welt außerhalb des vom Begriff der Entropie beherrschten Diskurses zu sehen. Seine Situation in dem selbstgeschaffenen Treibhaus mit einer Geliebten als Sekretärin, mit der Kommunikation nur in Form von Diktaten und Aufforderungen zur Temperaturkontrolle stattfindet, ist die materielle Umsetzung dieser Haltung. Sie kulminiert in Callistos Beziehung zu dem sterbenden Vogel in seiner Hand: Im Bemühen, ihm Leben zu übertragen (»communicating life«, 93), oder zumindest »a sense of life« (93), wie er selber anmerkt, gibt er ihm Wärme, doch seine Wärme kann nicht mehr in Arbeit, hier: Leben übertragen werden. Der Tod des Vogels ist der Beweis dafür, daß in diesem Treibhaus eine metaphorische Entropie bereits eingetreten ist. Aubades Zerschlagen des Fensters ist die konsequente Reaktion darauf: Indem sie das Gleichgewicht zwischen innen und außen herstellt, schafft sie einen Zustand, der in der Erzählung als Entropie beschrieben wird; zugleich ist damit aber das Ende der zuvor beschriebenen Entropie erreicht, da das geschlossene System ja geöffnet wird. Wiederum auf metaphorischer Ebene kann der letzte Satz der Erzählung denn auch als eine Beschreibung des Endes der gemeinsamen Weitabschließung verstanden werden: Der >tonic of darkness< und die >final absence of all motion< sind dann Bilder für die Auflösung der Beziehung der beiden Figuren. Die Callisto-Ebene erfüllt danach aber eine doppelte Funktion in der Erzählung. Z u m einen präsentiert sie einen komplexen Verarbeitungsvorgang des naturwissenschaftlichen Konzeptes: Entgegen seiner eigenen Überzeugung ist Callisto mit permanenten, geradezu zwanghaften Übersetzungen beschäftigt: »Callisto embodiesentrophy [sic] rather than examines it« (Seed 1981:142). Ähnliche wie Porpentine in Under the Rose hat er sich damit in eine Isolation manövriert; anders als jenem ist Callisto diese Situation jedoch überhaupt nicht bewußt. Im Bemühen, seine Wahrnehmung an einem modernen naturwissenschaftlichen Konzept auszurichten, hat er sich in die Begrenzungen eines vorwissenschaftlichen Aufschreibesystems zurückgezogen. Die Darstellung erlaubt es dem Leser, sich von der Figur zu distanzieren und seinen Zustand zu erkennen; zugleich verführt sie ihn aber auch dazu, wie Callisto Entropien auf allen Ebenen zu entdecken: Das Konzept ist so vielschichtig und durch seine Verfallsthematik so universell übertragbar, daß sich metaphorische Lektüren unschwer herstellen lassen. Alles, was der Text tun muß, ist das Bereitstellen von Ansatzpunkten. Dies geschieht, wie aufgezeigt, schon auf der Callisto-Ebene, in vielfältigerer Weise aber noch auf der Mulligan-Ebene. Hier wird der Begriff Entropie nicht

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Die Theorie und ihre Erzählung

zum Gegenstand der Handlung; die Erzählung beschreibt vielmehr vielfältige Verfallserscheinungen von Ordnung, die als Manifestationen von Entropie gesehen werden können. Es ist jedoch ein Transpositionsakt des Lesers, der hier gefordert ist: Er muß Analogien zwischen dem Wissen zum Konzept >Entropiemetaphorical entropy< feststellt: »At this stage in the discussion concerning entropy, most critics adopt the concept as a metaphor for the futility of attempting to construct meanings, relationships, and human encounters in Pynchon's works.« 12 Vgl. zur Opposition der beiden Ebenen Tabbi (1984b), der hier eine metaphorische Darstellung des Paradigmenwechsels in der Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts sieht: »The scientific metaphors in Entropy work along lines of opposition between the compact, isolated universe of the 19th century and the indeterminate one of the new physics«. (60) Tabbis Lesart demonstriert einmal mehr das metaphorische Potential des naturwissenschaftlichen Konzepts. >3 Vgl. Seeds Kritik an Tanner (Seed 1981:136), Plater (145) und Simons (148). 11

