Geschichte und System der Philosophie: Untersuchungen über die Begründbarkeit ihrer Einheit im kritisch-idealistischen Begriff der Systematik selbst [Reprint 2022 ed.] 9783112668481, 9783112668474


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German Pages 178 [188] Year 1928

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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Erster Teil. I. Das Problem der Einheit von Philosophiegeschichte und System
Erster Abschnitt Die Fraglichkeit der Philosophie als „strenger Wissenschaft"
Zweiter Abschnitt Über den gegenwärtigen Stand der Diskussion
Zweiter Teil. Voraussetzungen der philosophischen Systematik
Erster Abschnitt Die Aufgabe der Philosophie
Zweiter Abschnitt Systematische Einheit und das Prinzip „auxiliarer Kontinuität"
Dritter Abschnitt Systematische Totalität und die Prinzipien der „fundierenden Schichtung"
Vierter Abschnitt Das „Faktum" der Erfahrung
Fünfter Abschnitt Die regionale Bedingtheit der Systematik
Dritter Teil. System und Geschichte der Philosophie
Erster Abschnitt Das Verhältnis der Philosophie zu den besonderen Sinngebieten
Zweiter Abschnitt Die „Subjektivität" der Philosophie
Dritter Abschnitt Die „Idiomatik"
Vierter Abschnitt Die Systematik der Hauptgebiete
Fünfter Abschnitt Die Einheit von Stil und System in der geschichtlichen Gestalt der Philosophie
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Geschichte und System der Philosophie: Untersuchungen über die Begründbarkeit ihrer Einheit im kritisch-idealistischen Begriff der Systematik selbst [Reprint 2022 ed.]
 9783112668481, 9783112668474

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Hamburger Beiträge zur Philosophie des kritischen Idealismus herausgegeben von

Ernst Cassirer, Albert Görland, Hermann Noack Heft 1

Geschichte und System der Philosophie Untersuchungen über die Begründbarkeit ihrer Einheit im kritisch-idealistischen Begriff der Systematik selbst von

Hermann Noack

Friederichsen, de Gruyter & Co. m. b. H. / Hamburg

Druck und E i n b a n d von J . J . Augustin in Glückatadt und H a m b u r g .

Vorwort. Die vorliegende Arbeit ist aus der weiteren B e a r b e i t u n g der Probleme e n t s t a n d e n , die ich in d e m A u f s a t z : „ V o m Wesen des Stils" ( „ A k a d e m i e " E r l a n g e n 1924) b e h a n d e l t h a t t e . Die Untersuchung ü b e r die B e d e u t u n g der Stil-Einheit f ü r die Philosophie (als „ W e l t a n s c h a u u n g " ) u n d f ü r den philosophischen Wahrheitsbegriff f ü h r t e m i c h n o t w e n d i g zur grundsätzlichen E r ö r t e r u n g der philosophischen S y s t e m a t i k u n d ihrer Geschichtlichkeit ü b e r h a u p t . Gemessen a n den F o r d e r u n g e n der v e r ä n d e r t e n P r o b l e m s t e l l u n g k a n n das Ergebnis noch n i c h t als endgültige Lösung angesehen werden, wohl aber, wie ich hoffe, als k l ä r e n d e r Beitrag zur Selbstv e r s t ä n d i g u n g der Philosophie n a c h kritischer Methode. Die Arbeit w a r schon i m F r ü h j a h r 1926 abgeschlossen u n d der Philosophischen F a k u l t ä t der H a m b u r g i s c h e n U n i v e r s i t ä t als Habilitationsschrift eingereicht worden. Ich h a b e mich aber aus verschiedenen G r ü n d e n d a r a u f b e s c h r ä n k t , sie k u r z vor der Drucklegung n u r noch an einigen Stellen, wo es mir u n b e d i n g t geboten schien, im Sinne meiner inzwischen gewonnenen Ansicht u m z u gestalten u n d zu ergänzen. H a m b u r g , J u l i 1928

Hermann Noack.

Inhaltsverzeichnis. I. D a s P r o b l e m der E i n h e i t geschichte und System

von

Philosophie9

1. Die Fraglichkeit der Philosophie als „strenger Wissenschaft"

11

Philosophie als Wissenschaft und Weltanschauung. — Problem der Geltung.

2. Über den gegenwärtigen Stand der Diskussion

14

Geschichtliche Gestalt und übergeschichtlicher Gehalt. — H e ß : Epochen und Typen. — Stenzel: Zum Problem der Philosophiegeschichte. — Historische Wahrheit. — Problemgeschichte. — Wahrheitsbegriff der Philosophie. — Versteckter Zirkel und Dualismus. — Neue Problemstellung.

II. V o r a u s s e t z u n g e n matik

der

philosophischen

Syste-

1. Die Aufgabe der Philosophie

29 31

Das offene System. — Grundbegriffe der Systematik.

2. Systematische Einheit und das Prinzip „auxiliarer Kontinuität."

34

Die Autonomie der Sinngebiete und die Synthesis des Konkreten. „Substrat der Synthesis." — „Auxiliare Kontinuität."

3. Systematische Totalität und das Prinzip der „fundierenden Schichtung"

42

Erschöpfende Grenzgegenständlichkeit. — Homogene Fundierung. — Begriff der Methode: Gesetzlichkeit und Gegenständlichkeit. — Systematische Probleme der Erkenntnistheorie. — Systematik der Hauptgebiete. — Die Kategorien als Garanten der Homogeneität. — Die Kategorientafel. — Die Philosophie ohne Gebiet. — Homogeneität der Hauptgebiete. — Kategorie und Anschauung. — Grenzwert der Kategorien und Anschauungsformen. — Grundsätze und Grundgesetze.

4. Das „Faktum" der Erfahrung Sachverhalt und Progreß. — Zwei Dimensionen der Systematik. — Zeitlichkeit des Progresses. — Der Begriff der Wissenschaft. — Teleologie der „Forschung". — Objektivierung der Subjektivität. E x k u r s : Kants Begriffe der Apperception, der subjektiven und

62

objektiven Deduktion. — Subjektive Deduktion. — Transzendentale Apperception. — Subjektiv und Objektiv. — Objektive Deduktion. — Transcendental-Psychologie.

5. Die regionale Bedingtheit der Systematik

93

Autonomie und System. — Die Aufhebung. — Die sog. absolute Methode. — Kant. — Nachkantische Philosophie. — Maimon. — Fichte. — Schelling. — Hegel. — Neuhegelianer. — Kritizismus. — Die „Geltung" des Systems. — Subjektive oder objektive Einheit?

. D i e S y s t e m b i l d u n g der P h i l o s o p h i e

123

1. Das Verhältnis der Philosophie zu den besonderen Sinngebieten 125 Immanente Systematik. — Philosophie als Blickrichtung. — Andere Definitionen der Philosophie.

2. Die „Subjektivität" der Philosophie

132

Die geschichtliche Gestalt als Angelegenheit eines Sinngebietes. — „Psychologische Bedingtheit." — Typologie der Weltanschauungen. — Zeitgeist und Kultursynthese. — Die „Verwirklichung im Subjekt."

3. Die „Idiomatik"

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Der Begriff des Stiles. — Historische Anknüpfung. — Systematische Einordnung der Idiomatik. — Grundbegriffe der Idiomatik. — Die idiomatische Erfahrung.

4. Die Systematik der Hauptgebiete

162

Die Subjektivität der konkreteren Sinngebiete. — Bewußtheit als Voraussetzung der aufhebenden Überordnung. — Spezifische Subjektivität. — Das Postulat einer überregionalen Instanz. — Der Prozeß der Erfahrung überhaupt und ihrer Systematisierung in der Philosophie.

5. Die Einheit von Stil und System in der geschichtlichen Gestalt der Philosophie 171 Der Stil als Wahrheit. —• „Selbstinterpretation." — Philosophie als Wissenschaft. — Philosophie und Philosophiegeschichte. — Historische Interpretation. — Der Wahrheitsbegriff der Philosophie.

Erster Teil.

I. Das Problem der Einheit von Philosophiegeschichte und System.

Erster Abschnitt

Die Fraglichkeit der Philosophie als „strenger Wissenschaft". 1. Philosophie als Wissenschaft und Weltanschauung. Wie aus der Vorrede zur 2. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft" hervorgeht, war es das Ziel und die bestimmte Erwartung K a n t s , die Philosophie oder „Metaphysik" durch dieses Werk „in den sicheren Gang einer W i s s e n s c h a f t " zu bringen. Ja, er meinte sogar, daß die Metaphysik „das seltene Glück" habe, „welches keiner anderen Vernunftwissenschaft, die es mit Objekten zu tun hat, . . . zuteil werden kann, daß, wenn sie durch diese Kritik in den sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht werden, sie das ganze Feld der für sie gehörigen Erkenntnisse völlig befassen und also ihr Werk vollenden und für die Nachwelt als einen nie zu vermehrenden Hauptstuhl zum Gebrauche niederlegen kann, weil sie es bloß mit Prinzipien und den Einschränkungen ihres Gebrauches zu tun hat, welche durch jene selbst bestimmt werden". Nichts scheint sich indessen weniger erfüllt zu haben, als diese Erwartung des großen Denkers, die Metaphysik wirklich in einen „solchen durch Kritik geläuterten, dadurch aber auch... beharrlichen Zustand" gebracht zu haben. Zwar hat seine „Revolution der Denkungsart" zweifellos einen starken und nachhaltigen Einfluß ausgeübt, aber doch bestenfalls nur im Rahmen einer besonderen Schule jene „Einhelligkeit ihrer Anhänger" bewirkt, die Kant als Zeichen der Wissenschaftlichkeit betrachtet. Auch außerhalb ihrer ist freilich der Gedanke, die Philosophie als strenge Wissenschaft zu begründen, nicht gänzlich fallen gelassen, aber die Philosophie nach Kant erweckt doch zu sehr den Anschein, als sei sie noch immer „ein Kampfplatz, . . . auf dem noch niemals irgend ein Fechter sich auch den kleinsten Platz hat erkämpfen und auf seinen Sieg einen dauerhaften Besitz gründen können".



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So darf es d e n n n i c h t v e r w u n d e r n , wenn der Wissenschaftschar a k t e r selbst d e r „ k r i t i s c h e n " Philosophie v o n vielen Seiten energisch u n d prinzipiell b e s t r i t t e n u n d der Beweis versucht wird, d a ß die Philosophie gar nichts anderes als ein p r i v a t e r Meinungsausd r u c k sein k ö n n e , eine K u n s t der Welt- u n d Lebensanschauung, die ebenso wie die freie K u n s t in ihren B e h a u p t u n g e n n u r eine individuell-gültige W a h r h e i t e n t h ä l t , so d a ß zwar ein B e k e n n t n i s zu ihr in irgend einer Gestalt v o n Seiten v e r w a n d t e r Geister e r w a r t e t , aber k e i n e Ü b e r z e u g u n g erzwungen werden könne.

2. Problem der Geltung. Obwohl n u n i m Vergleich m i t anderen sogen. „ W i s s e n s c h a f t e n " das s t a r k e H e r v o r t r e t e n des persönlichen oder zeitlich-weltanschaulichen M o m e n t s in der Philosophie gewiß nicht geleugnet werden k a n n , so l ä ß t sich doch schon rein f o r m a l die Schwierigkeit der F r a g e aufzeigen, m i t welchem R e c h t d e n n die N o t w e n d i g k e i t der bloßen „ S u b j e k t i v i t ä t " b e h a u p t e t werde u n d v o n w e l c h e r A r t e i n e B e s i n n u n g auf das P r o b l e m des verschiedenen W a h r h e i t s c h a r a k t e r s der K u l t u r g e b i l d e sei. Sind solche „erkenntnistheor e t i s c h e n " U n t e r s u c h u n g e n nicht eines der zentralen T h e m e n a u c h aller „ W e l t a n s c h a u u n g " ? Andererseits sollen d i e s e Einsichten doch wohl m e h r als bloß subjektiv-individuelle Geltung h a b e n ! Aber ohne s y s t e m a t i s c h e Vergleichung u n d Beziehung ließen sie sich d a n n schlechterdings nicht b e g r ü n d e n . Man m a g v o n der Philosophie als W e l t a n s c h a u u n g u n d der historischen Fülle ihrer G e s t a l t u n g e n d e n k e n , wie m a n will, so wird m a n Überlegungen i m Sinne k r i t i s c h e r u n d s y s t e m a t i s c h e r B e s i n n u n g niemals e n t b e h r e n u n d n i c h t verbieten k ö n n e n , dieser Arbeit n a c h wie v o r ebenfalls d e n N a m e n „ P h i l o s o p h i e " zu geben. W e n n ferner der historische Z u s a m m e n h a n g der Philosophie m e h r sein soll, als die V e r w a n d t s c h a f t der A n s c h a u u n g in gleichen K u l t u r e n u n d E p o c h e n u n d der allmähliche W a n d e l ihres Charakters, wenn alles R i n g e n m i t vermeintlich sachlichen P r o b l e m e n u n d diskutierbaren f r e m d e n Ansichten m e h r sein soll, als bloßer „ A u s d r u c k " der jeweiligen I n d i v i d u a l i t ä t , d a n n m u ß ein gemeinsames Ziel v o n irgend einer A r t „ W i s s e n s c h a f t l i c h k e i t " die historischen Systeme m i t e i n a n d e r vergleichbar u n d v e r k n ü p f b a r m a c h e n . Diese F r a g e , ob die

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13

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g e s c h i c h t l i c h e G e s t a l t u n d der ü b e r g e s c h i c h t l i c h e G e h a l t in i h r e m V e r h ä l t n i s zu einander b e s t i m m b a r sind, u n d , d a diese B e s t i m m u n g selbst wieder eine A u f g a b e der P h i l o s o p h i e ist, wie diese selbst i h r e n B e g r i f f formulieren m u ß , d a m i t sie nicht in dieser S e l b s t b e s i n n u n g zu einem unendlichen Regreß oder einem „ S p r u n g ü b e r den eigenen S c h a t t e n " genötigt wird, soll uns i m folgenden b e s c h ä f t i g e n . Mit ihr eng v e r b u n d e n ist n a t ü r l i c h die a n d e r e , wie die „ b e g r i f f e n e G e s c h i c h t e " der Philosophie zus t a n d e k o m m t u n d welche Gültigkeit sie h a t . D e n n w e n n irgendwo, so erledigt sich hier die „ A b b i l d t h e o r i e " der E r k e n n t n i s a m l e i c h t e s t e n d u r c h den Hinweis auf die B e d i n g t h e i t des „Geschichtsb i l d e s " d u r c h den I n t e r p r e t e n der n u r angeblich o b j e k t i v fests t e l l b a r e n u n d i n den D o k u m e n t e n sich b e k u n d e n d e n historischen W i r k l i c h k e i t . I m Z u s a m m e n h a n g m i t der subjektivistisch-ind i v i d u a l i s t i s c h e n A u f f a s s u n g der Philosophie selbst gelangte m a n deshalb in neuerer Zeit z u m genauen Gegenteil der Abbildtheorie, d e m zufolge m a n v o n „ e i n e r " Geschichte der Philosophie eigentlich n i c h t m e h r r e d e n k a n n .

Zweiter Abschnitt

Über den gegenwärtigen Stand der Diskussion. 1. Geschichtliche

Gestalt und übergeschichtlicher

Gehalt.

Die gegenwärtige Diskussion dieser Probleme ist bis zu einem P u n k t gediehen, der u . a. recht gut durch zwei Aufsätze von S t e n z e l 1 u n d H e ß 2 in den „ K a n t - Studien" gekennzeichnet wird. Besonders die U n t e r s u c h u n g von S t e n z e l ist f ü r eine A n k n ü p f u n g zum Zwecke der F o r t f ü h r u n g geeignet. Die A p o r i e , welche sich im geschichtlichen Verlauf der philosophischen Bearbeitung des Problems herausgestellt h a t t e , u n d von der auch Stenzel u n d H e ß wieder ausgehen, ist der Widerspruch des sogenannten „Überzeitlich-Ideellen" u n d des „ZeitlichIndividuellen" im Begriff der geschichtlichen Philosophie; er p r ä g t sich aus in der Doppelheit der genannten Idee des allgemeingültigen „ S y s t e m s " mit sicherer Methode, welche „ W i s s e n s c h a f t l i c h k e i t " garantiert, und der Idee der individuell-subjektiven „ W e l t a n s c h a u u n g " , und zwar sowohl im Begriff des „ O b j e k t s " wie des „ S u b j e k t s " der philosophiegeschichtlichen E r kenntnis. Denn der Geschichtsforscher selbst, dessen historisches Urteil in Frage gestellt wird, unterliegt derselben Problematik. Jede dogmatische Lösung dieser Schwierigkeiten setzt schon einen b e s t i m m t e n B e g r i f f d e r P h i l o s o p h i e voraus, im Grenzfall also entweder den einer exakten Wissenschaft, die in keinem anderen Verhältnis zur Kenntnis ihrer Geschichte steht, als z. B. die M a t h e m a t i k , oder den einer bloß subjektiven, gefühlsentsprungenen Weltanschauung, die auch von der Vergangenheit n u r ein individuell beschränktes u n d gefärbtes Bild entwirft. „Wie der Mensch die Vergangenheit sieht, wie er Zeiten u n d K u l t u r e n sieht, charakterisiert ihn als Menschen. Wie er die F u n k t i o n der vergangenen Philosophie, wie er I n h a l t u n d U m f a n g ihres Begriffes 1

2

Jul. S t e n z e l , „Zum Problem der Philosophiegeschichte", Kant-Studien XXYI, 3—4, S. 416. Hans H e ß , „Epochen und Typen der philosophischen Historiographie", KantStudien XXVIII, Heft 3—4, S. 340.

— 15 — bestimmt, charakterisiert seine Philosophie." 1 Geschichtliche Erforschung der Philosophie ist dann im Grunde genommen nur eigener Meinungsausdruck anläßlich fremder, selbst nur subjektiv verstandener Ansichten. Bestenfalls ist noch eine verhältnismäßig „objektive" Beschreibung möglicher „ T y p e n " oder eine „ P s y chologie der W e l t a n s c h a u u n g e n " denkbar.

2. Heß: „Epochen und

Typen".

Es soll hier nicht unsere Aufgabe sein, die „Epochen u n d Typen der philosophischen Historiographie" zu behandeln, wie es in dem Aufsatz von H e ß geschieht, sondern das Problem selbst, wie es uns heute gestellt ist. Auch Heß kann es naturgemäß nicht nur historisch in seinem Werden betrachten, sondern m u ß sich den Weg zum Verständnis durch eigene Formulierung bahnen. E r schreibt, es sei „zweifellos eine durch die Eigenart des philosophiegeschichtlichen Gegenstandes bedingte Erscheinung, d a ß in der Philosophiegeschichte die rationale, systematische Konsequenz eine ganz andere Realitätsbedeutung besitzt als in anderen Sphären der G e s c h i c h t e . . . . Es gibt gleichsam eine objektive Dynamik der Probleme: Problemansätze drängen von sich aus, sich in einer idealen Gedankenreihe zu vollenden; Systemfragmente verlangen nach ihrer Ergänzung; erkenntnistheoretische Einsichten treiben mit Notwendigkeit neuen Einsichten zu. Und diese funktionellen Beziehungen, die ohne Rücksicht auf ihre historische Verwirklichung, zeitlos und {ibergeschichtlich aus dem immanent-sachlichen Problemgehalt, aus dem innersten systematischen Wesen der Philosophie selbst quellen u n d auch als solche einsichtig sind, treten nun zugleich als geschichtliche Macht a u f : als ein immanenter Fortgang der Probleme, der, als eine gleichsam übergeschichtliche und rein sachlich bedingte Sphäre in den geschichtlichen Verlauf eingebettet ist und so eine historische Kontinuität rein philosophischer Struktur verbürgt, in deren Verlauf die geschichtlichen Persönlichkeiten n u r als bewußte Funktionäre, als Erfüller und Vollstrecker gesetzmäßiger und überpersönlicher Denknotwendigkeiten e r s c h e i n e n . . . . Das gemeinsame Substrat 1

H e ß , i. d. cit. Aufsatz.



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aller historisch noch so verschiedenartigen Stadien der Philosophiegeschichte ist eben doch immer das philosophische, d. h. systematische B e w u ß t s e i n . . . . : die Einheit der Vernunft in aller Mannigfaltigkeit ihrer historischen Selbstentfaltung ist die Grundlage f ü r die in der Geschichte aufzeigbaren Vernunfteinheiten in zeitlicher Selbstentfaltung". „Auch der historisch gerichtete Philosoph — so heißt es an späterer Stelle — wird die historische Wirksamkeit dieses sachlogischen Prozesses der Problementfaltung nicht leugnen. Um so stärker wird er andererseits den Faktor des geschichtlichen Zufalls betonen, die ganze Sphäre des historisch Besonderen und Einmaligen, die immer wieder diesen Prozeß unterbricht und modifiziert". Auf Grund dieser Doppelseitigkeit des philosophiegeschichtlichen Geschehens bilden sich die beiden Typen des „ H i s t o r i k e r s " und des „ S y s t e m a t i k e r s " . Für den Historiker wird es, wie schon erwähnt, gerade „eine Hauptaufgabe des geschichtlichen Taktes sein, die Grenzen der Wirksamkeit dieses logischen Prozesses zu bestimmen und diese gegen die übrigen Faktoren abzuwägen. — AnVlers der Systematiker. U m der Sphäre des geschichtlichen Zufalls zu entgehen, wird für ihn der immanente Problemfortgang, der allein eine Regelmäßigkeit in der Abfolge der nun ganz System gewordenen Persönlichkeiten verbürgt, zum ausschließlichen Merkziel der Betrachtung. Und die historischen Erscheinungen haben — als I r r t u m oder Wahrheit, Fortschritt oder Rückschritt — nur eine systematische Stellung in der idealen Gedankenreihe, die das Problem bei seiner absoluten Durchdenkung bilden würde. Die vergangenen Denkstufen werden nicht auf ihre historische, individuelle Eigenart hin untersucht, sondern die systematischen Probleme selbst sind es, mit denen man die vergangenen Denker gleichsam befragt, und n u r der sachliche Beitrag zu der Lösung und Weiterbildung des Problems gibt einen Maßstab für die Bedeutung der gedanklichen Leistung eines Denkers." Die verschiedene Einstellung der Typen des „Historikers" u n d des „Systematikers" zur Philosophiegeschichte ist in diesen Sätzen treffend wiedergegeben. Aber die Begründung der Möglichkeit beider Interpretationsformen durch den bloßen Hinweis auf die „Selbstentfaltung" der „zeitlosen", „funktionellen" Beziehungen des „systematischen Bewußtseins", dessen „über-

— 17 — geschichtliche S p h ä r e " in „ d e n geschichtlichen Verlauf eing e b e t t e t " ist, i n d e m sie als „geschichtliche Macht a u f t r i t t " , die B e g r ü n d u n g also d u r c h diesen P i a t o n i s m u s in zum Teil H e g e l scher Terminologie ist (auch wenn er scheinbar bisweilen n u r ein Gleichnis sein soll) unzureichend. Wie die Einheit der V e r n u n f t , d a s „gemeinsame S u b s t r a t aller Stadien der Philosophiegeschichte", zu einem historischen F a k t o r werden u n d m i t anderen F a k t o r e n in K o n k u r r e n z t r e t e n k a n n , wenn sie einer t o t o coelo verschiedenen, nämlich überzeitlich-idealen „ S p h ä r e " angehört, bleibt hier unverständlich. Der sogenannte „sachlogische" u n d der „individuell-persönliche" Charakter der geschichtlichen Philosophie, den m a n voraussetzt, sucht u n d f i n d e t , ist in zwei metaphysische „ S p h ä r e n " auseinander gerissen worden, die im Grunde genommen nicht wieder vereinigt werden können. Gewiß, die Bildung individueller „ V e r n u n f t e i n h e i t e n " u n d die „ E n t f a l t u n g " des „logischen Prozesses" gehorchen nicht denselben Prinzipien u n d harmonieren nicht überall miteinander. Aber darf m a n sie ohne weiteres m i t den Begriffen „Zeitlich"-,,Überzeitlich" v o n einander scheiden, u n d diesen Gegensatz schlechtweg m i t dem von Zufall u n d Notwendigkeit gleichsetzen ? Ob d a n n eine Korrelation solcher A r t b e s t e h t ; ob es möglich ist, einen „Gleichgewichtsz u s t a n d zwischen Geschichte u n d System, eine H a r m o n i e beider S p h ä r e n " zu erwarten, wenn m a n ein gedachtes „absolutes System, in dem alle Probleme ihre ausgereifte Vollendung gefunden h a b e n " als einen „präexistenten Vernunftkosmos notwendiger u n d aprioristischer P r o b l e m z u s a m m e n h ä n g e " dem „Bewußtsein d e r geschichtlichen Menschheit" entgegensetzt, das m a g einstweilen dahingestellt bleiben. H e ß selber strebt nach einer anderen Lösung dieser Probleme, zu der m a n durch „konstruktiv-vergleichende Zusammenschau der philosophiegeschichtlichen D a t e n " u n d durch eine „Geschichte der Geschichtsschreibung" soll gelangen können.

3. Stemel, „Zum Problem der

Philosophiegeschichteil.

Besser empfiehlt sich vielleicht der Weg, den S t e n z e l in seiner U n t e r s u c h u n g einschlägt. E r unterzieht den W a h r h e i t s c h a r a k t e r d e r Philosophie einer gründlichen Kritik. „Die Philosophie darf 2

Noaek

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sich — so lesen wir bei ihm — ihren W a h r h e i t s c h a r a k t e r als Wissenschaft „nicht nach dem Muster etwa der Mathematik formen, wenn sie nicht unendlich weit hinter ihm zurückbleiben und anstatt der erstrebten Allgemeingültigkeit sich mit der Exklusivität einer Sekte, die den Standpunkt einer Schule für den allein möglichen gelten läßt, begnügen will; ihren besonderen Wahrheits- und Wissenschaftsbegriff muß die Philosophie so fassen, daß von ihm aus das Phänomen ihrer scheinbaren Vielgestaltigkeit eine Erklärung findet — nicht aus der Schwäche der menschlichen Natur, sondern aus der eigenartigen Struktur der philosophischen Aufgabe". Nun liegt in dieser zweifellos (im Gegensatz zu den Einzelwissenschaften) die Forderung einer „allgemeinen Beziehung auf alle Wissenschaften" und die einer „streng begrenzten wissenschaftlichen Sonderaufgabe". „Dieser moderne Wissenschaftsbegriff der Philosophie umspannt zugleich die Probleme des Historismus und seines Gegenbildes »Philosophie als strenge Wissenschaft« und ist d e m n a c h . . . . für das Verhältnis der Philosophie zu ihrer Geschichte von grundlegender Bedeutung". S t e n z e l führt dann aus, daß dieser Systemgedanke „nichts mit den Ergebnissen der einzelnen Wissenschaften zu tun habe". Damit ist gemeint, „nicht um die Endergebnisse, auch nicht um die Voraussetzungen im Sinne materialer Bestimmtheit, sondern um die spezifische Gegebenheitsweise des Gegenstandes der einzelnen Wissenschaften, der sich in ihrer Methode formt, bemüht sich die moderne Philosophie". Diese Definition könnte noch als zu eng erscheinen, weil sie allein die Methoden der sogenannten „Wissenschaften" berücksichtigt; die Philosophie bemüht sich aber doch auch um die besondere Synthesis, wie sie etwa im Schaffen der Kunst, in der sozialen Praxis, im religiösen Erleben, kurz in jeder Art sinnvoller „Erfahrung" vorliegt. Also die Gesamtheit des geistigen Lebens bildet mit ihren spezifischen Erfahrungsweisen, mit ihren je eine besondere Gegenständlichkeit konstituierenden Formen das Problem der nach totaler Einheit suchenden Philosophie. S t e n z e l nennt ihre Aufgabe deshalb das „ S y s t e m gestellter und ü b e r h a u p t möglicher Prob l e m e " . Gewiß ist das eine moderne Formulierimg, aber sie ist nicht ohne Rücksicht auf die geschichtlichen Tatsachen gewonnen. Wann immer die Philosophie in irgend einer Weise danach strebte,

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19 -

u n i v e r s a l e Erkenntnis zu sein, war dieses Motiv einer systematischen Einheit aller Erfahrung in ihr wirksam, mag auch die adäquate Methode erst durch die kritische „Revolution der D e n k u n g s a r t " entdeckt sein.

4. Historische

Wahrheit.

S t e n z e l stellt nun die methodologisch entscheidende Frage: „Welches sind die prinzipiellen Voraussetzungen, unter denen in s p e z i f i s c h p h i l o s o p h i s c h e n Dingen h i s t o r i s c h e Gewißheit erreicht werden kann ?" Die Antwort ist f ü r uns insofern interessant, als sie sich mit der Antinomie von individuell- und allgemein-gültiger Form der Philosophie auseinandersetzen muß. Zunächst wird die Frage im kritischen Sinne unter die Voraussetzung gestellt, „ d a ß auch in der Geschichte das Philosophische nicht vorliegt als irgend etwas einfach Abzulesendes, daß es erst entsteht, indem man es versteht", es „erzeugt". Das geschieht nun, indem m a n alles Einzelne in einen sinnvollen Zusammenhang bringt, in welchem es seine Bedeutung gewinnt, und zwar so, daß dieser Sinnzusammenhang selbst als Leitfaden zur Entdeckung der Meinung der fremden philosophischen Lehre dient, also wiederum der Interpretation zu Grunde gelegt wird. „Denn wie anders kann der Sinn gerade eines irgendwie philosophischen Zusammenhanges ergänzt werden als aus dem, was dem Betrachter richtig erscheint, also aus seiner systematischen Einsicht ?" Die Gefahr, daß dadurch n u r ein „bestimmtes", individuell-subjektives System an jenes fremde herangebracht und so der Sinn desselben garnicht erfaßt oder doch mindestens stark entstellt wird, eine Folge, die durch die Vieldeutigkeit der Sprache und die eventuellen Übersetzungsschwierigkeiten noch begünstigt wird, liegt natürlich nahe. Aber schon das unvermeidliche Bemerken abweichender Gedankengänge und der Versuch, im fremden System eine innere Konsequenz zu entdecken, die ja allein einen Sinnzusammenhang möglich macht, k o r r i g i e r e n doch das historische Bild ganz wesentlich zugunsten der hier allein in Frage kommenden „Obj e k t i v i t ä t " . E i g e n e s s y s t e m a t i s c h e s D e n k e n ist deshalb ohne Zweifel die Voraussetzung des h i s t o r i s c h e n V e r s t e h e n s

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in der Philosophie. Man wird sogar Stenzel Recht geben, wenn er sagt, je unbefangener j e m a n d glaubt, „kein »System« zu haben, desto größer ist die Gefahr der Mißdeutung, weil er ohne weiteres die Bedeutungen, die in ihm bereit liegen, den zu verstehenden Sinnesträgern substituiert, weil er sich der Mehrdeutigkeit, der Bedeutungsfülle garnicht bewußt ist. » Systematisch«, — so f ä h r t er f o r t , — nenne ich auch diesen naiven S t a n d p u n k t , weil es unmöglich ist, die Bedeutungen A b s t r a k t , Konkret, Realität, Idealität, Ursache, Zweck anders zu begreifen als aus einem System, das das Verhältnis dieser Begriffe g e g e n s e i t i g b e s t i m m t . W e r »kein System h a t « , unterliegt, ohne es zu merken, unserem empiristischen Zeitbewußtsein; wer keine philosophische Schulung h a t , der ist nicht imstande, sich ü b e r h a u p t einen anderen S e i n s begriff vorzustellen, der etwa zwischen den Begriffen A b s t r a k t u n d K o n k r e t völlig neue Beziehungen ermöglicht, als die einer empiristischen A b s t r a k t i o n s l o g i k . . . . Gerade in dem Begriffe, den m a n a m unbewußtesten gebraucht, dem I s t , auf das zu reflektieren einem zuletzt einfällt, ist m a n am engsten an ein System gebunden, das dem Denken zu Grunde liegt und an dem m a n alle ihn begrenzenden Sinnesbeziehungen m i ß t und nach ihm sie versteht". 5. Problem-Geschichte. K a n n m a n also nicht, u m der „ s u b j e k t i v e n " Befangenheit zu entgehen, „ o h n e S y s t e m ' ' interpretieren, so haben wir auch bereits auf einige Momente hingewiesen, die geeignet sind, die Bef ü r c h t u n g zu beseitigen, m a n könne niemals aus dem o f t wie ein „ G e h ä u s e " gedachten System der eigenen beschränkten Weltanschauung heraus. Aber über diese Momente hinaus f i n d e t S t e n z e l in der p r o b l e m g e s c h i c h t l i c h e n Methode das Organ der eine bloße S u b j e k t i v i t ä t überwindenden I n t e r p r e t a t i o n auf G r u n d ausdrücklicher Besinnung auf die Kriterien der philosophischen W a h r h e i t , d. h. eine allgemeine Systematik. Die problemgeschichtliche Forschung setzt voraus, d a ß die historische Philosophie t r o t z aller individuellen Ausführung auf dieses System gerichtet ist, also nicht bloßer Ausdruck des persönlichen „Lebensgefühls", sondern eine „Wissenschaft" sein will. „ I n der Problemgeschichte — so heißt es bei S t e n z e l — ist der W e r t , n a c h d e m

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aus der Vielfältigkeit alles dessen, was an Material möglicher philosophiegeschichtlicher Forschung in der Geschichte bereit liegt, der spezifische Gegenstand ausgewählt und geformt wird, unmittelbar sichtbar und er m u ß ihr stets gegenwärtig sein, sie m u ß stets »philosophische bleiben. E s liegt i m Begriff der Philosophie selber die Voraussetzung, daß in ihrer Geschichte mehr gesehen werden darf, als eine bunte Reihe zusammenhangsloser Meinungen und Weltbilder. A u f deren Strukturerfassung richtet sich der B l i c k der »Intuition «, welche nach der Einheit der individuellen Systeme f r a g t " , oder, mit einem Ausdruck, den Stenzel hier übernimmt, nach dem philosophischen „ B i o s " derselben. Jedoch auch die Problemgeschichte muß auf die Individualitäten Rücksicht nehmen, u m überhaupt „ G e s c h i c h t e " zu bleiben. Sie m u ß die Probleme in ihrer historischen E n t w i c k l u n g zeigen: „ S i e m u ß notwendig Stufen annehmen und sie h a t bisher noch nicht darauf verzichtet, diese an N a m e n d e r P h i l o s o p h e n zu knüpfen. Verzichtete sie darauf, würde sie nur Möglichkeiten der Problematik dialektisch auseinander entwickeln, ohne sie mit historischen Konkretionen zu verbinden, so würde sie zwar immer noch philosophische A r b e i t leisten, hätte aber aufgehört, Geschichte zu sein. A l s solche m u ß die Problemgeschichte notwendig in Beziehung bleiben mit der F o r m und dem Grade der B e w u ß t h e i t e n der die Probleme in der Geschichte in I n d i v i d u e n (auch ganze Epochen sind als solche anzusehen) hervorgetreten sind". In den Worten „ E n t w i c k l u n g " , „ B e w u ß t h e i t " und „ I n d i v i d u e n " kündigt sich eine neue, über den engeren Systembegriff der Philosophie hinausgehende Voraussetzung ihrer Geschichte an. V o n ihr w a r i m A u f s a t z Stenzeis schon an früherer Stelle die Rede, wenn z. B . die „ S p h ä r e des bloßen subjektiven E r l e b e n s " v o n den „ F o r m e n der O b j e k t i v i t ä t " , die in jenem „ a u f g e f a ß t " werden können, unterschieden, oder wenn v o n „ b e s t i m m t e n F r a g e n " gesprochen wurde, deren „ A n t w o r t der jeweiligen K u l t u r entsprach''. V o r allem aber heißt es, der „noch heute und wohl immer wirkende, weil sachlich begründete Antagonismus zwischen dem zeitlosen Problem und der an das Medium der Zeit gebundenen Geschichte" sei „erst h e u t e " als „ d a s P r o b l e m " der Philosophiegeschichte erkannt. D a m i t r ü c k t in dieser Formulierung „ d a s Historische mit allen seinen Nachbarproblemen des Individuellen

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und Psychologischen" aus dem überzeitlichen „Geltungszusammenhang" des Systems der Probleme, welches sich in zeitlicher „Einbettung" entwickelt, p r i n z i p i e l l heraus. Die beiden Sphären scheinen einander „tr an sc e n d e n t " zusein; trotzdem sieht man eine Möglichkeit, diesen „Antagonismus" m e t h o d e n - i m m a n e n t zu überwinden, wenn ein bestimmter gedanklicher Prozeß der folgenden Sätze weiter geführt wird. 6. Wahrheitsbegriff

der

Philosophie.

Es heißt: „Der Wahrheitsbegriff der Philosophie, der aus der Idee des Systems der Probleme an die historische Aussage herangebracht wird und deren Sinn zu bestimmen geeignet ist, ist grundsätzlich aus sich heraus nicht imstande, die Klarheit und Unklarheit, in der ein Problem auf einer geschichtlichen Stufe anzusetzen ist, zu bestimmen. Wie der mögliche Sinn der Aussage eines Philosophen durch die problemgeschichtliche Einstellung an der Hand des systematischen Wahrheitsbegriffes eine Determination erfuhr, sozusagen auf eine Koordinate bezogen wurde, so bedarf dieser Sinn nun nach einer anderen Seite einer weiteren Determinierung. Dazu mußte die Problemgeschichte grundsätzlich aus der Linie ihrer eigenen Denkbewegung heraustreten." „Welches aber ist der Maßstab für die jeweilige Bewußtheit des Problems, die zweite Koordinate neben der Problemgeschichte, an der die h i s t o r i s c h e Wahrheit der Philosophiegeschichte gemessen werden kann?" „Aus dem Begriff der Philosophie, aus dem Ganzen ihrer Probleme, nur durch eine Wendung über die Einstellung der Problemgeschichte hinaus kann auch dieses Ziel erreicht werden, wenn es überhaupt im Bereich des Philosophischen liegen soll. J a es wird hier der Systemgedanke der Philosophie noch in einer anderen Weise als in der Problemgeschichte gegenwärtig sein müssen." Die Erkenntnis der „ B e w u ß t h e i t " wird durch Anwendung des Systemgedankens auf die Gesamtheit der Aussagen des zu interpretierenden Philosophen gewonnen: „Niemals ist ein anderer Weg für die Beurteilung dieses historischen Wirklichkeit, d. h. Wirksamkeit der Begriffe beschritten worden als der, zu prüfen, ob die Konsequenzen, die ein Problem f ü r u n s hat, sich

- 23 mit anderen Aussagen des Philosophen vertragen. Widersprechen einige der Folgerungen unzweideutigen Aussagen des Philosophen, so ist anzunehmen, daß sie ihm nicht zu Bewußtsein gekommen s i n d . . . . Nicht also ist der einzelnen Aussage der gesuchte Grad der Klarheit abzulesen, sondern nur in dem Zusammenhang weiterer Aussagen ist darüber Aufschluß zu gewinnen. An welchen Kriterien wird nun der Widerspruch gemessen ? Nur derselbe systematische Wahrheitsbegriff, der die Urteile der Problemgeschichte bestimmt, kann auch diese Beurteilung leiten. Die gegenseitige Vergleichung der Aussagen, die gegenseitige Korrektur ihrer Deutungen weist auf die Idee hin, jenes frühere Bewußtsein in seiner Gesamtheit als ein widerspruchsloses System aufzufassen. Dieses System wird durch Denkschritte erschlossen, die vom Systemgedanken des Verstehenden geleitet sind, aber es ist nicht das System dieses Verstehenden selbst, es ist ein historisches, d. h. in seiner historischen Konkretion einzigartiges Individuum." Hiermit hat S t e n z e l erfolgreich den Begriff der „ B e w u ß t h e i t " , was ihre Bestimmung betrifft, auf den des „ i m m a n e n t e n Z u s a m m e n h a n g e s d e r G e d a n k e n in dem besondern, i n d i v i d u e l l e n S y s t e m " zurückgeführt. Ist damit nun aber wirklich die Gefahr überwunden, daß der Wahrheitscharakter der Philosophie durch die Subjektivität der „Weltanschauung", die sich in den historischen Systemen ausprägt, eine empfindliche Einbuße erleidet? Wie verhalten sich die individuellen Systeme zum allgemeinen Systembegriff, der sich doch aus ihnen entwickeln soll ? Ist ein „einzigartiges Individuum" trotz dieser Einzigartigkeit seiner Systematik imstande, die Forderungen allgemeingültiger Wissenschaftlichkeit zu erfüllen oder steht es schließlich doch in einem widersprechenden Verhältnis zu jenen ? Wenn seine Einzigartigkeit durch den jeweiligen „Bewußtheitsg r a d " in der „Entwicklung des philosophischen Denkens" gerechtfertigt werden soll, dann beruht der Gedanke der wissenschaftlichen Einheit der Philosophiegeschichte auf einem P o s t u l a t : „Der Sinn der Philosophiegeschichte steht und fällt mit dem Gedanken, daß die Summe der Probleme stets irgendwie gegenwärtig ist; daß aus dieser Summe das Eine oder das Andere sich ans Bewußtsein ringt, aber das Nicht-Gegenwärtige auch durch sein Fehlen das Gegenwärtige bestimmt und zu seiner Formung bei-

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trägt. Zum Teil noch in ursprünglicher Verbundenheit tauchen die Probleme empor, hemmen, fördern sich gegenseitig in ihren Konsequenzen, drängen sich in den Vordergrund, werden durch andere abgelöst — eine unendliche Mannigfaltigkeit von Verbindungen ergibt sich, die aber alle auf einen allgemeineren Systembegriff bezogen werden müssen, wenn sie in unser Bewußtsein eingehen und überhaupt verstanden werden sollen. Eine unerschöpfliche Aufgabe, systematische Möglichkeiten als solche zu begreifen, eröffnet sich unter diesem Gesichtspunkt des Systems, das in der Anordnung und Sonderung der Probleme individuell, in der zu Grunde liegenden Geisteseinheit und -ganzheit allgemeingültig ist." Die Notwendigkeit einer solchen Idee des F o r t s c h r i t t s , der „Entwicklung" oder „Entfaltung'' der Philosophie, zum Verständnis ihrer Geschichte kann nicht gut in Abrede gestellt werden. S t e n z e l warnt andererseits aber mit Recht vor einer Überspannung derselben, nämlich vor einer „Ableitung der Geschichte aus einem hinter ihr liegenden metaphysischen Prinzip, das in dialektischer Entwicklung unmittelbar zu erfassen wäre", und vor einer Auffassung, nach der „die einzelnen Stufen zu unbestimmten Vorstufen d e g r a d i e r t " würden. Aber „mögen auch die großen Schöpfer ihre Arbeit stets mit der Geste beginnen, die Bürde des Geschichtlichen bei ihrem systematischen Geschäft abzuschütteln — die Philosophie ist doch nicht zu einem ewigen, ihren Fortschritt vereitelnden Vonvornanfangen verurteilt, denn gerade in der Selbstbesinnung des wirklich schöpferischen Philosophen kommt die Summe des Geschichtlichen, dessen Ergebnis er ist, zum reinsten Ausdruck." 7. Versteckter Zirkel und

Dualismus.

Die Garantie für den Fortschritt soll, wie wir sahen, nach Stenzel darin liegen, daß „die Summe der Probleme stets irgendwie gegenwärtig ist". Sie tauchen aus „ursprünglicher Verbundenheit" empor, „ h e m m e n " und „fördern" sich, „drängen sich in den Vordergrund" usw. Hier erhebt sich die Frage, wie das zu denken sei? Wenn die Probleme nach der vorauszusetzenden Idee der Einheit des Systems doch an sich zu einander in bestimmter

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Ordnung stehen, in der sie alle wechselweise aufeinander hinweisen und sich bedingen, warum kommen sie dann in solcher „Mannigfaltigkeit von Verbindungen" ans Licht des Bewußtseins ? Kann denn im System selber die Tendenz liegen, sich innerlich aus dem Gleichgewicht zu bringen und seine Teile oder Momente oder Richtungen so dramatisch zu kombinieren ? Nun, man wird auf die „ E n g e des Bewußtseins" hinweisen und auf die Variabilität des P s y c h i s c h e n , „ i n " dem die Entfaltung des Systems sich vollzieht. Der verschiedene Grad der Bewußtheit, der Dringlichkeit und der Interessantheit eines Problems im Zusammenhang des Erlebens bedingt seinen Einfluß und die Stärke, mit der es auf die mögliche Bewußtwerdung und Einordnung aller übrigen zurückwirkt. E s war jedoch die Bewußtheit schon auf die immanente Konsequenz eines individuellen Systems zurückgeführt worden; jetzt muß wiederum die „systematische Möglichkeit", aus der die individuelle „Anordnung und Sonderung der Probleme" hervorgeht, auf die Bewußtheit zurückgeführt werden. Es liegt in der Tat ein Z i r k e l vor und zwar deshalb, weil, der Systemgedanke der Philosophie doch nur wie zufällig und noch n i c h t p r i n z i p i e l l mit dem der historischen Entfaltung und ihren Gesetzen verbunden ist. Noch immer stehen sich der „systematische Bewußtseinsinhalt eines Philosophen" als das „ P s y c h i s c h e " und der Systembegriff als „ I d e e der Geisteseinheit" d u a l i s t i s c h gegenüber. Der „ A n t a g o n i s m u s " von überzeitlicher und zeitlicher Sphäre ist n i c h t r e s t l o s ü b e r w u n d e n worden; denn was heißt überhaupt „ B e w u ß t w e r d u n g " und w e l c h e r A r t s i n d d i e s i e r e g e l n d e n P r i n z i p i e n ? Hätte nicht der Gedanke der individuellen Systematik eine rein methodische und dadurch auch immanent-systematische Lösung ermöglichen können ? Stenzel selbst weist auf die Möglichkeit hin, den Widerspruch im G e g e n s t a n d e durch den Rückgang auf die Prinzipien zweier spezifischer M e t h o d e n zu beseitigen, denn er schreibt in dem Satze, mit dem das Ergebnis seiner Untersuchung ausgesprochen wird: „Beide Einstellungen, die systemgeschichtliche und die problemgeschichtliche, bedingen sich gegenseitig, sind ohne einander unmöglich und ergeben zusammen wie Zettel und Einschlag erst Philosophieg e s c h i c h t e als eine Einheit, die z w e i G e l t u n g s b e g r i f f e n , dem philosophischen und historischen genügen k a n n " ; es fragt

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sich nur, wie die transzendentale Begründung der Richtigkeit dieses Satzes durchgeführt werden kann, ohne daß man auf den oben genannten Zirkel zurückkommt.

8. Neue

Problemstellung.

Abgesehen von diesen Bedenken kann man sich den Ausführungen S t e n z e i s und ihren s a c h l i c h e n E r g e b n i s s e n in voller Übereinstimmung anschließen. Im Begriff der Philosophiegeschichte laufen die verschiedensten Prinzipien zusammen; zunächst in ähnlicher Weise, wie in den Geschichtswissenschaften, die sich mit dem Werden anderer Kulturgebilde beschäftigen; dann aber mit dem Unterschied, daß die Geschichte der Philosophie ganz anders eingeschätzt werden muß als die Geschichte der spezifischen Einzelwissenschaften; das Individuelle und Persönliche spielt in ihr eine größere Rolle und ist keineswegs im Sinne einer Beschränktheit oder einer bloßen Schwäche zu denken. Ferner hat im Zusammenhang damit die Erforschung der Sache selbst in der Philosophie ein viel engeres Verhältnis zur Erforschung ihrer Geschichte als in irgend einem anderen Gebiet. Sie ist nicht n u r von ihrer Vergangenheit abhängig und fördert ihre aktuelle Problematik, wenn sie sich durch historische Erkenntnis einen Einblick in die Bedingungen ihres Werdens und die Faktoren ihrer gegenwärtigen Gestalt verschafft, sondern f ü r sie wird ihre Geschichte in zweierlei Weise ein eigentümliches Problem. Erstens ist die Philosophiegeschichtsforschung als Sonderdisziplin auch noch Gegenstand m e t h o d o l o g i s c h e r und s y s t e m a t i s c h e r K r i t i k . Zweitens sind die inhaltlichen Resultate der historischen Forschung, also die Summe der bisherigen philosophischen Gedanken direkt ein Problem ihrer systematischen Bemühungen, insofern jene c h a r a k t e r i s t i s c h e L ö s u n g s v e r s u c h e darstellen, in denen auch die gesuchten „sachlogischen" Beziehungen zu erkennen sein müssen. Zwar kann diese systematische Einheit der Vernunft auch auf anderem Wege gesucht werden, etwa durch Selbstbesinnung auf den Zusammenhang der gegenwärtigen differenzierten K u l t u r ; in den vergangenen Systemen t r i t t sie aber gleichsam unverhüllter heraus, weil sie in ihnen zum eigentlichen T h e m a geworden ist. Welch mannigfaltige Ursachen

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freilich verhindern können, daß die Arbeit der Philosophie den „stetigen Gang einer Wissenschaft" nimmt, wurde zur Genüge angedeutet. Aber das entscheidende Problem, das zu Anfang gestellt wurde, kann noch nicht als gelöst betrachtet werden. Die Idee eines allgemeinen S y s t e m s der Probleme (bzw. der entsprechenden „Methoden" oder sinngebenden Formen) als Möglichkeitsgrund philosophischer W i s s e n s c h a f t l i c h k e i t und die Idee des i n d i v i d u e l l e n S y s t e m s als Ausdruck einer „Weltanschauung", bzw. eines bestimmten Bewußtheitsgrades in der Entfaltung, stehen sich im Grunde noch unvereint und sogar noch nicht sicher in ihrer Begründbarkeit gegenüber. Es muß offenbar zunächst untersucht werden, von welcher Art jene systematische Einheit des allgemeinen Systembegriffs sein kann, was für sie „historische Entwicklung" bedeutet und ob, wie es S t e n z e l verlangte, in der „Struktur der philosophischen Aufgabe" selbst die Gründe für die Tatsache liegen, daß das System „in der Anordnung und Sonderung der Probleme individuell, in der zu Grunde liegenden Idee der Geisteseinheit und -ganzheit allgemeingültig" ist.

Zweiter Teil.

Voraussetzungen der philosophischen Systematik.

Erster Abschnitt

Die Aufgabe der Philosophie. 1. Das „offene

System".

Wir haben bis jetzt mit den Worten S t e n z e i s das System der Philosophie als „System gestellter und überhaupt möglicher Probleme" definiert. Es wurde dabei nicht nur an „Wissenschaften" im engeren Sinne des Wortes gedacht, sondern an Erfahrungsrichtungen jeder Art, die sich durch ihre besondere Form der Sinngebung als a u t o n o m legitimieren. Die Reinheit der autonomen Methode („M." nicht nur im äußerlichen Sinne des technischen Verfahrens, sondern der Sinngebung überhaupt) ist danach das Kriterium für die Echtheit einer in das System aufzunehmenden Erfahrungsweise, die den Anspruch erhebt, zum Gesamtinhalt dessen, was man die „Welt" oder das „Leben" nennt, einen unentbehrlichen Zug hinzuzufügen. Es gehören dazu also u. a. auch die Kunst, die Erziehung, die Technik und die Religion. Ob beispielsweise auch die Astrologie oder der Okkultismus echte „Methoden" sind, kann nur die Kritik entscheiden und niemals aus dem bloß faktischen Ansehen, das sie zu irgendeiner Zeit und in irgend einem Kulturkreise genießen, präjudiziert werden. Auch muß die philosophische Kritik stets bereit sein, ihr Urteil von Neuem zu prüfen, wenn in einer solchen angeblichen Wissenschaft Wandlungen der Methode vor sich gehen. Die Philosophie darf 6ich zwar den Richter über die Autonomie der Erfahrungszeugen nennen, ist aber nicht befugt, einen numerus clausus ein für alle Mal dogmatisch festzusetzen. Stets muß sie bereit sein, hier oder dort im System zu „interpolieren" und neue „Dimensionen" einzuführen. Das dürfte der Sinn in der Forderung des „ o f f e n e n S y s t e m s " sein; nicht aber der, daß überhaupt auf Ordnung und „Geschlossenheit" im Sinne einer Ganzheit verzichtet wird; denn das ist die Vollständigkeit, die der Philosophie als Idee vorschweben muß. Selbst wenn jeder Versuch sich als unvollkommen und voreilig erweisen sollte — und daran

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ist kein Zweifel möglich — so m u ß er dennoch u n t e r n o m m e n werden, weil die Philosophie ohne solche ernsteste B e m ü h u n g ihrer Aufgabe nicht gerecht werden k a n n . I n dieser oder jener R i c h t u n g m a g unsystematische Behandlung der Probleme weit vordringen, in der Fülle des Gesehenen u n d E r k a n n t e n unübertrefflich sein, sogar in der Aufdeckung der Beziehungen, die von einem Problemgebiet zum anderen f ü h r e n , zu wertvollsten Ergebnissen gelangen; — gerade das zentrale Problem der Philosophie k a n n n u r d a n n wirklich ergriffen u n d bewältigt werden, wenn der E n t w u r f eines „ g e s c h l o s s e n e n S y s t e m s " gewagt wird, wie es hier v e r s t a n d e n sein soll. Es war schon e r w ä h n t worden, wie leicht m a n sich ü b e r die Qualität des „systemlosen" Denkens t ä u s c h t , hinter d e m meist u n b e w u ß t ein traditionelles oder individuell beschränktes System verborgen steckt. Die F u r c h t , es zu verraten, darf aber der Besinnung auf die wichtigsten Fragen der Philosophie nicht i m Wege stehen. Auch k a n n der Grund f ü r die „ B e s c h r ä n k t h e i t " der historischen Systemversuche gar nicht, wie aber erst zu beweisen sein wird, in der prinzipiellen Unmöglichkeit allgemeingültiger Systematik ü b e r h a u p t liegen, sondern n u r in der Eigenwilligkeit des Denkers, sofern er sich an die einmal gewonnene Gestalt seines Systems fesselt, ohne es i m Fortgang seines Denkens stetig zu korrigieren. Mit dieser zweiten Forderung, das System e l a s t i s c h u n d entwicklungsfähig zu halten, d ü r f t e der Sinn des „offenen System"-Gedankens freilich erschöpft sein.

2. Grundbegriffe der

Systematik.

Vor allem aber m u ß möglichst genau festgestellt werden, welche Bedeutung die W o r t e „ E i n h e i t " u n d „ T o t a l i t ä t " als Ausdrücke f ü r zwei Grundbegriffe der philosophischen S y s t e m a t i k haben. Es ist gewiß ein I r r t u m , wenn m a n m i t T o t a l i t ä t e t w a eine bestimmte Zahl v o n Erlebensrichtungen meint, außer denen keine mehr d e n k b a r u n d möglich sein sollen. Denn es ist niemals abzusehen, wohin weitergehende Differenzierung u n d Kombinierung von Methoden noch einmal f ü h r e n werden. — I n ähnlicher Weise k a n n auch die systematische „ E i n h e i t " m i ß v e r s t a n d e n werden, z. B. als Ableitung aller besonderen Methoden aus einem einzigen obersten Begriff. — W e n n in diesen Tendenzen gewissermaßen eine

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Ü b e r t r e i b u n g des Totalitäts- und Einheits-Gedankens liegt, so handelt es sich bei der Befürwortung des „unsystematischen" Denkens meist um das Gegenteil. Solche U n t e r s c h ä t z u n g findet sich aber auch in einigen Systemversuchen wieder. In der „Einheit" will man dann nichts weiter sehen als bloße Anordnung in ein übersichtliches Vergleichungsschema oder etwa als den Aufweis der überall gleichartigen Grundstruktur der Sinngebiete (durchgehende Kategorien, Korrelationsverhältnis, Progreß usw.); und unter der „Totalität" versteht man den Ausschnitt aus der Fülle sinngebender Funktionen, dem die persönliche Gestaltungskraft des Philosophen eine gewisse Abrundung zu geben vermag. Man muß aus diesen Gründen ausdrücklich nach der systematischen Bedeutung jener beiden Begriffe fragen; wir beginnen mit der Erörterung der „Einheit".

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Noack

Zweiter Abschnitt

Systematische Einheit und das Prinzip „auxiliarer Kontinuität44. 1. Die Autonomie der Sinngebiete und die Synthesis des Konkreten. Wenn die moderne Philosophie in der Problemstellung (und die vergangene Philosophie, sofern sich ihr die Probleme in ähnlicher Form, weil aus gleichen Gründen, aufdrängten) von der D i f f e r e n z i e r t h e i t des Erlebens ihren Ausgang nimmt, so sucht sie nach irgend einer E i n h e i t desselben. Die Aufgabe wird um so dringlicher, je mehr sie in neuerer Zeit, u. z. durchaus nicht nur im „kritischen Idealismus", die Differenziertheit selbst durch den Erweis der A u t o n o m i e spezifischer Sinngebiete verschärft. Ihre Terminologie t u t ein Übriges, um die Rückkehr zur konkreten Einheit scheinbar zu verbieten, wenn nämlich von „ganz verschiedenen Gesichtspunkten", von „Gegenständen eigenen Ursprungs" usw. die Rede ist. Zum Beispiel soll der Mensch „als" Lebewesen, „als" juristische Person und „als" bestimmter Typus in jedem dieser Fälle etwas „ganz anderes" sein. Zu der völligen Isolierung, die man mit solcher Redeweise anzustreben scheint, kommt es nun freilich nicht, und zwar weil man in praxi am unbekümmerten alltäglichen Sprachgebrauch weiter festhält und ungescheut von „ d i e s e m " Menschen spricht, der etwa „gesund, handlungsfähig und energisch" sei. Die philosophische Reflexion auf die Geltungsgrundlagen solcher Urteile belehrt uns, wie gesagt, daß der Inhalt derselben n i c h t aus e i n e r Quelle fließe, sondern jeweils ein s p e z i f i s c h naturwissenschaftlicher, ein juristischer und ein psychologischer sei, also die „Gegenständlichkeit" einer biologischen Gattung, eines Repräsentanten staatlicher Gemeinschaft und eines eigentümlichen Charakters habe. Wenn nun aber nach der kritischen Theorie die „ G e s e t z l i c h k e i t " je einer Interpretationsweise, d. h. die Grundbegriffe, Prinzipien, Gesetze usw. erst den „Gegenstand" als solchen „erzeugen", nämlich seine be-

— 35 — sondere „ G e g e n s t ä n d l i c h k e i t " 1 bedingen, wie kommt dann die Einheit „dieses" k o m p l e x e n Gegenstandes, den wir meinen, aus so viel verschiedenen Gegenständlichkeiten z u s t a n d e ? . . . . Unsere transzendentale Frage lautet: Wie ist die Erfahrung dieser k o m p l e x e n , bzw. k o n k r e t e n Gegenständlichkeit überhaupt m ö g l i c h ? Denn „ w i r k l i c h " ist sie jedenfalls, und es macht uns gar keine Mühe, „ d e n s e l b e n G e g e n s t a n d " bald so, bald anders, bzw. sowohl so als auch anders zu betrachten. Auch ist er nicht etwa ein bloßes Aggregat der verschiedenen Bedeutungen, die er gewinnt; der „ W e r t " z. B . — worauf man schon oft hingewiesen hat — „ h ä n g t " einem Dinge nicht nur an, kommt nicht als „Akzent" dazu, sondern ist mit ihm so eng v e r w a c h s e n , daß die Einheit von Ding und Wert in der „ W i r k l i c h k e i t " mehr ist als die Summe beider „Inhalte". Nicht die Vereinigung — die Sonderung ist sogar im täglichen Leben das Schwierige. Die Einheit ist geradezu das Erste, wenngleich vielleicht in anderer Gestalt als nach vollzogener Differenzierung. Der Satz K a n t s , daß der Verstand nicht trennen kann, was er nicht zuvor verbunden hätte, gilt auch in diesem Fall. Jedoch muß nach vollzogener A n a l y s i s auch die S y n t h e s i s bewußt „wiederholt" (d. h. „wiedergeholt") werden. Erstere ist das Ergebnis der vielen Richtungen geistiger Sonderbetätigung in den Wissenschaften, im Schaffen der Kunst, in den Verrichtungen der Wirtschaft, des Staates, in Erziehung und Bildung und im religiösen Leben. Die „Synthesis" wird die besondere Aufgabe der P h i l o s o p h i e als ihr systematisches Problem. Sie wird um so bedeutungsvoller, je mehr durch fortschreitende Differenzierung das Einheitsband zu zerreißen droht, indem die Sonderrichtungen sich entweder von einander lösen und zur Isolierung treiben (die zumal in der Sprachbildung fühlbar wird), oder sich gegenseitig verdrängen und unterjochen wollen, oder so miteinander im Streben nach Einheit verquicken, daß aus dieser Vermengung unlösbare Widersprüche, falsch gestellte Fragen, Trugschlüsse, „Problemverschlingungen", phantastische Kom1

Zum Ausdruck „Gesetzlichkeit und Gegenständlichkeit" in dieser Bedeutung s. A. G ö r l a n d , „Ethik als Kritik der Weltgeschichte", Leipzig 1914. „Religionsphilosophie", Leipzig 1922 und den Aufsatz: „Der Begriff der Lüge im System der Ethiker von Spinoza bis zur Gegenwart" im Sammelwerk: „Die Lüge". Hrsg. von 0 . Lipmann und P. Plaut, Leipzig 1927.

