Gesammelte Werke. Band 11 Sein und Sinn: Zwei Schriften zur Ontologie [Reprint 2020 ed.] 9783112357088, 9783112357071


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German Pages 240 [236] Year 1982

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Gesammelte Werke. Band 11 Sein und Sinn: Zwei Schriften zur Ontologie [Reprint 2020 ed.]
 9783112357088, 9783112357071

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PAUL T I L L I C H • GESAMMELTE W E R K E B A N D XI

PAUL

TILLICH

SEIN U N D SINN Zwei Schriften zur Ontologie

GESAMMELTE

WERKE

BAND XI

EVANGELISCHES VERLAGSWERK F R A N K F U R T AM MAIN

Herausgegeben von Renate Albredit An der Obersetzung dieses Bandes waren beteiligt: Renate Albredit, Nina Baring, Hildegard Behrmann, Herbert Drube, Ingeborg C. Henel, Maria Rhine, Gertie Siemsen, Gertraut Stöber.

ISBN 7715-0072-9 3. Auflage 1982 Erschienen im Evangelischen Verlagswerk GmbH, Frankfurt am Main Druck: J. F. Steinkopf Druck+Buch GmbH, Stuttgart Printed in Germany

INHALT

Vorbemerkung des Herausgebers

10

DER MUT ZUM

SEIN

I SEIN UND M U T

Mut und Tapferkeit: Von Plato zu Thomms von Aquino Mut und Weisheit: Die Stoiker Mut und Selbstbejahung: Spinoza Mut und Leben: Nietzs&e

13

14 18 24 28

II SEIN, NICHTSEIN UND ANGST

33

Ontologie der Angst Der Sinn von Nichtsein Die wechselseitige Abhängigkeit von Furcht und Angst . . . .

33 33 35

Typen der Angst Die drei Typen der Angst und das Wesen des Menschen . . . . Die Angst vor Schicksal und Tod Die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit Die Angst vor Schuld und Verdammung Die Bedeutung der Verzweiflung

38 38 39 42 46 48

Epodien der Angst

50 III

PATHOLOGISCHE ANGST, VITALITÄT UND M U T

Das Wesen der pathologischen Angst Angst, Religion und Medizin Vitalität Und Mut 5

55

55 59 64

IV M U T UND PARTIZIPATION. D E R M U T , TEIL EINES G A N Z E N ZU SEIN

70

Sein, Individuation und Partizipation

70

Kollektivistische und halbkollektivistische Erscheinungsformen des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein

73

Neukollektivistische Erscheinungsformen des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein

77

Der Mut, Teil eines Ganzen zu sein, im demokratischen Konformismus

81

V M U T UND INDIVIDUATION. D E R M U T , MAN SELBST ZU SEIN

89

Das Aufkommen des modernen Individualismus und der Mut, man selbst zu sein 89 Romantische und naturalistische Erscheinungsformen des Mutes, man selbst zu sein 91 Existentialistische Formen des Mutes, man selbst zu sein 96 Existentielle Haltung und Existentialismus 96 Der existentialistische Gesiditspunkt 98 Der Verlust des existentialistisdien Gesichtspunktes 101 Existentialismus als Protest 104 Der gegenwärtige Existentialismus und der Mut der Verzweiflung Mut und Verzweiflung Der Mut der Verzweiflung in der zeitgenössischen Kunst und Literatur Der Mut der Verzweiflung in der zeitgenössischen Philosophie Der Mut der Verzweiflung in der unsdiöpferischen existentialistisdien Haltung Die Grenzen des Mutes, man selbst zu sein

106 106 108 112 114 114

VI M U T UND TRANSZENDENZ. D E R M U T , SICH ZU BEJAHEN ALS BEJAHT

117

Die Macht des Seins als Quelle des Mutes zum Sein 118 Die mystische Erfahrung und der Mut zum Sein 118 Die göttlidi-menschlidie Begegnung und der Mut zum Sein 120 Schuld und der Mut, sich zu bejahen als bejaht 122 6

Schicksal und der Mut, sich zu bejahen als bejaht Der absolute Glaube und der Mut zum Sein Der Mut zum Sein als Schlüssel zum Sein-Selbst Das Nichtsein erschließt das Sein Die Uberwindung des Theismus Der Gott über Gott und der Mut zum Sein

LIEBE, MACHT,

125 127 132 132 134 137

GERECHTIGKEIT I

P R O B L E M E U N D M I S S VERSTÄNDNISSE

143

Die innere Problematik der Begriffe Liebe, Macht und Gerechtigkeit 143 Die Problematik in der Beziehung der Begriffe zueinander 149 II D A S S E I N U N D DIE L I E B E

Die ontologische Frage Eine Ontologie der Liebe

154

154 158 III

D A S S E I N U N D DIE M A C H T

Das Sein als Seinsmächtigkeit Eine Phänomenologie der Macht Macht und Zwang Die ontologische Einheit von Liebe und Macht

165

165 168 172 173

IV D A S S E I N U N D DIE G E R E C H T I G K E I T

Gerechtigkeit als die Form des Seienden Prinzipien der Gerechtigkeit Bedeutungsschichten der Gerechtigkeit Die ontologische Einheit von Gerechtigkeit, Macht und Liebe . . . . 7

177

177 179 182 185

V D I E EINHEIT VON GERECHTIGKEIT, LIEBE UND M A C H T IN ZWISCHENMENSCHLICHEN BEZIEHUNGEN

Ontologie und Ethik Von der Gerechtigkeit in persönlichen Begegnungen

189

189 193

Die Einheit von Gereditigkeit und Liebe in persönlichen Begegnungen 196 Die Einheit von Gerechtigkeit und Macht in persönlichen Begegnungen 199 VI D I E EINHEIT VON MACHT, GERECHTIGKEIT UND L I E B E IN DEN BEZIEHUNGEN ZWISCHEN SOZIALEN GRUPPEN

202

Machtstrukturen in Natur und Gesellschaft 202 Macht, Gerechtigkeit und Liebe in der Begegnung sozialer Gruppen 207 VII D I E EINHEIT VON LIEBE, MACHT UND GERECHTIGKEIT IN DER BEZIEHUNG ZUM UNBEDINGTEN

Gott als die Quelle von Liebe, Macht und Gerechtigkeit Liebe, Macht und Gerechtigkeit in der Geistgemeinschaft

8

213

214 218

V O R B E M E R K U N G DES

HERAUSGEBERS

Die beiden vorliegenden Schriften „Der Mut zum Sein" und „Liebe, Macht, Gerechtigkeit" sind Neubearbeitungen der Übersetzungen aus den Jahren 1952 bzw. 1954. Die Bearbeitung erwies sich als notwendig, weil von 1956-1965 (dem Todesjahr Paul Tillichs) eine neue Methode des Obersetzens entwickelt worden ist, die in ständiger Fühlungnahme und Zusammenarbeit mit dem Autor entstand. Die Erfahrungen dieser Jahre durften bei der Neuherausgabe der beiden wichtigen Schriften nicht unberücksichtigt bleiben. So entschlossen sich Verlag und Herausgeber, die früheren Ubersetzungen für die Aufnahme in die Gesammelten Werke neu bearbeiten zu lassen. Der Dank für Mitarbeit an diesem Band gilt vor allem Herrn Professor D. Dr. Carl Heinz Ratschow, der wiederum die endgültige Durchsicht und Prüfung der Obersetzungstexte übernahm. Für weitere Mitarbeit sei gedankt: Frau Dr. Ingeborg C. Henel für die Neubearbeitung von „Der Mut zum Sein", Herrn Dr. Herbert Drube für die Neubearbeitung von „Liebe, Macht, Gerechtigkeit", Frau Dr. Gertie Siemsen für ihre kritische Stellungnahme zu den Neubearbeitungen und ihre vielen wertvollen Gegenvorschläge, Frau Hildegard Behrmann und Frau Gertraut Stöber für ihre Mithilfe beim Korrekturlesen, Herrn Oberstudienrat Adolf Müller für die Herstellung des Sadiregisters. Auch den Verlegern, die ihre Erlaubnis zum Wiederabdruck gaben, sei Dank gesagt: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen, für „Liebe, Macht, Gerechtigkeit", Steingrüben-Verlag, Stuttgart, für „Der Mut zum Sein". (Siehe auch die bibliographischen Angaben auf Seite 226.) Düren, im März 1969

Renate Albrecht

I

S E I N UND MUT In dem Begriff „Mut" sind theologisdie, soziologische und philosophische Gehalte vereinigt. Wenige Begriffe sind so wie er geeignet, als Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Situation zu dienen. Mut ist vor allem ein ethischer Begriff, aber er verweist auf den ganzen Bereich der menschlichen Existenz, und seine Wurzeln reichen in die Tiefe des Seins selbst. Er muß ontologisdi betrachtet werden, wenn er ethisch verstanden werden soll. Dies wird an einer der frühesten philosophischen Erörterungen des Mutes deutlich, an Piatos Dialog „Ladies". Im Verlauf dieses Dialogs werden verschiedene Versuche, den Begriff Mut zu definieren, verworfen. Dann versucht Nikias, der berühmte General, eine Definition zu geben. Als militärisdier Führer sollte er wissen, was Mut ist, und sollte es auch sagen können. Aber seine Definition erweist sich als ebenso ungenügend wie die der anderen. Wenn Mut, wie er behauptet, das Wissen von dem ist, „was gefürchtet und was gewagt werden soll", dann wird die Frage des Mutes zu einem universalen Problem, denn um sie beantworten zu können, muß man ein „Wissen von allem haben, was, unter welchen Umständen auch immer, das Gute und das Falsche ist". Diese Definition widerspricht jedoch der vorangegangenen Behauptung, daß Mut ein Teil der Tugend sei. „Also", so schließt Sokrates, „ist es uns nicht gelungen, festzustellen, was Mut wirklich ist". Dies ist im Rahmen des sokratischen Denkens ein schwerwiegendes Versagen; denn nach Sokrates ist Tugend Wissen, und Unwissen über das Wesen des Mutes macht auch das Handeln in Übereinstimmung mit dem wahren Wesen des Mutes unmöglich. Aber dieser mißlungene Versuch des Sokrates ist wichtiger als die meisten der scheinbar gelungenen Definitionen, auch diejenigen von Plato und Aristoteles eingeschlossen; denn die Unfähigkeit, eine Definition des Mutes als einer Tugend unter anderen zu geben, offenbart ein Grundproblem der menschlichen Existenz. Sie zeigt, daß ein Verständnis des Mutes ein Verständnis des Menschen und seiner Welt, ihrer Strukturen und Werte, voraussetzt. Nur wer diese versteht, weiß, was er bejahen und was er verneinen soll. Die ethische Frage nach dem Wesen des Mutes führt unausweichlich zu der ontologisdien Frage nach dem Wesen des Seins und umgekehrt: die onto13

logische Frage nach dem Wesen des Seins kann in Form der ethischen Frage nach dem Wesen des Mutes gestellt werden. Mut kann uns zeigen, was Sein ist, und Sein kann uns zeigen, was Mut ist. Deshalb handelt das erste Kapitel dieser Sdirift von „Sein und Mut". Obwohl nidit zu erwarten ist, daß mir gelingt, was Sokrates nidit gelungen ist, so mag doch der Mut, ein fast unvermeidliches Mißlingen auf mich zu nehmen, dazu beitragen, daß das sokratische Problem lebendig bleibt.

M U T UND TAPFERKEIT: V O N P L A T O z u THOMAS VON A Q U I N O

Der Titel dieser Sdirift, „Der Mut zum Sein", vereint in sich beide Bedeutungen des Begriffs Mut, die ethische und die ontologische. Mut als menschlicher Akt, als Ausdruck einer Wertung, ist ein ethischer Begriff. Mut als universale und essentielle Selbstbejahung ist ein ontologischer Begriff. Der Mut zum Sein ist der moralisdie Akt, in dem der Mensch sein eigenes Sein bejaht trotz der Elemente in seiner Existenz, die im Widerspruch zu seiner essentiellen Selbstbejahung stehen. In der Geschichte des abendländischen Denkens finden sich fast überall beide Bedeutungen von Mut. Da wir uns mit der stoisdien und neostoisdien Idee des Mutes in besonderen Kapiteln befassen werden, möchte ich mich hier auf die Auffassung des Mutes beschränken, wie sie sich in der philosophischen Tradition findet, die von Plato zu Thomas von Aquino führt. In Piatos „Staat" wird der Mut mit dem Element der Seele verbunden, das thymos (Lebenskraft, Kühnheit) genannt wird, und beide werden der Gesellsdiaftssdiicht der phylakes (Wächter) zugeordnet .Thymos liegt zwischen dem intellektuellen und dem sinnlichen Element im Menschen. Es ist der unreflektierte Drang nach dem, was edel ist, und hat als solcher eine zentrale Stellung in der Struktur der Seele: er überbrückt die Kluft zwischen Vernunft und Begierde. Zumindest hat er die Möglichkeit, sie zu überbrücken. Tatsächlich war die Hauptrichtung des platonischen Denkens und der platonischen Tradition jedoch dualistisch, sie betonte den Konflikt zwischen dem Vernünftigen und dem Sinnlichen. Die Brücke wurde nicht benutzt. Noch bei Descartes und Kant wirkt sich die Ausschaltung des dritten Elements im menschlichen Sein, des thymoeides, auf die Ethik und die Ontologie aus. Sie lag Kants moralischem Rigorismus zugrunde und der Spaltung des Seins in „Denken" und „Ausdehnung" bei Descartes. Die soziologischen Veränderungen, mit denen diese Entwicklung zusammenhing, sind bekannt genug. Die platonischen phylakes sind die waffentragende Aristokratie, die Repräsentanten dessen, was edel und 14

schön ist. Aus dieser Schicht gehen die Träger der Weisheit hervor, die dem Mut die Weisheit hinzufügen. Aber diese Aristokratie und die Werte, die sie repräsentierte, zerfielen. In der Spätantike und im modernen Bürgertum spielen sie keine Rolle mehr. An ihre Stelle treten die Vertreter der aufgeklärten Vernunft und die von praktischen Gesichtspunkten organisierten und geleiteten Massen. Plato selbst jedodi hat das thymoeides als eine wesentlidie Funktion des Menschen betrachtet, als einen ethisdien Wert und eine soziologische Qualität. Das aristokratische Element in der Lehre vom Mut wurde durch Aristoteles zugleich bewahrt und eingeschränkt. Nach ihm sollen Leid und Tod mutig ertragen werden, weil das edel ist und das Gegenteil verächtlich wäre.1 Der Mensch handelt mutig „um des Edlen willen, denn das Edle ist das Ziel der Tugend" (Nik. Ethik, III, 7). „Edel" an dieser und anderen Stellen ist die Übersetzung von kalos und „verächtlich" die Übersetzung von aischros, Worten, die gewöhnlich als „schön" und „häßlich" übersetzt werden. Eine schöne oder edle Tat ist eine lobenswerte Tat. Der Mutige tut, was lobenswert ist, und unterläßt, was verächtlich ist. Lobenswert ist das, wodurch ein Wesen seine Potentialitäten erfüllt oder seine Vollkommenheit aktualisiert. Mut ist die Bejahung der eigenen essentiellen Natur, des eigenen inneren Ziels, der Entelecnie. Aber sie ist eine Bejahung, die den Charakter des „trotzdem" hat. Sie bringt das mögliche und zuweilen unausweichliche Opfer von Elementen mit sich, die uns, obwohl sie Teil unseres Selbst sind, an dem Erreichen unserer aktuellen Erfüllung hindern würden,, wenn wir sie nicht opferten. Dieses Opfer kann die Aufgabe von Vergnügen, Glück, ja, die Hingabe des eigenen Lebens bedeuten. Auf jeden Fall ist das mutige Handeln lobenswert, weil sich in ihm der wesentlichere Teil unseres Selbst gegen den weniger wesentlichen durchsetzt. Der Mut ist schön und gut, weil in ihm das Schöne und Gute aktualisiert wird. Das macht ihn edel. Vollkommenheit wird nach Aristoteles (ebenso wie nach Plato) stufenweise erreicht, auf der natürlichen, der persönlichen und der gesellschaftlichen Stufe; und Mut als Bejahung des eigenen essentiellen Seins tritt in einigen dieser Stufen deutlicher zutage als in anderen. Da die größte Probe des Mutes die Bereitschaft ist, das größte Opfer zu bringen, d. h. das Opfer des eigenen Lebens, und da der Beruf des Kriegers die ständige Bereitschaft zu diesem Opfer verlangt, hat der Mut des Kriegers von jeher als das hervorragende Beispiel des Mutes gegolten. 1 Nik. Ethik. III, 9. Zitiert nach der Ubersetzung von Eugen Rolfes; Philos. Bibliothek. Bd. 5. Leipzig 1921.

15

Das griechische Wort für Mut andreia (Männlichkeit) und das lateinische Wort fortitudo (Stärke) weisen auf den militärischen Aspekt des Mutes hin. Solange die Aristokratie die waffentragende Schicht war, fielen die aristokratische und die militärische Seite des Mutes zusammen. Als die aristokratische Tradition untergegangen war und Mut als das universale Wissen von dem, was gut und was böse ist, definiert werden konnte, kamen Weisheit und Mut zur Deckung, und der wahre Mut wurde vom Mut des Kriegers unterschieden. Der Mut des sterbenden Sokrates war rational-demokratisch, nicht heroisch-aristokratisdi. Aber die aristokratische Seite lebte im frühen Mittelalter wieder auf. Mut wurde wieder ein Kennzeichen des Adels. Der Ritter repräsentiert Mut als Krieger und als Edelmann. Er hat hohen muot, einen hochherzigen, edlen und kühnen Geist. Die deutsche Sprache hat neben „mutig" auch das Wort „tapfer"; es bedeutet ursprünglich entschlossen, fest, wichtig und weist auf die Seinsmächtigkeit der oberen Schicht in der feudalen Gesellschaft hin. Mut ist eine Seelenregung, eine Stimmung, was noch in dem englischen Wort mood zum Ausdruck kommt und in Kombinationen wie Schwermut, Hochmut, Kleinmut. Mut ist eine Sache des Herzens, des Zentrums der Person; deshalb kann man für mutig auch beherzt sagen (das französische und englische Wort courage ist von coeur abgeleitet). Während Mut diese umfassendere Bedeutung beibehalten hat, wurde die Bedeutung von Tapferkeit immer mehr auf die besondere Tugend des Kriegers eingeengt, der nicht mehr mit dem Edelmann identisch war. In den Begriffen Mut und courage tritt das ontologische Moment deutlich zutage, während die Begriffe fortitudo und Tapferkeit in ihrer heutigen Bedeutung keinen derartigen Sinn enthalten. Der Titel dieser Schrift könnte unmöglich „Die Tapferkeit zum Sein" lauten, es muß „Der Mut zum Sein" heißen. Diese philologischen Bemerkungen verdeutlichen die mittelalterliche Situation in bezug auf den Begriff des Mutes und weisen so auf die Spannung zwischen der heroisdi-aristokratisdien Ethik des frühen Mittelalters und der rational-demokratisdien Ethik hin, die ein Erbe der christlidihumanistischen Tradition ist und am Ende des Mittelalters wieder in den Vordergrund tritt. Diese Situation findet klassischen Ausdruck bei Thomas von Aquino in seiner Lehre vom Mut. Thomas erkennt und erörtert die doppelte Bedeutung des Mutes. Mut ist Geistesstärke, die alles überwindet, was die Erlangung des höchsten Gutes bedroht. Zusammen mit Weisheit, Mäßigung und Gerechtigkeit gehört er zu den vier Kardinaltugenden. Diese sind, wie eine genaue Analyse zeigt, nicht gleichen Ranges. Mut, mit 16

Weisheit vereint, umfaßt Mäßigung in bezug auf die eigene Person und Gerechtigkeit in bezug auf andere. Das läßt die Frage offen, ob Mut oder Weisheit die umfassendere Tugend ist. Die Antwort hängt von dem Ergebnis des berühmten Streites darüber ab, ob im Wesen des Seins und folglich auch in der menschlichen Persönlichkeit der Intellekt oder der Wille den Vorrang hat. Da Thomas sidi eindeutig für die Priorität des Intellekts entscheidet, muß er notwendigerweise den Mut der Weisheit unterordnen. Eine Entscheidung für die Priorität des Willens würde auf eine größere, wenn audi nicht vollständige, Unabhängigkeit des Mutes von der Weisheit schließen lassen. Der Unterschied zwischen diesen beiden Gedankenrichtungen ist entscheidend für die Bewertung des „wagenden Mutes", in religiöser Terminologie: für das Wagnis des Glaubens. Unter der Vorherrschaft der Weisheit ist der Mut wesentlich Geistesstärke, die den Gehorsam gegen die Forderungen der Vernunft (oder der Offenbarung) möglich madit, während der wagende Mut dazu beiträgt, Weisheit zu schaffen. Die offensichtliche Gefahr der ersten Auffassung ist unschöpferische Stagnation, wie sie sidi oft in katholischem und in rationalistischem Denken findet, während die ebenso offensichtliche Gefahr der zweiten Auffassung richtungslose Willkür ist, wie sie sich in gewissen protestantischen Richtungen und in den meisten Formen des Existentialismus findet. Thomas verteidigt jedoch auch den engeren Begriff des Mutes als eine Tugend unter anderen (diesen bezeichnet er immer als fortitudo, Tapferkeit). Wie in den Erörterungen des Mutes in diesem engeren Sinne üblich, weist er auf den Mut des Kriegers als ein hervorragendes Beispiel hin. Dies steht in Einklang mit der allgemeinen Tendenz des Thomas, die aristokratische Struktur der mittelalterlichen Gesellschaft mit den universalistischen Elementen des Christentums und des Humanismus zu vereinen. Der vollkommene Mut ist nach Thomas eine Gabe des göttlichen Geistes. Durdi den göttlichen Geist wird die natürliche Geistesstärke in den Stand übernatürlicher Vollkommenheit erhoben. Dies bedeutet, daß der Mut mit den spezifisdi christlichen Tugenden, Glaube, Hoffnung, Liebe, vereint ist. So beginnt sich eine Entwicklung-abzuzeichnen, in der die ontologische Seite des Mutes in den Glauben (der die Hoffnung einschließt) hineingenommen wird, während die ethische Seite des Mutes in die Liebe, d. h. das ethische Prinzip, aufgenommen wird. Die Aufnahme des Mutes in den Glauben, der die Hoffnung miteinsdiließt, erscheint schon ziemlich früh, zum Beispiel in Ambrosius' Lehre vom Mut. Er folgt der antiken Tradition, wenn er die fortitudo „eine höhere Tugend als die übrigen Tugenden" nennt, obwohl sie sich 17

niemals als einzige Tugend ohne die anderen Tugenden findet. Der Mut hört auf die Vernunft und führt aus, was diese verlangt. Er ist die Stärke der Seele, die in der äußersten Gefahr den Sieg erringt, wie bei jenen Märtyrern im Alten Testament, die in Hebräer 11 genannt werden. Der Mut verleiht Trost, Geduld und Erfahrung und läßt sich nicht mehr von Glaube und Hoffnung unterscheiden. Diese Entwicklung zeigt, daß uns jeder Versuch, den Mut zu definieren, vor die Alternative stellt, das Wort Mut als Bezeichnung für eine Tugend unter anderen zu gebrauchen und die umfassendere Bedeutung des Wortes mit Glauben und Hoffnung zu verschmelzen, oder die umfassendere Bedeutung des Wortes zu erhalten und Glauben durch eine Analyse des Mutes zu interpretieren. Idi folge hier dem zweiten Weg, und zwar in erster Linie, weil ich der Ansicht bin, daß der Begriff Glaube mehr als irgendein anderer religiöser Begriff der Neuinterpretation bedarf. M U T U N D W E I S H E I T : D I E STOIKER