Pynchon: Die Medientransposition auf der Suche nach der Übersetzung

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völlig außer acht läßt. Bemerkenswert ist sicher auch, daß der Entropie der Information, die sich in d e m Dialog Mulligans m i t d e m betroffenen E h e m a n n entdecken läßt, von den Beteiligten m i t einem sehr menschlichen Mittel begegnet wird: D e r E h e m a n n hört auf zu reden, u m sich doch lieber zu betrinken. Auch die Eindeutigkeit jener O r d n u n g , die Mulligan am Schluß des Erzählstrangs wiederherstellt, m u ß mit Vorsicht betrachtet werden. W i e Seed (1981:145) herausstellt, sind Mulligans anfängliche Versuche der O r d nungsstiftung eher kontraproduktiv; so weckt er etwa ein in der Badewanne schlafendes M ä d c h e n , mit d e m Resultat, daß es daraufhin in der Dusche beinahe ertrinkt. In Anbetracht der Tatsache, daß die Party am E n d e »trembled on the threshold of its third day« (Pynchon 1960/1985:93), also keineswegs beendet ist, darf die Möglichkeit sich neu eröffnender entropischer Erscheinungsformen durchaus als gegeben angesehen werden. 1 4 D o c h damit ist noch kein E n d e der Relativierung eindeutiger Sinnzuschreib u n g e n erreicht. Gleich zu Beginn versucht der Erzähler, das Februar-Wetter in W a s h i n g t o n , den >false spring«, u n d die psychische Verfassung seiner Einwohner in eine Beziehung zu bringen: And as every good Romantic knows, the soul (spiritus, ruach, pneuma) is nothing, substantially, but air; it is only natural that warpings in the atmosphere should be recapitulated in those who breathe it. So that over and above the public components — holidays, tourist attractions — there are private meanderings, linked to the climate as if this spell were a stretto passage in the year's fugue: haphazard weather, aimless loves, unpredicted commitments: months one can easily spend in fugue, because oddly enough, later on, winds, rains, passions of February and March are never remembered in that city, it is as if they had never been. (79). W i e Seed (1981:138) betont, zeigt gleich der sarkastische Eröffnungssatz, daß es sich bei d e m Erzähler u m keinen Romantiker handeln kann. Die Analogie zwischen W e t t e r u n d psychischem Erleben wird so aber mit ihrer Aufstellung gleich ironisiert; das wenig beweiskräftige ethymologische A r g u m e n t tut ein übriges. Die Aussage am Schluß: »it is as if they had never been« ist so aber auch in ihrer Gültigkeit eingeschränkt, baut sie doch auf der Analogie auf. Zutreffen wird sie für den guten Romantiker. So k a n n in dieser Passage aber eine deutliche W a r n u n g gelesen werden. D e n n für denjenigen, der der Analogie Glauben schenkt, m u ß die Bedeutung der nach-

14

Vgl. hierzu Tabbi (1984b:66), der feststellt: »the scenes from downstairs never quite come to a stable conclusion«; und Redfield/Hays (1977:54), die in Mulligans Handeln nur eine »half-hearted restoration of order« sehen. Mit ihrer Auffassung, daß die permanent steigende Entropie der Kommunikation unter den Gästen der Party direkt auf die von Callisto prognostizierte Entropie der Gesellschaft verweist, übersehen die Verfasser allerdings das Potential an Negentropie, das die Party als offenes System ja nach Wiener besitzt.

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Die Theorie und ihre Erzählung

folgenden Geschehnisse schwinden, wird ihnen hier doch völlige Folgenlosigkeit attestiert. Die Warnung geht aber über die eine bestimmte Analogie hinaus: Gute Romantiker erstellen nicht nur über die Analogie zwischen der Seele und dem Wetter Sinneinheiten. Der Text schreibt dieser Tätigkeit eine klare Funktion zu: die Rechtfertigung des eigenen Verhaltens, hier des >being in fuguein fugue< zurückzieht, ist also das Wetter: die Analogie. Auch wenn es Callisto bei seiner ständigen Beobachtung des Wetters primär um die Temperatur und weniger um Ereignisse wie Regen oder Stürme geht, so ist er doch als guter Romantiker im Sinne der Textpassage zu erkennen: By artificially integrating the diverse »cities and seasons and casual passions o f his days« into a reductive unitiy, Callisto essentially forgets whatever meanings these component memories can have held for him; their real distinction blurred in his mind because o f his obsession with entropy, »it is as if they had never been«. (Tabbi 1984a:63).

Die Gefahr besteht denn darin, über die Befangenheit in einer sinnstiftenden Analogie nur noch zur reduktiven Wahrnehmung fähig zu sein. Was Callisto als fiktive Figur im Text vorexerziert, ist nun aber auch für den Leser der Erzählung ein Leichtes — denn die beschriebene Gefahr eröffnet sich schließlich bei jedem unkritisch vollzogenen Verstehensakt. Uber diese Debatte hinaus eröffnet die zitierte Textpassage auch eine weitere zentrale Strukturebene der Erzählung: die der Musik. Wie Redfield/Hays (1977) und Seed (1981:l48flE) ausführlich dargestellt haben, bietet die Erzählung nicht nur eine Reihe von Anspielungen auf musikalische Formen, sie ist auch selbst in Analogie zu einer solchen strukturiert: der Fuge. Das Strukturprinzip ist wohl zu abstrakt, um dieselbe Verführung wie im Falle der Entropie zu eröffnen, nämlich die Erzählung als Übersetzung des Konzeptes zu lesen. Immerhin, Seed sieht die Metapher der Musik als Träger dessen, was er als Thema der Erzählung ausmacht: Ordnung. Jedoch: ... because music is a non-conceptual medium, the use o f music to create form in the story does not carry with it any epistemological implications. Plater and other critics notwithstanding, the story affirms nothing. (Seed 1 9 8 1 : 1 5 0 )

Über die Musik läßt sich also keine Sinnaussage formulieren. Dennoch gelangt Seed zu einem Schluß: T h e various aspects o f form illuminate and examine different meanings o f >entropyentropy< illuminate the various aspects o f form. ( 1 5 1 )