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— 36 — binationen usw. hervorgehen. So entstehen m i t fortschreitender Differenzierung G r e n z s c h w i e r i g k e i t e n der Methoden, die n u r durch „integrierende" Systematik behoben werden können. Die Philosophie als W i s s e n s c h a f t v o n d e n G r e n z e n m u ß ihr Problem d a r u m in zwei sich ergänzenden Schritten lösen, deren erster die kritische Besinnung auf das Besondere der einzelnen Methoden ist, der zweite die systematische Besinnung auf deren Grenzverhältnisse u n d die funktionale Einheit, welche sie zusammenhält. E s folgt daraus, d a ß die abgrenzende Einheit der j e e i n d e u t i g d i f f e r e n z i e r t e n Methoden selbst e i n d e u t i g sein m u ß . Das ist die erste Bestimmung, welche die philosophische Systematik dem Belieben u n d G u t d ü n k e n des Einzelnen entreißt u n d zu einer „wissenschaftlichen" Angelegenheit m a c h t .

2. ,,Substrat der

Synthesis".

Gegen die hier vorgetragene B e h a u p t u n g , d a ß die konkrete Einheit eines b e s t i m m t e n Gegenstandes durch ein prinzipiell e i n d e u t i g festgelegtes Z u s a m m e n w i r k e n der seine „Wirklichkeit" bestimmenden Methoden vollzogen werde, ließe sich einwenden, die I d e n t i t ä t in dem Satz, es sei „derselbe" Mensch, der „ a l s " lebendes Wesen, „ a l s " juristische Person u n d „ a l s " Charaktert y p u s beurteilt werde, beruhe auf einer zu Grunde liegenden Anschauung, bzw. W a h r n e h m u n g oder E m p f i n d u n g , jedenfalls einem rein sinnlichen I n h a l t , der an sich weder logisch noch ethisch, ästhetisch usw. interpretiert werde. E r ermögliche es aber, trotz der mannigfaltigen Beurteilung v o n einem identischen S u b s t r a t der Synthesis zu reden. Hiergegen wäre aber zu sagen: Soll dieser sinnliche I n h a l t ü b e r h a u p t als solcher aufgefaßt werden, — und das wäre zur Identifizierung j a nötig — , so setzt er eine spezifische (etwa „sinnliche") F u n k t i o n voraus. Diese wäre d a n n n u r wieder eine neben andern u n d das Problem ihrer E i n o r d n u n g in den Zusammenhang jener, bezw. der Vereinigung jener auf sie, wäre von dem Problem der Einheit „objektivierender" Methoden nicht verschieden. — Sieht m a n das Eigentümliche des sinnlichen Subs t r a t s aber darin, d a ß es die „noch-nicht-differenzierte" A r t oder Stufe der E r f a h r u n g sei, welche aber potentiell die besonderen Interpretationsmethoden e n t h ä l t oder zuläßt, d a n n h ä t t e m a n die Lösung entweder vorweggenommen oder m i t einem bloßen W o r t

— 37 — abgetan, aus dem über das P r i n z i p der „Synthesis" autonomer Methoden nichts zu entnehmen ist.

3. „Auxiliare

Kontinuität."

Es läßt sich deshalb nicht umgehen, die systematische Einheit allein auf eine wechselseitige Anweisung der Methoden aufeinander zu gründen. Der Begriff der „Anweisung" ist notwendig, weil ein bloßes konzedierendes „Nebeneinander" zu keiner synthetischen Einheit führen könnte. Es ergäbe n u r eine liberale „Gleichgültigk e i t " der Methoden im doppelten Sinne des Wortes, während wir gerade feste „Beziehungen" suchen müssen, welche die einzelnen Methoden aufeinander hinweisen und eine Vereinigung möglich machen, die nicht „Addition", sondern „ E r g ä n z u n g " ist, d. h. dem Gegenstande eine wahrhaft neue, k o n k r e t e Einheit verleiht. Wir können uns in dem Bemühen, die philosophische Systematik aus solchen Forderungen zu entwickeln, an einen S y s t e m v e r s u c h d e s k r i t i s c h e n I d e a l i s m u s halten, der in den Schriften von A l b e r t G ö r l a n d vorliegt. Hier wird ausdrücklich die Autonomie der Sinngebiete, und zwar in ihrer Gestalt als „Wissenschaften", festgehalten und der Philosophie das Problem gestellt, die „totale Einheit über der totalen Mannigfaltigkeit" zu vollziehen. Die Bedingung der Möglichkeit dieser Einheit soll in einer „ H i e r a r c h i e d e r W i s s e n s c h a f t e n " nach dem Prinzip der „ a u x i l i a r e n K o n t i n u i t ä t " liegen. Kurz und prägnant werden diese Gedanken in dem erst vor kurzem veröffentlichten Aufsatz über die „Lüge" 1 formuliert. Wir lesen daselbst: „Was man Tatsache, Ding, Einzelfall nennt — wie eng oder wie weit sind seine Grenzen ? K a n n man es in der Mehrzahl denken ? Ist nicht alles „Tatsächliche", „Deut-Einmalige", immer n u r dies Eine: d a s Einmalige, das E i n e und T o t a l e , „ L e b e n " g e n a n n t ? Und andererseits: Wissenschaft gibt es n u r i n d e r M e h r z a h l , Wissenschaft heißt s p e z i f i s c h e Wissenschaft, aus spezifischer Definition ihres spezifischen Problems, ihrer spezifischen Methode und ihres spezifischen Gegenstands1

A. G ö r l a n d , „Der Begriff der Lüge im System der E t h i k e r . . . . " , s. die Anm. zu Seite 35

— 38 — gebietes. Immer nur in b e s o n d e r e n B e d e u t u n g e n hat das Erleben die u n b e s o n d e r t e D e u t - T o t a l i t ä t „ L e b e n " . Nirgends aber kann diese Totalität „ L e b e n " in Teile zerlegt und nach Teilen nun je einer „besonderen" Wissenschaft übermittelt werden; gleichwohl kann die Wissenschaft gemäß ihrem Wesen nur s p e z i f i s c h versuchen, diese Totalität zu sehen und sich zu Sinn zu b r i n g e n . . . . Das, was als Erleben oder Erfahrung erfaßt wird, ist je ein s p e z i f i s c h e r Sinnbezug zwischen spezifischer Gesetzlichkeit und spezifischer Gegenständlichkeit, z. B . der physikalische oder der ökonomische oder der religiöse. Wo aber gäbe es ein Tatsächliches, das n u r ein — physikalisches oder n u r ökonomisches oder n u r religiöses Tatsächliches wäre? Eine ungesonderte Totalität, das und nur das ist „das Tatsächliche", „ L e b e n " Es „ g i b t " nirgends eine physikalische Wirklichkeit, dann und anderswo eine rechtliche Wirklichkeitssphäre usw. Vielmehr definiert die Physik diejenige Sinnbezogenheit von Gesetz und Gegenstand, die sie in der T o t a l i t ä t d e s W i r k l i c h e n a l s physikalische Erfahrung s e h e n w i l l ; und so überall bei allen anderen spezifischen Wissenschaften. Dieser ungeheuren Spannung zwischen „Theorie und Ding", d. h. zwischen immer nur spezifisch M ö g l i c h e m und immer nur als Totalität W i r k l i c h e m vermag der Geist Herr nur zu werden, wenn die spezifischen Wissenschaften in einer Systemfolge (die in der Geschichte der Wissenschaften immer mehr die Lücken zwischen j e zwei Gliedern durch neu auftauchende Wissenschaften ausfüllt) einander so d i e n e n , daß die eine Wissenschaft — den von der anderen („früheren") verarbeiteten Sinnbezug als Technik und als Material übernimmt und unter ihrer neuen Sinngebung weiter verarbeitet in der Richtung auf immer mehr sich verdichtende Wirklichkeit, in der Richtung auf t o t a l e K o n k r e t i o n . Dem Charakter der Konkretheit (dem Charakter der Totalität „Leben") entspricht das (indefinite) Ganze der Wissenschaften also unter Leitung des P r i n z i p s einer unablässigen (aufsteigenden) K o n k r e t i o n der Sinngebung dadurch, daß sie sich in ein System der Uberordnung, der Hierarchie gliedern gemäß dem Prinzip eines mehr und mehr n a c h A n s c h l u ß , Übergängen und nach Interessengemeinschaften suchenden a u x i l i a r e n Verhältnisses, kurz: gemäß dem P r i n z i p a u x i l i a r e r K o n t i n u i t ä t . Dieses

— 39 — Prinzip läßt uns in der Mannigfaltigkeit der Wissenschaften eine Rangordnung im Dienste der Konkretion sehen, von der Mathematik zur Physik, von ihr zur Chemie usw." Die in diesen Sätzen fixierten Gedanken sollen uns im folgenden als L e i t f a d e n für unsere systematischen Überlegungen dienen. Zugleich soll versucht werden, sie in Anwendung auf gewisse Einzelprobleme d u r c h z u d e n k e n und eventuell sinngemäß f o r t z u s e t z e n , um auf solchem Wege schließlich nach ihrer L e i s t u n g s f ä h i g k e i t für die B e a n t w o r t u n g unseres H a u p t p r o b l e m s zu fragen. In Wiederanknüpfung an das oben Gesagte bilden wir uns also den Leitbegriff einer „ e r s c h ö p f e n d e n G e g e n s t ä n d l i c h k e i t " , in der die intensivste Konkretion angetroffen wird. Man mag dabei an den K a n t i s c h e n Begriff des „ D i n g e s a n s i c h " erinnern, der auch die systematische Einsicht enthielt, daß „Gegenständlichkeit" sich nicht in „theoretischer" (wir sagen hier auch: „logischer") Gegenständlichkeit e r s c h ö p f e , sondern als „transzendentales Objekt" („Ding an sich in positivem Verstände") a u c h eine praktisch-moralische (ethische) Bestimmung erfahren könne, wenngleich bei K a n t das Verhältnis der beiden Gebiete nicht eindeutig in dem Sinn einer systematischen, auxiliaren Ergänzung bestimmt wird. — Da die erschöpfende Gegenständlichkeit ihre Konkretheit der zusammenwirkenden Bestimmung durch ursprüngliche, i r r e d u z i b l e , also a u t o n o m e Methoden verdanken soll, so kann eine systematische Einheit, welche die Methoden in irgend einer Weise auseinander bzw. aus einer „absoluten" hervorgehen läßt, nicht in Frage kommen: das System läßt sich n i c h t ( a x i o m a t i s c h ) k o n s t r u i e r e n . Aus den Forderungen der Autonomie einerseits und der Ergänzung andererseits folgt aber wenigstens das P r i n z i p d e r s y s t e m a t i s c h e n O r d n u n g . Wenn sie nämlich einander bei der Bestimmung der konkreten Gegenständlichkeit trotz gemeinsamer, ergänzender Funktion nicht stören, sondern selbständig und unbeschränkt im Vollzug ihrer besonderen Leistung sein sollen, dann müssen sie sich ihre spezifische Gegenständlichkeit in der Weise zubereiten, daß je eine Methode mit ihren neuen, genuinen Problemen an die Probleme bzw. Bestimmungen der andern a n k n ü p f e n k a n n . Die Methoden würden dann aufeinander in der Bestimmung folgen, so daß die

— 40 —

Bestimmungen der einen bei der Problemstellung der nächsten als „vorgegeben" übernommen werden. Geschieht das nun in Richtung auf „totale Konkretion", so treten die Methoden dadurch in ein n i c h t u m k e h r b a r e s systematisches S c h i c h t u n g s oder F u n d i e r u n g s v e r h ä l t n i s 1 . Die jeweils „höhere" Methode fügt den objektiven Bestimmungen der „tieferen" neue Bestimmungen aus ihrer Gesetzlichkeit hinzu, ohne doch den Z u s a m m e n h a n g j e n e r „ f r ü h e r e n " zu zerreißen oder deren K o m p e t e n z a u f ihrem G e b i e t e i n z u s c h r ä n k e n . Sie ordnen sich dadurch in einer R i c h t u n g , weil je eine von zwei angrenzenden Methoden die andere als conditio sine qua non einschließen muß.2 Diese systematische Ordnung und ihre Voraussetzungen findet man tatsächlich b e s t ä t i g t , wenn man das gegenseitige Verhältnis der Methoden im Bereich der „Theoretik" studiert, nämlich den Aufbau der sogenannten „exakten" oder „theoretischen" Wissenschaften übereinander, von der Mathematik über .die Physik, die „anorganische" und „organische" Chemie zur Biologie (Physiologie). Man hat es in diesem Falle mit der systematischen Einheit ,,homogener"Methoden zu tun, die sich der eigenen Methodik entsprechend einander überordnen. Eine jede derselben muß z. B. die G e g e n s t ä n d l i c h k e i t der ihr untergeordneten als negative „ E x i s t e n z b e d i n g u n g " für ihre eigene Gegenständlichkeit denken. Die Bestimmungen der unteren verwendet sie als in wissenschaftlicher Forschung „vorgegebenes" („selbstverständliches") „ M a t e r i a l " für die eigenen; die Gesetzlichkeit jener als „ T e c h n i k " im Dienste ihres Denkens. Ferner bemerkt man, daß die Sachverhalte der oberen für die unteren „zufällig", die der unteren für die oberen „unentbehrlich" erscheinen; für einen auf 1

2

Wir verstehen also unter „ F u n d i e r u n g " keineswegs eine „Grundlegung" im Sinne logischer „Begründung", sondern Bereitung eines Bodens, über dem sich eine neue, autonom begründete Ordnung erhebt, deren „Überordnung" deshalb keinerlei „Vorrang" oder „ k o n s t i t u t i v e " Bedingung bedeutet. Vgl. hierzu die Ausführungen von A. G ö r l a n d in seiner „Religionsphilotophie" VWV. Leipzig, 1922, §§ 4—6 und zur Ergänzung den Aufsatz von E . M u t h e s i u s , „Zur Dialektik der Einheit des Praktischen und Theoretischen". KantStudien, X X V I I , Heft 3/4, bes. S. 314, 315, 317ff. — zur „Intensivierung", S. 320.

— 41 — T o t a l i t ä t gerichteten Blick aber unterscheiden sich beide als relativ „konkreter" u n d „ a b s t r a k t e r " voneinander. Aber diese Totalität gilt es jetzt zunächst noch etwas genauer zu erörtern, ehe wir den soeben angedeuteten K r i t e r i e n f ü r das eindeutige Folgeverhältnis oder, anders gesagt, f ü r die fundierende Schichtung der spezifischen Methoden weiter nachgehen. Überh a u p t geht es uns nicht um den A u f b a u der systematischen Einheit selbst, sondern nur u m den Nachweis ihrer Möglichkeit.

Dritter Abschnitt

Systematische Totalität und die Prinzipien der „fundierenden Schichtung". 1. „Erschöpfende

Grenzgegenständlichkeit".

Oben war auf die entscheidende Bedeutung des Totalitätsbegriffes in der Frage des „offenen Systems" hingewiesen worden; falsche Auslegungen der Forderungen der „Offenheit" und „Geschlossenheit" wurden abgewehrt: weder an „Abgeschlossenheit" noch an numerische Begrenztheit darf bei der Totalität gedacht werden. Sie hat dagegen zunächst den Sinn, daß a l l e der philosophischen Besinnung irgend erreichbaren Methoden kritisch gesondert und ins System aufgenommen werden; dabei ist ihre Zahl immer nur provisorisch. Wie aber unser Leitbegriff einer „erschöpfenden Gegenständlichkeit" besagte, sollen die einzelnen Methoden unter dem Gesichtspunkt der E r g ä n z u n g betrachtet werden, d. h. als Schichten einer Erfahrung, die den ganzen Gehalt möglichen Erlebens ausschöpft. Es würde aber dem Autonomie-Prinzip widerstreiten, wenn man die einzelnen Sinnschichten irgendwie aufeinander und schließlich auf eine einzige zurückführen wollte. Aufgabe der philosophischen kritischen Systematik ist es nur, das Z u s a m m e n w i r k e n einer gewissen Zahl von jeweils autonom befundenen Methoden zur erschöpfenden Interpretationsmöglichkeit dessen zu erweisen, was man etwa das „ S e i n " , die „Wirklichkeit", die „ W e l t " oder das „ L e b e n " nennt. Das wird nie anders möglich sein, als durch ein „geschlossenes System", es mag beschaffen sein, wie es will; das Entscheidende ist immer die vermeinte Erschöpfung aller Möglichkeiten. Selbst die Behauptung ihrer Unbegrenztheit wäre noch eine bestimmte Auskunft, denn sie könnte nur begründet werden, wenn sich zeigen ließe, daß a l l e b e k a n n t e n Methoden für einen auf Totalität gerichteten Blick noch ü b e r s i c h h i n a u s w e i s e n . Tatsächlich ist jedoch in irgend einer Form die Möglichkeit einer a b s c h l i e ß e n d e n Erfahrung

— 43 — stets behauptet worden, (auch wenn sie nur im Sinne skeptischer Resignation oder mystischer Einswerdung gedacht wurde). Dafür scheint nach unseren Voraussetzungen eine gewisse Berechtigung vorzuliegen. Die Erörterungen über das Prinzip der systematischen Einheit führten schon zu der Einsicht, daß die „erschöpfende Gegenständlichkeit" jedenfalls nicht durch bloße Summierung der Methoden, sondern nur durch deren fundierende Schichtung mit der Bedeutung zunehmender „Konkreszenz" zustande kommen könne. Demnach müßte es eine „erste" und eine „letzte", nämlich eine „abstrakteste" und „konkreteste" Methode geben, und nur die letztere könnte auf „abschließende" Bestimmung der erschöpfenden Gegenständlichkeit gerichtet sein, falls abschließende B e s t i m m u n g , Grenze aller Sinngebung ü b e r h a u p t i h r g e n u i n e s P r o b l e m wäre. Wir definieren die erschöpfende Gegenständlichkeit deshalb näher als „erschöpfende Grenzgegenständlichkeit" und verweisen zur Veranschaulichung des Gemeinten auf den Inhalt, um den sich die Erfahrungsweisen bemühen, die man „Religion" oder „Metaphysik" usw. nennt; ob mit Recht oder nicht, soll hier noch nicht entschieden werden. 2. Homogene

Fundierung.

Diese bisher sehr allgemein behandelten Prinzipien der Systematik sind natürlich, um allen Anforderungen der Probleme, die sich in der philosophischen Arbeit ergeben, genügen zu können, im Einzelnen weiter zu entwickeln. Vor allem muß hier auf einen sehr wichtigen Punkt aufmerksam gemacht werden. E s wurde von der systematischen Einheit „ h o m o g e n e r " Methoden gesprochen, die sich der e i g e n e n M e t h o d i k e n t s p r e c h e n d einander ü b e r o r d n e n ; und zwar wurde als Beispiel auf die Fundierung der Methoden der sogenannten exakten oder „logischen" Wissenschaften hingewiesen. Sie zeichnen sich als homogenes Gebiet dadurch aus, daß das Prinzip der Schichtung selbst wieder l o g i s c h ist. Ein anderes homogenes Gebiet ist z. B. das der teleologischen (praktisch-ethischen) Methoden, dessen Aufbau-Prinzip darum t e l e o l o g i s c h ist. Die „Wirtschaft" als eine Form des sozialen Lebens ordnet sich ihrem Sinne und Werte nach dem Staate unter, und zwar hat, der ethischen Gesetzlichkeit entsprechend, diese

— 44 — U n t e r o r d n u n g die Dignität des S o l l e n s (d. h . die E r f a h r u n g des faktischen Lebens ist kein E i n w a n d dagegen). I n der Gemeinschaftsform des Staates aber wird noch nicht der Endzweck , die freie, sittliche Person, zum Ziel des Handelns, so d a ß auch i h m sich noch eine Gemeinschaft reiner Menschlichkeit überzuordnen hat.1 3. Begriff der Methode: Gesetzlichkeit und

Gegenständlichkeit.

An dieser Stelle d ü r f t e eine Zwischenbemerkung a m Platze sein; es m u ß nämlich noch genauer gesagt werden, was hier u n t e r „ M e t h o d e " verstanden wird. D a ß sie nicht den Sinn eines technischen Verfahrens habe, wurde bereits oben e r w ä h n t ; wenigstens ist ihre F u n k t i o n als „ T e c h n i k " sekundär u n d allenfalls n u r in systematischem Verbände zu verstehen. Vielmehr gilt uns Methode als Inbegriff der konstitutiven u n d regulativen Prinzipien jeder E r f a h r u n g , d. h. als die im Zusammenhang von Sätzen, bzw. sinnvollen Setzungen jeder A r t (also auch „ H a n d l u n g e n " usw.) aufweisbare „ E r z e u g u n g " u n d Bestimmimg eines spezifischen Sinngefüges. E i n solcher Sinnzusammenhang ist aber nach zwei Seiten hin unendlich differenzierbar, unbegrenzt zu erweitern. E s k a n n nämlich angesichts der P o l a r i t ä t v o n G e s e t z l i c h k e i t u n d G e g e n s t ä n d l i c h k e i t , an die hier gedacht ist, n i c h t an der K a n t i s c h e n F o r m des „ A p r i o r i s m u s " festgehalten werden, nach der m a n gewisse Obersätze oder „ A x i o m e " a n n i m m t , welche als „Bedingungen möglicher E r f a h r u n g " selbst unbedingt gelten; denn als Letztes u n d Unbedingtes wären sie ein Unbegründetes und in diesem Sinne völlig Zufälliges, weil keiner Begründung fähig. Wie m a n vielmehr schon die Gegenständlichkeit, das „Einzelne", zum Problem eines unbegrenzten Bestimmungsweges h a t machen müssen, so m u ß auch die Gesetzlichkeit als „Ursprünglichkeit", als unbegrenzt tiefer zu führende B e g r ü n d u n g gedacht werden. Spricht m a n diese Gedanken als „ F o r d e r u n g " 2 aus, so scheint 1

2

Eine erste verwandte Dreigliederung s. bei H e g e l , „Das System der Sittlichkeit", in H.' Schriften zur Politik und Rechtsphilos. ed. G. Lasson, Phil. Bibl. v. F. Meiner, Bd. 114, S. 492ff. Vgl. auch die K a n t i s c h e n termini „Legalität" und „Moralität". Für die obige Darstellung s. A. G ö r l a n d , „Ethik als Kritik der Weltgeschichte". Vgl. A. G ö r l a n d , „Ethik", S. 41 ff.

— 45 —

es, als nähme man Rücksicht auf irgendwelche Motive, die ihrer Erfüllung widerstreben, und zwar solche phsychologischer Art. Wenngleich nun diese Reflexion ihren guten Grund hat, so gilt es doch, jene Gedanken zunächst als „ I d e e n " im Kantischen Sinne des Wortes zu fassen. Dann mag man sie in postulierender Weise der psychologischen „ E v i d e n z " , welche bestimmten Situationen des Erkennens rechtmäßig entspricht, gnoseologisch als unbegrenzte B e g r ü n d u n g s b e d ü r f t i g k e i t aller für unbedingt gehaltenen Axiome und Voraussetzungen und als Una b s c h l i e ß b a r k e i t der B e s t i m m u n g des Einzelnen, ontologisch aber als Momente der G e g r ü n d e t h e i t und Gegebenheit aller Realität, entgegensetzen. 4. Systematische

Probleme

der ,,Erkenntnis-

Theorie".

Was überhaupt den p s y c h o l o g i s c h e n Vorgang des „Erkennens" oder der „Aneignung des Wissens" betrifft, so kann hier zu Beginn dieser Untersuchung kaum mehr als eine Andeutung gegeben werden, daß nur die d u r c h g e f ü h r t e S y s t e m a t i k imstande ist, der Eigenart psychologischer Probleme gerecht zu werden. Denn oft genug handelt es sich dabei um solche Probleme, die nur durch den Aufweis des systematischen Verhältnisses der besonderen Gebiete des Systems zueinander gelöst werden können. Als Beispiel diene folgender Sachverhalt: Gegenüber der uns im praktischen Leben bekannten und vertrauten Natur mit ihren einzelnen „Dingen" und Geschehnissen ist das „ E i n z e l n e " in der Gegenständlichkeit reiner Erkenntnis, wie und soweit es in den exakten Wissenschaften methodisch beherrscht und bestimmt wird (also z. B. physikalische „Konstanten", spezifische Gewichte, Reaktionszeiten, biologische Gattungen usw.) in der Tat etwas „Abstraktes" und „Allgemeines", so daß sich die Ansicht erklärt, die Naturwissenschaften seien nur auf die Erkenntnis „allgemeiner Gesetze" gerichtet, obwohl es zweifellos in ihnen ebenso wie in jeder anderen Methode die Unterschiede des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen gibt. Es trifft nicht einmal zu, daß die Naturwissenschaften als besondere Richtung kultureller Tätigkeit vielleicht aus „außerwissenschaftlichen", etwa technisch-praktischen Gründen mehr am Allgemeinen interessiert

— 46 — wären; denn ganz abgesehen davon, daß das „Gesetz" doch stets in strenger Korrelation zum „ F a l l " steht, so ist das Interesse an der Erkenntnis des „Einzelnen" (ein solches ist z. B. für einen bestimmten Gesichtspunkt „diese" unsere Erde und ihre „Geschichte" !) mindestens ebenso groß wie das an den Gesetzen. N u r im V e r h ä l t n i s zur konkreteren Gegenständlichkeit auf Grund der Mitbestimmung systematisch ergänzender Methoden erscheinen ihre Gegenstände wie etwas schlechthin Allgemeines und Abstraktes. Denn es ist nicht ausgemacht, daß sich der Richtungspunkt des Begriffs vom „Einzelnen" in ihnen allen deckt, sondern es kann auch, was für die sich jeweils überordnenden Methoden der Sinngebung schon a l s E i n z e l n e s weitgehend abgegrenzt und in seinen Gründen erfaßt ist, für die Bestimmung der „unteren" noch in weiter Ferne liegen, so daß dort an Stelle der eigentlichen Erkenntnis die bloße „Beschreibung" treten muß, die für jene doch nur ein Hinweis sein kann. Daß die Unterscheidung von „ E r k a n n t e m " und „ B e k a n n t e m " auf systematische Probleme führt, wird meist viel zu wenig beachtet; man pflegt die spezifische Gegenständlichkeit homogener Methoden ohne weiteres mit ihrer Gegebenheitsweise in heterogenen Methoden gleichzusetzen, ohne zu prüfen, ob jene Methoden tatsächlich alle erforderlichen Konstitutionsprinzipien der gemeinten Inhalte geliefert haben und zu liefern vermögen. Auch dieses Problem mag deshalb als Fingerzeig für die Bedeutung systematischer Kritik dienen. Ferner führt, wie oben gezeigt, im Zusammenhang damit die ganze Unterscheidung von „Erkenntnis" und „Erkennen" (Wissen), von „ U r s p r u n g " und „ E n t s t e h u n g " der Erfahrung, die der kritische Idealismus durchaus mit Recht gemacht hat, auf systematische Probleme. Wenn die transzendentale und die psychologische Seite des Erkenntnisproblems nicht mit Hilfe einer übergreifenden Systematik vereinigt werden können, dann läßt sich eine letzten Endes dogmatisch-metaphysische Setzung, ein Rückfall in den absoluten Dualismus von Subjekt und Objekt (wenngleich in anderer Gestalt) kaum vermeiden.

— 47 — 5. Systematik

der

Hauptgebiete.

Freilich kommen wir, wenn das verstanden werden soll, zu einer systematischen Schwierigkeit, die bisher noch nicht erwähnt wurde, uns aber nun zum Brennpunkt der ganzen Untersuchung führt. Wir wiesen auf den Begriff , , h o m o g e n e r " M e t h o d e n und deren systematische Einheit durch Fundierung hin. Die ausdrückliche Besinnung auf die Einheit über der Mannigfaltigkeit besonderer, aber homogener Methoden ist das Problem besonderer Zweige der Philosophie. Wir nennen, der Tradition des kritischen Idealismus entsprechend, das System der naturtheoretischen Methoden z. B. „ L o g i k " 1 , das der teleologischen Methoden, deren Sinnzusammenhang jeweils ein Gebiet der Sozietät oder „Gemeinschaft" ist, „ E t h i k " 2 . Angenommen, wir hätten noch mehr derartige Regionen als Bezugseinheiten jeweils homogener Methoden, — und wir werden bald von ihnen sprechen müssen — , so erhebt sich doch die Frage: wie bildet sich aus diesen h e t e r o g e n e n Gebieten nur jeweils homogener Methoden wiederum die zu fordernde systematische Einheit ? Nach welchem Prinzip lassen sich diese größeren Glieder der Philosophie einheitlich ordnen und kann dabei überhaupt an eine eindeutige Ordnung gedacht werden ? Wenn 1

2

Der S p r a c h g e b r a u c h , der sich im Anschluß a n K a n t s U n t e r s c h e i d u n g von „ t h e o r e t i s c h e r " u n d „ p r a k t i s c h e r " V e r n u n f t u n d seit C o h e n s „ L o g i k des reinen D e n k e n s " u n d „ E t h i k des reinen Willens" eingebürgert h a t , leidet sachlich t r o t z dieser persönlichen E m p f e h l u n g an nicht unerheblichen Mängeln, d a die Unterschiede v o n , , T h e o r i e " u n d , , P r a x i s " , v o n „ L o g o s " u n d , , E t h o s " sich offenbar schon miteinander kreuzen, v o r allem aber auch m i t d e m Unterschied der „ n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n " u n d „sozialwissenschaftlichen" Sachverhalte, so wenig auch diejenigen Z u s a m m e n h ä n g e , die der Sprachg e b r a u c h der Schule voraussetzt, ganz geleugnet werden k ö n n e n . D a wir u n s hier m i t den systematischen P r o b l e m e n des kritischen Idealismus beschäftigen u n d bessere W o r t e einstweilen noch n i c h t zur V e r f ü g u n g stehen, so h a l t e n wir vorläufig a n ihnen fest, in der H o f f n u n g , d a ß die hier angebracht e n U n t e r s u c h u n g e n m i t i h r e m Ergebnis zugleich eine neue Terminologie zu f i n d e n helfen. F e r n e r sei schon b e m e r k t , d a ß sich noch eine weitere Unterscheidung m i t d e n eben g e n a n n t e n kreuzt, nämlich die der „ N a t u r - u n d G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n " , d a „ N a t u r " u n d „ G e i s t " n i c h t m i t einzelnen Sinngebieten zus a m m e n f a l l e n , sondern sich i n einer ganz a n d e r e n Dimension gegenüberstehen. Vgl. A. G ö r l a n d , „ E t h i k als K r i t i k der W e l t g e s c h i c h t e " .

— 48 — sich auch in diesem Falle die erwähnten Voraussetzungen der Systematik bewähren sollen, d a n n m u ß eine neue, eine ü b e r r e g i o n a l e H o m o g e n e i t ä t diese Glieder vergleichbar machen, so d a ß sie wieder als Schichten einer Fundierungsordnung in R i c h t u n g der totalen Konkretion in einer erschöpfenden E r f a h r u n g f u n gieren können.

6. Die Kategorien

als Garanten der

Homogeneität.

N u n erkennen wir bereits die Homogeneität der Methoden i n n e r h a l b der Gebiete der Logik, E t h i k usw. nach transzendentaler Methode n u r daran, d a ß wir sie m i t ü b e r g r e i f e n d e n philosophischen Kriterien untersuchen können, nämlich durch P r ü f u n g a n durchgehenden K a t e g o r i e n . Diese P r ü f b a r k e i t schließt jedoch offenb a r auch eine H o m o g e n e i t ä t ihres a l l g e m e i n e n Charakters a l s „ M e t h o d e " bzw. als „ S i n n g e b i e t " ü b e r h a u p t ein, m a g auch der S i n n , in welchem die Kategorien in den einzelnen Regionen abgewandelt werden, immerhin verschieden sein. Wir h ä t t e n aber d a m i t doch eine Homogeneität allgemeinerer A r t . W a s wir m i t den allgemeinen philosophischen Kategorien meinen, ist nicht schwer zu zeigen; sie liegen aller transzendentalen K r i t i k notwendig zugrunde. E s sind letzten E n d e s keine anderen als die, welche K a n t in seiner K a t e g o r i e n t a f e l zusammengestellt h a t , n u r müssen sie noch formaler oder wie m a n s a g t : „ a b s t r a k t e r " formuliert werden, d a m i t m a n sieht, d a ß sie nicht allein f ü r die Region der logischen Methoden (der „ E r k e n n t n i s " ) , sondern f ü r alle Sinngebiete gelten. Nicht unwichtig ist vor allem die richtige W a h l der W o r t e , denn in diesen p r ä g t sich die besondere Bedeutung aus, die den allgemeinen Kategorien in den besonderen Gebieten z u k o m m t : der „ S i n n " , den sie als Begriffsformen eines Sinngebietes erhalten. Die W o r t e , m i t denen K a n t seine Kategorien bezeichnet, sind zum größten Teil aus der Sprache der e x a k t e n Wissenschaften v o n der N a t u r gewählt, teilweise freilich auch von allgemeinerer B e d e u t u n g oder deuten bereits auf die besondere Abwandlung derselben in anderen Zusammenhängen, z. B. in der „praktischen Vern u n f t " hin. Das W o r t „ K a u s a l i t ä t " etwa k a n n n u r in „übertragen e r " Bedeutung zum Ausdruck f ü r die Kategorie der „ F u n k t i o n " i m praktischen Sinnzusammenhang dienen. D a r u m m a c h t der Be-

— 49 — griff „ K a u s a l i t ä t aus Freiheit*' m i t seiner Paradoxie nicht unerhebliche Schwierigkeiten, die n u r durch Verwendung des allgemeineren T e r m i n u s „ B e d i n g u n g " , „ G e b o t " oder „ G e s e t z " überwunden werden. Dagegen h a b e n die W o r t e „Notwendigkeit", „Möglichk e i t " u n d „Wirklichkeit" f ü r die Kategorien der Modalität eine überregionale Brauchbarkeit u n d werden zwanglos i m logischen, ethischen, ästhetischen u n d religiösen Sinne angewandt. Das W o r t „ G e m e i n s c h a f t " f ü r die logisch-theoretische Kategorie der „Wechselwirkung" u n d f ü r die überregionale Kategorie des „ S y s t e m s " d e u t e t bereits auf die spezifisch praktisch-ethische Bedeutung hin. Übrigens lassen sich trotz der überregionalen Geltung der philosophischen Kategorien die Kategorien der einzelnen Regionen nicht aus ihnen analytisch gewinnen; vielmehr müssen sie zu diesem Zweck erst auf eine spezifische A n s c h a u u n g bezogen werden 1 . Das Schema der „Anschauung ü b e r h a u p t " ist wieder n u r a b s t r a k t philosophisch; auch aus diesem ist durch keine begriffliche Analyse ein spezifischer „ S i n n " zu gewinnen. Die reinen a b s t r a k t e n Kategorien u n d das a b s t r a k t e Schema der „ r a u m zeitlichen O r d n u n g " , die aufs engste miteinander verbunden sind, d ü r f e n in ihrer F u n k t i o n nicht ohne weiteres m i t „Allgemeinb e g r i f f e n " anderer Art, m i t klassifizierenden Abstraktionen usw. in eine Linie gestellt werden. An ihnen k a n n m a n vielleicht a m deutlichsten die Eigenart der kritisch-philosophischen „ B e s i n n u n g " erkennen, die trotz ihrer Universalität die Autonomie der Sinngebiete gelten l ä ß t ; die zwar auf Einheit gerichtet ist, aber nicht beabsichtigt, alles aus Einem abzuleiten.

7. Die

Kategorientafel.

W a s n u n die K a n t i s c h e Kategorientafel b e t r i f f t , so h a t m a n bekanntlich o f t genug an ihr die schärfste K r i t i k g e ü b t ; aber a u c h außerhalb der neukantischen, sogenannten , , M a r b u r g e r " 1

Über das ganze Problem der Kategorienlehre und den Schematismus der Kategorien wird ausführlicher, und zwar zunächst in Anlehnung an K a n t , die in den „Hamburger Beiträgen" demnächst erscheinende Arbeit von F r i t z K ö l l n : „Das Transzendenzmotiv als Faktor immanenter Systematik" handeln. 4

Noack

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Schule hat u. a. K. J o ë l 1 in einem Aufsatz auf das „logische Recht der Kantischen Tafel der Urteile" und damit indirekt, z. T. auch ausdrücklich auf das gleiche Recht der aus diesen Urformen aller Urteile abgeleiteten Kategorien hingewiesen. Wir schließen uns im folgenden seiner Ansicht an, führen aber die Gedanken in bestimmter Richtung weiter. J o ë l sagt gegen Ende seiner Ausführungen : „Alle Urteilsformen der Kantischen Tafel sind wesentlich Entscheidungen über Gültigkeit und gerade als solche zu unterscheiden: danach, ob sie ein Verhältnis gültig setzen (Realitätsstatt „Qualitätsurteile"), in welchem Umfange (Extensitätsstatt „Quantitätsurteile"), in welchem Grade (Intensitäts- statt „Modalitätsurteile") und in welcher Beziehung (Relationsurteile)". Sollen nun diese logischen Unterschiede zum Ausdruck gebracht werden, so bilden wir Begriffe von denselben, die gerade jene oben erwähnten a l l g e m e i n e n Kategorien sind; d. h. die Kategorien in ihrer formalsten, abstraktesten Gestalt, die erst in den einzelnen Sinngebieten „restringiert", damit auch erst„realisiert" wird (um diese Kantische Formulierung auch für diese Verhältnisse anzuwenden, die jenen zugrunde liegt, für welche Kant sie geprägt hat). Nun weist aber J o ë l selbst schon auf noch andere G r u p p i e r u n g s m ö g l i c h k e i t e n der „Urteilsformen" bzw. jener allgemeinen Kategorien hin, die auch von anderen bemerkt worden sind und z. B. dazu geführt haben, daß man einige Kategorien, die Kant als selbständig gelten ließ, auf wenige andere zurückführte. Doch die Anordnung und die Reihenfolge in der Kantischen Tafel darf uns nicht irreleiten, weil sie zumeist anders, nämlich historisch begründet ist. Auffallend ist nun zunächst, daß bei Kant sowohl wie bei Joël einige Namen der vier Gruppen ¿agleich Namen eines ihrer Glieder sind. Zwar meint Joël, daß die Namen zu „Äußerlichkeiten" gehören und „verlöschen" mögen; auch habe Kant einige sehr unglücklich gewählt. Man mag das zugeben, wird aber der Tatsache trotzdem einige Aufmerksamkeit schenken müssen. So heißt z. B. eine der Kategorien der Qualität bei Kant „Realität"; dieser Name wird von Joël für die ganze Klasse gewählt. Die Kategorie der Kausalität geht nach Kant auf das hypothetische Urteil zurück; die allgemeine Kategorie wäre 1

K. J o ë l , „Das logische Recht der Kantischen Tafel der Urteile". KantStudien, Bd. XXVII, 3/4, S. 298 ff.

— 51 — also die der Bedingung oder der Funktion. „Relation" ist in der T a t ein allgemeiner Begriff f ü r diese Kategorie wie für die der Substanz und der „Gemeinschaft"; doch findet sie in der letzteren als „Wechselbeziehung" (naturtheoretisch restringiert: „Wechselwirkung") ihren stärksten Ausdruck (Korrelation). Die Kategorien der Modalität nennt Joël solche des Grades der Geltung, Intensitäts-Urteile; den Begriff der Intensität verwendet K a n t als „intensive Größe" bei den Kategorien der Qualität, die nach ihm den Grad der R e a l i t ä t s Setzung betreffen. Auch Joël nennt sie deshalb Urteilsformen der „ R e a l i t ä t " . Nun h a t u. a. auch N a t o r p 1 gesagt, daß die Kategorien der Modalität, also Möglichkeit, Notwendigkeit und Wirklichkeit, als Kategorien des Grades oder als „ P h a s e n " im Ganzen und Einzelnen dem Dreischritt jeder Gruppe zugrunde liegen. Natorp schaltet freilich in dieser neueren Darstellung einige Kategorien der Kantischen Tafel aus und kennt nur noch drei Gruppen. Versuchen wir jedoch, auch die drei übrigen Gruppen als unentbehrlich festzuhalten (worauf ja das „ R e c h t " der Urteilsformen hinweist), so zeigt sich immerhin, daß den Kategorien der Modalität jeweils die drei Kategorien der übrigen drei Gruppen entsprechen, freilich nicht als ein dialektischer Dreischritt im Hegeischen Sinne, sondern als Momente einer P o l a r i t ä t , nämlich jener bereits erwähnten Polarität von G e s e t z l i c h k e i t und G e g e n s t ä n d l i c h k e i t . Was die Ordnung der drei Gruppen selbst betrifft, so bilden sie schon bei K a n t eine Stufen-Folge zunehmender Einspannung des Gehaltes in kategorialen Formen, die von der Quantität über die Qualität und Relation zur Modalität führt. Nach dem ersten Gesichtspunkt gehören also als K a t e g o r i e n d e r G e g e n s t ä n d l i c h k e i t zusammen die Kategorien der Einzelheit ( K a n t : „Einheit" = Singularität), der Bestimmtheit oder Unauswechselbarkeit 2 (Kant : Realität), der Konstanz (Invarianz, Beharrlichkeit, K a n t : Substanz) und der Wirklichkeit ( K a n t : Dasein). Um dem Sinn dieser Kategorien sprachlich näher zu kommen, dürfen wir auch sagen: 1 2

P. N a t o r p , s. besond. „Praktische Philosophie". Erlangen 1925, Kapitel II. Zum Begriff des „Unauswechselbaren" vgl. A. G ö r l a n d , „Die Hypothese", (1911) S. 54, sowie „Ethik als Kritik der Weltgeschichte" (1914), S. 63, „Aristoteles und Kant", (Gießen 1919) S. 418 (450) über das „Einzelne" im Sinne des total Bestimmten.

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die Kategorien des Einzelnen, des Unauswechselbaren (Bestimmten), des Konstanten (vgl. „die" Konstante!) und d e s Wirklichen, denn die Substantiva auf -heit bezeichnen etwas Allgemeines und gerade das ist nicht der Charakter des Gegenstandes, sofern er durch diese Kategorien begrifflich festgelegt wird. Über die Bedeutung der einzelnen Kategorien selbst wäre hier nochmals zu erwähnen, daß sie „allgemeiner" (im Sinne der Überregionalität) verstanden werden sollen als die bereits auf die naturtheoretische Bedeutung gebrachten Kategorien Kants. — Wie die Kategorien der Wirklichkeit, so gehören nun die der Möglichkeit als solche der „Ermöglichung" oder G r u n d l e g u n g andererseits zusammen, nämlich in der Gruppe der Quantität die „Mehrheit" (Kant: Vielheit), in der Qualität die der Determination (Kant: Negation), in der Relation die der Funktion oder Bedingung (Kant: Kausalität); diese Reihe wird man am besten in der substantivischen Form auf -ung aussprechen, um den Charakter der die Gegenständlichkeit als solche erst „erzeugenden" Möglichkeit zum Ausdruck zu bringen. Die „Mehrheit" ist Erweiterung 1 bzw. „ R e i h u n g " im Sinne der Urteile der Quantität; die Determination ist in solcher transzendentalen Bedeutung Bestimmung oder „Unterscheidung" (vgl. den Satz „omnis determinatio est negatio"), die Funktion ist Bedingung. — Reihung, Bestimmimg, Bedingung und Grundlegung sind also die K a t e g o r i e n der gerade durch sie präzise artikulierten G e s e t z l i c h k e i t oder, wie man im Gebiet der „Logik" sagen müßte: des reinen „ D e n k e n s " . Sie folgen hier einander in der Reihenfolge ihrer Urteilsform als Umfang, Setzung, Beziehung und Grad des Geltens. Sie stehen gegensätzlich den Kategorien des „ S e i n s " (d. h. der Gegenständlichkeit), also jeweils denen des Einzelnen, Bestimmten, Konstanten und Wirklichen gegenüber, welche in ihnen ihre „Ursprungs"-Möglichkeit besitzen, weil durch sie als die Faktoren der Gesetzesbildung der Gegenstand als d a s Wirkliche erst diese seine Bedeutung erhält. D e n k e n und S e i n sind aufeinander polar gerichtet und bezogen; wir nannten sie „Momente" und bestimmen als ihre Einheit, deren Momente sie eben sind, die „Erkenntnis" oder, um es 1

Vgl. K. Joel, 1. c. S. 306. „ A u f dem Wege ist eben nur das partikulare resp. plurale Urteil " auch S. 304.

— 53 — nicht schon einseitig in der Sprache des logischen Sinngebietes auszudrücken, das „Sinngebiet" als „ E r f a h r u n g " überhaupt. Wenn in der Erkenntnis „Denken" das Moment der Möglichkeit, „Sein" das der Wirklichkeit ist, so muß im „Gebiet" als E i n h e i t d e r E r f a h r u n g das Moment der N o t w e n d i g k e i t liegen. Das ist in der T a t der Grundgedanke des kritischen Idealismus, der bereits in K a n t s „Kritik der reinen V e r n u n f t " klar und deutlich zum Ausdruck kommt. (Besonders wichtig erscheint in diesem Zusammenhang auch die Antinomienlehre.) Die Kategorien der übrigen drei Gruppen, welche schon bei ihm wie auch späterhin stets die Erfahrung als Gebiet artikulieren, sind nach der Quantit ä t also die Allheit, nach der Qualität die Bestimmtheit oder Begrenztheit ( K a n t : Limitation), nach der Relation die Wechselbezogenheit ( K a n t : „Gemeinschaft" oder Wechselwirkung) als Begriff eines durchgängigen, wechselseitigen Funktionalzusammenhanges (Begriff des Systems in engerem Sinne). Diese Kategorien haben offenbar in den Substantiven auf -heit ihre angemessene sprachliche F o r m ; wir sagen also Allheit, Begrenztheit (Bestimmtheit), Wechselbedingtheit und Notwendigkeit. Durch sie erhält die „ E r f a h r u n g " als Sinngebiet überhaupt den streng notwendigen Charakter des Begriffes des „ S y s t e m s " , dem in anderen Sinngebieten auch der der „Ganzheit", der „Gestalt" gleichgeordnet ist. Was soeben „Denken" und „Sein" genannt wurde, wird aber in der allgemeinen Kategorienlehre besser mit zwei Wörtern bezeichnet, die nicht so sehr einseitig aus der Sprache des logischtheoretischen Sinngebietes stammen und deshalb für die philosophische Kennzeichnung überregionaler Momente besser geeignet sind, nämlich mit den bereits früher erwähnten und vorläufig definierten Wörtern „ G e s e t z l i c h k e i t " und „ G e g e n s t ä n d l i c h k e i t " . Auch auf den Richtungssinn dieser Begriffe wurde bereits aufmerksam gemacht. Das Gebiet ist durch die Kategorien der Allheit, des Systems, der Bestimmtheit und der Notwendigkeit ausgezeichnet ; alles in ihm ist „voll zu E n d e " gebracht und wegen dieser Vollendung „rational". Wir haben deshalb einen weiteren und einen engeren Sinn des Wortes „Gebiet" zu unterscheiden; der engere Begriff ist eines der drei Momente des weiteren Begriffes, den wir „Sinngebiet" nannten. Dieses ist so eigentlich ein Feld, auf welchem ein Gebiet rational abgegrenzt werden kann. Die Grenzen

— 54 — desselben sind aber verschiebbar, sowohl auf Seiten der Gesetzlichkeit (der Möglichkeit) wie auf der der Gegenständlichkeit (der Wirklichkeit) und zwar unendlich. So wirken die beiden GrenzMomente distanzierend und treiben einerseits die Begründung der Gesetzlichkeit immer tiefer, andererseits die Bestimmung der Gegenständlichkeit. Beide Momente wirken transzendierend über die jeweiligen Grenzen des rationalen Gebietes hinaus in die Irrationalität, in welche es eingebettet ist. Rational ist immer nur ein „Gesetz" und ein „Gegenstand" innerhalb der Grenzen von Gesetzlichkeit und Gegenständlichkeit; denn stets bilden die obersten Gesetze eines Gebietes und die speziellen untersten Gegenstände nur dessen unendlich verschiebbare Grenzen. Die Kategorien der Besonderung, der Bedingung usw. weisen in die U n e n d l i c h k e i t immer tieferer Grundlegung, immer tieferen Ursprungs, die Kategorien des Einzelnen, Bestimmten, Konstanten auf ein E n d l i c h e s in nie erreichbarer, d. h. nie innerhalb der Grenzen des Gebietes, der V o l l e n d u n g einzufangender Ferne. Der Charakter der Irrationalität ist also auf beiden Seiten verschieden, weil sie der Gegenständlichkeit eine rational unbegrenzbare Erfüllung und Verdichtung gewährt, die Gesetzlichkeit aber in immer tiefere Gründe geführt werden soll. Diese Gegensätzlichkeit der Tendenzen hält das Gebiet in Spannung zwischen beiden Polen, auf die hin es sich bei jeder Weite und Dichte sinngemäß bewegt. Welcher Art diese „Bewegung" sei, etwa ein zeitlicher oder nur ein rein „ideeller Progreß" kann an dieser Stelle noch nicht entschieden werden. Diese Fragen werden uns noch an späterer Stelle beschäftigen; hier kommt es zunächst n u r darauf an, die allgemeine Struktur eines Sinngebietes überhaupt, wie sie formal durch die Kategorien artikuliert wird, anzugeben. Eben diesem Zwecke dient auch die Neuordnung der Kategorientafel in der oben beschriebenen Weise; es versteht sich, daß die bisherigen Ausführungen nur eine Umrißzeichnung waren, welche das vollständige Bild der Kategorienlehre nicht ersetzt, obwohl sie im gegenwärtigen Zusammenhang genügt, da es sich nur darum handelt, Sinn und Bedeutung der Kategorien zu klären. Auf der G l e i c h f ö r m i g k e i t d e r k a t e g o r i a l e n S t r u k t u r aller Sinngebiete als solcher mußte deren H o m o g e n e i t ä t beruhen. J e t z t sehen wir den engen Zusammenhang zwischen der Möglichkeit

— 55 — transzendental-kritischer P r ü f u n g aller Gebiete m i t Hilfe „überregionaler", d. h. nicht auf e i n Gebiet eingeschränkter Kategorien u n d dem Begriff eines Sinngebietes ü b e r h a u p t .

8. Die Philosophie ohne „Gebiet". Prinzipiell steht bis j e t z t soviel fest, d a ß es Kriterien f ü r ein jedes Gebiet gibt, die es als solches legitimieren; d a ß durch diese kategoriale S t r u k t u r ferner alle echten Gebiete homogen in weiterem oder engerem Sinne werden. Die letztere Unterscheidung wird uns natürlich noch zu denken geben, aber selbst wenn die Homogeneit ä t n u r noch in jener allgemeinsten S t r u k t u r zu f i n d e n ist, so werd e n die Gebiete f ü r die universale philosophische Systematik dad u r c h doch miteinander vergleichbar, gegeneinander abgrenzbar lind fähig einer übergreifenden systematischen Ordnung in einem „ R e i c h " , dessen Verfassung eben das philosophische System selber ist. Aber aus gleichem Grunde h a t die P h i l o s o p h i e eben n i c h t wieder ein e i g e n e s G e b i e t , gerade weil sie die letzte Einheit in der Verfassung aller Gebiete sucht, die nicht mehr f ü r „ e i n " Gebiet, u n d sei es das allgemeinste, gelten darf. Diese totale I m m a n e n z liegt als Forderung in der richtig erfaßten Idee der kritischen Philosophie; wie die Forderung der I m m a n e n z zu erfüllen ist, das zu untersuchen bildet eine H a u p t a u f g a b e der vorliegenden Besinnung. W e n n wir auch einstweilen noch keine genaue Antwort geben können, so dürfen wir sie doch nicht schuldig bleiben. D a ß aber die Philosophie als geistige Sonderbetätigung, als K u l t u r erscheinung, als Forschung u n d Wissenschaft ein „ G e b i e t " zu sein oder ein solches zu haben scheint, ist keinesfalls ein Einwand gegen das R e c h t u n d den Sinn dieser I d e e ; doch werden wir auch jene ihre gebietsähnliche Seinsweise zu erklären haben.

9. ,,Homogeneität"

der

Hauptgebiete.

Die K a t e g o r i e n l e h r e soll, wie gesagt, hier so weit entwickelt werden, wie zum Verständnis der Grundzüge und -prinzipien der philosophischen Systematik unumgänglich nötig i s t ; einstweilen ging aus derselben schon die Möglichkeit hervor, d a ß die zuerst „ h e t e r o g e n " befundenen Gebiete des Logisch-theoretischen,

— 56 — Ethisch-Praktischen, Ästhetischen usw. als solche durch eine Homogeneität gleichsam der äußeren Struktur wieder einer gegenseitigen Anweisung, etwa nach dem Konkretions-Prinzip fähig werden, daß ihre „Heterogeneität" sie vielleicht gar „heterothetisch" aufeinander hinweist, sie gegenseitig bedingt und verknüpft. Wenn aber für diese systematische Ordnung wieder die P r i n z i p i e n der f u n d i e r e n d e n S c h i c h t u n g gelten sollten, so dürfen wir erwarten, daß sie sich jedenfalls n i c h t in d e m s e l b e n S i n n erfüllen wie beim Aufbau der Einzelgebiete innerhalb der Hauptgebiete selbst. Die Homogeneität der Hauptgebiete besteht also in ihrer allgemein-kategorialen Struktur als „ G e b i e t " ; diese ist hier zwar nicht für alle einzelnen Hauptgebiete ausdrücklich nachgewiesen worden,es wurde aber darauf aufmerksam gemacht, daß sich d i e s e l b e n K a t e g o r i e n in allen Gebieten finden m ü s s e n , weil darin die B e d i n g u n g der Möglichkeit t r a n s z e n t e n t a l k r i t i s c h e r M e t h o d e liegt. Auch wurde schon erwähnt, daß noch ein anderes Moment hinzukommt, nämlich das der A n s c h a u u n g oder „Sinnlichkeit". Um zu zeigen, was ein „Gebiet" sei, genügte es noch, seine kategoriale Struktur oder besser: es selbst als kategoriale Struktur allein zu analysieren. Jetzt werden wir uns dem zweiten Moment überregionaler Homogeneität, der Anschauung zuwenden müssen. Wir fassen noch einmal die bisher gefundene Antwort auf unsere systematische Hauptfrage zusammen, die Frage nämlich, ob eine e i n d e u t i g e s y s t e m a t i s c h e O r d n u n g der umfassenden G e b i e t e des L o g i s c h e n , E t h i s c h e n usw. möglich ist und auf denselben Prinzipien fundierender Schichtung beruht wie die der einzelnen „Methoden" oder besser der besonderen Gebiete in ihnen. Wir erkannten, daß die Voraussetzung für solche systematische Ordnung in der Homogeneität der Gebiete liegt. Wir übernahmen ferner die Einsicht der Transzendental-Philosophie, daß die Gebiete des Logischen, Ethischen, Ästhetischen usw. bei aller inneren Mannigfaltigkeit jedes für sich einheitlich und eigentümlich sind. Eine „überregionale" Systematik von derselben Art wie innerhalb dieser Regionen war nur möglich, wenn es auch eine überregionale Homogeneität gab. Diese konnte freilich nur auf allgemeinsten Struktur-Bedingungen beruhen. E s wurde nun daran erinnert, daß j a die transzendental-kritische Methode der

— 57 — Philosophie selbst schon die Voraussetzung einer solchen Gleichartigkeit aller noch so „heterogenen" Gebiete eben a l s „Gebiet" oder „Methode" macht. Gäbe es keine überregional-allgemeinen Kategorien, mit denen die Philosophie arbeiten könnte, so wären die „heterogenen" Gebiete absolut unvergleichbar, damit aber im Grunde auch ununterscheidbar, unbeziehbar, geschweige denn vereinbar. Die Geltung dieser Kategorien für jedes Gebiet aufzuweisen, wäre also die erste Aufgabe der systematisch-konstruktiven Arbeit. Daß sie lösbar ist, geht aus dem Sinn der Kategorien selbst hervor, da sich sofort zeigen läßt, daß sie solche der Gesetzlichkeit überhaupt, der Gegenständlichkeit überhaupt und des Gebietes überhaupt sind. 10. Kategorie

und

Anschauung.