Der umfassendere Begriff des Mutes, der ein ethisdies und ein ontologisches Element enthält, gewinnt am Ausgang des Altertums und am Beginn der Neuzeit außerordentliche Bedeutung, besonders im Stoizismus und im Neostoizismus. Beide sind philosophische Schulen, aber sie sind zugleich mehr, nämlich die Form, in der einige der edelsten Gestalten der Spätantike und ihre Nachfolger in der Neuzeit die Frage der Existenz beantworteten und die Angst vor Schicksal und Tod überwanden. In diesem Sinne ist der Stoizismus eine religiöse Haltung, gleich, ob er theistische, atheistische oder transtheistische Formen annimmt. Aus diesem Grunde ist der Stoizismus in der abendländischen Welt die einzige wirkliche Alternative zum Christentum. Das ist eine erstaunliche Behauptung angesichts der Tatsache, daß es die Gnosis und der Neuplatonismus waren, gegen die sich das Christentum auf religiösphilosophischem Gebiet zu behaupten hatte, und das Römische Reich, gegen das es auf religiös-politischem Gebiet zu kämpfen hatte. Die hochgebildeten, individualistischen Stoiker scheinen für das Christentum keine Gefahr gewesen zu sein, im Gegenteil, sie waren bereit, Elemente des christlichen Theismus aufzunehmen. Aber diese Auffassung beruht auf einer oberflächlichen Analyse. Das Christentum und der religiöse Synkretismus der antiken Welt hatten eine gemeinsame Grundlage: die Idee, daß ein göttliches Wesen zur Erlösung der Welt vom Himmel herabkommen werde. In den religiösen Bewegungen, die 18

von dieser Idee getragen waren, wurde die Angst vor dem Schicksal und vor dem Tode durch die Partizipation des Menschen an dem göttlichen Wesen, das Schicksal und Tod auf sich genommen hatte, besiegt. Obwohl das Christentum einen ähnlichen Glauben vertrat, war es dem Synkretismus überlegen, und zwar dadurch, daß der Erlöser Jesus Christus ein individuelles Wesen war und daß es sich auf das konkrethistorische Fundament des Alten Testaments stützen konnte. Deshalb konnte das Christentum viele Elemente des religiös-philosophischen Synkretismus der antiken Welt assimilieren, ohne sein geschichtliches Fundament zu verlieren, aber es konnte sich nicht die eigentlich stoische Haltung aneignen. Das ist besonders bemerkenswert, wenn wir an den ungeheuren Einfluß denken, den die stoische Logoslehre und das natürliche Moralgesetz auf die christliche Dogmatik und Ethik ausübten. Diese weitgehende Aufnahme stoischer Ideen konnte jedoch die Kluft nicht überbrücken, die zwischen der stoischen Haltung einer kosmischen Resignation und dem christlichen Glauben an eine kosmische Erlösung besteht. Der Sieg der christlichen Kirche drängte den Stoizismus in den Hintergrund, aus dem er erst am Beginn der modernen Zeit wieder hervortrat. Ebensowenig bildete das Römische Reich eine Alternative zum Christentum. Hier ist wiederum bemerkenswert, daß es nicht die launenhaften Tyrannen vom Typ Neros oder die fanatischen Reaktionäre vom Typ Julians waren, die eine ernste Gefahr für das Christentum bedeuteten, sondern die aufrichtigen Stoiker vom Typ Marc Aurels. Das hat seinen Grund darin, daß der Stoiker einen persönlichen und gesellschaftlichen Mut besitzt, der eine echte Alternative zum christlichen Mut ist. Der stoische Mut ist keine Erfindung der stoischen Philosophen. Diese gaben ihm klassischen Ausdruck in rationalen Begriffen; aber seine Wurzeln gehen zurück auf Mythen und Heroensagen, alte Weisheitssprüche, frühe Dichtungen und Tragödien und eine Jahrhunderte alte philosophische Tradition, die alle vor dem Aufkommen des Stoizismus bestanden. Ein besonderes Ereignis gab dem Mut der Stoiker seine bleibende K r a f t : der Tod des Sokrates. Er war für die gesamte antike Welt nicht nur ein Geschehnis, sondern auch ein Symbol, in dem die menschliche Situation angesichts von Schicksal und Tod zum Ausdruck gekommen war. In ihm hatte sich der Mut gezeigt, der das Leben bejahen konnte, weil er den Tod bejahen konnte. Er rief eine tiefgreifende Veränderung in der traditionellen Bedeutung des Mutes hervor. Durch Sokrates wurde der heroische Mut der Vergangenheit zum rationalen und universalen Mut. Der aristokratischen Idee des Mutes wurde eine demokratische entgegengesetzt; die Tapferkeit des Kriegers wurde 19

durdi den Mut der Weisheit transzendiert. In dieser Form brachte er vielen Mensdien in einer Zeit der Katastrophen und Umwälzungen „den Trost der Philosophie". Die Besdireibung des stoischen Mutes durch einen Mann wie Seneca zeigt die wechselseitige Abhängigkeit der Furcht vor dem Tode und der Furcht vor dem Leben einerseits, wie des Mutes zum Leben und des Mutes zum Sterben andrerseits. Seneca weist auf die Menschen hin, die „nicht leben wollen und nicht zu sterben wissen". Er spricht von einer libido moriendi, die der genaue lateinische Ausdruck für Freuds „Todestrieb" ist. Er berichtet von Menschen, die das Leben als sinnlos und überflüssig empfinden und die, ähnlich wie im Budi des Predigers im Alten Testament, sagen: Ich kann nichts Neues tun, ich kann nichts Neues sehen! Diese Haltung ist nach Seneca eine Folge des Lustprinzips oder des Verlangens nach „einer guten Zeit", wie Seneca es nennt, einen amerikanischen Ausdruck vorwegnehmend - eine Haltung, die er besonders in der Jugend findet. Wie bei Freud der Todestrieb die negative Seite der niemals befriedigten libido ist, so führt nach Seneca das Lustprinzip notwendigerweise zu Ekel und Verzweiflung am Leben. Aber Seneca wußte (wie Freud), daß die Unfähigkeit, das Leben zu bejahen, nicht die Fähigkeit bedeutet, den Tod zu bejahen. Die Angst vor dem Schicksal und vor dem Tod beherrscht selbst das Leben derer, die den Willen zum Leben verloren haben. Deshalb richtet sich die stoische Aufforderung zum Selbstmord nicht an die, die dem Leben unterlegen sind, sondern an die, die Herr über das Leben geworden sind, die zu leben und zu sterben wissen und in Freiheit zwischen beidem wählen können. Selbstmord aus Furcht, als Ausflucht, widerspricht dem stoisdien Mut zum Sein. Der stoische Mut ist Mut zum Sein im ontologisdien wie im ethischen Sinn. Er beruht auf der Herrschaft der Vernunft im Menschen. Aber Vernunft bedeutet weder bei den alten noch bei den neuen Stoikern dasselbe, was sie im heutigen Sprachgebrauch bedeutet. Vernunft im stoischen Sinn ist nidit die Fähigkeit, zu überlegen und verständig zu urteilen auf Grund von Erfahrung und mit Hilfe der allgemeinen oder der mathematischen Logik. Für die Stoiker ist Vernunft logos, die sinnvolle Struktur der Wirklichkeit im ganzen und des mensdilichen Geistes im einzelnen. „Wenn es kein anderes Attribut gibt, das dem Mensdien als solchem zugehört, als die Vernunft", sagt Seneca, „dann wird diese das eine Gut sein, das alles andere aufwiegt." Das bedeutet, daß die Vernunft die wahre oder essentielle Natur des Mensdien ist, der gegenüber alles andere zufällig ist. Der Mut zum Sein ist der Mut, die eigene vernünftige Natur gegen alles bloß Zufällige zu behaupten. Es ist deut20

lieh, daß Vernunft, so verstanden, sich auf das Zentrum der Person bezieht und alle geistigen Funktionen umfaßt. Überlegungen anstellen und Schlüsse ziehen ist eine rein kognitive Funktion, etwas vom persönlichen Zentrum Verschiedenes, das niemals Mut in uns erzeugen könnte. Man kann der Angst nicht durch Begründungen Herr werden. Das ist keine erst neuerdings gemachte Entdeckung der Psychoanalyse. Die Stoiker waren sich dessen bewußt, wenn sie die Vernunft verherrlichten. Sie wußten, daß die Angst nur kraft der universalen Vernunft überwunden werden kann, die in dem Weisen Begierde und Furcht besiegt. Der stoische Mut setzt die Hingabe des persönlichen Zentrums an den logos des Seins voraus; er ist Partizipation an der göttlidien Macht der Vernunft, in der der Bereich der Leidenschaften und Ängste transzendiert ist. Der Mut zum Sein ist der Mut, unsere eigene vernünftige Natur zu behaupten trotz alles dessen in uns, was der objektiven Vernunft des Seins selbst widerstreitet. Dem Mut der Weisheit widerstehen in uns Begierde und Furcht. Die Stoiker haben eine Analyse der Angst gegeben, die ebenfalls an jüngste Einsichten erinnert. Sie haben entdeckt, daß der Gegenstand der Furcht die Furcht selbst ist. „Nichts an den Dingen", sagt Seneca, „ist fürchterlich außer der Furcht selbst." Und Epiktet sagt: „Nicht Tod oder Not sind das Fürchterliche, sondern die Furcht vor ihnen". Unsere Angst setzt allen Dingen und Menschen furchterregende Masken auf. Wenn wir ihnen diese Masken nehmen, erscheint ihr eigenes Antlitz, und die Furcht, die sie erregten, verschwindet. Das gilt sogar vom Tode. Da Tag für Tag ein kleiner Teil von uns dahinschwindet — da wir jeden Tag sterben - , bringt nicht erst die letzte Stunde, in der unser Leben aufhört, den Tod, in ihr vollendet sich nur der Prozeß des Sterbens. Die Schrecken, die wir mit dem Tod verbinden, sind Einbildung; sie versdiwinden, wenn wir dem Tod die Maske abnehmen. Was diese Maske schafft und sie Menschen und Dingen aufsetzt, sind unsere unbeherrschten Begierden. Freuds Theorie von der libido ist von Seneca, allerdings in umfassenderer Form, vorweggenommen. Er unterscheidet zwischen natürlichen Begierden, die begrenzt sind, und solchen, die falschen Ansichten entspringen und unbegrenzt sind. Die Begierde als solche ist nicht unbegrenzt. In ihrer unverzerrten natürlichen Form ist sie durch natürliche Bedürfnisse begrenzt und kann folglich befriedigt werden. Die verzerrte Phantasie des Menschen jedoch geht über die natürlichen Bedürfnisse hinaus und damit über die Möglichkeit der Befriedigung („Wer sich verirrt hat, wandert endlos"). Dies und nicht die Begierde als solche erzeugt in uns das „unweise (inconsulta) Verlangen nach dem Tode". 21

Die Bejahung des eigenen essentiellen Seins trotz aller Begierden und Ängste erzeugt Freudigkeit. Seneca ermahnt Lucillus, „zu lernen, froh zu sein". Er meint damit nicht die Freude über die Erfüllung der Begierde, denn wirkliche Freude ist eine „ernste Sache", sondern die Glückseligkeit einer Seele, die „über alle Zufälle erhaben ist". Diese Freude begleitet die Bejahung unseres essentiellen Seins trotz der Behinderung durdi die zufälligen Elemente in uns. Freude ist der gefühlsmäßige Ausdruck des mutigen J a zu unserem wahren Sein. In dieser Verbindung von M u t und Freude wird der ontologisdie Charakter des Mutes deutlich. Wenn der Mut nur als ethischer Begriff verstanden wird, ist seine Beziehung zur Freude der Selbsterfüllung nicht erklärt. In dem ontologischen Akt der Bejahung des eigenen essentiellen Seins fallen Mut und Freude zusammen. Der stoische Mut ist weder atheistisch noch theistisdi im wörtlichen Sinn. Die Stoiker stellen die Frage nach der Beziehung des Mutes zu der Idee von Gott, beantworten sie jedoch in einer Weise, die mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet - eine Tatsache, in der der existentielle Ernst der stoischen Lehre vom Mut zum Ausdruck kommt. Seneca stellt drei Behauptungen auf über die Beziehung des Mutes der Weisheit zur Religion. Die erste lautet: „Weder von Angst gequält noch durch Vergnügungen verdorben, werden wir uns weder vor dem Tode noch vor den Göttern fürchten." In diesem Satz stehen die Götter f ü r das Schicksal; sie sind die Mächte, die das Geschick des Menschen bestimmen und die Bedrohung durch das Schicksal repräsentieren. Der Mut, der die Angst vor dem Schicksal überwindet, überwindet auch die Angst vor den Göttern. Der Weise transzendiert durch die Bejahung seiner Partizipation an der universalen Vernunft den Bereich der Götter. Der Mut zum Sein transzendiert die polytheistischen Schicksalsmächte. Die zweite Behauptung ist, daß die Seele des Weisen Gott ähnlich sei. Der Gott, der hier gemeint ist, ist der göttliche logos; in Einheit mit ihm besiegt der Mut der Weisheit das Schicksal und transzendiert die Götter. Er ist „der Gott über Gott". In der dritten Behauptung tritt der Unterschied zwischen der Idee einer kosmisdien Resignation und der Idee einer kosmischen Erlösung in theistischen Begriffen zutage. Seneca sagt, daß der wahre Stoiker über dem Leiden steht, während Gott jenseits des Leidens ist. Das bedeutet, d a ß Leiden der N a t u r Gottes widerspricht. Es ist ihm nicht möglich zu leiden; er ist jenseits des Leidens. Der Stoiker als menschliches Wesen dagegen hat die Fähigkeit zu leiden. Aber das Zentrum seiner vernünftigen N a t u r braucht nicht vom Leiden angegriffen zu werden. Er kann sich über das Leiden erheben, weil das Leiden nicht zu seiner essentiellen N a t u r gehört, son22

dem eine Folge des Zufälligen in.ihm ist. Die Unterscheidung zwischen »jenseits" und „über" schließt ein Werturteil ein. Der Weise, der Begierde, Leid und Angst besiegt, „übertrifft Gott selbst". Er steht über Gott, der durch seine natürliche Vollkommenheit und Seligkeit jenseits oder außerhalb von Begierde, Leid und Angst ist. Auf Grund dieser Wertung konnte der Mut der Weisheit und der Resignation durch den Mut des Glaubens an die Erlösung ersetzt werden, d. h. des Glaubens an einen Gott, der auf paradoxe Weise am menschlichen Leiden teilnimmt. Der Stoizismus selbst jedoch kann diesen Schritt nicht tun. Der Stoizismus erreicht seine Grenze, wenn er vor die Frage gestellt wird: Wie ist der Mut der Weisheit möglich? Obwohl die Stoiker die Gleichheit aller Menschen, insofern sie am universalen logos teilhaben, betonten, konnten sie doch die Tatsache nicht leugnen, daß Weisheit nur einer unendlich kleinen Elite gesdienkt ist. Die Masse der Menschen besteht, wie sie zugaben, aus „Toren", die von Begierden und Ängsten beherrscht werden. Obwohl sie mit ihrem essentiellen oder vernünftigen Wesen am göttlichen logos teilhaben, befinden sie sich in Wirklichkeit in Konflikt mit ihrer eigenen Vernunft und sind deshalb nicht fähig, ihr essentielles Sein zu bejahen. Diese Situation konnten die Stoiker nicht erklären, obwohl sie sie nicht leugnen konnten. Und es war nicht nur die Tatsache, daß die Toren die überwiegende Mehrheit bilden, die sie nicht erklären konnten, sondern die Weisen selbst stellten sie vor ein Problem, das ihnen Schwierigkeit bereitete. Seneca sagt, daß es keinen größeren Mut gebe als den aus der äußersten Verzweiflung geborenen. Aber kann der Stoiker als Stoiker - so muß man fragen - den Zustand der äußersten Verzweiflung erreichen? Kann er ihn auf dem Boden seiner eigenen Philosophie erreichen? Oder fehlt seiner Verzweiflung etwas und folglich auch seinem Mut? Der Stoiker als Stoiker kennt die Verzweiflung der persönlichen Schuld nicht. Epiktet zitiert als Beispiel Sokrates' Worte aus Xenophons „Memorabilien:" „Ich habe Selbstbeherrschung bewahrt" und „Ich habe weder im privaten noch im öffentlichen Leben je etwas Unrechtes getan". Und Epiktet selbst behauptet, daß er gelernt habe, sich um nichts zu kümmern, was außerhalb des Bereichs seines moralischen Zieles liege. Aber aufschlußreicher als solche Behauptungen ist die allgemeine Haltung von Überlegenheit und Selbstgefälligkeit, die die stoischen diatribai kennzeichnet, ihre moralischen Ermahnungen und öffentlichen Anklagen. Der Stoiker kann nicht wie Hamlet sagen, daß das Gewissen aus uns allen Feiglinge mache. Er sieht den universalen Abfall aus der essentiellen Vernünftigkeit in die existentielle Torheit nicht als eine Frage der Verantwortung und der Schuld. Der Mut 23

zum Sein ist für ihn der Mut, sich trotz Schicksal und Tod zu bejahen, und nicht der Mut, sich trotz Sünde und Schuld zu bejahen. Anders konnte es nicht sein, denn der Mut, der eigenen Schuld ins Auge zu sehen, führt zu der Frage nach der Erlösung und nicht zur Resignation.

M U T U N D SELBSTBEJAHUNG: SPINOZA

Der Stoizismus trat in den Hintergrund, als der Glaube an die kosmische Erlösung den Mut zur kosmischen Resignation ersetzte. Aber er trat wieder in den Vordergrund, als das mittelalterliche System, das sich auf die Idee der Erlösung stützte, zu zerfallen begann. Und er wurde wieder wichtig für eine intellektuelle Elite, die den Weg der Erlösung verwarf, ohne ihn jedoch durch den stoischen Weg der Resignation zu ersetzen. Es war dem Einfluß des Christentums zuzuschreiben, daß das Wiederaufleben der antiken Philosophie in der abendländischen Welt am Beginn der Neuzeit nicht nur eine Wiederbelebung war, sondern auch eine Verwandlung bedeutete. Das gilt von der Erneuerung des Piatonismus wie von der des Skeptizismus und des Stoizismus; es gilt von der Wiedergeburt der Künste und der Literatur, der Staatstheorie und der Religionsphilosophie. In allen diesen Fällen wurde die Negativität des spätantiken Lebensgefühls in eine positive christliche Haltung verwandelt, die sich in der Idee von der Schöpfung und der Inkarnation ausdrückt, und die audi vorhanden war, wo diese Ideen selbst ignoriert oder geleugnet wurden. Die geistige Substanz des Renaissance-Humanismus war christlich, ebenso wie die geistige Substanz des antiken Humanismus heidnisch war - trotz der Kritik, die der griechische Humanismus am Heidentum und der moderne Humanismus am Christentum übte. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Typen des Humanismus zeigt sich in den Antworten, die sie auf die Frage gaben, ob das Sein seinem Wesen nach gut ist oder nicht. Während das Symbol von der Schöpfung die klassische christliche Lehre ausdrückt, daß „das Sein als solches gut ist" (esse qua esse bonum est), ist in der Lehre von der .widerstrebenden Materie" in der griechischen Philosophie das heidnische Gefühl ausgedrückt, daß das Sein notwendigerweise zweideutig ist, da es sowohl an der schöpferischen Form wie an der widerstrebenden Materie teilhat. Dieser Gegensatz in den ontologischen Grundlagen hat entscheidende Folgen. Während die verschiedenen Formen des metaphysischen und religiösen Dualismus in der Spätantike mit dem asketischen Ideal, der Negation der Materie, verbunden waren, wurde in der Renaissance die asketische Haltung 24

durch die schöpferische Gestaltung der Materie ersetzt. Und während im Altertum die tragische Auffassung der Existenz Leben und Denken beherrschte, besonders die Haltung zur Geschichte, begann mit der Renaissance eine Bewegung, die auf die Zukunft und das SchöpferischNeue in ihr ausgerichtet war. Die Hoffnung trat an die Stelle des tragischen Lebensgefühls und der Fortschrittsglaube an die Stelle der Resignation in der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Eine dritte Folge dieses fundamentalen ontologischen Unterschieds ist der Unterschied in der Bewertung des Individuums im antiken und im modernen Humanismus. Während das Altertum dem Individuum als solchem keinen Wert zuschrieb, sondern es als Repräsentanten eines Universalen, z. B. einer Tugend, betrachtete, sah die Renaissance in dem Individuum als solchem einen einmaligen Ausdruck des Universums, der in sich unvergleichlich, unersetzbar und von unendlicher Bedeutung ist. Offensichtlich mußten diese Unterschiede wichtige Unterschiede in der Deutung des Mutes zur Folge haben. Damit meine ich hier nicht den Gegensatz von Resignation und Erlösung, denn auch der moderne Humanismus ist Humanismus und verwirft die Idee der Erlösung. Aber der moderne Humanismus verwirft auch die Idee der Resignation. Er setzt an ihre Stelle eine Art von Selbstbejahung, die über die stoische hinausgeht, indem sie die materielle, geschichtliche, individuelle Existenz einschließt. Trotzdem gibt es so viele Punkte der Übereinstimmung zwischen dem modernen und dem antiken Stoizismus, daß wir von einem Neostoizismus sprechen können. Sein Hauptrepräsentant ist Spinoza. Er hat wie kein anderer Philosoph die Ontologie des Mutes entwickelt. Indem er sein ontologisches Hauptwerk „Ethik" nannte, wies er schon durch den Titel auf seine Absicht hin, die ontologische Grundlage für die moralische Existenz des Menschen, die auch den Mut zum Sein einschließt, darzustellen. Aber für Spinoza - wie für die Stoiker drückt sich in dem Mut zum Sein nicht ein beliebiger Akt neben anderen aus, sondern der essentielle Akt alles dessen, was am Sein teilhat, nämlich die Selbstbejahung. Die Lehre von der Selbstbejahung ist von zentraler Bedeutung in Spinozas Philosophie und kommt in Lehrsätzen wie dem folgenden zum Ausdruck: „Das Streben, mit dem jedes Ding in seinem Sein zu beharren strebt, ist weiter nichts als die wirkliche Wesenheit des Dinges selbst" (Ethik III, Lehrsatz 7). 1 Das lateinische Wort für Streben ist conatus, das Streben auf etwas hin. Dieses Streben ist weder eine zufällige Seite an einem Ding, noch ist es bloß ein Ele1 Spinoza: Ethik. (Obers, v. Otto Baensch) Philos. Bibliothek. Bd. 92. Leipzig 1922.