15 Vgl. Seed ( 1 9 8 1 : 2 3 8 ) und Tabbi ( 1 9 8 4 a : 6 2 ) .

Pynchon: Die Medientransposition aufder Suche nach der Übersetzung

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Am Ende der Lektüre steht für Seed so eine Figur, die den Perspektivismus der Erzählung adäquat zusammenzufassen scheint. Doch während Seed in der musikalischen Strukturierung noch ein eindeutiges, wenn auch aussagefreies Formprinzip in der Erzählung sieht, zeigt eine Bezugsetzung zum Entropie-Konzept, daß die Vieldeutigkeit sich auch hier weiter vervielfältigt: Liest man die musikalische Analogie als Transposition eines Strukturprinzips aus einem anderen Medium, so läßt sich auf diese Weise zum einen eine Ordnungsebene erschließen, damit aber die Information der Erzählung steigern und die Entropie entsprechend verringern. Zum anderen bringt diese Transposition aber eben ein anderes Medium als Referenz mit sich; die Menge der zumindest potentiell relevanten Informationen wird damit um ein Vielfaches gesteigert. Auf dieser Ebene kann so auch eine Zunahme an Unordnung gesehen werden - damit aber auch an Entropie. In der Erzählung den literarischen Ausdruck< des theoretischen Konzeptes zu sehen, ist demnach aber eine grobe Vereinfachung. Denn, um Seed noch etwas zu präzisieren, was die Erzählung thematisiert, sind Verarbeitungsvorgänge des Konzeptes; und zwar in der Form, daß ähnlich wie bei Scott, die Verarbeitung von einer Figur realisiert und zugleich dem Leser Material zur analogen eigenen Umsetzung offeriert wird. Im Gegensatz zum Scottschen Geschichtengenerator bietet Entropy dem Leser allerdings keine positive Identifikationsfigur: Die Umsetzung des Konzeptes durch die Figur führt zur Katastrophe. Und anders als bei Scott kann der Leser auch keine Erzählstruktur entdecken, die ihm die Sicherheit eines bestimmten Verlaufs und Abschlusses bietet. Je intensiver er sich mit der Erzählung beschäftigt, desto vielfältiger werden die Ansatzpunkte für das theoretische Konezpt - und desto widersprüchlicher die Ergebnisse der Umsetzung. Je tiefer er in die auf den ersten Blick so übersichtliche Ordnung eindringt, desto labyrinthischer erscheint sie. 16

1Trystero< bothered Oedipa. But it was too technical for her. She did gather that there were two distinct kinds of this entropy. One having to do with heat-engines, the other to do with communication. The equation for one, back in the '30's, had looked very like the equation for the other. It was a coincidence. The two fields were entirely unconnected, except at one point: Maxwell's Demon. As the Demon sat and sorted his molecules into hot and cold, the system was said to lose entropy. But somehow the loss was offset by information the Demon gained about what molecules were where. [...] >Entropy is a figure of speech then,< sighed Nefastis, »a metaphor. It connects the world of thermodynamics to the world of information flow. The Machine uses both. The Demon makes the metaphor not only verbally graceful, but also objectively true.«< (Pynchon 1966/1967:77).

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Von der Erzählung zur Umerzählung

Die kontrapunktische Komposition von Entropy ist die Keimzelle der komplexen Struktur von V. Doch war es dort ein physikalisches Konzept, das zum Anlaß der Erzählung wurde, so ist es hier der Gegenstand, der schon in Under the Rose als Ansatzpunkt diente: die Geschichte.

Von der Erzählung zur Umerzählung Die vorangegangenen Lektüren von Under the Rose und Entropy haben gezeigt, in welch unterschiedlicher Weise Verarbeitungsvorgänge bei Pynchon zum Thema von Erzählungen werden können. Under the Rose präsentiert eine Umbruchsituation, in der ein Perspektiveträger, Scotts mittlerem Held vergleichbar, die rivalisierenden Bewegungen fur den Leser fokussiert. Da der Umbruch jedoch auf der Ebene von Diskurssystemen angesiedelt ist, wird dieser Perspektiveträger zugleich zum Handelnden: Er scheitert als Protagonist eines überholten Aufschreibesystems. Dargestellt wird dies mit den Mitteln des nachfolgenden Systems: Der Vorgang der Medientransposition wird akzentuiert, indem vom Diskurs der Spionageerzählung ausgehend Analogien zu anderen Diskursen eröffnet werden, die der Geschehensabfolge ihre Struktur geben. In dieser komplexen Konfrontation der Aufschreibesysteme hat der geschichtliche Vorgang nur die Funktion einer austauschbaren Substanz. Zum Thema wird seine Verarbeitung zur Geschichtsdarstellung.

Der wissenschaftliche Inhalt des Konzeptes gerät hier gegenüber seinem Potential als Metapherva. den Hintergrund: die Funktion wird zum entscheidenden Faktor mit, wie sich fiir die Heldin, Oedipa Mass, später zeigt, welterklärender Bedeutung: »The saint whose water can light lamps, the clairvoyant whose lapse in recall is the breath of God, the true paranoid for whom all is organized in spheres joyful or threatening about the central pulse of himself, the dreamer whose puns probe ancient fetid shafts and tunnels of truth all act in the same special relevance to the word, or whatever it is the word is there, buffering, to protect us from. The act of metaphor then was a thrust at truth and a lie, depending where you were: inside, safe, or outside, lost. Oedipa did not know where she was. «(95) Als Metapher könnte das Konzept der Entropie ein möglicher Schlüssel zum Verständnis der Welt sein: Damit würde es sich jedoch als Metapher aufheben, denn es nähme die Funktion eines transzendentalen Signifikats an, es wäre: Die Wahrheit. Doch um dies beurteilen zu können, müßte der Beobachter einen festen Standpunkt haben: Nefastis scheint ihn zu haben, erweist sich aber als Verrückter; Oedipa, bis zum Schluß unklar über ihren Geisteszustand, hat ihn nicht. Als Metapher erscheint das Entropie-Konzept als Erklärungsmedium, das immer im Versuch befangen bleiben muß und so in potentiell unendlichen vielen Fällen Anwendung finden kann. - Vgl. zur Funktion der Entropie in The Crying of Lot 49 v.a. Mangel ( 1971 ) und Abernethy (1972); die Funktion in den verschiedenen Romanen Pynchons vergleicht Stark (1975).