Der besondere „ S i n n " aber, in welchem sie in den „Regionen" abgewandelt werden (so daß nun aus ihnen spezifisch logische, ethische, ästhetische Kategorien werden usw.) ist je einem Sinne der Zeit und des Raumes zugeordnet. Wir erkennen die Besonderung der überregionalen Kategorien zumal an dem Z e i t s i n n , an der Anschauungsform, auf die sie hinweisen, weil sie „korrelativ" darauf bezogen sind; wir erkennen umgekehrt einen bestimmten Zeitsinn und Raumsinn an den regionalen Kategorien, welche ihn „umgrenzen". „Begriffe ohne Anschauungen sind blind, Anschauungen ohne Begriffe sind leer." Der Vergleich mit den physiologischen „Sinnen" liegt nicht zufällig, sondern sprachlich u n d sachlich nahe, obwohl, wenn wir im Anschluß an K a n t Zeit und Raum zur „ S i n n l i c h k e i t " als deren reine Formen rechnen, nicht schon an sinnliche Wahrnehmungsakte (bzw. Empfindung) gedacht werden darf. Zeit und Raum in dieser überregionalen Bedeutung sind „ F o r m e n " einer „Sinnlichkeit" in erkenntnistheoretischer Abstraktion, einer „ t r a n s z e n d e n t a l e n " Sinnlichkeit. Den Kategorien als dem M o m e n t der „ E i n h e i t ü b e r Mannigfaltigkeit", der Struktur überhaupt, setzen wir diese als G e g e n - M o m e n t bloßer Mannigfaltigkeit, d. h. dem „ U r F o r m a l e n " als das „ U r m a t e r i a l e " 1 gegenüber. So kann man zwar sagen, daß aus der transzendentalen Sinnlichkeit als dem 1

Zum Ausdruck, der hier freilich etwas anders verstanden wird, vgl. A. Görl a n d , Religionsphilosophie, S. 36 ff.

— 58 — Urmateriale aller „Sinn" hervorgeht, daß auf sie hin alle Differenzierung und Spezifikation geschieht, daß sie deshalb das Moment ist, welches auch seine überregionalen Kategorien „restringiert" auf einen besonderen Sinn ihrer Erfüllung, welche also eine Abwandlung ihrer allgemeinen Bedeutung „bewirkt". Aber um Inhalt oder „Gehalt" zu werden, bedarf die Materie einer „Form", bedarf auch das „Urmateriale" eines „Urformale". Dieses sind die Kategorien als Moment der Strukturierung; die „Sinnlichkeit" ist dagegen das bloße G e g e n - M o m e n t der Nicht-Struktur, der Nicht-Spannung von Gesetzlichkeit und Gegenständlichkeit, des Nicht-Seins im Sinne eines „Gebietes".

11. Grenzwert der Kategorien

und

Anschauungsformen.

Darum ist die Sinnlichkeit in solcher Bedeutung nur eine dialektische Setzung, die einen G r e n z w e r t besitzen muß, um „Korrelat" zum ebenso dialektischen Formalen sein zu können. Dieser Grenz- oder Schwellenwert verkörpert sich in der „ A n s c h a u u n g s f o r m " d e r r a u m - z e i t l i c h e n O r d n u n g , die deshalb allein ein transzendentales Moment darstellen kann. Die Anschauungsformen Raum und Zeit bilden also gewissermaßen die G r e n z s c h e i d e zwischen dem Urmateriale und dem Ur-Formale, ein Ur - Essentielles, in dem sie sich treffen und überhaupt erst zum „Gehalt" eines Sinngebietes gestalten. Das Urmateriale als solches ist ein aXoyov und &ppv)Tov, das Urformale die bloße Weise des Xeyeiv und xanjYopeiv; auch die Formen der Anschauung für sich allein sind nichts als die Berührung von jenen beiden. Aber diese Sinnlosigkeit und Leere ihrer aller darf uns nicht verwundern, da wir es nur mit erkenntnistheoretischen Grenz-Setzungen zu tun haben. Erst das Zusammen aller dieser Momente „ist" etwas, in d e m man denken und reden kann. Auch ein anderer Widersinn wird auf diese Weise behoben und zwar jener, der darin liegt, daß wir von einem Verhältnis der Kategorien, Anschauungsformen usw. zueinander, von Grenze, Beziehung, Struktur, Setzung usw. sprechen. Denken wir dabei nicht die Kategorien mit Hilfe der Kategorien und bewegen uns so in einem Zirkel ? Das Dilemma verschwindet, wenn wir uns klar machen, daß wir in der Tat dem Sinn des Begriffs „ K a t e g o r i e "

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zuwiderhandeln, wenn wir die Kategorien selbst zu „etwas" machen, worüber und über dessen „Verhältnis" zu anderem man reden (und damit denken) kann, eben w e i l sie geradezu das sind, was redet (xaTTjyopei). Sie sind weder eine Gegenständlichkeit, über die man nur mit einer Gesetzlichkeit etwas ausmachen könnte, noch eine Gesetzlichkeit, die Bedingung ist f ü r eine Gegenständlichkeit, noch auch ein Gebiet oder System, sondern sie sind ihrer Bedeutung nach alles dieses zugleich und in Einem, jedoch isoliert betrachtet, als „Gegenstand" des Nachdenkens sind sie bloße Worte, d. h. symbolische Fixierungen der Vollzugs-Intention der Besinnung. Sie sind dann also Indizes für S c h r a n k e n b e g r i f f e der Besinnung eines Sinngefüges überhaupt auf sich selbst als Sinngefüge, und zwar hinsichtlich der Momente F o r m und M a t e r i e . Die leere Form und die bloße Materie sind nichtig und sinnlos. Aber zwischen diesen beiden Schranken des Gehalts oder Inhalts liegt ein Gebiet. Offenbar läßt sich nur annäherungsweise sagen, daß dieses dialektische Grundverhältnis eben ein Wechselverhältnis, eine Korrelation sei; auf keinen Fall aber ist es eine Polarität in demselben Sinne wie die von Gesetzlichkeit und Gegenständlichkeit. Denn Kategorie und Anschauung bilden andererseits eine Einheit von solcher Durchdringung, daß sogar unser Ausdruck, „zwischen" den Schranken liege ein jedes Gebiet, unzulässig erscheint. Echte „ G r e n z e n " des Gebietes, die wirklich gewissermaßen einen „ R a u m " „zwischen" sich lassen, sind nur die Pole von Gesetzlichkeit und Gegenständlichkeit. „ F o r m " und „Materie" sind im Grunde bloße Schrankenbegriffe f ü r das Nichts einer reinen Einheit und einer reinen Mannigfaltigkeit. Es gibt von dem einen zum andern keinen Übergang und deshalb kein Gebiet, sondern n u r die „ A c h s e " der Anschauungsform. 12. Grundsätze und Grundgesetze. I n Erinnerung an die Lehre K a n t s , daß die Kategorien sowie R a u m und Zeit die reinen „ F o r m e n " der Erfahrung seien, werfen wir jetzt die Frage auf, ob denn nicht durch die Beziehung der Kategorien auf die „Zeitbegriffe" (durch den sogenannten „Schematismus") G r u n d s ä t z e hervorgehen, welche als allgemeinste Regeln des Denkens und Bedingungen apriori der Er-



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fahrung (und deshalb auch der Gegenstände der Erfahrung) eben das sind, was wir die „ G e s e t z l i c h k e i t " genannt haben? Durch diese Formen wird dann zwar der Inhalt der Erfahrung g e g e n s t ä n d l i c h bestimmt; aber der Inhalt steht ihnen als selbständiges Moment gegenüber und hat in der E m p f i n d u n g die entscheidende Instanz. Aus den allgemeinen Gesetzen läßt sich deshalb das Besondere und das Einzelne niemals ableiten; eine Eigentümlichkeit, durch welche sich gerade „unser" Verstand von einem unendlichen, intuitiven Verstände prinzipiell unterscheidet. Unser Verstand ist „diskursiv" und seine allgemeinen Gesetze haben nur „analytische", nicht synthetische Allgemeinheit. E s wird sich zeigen, daß diese Frage, sie mag richtig gestellt sein oder nicht, durchaus nicht abwegig, sondern sogar sehr wichtig und aufschlußreich ist. Sie lenkt unsern Blick wieder auf die oben angedeuteten Probleme der sogenannten „Erkenntnistheorie". Wir müssen un6 zunächst einmal wörtlich an die Kantische Formulierung halten; K a n t spricht von „ u n s e r e m " Verstände und meint damit, wie man weiß, den Verstand der „ W i s s e n s c h a f t " , genauer: der Naturwissenschaft. Der unendliche intuitive Verstand mit synthetisch-allgemeinen Regeln ist für „unseren Verstand" nur eine I d e e und zwar die Idee der vollendeten Erkenntnis, die jedoch in unendlicher Ferne liegt. Neuerdings pflegt man zu sagen, daß jene Erkenntnis mit ihren allgemeinsten Gesetzen und einzelnen Gegenständen für uns niemals ein factum, sondern nur ein fieri oder noch genauer: ein „faciendum" sei. Wenn nun ferner nach K a n t die Kategorien und Anschauungsformen in Gestalt der Grundsätze die „ F o r m " der Erkenntnis bilden, aber nicht eine solche, aus der die besonderen Naturgesetze mit ihren Konstanten d e d u k t i v zu gewinnen sind, so kann es sich nicht um jene Polarität von Gesetzlichkeit und Gegenständlichkeit handeln, von der bis jetzt allein als Erkenntnis die Rede war. Das System der Grundsätze hat als „Gesetzlichkeit" bei K a n t demnach eine ganz andere Bedeutung als die Gesetzlichkeit, die wir als Moment einer polaren Transzendenz in einem Gebiet bezeichnet haben. Wird doch bei K a n t für jene Gesetzlichkeit ebensogut Gegenständlichkeit gesetzt und beides zusammen „ O b j e k t i v i t ä t " im Gegensatz zur Subjektivität der Vor-



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Stellungen genannt. Um deutlich zu machen, wie und warum von uns i n n e r h a l b d e s s e n , was bei Kant und in der an Kants Kritik orientierten Erkenntnislehre „Objektivität" genannt wird, die polare Zweiheit von Gesetzlichkeit und Gegenständlichkeit unterschieden wird, sei noch einmal an die frühere kategoriale Analyse des „Gebiets" erinnert. In diesem waren Möglichkeit, Besonderung, Funktion und Bestimmung die Kategorien der Gesetzlichkeit, aber nicht etwa diejenigen Begriffe, aus denen die Gesetzlichkeit in Form allgemeiner Sätze hervorgeht! Sie sind G r u n d b e g r i f f e d e s s e n , w a s G e s e t z l i c h k e i t a l s s o l c h e in e i n e m G e b i e t b e d e u t e t , a b e r n i c h t d i e G e s e t z l i c h k e i t s e l b s t . Die aus den Kategorien im „Schematismus" gewonnenen Grundsätze „begründen" als Bedingung apriori also die Erkenntnis in anderem Sinne als die aus der Gesetzlichkeit hervorgehenden sogenannten „allgemeinsten Naturgesetze". Ebenso wie hier das A p r i o r i eine doppelte Bedeutung empfängt, legt sich auch das A p o s t e r i o r i in zwei Bedeutungen auseinander. Aposteriori ist zunächst das dialektische Gegen-Moment der Kategorien, das Urmateriale, im Gegensatz zur Vereinigung des Urformalen und der Anschauungsformen in synthetischen Urteilen apriori. Aus diesen lasseh sich tatsächlich keine „empirischen" Naturgesetze gewinnen. Was aber die Erkenntnis als faktische Erfahrung anbelangt, so beginnt sie gar nicht mit dem Dualismus von Form und Materie, sondern mit ihrer Einheit im Inhalt, also als Polarität von Gesetzlichkeit und Gegenständlichkeit. In dieser jedoch ist es der Anspruch der Gegenständlichkeit auf unbegrenzt vereinzelnde Bestimmimg, welcher der begründenden Gesetzlichkeit gegenüber „aposteriorisierend" wirkt und gilt.

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Vierter Abschnitt

Das „Faktum" der Erfahrung. 1. Progreß und

Sachverhalt.

Die l o g i s c h d e t e r m i n i e r t e n K a t e g o r i e n f i x i e r e n d i e S t r u k t u r d e s S i n n g e b i e t e s : „ E r k e n n t n i s " , jedoch der Erkenntnis nicht als Erkenntnistätigkeit in psychologischem Sinne, sondern zunächst nur a l s M e t h o d e oder „wissenschaftliches" Verfahren der Erkenntnis (womit die Berechtigung jenes anderen Erkenntnisbegriffes nicht bestritten wird). „Methode" und „Verfahren" weisen hin auf einen W e g , der vorgezeichnet ist und unter ihrer Leitung beschritten werden soll. Man spricht deshalb von der Erkenntnis als einem P r o g r e ß und vergleicht das ihm innewohnende Richtungsprinzip, das auf ein Resultat hinführt und „Folgerichtigkeit" garantiert, mit dem Grenzwert einer konvergenten Folge. Die Transzendentalphilosophie, welche sich an das , , F a k t u m " der Wissenschaften wendet, destilliert gleichsam hinsichtlich der Garantien der „Wissenschaftlichkeit" oder „Objektivität" aus dem historisch-faktischen Vollzug der Erkenntnis den „reinen Vollzug" derselben heraus. Was sie auf Grund k r i t i s c h e r Analyse entwirft, ist also eine E r k e n n t n i s t h e o r i e . Die T h e o r i e , die in je einem Sinngebiete dem F a k t u m gegenübersteht („dem Ding" nach dem Ausdruck Görlands), bedeutet einen Entwurf der Gegenständlichkeit aus der Gesetzlichkeit. Sie ist der Inbegriff der Möglichkeitsbedingungen der Gegenstände der betreffenden Erfahrung; so die theoretische Physik, die theoretische Biologie, die Staatstheorie, Kunsttheorie usw. Mit diesen Theorien sind aber jeweils die Bedingungen der Möglichkeit der betreffenden Erfahrung noch nicht erschöpft; in jedem einzelnen Erfahrungsbereich können z. B. konkurrierende Theorien im Widerstreit miteinander liegen, in einem Streit also, der schon u m der Gegenständlichkeit willen geschlichtet werden muß (um von Störungen anderer Art, welche den reinen konsequenten Vollzug

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der jeweiligen Erfahrung bedrohen, ganz zu schweigen). Die Erfahrung bedarf also eines Regulativs bzw. einer D i r e k t i v e für den in die Polarität von Gesetzlichkeit und Gegenständlichkeit eingespannten Vollzug ihrer selbst. Erst unter deren Leitung läßt sich garantieren, daß z. B. das Erkenntnisstreben wirklich zur Erkenntnis führe, daß in und aus der in einer Vielfältigkeit heterogener Motive befangenen „ S u b j e k t i v i t ä t " die „ O b j e k t i v i t ä t " sich ergebe. Der Ausdruck „Objektivität" scheint andeuten zu sollen, daß diese Erkenntnis selber wie eine Gegenständlichkeit genommen wird, die einer polaren Gesetzlichkeit zu unterstellen ist. Diese Gesetzlichkeit fände ihre theoretische Formulierung dann eben in der „Erkenntnistheorie". Jedoch leuchtet unmittelbar ein, daß diese „ O b j e k t i v i t ä t " nicht mit der „Gegenständlichkeit" in der zuerst definierten Bedeutung einfach zusammenfällt. Freilich besteht eine Art von Parallelität, der zufolge z. B. K a n t die transzendentalen Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung „subjektive" Bedingungen genannt hat; und doch begründen eben sie die Objektivität als Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit (vgl. unsere Kategorien des „Gebietes"). Auch in der objektiv-gültigen Erfahrung steht das polare Moment der Gegenständlichkeit (als „Wirklichkeit") dem der Gesetzlichkeit (der „Möglichkeit") gegenüber. Also sind beide etwas „Objektives", wenn man gemäß der Frage „quid juris ? " unter der „Objektivität" nur die „ W a h r h e i t " versteht, die eine „Subjekt i v i t ä t " als bloße M e i n u n g (u. U. als Irrtum!) zu ihrem Gegensatz hat. In der „Wahrheit" tritt heraus, wie „die Sache sich verhält", in ihr haben wir den „ S a c h v e r h a l t " , der eben dadurch und insoweit „ergriffen" wird, als an ihm die polaren Momente der Gesetzlichkeit und Gegenständlichkeit voneinander abgehoben werden. Auf der Synthese der beiden ruht der „ B e g r i f f " als Sinn-Gehalt einer „Meinung". Das Wesen eines solchen Sinn-Gehaltes (der sowohl von seinem „Gemeint-werden" wie von seinem Bezeichnet-werden, etwa in Rede und Schrift, unterschieden werden muß) besteht darin, daß er etwas als seiend s e t z t , sei es mit Recht oder nicht, je nachdem, ob das in irgendeinem Seinssinn als seiend gesetzte in Gemäßheit dieses Sinnes ist oder nicht ist. Nennen wir dieses den „ r e a l e n Sachverhalt", so wäre jener ein

— 64 — „ i d e e l l e r Sachverhalt" zu nennen. Gerade weil der Sinn-Gehalt oder „ I n h a l t " einer Meinung, Behauptung, Vorstellung usw. mit dem realen Sachverhalt, den die Setzung „treffen" will, nicht notwendig übereinstimmt, dennoch aber als festgefügter „ B e s t a n d " in wechselnden Akten intendiert werden kann, muß er als Sachverhalt angesprochen, aber als „ideeller" vom „realen" unterschieden werden. Diese Trennung ist durchaus berechtigt, wie sehr sie auch scheinbar den erkenntnistheoretischen Prinzipien des „kritischen Idealismus" widerstreitet. Denn ohne sie bliebe der Seinssinn dessen, was „ F a k t u m " der Erfahrung genannt wird, in seinem Verhältnis zur Realität des G e g e n s t a n d e s der Erfahrung ein unangreifbares Problem. Die Trennung realer und ideeller Sachverhalte wird prinzipiell und implizit z. B. auch in den Schriften von E r n s t C a s s i r e r mit der Bildung des Begriffs: „ S y m b o l i s c h e F o r m e n des Geistes" vollzogen. Im Sinne des kritischen Idealismus läge nun die Behauptung nahe, daß jener ,, r e a l e Sachverhalt" zwar ein Grenz-Begriff der Erfahrung, aber eben deshalb doch selbst ein bestimmter „ i d e e l ler Sachverhalt" sei, nämlich der in unendlicher Bemühung ideeller Setzungen erstrebte „ i d e a l e " Sachverhalt einer völlig erfahrungsimmanent zu denkenden Wahrheit. An diesem Einwand ist soviel sicher richtig, daß gerade, wenn und weil das vom ideellen Sachverhalt Gesetzte „ R e a l e " a l s „ S a c h v e r h a l t " gesetzt wird, eben dieses „ R e a l e " so wenig „abgebildet" oder „abgespiegelt" wird, daß es vielmehr mit ständiger Gefahr der Verfehlung auf die Immanenz-Bedingungen spezifischer Erfahrung eingeschränkt (als „Erscheinung" im Kantischen Wortsinn), zugleich aber als das in keiner rationalen Endlichkeit Befaßbare zum Grenzbegriff derselben Erfahrung (zum „Ding an sich" als Postulat) gemacht wird. Dennoch wäre zu fragen, ob der S e i n s s i n n des mit dem „realen Sachverhalt" Gemeinten in solchem , , G ü l t i g - s e i n " als Grenz-Begriff aufgehe, sowie andererseits, ob das Sein der Erfahrung selbst ausschließlich den (möglichen) SeinsSinn eines ideellen Sachverhaltes habe und nicht vielmehr ursprünglich denjenigen eines „faktischen" „Vollzugs" oder „Habens v o n Sachverhalten" ? Dann aber wäre es letzten Endes notwendig, nicht nur nach dem „ W a s " ?, sondern auch nach dem „ W e r ? " zu fragen.

— 65 — 2. Zwei Dimensionen der

Systematik.

Zweifellos liegt im Begriff des ideellen Sachverhaltes eine gewisse Zweideutigkeit, da man unter „ideell'' sowohl „begrifflich" wie auch „gedanklich" zu verstehen pflegt. In der zweiten Wortbedeutung bezeichnete der Ausdruck „ideeller Sachverhalt" dann nicht einen Zusammenhang von Bedeutungen, Begriffen, Urteilsinhalten usw., sondern von Gedanken, Fragen, Urteilen und Überlegungen, also den Sachverhalt, daß gedacht, gefragt, geurteilt usw. wird. Man meint dann nicht mehr den reinen Sinnzusammenhang als solchen nach dem, was er bedeutet, sondern einen „wirklichen" Sinn-Vollzugszusammenhang, der sich aus einzelnen „intentionalen Akten" oder „Erlebnissen" bildet. Diesen selbst kann man nun wieder als „Sachverhalt" im eigentlichen Sinn des Wortes, nämlich in psychologischer Reflexion als Verhalten eines als Sache betrachteten „denkenden Wesens", oder aber als Sachverhalt von ganz anderer Bedeutung interpretieren, bei welchem es sich im Grunde genommen um ein „ V e r h a l t e n z u r S a c h e " handelt. Denn Erfahrung, die auf die Sache gerichtet ist, ist zwar sachhaltig, aber nicht selbst Verhalten einer Sache, obwohl das, was an Sinn und Bedeutung in ihr liegt, zu einem logischen, ihr Vollzug dagegen zu einem psychologischen Sachverhalt gemacht werden kann. Der Philosophie darf es aber nicht genügen, die Erfahrung einerseits nur als logischen Prozeß, andererseits, mit der Psychologie, nur als Betätigung eines mit „Bewußtsein" begabten Wesens anzusehen. Sie muß erkennen, daß „Erfahrung" ursprünglich mehr ist als logisches Sein oder psychologische Wirklichkeit, v o n denen man weiß; daß sie vielmehr jenes Sein ausmacht, welches der um solches Sein Wissende selbst besitzt, der letzten Endes stets ein individuelles Ich darstellt. Wäre dem nicht so, dann könnte das Urteil „Ich bin" nie anstelle des allgemeinen: „dies Subjekt ist" stehen. So wenig hier die transzendentalen Möglichkeits-Bedingungen der Erfahrung — als Garanten ihrer G ü l t i g k e i t ! — durch „metaphysische" ersetzt werden sollen, so darf doch die F a k t i z i t ä t der Erfahrung nicht nur auf jene zurückgeführt werden. Auch die psychologisch festzustellende „Wirklichkeit" der Erfahrung setzt 5 Noack



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j a das Sein der sich vollziehenden E r f a h r u n g , in u n d m i t welcher doch j e n e erst h e r a u s t r i t t , schon voraus. N u r wenn sich die Psychologie der geeigneten Methode bedient, k o m m t sie an dieses ursprüngliche Sein der E r f a h r u n g h e r a n , aus der das „ I c h " grundsätzlich n i c h t zu eliminieren ist. D a s „ I c h " b e s t i m m t sich freilich korrelativ z u m jeweiligen Sachgehalt der E r f a h r u n g als subj e k t i v e E i n h e i t derselben, ist aber schließlich je ein individuelles, k o n k r e t e s I c h , genau wie die „ W i r k l i c h k e i t " letzten E n d e s die eine, k o n k r e t e Welt-Wirklichkeit ist. Wie es n u n eine auf t r a n s z e n d e n t a l kritischer B e s i n n u n g f u ß e n d e Theorie der E r f a h r u n g in ihrer „obj e k t i v i e r e n d e n " R i c h t u n g auf einen Sachverhalt gibt, so auch eine in gleicher Weise f u n d i e r t e Theorie der E r f a h r u n g in ihrer „ s u b j e k t i v i e r e n d e n " R i c h t u n g auf das Ich selbst, da beide Richt u n g e n einander korrelativ zugeordnet sind. Der Seinssinn der E r f a h r u n g als S u b j e k t i v i t ä t k a n n sich grundsätzlich nicht m i t d e m Seinssinn irgendeiner objektivierenden E r f a h r u n g decken. Die sich vollziehende E r f a h r u n g ist tätiges Verhalten eines , , S e l b s t " (Person) u n d nicht einer „ S a c h e " . Z u r n ä h e r e n Kennzeichnung des Seinssinnes, der hier in Bet r a c h t k o m m t , verweisen wir auf H e i d e g g e r s „Sein u n d Z e i t " , u n d greifen die W o r t e „ D a s e i n " u n d „ E x i s t e n z " in der Bed e u t u n g a u f , die sie dort erhalten h a b e n . 1 Danach ist das „ D a s e i n " „ein Seiendes, das nicht n u r u n t e r anderem Seienden v o r k o m m t . E s ist vielmehr d a d u r c h ontisch ausgezeichnet, d a ß es diesem Seienden in seinem Sein u m dieses Sein selbst g e h t . . . . D a s Sein selbst, zu d e m das Dasein sich so oder so verhalten k a n n , u n d i m m e r irgendwie v e r h ä l t , n e n n e n wir E x i s t e n z " ; (1. c. S. 12). F ü g e n wir hinzu, d a ß das Dasein, i n d e m es sich zur E x i s t e n z verh ä l t , z u g l e i c h sich zu s i c h s e l b s t a l s e i n e m V e r h ä l t n i s ver1

M. H e i d e g g e r , „Sein und Zeit"im „Jahrbuchf.Philosophie u. phänomenolog. Forschung", Bd. V I I I , Halle, 1927. — I m vorliegenden Zusammenhang kann nur dieser Punkt, in welchem die Erörterung der letzten Voraussetzungen des kritischen Idealismus sich mit der neueren phänomenologischen Forschung berührt, zur Erwähnung kommen. Ein näheres Eingehen auf jene Schrift M. Heideggers, die zudem erst kurz vor der Drucklegung dieser damals bereits abgeschlossenen Arbeit erschien, würde eine nicht unerhebliche Umgestaltung zur Folge gehabt und den durch das Thema bezeichneten Rahmen überschritten haben.

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hält, so bestimmen wir es mit K i e r k e g a a r d 1 als ein , , S e l b s t " (vgl. die „Jemeifiigkeit" bei H e i d e g g e r ) . Kierkegaard schreibt: „Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das im Verhältnis, daß sich das Verhältnis zu sich selbst v e r h ä l t . . . . I n dem Verhältnis zwischen zweien ist als negative Einheit das Verhältnis das Dritte, und die zwei verhalten sich zum Verhältnis und im Verhältnis zum V e r h ä l t n i s . . . . Verhält sich dagegen das Verhältnis zu sich selbst, so ist dieses Verhältnis das positive Dritte, und dieses ist das Selbst". Jenes erste Verhältnis ist nach K i e r k e g a a r d die „Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, vom Zeitlichen und Ewigen" usw., also die Synthese einer Polarität, die sich ihrem Sinne nach mit der polaren Transzendenz von Gesetzlichkeit und Gegenständlichkeit, von Möglichkeit und Wirklichkeit deckt. Dadurch, daß diese Momente in der Erfahrung als solche auseinander treten, einander konfrontiert und jedes für sich gesetzt, ebensosehr aber auch aufeinander bezogen werden, t r i t t ihr Verhältnis zueinander gleichfalls als solches für sich selbst hervor. Da wir nun jede Vermittlung oder Synthese, in der das Verhältnis der Momente in ein Verhältnis zu sich selbst gesetzt wird, schon ein „Selbst" nennen können, so wäre jenes potenzierte Verhältnis, das Kierkegaard im Auge hat, das Verhältnis zu sich selbst a l s V e r h ä l t n i s genauer noch als ein „ I c h - S e l b s t " zu bezeichnen. Keine Synthese der im T r a n s z e n d e n z - V e r h ä l t n i s zueinander stehenden polaren Momente kann als eine r u h e n d e gedacht werden; darum „ i s t " ein jedes Selbst nur, indem es „sich verhält", und es ist umsomehr ein S e l b s t , als es sich zu s i c h s e l b s t verhält und gar zu sich a l s e i n e m S e l b s t . Hieraus ergibt sich die Möglichkeit, S t u f e n d e r R e f l e k t i e r t h e i t zu unterscheiden und diese in eine s y s t e m a t i s c h e O r d n u n g zu bringen, welche in einer ganz a n d e r e n D i m e n s i o n liegt als jene Systemfolge der ErfahrungsG e b i e t e , von der bisher die Rede war. Auch in dieser Dimension wird m a n „ S c h i c h t e n " , die einander „ f u n d i e r e n " , unterscheiden müssen, aber nicht nach dem Gesichtspunkt spezifischer Sinngebiete, die nach dem Prinzip auxiliarer Kontinuität ineinander übergehen („transzendieren"), sondern nach dem Gesichts1

G. K i e r k e g a a r d , „Die Krankheit zum Tode". Ges. W. W. Jena 1911, VIII, S. 10.

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punkt sich steigernder Reflektiertheit des polar-transzendenten Verhältnisses von Möglichkeit und Wirklichkeit in der Selbheit des Verhaltens, das kontinuierlich von je einer Stufe relativer „ U n m i t t e l b a r k e i t " in eine jeweils m i t t e l b a r e übergeht. Der P r o g r e ß d e r E r f a h r u n g selbst, wie er uns im menschlichen „Geistesleben", etwa in den Wissenschaften, vorliegt, zeichnet sich bereits durch einen hohen Grad der Mittelbarkeit, die wir B e w u ß t s e i n nennen, aus, steht aber als solcher an einer bestimmten Stelle dieser Stufen-Systematik, die durch den Terminus „Existenz" definiert werden kann. Die Worte „ L e b e n " und „ E r l e b e n " weisen je in die reziproken Bichtungen der Gesamtentfaltung der sich vermittelnden Polarität, die eigenen , „ d i a l e k t i s c h e n " Gesetzen des Vollzugs gehorcht. Daß erst in dieser Dimension das echte Problem der G e s c h i c h t e zu stellen ist, daß nur mit den d i a l e k t i s c h d e t e r m i n i e r t e n (d. h. im Zeitsinn der „Erlebenszeit" schematisierten) K a t e g o r i e n ihre Struktur zu erfassen ist, mag an dieser Stelle unserer philosophischen Besinnung vielleicht schon erkennbar sein, soll aber einstweilen nur angedeutet bleiben. Nur so viel steht bisher fest, daß wesensnotwendig das Verhalten der Sache als ,,S a c h v e r h a l t " nur heraustritt in einem gewissen Verhalten zur Sache, deren „Sachlichkeit" das Korrelat der nur an ihr und durch sie zu vollziehenden „Selbheit", also das (jeweils spezifisch) „objektive" Korrelat der reinen Subjektivität bildet. Nachdem wir so den Begriff des B e w u ß t s e i n s zum K r e u z u n g s p u n k t z w e i e r s y s t e m a t i s c h e r D i m e n s i o n e n gemacht haben, dürfte sich die Z w e i - D e u t i g k e i t , die ihm in der Geschichte des kritischen Idealismus angehangen hat, aufklären und die Gefährlichkeit derselben beseitigen lassen. „ B e w u ß t s e i n " ist das je g r a d u i e r t e und s p e z i f i z i e r t e Verhalten eines Existierenden zu einem entsprechend gearteten Sachverhalt. E s „ i s t " immer nur im „Vollzug" (bzw. als „Progreß") sachhaltigen Meinens irgendwelcher Art und Richtung. Diese s p e z i f i s c h e n R i c h t u n g e n lassen sich deshalb sowohl mit Betonung des B e z u g s m o m e n t e s des Bewußtseins (der Sachhaltigkeit) als Sinngebiete, ideale Sachverhalte oder „symbolische Formen", oder mit Betonung des V o l l z u g s m o m e n t e s des Bewußtseins (der Sachh a l t i g k e i t ) als Erfahrungsrichtungen, Verhaltungsweisen oder „Methoden" bezeichnen.

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Nun erst erhalten auch die Begriffe O b j e k t i v i t ä t und S u b j e k t i v i t ä t ihren sie deutlich von den Begriffen: Gesetzlichkeit und Gegenständlichkeit unterscheidenden Sinn. Denn jetzt haben wir wahrhaft ein „ S u b j e k t " gefunden, das die Modi seines eigenen existentiellen Verhaltens nach zwei einander korrespondierenden Richtungen hin entweder als Objektivität oder als Subjektivität beurteilen kann. Dem P r o g r e ß wohnt auf der Stufe des Bewußtseins als existentieller Vermittlung des Verhältnisses von Gesetzlichkeit und Gegenständlichkeit die T e n d e n z fortschreitender O b j e k t i v i e r u n g inne, der aber nur durch eine äquivalente G e g e n t e n d e n z der fortschreitenden S u b j e k t i v i e r u n g Genüge getan werden kann, wobei Subjektivierung natürlich nicht bedeutet: „subjektiv-beschränkter werden" (das wäre der negative Begriff der Subjektivität!), sondern: „ S u b j e k t - w e r d e n " im Sinne eines „ S e l b s t " 1 . Für dieses besteht freilich immer die Gefahr, daß es sich gewinnt oder verliert 2 , und damit zugleich, daß es die Sache" ergreift oder verfehlt; dadurch tritt dann die Subjektivität in einen Widerstreit zur Objektivität und muß sich von jener den Makel der Beschränktheit, Befangenheit und Unzuverlässigkeit gefallen lassen. Für unsere systematische Untersuchung ist mit dem Aufweis der z w e i sich kreuzenden D i m e n s i o n e n etwas sehr Wesentliches gewonnen. Denn es läßt sich nun die Frage stellen, ob 1. überhaupt eine Hoffnung besteht, das eingangs aufgegriffene P r o b l e m d e r E i n h e i t v o n G e s c h i c h t e u n d S y s t e m der Philosophie mit den begrifflichen Zurüstungen, welche uns die systematischen Prinzipien der „auxiliaren Kontinuität" liefern, anzugreifen und zu lösen, bzw. w i e w e i t das vielleicht innerhalb dieser einen Dimension (gewissermaßen durch eine P r o j e k t i o n ) möglich ist, 2. ob und wieweit etwa S t u f e n - u n d S p h ä r e n s y s t e m a t i k a u f e i n a n d e r , auch in der Ausgestaltung ihrer eigenen Die „Subjektivierung" im Sinne N a t o r p s kann deshalb nur als sekundäre Funktion der existenziellen Subjektivierung angesehen werden, die eher den Intentionen H e g e l s entspricht. Vgl. N a t o r p , „Allgemeine Psychologie" I, Tübingen 1912. 2 S. H e i d e g g e r , ! , c. S. 42f.

1

— 70 — S t r u k t u r a n g e w i e s e n sind u n d sich wechselseitig durchdringen u n d bedingen. Insbesondere bei der S y s t e m a t i k der H a u p t g e b i e t e d ü r f t e n diese F r a g e n v o n einschneidender B e d e u t u n g sein. W e n d e n wir u n s jedoch zunächst einem Spezialfälle z u !

3. Zeitlichkeit

des

Progresses.

Man erinnert sich, d a ß wir u n t e r „ E r k e n n t n i s " den Inbegriff der E r f a h r u n g der „ e x a k t e n W i s s e n s c h a f t e n " v o n der N a t u r vers t a n d e n , der als philosophisches P r o b l e m der E i n h e i t der „logischtheoretischen V e r n u n f t " in der „ L o g i k " b e h a n d e l t wird. Die „ E r k e n n t n i s " u m f a ß t also alle Methoden von der M a t h e m a t i k bis zur Biologie sowie alle Sondergebiete, die dazwischen liegen. A u c h die M a t h e m a t i k u n d die Biologie sind keine letzten a u t o n o m e n Gebiete, sondern gewiß n o c h zu differenzieren. Alle z u s a m m e n aber bilden in der a n g e d e u t e t e n Weise f u n d i e r e n d e r Schichtung das homogene Gebiet „ t h e o r e t i s c h e r " V e r n u n f t als solcher u n d i m Seinssinn eines S a c h v e r h a l t e s : das Gebiet oder System der „ e x a k t " - g e d a c h t e n , d. h . logischen „ N a t u r " . W i r f ü g e n diese n ä h e r e n B e s t i m m u n g e n des Naturbegriffes hinzu, d a m i t m a n nicht glaube, f ü r uns gehe das, was m a n „die N a t u r " n e n n t , in diesem theoretischen Sachverhalt auf. Die „wirkliche" N a t u r ist viel reicher: sie ist sicherlich z u g l e i c h ein teleologisches, ästhetisches, historisches P h ä n o m e n — wir zählen hier nicht alle B e d e u t u n g e n auf, die i m k o n k r e t e n Sinn des W o r t e s „ N a t u r " liegen. W i r m ö c h t e n n u r diesen k o n k r e t e n Sinn des Sprachgebrauches verstehen, kritisch sichern, begrifflicher Zergliederung gegenüber wiederherstellen u n d systematisch, also philosophisch rechtfertigen. I m Z u s a m m e n h a n g m i t oben Gesagtem m u ß j e t z t d a r a n eri n n e r t werden, d a ß wir alle E r f a h r u n g , also auch diese logischtheoretische, als P r o g r e ß gekennzeichnet h a b e n , u n d es f r a g t sich n u n , in welchem Sinne er e t w a ein z e i t l i c h e r P r o g r e ß zu n e n n e n wäre. Die Zeitlichkeit der N a t u r selbst als des „realen S a c h v e r h a l t e s " s t e h t n a t ü r l i c h a u ß e r F r a g e , d a die Zeit als Anschauungsform eben zu d e n B e d i n g u n g e n apriori der E r k e n n t n i s u n d d a m i t auch der Gegenstände der E r k e n n t n i s g e h ö r t ; (sc. zu den „ B e d i n g u n g e n " i m Sinne derjenigen eines „ I n h a l t s " ü b e r h a u p t

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oder der dialektischen „Schrankenbegriffe", nicht zu den Bedingungen im Sinne der Gesetzlichkeit oder des Denkens, die nur ein Pol in dem von jenen artikulierten Sinngebiet des Inhaltes sind.) Nun ist jenes System der logischen Sinngebiete als Erkenntnis im Sinne eines „idealen Sachverhaltes" fraglos kein zeitlicher, d. h. in der Zeit ablaufender Progreß, sondern allem zeitlichen Ablauf gegenüber gerade die Zeitlosigkeit einer als vollendet gedachten Objektivierung. Doch galt uns diese nur als G r e n z b e g r i f f , der seinen Sinn erst erfüllt, wenn er regulativ auf den Progreß bezogen und damit auch der Subjektivität korrelativ verhaftet wird. Die Erkenntnis als Erfahrung ist deshalb immer ein zeitlicher Progreß. Aber gerade als Erfahrung eignet ihm an sich n i c h t d i e s e 1 b e Z e i t l i c h k e i t , wie seinem gesetzlich — gegenständlich intendierten reale Sachverhalte, der N a t u r . Nicht in der „objektiven" N a t u r z e i t , sondern in der „subjektiven" „ E r l e b n i s z e i t " 1 vollzieht sich die Erfahrung. Wohl aber k a n n auch sie in den Geschehenszusammenhang der Naturzeitlichkeit eingeordnet werden, und zwar im Gefolge der(vorhin erwähnten) p s y c h o l o g i s c h e n R e f l e x i o n . Mit dieser ist hier diejenige Form der Objektivierung des Bewußtseins bzw. des Erlebens überhaupt gemeint, wie sie in der e r f a h r u n g s w i s s e n s c h a f t l i c h e n P s y c h o l o g i e vorliegt und zwar auch dann noch, wenn sie sich über den naturalistischen Standpunkt der älteren Experimentalpsychologie erhebt. Prinzipiell geht auch die „geisteswissenschaftliche", die „gestalttheoretische", „strukturtheoretische" und die „personalistische" Psychologie so vor, daß das psychische Geschehen einen kausalen Unterbau behält, dem sich andere Gesetzlichkeiten regulativ überordnen. Daß man durch Abwendung von der „mechanistischatomistischen" Methode, bzw. durch deren „Ergänzung" in eben der Weise, wie es eine systematische Ordnung gemäß dem Prinzip fundierender Schichtung (und „auxiliarer Kontinuität") fordert, die Psychologie einen entscheidenden Schritt weiter gebracht hat, muß umsomehr anerkannt und betont werden, als es üblich geworden ist, der erfahrungswissenschaftlichen Psychologie überhaupt das Daseinsrecht zu bestreiten. Davon kann aber gar nicht 1

„Erlebniszeit" darf nicht mit psychologischer (etwa „Reaktion«-") Zeit verwechselt werden; sie ist vielmehr die den Erlebnissen i m m a n e n t e Z e i t l i c h k e i t der „Repräsentation".

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die Rede sein. Diese psychologische Objektivierung des Erlebensprogresses in der Dimension der sich spezifizierenden Sinngebiete, d. h. also zu einem „Sachverhalt", so sehr tiefere Besinnung sie dem Charakter der „ e i g e n t l i c h e n S u b j e k t i v i t ä t " u n a n g e m e s s e n finden mag, hat ihre eigene und u n e r s e t z b a r e B e d e u t u n g im Ganzen der logisch-theoretischen Seinsinterpretation, also derjenigen, die alles „Wirkliche" im Sinne einer ganz bestimmten Zeitlichkeit transformiert, wobei denn die Frage, ob das angängig sei, sich sofort erledigt, wenn in kritischer Besinnung eingesehen und zugestanden wird, daß n i c h t s a n d e r e s a l s d i e s e S i c h t a l l e i n dabei g e w o l l t ist. Eine derartige Sicht ist dann nicht mehr und nicht weniger „möglich", wie jede Sicht im Sinne einer autonomen Methode überhaupt transzendental möglich ist. Die Rück-sicht auf eine andere, mit derjenigen spezifischer Sinngebiete sich kreuzende Dimension ist in vorliegendem Falle freilich unverkennbar und unentbehrlich. Der Vollzugszusammenhang des Erlebens, in welchem Sachverhalte intendiert und herausgestellt werden, muß selbst zuvor a m Geltungsstreit der ideellen Sachverhalte („Kampf der Meinungen, der Behauptungen, der Wahrheiten...."), und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Gegenständlichkeit wie ihrer Gesetzlichkeit, in Erscheinung getreten sein. An der Objektivität selbst verrät sich die Subjektivität und für den in spezifischem Sinne objektivierenden Blick zunächst gar nicht anders als eine neue Wirklichkeitssphäre des sogenannten „inneren" oder „psychischen" Geschehens. Erst eine t r a n s z e n d e n t a l e B e s i n n u n g kann das eigenartige Verhältnis von Objektivität und Subjektivität befriedigend klären und die Verhärtung des Gegensatzes in einer Lehre von zwei „Substanzen" oder in einer „Zwei-Welten-Theorie" beseitigen. Aber auch n a c h dieser k r i t i s c h e n Besinnimg auf die Seinsart der Subjektivität b l e i b t d a s P r o b l e m b e s t e h e n , wie es denkbar sei, daß der Progreß des Erlebens als eine zeitliche Realität von uns unwillkürlich und anscheinend widerspruchslos in den Realzusammenhang des („transsubjektiven") Naturgeschehens und in dessen Zeitlichkeit e i n g e o r d n e t werde. Denn so wird dasjenige, f ü r das es Sachverhalte gibt, s e l b s t zu einem Sachverhalt! Aber nicht nur im Zeitsinn der Naturwissenschaft, sondern auch in jedem anderen spezifischen Zeitsinne kann der Vollzug der

— 73 — E r k e n n t n i s als zeitlicher Progreß „versachlicht" werden, so z. B. v o r allem i m Zeitsinn der Praxis, d. h . der dem Begriff des Sollens entsprechenden (prospektiven) Zukünftigkeit. E r wird dadurch zu einem teleologischen Prozeß umgedeutet u n d e t w a „ F o r s c h u n g " genannt. Der logische Sinnzusammenhang ist n u n als „idealer" Sachverhalt weiterhin das K r i t e r i u m u n d das „ G e s e t z " , aber auch das gewollte Telos oder „ Z i e l " des asymptotischen Weges der wissenschaftlichen Forschung, die gerade dieses Doppelte sein will u n d i s t : technisch-praktische B e m ü h u n g u m E n t d e c k u n g u n d Aneignung der Erkenntnis u n d deren Einordn u n g in ein ethisch-praktisches Sinngefüge, d a r u m einerseits eine Angelegenheit der z w e c k b e w u ß t e n „ A r b e i t " einer Gemeinschaft 1 , andererseits E r k e n n t n i s im strengen logischen Sinn des Wortes. I n der wissenschaftlichen Forschung wird deshalb auch von der „ M e t h o d e " wie von einem I n s t r u m e n t gesprochen, u n d es ist verständlich, w a r u m diesem W o r t selbst in idealistischer I n t e r p r e t a t i o n i m m e r etwas von der Bedeutung eines t e c h n i s c h e n V e r f a h r e n s a n h a f t e n bleibt: die Methode ist f ü r den Zweck u n d das Ziel der Wissenschaft, nämlich die „Verwirklichung" der Erkenntnis, das von der Sache geforderte Mittel. D a ß „Verwirklichung" hier bereits einen anderen, v o n der logischen Kategorie „Wirklichkeit" (Gegenständlichkeit) verschiedenen Sinn e n t h ä l t , ist selbstverständlich; d a ß sie ein „ f a c i e n d u m " sei, d r ü c k t es deutlich aus.

4. Der Begriff der „ Wissenschaft". Das eben Gesagte t r i f f t n u n durchaus nicht n u r auf die N a t u r wissenschaften zu, sondern auf alle Wissenschaften ü b e r h a u p t . Aber d a m i t gibt uns der Begriff der Wissenschaft selber ein neues Problem. So spricht m a n etwa auch v o n den Wissenschaften des sozialen Lebens, der Geschichte, Sprache, K u n s t u n d der Religion! Wir nehmen das zunächst einfach als empirischen B e f u n d : es gibt Sozialwissenschaften, K u l t u r - und Kunstwissenschaften, Religionswissenschaften u. a., die zwar alle ganz verschiedene Gegen1

Man spricht von der „Person" des Forschers, dessen „Leistung" und „Beitrag" zur Lösung der „Probleme", vom „Zweck" der Experimente, Hypothesen, „Hilfsbegriffe" usw.

— 74 — stände und diese mit entsprechend verschiedenen Methoden bearbeiten, sich aber gerade als Wissenschaft wieder alle darin gleichen, daß sie als „Theorie" bzw. als eine Art theoretischen Sinngefüges in einem eigenartigen Verhältnis zu je einem anderen Sinngefüge stehen, das auch außerhalb ihres Sinnzusammenhanges, j a sogar gerade außerhalb desselben erst wahrhaft zu bestehen, gewissermaßen sein Eigenleben zu führen scheint. Die Sozialwissenschaften sind nicht selbst das „praktische Leben", die Kunstwissenschaften nicht das Schaffen der Kunst, die Religionswissenschaften nicht Religion, die Geschichtswissenschaften endlich nicht Geschichte selbst. Auch die oft vorgenommene Scheidung der betreffenden Sinngebiete in „theoretische" und „praktische" (bzw. „reale") „Seiten" befriedigt nicht recht. Denn es gilt zu beachten, daß in jeder Wissenschaft sowohl wie in jedem Sinngebiet, mit dem sie sich als Wissenschaft beschäftigt, stets dieses Sinngebiet g a n z , wenigstens der Intention nach, ausgebreitet wird, nicht etwa nur ein theoretischer oder anderer „Teil". Dann aber kann es sich gewissermaßen nur um eine Art „ E r h e b u n g " der Sinngebiete auf die „wissenschaftliche" Ebene, also um das handeln, was man etwas unbekümmert und fast nur rhetorisch ihre „Verwissenschaftlichung", „Logifizierung" oder „Rationalisierung" nennt. Mit den eben genannten Ausdrücken will man offenbar sagen, daß die Wissenschaft bemüht sei, jedes Sinn-, Wert- oder Wirklichkeitsgebiet a l s e i n e n S a c h v e r h a l t der Erkenntnis, als Gegenstand eines „theoretischkontemplativen" Urteils zu denken und zu erfassen. Die Naturwissenschaften erscheinen dabei als Prototyp aller Wissenschaften, und es ist verständlich, wenn auch nicht richtig, daß man in einer bestimmten Situation der Wissenschaftsgeschichte die N a t u r w i s s e n s c h a f t e n von Seiten der „ G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n " so sehr zum Vorbild nahm, daß man sogar ihre Methode generalisieren wollte. Dagegen wehrte sich freilich bald ihr eigenes methodisches Gewissen und der Inbegriff des methodischen Gewissens aller Wissenschaften: die Philosophie. Man sah ein, daß Gegenständlichkeit, Gesetzlichkeit und Methode der Natur- und Geisteswissenschaften und in den Geisteswissenschaften wieder die der Sozial-, der Kunst-, Religionswissenschaften usw. von Grund aus verschieden seien.

Andererseits ließ sich doch wieder nicht leugnen, daß s i e ' a l s W i s s e n s c h a f t e n mindestens eine verwandte Struktur besäßen, die sie von anderen „Tätigkeiten des Geistes" wieder als etwas Eigenes abhob. So stehen f ü r diesen Gesichtspunkt der Unterscheidung die „Welt der Wissenschaft" neben der „Welt der K u n s t " , der „Religion", der „Sprache" usw., unbeschadet der Tatsache, daß jene Wissenschaft in ihren verschiedenen Zweigen die anderen „Welten" zum Gegenstand haben kann. Wenn die Philosophie wirklich eine umfassende Systematik liefern will, dann muß sie irgendwie auch dieser Form (und etwa auch anderen möglichen Formen) der Systematisierung gerecht werden können. 5. Teleologie der Forschung. Wir versuchen es, indem wir zunächst einmal als vorläufiges Ergebnis festhalten, daß einerseits alle Wissenschaften als solche neben anderen Sinngebieten stehen, die nicht nur als Wissenschaften gedacht werden, und daß andererseits doch alle jene Sinngebiete zu einer Einteilung und Besonderung der Wissenschaften selbst führen. Wir sahen ferner am Beispiel der Naturforschung, daß hier eine teleologische „Auffassung" des Progresses der Erkenntnis vorliegt, also wohl eine noch nicht näher definierte Einordnimg der an sich logischen Erfahrung in einen neuen Sinnzusammenhang. Bezeichnend f ü r den letzteren war vor allem der Begriff des Zweckes oder Zieles, ohne den er in seiner Eigenart gar nicht gedacht werden k a n n ; er liegt in allen Begriffen, mit denen wir das „faciendum" der Wissenschaft, ihre „Aufgegebenh e i t " denken müssen. I n solcher Deutung erst erhält das „Gebiet" mit den Kategorien der Totalität, der Systematik und Bestimmtheit den Sinn der instrumentalen „ M e t h o d e " ; ihr entquillt die Bewegung nach beiden Polen hin, „ z u r " Gegenständlichkeit und „ z u r " Gesetzlichkeit; aber die neue Thematisierung (im Sinne einer Projektiertheit) des ganzen Sinngefüges prägt sich überall aus: der logische Charakter der Erkenntnis als „These" wandelt sich zum „Lehrsatz", der des „Denkens" als „Hypothese" zur „Annahme", der des „Seins" als „Problem" zur „Aufgabe". Diese Bedeutungswandlungen einzelner Worte weisen hin auf einen Unterschied im P r o g r e ß c h a r a k t e r selbst. Der logische Erkenntnis-

— 76 — prozeß als solcher würde, rein verwirklicht, gewissermaßen einer idealen Vorzeichnung (in Richtung auf jenen „idealen Sachverhalt") folgen. Der teleologische Progreß der Erkenntnis aber geht von der Voraussetzung aus, daß der „faktische" Vollzug unendlich viel komplizierter sei und tunlichst teleologisch betrachtet oder gar gelenkt werden müsse. Es wird gleich davon zu reden sein, wie es zu dieser Einsicht in die Beschaffenheit des faktischexistenziellen Vollzuges kommt. Jedenfalls liegt in ihm das logische Sinngebiet immer nur jeweils in einer Vielheit einzelner Abgrenzungen vor, die zunächst gar nicht oder wenig miteinander systematisch verbunden sind (so z. B. schon innerhalb der Physik) und damit ihre Einheit zum Problem machen. Die gedankliche Bewegung setzt an vielen getrennten Punkten zugleich und relativ unabhängig an, so daß ihre Einheit, wie sehr auch immer logisch vorgezeichnet, nicht nur logische, sondern auch t e c h n i s c h e Probleme ihrer Anbahnung usw. aufgibt. Auch erweitert sich der Umkreis der Fragen, Ansätze und Beobachtungen beständig und sehr oft zunächst ohne jene innere logische Verbindung; die Konsequenz des Fortschreitens muß erst bewerkstelligt werden, etwa dadurch, daß das Neue auf das Alte bezogen wird als dessen „nächster Schritt" (wobei u. U. nur eine Seite des Neuen berücksichtigt werden kann, das Übrige als „noch unbewältigt" liegen bleibt). Eine derartige Ordnung und Bewegung des Früheren auf das Spätere hin, d. h. in Absicht auf das Spätere, wie sie in allen Ansätzen, Entwürfen, Fragen, Versuchen, Sammlungen von Beobachtungen usw. der Forschung vorliegt, bei der z u k ü n f t i g e Denkschritte über Sinn, Bedeutung und Schicksal früherer e n t s c h e i d e n , setzt einen besonderen Zeitsinn voraus, in welchem schematisiert alle Kategorien ihre spezifisch teleologisch-praktische Bedeutung annehmen; G e r i c h t e t h e i t i n Z u k u n f t ist transzendentale Möglichkeitsbedingung des Sinngefüges: Forschung. Innerhalb dieses Sinngefüges kann die Rede sein von Beobachtungen, Entdeckungen, Spekulationen, die für den Gang der Forschung „ e i n s t w e i l e n " nutzlos sind, weil diese n o c h n i c h t so weit ist, sie verwerten und verarbeiten zu können. Andererseits gibt es Probleme, die „ d r i n g e n d " und „ w i c h t i g " werden, weil sie das nächste Ziel sind, ohne dessen Erreichung weitere Schritte nicht unternommen werden können.

— 77 — Das also ist es, was hier teleologischer Progreß genannt werden soll. Es sei aber gleich bemerkt, daß er mit dem faktisch-geschichtlichen Progreß n i c h t zusammenfällt, sondern n u r eine „Abstrakt i o n " bzw. eine heuristische Beurteilung desselben ist, die sich jedoch in jedem Falle rechtfertigen läßt. Es h a t sich also folgendes gezeigt: I m Erkenntnisprogreß nehmen die überregionalen Kategorien die Sonderform des logischen Sinngebietes an. Dieses Sinngefüge finden wir im Erkenntnisprogreß der Forschung, in der Naturwissenschaft als Forschungs-Betrieb wieder, aber gewissermaßen in einer neuen Färbung, mit einer neuen Note versehen: die Methode ist geradezu das „Mittel", in der die Gesetzlichkeit als „ K o n s t r u k t i o n " die Richtung anweist auf die „Gegenständlichkeit", welche als „Res u l t a t " gewonnen werden soll. Man könnte vielleicht einwenden, diese teleologischen Ausdrücke seien n u r M e t a p h e r n , eine „voluntaristische" Redeweise zur Schilderung rein logisch zu denkender Zusammenhänge. Dem wäre zweierlei zu entgegnen. Erstens läßt sich die Wissenschaft tatsächlich als ein zielstrebiger Prozeß ansehen, selbst wenn m a n von ihren praktischen Funktionären und von deren Arbeitsgemeinschaft noch einmal absieht; auch denken wir noch nicht an die sogenannte Vermehrung des „Wissens", an seine Aneignung von einzelnen Kultur-Kreisen oder Persönlichkeiten, sondern n u r an die eigentümliche F o r m d e r z w e c k m ä ß i g e n B e t ä t i g u n g u n d des F o r t s c h r i t t s , die allen solchen soziologisch und persönlich wie immer verschiedenen Yollzugszusammenhängen, als Form werdender, fortschreitender E r k e n n t n i s innewohnt. Zweitens wäre zu bedenken, daß doch irgendwelche Eigenheiten des logischen Prozesses vorhanden sein müssen, die es erlauben, sinnvoll in solchen „Metaphern" zu sprechen, und wenn es nichts weiter wäre, als daß sein Vollzug imstande ist, den Boden f ü r ein teleologisch zu ordnendes Gefüge zu bilden. Allerdings müssen wir nun fragen: wie stehen, s y s t e m a t i s c h genau formuliert, Erkenntnis als Progreß logischer Erfahrung und als Progreß teleologischer Forschung zueinander ? — I n unserer Ausdrucksweise „Erkenntnis a l s P r o g r e ß . . . . usw." soll zum Ausdruck kommen, daß ein und dasselbe Sinngefüge der „ E r k e n n t n i s " hier in zwei Seinsformen vorliegt. Ob und wie das möglich und verständlich sei, ist eine systematische Frage.

— 78 — 6. Objektivierung der

Subjektivität.