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ment seines Seins neben anderen, sondern es ist seine essentia actualis; das heißt, es madit ein Ding zu dem, was es ist, so daß, „wenn es aufgehoben wird, das Ding notwendig aufgehoben wird" (Ethik II, Definition 2). Das Streben nach Selbstbewahrung oder Selbstbejahung macht ein Ding zum Ding. Spinoza nennt dieses Streben, das die Essenz eines Dinges ist, auch seine Kraft, und er sagt von der Seele, daß sie ihre eigene Wirkungskraft (ipsius agendi potentiam) bejaht oder setzt (affirmât sive ponit, Ethik III, Lehrsatz 54). So wird das wahre Wesen oder die Seinsmächtigkeit mit Selbstbejahung identifiziert. Und weitere Identifizierungen folgen: Die Seinsmächtigkeit wird mit der Tugend identifiziert und folglich mit der essentiellen Natur. Tugend ist die Kraft, ausschließlich so zu handeln, wie es der essentiellen Natur entspricht. Und der Grad der Tugend entspricht dem Grad, in dem der Mensch danach strebt und es ihm gelingt, sein eigenes Wesen zu bejahen. „Keine Tugend kann vor dieser (nämlich vor dem Streben nach Selbsterhaltung) begriffen werden" (Ethik, IV, Lehrsatz 22). Selbstbejahung ist sozusagen Tugend schlechthin. Aber Selbstbejahung ist Bejahung der eigenen essentiellen Natur, und die Erkenntnis der eigenen essentiellen Natur wird durch die Vernunft vermittelt, die Kraft der Seele, richtige Ideen zu formen. Deshalb ist tugendhaft handeln nichts anderes als nach der Leitung der Vernunft handeln, und das heißt, sein essentielles Sein oder seine wahre Natur bejahen (Ethik IV, Lehrsatz 24). Auf dieser Grundlage wird die Beziehung von Mut und Selbstbejahung beschrieben. Spinoza gebraucht dabei zwei Begriffe, fortitudo und animositas (Ethik III, Lehrsatz 59). Fortitudo ist (wie im scholastischen Sprachgebrauch) Seelenstärke, die Kraft zu sein, was man seinem Wesen nach ist. Animositas, von anima = Seele abgeleitet, ist Mut als Akt der totalen Person. Spinoza definiert sie folgendermaßen: „Unter animositas verstehe ich nämlich die Begierde (cupiditas), mit der jeder strebt, sein Sein allein nach dem Gebote der Vernunft zu erhalten" (Ethik III, Lehrsatz 59, Anmerkung). Diese Definition könnte zu einer weiteren Identifizierung führen, nämlich der des Mutes mit der Tugend im allgemeinen. Aber Spinoza unterscheidet noch zwischen animositas und generositas, der Begierde, mit der jeder strebt, seine Mitmenschen zu unterstützen und sich in Freundschaft zu verbinden. Diese doppelte Bedeutung des Mutes als eines allumfassenden und eines begrenzten Begriffs entspricht der gesamten Entwicklung der Idee des Mutes, auf die wir hingewiesen haben. Dies ist in einer systematischen Philosophie von der Strenge und Folgerichtigkeit des Spinoza eine bemerkenswerte Tatsache und zeigt, daß die zwei Erkenntnis-Aspekte, die alle Lehren 26

vom M u t bestimmen, der universal-ontologische und der spezifischethische, auch hier zum Ausdruck kommen. Das hat f ü r eines der schwierigsten ethischen Probleme, die Beziehung von Selbstbejahung und Liebe zu anderen Menschen, eine wichtige Folge. Für Spinoza ist diese in jener enthalten. D a Tugend und die Macht der Selbstbejahung identisch sind, und da generositas der A k t ist, durch den wir in einem wohlwollenden A f f e k t anderen entgegenkommen, kann kein Widerspruch zwischen Selbstbejahung und Liebe möglich sein. Das setzt natürlich voraus, daß die Selbstbejahung sich von der „Selbstsucht" nicht nur unterscheidet, sondern daß sie ihr genaues Gegenteil ist. Selbstbejahung ist das ontologische Gegenteil von „Seinsreduktion" durch Affekte, die der essentiellen N a t u r widersprechen. Erich Fromm hat den Gedanken ausführlich entwickelt, daß die rechte Selbstliebe und die rechte Liebe zu anderen voneinander abhängig sind. Spinozas Lehre von der Selbstbejahung schließt sowohl die rechte Selbstliebe wie die rechte Liebe zu anderen ein (obwohl er den Ausdruck „Selbstliebe" nicht gebraucht und auch ich zögere, ihn zu gebrauchen). Selbstbejahung ist nach Spinoza Partizipation an der göttlichen Selbstbejahung: „Die K r a f t , vermöge derer die Einzeldinge und folglich auch der Mensch ihr Sein erhalten, ist die Macht Gottes" (Ethik IV, Lehrsatz 4). Die Partizipation der Seele an der göttlichen Macht wird unter den Begriffen der Erkenntnis und der Liebe beschrieben. Wenn die Seele sich sub Speele aeternitatis erkennt, erkennt sie, daß sie in Gott ist (Ethik V, Lehrsatz 30). U n d diese Erkenntnis von Gott und dem eigenen Sein in Gott ist die Ursache der vollkommenen Glückseligkeit und folglich einer vollkommenen Liebe zu der Ursache dieser Glückseligkeit. Diese Liebe ist geistig (intellectualis), da sie ewig ist und folglich ein Affekt, der den Leidenschaften, die mit der körperlichen Existenz verbunden sind, nicht unterworfen ist (Ethik V, Lehrsatz 34). Sie ist Partizipation an der unendlichen geistigen Liebe, mit der Gott sich selbst anschaut und liebt und im Sich-selbst-Lieben auch das liebt, was zu ihm gehört, die menschlichen Wesen. Diese Behauptungen enthalten die A n t w o r t auf zwei Fragen nach dem Wesen des Mutes, die unbeantwortet geblieben waren. Sie erklären, warum Selbstbejahung die essentielle N a t u r jedes Wesens ist und folglich sein höchstes Gut. Vollkommene Selbstbejahung ist kein einzelner Akt, der seinen Ursprung im Individuum hat, sondern Partizipation an dem universalen oder göttlichen A k t der Selbstbejahung, der die ursprüngliche K r a f t in jedem individuellen A k t ist. In diesem Gedanken hat die Ontologie des Mutes ihren fundamentalen Ausdruck gefunden. Und eine zweite Frage wird beantwortet, die Frage, welche Macht den Sieg über Be27

gierde u n d Angst möglich macht. Die Stoiker hatten keine Antwort auf diese Frage. Spinoza findet auf Grund seiner jüdisdien Mystik die Antwort in der Idee der Partizipation. Er weiß, d a ß ein Affekt nur durch einen anderen Affekt überwunden werden kann und daß der einzige Affekt, der die Affekte der Leidenschaften überwinden kann, der A f f e k t der Seele ist, die geistige oder intellektuelle Liebe der Seele zu ihrem eigenen ewigen Grund. Dieser Affekt ist Ausdruck der Partizipation der Seele an der göttlichen Selbstliebe. Der Mut zum Sein ist möglich, weil er Partizipation an der Selbstbejahung des Seins-Selbst ist. Eine Frage bleibt jedoch bei Spinoza wie bei den Stoikern unbeantwortet. Es ist die Frage, die Spinoza selbst am Ende seiner Ethik aufwirft. Warum, so fragt er, wird der Weg des Heils (salus), den er gezeigt hat, von den meisten Menschen nicht begangen? U n d er antwortet mit dem melancholischen letzten Satz seines Buches: weil es ein schwerer Weg ist und wie alles Erhabene selten gefunden wird. Das war auch die Antwort der Stoiker; aber es ist nicht die Antwort der Erlösung, sondern die Antwort der Resignation.

M U T UND L E B E N : N I E T Z S C H E

Spinozas Begriff der „Selbstbewahrung" stellt uns ebenso wie unser interpretierender Begriff der „Selbstbejahung", wenn er ontologisdi verstanden wird, vor eine schwierige Frage. Was bedeutet Selbstbejahung, wenn es kein Selbst gibt, zum Beispiel im anorganischen Bereich oder in der unendlichen Substanz, dem Sein-Selbst? Ist die Unmöglichkeit, weiten Bereichen der Wirklichkeit und dem Grund aller Realität Mut als Attribut zuzuschreiben, nicht ein Argument gegen die ontologische Interpretation des Mutes? Ist M u t nicht eine menschliche Qualität, die selbst den höheren Tieren nur als Analogie, aber nicht eigentlich zuerkannt werden kann? Ist dies nicht ein Beweis f ü r die moralische und gegen die ontologisdie Interpretation des Mutes? Dieses Argument erinnert an ähnliche Argumente gegen fast alle metaphysischen Begriffe in der Geschichte des menschlichen Denkens. Gegen Begriffe wie Weltseele, Mikrokosmus, Instinkt, Wille zur Macht usw. ist eingewandt worden, d a ß sie dem objektiven Bereich der Dinge subjektive Qualitäten zuschreiben. Aber diese Einwände sind unzutreffend. Sie mißverstehen den Sinn ontologischer Begriffe. Es ist nicht die Funktion dieser Begriffe, die ontologische N a t u r der Wirklichkeit in Begriffen zu beschreiben, die der subjektiven oder objektiven Seite unserer gewöhnlichen Erfahrung entnommen sind. Die Funktion eines onto28

logischen Begriffs ist, aus gewissen Bereichen der Erfahrung zu schöpfen, um auf Charakteristika des Seins-Selbst hinzuweisen, die über der Spaltung in Subjektivität und Objektivität liegen und deshalb nicht in wörtlich verstandenen Begriffen aus der einen oder der anderen Sphäre ausgedrückt werden können. Die Ontologie spricht in Analogien. Sein als Sein transzendiert die Subjektivität sowohl wie die Objektivität. Aber um es erkenntnismäßig zu erfassen, muß man Material aus beiden Bereichen gebrauchen; das ist berechtigt, weil beide in dem wurzeln, was sie transzendiert, im Sein-Selbst. Von diesem Standpunkt müssen die hier erwähnten Begriffe interpretiert werden. Sie dürfen nicht wörtlich, sondern müssen als Analogien verstanden werden. Das bedeutet nicht, daß sie willkürlich erfunden sind und ohne weiteres durch andere Begriffe ersetzt werden können. Ihre Wahl ist Sache der Erfahrung und der Überlegung und ist Kriterien unterworfen, die über das Maß ihrer Angemessenheit oder Unangemessenheit zu entscheiden haben. Das gilt auch von Begriffen wie Selbstbewahrung und Selbstbejahung, wenn sie ontologisch verstanden werden, und es gilt von allen Teilen einer Ontologie des Mutes. Selbstbeharrung und Selbstbejahung bedeuten logisch die Überwindung von etwas, das zumindest potentiell das Sein bedroht oder verneint. Für dieses „etwas" gibt es weder im Stoizismus noch im Neostoizismus eine Erklärung, obwohl es in beiden vorausgesetzt ist. Innerhalb des spinozistischen Systems erscheint es unmöglich, das Vorhandensein eines solchen negativen Elements zu begründen. Wenn alles mit Notwendigkeit aus der Natur der ewigen Substanz folgt, so hat kein Seiendes die Macht, die Selbstbewahrung eines anderen Seienden zu bedrohen. Alles ist, wie es ist, und Selbstbejahung ist eine übertriebene Bezeichnung für die einfache Identität eines Dinges mit sich selbst. Aber das ist gewiß nicht Spinozas Meinung. Er spricht von einer wirklichen Bedrohung und sogar von seiner Erfahrung, daß die meisten Menschen dieser Bedrohung unterliegen. Er spricht von conatus, dem Streben nach Selbstverwirklichung, und von potentia, der Macht der Selbstverwirklichung. Dürfen diese Worte auch nicht wörtlich genommen werden, so dürfen sie doch nicht als bloße Metaphern beiseite geschoben werden: sie müssen als Analogien verstanden werden. Der Begriff der „Macht" spielt in der Ontologie seit Plato und Aristoteles eine wichtige Rolle. Begriffe wie dynamis, potentia (Leibniz) als Bezeichnung für die wahre Natur des Seins bereiten Nietzsches Begriff des „Willens zur Macht" vor ebenso wie die Bezeichnung der letzten Wirklichkeit als „Wille" bei Augustin und Duns Scotus bis zu Böhme, Schelling und Schopenhauer. Der „Wille zur Macht" vereinigt in sich beide Begriffe und muß im Sinne ihrer 29

ontologischen Bedeutung verstanden werden. Paradox ausgedrückt, könnte man sagen, daß Nietzsches „Wille zur Macht" weder Wille noch Macht ist, nämlich weder Wille im psychologischen noch Macht im soziologischen Sinn des Wortes. „Wille zur Macht" bezeichnet die Selbstbejahung des Lebens als Leben und schließt Selbstbewahrung und Wachstum ein. Der Wille strebt also nicht nach etwas, was er nicht hat, nach einem Objekt außerhalb seiner selbst, sondern setzt sich selbst in der doppelten Weise des Sich-Bewahrens und des Sich-Transzendierens. Das ist seine Macht, die zugleich Macht über sich selbst ist. Der „Wille zur Macht" ist die Selbstbejahung des Willens als letzter Realität. Nietzsche ist der eindrucksvollste und einflußreichste Vertreter einer Philosophie, die man Lebensphilosophie nennen kann. „Leben" in diesem Ausdruck bedeutet den Prozeß, durch den die Seinsmacht sich aktualisiert; und indem sie sich aktualisiert, überwindet sie das im Leben, was das Leben negiert, obwohl es zum Leben gehört. Man könnte es den Willen nennen, der dem Willen zur Macht entgegensteht. In dem Kapitel des „Zarathustra" „Von den Predigern des Todes" weist Nietzsche auf die verschiedenen Weisen hin, in denen das Leben in Versuchung geführt wird, in die Negation seiner selbst zu verfallen: „Ihnen begegnet ein Kranker oder ein Greis oder ein Leichnam; und gleich sagen sie ,das Leben ist widerlegt!' Aber nur sie sind widerlegt und ihr Auge, welches nur das Eine Gesicht sieht am Dasein." (Teil I, 9). Das Leben hat viele Gesichter, es ist zweideutig. Nietzsche hat diese Zweideutigkeit am besten im letzten Fragment der Fragmentensammlung, „Der Wille zur Macht" benannt, beschrieben. Mut ist die Macht des Lebens, sich trotz dieser Zweideutigkeit zu bejahen, während die Negation des Lebens wegen ihrer Negativität ein Ausdruck der Feigheit ist. Aus diesen Voraussetzungen entwickelt Nietzsche eine Prophetie und Philosophie des Mutes in Opposition gegen ein Zeitalter der Mittelmäßigkeit und Dekadenz, das er kommen sah. Wie die älteren Philosophen betrachtet Nietzsche im „Zarathustra" den Krieger (den er vom bloßen Soldaten unterscheidet) als ein hervorragendes Beispiel des Mutes. „,Was ist gut?' fragt ihr. Tapfer sein ist gut" (1,10), - nicht wünschen, lange am Leben zu bleiben und verschont zu werden, es nicht wünschen gerade aus Liebe zum Leben. Der Tod des Kriegers und des reifen Mannes soll für die Erde keine Lästerung sein (I, 21). Selbstbejahung ist Bejahung des Lebens und des Todes, der zum Leben gehört. Wie für Spinoza ist für Nietzsche Tugend Selbstbejahung. In dem Kapitel „Von den Tugendhaften" (II, 5) heißt es: „Es ist euer Liebstes selbst, eure Tugend. Des Ringes Durst ist in euch: sich selber wieder zu 30

erreichen, dazu ringt und dreht sich jeder Ring." Diese Analogie beschreibt besser als irgendeine Definition den Sinn, den die Selbstbejahung in der Lebensphilosophie hat: Das Selbst hat sich, aber zugleich versucht es, sich zu erreichen. Hier wird Spinozas conatus zu einem dynamischen Begriff, wie man überhaupt sagen kann, daß Nietzsche eine Erneuerung Spinozas in dynamischen Begriffen ist: „Leben" ist bei Nietzsche, was die „Substanz" bei Spinoza war. Und das gilt nidit nur für Nietzsche, sondern für die meisten Lebensphilosophen. Die Wahrheit der Tugend liegt darin, daß das Selbst in der Tugend ist und daß die Tugend nicht etwas Äußeres ist, „ein Fremdes,... eine Bemäntelung". „Daß euer Selbst in der Handlung sei, wie die Mutter im Kinde ist: das sei mir euer Wort von Tugend!" (II, 5). Insofern Mut Bejahung des eigenen Selbst ist, ist er Tugend schlechthin. Das Selbst, dessen Selbstbejahung Tugend und Mut ist, ist das Selbst, das sich selbst überwindet: „Und dies Geheimnis redete das Leben selber zu mir: ,Siehe, sprach es, ich bin das, was sich immer selber überwinden muß'." (II, 12). Durch den Sperrdrude der letzten Worte deutet Nietzsche an, daß sie eine Definition der essentiellen Natur des Lebens enthalten. „ . . . siehe, da opfert sich Leben - um Macht!" fährt er fort und sagt mit diesen Worten, daß für ihn Selbstbejahung Selbstverneinung einschließt, nicht um der Verneinung willen, sondern um der größtmöglidien Bejahung willen, um dessentwillen, was er „Macht" nennt. Das Leben schafft und liebt, was es geschaffen hat, aber dann muß es sich dagegen wenden: „so will es mein Wille". Deshalb ist es falsch, von einem „Willen zum Dasein" oder gar von einem „Willen zum Leben" zu sprechen, man muß vom „Willen zur Macht" sprechen, das heißt zu mehr Leben. Das Leben, das gewillt ist, sich zu überwinden, ist das gute Leben, und das gute Leben ist das mutige Leben. Es ist das Leben der „mächtigen Seele" und des „sieghaften Leibes", dessen Selbst-Lust Tugend ist. Eine solche Seele verbannt „alles Feige; sie spricht: Schlecht - das ist feige" (III, 10). Aber um diesen Adel zu erreichen, ist es nötig, zu gehorchen und zu befehlen und im Befehlen noch zu gehorchen. Dieser Gehorsam, der zum Befehlen gehört, ist das Gegenteil von Unterwürfigkeit. Diese ist Feigheit, die nicht wagt, sich einzusetzen. Das unterwürfige Selbst ist das Gegenteil des selbstbejahenden Selbst, auch wenn es sich einem Gott unterwirft. Es will dem Schmerz des Verletzens und Verletztwerdens entgehen. Das gehorsame Selbst dagegen ist das Selbst, das, wenn es sich selber befiehlt, „sich selber daran wagt" (II, 12). Indem es sich selber befiehlt, wird es sich selber zum Richter und Opfer. Es befiehlt sich selber nach dem Gesetz des Lebens, dem Gesetz der 31

Selbst-Transzendierung. Der Wille, der sich selbst befiehlt, ist schöpferischer Wille. Er macht aus den Bruchstücken und Rätseln des Lebens ein Ganzes. Er blickt nicht zurück, er steht über dem sdilechten Gewissen, er verwirft den „Geist der Rache", der der Kern der Selbstanklage und des Schuldbewußtseins ist; er transzendiert die Versöhnung, denn er will Höheres - er ist der Wille zur Macht (II, 20). In ihm ist das mutige Selbst mit dem Leben selbst und seinem Geheimnis geeint (II, 12). Wir können Nietzsches Ontologie des Mutes mit dem folgenden Zitat abschließen: „Habt ihr Mut, o meine Brüder? . . . Nicht Mut vor Zeugen, sondern Einsiedler- und Adler-Mut, dem audi kein Gott mehr zusieht? . . . Herz hat, wer Furcht kennt, aber Furcht zwingt; wer den Abgrund sieht, aber mit Adlers-Augen, - wer mit Adlers-Krallen den Abgrund faßt: Der hat Mut" (IV, 13). Diese Worte zeigen die andere Seite in Nietzsche, die ihn zum Existentialisten macht: den Mut, in den Abgrund des Nichtseins zu blicken in der totalen Einsamkeit dessen, der die Botschaft annimmt, daß „Gott tot ist". Über diese Seite wird in den folgenden Kapiteln nodi mehr zu sagen sein. An dieser Stelle müssen wir unseren historischen Oberblick abbrechen, denn wir wollten keine Gesdiidite der Idee des Mutes geben. Wir verfolgten vielmehr einen anderen, doppelten Zweck. Als erstes sollte gezeigt werden, daß das ontologische Problem des Mutes die schöpferische Philosophie von Piatos „Laches" bis zu Nietzsches „Zarathustra" beschäftigt hat, teils weil die moralische Seite des Mutes ohne seine ontologische Seite unverständlich bleibt, teils weil die Erfahrung des Mutes sich als höchst geeigneter Schlüssel für die ontologisdie Interpretation der Wirklichkeit erweist. Und zweitens sollte der historische Uberblick das begriffliche Material für die systematische Behandlung des Problems des Mutes bereitstellen; hierzu gehört vor allem der Begriff der ontologischen Selbstbejahung, ihre Grundbedeutung wie ihre verschiedenen Interpretationen.

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II SEIN,

NICHTSEIN

UND

ANGST

ONTOLOGIE DER ANGST

Der Sinn von Nichtsein Mut ist Selbstbejahung „trotz", nämlich trotz alles dessen, was dazu beiträgt, das Selbst an der Bejahung seiner selbst zu hindern. Im Unterschied zur stoisch-neostoischen Lehre vom Mut haben die Lebensphilosophien das, wogegen sich Mut stellt, ernst genommen und positiv behandelt. Denn wird Sein als Leben oder Prozeß oder Werden verstanden, so ist Nichtsein ontologisch ebenso grundlegend wie Sein. Die Anerkennung dieser Tatsache bedeutet keine Entscheidung über die Priorität des Seins gegenüber dem Nichtsein, aber sie verlangt, daß dem Nichtsein in der Grundlegung der Ontologie ein Platz eingeräumt wird. Spricht man vom Mut als Schlüssel zum Verständnis des SeinsSelbst, so kann man sagen, daß dieser Schlüssel, indem er den Zugang zum Sein erschließt, zugleich das Sein und die Negation des Seins und ihre Einheit findet. Nichtsein ist einer der schwierigsten und umstrittensten Begriffe. Parmenides versuchte, ihn als Begriff abzuschaffen. Aber dazu mußte er das Leben opfern. Demokrit setzte den Begriff wieder ein und identifizierte ihn mit dem leeren Raum, um die Bewegung denkbar zu machen. Plato gebrauchte den Begriff des Nichtseins, weil ohne ihn der Gegensatz zwischen der Existenz und den reinen Wesenheiten unverständlich ist. In Aristoteles' Unterscheidung von Materie und Form ist er impliziert. Plotin konnte mittels dieses Begriffs den Selbstverlust der menschlichen Seele beschreiben, und Augustin konnte mit seiner Hilfe eine ontologische Interpretation der menschlichen Sünde geben. Bei Dionysios Areopagita wurde das Nichtsein zum Prinzip seiner mystischen Gotteslehre. Der protestantische Mystiker und Lebensphilosoph Jakob Böhme stellte die klassische These auf, daß alle Dinge in einem J a und einem Nein wurzeln. In Leibniz' Lehre von der Endlichkeit und vom Bösen und in Kants Analyse der Endlichkeit der kategorialen Formen ist das Niditsein vorausgesetzt. Hegels Dialektik macht die Negation zur dynamischen Kraft in Natur und Geschichte,