Pynchon: Die Medientransposition aufder Suche nach der Übersetzung

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Ist der Leser in dieser Erzählung in einer konstant überlegenen Position, da es i h m k a u m gelingen kann, zu d e m sich ständig kritisch betrachtenden Porpentine keine Distanz aufzubauen, so ist die Situation in der kurz zuvor entstandenen Erzählung Entropy sehr viel schwieriger. In der dialogischen Struktur wird das suggestive naturwissenschaftliche Konzept der Entropie auf einer der beiden Ebenen als Obsession einer Figur eingeführt. Entscheidend ist hier, daß Callisto, anders als Porpentine, sich des Status seiner Verarbeitung nicht b e w u ß t ist: G l a u b t er, in d e m Konzept n u r eine M e t a p h e r zu sehen, so hat er es tatsächlich z u m sinnstiftenden Signifikat seines Weltverständnisses gemacht. Der Ereignisablauf auf dieser Erzählebene scheint sich eindeutig auf einen entropischen E n d p u n k t hinzubewegen; die Suggestivkraft des Konzeptes erlaubt jedoch auch eine gegenläufige metaphorische Lektüre. Analog hierzu scheint die zweite Ebene, die m i t vielfältigen Degenerationsformen von O r d n u n g weitere Ansatzpunkte für die A n w e n d u n g des Konzepts präsentiert, einen negentropischen E n d p u n k t zu besitzen, der bei näherer Betrachtung jedoch k a u m stabil sein dürfte. W a s zu Beginn als eine einfache binäre O p p o s i t i o n erscheint, wird so in der weitergehenden Lektüre immer labyrinthischer. D o c h spätestens über die vieldeutige Darstellung der Analogiebildung der >guten R o m a n t i k e n kann dieses Labyrinth für den Leser zu einem ironischen Spiel werden. Zwischen clues für i m m e r neue entropische Lektüren u n d versteckten W a r n u n g e n vor abschließender Sinnstiftung kann er sein Glück hier in jener negativen Versicherung finden, die Paul de M a n als hochproduktiv für den literaturwissenschaftlichen Diskurs ansah. 17 M i t der U m a r b e i t u n g der Erzählung Under the Rose in das dritte Kapitel des R o m a n s V. - betitelt »In which Stencil, a quick change artist, does eight impersonations« - ist es allerdings auch u m die in der Erzählung ja noch vorhandenen Sicherheit des Lesers geschehen.! 8 Dies liegt weniger an der H a n d l u n g , die erst z u m E n d e hin tiefergehende Abweichungen von der Erzählung aufweist: So fehlt der komplette showdown unter der Sphinx; Porpentine wird von Bongo-Shaftsbury in der O p e r o h n e direkten Anlaß erschossen, die Figur des M o l d w e o r p ist völlig gestrichen.· 9 Entscheidend ist jedoch die völlig neue Darstellung des Geschehens: Das Kapitel ist in eine Einleitung u n d acht durchnumerierte Abschnitte unterteilt, die jeweils aus einer anderen Perspektive erzählt werden. Siebenmal besteht der Perspektiveträger in einer neu geschaffenen Figur, im letzten Abschnitt ist es ein neutraler Erzähler. U n d hinter dieser komplexen Aufbereitung, so suggeriert die Kapitelüberschrift, steckt eine weitere Figur: Stencil.

17 Vgl. de Man (1979:16). 18 Wie weit die Verunsicherung gehen kann, zeigt die Verwirrung über die Identität des am Schluß Ermordeten und seines Mörders: Fahy (1977:9) behauptet fälschlich, Goodfellow würde von dem Agenten Porpentine umgebracht. " Vgl. zu den Details der Umarbeitung Fowler (1984) und Patteson (1984).

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Von der Erzählung zur Umerzählung

»Young Stencil, the world adventurer« (Pynchon 1963/1975:52) wird erst zehn Seiten vor Beginn des dritten Kapitels in die fiktionale Welt eingeführt. Prägend für den in der fiktiven Gegenwart (1956) 55jährigen ist ein Satz aus dem Tagebuch seines Vaters, eines englischen Diplomaten und Geheimagenten: Under »Florence, April 1899« is a sentence, young Stencil has memorized it: »There is more behind and inside V. than any of us had suspected. Not who, but what: what is she. God grant that I may never be called upon to write the answer, either here or in any official report.« (53)

Obwohl Stencil die Tagebücher drei Jahre nach dem T o d seines Vaters im Jahre 1919 bekommt, zeigen sie zunächst keine Wirkung; Stencil schlägt sich als »croupier in southern France, plantation foreman in East Africa, bordello manager in Greece; and in a number of civil service positions back home« (54) durchs Leben. Erst nach dem zweiten Weltkrieg, an dem Stencil als »spy/interpreter« (54) in Nordafrika teilnimmt, erscheint ihm die Eintragung plötzlich in einem neuen Licht: His random movements before the war had given way to a great single movement from inertness to — if not vitality, then at least activity. Work, the chase — for it was V. he hunted — far from being a means to glorify God and one's own godliness (as the Puritans believe) was for Stencil grim, joyless; a constant acceptance of the unpleasant for no other reason than that V. was there to track down. (55)

Mit der neuen Aufgabe hat Stencils Leben plötzlich einen Sinn bekommen. Doch das Problem einer quest ist, daß sie mit dem Erreichen ihres Ziels beendet ist: Finding her: what then? Only that what love there was to Stencil had beome directed entirely inward, toward this acquired sense of animateness. Having found this he could hardly release it, it was too dear. To sustain it he had to hunt V.; but if he should find her, where else would there be to go but back into half consciousness? He tried not to think, therefore, about any end to the search. Approach and avoid. (55)