Wir haben aber in den bisherigen Ausführungen die Antwort auf diese Frage bereits vorbereitet. Die Erkenntnis, sagten wir, ist auch als Progreß der „Forschung" noch Erkenntnis, d. h. gerichtet auf logisches Sinngefüge, jedoch z u g l e i c h ein teleologischer Sinnzusammenhang. Es handelt sich aber nicht u m einen teleologischen Zusammenhang, der aus oder über dem logischen Sinngefüge der Erkenntnis selbst (also dem „realen Sachverhalt") etwa durch Verwendung und Einordnung seiner Strukturelemente, gebildet ist, sondern gewissermaßen um die Entdeckung und Aufhellung einer mit dem Vollzug des logischen Sinnzusammenhanges zugleich gesetzten Möglichkeit seiner teleologischen Strukturierung. Allenfalls also mag man sagen, daß der „ideale Sachverhalt" als Grenzwert der logischen Erfahrung nun zum (unbekannten) Z i e l der Forschung und die auf ihn konvergierende Methode zum M i t t e l seiner Verwirklichung wird. I n Wahrheit ist es demnach der Progreß logisch-theoretischer Erfahrung selbst, der subjektive Vollzug der Erkenntnis als V e r h a l t e n des Existierenden bzw. als Modus des „Daseins", das hier im Sinne eines besonderen, nämlich des teleologischen Sinngebietes zum Problem einer spezifischen O b j e k t i v i e r u n g gemacht wird. In diesem und liier nur in diesem Sinne, wird auch der vom logischen Sachverhalt geforderte „reine, konsequente" Vollzug der Erkenntnis einem teleologischen Sinngefüge einverleibt. Die Möglichkeit zu dieser Ordnung hegt in der Intentionalität der logischen Aktzusammenhänge selber auf jenen reinen oder idealen, konsequenten Vollzug der Gedanklichkeit, der nicht nur durch methodologische Reflexion, sondern auch durch teleologische Reflexion und Objektivierung gefördert und gewährleistet werden kann, mit letzterer zugleich aber dem teleologischen Zusammenhang des eigentlich-praktischen Lebens eingeordnet wird. Letzteres geschieht fernerhin in der Weise, daß auch die bereits „gewonnenen Resultate", also der jeweilige „Bestand" der Erkenntnis in einen praktischen Sinnbezug gebracht wird, nämlich durch die „ p r a k t i s c h e V e r w e r t u n g " des t h e o r e t i s c h e n „ E r k e n n t n i s g u t e s " (in den sogenannten „angewandten Wis-

— 79 — senschaften"). In diesem Falle hält man sich bereits an den logischen Sinnzusammenhang als einen ideellen Sachverhalt, und zwar im Sinne einer „symbolischen F o r m " . Die teleologische Deutung kann aber auch auf die Interpretation des intendierten „realen Sachverhaltes" übergreifen, indem die „Natur selbst" teleologisch aufgefaßt wird. In diesem Falle bedeutet jedoch die Anwendung der teleologischen Methode etwas anderes als in der Praxis des Handelns selbst. Diese würde der Natur gegenüber darin bestehen, daß man sie in t e c h n i s c h e r V e r a r b e i t u n g in den Dienst der autonomen praktischen Zwecke stellt (genau so wie es mit der Erkenntnis in den angewandten Wissenschaften und Praktiken geschehen kann). Daneben besteht aber die Möglichkeit, das Naturgeschehen selbst teleologisch zu interpretieren, d. h. ihm eine innere, eigene Zielstrebigkeit zuzuschreiben. Diese Einstellung konstituiert aber offensichtlich einen vom logisch-theoretischen prinzipiell verschiedenen Naturbegriff. Für die logische Naturerkenntnis kann die teleologische Methode immer nur die Dignität einer „heuristischen Maxime" haben, so wie K a n t dies in seiner Kritik der teleologischen Urteilskraft behauptet hat. Die „objektive" Anwendung der Teleologie auf die Natur würde besagen, daß man sie selbst, eben sofern sie teleologisch verfährt, a l s S u b j e k t gelten läßt 1 , wenngleich nicht in demselben Maße wie uns selber; ebensowenig wie wir ihr als dem entsprechenden „realen Sachverhalt" bei der Anwendung logischer Sinngebung die Subjektivität eines logisch gedachten Subjekts zuerteilen. Dem logischen Naturbegriff gegenüber ist nun der teleologische zweifellos „ k o n k r e t e r " , und zwar ganz im Sinne „ z u n e h m e n d e r " Konkretion auf Grund fundierender Schichtung; denn das Verhältnis kausalen und teleologischen Geschehens zueinander kann nur im Sinne einer U b e r o r d n u n g des letzteren gedacht werden 2 . Wird der Vollzug der Erkenntnis selber, wie oben (S. 71 f.) angedeutet, naturtheoretisch objektiviert (durch Projektion der immanenten Erlebnis-Zeit auf die Naturzeit), dann steht auch 1 2

Vgl. K a n t , „Kritik der Urteilskraft", u. a. § 61. Vgl. wieder den bereits zitierten Aufsatz von E. M u t h e s i u s : „Zur Dialektik der Einheit des Praktischen und Theoretischen".



80



dieses „ p s y c h o l o g i s c h e " 1 Geschehen wiederum der teleologischen Beurteilung offen, aber genau so, wie angesichts der Natur, nicht in der eigentlichen, prospektiven Weise (die dem praktischen Zeitsinn der Zukünftigkeit gemäß wäre), sondern nur retrospektiv. Der neue Gesichtspunkt will nur die Leistung des logisch-theoretischen Erkennens ergänzen, kann sich aber gerade deshalb n u r dem in der V e r g a n g e n h e i t G e w o r d e n e n zuwenden. Es hängt das augenscheinlich damit zusammen, daß d e r Zeitsinn eines spezifischen S i n n g e b i e t e s jeweils ein einzelnes M o m e n t der u n m i t t e l b a r dem D a s e i n eign e n d e n , „ i m m a n e n t e n " E r l e b n i s z e i t o b j e k t i v isoliert, n ä m l i c h die M o m e n t e der V e r g a n g e n h e i t , der Z u k u n f t u n d d e r G e g e n w a r t (das Sinngebiet, in dem das Dritte als Zeitsinn fungiert, wird uns erst an späterer Stelle beschäftigen). Sobald m a n sich nun klar macht, daß die Einordnung des psychischen Geschehens in dasjenige der (logisch-theoretischen, also kausalen) N a t u r eine R e f l e x i o n a u f d e n V o l l z u g der immer schon irgendwie vorliegenden Objektivierung voraussetzt (man pflegt es „Selbstbeobachtung", „Innenschau" o. ä. zu nennen), dann leuchtet ein, daß eine Systematik, welche die P s y c h o l o g i e im homogenen Gebiet der logischen Methoden sich über der Biologie, nach dem Prinzip zunehmender Konkretion, aufbauen läßt, dabei alle Schichten der Stufen-Systematik (d. h. also Grade der Bewußtheit) in solche der Sphären-Systematik wird umdeuten müssen. Zweifellos wird sich auch in solcher Systemfolge das Prinzip auxiliarer Kontinuität bewähren, insofern der Psychologe die Ergebnisse und Methoden der Biologie als Material und Technik übernehmen muß. Es wäre aber zu bedenken, daß wenigstens an diesem Punkt, wo die p h y s i o - l o g i s c h e Methode (im weitest möglichen Sinn des Wortes 9601?!) in die p s y c h o - l o g i s c h e Methode (als eine durchaus logisch-theoretische verstanden!) übergeht, die Sphärensystematik auf Strukturen der Stufensystematik zurückzuführen ist. Dann aber steht auch n i c h t s a n p r i n z i p i e l l e n B e d e n k e n dem Versuch entgegen, 1

Zur Charakteristik der Metbode dieser („naturalistischen") Psychologie vgl. W. B l u m e n f e l d , „Zur kritischen Grundlegung der Psychologie". Philos. Vorträge d. Kant-Ges. Nr. 25. Berlin 1920.



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die „psychologische" Methode auf „Gegenstände" anzuwenden, deren logische Gegenständlichkeit anscheinend schon in „untergeordneten" Wissenschaften, z. B. der Biologie, erschöpfend begriffen wird (Tierpsychologie, Pflanzenpsychologie). Denn die „Überordn r mg" der Psychologie über die andere Methodik wäre dann von anderer Art als die in der Systemfolge: Physik-ChemieBiologie, der schon die mathematischen Wissenschaften nicht zwanglos einzureihen sind. So wichtig nun dieser Einblick in systematische Verhältnisse i n n e r h a l b eines einzelnen Hauptgebietes der Philosophie selber schon ist, so müssen wir doch erwarten, daß stufensystematische Gesichtspunkte noch viel mehr für eine sphärensystematische O r d n u n g der H a u p t g e b i e t e u n t e r e i n a n d e r in Betracht kommen. Damit ist jedoch, — um gleich allen Mißverständnissen vorzubeugen —, durchaus nicht gesagt, daß die Systematik der Hauptgebiete des Logischen, Praktischen, Ästhetischen usw. etwa ganz auf eine Stufenordnung der Bewußtheit zurückzuführen sei (ein solches Opfer der Autonomie liegt vielleicht nicht einmal in der Intention der Hegeischen Dialektik). Die nächste Aufgabe besteht jetzt also darin, zum Problem der S y s t e m a t i k der H a u p t g e b i e t e , die doch nicht mehr in gleichem Maße für „homogen" befunden wurden, wie die Spezialgebiete in ihnen, mit den inzwischen erworbenen Einsichten zurückzukehren. Erst im Zusammenhang damit wird sich auch die im Begriff der W i s s e n s c h a f t gefundene Schwierigkeit beheben lassen, da sie ja auf das noch unbestimmte Verhältnis der Hauptgebiete zueinander zurückzuführen ist. Da jedoch der mit der soeben erwähnten Psychologie unlöslich verknüpfte B e g r i f f des B e w u ß t s e i n s gerade in der Vieldeutigkeit, die ihm auf Grund der komplizierten systematischen Verhältnisse, von denen hier die Rede war, anhaftet, vom Anbeginn der transzendental-kritischen Philosophie erhebliche Schwierigkeiten und Mißverständnisse verursachte, so sei an dieser Stelle ein historischer Rückblick eingeschaltet.

6

Noock



1. Kants

Begriffe

82



Exkurs: der Apperzeption, der ,,subjektiven" jektiven" Deduktion.

und ,,ob-

Zur Verdeutlichung der von uns entwickelten erkenntnistheoretischen Gedanken dürfte es nicht wenig beitragen, wenn wir sie mit denjenigen K a n t s vergleichen, welche sich mit den Problemen der t r a n s z e n d e n t a l e n und e m p i r i s c h e n A p p e r z e p t i o n und dem Unterschied einer o b j e k t i v e n und s u b j e k t i v e n D e d u k t i o n der Verstandesbegriffe beschäftigen. Bekanntlich sind die betreffenden kritischen Untersuchungen K a n t s u n d die Begriffe, mit denen er sie durchführt, unzertrennlich verknüpft mit der Gegenüberstellung des gegebenen Mannigfaltigen der V o r s t e l l u n g und der aufgegebenen Einheit des G e g e n s t a n d e s im Begriff. Die „ F o r m " der Gegebenheit des Mannigfaltigen ist aber die Z e i t . Auch im Kapitel über den „Schematismus der reinen Verstandesbegriffe" wird die Bedeutung der Zeit f ü r die Anwendungsmöglichkeit der Kategorien auf Erscheinungen nachgewiesen. Stets gilt es als Voraussetzung, „ d a ß die einzige Art, wie uns Gegenstände gegeben werden, die Modifikation unserer Sinnlichkeit sei"; und die Form des „inneren Sinnes" ist die Zeit. So ergibt sich, d a ß „reine Begriffe apriori, außer der Funktion des Verstandes in der Kategorie, noch formale Bedingungen der Sinnlichkeit (namentlich des inneren Sinnes) apriori enthalten müssen, welche die allgemeine Bedingung enthalten, unter der die Kategorie allein auf irgendeinen Gegenstand angewandt werden k a n n " . Diese „reine Bedingung der Sinnlichkeit" ist, wie der „Schematismus" zeigt, ein „Produkt und gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft apriori", nämlich das „ t r a n s z e n d e n t a l e S c h e m a " . Dieses ist ferner „nur die reine S y n t h e s i s , gemäß einer Regel der Einheit nach Begriffen überhaupt, die die Kategorie ausdrückt" und „ein t r a n s z e n d e n t a l e s P r o d u k t d e r E i n b i l d u n g s k r a f t , welches die Bestimmung des inneren Sinnes überhaupt, nach Bedingungen seiner Form (der Zeit) in Ansehung aller Vorstellungen betrifft, sofern diese d e r E i n h e i t d e r A p p e r z e p t i o n g e m ä ß apriori in einem Begriff zusammenhängen sollen". Mithin erscheint die Einheit der Apperzeption in diesem Zu-

— 83 — saminenhang der Bedingungen als obersteBedingung derVereinigung der Vorstellungen in einem Begriff und in notwendiger Beziehimg zu derjenigen transzendentalen Funktion, welche im Schematismus den Vollzug der Vereinigung des gegebenen Mannigfaltigen in einem Begriff ermöglicht, dem „inneren Sinn" und dessen „ F o r m " , der Zeit. Mit diesem „inneren Sinn' ist zugleich die Bedingung des „empirischen Bewußtseins", der e m p i r i s c h e n Apperzeption bezeichnet, denn dessen Einheit gründet sich auf die Einheit der Zeit, insofern die Totalität der Reihe der Vorstellungen seine Voraussetzung bildet. Die letzten transzendentalen Bedingungen sowohl f ü r das Gegenstands- wie f ü r das Selbstbewußtsein liegen deshalb in der „transzendentalen Apperzeption". K a n t unterscheidet nun eine „subjektive" und eine „objektive" Deduktion der Kategorien, d. h. eine in Richtung auf „die s u b j e k t i v e n Q u e l l e n , welche die Grundlage apriori zur Möglichkeit der Erfahrung ausmachen", und eine in Richtung auf die transzendentalen Bedingungen der gegenständlichen E r k e n n t n i s (im Gegensatz zum E r k e n n e n ) , vermittels welcher „allein ein Gegenstand überhaupt gedacht werden k a n n " . Das Hauptgewicht legt K a n t selbst auf die objektive Deduktion, und er hat das ganze Kapitel bekanntlich in der zweiten Auflage der „Kritik der reinen V e r n u n f t " (1787) in diesem Sinne umgearbeitet. In einer Anmerkung der Vorrede zu den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" (1786) lesen wir, worin er die Möglichkeit einer wesentlichen Verbesserung der Beweisführung und der Darstellung der objektiven Deduktion sah. E r schreibt nämlich daselbst: „Die letztere Aufgabe (sc. zu zeigen, wie Erfahrung n u r vermittelst der Kategorien möglich sei), obgleich auch ohne sie das Gebäude feststeht, h a t indessen große Wichtigkeit, und, wie ich es jetzt einsehe, ebenso große Leichtigkeit, da sie beinahe durch einen einzigen Schluß a u s d e r g e n a u b e s t i m m t e n D e f i n i t i o n d e s U r t e i l s ü b e r h a u p t . . . . verrichtet werden k a n n " . Trotzdem meint K a n t wieder in der Vorrede zur zweiten Auflage, daß es sich bei der Neubearbeitung nur um Verbesserungen der Darstellung, nicht um eine Änderung „in den Sätzen selbst und ihren Beweisgründen" handle. E r wollte also keineswegs das Resultat der ersten Auflage aufgehoben wissen, sondern trotz des transzendental-kritischen Vorranges der objektiven Deduktion vor 6*

— 84 — der s u b j e k t i v e n , beide m i t e i n a n d e r verglichen u n d als E r g ä n z u n g angesehen h a b e n . 2. Subjektive

Deduktion.

Die s u b j e k t i v e D e d u k t i o n b e g i n n t m i t d e m „gegebenen Mannigfaltigen der A n s c h a u u n g " u n d f r a g t , u n t e r welchen Bedingungen E r k e n n t n i s , „welche ein Ganzes verglichener u n d verk n ü p f t e r V o r s t e l l u n g e n i s t " , möglich sei. K a n t zeigt nächst der unentbehrlichen „ S y n o p s i s " , der bloßen R e z e p t i v i t ä t der Sinnlichkeit, drei P h a s e n einer s p o n t a n e n S y n t h e s i s a u f : die Synthesis der A p p r e h e n s i o n in der A n s c h a u u n g , die Synthesis der R e p r o d u k t i o n in der E i n b i l d u n g s k r a f t u n d die R e k o g n i t i o n i m Begriff. Das erste ist die S e t z u n g der Mannigfaltigkeit einzelner Vorstellungen ü b e r h a u p t , das zweite die Setzung von R e i h e n solcher Vorstellungen, d a m i t , wie K a n t sagt, das „Bew u ß t s e i n " n i c h t „die nacheinander vorgestellten E i n h e i t e n i m m e r aus d e m G e d a n k e n verliere". Diese reine transzendentale Synthesis der E i n b i l d u n g s k r a f t ist sogar die Voraussetzung f ü r die „reinsten u n d ersten Grundvorstellungen von R a u m u n d Zeit". Die d r i t t e P h a s e der Synthesis endlich ist die Vereinigung dieser so gebildeten Reihen in einem Begriff, die Setzung des R e i h e n p r i n z i p s ; das b e d e u t e t : die R e p r o d u k t i o n m u ß als R e p r o d u k t i o n gewußt werd e n ; zur bloßen R e p r o d u k t i o n m u ß das B e w u ß t s e i n jener reproduzierten Einheiten u n d der E i n h e i t jener E i n h e i t e n hinzut r e t e n . „ O h n e Bewußtsein, d a ß das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir e i n e n A u g e n b l i c k z u v o r d a c h t e n , w ü r d e alle Rep r o d u k t i o n in der Reihe der Vorstellungen unmöglich sein". Unzertrennlich sind also alle drei P h a s e n der Synthesis miteinander verbunden. B e a c h t e n wir n u n die b e s t i m m e n d e Rolle, die hier die Z e i t als Bedingung der aufeinander folgenden A k t e der Synthesis i m Bewußtsein spielt, so f i n d e n wir die drei P h a s e n der Synthesis in den drei k a t e g o r i a l e n M o m e n t e n der E r k e n n t n i s wieder, in der G r u p p e der „ Q u a n t i t ä t " als Kategorien des Einzelnen, der R e i h u n g u n d der T o t a l i t ä t , in der G r u p p e der „ R e l a t i o n " als Kategorien des K o n s t a n t e n , der Bedingung u n d des Systems, in der G r u p p e der „ Q u a l i t ä t " als die des B e s t i m m t e n (Gesetzten), der Vergleichung u n d der B e s t i m m t h e i t (dem D e f i n i t u m des „Begriffs"). I n der E r -

— 85 — kenntnis sind die drei Formen der Synthesis enthalten als S t r u k t u r m o m e n t e der P o l a r i t ä t des logischen Sinngebietes. Das war es, was schon in unseren Ausführungen über die Kategorienlehre gezeigt werden sollte. Aber nicht n u r f ü r das logische Sinngebiet als solches sollten die Bestimmungen gelten, sondern f ü r jedes Gebiet ü b e r h a u p t ; es m u ß also erwartet werden, d a ß sich die drei Momente auch in jeder U m f o r m u n g des logischen Prozesses in einen n e u e n P r o z e ß c h a r a k t e r wiederfinden, d. h . sowohl in der Forschung wie in jeder etwa noch möglichen Objektivierung desselben in einem anderen Sinnzusammenhang.

3. Transzendentale

Apperzeption.

Genau so verhält es sich m i t dem Begriff der Apperzeption. Nach K a n t wäre die Rekognition i m Begriffe, das Denken der I d e n t i t ä t der reproduzierten Vorstellungen der Reihe, nicht möglich ohne die I d e n t i t ä t des denkenden Bewußtseins. Es liegt das als Voraussetzung in dem Wörtchen „ w i r " des Satzes: „Ohne das Bewußtsein, d a ß das, was w i r denken, dasselbe sei, was w i r einen Augenblick zuvor dachten, würde alle Reproduktion in der Reihe der Vorstellungen unmöglich sein". Umgekehrt setzt freilich auch dieses Selbstbewußtsein, sofern es seine I d e n t i t ä t bewähren soll, wieder das Bewußtsein der I d e n t i t ä t der F u n k t i o n , dieses die I d e n t i t ä t der F u n k t i o n selbst voraus als Einheit der Regel der Vereinigung einer Mannigfaltigkeit v o n Vorstellungen in einem Begriff. Das eine identische Bewußtsein also ist es, „was das Mannigfaltige, nach u n d n a c h Angeschaute, u n d d a n n auch Reproduzierte, in eine Vorstellung v e r e i n i g t " ; es ist „ d a s stehende u n d bleibende I c h " , das dem Wechsel der Vorstellungen im Flusse der Zeit als i d e n t i s c h e r B e z u g s p u n k t gegenübertritt. Wie n u n schon die reine Anschauung apriori in der „ F o r m " des Sinnes den transzendentalen G r u n d ihrer synthetischen Einheit besitzt, so fordert auch der reine Verstandesbegriff notwendig eine „ n u m e rische" Einheit des Bewußtseins. Dieses ursprüngliche „ r e i n e " , „ u n w a n d e l b a r e " Bewußtsein ist die t r a n s z e n d e n t a l e A p p e r z e p t i o n . Sie ist mithin „transzendentaler Grund der Einheit des Bewußtseins" in der Synthesis des Mannigfaltigen aller unserer Anschauungen, mithin auch der Begriffe der O b j e k t e ü b e r h a u p t ,



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folglich a u c h aller Gegenstände der E r f a h r u n g . . . . , ohne welchen es u n m ö g l i c h " ist, „zu unseren Anschauungen irgendeinen G e g e n s t a n d zu d e n k e n : denn dieser ist nichts m e h r , als das E t w a s , davon der Begriff eine solche Notwendigkeit der Synthesis ausd r ü c k t " . D e n n der „ G e d a n k e v o n der Beziehung aller E r k e n n t n i s auf ihren G e g e n s t a n d " f ü h r t „ e t w a s von N o t w e n d i g k e i t " bei sich, „ d a nämlich dieser als dasjenige angesehen wird, w a s d a w i d e r i s t , d a ß unsere Erkenntnisse nicht aufs Geratewohl, oder beliebig, sondern apriori auf gewisse Weise b e s t i m m t seien". „Aller N o t w e n d i g k e i t liegt jederzeit eine t r a n s z e n d e n t a l e Bedingung z u m G r u n d e . " Also a u c h die synthetische B e w u ß t s e i n s f u n k t i o n m i t ihrer bloßen S u b j e k t i v i t ä t i m „empirischen B e w u ß t s e i n " m u ß eine transzendentale Bedingung h a b e n , u m diese „ N o t w e n d i g k e i t " zu b e g r ü n d e n . Die E i n h e i t , welche den Gegenstand n o t w e n d i g m a c h t , ist die „formale E i n h e i t des Bewußtseins der Synthesis", u n d die formale Bedingung dessen ist die t r a n s z e n d e n t a l e Apperzeption. „Die transzendentale E i n h e i t der Apperzeption ist diejenige, durch welche alles in einer A n s c h a u u n g gegebene Mannigfaltige in einem B e g r i f f v o m O b j e k t vereinigt w i r d " . „ D i e n u m e r i s c h e E i n h e i t dieser Apperzeption liegt also apriori allen Begriffen ebensowohl z u m Grunde, als die Mannigfaltigkeit des R a u m e s u n d der Zeit den Anschauungen der Sinnlichkeit". W i r h a b e n somit in der t r a n s z e n d e n t a l e n Apperzeption den o b e r s t e n G r u n d s a t z aller synthetischen Urteile, den G r u n d s a t z der Einheit der E r f a h r u n g als Inbegriff aller Bedingungen f ü r die Möglichkeit objektiver E r k e n n t n i s . „ D e r synthetische S a t z : d a ß alles verschiedene empirische Bewußtsein in einem einigen S e l b s t b e w u ß t s e i n v e r b u n d e n sein müsse, ist der schlechthin erste u n d synthetische Grundsatz unseres Denkens ü b e r h a u p t " . Die t r a n s zententale Apperzeption ist die „logische Einheit eines j e d e n Gedankens". Diese Zitate genügen, u m zu zeigen, d a ß K a n t schon in der subj e k t i v e n D e d u k t i o n , die v o n der T a t s a c h e des Ich-Bewußtseins ausgeht u n d n a c h dessen t r a n s z e n d e n t a l e n Bedingungen f r a g t , die „ t r a n s z e n d e n t a l e A p p e r z e p t i o n " in ihrer „ o b j e k t i v e n " B e d e u t u n g nicht in erster Linie als „ B e w u ß t s e i n " , — u n d a u c h „ A p p e r z e p t i o n " heißt doch noch Bewußtsein — , sondern als „logische E i n h e i t " , obersten, synthetischen G r u n d s a t z , E i n h e i t der E r -

— 87 — f a h r u n g , I d e n t i t ä t der F u n k t i o n usw. definieren will, mithin als das, was v o n uns oben als Moment der „ F o r m " des Gebiets, als „ E i n h e i t ü b e r d e r M a n n i g f a l t i g k e i t " bezeichnet wurde (dem das Moment der „Mannigfaltigkeit des R a u m e s u n d der Z e i t " in „ d e n Anschauungen der Sinnlichkeit", wie bei K a n t , gegenübersteht). Die e m p i r i s c h e Apperzeption als Einheit des Selbst-Bewußtseins, — u n d zwar, wie bei K a n t immer gemeint ist, das individuelle Ich-Bewußtsein — , spielt in der Erkenntnis, rein logisch verstanden, keine grundlegende Rolle. Denn die Einheit des Selbstbewußtseins ist streng genommen, nicht die des empirisch-individuellen Bewußtseins (wenngleich dieses darauf „ b e r u h e n " mag), sondern die Einheit des „Bewußtseins der Wissenschaft", d. h. des idealen, konsequenten Vollzuges der Erkenntnis. D a r u m ist sie der konkreten S u b j e k t i v i t ä t gegenüber a b s t r a k t , aber objektiv.

4. Subjektiv und Objektiv. Es m a g a n dieser Stelle an die Zweideutigkeit der Termini „ s u b j e k t i v " u n d „ o b j e k t i v " in der Kantischen Sprache erinnert w e r d e n : „ s u b j e k t i v " ist einmal alles, was dem empirischindividuellen S u b j e k t angehört u n d n u r f ü r dieses Geltung besitzt, d a n n aber auch diejenigen Bedingungen, Formen u n d F u n k tionen objektiver Geltung, die, weil sie selbst nicht „ o b j e k t i v " , sondern eben n u r der G r u n d des Objektiven sind, von diesem als „ s u b j e k t i v " unterschieden werden. „ O b j e k t i v " ist dadurch im Gegensatz zum „ S u b j e k t i v e n " zunächst die ganze E r k e n n t n i s als Inbegriff der Gesetze und Gegenstände, zweitens das von den F o r m e n apriori Begründete oder der zum „ G e g e n s t a n d " bestimmte I n h a l t . „ O b j e k t i v " u n d „ s u b j e k t i v " dienen also entweder dazu, das, was wir E r k e n n t n i s als Sachverhalt n a n n t e n , von Zusammenhängen anderer Art, die zwar m i t j e n e m verbunden, aber nicht m i t i h m identisch sind, abzuheben, oder das, was wir die S t r u k t u r m o m e n t e des Gebiets n a n n t e n , v o n diesem selbst. D a ß Gegenständlichkeit u n d Gesetzlichkeit, die f ü r uns Pole sind, von K a n t (und auch von N a t o r p , z. B. in seiner „Psychologie") als „ O b j e k t i v i t ä t " zusammengefaßt werden, wurde schon f r ü h e r b e m e r k t . D i e s e O b j e k t i v i t ä t steht aber nicht zu einer Gesetzlich-



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keit, sondern zu den „ V o r s t e l l u n g e n " in einem Wechselverhältnis, bei welchem K a n t an die Bewußtseinsinhalte des individuellen Subjekts denkt, w i r a u c h schon an die, der wahren Vorstellung oder Meinung (dem idealen Sachverhalt) sich nur „asymptotisch" nähernden Akte des „wissenschaftlichen" Bewußtseins denken können. Daß die Ausdrücke „subjektiv" und „objektiv" zudem einen Hinweis auf systematische Schichtung enthalten, wird sich noch an anderen Stellen dieser Untersuchung zeigen. Für die Interpretation K a n t s und für die Darstellung der Grundgedanken des „ k r i t i s c h e n I d e a l i s m u s " sind diese Unterscheidungen von Wichtigkeit, weil dadurch die im Begriff des „ B e w u ß t s e i n s " gegebenen Unklarheiten erst restlos beseitigt werden können. Die reine kritische Theorie der Erkenntnis als eines ideellen Sinngefüges bzw. gedanklichen Progesses von Sätzen, Urteilen, Folgerungen usw. hat mit dem psychologischen Begriff des B e w u ß t s e i n s g a r n i c h t s zu tun; sie kann ihn sowie den des , , I c h " höchstens metaphorisch zur Veranschaulichung der Idee der „ E i n h e i t " verwenden. Daß sie das kann, ist freilich begründet und deshalb beachtenswert genug, weil es anzeigt, daß die Worte „Bewußtsein" und „Ich" hierin ihre transzendentale Wurzel haben und darum die Einheits-Begriffe eines Sinngebietes der Objektivierung zum Ausdruck bringen können. Da ist z. B. das Gebiet der sogenannten „inneren Erfahrung", für welche nach K a n t die I d e e des I c h eine r e g u l a t i v e Bedeutung hat. Darüber sagt er im Kapitel über die „Paralogismen der V." 1 , die Vernunft habe mit der „transzendentalen Idee" des Ich in der empirischen Psychologie „nichts anderes vor Augen, als Prinzipien der s y s t e m a t i s c h e n E i n h e i t in Erklärung der Erscheinungen der Seele, nämlich: alle Bestimmungen, als in e i n e m e i n z i g e n S u b j e k t e , alle Kräfte, soviel als möglich, als abgeleitet von e i n e r e i n z i g e n Grundkraft, allen Wechsel als zugehörig zu den Zuständen e i n e s u n d d e s s e l b e n b e h a r r l i c h e n Wesens zu betrachten, und alle Erscheinungen im Räume, als von den Handlungen des D e n k e n s ganz unterschieden vorzustellen". „Aus einer solchen psychologischen Idee", — so heißt es weiter —, „kann nun nichts anderes als Vorteil entspringen, wenn man sich nur hütet, sie für etwas 1

Kr. d. r. V. (Kehrbach) S. 529.

— 89 — mehr als bloße Idee, d. i. bloß relativisch auf den s y s t e m a t i s c h e n V e r n u n f t g e b r a u c h in Ansehung der Erscheinungen unserer Seele gelten zu lassen". Folgt man K a n t in diesem Gedanken, dann bezeichnet das Wort „ s u b j e k t i v " nicht nur, wie in der subjektiven Deduktion, die R i c h t u n g auf dieses „empirische" Bewußtsein hin, in w e l c h e m die „objektive" Erfahrung sich aktualisiert, sondern auch dieses Bewußtsein in seiner S u b j e k t i v i t ä t selbst zugleich als eine W i r k l i c h k e i t , nämlich der Entwicklung, der Erlebnisse, der „ K r ä f t e " , „Zustände", „Handlungen" usw. einer „Seele", d. h. eines i n d i v i d u e l l e n I c h (bzw. des Ich a l s einer Individualität!). 5. Objektive

Deduktion.

In der Darstellung der o b j e k t i v e n D e d u k t i o n können wir uns kürzer fassen; es ist ihre ausgesprochene Absicht, den Begriff der transzendentalen Apperzeption rein l o g i s c h zu definieren und aus den Begriffen der Verbindung, der synthetischen Einheit und der Funktion des Urteils selbst hervorgehen zu lassen. In ihr kann das transzendentale Ich nicht mehr mit dem empirischen verwechselt werden. K a n t sagt: „ D a s : I c h d e n k e , m u ß alle meine Vorstellungen begleiten k ö n n e n ; denn sonst würde etwas in mir v o r g e s t e l l t werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches ebensoviel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein." „Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine notwendige Beziehung auf das :Ich denke." Der Ausdruck „muß können" bezeichnet deutlich den Übergang von psychologisch-subjektiver zu transzendental-subjektiver Bedeutung. Die „Ichvorstellung" m u ß n i c h t jeden psychologischen Akt des Bewußtseins begleiten, aber m u ß es in Hinsicht auf objektive Gültigkeit k ö n n e n ; das Ich ist, mit anderen Worten, die transzendentale Bedingung für die Möglichkeit eines gültigen logischen Urteils, aber nicht für seine Wirklichkeit. „Die synthetische Einheit des Bewußtseins ist also eine objektive Bedingung aller Erkenntnis, n i c h t deren i c h bloß s e l b s t b e d a r f , um ein Objekt zu erkennen, sondern unter der jede Anschauung stehen m u ß , u m f ü r m i c h O b j e k t z u w e r d e n " 1 . Die trans1

Kr. d. r. V. (Kehrbach) S. 663.

— 90 — zendental-logische Funktion der synthetischen Einheit der Apperzeption wird so energisch und klar herausgearbeitet, daß K a n t in einer Anmerkung 1 geradezu sagen kann: „ S o ist die synthetische Einheit, der Apperzeption der höchste Punkt, an dem man allen Yerstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muß, j a dieses Vermögen i s t d e r V e r s t a n d selbst"! Der Verstand aber ist nach Kant der Inbegriff der Kategorien und ihrer Grundsätze. In der objektiven Deduktion ist die transzendentale Apperzeption zum RegelInbegriff objektiver Erkenntnis, zum letzten logischen Grunde aller Gesetzlichkeit und Gegenständlichkeit, und zwar in d e n K a t e g o r i e n s e l b s t geworden 2 . Mit der genaueren D e f i n i t i o n d e s U r t e i l s , an welche K a n t die neue Deduktion knüpfen wollte, beschäftigt sich der § 19. Die Erklärung der Logiker, daß das Urteil die Vorstellung eines Verhältnisses zwischen zwei Begriffen sei, befriedigt nicht, weil es unausgemacht bleibt, worin dieses Verhältnis besteht. Die transzendentale Funktion, die hier in Frage steht und welche macht, daß Erkenntnisurteile sich von bloß subjektiv gültigen Urteilen der reproduktiven Einbildungskraft unterscheiden, liegt darin, daß gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption gebracht werden. Das Verhältniswörtchen „ i s t " in ihnen (das grammatisch fehlen kann) bezeichnet diese objektive Einheit, mithin die notwendige Beziehung auf die transzendentale Apperzeption. „Dadurch allein wird aus diesem Verhältnis ein U r t e i l , d. i. ein V e r h ä l t n i s , d a s o b j e k t i v g ü l t i g ist". „Die logische Form aller Urteile besteht in der objektiven Einheit der Apperzeption der darin enthaltenen Begriffe." So bestimmt sich die transzendentale Apperzeption als letzter logischer Grund und Garant der objektiven Gültigkeit und, da in dieser für den kritischen Idealismus die Bedeutung der „Wahrheit" liegt, als K r i t e r i u m d e r W a h r h e i t ; sie fällt letzten Endes mit dem reinen logischen Begriff der Erkenntnis selbst zusammen. Sehr viel deutlicher als in der „subjektiven" Deduktion wird 1 2

Kr. d. r. V. (Kehrbach) S. 660. Vgl. das in der 2. Aufl. umgearbeitete „Paralogismen"-Kapitel, u. a. den Satz: „ D a s S u b j e k t d e r K a t e g o r i e n kann also dadurch, daß es diese denkt, nicht von sich selbst als einem Objekte der Kategorien einen Begriff bekommen."

— 91 — n u n a u c h die t r a n s z e n d e n t a l e Apperzeption v o n der e m p i r i s c h e n unterschieden. Die „ o b j e k t i v e " E i n h e i t der transzendent a l e n Apperzeption m u ß j e t z t „ v o n der s u b j e k t i v e n E i n h e i t des Bewußtseins unterschieden werden, die eine B e s t i m m u n g des inneren Sinnes i s t " . D e n n „ o b ich mir des Mannigfaltigen als zugleich, oder n a c h e i n a n d e r , e m p i r i s c h b e w u ß t sein k ö n n e , k o m m t auf U m s t ä n d e oder empirische Bedingungen an. D a h e r die empirische E i n h e i t des Bewußtseins, d u r c h Assoziation der Vorstellungen, selbst eine E r s c h e i n u n g b e t r i f f t , u n d ganz zufällig i s t " . „ D i e empirische E i n h e i t der A p p e r z e p t i o n . . . . h a t n u r s u b j e k t i v e Gültigkeit". 6.

Transzendental-Psychologie.

Man h a t es gerade als ein besonderes Verdienst K a n t s angesehen, d a ß in seiner E r k e n n t n i s t h e o r i e das t r a n s z e n d e n t a l e u n d empirische Bewußtsein zwar deutlich u n t e r s c h i e d e n , a b e r niemals v o n e i n a n d e r g e s c h i e d e n werden, sondern k o r r e l a t i v aufeinander bezogen bleiben; d a ß sich nicht m e h r „ O b j e k t " u n d „ S u b j e k t " substantiell gegenüberstehen, sondern in f u n k t i o n a l e n Z u s a m m e n h a n g gebracht s i n d ; d a ß es eine v o n Gesetzen beherrschte Objekt i v i t ä t n u r f ü r u n d als G e g e n r i c h t u n g zur S u b j e k t i v i t ä t des psychologischen Erlebens gibt. Dieses E r g e b n i s seiner Transzendentalphilosophie m u ß festgehalten, aber zugleich e r g ä n z t u n d v e r t i e f t werden, d a m i t es erst völlig v o r M i ß d e u t u n g e n gesichert werden k a n n . Diese h a b e n , wie uns die bisherigen E r ö r t e r u n g e n schon zeigten, ihre Quelle h a u p t s ä c h l i c h in der Verwechslung der verschiedenen B e d e u t u n g e n des Begriffs der „ S u b j e k t i v i t ä t " u n d des Begriffes „ B e w u ß t s e i n " . Diese Vieldeutigkeit h a t ihren g u t e n G r u n d ; i n d e m m a n ihn a u f s p ü r t , klären sich zugleich die s y s t e m a t i s c h e n Verhältnisse. Die Vergegenwärtigung der Momente des Erfahrungsvollzugs weist die kritische Besinnung sowohl in die Dimension der S p h ä r e n s y s t e m a t i k als E i n h e i t spezifischer Sinngebiete (die als „ S i n n " - G e b i e t e bezeichnet schon auf die zweite Dimension a u f m e r k s a m m a c h e n ! ) , wie auch in die Dimension der s o g e n a n n t e n S t u f e n s y s t e m a t i k als Einheit spezifischer Stadien der S u b j e k t i v i e r u n g u n d O b j e k t i v i e r u n g der E r f a h r u n g ü b e r h a u p t . W e n n m a n die erste A u f g a b e noch z u m Problemkreis der T r a n s z e n d e n t a l - K r i t i k r e c h n e n will, d a n n

— 92 — wäre die zweite, Kantisch gesprochen, das eigentliche Problem der systematischen , , T r a n s z e n d e n t a l - P s y c h o l o g i e " . Die wechselseitige Verknüpfung, Bedingung und Durchdringung beider könnte nur im vollendeten Systemversuch dargestellt werden; uns aber geht es nur darum, sie hinsichtlich des Problems „Geschichte und System der Philosophie" nachzuweisen und das Problem selbst auf dieser Basis zu behandeln. Wir begnügen uns also mit einer Untersuchung der Möglichkeit und der Bedingungen der Systematik überhaupt. Indem wir die gewonnenen Ergebnisse im Auge behalten, setzen wir nun die k r i t i s c h e Besinnung auf die M ö g l i c h k e i t e i n e r S y s t e m a t i k der p h i l o s o p h i s c h e n H a u p t g e b i e t e fort, die wir bei der Bestimmung ihrer „kategorialen" Homogeneität verlassen und mit den erkenntnistheoretischen Untersuchungen unterbrochen hatten.

Fünfter Abschnitt

Die regionale Bedingtheit der Systematik. 1. Autonomie

und

System.

Die „homogene Fundierung" der Sondergebiete in den Hauptgebieten beruhte darauf, daß die Mit- oder Voraussetzung „untergeordneter" Gebiete als conditio sine qua non durch übergeordnete Gebiete mit dem Sinn der Setzung, der Ordnung und Bedingung innerhalb der einzelnen Gebiete gleichgeartet, also spezifisch „logisch", „ethisch" usw. war. Eine derartige Ordnung kommt für die Hauptgebiete nicht mehr in Frage; aber die systematische Ordnung überhaupt ist damit nicht ausgeschlossen, nicht einmal die Eindeutigkeit derselben. Die „kategoriale Homogeneität" ihrer Struktur als „Gebiet" läßt es nämlich zu, daß ein Zusammenhang von den heterogenen Ordnungs- und Sinnprinzipien selbst geschaffen wird, sodaß etwa das ethische Sinngebiet das logische als logisches, aber in ethisch-praktischem Sinne „berücksichtigt", das logische wiederum sich dem ethischen als solchem, aber in logischer Bedeutung unterordnet. Das „ P r i n z i p " der Ordnung wäre dann stets s p e z i f i s c h i m S i n n e j e e i n e s d e r H a u p t g e b i e t e , die als a u t o n o m e anerkannt wären, die Anordnung selbst könnte aber t r o t z d e m zu einer s y s t e m a t i s c h e i n d e u t i g e n Ü b e r - u n d U n t e r o r d n u n g führen. E s ließe sich dann das ganze System im Sinne eines jeden der Hauptgebiete entwickeln, — vorausgesetzt, daß es möglich wäre, von jedem Sinngebiet aus alle übrigen zu setzen und zu unterscheiden. Dieser Gedanke scheint freilich dem A u t o n o m i e p r i n z i p strikt zu w i d e r s p r e c h e n : denn wie sollte es möglich sein, etwa mit logischen Kategorien das ethische Sinngefüge zu begreifen ? Das hieße doch, allen kritischen Grundgedanken entsagen! Die Logifizierung des ethischen Sinngebietes würde doch, wenn sie überhaupt denkbar wäre, seiner Y e r k e n n u n g gleichkommen. — Andererseits wird man zugeben, daß irgendeine Art systematischer Beziehung zwischen den Gebieten bestehen muß, weil sie sonst schlechthin

— 94 — i s o l i e r t u n d unvereinbar nebeneinander stehen w ü r d e n . E i n e e i n i g e E r f a h r u n g gäbe es d a n n nicht, sondern n u r eine Vielheit v o n „ W e l t e n " , die vielleicht i m erlebenden S u b j e k t einen gemeins a m e n S c h n i t t p u n k t besäßen, inhaltlich u n d gegenständlich aber absolut auseinander k l a f f t e n . Die Phänomenologie der wirklichen E r f a h r u n g belehrt uns aber, d a ß sie in einem einzigen durchgängigen Z u s a m m e n h a n g stehen, d a ß das k o n k r e t Wirkliche ger a d e auch o b j e k t i v eine E i n h e i t bildet. E s ist z. B. schlechterdings unmöglich, die W i r t s c h a f t zu verstehen u n d auf Begriffe zu bringen, ohne z u g l e i c h ihr Verhältnis zur N a t u r , das ein teleologisches ist, anzugeben, u n d ohne die rein logisch-theoretische N a t u r b e s c h a f f e n h e i t selbst, ü b e r der sich die W i r t s c h a f t e r h e b t , zu berücksichtigen. Auch in j e d e m technischen Erzeugnis ist dieser E i n s c h l u ß aller logisch-theoretischen B e s t i m m u n g e n im Zweck-Mittel-Zusammenhang o f f e n b a r ; dieser selbst wäre ohne j e n e gar n i c h t möglich. F ü r die transzendentale D e d u k t i o n d e r M ö g l i c h k e i t der k o n k r e t e n E r f a h r u n g zeigt sich j e t z t abermals die K a t e g o r i e n l e h r e von entscheidender B e d e u t u n g . E s genügt, a n die Ausf ü h r u n g e n ü b e r die kategoriale H o m o g e n e i t ä t der Gebiete als solcher a n z u k n ü p f e n . Die Möglichkeit, alle Grundbegriffe eines spezifischen Sinngebietes auf einen überregionalen A u s d r u c k zu bringen, b e g r ü n d e t ihre Vergleichbarkeit. Mit Hilfe dieser K a t e gorien k a n n ein Sinngebiet seine eigene B e s c h r ä n k t h e i t (Restriktion) in p h i l o s o p h i s c h e r B e s i n n u n g erkennen u n d andere Abwandlungen der Kategorien offen lassen. So wie diese philosophische Besinnung eindeutig parallele Kategorien verschiedener Gebiete zusammenstellen k a n n , k a n n sie a u c h in u n e i n g e s c h r ä n k t e r Überschau k r i t i s c h sondern u n d s y s t e m a t i s c h ordnen. Es ist also i m m e r der Rückweg ü b e r die allgemein e n philosophischen Kategorien, welcher es e r l a u b t , die Isolierung zu durchbrechen u n d Einsicht in den systematischen A u f b a u zu gewinnen. Derselbe ist bei näherem Zusehen gar nicht so lose, wie diese allgemeinen Möglichkeiten vielleicht v e r m u t e n lassen. E s ist zwar n i c h t ausgeschlossen, jedes Sinngebiet als relativ geschlossen zu b e h a n d e l n , es „ a b s t r a k t u n d isoliert zu s e t z e n " u n d sich auf den Umkreis seiner Probleme zu beschränken, i m m e r einseitiger, a b e r

— 95 — auch reiner und klarer einen bestimmten Gesichtspunkt der Weltinterpretation herauszuarbeiten; j a , diese „Abstraktion" ist sogar notwendig. Ebenso notwendig i6t aber die umgekehrte Einstellung auf die „Konkretion", die stets dazu führt, daß man den engeren Kreis eines Gebietes überschreitet und daß dieser Blick auf die Totalität des Wirklichen zu einem , , T r a n s z e n d e n z - M o t i v " wird, das in einem eindeutig bestimmten Zuge durch den ganzen Systemzusammenhang führt 1 . E s stellt sich dabei heraus, daß alle Sinngebiete sich g e g e n s e i t i g b e d i n g e n und d u r c h d r i n g e n , jedoch so, daß der Sinn der Bedingung tatsächlich, wie die prinzipielle Überlegung forderte, jeweils die Form des Sinngebietes annimmt, welches zum Bezugspunkt des Ganzen gemacht wird. Trotz dieser Relativität scheint es nicht möglich zu sein, jedes Gebiet nach Belieben als Zentrum zu behandeln. Der „Bezugspunkt" selbst steht,wie Görland in seiner Systematik zu zeigen sucht, jeweils dem Problem der konkreten Wirklichkeit näher oder ferner. Freilich in allen Fragen aus dem Gesichtswinkel eines bestimmten Sinngebietes ist dessen Gesetzlichkeit die e i n z i g e und l e t z t e n t s c h e i d e n d e Instanz: mathematische Fragen können selbstverständlich nur mathematisch, biologische nur biologisch, juristische nur juristisch usw. gestellt und gelöst werden. Aber das , , W i r k l i c h e " , auf das eine jede konkret gerichtete Frage zielt, ist stets „komplex", d. h. m e h r a l s n u r m a t h e m a t i s c h , b i o l o g i s c h , j u r i s t i s c h usw. und v e r l a n g t , daß man es v o n a l l e n S e i t e n ansehe: D i e A u t o n o m i e d e r S i n n g e b i e t e d a r f n i c h t in A u t o k r a t i e a u s a r t e n ! Für die Richtigkeit dieses Gedankens ließen sich unzählige Beispiele aus dem Leben erbringen. Vieles, was man einer zügellosen, „entfesselten" Wirtschaft, einer „lebensfremden" Jurisprudenz, einer „schematischen" Erziehung, einer „asketischen" Religion, einem „rücksichtslosen" Egoismus, einem „verantwortungslosen" Asthetentum und anderem vorwirft, hat in der Wirklichkeitsblindheit isolierender Abstraktion seine Wurzel. Der „Denkende", der „Wollende", der „Genießende" mag und muß vielleicht immer oder doch zunächst einen beschränkten Standpunkt einnehmen: d e r , , E x i s t i e r e n d e " k a n n es nur auf die Gefahr hin, sich selbst dabei zu verlieren. 1

Dieses kann als Einschränkung, aber zugleich Rechtfertigung der systembildenden Faktoren in G ö r l a n d s „Religionsphilosophie" angesehen werden.

— 96 — Über diese Totalität der „Form" zu wachen, ist Aufgabe der kritischen P h i l o s o p h i e . 2. Die

Aufhebung.

In der Arbeit an den systematischen Problemen steht nun, wie aus den Voraussetzungen der Systematik autonomer Sinngebiete hervorgeht, der Philosophie keine andere Methode zur Verfügung, als die, welche in den allgemeinen Begriffen und Grundsätzen der Systematik selber angelegt ist. Sie ist gewissermaßen nur die Besinnung auf den Zusammenhang, in welchen die autonomen Gebiete sich selber ordnen und einfügen; es ist n i c h t ihre Aufgabe, ihn erst aus einer „ a b s o l u t e n " , d.h. durch keine transzendental-kritische Orientierung an der phänomenologisch-vorliegenden Erfahrung (Kants „Faktum" der Erf.) bedingten Methode zu s c h a f f e n . Sie wird keine andere systematische Ordnung kennen als die, welche durch die Sinngebiete selbst gestiftet wird. Gerade diese Vorsicht wird sie davor bewahren, Ausdrücke wie „Fundierung", „Schichtung", „Überordnung", „Konkretion" usw. selbst wieder n u r e i n s e i t i g , d. h. z. B. nur im Sinne der „Logik" zu verstehen. Da sie aber solche Begriffe doch nicht entbehren kann, die den f o r m a l e n Gleichklang der durchgehenden Systematik erfassen, so wird sie ein Wort suchen, in welchem derselbe möglichst allgemein zum Ausdruck kommt. Dieses Wort dürfte der von H e g e l eingeführte Terminus „ A u f h e b u n g " sein. Die Aufhebung hat nach Hegel drei Bedeutungen: den der Vernichtung (tollere), der Emporhebung (elevare) und der Bewahrung (conservare). Er schreibt darüber in der Logik 1 : „ A u f h e b e n und das A u f g e h o b e n e (das Ideelle) ist einer der wichtigsten Begriffe der Philosophie.... Was sich aufhebt, wird dadurch nicht zu Nichts. Nichts ist das U n m i t t e l b a r e , ein Aufgehobenes dagegen ist ein V e r m i t t e l t e s ; es ist das Nichtseiende, aber als R e s u l t a t , das von einem Sein ausgegangen ist. Es hat daher die B e s t i m m t h e i t , a u s der es h e r k o m m t , noch an sich. — A u f h e b e n hat in der Sprache den gedoppelten Sinn, daß es soviel als auf1

H e g e l , „Wissenschaft der Logik", herausgegeben v. G. Lasson, bei Meiner, Leipzig 1923; 1. Teil, S. 93, Anmerkung.

— 97 — bewahren, e r h a l t e n bedeutet und zugleich soviel als aufhören lassen, ein E n d e m a c h e n . Das Aufbewahren selbst schließt schon das Negative in sich, daß etwas seiner Unmittelbarkeit und damit einem den äußerlichen Entwicklungen offenen Dasein entnommen wird, um es zu erhalten. — So ist das Aufgehobene ein zugleich Aufbewahrtes, das nur seine Unmittelbarkeit verloren hat, aber darum nicht vernichtet i s t . . . Für das spekulative Denken ist es erfreulich, in der Sprache Wörter zu finden, welche eine spekulative Bedeutung an ihnen selbst haben; die deutsche Sprache hat mehrere dergleichen. Der Doppelsinn des lateinischen: tollere . . . . geht nicht so weit: die affirmative Bestimmung geht bis zum Emporheben". Wir glauben, daß der Hegeische Begriff der „Aufhebung", der in dieser Formulierung eine Allgemeinheit besitzt, welche es gestattet, ihn a u c h l o s g e l ö s t von der d i a l e k t i s c h e n Methode Hegels zu verwenden, geeignet sei, gerade die systematischen Probleme, von welchen die Rede war, zu bewältigen oder doch mindestens zu fördern. Der Gedanke der einfachen Überordnung „konkreterer" Gebiete über „abstraktere" genügt nämlich noch nicht, um den komplizierten, phänomenologisch aufweisbaren Verhältnissen gerecht zu werden; das ließ sich bereits bei den Problemen der Erkenntnistheorie zeigen. Der Begriff der Aufhebung bringt uns einen Schritt weiter und löst zugleich die Schwierigkeiten der Systematik autonomer Gebiete. Mit dem Eintritt in ein „höheres" Sinngebiet wird zunächst das frühere negativ aufgehoben, d. h. in seiner Bedeutungslosigkeit, sofern es a b s t r a k t und i s o l i e r t gesetzt wird, durchschaut und beiseite gesetzt. Das neue Sinngebiet erweist sich aber gerade als das „höhere" dadurch, daß es jenes wiedersehen, wieder-holen k a n n , j a , zur völligen Bestimmung seiner Gegenstände selbst sogar involvieren muß. Das untere Gebiet wird also auch in das konkretere „hinaufgehoben" werden; diese Hinaufhebung ist eine Sonderrichtung des höheren Sinngebietes selbst. Das Resultat ist schließlich die Bewahrung des emporgehobenen Gebietes, welches nun aber als „Moment" des neuen auch eine neue Bestimmtheit aus dessen Sinn heraus erhält. — Mit einem B e i s p i e l können wir zugleich den Anschluß dieser Überlegungen an die Erörterungen über die Erkenntnis herstellen: Der logische Sinnzusammen1

Noack

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98 —

hang , , N a t u r " wird negativ aufgehoben und der ethisch-praktische Sinnzusammenhang der „ G e m e i n s c h a f t " gesetzt. Von diesem wird in der „ N a t u r w i s s e n s c h a f t " als Forschung das logische Sinngebiet auf-bewahrt, so daß nun die z u g l e i c h ethischpraktisch (d. h. zunächst technisch-wirtschaftlich) hinaufgehobene „ N a t u r " als „ B a s i s " für die Welt der Arbeit und Handlung gelten kann. In dieser „ N a t u r " wird jetzt zwischen brauchbaren und unbrauchbaren, nützlichen und schädlichen, gegebenen und herstellbaren, erreichbaren und unerreichbaren.... „ D i n g e n " unterschieden. Aber nur soweit die „ N a t u r " aufbewahrt, d. h. wissenschaftlich erkannt ist, kann sie sicher „beherrscht" werden. Nur ein „Ausschnitt", nur eine A p p r o x i m a t i o n des logischen Sinngebietes in den ideellen Sachverhalten bildet die „ B a s i s " des teleologischen; eine Basis, welche zwar von der Forschung ständig erweitert wird, aber doch aller praktischen Handlung jeweils endliche Schranken setzt 1 . Bestimmend für die Approximation ist sogar die „ A u s w a h l " , die aus praktischen Gründen getroffen wird; doch braucht diese keineswegs in der Enge der wirtschaftlich-technischen „Interessen" zu liegen; die Erkenntnis kann auch „Selbstzweck" werden, besser: Mittel im Dienste des Selbstzweckes der Erweckung des „Geistes" im Menschen. Außer der Beschränktheit der „ B a s i s " ist ein zweites Moment für den systematischen Aufbau der Sinngebiete bedeutsam, nämlich die „ D u r c h d r i n g u n g " beider Sinngebiete in Gestalt eines „mittleren" aus der Formgebung der beiden. Dadurch verstärkt sich die Beurteilung und Bestimmung des hinaufgehobenen Sinngefüges aus dem Gesichtspunkt des aufhebenden gleichsam zu einem „ E i n b a u " oder einer „ I n v e s t i e r u n g " desselben in jenes. In unserem Beispiel steht an dieser Stelle die T e c h n i k und als Erzeugnis ihrer die Natur p r a k t i s c h zubereitenden U m b i l d u n g finden wir das G e r ä t oder das W e r k z e u g . Man nennt es auch wohl „Mittel" im Zweckzusammenhang der Handlungen; aber gerade, weil der ethisch-praktische Zweckzusammenhang 1

Eine a n d e r e „Beschränkung" ist es natürlich, wenn wir das logische Sinngebiet selbst eine „Abstraktion" der Wirklichkeit nennen. Denn die Beschränktheit liegt dann darin, daß es die W i r k l i c h k e i t n u r a l s l o g i s c h e ist, d. h. zwar in vollem „Umfang", aber nicht in ihrem „Vollgehalt", wie man auch sagen könnte.

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ein solcher von H a n d l u n g e n ist, so sollte man genauer unterscheiden zwischen dem „Mittel" als rein praktischer „Handlung" im Dienste eines Zweckes und einem Mittel als dinglichem „Ger ä t " , das dem Vollzug solcher Handlung als Vehikel dienen kann. Prinzipiell liegt hierzu kein Unterschied vor, wenn auch Natur-» wesen, wie Tier und Mensch, als „ G e r ä t " fungieren, aber an , , k ü n s t l i c h e n " Werkzeugen wird das Gemeinte sich besser darstellen lassen. F r e y e r 1 u. a. haben das Gerät zu den Formen des „ o b j e k t i v e n G e i s t e s " gerechnet; dieser Ausdruck ist trotz der z. T. feinen Unterscheidung der mannigfaltigen Formen doch zu allgemein, um systematische Klarheit zu bringen. Was in diesen und ähnlichen Theorien „Gegenstand" oder „Objektivierung" genannt wird, ist zunächst weder identisch mit dem von uns gebrauchten Begriff der „Gegenständlichkeit" noch mit dem der Objektivität, sondern bezieht sich meist n u r auf logisch-theoretische Gegenstände, und zwar im Kontrast zu „geistigen" Sinngehalten, also auf Gegenstände als „Dinge der Natur". Ebenso vieldeutig ist das Wort „ G e i s t " , und es ist im Einzelfall immer erst festzustellen, in welchem Sinne es von einem Denker gemeint ist; in der Mehrzahl der Fälle wird maxi finden, daß die Scheidung von „ G e i s t " und „Natur"' sich mit der von „geistigen" und „materiellen" Wertgebieten kreuzt und daß die Ansichten über alle diese Abgrenzungen erheblich schwanken. Ist z. B. die Wirtschaft ein geistiges oder ein materielles Gebiet? „Geistig" und der Gegenbegriff dazu gehören ohne Frage zu s y s t e m a t i s c h o r d n e n d e n B e g r i f f e n , aber eine absolute, unverschiebbare Grenze an einer bestimmten Stelle des Systemzusammenhanges der Sinngebiete ziehen sie nicht. Wir kommen noch darauf zurück. F r e y e r nennt auch die , , S o z i a l - F o r m " eine „ K a t e g o r i e " des objektiven Geistes; sicher ist auch an den empirischen Sozialformen vieles eine Angelegenheit der bloßen „ T e c h n i k " des sozialen Lebens; es würde also — bei allen Unterschieden von den Geräten des wirtschaftlichen Lebens — in dieselbe Klasse mit jenen gehören. Andererseits ist die „ S o z i a l f o r m " a l s G e m e i n s c h a f t gerade das System der praktischen, ethischen Sinngebung 1

H. F r e y e r , „Theorie des objektiven Geistes", Teubner 1923. S. 48ff. 7*



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selber. Es macht sich hier, wie auch bei anderen Problemen, ein gewisser Mangel der Freyerschen Theorie über das Verhältnis von „Sinngehalt" und „Formgebung" bemerkbar, der sich wohl daraus erklärt, daß Freyer in erster Linie die „ s y m b o l i s c h e " F o r m g e b u n g vor Augen hat, die trotz ihres Zusammenhanges mit Sphären- und Stufensystematik doch die B e r ü c k s i c h t i gung einer weiteren s y s t e m a t i s c h e n Dimension verl a n g t (so vor allem auch das „ Z e i c h e n " und das „ G e b i l d e " , während man in d e r , , B i l d u n g " im Sinne Freyers noch technische Elemente antreffen würde). Mit diesen Andeutungen eilen wir freilich dem gegenwärtigen Stande unserer Untersuchung voraus; die eingehende Behandlung dieser Probleme muß einer späteren systematischen Darstellung vorbehalten bleiben; sie kann innerhalb der vorliegenden Arbeit nur in Umrissen, soweit es zum Verständnis formaler Fragen und Antworten nötig ist, erfolgen. Es war schon davon die Rede, daß die Hauptgebiete sich gegenseitig b e d i n g e n und daß diese Bedingung eine verschiedene Bedeutung hat, weil sie von der Gesetzlichkeit der autonomen Gebiete abhängig ist. Stets ist das aufgehobene Gebiet i m b e s o n d e r e n S i n n e des aufhebenden Gebietes dessen (als „negative Bedingung" 1 vorausgesetzte) Basis. Auch die Bedingung des unteren Gebietes durch das obere, die in der Aufhebung liegt, nimmt stets s p e z i f i s c h e Formen an; schon aus diesem Grunde, aber auch, weil sie ebenfalls negativ 2 ist, kann man nicht einmal ein aufgehobenes Gebiet aus dem „höheren" ableiten. Endlich läßt die Doppelrichtung der Bedingung sich als „ K o r r e l a t i o n " auffassen, die nun je nach dem systematischen Standort anders interpretiert zu werden pflegt. Einen deutlichen Hinweis darauf haben wir in den vielen s y s t e m a t i s c h o r d n e n d e n Begriffspaaren, von denen einige bereits genannt wurden; sie seien hier einmal im Zusammenhang aufgeführt. Es gehört zu ihnen vor allem das Begriffspaar k o n k r e t - a b s t r a k t selbst, das wir hier (und gerade in dem Sinne, wie wir es hier, dem Gefühl der Sprache entsprechend) gebraucht haben. Ferner sei erinnert an das Begriffspaar s u b j e k t i v - o b j e k t i v , das sich ebenfalls sphären-systematisch verwenden läßt und dann 1 3

Nämlich ratio e s s e n d i , sine qua non! Nämlich ratio c o g n o s c e n d i , sine qua non.