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und die Lebensphilosophie gebraucht seit Schelling und Schopenhauer den Begriff des Willens als ontologische Grundkategorie, weil er die Macht hat, sich zu negieren, ohne sich zu verlieren. Die Begriffe „Prozeß" und „Werden" bei Philosophen wie Bergson und Whitehead umfassen Nichtsein ebenso wie Sein. Der jüngere Existentialismus, besonders bei Heidegger und Sartre, hat das Niditsein (das Nichts, le Néant) in das Zentrum des ontologischen Denkens gerückt, und Berdjajew, ein Schüler von Dionysios und Böhme, hat eine Ontologie des Nichtseins entwickelt, die die „meontische" Freiheit in Gott und Mensch erklärt. Diese verschiedenen Weisen, in denen die Philosophie den Begriff des Nichtseins verwendet, können im Zusammenhang mit der religiösen Erfahrung von der Vergänglichkeit alles Geschaffenen und der Macht des „Dämonischen" in der menschlichen Seele und der Geschichte gesehen werden. In der biblisdien Religion haben diese Negativitäten einen entscheidenden Platz trotz der Schöpfungslehre; und das dämonische, widergöttliche Prinzip, das trotz seiner negativen Charakteristika an der Macht des Göttlichen partizipiert, tritt an den dramatischen Höhepunkten der biblisdien Geschichte in Erscheinung. Angesichts dieser Situation ist es von geringer Bedeutung, daß einige Logiker das Nichtsein als Begriff leugnen und ihm keinen Platz in der Philosophie einräumen wollen, es sei denn in Form negativer Urteile. Denn die Frage ist: Was besagt die Tatsache negativer Urteile über die Natur des Seins? Was ist die ontologische Voraussetzung negativer Urteile? Was ist die Struktur eines Bereiches, in dem negative Urteile möglich sind? Gewiß ist Niditsein kein Begriff wie andere. Es ist die Negation aller Begriffe; aber als solche ist es ein notwendiger Denkinhalt und, wie die Geschichte des Denkens zeigt, der wichtigste nach dem Sein-Selbst. Auf die Frage: Was ist das Verhältnis von Sein und Nichtsein? kann man nur in Metaphern antworten und sagen: Das Sein schließt sich selbst und das Nichtsein ein. Das Sein hat das Nichtsein in sich als das, was im Prozeß des göttlichen Lebens ewig gegenwärtig und ewig überwunden ist. Der Grund alles Seienden ist keine tote Identität ohne Bewegung und Werden, sondern er ist lebendiges Schaffen. Schaffend bejaht er sich selbst, indem er ewig sein eigenes Nichtsein überwindet. Das macht den Grund des Seins zum Urbild der Selbstbejahung alles Seienden und zur Quelle des Mutes zum Sein. Mut wird gewöhnlich als die Macht des Geistes, Furcht zu überwinden, beschrieben. Der Sinn von Furcht schien zu offensichtlich zu sein, als daß er eine Untersuchung erforderte. Aber in den letzten Jahrzehnten hat die Tiefenpsychologie in Zusammenarbeit mit der existentia34

listischen Philosophie zu einer scharfcn Unterscheidung zwischen Furcht und Angst geführt und zu einer genaueren Definition beider Begriffe. Soziologische Analysen der Gegenwart haben auf die Bedeutung der Angst als Gruppenphänomen hingewiesen. Literatur und Kunst haben die Angst zu einem Hauptanliegen ihrer Schöpfungen gemacht, das sowohl im Inhalt wie im Stil zum Ausdruck kommt. Die Wirkung war das Bewußtwerden der eigenen Angst, zumindest bei den Gebildeten, und das Eindringen von Vorstellungen und Symbolen, die sich auf die Angst beziehen, ins öffentliche Bewußtsein. Heute ist es zum Klischee geworden, unsere Zeit ein „Zeitalter der Angst" zu nennen. Das gilt in gleichem Maße von Amerika wie von Europa. Trotzdem ist es für eine Ontologie des Mutes notwendig, eine Ontologie der Angst zu entwerfen, da beide voneinander abhängig sind. Und es ist zu erwarten, daß im Lichte einer Ontologie des Mutes fundamentale Aspekte der Angst sichtbar werden. Die erste Aussage, die man über das Wesen der Angst machen muß, ist folgende: Die Angst ist der Zustand, in dem ein Seiendes der Möglichkeit seines Nichtseins gewahr wird, oder kürzer gesagt: Angst ist das existentielle Gewahrwerden des Nichtseins. „Existentiell" in diesem Satz bedeutet, daß nicht das abstrakte Wissen vom Nichtsein Angst erzeugt, sondern die Erfahrung, daß das Nichtsein Teil des eigenen Seins ist. Nicht die Einsicht in die universale Vergänglichkeit, auch nicht die Erfahrung des Todes anderer, sondern die Wirkung, die diese Ereignisse auf das immer latente Wissen um unser eigenes Sterbenmüssen haben, erzeugt die Angst. Angst ist Endlichkeit erfahren als unsere eigene Endlichkeit. Das ist die natürliche Angst des Menschen als Mensch und in gewisser Weise die Angst aller Lebewesen. Es ist die Angst vor dem Nichtsein, das Gewahrwerden der Endlichkeit als eigener Endlichkeit. Die wechselseitige Abhängigkeit

von Furcht und Angst

Angst und Furcht haben die gleiche ontologische Wurzel, aber in der Aktualität sind sie nicht das gleiche. Das ist allgemein bekannt, ist aber in einem Maße betont und überbetont worden, daß eine Reaktion dagegen einsetzen kann, die nicht nur die Übertreibungen, sondern auch die Wahrheit dieser Unterscheidung gefährden würde. Furcht hat im Unterschied zu Angst - und darin herrscht allgemeine Ubereinstimmung - ein bestimmtes Objekt, dem man sich stellen, das man analysieren, bekämpfen, ertragen kann. Man kann sich mit ihm auseinandersetzen und, indem man dies tut, an ihm partizipieren, sei es selbst in Form eines Kampfes. Auf diese Weise kann man es in die eigene Selbst35

bejahung hineinnehmen. Der Mut kann jedem Objekt der Furdit begegnen, eben weil es ein Objekt ist und Partizipation ermöglicht. Der Mut kann die Furcht, die von einem bestimmten Objekt erzeugt wird, in sich hineinnehmen, weil dieses Objekt, so furchtbar es sein mag, eine Seite hat, mit der es an uns und wir an ihm partizipieren. Man kann sagen, daß die Liebe die Furcht, solange es ein Objekt der Furcht gibt, in der Partizipation besiegen kann. Aber so steht es nicht mit der Angst, denn Angst hat kein Objekt oder, paradox ausgedrückt, ihr Objekt ist die Negation jedes Objekts. Deshalb sind in bezug auf Angst Partizipation, Kampf und Liebe unmöglich. Wer in Angst ist, ist ihr, insofern sie reine Angst ist, hilflos ausgeliefert. Die Hilflosigkeit im Zustand der Angst kann bei Tieren und Menschen gleichermaßen beobachtet werden. Sie drückt sich in Richtungsverlust aus oder in falschen Reaktionen, im Mangel an „Intentionalität" (dem Bezogensein auf sinnvolle Inhalte der Erkenntnis oder des Willens). Der Grund für dieses auffallende Verhalten ist das Fehlen eines Objekts, auf das sich das Subjekt im Zustand der Angst konzentrieren kann. Das einzige Objekt ist die Bedrohung selbst, nicht die Wurzel der Bedrohung, denn die Wurzel der Bedrohung ist das Nichts. Man könnte fragen, ob dieses drohende Nichts nicht das Unbekannte, die noch unbestimmte Möglichkeit einer wirklichen Bedrohung sei. Hört die Angst nicht in dem Augenblick auf, in dem ein Objekt der Furcht erkennbar wird? Angst wäre also die Furdit vor dem Unbekannten. Aber das wäre eine unzureichende Erklärung der Angst; denn es gibt unzählige Bereiche des Unbekannten - verschiedene für verschiedene Menschen, denen man ohne Angst entgegentreten kann. Es ist ein Unbekanntes besonderer Art, dem man mit Angst begegnet. Es ist das Unbekannte, das nicht gekannt werden kann auf Grund seines eigensten Wesens, da es das Nichtsein ist. Furcht und Angst sind zu unterscheiden, aber nicht zu trennen. Sie sind einander immanent: Der Stachel der Furdit ist Angst, und die Angst strebt zur Furdit. Furdit fürditet sich vor etwas, einem Sdimerz, der Ablehnung durch eine Person oder Gruppe, dem Verlust einer Sache oder eines Menschen, dem Augenblick des Sterbens. Aber in der Antizipation der Bedrohung, die diese Dinge enthalten, ist das Furchterregende nicht die Negativität selbst, die sie über das Subjekt bringen, sondern die Angst vor den möglichen Implikationen dieser Negativität. Ein hervorragendes Beispiel - und mehr als ein Beispiel — ist die Furcht vor dem Sterben. Insoweit sie Furcht ist, ist ihr Objekt das antizipierte Ereignis des Sterbens an Krankheit oder durch Unfall, der antizipierte 36

Todeskampf und der Verlust aller Dinge, den das Sterben mit sidi bringt. Insoweit sie Angst ist, ist ihr Objekt das absolut unbekannte „Nach dem Tode", das Nichtsein, das Nichtsein bleibt, selbst wenn es mit Bildern aus unserer gegenwärtigen Erfahrung ausgefüllt wird. Die Träume, von denen Hamlet in dem Monolog „Sein oder Nichtsein" sagt, daß sie uns im Todesschlaf kommen mögen, machen „Feige aus uns allen" und sind so fürchterlich nicht wegen ihres offenbaren Inhalts, sondern weil sie die Bedrohung durch das Nichts symbolisieren, in religiöser Sprache: die Drohung des „ewigen Todes". Die Symbole der Hölle, die Dante geschaffen hat, erregen Angst nicht durch ihre bildhafte Darstellung, sondern weil sie das Nichts ausdrücken, dessen Macht in der Angst vor der Schuld erlebt wird. Jeder einzelnen Situation, die im „Inferno" beschrieben wird, könnte der Mut durch Partizipation und Liebe begegnen. Aber der Sinn dieser Bilder liegt eben darin, daß sie nicht wirkliche Situationen beschreiben, sondern das Gegenstandslose, das Niditsein, symbolisieren. Das Element der Angst in jeder Furcht ist durch die Furcht vor dem Tode bestimmt. Angst, wenn sie nicht durch die Furcht vor einem Objekt gemäßigt ist, Angst in ihrer Nacktheit, ist immer Angst vor dem letzten Niditsein. Oberflächlich betrachtet, ist Angst das schmerzlidie Gefühl, mit der Drohung einer besonderen Situation nicht fertig werden zu können. Aber eine genauere Analyse zeigt, daß in jeder Angst vor einer besonderen Situation die Angst vor der menschlichen Situation als solcher enthalten ist. Die Angst, die jeder Furcht zugrunde liegt und das furchterregende Element in ihr ausmacht, ist die Angst, das eigene Sein zu verlieren. In dem Augenblick, in dem die „nackte Angst" die Seele ergreift, hören die ehemaligen Objekte der Furcht auf, bestimmte Objekte zu sein. Sie erscheinen als das, was sie teilweise immer schon waren, als Symptome der Grundangst des Menschen. Als solche entziehen sie sich auch noch dem mutigsten Angriff auf sie. Diese Situation treibt das von Angst ergriffene Wesen dazu, Gegenstände der Furcht zu schaffen. Die Angst strebt danach, zur Furcht zu werden, denn der Furcht kann durch Mut begegnet werden. Einem endlichen Wesen ist es unmöglich, die nackte Angst länger als einen Augenblick zu ertragen. Menschen, die solche Augenblicke erlebt haben wie gewisse Mystiker in ihren Visionen von der „Nacht der Seele" oder Luther in der Verzweiflung über dämonische Anfechtungen oder Nietzsche-Zarathustra in der Erfahrung des „großen Ekels", haben uns von ihrem unvorstellbaren Entsetzen berichtet. Dieses Entsetzen wird gewöhnlich dadurch vermieden, daß sich die Angst in Furcht verwandelt, was auch ihr Gegenstand sei. Der menschliche Geist schafft 37

sich nicht nur ständig Götzen, wie Calvin sagt, sondern auch ständig Gegenstände der Furcht - jene, um Gott zu entfliehen, diese, um der Angst zu entfliehen; das eine steht in Beziehung zum andern. Denn dem Gott, der wirklich Gott ist, gegenüberzustehen, bedeutet zugleich, der absoluten Drohung des Nichtseins standzuhalten. Das „nackte Absolute", um einen Ausdruck Luthers zu gebrauchen, erzeugt „nackte Angst"; denn es ist das Verlöschen aller endlichen Selbstbejahung und kein Gegenstand, dem Furdit und Mut begegnen können (siehe unten Teil V und VI). Aber letztlich sind die Versuche, die Angst in Furcht zu verwandeln, vergebens. Die Grundangst, die Angst eines endlichen Wesens vor der Drohung des Nichtseins, kann nicht aufgehoben werden. Sie gehört zur Existenz selbst.

TYPEN DER A N G S T

Die drei Typen der Angst und das Wesen des Menschen Nichtsein ist abhängig von dem Sein, das es negiert. „Abhängig" bedeutet zweierlei. Es weist als erstes auf die ontologische Priorität des Seins vor dem Nichtsein hin. Schon das Wort Nichtsein deutet sie an, und sie ist logisch notwendig. Es kann keine Negation geben ohne vorhergehende Bejahung, die negiert werden kann. Zwar kann man das Sein als Nicht-Nichtsein umschreiben und eine soldie Umschreibung dadurch rechtfertigen, daß man auf das erstaunliche prärationale Faktum hinweist, daß „etwas" ist und nicht „nichts". Man könnte sagen, daß „Sein die Negation der uranfänglichen Nacht des Nichtseins" ist. Aber dann muß man sich vergegenwärtigen, daß ein solches ursprüngliches Nichts weder „nichts" noch „etwas" wäre und daß es „nichts" erst im Gegensatz zu „etwas" wird, mit anderen Worten, daß der ontologische Rang des Nichtseins als Niditsein abhängig vom Sein ist. Zweitens ist das Nichtsein abhängig von den besonderen Qualitäten des Seins. In sich selbst hat das Nichtsein keine Differenzierung von Qualitäten; es erhält sie erst durch Beziehung zum Sein: die Negation des Seins ist qualitativ bestimmt durch dasjenige im Sein, was negiert wird. Das ermöglicht es, von Qualitäten des Nichtseins und folglich von Typen der Angst zu sprechen. Bis jetzt haben wir den Ausdruck „Nichtsein" ohne Differenzierung gebraucht, während wir bei der Erörterung des Mutes verschiedene Formen der Selbstbejahung erwähnten. Diese entsprechen verschiedenen Formen der Angst und sind nur in Korrelation zu ihnen verständlich. 38

Ich schlage vor, daß wir drei Typen der Angst unterscheiden entsprechend den drei Formen, in denen das Nichtsein das Sein bedroht. Das Nichtsein bedroht die ontische Selbstbejahung des Menschen, relativ in Form des Schicksals, absolut in Form des Todes. Das Nichtsein bedroht die geistige Selbstbejahung des Menschen, relativ in Form der Leere, absolut in Form der Sinnlosigkeit. Das Nichtsein bedroht die moralische Selbstbejahung des Menschen, relativ in Form der Schuld, absolut in Form der Verdammung. Das Gewahrwerden dieser dreifachen Bedrohung ist Angst, die in drei Formen auftritt: als Angst vor dem Schicksal und vor dem Tode (kurz: die Angst vor dem Tode), als Angst vor der Leere und dem Sinnverlust (kurz: die Angst vor der Sinnlosigkeit) und als Angst vor der Schuld und der Verdammung (kurz: die Angst vor der Verdammung). In allen drei Formen ist die Angst existentiell in dem Sinne, daß sie zur Existenz als solcher gehört und nicht zu einem abnormen Geisteszustand wie die neurotische (und psychotische) Angst. Das Wesen der neurotischen Angst und ihre Beziehung zur existentiellen Angst sollen in einem besonderen Kapitel erörtert werden. Wir haben es jetzt mit den drei Formen der existentiellen Angst zu tun, zuerst mit ihrer Realität im Leben des Individuums, dann mit ihren sozialen Manifestationen in besonderen Epochen der abendländischen Geschichte. Wir müssen betonen, daß die Unterscheidung von Typen der Angst nicht bedeutet, daß sie einander ausschließen. Im ersten Kapitel haben wir z. B. gesehen, daß der Mut zum Sein, wie er bei den antiken Stoikern erscheint, nicht nur die Furcht vor dem Tode, sondern auch die Drohung der Sinnlosigkeit besiegt. Bei Nietzsche fanden wir, daß er, obwohl bei ihm die Drohung der Sinnlosigkeit die vorherrschende ist, leidenschaftlich gegen die Angst vor dem Tode und vor der Verdammung ankämpft. Alle Vertreter des klassischen Christentums betrachten Tod und Sünde als verbündete Gegner, gegen die der Glaubensmut ankämpfen muß. Die drei Formen der Angst (und des Mutes) sind einander immanent, aber gewöhnlich hat eine von ihnen das Übergewicht.

Die Angst vor Schicksal und Tod Schicksal und Tod sind die Formen, in denen unsere ontische Selbstbejahung vom Nichtsein bedroht wird. „Ontisch", vom griechischen on = Sein abgeleitet, bedeutet hier die fundamentale Selbstbejahung eines Seienden in seinem einfachen Dasein. („Onto-logisch" bezeichnet die philosophische Analyse des Wesens des Seins.) Die Angst vor Schicksal und Tod ist fundamental, universal und unausweichlich. Alle Ver39

suche, sie mit Argumenten aus dem Weg zu räumen, sind vergeblidi. Selbst wenn die sogenannten Beweise für die „Unsterblichkeit der Seele" Beweiskraft hätten (was sie nicht haben), könnten sie existentiell nidit überzeugen; denn existentiell ist sich jedermann bewußt, daß das biologische Verlöschen den völligen Verlust des Selbst mit sich bringt. Der einfache Geist weiß instinktiv, was die Ontologie wissenschaftlich formuliert: daß die Wirklichkeit die Grundstruktur der Selbst-Welt-Korrelation besitzt und daß beim Verschwinden der einen Seite, der Welt, die andere Seite, das Selbst, ebenfalls verschwindet. Was bleibt, ist ihr gemeinsamer Grund, aber nicht ihre strukturelle Korrelation. Man hat beobachtet, daß die Angst vor dem Tode mit der Zunahme der Individualisierung zunimmt und daß Menschen in kollektivistischen Kulturen diesem Typ der Angst weniger ausgesetzt sind. Diese Beobachtung ist richtig, aber die Erklärung, daß es in kollektivistischen Kulturen die Grundangst vor dem Nichtsein nicht gebe, ist falsch. Der Unterschied gegenüber stärker individualisierten Zivilisationen wird dadurch hervorgerufen, daß der besondere Typ des Mutes, der den Kollektivismus charakterisiert (siehe unten, S. 73 ff), die Angst vor dem Tode mildert, solange er unerschüttert ist. Aber die Tatsache, daß der Mut durch innere und äußere (psychologische und rituelle) Handlungen und Symbole erst geschaffen werden muß, zeigt, daß auch im Kollektivismus die Grundangst überwunden werden muß. Ohne ihr zumindest potentielles Vorhandensein wären weder Kriege noch Strafgesetze in diesen Zivilisationen erklärlich. Gäbe es keine Furcht vor dem Tode, so bliebe die Bedrohung durch eine Strafe oder durch einen überlegenen Feind ohne Wirkung - was offensichtlich nicht der Fall ist. Der Mensch als Mensch ist sich in jeder Kultur der Drohung des Nichtseins voller Angst bewußt und bedarf des Mutes, um sich ihr gegenüber zu behaupten. Die Angst vor dem Tode ist der dauernde Horizont, innerhalb dessen die Angst vor dem Schicksal am Werk ist. Denn die Bedrohung der ontischen Selbstbejahung des Menschen ist nicht nur absolute Bedrohung durch den Tod, sondern auch relative Bedrohung durch das Schicksal. Allerdings überschattet die Angst vor dem Tode alle konkreten Formen der Angst und verleiht ihnen den letzten Ernst. Aber sie haben trotzdem eine gewisse Unabhängigkeit und üben in der Regel eine unmittelbarere Erschütterung aus als die Angst vor dem Tode. Die Bezeichnung „Schicksalsangst" für diese ganze Gruppe von Ängsten legt den Nachdruck auf ein Element, das ihnen allen gemeinsam ist: ihre Zufälligkeit, die Unmöglichkeit, sie vorauszusagen und einen Sinn oder Zweck in ihnen zu entdecken. Das läßt sich in Begriffen der kategorialen Struktur 40

unserer Erfahrung beschreiben: Man kann auf die Zufälligkeit unseres zeitlichen Seins hinweisen, die Tatsache, daß wir in dieser und keiner anderen Zeit leben, unser Leben in einem zufälligen Augenblick beginnen und in einem zufälligen Augenblick beenden, ein Leben, das erfüllt ist mit Erfahrungen, die in Hinsicht auf Qualität und Quantität ebenfalls zufällig sind. Man kann auf die Zufälligkeit unseres räumlichen Seins hinweisen, die Tatsadie, daß wir uns an diesem und keinem anderen Ort befinden, daß uns dieser Ort trotz seiner Vertrautheit fremd ist; auf die Zufälligkeit des Ortes - und das heißt unserer selbst - , von dem aus wir auf unsere Welt blicken, und die Zufälligkeit der Wirklichkeit, auf die wir blicken, d. h. unserer Welt. Beide könnten anders sein: darin liegt ihre Zufälligkeit, und diese erzeugt die Angst vor unserer räumlichen Existenz. Man kann auf die Zufälligkeit des Kausalzusammenhangs hinweisen, dessen Teil wir sind sowohl in bezug auf die Vergangenheit wie auf die Gegenwart, die Unbeständigkeit unserer Welt und die unbekannten Kräfte in der Tiefe unseres Selbst. Zufällig bedeutet nicht kausal indeterminiert, sondern bedeutet, daß die determinierenden Ursachen unserer Existenz keine letzte Notwendigkeit haben. Sie sind gegeben und können logisch nicht abgeleitet werden. Zufällig sind wir in das Gewebe kausaler Beziehungen hineingestellt. Zufällig sind wir durch sie in jedem einzelnen Augenblick bestimmt und zufällig werden wir von ihnen im letzten Augenblick unseres Lebens ausgestoßen. Schicksal bedeutet die Herrschaft der Zufälligkeit, und die Angst vor dem Schicksal wurzelt in dem Bewußtsein des endlidien Wesens, daß es in jeder Beziehung zufällig ist und keine letzte Notwendigkeit hat. Gewöhnlich wird Schicksal mit Notwendigkeit im Sinne einer unausweichlichen kausalen Determination identifiziert. Aber nicht die kausale Notwendigkeit macht das Schicksal zu einem Grund der Angst, sondern das Fehlen einer letzten Notwendigkeit, d. h. die Irrationalität, die undurchdringliche Dunkelheit des Sdiicksals. Die Bedrohung der ontischen Selbstbejahung des Menschen durch das Nichtsein ist absolut in der Drohung des Todes, relativ in der Bedrohung durch das Schicksal. Aber die relative Bedrohung ist nur Bedrohung, weil im Hintergrund die absolute Drohung steht. Das Schicksal würde keine unausweichliche Angst erzeugen, wenn nidit der Tod dahinter stünde. Und der Tod steht nicht erst im letzten Augenblick hinter dem Schicksal und seinen Zufälligkeiten, wenn wir aus der Existenz gestoßen werden, sondern in jedem einzelnen Augenblick der Existenz. Das Nichtsein ist allgegenwärtig und erzeugt Angst, selbst da, wo keine unmittelbare Todesdrohung vorhanden ist. Es steht hinter der Erfah41

rung, daß wir, zusammen mit allen anderen Dingen, aus der Vergangenheit in die Zukunft getrieben werden, ohne je Gegenwart zu haben, in der wir ruhen könnten. Es steht hinter der Unsicherheit und Heimatlosigkeit unserer sozialen und individuellen Existenz. Es steht hinter der Bedrohung unserer Seinsmächtigkeit durch Schwäche, Krankheit und Unfälle. In all diesen Formen verwirklicht sich unser Schicksal, sie erzeugen in uns die Angst vor dem Nichtsein. Wir versuchen, die Angst in Furcht zu verwandeln und den Objekten, in denen die Bedrohung sich verkörpert, mutig zu begegnen. Das gelingt uns zum Teil; aber irgendwie sind wir der Tatsache gewahr, daß nicht die Schicksalsfälle, gegen die wir ankämpfen, die Angst erzeugen, sondern daß es die menschliche Situation selbst ist. Daraus ergibt sich die Frage: Gibt es einen Mut zum Sein, einen Mut, sich zu bejahen trotz der Bedrohung, der die ontische Selbstbejahung des Menschen ausgesetzt ist? Die Angst vor Leere und