Uber seine Jagd nach V. erwirbt Stencil seine Identität: Er ist, wie es später im Text heißt, »quite purely He W h o Looks for V.« (226). Abhängig ist diese Identität davon, daß Stencil sie lebt: in Form der permanenten Suche nach neuen clues für diese oder dieses geheimnisvolle V., über die/das es zu diesem Zeitpunkt nur die Vermutung gibt, daß sie/es eine Frau sein könnte. Ergebnis der Spurensuche sind die Versuche, einzelne Episoden aus dem Leben von V. zu rekonstruieren: Erzählungen, die die >historischen< Kapitel des Romans ausmachen. Die erste dieser Erzählungen beinhaltet das dritte Kapitel. In Fortführung der zitierten Einführung der Figur greift die Einleitung noch einmal das Problem der Suche nach V. und der Identität Stencils auf. Stencil schwankt zwischen dem Alptraum, seine Suche könnte doch nur eine »scholarly quest« sein, »an adventure of the mind, in the tradition of The Golden Bough or The White Goddess« (61), und der Versicherung, daß es doch ein »simple-minded, literal pursuit« ist,

Pynchon: Die Medientransposition auf der Suche nach der Übersetzung

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in dem er V. verfolgt wie ein »obsolete, or bizarre, or forbidden form of sexual delight« (61). Das Bemühen, dieses Schwanken zu beherrschen, zeigt sich in seiner Isolierung der V.-Identität: Herbert Stencil, like small children at a certain stage and Henry Adams in the Education, as well as assorted autocrats since time out of mind, always referred to himself in the third person. This helped »Stencil« appear as only one among a repertoire of identities. (62)

Wenn es zumindest zu diesem Zeitpunkt auch unklar bleiben muß, welche andere Identitäten Stencil noch besitzen könnte, so ist seine Obsession doch nun bereits über eine Reihe literarischer Bezugsetzungen näher bestimmt. Die Forschungsliteratur hat die Analogien zwischen Frazer, Graves und Adams intensiv ausgelotet; 20 neben den offensichtlichen inhaltlichen Beziehungen - sowohl bei Frazer wie bei Graves handelt es sich um monumentale anthropologischreligionswissenschaftliche Studien, die (auch) die Verehrung weiblicher Götterbilder in verschiedenen Mythen und Religionen behandeln; der offensichtliche Berührungspunkt zu Adams' Education ist das Kapitel »The Dynamo and the Virgin«, in dem er die Jungfrau als Symbol der Fruchtbarkeit herausstellt, das im Industriezeitalter vom Dynamo abgelöst worden ist - sind auch strukturelle Merkmale bedenkenswert: Graves verfolgt die Metamorphosen eines Göttinnenbildes durch die Jahrhunderte, Adams konstruiert eine (vorgeblich) konsistente Biographie, Frazer macht eine merkwürdige Eigenart des frühen römischen Kults zum (willkürlichen?) Ausgangspunkt einer labyrinthischen Enzyklopädie der Mythologien und Religionen, die in ihrer ausführlichsten Fassung immerhin zwölf Bände umfaßt. Ein Leser, der über ausreichende Kenntnisse verfügt oder entsprechende Recherchen nicht scheut, kann so schon zu diesem frühen Zeitpunkt über eine recht merkmalreiche, wenn wohl auch etwas diffuse Erwartungshaltung zu der Suche Stencils gelangen. Bestätigt und weitergeführt werden sollen diese Erwartungen nun vom »duello« (63) zwischen Porpentine, am Ende der Einleitung zum Kapitel als Kollege von Stencils Vater identifiziert, und Bongo-Shaftsbury. Dazu gesellt sich noch eine persönliche Fragestellung Stencils: Von seinem Vater erhielt er kurz vor dessen T o d eine reichlich enigmatische, in erster Linie aber resignative Postkarte aus Malta, die einen deutschen Soldaten zeigt, der von Engländern auf einer Bahre getragen wird. Der knappe Text lautet:

20

Kürzere Anmerkungen zu Beziehungen zwischen V., Frazers The Golden Bough (erstmals 1890, letzte veränderte Ausgabe 1936), v. Ranke-Graves' The White Goddess (1948) und The Education of Henry Adams finden sich fast in jeder Studie zu V. Ausführlicher gehen Henkle (1971/1978) und bes. Fahy (1977) auf Graves ein, Slade ( 1974) auf Adams. Stimpson ( 1976) kommentiert die Beziehung zu Graves und Adams kritisch aus feministischer Sicht.

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Von der Erzählung zur Umerzählung

I feel old, and yet like a sacrificial virgin. Write and cheer me up. FATHER. (63)

Porpentines Schicksal scheint nun als Schlüssel zum Verständnis dieser Karte dienen zu können: Had Porpentine gone to Egypt like old Stencil to Malta, perhaps having written his own son that he felt like some other spy, who'd in turn gone off to die in SchleswigHolstein, Trieste, Sofia, anywhere? Apostolic succession. They must know when it's time, Stencil had often thought; but if death did come like some last charismatic bestowal, he'd have no real way of telling. He'd only the veiled references to Porpentine in the journals. The rest was impersonation and dream. (63)