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aus Gründen, denen wir noch nachzugehen haben, eine richtunggebende, ordnende Funktion verrät 1 . Auch die Begriffspaare S t o f f und F o r m , E r s c h e i n u n g und D i n g a n s i c h , N o t w e n d i g k e i t - F r e i h e i t , sowie r a t i o n a l - i r r a t i o n a l (paradox),idealr e a l treten in dieser Bedeutung auf, neben welcher ihnen freilich auch noch eine andere zukommen kann. Sehr oft dienen dieselben Worte, mit denen die Korrelation von Gesetzlichkeit und Gegenständlichkeit bezeichnet wird, auch als Ausdruck für das systematische Verhältnis zweier Sinnschichten zueinander! Diese Unterschiede müssen natürlich genau beachtet werden; n u r dann können diese vieldeutigen Worte gesichert und in ihrer systematischen Funktion ausgewertet werden. 2 Auch wird man in der Sprache noch andere Wort- und Begriffsbildungen finden, die dieselbe ordnende Funktion besitzen, oft mit einem gewissen W e r t u n g s - C h a r a k t e r , Sie treten meist dann auf, wenn irgend ein Sinngebiet isoliert und verabsolutiert wird. Von ihm aus werden dann übergeordnete, autonome Sinngebiete etwa als „bloße S u b l i m i e r u n g " oder „bloßer ideologischer Ü b e r b a u " abgetan. Sollen sie jedoch, — trotz ihrer Unbegreiflichkeit von d i e s e m Standpunkt aus —, anerkannt werden, so geschieht es mit Worten wie „Sphäre s u b j e k t i v e r W i l l k ü r und e m p i r i s c h e r Z u f ä l l i g k e i t " , Sphäre des , , I r r a t i o n a l e n " oder des „ T r a n s z e n d e n t e n " usw. Aus guten Gründen sind gerade geschichtsphilosophische Schriften reich an solchen Worten, deren Wahl f ü r den, welcher kritische Systematik erstrebt und die dogmatische Isolierung und Verabsolutierung einzelner Sinngebiete vermeiden will, höchst bezeichnend und aufschlußreich ist, weil sie oft ein richtiges Gefühl für systematische Verhältnisse verrät. Ein Bei1

Vgl. hierzu wieder A. G ö r l a n d , „Religions-Philosophie", S. 39ff., sowie N. H a r t m a n n , „Diesseits von Idealismus und Realismus". Kant-Studien X X I X , 3/4. 1924, bes. S. 199, 204. Die Relativierung, welche N a t o r p in seiner „Psychologie" diesen Begriffen angedeihen läßt, darf mit dieser Relativierang nicht verwechselt werden. * Man wird sich erinnern, daß z. B. „konkret" und „abstrakt" sowohl für ein Sinngebiet selbst wie für eine Behandlung desselben gesagt wurde. Jedes Sinngebiet ist systematisch der totalen Konkretion näher oder ferner, aber es kann abstrahiert und isoliert werden. Als nur „ k o m p l e x " erscheint die Gegenständlichkeit eines konkreteren Gebietes vom Standpunkt des abstrakteren.



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spiel f ü r viele möge noch a n g e f ü h r t werden, weil es zugleich f ü r die vorliegende U n t e r s u c h u n g v o n B e d e u t u n g ist. Gerade das Sinngebiet der R e l i g i o n wird v o n allen übrigen d a d u r c h abgegrenzt u n d unterschieden, d a ß m a n es das Gebiet des Aller-Innerlichsten, Subjektivsten, Konkretesten, der höchsten Freiheit, des Dinges a n sich, des Irrationalen, P a r a d o x e n , T r a n s z e n d e n t e n usw. n e n n t . E s setzt gerade u m dieser Q u a l i t ä t e n willen, sowie als Ansatzp u n k t u n d Basis seiner genuinen u n d a u t o n o m e n Probleme alle übrigen Sinngebiete v o r a u s ; w o h l g e m e r k t : als n e g a t i v e , nicht als positive oder „ k o n s t i t u t i v e " B e d i n g u n g ; denn die positiven Bedingungen der Möglichkeit religiöser E r f a h r u n g liegen in ihrer auton o m e n Gesetzlichkeit. Auch meinen wir d a m i t kein zeitliches Nacheinander der E r f a h r u n g , obwohl der Gedanke d a r a n n a h e liegt u n d es sich oft genug so v e r h ä l t ; ebensooft k a n n aber a u c h das U m g e k e h r t e der Fall sein, bzw. werden bei der E n t f a l t u n g des „ E r l e b e n s " meist alle Sinngebiete zeitlich z u g l e i c h ins Bewußtsein t r e t e n u n d sich aus ursprünglicher Verbundenheit erst langs a m lösen, dabei in ständiger Wechselwirkung u n d Verschiebung des Gleichgewichts; die systematischen Zuordnungs- u n d Bedingungsverhältnisse aber, welche hier b e h a n d e l t werden, h a b e n m i t zeitlichen Verhältnissen z u n ä c h s t gar nichts gemein, obwohl die Darstellung sich solcher Ausdrücke bedient. Ob u n d wie es jedoch z u g l e i c h zeitliche Verhältnisse sind, k a n n erst vers t a n d e n werden, wenn die S t r u k t u r der H a u p t g e b i e t e herausgearbeitet ist. Bevor wir zu diesem Problem übergehen, m u ß a b e r n o c h ein methodologisches Bedenken v o n Seiten der spekulativen Philosophie b e a c h t e t werden.

3. Die sogen, absolute

Methode.

Gegen die Konsequenzen, zu denen wir gelangt sind, ließe sich nämlich der E i n w a n d erheben, d a ß die Philosophie nicht in der Methodik der von ihr systematisch zu ordnenden Glieder gleichs a m „ b e f a n g e n " sei, sondern m i t einer a b s o l u t e n , s p e k u l a t i v e n M e t h o d e , die Besonderheiten jener erst setzend, ü b e r ihnen stehe. Diese Ansicht, welche schon der nachkantische Idealismus v e r t r a t , wird j e t z t energisch v o m Neuhegelianismus verfoch-

— 103 — ten 1 . Von diesem Standpunkt aus kann man der Gestaltenfülle der historischen Philosophie streng genommen nur dann gerecht werden, wenn man etwa mit H e g e l im dialektischen System der absoluten Idee den endgültigen Abschluß des Prozesses ihrer eigenen Selbstentfaltung erblickt, der höchstens in Einzelheiten noch verbesserungsfähig ist. Denn, einmal entdeckt und verwirklicht, dürfte die absolute Methode keines Irrtums mehr fähig sein. Auch müßte sie, nach ihrem rein deduktiven oder, wie L a s k es genannt hat, „emanatistischen" Verfahren, die autonome und induktive Erfahrung aller besonderen Methoden überflüssig machen oder leugnen. Auf diese Gefahr der Hegeischen Interpretation des Begriffes der „Aufhebung" hat man j a immer wieder hingewiesen; denn auch die Auskunft, daß der absolute Geist im existierenden Philosophen nur gedacht werde (als Idee) und nicht selber denke (in ihm denkend sei), dürfte kaum im Sinne Hegels sein, der doch gerade gegen diese grenzbegriffliche Denkweise Kants leidenschaftlich polemisierte. 4.

Kant.

Fragen wir also zunächst einmal, wie es um das Recht der letzteren steht. Bei K a n t ist der Begriff des „ u n e n d l i c h e n " oder „ i n t u i t i v e n " Verstandes ein Grenzbegriff der Erfahrung selbst, wie sich z. B. deutlich in den Worten ausspricht 2 , daß es gar nicht nötig sei, „zu beweisen, daß ein solcher intellectus archetypus möglich sei, sondern nur, daß wir in der Dagegenhaltung unseres diskursiven, der Bilder bedürftigen Verstandes (intellectus ectypus) und der Zufälligkeit einer solchen Beschaffenheit auf jene Idee (intellectus archetypus) geführt werden, diese auch keinen Widerspruch enthalte". Der Gegenbegriff des „unendlichen Verstandes" zu „unserem Verstände" dient nach Kant nur dazu, die Totalität des Erkenntnisprozesses und der Subsumption des Besonderen unter das Allgemeine, das nur ein, wie Kant sagt, „Analytisch-Allgemeines" ist, limitativ vollendet zu denken. Nur wenn durch das Allgemeine unseres Verstandes das Besondere be1

2

Vgl. den Aufsatz von G. L a s s o n i. d. Kant-Studien X X V I I , 1: „Kritischer und spekulativer Idealismus". Kritik d. U. § 77.

— 104 — stimmt wäre, dann könnte die Korrelation von Form und Inhalt, Regel und Gegenstand in einer intellektuellen Anschauung des Ganzen aufgehoben werden. Mit dem negativen 1 Begriff des unendlichen intuitiven Verstandes kommen wir jedoch 60 wenig über den Kreis unserer Erkenntnisart hinaus, daß vielmehr gezeigt wird 2 , Erkenntnis oder E r f a h r u n g a l s s o l c h e müsse n o t w e n d i g eine des endlichen, „ u n s e r e n " Verstandes sein; denn im unendlichen Verstände fiele das Moment der „Zufälligkeit" des Besonderen und damit der Charakter des empirisch-bestimmten Seins fort: die Korrelation von Denken und Sein, von Möglichkeit und Wirklichkeit im notwendigen Bezug der „Erkenntnis" wäre aufgehoben, aber im Sinne der Vernichtung. Für eine Philosophie, welche sich scheut, von der „Zufälligkeit" des Verstandes zu sprechen, weil sie fürchtet, damit zugleich die ihm mögliche Gewißheit zu verlieren; welche ferner glaubt, in der „transzendentalen" Methode selbst über jene Zufälligkeit hinausgekommen zu sein, die „schlechte Unendlichkeit" des Erkenntnisprozesses schließlich in der Vollendung des spekulativen Systems überwunden zu haben, muß natürlich der Begriff des intuitiven unendlichen Verstandes konstitutive Bedeutung gewinnen; (wenn auch nicht in den Einzelwissenschaften, so doch in der Philosophie). Zwei Motive sind es besonders, welche die nachkantischen Denker auf diesen Weg geführt haben, auf dem die innere Entwicklung der Philosophie dann konsequent bis zu Hegel fortgeschritten ist. Auch steht und fällt die Anerkennung der Resultate, wenigstens in der Gestalt, wie sie dargeboten werden, mit der Anerkennung oder Nichtanerkennung der ersten Voraussetzungen. E . C a s s i r e r hat in der Einleitung zum III. Bande seiner Geschichte des „Erkenntnisproblems" darauf hingewiesen, daß die Darstellung des Grundbegriffes der Synthesis als Einheit des Verschiedenen, des „Notwendigen und Zufälligen", der „Form und Materie" bei K a n t noch an manchen erheblichen Mängeln leidet. Alle diese Gegensätze, — so heißt es an jener Stelle —, „zielen schließlich auf eine neue Bestimmung des Allgemeinen und Besonderen ab. Die Kritik der reinen Vernunft sucht die Lösung 1 a

Vgl. „Kr. d. U.'\ Ausgabe Kehrbach, S. 284. Das tut freilich Kant selbst nicht expressis verbis, aber es ist die Bedeutung seiner Kritik.

— 105 — der Frage, die hierin liegt, in ihrer Lehre vom Schematismus der reinen Verstandesbegriffe.... Indessen leidet gerade die Theorie des Schematismus an dem Mangel, daß sie in der Form, in der sie zuerst auftritt, nur eine äußerliche Vermittlung darzubieten scheint, die zwar ein »Nebeneinanderwirken« von Sinnlichkeit und Denken allenfalls verständlich machen mag, die aber die innere wesentliche »Heterogeneität« zwischen beiden nicht versöhnt, sondern vielmehr verschärft.... Der Fortschritt, den die »Kritik der Urteilskraft« in der Auffassung des Zusammenhanges des »Allgemeinen« und »Besonderen« b e d e u t e t . . . . , tritt vor allem an e i n e m Punkte entscheidend h e r v o r . . . . Die Kritik der Urteilskraft hebt das Problem sogleich auf einen höheren Standpunkt, indem sie nach dem Grund und dem transzendentalen Recht der Besonderung der Verstandesgesetze selbst f r a g t . . . . Diese »Gesetzlichkeit des Zufälligen« bringt der Gedanke der formalen Zweckmäßigkeit zum Ausdruck . . . . Wir sollen in der Voraussetzung der »Angemessenheit der Natur für unseren Verstand« an keiner Stelle und vor keiner noch so weit gehenden empirischen Besonderung halt machen: aber der Schluß von dieser ihrer Verstandesgemäßheit auf einen obersten intelligenten Urheber ist uns verwehrt. Nur in der Sprache des »Als ob« ist eine derartige Verbindung möglich. Überschreitet man indessen einmal die schmale und scharfe Grenzlinie, die hier K a n t und L e i b n i z trennt, so steht man wiederum genau auf dem Punkt, an dem der »abstrakte« und diskursive Verstand des Kategoriendenkens sich zum intuitiven Verstand und zur Schau der Ideen erweitert" 1 .

5. Nachkantische

Philosophie.

Die nachkantische Philosophie hat der Versuchung, nach einer solchen intuitivenErkenntnis zu greifen, nicht widerstehen können. Anstatt die fruchtbaren Gedanken Kants in der von ihm selbst vorgezeichneten Richtung weiter zu führen, also die Lehre vom S c h e m a t i s m u s so auszubilden, daß in ihr die Besonderungsprinzipien der Kategorien, und in der „Restriktion" auf die Mannigfaltigkeit spezifischer Anschauung wahrhaft die Bedingung der 1

E. C a s s i r e r , „Das Erkenntnisproblem", III. S. 15—16.



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„Realisation" der Kategorien aufgewiesen wurde, suchte man die Mannigfaltigkeit aus der Einheit, das Besondere aus dem Synthetisch* Allgemeinen h e r v o r g e h e n zu lassen. Zweifellos kam nun als zweites Hauptmotiv dieser Entwicklung der nachkantischen Philosophie der Gedanke hinzu, die S y s t e m a t i k der Vernunft z u g l e i c h zum Ausdruck r e l i g i ö s e r Wahrheiten zu erheben, eine Tendenz, die ebenfalls bei H e g e l ihre Vollendung findet. Eng damit zusammen hängt es, daß auch andere als nur logische Gesichtspunkte f ü r erkenntnistheoretische Probleme maßgebend werden. Es ist interessant und aufschlußreich, zu beobachten, wie jetzt wichtige neue Sinngebiete in den Bereich der idealistischen Philosophie gezogen werden, die bei K a n t entweder gar nicht oder doch n u r ungenügend in ihrer Autonomie waren gewürdigt und dem System eingegliedert worden, so vor allem die Religion, die Geschichte, der Mythos und die ästhetische Kultur. Darum mußte auch der dualistische A u f b a u des Systems allmählich einer reicheren Gliederung weichen. Die Geschichte dieser Versuche einer lebendigeren Systematik ist aber zugleich ein merkwürdiger i n d i r e k t e r B e w e i s dafür, daß unsere Behauptung, nicht eine absolute Methode, sondern die des i m m a n e n t e n A u f b a u s sei für die Systematik der Philosophie bestimmend, selbst da zu Recht besteht, wo ausdrücklich der Versuch mit einer absoluten Methode gemacht wird. Es sei deshalb an dieser Stelle kurz an die entscheidenden Systemgedanken jener Epoche erinnert. Es empfiehlt sich, wieder die Idee des „unendlichen Verstandes" bzw. ihrer Abwandlungen als Leitbegriff ins Auge zu fassen, weil ja die Möglichkeit der absoluten Methode auf ihr beruhen soll. 6. S. Maimon. Bei S. M a i m o n hat die Idee des unendlichen Verstandes methodisch den gleichen Ursprung wie bei K a n t , nämlich aus dem Problem der „Gesetzlichkeit des Zufälligen"; sie h a t auch im Wesentlichen dieselbe grenzbegriffliche Dignität. Aber Maimon zieht daraus eine skeptische Folgerung für die Vernunftkritik: denn diese k a n n nach ihm die Zusammenstimmung des Allgemeinen und Besonderen auf diese Weise niemals wirklich begreifen, sondern nur postulieren.

— 107 — 7. Fichte. F i c h t e k n ü p f t an die Skepsis von Maimon an. Mit ihm hält er an die Relativität der Erkenntnis fest. Sie folgt aus der Unabschließbarkeit des Prozesses der Herstellung einer Einheit von „ F o r m " und „Materie", welche nichtsdestoweniger gefordert werden m u ß ; denn die theoretische Unmöglichkeit der Erfüllung hebt den Sinn dieser Forderung nicht a u f ; mit ihrer Anerkennung steht und fällt sogar das Selbstbewußtsein. Es ist im Grunde ein p r a k t i s c h e s Sollen, das auch in der theoretischen Vernunft gebietet: die Mannigfaltigkeit des Besonderen wird als „Nicht-Ich" vom „ I c h " gesetzt, damit das Ich sich selbst in der gedanklichen Beherrschung des Nicht-Ich durchsetzen und behaupten kann. „Unsere Welt ist das versinnlichte Materiale unserer Pflicht". Das Prinzip, aus dem Fichte genetisch das Moment der Mannigfaltigkeit hervorgehen läßt, ist also t e l e o l o g i s c h . Indem er durch den P r i m a t des Praktischen auf eine „absolute Einheit der V e r n u n f t " zurückzugehen meint, glaubt er zugleich in dieser Einheit der Vernunft, die noch „ v o r " allen ihren Modifikationen liegt, die Urquelle gefunden zu haben, aus der jene sich wieder deduzieren lassen. Damit ist prinzipiell die Idee des unendlichen Verstandes f ü r die Philosophie als systematisches Ideal proklamiert worden, jedoch so, daß die „intellektuelle Anschauung" desselben nunmehr eine p r a k t i s c h - e t h i s c h e Bedeutung h a t und das theoretische Bewußtsein als p r a k t i s c h e Setzung aus dem praktischen hervorgeht. Ihren eigentlichen Abschluß und die letzte Verankerung findet die Fichtesche Systematik aber in den r e l i g i o n s - p h i l o s o p h i s c h e n Gedanken. Wir deuteten schon an, daß es gerade die religiösen Motive seien, die bei den Nachfolgern K a n t s zu einer neuen Fassung und Behandlung der Idee des Absoluten führten. Fichte nun k o m m t in seiner letzten Epoche auf die alte theologischspekulative Grundfrage zurück, wie das Eine, Absolute sich zum Vielen entfalte. Dieser Prozeß stellt sich für ihn dar im Verhältnis des göttlichen zum individuellen Bewußtsein; die Einheit der beiden ist das Enthaltensein des individuellen Selbstbewußtseins in der Totalität des einen, wandellosen göttlichen „Lebens", das als allgemeines Bewußtsein doch wieder mehr ist als die Summe



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seiner Teile. Dieser r e l i g i ö s e , mystische Gedanke wird damit zugleich zum tiefsten Einheitsgrunde der philosophischen S y s t e m a t i k , welche die Sinngebiete der Religion, der Sittlichkeit und der Erkenntnis umfaßt und zusammenhält. „ E s ist der größte Irrtum — so schreibt Fichte einmal 1 in konkreterer Ausdrucksweise — wenn ein Individuum sich einbildet, daß es für sich selber dasein und leben und denken und wirken könne, und wenn einer glaubt, er selbst, diese bestimmte Person, sei das Denkende zu seinem Denken, da er doch nur ein einzelnes Gedachtes ist aus dem Einen allgemeinen und notwendigen Denken". 8. Schelling. Wieder ein anderes, s p e z i f i s c h e s Verhältnis von Ganzheit und Teilgehalt ist es, das bei S c h e l l i n g zum Prototyp erhoben und als Einheitsprinzip der intellektuellen Anschauung im Sinne der Idee des intuitiven Verstandes ausgegeben wird: das der ä s t h e t i s c h e n Gestalt. Zunächst wird die Natur als gestalthafte Durchdringung des Idealen und Realen, als Ebenbild „der reinen Form unseres Geistes" angesehen und gedeutet. Nicht als Produkt, wie Fichte lehrte, sondern als Produktivität, als natura naturans, als Subjekt gilt es sie zu betrachten. Die Idee des O r g a n i s m u s verbindet zugleich die beiden Reiche der Natur und des sich überordnenden Geistes, der als Potenzierung jener erscheint; sie ist in erster Linie eine ä s t h e t i s c h e Konzeption. Durch sie wird der „romantische" Charakter seiner Staats-, Kunst- und Religionsphilosophie bestimmt. Auch der in allen Epochen der sich fortwährend umwandelnden Schellingschen Philosophie als systembildender Faktor ausschlaggebende Begriff der „ P o t e n z " selber ist ä s t h e t i s c h e r Herkunft. Die einzelnen Sinngebiete werden als Stufen einer umfassenden Entwicklung der „Weltseele", der „Harmonie"(!) von Subjekt und Objekt, Bewußtem und Unbewußtem, Unendlichem und Endlichem dargestellt. Noch im „Identitätssystem" von 1801 ist die „ S c h ö n h e i t " die höchste geistige Potenz, in den „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums" (1803) gilt die , , P o e s i e " als Voraussetzung 1

Werke I I . S. 23 ff. (Grundzüge d. gegenw. Zeitalters.)

— 109 — der intellektuellen Anschauung spekulativer Philosophie. Freilich m u ß diese panästhetische Systematik bei ernsterer Behandlung r e l i g i ö s e r u n d religionsphilosophischer F r a g e n 'versagen. Die Probleme der Sünde oder des „Abfalls" v o n G o t t zersprengen den P a n t h e i s m u s ; aber indem n u n doch der Versuch u n t e r n o m m e n wird, den neuen Begriff v o m Absoluten z u m alleinigen Ursprung spekulativer Systematik zu machen, verschlingen u n d verquicken sich religiöse u n d philosophische Ideen in theosophischer Spekulation. Die Methode der philosophischen Systematik h a t ihre angebliche Absolutheit durch die Verallgemeinerung eines besonderen Sinngebietes u n d dessen Umbiegung f ü r ihre Zwecke erschlichen. 9. Hegel. H e g e l sah bekanntlich den Fehler der Schellingschen Philosophie darin, d a ß sie die „ V e r m i t t l u n g des Begriffs'' v e r s c h m ä h t habe. E r setzt der „ I n t u i t i o n ' ' seine Methode der begrifflichen E n t w i c k l u n g entgegen, wie sie vor allem in der „ L o g i k " geübt wird. Die absolute Methode wird also j e t z t auf die d i a l e k t i s c h e S e l b s t b e w e g u n g d e r B e g r i f f e gegründet. W i r müssen fragen, ob sie i m s t a n d e ist, sich dadurch als solche zu legitimieren, denn sie f ü h r t zweifellos v o n allen diesen Versuchen einer absoluten Systematik die größte Wahrscheinlichkeit m i t sich. I h r Grundgedanke ist j a der, d a ß jeder Begriff als bloßes „ M o m e n t " eines systematischen Ganzen über sich hinausweist u n d zur Vollendung im Z u s a m m e n h a n g der Gesamtheit, in der k o n k r e t e n Einheit der absoluten Idee, in der alle Momente aufgehoben sind, über alle Schritte des dialektischen Prozesses d r ä n g t . N u r i m Bezug auf das Ganze liegt ü b e r h a u p t die W a h r h e i t eines Begriffs. „ D i e wahre Gestalt, in welcher die W a h r h e i t existiert, k a n n allein das wissenschaftliche System derselben sein" 1 , wie Hegel sagt. Es würde zu weit f ü h r e n , wenn wir a n dieser Stelle die Bündigkeit der dialektischen Begriffsentwicklung i m Einzelnen nachprüfen wollten. Eine derartige K r i t i k ist des öfteren versucht worden, u n d m a n h a t d a n n meist b e h a u p t e t , d a ß die Selbstbewegung der Begriffe n u r eine Scheinbewegimg sei, u n d d a ß wenig1

H e g e l , „Phänomenologie des Geistes". Ausg. von A. Lasson in der Phil. Bibl. v. Fei. Meiner, Bd. 114, 2. Aufl. S. 5.



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stens die einzelnen dialektischen Schritte bereits den Begriff voraussetzten, zu dem sie doch erst führen sollten. Aber dieses Bedenken ist eigentlich kein Einwand gegen Hegels Behauptung. Denn er sagt ausdrücklich: 1 „Man muß zugeben, daß es eine wesentliche Betrachtung ist, daß das Vorwärtsgehen ein R ü c k g a n g in den G r u n d , zu dem U r s p r ü n g l i c h e n und W a h r h a f t e n ist, von dem das, womit der Anfang gemacht wurde, abhängt und in der Tat hervorgebracht wird. — So wird das Bewußtsein auf seinem Wege von der Unmittelbarkeit aus, mit der es anfängt zum absoluten Wissen als seiner innersten W a h r h e i t zurückgeführt. Dies Letzte, der Grund, ist denn auch dasjenige, aus welchem das Erste hervorgeht, das zuerst als Unmittelbares auftrat. — So wird noch mehr der absolute Geist, der als die konkrete und letzte höchste Wahrheit alles Seins sich ergibt, erkannt als am E n d e der Entwicklung sich mit Freiheit entäußernd und sich zur Gestalteines u n m i t t e l b a r e n Seins entlassend, — zur Schöpfung einer Welt sich entschließend, welc he alles das enthält, was in die Entwicklung, die jenem Resultate vorangegangen, fiel und das durch diese umgekehrte Stellung mit seinem Anfang in ein von dem Resultate als dem Prinzipe Abhängiges verwandelt wird. Das Wesentliche für die Wissenschaft ist nicht so sehr, daß ein rein Unmittelbares der Anfang sei, sondern daß das Ganze desselben ein Kreislauf in sich selbst ist, worin das Erste auch das Letzte und das Letzte auch das Erste wird. — Daher ergibt sich auf der anderen Seite als ebenso notwendig dasjenige, in welches die Bewegung als in seinen Grund zurückkehrt, als R e s u l t a t zu betrachten. — Der F o r t g a n g ferner von dem, was den Anfang macht, ist nur als eine weitere Bestimmung desselben zu betrachten, so daß das Anfangende allem Folgenden zugrunde liegen bleibt und nichts daraus verschwindet.... Durch diesen Fortgang dann verliert der Anfang das, was er in dieser Bestimmtheit, ein Unmittelbares und Abstraktes überhaupt zu sein, Einseitiges hat; er wird ein Vermitteltes, und die Linie der wissenschaftlichen Fortbewegung macht sich damit zu e i n e m K r e i s e . — Zugleich ergibt sich, daß das, was den Anfang macht, indem es darin das noch Unentwickelte, Inhaltlose ist, im Anfange noch nicht wahr1

H e g e l , „Logik," Philos. Bibl. Bd. 56, S. 55.

— 111 — h a f t erkannt wird, und daß erst die Wissenschaft, und zwar in ihrer ganzen Entwicklung, seine vollendete, inhaltsvolle und erst wahrhaft begründete Erkenntnis ist". Diese Sätze Hegels geben der kritischen Beurteilung seines Systems eine ganz bestimmte Anweisung, insofern jeder Versuch, Einzelheiten aus dem Gesamtzusammenhang desselben herauszugreifen, einzelne Schritte des großen Kreislaufes der dialektischen Bewegung zu isolieren und als solche zu prüfen, den Ansprüchen seiner Methode nicht gerecht werden kann. Hier ist mit bewundernswerter Kunst ein System errichtet, in welchem die Grundforderung jedes wirklichen Systems, daß nämlich alle seine Glieder oder Momente in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis stehen, scheinbar restlos erfüllt ist. Ob das der Fall ist, danach darf nun freilich gefragt werden. Denn es leuchtet ein, daß die Methode der dialektischen Bewegung e i n d e u t i g und h o m o g e n sein muß, wenn sie die vorgesetzte Einheit soll gewährleisten können. Um nun ein Beispiel für die Richtung einer solchen Kritik zu nennen, so m u ß offenbar der Schritt der sogenannten „ N e g a t i o n " ungeachtet aller inhaltlichen Verschiedenheit seiner Bedeutung doch formal-, oder besser gesagt: f u n k t i o n a l - g l e i c h a r t i g sein, wo immer er die Antithesis erzeugt. F ü h r t man aber diese Nachprüfung durch, so ergibt sich, daß die Antithesis durchaus n i c h t überall auf die gleiche dialektische Weise entsteht, sondern trotz sprachlich meist gleicher Formulierung die verschiedenartigste funktionale Bedeutung hat, z. B. die der bloßen Verneinung, des Widerspruches, des Gegensatzes, des Gegenpoles, des Kontrastes usw. Die Bedingtheit durch den Begriff der jeweiligen Synthesis in einem Dreischritt erweist sich als ein differenzierendes Motiv, insofern es den Sinn der Entgegensetzung, der Verneinung usw. modifiziert. Auf diese Weise ließe sich feststellen, d a ß u n d w i e die D i a l e k t i k s e l b s t ihren S i n n ä n d e r t , nämlich die M e t h o d e n v e r s c h i e d e n e r S i n n g e b i e t e nur unter äußerlich gleichem Titel und Schema r e p r ä s e n t i e r t . Ohne eine gewisse Einheitlichkeit der Begriffe wäre freilich nicht einmal dieses möglich, und es läßt sich nicht verkennen, daß die Begriffe des Hegeischen Systems in Rücksicht auf eine kontinuierliche dialektische Verknüpfung gebildet sind. Es muß also ein bildendes Prinzip zugrunde liegen, das alle Besonderungen der Sinngebiete



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und ihrer Begriffe miteinander vereinbar machte, indem es sie unter eine einzige, homogene Anschauung brachte. Und zwar mußte diese Anschauung als eine unbestimmte Auffassung des Ganzen der systematischen Detailarbeit vorausgehen. Die dialektische Ordnung aber, die zur systematischen Methode wird, muß das Charakteristikum dieser Anschauung und ihrer Objektivierung sein, die aber vielleicht gewonnen wurde aus der Problematik eines bestimmten Sinngebietes, ohne daß die Auffassungsweise selbst mit diesem identisch sein müßte. Nun ist es gewiß kein Zufall, daß Hegel als Erster von der „ W e l t a n s c h a u u n g " eines Menschen spricht, wenngleich er diese wie auch die Individualität noch nicht im Sinne einer originalen Einzigartigkeit versteht. Aber es lebt in ihm das Bewußtsein von der schöpferischen K r a f t des persönlichen Weltgefühles, das im vollendeten System seinen ruhenden Ausdruck sucht. So viel überpersönliche, sachliche Wahrheit nämlich auch in der Philosophie Hegels enthalten sein mag, ihre systematische Geschlossenheit und Einheitlichkeit verdankt sie doch der individuellen Anschauungsweise ihres Urhebers 1 . Es soll hier gar nicht behauptet werden, daß nur bei Hegel oder stärker bei ihm als anderen Denkern die persönliche Auffassungsweise systembildend gewirkt habe, sondern nur der Absolutheitsanspruch der spekulativ-dialektischen Methode bestritten werden. — Diese selbst ist ferner nicht nur ein Erbteil der Fichte-Schellingschen Philosophie, sondern sicherlich auch neu aus der unmittelbaren Anschauung einer Wirklichkeit und ihrer Probleme gewonnen worden, die von Anfang an im Mittelpunkt der Hegeischen Weltanschauung stand, nämlich der G e s c h i c h t e . I n ihr sah Hegel den Schauplatz des Kampfes widerstreitender Motive, welcher daraus hervorgeht, daß einzelne Ideen, sobald sie „isoliert und für sich gesetzt" werden, aus sachlicher Notwendigkeit ihre Wahrheit einbüßen, über sich hinausweisen, den Widerspruch oder Gegensatz herausfordern, der aber als solcher ebenso einseitig ist und mit der ersten Idee in einer höheren Einheit „aufgehoben" und „versöhnt" werden muß. Wieder ist es also die b e s o n d e r e Gestalt eines Ganzen und seiner Teilmomente, die als Prototyp zur Begründung eines Totalsystems des 1

Vgl. hierzu: W. D i l t h e y , „Jugendgeschichte Hegels", 1905, S. 155.

— 113 — absoluten Verstandes dient u n d seine Methode b e s t i m m t . Doch ist die Auffassung der geschichtlichen Welt selber zugleich r e l i g i ö s g e s t i m m t ; wenn die dialektische Synthesis als „ V e r s ö h n u n g " bezeichnet wird, so klingt hier deutlich die Spekulation des jungen Hegel über den religiösen Sinn der „ L i e b e " nach, aus der sich sein Begriff der S y n t h e s i s m i t der v o n K a n t so abweichenden Bed e u t u n g entwickelt h a t . „Die Liebe ist der höchste Ausdruck f ü r die zur E i n h e i t zurückstrebende Entzweiung" 1 . „ D a s Auseinanderfallen des Lebens in eine Mehrheit konkret persönlicher, voneinander geschiedener Sphären ist das F a k t u m , v o n dem die Religion a u s g e h t ; die Wiederherstellung des Lebens als einer Tot a l i t ä t des geistigen Seins, in welcher jener Unterschied aufgehoben u n d versöhnt ist, ist das Z i e l , dem sie z u s t r e b t " . — „ M a n versteht es n u n m e h r , — wieCassirer einmal schreibt —, inwiefern f ü r Hegel die Grundfrage seiner Religionsphilosophie zugleich den Ausdruck f ü r die idealistische Lehre als solche in ihrer höchsten E n t f a l t u n g u n d Vollendung bildet". Diese kurze E r i n n e r u n g a n die entscheidenden Systemgedanken u n d die eigentlichen systembildenden F a k t o r e n des spekulativen Idealismus m a g als historischer Beleg f ü r unsere Ansicht von der sogenannten „absoluten Methode" genügen. E s wäre eine anziehende u n d wertvolle Aufgabe, die Beurteilung des nachkantischen Idealismus aus diesen Gesichtspunkten in allen Einzelheiten gründlich u n d vollständig durchzuführen, zugleich ein kritischer Beitrag zu den Bemühungen, die großen E n t d e c k u n g e n u n d Gedanken jener philosophischen Epoche von Neuem zu begreifen u n d f r u c h t b a r zu machen. Denn m i t R e c h t werden dabei diese Grundfragen der Methode u n d des Systems als entscheidend angesehen. 10. Neuhegelianer.

(Lasson)

So ist denn auch in unserer Zeit der Gegensatz v o n transzendental-kritischer u n d spekulativ-absoluter Methode von Neuem hervorgetreten. Das Problem wurde von E . C a s s i r e r i m I I I . Bande seiner Geschichte des „ E r k e n n t n i s p r o b l e m s " in einer Gegenüberstellung von transzendentaler u n d dialektischer Methode behandelt. 1

Vgl. E. Cassirer, „Erkenntnisproblem" III. S. 289ff. 8

Noack

— 114 —

G. L a s s o n hat darauf vom Standpunkt des Neuhegelianismus in einem Aufsatz der „Kant-Studien" 1 eine Entgegnung gebracht, die hier insofern von einigem Interesse ist, weil sie den absoluten Idealismus formal zu begründen sucht. Es heißt darüber an entscheidender Stelle: „Die Kritik der Vernunft, die dieser absolute Idealismus übt, bleibt also nicht bei dem Feststellen von Schranken stehen, sondern wendet sich auch kritisch diesem Feststellen zu und findet den Grund dafür in der Selbsttätigkeit des Geistes, der, indem er sich Schranken zieht, über diese Schranken bereits hinaus und ihr eigener Schöpfer ist". Ferner: „Man kann die Tendenz der H e g e i s c h e n Philosophie gar nicht besser charakterisieren, als mit dem, was C a s s i r e r a l s die Methode der kritischen Philosophie bezeichnet: Die E i n h e i t der V e r n u n f t in ihren verschiedenen Grundrichtungen im Aufbau und in der Gestaltung der wissenschaftlichen, der künstlerischen, der sittlichen und der religiösen Welt als solche zu erweisen; das ist genau der Sinn des Hegelianismus. Das beherrschende und umfassende Prinzip, das Cassirer unter dem Namen des »eigenen Systemzweckes« bei Hegel ablehnt, das erkennt er hier unter dem Namen »Einheit der Vernunft« ausdrücklich an. Die Aufgabe nun, diese Einheit zu erweisen, ist offenbar nicht anders lösbar, als wenn gezeigt wird, daß und warum in der Vernunft jene verschiedenen Grundrichtungen begründet sind und wie sie tatsächlich zur lebendigen Einheit des sich als freie T o t a l i t ä t erfassenden Geistes zusammengehen" . . . . „Cassirer gibt freilich zu, daß auch Kants kritische Theorie »in der transzendentalen Einheit der Apperzeption einen höchsten Einheitsbegriff besitze, auf den sich alle Elemente der Erkenntnis.... gleichmäßig beziehen,« meint aber, daß von diesem, wie Kant sagt, höchsten Punkte, an den sich die Transzendentalphilosophie anknüpfen läßt, niemals die Vielheit der Formen d e d u k t i v herleiten werde. Wieweit Kant das begrifflich und methodisch für ungangbar gehalten, wieweit er es nur nicht mehr auszuführen vermocht hat, darüber brauchen wir hier nicht mehr zu r e d e n . . . . Wenn aber Cassirer in einer Weise, die als Modifikation der alten Anlagentheorie erscheint, eine oberste Einheitsfunktion der Vernunft mit der Begründung ablehnt, daß sich »die Einheit 1

G. L a s s o n , „Kritischer und spekulativer Idealismus", Kant Studien XXVII,1.

— 115 — der Apperzeption als ein Ineinander verschiedener Erkenntnisf u n k t i o n e n darstellt, v o n dem keine die erste u n d keine die letzte ist, weil sie sich alle k o r r e l a t i v d u r c h d r i n g e n « , so wäre daran zu erinnern, d a ß er gerade n u r die eine F u n k t i o n übersehen h£t, die er u n d alles p h i l o s o p h i s c h e D e n k e n beständig ü b t , die F u n k t i o n nämlich, m i t der jenes gegenseitige Sichdurchdringen der verschiedenen E r k e n n t n i s f u n k t i o n e n erkannt wird". Man f i n d e t also in diesen Sätzen von L a s s o n den an F i c h t e und S c h e l l i n g erinnernden Gedanken, daß die P h i l o s o p h i e s e l b s t eben jenen Begriff des i n t u i t i v - s y n t h e t i s c h e n V e r s t a n d e s entfalte, welchen sie in der Kritik der theoretischen Erkenntnis als bloßen Grenzbegriff hingestellt h a t t e . Nach Lassons Auffassung strebt der absolute Idealismus indessen nicht danach, den G e h a l t der ganzen W i r k l i c h k e i t , sondern n u r den des m ö g l i c h e n S y s t e m s derselben d e d u k t i v zu gewinnen, dieses aber als geschlossene Einheit, als T o t a l i t ä t .

11.

Kritizismus.

Dagegen h a t die „ E i n h e i t der V e r n u n f t " , von welcher C a s s i r e r spricht, zunächst die funktionale Bedeutung schlichter „Einheitlichkeit" u n d wird analytisch aus der Formen-Fülle der K u l t u r gewonnen, in der sich die einzelnen „Dimensionen" des Geistes gegenseitig d u r c h d r i n g e n , ähnlich wie die Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit besonderer Erfahrungsweisen. Auch der kritische Idealismus strebt nach ihm zur Einheit eines s y s t e m a t i s c h e n Zusammenhanges, aber sie ist ihm nicht als logisches Prius im Begriff der T o t a l i t ä t des absoluten Geistes gegeben, sondern als Idee einer korrelativen Ordnung gefordert, in der alle Einzelbestimmungen i m Gesamtsystem der „möglichen E r f a h r u n g " sich g e g e n s e i t i g h a l t e n und b e d i n g e n 1 . Indessen die Ausdrücke ,, G e s a m t s y s t e m " u n d „ g e g e n s e i t i g b e d i n g e n " weisen doch darauf hin, d a ß der Charakter der systematischen Einheit im Sinne des „Kritizismus" dem des „spekulativen Idealismus" nicht ganz entgegengesetzt sein k a n n . An der möglichen E i n d e u t i g k e i t des Zusammenhanges u n d der Bedingung der Methoden wird auch der Kritizismus fest1

Vgl. „Erkenntnis-Problem" III, 371 u. Anm. 1. (S. 372).

8*



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halten müssen. Vielleicht liegt es nur an der Fassung jenes T o t a l l i t ä t s b e g r i f f e s , der sowohl in der Idee des intuitiven Verstandes als auch im „Systemzweck" des absoluten Idealismus steckt, daß eine Einigung der beiden Richtungen, die ohne Zweifel berechtigte philosophische Motive vertreten, bisher nicht erzielt worden ist. Den S p i n o z i s m u s , gegen welchen K a n t sich wendet, wird man freilich ablehnen müssen. Bemerkenswert ist nur dabei, daß dieses Ideal der Deduktion aus einem „Synthetisch-Allgemeinen" so enge Verwandtschaft mit der religiösen Emanationslehre zeigt und oft genug deren Sprache redet. Diese Tatsache, sowie die Vorherrschaft je eines anderen spezifischen Totalitätsbegriffes in den nachkantischen Systemen erweckte in uns den Verdacht, daß die behauptete Reinheit und Absolutheit der philosophischen Systematik doch nur mit Hilfe jener erschlichen sei. Die „Intellektuelle Unredlichkeit", die darin läge, würde nach unserer Ansicht genügend kompensiert, wenn sie als unfreiwilliger Ausdruck für die E i g e n a r t p h i l o s o p h i s c h e r S y s t e m a t i k gedeutet wird, wie wir es oben versuchten. Auch die Gründe, welche L a s s o n anführt, könnten dieses Resultat nicht erschüttern. Es ist zwar richtig, daß das philosophische Denken bei jeder Grenzfeststellung von systematischer Bedeutung die Funktion der systematischen Einheit bereits voraussetzt. In dem Satz aber, daß der Geist, „indem er sich selber Schranken zieht, über diese Schranken bereits hinaus ist", hat die sprachliche Formulierung zu einem formalen Trugschluß geführt: den „problematischen" Gegenbegriff eines intuitiven Verstandes zum Zwecke kritischer Selbstbesinnung auf das Wesen des diskursiven Verstandes b i l d e n (und das allein ist hier „Besinnung des G e i s t e s auf sich s e l b s t " ) , heißt noch nicht, den intuitiven Verstand h a b e n . Die vorgebliche Absolutheit des philosophierenden Geistes kann kritisch nur die Bedeutung haben, daß der Geist in eben demselben Sinne frei und Herr seiner selbst wird, wenn er sich auf sein Gesetz besinnt, wie der sittliche Wille frei und unabhängig genannt wird, wenn er sich der eigenen „Form" unterwirft. Es bleibt also dabei, daß die kritische Philosophie nicht danach streben kann, „die Mannigfaltigkeit . . . , des geistigen Kulturbesitzes bis in die letzten Einzelheiten aus der Vernunft abzuleiten", 1 da ihre „wesentliche Ab1

C a s s i r e r , „Erkenntnis-Problem", S. 373.

— 117 —

sieht auf die E r h a l t u n g dieser Autonomie (sc. der Kulturformen) gerichtet ist". 1 Cassirer schließt seine Ausführungen darüber mit dem Satz: „Die konkrete Erfüllung und die konkrete Bewährung dieser Einheit aber glaubt sie nicht in den Begriffen irgendeines philosophischen Systems, sondern lediglich in der unabschließbaren Arbeit der geistigen Kultur selbst finden zu können, deren Wahrheit und Wirklichkeit sich nicht anders als im Tun und durch das Tun begreifen läßt". 2 Diesen Worten wäre zur näheren Bestimmung jenes „Tuns" vielleicht hinzuzufügen, daß der Philosophie wenigstens die bedeutsame Rolle darin zukommt, die Einheit direkt zum Thema zu machen und sie, wenn auch nicht „in den Begriffen irgend eines philosophischen Systems" zu f i n d e n , so doch in j e d e m System zu suchen, da ihre Arbeit mindestens einer der Hauptfaktoren jener „konkreten Erfüllung" selber ist. Die notwendige Auffindbarkeit der Einheit, wenn auch vielleicht nur in „unbeschließbarer Arbeit", muß in der Idee des Systems als des Richtpunktes aller philosophischen Bemühung festgehalten werden. 12. Die Geltung des

Systems.

Wenn aber überhaupt, wie in diesen Sätzen, die systematische Einheit als Ertrag eines „Tuns", als V o l l z u g s s i n n der geistigen Kulturarbeit angesehen wird, so darf man nicht vergessen, daß sie doch zugleich auch als V o l l z u g s b e d i n g u n g gedacht werden muß. Denn unabhängig davon, ob und wie z. B. das systematische Verhältnis dieser „geistigen Kultur" zur „Natur", beide als Stufen verstanden, vom Kulturbewußtsein selbst erfaßt und formuliert worden ist, „ b e s t e h t " es „ a n sich" und gerade auch in der Weise des Nicht-Objektiviertseins. Eine verbreitete philosophische Ausdrucksweise bedient sich zur Bezeichnung dieser „Idealität" des Wortes „ G e l t e n " ; aber dessen Hypostasierung ist verschiedentlich getadelt worden; man nahm mit Recht Anstoß an dem Begriff einer „Geltung an sich". Außerdem deckte man den Doppelsinn des Wortes „Gelten" auf: Einmal bezeichnet es die Weise der Beziehung einer Gesetzlichkeit auf eine Gegenständ1 2

C a s s i r e r , „Erkenntnis-Problem", S. 372. C a s s i r e r , „Erkenntnis-Problem" S. 373.



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lichkeit; d e n n es „ g i l t " jene „ f ü r " diese, d a r u m freilich nicht „ a n sich". Z u m a n d e r e n k a n n das Gelten eine psychologische Bedeut u n g h a b e n u n d die Beziehung einer W a h r h e i t , eines Sinngehaltes z u m Vollzug des „ E r l e b e n s " (im Bewußtsein) betreffen. Aber auch in diesem Falle ist es ein „ G e l t e n f ü r " ! Dasselbe Verhältnis, n u r in u m g e k e h r t e r R i c h t u n g gesehen, wird als „ I n t e n t i o n " bei der Beschreibung der objektivierenden A k t e des Bewußtseins in phänomenologischer Hinsicht aufgewiesen. Wir k ö n n e n desh a l b auch sagen, d a ß das T u n der geistigen K u l t u r „ i n t e n t i o n a l " auf die systematische E i n h e i t aller Sinngebiete gerichtet sei. D a n u n dieses „ I n t e n d i e r t s e i n " oder Gelten nicht allein u n d ganz den Sinn des Seins jener E i n h e i t ausmacht, sondern n u r ihre Aufgegebenheit als idealer Sachverhalt f ü r den Vollzug des K u l t u r bewußtseins, so zeigt sie sich hier in der Beziehung auf eine b e s o n d e r e S t u f e d e r B e w u ß t h e i t , auf die uns die erkenntnistheoretischen E r ö r t e r u n g e n bereits in ähnlichem Sinne a u f m e r k sam machten. Abermals b e r ü h r t diese U n t e r s u c h u n g j e t z t ihren entscheidenden P u n k t : Das P r o b l e m der „ D u r c h d r i n g u n g " des Seins der „idealen S a c h v e r h a l t e " u n d der „psychischen Erlebnisse", der „ I d e e " des e i n e n philosophischen Systems u n d der historischen Gestaltenfülle „psychologisch" bedingter Weltanschauungen. Unsere Aufgabe aber ist es, wie gesagt, die m e t a p h y s i s c h e Frage n a c h d e m Z u s a m m e n h a n g zweier Welten, der zeitlosen u n d der zeitlichen, d u r c h die t r a n s c e n d e n t a l k r i t i s c h e Frage nach der systematischen E i n h e i t a u t o n o m e r Sinngebiete u n d Dimensionen zu ersetzen. Wir f r a g e n nicht n a c h d e m Wechselwirkungs- u n d D u r c h dringungsverhältnis einer materiellen, ideellen u n d psychischen Substanz, sondern n a c h d e m Sinnbedingungs- u n d D u r c h d r i n gungsverhältnis einzelner S i n n s c h i c h t e n u n d Erlebensstufen der einen t o t a l e n , k o n k r e t e n Wirklichkeit. D e n n was jeweils in einem spezifischen Sinne „ W i r k l i c h k e i t " ist, k a n n nicht in irgendeinem „ a b s o l u t e n " Wirklichkeitssinne in „wirklichem" Z u s a m m e n h a n g m i t e i n a n d e r stehen. Die kritische Fragestellung verbietet es, d a ß ein einzelner Wirklichkeitssinn dogmatisch verabsolutiert werde. Von „ e i n e r " k o n k r e t e n Wirklichkeit zu sprechen, h ä t t e n u r d a n n eine kritische Berechtigung, wenn in ihrem Begriff j ede s p e z i f i s c h e W i r k l i c h k e i t bzw. „Gegenständlichkeit" aner-

— 119 — k a n n t u n d mitgesetzt wäre. Die Möglichkeit d a z u k a n n n a c h d e m P r i n z i p auxiliarer K o n t i n u i t ä t n i c h t i m Begriff j e d e r Gegenständlichkeit liegen, sondern n u r i n d e m der „erschöpfenden Grenzg e g e n s t ä n d l i c h k e i t " ; d e n n erst diese f ü g t als solche zu d e m unendlich k o m p l e x e n Gebilde, das f ü r die spezifizierende E r f a h r u n g „ d i e W i r k l i c h k e i t " ist, den letzten auf U b e r w i n d u n g der Spezifik a t i o n gerichteten Sinn hinzu. Alles andere, v o r a n die Gegenständlichkeit der e x a k t e n naturwissenschaftlichen Methoden, ist demgegenüber eine „ A b s t r a k t i o n " .

13. Subjektive oder objektive

Einheit?

Z u solchem Ergebnis scheint a u c h eine andere Überlegung zu f ü h r e n ; wenn m a n z. B. e r k a n n t h a t , d a ß die A r t u n d Weise, wie G o e t h e die N a t u r b e t r a c h t e t e u n d v e r s t a n d e n wissen wollte, prinzipiell von der Methode der Newtonschen N a t u r w i s s e n s c h a f t verschieden ist 1 , so k ö n n t e m a n z u n ä c h s t meinen, d a ß n u r eine v o n beiden Auffassungen u n d Erkenntnisweisen h a l t b a r sei; es ist möglich, d a ß die m a t h e m a t i s c h e Wissenschaft die N a t u r m i t rationalen Maßbegriffen „ v e r g e w a l t i g t " , w ä h r e n d eine m e h r gefühlsm ä ß i g e , i n t u i t i v e Beschreibung der P h ä n o m e n e u n d ihrer Gesetzm ä ß i g k e i t e n d e m Wesen der N a t u r viel n ä h e r k o m m t . E s ist aber a u c h möglich, d a ß die e x a k t e Wissenschaft eine „ o b j e k t i v e " E r k e n n t n i s der N a t u r ermöglicht, w ä h r e n d Goethes Methode ein n u r „ s u b j e k t i v e s " Bild von ihr e n t w i r f t . Vielleicht sind sie sogar beide falsch oder wenigstens „ m e n s c h l i c h - b e s c h r ä n k t " . Gegen eine dogmatische E n t s c h e i d u n g dieser F r a g e wendet sich die k r i t i s c h e E r k e n n t n i s t h e o r i e . Diese zeigt, d a ß es keine anderen Kriterien f ü r die O b j e k t i v i t ä t der E r k e n n t n i s gibt, als die innere Widerspruchslosigkeit, die Begründungsmöglichkeit u n d auf Eindeutigkeit gericht e t e B e s t i m m b a r k e i t des Gegenständlichen in den Methoden selbst. I s t der Sinn dieser O b j e k t i v a t i o n in zwei Methoden verschieden, so k ö n n e n sich ihre Sätze a u c h gar nicht widersprechen, selbst wenn sie in W o r t e n widersprechend klingen, d e n n ihr I n h a l t ist nicht derselbe. Die „ N a t u r " der einen ist nicht die „ N a t u r " der anderen, aber beide Naturbegriffe bestehen zu R e c h t . H a t m a n 1

Vgl. E. C a s s i r e r , „Idee und Gestalt", II. „Goethe und die mathematische Physik". — Berlin 1921.



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aber einmal diesen kritischen Standpunkt eingenommen, dann scheint es keinen Rückweg mehr zu geben zur naiven Auffassung vom Dasein einer irgendwie eindeutig bestimmten „Natur". Man dürfte streng genommen nicht einmal sagen, daß „die N a t u r " in jedem Falle aus einem bestimmten „Gesichtspunkt" gesehen werde; jedenfalls müßte man erst einen neuen Nachweis für die Berechtigung dieser Redeweise erbringen. Wie können überhaupt jene beiden und außer ihnen noch andere autonome Gesichtspunkte der Weltinterpretation eine E i n h e i t bilden, wenn diese nicht mehr im kritisch aufgelösten „Ding an sich" gesucht werden darf? Die „Revolution der Denkungsart" scheint freilich hier wieder den Schlüssel zu bieten: nicht in den Dingen, nicht in den Objekten liegt die Einheit, welche es verhindert, daß uns die Welt in einzelne zusammenhanglose Stücke zerfällt, sondern im S u b j e k t selbst, das alle diese Gesichtspunkte in sich, in der Einheit des I c h - B e w u ß t s e i n s vereinigt1. Diese subjektive Einheit ist es, welche den Schein eines identischen objektiven Substrats hervorruft, den der kritische Idealismus durchschaut und aufhebt. Mit dieser Auskunft kann man dennoch nicht zufrieden sein. Was versteht man eigentlich unter der subjektiven Einheit ? Zunächst ist jeder besonderen Methode eine besondere S u b j e k t i v i t ä t (als Inbegriff der Erkenntnisbedingungen) zugeordnet. Die „synthetische Einheit der transcendentalen Apperception" ist doch spezifisch verschieden von der Einheit des sittlichen Bewußtseins in der „Menschheit", von der Einheit des Ichbewußtseins der ästhetischen „Persönlichkeit" und erst recht von der des „psychologischen" Ichbewußtseins. Es taucht also dasselbe Problem der Einheit wieder auf, aber jetzt im Bereich der transcendentalen und phänomenologischen Subjektivität. Gewiß, „irgendwie" kann man für die transcendentale Apperception auch „Ich" setzen, denn sie entspricht in ihrer E i n h e i t durchaus dem, was das Ich im i n d i v i d u e l l e n , „empirischen" Bewußtsein bedeutet. Aber sie ist andererseits wieder das strikte Gegenteil eines solchen Ich, nämlich ein a l l g e m e i n e s , überindividuelles Subjekt, das „Ich der Wissenschaft", wie man wohl gesagt hat. 1

Vgl. die von N a t o r p gern zitierten Verse S c h i l l e r s : „Es ist nicht draußen, dort sucht es der Tor, es ist in Dir, Du bringst es ewig hervor!"



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Daß also das Ich der Wissenschaft, das Ich des sittlichen Selbstbewußtseins („die Menschheit in mir und dir") und das individuelle Ich eine Einheit bilden, ist uns zwar gewiß, (übrigens doch mehr im Sinne einer Aufgabe, als eines empirischen Faktums!), aber die t r a n s c e n d e n t a l e M ö g l i c h k e i t ist nicht ohne weiteres einzusehen, sie ist ein s y s t e m a t i s c h e s P r o b l e m . Aber dasselbe Problem hat noch eine andere Seite. Wenn nämlich der i d e a l i s t i s c h e S a t z , daß die Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung zugleich solche der Gegenstände der Erfahrung seien, wirklich zu Recht besteht, dann muß der subjektiven systematischen Einheit auch eine systematische Einheit der Objekte entsprechen, d. h. die verschiedenen Sphären der Gegenständlichkeit in den Sinngebieten müssen a u c h g e g e n s t ä n d l i c h eine Einheit bilden. Mit Beziehung auf das obige Beispiel also: die Natur der exakten Wissenschaften und die Natur in der Auffassungsweise G o e t h e s werden deshalb mit vollem Recht beide „ N a t u r " genannt, weil sie beide „die" Natur zum Gegenstand haben, freilich derart, daß sie nur j e e i n e S c h i c h t i h r e s v o l l e n S i n n g e h a l t e s repräsentieren. Die „ w i r k l i c h e " N a t u r steht nicht als „Ding an sich" hinter ihnen (in einem unzugänglichen „Jenseits"), sondern ist das konkrete P r o d u k t aller möglichen Sinngebungen, die sie auf ihre besondere Weise bestimmen. Daß und wie etwa eine derartige Systemeinheit autonomer Sinngebiete oder -Schichten denkbar und aufweisbar ist, haben wir gezeigt.

Dritter Teil.

System und Geschichte der Philosophie.

Erster Abschnitt

Das Verhältnis der Philosophie zu den besonderen Sinngebieten. 1. Immanente

Systematik.

Die philosophische Systematik kann, wenn sie der Forderung ihrer Immanenz Genüge tun, d. h. die Autonomie der Sinngebiete (Methoden) anerkennen und erhalten will, die konkreszierende Schichtung der Sinngebiete nur durch den Nachweis s p e z i f i s c h e r Aufhebung vollziehen. Für den Gesichtspunkt jedes Sinngebietes schließen sich die Glieder des Systems in der b e s o n d e r e n ihm e n t s p r e c h e n d e n Weise zusammen. Man kann darum der Philosophie in ihrer historischen Arbeit auch die Aufgabe stellen, alle nur möglichen Prinzipien systematischer Einheit zu entdecken, zu sichten, abzuwägen und in ihr Recht zu setzen. Denn mag es auch oft einseitig und unvollkommen genug geschehen sein, so bleibt es doch die Aufgabe des Historikers, die einzelnen Lösungsversuche begreiflich zu machen. Hierzu bedarf es eigener systematischer Arbeit, die um so wichtiger wird, als zu leicht Besonderheiten der Lösung nicht genügend in ihrer allgemeinen Bedeutsamkeit gewürdigt, sondern gar zu schnell aus der Eigenart der betr. Denkerpersönlichkeit erklärt werden. Was es mit diesem „ E i n f l u ß " der Persönlichkeit auf die Gestaltung des Systemversuchs, von dem nun schon so oft die Rede war, für eine Bewandtnis hat, ist die wichtige Frage, deren Beantwortung uns im Folgenden beschäftigen wird.