Sinnlosigkeit

Das Nichtsein bedroht den gesamten Menschen und bedroht deshalb zugleich mit seiner ontischen auch seine geistige Selbstbejahung. Geistige Selbstbejahung vollzieht sich in jedem Augenblick, in dem der Mensch innerhalb der verschiedenen Sinnsphären schöpferisch ist. Schöpferisch bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, originelle Werke schaffen wie das Genie, sondern durch spontanes Handeln und Reagieren am kulturellen Leben teilnehmen. Um geistig schöpferisch zu sein, muß man kein sogenannter schöpferischer Künstler, Wissenschaftler oder Staatsmann sein; aber man muß fähig sein, sinnvoll an ihren originellen Schöpfungen zu partizipieren. Eine solche Partizipation ist schöpferisch, weil sie, wenn auch in noch so geringem Maße, verwandelt, woran sie partizipiert. Ein gutes Beispiel ist schöpferische Verwandlung einer Sprache durch die wechselseitige Abhängigkeit zwischen dem Dichter oder Schriftsteller und den vielen, auf die er unmittelbar oder mittelbar einwirkt und die spontan auf ihn reagieren. Jeder, der schöpferisch in Sinnbezügen lebt, bejaht sich selbst, indem er an diesen Sinnbezügen teilhat. Er bejaht sich als einer, der die Wirklichkeit schöpferisch aufnimmt und verwandelt. Er liebt sich als einen, der am geistigen Leben teilhat und dessen Inhalte liebt. Er liebt sie, weil er sich in ihnen erfüllt und weil sie durch ihn verwirklicht werden. Der Wissenschaftler liebt sowohl die Wahrheit, die er entdeckt, als auch sich selber als ihr Entdecker: er ist ergriffen von dem Inhalt seiner Entdeckung. Dies ist, was man „geistige Selbstbejahung" nennen kann. Und auch wenn er die Entdeckung nicht selbst gemacht hat, sondern 42

nur an ihr teilnimmt, kann man immer noch von geistiger Selbstbejahung sprechen. Eine derartige Erfahrung setzt voraus, daß das geistige Leben ernst genommen wird, daß es uns unbedingt angeht. Und dies setzt wiederum voraus, daß in ihm und durch es sich letzte Realität manifestiert. Ein geistiges Leben, in dem dies nicht erfahren wird, ist bedroht vom Nichtsein in den beiden Formen, in denen es die geistige Selbstbejahung erschüttert, in Form der Leere und in Form der Sinnlosigkeit. Wir gebrauchen den Ausdruck „Sinnlosigkeit" für die absolute und den Ausdruck „Leere" für die relative Bedrohung der geistigen Selbstbejahung durch das Nichtsein. Sie sind ebensowenig identisch wie Todesdrohung und Schicksalsdrohung. Aber im Hintergrund der Leere steht die Sinnlosigkeit, wie im Hintergrund der Unbeständigkeit des Schicksals der Tod steht. Die Angst vor der Sinnlosigkeit ist die Angst vor dem Verlust dessen, was uns letztlich angeht, dem Verlust eines Sinnes, der allen Sinngehalten Sinn verleiht. Diese Angst wird durch den Verlust eines geistigen Zentrums erzeugt, durch das Ausbleiben einer Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Existenz, wie symbolisch und indirekt diese Antwort auch sein mag. Die Angst vor der Leere wird durch die Drohung des Nichtseins gegen die besonderen Inhalte des geistigen Lebens erweckt. Ein Glaube bricht auf Grund äußerer Ereignisse oder innerer Prozesse zusammen; wir sind von der schöpferischen Teilnahme an einer Kultursphäre abgeschnitten; etwas ist uns nicht gelungen, wofür wir uns leidenschaftlich eingesetzt haben; wir werden aus der Hingabe an den einen Gegenstand zur Hingabe an einen anderen getrieben und wiederum an einen anderen, weil einer nach dem anderen seines Sinnes entleert wird und der schöpferische eros sich in Gleichgültigkeit oder Abneigung verwandelt. Alles wird versucht, und nichts ist befriedigend. Die traditionellen Inhalte, wie vortrefflich sie auch einmal erschienen, wie gepriesen und geliebt sie auch waren, verlieren ihre Macht, dem Heute einen Sinn zu verleihen; und die gegenwärtige Kultur kann ihn uns noch weniger geben. Voll Angst wenden wir uns von allen konkreten Inhalten ab und suchen nach einem letzten Sinn, nur um zu entdecken, daß es gerade der Verlust eines geistigen Zentrums war, was den konkreten Inhalten des geistigen Lebens den Sinn raubte. Aber ein geistiges Zentrum kann nicht bewußt geschaffen werden, ein solcher Versuch erzeugt nur tiefere Angst. Die Angst vor der Leere treibt zum Abgrund der Sinnlosigkeit. Leere und Sinnverlust sind Ausdruck für die Bedrohung des geistigen Lebens durch das Nichtsein. Diese Drohung ist potentiell mit der End43

licfakeit des Menschen gegeben und in seiner Entfremdung aktualisiert. Sie kann als Zweifel beschrieben werden - Zweifel sowohl in seiner schöpferischen wie in seiner zerstörerischen Funktion. Der Mensch kann fragen, weil er von dem getrennt ist, nach dem er fragt, und zugleich an ihm partizipiert. In jeder Frage ist ein Element des Zweifels enthalten, nämlich das Bewußtsein eines Nichthabens. Im systematischen Fragen drückt sich systematischer Zweifel aus (z.B. der Zweifel des cartesianischen Typs). Diese Art des Zweifels ist eine Voraussetzung alles geistigen Lebens. Dieses ist nicht durch den Zweifel, der ein Element in ihm ist, bedroht, sondern durdi den radikalen Zweifel. Wenn das Bewußtsein des Nichthabens das Bewußtsein des Habens völlig verschlingt, hört der Zweifel auf, methodisches Fragen zu sein und wird existentielle Verzweiflung. Auf dem Wege dahin versucht das geistige Leben sich so lange wie möglich zu behaupten, indem es sich an Überzeugungen klammert, die noch nicht untergraben sind, seien es Traditionen, autonome Ideen oder Gefühlswerte. Wenn es sich als unmöglich erweist, den Zweifel zu überwinden, so nimmt man ihn mutig auf sich, ohne seine Überzeugungen aufzugeben. Man nimmt das Wagnis auf sich, in die Irre zu gehen, und die Angst, die in diesem Wagnis liegt. Auf diese Weise vermeidet man die extreme Situation, bis sie sich nicht mehr vermeiden läßt und die Verzweiflung an der Wahrheit radikal wird. Dann sucht der Mensch einen anderen Ausweg. Der Zweifel entspringt der Trennung des Mensdien vom Ganzen der Wirklichkeit, seinem Mangel an universaler Partizipation, der Isolierung seiner individuellen Existenz. Deshalb versucht der Mensch, aus dieser Situation auszubrechen und sich mit einem Überindividuellen zu identifizieren, seine Trennung und Selbstbezogenheit aufzugeben. Er flieht aus seiner Freiheit, Fragen zu stellen und selber Antworten zu suchen, in eine Situation, in der keine Fragen mehr gestellt werden können und ihm die Antworten auf seine früheren Fragen durch Autorität aufgezwungen werden. Um dem Wagnis des Fragens und Zweifeins zu entgehen, gibt er das Recht zu fragen und zu zweifeln auf. Er gibt sich selbst auf, um sein geistiges Leben zu retten. Er „flieht vor der Freiheit" (Eridj Fromm), um der Angst vor der Sinnlosigkeit zu entgehen. N u n ist er nicht mehr einsam, nicht mehr in existentiellem Zweifel, nicht mehr in Verzweiflung; er partizipiert an etwas und bejaht durch diese Partizipation die Inhalte seines geistigen Lebens. Der Sinn ist gerettet, aber das Selbst ist geopfert. Und da der Sieg über den Zweifel ein Opfer bedeutet, nämlich das Opfer der Freiheit des Selbst, hinterläßt er ein Stigma auf der wiedergewonnenen Freiheit in Form einer fanatischen 44

Selbstbehauptung. Fanatismus ist das Korrelat der geistigen Selbstaufgabe: die Angst, die der Mensch besiegen wollte, zeigt sich jetzt darin, daß er mit unmäßiger Heftigkeit jeden angreift, der ihm nicht beistimmt und durch seine Ablehnung Elemente in dem geistigen Leben des Fanatikers enthüllt, die dieser in sich unterdrücken muß. Weil er sie in sich selbst unterdrücken muß, muß er sie audi in dem anderen unterdrücken. Seine Angst zwingt ihn dazu, Andersdenkende zu verfolgen. Die Schwäche des Fanatikers liegt darin, daß diejenigen, die er bekämpft, eine geheime Gewalt über ihn ausüben, und dieser Schwäche muß er schließlich unterliegen. Es ist nicht immer persönlicher Zweifel, der ein System untergräbt und es seiner Ideen und Werte entleert. Es kann auch sein, daß diese Ideen und Werte nicht mehr verstanden werden und ihre ursprüngliche Macht verloren haben, die menschliche Situation auszudrücken und existentielle menschliche Fragen zu beantworten. (Das gilt weithin für die Dogmen und Symbole des Christentums.) Oder die geistigen Inhalte verlieren ihren Sinn, weil die Bedingungen der gegenwärtigen Zeit sich verändert haben seit den Zeiten, in denen diese Inhalte geschaffen wurden, so daß neue Inhalte geschaffen werden müssen. (Dies war weithin der Fall in bezug auf künstlerische Ausdrucksformen vor der industriellen Revolution.) In solchen Situationen unterliegen die geistigen Inhalte einem langsamen Abnutzungsprozeß, der zunächst: kaum bemerkt wird, bis er so zunimmt, daß man sich seiner schockartig bewußt wird und schließlich in der Angst vor der Sinnlosigkeit endet. Ontische und geistige Selbstbejahung müssen voneinander unterschieden werden, können aber nicht voneinander getrennt werden. Das Wesen des Menschen schließt seine Beziehung zu Sinngehalten ein. Er ist nur dadurch Mensch, daß er in der Wirklichkeit - in seiner Welt und in sich selbst - Sinngehalte und Werte erkennt und gestaltet. Sein Sein ist geistig, auch noch in den primitivsten Ausdrucksformen primitiver menschlicher Wesen. In dem „ersten" sinnvollen Satz ist aller Reichtum des geistigen Lebens potentiell gegenwärtig. Deshalb ist die Bedrohung des geistigen Lebens des Menschen eine Bedrohung seines Seins überhaupt. Diese Tatsache drückt sidi am deutlichsten in dem menschlichen Verlangen aus, lieber die eigene ontische Existenz wegzuwerfen als die Verzweiflung über Leere und Sinnlosigkeit zu ertragen. Der „Todestrieb" ist kein ontisches, sondern ein geistiges Phänomen. Freud hat diese Reaktion auf die Sinnlosigkeit der nie endenden und nie befriedigten libido mit der essentiellen Natur des Menschen identifiziert. Aber sie ist nur ein Ausdruck seiner existentiellen Selbstentfremdung und der Auflösung seines geistigen Lebens in Sinnlosigkeit. Wenn dagegen 45

die ontische Selbstbejahung durch das Nichtsein geschwächt ist, so können daraus geistige Indifferenz und Leere folgen, was zu einem Zirkel von ontischer und geistiger Negativität führt. Das Nichtsein droht von beiden Seiten, der ontischen und der geistigen, und wenn es die eine Seite bedroht, so bedroht es gleichzeitig auch die andere. Die Angst vor Schuld und

Verdammung

Das Nichtsein droht noch von einer dritten Seite, es bedroht die moralische Selbstbejahung des Menschen. Das Sein des Menschen, das ontische wie das geistige, ist ihm nicht nur gegeben, sondern ist ihm auch aufgegeben. Er ist dafür verantwortlich; im wörtlichen Sinn ist er aufgefordert zu antworten, wenn er gefragt wird, was er aus sich gemacht hat. Der ihn fragt, ist sein Richter, und das ist er selbst, er, der zugleich gegen sich selber steht. Aus dieser Situation entspringt die Angst, die in ihrer relativen Form Angst vor Schuld ist und in ihrer absoluten Form Angst vor Selbstverwerfung und Verdammung. Der Mensch ist seinem Wesen nach „endliche Freiheit", d. h. Freiheit nicht im Sinne von Indeterminiertheit, sondern in dem Sinne, daß er sich selbst determinieren kann durch Entscheidungen, die er aus dem Zentrum seines Seins fällt. Als endliche Freiheit ist der Mensch frei innerhalb der Zufälligkeiten seiner Endlichkeit. Auch innerhalb dieser Grenzen ist von ihm gefordert, daß er sich zu dem macht, was er werden soll, d. h. daß er seine Bestimmung erfüllt. In jedem Akt moralischer Selbstbejahung trägt der Mensch zu der Erfüllung seiner Bestimmung bei, zu der Aktualisierung dessen, was er potentiell ist. Es ist Aufgabe der Ethik, das Wesen dieser Erfüllung in philosophischen oder theologischen Begriffen zu beschreiben. Aber was auch die Norm sein mag, die so beschrieben wird, der Mensch hat die Macht, gegen sie zu handeln, seinem essentiellen Wesen zu widersprechen, seine Bestimmung zu verfehlen. Und unter den Bedingungen der Entfremdung des Menschen von sich selbst ist dies eine Aktualität. Selbst in dem, was er als seine beste Tat betrachtet, ist das Nichtsein gegenwärtig und verhindert ihre Vollkommenheit. Eine tiefe Zweideutigkeit, die Verflochtenheit von Gut und Böse, durchdringt alles, was er tut, denn sie durchdringt sein persönliches Sein als solches. In seiner moralischen wie in seiner geistigen und seiner ontischen Selbstbejahung ist Nichtsein mit Sein gemischt. Das Bewußtsein dieser Zweideutigkeit ist Schuldbewußtsein. Der Richter, der er selbst ist und der gegen ihn selbst steht, er, der alles „mitweiß" (conscientia), was er tut und ist, fällt ein negatives Urteil, das von ihm als Schuld erfahren wird. Die Angst vor der Schuld zeigt die 46

gleichen komplexen Charakteristika wie die Angst vor dem ontischen und geistigen Nichtsein. Sie ist in jedem Augenblick der moralischen Erfahrung gegenwärtig und kann zu völliger Selbstverurteilung treiben - zu dem Gefühl des Verdammtseins nicht durch äußere Bestrafung, sondern durch die Verzweiflung darüber, die eigene Bestimmung verfehlt zu haben. Um diese extreme Situation zu vermeiden, versucht der Mensch, die Angst vor der Schuld in sittliche Tat umzusetzen ohne Rücksicht auf ihre Unvollkommenheit und Zweideutigkeit. Mutig nimmt er das Nichtsein in seine moralische Selbstbejahung auf. Dies kann er, entsprechend der Dualität von tragischen und persönlichen Elementen in der menschlichen Situation, auf zweierlei Weise tun: er kann sich auf die Zufälligkeiten seines Schicksals stützen oder auf die Verantwortlichkeit seiner Freiheit. Der erste Weg kann zu einer Verachtung der negativen Urteile und der moralischen Forderungen, auf denen jene sich gründen, führen, der zweite Weg zum moralischen Rigorismus und zur Selbstzufriedenheit, die diesem entspringt. In beiden - gewöhnlich als Anomismus und Legalismus bezeichnet - bleibt die Angst vor der Schuld im Hintergrund bestehen und bricht immer wieder hervor, bis sie in der extremen Situation der moralischen Verzweiflung endet. Das Nichtsein im moralischen Bereich muß vom ontischen und geistigen Nichtsein unterschieden werden, kann aber nicht von diesen getrennt werden. Die Angst des einen Typs ist den Ängsten der anderen Typen immanent. Das berühmte Wort des Paulus über die „Sünde als Stachel des Todes" weist darauf hin, daß die Angst vor der Schuld der Angst vor dem Tode immanent ist. Die Bedrohung durch Schicksal und Tod hat stets Schuldbewußtsein erweckt und es verstärkt. Die Drohung des moralischen Nichtseins wird immer in der Drohung des ontischen Nichtseins und durch dieses erfahren. Man hat die Zufälligkeiten des Schicksals moralisch erklärt: das Schicksal vollzieht das negative moralische Urteil, indem es das ontische Fundament der moralisch verurteilten Person erschüttert und möglicherweise zerstört. Die beiden Formen der Angst verursachen und verstärken sich gegenseitig. Auf die gleiche Weise sind geistiges und moralisches Nichtsein voneinander abhängig. Gehorsam gegen das moralische Gesetz, d. h. gegen das eigene essentielle Sein, schließt Leere und Sinnlosigkeit in ihren radikalen Formen aus. Haben die geistigen Inhalte ihre Macht verloren, so kann durch die Selbstbejahung der moralischen Persönlichkeit wieder ein Sinn gefunden werden. Der bloße Ruf zur Pflicht kann von der Leere erretten, während der Verfall des moralischen Bewußtseins den Boden für den fast unwiderstehlichen Einbruch des geistigen Nichtseins abgibt. 47

Andrerseits kann der existentielle Zweifel die moralische Selbstbejahung untergraben, indem er nicht nur jedes Moralprinzip, sondern auch den Sinn der moralischen Selbstbejahung selbst in den Abgrund der Skepsis versinken läßt. In diesem Fall wird der Zweifel als Schuld empfunden, während die Schuld zugleich vom Zweifel untergraben wird. Die Bedeutung der Verzweiflung Die drei Typen der Angst sind derart ineinander verwoben, daß einer von ihnen zwar den jeweils herrschenden Charakter der Angst bestimmt, aber alle an dem Zustand der Angst teilhaben. Jeder von ihnen und ihre grundsätzliche Einheit sind existentiell, d. h. sie sind in der Existenz des Menschen als Menschen, in seiner Endlichkeit und seiner Entfremdung, enthalten. Sie nehmen radikalen Charakter an in der Situation der Verzweiflung, zu der sie alle beitragen. Verzweiflung ist eine letzte Situation oder eine „Grenzsituation". Man kann nicht über sie hinausgehen. Ihr Wesen ist in dem Wort despair = ohne Hoffnung ausgedrückt. Ein Ausweg in die Zukunft ist nicht sichtbar. Das Nichtsein wird als absoluter Sieger empfunden; aber der Sieg hat eine Grenze: das Nichtsein wird als Sieger empfunden, und Empfinden setzt Sein voraus. Es ist genug Sein geblieben, um die unwiderstehliche Macht des Nichtseins zu empfinden, und dies ist die Verzweiflung in der Verzweiflung. Der Schmerz der Verzweiflung besteht darin, daß ein Sein seiner selbst bewußt wird als unfähig, sich gegen die Macht des Nichtseins zu bejahen. Folglich will es dieses Bewußtsein und dessen Voraussetzung, das Sein, das Subjekt des Bewußtseins, aufgeben. Es will sich selbst loswerden und vermag es nicht. Die Verzweiflung erscheint, in Form der Verdoppelung, als der verzweifelte Versuch, der Verzweiflung zu entfliehen. Wäre die Angst nur die Angst vor Sdiicksal und Tod, so wäre der freiwillige Tod der Ausweg aus der Verzweiflung. Der geforderte Mut wäre der Mut zum Nichtsein. Die endgültige Form der ontisdien Selbstbejahung wäre der Akt der ontischen Selbstverneinung. Aber die Verzweiflung ist auch Verzweiflung über Schuld und Verdammung. Und hier gibt es keinen Ausweg, nicht einmal durch ontische Selbstverneinung. Der Selbstmord kann von der Angst vor Schicksal und Tod befreien - wie die Stoiker wußten, aber er kann nicht von der Angst vor Schuld und Verdammung befreien - wie die Christen wissen. Das ist eine höchst paradoxe Behauptung, so paradox wie das Verhältnis der moralischen Sphäre zur ontisdien Existenz im allgemeinen. Aber es ist eine wahre Behauptung, von denen bezeugt, die die 48

totale Verzweiflung über die Verdammung erfahren haben. Es ist nidit möglich, die Unentrinnbarkeir der Verdammung in ontischen Begriffen auszudrücken, d.h. in Vorstellungen von der „Unsterblichkeit der Seele". Denn jede ontische Behauptung muß die Kategorien der Endlichkeit verwenden, und die „Unsterblichkeit der Seele" wäre die endlose Verlängerung der Endlichkeit und der Verzweiflung über die Verdammung (ein begrifflicher Widerspruch in sich selbst). Deshalb muß die Erfahrung, daß der Selbstmord kein Ausweg aus der Schuld ist, vom qualitativen Charakter der moralischen Forderung her und vom qualitativen Charakter seiner Verwerfung her verstanden werden. Schuld und Verdammung sind qualitativ, nicht quantitativ, unendlich. Sie haben unendliches Gewicht und können nicht durch einen endlichen Akt ontischer Selbstverneinung aus dem Wege geräumt werden. Das macht die Verzweiflung verzweifelt, nämlich unausweichlich. Es gibt keinen Ausweg aus ihr, wie Sartre in „Huis clos" 1 gezeigt hat. Audi die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit partizipiert an beiden Elementen der Verzweiflung, dem ontischen und dem moralischen. Insoweit sie Ausdruck der Endlichkeit ist, kann ihr durch ontische Selbstverneinung begegnet werden: die radikale Skepsis treibt zum Selbstmord. Insoweit sie eine Folge moralischer Auflösung ist, führt sie zu dem gleidien Paradox wie das moralische Element in der Verzweiflung: es gibt aus ihr keinen ontisdien Ausweg. Das verhindert selbstmörderische Tendenzen in der Verzweiflung über Leere und Sinnlosigkeit, man erkennt ihre Vergeblichkeit. Im Hinblick auf diesen Charakter der Verzweiflung ist es verständlich, daß das ganze menschliche Leben als ein beständiger Versuch, der Verzweiflung zu entgehen, interpretiert wird. Dieser Versuch ist meistens erfolgreich. Extreme Situationen sind selten und werden von manchen vielleicht niemals erlebt. Die Analyse einer solchen Situation soll keine gewöhnliche menschliche Erfahrung aufzeigen, sondern extreme Möglichkeiten, in deren Licht die gewöhnlichen Situationen verstanden werden müssen. Wir sind uns nicht immer dessen bewußt, daß wir sterben müssen, aber wenn wir uns dessen' bewußt werden, erfahren wir unser ganzes Leben anders. Ebenso ist die Angst, die Verzweiflung ist, nicht immer gegenwärtig; aber die seltenen Fälle, in denen sie gegenwärtig ist, bestimmen unser Verständnis der Existenz als ganzer.

1 In deutscher Ubersetzung: »Geschlossene Gesellschaft" oder »Bei geschlossenen Türen".

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EPOCHEN DER ANGST

Die Unterscheidung der drei Typen der Angst wird durch die Geschidite der abendländischen Kultur gestützt. Wir finden, daß am Ende des Altertums die ontische Angst vorherrscht, am Ende des Mittelalters die moralische Angst und am Ende der Neuzeit die geistige Angst. O b wohl immer ein Typus der Angst vorherrscht, sind doch audi die anderen immer gegenwärtig und wirksam. Uber das Ende des Altertums und seine Angst vor Schicksal und Tod haben wir in Verbindung mit der Analyse des stoischen Mutes genug gesagt. Der soziologische Hintergrund ist bekannt: der Konflikt zwischen den Großmächten, Alexanders Eroberung des Ostens, der Krieg zwischen seinen Nachfolgern, die Eroberung des Ostens und des Westens durch das republikanische Rom, die Verwandlung des republikanischen in das kaiserliche Rom durch Caesar und Augustus, die Tyrannis der nachaugusteischen Kaiser, die Vernichtung der unabhängigen Polis und der Nationalstaaten, die Ausrottung der ehemaligen Träger der aristokratisch-demokratischen Gesellschaftsstruktur, das Bewußtsein des Individuums, in den Händen von - natürlichen wie politischen Mächten zu sein, die völlig außerhalb seiner Kontrolle und seines Einflusses liegen, all dies erzeugte eine ungeheure Angst und die Frage nach einem Mut, der der Bedrohung durch Schicksal und Tod begegnen kann. Zugleich machte die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit es vielen, vor allem den Gebildeten, unmöglich, ein Fundament für solch einen Mut zu finden. Von Anfang an vereinigte der antike Skeptizismus der Sophisten gelehrte und existentielle Elemente. In seiner spätantiken Form wurde er zur Verzweiflung über die Möglichkeit rechten Handelns und rechten Denkens. Diese Verzweiflung trieb die Menschen in die Wüste, wo die Notwendigkeit, Entscheidungen zu fällen - praktische wie theoretische - , auf ein Mindestmaß beschränkt ist. Die meisten von denen, die die Angst vor der Leere und die Verzweiflung über die Sinnlosigkeit erlebten, versuchten, ihnen mit einer zynischen Verachtung der geistigen Selbstbejahung zu begegnen. Aber sie konnten die Angst nicht unter dem Deckmantel skeptischer Arroganz verbergen. Die Angst vor Schuld und Verdammung erfüllte die Gruppen, die sich in den Mysterienkulten mit ihren Entsühnungs- und Reinigungsriten zusammenfanden. Soziologisch waren diese Kreise von Eingeweihten nicht festzulegen. Zu den meisten wurden sogar Sklaven zugelassen. Jedoch wird in der gesamten nicht-jüdischen antiken Welt mehr die tragische als die persönliche Schuld empfunden. Schuld ist Verunreinigung der Seele durch den Einfluß des Materiellen und durch dämonische Mächte.