So ist es hier nun der Verdacht auf eine Analogie, der zum Impetus der Lektüre wird. Doch der Originaltext im Tagebuch enthält wiederum Rätsel, die von Stencil über impersonation and dreamreflects< und >receiveswiderspiegeln< g e danklich verarbeitenc Eben das, was das volle Sehvermögen ermöglicht, während bei abnehmender Fähigkeit nur noch das pure Erfassen, aber keine Weiterverarbeitung mehr möglich ist? Oder bezieht sich diese Aussage auf das Verhältnis zwischen Opfer und Mörder: Solange das Opfer noch lebt, empfängt sein Auge Bilder und sieht den Mörder, doch in dem Moment, da sein Sehvermögen ausgelöscht ist, fungiert es nur noch als Reflexionsfläche, in dem der Mörder sich sieht? Oder läßt sich in diesen beiden Aussagen gar eine Verbindung zu den Anfangsüberlegungen Stencils sehen - der Frage nach der Vorhersehbarkeit des eigenen Todes? Angenommen, alle (und vielleicht noch mehr) Lesarten sind möglich: Worin besteht dann der Sinn dieser reichlich vieldeutigen Aussagen?2"4

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Tanner (1971/1978:23) greift zumindest einen Teil der Mehrdeutigkeiten der Aussagen auf, indem er zunächst die Grenze zwischen >wiederspiegeln< und >erfassen< als den Moment des Todes interpretiert, im weiteren Verlauf des Romans aber Belege dafür sieht, daß dieser Moment auch schon beim lebenden Menschen auftritt: »Death is the moment when that line is irrevocably crossed, but the book shows innumerable ways in which that line is crossed while the body is still technically alive, thus producing a mobile object which reflects but does not receive. That this is related to the narcissistic habit of turning people into reflectors of of one's own fantasies and obsessions is alluded to by a series of references to mirrors, culminating in the episode called >V. in love< which describes a Lesbian affair conducted entirely by mirrors.« Aus der Kenntnis des Gesamttextes läßt sich der einzelnen Textstelle in der Retrospektive über Analogiebildung ein Sinn zuschreiben, der aber gar nicht in der Lage sein kann, der Vielfalt der Lesarten gerecht zu werden: er muß notwendigerweise bevorzugen und ausblenden. Doch ist damit des Rätsels Lösung gefunden? Zumindest nicht in Gestalt eines übergeordneten Signifikats: denn die anderen Lesarten lassen sich weiter anschließen, der Sinnbildungsversuch entsprechend weiterentwickeln und verändern. Auch dieses Signfikat ist ein potentieller Signifikant: ein definitives Ende der Kette der Lösungsmodifikationen ist nicht auszumachen, eine Transposition an die andere anzuschließen. >Approach and avoiddie Geschichte< läßt sich nicht schreiben, der Sinn auch dieser Vorgänge nicht erfassen. 26 »Had the world gone mad with Fashoda?«

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5 Fowler (1984:41) faßt die Differenz zwischen Erzählung und Kapitel als Modifikation eines individuellen Scheiterns in die Auslieferung an eine unpersönliche, nicht begreifbare Macht: »In the story, a m a n struggles and fails, but his own strength, will and choice still determine his fate. In the chapter, we witness the invasion of O u r Kingdom through eight different points of vantage and Porpentine finally becomes one with the dead tissue that disfigures his face.« Fowlers >Our Kingdom< kann auf der Basis der obigen Lektüre als metaphysische Projektion des unerreichbaren transzendentalen Signifikats gesehen werden. Vgl. Schaub (1981:77): »In each of Pynchon's books the search for meaning results in a quest for >historyhistories< are part of the more general description in his fiction of man's effort to gain control by establishing meaning.«

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Von der Erzählung zur Umerzählung

Für den Leser ergibt sich hieraus eine völlig neue Situation. Denn was in der Erzählung Präsentation war, ist im Kapitel zur Aktivität geworden. 27 In Under the Rose bekam der Leser das Ende eines Aufschreibesystems und seines Verarbeitungsvorgangs vorgeführt; auch wenn der Diskurs der Erzählung über subtile Mittel metaphorische Beziehungen zu anderen Diskursen aufbaute, so führte dies doch nicht dazu, daß der Leser in seinem konventionellen Rollenverständnis erschüttert wurde. Ein Sinn ließ sich ermitteln, in dem auch die Transpositionen anderer Diskurse ihren Platz fanden. Doch im 3. Kapitel von V. ist eben dies nun zum Problem geworden: Der Verarbeitungsvorgang der hermeneutischen Interpretation selber wird fraglich. Was Propentine in Under the Rose innerhalb der Fiktion zustößt, wird in V. für den Leser zum Faktum. Er nimmt eine Welt von Zeichen dar, die sich nicht, wie es dem konventionellen Verständnis vom Text als intentionalem Objekt entspricht, zu einem konsistenten Verständnis zusammenfügen läßt, sondern die die Möglichkeit eines solchen Verständnisses konsequent in Frage stellt. Fordern die unverständlichen Signifikanten ihn zu Beginn geradezu dazu heraus, das übergeordnete Signifikat zu finden und so zum Autor der eigentlichen Erzählung zu werden, so muß er im weiteren Verlauf das notwendige Scheitern dieses Unterfangens erfahren·. Denn alles ist Metapher, Figur; das rettende Signifikat bleibt verborgen. Harold Bloom hat die Situation prägnant zusammengefaßt: ... [Pynchon] always seems not so much to be telling his bewildering, labyrinthine story as writing a wistful commentary upon it as a story already twice-told, though it hasn't been, and truly can't be told at all. (Bloom 1986:3)