2. Philosophie als

Blickrichtung.

Wir werden sehen, daß es erst daraus überhaupt verständlich wird, daß auch die P h i l o s o p h i e als ein „ S o n d e r g e b i e t " der geistigen K u l t u r erscheinen kann, was nach dem bisher Gesagten wie ein Widerspruch zu ihrer eigentlichen Bedeutung wirken muß. Denn es war doch ausdrücklich behauptet worden,



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die Philosophie habe k e i n autonomes G e b i e t der Erfahrung, sondern sei eine „Grenzangelegenheit" aller Sinngebiete, ihnen so durchaus immanent, daß ihr sogar eine absolute Methode energisch abgesprochen werden mußte. Es soll nun auch weiterhin an dem Ergebnis festgehalten werden, daß die Philosophie nur so viel, so weit und so tief sei, wie die Gesamtheit der Sinngebiete und jedes einzelne von ihnen. Es gibt für sie in ihrer eigenen Arbeit mit Bezug auf die Methoden jener Gebiete prinzipiell kein dogmatisches „Entweder-Oder", kein absolutistisches „Weder-noch", sondern nur ein kritisches „Sowohl-als-auch". Bedeutet schon die Ablehnung einer besonderen „absoluten" Methode und eines eigenen, allen spezifischen Methoden „jenseitigen" Gegenstandes der Philosophie die V e r w e r f u n g aller spekulativen „ M e t a p h y s i k ' ' , kann jedoch ebenso wenig von einer bloß „ a b r u n d e n d e n S y nt h e s e " der letzten Resultate aller Sonderrichtungen der Erfahrung in einer kompilierenden „Gesamtwissenschaft" die Rede sein (weil wir an deren Stelle einerseits die Idee einer erschöpfenden Grenz-Erfahrung, andererseits die Idee de6 Systems autonomer Sinngebiete gesetzt haben), so ist nun die übliche Ansicht, daß der Philosoph die Methoden der Einzelwissenschaften usw. „kennen" müsse, dahin zu berichtigen und zu vertiefen, daß überhaupt nichts anderes seine Aufgabe ist, als ihrer aller Zusammenwirken mit ihren Mitteln und in ihrem Dienste in einer ausdrücklichen Besinnung, die man die „ W i s s e n s c h a f t v o n den G r e n z e n " nennen kann, klar und deutlich zu machen und damit vielleicht als integrierendes Korrektiv zu wirken. Wenn man die Philosophie in diesem letzten Sinne als eine „ S o n d e r r i c h t u n g " im Gefüge der sinngebenden Funktionen ansieht, dann ist damit zugleich die Möglichkeit behauptet, daß diese S o n d e r r i c h t u n g in jedem S o n d e r g e b i e t eingeschlagen werden kann. Zunächst wird sie dann auch die Gestalt annehmen, die der Struktur des betr. Sinngebietes entspricht, in welchem sie sich als Korrektiv durchsetzt und geltend macht. Dieses eine Glied des Systems vertritt dann gewissermaßen in seiner philosophischen Blickrichtung das ganze System und zwar um so vollständiger und angemessener, je konkreter das Sinngebiet selber ist. Die Systematik k a n n freilich ihre Schranken dabei finden, p r i n z i p i e l l aber wird sie weder verfehlt noch verfälscht, wenn sie sich methodisch

— 127 — differenziert, weil sie allen Methoden i m g e n a n n t e n Sinne „ i m m a n e n t " ist. I h r Blick m u ß freilich auf die G e s a m t h e i t gerichtet bleiben, d e n n es ist ihre höchste A u f g a b e , t o t a l e E i n h e i t ü b e r der t o t a l e n Mannigfaltigkeit der Sinngebiete zu vollziehen, die systematische E i n h e i t a l l e r E r f a h r u n g , — ein P r o b l e m also, das ü b e r d e n Problembereich jeder einzelnen E r f a h r u n g als solcher h i n a u s f ü h r t — , in u n i v e r s a l e r Besinnung aufzuweisen u n d zu sichern. E s sei das deshalb noch einmal besonders hervorgehoben, d a m i t n i c h t der E i n d r u c k e n t s t e h t , als werde d u r c h unsere Auffassung v o n der „ I m m a n e n z " der Philosophie die „ G r e n z e " z w i s c h e n i h r u n d den e i n z e l n e n besonderen S i n n g e b i e t e n , z. B. d e n Einzelwissenschaften verwischt. I s t es doch nicht etwa unsere Meinung, d a ß das „ A p r i o r i " der besonderen Methoden „ d a s Philosophische" in ihnen, gleichsam ein „ L e i h g u t " aus dem Schatz philosophischer Grundbegriffe sei 1 . U n t e r der I m m a n e n z verstehen wir vielmehr die Voraussetzung oder den Möglichkeitsgrund der zu f o r d e r n d e n engen „ A r b e i t s g e m e i n s c h a f t " 2 v o n Philosophie u n d S o n d e r - E r f a h r u n g , eben der E r f ü l l u n g ihrer Aufgabe, d a ß „ t r o t z der Besonderung der Wissenschaften Einheit der K u l t u r , E i n h e i t des Erlebens möglich w e r d e " 3 . So wenig die P r o b l e m e der besonderen Methoden dieselben sind wie das Problem der Philosophie, so k a n n doch die B e s c h r ä n k u n g auf die P r o b l e m e j e n e r i m m e r n u r als Absehen v o n ihrer V e r b u n d e n h e i t m i t der G e s a m t h e i t , als eine „ A b s t r a k t i o n " aus d e m Totalsinn „wirklicher" E r f a h r u n g , die n i e z u r I s o l i e r u n g f ü h r e n darf, gelten. Weil deshalb die Philosophie als Besinnung auf diesen T o t a l z u s a m m e n h a n g n i c h t eigentlich ein neues „ G e b i e t " eröffnet 1

Vgl. dazu H. C o h e n , „Begriff der Religion", u. a. S. 9. P . N a t o r p , „Die Philosophie, ihr Problem und ihre Probleme" Kap. I. 2 Zum Ausdruck u. s. Bedeutung vgl. A. G ö r l a n d , „Religionsphilosophie", S. 32. 3 Vgl. A. G ö r l a n d , ebenda, ferner besonders den Vortrag , , N e u b e g r ü n d u n g der E t h i k a u s i h r e m V e r h ä l t n i s zu d e n b e s o n d e r e n G e m e i n s c h a f t s w i s s e n s c h a f t e n " . Phil. Vorträge des Kant.-Gesellsch. Nr. 19, Berlin 1918. Dort vor allem wichtig der Satz S. 28: „Philosophie ist Kritik der Wissenschaften, sie ist nicht selbst konstruktive Wissenschaft, und demnach fehlt ihr jegliches ursprüngliches Gebiet einer »Anwendung«"... Ferner Definition der „ W a h r h e i t " , S.41. Über „ S e p a r a t i o n " S. 39, „ i m m a n e n t e S y s t e m a t i k " , S. 43ff.



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(also genau genommen auch nicht von einer „ G r e n z e " zwischen ihr u n d den Gebieten gesprochen werden d a r f ) , k a n n m a n sagen, sie sei ihnen i m m a n e n t ; die Philosophie darf keine Methodik haben, die d e n besonderen Methoden „ w e s e n s f r e m d " ist. I h r e Besinnung ü b e r die Besonderung der l o g i s c h e n Methoden ist l o g i s c h e D e n k b e s i n n u n g ; über der Besonderung der ethischen Willensm e t h o d e n „Willensbesinnung" 1 usw. Die übergreifende E i n h e i t a u c h ü b e r diesen Sinngebieten stellt sich w i e d e r u m aus deren eigenem Geiste her, m u ß i h r e r s p e z i f i s c h e n Möglichkeit, Einheit zu vollziehen, a d ä q u a t sein. Das soll hier „ I m m a n e n z " bed e u t e n : die Philosophie ist „ d a s kritische G e w i s s e n der besonderen Wissenschaften, durch das deren Problem- u n d Methodenbesonderungen unausgesetzt auf den Weg der systematischen E i n h e i t a l l e r i n a l l e n geführt w e r d e ; u n d dieses, d a m i t die Ungeschiedenheit des u n m i t t e l b a r Gegebenen e r h ö h t zurückgewonnen werde in einer systematischen E i n h e i t alles dessen, was w e s e n h a f t u n d eigentlich ist. D a r a u s ergibt sich, d a ß die kritische Philosophie nicht mit einem formalistischen, theoretischen, rationalen D e n k i n s t r u m e n t an die m a n n i g f a c h e n Besonderungen der wissenschaftlichen Arbeitsweisen h i n a n t r e t e n k a n n , sondern in ihrer Methode, Einheit über aller Besonderung zu ermöglichen, den methodischen Besonderungen zutiefst n a c h s p ü r e n u n d s i c h z u e i g e n m a c h e n muß"2. 3. Andere Definitionen

der

Philosophie.

N u r u n t e r dem Vorbehalt der genannten Bedingungen k ö n n t e vielleicht die Philosophie als eine A r t „ G e s a m t w i s s e n s c h a f t " gedacht werden, d. h. als eine Vereinigung aller besonderen E r fahrungsweisen in einer vollendenden Synthese. W i r h a b e n eine kompilatorische Auffassung dieser Idee schon a n f r ü h e r e r Stelle ausdrücklich abgelehnt 3 . Die Philosophie b e s t e h t deshalb weder, wie E . M a c h will 4 , n u r „in einer gegenseitigen kritischen E r gänzung, Durchdringung u n d Vereinigung der Spezialwissens c h a f t e n zu einem einheitlichen G a n z e n " , noch, wie es die Ansicht W . W u n d t s 5 war, in einer „ Z u s a m m e n f a s s u n g der Einzel1 2 4 5

A. G ö r l a n d , 1. c. S. 14. 3 G ö r l a n d , 1. c. S. 14. Vgl. oben S. 126. E. M a c h , Populärwissenschaftliche Vorlesungen, 4. Aufl. S. 292. W. W u n d t , System der Philosophie, 1889, S. 2, 18.

— 129 — erkenntnisse zu einer die Forderungen des Verstandes und die Bedürfnisse des Gemüts befriedigenden Welt- und Lebensanschauung", oder endlich nach 0 . K ü l p e 1 in der „Ausbildung einer wissenschaftlich begründeten Weltansicht, die als Abschluß und Zusammenfassung der wissenschaftlichen Erkenntnis zugleich dem praktischen Bedürfnis nach einer Orientierung über die Stellung des Menschen in der Welt genügt". Wir stimmen eher W. Moog 2 zu, welcher meint, wenn die Philosophie Wissenschaft sui generis sein soll, dann „kann sie auch keine bloße Zusammenfassung, Ergänzung und Vollendung einzel-wissenschaftlicher Erkenntnis sein Sie muß eine systematische Selbständigkeit aufweisen, sie muß ihrer logischen Geltung nach u n a b h ä n g i g von den Einzelwissenschaften sein, ja sie muß ü b e r ihnen stehen". Er spricht sogar von einer Ersetzung der „latenten Metaphysik" der Einzelwissenschaften „durch eine i m m a n e n t e k r i t i s c h e P h i l o s o p h i e " , und sagt: „Ein solches Systemganzes aber darf nicht bloß als ein vielleicht nie erreichbares Ideal vorschweben, sondern es muß die notwendige I d e e sein, die den Einzelwissenschaften immanent ist, nach der sie sich richten müssen in ihrer Ausgestaltung, die selbst das logische P r i u s vor den Einzelwissenschaften darstellt". Obwohl diese Formulierung in vielem an unsere erinnert, weicht ihr Sinn doch in etwas von der hier vertretenen Auffassung ab. Es wird nämlich auch von der Philosophie gesagt, sie müsse „ein Gebiet von Problemen und demgemäß auch von Gegenständen besitzen, das ihr eigen ist". „ E s wird damit nicht etwa bloß eine f o r m a l e Allgemeinwissenschaft gefordert, sondern es wird hierdurch auch ein neues Gebiet der G e g e n s t ä n d l i c h k e i t gegenüber dem einzelwissenschaftlichen Standpunkt aufgewiesen. Das Allgemeine ist keineswegs eine bloße Zusammensetzung aus Einzelnem oder eine Abstraktion aus einer solchen Zusammensetzung, es ist als Allgemeines ein a n d e r e r Gegenstand als das Einzelne. Der Gegenstand der Philosophie ist daher gar nicht derselbe wie derjenige der Einzelwissenschaften, sondern jede Wissenschaft hat ihre besonderen Gegenstände und bestimmt durch sich erst den Charakter der 1 3

0. K ü l p e , Einleitung in die Philosophie, 7. Aufl. S. 365. W. M o o g , „Das Verhältnis der Philosophie zu den Einzelwissenschaften", Halle 1919 S. 15 ff. 9

Noack

— 130 — jeweiligen Gegenständlichkeit; der logisch-allgemeine Gegenstand aber, auf den sich die Allgemeinwissenschaft richtet, ist von dieser her bestimmt, ist ein besonderes Gebilde gegenüber dem Einzelnen, das nicht von diesem aus gerechtfertigt wird, sondern vielmehr das logische Prius vor ihm bedeutet, das noch keine Individualisierung und Konkretisierung erfahren hat. Das Einzelwissenschaftliche ist dem Philosophischen gegenüber Einzelnes, wenn es auch dem Empirisch-Wirklichen gegenüber als Allgemeines gilt: die Begriffe „Einzelnes" und „Allgemeines" sind relativ, die Philosophie aber geht auf das letzte Allgemeine, das Allgemeinste, das logisch zugleich das Erste ist". „Demnach h a t die Philosophie eine andere Sphäre der Gegenständlichkeit als die Einzelwissenschaften, die Sphäre der allgemein-logischen, rein theoretischen Gegenständlichkeit". Diesen Sätzen kann hier nur mit Vorbehalt zugestimmt werden. So richtig der Gedanke ist, die Beziehung von Philosophie und Einzelwissenschaft möglichst eng und intim zu gestalten (Begriff der „Immanenz"), so unbefriedigend ist doch der von Moog angegebene Versuch der Lösung des systematischen Problems. Die konsequente Durchführung des Gedankens ist auf halbem Wege stehen geblieben; das verraten Sätze wie der, daß der „logischa l l g e m e i n e Gegenstand" ein „ b e s o n d e r e s Gebilde" sei gegenüber dem „ E i n z e l n e n " , oder daß die Begriffe „Einzelnes" und „Allgemeines" relativ seien. Es fehlt nämlich die Angabe des jeweils entscheidenden, r e l a t i v i e r e n d e n Gesichtspunktes. Innerhalb jedes Sinngebietes stehen sich Allgemeines und Einzelnes k o r r e l a t i v als Gesetzlichkeit und Gegenständlichkeit gegenüber. W e l c h e r Inhalt als allgemein bezw. einzeln gilt, ist r e l a t i v , -d. h. hängt von der Wahl des Ausschnittes aus dem nach beiden Polen hin unbegrenzt zu erweiternden Sinnzusammenhang ab. Z. B. ist ein in seinen Verhältnissen bestimmtes Dreieck ein „Einzelnes" gegenüber dem Dreieck überhaupt, dieses aber wieder ein Einzelnes gegenüber dem Begriff des Polygons. Ferner wurde schon gesagt, daß man die G e g e n s t ä n d e v e r s c h i e d e n e r S i n n g e b i e t e voneinander wie „Allgemeines" u n d „Besonderes" unterscheiden kann, oder wie wir meist sagten: als „Abstraktes" und „Konkretes". Welche Beziehung stiftet hier die Unterscheidung? Es ist eine I n t e n s i v i e r u n g des Sinnes der Einzelheit dadurch, daß je eine Methode der Bestimmung des „Ein-

— 131 — z e l n e n " die a n d e r e i n v o l v i e r t , jener gegenüber also als eine gesteigerte E r f a s s u n g des Einzelnen erscheint, als eine A n n ä h e r u n g an d a s „ W i r k l i c h e " , d a s e i n in j e d e m S i n n e g a n z Bes o n d e r e s u n d E i n z i g e s i s t . E i n e „ a l l g e m e i n s t e " Gegenständlichkeit w ä r e in dieser H i n s i c h t tatsächlich eine „ b e s o n d e r e " in der Stufenfolge d e r Sinngebiete. Aber es w ä r e ganz u n d gar nicht die Gegenständlichkeit der Philosophie. E i n e d r i t t e U n t e r s c h e i d u n g v o n Allgemeinem u n d Besonderem scheint d a n n vorzuliegen, w e n n wir v o n den „ b e s o n d e r e n " Sinngebieten sprechen, deren „ a l l g e m e i n e s " S y s t e m der Philosophie z u m P r o b l e m werde. W o h l g e m e r k t : das S y s t e m ; d i e s e s selbst ist das Allgemeine u n d n i c h t w i e d e r ein besonderer, wenn a u c h „ a l l g e m e i n s t e r " G e g e n s t a n d , es sei d e n n , d a ß m a n z. B. den Begriff der „ G e g e n s t ä n d l i c h k e i t ü b e r h a u p t " oder die K a t e gorien einen „allgemeinsten G e g e n s t a n d " n e n n e n will. Die Bild u n g dieses Begriffes ermöglicht es freilich, v o n „ b e s o n d e r e n " Gegenständlichkeiten zu reden (insofern k ö n n t e m a n i h n also „logisches P r i u s " n e n n e n ) ; aber die S y s t e m a t i k b e r u h t n u n ganz u n d gar d a r a u f , d a ß er als „ G r e n z b e g r i f f " g e n o m m e n , i h m also n i c h t wieder ein „ G e b i e t " zugeteilt werde. D e n n n i c h t i n ihm, sondern n u r m i t i h m gibt es f ü r die Philosophie etwas zu e r k e n n e n : die E i n h e i t aller E r f a h r u n g , die nicht ü b e r oder n e b e n den besonderen M e t h o d e n , sondern n u r i n i h n e n , in ihrer G e s a m t h e i t liegen k a n n . W e n n v o n d e m „allgemein-logischen" Gegenstand gesagt w i r d : „ e r m u ß sich individualisieren u n d konkretisieren z u m E i n z e l n e n " 1 , so ist das z u m wenigsten m i ß v e r s t ä n d l i c h ausgedrückt u n d k ö n n t e sich höchstens auf die Besonderung der überregionalen K a t e g o r i e n , die ersichtlich keine d e d u k t i v e „Besonder u n g " ist, oder auf die Setzung des dialektischen Schrankenbegriffes des N i c h t s e i n s j e g l i c h e r B e s t i m m u n g (und Sonderung) ü b e r h a u p t beziehen 2 . D a v o n aber ist keine E r f a h r u n g u n d keine Wissenschaft, die ein „ G e b i e t " h ä t t e , möglich. Nach diesen A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n d ü r f t e das Verhältnis der Philosophie zu den besonderen Gebieten klar- u n d sichergestellt sein; eine Bedingung, die z u m V e r s t ä n d n i s des Folgenden unerläßlich ist. 1 2

W. M o o g , 1. c. S. 22. Vgl. den Begriff der „Urohngesondertheit", („Urmateriale") bei G ö r l a n d , „Relig.-Philos." S. 34ff. und des , , D a s e i n s " bei E. C a s s i r e r , „Philosophie der symbol. Formen", I. „Die Sprache" S. 51. 9*

Zweiter Abschnitt

Die „Subjektivität" der Philosophie. 1. Die geschichtliche

Gestalt als Angelegenheit

eines

Sinngebietes.

Zur Angabe der systematischen L ö s u n g s m ö g l i c h k e i t des Problems der Geschichtlichkeit der Philosophie, dessen L ö s u n g s b e d ü r f t i g k e i t mit Hilfe einer immanenten Systematik nach den einleitenden Erörterungen feststand, bedarf es noch der ausdrücklichen Besinnung auf die Methoden eines besonderen Sinngebietes, dem der auffallendste Charakterzug der geschichtlichen Philosophie, jene ihre Eigenschaft, die immer wieder zum Zweifel an ihrer „Wissenschaftlichkeit" f ü h r t , nämlich die zeit- und subjektbedingte, individuelle Gestalt der einzelnen Systeme, (die m a n deshalb „Weltanschauung" nennt), als Wesen der besonderen Gegenständlichkeit und Gesetzlichkeit angehört. Es muß sich dann zeigen, ob die hier in ihren Grundzügen entworfene Systematik und das Verhältnis der mit ihr identischen, darum den besonderen „Gliedern" des Systems in bestimmtem Sinne „ i m m a n e n t e n " Philosophie zu den besonderen Sinngebieten alle erforderlichen Bedingungen enthalten, um die „Antimonie", welche im Begriff der geschichtlichen Philosophie liegen soll, tatsächlich aufzuheben und durch eine vertiefte Einsicht in das Wesen der Philosophiegeschichte zu überwinden.

2. „Psychologische

Bedingtheit".

Auf den ersten Blick scheint es keinem Zweifel zu unterliegen, daß das Sinngebiet, das hier ins Auge gefaßt werden soll, mit den Problemen der P s y c h o l o g i e in viel engerem Zusammenhang steht, als das der Logik und Ethik. Denn es dürfte doch eine rein psychologische Frage sein, wie sich ein philosophisches System im Kopfe eines Denkers bildet und dementsprechend individuellsubjektiv ausfällt. Durch diesen Vollzug des an sich ideell vorgezeichneten Systems im Erlebniszusammenhang des psychologi-

— 133 —

sehen Subjekts erleidet es alle Beschränkungen, die die Eigenart desselben mit sich führt. Es liegt sogar nahe, auch den Gedanken irgendeiner ideellen Vorzeichnung, einer erstrebten oder nur möglichen Allgemeingültigkeit „des" Systems fallen zu lassen, und die Philosophie, gerade weil sie alle Probleme, auch die des Willens und Gefühls umspannen und lösen will, als ein rein psychologisches, also jeweils ganz und gar persönlich bedingtes Ergebnis anzusehen. Ihr Wert beruht dann nicht auf ihrer Allgemeingültigkeit oder auch nur auf einem Beitrag zu allgemeingültigen Lösungen, sondern in der Weite und Vollendung des A u s d r u c k s eines individuellen Weltgefühls, dargestellt in den Begriffen einer Weltanschauung. Ein Blick auf die Geschichte der Philosophie scheint dieses Urteil nur zu bestätigen. Es mögen freilich, wie das z. B. P a u l Menzer 1 einmal mit Recht hervorgehoben hat, „die Teile einer Philosophie in verschiedenem Maße verstandesmäßig oder gefühlsmäßig beeinflußt" sein. „So ist die Logik", wie er meint, „eine von ihrem Urheber völlig loszulösende Wissenschaft, wie denn der Name des Aristoteles mit seiner Schöpfung eben nur als Name zu verknüpfen ist. Anders liegen die Dinge schon bei der Erkenntnistheorie. Der eine Denker setzt dem Erkenntnisstreben Grenzen, über die der andere unbedingt hinauszukommen versucht".... „Vielfach spielen starke ethische Bedürfnisse hinein, die aus dem Freiheitsbewußtsein heraus die Gesamthaltung des Menschen zur Wirklichkeit zu bestimmen drängen. So ist der erste Schritt in diesen Systemen stark gefühlsmäßig beeinflußt. Darüber erhebt sich dann aber ein Aufbau des Ganzen, der kaum von diesem persönlichen Faktor wahrnehmbar beeinflußt ist. Man hat mit Recht gesagt, daß K a n t s Erkenntnistheorie ohne Kenntnis seiner Persönlichkeit verstanden werden könne. Besonders charakteristisch ist aber Ficht es Wissenschaftslehre, die vielleicht noch mehr als Hegels Logik das System zu einer Selbstentwicklung der Begriffe macht. Und nun denke man an die leidenschaftlich bewegte Seele Fichtes, die doch in diesen überabstrakten Gedankenbewegungen wie ausgelöscht erscheint". Der Gegensatz, daß der eine Denker die „höhere Bedeutung des Subjekts, der andere die des Objekts betont", auf den Menzer 1

P. M e n z e r , „Persönlichkeit und Philosophie". HallischeUniversitätsreden 14. Halle 1920. S. 16 ff.

— 134 — in der E r k e n n t n i s t h e o r i e „ I d e a l i s m u s " u n d „ R e a l i s m u s " glaubt z u r ü c k f ü h r e n zu k ö n n e n , l ä ß t sich n a c h i h m „ a u c h in der E t h i k verfolgen". „ E r t r i t t hier auf als N a t u r z w a n g d u r c h Sinnlichkeit u n d Gefühl auf der einen u n d freie W i l l e n s b e s t i m m u n g auf der anderen Seite" „ E i g e n a r t i g liegen die Dinge in der Ästhet i k . . . . Auch hier k e h r t der schon m e h r f a c h v e r w e r t e t e Gegensatz wieder, insofern eine empiristische Betrachtungssweise den ästhetischen Vorgang in n ä c h s t e Beziehung zu anderen Gefühlserlebnissen b r i n g t u n d höchstens d u r c h einen besonderen Erlebnisr e i c h t u m v o n ihnen zu unterscheiden sucht. Die idealistische Bet r a c h t u n g sieht dagegen in diesem Vorgang ein Bedürfnis der menschlichen N a t u r n a c h Vollendung ihres Wesens z u m Durchb r u c h k o m m e n u n d will n u n v o n d a aus das ästhetische Erlebnis n a c h seiner B e d e u t u n g f ü r einen höheren Menschentyp abschätzen . . . . " . Menzer f ä h r t n u n f o r t : „ D i e B e t r a c h t u n g der verschiedenen Disziplinen f ü h r t e m e h r f a c h zu einem Ausblick auf ihre B e d e u t u n g f ü r das G e s a m t s y s t e m , f ü r die W e l t a n s c h a u u n g . . . . J e n a c h d e m ursprünglichen Interesse k a n n ein F a k t o r überwiegen oder sie k ö n n e n in verschiedener Weise zur H a r m o n i e gebracht werden. Die persönliche E n t s c h e i d u n g wird eine m e h r oder weniger ausschlaggebende Rolle s p i e l e n . . . . Schließlich wird der Mensch in einer G r u n d s t i m m u n g , einem Lebensgefühl, Stellung z u m Dasein n e h m e n , er wird Optimist oder Pessimist sein. Die Philosophie h a t n u n a u c h in diesem Falle versucht, eine E n t s c h e i d u n g n a c h der einen oder anderen Seite hin systematisch zu b e g r ü n d e n . E i n höchst problematisches U n t e r n e h m e n ! " Sicherlich, u n d wie wir n a c h unserer Definition der Philosophie hinzufügen müssen, ein U n t e r n e h m e n , das gar nicht zu den eigentlichen P r o b l e m e n d e r wissenschaftlichen Philosophie gehören k a n n . Man wende n i c h t ein, das sei eben wieder eine „ s t a n d p u n k t l i c h e " Ansicht v o n der A u f g a b e der Philosophie! W i r erkennen es doch als unsere Aufgabe an, t r o t z der nachdrücklichen B e t o n u n g der Möglichkeit „wissenschaftlicher" Philosophie auch diese ihre „weltanschauliche" Seite zu bestätigen u n d zu rechtfertigen, da sie n u n einmal z u r Gestalt der geschichtlichen Philosophie u n t r e n n b a r gehört. M e n z e r sagt v o n der Philosophie 1 , „sie will die E r k e n n t n i s s e der 1

P. M e n z e r , 1. c. S. 5.

— 135 — Menschen über Welt und Leben zur Einheit einer Weltanschauung zusammenfassen". „Sie erhebt den Anspruch, neben einer rein wissenschaftlichen Erkenntnis oder noch über sie hinaus Aussagen zu enthalten, die die Seele des Menschen nach der Seite ihrer Gefühlsbedürfnisse erst wirklich zu befriedigen vermögen". E s braucht nicht noch einmal gesagt zu werden, wie wir über diese Behauptung urteilen; aber das ist nun sicher unsere Aufgabe, zu zeigen, wie sich diese fast allgemeine Ansicht erklären und würdigen läßt. Die Ausführungen Menzers beweisen schließlich selbst, daß die Wissenschaftlichkeit der Philosophie mit eigenen, höheren Ansprüchen auftritt. Er schreibt nämlich 1 : „Vielleicht ist es dieser Darstellung gelungen, die Bedeutung des persönlichen Faktors für die Philosophie prinzipiell und in gewissen Grenzen auch im Einzelnen festzulegen. E s muß aber dabei immer betont werden, daß die Aufgabe, seine Größe im Vergleich mit den anderen Faktoren abzuschätzen, in jedem Fall besonders gelöst werden muß. Versucht man nun einmal ein solch besonderes Problem zu bearbeiten, so erhebt sich eine neue Schwierigkeit. Sie entspringt aus dem Anspruch der Philosophie und der Philosophen, mehr als eine bloß individuelle Meinung gegeben zu haben. Eine Philosophie versucht sich zu beweisen, sie verlangt als richtig anerkannt zu werden. Und wenn in ihr Wissen und Gefühl zu einer Einheit gebracht werden sollen, so ist klar, daß von dem damit gegebenen persönlichen Faktor aus die Gefahr entsteht, daß jene angestrebte Geltung nicht erreicht wird. Die Folge davon muß eine eigentümliche Antinomie in der Seele des Philosophen sein. Er ist sich bewußt, seine letzten Einsichten aus der Innerlichkeit des Erlebens gewonnen zu haben, er muß aber doch alles daran setzen, seinen Lehren wissenschaftliche Form und Überzeugungskraft zu verleihen. Er muß eigentlich mit Bewußtsein einen Kampf gegen sich selbst, seine Persönlichkeit, die ihm als zufällig seiner Lehre gegenüber erscheint, führen". Der stärkste Ausdruck für diese Bemühung, die eigene Persönlichkeit ganz und gar auszuschalten, ist nach Menzers Ansicht die Behauptung einer unmittelbar gewissen Erkenntnisquelle, sei es des „mystischen Erlebnisses" (Plato, Plotin, Cusanus, Spinoza, Jacobi) oder der „künstlerischen 1

P. M e n z e r , 1. c. S. 21.

— 136 — I n t u i t i o n " (Bruno, Schlegel, Schopenhauer, Nietzsche) oder der „intellektuellen Anschauung" (Fichte, Schelling). E r sieht darin aber n u r wieder einen Beweis f ü r den „gefühlsmäßigen Ursprung" philosophischer Lehren. Jedoch zeigte sich — so schreibt Menzer weiter — „daß das philosophische Erlebnis den Charakter des Uberpersönlichen an sich trägt. Eine solche Erkenntnis stimmt aber mit dem aus der Fragestellung der Philosophie früher abgeleiteten Gedanken überein, daß diese als Wissenschaft sich beweisen müsse und deshalb auch wieder zu einem überpersönlichen Gelten ihrer Sätze zu gelangen suche. Nach alle dem scheint es begründet, eine in den letzten Jahrzehnten häufiger ausgesprochene Meinung abzulehnen, als könne und müsse die Lehre eines Philosophen ganz aus seiner Persönlichkeit begriffen werden", eine Ansicht, die sich im Anschluß an das Wort Nietzsches 1 gebildet h a t : „Allmählich h a t sich mir herausgestellt, was jede große Philosophie bisher war: nämlich das Selbstbekenntnis ihres Urhebers u n d eine Art ungewollter und unvermerkter memoires; insgleichen, d a ß die moralischen (oder unmoralischen) Absichten in jeder Philosophie den eigentlichen Lebenskeim ausmachten, aus dem jedesmal die ganze Pflanze gewachsen ist". N i e t z s c h e s Forderung, m a n müsse „mit dem Hammer philosophieren" wie ein Arzt, geht daraus hervor; sie wird von M e n z e r mit Recht in ihre Schranken zurückgewiesen 2 . E r macht darauf aufmerksam, wie auffallend wenig z. B. auch „äußere Schicksale die Lehren der Philosophen bestimmt haben". „Alles in allem sei es gar nicht richtig, Philosophen als Selbstbekenner ansehen zu wollen". Eine Philosophie gehe hervor aus einem Leben und einer Lebensstimmimg, die man gar nicht besser als mit den berühmten Worten Spinozas von derErkenntnis „sub specie quadam aeternitatis" beschreiben könne. „Denn . . . n u r dadurch dauert ein Denker, daß er das eigene Ich zum Allgemeinmenschlichen zu erweitern vermag". 1 2

Fr. N i e t z s c h e , „Jenseits von Gut und Böse". Es soll damit aber nicht der an sich fruchtbare Gedanke Nietzsches von der „Entlarvung" der „Selbsttäuschungen", des „Ressentiments" usw. verkannt werden.

— 137 — 3. Typologie

der

Weltanschauungen.

In Richtung dieses letzten Gedankens liegen n u n Versuche, die ebenfalls in neuerer Zeit häufig unternommen wurden, den überindividuellen Geltungsanspruch der Philosophie zu respektieren, indem man (wie es auch in den Ausführungen Menzers zu sehen war), die Momente der Allgemeinheit und Individualität sich in einer Mitte begegnen und vereinigen läßt, nämlich in dem Begriff des „ T y p u s " oder der „ t y p i s c h e n G e i s t i g k e i t " . Wir denken hier natürlich in erster Linie an die Arbeiten von D i l t h e y , S i m m e l , H . N o h l u n d K . J a s p e r s , zu denen sich freilich noch eine ganze Reihe anderer „Typologien" gesellen 1 . Wieder ist es nicht unsere Absicht, die Richtigkeit dieser typologischen Beobachtungen und Einteilungen als solcher zu bestreiten; eine Kritik der einzelnen Theorien fällt aus dem Rahmen dieser Untersuchung ganz heraus. Es geht hier n u r um die prinzipielle Frage, ob mit typologischer Behandlung das Problem des Wahrheitscharakters und Wahrheitswertes der wissenschaftlich auftretenden Philosophie befriedigend gelöst wird. Von einer Entscheidung dieser Frage kann im Einzelnen das Verdienst so bedeutender Arbeiten wie der „ P s y c h o l o g i e d e r W e l t a n s c h a u u n g e n " von K. J a s p e r s unabhängig sein, auf deren Schwächen in den philosophischen, methodischen Grundlagen schon J . C o h n in einer kurzen Kritik hingewiesen hat 2 . Um uns an möglichst prägnante Formulierungen halten zu können, greifen wir die entscheidenden Partien aus S i m m e i s 1

Z. B. K. G r o o s , „Der Aufbau der Systeme", Leipzig 1924. (Vergl. Ausdrücke wie „Möglichkeiten der Konstruktion", „Baustile der Metaphysiker", „Denkmöglichkeiten" usw.!). Ed. S p r a n g e r , „Phantasie und Weltanschauung", in „Weltanschauung", Berlin 1911. — ferner K. M a n n h e i m , „Die Strukturanalyse der Erkenntnistheorie", Berlinl922. (Speziell für die Erk.-Th.) M . W e b e r , Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Tübingen 1920, Bd. I. Am ältesten und zahlreichsten sind die Typologien der Ästhetik und Kunstwissenschaften. Vgl. des Verf. „Vom Wesen des Stils". Akademie, 4. Heft Erlangen 1925, S. 79 ff. 2 J. C o h n , „Zur Psychologie der Weltanschauungen". Kant-Studien XXVI, Heft 1—2, S. 74 ff.

— 138 — „Hauptproblemen der Philosophie" 1 heraus. Dort heißt es: „ J e weiter der Kreis der Dinge geschlagen ist, auf den eine einheitliche Reaktion des Intellekts erfolgt, um so freier wird sich dessen Individualität in dieser Reaktion ausdrücken können; denn seine Wahl des entscheidenden Elementes oder der wesentlichen Kombination der Elemente wird entsprechend größer sein, als wo nur ein einziges oder wenige Elemente die Reaktion hervorrufen. Mit der steigenden Weite des Kreises differenter Objekte nähert sich die Notwendigkeit, in einer für alle Individuen gleichmäßig gültigen Weise zu reagieren, dem Grenzwert Null: gerade das, was man Weltanschauung nennt, hängt am meisten von dem differenten Sein der Persönlichkeiten ab; gerade das Bild des Ganzen, das das Vollste und Reinste der Objektivität zu enthalten scheint, spiegelt die Besonderheit seines Trägers viel mehr, als das objektive Bild irgend einer Einzelheit es zu tun pflegt. Wenn man von der Kunst sagt, sie wäre ein Weltbild, gesehen durch ein Temperament, so ist die Philosophie ein Temperament, gesehen durch ein Weltbild". Dennoch sind Kunst und Philosophie hinsichtlich dieser persönlichen Note oder „Subjektivität" durchaus nicht gleichgcartet. „Das Merkwürdige ist nur, — sagt Simmel weiter —, daß jene Besonderheit hier nicht die eigentliche Unvergleichlichkeit bedeutet, nicht die Punkte betrifft, in denen jeder Mensch schlechthin anders ist als jeder andere; denn es gibt nicht nur nicht so viele Philosophien, wie es philosophierende Menschen gibt, sondern die Zahl der originalen, die Weltanschauung bestimmenden Grundmotive der Philosophie ist sehr beschränkt". Den Grund für diese Erscheinung sieht Simmel darin, daß nicht „der Einzigkeits- und Unvergleichbarkeitspunkt im Individuum der zureichende Grund seiner Schöpfung" sei, „weil dann ihre Begreiflichkeit und Gültigkeit für andere, ihre objektive Yorstellbarkeit, das Hinausrücken in unzählige überpersönliche Zusammenhänge nicht statthaben könnte. Jener seelische Träger der Reaktion auf das Dasein ist also keineswegs die ganz unmittelbare Individualität, sondern muß in einer besonderen Schicht oder Modifikation dieser gesucht werden". Da jedoch nach Simmel das „allgemein überzeugende, logisch-objektive" Denken nicht in Frage kommt, weil es die 1

6 . S i m m e l , „Hauptprobleme der Philosophie", Sammlung Göschen, Berlin 1920, S. 23 ff.

— 139 — Widersprüche in den Weltbildern auf gemeinsamer methodischer Basis nicht erklären könnte, so muß ein Drittes „der Wurzelboden der Philosophie sein, ja, die Existenz der Philosophie fordert als ihre Voraussetzung, daß ein solches Drittes da sei. Man mag dies — mit sehr ungefährer Charakteristik — als die Schicht der t y p i s c h e n Geistigkeit in uns bezeichnen". Man k a n n gewiß die Gültigkeit dieses Begriffes „ t y p i s c h e r G e i s t i g k e i t " zugestehen, wenn er auch vielleicht auf andere Weise, zumal nicht aus den Begriffen (oder auch n u r mit denTerminis) einer Abbildtheorie der Erkenntnis abgeleitet werden müßte. Auch wir glauben, daß man beim Vergleichen der einzelnen „Weltanschauungen" tatsächlich solche „ T y p e n " des Denkens auffinden kann, deren Wirksamkeit in den Denkern vieles von der Übereinstimmung und Allgemeinheit zu erklären vermag, die einige besonders klar gestaltete Systeme erlangt haben. Der Begriff des T y p u s ist dem der I n d i v i d u a l i t ä t korrelativ zugeordnet, und es ist wichtig zu bemerken, daß in der T a t die Möglichkeit verschiedener „ T y p e n " eng verknüpft ist mit der M ö g l i c h k e i t d e s „ V e r s t e h e n s " ; jedoch d a r a u f k o m m e n wir noch zurück. Reicht aber der Begriff der Typen aus zur Begründung des Wahrheitsanspruches der Philosophie? Folgende Sätze S i m m e i s scheinen das selbst in Zweifel zu ziehen: die Philosophie „zeichnet nicht die Objektivität der Dinge nach — das t u n die Wissenschaften im engeren Sinne — sondern die Typen der menschlichen Geistigkeit, wie sie sich je an einer bestimmten Auffassung der Dinge offenbaren". Das Gegenüberstehen von Mensch und Dingwelt, so gedacht, f ü h r t das unlösbare Problem herauf, wie denn Individualität und Objektivität zu einander stehen, u n d wie es möglich sei, daß die eine sich in der anderen „spiegle" 1 . Jede Sphäre bleibt letztenEndes in sich selbst beziehungslos verschränkt und ihre Gestaltungen müssen im Geiste selber divergieren. „Gelegentlich kann die objektive Irrigkeit einer Lehre jene andre Wahrheit, nämlich die über den geistigen Typus, der sie trägt, umso tiefer und deutlicher offenbaren. Vielleicht ist die Wahrheit deshalb überhaupt nicht der ganz angemessene Begriff, u m den 1

Ebenda S. 28.

— 140 — Wert einer Philosophie auszudrücken". Simmel ersetzt ihn deshalb durch den Begriff des D o k u m e n t w e r t e s . Man wird, wie gesagt, seinen Erörterungen über den Charakter der Philosophie als Weltanschauung zustimmen können, nur nicht der Meinung, daß im. Dokumentieren eines Typus sich das eigentliche Wesen der Philosophie erschöpfe. Man braucht nur auf S i m m e i s e i g e n e A n a l y s e dieser Sinngebilde, ihre kritische Sonderung von anderen Methoden und den Versuch einer systematischen Ordnung hinzuweisen, um d a r i n eine ü b e r g r e i f e n d e , u n i v e r s a l e S e l b s t b e s i n n u n g am Werke zu sehen, die nicht auf die Totalität der Dinge, sondern die der M e t h o d e n u n d P r o b l e m e gerichtet ist. I n dieser E i n s t e l l u n g s u c h t die P h i l o s o p h i e ihre „ W i s s e n s c h a f t l i c h k e i t " ; für sie gilt der systematische Wahrheitsbegriff, der darum als Voraussetzung dieser nicht nur unentbehrlichen, sondern auch unvermeidlichen immanenten Besinnung selber legitimiert ist.

4. Zeitgeist und

Kultursynthese.

Eine andere Grundlage überindividueller Geistigkeit, durch die man ihn wohl zu ersetzen sucht, ist der Gedanke des „ Z e i t g e i s t e s " , dem eine Philosophie von Rang zum Ausdruck verhelfen soll. Auch dann faßt man die Philosophie grundsätzlich als Weltanschauung auf und sieht ihre Bedeutung in dem Grade der Durchgestaltung eines Weltbildes, das den geistigen Verhältnissen einer K u l t u r e p o c h e entspricht. Eine plastische Formulierung dieser Beziehungen der Philosophie zur Kultur finden wir in den „ V o r g e d a n k e n z u r W e l t a n s c h a u u n g " von W . S t e r n 1 . „ K u l t u r , — hier nicht als abstrakter Allgemeinbegriff, sondern als konkrete Schöpfung einer gegebenen Zeit aufgefaßt — , der Inbegriff für eine ungeheure Summe von Strömungen des Geisteslebens und Strebungen des Willenslebens, von materiellen Existenzweisen, ökonomischen und technischen Energien — das Ganze chaotisch durcheinander wirbelnd, widerspruchsvoll durch Gegensätzlichkeiten und Parteiungen größter und kleinster Art, und vor allem: i n den H a u p t t r i e b k r ä f t e n u n b e w u ß t , voller 1

W. S t e r n , „Vorg. z. W . " 1901, Leipzig 1915, S. 39.

— 141 — Sehnsüchte ohne klar geschautes Ziel — ein Wirrnis sondergleichen! Und doch nicht ohne jede Hoffnung auf Entwirrbarkeit Da erwacht denn zuweilen das Verlangen, das Senkblei auszuwerfen und Glühlampen hinabzulassen ins Meer, um jenen gemeinsamen Untergrund zu prüfen und zu schauen; man lechzt nach S e l b s t b e s i n n u n g . Und nun treten Persönlichkeiten auf, die sich nicht einfach vom Strudel des Kulturchaos mitfortreißen lassen, sondern das Zerfließende zur Kristallisation bringen wollen. Jede große Geistestat — in Kunst, Heroentum, Religion — ist, abgesehen von ihrer sonstigen Bedeutung, eine solche V e r d i c h t u n g d e s K u l t u r g e h a l t s ; in der Philosophie aber wird diese Kristallisation zu einer l o g i s c h - b e g r i f f l i c h e n . Wie der Mathematiker die scheinbar so unfaßbaren Windungen einer Kurve in einer Gleichung erschöpfend ausdrückt, so findet der Philosoph durch die Formulierung und — was nicht weniger wichtig — durch die Rangbestimmung der Begriffe den adäquatesten Ausdruck f ü r wesentliche Faktoren seiner Zeit: eine » K u l t u r f o r m e l « . Seine Weltanschauung gibt die Zusammenfassung nicht nur des Wissens, sondern auch der Wertungen seiner Epoche; sie sucht in logisch abgeleitete Normen zu fassen, was in den dunklen, unbewußten Willensrichtungen und Bedürfnissen der Zeit lebt " „Die Philosophie 1 leistet f ü r ihre Epoche als deren begriffliche Selbstbesinnung Ahnliches, wie es die Selbstbesinnung und Einkehr im Einzelindividuum für dieses zu leisten vermag; das ist aber nicht nur Bewußtmachung und Systematisierung der schon v o r h a n d e n e n geistigen Inhalte, sondern auch Wirkung auf die Z u k u n f t " . Darum „kann auch eine philosophische Weltanschauung berufen sein, nicht n u r K u l t u r - » F o r m e l « f ü r die Gegenwart, sondern auch K u l t u r - » P a r o l e « f ü r die Zukunft zu bedeuten". S t e r n selbst ist nun weit davon entfernt, in diesem kulturellen Wertmoment der Philosophie ihren ganzen Sinn zu erblicken, wie es häufig geschieht. Es kommt bei ihm zunächst hinzu der Charakter der Philosophie als Ausdruck der P e r s ö n l i c h k e i t des einzelnen Denkers und als Ausprägung verschiedener „ P e r s ö n l i c h k e i t s t y p e n " 2 , sodann aber neben allen diesen Eigenschaften 1

1. c. S. 41.

2

1. c. S. 33.

— 142 — ihrer „ s u b j e k t i v e n Seite" noch die „ o b j e k t i v e Seite", die Philosophie als „ u n i v e r s a l s t e F o r m d e r W i s s e n s c h a f t " 1 in F o r m einer Vereinigung v o n Welttheorie u n d W e r t s y s t e m , die m i t d e m A n s p r u c h o b j e k t i v e r Geltung a u f t r e t e n m u ß . So k e h r t d e n n der alte Gegensatz i m m e r w i e d e r ; 2 „ V o m S t a n d p u n k t d e r o b j e k t i v e n Geltung a u s . . . . m u ß t e es als Mangel erscheinen, d a ß jeder W e l t a n s c h a u u n g unweigerlich ein s u b j e k t i v e r Anteil a n h a f t e . . . . »Die W e l t a n s c h a u u n g ist n u r s u b j e k t i v « , t a d e l t der Eine, »bloße P h a n t a s m a g o r i e « ; ihr »Versuch, irgendwie die W a h r heit darzustellen, ist d e m n a c h als gescheitert aufzufassen, ihr Anspruch auf Gültigkeit zu verwerfen.« — »Die W e l t a n s c h a u u n g ist durch u n d d u r c h s u b j e k t i v « , lobpreist der a n d e r e ; »man suche doch nicht magere, unpersönliche Theorie in dem, was v o n A — Z souveräne Schöpfung u n d geistiger A u s d r u c k einer großen P e r sönlichkeit i s t ; m a n e r w a r t e n i c h t , d o r t wissenschaftlich etwas zu profitieren u n d lernen zu wollen, wo m a n genießen, sich künstlerisch e r b a u e n soll«". „Beide S t a n d p u n k t e " sind n a c h S t e r n „zu v e r w e r f e n ; sie m a c h e n aus einer Seite das Ganze. E s ist zwar berechtigt u n d n o t w e n d i g , die W e l t a n s c h a u u n g ihrer s u b j e k t i v e n Seite n a c h ins Auge zu fassen u n d ihre d a r a u s entspringenden Mängel u n d Vorzüge hervorz u h e b e n ; aber es ist falsch, n u n ihre ganze objektive Seite einf a c h zu streichen Soviel ist j a freilich zuzugeben, d a ß die E r k e n n t n i s des künstlerischen Moments in den W e l t a n s c h a u u n g e n deren W ü r d i g u n g s m ö g l i c h k e i t b e t r ä c h t l i c h erweitert h a t W i r vermögen j e t z t einen S t a n d o r t j e n s e i t s v o n w a h r u n d f a l s c h e i n z u n e h m e n , i n d e m wir uns der W e l t a n s c h a u u n g erfreuen als der Schöpfung eines philosophischen Genies, das seine überreiche I n d i v i d u a l i t ä t in dies sein W e r k hineingegossen h a t " . Mit diesen Sätzen ist ein neuer Gesichtspunkt in den Z u s a m m e n h a n g unserer Überlegungen gerückt w o r d e n : die Philosophie* „als eine h a r m o n i s c h ausgestaltete allumfassende Geistesschöpf u n g u n d M a n i f e s t a t i o n einer genialen P e r s ö n l i c h k e i t " ist Gegens t a n d eines ä s t h e t i s c h e n Genusses! Sie ist d e m K u n s t w e r k zu vergleichen, dessen W i r k u n g auch n u r auf dieser A u s p r ä g u n g d e r individuellen Persönlichkeit i m „ W e r k " b e r u h e n soll. F r . A . 1

1. c. S. 14.

2

1. c. S. 31.

3

1. c. S. 42.

— 143 — L a n g e hat bekanntlich für diese Analogie den Ausdruck „ B e g r i f f s d i c h t u n g " gefunden und seitdem ist der Gedanke oft wiederholt worden 1 . S i m m e l lehnte, wie wir sahen, den Vergleich in solcher Form ab, weil das eigentlich Philosophische der Philosophie nicht Ausdruck einer individuellen, sondern einer typischen Geistigkeit sein mußte. Man wird aber wohl beide Momente des Dokumentwertes der Philosophie als Weltanschauung festhalten können, gerade weil wir die „Allgemeinheit", „objektive Gültigkeit" oder „Wissenschaftlichkeit" nicht durch sie bedroht sehen dürfen. Wie gelingt es aber S t e r n , dieser Antinomie zweier die Philosophie gestaltenden Prinzipien, deren Vereinbarkeit doch zunächst durch nichts garantiert, sondern nur postuliert ist, Herr zu werden ? Er fragt: „ist denn die Weltanschauung, auch rein als künstlerische Tat betrachtet, n u r subjektiv ? " 2 und seine Antwort lautet: „Die Bejahung dieser Frage erscheint fast selbstverständlich und ist dennoch falsch. D e n n zu d e m S a t z , d a ß j e d e p h i l o s o p h i s c h e W e l t a n s c h a u u n g ein S t ü c k K u n s t sei, gehört als n o t w e n d i g e E r g ä n z u n g der a n d e r e , daß e i n e j e d e K u n s t ein S t ü c k P h i l o s o p h i e s e i ! " Unter Philosophie wird hier wieder der „metaphysische Sinn" der Kunst verstanden, d. h. ihr weltanschaulicher Gehalt. „ K u n s t als b l o ß e Subjektivität und document humain wäre ein Zerrbild oder eine Spielerei"... „ D a s ist j a die Tat des Genies, daß es dem Dasein Wesensmomente abgewinnt, die wirklich darin enthalten sind, die aber er vor allen anderen zu schauen berufen ist; von nun an sind sie der Menschheit als W a h r h e i t e n erobert. Dem echten Künstler ist somit sein Werk zugleich Weltanschauung. Und zwar braucht diese — wie vor allem das große Beispiel Goethes zeigt — nicht eine einseitig ästhetisierende Weltanschauung zu sein", sondern kann intuitiv Religion, Ethik, Natur und Geisteswelt umfassen — „bedeutsam zugleich subjektiv als Darstellung dieser einzigartigen Persönlichkeit, wie objektiv als Versuch, dem All sein Geheimnis zu entreißen". Das Kunstwerk hat demnach nicht nur einen Dokumentwert, sondern auch — da es stets mehr als 1 s

1. c. S. 36. Vgl. dazu: A l f r e d W e r n e r : „Wissenschaftliche Prinzipien und künstlerische Elemente in der Philosophie". Halle 1919.

— 144 — „ b l o ß e " Phantasieschöpfimg ist — Erkenntniswert. Die K ü n s t l e r sind ,,Wahrheitssucher" „in ihrer Weise". „ D a s Bedeutsame, das sie uns geben, das legen sie nicht etwa n u r k r a f t ihrer S u b j e k t i v i t ä t in die Dinge hinein, sondern sie holen es zugleich k r a f t ihrer Objekt i v i t ä t aus den Dingen heraus". Diese beiden a m W e r k gestaltenden Prinzipien widerstreiten sich durchaus nicht in der K u n s t , da keines das andere ausschließt. Ebendasselbe gilt nach Stern f ü r die philosophische Weltanschauung. „ W e n n wir daher auch innerhalb der eigentlich philosophischen Systeme künstlerische Züge erkannten, so stehen diese nicht in bloßer Gegensätzlichkeit zu dem »Philosophischen« u n d Objektiven in ihnen, sondern durchdringen dieses in mannigfachster Weise, ja ermöglichen zum Teil erst durch die vorwegzunehmende u n d gestaltende K r a f t der I n t u i t i o n das Z u s t a n d e k o m m e n des objektiven Weltbildes".

5. Die ,, Verwirklichung"

im Subjekt.

W e n n uns auch unser andersgearteter Philosophiebegriff nicht erlaubt, a n die zitierten Sätze ohne weiteres anzuknüpfen u n d ihren I n h a l t zu übernehmen, so bieten sie doch Gelegenheit, dem Problem der weltanschaulichen Subjektivität weiter nachzugehen. Fragen wir zunächst, was hier „ S u b j e k t i v i t ä t " bedeute. Das W o r t meint offenbar die besondere A r t u n d Weise, wie eine Einzelpersönlichkeit oder ein Persönlichkeitstypus oder eine K u l t u r epoche sich erkennend u n d wertend zur Welt oder zum „All' verhalten u n d dementsprechend ihr Weltbild formen. Wie der Ums t a n d , daß eine „ O b j e k t i v i t ä t " davon unterschieden wird, deutlich zeigt, ist die S u b j e k t i v i t ä t als ein besonderes Prinzip neben oder über der O b j e k t i v i t ä t gedacht, das freilich jenem nicht direkt widerstreitet, aber doch eine A r t von Kompromiß hervorbringt, dadurch, d a ß beide sich gegenseitig „durchdringen". W e n n es ferner möglich sein soll, d a ß das „objektive Weltbild" erst durch die vorwegnehmende u n d gestaltende K r a f t der subjektiven „ I n t u i t i o n " z u s t a n d e k o m m t , d a n n m u ß sogar ein Abhängigkeitsverhältnis der beiden angenommen werden. Wie könnte aber n u n ein heterogenes Prinzip konstituierende Bedingung des objektiven Weltbildes sein ? Das „ Z u s t a n d e k o m m e n " , welches hier abhängig v o n der gestaltenden Subjektivität erscheint, m u ß einen anderen

— 145 — Sinn haben als den der transcendentalen Konstitution! Am nächsten liegt wohl der Gedanke an den psychologischen Vollzug, an die Verwirklichung im Bewußtsein; aber was soll man nun unter dieser psychologischen Aktualisierung verstehen ? Ist es der Progreß der Erfahrung selbst ? Welche Wirklichkeit ist gemeint, wenn man sagt, daß Begriffe, objektive Weltbilder, ideale Sachverhalte usw. „verwirklicht" werden ? Liegt hier der Begriff einer s p e z i f i s c h e n W i r k l i c h k e i t vor und zu welchen Sinngebieten gehören die „physische", die „ideelle" und die „psychische" Wirklichkeit ? Werden alle diese Unterschiede etwa mit den Begriffen e i n e r besonderen Methode, nämlich der logisch-naturwissenschaftlichen definiert bzw. zu definieren v e r s u c h t , dann kann diese Definition nur zu einem negativen Ergebnis führen. Wie sollte man wohl dem spezifischen Wirklichkeitssinn anderer Sinngebiete oder -Dimensionen gerecht werden, wenn man ihn auf die logisch-theoretischen Kategorien des physischen Seins sowie dessen Raum- und Zeitanschauung bezieht ? Man muß sich dann mit gewissen Negationen oder Abgrenzungen begnügen, ohne daß eine neue positive Bestimmung erreicht würde. Aber nur wenn dies gelingt, kann auch das Verhältnis der einzelnen Schichten und Dimensionen des systematischen Gefüges zueinander verstanden und erforscht werden. „ K r i t i k " muß der Systematik vorausgehen, d. h. die Besinnung auf den s p e z i f i s c h e n W i r k l i c h k e i t s s i n n ist die unerläßliche Bedingung der philosophischen Systematik.