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Deshalb bleibt die Angst vor der Schuld wie die Angst vor der Leere ein sekundäres Element innerhalb der beherrschenden Angst vor Schicksal und Tod. Erst unter der Einwirkung der jüdisch-christlichen Botschaft veränderte sich diese Situation, und zwar so radikal, daß die Angst vor Schuld und Verdammung gegen Ende des Mittelalters die entscheidende war. Wenn eine Epoche den Namen „Zeitalter der Angst" verdient, so ist es die Zeit der Vorreformation und der Reformation. Die Angst vor Verdammung, symbolisch als „Zorn Gottes" ausgedrückt und durch die Vorstellungen von Hölle und Fegefeuer gesteigert, trieb die Mensdien des späten Mittelalters von einem Versuch, ihre Angst zu überwinden, zum nächsten: Pilgerfahrten zu heiligen Stätten, wenn möglich nach Rom, asketische Übungen, zuweilen von äußerster Strenge, Verehrung von Reliquien, die oft massenweise angesammelt waren, das Aufsichnehmen von Kirchenstrafen und das Verlangen nach Ablaß, übertriebene Beteiligung an Messen und Bußübungen, häufiges Beten und Almosengeben. Kurzum, die Menschen fragten unablässig: Wie kann ich den Zorn Gottes beschwichtigen, wie kann ich der göttlichen Gnade teilhaftig werden, wie kann ich die Vergebung der Sünden erwirken? Diese vorherrschende Form der Angst umfaßte auch die beiden anderen Formen. Die personifizierte Gestalt des Todes erschien in der Malerei, in der Dichtung und in der Predigt. Aber es war der Tod in Vereinigung mit der Schuld. Tod und Teufel waren in den Angstvorstellungen dieser Zeit verbündet. Die Angst vor dem Schicksal kehrte unter dem Einfluß der Spätantike wieder. Fortuna wurde in der Kunst der Renaissance zu einem beliebten Symbol, und selbst die Reformatoren waren nicht frei von Astrologen-Aberglauben und -Furcht. Und die Angst vor dem Schicksal wurde nodi gesteigert durch die Furcht vor dämonischen Mächten, die unmittelbar oder durch menschliche Wesen Krankheit, Tod und alle Arten von Zerstörung bewirkten. Zugleich wurde das Schicksal über den Tod hinaus auf eine vorletzte Stufe des Fegefeuers und eine letzte Stufe der Hölle oder des Himmels ausgedehnt. Die Dunkelheit des letzten Schicksals konnte jedoch nicht beseitigt werden; selbst die Reformatoren waren dazu nicht imstande, wie ihre Prädestinationslehre zeigt. In allen diesen Formen erscheint die Angst vor dem Schicksal als ein Element innerhalb der alles beherrschenden Angst vor der Schuld und des dauernden Bewußtseins von der drohenden Verdammung. Das späte Mittelalter war kein Zeitalter des Zweifels, und die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit trat nur zweimal in Erscheinung; beide Male war ihr Auftreten jedoch bemerkenswert und von Wichtigkeit 51

für die Zukunft. Das eine Mal trat sie in der Renaissance hervor, als der theoretische Skeptizismus wieder auflebte und die Frage nach dem Sinn einige der feinfühligsten Geister quälte. In Michelangelos Propheten und Sibyllen und in Shakespeares Hamlet finden sich Andeutungen einer potentiellen Angst vor der Sinnlosigkeit. Der andere Fall, in dem die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit zum Ausdruck kam, waren die dämonischen Anfechtungen Luthers, die weder Versuchungen im moralischen Sinn noch Verzweiflung über die drohende Verdammung waren, sondern Erlebnisse, in denen der Glaube an sein Werk und seine Botschaft erschüttert und aller Sinn verloren war. Ähnliche Erfahrungen von der „Wüste" oder der »Nacht der Seele" finden sich häufig bei den Mystikern. Wir müssen jedoch betonen, daß in allen diesen Fällen die Angst vor der Schuld die vorherrschende blieb und daß erst, nachdem sich der Humanismus und die Aufklärung als religiöse Grundlage der abendländischen Welt durchgesetzt hatten, die Angst vor dem geistigen Nichtsein vorherrschend werden konnte. Die soziologische Voraussetzung der Angst vor Sdiuld und Verdammung, wie sie am Ende des Mittelalters herrschte, ist nidit schwer zu erkennen. Im allgemeinen kann man sagen, daß es die Auflösung der religiös fundierten mittelalterlichen Kultur und ihrer Schutz gewährenden Einheit war. Aber im einzelnen muß man auf das Aufkommen einer gebildeten Mittelklasse in den größeren Städten hinweisen. Dies waren Menschen, die versuchten, was bloß ein objektives, hierarchisches System von Lehren und Sakramenten gewesen war, in eigene Erfahrung und in persönlichen Glauben umzusetzen. Bei diesem Versuch wurden sie jedodi in geheimen oder offenen Konflikt mit der Kirche getrieben, deren Autorität sie noch anerkannten. Ferner muß man die Konzentration der politischen Macht bei den Fürsten und ihrer bürokratisch-militärischen Verwaltung erwähnen, die die Unabhängigkeit der unteren Schichten des Feudalsystems vernichtete. Man muß auf den Staatsabsolutismus hinweisen, der die Massen der unteren Klassen in Stadt und Land in „Untertanen" verwandelte, deren einzige Pflidit war, zu arbeiten und zu gehordien und die keine Macht hatten, der Willkür der absoluten Herrscher zu widerstehen. Man muß auf die Wirtschaftskatastrophen hinweisen, die mit dem Frühkapitalismus verbunden waren, mit dem Goldimport, der Enteignung der Bauern, usw. In all diesen Veränderungen, die oft beschrieben worden sind, ist es der Konflikt zwischen der Entwicklung unabhängiger Tendenzen innerhalb aller Gesellschaftsgruppen einerseits und dem Aufkommen einer absolutistischen Machtkonzentration andrerseits, der die Angst vor der 52

Schuld weitgehend zur beherrschenden gemacht hat. Der irrationale, fordernde, absolute Gott des Nominalismus und der Reformation ist zum Teil durch den sozialen, politischen und geistigen Absolutismus dieses Zeitalters geformt worden, und die Angst, die sein Bild erzeugt, ist ihrerseits zum Teil Ausdruck einer Angst, die ihre Wurzel in dem sozialen Grundkonflikt des verfallenden Mittelalters hat. Der Zusammenbruch des Absolutismus, die Entwicklung des Liberalismus und der Demokratie, das Aufkommen einer technischen Zivilisation, die alle gegnerischen Kräfte verdrängt, und der Beginn auch ihrer Auflösung - das sind die soziologischen Voraussetzungen für die dritte bedeutende Epoche der Angst. In ihr herrscht die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit vor. Wir sind vom geistigen Nichtsein bedroht. Auch die Drohungen des moralischen und ontischen Nichtseins sind vorhanden, aber sie sind mit den anderen Drohungen verbunden und sind nicht ausschlaggebend. Diese Situation ist von grundlegender Bedeutung für die Frage, die in diesem Buche behandelt wird. Deshalb erfordert sie eine eingehendere Analyse als die Formen der Angst, die in den beiden früheren Epochen herrschend waren, und muß in Korrelation zu der konstruktiven Lösung (vgl. Teil V und VI) betrachtet werden. Es ist bemerkenswert, daß alle drei Hauptformen der Angst am Ende einer Ära auftreten. Die Angst, die in ihren verschiedenen Formen potentiell in jedem Individuum vorhanden ist, wird allgemein, wenn die traditionellen Strukturen des Sinnes, der Macht, des Glaubens und der Ordnung zerfallen. Solange diese Strukturen bestehen, wird die Angst durch Partizipation des Individuums an einem System, in dem kollektiver Mut verkörpert ist, niedergehalten. Durch Partizipation an Institutionen und Lebensformen eines solchen Systems wird das Individuum zwar nicht von seinen persönlichen Ängsten befreit, aber es hat die Möglichkeit, sie mit allgemein bekannten Methoden zu überdecken. In Zeiten großer Umwälzungen sind diese Methoden jedoch nicht mehr wirksam. Konflikte zwischen dem Alten, das sich (oft durch neue Mittel) zu erhalten sucht, und dem Neuen, das das Alte seiner inneren Macht beraubt, erzeugen Angst in jeder Form. Das Nichtsein hat in einer solchen Situation ein doppeltes Gesicht, ähnlich den zwei Typen von Angstträumen, in denen sich vielleicht ein Bewußtsein von diesen beiden Aspekten des Nichtseins ausdrückt. Der eine Typ ist die Angst vor vernichtender Enge, der Unmöglichkeit des Entkommens und dem Schrecken, gefangen zu sein. Der andere Typ ist die Angst vor vernichtender Weite, vor dem unendlichen, gestaltlosen Raum, in 53

dessen Bodenlosigkeit man versinkt. Gesellschaftliche Situationen wie die beschriebenen besitzen sowohl den Charakter einer Enge ohne Ausweg wie den Charakter einer leeren, dunklen und unbekannten Weite. Diese beiden Gesichter der gleichen Realität erwecken in jedem Individuum, das ihrer ansichtig wird, latente Angst; und heute werden sie von den meisten Menschen gesehen.

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III PATHOLOGISCHE ANGST, VITALITÄT U N D

MUT

DAS WESEN DER PATHOLOGISCHEN ANGST Wir haben drei Formen der existentiellen Angst erörtert, die mit der menschlichen Situation als solcher gegeben sind. Die Frage einer nichtexistentiellen Angst, nämlich einer Angst, die das Ergebnis zufälliger Geschehnisse im menschlichen Leben ist, haben wir nur gestreift. Jetzt ist es Zeit, diese Frage systematisch zu behandeln. Natürlich kann eine Ontologie der Angst und des Mutes, wie sie in diesem Buch entwickelt wird, nicht versuchen, eine psychotherapeutische Theorie der neurotischen Angst aufzustellen. Eine Reihe von Theorien stehen zur Diskussion, und einige der führenden Psychotherapeuten, insbesondere Freud selber, haben verschiedene Erklärungen der neurotischen Angst gegeben. Ihnen allen gemeinsam ist folgende Feststellung: Angst ist das Ergebnis ungelöster Konflikte zwischen den Strukturelementen der Persönlichkeit, wie z. B. von Konflikten zwischen unbewußten Trieben und Normen, die sie verdrängen, von Konflikten zwischen verschiedenen Trieben, die das Zentrum der Persönlichkeit zu beherrschen suchen, von Konflikten zwischen einer Phantasiewelt und der Erfahrung der wirklichen Welt, von Konflikten zwischen dem Streben nach Größe und Vollkommenheit und dem Bewußtsein von der eigenen Geringfügigkeit und Unvollkommenheit, von Konflikten zwischen dem Wunsch, von anderen Menschen, von der Gesellschaft oder von dem Universum angenommen zu werden, und der Erfahrung des Verworfenseins, von Konflikten zwischen dem Willen zum Sein und der untragbaren Last des Seins, einem Konflikt, der den offenen oder versteckten Wunsch, nicht zu sein, erweckt. Wenn diese Konflikte unbewußt oder unterbewußt und uneingestanden sind oder wenn sie bewußt und ungelöst sind, dann machen sie sich in plötzlichen oder dauernden Angstzuständen bemerkbar. Gewöhnlich wird eine von diesen Erklärungen der Angst als die fundamentale betrachtet. Praktische und theoretische Analytiker suchen nach der Grundangst - nicht als kulturellem, sondern als psychologischem Phänomen. Aber den meisten von diesen Versuchen scheint ein Kriterium dafür zu fehlen, was das Grundphänomen und was das abgeleitete Phänomen ist. Jede von diesen Erklärungen 55

weist auf wirkliche Symptome und Grundstrukturen hin; aber wegen der Vielfalt des beobachteten Materials ist es gewöhnlich nicht überzeugend, wenn einem einzelnen Phänomen die Bedeutung eines Grundphänomens zugeschrieben wird. Ein weiterer Grund für die Verwirrung, in der sich die psychotherapeutische Theorie der Angst trotz ihrer glänzenden Einsichten befindet, ist das Fehlen einer klaren Unterscheidung zwischen existentieller und pathologischer Angst einerseits und zwischen den Hauptformen der existentiellen Angst andrerseits. Solche Unterscheidungen sind Sache der Ontologie und können durch tiefenpsychologische Analyse allein nicht gefunden werden. Nur im Lichte eines ontologisdien Verständnisses der menschlichen Natur kann aus dem riesigen Material, das Psychologie und Soziologie liefern, eine konsequente und umfassende Theorie der Angst entwickelt werden. Die pathologisdie Angst ist ein Zustand, zu dem die existentielle Angst unter besonderen Bedingungen führt. Die allgemeine Natur dieser Bedingungen hängt von der Beziehung der Angst zu Selbstbejahung und Mut ab. Wir haben gesehen, daß die Angst danach strebt, Furcht zu werden, um einen Gegenstand zu haben, dem sie durch Mut begegnen kann. Der Mut löst die Angst nicht auf; da sie existentiell ist, kann sie nicht aufgelöst werden. Aber der Mut nimmt die Angst des Nichtseins in sich hinein. Mut ist Selbstbejahung „trotz", nämlich trotz der Drohung des Nichtseins. Wer mutig handelt, nimmt in seiner Selbstbejahung die Angst des Nichtseins auf sich. Beide Präpositionen, »in* und „auf", sind hier metaphorisch gebraucht und weisen auf die Angst als ein Element innerhalb der Gesamtstruktur der Selbstbejahung hin, nämlich das Element, das der Selbstbejahung die Qualität des „trotzdem" gibt und sie in Mut verwandelt. Angst treibt uns zum Mut, denn die Alternative ist Verzweiflung. Der Mut widersteht der Verzweiflung, indem er die Angst in sich hineinnimmt. Diese Analyse liefert den Schlüssel für das Verständnis der pathologischen Angst. Wem es nicht gelingt, die Angst auf sich zu nehmen, der kann die extreme Situation der Verzweiflung vermeiden, indem er in die Neurose ausweicht. Er bejaht sich noch, aber er bejaht sich als ein beschränktes Selbst. Die Neurose ist der Weg, dem Nichtsein auszuweichen, indem man dem Sein ausweicht. Im neurotischen Zustand fehlt die Selbstbejahung nidit, sie kann sogar sehr stark und betont sein; aber das Selbst, das bejaht wird, ist ein reduziertes Selbst. Einigen oder vielen von seinen Potentialitäten wird keine Gelegenheit zur Verwirklichung gegeben, weil die Verwirklichung des Seins die Annahme des Nichtseins und die Angst vor dem Nichtsein einschließt. Wer einer machtvollen Selbstbejahung trotz der Angst vor dem Nichtsein 56

nicht fähig ist, wird zu einer ängstlichen, reduzierten Selbstbejahung gezwungen. Er bejaht ein Selbst, das weniger als sein essentielles oder potentielles Sein ist. Er opfert einen Teil seiner Potentialitäten, um die übrigen zu retten. Diese Struktur erklärt die Ambivalenz des neurotischen Charakters; er ist gegen die Drohung des Nichtseins empfindlicher als der normale Mensch. Und da das Nichtsein das Mysterium des Seins erschließt (vgl. Kap. VI), kann er schöpferischer sein als der Durchschnittsmensch. Die begrenzte Extensität seiner Selbstbejahung kann ausgeglichen werden durch größere Intensität, aber durch eine Intensität, die sich auf einen engen Kreis konzentriert und von einer verzerrten Beziehung zur Wirklichkeit begleitet ist. Selbst wenn die pathologische Angst psychotische Züge annimmt, kann sie schöpferische Augenblicke haben. Das Leben schöpferischer Menschen liefert dafür genügend Beispiele. Und wie das Beispiel der Besessenen im Neuen Testament zeigt, können sogar Menschen, die tief unter dem Durchschnitt stehen, Erleuchtungen haben, die die Massen und selbst die Jünger Jesu nicht haben: die tiefe Angst, die die Gegenwart Jesu hervorrief, enthüllte ihnen schon in der frühen Zeit seines Auftretens seinen messianischen Charakter. Die Geschichte der menschlichen Kultur beweist, daß die neurotische Angst die Mauern der gewöhnlichen Selbstbejahung immer wieder durchbricht und Schichten der Wirklichkeit erschließt, die gewöhnlich verdeckt sind. Das führt zu der Frage, ob die gewöhnliche Selbstbejahung des Durchschnittsmenschen nicht noch begrenzter ist als die pathologische Selbstbejahung des Neurotikers und ob also der Zustand der pathologischen Angst und Selbstbejahung nicht der gewöhnliche Zustand des Menschen ist. Es ist oft behauptet worden, daß in jedem Menschen neurotische Elemente vorhanden seien und daß der Unterschied zwischen der kranken und der gesunden Psyche nur quantitativ sei. Diese Theorie ließe sich durch den Hinweis auf den psychosomatischen Charakter der meisten Krankheiten und auf die Gegenwart von Krankheitselementen selbst im gesunden Körper stützen. Insoweit die psychosomatische Korrelation stichhaltig ist, ließe, sie auf die Gegenwart von Krankheitselementen auch in der gesunden Psyche schließen. Die Frage ist, ob eine begrifflich scharfe Unterscheidung zwischen der neurotischen und der normalen Psyche möglich ist angesichts der Tatsache, daß die Wirklichkeit nur Obergangsstufen aufweist. Der Unterschied zwischen der gesunden (wenn auch potentiell neurotischen) und der neurotischen Persönlichkeit ist folgender: Die neurotische Persönlichkeit hat sich auf Grund ihrer größeren Sensibilität und folglich ihrer größeren Angst gegenüber dem Nichtsein mit einer 57

fixierten, wenn auch begrenzten und unrealistischen Selbstbejahung abgefunden. Das ist gleichsam die Festung, in die sie sich zurückgezogen hat und die sie mit allen Mitteln psychologischen Widerstandes gegen alle Angriffe verteidigt, gleich ob sie von der Wirklichkeit oder von dem Analytiker herrühren. Dieser Widerstand entbehrt nicht instinktiver Klugheit. Der Neurotiker ist sidi der Gefahr einer Situation bewußt, in der seine begrenzte Selbstbejahung zusammenbricht, ohne daß eine realistische Selbstbejahung an ihre Stelle tritt. Dann besteht die Gefahr, daß er entweder in eine andere und besser verteidigte Neurose zurückfällt oder daß er mit dem Zusammenbruch seiner begrenzten Selbstbejahung in unbegrenzte Selbstverneinung, in Verzweiflung, verfällt. Bei der normalen Selbstbejahung des Durchschnittsmenschcn ist diese Situation anders. Auch hier ist die Selbstbejahung fragmentarisch. Der Durchschnittsmensch bewahrt sich vor der extremen Situation, indem er mutig den konkreten Objekten der Furcht entgegentritt. Er ist sich gewöhnlich des Nichtseins und der Angst in der Tiefe seiner Person nicht bewußt. Seine fragmentarische Selbstbejahung ist nicht fixiert und wird nicht gegen eine überwältigende Drohung der Angst verteidigt. E r ist der Wirklichkeit in weiteren Grenzen angepaßt als der Neurotiker; er ist diesem an Extensität überlegen, aber ihm fehlt die Intensität, die den Neurotiker zum schöpferischen Menschen madien kann. Seine Angst treibt ihn nicht zur Konstruktion einer eingebildeten Welt. Er bejaht sich in Ubereinstimmung mit den Teilen der Welt, denen er begegnet und die nicht bestimmt umschrieben sind. Das macht ihn im Vergleich mit dem Neurotiker zu einem gesunden Menschen. Dieser ist krank und bedarf der Heilung, weil er sich in Konflikt mit der Wirklichkeit befindet. In diesem Konflikt wird er von der Wirklichkeit, die beständig in seine Verteidigungsstellung und die hinter ihr liegende Phantasiewelt einbricht, verletzt. Seine begrenzte und fixierte Selbstbejahung bewahrt ihn einerseits vor unerträglichen Anfällen von Angst und zerstört ihn andrerseits, indem sie ihn gegen die Wirklichkeit und die Wirklichkeit gegen ihn kehrt und so einen neuen unerträglichen Einbruch der Angst verursacht. Die pathologische Angst ist trotz ihrer schöpferischen Potentialitäten Krankheit und Gefahr und muß geheilt werden, indem sie in den Mut zum Sein hineingenommen wird, der extensive wie intensive K r a f t hat. Es gibt eine Situation, in der die Selbstbejahung des Durchschnittsmenschen neurotisch wird, nämlich wenn Veränderungen der Wirklichkeit, der er sich angepaßt hat, den fragmentarischen Mut bedrohen, mit dem er die gewohnten Gegenstände der Furcht gemeistert hat. Wenn 58

das geschieht - und es geschieht wiederholt in kritischen Epochen der Gesdiichte - , wird die Selbstbejahung pathologisch. Die Gefahren, die mit der Veränderung verknüpft sind, das Unbekannte dessen, was auf einen zukommt, die Dunkelheit der Zukunft, machen den Durchschnittsmenschen zum fanatischen Verteidiger der bestehenden Ordnung: er verteidigt sie so zwangsweise, wie der Neurotiker die Festung seiner Phantasiewelt verteidigt. Er verliert seine relative Offenheit der Wirklichkeit gegenüber, er erlebt eine ungeheure Tiefe der Angst. Und wenn er diese Angst nicht in seine Selbstbejahung hineinnehmen kann, verwandelt sie sich in Neurose. Das ist die Erklärung für die Massenneurosen, die gewöhnlich am Ende einer Ära auftreten. In derartigen Epochen ist die existentielle Angst in einem solchen Maße mit der neurotischen Angst gemischt, daß Historiker und Analytiker keine genaue Grenzlinie zwischen ihnen ziehen können. Wann zum Beispiel wird die Angst vor der Verdammung, die der Askese zugrunde liegt, pathologisch? Ist die Angst vor dem Dämonischen immer neurotisch oder gar psychotisch? Bis zu welchem Grade beruhen die zeitgenössischen existentialistischen Beschreibungen der menschlichen Situation auf neurotischer Angst?