Als Porpentine in Under the Rose erkennt, daß das, was er für die eigentliche Geschichte hielt, ein Mißverständnis ist, findet er den Tod; dem Leser bleibt die Hoffnung, daß ihm die weiteren Kapitel doch noch den rechten Weg weisen werden. Denn die über Stencil aufgestellten Ausgangsfragen sind auf der Basis dieses Kapitels nicht einzulösen. V. ist hiernach zwar als Mysterium etabliert und in dieser Funktion mit >der Geschichte< in Verbindung gebracht; doch mehr als eine Erwartungshaltung für die nachfolgenden Kapitel ist damit nicht erreicht. Wenn Stencil als fiktiver Erzähler hinter den Perspektiveträgern angenommen wird, gelingt ihm mit seiner Erzählung jedoch immerhin eins: seinen Leser in dieselbe Rolle rücken zu lassen, die er einnimmt. Für die nächsten Kapitel wird auch er »He Who Looks for V.«.28 27 Vgl. Fowler (1984:33): »The important contrasts between the story and the chapter are not in the plot, but in the perspectve. In the story, the emphasis is on acting; in the chapter it is on witnessing.« Worauf Fowler leider nicht näher eingeht, sind die Folgen dieser Verlagerung fur die Leseraktivität. 28 Die Leserrolle in V. ist eines der bevorzugten Themen der Forschungsliteratur. Ausfuhrlichere Überlegungen finden sich bei Greiner (1977) und Schaub (1981:79ffund 105fif).

Pynchon: Die Medientransposition aufder Suche nach der Übersetzung

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Betrachtet man denn das dritte Kapitel als Grundelement der Poetik von V., so bestätigt sich hier die Analogie zu Brecht: Wie dort die Seeräuber-Anekdote, so besitzt auch hier das Kapitel als Umerzählung eine metaphorische und eine metonymische Dimension. Es ist Metapher, da es auf eine andere Erzählung Bezug nimmt; es scheitert allerdings schon im Versuch, diese zu erreichen. Bei Brecht schien die neue Version derGeschichte schon die umgeschriebene, eigentliche zu sein, bis sie sich im Verlauf ihrer Darstellung über ihre Relativierung als vorgeblicher Versuch, als Erzählung, entlarvte; die eigentliche Geschichte wurde durch diese Konstruktion zum Objekt der Suche. Bei Pynchon ist es von vornherein die andere, nicht erzählte Geschichte, die die eigentliche sein muß; doch sie ist es auch, die die Konstruktion des Kapitels immer mehr verschwinden läßt, je mehr sie sich dem Kapitelende und damit der konventionell erwarteten Lösung annähert. Indem sich der Zielpunkt des Verweises der Darstellung entzieht, wird aber der Vorgang selbst zum Gegenstand: die Transposition im aussichtslosen Streben nach der Einheit von Signifikant und Signifikat, die die Ubersetzung auszeichnet. Was bei Brecht erst über die Eröffnung der syntagmatischen Achse zum Thema werden konnte, ist bei Pynchon schon im paradigmatischen Einzelelement der Gegenstand. Doch indem zu Beginn Ansprüche erhoben werden, die das einzelne Kapitel nicht einlösen kann, fehlt auch hier die Eröffnung des Syntagmas nicht. Es ist in seiner Struktur allerdings um einiges rätselhafter als Brechts polyperspektivische Montag

Das Syntagma im Dialog Die duale Grundstruktur Auf das dritte Kapitel von V. folgen nicht nur 13 weitere Kapitel und ein Epilog, es gehen ihm auch - offensichtlich - zwei Kapitel voraus. Stencil, von dem man nun annehmen könnte, daß er, als Urheber der übergreifenden Fragestellung des Romans, die Tradition des Scottschen mittleren Helden fortführt, taucht, wie oben beschrieben, erst gegen Ende des zweiten Kapitels zum ersten Mal auf und ist auch im weiteren Verlauf des Romans nur sporadisch präsent; erst im fünfzehnten und im sechzehnten Kapitel, in denen die eigentliche Romanhandlung abgeschlossen wird, tritt er häufiger auf. Weitaus öfter Mittelpunkt des Geschehens ist Benny Profane, eine ehemaliger Matrose, der sich in der fiktiven Gegenwart als Gelegenheitsarbeiter weiter über Wasser hält. Es würde die Struktur des Romans dennoch verfehlen, wenn man behauptete, daß auch nur eine der beiden Figuren zum Mittelpunkt der zwei zu unterscheidenden Erzählstränge würde. Da sind zum einen die bereits benannten h i storischem Kapitel, die als Ergebnisse der Stencilschen Recherche erscheinen und die durch eine Reihe von wiederholt auftretenden Elementen eine Kontinuität

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Das Syntagma im Dialog

erhalten; allen voran einer Frau, die - mit einer Ausnahme - ein >V< in ihrem Namen trägt. In Kapitel 3 und dem siebten Kapitel, das 1899 in Florenz spielt, ist es jeweils Victoria Wren; in Kapitel 9, das aus der Sicht eines deutschen Ingenieurs namens Mondaugen im Jahr 1922 einen Herero-Aufstand im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika schildert, (unter anderem) eine Frau namens Vera M e roving, die, als besonderes Kennzeichen, ein künstliches Auge mit einer eingebauten Uhr trägt. Dieses nun in der Tat auffällige Merkmal verbindet diese Figur mit dem >Bad Priesthistorischen< Kapitel schon eine Vielzahl von Figuren, Schauplätzen und Geschichten, so wird dies vom Gegenwarts-Strang noch um einiges übertroffen. In insgesamt elf Kapiteln schildert er Ereignisse um eine Gruppe junger Leute, die sich selbst >the Whole Sick Crew< nennt und zu denen Profane und später auch Stencil stoßen. Der Erzählstrang beginnt direkt mit Profane, der in Norfolk/Virginia mit seinen Marine-Kumpels 1955 in reichlich ausgelassener Weise Silvester feiert. Im Januar geht er nach New York, und hier beginnt ein Kaleidoskop von abgeschlossenen oder auch durch andere Erzählungen in Ge-