1 0 Noack

Dritter Abschnitt

Die „Idiomatik". 1. Der Begriff des Stiles. Das Problem der individuellen oder typischen Gestalt einer jeden Weltanschauung, die in der „ S u b j e k t i v i t ä t " der Philosophie begründet sein soll, läßt sich n u n zunächst ganz unabhängig von aller Spekulation über die sog. „psychische" Realität u n d auch ohne K r i t i k der „Psychologie" behandeln. Hierzu wird m a n sich umso bereitwilliger entschließen, als durch nichts gewährleistet ist, d a ß das, was m a n „psychologisch" nennt, eindeutig b e s t i m m t sei; j a die Relativität u n d Vieldeutigkeit des verwandten Begriffes „ s u b j e k t i v " legt die V e r m u t u n g nahe, d a ß im Begriff (sicherlich im Wort) „Psychologie" („psychisch" usw.) die verschiedensten Bedeutungen u n d Fragen miteinander verquickt worden sind. E s empfiehlt sich deshalb, bei der Kritik der Philosophie in ihrer konkreten geschichtlichen Gestalt zu bleiben u n d die Gegenständlichkeit jener Züge an ihr zu untersuchen, die, wie m a n sagt, „ s u b j e k t i v " oder „psychologisch" bedingt sind. E s wurde oben eine Reihe von grundlegenden Begriffen gen a n n t , welche sich auf jene Gegenständlichkeit bezogen u n d in ihrem Zusammenhang zugleich ein neues, bisher nicht ausdrücklich genanntes Sinngebiet darstellen. Das waren die Begriffe der „ W e l t a n s c h a u u n g " , der „ P e r s ö n l i c h k e i t " , des „ T y p u s " , der „ K u l t u r " , der „ A u s p r ä g u n g " einer „ I n d i v i d u a l i t ä t " , der „ K u n s t " u n d der „ G e s t a l t u n g " , u m wenigstens die wichtigsten noch einmal anzuführen. Alle diese Begriffe haben in dem hier gemeinten Sinn weder im logischen noch im ethischen Sinngebiet einen Platz. N u r beim Begriff der P e r s ö n l i c h k e i t d ü r f t e das zweifelhaft sein, da m a n ihn im Anschluß an K a n t als einen Zentralbegriff der E t h i k anzusehen p f l e g t ; aber m a n versteht d a n n meist u n t e r dieser die sog. „Individualethik", d. h. die Lehre von der Bildung u n d Gestaltung des Einzelnen zum Charakter und zur harmonischen „Persönlichkeit". (Die sozialen Pflichten

— 147 — gegenüber d e m „ N ä c h s t e n " werden d a n n h ä u f i g erst aus den F o r d e r u n g e n des „ M e n s c h e n t u m s " abgeleitet.) E s ist jedoch s y s t e m a t i s c h v o n größter B e d e u t u n g , zu zeigen, d a ß die Grundlagen der sozialen Lebensformen, der „ G e m e i n s c h a f t " u n d der Stellung des „ E i n z e l n e n " in ihr g a n z a n d e r e sind als die der P e r s ö n l i c h k e i t ; sie gehören h e t e r o g e n e n S i n n g e b i e t e n a n ! Das ethische Sinngebiet u m f a ß t die Sozialformen der W i r t s c h a f t , des S t a a t e s u n d der Erziehungsgemeinschaft 1 , also Gebiete der H a n d l u n g als Arbeit, Dienst, Hilfe u. a. A r t e n wechselseitiger V e r k e t t u n g i m Z u s a m m e n h a n g zwecksetzenden T u n s . D e r Einzelne in der Gemeinschaft ist „ P e r s o n " u n d wird n u r durch seine L e i s t u n g f ü r das Ganze in seiner „ I n d i v i d u a l i t ä t " b e d i n g t ; er „ i s t " in ethisch-sozialer B e d e u t u n g nichts anderes als der „ R e p r ä s e n t a n t " der Gemeinschaft d u r c h die Ü b e r n a h m e bes t i m m t e r A u f g a b e n gemeinsamen Schaffens, letzten E n d e s jener L e b e n s a u f g a b e , die i h m i m Dienste a n seinem Volke u n d der Menschheit zufällt. Die B e d e u t u n g als „ P e r s o n " in d i e s e m Sinne, in welchem ersichtlich jeder Einzelne z u m S e l b s t z w e c k (aber stets in Korrelation zur Gemeinschaft) wird, ist es, welche K a n t i m Auge h a t t e . E s ist bezeichnend u n d n a c h d e m ü b e r systematisch orientierende Begriffe Gesagten f ü r u n s wegweisend, d a ß m a n die strenge Auffassung u n d D u r c h f ü h r u n g dieser Gedanken meist als „ a b s t r a k t " u n d „ r a t i o n a l i s t i s c h " 2 e m p f i n d e t , als eine Vergewaltigung der I n d i v i d u a l i t ä t des einzelnen Menschen d u r c h das Gesetz f ü r „ J e d e r m a n n " . D a r u m geht die I n d i v i d u a l e t h i k lieber v o n jener aus u n d setzt die F o r d e r u n g der Selbstgestaltung zur einheitlichen, abgeschlossenen, aber vollentwickelten „ P e r s ö n l i c h k e i t " a n die Spitze 3 . I n der T a t v e r m a g dieser M a ß s t a b der I n d i v i d u a l i t ä t des „ w i r k l i c h e n " Menschen besser gerecht zu werden. D a s i s t jedoch kein E i n w a n d gegen die Gültigkeit der ethischen B e u r teilung, sondern n u r ein Zeichen d a f ü r , d a ß wir m i t diesen „ k o n k r e t e n " Gesichtspunkten eines individuell a b g e s t i m m t e n Ge1 2

3

Vgl. A. G ö r l a n d , „Ethik als Kritik der Weltgeschichte". Leipzig 1914. Vgl. die Stellung der „Ethik" in der „Philosophie der Individualität" von R. M ü l l e r - F r e i e n f e l s , 2. Aufl. Leipzig 1923, besonders S. llOff., S. 188. Vgl. zum Ganzen meine Ausführungen in dem Aufsatz „Vom Wesen des Stils" I, Akademie-Heft 2, Erlangen 1925, S. 130 ff.

10*

— 148 — setzes u n d Maßstabes in ein n e u e s , a u t o n o m e s S i n n g e b i e t d e s S y s t e m s gelangt sind, das v o n j e n e m allenfalls f u n d i e r t , a b e r nicht m e h r beherrscht werden k a n n . Aus der a b s t r a k t gef a ß t e n Sinnschicht der zweckhaften Regelung sozialer Verhältnisse sind wir übergegangen zur Sinnschicht der persönlichen Lebensgestaltung aus jeweils „individuellem", ureigentümlichem Gesetz. Da n u n das W o r t „individuell" sehr vieldeutig ist u n d a u c h f ü r den Begriff des „ E i n z e l n e n " in anderen Sinngebieten g e b r a u c h t wird, wollen wir uns eine neue W o r t p r ä g u n g e r l a u b e n u n d z u m Ausdruck dessen, d a ß es sich i m n e u e n Sinngebiet u m die E i n h e i t s f u n k t i o n des „ E i g e n t ü m l i c h e n " 1 , des iSiov in j e d e m Menschen handelt 2 , von „ i d i o m a t i s c h e r " Sinngebung sprechen. F ü r dieses Sinngebiet n e h m e n wir n u n alle j e n e oben n o c h einm a l zusammengestellten Begriffe in A n s p r u c h ; als Zentralbegriff f ü r die s y s t e m a t i s c h e E i n h e i t d e s G e b i e t e s i n i d i o m a t i s c h e m S i n n e aber b e t r a c h t e n wir den Begriff des „ S t i l e s " 3 ; d e n n er e n t h ä l t jene Einheit eines einzigartigen Ganzen, die u n s in den Objektivierungen der individuellen Persönlichkeit eines Menschen, in der Gestaltung der I n h a l t e seines seelischen Lebens u n d z u m a l i m W e r k der K u n s t , ihrer reinsten u n d vollendetsten A u s p r ä g u n g , begegnet.

Historische

Anknüpfung.

I n d e m wir so den philosophischen Disziplinen der „ L o g i k " u n d „ E t h i k " eine „ I d i o m a t i k " angliedern, glauben wir einer vielseitigen Arbeit der neueren Philosophie u n d i h r e n bisher gewonnen e n R e s u l t a t e n den notwendigen systematischen O r t anzuweisen. E s sind besonders die Probleme der „ I n d i v i d u a l i t ä t " , des „Aus1 2

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Zum Ausdruck vgl. S c h l e i e r m a c h e r s „Monologen". Vgl. auch den Begriff des „Einzigkeitspunktes" bei S i m m e l (zit. auf S. 138), sowie den des „individuellen Gesetzes" in „Lebensanschauung", Leipzig 1918, S. 154 ff. Die ausfuhrlichere Begründung dieser Ansicht ist der Inhalt des erwähnten Aufsatzes „ V o m W e s e n d e s S t i l s " , an den sich diese Untersuchung also direkt anschließt. Es sei ferner hingewiesen auf A. G ö r l a n d , „Über zwei durch die neue Wissenschaftsgeschichte notwendig gewordene Wandlungen in der philosophischen Systematik". Festschrift für P. Natorp, 1924.

— 149 — d r u c k s " u n d der „ K u l t u r " (des „ o b j e k t i v e n Geistes"), u m welche sich die F o r s c h u n g e n b e m ü h e n , a n die wir hier d e n k e n . Sie vereinigen sich m i t gewissen P r o b l e m e n d e r G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e , m i t der z u s a m m e n sie u n t e r d e m Zeichen einer Überwind u n g des „ N a t u r a l i s m u s " stehen, d. h. einer B e f r e i u n g aus der logisch-naturwissenschaftlichen („theoretischen") Denkweise. Ganz allmählich h a t sich erst eine a d ä q u a t e Methode zur B e h a n d l u n g dieser P r o b l e m e u n d ü b e r h a u p t das Bewußtsein ihrer m e t h o dischen V e r w a n d t s c h a f t gebildet. E i n e volle philosophische W ü r d i gung des Wesens u n d Wirkens der I n d i v i d u a l i t ä t als eines „ G r u n d e s " der Wirklichkeit f i n d e n wir in der n e u e r e n Philosophie wohl zuerst deutlich in der eigenartigen F o r m der L e i b n i z i s c h e n „ M o n a d e n l e h r e " . Von anderer Seite her b e g r ü n d e t S h a f t e s b u r y eine E t h i k auf d e n ästhetischen Begriffen der „ i n n e r e n F o r m " u n d der „ H a r m o n i e " , sie zugleich in höchst b e d e u t s a m e r Weise m i t den alten P r o b l e m e n der „Glückseligkeit" v e r k n ü p f e n d . Als n ä c h s t e r wäre H e r d e r zu n e n n e n , der im Gegensatz zur rein ethischen Geschichtsphilosophie K a n t s , selbst wohl v o n Leibniz u n d S h a f t e s b u r y s t a r k b e e i n f l u ß t , den historischen Grundbegriff der „ E n t w i c k l u n g " m i t d e m der „ E i g e n h e i t " , des „ C h a r a k t e r s " (sowohl der Einzelnen als a u c h der Ganzheiten der Völker u n d ihrer K u l t u r ) v e r b i n d e t . Von H e r d e r gehen d a n n die gedanklichen Beziehungen zu S c h i l l e r u n d G o e t h e , zu W . v o n H u m b o l d t , später vor allem zu den R o m a n t i k e r n u n t e r der F ü h r u n g S c h l e i e r m a c h e r s . K a u m ein Gebiet der K u l t u r ist seitdem v o n diesen „ i d i o m a t i s c h e n " Ideen u n b e r ü h r t geblieben u n d nicht wenige Wissenschaften sind d u r c h sie ü b e r h a u p t erst möglich geworden. Die Ä s t h e t i k , v o n B a u m g a r t e n i m Anschluß a n Leibniz begründet, v o n K a n t als selbständiges d r i t t e s Glied in das S y s t e m eingeordnet, k a n n v o n ihren A n f ä n g e n a n die Begriffe der „individuellen G e s t a l t " u n d der „ H a r m o n i e " n i c h t e n t b e h r e n , sie mögen n u n als „sinnliche V o l l k o m m e n h e i t " , als „ Z w e c k m ä ß i g k e i t ohne Zweck", „ F r e i h e i t in der E r s c h e i n i m g " , „in sich vollendetes G a n z e " , „ S t i l " usw. f o r m u l i e r t werden 1 . E r s t diese Ä s t h e t i k h a t die K u n s t g e s c h i c h t e in ihrer E i g e n a r t als Stilgeschichte ins L e b e n r u f e n 1

Vgl. hierzu: Fr. K r e i s , „Die Autonomie des Ästhetischen in der neueren Philosophie", Tübingen 1922.

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k ö n n e n 1 ; als solche aber b r a u c h t diese sich nicht zu beschränken auf die Geschichte der reinen K u n s t allein, sondern k a n n zu einer „ K u l t u r g e s c h i c h t e " auf idiomatischer Grundlage werden, wie sie in neuester Zeit eifrig gepflegt wird 2 , o f t allerdings auch m i t einer gewissen Überspannung u n d Verallgemeinerung des Stilu n d Individualitätsprinzip, wie e t w a bei S p e n g l e r u n d F r o b e n i u s 3 . Dieselbe Kritik wird m a n an den e x t r e m e n Auswirkungen des Persönlichkeitsgedankens in der E t h i k , a m „Individualism u s " eines S t i r n e r u n d N i e t z s c h e ü b e n müssen 4 . Der schon bei M o n t e s q u i e u a u f t a u c h e n d e Gedanke der Abhängigkeit des R e c h t s v o n der K u l t u r , der E i g e n a r t des Volksgeistes u n d der Geschichte, gewinnt im Begründer der „historischen Rechtsschule", F . K . v o n S a v i g n y , eine scharf geprägte Gestalt, so den idiomatischen Methoden auch in der Rechtsphilosophie E i n g a n g v e r s c h a f f e n d . Aber derselbe Mangel an systematischer u n d m e t h o discher Klarheit über die Grenzen u n d K o m p e t e n z e n der Sinngebiete f ü h r t e in der Rechtsphilosophie z u m W i d e r s t r e i t „ n a t u r r e c h t l i c h e r " u n d „historischer", „idealistischer" u n d „materialistischer", „absolutistischer" u n d „relativistischer" S t a n d p u n k t e , die sich freilich zum Teil auch m i t anderen methodischen Gegensätzen (z. B. dem von W i r t s c h a f t u n d Recht) v e r k n ü p f t e n . U n t e r s u c h u n g e n über die B e d e u t u n g des Prinzips der I n d i v i d u a l i t ä t in den G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t e n sind seit R i c k e r t s 5 1

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Vgl. E. H e i d r i c h , „Beiträge zur Geschichte und Methode der Kunstge" schichte", Basel 1917. W. M a h r h o l z , „Literargeschichte und Literaturwissenschaft", Berlin 1923. G. A d l e r , „Der Stil in der Musik", Leipzig 1911. Vgl. E. T r o e l t s c h , „Der Historismus und seine Probleme", worin eine Übersicht über diese Richtungen gegeben wird. L. F r o b e n i u s , „ P a i d e u m a , Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre", München 1922; zur Kritik vgl. P. H a m b r u c h , „Das Wesen der Kulturkreislehre", Hamburg 1924. Desgl. auch an der „Philosophie der Individualität" von R. M ü l l e r - F r e i e n f e l s , (2. Aufl. Leipzig 1923), trotzdem schon im Vorwort dieser Vorwurf zurückgewiesen wird. Immerhin fördert auch sie die Einsicht, daß die „Individualität" als Einheit und Aufgabe eine „ M e t h o d e " ist. Vgl. bes. S. 46, 70, 64. Sie „ist" nicht, sondern „geschieht". S. 37. Die Metaphysik des IrrationalRationalen erweist sich freilich als unzulänglich. Auch in „Persönlichkeit und Weltanschauung" finden wir keine wesentliche Förderung des Problems. (2. Aufl. 1923). H. R i c k e r t :

1. „Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung",

— 151 — und S i m m e i s 1 bahnbrechenden Schriften so zahlreich, daß man erwarten sollte, hier eine genaue Analyse und Abgrenzung des idiomatischen Sinngebietes zu finden. Wenn das nicht der Fall ist, so liegt es wohl an der Beschränkung auf Probleme der E r k e n n t n i s t h e o r i e der G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t e n , wodurch man behindert wurde, den Begriff der „ i d i o g r a p h i s c h e n " Erkenntnis durch den der „idiomatischen" Sinngebung, der jenen erst begründet, zu vertiefen. Ansätze dazu sind zweifellos bei S i m m e l , D i l t h e y 2 , T r o e l t s c h u. a.,zumal aber in der „personalistischen" Geschichtsphilosophie W . S t e r n s 3 , in deren Mittelpunkt der Begriff einer individuellen, sich entwickelnden „Ganzheit" steht, vorhanden. Die letztere zeigt auch überall, wie eng sich diese Probleme mit den Fragen der neueren P s y c h o l o g i e berühren und daß es gerade idiomatische Probleme sind, welche auch hier zur Überwindung des Naturalismus geführt haben. Es sei nur an die sog. „ S t r u k t u r p s y c h o l o g i e " , an die „ d i f f é r e n t i e l l e Psychologie" 4 , die Theorie des , , Y e r s t e h e n s " und alle jene Arbeiten unter der Parole der „ g e i s t e s - w i s s e n s c h a f t l i c h e n " Psychologie erinnert, welche wir einem S c h e l e r , S p r a n g e r , L i t t und F r e y e r verdanken 5 . Diese knüpfen hauptsächlich an drei philosophische Denkrichtungen an: die P h ä n o m e n o l o g i e H u s s e r l s , die „Lebensphilosophie" N i e t z s c h e s , S i m m e i s , B e r g s o n s (auch E u c k e n s ) und die Philosophie des Geistes von H e g e l . Das Problem des „Ausdrucks" und des „Verstehens" schmilzt hier mit dem der „ K u l t u r " und ihrer idiomatisch-individuellen Struktur zusammen. F r e y e r 6 definiert geradezu: „Die Geisteswissen-

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2. „Kulturwissenschaft u. Naturwissenschaft", 3. „System der Philosophie", 4. „Geschichtsphilosophie". G. S i m m e l , 1. Probleme der Geschichtsphilosophie, 2. Das Problem der historischen Zeit, 3. Philosophische Kultur, 4. Lebensanschauung. W. D i l t h e y , Gesammelte Schriften V. „Die geistige Welt, Einleitung in die Philosophie des Lebens", bes. S. 226, sowie „Beiträge z. Stud. d. Individualität" S. 241 ff. W. S t e r n , Person und Sache III. (Wertphilosophie) Leipzig 1924. Vgl. ferner S. H e s s e n , „Individuelle Kausalität", Kant-Studien 1909. Bes. W. St e r n, „Die différentielle Psychologie in ihren methodischen Grundlagen". 1911. Auch die neueren Forschungen zur „ C h a r a k t e r o l o g i e " gehören hierher, vgl. d. „Jahrb. d. Ch." Hrg. von E . Utitz, Berlin 1925. H. F r e y e r , „Theorie des objektiven Geistes". Leipzig 1923, Einleitung.

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Schäften finden ihr Material und ihre Probleme überall da, wo Gebilde und Veränderungen der äußeren Welt als Ausdruck menschlichen Lebens aufgefaßt werden können". Die Tatsache freilich, daß a l l e Sinngebiete a l s Zweige der menschlichen K u l t u r 1 irgendwie ihren Ausdruck in solchen „Symbolen" finden, weist über die Grenzen eines besonderen Gebietes wieder hinaus auf das Gesamtsystem des Geistes überhaupt; auf eine „allgemeine Theorie der geistigen Ausdrucksformen", also auf die Probleme der systematischen Philosophie, die nun „ P h i l o s o p h i e der s y m b o l i s c h e n F o r m e n " heißen kann. Aus diesem Gesichtspunkt hat E. C a s s i r e r den Versuch unternommen, neben der Wissenschaft, der Kunst, der sittlichen Welt und der Religion zwei weitere autonome Sinngebiete aufzuzeichnen, das der S p r a c h e und des „ M y t h o s " . 2 Endlich sei noch einmal an die Entdeckung der idiomatischen Struktur der Philosophie selbst als W e l t a n s c h a u u n g erinnert, die nicht nur dazu geführt hat, die Systeme einzelner Denker daraufhin zu untersuchen, zu erklären und darzustellen, sondern auch die Philosophie größerer individueller Einheiten, wie der N a t i o n e n 3 , der R a s s e n und K u l t u r e n 4 ; sei es, daß man deren Individualität zugleich als Totalität und ganz streng als Einzigartigkeit denkt, sei es, daß man sie auf das Vorwiegen bestimmter Interessen und Kräfte, oder auf einen „Akzent auf einen bestimmten Wesenszug des Lebens" (Freyer) oder eine andere Art der Charakterdefinition zurückführt. Der Gedanke einer Symbolik der Naturformen, wie er dem 18. Jahrhundert geläufig war (vgl. das Kapitel über die „Chiffreschrift der Natur" bei E. Spranger, „Humboldt und die Humanitätsidee", Berlin 1909) ist heute verhältnismäßig selten. (Kassner, Klages, O. J. Hartmann). 2 E. C a s s i r e r , „Philosophie der symbolischen Formen" I. u. II. Berlin 1923, 1924, sowie „Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften", Vorträge der Bibliothek Warburg, 1921/22, Berlin 1923, S. 11 ff. Vgl. auch den Aufsatz über „Die Begriffsform im mythischen Denken", Studien d. Bibl. Warburg, Leipzig 1922 und: „Sprache und Mythos", Studien d. Bibl. Warburg, VI, Leipz. 1925. 3 Vgl. W. W u n d t , „Die Nationen und ihre Philosophie", Leipzig 1915. G. Lüdd e m a n n , „Entgegengesetzte Denkwelten", Halle 1925. 4 Vgl. u. a. B. H e y m a n n , „Zur Struktur des indischen Denkens", KantStudien, X X X , 1925, sowie das bekannte „Reisetagebuch eines Philosophen" von H. Keyserling, 1919.

1

— 153 — 3. Systematische

Einordnung

der

Idiomatik.

Den vollen Beweis d a f ü r zu liefern, d a ß alle jene P r o b l e m k r e i s e , die wir soeben b e r ü h r t haben, tatsächlich nicht n u r eine p r o b l e m g e s c h i c h t l i c h e , sondern als Voraussetzung d a f ü r auch eine s y s t e m a t i s c h e Einheit bilden, wäre natürlich die Aufgabe der gedachten „ I d i o m a t i k " . Obwohl sie hier nicht in ihrem vollen Umgange entwickelt werden k a n n , m u ß wenigstens das in k n a p p e n Zügen zur Sprache k o m m e n , was zur Erledigung des vorliegenden Problems unentbehrlich ist. D a bereits das Verhältnis der Philosophie zu den einzelnen Sinngebieten hinreichend klargestellt ist, die nötigen Konsequenzen in diesem besonderen Falle also leicht wieder zu ziehen sind, so genügt es, die G r u n d b e g r i f f e u n d - f o r m e n des idiomatischen Gebietes genauer zu determinieren, seinen s y s t e m a t i s c h e n O r t zu bestimmen und auf die Auswirkungen des Prinzips der F u n d i e r u n g hinzuweisen. Gerade das, was allgemein über die „ A u f h e b u n g " der Sinnschichten gesagt worden ist, h a t eine größere Bedeutung, als es auf den ersten Anblick erscheinen mag, da wir ohne Beachtung jener Momente der Mannigfaltigkeit von Problemen gar nicht Herr werden k ö n n t e n . So einleuchtend vielleicht der Gedanke sein mag, d a ß m i t Hilfe des Stilbegriffs ein Sinngebiet homogener Methoden gefunden werden k a n n , — denn das Moment einer gesetzlich-gegenständlichen Individualität spielte in allen angef ü h r t e n Problemkreisen „irgendwie" eine entscheidende Rolle —, so sehr scheinen hinwiederum einzelne Erscheinungen wie etwa die K u n s t , die Geschichte, die Psychologie u n d die Individualethik zu divergieren. Sollten sie wirklich einem u n d demselbem Sinngebiet angehören ? Doch vielleicht ist die Frage in dieser F o r m gar nicht richtig gestellt. Muß denn nach den Voraussetzungen der Systematik das, was man jeweils m i t diesen Begriffen z u s a m m e n f a ß t , a u s s c h l i e ß l i c h dem Bereich eines homogenen Gebietes angehören und n u r eine Besonderung desselben sein ? Darf es gar keinen Gehalt haben, der z u g l e i c h einer anderen Sphäre angehört, hier aber im Sinne einer sich über- oder unterordnenden Schicht mitgesetzt, aufgehoben, umgestaltet oder reflektiert wird ? Die Aufbauprinzipien der von uns zur E r ö r t e r u n g gestellten Systematik erlauben, da sie gerade

— 154 — eine konkreszierende, involvierende Schichtung der Sinngebiete engeren u n d weiteren U m f a n g s (der homogenen u n d der heterogenen), verlangen, d a ß zwischen d e m eigentlich idiomatischen Sinngebiet u n d allen übrigen die engsten systematischen Beziehungen bestehen, wie sie z. B. durch die A u f h e b u n g gestiftet werden. W i r h a b e n bereits a n f r ü h e r e r Stelle 1 auf die Möglichkeit einer „ k o n k r e t e r e n " Methodik des neuen Gebietes hingewiesen, die seine systematische Ü b e r o r d n u n g ü b e r die Gebiete der Logik u n d E t h i k g e s t a t t e n würde. W a s u n t e r „ U b e r o r d n u n g " in s y s t e m a t i s c h e m Sinne zu verstehen sei, d ü r f t e nicht m e h r mißverständlich sein; ihre B e d e u t u n g ist a b h ä n g i g v o n d e r M e t h o d i k d e s S i n n g e b i e t e s , innerhalb (bzw. a n der Grenze) dessen sie b e g r ü n d e t wird 2 . Da m a n „ l o g i s c h " (naturwissenschaftlich) die Sachverh a l t e der ethischen u n d idiomatischen Sinngebiete n i c h t a d ä q u a t denken k a n n , so erscheint auch deren A n s p r u c h auf Übero r d n u n g „ l o g i s c h " als „ p a r a - d o x " , als B e h a u p t u n g eines Geschehens, das die Gesetze des Naturgeschehens d u r c h b r i c h t , k u r z gesagt: als T r a n s c e n d e n z in ein metaphysisches „ J e n seits" der N a t u r . Alle Begriffe der E t h i k , sowohl die der Gesetzlichkeit, wie die der Gegenständlichkeit, sind f ü r diese Logik „ t r a n s c e n d e n t " , „ p a r a d o x " , „ n o u m e n a l " ; daher die logischtheoretischen Antinomien des Problems der „Willensfreiheit", der „ Z u r e c h n u n g s f ä h i g k e i t " u s w . ; dasselbe gilt von den Begriffen der I d i o m a t i k u n d der Religion. D a r u m m u ß j e d e r A u f b a u des Systems der S a c h v e r h a l t e allein aus den D e n k mitteln eines einzigen Sinngebietes zur dogmatischen M e t a p h y s i k führen. Ausgehend v o m Gesichtspunkt anderer Sinngebiete v e r h ä l t es sich anscheinend nicht so: zwar ist es a n sich ebenso unmöglich, die logische Gegenständlichkeit aus ethischer Gerechtsame adä q u a t a u f z u b a u e n . Aber d a r u m h a n d e l t es sich a u c h garnicht, wenn logische Sachverhalte ethisch als „ u n t e r g e o r d n e t " m i t g e s e t z t werden sollen; k o m m t doch n u r eine e t h i s c h - p r a k t i s c h e U n t e r o r d n u n g u n d Mitsetzung in Frage. Diese aber ist n i c h t n u r möglich, sondern sogar notwendig, d e n n der Sinn der Zwecksetzung u n d des Sollens selbst v e r l a n g t s y s t e m a t i s c h d i e 1 2

s. oben S. 137. Vgl. S. 77 ff., 85, 111.

— 155 —

B a s i s e i n e s S y s t e m s m ö g l i c h e r M i t t e l zu m ö g l i c h e n Zwecken in einem mechanischen Naturzusammenh a n g 1 . Der „logische" Sachverhalt verändert also gar nicht seinen spezifischen Sinn, wenn er praktisch mitgesetzt wird, sondern muß ihn im Gegenteil sogar bewahren. Da in solchem systematischen Verhältnis das Wesen der „ A u f h e b u n g " besteht, so gilt der Satz, daß n u r aus dem Gesichtspunkt der jeweils k o n k r e t e r e n Methode der Aufbau einer i m m a n e n t e n S y s t e m a t i k möglich ist, prinzipiell für jedes Sinngebiet 2 . Es wurden ferner drei Bedeutungen und Momente der Aufhebung unterschieden. Das fundierende Sinngebiet wird e r s t e n s in dem Genügen an dem, was es an sich selbst ist, d. h. in seinem isolierten Seinsanspruch verneint. S o d a n n aber wird es im höheren Sinnzusammenhang „aufbewahrt", um d r i t t e n s dort eine diesem entsprechende, neue Bedeutung zu gewinnen. Um noch bei dem Beispiel des Verhältnisses von Logik und Ethik zu bleiben: das logische Sinngebiet verliert zunächst seine SelbstVerständlichkeit, sofern ihm die Bezogenheit auf andere Sinngebiete fehlt; indem es aber a l s s o l c h e s in seiner Bedeutung nun zur Basis des praktischen wird, also sein Eigenrecht wiedergewinnt, nimmt es z u g l e i c h die Bestimmung und den Charakter des Materials der Mittel oder des „Arbeitsfeldes" praktischer Zwecksetzung an: sein Sachverhalt, die „Natur", wird sowohl in ihrer gegenständlichen Bestimmtheit wie in ihrer gesetzlichen Regelhaftigkeit „ t e c h n i s c h " beurteilt. Die Aufbewahrung selbst aber, die diese neue, reichere Bedeutung fordert, geschieht von Seiten des praktischen Sinngefüges unter dem Zweckgedanken der Forschung, deren Förderung Sache gemeinschaftlicher Arbeit ist; weshalb man in ihr von „Mitarbeitern", von „Beiträgen", von „Zielen", „Erfolgen" und „Fortschritten" spricht. Ebendasselbe Schema der systematischen Fundierung wiederholt sich, wenn man das idiomatische Sinngebiet sinngemäß über dem ethischen und logischen ansetzt, nur werden die Verhältnisse dann infolge Vgl. u. a. N. H a r t m a n n , Diesseits von Idealismus und Realismus, KantStudien X X I X , 3/4. 1924. S. 203. 2 Es gilt auch für die Leistung der (in konkretester Situation des Erlebenden entsprungenen) „Wortmarke": „Dies Stück Gold" in G ö r l a n d s „Religionsphilosophie", S. 38 ff.

1

— 156 — der bereits doppelten Schichtung sehr viel komplizierter. G e r a d e d a d u r c h wird jedoch die Mannigfaltigkeit scheinbar heterogener Problemkreise gebändigt.

4. Grundbegriffe der

Idiomatik.

E s w ü r d e weit über die Ziele der vorliegenden U n t e r s u c h u n g hinausgehen, w e n n an dieser Stelle das idiomatische Sinngebiet in voller Breite auseinandergelegt u n d b e h a n d e l t w ü r d e ; die folgenden E r ö r t e r u n g e n n e h m e n deshalb stillschweigend überall auf das in der Schrift „ V o m W e s e n d e s S t i l e s " Gesagte 1 Bezug u n d wollen n u r das Grundsätzliche noch einmal schärfer hervorheben u n d in systematischen F r a g e n einige E r g ä n z u n g e n bringen. E s w u r d e bereits gesagt, d a ß der Begriff des S t i l e s d e m e n t spricht, was überregional „ G e b i e t " (als E i n h e i t ü b e r Mannigfaltigkeit) g e n a n n t wurde 2 . I n der logischen Sinnschicht ist d a s Gebiet die „ E r k e n n t n i s " u n d , wie die E r ö r t e r u n g v o n K a n t s Begriff der „ A p p e r c e p t i o n " gezeigt h a t , als solches die synthetische E i n h e i t des „ I c h " in a b s t r a k t e s t e r (fast n u r n o c h m e t a phorischer) B e d e u t u n g des Wortes. Auch f ü r „ S t i l " k a n n zuweilen „ I c h " gesetzt werden, u n d zwar „ I c h " im Sinne der Persönlichkeit, der idiomatischen I n d i v i d u a l i t ä t . I m R ü c k b l i c k auf das ü b e r den Progreß u n d die psychologische Reflexion Gesagte sei z u n ä c h s t b e m e r k t , d a ß diese „ P e r s ö n l i c h k e i t " n i c h t i d e n t i s c h ist m i t d e m e m p i r i s c h e n I c h der sog. „ i n n e r e n E r f a h r u n g " , sondern eher eine „ideale A u f g a b e " f ü r dasselbe bzw. eine charakterologische A b s t r a k t i o n aus demselben. ( „ I n j e d e m l e b t ein Bild des, der er werden soll".) Gleichwohl ist dieses Ich als „ I d e a l " nicht in starrer unveränderlicher Gestalt gegeben, sondern n u r als E i n h e i t i m Vollzug der polaren S i n n f ü g u n g des persönlichen Lebens „ d a r z u s t e l l e n " . Wieder ist es ein Z e i t s i n n 3 , der das n e u e H a u p t g e b i e t scharf u n d deutlich von den ü b r i g e n u n t e r scheidet u n d allen Kategorien erst ihre spezifische B e d e u t u n g 1 2

3

„Vom Wesen des Stils", Akademie, Heft II u. IV Erlangen 1925. „Stil" in der weiten Bedeutung als „Lebensstil", nicht nur als „schöne äußere Form"! Vgl. den Akademie-Aufsatz. Von der Raumanschauung soll in dieser kurzen Analyse abgesehen werden.

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157 —

v e r l e i h t . B e r g s o n unterschied t e m p s u n d durée reelle, Simmel 1 a n a l y s i e r t e die „historische Z e i t " , C a s s i r e r 2 zeigt, d a ß schon i m m y t h i s c h e n D e n k e n verschiedene Zeitvorstellungen k o n s t i t u t i v f ü r da? W e l t b i l d w e r d e n k ö n n e n . N u r der Mangel sprachlicher F i x i e r u n g v e r h i n d e r t es, d a ß der Unterschied der Z e i t a n s c h a u u n g i n d e n H a u p t g e b i e t e n der Sinngebung m i t einem einzigen W o r t angegeben w e r d e n k a n n . Nichtsdestoweniger ist die Sprache sehr w o h l in der Lage, die feinen Unterschiede der B e d e u t u n g wiederz u g e b e n . E s w ä r e deshalb eine lohnende A u f g a b e , sprachliche U n t e r s c h e i d u n g e n wie „ Z e i t " , „ D a u e r " , Z u k u n f t , Gegenwart, V e r g a n g e n h e i t , oder W e n d u n g e n wie „ n o c h " , „ s c h o n " , „ w i e d e r " , „ n i c h t m e h r " usw. auf ihre B e d e u t u n g h i n zu p r ü t e n . Die idiomatische Z e i t a n s c h a u u n g ist n u n d a d u r c h ausgezeichnet, d a ß in ihr der Zeitsinn der „ G e g e n w a r t " d o m i n i e r t , j a ger a d e z u erst geschaffen w i r d ; d e n n Gegenwart ist nicht das „ J e t z t " , als Stelle i n der (wie i m m e r determinierten) Zeitfolge, sondern, wie die beliebte Redeweise „ a u s g e d e h n t e s J e t z t " schon a n d e u t e n will, ein besonderer Sinn der Z e i t a u s d e h n u n g selbst. Diese aber i s t , n a c h f r ü h e r Gesagtem, in ihrer jeweiligen U n u m k e h r b a r k e i t ein sinnliches Analogon des Folgeverhältnisses in einem S i n n g e f ü g e . W e n n i m ethischen Sinngefüge das S p ä t e r e das F r ü h e r e b e d i n g t , weil aller Z u s a m m e n h a n g des Geschehens d u r c h den Zeitsinn der Z u k ü n f t i g k e i t b e s t i m m t i s t 8 ; w e n n i m theoretisch-logischen Sinngefüge das S p ä t e r e als b e d i n g t d u r c h das F r ü h e r e ged a c h t wird, weil der K a u s a l z u s a m m e n h a n g d u r c h den Zeitsinn d e r V e r g a n g e n h e i t b e s t i m m t ist, so herrscht i m idiomatischen Sinngefüge der Gegenwartssinn der Zeit. Sofern a u c h das F r ü h e r e u n d S p ä t e r e sich n i c h t einfach ausschließen, sondern sich in j e d e m Augenblick begegnen, j a ineinander sind, werden sie idiomatisch als d u r c h die jeweilige Gegenwart b e s t i m m t gedacht. W i e eng dieser idiomatische Zeitsinn m i t der O b j e k t i v i e r u n g der individuellen 1

2

3

4

G. S i m m e l , „Das Problem der historischen Zeit", Philos. Vorträge der Kantgesellschaft Nr. 12, Berlin 1916. E. C a s s i r e r , „Philosophie der symbolischen Formen" II. „Das mythische Denken", Berlin 1924. besond. S. 134 ff. Man beachte halb-mythische Redewendungen, wie: „Es k o m m t die Z e i t . . . . " , „die Zeit w i r d r i c h t e n . . . . " usw. Vgl. Redewendungen wie: „die Zeit v e r g e h t . . . . " , „läuft a b . . . . " usw.

— 158 — Persönlichkeit z u s a m m e n h ä n g t , h a t W . D i l t h e y 1 zu zeigen v e r m o c h t ; noch klarer u n d schon f a s t explicit wird der Z u s a m m e n h a n g von G. S i m m e l im „ R e m b r a n d t " 2 aufgedeckt (s. besonders S. 1 3 0 f f ) . Nicht weniger als der logisch-theoretische u n d der teleologisch-praktische Zeitsinn m u ß jedoch auch der idiomatische v o m Charakter der „ i m m a n e n t e n " , „existenziellen" oder ,,Erlebnis-Zeit" unterschieden w e r d e n ! Z u r E r g ä n z u n g des Verständnisses müssen aber die idiomatischen K a t e g o r i e n herangezogen werden, die d u r c h Beziehung der überregionalen Kategorien auf die idiomatische Zeitanschauu n g hervorgehen. Man f i n d e t sie f a s t mühelos in jeder Rede oder Schrift, deren I n t e n t i o n auf E r f a s s u n g der S t r u k t u r e l e m e n t e eines idiomatischen Sinngefüges gerichtet ist, insbesondere also auf die Beschreibung oder K r i t i k eines „ S t i l e s " , wie er uns i m „ C h a r a k t e r " einer Persönlichkeit, i m „ W e s e n " eines Volkes u n d i m „ G e i s t " einer K u l t u r 3 entgegentritt. A c h t e t m a n auf den genau zu definierenden Sinn der unentbehrlichen, b e d e u t s a m s t e n W o r t e , so t r i f f t m a n dieselben Kategorien der Gesetzlichkeit, der Gegenständlichkeit u n d des Gebietes an, die wir in f r ü h e r e n K a p i t e l n b e h a n d e l t h a b e n . Ihre logische u n d ethische D e t e r m i n a t i o n w u r d e nicht m e h r d u r c h g e f ü h r t ; die idiomatische A b w a n d l u n g dagegen d ü r f t e schon aus Gründen der Darstellung des idiomatischen Sinngebietes f ü r unsere Zwecke erwähnenswert sein. W a s zunächst die Kategorien der M o d a l i t ä t anbelangt, so b e h a l t e n Möglichkeit, Notwendigkeit u n d Wirklichkeit a u c h in der I d i o m a t i k ihre grundlegende B e d e u t u n g . Als Stil-Momente werden sie meist mit den W o r t e n B e f ä h i g u n g (oder „ D i s p o s i t i o n " ) „ W e s e n h a f t i g k e i t " u n d „ E c h t h e i t " 4 (bzw. das „ E c h t e " ) bezeichnet. Die Kategorien der Q u a n t i t ä t e r h a l t e n die B e d e u t u n g der „ G l i e d e r u n g " , der „ G a n z h e i t " u n d des „ E i n z e l n e n " ; auch die Pluralbildung „ E i n z e l h e i t e n " (etwa bei der Schilderung eines Charakters) d e u t e t auf den Sinn, den die Kategorie des „ E i n z e l n e n " im S i n n z u s a m m e n h a n g des Stils er1 2 3

4

D i l t h e y , „Erlebnis und Dichtung", 8. Aufl. S. 170ff. G. S i m m e l , „Rembrandt", Leipzig 1919. Eine metaphysische H y p o s t a s i e r u n g dieser E i n h e i t s - I d e e n zu „Kulturseelen", „Geistern", „Bildkräften" u. dergl. liegt dem kritischen Idealismus natürlich fern. Über die Bedeutung des Wortes Echtheit gibt es eine Untersuchung von W. F r o s t „ E c h t und Unecht", München 1923.

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159 —

h ä l t . Die K a t e g o r i e n der R e l a t i o n w e r d e n meist in die W o r t e : „Motivierung", „Geschlossenheit" und„Beständigkeit" g e f a ß t , v o n denen das L e t z t e die „ I n v a r i a n z " gewisser „ Z ü g e " (engeren oder weiteren Umfanges) i m Ganzen der G e s t a l t u n g u n d E n t w i c k l u n g eines Lebensstiles i n t e n d i e r t . E n d l i c h d ü r f t e m a n die K a t e g o r i e n der Q u a l i t ä t zumeist als „ G e s t a l t u n g " , „ A u s g e p r ä g t h e i t " u n d „ E i g e n h e i t " (sc. des „ E i n z e l n e n " ! ) aussprechen. D a m i t sind indessen n o c h lange n i c h t alle Möglichk e i t e n sprachlicher F o r m u l i e r u n g der idiomatischen Kategorien e r s c h ö p f t , z u m a l deshalb n i c h t , weil sie sich a u c h n a c h den besonderen Gebieten i n n e r h a l b der I d i o m a t i k r i c h t e t , welche n a t u r g e m ä ß e n t s p r e c h e n d v e r ä n d e r t e A u s d r ü c k e verlangen. A u c h f ü r die Begriffe der Gesetzlichkeit u n d Gegenständlichkeit stehen m e h r e r e T e r m i n i zur Verfügung, die m e h r oder weniger p r ä g n a n t sind. I n der Philosophie des kritischen Idealismus h a t sich im engeren Problemkreise der „ Ä s t h e t i k " das W o r t „ G e f ü h l " f ü r die G e s e t z l i c h k e i t eingebürgert, w e n n auch meist in der Wend u n g „Gesetzlichkeit des reinen G e f ü h l s " ( H . Cohen), welche a b e r besagen sollte: Reines Gefühl a l s Gesetzlichkeit. Auch wenn m a n v o n ästhetischen F r a g e n absieht 1 , d ü r f t e sich die Beibehaltung dieses A u s d r u c k s , der d a n n dem des „ D e n k e n s " u n d „ W i l l e n s " parallel geht, empfehlen. Die G e g e n s t ä n d l i c h k e i t , die i n d e r Gesetzlichkeit e n t s p r i n g t u n d die v o n jener gestaltet, gegliedert u n d m o t i v i e r t wird, ist der Inbegriff des „ E c h t e n " , das einer stilgeschlossenen I n d i v i d u a l i t ä t zu „ e i g e n " ist oder angehört, bzw. das der prinzipiellen „ E i g e n t ü m l i c h k e i t " des Gefühls entsprechende, v e r t r a u t e u n d d a r u m b e d e u t s a m e „ E i g e n t u m " . Dieser Begriff m u ß hier natürlich n i c h t juristisch, sondern i m rein idiomatischen Sinne, als Inbegriff des Wissens, der T u g e n d , der E r f a h r u n g , Bildung, Gestalt u n d H e i m a t , k u r z , des d u r c h E i n b e z i e h u n g in ein i d i o m a t i s c h - i n d i v i d u e l l e s S i n n g e f ü g e zum „inneren", „subjektiven" B e s i t z g e w o r d e n e n G e h a l t e s der Wirklichkeit v e r s t a n d e n werden 2 , (wobei zu b e m e r k e n ist, d a ß die „ W i r k l i c h k e i t " hier w i e d e r u m zwar i m vollen U m f a n g , 1

2

Zum Problem der Ästhetik s. wieder den Akademie-Aufsatz „Vom Wesen des Stils" I. Vgl. G. B u r c k h a r d t , „Individium und Welt als Werk", München 1920. Zum Folgenden bes. W. S t e r n , „Person u. Sache" II. „Die menschliche Persönlichkeit" 1918. Daselbst die Grundbegriffe „Introception", „Konvergenz" und „Disposition".



160



aber nicht nach ihrem vollen Gehalt in Frage kommt). Ebendasselbe wird aus dem Gesichtspunkt eines anderen, fremden idiomatischen Sinnzusammenhanges als „ A u s d r u c k " oder D o k u m e n t gewertet. Der Unterschied eines „ e i g e n e n " u n d „ f r e m d e n " idiomatischen Sinngefüges ist nicht identisch m i t dem der spezifischen Richtungen idiomatischer Gestaltung. Aber der Doppelsinn des Wortes „individuell" weist darauf hin, d a ß die autonome Gesetzlichkeit idiomatischen Sinngebietes eine h e - a u t o n o m e , also r e f l e x i v e Erzeugung s i c h - i n d i v i d u i e r e n d e r Stilgestaltung ist. So f ü h r t sie zu einem p r i n z i p i e l l e n Neben- oder Füreinander sich „ e n t f r e m d e n d e r " Individualitäten, (Typen, Charaktere usw.), die sich dennoch gerade w e g e n dieser Wechselseitigkeit nicht völlig gegeneinander abschließen. Man n e n n t diese Einheit, welche alle Stilgegensätze ü b e r b r ü c k t , das „Verständnis füreinander" 1 . Sie r u h t auf der „ V e r w a n d t s c h a f t " , d. h. auf der Zugehörigkeit konkreterer, „engerer" Individualitäten zu „weiteren" Kreisen idiomatischer Sinngebung u n d Gestaltung der Gesamtk u l t u r . Die systematische Einheit im Verständnis h a t deshalb letzten Endes die Dignität einer k r i t i s c h e n I d e e 2 , nämlich des „ M e n s c h e n t u m s " u n d der „Vollendung". 3 5. Die idiomatische

Erfahrung.

Der oben genannte Begriff des „ E i g e n t u m s " ist insofern nicht ganz angemessen, als m i t ihm der idiomatische Sinnzusammenh a n g n u r als zeitloser Sachverhalt behandelt wird, während doch der i h m entsprechende P r o g r e ß c h a r a k t e r (der idiomatischen E r f a h r u n g selber wie auch derjenige ihrer Sinngehalte) n u r u n t e r Berücksichtigung der idiomatischen Zeit a d ä q u a t beschrieben werden kann. Die systematische Einheit des Stils „ b e s t e h t " nicht n u r als „idealer Sachverhalt" f ü r die objektivierende I n t e n t i o n des Erlebens oder als „regulative I d e e " f ü r die Interpretation, sondern der tiefere „ S i n n " derselben ist, d a ß sie sich im Existieren1 2 3

Vgl. hierzu bes. Th. L i t t , „Individuum und Gemeinschaft", Leipzig 1924. Vgl. wieder „Vom Wesen des Stils" I. Das Problem des Verstehens ist hier absichtlich auf den Begriff „Verständnis" eingeschränkt, womit das Problem des Verstehens symbolischer Formen noch nicht erledigt ist. Vgl. Ed. S p r a n g e r , „Zur Theorie des Verstehens und zur geisteswissenschaftlichen Psychologie". Festschrift für Joh. Volkelt, München 1918, S. 357 ff.



161



den entwickelt und vollzieht. Eine Individualität als idiomatisches Sinngefüge (z.B. eine Persönlichkeit, eineVolkheit) „ i s t " nur, indem sie sich beständig erzeugt und herstellt und doch in dieser stetigen Umbildung dem gleichen Gesetz gehorcht und ihre Gestalt bewahrt. So behält alles Einzelne in immer neuen Situationen dennoch die Identität der eigenen Bedeutung, welche ihm im Ganzen des Stilzusammenhanges zukommt. Im Progreß wird als „Sachverhalt" nicht nur eine bloße Veränderung oder allmähliche Annäherung an ein zukünftiges Ziel, sondern mit seinem Zeitsinn ein nach Tiefe und Breite wachsendes ureigenes Sinngefüge konstituiert ; alles Vorwärtsgehen ist zugleich eine Rückkehr zu sich selbst, weil jede einmal überschrittene Situation nicht als bloßer Durchgangspunkt verschwindet, sondern die unendliche Quelle weiterer Entfaltung bleibt. So hört die Rückverbindung mit der scheinbar überwundenen Situation des erlebten Lebens niemals auf, j a diese bildet vielmehr ein integrierendes Moment in allen, die aus ihr hervorgegangen sind. Die Entwicklung des idiomatischen Ganzen kann auch das Geschehen im Sinne des logischen und ethischen Sinngebietes in sich aufnehmen, wird aber im Unterschied zu jenen wie ein „zufälliger" und „subjektiv-bedingter" Vollzug jener Sinnzusammenhänge in einer beschränkten Individualität erscheinen; aber sie weist dennoch ihre spezifische Struktur mit eigener Folgerichtigkeit, Notwendigkeit und entsprechender „Wahrheit" auf. Diese „Objektivität" der idiomatischen Erfahrung besteht in der Zugehörigkeit aller ihrer Inhalte zu einem sich selbst entfaltenden individuellen Sinnganzen; sie m u ß der logischen Beurteilung „transcendent" sein, und die indirekte Anerkennung einer solchen idiomatischen Ordnung im Geschehen, die von ihr mit dem Begriff des „Bewußtseins" geleistet wird, kann den Stilbegriff nur als „heuristisches Prinzip" gelten lassen. Aber auch die Ethik vermag auf ihrem Felde der Zweckbedingungen nicht anders zu verfahren; sie sieht im „Lebensstil" einer Individualität nur die zu einer „ T u g e n d " (oder einem Laster) habituell gewordene Moralität, die „Fertigkeit in pflichtmäßigen Handlungen", „Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung seiner Pflicht" usw. 1 1

Vgl. K a n t , Metaphysik der Sitten, Ausg. Cassirer, Berlin 1916, VII, S. 204— 219. 1 1 Noack

Vierter Abschnitt

Die Systematik der Hauptgebiete. 1. Die „Subjektivität

der konkreteren

Sinngebiete".

Versucht m a n nun also, das systematische Verhältnis der Idiomatik zu den beiden anderen Hauptgebieten nach dem Prinzip der f u n d i e r e n d e n S c h i c h t u n g im Sinne auxiliarer K o n t i n u i t ä t zu bestimmen, so scheinen die soeben angeführten Momente u n d die darin erfaßten Beziehungen die systematische Ordnung eindeutig festzulegen! Sowohl die a u f f a l l e n d e Ä h n l i c h k e i t , die das i d i o m a t i s c h e S i n n g e f ü g e a l s S a c h v e r h a l t m i t dem P r o g r e ß c h a r a k t e r nicht n u r dieser, sondern jeder E r f a h r u n g ü b e r h a u p t aufweist, wie auch die A r t u n d W e i s e , in der l o g i s c h e u n d e t h i s c h e Sinngebung sich z u i h m s t e l l e n , legt uns die Entscheidimg nahe, d a ß das idiomatische Hauptgebiet sich jenen beiden als das k o n k r e t e r e , aber auch „ s u b j e k t i v e r e " überordne. Die letztere Bestimmung, m i t Hilfe der Begriffe objektiv u n d subjektiv, scheint ihre Rechtfertigung darin f i n d e n zu müssen, d a ß die jeweils konkreteren Hauptgebiete ihren Sachverhalt als e i n e n d e s „ B e w u ß t s e i n s " selber setzen, d . h . , d a ß er ein Sinngefüge in den Erlebnissen als solchen, in den Bewußtseinsakten d e s P r o g r e s s e s obj ektiviere, der zunächst „das Subj e k t i v e " gegenüber der Objektivität des Sachverhaltes ist, der sich in ihm herausstellte. So beträfe denn schon der Sinngehalt aller ethischen E r fahrung, unbeschadet seiner Objektivität in ethischem Sinne, einen Zusammenhang, der v o m logisch-theoretischen Gesichtsp u n k t her n u r ein solcher des Erlebens wäre u n d zwar, wenn er nicht gar selbst wieder in logisch-theoretischem Sinne, also n a t u r a listisch als Kausalzusammenhang interpretiert werden soll, „ n u r " ein s u b j e k t i v e r Bewertungszusammenhang wäre, der sich allenfalls b i o l o g i s c h erklären u n d rechtfertigen ließe. I n eine noch subjektivere Schicht der E r f a h r u n g f ü h r t e u n s d a n n die i d i o m a t i s c h e Sinngebung, die n u n wiederum a u c h dem s u b j e k t i v e n V o l l z u g e t h i s c h e r O b j e k t i v i e r u n g eine

— 163 — objektive Ordnung freilich sehr persönlich-individueller Art zu geben sucht! Demnach läge die M ö g l i c h k e i t d e r s y s t e m a t i s c h e n F u n d i e r u n g d e r H a u p t g e b i e t e als heterogener Sinngebiete, bisher n u r negativ auf die „kategoriale Homogenität" als Gebiet überh a u p t gegründet, p o s i t i v darin, daß sie nicht unmittelbar ihre Sachverhalte übereinander aufbauen, (was j a auch n u r in jeweils oder durchgehend homogenem Sinne von „ A u f b a u e n " denkbar wäre), sondern m i t t e l b a r durch A n k n ü p f u n g an die „ E r f a h r u n g " a l s V o l l z u g , die im Sinne des untergeordneten Sinngebietes als „ S u b j e k t i v i t ä t " gelten muß. Aus dieser systematischen Ordnimg der Hauptgebiete erklärte es sich dann, warum der Aufstieg in konkretere Sinngebiete zugleich ein solcher i n , , s u b j e k t i v e r e " sein soll. Ferner leuchtet ein, weshalb das jeweils „tiefere" als negative Redirgung f ü r das S e i n der Sachverhalte einer höheren Sphäre (ratio essendi sine qua non), das höhere aber als negative Bedingung für die E r f a s s u n g der Sachverhalte einer niederen Sphäre (ratio cognoscendi sine qua non) erscheint. Hiernach also ist der systematische Weg durch die Sinngebiete der Weg zur „Subjektivität". Daß auch dieser Zug der Subjektivierung einen Abschluß finden muß in einer „konkretesten" Schicht, w e n n es eine Sinngebung gibt, welche einen solchen Abschluß als ihren Sinngehalt konstituiert, liegt in der Konsequenz unserer ersten Erörterungen dieser Probleme. I n der „ R e l i g i o n s p h i l o s o p h i e " von Görland wird in der T a t zu zeigen gesucht, daß die religiöse Einstellung ausdrücklich auf die Erfüllung und Erfahrung des Vollgehaltes der Weltwirklichkeit in jedem „nunc aetern u m " gerichtet ist und dieser Aufgabe durch die polare Transcendenz von I c h und Gegen-Ich (Gott) gerecht wird.

2. Die Bewußtheit als Voraussetzung der aufhebenden

Überordnung.

Wenn auch der Begriff des „ B e w u ß t s e i n s " (und der des „Erlebens") ebensowenig wie die Begriffe „konkret", „subjektiv" usw. zur A b g r e n z u n g eines e i n z e l n e n der Hauptgebiete von allen übrigen geeignet ist, weil er genau wie jene jetzt nur eine systematisch-relativierende Funktion übernimmt, so gewinnt er doch von Region zu Region und zumal an der Grenze des idioma11*

— 164 — tischen Sinngebietes anscheinend eine größere Bedeutsamkeit; denn hier ist der „objektive Sachverhalt" als ein Sinnzusammenhang „ i m " Bewußtsein, j a als ein individuales Gefüge des Bewußtseins selbst, dem die Dinge, Vorgänge, sogar die Handlungen des Willens nur noch als „Symbole" 1 oder Dokumente dienen, gekennzeichnet worden. Nun war auf die Vieldeutigkeit des Wortes „Bewußtsein" schon mit Nachdruck hingewiesen worden. Man verwendet es nicht nur zur Bezeichnung der Einheit der Erlebnisse unseres „Inneren", oder zur Unterscheidung dieser „Erlebnisse" als intentionaler Akte und deshalb „ p s y c h i s c h e r Phänomene" von den „physischen Phänomenen", sondern auch zur Bezeichnung der t r a n s c e n d e n t a l e n Einheit des theoretischen und praktischen Sinngefüges überhaupt. Allem zu Grunde aber liegt doch seine Bedeutung als Bewußt-sein, d. h. als besondere S e i n s w e i s e eines Existierenden. Welche dieser Bedeutungen wird nun von der „Subjektivität" des konkreteren Sinngebietes gefordert? Der transcendentale Begriff des Bewußtseins kommt offenbar nicht in Frage, da nicht einzusehen wäre, wie die transcendentale Einheit selbst einen Zusammenhang bilden sollte, der erst aus einer Einheit anderen Sinnes seine Ordnung erhielte, und wir überdies schon auf den Vollzug oder Progreß als das Medium der neuen, sich überordnenden Sinngebung hingewiesen haben. Also haben wir nur noch zwischen dem „psychologischen" und dem phänomenologischen oder „transcendental-psychologischen" Bewußtseinsbegriff zu wählen. Der erste der beiden würde auf die der eigentlichen Subjektivität und dem eigentlichen Vollzugscharakter inadäquate Reflexion im Sinne der Objektivierung irgend eines spezifischen Sinngebietes zurückgehen. Von der „Möglichkeit" derselben wurde schon an früherer Stelle das Nötige gesagt. Auch diese Reflexion ist eine Form des Selbst-Bewußtseins, auch sie hat ihren spezifischen Begriff der Subjektivität; aber diese muß ihr notwendig zu einem Verhalten im Sinne eines realen „behaviour" und das „ S u b j e k t " muß ihr zu einem Objekt unter Objekten werden. K u r z : Das Bewußtsein wird zu einem „Sachverhalt", zu dessen Wesen es gehört, daß er selbst auf Sachverhalte gerichtet ist. 1

Vgl. G ö r l a n d , Religionsphilosophie, S. 40, 53, 74.

— 165 — H a t es nun die Sinngebung eines sphärensystematisch „höher e n " Gebietes mit solchen „Bewußtseinstatsachen" zu t u n , indem sie dieselben ihrer spezifischen Ordnung und Objektivierung unterwirft ? Ein Beispiel mag darüber Auskunft geben, etwa der Aufbau des ethischen Sinngebietes über dem logisch-theoretischen. Wollten wir die Subjektivität der ethischen Sinngebung gegenüber der logischen nach Maßgabe des psychologischen Bewußtseinsbegriffes interpretieren, so s e t z t e sie eine e m p i r i s c h - p s y c h o l o g i s c h e R e f l e x i o n voraus, und zwar wären die „Bewußtseinstatsachen" bzw. Erlebnisse, die nun einer neuen, teleologisch-ethischen Beurteilung unterworfen würden, Vorgänge und Zustände des Bewußtseins im Sinne der logisch-theoretisch reflektierten „Innerlichkeit" eines Subjektes. Zur Abhebung dieses „inneren", psychischen Geschehens vom äußeren oder physischen kommt es unmittelbar im Prozeß der Objektivierung; d. h. im Vollzug der objektivierenden Erfahrung selbst t r i t t die subjektive Bedingtheit und Beschränktheit einzelner Akte und Aktzusammenhänge mit Notwendigkeit im Maße der jeweils erreichten „ O b j e k t i v i t ä t " allgemeingültiger Sachverhalte heraus. Vom Standpunkt der logisch-theoretisch objektivierenden Erkenntnis muß dann jede Sinngebung, die sich in ihren spezifischen Sachzusammenhang nicht fügen will, als Auswirkung und Eigenschaft jener „subjektiven Sphäre" erscheinen, und zwar ganz gleicherweise die Intentionen des ethischen, ästhetischen, religiösen Sinngebietes wie etwa auch die Denkweise des mythischen, magischen und mystischen Bewußtseins. Das logisch-theoretische Denken wird jene Setzungen entweder in naturalistischem Sinne umzudeuten ¡oder als psychologische Inhalte aus der „ N a t u r " des „ S u b j e k t s " zu erklären suchen. Nur die transzendental-kritische und transzendental-psychologische Reflexion vermag das Eigenrecht jener „subjektiven" Erfahrungen, Impulse, Vorstellungen usw. zu retten und sie in der philosophischen Systematik adäquat zu begründen. Die Reflexion auf den alle Spezifikationen in sich bergenden k o n k r e t e n V o l l z u g d e s G e s a m t b e w u ß t s e i n s ermöglicht es danach einer Sonderrichtung desselben, den Übergang zu anderen zu finden. Die Frage wäre nun, ob es jeder derselben möglich ist, die anderen, natürlich in i h r e m Sinne, als „subjektiv" zu

— 166



setzen, oder ob ein unumkehrbares Verhältnis aller zueinander besteht, so daß diese Abschiebung ins Subjektive nicht jedem Sinngebiet in gleichem Maße möglich ist. Träfe das zu, d a n n m ü ß t e auch den H a u p t g e b i e t e n eine eindeutige Ordnung, eine f u n dierende Schichtung, eine Systemfolge nach dem Prinzip auxiliarer K o n t i n u i t ä t zugestanden werden. Der Unterschied der Systematik der Hauptgebiete von derjenigen der Spezialgebiete in ihnen läge d a n n darin, d a ß jene eines solchen Rückganges in den konkreten Vollzug nicht bedürften, d a ß ihnen zwar auch der A u f b a u des Konkreteren über dem Abstrakteren, nicht aber eigentlich der des „ S u b j e k t i v e r e n " über dem „ O b j e k t i v e r e n " zukäme. 3. Spezifische

Subjektivität.