ANGST, RELIGION UND MEDIZIN

Diese Fragen führen zu einer Erörterung der Heilung, über deren Methoden Theologen und Mediziner sich widersprechen. Die Mediziner* vor allem die Psychotherapeuten und Psychoanalytiker, behaupten meist, daß das Heilen der Angst ihre Aufgabe sei, da alle Angst pathologisch sei. Heilen bedeutet nach ihrer Ansicht, die Angst beseitigen, denn Angst ist Krankheit, meist im psychosomatischen, manchmal nur im psychologischen Sinn. Alle Formen der Angst können geheilt werden, und da die Angst keine ontologische Wurzel hat, gibt es keine existentielle Angst. Ärztliche Einsicht und ärztliche Hilfe - das ist die Schlußfolgerung - sind der Weg zum Mut zum Sein; der medizinische Beruf ist der einzige Heilberuf. Wenn diese extreme Stellung auch von einer immer geringeren Zahl von Ärzten und Psychotherapeuten vertreten wird, so bleibt sie theoretisch doch wichtig. Sie enthält implizit eine Auffassung von der Natur des Menschen, die explizit gemacht werden muß trotz des positivistischen Widerstandes gegen die Ontologie. Der Psychiater, der behauptet, daß Angst immer pathologisch sei, kann nicht leugnen, daß die Krankheit in der menschlichen Natur potentiell immer gegenwärtig ist. Er muß dem Vorhandensein von Endlichkeit, 59

Zweifel und Sdiuld in jedem mensdilichen Wesen Rechnung tragen. Unter seiner eigenen Voraussetzung muß er die Universalität der Angst anerkennen. Er kann das Problem der mensdilichen Natur nicht umgehen, da er bei der Ausübung seines Berufs zwischen Gesundheit und Krankheit, zwischen existentieller und pathologischer Angst unterscheiden muß. Das ist der Grund, warum Vertreter der Medizin im allgemeinen und der Psychotherapie im besonderen in immer stärkerem Maße eine Zusammenarbeit mit den Philosophen und Theologen verlangen. Und es ist der Grund dafür, daß sidi durch diese Zusammenarbeit eine Praxis der Beratung entwickelt hat, die - wie jede angestrebte Synthese - sowohl gefährlich wie fruchtbar für die Zukunft ist. Die medizinische Wissenschaft bedarf einer Lehre vom Menschen, um ihre theoretische Aufgabe zu erfüllen; und sie kann keine Lehre vom Menschen finden ohne die beständige Zusammenarbeit mit allen Wissenschaften, deren Hauptgegenstand der Mensch ist. Der medizinische Beruf hat zum Ziel, dem Menschen zu helfen, einige seiner existentiellen Probleme zu lösen - nämlich diejenigen, die gewöhnlich als Krankheit bezeichnet werden. Aber er kann dem Menschen nicht helfen ohne die beständige Zusammenarbeit mit allen anderen Berufen, deren Zweck es ist, dem Menschen als Menschen zu helfen. Die Lehre vom Menschen sowie die Hilfe, derer er bedarf, sind Gegenstand der Zusammenarbeit unter vielen verschiedenen Gesichtspunkten. Nur auf diese Art ist es möglich, das Wesen des Menschen, seine essentielle Selbstbejahung und seinen Mut zum Sein zu verstehen und zur Verwirklichung zu bringen. Theologie und praktische Seelsorge haben das gleiche Problem wie theoretische und praktische Medizin. Sie setzen eine Lehre vom Menschen und damit eine Ontologie voraus. Dies ist einer der Gründe, warum die Theologie immer wieder die Hilfe der Philosophie in Anspruch genommen hat trotz aller theologischen und populär-religiösen Proteste (die ein Gegenstück zu den Protesten der praktischen Medizin gegen eine Philosophie der Medizin bilden). In beiden Fällen macht die Notwendigkeit einer Lehre vom Menschen die Umgehung der Philosophie unmöglich. Deshalb haben sich Theologie und Medizin, sobald es sich um die Interpretation der menschlichen Existenz handelte, notgedrungen mit der Philosophie verbunden, ob sie sich dessen bewußt waren oder nicht. Zur Zeit werden sie sich dessen mehr und mehr bewußt, auch wenn ihr Verständnis des Menschen immer noch in entgegengesetzter Richtung liegt. Theologen und Seelsorger suchen die Zusammenarbeit mit Medizinern und Ärzten, und es sind bereits viele Formen der Zusammenarbeit entstanden. Aber das Fehlen einer 60

ontologischen Analyse der Angst und einer scharfen Unterscheidung zwischen existentieller und pathologischer Angst hindert zahlreiche Theologen und Pfarrer, sich mit voller Oberzeugung dieser Zusammenarbeit anzuschließen. Viele Theologen sind nicht gewillt, die neurotische Angst ebenso zu betrachten wie körperliche Krankheiten, nämlich als ein Objekt ärztlicher Hilfe. Aber wenn einem Menschen, der pathologisch auf eine begrenzte Selbstbejahung fixiert ist, letzter Mut, der Mut des Glaubens, gepredigt wird, so kann das gefährliche Folgen haben. Entweder leistet der Neurotiker dem Inhalt der Predigt zwangsmäßig Widerstand und verhärtet sich darin; oder er benutzt den Inhalt, um seine neurotische Selbstbejahung zu verstärken und jede Begegnung mit der Wirklichkeit zu verhindern. Es ist für den Seelsorger eine Versuchung, die willige Annahme seiner Botschaft durch den Neurotiker als positives Zeichen zu begrüßen. Aber er sollte dieser Versuchung widerstehen. Die religiöse Begeisterung muß vom Standpunkt einer realistischen Selbstbejahung häufig mit Mißtrauen betrachtet werden. Die Selbstbejahung, die von der Religion erzeugt wird, zeigt häufig alle Merkmale der angstvollen Selbstbegrenzung und des Versuchs, die Religion zu neurotischer Selbstbehauptung zu benutzen. Und auch wenn die Religion nicht zu pathologischer Selbstreduktion verleitet oder diese nicht unmittelbar unterstützt, so kann sie doch die Offenheit des Menschen für die Wirklichkeit, vor allem die Wirklichkeit, die er selbst ist, verringern. Auf diese Weise kann die Religion eine potentiell neurotische Anlage unterstützen und verstärken. Diese Gefahren muß der Seelsorger erkennen, und er muß ihnen mit der Hilfe des Arztes oder des Psychotherapeuten zu begegnen sudien. Aus unserer ontologischen Analyse können gewisse Prinzipien für die gemeinsame Behandlung der Angst durch theologisdie und medizinische Wissenschaft abgeleitet werden. Als Grundprinzip muß gelten, daß die existentielle Angst in ihren drei Formen nicht das Anliegen des Arztes als Arzt ist, obgleich er sich ihrer bewußt sein muß; umgekehrt ist die neurotische Angst in allen ihren Formen nicht das Anliegen des Seelsorgers als Seelsorger, obgleich er ihrer bewußt sein muß. Der Seelsorger stellt die Frage nach einem Mut zum Sein, der die existentielle Angst in sidi hineinnimmt. Der Arzt stellt die Frage nach einem Mut zum Sein, in dem die neurotische Angst überwunden wird. Aber die neurotische Angst ist, wie unsere ontologische Analyse gezeigt hat, die Unfähigkeit, die existentielle Angst auf sidi zu nehmen. Deshalb umfaßt die Aufgabe des Seelsorgers auch die Aufgabe des Arztes. Aber keine von diesen Aufgaben ist völlig an die gebunden, die sie beruflidi ausüben: der Arzt, besonders der Psychotherapeut, kann implizit Mut 61

zum Sein und die Kraft, die existentielle Angst auf sich zu nehmen, auf den Patienten übertragen. Aber er wird dadurch nicht zum Seelsorger, und er sollte niemals versuchen, diesen zu ersetzen. Er kann dem Patienten jedoch zu letzter Selbstbejahung verhelfen und so eine seelsorgerliche Funktion ausüben. Umgekehrt kann der Seelsorger oder irgendein anderer zum ärztlichen Helfer werden. Er wird dadurch kein Arzt, und kein Seelsorger sollte anstreben, als Seelsorger Arzt zu sein; aber er kann heilende Kraft für Geist und Körper ausstrahlen und so helfen, die neurotische Angst zu überwinden. Wenn dieses Grundprinzip auf die drei Hauptformen der existentiellen Angst angewandt wird, können andere Prinzipien daraus abgeleitet werden. Die Angst vor Schicksal und Tod erzeugt ein natürliches Streben nach Sicherheit. Weite Bereiche der Zivilisation dienen dem Zweck, dem Menschen Sicherheit gegen die Drohung von Schicksal und Tod zu geben. Er weiß, daß keine absolute und keine endgültige Sicherheit erreicht werden kann, er weiß auch, daß das Leben immer wieder Mut erfordert, eine gewisse oder sogar alle Sicherheit für eine volle Selbstbejahung aufzugeben. Trotzdem versucht er, die Macht des Schicksals und die Drohung des Todes so weit wie möglidi einzuschränken. Die pathologische Angst vor Schicksal und Tod treibt den Menschen dazu, sich in einer Sicherheit zu verschanzen, die der Sicherheit eines Gefängnisses vergleichbar ist. Wer in einem solchen Gefängnis lebt, ist nicht fähig, die Sicherheit zu verlassen, die ihm die selbstauferlegten Beschränkungen gewähren. Aber diese Beschränkungen sind nicht auf ein volles Bewußtsein von der Wirklichkeit gegründet. Deshalb ist die Sicherheit des Neurotikers unrealistisch: er fürchtet, was er nicht zu fürchten braucht, und er hält für sicher, was nicht sicher ist. Die Angst, die er nicht auf sich nehmen kann, erzeugt in ihm Bilder, die kein Fundament in der Wirklichkeit haben, aber sie weicht vor dem Anblick der Dinge zurück, die er fürchten müßte. Der Neurotiker vermeidet besondere Gefahren, die kaum wirkliche sind, und er unterdrückt das Bewußtsein von der eigenen Sterblichkeit, obwohl sie eine immer gegenwärtige Realität ist. Furcht am unangebrachten Ort ist eine Folge der pathologischen Form der Angst vor Schicksal und Tod. Die gleiche Struktur kann in den pathologischen Formen der Angst vor Schuld und Verdammung beobachtet werden. Die normale existentielle Angst vor der Schuld treibt den Menschen zu dem Versuch, dieser Angst zu entgehen, indem er der Schuld entgeht. Moralische Selbstzucht und Gewohnheit sollen moralische Vollkommenheit schaffen, obwohl man im Innersten weiß, daß sie die Unvollkommenheit nicht beseitigen können, die mit der existentiellen Situation des Menschen, mit seiner 62

Entfremdung von seinem wahren Sein, gegeben sind. Neurotische Angst wirkt sich ebenso aus, aber auf eine beschränkte, fixierte und unrealistische Art. Die Angst davor, schuldig zu werden, der Schrecken in dem Bewußtsein, verdammt zu sein, sind so stark, daß sie verantwortliche Entscheidungen und jede Art moralischen Handelns fast unmöglich machen. Aber da Entscheidungen und Handlungen nicht zu vermeiden sind, werden sie auf ein Mindestmaß beschränkt, und hier glaubt man, absolut vollkommen handeln zu können. Der Bereich, innerhalb dessen sich die Handlungen vollziehen, wird gegen jede Aufforderung, ihn zu überschreiten, verteidigt. Auch hier hat die Entfremdung von der Wirklichkeit zur Folge, daß sich das Schuldbewußtsein am falschen Ort einstellt. Die moralische Selbstverteidigung des Neurotikers läßt ihn Schuld erblicken, wo keine oder nur eine sehr indirekte Schuld vorhanden ist. Aber das Bewußtsein von der wirklichen Schuld, die mit der existentiellen Selbstentfremdung des Menschen identisch ist, wird unterdrückt, weil der Mut fehlt, der es in sich aufnehmen könnte. Die pathologischen Formen der Angst vor Leere und Sinnlosigkeit zeigen ähnliche Charakteristika. Die existentielle Angst im Zweifel treibt den Menschen dazu, Gewißheit in Systemen von Sinnbezügen zu suchen, die durch Tradition und Autorität gestützt sind. Trotz des Elements des Zweifels, das mit der Endlichkeit der menschlichen Geistigkeit gegeben ist, und trotz der Drohung der Sinnlosigkeit, die mit der Entfremdung des Menschen gegeben ist, wird die Angst durch diese Methoden, Gewißheit zu schaffen und zu erhalten, verringert. Die neurotische Angst baut eine enge Festung der Gewißheit auf, die verteidigt werden kann und mit äußerster Hartnäckigkeit verteidigt wird. Die Macht des Menschen, Fragen zu stellen, wird unter diesen Bedingungen daran gehindert, aktuell zu werden, und wenn die Gefahr besteht, daß sie durch die Fragen anderer aktualisiert werden könnte, reagiert der Neurotiker mit fanatischer Abwehr. Aber die Festung der unbezweifelbaren Gewißheit ist nicht auf dem Fels der Wirklichkeit erbaut. Die Unfähigkeit des Neurotikers, ein richtiges Verhältnis zur Wirklichkeit zu finden, macht seinen Zweifel wie seine Gewißheit unrealistisch. Beide erscheinen bei ihm am falschen Ort. Er bezweifelt, was praktisch über dem Zweifel steht, und er glaubt Gewißheit zu haben, wo Zweifel angemessen wäre. Vor allem läßt er die Frage nach dem Sinn in ihrer universalen und radikalen Bedeutung nicht aufkommen. Die Frage ist in ihm, wie sie in jedem Menschen als Menschen unter den Bedingungen der existentiellen Entfremdung vorhanden ist, aber er kann sie nicht laut werden lassen, weil er den Mut nicht hat, die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit auf sich zu nehmen. 63

Die Analyse der pathologischen Angst in ihrem Verhältnis zur existentiellen Angst hat die folgenden Prinzipien erkennen lassen: 1. Die existentielle Angst hat ontologischen Charakter und kann nicht beseitigt werden, sondern muß in den Mut zum Sein hineingenommen werden. 2. Die pathologische Angst tritt auf, wenn das Selbst nicht fähig ist, seine Angst auf sich zu nehmen. 3. Die pathologische Angst treibt zu einer Selbstbejahung, die sich auf eine begrenzte, fixierte und Unrealistische Basis stützt, und zu einer zwangsmäßigen Verteidigung dieser Basis. 4. Die pathologische Angst schafft sich in bezug auf die Angst vor Schicksal und Tod eine unrealistische Sicherheit; in bezug auf die Angst vor Schuld und Verdammung eine unrealistische Vollkommenheit; in bezug auf die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit eine unrealistische Gewißheit. 5. Die pathologische Angst ist, wenn sie als soldie erkannt ist, Gegenstand ärztlicher Hilfe; die existentielle Angst ist Gegenstand priesterlicher Hilfe. Weder die ärztliche noch die priesterliche Funktion sind an ihre beruflichen Vertreter gebunden: der Seelsorger kann ein Heilender und der Psychotherapeut ein Priester sein, und jeder Mensch kann für den „Nächsten" beides sein. Aber die Funktionen sollten nicht verwechselt werden, und ihre Vertreter sollten ihre Stellen nicht vertauschen. Beide haben die Aufgabe, dem Menschen zu helfen, zur vollen Selbstbejahung zu gelangen, den Mut zum Sein zu finden. VITALITÄT UND M U T

Angst und Mut haben psychosomatischen Charakter. Sie sind zugleich biologische und psychologische Phänomene. Vom biologisdien Standpunkt würde man sagen, daß Furcht und Angst die Wächter sind, die einem Lebewesen die Drohung des Nichtseins ankünden und in ihm Schutzvorkehrungen und Widerstand gegen diese Bedrohung veranlassen. Furcht und Angst müssen als Ausdruck der „Selbstbejahung auf der Hut" betrachtet werden. Ohne vorausahnende Furcht und unwiderstehliche Angst könnte kein endliches Wesen existieren. Mut ist demgemäß die Bereitschaft, Negativitäten, die in der Furcht antizipiert werden, für eine reichere Posivität auf sich zu nehmen. Biologisdie Selbstbejahung bedeutet das Auf-sich-Nehmen von Not, Mühsal, Unsicherheit, Schmerz, möglicher Verniditung. Ohne diese Selbstbejahung könnte Leben nicht bewahrt oder vermehrt werden. Je mehr Lebenskraft ein Sein hat, umso besser ist es imstande, sich trotz der Gefahren, die ihm durdi Furcht und Angst angezeigt werden, zu bejahen. Jedoch würde es der biologisdien Funktion von Furcht und Angst widerspre64

dien, wenn der Mut ihre Warnungen mißachtete und Handlungen von unmittelbar selbstzerstörerischen Folgen veranlaßte. Das ist es, was Aristoteles mit seiner Lehre vom Mut als der rechten Mitte zwischen Feigheit und Kühnheit meinte. Die biologische Selbstbejahung setzt ein Gleichgewicht von Mut und Furcht voraus. Ein solches Gleichgewicht findet sich in allen Wesen, die fähig sind, ihr Sein zu erhalten und zu vermehren. Wenn die Warnungen der Furcht nicht mehr beachtet werden, wenn der Mut seine Kraft verloren hat, so geht das Leben unter. Der Trieb nach Sicherheit, Vollkommenheit und Gewißheit, den wir erwähnten, ist biologisch notwendig. Aber er wird biologisdi zerstörerisch, wenn das Wagnis der Unsicherheit, der Unvollkommenheit und der Ungewißheit nicht mehr eingegangen wird. Ein Wagnis, das eine Grundlage in unserem Selbst und unserer Welt hat, ist biologisdi gefordert; aber ein Wagnis, dem diese Grundlage fehlt, ist selbstzerstörerisch. Das Leben enthält sowohl Furcht wie Mut als Elemente des Lebensprozesses, in dem das Gleichgewicht zwischen ihnen zwar wechselt, aber essentiell bestehen bleibt. Solange das Leben ein solches Gleichgewicht besitzt, kann es dem Nichtsein widerstehen. Ungehemmte Furdit und ungehemmter Mut zerstören das Leben, das zu erhalten und zu vermehren die Funktion des Gleichgewichts zwischen Furcht und Mut ist. Ein Leben, das dieses Gleichgewicht besitzt und damit Seinsmächtigkeit hat, hat - in der Sprache der Biologie - Vitalität, das heißt Lebenskraft. Der rechte Mut wie die rechte Furcht müssen daher als Ausdruck einer vollkommenen Vitalität verstanden werden. Der Mut zum Sein ist eine Funktion der Vitalität. Schwindende Vitalität hat demnach schwindenden Mut zur Folge. Die Vitalität stärken heißt den Mut zum Sein stärken. Neurotischen Menschen und neurotischen Zeiten fehlt es an Vitalität. Ihre biologische Substanz hat sich zersetzt. Sie haben die Macht einer vollen Selbstbejahung, des Mutes zum Sein, verloren. Ob dies geschieht oder nicht, hängt von biologischen Prozessen ab, es ist biologisches Schicksal. Die Epochen eines geschwächten Mutes zum Sein sind Epochen der biologischen'Schwäche in Individuen und in der Geschichte. Die drei Hauptepochen der ungehemmten Angst sind Epodien reduzierter Vitalität; sie treten am Ende einer Ära auf und können nur durch den Aufstieg vital starker Gruppen überwunden werden, die an die Stelle der vital geschwächten treten. Bis jetzt haben wir den biologisdien Standpunkt vertreten, ohne kritische Einwände zu machen. Wir müssen nun die Gültigkeit seiner verschiedenen Behauptungen untersudien. Die erste Frage, die gestellt werden muß, bezieht sich auf den bereits entwickelten Unterschied von 65

Furcht und Angst. Es kann nicht bezweifelt werden, daß die Furdit, die sich auf ein bestimmtes Objekt richtet, die biologische Funktion hat, Drohungen des Nichtseins anzukünden und Schutz- und Widerstandsmaßnahmen zu veranlassen. Aber die Frage ist, ob das auch von der Angst gilt. Unsere biologische Erörterung hat sich vorwiegend des Ausdrucks „Furcht" und nur ausnahmsweise des Ausdrucks „Angst* bedient. Das war beabsichtigt; denn biologisch gesprochen, ist die Angst eher zerstörend als schützend. Die Furdit kann zu Maßnahmen führen, durch die wir die Objekte der Furcht meistern, aber die Angst kann das nicht, denn sie hat kein Objekt. Die Tatsache, auf die wir bereits hingewiesen haben, daß das Leben versucht, Angst in Furcht zu verwandeln, zeigt, daß die Angst biologisch ohne Nutzen ist und nidit als Schutz des Lebens erklärt werden kann. Sie führt vielmehr zu Verhaltensweisen, die das Leben gefährden. Deshalb transzendiert die Angst durch ihr Wesen als solches den biologischen Standpunkt. Der zweite Punkt, auf den hingewiesen werden muß, bezieht sich auf den Begriff der Vitalität. Die Bedeutung der Vitalität ist zu einem wichtigen Problem geworden, seit Faschismus und Nationalsozialismus die theoretische Betonung der Vitalität aufs Politische übertragen und im Namen der Vitalität die meisten Werte der westlichen Welt angegriffen haben. In Piatos „Ladies" wird das Verhältnis von Mut und Vitalität in Form der Frage erörtert, ob Tiere Mut haben. Es läßt sich viel für eine positive Antwort sagen: das Gleichgewicht zwischen Furdit und Mut ist im tierischen Bereich gut ausgebildet. Tiere werden durch Furcht gewarnt, aber unter besonderen Bedingungen vergessen sie ihre Furcht und setzen sich Schmerz und Vernichtung aus für diejenigen, die Teil ihrer eigenen Selbstbejahung sind, ihre Jungen oder ihre Herde. Trotzdem verwirft Plato den tierischen Mut. Und das ist berechtigt, denn wenn der Mut das Wissen von dem ist, was wir vermeiden und was wir wagen sollen, dann kann der Mut nicht vom Menschen als rationalem Wesen getrennt werden. Vitalität, Lebensmacht, steht in Wechselbeziehung zu der Art des Lebens, der sie Macht gibt. Die Macht des menschlichen Lebens kann nicht getrennt werden von dem, was die mittelalterlidien Philosophen „Intentionalität" nannten, nämlidi der Ausrichtung auf Sinngehalte. Die Vitalität des Menschen ist so stark wie seine Intentionalität, beide sind voneinander abhängig. Das macht den Menschen zum vitalsten aller Lebewesen. Er kann jede gegebene Situation in jeder Richtung transzendieren, und diese Möglichkeit treibt ihn ständig dazu, über sidi hinauszugehen. Vitalität ist die Macht, sich zu transzendieren, ohne sich zu verlieren. J e mehr Macht der Selbsttranszendierung ein Wesen hat, 66

um so mehr Vitalität hat es. Die Welt der Technik ist der sichtbarste Ausdruck für die Vitalität des Menschen und ihrer unendlichen Überlegenheit über die tierische Vitalität. N u r der Mensch hat vollständige Vitalität, weil er allein vollständige Intentionalität hat. Wir haben „Intentionalität" als „Ausrichtung auf Sinngehalte" definiert. Der Mensch lebt in Sinnbezügen, in dem, was gültig ist - in logischer, ästhetischer, ethischer, religiöser Hinsicht. Seine Subjektivität ist von Objektivität durchdrungen. In jeder Begegnung mit der Wirklichkeit sind die Strukturen von Selbst und Welt in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit gegenwärtig. Der fundamentalste Ausdrude dieser Tatsache ist die Sprache, die dem Menschen die Macht gibt, von dem konkret Gegebenen zu abstrahieren und, nachdem er von ihm abstrahiert hat, zu ihm zurückzukehren, um es zu verstehen und umzuformen. Das vitalste Wesen ist das Wesen, welches das Wort besitzt und durch das Wort von der Verhaftung an das Gegebene befreit ist. In jeder Begegnung mit der Wirklichkeit ist der Mensch schon über diese Begegnung hinaus. Er weiß von ihr, er vergleicht sie mit anderen, er wird durch andere Möglichkeiten versucht, er nimmt die Zukunft voraus und er erinnert sich der Vergangenheit. Das ist seine Freiheit, und in dieser Freiheit besteht die Macht seines Lebens. Sie ist die Quelle seiner Vitalität. Wenn die Wechselbeziehung von Vitalität und Intentionalität recht verstanden wird, kann man die biologische Interpretation des Mutes innerhalb der Grenzen ihrer Zuständigkeit annehmen. Gewiß ist der Mut eine Funktion der Vitalität, aber die Vitalität ist nicht etwas, das von der Totalität des Menschen getrennt werden kann, von seiner Sprache, seiner schöpferischen Kraft, seinem geistigen Leben, von seinem letzten Anliegen. Es war eine der unglücklichsten Folgen der Intellektualisierung des geistigen Lebens, daß das Wort „Geist" verloren ging und durch „Intellekt" ersetzt wurde und daß das Element der Vitalität, das im Geist vorhanden ist, von ihm getrennt und als unabhängige biologische K r a f t verstanden wurde. Der Mensch wurde so in einen blutlosen Intellekt und eine sinnleere Vitalität gespalten. Das verbindende Mittelglied, die geistige Seele, in der Vitalität und Intentionalität vereint sind, wurde nicht mehr gesehen. Am Ende dieser Entwicklung war es für den reduktiven Naturalismus leicht, Selbstbejahung und Mut von der rein biologischen Vitalität abzuleiten. Aber im Menschen gibt es nichts „rein Biologisches", ebensowenig wie es etwas „rein Geistiges" gibt. Jede Zelle seines Körpers partizipiert an seiner Freiheit und seiner Geistigkeit, und jeder Akt seiner geistigen Tätigkeit wird von seiner Vitalität genährt. 67