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Schon die Struktur von V. findet in der Forschungsliteratur eine Reihe unterschiedlicher Darstellungen: die Perspektive der Analyse bestimmt den Grad an Eindeutigkeit, der der Struktur zugesprochen wird. Vgl. dazu etwa die ausgesprochen vorsichtig schlußfolgernde Beschreibung von Tanner (1971/1978: 20ff) und die oben schon genannte stark vereindeutigende Dastellung von Richter (1977:103fif). Vgl. zur Problematik der Identität von V. auch S. 165ff.

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genwart und Vergangenheit durchbrochenen Episoden, in denen neben Profane das gesamte Repertoire der Whole Sick Crew und angeschlossener Figuren in bunter Folge auftritt. In diesem vor Fabulierlust strotzenden Wust an Erzählungen sind nun noch die beschriebenen >historischen< Kapitel eingefügt. Zusammengeführt werden beide Ebenen im letzten Kapitel, in dem Stencil mit Profane und Paola, der Tochter Fausto Maijstrals, nach Malta fährt, wo er hofft, die entscheidenden Hinweise auf V. zu finden. Worauf die drei jedoch zunächst stoßen, sind die Aggressionen von amerikanischen und britischen Soldaten auf dem Höhepunkt der Suez-Krise: Die Geschichte hat die Gegenwart eingeholt. Die Analogie zur dualen Struktur von Entropy ist offensichtlich: Hier wie dort handelt es sich um die Verknüpfung zweier Erzählstränge, von denen der eine die Projektionen einer einzelnen Figur, der andere das chaotische Treiben einer Gruppe von Leuten wiedergibt. 30 Doch während es in der Erzählung eindeutig möglich war, das Konzept, das den Projektionen der einzelnen Figur zugrundelag, zu identifizieren, ist eben dies in V. zum Problem geworden. Damit ist zu der ja ohnehin nicht einfachen Struktur von Entropy noch eine weitere Dimension hinzugekommen: Denn während dort die Verbindung beider Ebenen vor allem darin bestand, daß sie Anknüpfungspunkte unterschiedlicher Art fur eben dieses Konzept der Entropie boten, so muß hier, im Roman, dieses Konzept erst noch gefunden werden. Nicht nur, daß der Leser im Versuch der Verarbeitung einer Theorie in die Irre geführt wird: Er muß die Theorie auch erst noch selbst entdecken. Als Material können ihm zunächst die >historischen< Kapitel dienen. Die Geschichte in V. Das zweite >historische< Kapitel, insgesamt das siebte, mit dem nunmehr nicht mehr überraschend enigmatischen Titel »She hangs on the western wall«, beginnt analog zu Kapitel 3 mit einer Einleitung, die wiederum einen Rahmen für die nachfolgende Erzählung liefert. Stencil besucht den Zahnarzt Eigenvalue, um ihm erneut von V. zu erzählen. Der >Psychodentist< Eigenvalue hat sich bereits ein klares Bild von Stencil gemacht: Cavities in the teeth occur for good reason, Eigenvalue reflected. But even if there are several per tooth, there's no conscious organization there against the life of the pulp, no conspiracy. Yet we have men like Stencil, who must go about grouping the world's random caries into cabals. (153)

Damit wird das Thema der Sinnsuche aber um eine neue Dimension erweitert. Denn was Eigenvalue hier einführt, ist nichts anderes als das Phänomen der Pa30

Tanner ( 1971 /1978:19) geht so weit, Stencil und Profane als direkte Weiterentwicklungen von Callisto und Mulligan aus Entropy anzusehen.

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Dos Syntagma

im

Dialog

ranoia. 31 Das Vorhandensein eines zumindest nicht unmittelbar zu lösenden Rätsels kann als ein Ausdruck der eigenen Unvollkommenheit gesehen werden, ebenso aber als dieManifestation einer Verschwörung. 3 2 W i r d dieses Aufspüren von Kabalen zum zwanghaften W a h n , ist die Paranoia geboren. Eigenvalues Aussage muß nicht zutreffen, doch sie fiigt eine weitere Deutungsvariante für Stencils Suche zu den bereits bekannten hinzu: Die Jagd nach V. kann die Suche nach einem verborgenen Lustobjekt sein, oder eine akademische Tour-de-force, oder eben Paranoia. Nach Stencils kurzem Bericht über das, was er vor einigen Jahren bei seiner Recherche vor O r t in Florenz entdeckt hat, ist die letzte Möglichkeit zumindest nicht unwahrscheinlich: He had discovered, however, what was pertinent to his purpose: that she'd been connected, though perhaps only tangentially, with one of those grand conspiracies or foretales of Armageddon which seemed to have captivated all diplomatic sensibilities in the years preceding the Great War. V. and conspiracy. Its particular shape governed only by the surface accidents of history at the time. (155) Nicht nur, daß V. in Florenz zum Zeitpunkt der ersten Eintragung von Stencils Vater, also 1 8 9 9 , mit einer Verschwörung verbunden war: Stencil sieht es als eines ihrer konstanten Merkmale. Die geschichtlichen Abläufe liefern nur das Material, das der Verschwörung ihre spezifische Form gibt. Steht V . also fur >Die große Verschwörung