Bleiben wir, u m dies zu prüfen, bei dem genannten Beispiel, dem systematischen Verhältnis von logisch-theoretischem u n d praktisch-ethischem Sinngebiete! Erscheinen dem letzteren die Sachverhalte des anderen Erfahrungsgebietes ebenso in s e i n e m Sinne als „ s u b j e k t i v " wie umgekehrt es der Fall war ? Wollen wir genauer sein, so müssen wir diese Frage wohl etwas abändern. Denn es wurden j a eigentlich nicht die v o m praktischen Bewußtsein objektivierten Sachverhalte wirtschaftlichen, staatlichen u n d gemeinschaftlichen Handelns, sondern die vollziehenden Erlebnisse als „ s u b j e k t i v e " psychologische Tatsachen angesehen, die in den praktisch gesetzten Inhalten n u r ihren Ausdruck f a n d e n . Ist n u n also der Erkenntnis-Prozeß, praktisch angesehen, eine praktische S u b j e k t i v i t ä t ? Der Begriff der letzteren könnte etwa so definiert werden: E i n Wollen, dem die Richtung auf die objektive Notwendigkeit des Gesollten, (d. h. des auf der Wesensgesetzlichkeit des Willens Beruhenden) nicht innewohnt, sondern das durch andere Intentionen des konkreten Erlebens (des Gesamtverhaltens eines Selbst) mitbedingt ist. I n dieser Bestimmung der S u b j e k t i v i t ä t i m Sinne praktisch-teleologischer Sinngebung ist wenigstens der Hinweis deutlich enthalten, d a ß es sich ganz und gar u m eine Abhebung des Subjektiven in dieser s p e z i f i s c h e n Hinsicht handelt, wie sie entsprechend in der theoretischen E r f a h r u n g vor sich geht. Die letztere m u ß also von der spezifisch-praktischen Reflexion betroffen werden, wenn über ihre Objektivität oder S u b j e k t i v i t ä t

— 167 — entschieden werden soll, m. a. W., der Erkenntnisprozeß muß „ t e l e o l o g i s c h " aufgefaßt werden. Er nimmt dadurch, nach früher Gesagtem, den Charakter der „Forschung" an. Deren Ziele aber, die Z i e l e des E r k e n n e n s , sind vom praktischen Standpunkt aus zunächst „ s u b j e k t i v e " Z i e l e , die der Rechtfertigung vor dem zwecksetzenden Willen bedürfen. Niemals können sie als letzte Ziele, als Endzwecke anerkannt werden, vielmehr erfolgt ihre Rechtfertigung in praktischem Sinne nur in derjenigen Weise, in der allein die „praktische Vernunft" andere Richtungen des Erlebens überhaupt anerkennen kann: a l s M i t t e l . Sie ordnet sich die theoretische Erkenntnis (als „Forschung") unter, genau so wie sie sich die ästhetische Bildung als „tugendhafte Gesinnung", die religiöse Ahnung als „Stachel und Ansporn sittlichen Verhaltens" ein- und unterzuordnen weiß1. Rückblickend sehen wir nun auch, wie es die „theoretische Vernunft" versteht, relativ zu ihr subjektive Erfahrungsrichtungen auf ihre s p e z i f i s c h e Weise anzuerkennen, indem sie dieselben einerseits psychologisch zu objektivieren strebt und andererseits eben dieselben psychologischen Sachverhalte als Hinweise, Indizien oder Symptome komplizierter natürlicher Sachverhalte zu deuten sucht. Auch ein „ I r r t u m " wird auf der Stufe höherer Bewußtheit ernst genommen und zum Ansatzpunkt neuer Erkenntnisse gemacht. 4. Das

Postulat

einer überregionalen

Instanz.

Welcher Objektivität gebührt nun der Vorrang? Welche „Subjektivierung" hat das Recht, aus ihrer Tendenz eine Uberordnung ihres Sinngebietes über das andere zu verlangen ? Muß nicht der Sinn der Uber- und Unterordnung selbst ganz speziell ausfallen und gibt es eine s y s t e m a t i s c h e I n s t a n z , die berechtigt wäre, aus ü b e r r e g i o n a l e n G e s i c h t s p u n k t e n hier eine Entscheidung zu fällen ? Einer endgültigen Antwort auf diese Fragen möchten wir uns einstweilen enthalten. Nur das Eine dürfte hier als kritisches Ergebnis ausgesprochen werden, daß eine Antwort darauf, wie sie z. B. der G ö r l a n d s c h e S y s t e m v e r s u c h darstellt, mindestens den Anspruch auf ernste Prüfung erheben darf. Denn gerade 1

Besonders deutlich wird diese „Anerkennung" in ihrer Art, wenn der praktischen Vernunft, wie bei K a n t , der P r i m a t erteilt wird.

— 168



weil sich an einem Einzelfall der Systematik gezeigt hat, daß p r i n z i p i e l l auf der soeben gekennzeichneten Basis j e d e s Hauptgebiet die F ä h i g k e i t hat, sich s e i n e m Sinne und d i e s e r Basis gemäß allen übrigen überzuordnen, muß die Möglichkeit offen gelassen werden, daß die Systemfolge Logik — Ethik — Ästhetik — Religionsphilosophie auf Grund eines ü b e r r e g i o n a l e n Gesichtspunktes der Systematik zu r e c h t f e r t i g e n ist. Auch der Weg, auf dem diese Prüfung zu vollziehen wäre, ist nunmehr vorgezeichnet: Nicht die spezifische Reflexion mit ihrem regional-bedingten Sinn der Subjektivität kann zum Ziele führen, sondern nur die überregionale, p h i l o s o p h i s c h e R e f l e x i o n , die den Begriff der S u b j e k t i v i t ä t t r a n s z e n d e n t a l - p s y c h o l o g i s c h formuliert. Soll sich auch in der Systematik der Hauptgebiete das Prinzip fundierender Schichtung bewähren, soll sich das Abstraktere als das Objektivere, das Konkretere als das Subjektivere und die „erschöpfende Grenzerfahrung" sich als konkreteste und subjektivste erweisen, dann müssen beide Begriffspaare im Seins-Sinn des Bewußt-seins, also unter voller Berücksichtigung der stufensystematischen Dimension, verankert werden. Die Vermutung dürfte nicht fehlgehen, daß Objektivität und Subjektivität dann eine wesentlich andere Bedeutung erhalten und zwar eine, die uns nicht weniger vertraut ist als jene, in der sie bisher genommen wurden. F ü r Objektivität ließe sich etwa „ O b j e k t - s e i n " , f ü r Subjektivität „ S u b j e k t - s e i n " setzen, ohne daß schon mit dieser Wortveränderung über die gemeinten Begriffe ontologisch oder metaphysich irgend etwas präjudiziert wäre, wenn sie zunächst nur auf den faktischen Vollzug der Erfahrung überhaupt, zur Fixierung der Urmomente „Wer ?" und „Was ?" in ihr, angewendet werden. 5. Der Progreß der Erfahrung überhaupt und ihrer in der Philosophie.

Systematisierung

Nur in solcher Blickrichtung ließe sich aber auch das Problem der G e s c h i c h t l i c h k e i t stellen und bearbeiten, da diese, wie bereits erwähnt, zutiefst im Progreß als solchem verankert ist. Wie f ü r jede Richtung sinngebender Objektivierung, so muß auch f ü r den Vollzug p h i l o s o p h i s c h e r B e s i n n u n g die immanente Direktive eines „ r e i n e n , k o n s e q u e n t e n P r o g r e s s e s " , als Vollzugssinn und Vollzugsbedingung zugleich, vorausgesetzt

— 169 — w e r d e n . Aber a u c h die Philosophie folgt i h m nicht m e h r u n d nicht weniger als jede spezifische E r f a h r u n g . D e r G r u n d h i e r f ü r ist nicht in i r g e n d einer B e s c h r ä n k t h e i t oder U n v o l l k o m m e n h e i t des empirischen Menschen u n d seines Geistes, als d e m „ M e d i u m " , in welchem die W a h r h e i t ans Licht t r e t e n soll, zu suchen, sondern tiefer in der W e s e n s b e s c h a f f e n h e i t d e s P r o g r e s s e s s e l b s t , in welchem alle W a h r h e i t als V e r m i t t l u n g der polaren T r a n s z e n d e n z von Möglichkeit u n d Wirklichkeit sich dialektisch vollzieht. — E s k a n n d a r u m n i c h t anders sein, als d a ß , u n b e s c h a d e t der Gültigkeit jener F o r m u l i e r u n g des Wahrheitsbegriffes, die d e m g a n z e n P r o g r e ß E i n h e i t , R i c h t u n g u n d B ü n d i g k e i t verleiht, j e d e r S t u f e , ihrer „ F o r m " gemäß, eine besondere K o n s t i t u t i o n s f o r m der W a h r h e i t z u k o m m t , der physiognomischen u n d der magischm y t h i s c h e n B e w u ß t h e i t z. B. eine andere als der kritisch-wissenschaftlichen des m o d e r n e n Geistes. D e n n jede S t u f e ist eine dialektisch notwendige V e r m i t t l u n g , wie eine transzendental-psychologische S t u f e n s y s t e m a t i k zu zeigen h ä t t e . D e n n gerade weil das „ E r l e b e n " eine V e r m i t t l u n g der polaren Transzendenz v o n Möglichkeit u n d Wirklichkeit, Geg r ü n d e t h e i t u n d Gegebenheit ist, so k o m m e n i h m d i e s e M o m e n t e s e l b e r z u u n d werden an i h m in der Reflexion e n t d e c k t . F ü r sie t r e t e n deshalb die Momente der P o l a r i t ä t als solche eines Prozesses auseinander, der „ W a h r h e i t " u n d „ G e s c h i c h t l i c h k e i t " zugleich b e d e u t e t , in welchem also „ E w i g k e i t " u n d „Zeitl i c h k e i t " eine transscendentale E i n h e i t bilden. Die I d e n t i f i zierung der Gesetzlichkeit b a l d m i t der S u b j e k t i v i t ä t , bald m i t der O b j e k t i v i t ä t u n d der Gegenständlichkeit gleicherweise m i t beiden f i n d e t i n d e m U m s t a n d , d a ß O b j e k t i v i t ä t i m Sinne des Sachverhalts u n d S u b j e k t i v i t ä t i m Sinne des Vollzugs beide a n der polaren Transzendenz teilhaftig sind, ihren letzten E r k l ä r u n g s g r u n d . Sofern n u n die P h i l o s o p h i e sich die E i n h e i t a l l e r E r f a h r u n g z u m P r o b l e m m a c h t u n d diese E i n h e i t a u c h als solche i n j e d e m s p e z i f i s c h e n S i n n e zu setzen sucht, a u c h wenn sich zeigt u n d eingesehen wird, d a ß darin n u r eine B e w ä h r u n g der tiefer zu b e g r ü n d e n d e n E i n h e i t gesucht werden darf, so n i m m t auch die F o r m u n g ihrer G e d a n k e n die S i n n g e s t a l t j e d e s E r f a h r u n g s g e b i e t e s a n : als „ L o g i k " , als „ E t h i k " , „ I d i o m a t i k " usw. b e t ä t i g t sich in ihr das logisch-theoretische D e n k e n , der p r a k tische Wille, das idiomatische Gefühl. So ist es d e n n nicht zu ver-

— 170 — wundern, daß ein philosophisches System nicht nur als rein philosophisches Besinnungs-Ergebnis, sondern auch als NaturErkenntnis, als praktische T a t und künstlerisches Werk, wohl auch, und oft genug gegen die eigentliche Absicht seines Autors, als religiöses Bekenntnis genommen werden kann und darf. Freilich ihrem eigentlich-philosophischen Sinne nach ist sie immer zugleich mehr (bzw. weniger) als das: wie sie einerseits alle spezifische Sinngebung (auch die religiöse) überschreitet, so hebt sie andererseits dieselbe in sich auf und kann auch nach erfolgter transzendentaler Besinnung in der Dimension des Sinnvollzugs den Blick wieder zurückwenden in die Dimension der Sinngehalte. Wenn man diese Rückkehr zur „ D e u t u n g " nicht mehr der (ihrer Aufgabe bewußten) Philosophie angemessen findet, so mag man sie als „ M e t a p h y s i k " an das Paradoxe ihres Unternehmens gemahnen. Zweifellos konkurriert das Bestreben einer solchen „metaphysischen" Philosophie mit dem der religiösep Ahnung, die j a das Problem der Einheit und Totalität der Erfahrung gerade in der Dimension des Sinngehalts zu lösen sucht. Weder diese noch die Dimension der philosophischen Blickrichtung darf sich aber, — wie die Philosophie selber eingestehen muß —, als p r i m ä r behaupten wollen! Doch wie die R e l i g i o n auch ihr Problem nicht anders zu lösen weiß, als daß sie auf ihre Weise die Dimension des „Sinnes" nach anderenDimensionen hin transzendiert (Grenzbegriff des „Segens''), so weiß auch die Philosophie stets um ihre unlösbare Gebundenheit an die Dimensionen des Sachverhalts und des Ausdrucks, des Sinngehaltes und der Sinngestalt. Die B l i c k r i c h t u n g macht den u n a u f h e b b a r e n U n t e r s c h i e d der Problemstellung und der Antworten aus, die zu Widerspruch und Feindschaft führen können. Dem tiefer dringenden Blick aber kann die d i a l e k t i s c h e E i n h e i t nicht entgehen, die so oft in der Geschichte das Umschlagen aus einer Einstellung in die andere und ihre in höchster Bewußtheit je errungene Versöhnung ermöglicht hat. Nach solchem Ausblick auf letzte systematische Zusammenhänge kehren wir noch einmal zum engeren Thema zurück, indem versucht werden soll, die allgemeine, prinzipielle Lösung der systematischen Probleme an der scheinbaren Antinomie von , w i s s e n s c h a f t l i c h e r und w e l t a n s c h a u l i c h e r " P h i l o s o p h i e zu bewähren.

Fünfter Abschnitt

Die Einheit von Stil und System in der geschichtlichen Gestalt der Philosophie. 1. Der Stil als Wahrheit. Die P h i l o s o p h i e als Besinnung auf die Einheit aller Erfahrung ist, da jene „Erfahrung" in ihrer Entfaltung, Darstellung und individuellen Gestaltung zugleich ein Vollzug idiomatischer Sinngebung ist, n o t w e n d i g „ W e l t a n s c h a u u n g " und doch z u g l e i c h m e h r als „bloße" Weltanschauung, wenn sie in der Bemühung, w i s s e n s c h a f t l i c h zu sein, der „immanenten Systemat i k " aller Sinngebiete, sei es auch nur innerhalb der Grenzen des idiomatischen Sinngebietes, z u m D u r c h b r u c h v e r h i l f t . Als historisch-individuelle Wirklichkeit in diesem Sinne ist sie Selbstbesinnung auf den Totalzusammenhang aller Sinngebiete, gestaltend vollzogen im idiomatischen Bewußtsein der Persönlichkeit. Das philosophierende Bewußtsein hat die Totalität der S i n n g e b i e t e zwar zunächst nur als S o n d e r r i c h t u n g e n der geistigen Welt oder der K u l t u r , also in höchst k o m p l e x e r G e s t a l t sich gegenüber; aber es ist imstande, sie in gleichem Maße „abstrakt" und in ihrer reinen Eigenart zu erfassen, wie sie selbst im Laufe der Entwicklung aus anfänglicher Verbundenheit, (die noch auf mythischer Stufe auffallend stark ist), sich lösen, differenzieren und verselbständigen. Der „weltanschauliche" Charakter der Philosophie ist Ausdruck des Stiles, kraft dessen je eine Persönlichkeit, ein Volk, ein Kulturkreis und diese wieder zu bestimmten Zeiten ihrer geschichtlichen Entwicklung die idiomatische Einheit über der Mannigfaltigkeit ihrer Erlebnisse und Erlebnisgebiete vollziehen. Er ist also zunächst der Ausdruck einer spezifischen W a h r h e i t ; keine „subjektive Schranke" in tadelnder Bedeutung, sondern Wahrheit einer Individualität. Diese Wahrheit kann ferner prinzipiell in wahre Beziehung zu anderen Wahrheiten gesetzt werden; aber wenn das System der Philosophie in der Einheit eines Bewußtseins ergriffen

— 172 lind zu eigen g e m a c h t werden soll, so k a n n es n u r in der M e t h o d i k desjenigen Stils geschehen, der j e n e I n d i v i d u a l i t ä t beherrscht. V o n dieser idiomatischen E i n h e i t u n d ihrer Klarheit u n d W e i t e wird es a b h ä n g e n , wie weit die universale S y s t e m a t i k in den F o r m e n eines Stils Gestalt g e w i n n t ; was aber Li wissenschaftlicher, d. h. h i e r : auf Allgemeingültigkeit gerichteter I n t e n t i o n tatsächlich von j e n e r S y s t e m a t i k „ g e s t a l t e t " wird, das m a g in der F o r m u l i e r u n g , Vorstellung u n d A r c h i t e k t o n i k noch so „ s u b j e k t i v i n d i v i d u e l l " ausfallen, es ist in seinem Bedeutungsgehalt v o n allgem e i n e m W e r t . F r u c h t b a r e neue Einsichten u n d R e s u l t a t e w e r d e n f e s t g e h a l t e n , andere D e n k e r k n ü p f e n an sie a n , u n d so t r i t t langs a m , wenn auch gewiß nicht i m m e r kontinuierlich, ein einheitliches Sinngefüge doch i m m e r deutlicher hervor 1 . E i n „ s u b j e k t i v e s " M o m e n t freilich scheint niemals ganz auss c h a l t b a r zu sein; wenn wir den Begriff des Stiles streng genug d e n k e n , k a n n es n i c h t übersehen werden, d e n n es ist eben der letzte G r u n d der E i n z i g a r t i g k e i t , des Lebensstiles, aus d e m heraus gerade diese I n d i v i d u a l i t ä t die W e l t sieht u n d gestaltet. Die idiomatischen Prinzipien der B e d e u t s a m k e i t , V e r t r a u t h e i t , B e w e r t u n g usw., u m die es sich dabei h a n d e l t , sind gegen die Sachverhalte der philosophischen S y s t e m a t i k zwar i n d i f f e r e n t ; sie k ö n n e n aber der Einsicht m i t gewissen Vorurteilen, Bevorzugungen u n d Benachteiligungen der B e g a b u n g u n d des Interesses hinderlich i m Wege stehen. Obwohl a n sich selbst n u r Möglichkeit eines w a h r e n Stiles, bilden sie dennoch eine Gefahr f ü r das GeLngen „wissenschaftiicner"' Besinnimg. Gerade angesichts dieser T a t s a c h e m u ß noch einmal b e t o n t w e r d e n : wenn a u c h n o t w e n d i g alle Philosophie als geschichtliche Erscheinung die Gestalt einer „ W e l t a n s c h a u u n g " a n n i m m t u n d darin sogar eine W a h r h e i t verk ö r p e r t , — das „ P h i l o s o p h i s c h e " a n der W e l t a n s c h a u u n g ist nicht diese A n s c h a u u n g der Welt, sondern einzig u n d allein das Streben n a c h universaler, „ w i s s e n s c h a f t l i c h e r " S y s t e m a t i k . Alle B e s c h r ä n k t h e i t e n der „ S t a n d p u n k t e " , alle unkritischen Verallgemeinerungen u n d Verabsolutierungen, alle Fehlgriffe in der Methodik, u n d welche Grundfehler philosophischer Arbeit m a n sonst noch n e n n e n möge, bleiben vor der u n e r b i t t l i c h e n K r i t i k , 1

Vgl. J. Cohn, „Der Fortschritt in der Philosophie", Logos IV, 1913, S. 46.

— 173 — was sie sind, sie m ö g e n sich noch so g u t aus d e m Wesen der Persönlichkeit oder der Zeit, aus d e m Stil u n d seinen Bedürfnissen, also als m a c h t v o l l e r A u s d r u c k der W a h r h e i t eines Menschentums e r k l ä r e n u n d b e g r ü n d e n lassen. Man darf nicht Philosophie u n d W e l t a n s c h a u u n g m i t e i n a n d e r i d e n t i f i z i e r e n , wenngleich sie, wie gesagt, eine unzerreißbare E i n h e i t bilden. „ S u b j e k t i v i s m u s " u n d „ R e l a t i v i s m u s " sind, ob psychologischer, ästhetischer oder historischer H e r k u n f t , d a r u m a b z u l e h n e n ; der „ A b s o l u t i s m u s " freilich ist ebensowenig i m Recht 1 . W e l t a n s c h a u u n g als solche darf i m m e r n u r als „ V o r f o r m " philosophischer S y s t e m a t i k gelten. J e d e s geschichtliche S y s t e m m u ß n i c h t n u r eine „ i m m a n e n t e K r i t i k " , eine P r ü f u n g seiner inneren Einheitlichkeit u n d Folgerichtigkeit, sondern auch eine „ p o l e m i s c h e K r i t i k " , eine P r ü f u n g der Möglichkeit allgemeiner Z u s t i m m u n g u n d Gefolgschaft dulden. 2.

„Selbstinterpretation".

K r i t i s c h e U n i v e r s a l i t ä t ist es, die m a n m i t R e c h t als Wissenschaftlichkeit sui generis v o n der Philosophie f o r d e r t . E s u n t e r l i e g t k e i n e m Zweifel, d a ß systematische Besinnung u n d O r i e n t i e r u n g f ü r die n a c h W e i t e u n d Geschlossenheit strebende I n d i v i d u a l i t ä t , z u m a l wenn deren Lebensstil ein heftiges Verlangen n a c h innerem Gleichgewicht u n d Vereinigung divergierender Interessen auf allen Sinngebieten zeitigt, v o n weit größerer B e d e u t u n g ist als f ü r irgend einen a n d e r e n Sinnzus a m m e n h a n g . Die Leidenschaft, m i t der solche Persönlichkeiten die Philosophie ergreifen, wird einen ungewollten u n d meist unb e w u ß t e n , s t a r k e n A u s d r u c k ihrer E i g e n a r t zur Folge h a b e n . Dasselbe t r i f f t auf K u l t u r e n u n d E p o c h e n zu, denen eine Zersplitter u n g des Lebens die Stilgeschlossenheit zu zerstören d r o h t . E s k a n n d a r u m gar nicht ausbleiben, d a ß der Charakter u n d die besondere Denkweise eines Einzelnen, eines Volkes, einer K u l t u r 1

Vgl. R. S c h o t t l a e n d e r , „Die historische Bedingtheit des Gehaltes der Nikomachischen Ethik deä Aristoteles", Sokrates, Zeitschr. f. d. Gymnasialwesen, Jahresber. d. Philolog. Vereins, 49. Jahrg. Heft 1. Berlin 1923, S. 35ff. sowie H. S l o n i m s k y , „Heraklit und Parmenides", Philos. Arbeiten, hrsg. v. Cohen u. Natorp, VII. Bd. Heft 1. Gießen 1912, S. 1. „Methodologisches zur Einleitung".

— 174 — und einer Epoche in der Philosophie auffallender zu Tage treten, als in den Gebieten der Naturwissenschaften, der Wirtschaft, des Staates u. a. Natürlich ist es sehr wohl möglich, die Stileigentümlichkeit eines Volkes, einer Zeit usw., so wie diese sich in einer Philosophie ausgeprägt hat, mit ihren Erscheinungsformen in anderen Richtungen des kulturellen Lebens, etwa der Kunst, der religiösen Vorstellung, den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen zu vergleichen und auf ein und dasselbe idiomatische Prinzip zurückzuführen; Untersuchungen, die j a häufig genug angestellt werden. Desgleichen können idiomatische „ T y p e n " der Philosophie mit solchen in der Kunst u. a. Werken der K u l t u r parallelisiert werden. Stets wird es auffallen, wie sehr gerade die Philosophie stilistische Prägung trägt. Da sich bei einzelnen Persönlichkeiten, welche philosophieren, das Streben nach „objektiver" Erkenntnis mit dem nach „subjektiver" Vollendung der eigenen Lebens- und Weltanschauung, (die niemals bloß „theoretisch"-kontemplativ sein kann), eng verbindet, die Erreichung jener „ I d e e " des Systems aber für alle wissenschaftliche Bemühung in unendlicher Ferne liegt, so wird der Einzelne sie wenigstens zu a n t i z i p i e r e n suchen; er sieht sich genötigt, die Stileinheit seiner Individualität gleichsam als S y m b o l f ü r die reine Systematik der Vernunft zu nehmen, also die systematische Philosophie durch eine S e l b s t i n t e r p r e t a t i o n zu ersetzen.Diese „Selbstbesinnung" und „Selbstverständigung" h a t mit „Selbstbekenntnis", „Autobiographie" und Psychologie zunächst n u r wenig zu t u n ; sie ist nur die (meist sogar unbewußte) phänomenologisch-kritische Interpretation des individuellen oder kulturellen Selbst, dessen idiomatische Sinngebung kraft der TotalisierungsTendenz eine innere Aufhellung der mitwirkenden Sinnschichten gestattet, die mit philosophischer Kritik und Systematik k o n f o r m ist. Auch die so verstandene Selbstinterpretation h a t die Bedeutung eines „ K o r r e k t i v s " , eines „kritischen Gewissens" der Erfahrungsbereiche, einer „Wissenschaft von den Grenzen". Ihr Motiv ist meist eine gewisse U n s i c h e r h e i t des Vollzuges der Differenzierung der Sinngebiete, die doch zugleich auch Vollzug der integrierenden Einheit über ihnen sein m u ß ; eine Unsicherheit des Bedeutungsbewußtseins, die durch die V i e l d e u t i g k e i t des hauptsächlichen B e d e u t u n g s t r ä g e r s , der S p r a c h e noch ver-

— 175 — stärkt, wenn nicht gar hervorgerufen wird. So erklärt es sich, daß ausdrücklich oder nicht, die p h ä n o m e n o l o g i s c h e Besinnung auf den „eigentlichen" Sinn der Worte, auf das, was man mit ihnen „ m e i n t " , den Anfang des Philosophierens, gleichsam die Situation seiner Beobachtung bildet. Die Richtung auf das „ m a n " der Meinung soll vor individuell bedingter, „allzu-persönlicher" Interpretation bewahren und die Einstellung auf den „allgemeinen" philosophischen Bedeutungsgehalt ergeben. Auch diese Bindung an die Sprache mit ihrer idiomatischen Struktur (denn es gibt so viele Sprachen, wie individuelle Sinngestaltungen) hat ihrerseits eine idiomatische Ausformung der Philosophie zur Folge. Die S p r a c h p h i l o s o p h i e als besonderer Zweig im System hat vor allem auch die Aufgabe, einsichtig zu machen 1 , „welch unermeßlichen Einfluß auf die ganze menschliche Entwicklung eines Volkes die Beschaffenheit seiner Sprache haben möge, die Sprache, welche den Einzelnen bis in die geheimste Tiefe seines Gemüts bei Denken und Wollen begleitet und beschränkt oder beflügelt, welche die gesamte Menschenmenge, die dieselbe redet, auf ihrem Gebiete zu einem einzigen gemeinsamen Verstände verknüpft, welche der wahre gegenseitige Durchströmungspunkt der Sinnenwelt und der der Geister ist und die Enden dieser beiden also ineinander verschmilzt, daß gar nicht zu sagen ist, zu welcher von beiden sie selber gehören" 2 . Zu dem, was bei S t e n z e l ü b e r d i e „ p r o b l e m g e s c h i c h t l i c h e " und „ s y s t e m g e s c h i c h t l i c h e " Einstellung ausgeführt wurde, wäre nun zu sagen, daß auch schon d e s h a l b beide zusammen „wie Zettel und Einschlag" erst „Philosophiegeschichte als Einheit" ergeben, weil die Geltung der ersten auf die Idee der a l l g e m e i n e n S y s t e m a t i k , die der zweiten auf den Begriff des idiomatischen S t i l s gegründet werden kann; da ferner jene nach unserer Definition als „immanente Systematik" jedem Stil, der sich entfaltet, notwendig und unmittelbar i n n e w o h n t und als herauszustellender Gehalt f ü r ihn nur in s e i n e r Gestaltung bewußt werden kann, so wird dadurch die Einheit des Zusammenhanges 1 8

Vgl. F i c h t e » „Reden an die deutsche Nation", 4 und 5. Vgl. ferner besonders W. von H u m b o l d t , Einleitung zum Kawiwerk, Akad. Ausg. VII, 55ff. und E. C a s s i r e r , Philos. d. symbolischen Formen I. die Sprache, Kapitel V.

-

176 —

der nebeneinander bestehenden oder aufeinander folgenden Systeme, also die E i n h e i t der ganzen G e s c h i c h t e der Philosophie weder zerstört noch auch fraglich gemacht. Diese Befürchtung kann nur aufkommen, wenn man das, was „Besonderung" ist, als „Isolierung" oder Separierung denkt 1 . Auch die Individualitäten sind durch Bande der Verwandtschaft, der typischen Geistigkeit und des Menschentums verbunden, darum imstande, zu vergleichen, zu verstehen, anzuknüpfen und fremdes Gut weiterzubilden. 3. Philosophie

als

Wissenschaft.

Wenn also der Begriff der immanenten Systematik einerseits die weltanschauliche Individualisierung der geschichtlichen Philosophie in einzelnen Systemen begründet, andererseits deren überindividuelle Bedeutung nicht versagt, so wäre noch genauer anzugeben, worin die „ W i s s e n s c h a f t l i c h k e i t " der Philosophie, von der die Rede war, besteht. Wir begnügten uns damit, die systematischen Grundlagen der Naturwissenschaften aufzuzeigen und ließen die Frage, ob und wie es möglich sei, auch von anderen Wissenschaften zu sprechen, vorläufig offen. Nun böte sich die Möglichkeit, unter Wissenschaft den methodisch reinen und seiner Prinzipien und Grenzen bewußten Vollzug j e d e r Sinngebung zu verstehen. „Wissenschaftlichkeit" wäre dann die Stufe einer methodologisch gesicherten und kritisch aufgeklärten „Bewußtheit" des Erlebens; auch die Philosophie könnte für sich diese Stufe der Entfaltung erreichen. Dennoch sträubt sich das Sprachgefühl dagegen, das noch so sehr bewußte praktische Handeln in Wirtschaft, Staat und Gemeinde, die Stilgestaltung des kulturellen und persönlichen Lebens, das Schaffen der Kunst, die Bildung der Sprache und die Ahnungen des religiösen Genies als „Wissenschaft" zu bezeichnen. Allenfalls dürfte diejenige Bemühung, welche ein „Wissen" von allen diesen Gebieten und ihren Inhalten „schafft", Wissenschaft genannt werden; aber was ist dieses Wissen ? Die systematischen Ergebnisse gestatten jetzt, auf diese Frage eine hinreichend bestimmte Antwort zu geben; denn obwohl das 1

Der oben (S. 127) zitierteSimmelscheAusdrnck: „ U n v e r g l e i c h b a r k e i t s p u n k t " ist deshalb irreführend.

— 177 — Wissen als eine Art des „Zu-eigen-Habens" anscheinend idiomatische Bedeutung hat und den idiomatischen Bedingungen gemäß angeeignet und geformt werden muß, so ist es doch auch wieder von den Sinngebieten abhängig, die in ihm zum geistigen Besitz des Wissenden gelangen. Es handelt sich, wie man zu sagen pflegt, u m eine „ t h e o r e t i s c h e " Aneignung dessen, was an sich vielleicht praktisch, ästhetisch oder religiös gemeint ist und auch „eigentlich" so „gehabt" werden sollte. Um Gegenstand des Wissens u n d der Wissenschaft zu werden, müssen jene anders konstituierten Inhalte sich anscheinend eine Bearbeitung gefallen lassen, auf Grund welcher sie nun zwar theoretisch gegenständlich werden, ohne jedoch ihren „a-theoretischen" Charakter ganz zu verlieren. Was jedoch hier mit dem „theoretischen" Verhältnis zu den Sinngebieten gemeint wird, ist nicht identisch mit der Bedeutung des „Theoretischen" als „logischen Sinngebietes". Es zeigt sich vielmehr, daß das Wort „theoretisch" in vielerlei Bedeutung gebraucht wird, und daß die Benennung des logischen Sinngebietes als theoretischen xar' itfixh" ihren Grund vor allem in historischen Traditionen, die auf Aristoteles zurückführen, hat. An sich h a t jedes Sinngebiet einen ideellen „Sachverhalt" von Grund- und Folgesetzungen, in denen sein Bedeutungsgefüge als solches in strenger Rationalität formal aus den Prinzipien deduziert wird: die allgemeine „ T h e o r i e " als Begründungszusammenhang jeder Erfahrung. Dieser S a c h v e r h a l t ist es, den man in der sog. „ t h e o r e t i s c h e n " Einstellung zu gewinnen sucht und in der w i s s e n s c h a f t l i c h e n „ E r f a h r u n g " der Behandlung aller Probleme unterbaut, um deren Ergebnisse zugleich als rational mitteilbaren Gemeinbesitz in sozialer Verbundenheit zu verankern. Die B l i c k r i c h t u n g auf „ T h e o r i e " bildet ein integrierendes, aber spezifisches Moment jeden Sinngefüges; sie findet wieder ihren Abschluß in der P h i l o s o p h i e , die zwar (wie bereits gesagt) nicht als bloße Gesamtwissenschaft, sondern auch im Sinne der Wissenschaften nur als Selbstbesinnung und immanente Systematik gedacht werden darf. Sofern aber die Philosophie als „ W i s s e n s c h a f t " auftritt, bedarf auch sie einer theoretischen Konstruktion. Mit dieser t r i t t sie zunächst in einen gewissen Gegensatz zum „ L e b e n " , wie in den spezifischen Erfahrungsgebieten die Theorie der „Anwendung", der „Praxis", dem 12

Noack

— 178 — „ S c h a f f e n " oder der „ W i r k l i c h k e i t " gegenübersteht. E i n e völlige V e r k e n n u n g dieser K o r r e l a t i o n aber wäre es, w e n n m a n in ihr einen p r i n z i p i e l l e n W i d e r s p r u c h f i n d e n wollte! Aus d e m T o t a l i t ä t s a n s p r u c h der philosophischen Theorie folgt n u n , d a ß die Philosophie zwar in A n b e t r a c h t der v o n ihr selbst a n g e s t r e b t e n Wissenschaftlichkeit auf die „ W i s s e n s c h a f t e n " i m eben g e n a n n t e n Sinn angewiesen ist, aber auch die vorwissenschaftliche („unwissenschaftliche") E r f a h r u n g s s t u f e aller Sinngebiete der kritischen u n d systematischen Besinnung unterziehen m u ß , (sich also a u c h d a r i n wieder von der „ t h e o r e t i s c h e n " Besinnung der Einzelwissenschaften von der Gemeinschaft, der K u l t u r , der Religion, der Sprache, Geschichte usw. unterscheidet).

4. Philosophie

und

Philosophiegeschichte.

W a s j e t z t aus den Ergebnissen dieser A b h a n d l u n g f ü r das Verhältnis der Philosophie zu ihrer Geschichte u n d Geschichtsschreibung folgt, möge noch einmal in einer Auseinandersetzung m i t einer ähnlichen U n t e r s u c h u n g z u m A u s d r u c k k o m m e n . H . G. G a d a m e r h a t in einem Aufsatz „ Z u r S y s t e m i d e e i n d e r P h i l o s o p h i e " 1 den „ Z u s a m m e n h a n g der S y s t e m s t r u k t u r der Philosophie u n d ihrer Geschichtlichkeit" b e h a n d e l t u n d ist dabei i m Einzelnen zu Folgerungen u n d Formulierungen gelangt, die denen der vorliegenden Arbeit d i a m e t r a l entgegengesetzt zu sein scheinen. E s f r a g t sich also, wie weit es möglich ist, j e n e n Ausführ u n g e n in der G r u n d a n n a h m e u n d deren Konsequenzen zuzus t i m m e n ; d e n n gerade die Voraussetzung v o m Wesen u n d der Aufgabe der Philosophie widerspricht zunächst in gewissem Sinne d e m , was i m Begriff der „ i m m a n e n t e n S y s t e m a t i k " aufgestellt wurde. N a c h G a d a m e r ist es in der Philosophie „die objektive Fraglichkeit der Gegenstände, in deren Aufzeigung die Philosophie selbst allererst ihr Dasein f i n d e t . Nicht in der Lösung der P r o b l e m e , sondern in der K l ä r u n g u n d Präzisierung der Problemstellungen, i m Aufweisen der sachlichen Grundlagen, die Sinn u n d Gehalt der Philosophie b e s t i m m e n , also i m G r u n d e in ihrer ausbildenden V e r s c h ä r f u n g scheint hier die wesentliche Arbeit zu 1

Festschrift für Paul Natorp. Leipzig 1924. S. 55 ff.

— 179 — b e s t e h e n " . So „erweist sich gerade der P r o b l e m c h a r a k t e r als die spezifische Seinsweise der philosophischen Gegenstände. I n der U n l ö s b a r k e i t der Probleme, — sofern sie eine grundsätzliche, in den Sachen selbst m o t i v i e r t e ist — b e k u n d e t sich ihre philosophische Valenz. Soll hier ü b e r h a u p t noch v o n Lösung der P r o b l e m e die R e d e sein, so jedenfalls in einem ganz neuen S i n n e : die E n t f a l t u n g des sachlichen Gehaltes eines Problems, gleichbedeutend d a m i t der Erweis seiner i m Gegenständlichen b e g r ü n d e t e n Notwendigkeit, begrenzt den Kreis von A u f g a b e n , den ein philosophisches Prob l e m seinem Ursinne n a c h allein der F o r s c h u n g stellen k a n n . Der Satz, d a ß ein richtig gestelltes P r o b l e m die A n t w o r t b e s t i m m t , ist also i n der Philosophie d a h i n zu verschärfen, d a ß hier in der R i c h t i g k e i t der Problemstellung selbst jede zu b e a n s p r u c h e n d e Lösung b e s t e h t . Gerade in solchem A u s h a l t e n des P r o b l e m s in seiner U n e n t s c h e i d b a r k e i t u n d offenen Ungewißheit liegt das Wesentliche der philosophischen H a l t u n g . " Die „ o b j e k t i v e Fraglichkeit der G e g e n s t ä n d e " d ü r f t e n a c h dem, was uns die Gegenständlichkeit b e d e u t e t , in den Einzelwissens c h a f t e n u n d Sonder gebieten aller Sinngebung n i c h t weniger herrschen als in der Philosophie; zudem ist es m i ß v e r s t ä n d l i c h , in dieser v o n „ G e g e n s t ä n d e n " zu reden, weil solche n u r als I n h a l t e eines Sinngebietes möglich sind u n d die Philosophie i m strengen V e r s t ä n d e kein „ G e b i e t " besitzt. Aber die „ G e g e n s t ä n d e " sollen a u c h n a c h G a d a m e r selbst „ P r o b l e m e " sein; zweifellos ist in der Philosophie, sowohl als Wissenschaft als a u c h als weltanschaulich sich gestaltendem Besinnungsvollzug „ d a s S y s t e m " n u r problematisch, — d . h . nicht als jemals zu sichernder B e s t a n d oder zeitloser „ S a c h v e r h a l t " möglich, sondern n u r als wissenschaftlich-konseq u e n t e r P r o g r e ß . „ W i s s e n s c h a f t " u n d „ W e l t a n s c h a u u n g " sind, wie wir gesehen h a b e n , die hauptsächlichen Gestaltbegriffe der geschichtlichen Philosophie, wenn v o n der komplizierteren Fülle u n d „empirischen Zufälligkeit" des wirklichen, k o n k r e t e n Verlaufes in der T o t a l i t ä t seiner B e s t i m m u n g e n , D u r c h k r e u z u n g e n , U n t e r b r e c h u n g e n , R ü c k l ä u f e usw. z u m Zwecke einer historischen Begreifung abgesehen wird. Solche „ A b s t r a k t i o n e n " d ü r f e n u n d müssen v o r g e n o m m e n werden, weil n u r die Herausschälung einzelner Schichten einen Einblick in die verschlungenen Gebilde der „ w i r k l i c h e n " K u l t u r u n d Geschichte, bzw. in die „ w i r k e n d e n " 12*



180



Energien der in sich geschichteten Konkretheit des Geschehens gewährt, mag auch das in seiner Einmaligkeit rational unfaßbare Bild desselben, das dadurch n u r noch deutlicher gemacht und in seiner Rätselhaftigkeit gesteigert wird, niemals restlos verschwinden, vielmehr stets von Neuem der Philosophie die polar-transscendente S t r u k t u r des konkreten Geistes zum Bewußtsein bringen. An eine endliche Lösung der Probleme k a n n darum ebensowenig gedacht werden, wie an der Sachlichkeit derselben gezweifelt werden darf, sofern sie die echte Kritik bedrängen. Die Behauptung der p r i n z i p i e l l e n Unlösbarkeit indessen m ü ß t e zur Leugnung sinnvoller Fragemöglichkeit in philosophischer Blickrichtung führen. Es ist aber auch eigentlich die P r o b l e m s t e l l u n g , welche nach Gadamer der Forschung prinzipielle Schwierigkeiten bereitet; die Problemstellung, wie er sie versteht, zeigt sich wesentlich durch die Momente der E i n m a l i g k e i t oder E i n z i g k e i t des geschichtlichen Vollzuges bedingt. Gadamer schreibt 1 : „Das ist die Grundbestimmung des Problems, zu sein als ein jeweils aktual aufgegebenes", und „ d a ß einem selbst geschichtlich bestimmten Denker a l l e Probleme, die die Geschichte kennt, aufgegeben wären, widerspräche schlechtweg dem Sinn des geschichtlichen S e i n s der Philosophie". „ E s zielt — so heißt es weiter 2 — an der S e i n s w e i s e des Problems vorbei, wenn m a n den Problembestand oder -Gehalt als ewigen und absoluten von der Wandelbarkeit der Problemstellungen und -fassungen im Ganzen der Geschichte abhebt. Denn Problemsein heißt: in bestimmt formulierter Weise fraglich s e i n . . . . Problemformulierung und Problemgehalt sind beide abhängig von der jeweilig anderen Grundhaltung gegenüber dem Dasein". Sollte in diesen Sätzen nicht mit Unrecht der Wert der Idee eines zeitlosen Systems als „ewigen" Sachverhaltes geleugnet werden ? Wie zur Kompensierung dieses Mangels stellt sich anstatt dessen der Begriff des „Daseins" ein. Bezeichnend ist der folgende Satz 3 : „Unbeschadet also der realen I d e n t i t ä t der Welt und des Daseins in ihr ist der Gehalt der Probleme, in denen sich diese Welt dem philosophierenden Menschen gibt, jeweils neu". Der hier gesetzte Begriff der realen Identität der Welt und 1

1. c. S. 61.

a

S. 61.

3

S. 62.



181



des Daseins in ihr k a n n sich der philosophischen K r i t i k gegenüber n u r als F u n d a m e n t legitimieren, wenn er als solches nicht im Sinne einer gegebenen Substanz, sondern i m Sinne der aufgegeb e n e n systematischen Einheit gedacht wird. Gadamer lehnt wegen der einseitigen Betonung der Situationsbedingtheit geschichtlicher Philosophie diese Gedanken a b : „Die Objektivierung der Probleme zu einem überzeitlichen, identischen Bestände erweist sich f ü r die Methodik der Philosophiegeschichte nicht als tragf ä h i g " . D a r u m ist er gezwungen, die Absolutheit ganz in die andere Dimension zu verlegen: „ D a s Problem verliert — wie er schreibt — d a m i t aber nichts von seiner eigentlich philosophischen Objektivit ä t u n d Absolutheit, d a ß es ein einmalig aufgegebenes i s t " . „Relativistisch würde eine solche Auffassung erst durch das Vorurteil , als wäre das geschichtliche Dasein des Menschen eine Zufälligkeit, von der die Philosophie abzusehen gehalten wäre". Indessen wird m a n die Zufälligkeit, welche jeden in der Zeitlichkeit sich entfaltenden Sinnzusammenhang bedroht, als polartranszendentes Moment der „Wirklichkeit" i m geschichtlichen Leben u n d Werden, nicht gut verleugnen k ö n n e n ; ein indirekter Beweis d a f ü r liegt schon in der Tatsache, d a ß alle „geschichtsp h i l o s o p h i s c h e n " K o n s t r u k t i o n e n sie v o n Neuem überwinden müssen. I n diesem P u n k t e k a n n die kritische Philosophie n u r zeigen, d a ß die „ N o t w e n d i g k e i t " der Geschichte u n d d a m i t auch ihrer einzelnen Situationen durchaus nicht Notwendigkeit in j edem Sinne ist, u n d d a ß sie im Bereich der Philosophie n u r in der I d e e d e r S t u f e n s y s t e m a t i k des Erlebens ihre transzendental deduzierbare Geltungsgrundlage f i n d e t .

5. Historische

Interpretation.

Den darauf folgenden Gedanken Gadamers wird m a n dagegen nicht n u r zustimmen können, sondern in ihnen sogar den Begriff der i d i o m a t i s c h strukturierten geschichtlichen Philosophie u n d der aus ihm sich ergebenden Begingungen h i s t o r i s c h e r I n t e r p r e t a t i o n gleichsinnig bestätigt und in einigen wesentlichen Zügen ergänzt finden. D a n a c h m u ß zunächst eine K o n f o r m i t ä t in der geistigen H a l t u n g u n d der Situation des interpretierenden u n d



182



des zu interpretierenden Philosophen bestehen 1 . „Nur wo das Vergangene wirklich lebendiges Glied in der eigenen Gegenwart ist, dort gibt es ein Verstehen vergangener Philosophie". „Erst dort gibt e s . . . . so etwas wie eine Identität der Probleme, wo die gleiche Grunderfahrung und die gleiche Grundauffassung des Daseins vorliegen, d. h. wo es geistige Tradition gibt 2 ". Die T r a d i t i o n stiftet den Zusammenhang des Vollzuges, der aber nicht in der philosophischen Richtung des kulturellen Lebens allein, sondern in wechselseitig sich bedingender, erhellender und befruchtender Tätigkeit aller Richtungen erst wahrhaft seine Einheit gewinnen kann. „Es kann also gar keine Geschichte einzelner Probleme geben, die nicht völlig orientiert wäre an der Einsicht in die Geschichte des Geistes überhaupt und die nicht zugleich dieser Einsicht selber wieder diente". 6. Der Wahrheitsbegriff

der

Philosophie.

„Situation" und „Person" müssen freilich unterschieden bleiben. Nur allzuleicht gerät der nur noch an idiomatisch-konstituierter Einheit orientierte Begriff des p h i l o s o p h i s c h e n S y s t e m s in Gefahr, die systematische Einheit der Geschichte wieder zu zerstören. Wenn es heißt 3 : „In der jeweilig zu gewinnenden Auseinandersetzung mit den Sachen selbst liegt stets das systematische Motiv Weil das eigene Dasein (!) ein einheitliches ist, aus dem sich kein Moment wegdenken läßt und keines hineindeuten, das nicht darin liegt, deshalb ist auch die Auseinandersetzung mit allen Problemen, die dieses Dasein bedrängen, von notwendig systematischer Struktur. Der gegenständliche Geltungsanspruch des philosophischen Systems behauptet sich also wohl, auch ohne eine ausdrückliche Vorwegnahme eines systematischen Einheitsgedankens, j a nur so", dann führt der Begriff des „individuellen" Systems, der hier allein in Geltung bleibt, unweigerlich zur „Bin1

2

Vgl. auf S. 70: „Alle verwertende und weiterführende Forschung an geschichtlich vorgegebenen Problemen ist.. . . überhaupt erst dann imstande, dem Sachverhalte dieser Probleme aufschließend nahe zu kommen, wenn... eine mitgehende oder verstehende Aneignung der jeweils bestimmenden Einstellung zum Dasein vollzogen ist" usw 3 1. c. S. 69. 1. c. S. 63.

— 183 —

dung des Begriffes objektiver philosophischer Wahrheit an die persönliche Existenz des Philosophen". Darin liegt aber ersichtlich jene einseitige Übertreibung eines an sich berechtigten systematischen Prinzips der geschichtlichen Philosophie, über dessen Gültigkeit und Reichweite bereits gesprochen und entschieden wurde. G a d a m e r glaubt sich dennoch vor den Gefahren des „Subjektivismus" und des „Bildersaales" S i m m e i s sicher, wie er andererseits den Absolutismus energisch bekämpft. Beiden Einstellungen ist nach seiner Ansicht gemeinsam das ganz unsachliche 1 „Vorurteil, als ob man vom eigenen Dasein absehen müsse zum Zwecke einer reinen, vorurteilslosen Forschung". Er meint „in beiden Richtungen prägt sich der gleiche W a h r h e i t s b e g r i f f aus: die philosophischen Inhalte, wie sie an sich, objektiv, sind, zu erfassen — oder, wo man aus der Uberhelle historischer Bewußtheit heraus daran verzweifelt, die Geschichte der Philsophie, wie sie an sich selbst, objektiv, war, zu erforschen" 2 . Auch ohne diese Vorurteile dürfte aber die Idee des immanenten Systems ihr Recht behalten. Abermals muß hier, wie zu Anfang der ganzen Untersuchung über das Problem der Geschichtlichkeit und ihr Verhältnis zum Systembegriff der Philosophie darauf hingewiesen werden, daß keine Entscheidung desselben ohne die offene oder stillschweigende Setzung „übergeschichtlicher" oder besser: „geschichtsbildender" Strukturen auskommen kann; bei Gadamer bekundet sich diese Notwendigkeit einerseits in der Verabsolutierung der „einmalig" und „jeweils aktual aufgegebenen" Probleme, andererseits in dem unvermeidlichen Anspruch seiner eigenen problemtheoretischen Behauptungen auf die Dignität einer objektiven Lösung dieses (nach ihm eigentlich „unlösbaren") philosophischen Wahrheitsproblems. Der vollständige Begriff der S y s t e m a t i k dagegen begründet die g l e i c h e G ü l t i g k e i t des „objektiv-wissenschaftlichen", individuell-persönlichen (weltanschaulichen) und des der „Situation" gebührenden M a ß s t a b e s der W a h r h e i t geschichtlicher Philo1 1. 2

c. S. 74. Vgl. auch S. 75: „Es ist eine ganz irrige Konstruktion, daß das Ansichsein der Probleme und das der Geschichte zwei verschiedene Gegenstandswelten darstellen, die zwei verschiedene Einstellungen, die des Philosophen und die des Historikers der Philosophie erforderten".

— 184 — sophie u n d ü b e r w i n d e t die falsche A l t e r n a t i v e v o n A b s o l u t i s m u s u n d R e l a t i v i s m u s (Historismus, S u b j e k t i v i s m u s ) . Die p h i l o s o p h i s c h e W a h r h e i t i s t g e s c h i c h t l i c h ; die alte Meinung, d a ß sich die W a h r h e i t in einer endgültigen Gestalt ergreifen lasse, ist d a m i t n i c h t schlechthin a n t i q u i e r t , sondern n u r u n t e r die eins c h r ä n k e n d e B e d i n g u n g gestellt, d a ß j e d e solche „ e n d g ü l t i g e " L ö s u n g v o n P r o b l e m e n zugleich dialektisch das E n d e ihrer Gültigkeit b e d e u t e , d a sie eine n e u e S i t u a t i o n (subjektiv) m i t n e u e r F r a g l i c h k e i t (objektiv) geschaffen h a t . D e n n die W a h r h e i t liegt n u r in der N o t w e n d i g k e i t einer R e l a t i o n zwischen jeweils begrenzt e r „ S u b j e k t i v i t ä t " u n d b e g r e n z t e r „ O b j e k t i v i t ä t " . Allein die idiom a t i s c h e G e s t a l t einer Philosophie b r i n g t ihre individuelle E n d gültigkeit jeweils zu vollem A u s d r u c k . Die Geschichte zeigt freilich a u c h j e n e Gestalt niemals in R e i n h e i t u n d V o l l e n d u n g ; sie weist d a m i t auf j e n e T a t s a c h e h i n , d a ß die eigene Geschichtlichkeit f ü r die Philosophie in r a d i k a l e r e m Sinne u n d h ö h e r e m Maße als in irgend einer a n d e r e n W i s s e n s c h a f t z u m P r o b l e m g e m a c h t w e r d e n m u ß , weil es der Sinn der Philosophie v e r b i e t e t , irgend ein M o m e n t , das sich geltend m a c h t , aus d e m Begriff der ihr aufgegebenen k o n k r e t e n W i r k l i c h k e i t auszuschließen. Vorliegende U n t e r s u c h u n g k o n n t e n u r zeigen, d a ß das P r o b l e m der geschichtlichen Gestalt der Philosophie sich in m i n d e s t e n s zwei dimensional verschiedene Teilprobleme gliedern l ä ß t ; v o n ihnen w u r d e b l o ß das der „ W e l t a n s c h a u u n g " a u s f ü h r l i c h e r b e h a n d e l t , d a hier n u r e r ö r t e r t w e r d e n sollte, o b u n d wieweit das P r o b l e m der Geschichtlichkeit a u f g r u n d der P r i n z i p i e n einer i m m a n e n t e n S y s t e m a t i k a u t o n o m e r S i n n g e b i e t e , d. h . a l s ein Prob l e m dieser s y s t e m a t i s c h e n F o r m lösbar sei. Die D u r c h f ü h r u n g a b e r h a t gezeigt, d a ß diese selbst die Berücksichtigung jener a n d e r e n D i m e n s i o n des „ S i n n v o l l z u g s " v e r l a n g t , in welcher alle E r f a h r u n g u n d d a r u m a u c h die philosophische sich selbst als geschichtliches F a k t u m historisch e r f a ß t .

Walterde GruyterÄCo. I S i l BerHnW10,Genthinerstr.38 Geschichte der neueren Philosophie

von Nikolaus von Kues bis zur Gegenwart. Im Grundriß dargestellt von Dr. Richard Falckenberg, weil. o. Professor zu Erlangen. N e u n t e A u f l a g e , verbessert und ergänzt von Dr. E. von Aster, Professorin Gießen. Oktav. XI, 749 S. 1927. RM. 18.—, geb. 20.—

Geschichte der antiken Philosophie

Von Ernst von Aster. Gr.-Oktav. VI,274S. 1920. RM. 5—, geb. 6.50

Grundlagen der Philosophie

Von Akos von Pauler, o. ö. Professor an der Universität Budapest. Groß-Oktav. X. 348 Seiten. 1925. RM. 12.—, geb. 14.—

Gedanken zu einer ersten Philosophie Von Felix Somlö f .

Groß-Oktav.

107 Seiten.

1926.

RM. 4.—

Geschichte der neueren Erkenntnistheorie (von Descartes bis Hegel). VI, 638 Seiten. 1921.

Von Ernst von Aster. Groß-Oktav. RM. 15. geb. 16.50

Wahrheit und Erkenntnisstruktur

Erste Einleitung in den aletbeiologischen Realismus. Von Schalwa Nuzubldse, Professor an der Universität Tiflis. Oktav. XI, 196 Seiten. 1926. RM. 8.—, geb. 10.—

Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis

Von Nicolai Hartmann, o. ö. Professor an der Universität Köln. Z w e i t e , ergänzte A u f l a g e . Groß-Oktav. XV, 560 Seiten. 1925. RM. 14—, geb. 16.—

Ethik

Von Dr. Nicolai Hartmann, o. ö. Professor an der Universität Köln. Oktav. XX, 746 Seiten. 1926. RM. 29.—, geb. 32.—

Philosophie der Raum-Zeit-Lehre

Von Dr. phil. Hans Reichenbach, a. o. Professor an der Universität Berlin. Mit 50 Figuren und einer Tafel im Text. Groß-Oktav. VI, 380 Seiten. 1928. RM. 18.—, geb. 20.—

Die Stufen des Organischen und der Mensch

Einleitung in die philosophische Anthropologie. Von Helmuth Pleßner, Professor an der Universität Köln. Oktav. VIII, 346 Seiten. 1928. RM. 12.80, geb. 14.—

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Geschichte der alten chinesischen Philosophie von

Alfred Forke (Band 25 der Abhandlungen aus dem Gebiete der Auslandskunde, herausgegeben von der Hamburgischen Universität)

XVI u. 564 Seiten. Broschiert RM. 36. Eine nur einigermaßen umfassende Geschichte der chinesischen Philosophie, in welcher die verschiedenen Strömungen im chinesischen Geistesleben klar zutage träten, gibt es bis jetzt noch nicht. Sie konnte noch nicht geschrieben werden, weil die chinesische Philosophie noch zu wenig erforscht war. Jetzt,wo wenigstens die Hauptwerke der bedeutendsten Philosophen in Übersetzungen vorliegen und man eine Darstellung und Erklärung ihrer Systeme versucht hat, dürfte auch die Zeit für eine zusammenfassende Darstellung gekommen sein. Freilich sind auch jetzt noch viele der weniger berühmten Philosophen in Europa fast ganz unbekannt und ohne gründliche Benutzung der chinesischen Quellen und Beibringung von ganz neuem Material ist Vollständigkeit nicht zu erreichen. Das Ziel, das dem Verfasser bei der Abfassung des Werkes vorschwebte, ist ein zweifaches: er möchte einmal unsere Kenntnisse des geistigen Lebens eines großen Kulturvolkes erweitern und sodann für die chinesische Philophie die Stellung in der allgemeinen Geschichte der Philosophie erringen, welche ihr gebührt, das heißt, wenn es ihm möglich ist, für die chinesische Philosophie das zu tun, was Deussenlür die indische Philosophie geleistet hat. Der vorliegende Band bringt zunächst eine ausführliche Geschichte der alten chinesischen Philosophie von den ältesten Zeiten bis zum Ende des dritten vorchristlichen Jahrhunderts, an welchen sich später ein weiterer Band, der die mittlere und neuere Zeit umfaßt, anschließen soll.

F r i e d e r i c h s e n , de G r u y t e r & Co. m. b. H. Hamburg 3 6

D r u c k von J . J . Augustin in G l ü c k s t a d l und

Hamburg.