Diese Einheit ist in dem griechischen Wort arete vorausgesetzt. Es kann mit „Tugend" übersetzt werden, aber nur, wenn die moralistischen Nebenbedeutungen von „Tugend" ausgeschlossen werden. Der griechische Ausdruck vereint in sich Stärke und Wert, Seinsmächtigkeit und Sinnerfüllung. Der aretes ist der Träger hoher Werte, und die letzte Probe seiner arete ist seine Bereitsdiaft, sich für sie zu opfern. Sein Mut drückt ebenso sehr seine Intentionalität wie seine Vitalität aus. Es ist seine geistig geformte Vitalität, die ihn zum aretes madit. Hinter dieser Terminologie steht die antike Beurteilung des Mutes als etwas Edlem. Das Vorbild des mutigen Menschen ist nicht der sich selbst wegwerfende Barbar, dessen Vitalität nicht ganz menschlich ist, sondern der gebildete Grieche, der die Angst vor dem Nichtsein kennt, weil er den Wert des Seins kennt. Wir können hinzufügen, daß das lateinische Wort virtus und seine Ableitungen - der italienische RenaissanceBegriff virtii und der englische Renaissance-Begriff virtue - eine ähnliche Bedeutung wie arete haben. Sie bezeichnen die Qualität derer, die männliche Stärke (vir-tus) mit sittlichem Adel vereinen. Vitalität und Intentionalität sind in diesem Ideal menschlicher Vollkommenheit vereint, das von Barbarei und Moralismus gleich weit entfernt ist. Im Lichte dieser Betrachtungen könnte man dem biologischen Standpunkt vorwerfen, daß er hinter dem, was die klassische Antike Mut nannte, zurückbleibt. Vitalismus im Sinne einer Trennung des Vitalen vom Intentionalen führt mit Notwendigkeit das Barbarische wieder als Ideal des Mutes ein. Obgleich dies im Namen der Wissenschaft geschieht, drückt es - gewöhnlich gegen die Absicht seiner naturalistischen Verteidiger - eine prähumanistische Haltung aus und kann, von Demagogen gebraucht, zu dem barbarischen Ideal des Mutes führen, wie es im Faschismus und Nationalsozialismus erschienen ist. „Reine Vitalität" im Menschen ist niemals rein, sondern immer verzerrt, weil die Lebensmacht des Menschen seine Freiheit ist und seine Geistigkeit, in der Vitalität und Intentionalität geeint sind. Es gibt jedoch einen dritten Punkt in der biologischen Interpretation des Mutes, zu dem wir Stellung nehmen müssen: das ist die Antwort des Biologismus auf die Frage, woher der Mut zum Sein stammt. Die biologische Antwort lautet: aus der Vitalkraft, die ein natürliches Geschenk ist, eine Sache des biologischen Schicksals. Das gleicht der antiken und mittelalterlichen Antwort, in der eine Verbindung von biologischem und geschichtlichem Schicksal, die aristokratische Situation, als günstige Voraussetzung für die Entwicklung des Mutes betrachtet wurde. In beiden Fällen ist der Mut eine Möglichkeit, die nicht von Willenskraft oder Einsicht abhängt, sondern ein Geschenk ist, das dem 68

Handeln vorausgeht. Die tragische Weltanschauung der frühen Griechen und die deterministische Weltanschauung des modernen Naturalismus stimmen in diesem Punkt überein: die Macht zur „Selbstbejahung trotz", d. h. der Mut zum Sein, ist eine Sache des Schicksals. Das verbietet nicht die moralische Bewertung des Mutes, aber es verbietet seine moralistische Bewertung: der Mut zum Sein kann nicht befohlen und nicht durch Gehorsam gegen ein Gebot gewonnen werden. Religiös gesprochen: er ist ein Geschenk der Gnade. Wie oft in der Gesdiichte des Denkens hat der Naturalismus den Weg zu einem neuen Verständnis der Gnade bereitet, während der Idealismus ein solches Verständnis verhindert hat. Von diesem Gesichtspunkt aus ist der biologische Standpunkt wichtig und muß ernst genommen werden, insbesondere von der Ethik, trotz der Verzerrung des Begriffs der Vitalität im biologischen wie im politischen Vitalismus. Die Wahrheit in der vitalistischen Interpretation der Ethik ist die Gnade. Mut ist Gnade - das ist ein Ergebnis und eine Frage.

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IV MUT UND

PARTIZIPATION

Der Mut, Teil eines Ganzen zu sein SEIN, INDIVIDUATION UND PARTIZIPATION

Dies ist nicht der Ort, eine Lehre von der ontologisdien Grundstruktur und der Elemente, die sie konstituieren, zu entwickeln. Das ist zum Teil in meiner „Systematischen Theologie", Band I, Teil I, geschehen. Die hier angestellten Betrachtungen müssen sich auf die Ergebnisse jener Kapitel stützen, ohne deren Beweisführung zu wiederholen. Ontologische Prinzipien haben polaren Charakter gemäß der polaren Grundstruktur des Seins, der Selbst-Welt-Struktur. Die ersten polaren Elemente sind Individuation und Partizipation. Ihre Bedeutung f ü r das Problem des Mutes ist offensichtlich, wenn Mut als Selbstbejahung des Seins trotz des Nichtseins definiert wird. Wenn wir fragen: Was ist das Subjekt dieser Selbstbejahung, müssen wir antworten: das individuelle Selbst, das an der Welt partizipiert, d. h. an dem strukturierten Universum des Seins. Die Selbstbejahung des Menschen hat zwei Seiten, die voneinander unterschieden, aber nicht voneinander getrennt werden können. Die eine Seite ist die Bejahung des Selbst als ein Selbst, nämlich als ein einzelnes, zentriertes, individualisiertes, unvergleichbares, freies, sich-selbst-bestimmendes Selbst. Das ist es, was in jedem Akt der Selbstbejahung bejaht wird. Das ist es, was gegen das Nichtsein verteidigt wird und was mutig bejaht wird, indem man die Angst vor dem Nichtsein auf sich nimmt. Das Bewußtsein von dem drohenden Verlust des Selbst ist die Essenz der Angst, und das Bewußtsein von konkreten Bedrohungen ist die Essenz der Furcht. Die ontologische Selbstbejahung hat Priorität vor allen Unterscheidungen zwischen metaphysischen, ethischen oder religiösen Definitionen des Selbst. Sie ist weder naturhaft noch geistig, weder gut noch böse, weder immanent noch transzendent. Diese Unterschiede sind erst möglich auf Grund der ontologischen Selbstbejahung des Selbst als Selbst. In gleicher Weise liegen die Begriffe, die das individuelle Selbst charakterisieren, vor den verschiedenen Wertbegriffen: Trennung ist nicht Entfremdung, Selbstzentriertheit ist nicht Selbstsucht, Selbstbestimmung ist nicht Sündhaftigkeit. Dies sind Strukturbeschreibungen und Voraussetzungen f ü r

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Liebe wie für Haß, für Verdammung wie fUr Erlösung. Es ist an der Zeit, die üble Gewohnheit aufzugeben, bei jedem Wort, in dem die Silbe „Selbst" vorkommt, in moralische Entrüstung auszubrechen. Audi moralische Entrüstung wäre nicht möglich ohne ein zentriertes Selbst und ohne ontologisdie Selbstbejahung. Das Subjekt der Selbstbejahung ist das zentrierte Selbst. Als solches ist es ein individualisiertes Selbst. Es kann vernichtet, aber es kann nicht geteilt werden: jedes seiner Teile hat das Signum dieses und keines anderen Selbst. Audi kann es nicht vertauscht werden: seine Selbstbejahung ist auf sich als dieses einmalige, unwiederholbare und unersetzliche Individuum geriditet. Die theologische These, daß jede mensdilidie Seele unendlichen Wert hat, folgt aus der ontologisdien Selbstbejahung als Bejahung eines unteilbaren, unverwechselbaren Selbst, die „der Mut, man selbst zu sein" genannt werden kann. Aber das Selbst ist nur Selbst, weil es Welt hat, ein strukturiertes Universum, zu dem es gehört und von dem es zugleich getrennt ist. Selbst und Welt stehen in Korrelation zueinander, und ebenso Individuation und Partizipation. Denn Partizipation bedeutet gerade dieses: Teil sein von etwas, von dem man zugleidi getrennt ist. Wörtlich heißt Partizipation „Teil-nehmen". Das kann drei Bedeutungen haben: die Bedeutung von „etwas teilen", wie man z. B. ein Zimmer mit jemandem teilt; die Bedeutung von „gemeinhaben'', der metexis, wie Plato es nennt, dem „Mithaben" oder Anteilhaben des Individuellen am Universalen; oder die Bedeutung von „Teil von etwas sein", z. B. von einer politischen Bewegung. In jedem Fall ist Partizipation teilweise Identität und teilweise Nicht-Identität. Ein Teil des Ganzen ist nicht identisch mit dem Ganzen, zu dem es gehört. Aber das Ganze wäre nicht, was es ist, ohne den Teil. Das Verhältnis des Körpers zu seinen Gliedern ist hierfür das beste Beispiel. Das Selbst ist ein Teil der Welt, die es als seine Welt hat. Die Welt wäre nicht, was sie ist, ohne dieses individuelle Selbst. Man sagt, daß jemand sich mit einer Bewegung identifiziert. Diese Partizipation macht sein Sein und das Sein der Bewegung teilweise zu ein und demselben. Um das hödist dialektische Wesen der Partizipation zu verstehen, muß man, anstatt in Dingbegriffen zu denken, den Begriff der Mächtigkeit gebrauchen. Die teilweise Identität von vollkommen getrennten Dingen kann nicht gedacht werden; aber die Seinsmächtigkeit kann von verschiedenen Individuen geteilt werden. Die Seinsmächtigkeit eines Staates kann von allen seinen Bürgern geteilt werden und, in überragender Weise, von seinem Herrscher. Seine Mächtigkeit ist teilweise ihre Mächtigkeit, obwohl seine Mäditigkeit die ihre transzendiert und ihre Mächtigkeit die seine. 71

Die Identität in der Partizipation ist eine Identität in der Seinsmächtigkeit. In diesem Sinne ist die Seinsmächtigkeit des individuellen Selbst teilweise identisch mit der Seinsmächtigkeit seiner Welt und umgekehrt. Für die Begriffe der Selbstbejahung und des Mutes bedeutet dies, daß die Selbstbejahung des Selbst als eines individuellen Selbst immer die Bejahung der Seinsmächtigkeit, an der das Selbst partizipiert, einschließt. Das Selbst bejaht sich als partizipierend an der Mäditigkeit einer Gruppe, einer Wesenheit, der Macht des Seins-Selbst. Wenn sich diese Selbstbejahung trotz der Drohung des Nichtseins vollzieht, ist sie Mut zum Sein, aber nicht der Mut, man selbst zu sein, sondern der Mut, Teil eines Ganzen zu sein. Der Ausdruck „Mut, Teil eines Ganzen zu sein" stellt uns vor ein Problem. Während es offensichtlich Mut erfordert, man selbst zu sein, sdieint der Wille, Teil eines Ganzen zu sein, gerade Mangel an Mut auszudrücken, nämlich den Wunsch, unter dem Schutz eines größeren Ganzen zu leben. Nicht Mut, sondern Schwäche sdieint uns dazu zu führen, uns als Teil eines Ganzen zu bejahen. Aber Selbstbejahung sdiließt notwendig die Bejahung des Selbst als partizipierendes Selbst ein, und diese Seite unserer Selbstbejahung ist ebenso durch Nichtsein bedroht wie die andere Seite, die Selbstbejahung als Bejahung des individuellen Selbst. Wir stehen nicht nur unter der Bedrohung unseres individuellen Selbst, sondern audi unter der Bedrohung unserer Partizipation an unserer Welt. Deshalb erfordert die Bejahung unseres Selbst als Teil eines Ganzen ebenso Mut wie die Bejahung unseres Selbst als individuelles Selbst. Es ist ein und derselbe Mut, der eine doppelte Drohung des Nichtseins in sich aufnimmt. Der Mut zum Sein ist wesensmäßig immer beides: der Mut, Teil eines Ganzen zu sein, und der Mut, man selbst zu sein, in wechselseitiger Abhängigkeit. Der Mut, Teil eines Ganzen zu sein, ist ein wesentlicher Bestandteil des Mutes, man selbst zu sein, und der Mut man selbst zu sein, ist ein wesentlicher Bestandteil des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein. Aber unter den Bedingungen der menschlichen Endlichkeit und Entfremdung wird das, was essentiell geeint ist, existentiell gespalten. Der Mut, Teil eines Ganzen zu sein, trennt sich von dem Mut, man selbst zu sein, und umgekehrt; und in ihrer Isolierung lösen sich beide auf. Die Angst, die sie in sich hineingenommen hatten, wird entfesselt und wirkt zerstörerisdi. Diese Situation bestimmt den Weg unserer weiteren Untersuchung: Wir werden zuerst Manifestationen des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein, behandeln, dann Manifestationen des Mutes, man selbst zu sein, und zuletzt werden wir nach einem Mut fragen, in dem beide Seiten vereint sind. 72

KOLLEKTIVISTISCHE UND HALBKOLLEKTIVISTISCHE ERSCHEINUNGSFORMEN DES M U T E S , T E I L EINES G A N Z E N ZU SEIN

Der Mut, Teil eines Ganzen zu sein, ist der Mut, sein eigenes Sein durch Partizipation zu bejahen. Man partizipiert an der Welt, zu der man gehört und von der man zugleich getrennt ist. Aber an der Welt partizipieren wird aktualisiert durch die Partizipation an denjenigen ihrer Dimensionen, die den Inhalt des eigenen Seins konstituieren. Die Welt als ein Ganzes ist Potentialität, nicht Aktualität. Aktuell sind nur diejenigen Bereiche, mit denen man teilweise identisch ist. Je mehr Selbstbezogenheit ein Sein hat, um so besser ist es, der polaren Struktur der Wirklichkeit entsprechend, fähig zur Partizipation. Der Mensch als völlig zentriertes Wesen oder als Person kann an allem partizipieren, aber er partizipiert vermittels desjenigen Bereiches der Welt, der ihn zu einer Person macht. Nur in der fortwährenden Begegnung mit anderen Personen wird die Person zur Person und bleibt Person. Der Ort dieser Begegnung ist die Gemeinschaft. Die Partizipation des Mensdien an der Natur ist unmittelbar, insoweit er durch seine leiblidie Existenz ein bestimmter Teil der Natur ist. Seine Partizipation an der Natur ist mittelbar und durch die Gemeinschaft vermittelt, insoweit er die Natur transzendiert, indem er sie erkennt und gestaltet. Ohne Sprache gibt es keine Universalien, ohne Universalien kein Transzendieren der Natur - kein Verhältnis zu ihr als Natur. Aber die Sprache ist gemeinschaftlich, nicht individuell. Der Bereich der Wirklichkeit, an der der Mensdi unmittelbar partizipiert, ist die Gemeinschaft, der er angehört. Durdi sie und nur durdi sie wird die Partizipation an der Welt als ganzer und an all ihren Teilen vermittelt. Deshalb hat derjenige, der den Mut hat, Teil eines Ganzen zu sein, den Mut, sich als Teil der Gemeinschaft, an der er partizipiert, zu bejahen. Seine Selbstbejahung ist Teil der Selbstbejahung der Gruppen, die die Gesellschaft, der er angehört, konstituieren. Daraus scheint zu folgen, daß es nicht nur eine individuelle, sondern auch eine kollektive Selbstbejahung gibt, und daß auch diese durdi Nichtsein bedroht ist, woraus die kollektive Angst entspringt, die den kollektiven Mut erfordert Man könnte sagen, das Subjekt dieser Angst und dieses Mutes sei ein Wir-Selbst im Untersdiied zu den Ichs, die seine Teile sind. Aber eine solche Erweiterung des Begriffs Selbstheit muß abgelehnt werden. Selbstheit ist Selbstzentriertheit. In einer Gruppe gibt es aber kein Zentrum in der Weise, wie es eine Person besitzt. Es kann zwar eine 73

Zentral-Macht, einen König, einen Präsidenten, einen Diktator geben, der der G r u p p e seinen Willen aufzwingen kann. Aber es ist dann nicht die Gruppe, die entscheidet, wenn er entscheidet, auch in den Fällen, in denen ihm die G r u p p e folgt. Deshalb ist es weder berechtigt, von einem Wir-Selbst zu sprechen, noch ist es angebracht, Ausdrücke wie Kollektivangst und Kollektivmut zu gebrauchen. Als wir von den drei Epochen der Angst sprachen, wiesen wir auf die Tatsache hin, daß große Massen von Menschen von einem besonderen T y p der Angst ergriffen wurden, weil sie die gleiche angsterregende Situation erlebten und weil Angstausbrüche ansteckend sind. Es gibt keine Kollektivangst, aber es gibt eine Angst, die viele oder alle Glieder einer Gruppe ergreift und die sich dadurch, d a ß sie allgemein wird, steigert und verändert. Das gleiche gilt von dem, was fälschlich Kollektivmut genannt wird. Es gibt keine Wesenheit „Wir-Selbst" als Subjekt des Mutes. Es gibt Selbste, die an einer Gruppe partizipieren und deren Charakter teilweise durch die Partizipation bestimmt wird. Das angenommene WirSelbst ist eine gemeinsame Qualität von Ichs innerhalb einer Gruppe. Der Mut, Teil eines Ganzen zu sein, ist wie alle Formen des Mutes eine Qualität individueller Selbste. Eine kollektivistische Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der die Existenz und das Leben des Individuums durch die Existenz und die Institutionen der G r u p p e bestimmt sind. In kollektivistischen Gesellschaften ist der Mut des Individuums der Mut, Teil eines Ganzen zu sein. Blickt man auf sogenannte primitive Gesellschaften, so findet man typische Formen von Angst und typische Institutionen, in denen der M u t Ausdruck findet. Die individuellen Glieder der Gruppen entwickeln die gleichen Ängste und die gleiche Furcht, und sie verwenden die gleichen Methoden, Mut und Tapferkeit zu entwickeln, die durch Traditionen und Institutionen vorgeschrieben sind. Von diesem Mut wird vorausgesetzt, daß ihn jedes Glied der Gruppe besitze. Der Mut, Schmerz auf sich zu nehmen, ist bei vielen Stämmen der Prüfstein f ü r volle Mitgliedschaft in der Gruppe; und der Mut, den Tod auf sich zu nehmen, ist im Leben der meisten Gruppen ein ständiger Prüfstein. Der Mut dessen, der diese Prüfungen besteht, ist der Mut, Teil eines Ganzen zu sein. Er bejaht sich durch die Gruppe, an der er partizipiert. Die potentielle Angst, sein Selbst in der Gruppe zu verlieren, wird nicht aktuell, weil die Identifikation mit der Gruppe vollständig ist. Das Nichtsein in Form der Drohung des Selbstverlustes ist noch nicht in Erscheinung getreten. Die Selbstbejahung innerhalb einer Gruppe schließt den Mut ein, die Schuld und ihre Folgen als öffentliche Schuld auf sich zu nehmen, gleich, ob man selbst oder ein anderer die Schuld 74

trägt. Schuld ist ein Problem der Gruppe und muß gebüßt werden um der Gruppe willen; und die Methoden der Bestrafung und Genugtuung, die von der Gruppe gefordert werden, werden vom Individuum akzeptiert. Individuelles Schuldbewußtsein gibt es nur in bezug auf eine Abweichung von den Institutionen und Regeln des Kollektivs. Wahrheit und Sinn sind in den Traditionen und Symbolen der Gruppe verkörpert, und autonomes Fragen und Zweifeln gibt es nicht. Aber auch in einem primitiven Kollektiv gibt es wie in jeder menschlichen Gemeinschaft einzelne, die aus der G r u p p e herausragen: die Träger der Tradition und die Wegbereiter der Z u k u n f t . Sie müssen genügend Abstand von der Menge haben, um urteilen und ändern zu können. Sie müssen Verantwortung auf sich nehmen und Fragen stellen. Das hat notwendigerweise individuellen Zweifel und persönliche Schuld zur Folge. Trotzdem ist das herrschende Vorbild des Mutes f ü r alle Glieder einer primitiven Gruppe der Mut, Teil eines Ganzen zu sein. Als wir in unserem ersten Kapitel den Begriff des Mutes behandelten, haben wir auf das Mittelalter und seine aristokratische Interpretation des Mutes hingewiesen. Der Mut des Mittelalters wie der jeder Feudalgesellschaft ist im Grunde der Mut, Teil eines Ganzen zu sein. Die sogenannte „realistische" Philosophie des Mittelalters ist eine Philosophie der Partizipation. Sie setzt voraus, daß die Universalien logisch und die Kollektive aktuell mehr Wirklichkeit haben als das Individuum. Das Partikulare (wörtlich: ein kleiner Teil) hat seine Seinsmächtigkeit durch Partizipation am Universalen. Die Selbstbejahung, die in der Selbstachtung des Individuums Ausdruck findet, ist beispielsweise Selbstbejahung als Gefolgsmann eines Feudalherrn, als Mitglied einer Zunft, als Student in einer akademischen Körperschaft oder als Träger einer besonderen Funktion, wie der eines Handwerks, eines Gewerbes oder eines akademischen Berufs. Aber trotz seiner primitiven Elemente ist das Mittelalter nicht primitiv. In der antiken Welt waren zwei Dinge geschehen, die den mittelalterlichen Kollektivismus entschieden vom primitiven Kollektivismus trennen. Das eine war die Entdeckung der persönlichen Schuld, von den Propheten als Schuld vor Gott verstanden - der entscheidende Schritt zum Durchbruch des Persönlichen in Religion und Kultur. Das andere war der Anfang des autonomen Fragens in der griechischen Philosophie - der entscheidende Schritt zur Infragestellung von Kultur und Religion. Beide Elemente wurden den mittelalterlichen Völkern durch die Kirche vermittelt. Mit ihnen verband sich die Angst vor Schuld und Verdammung wie die Angst im Zweifel und die Angst vor der Sinnlosigkeit. Wie in der Spätantike hätte diese Situation den Mut, man selbst zu sein, notwendig

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machen können. Aber die Kirche hatte eine Gegenkraft gegen die Drohung der Angst und der Verzweiflung, nämlich sich selbst, ihre Tradition, ihre Sakramente, ihre Erziehung und ihre Autorität. Die Angst vor der Schuld wurde in den Mut aufgenommen, Teil der sakramentalen Gemeinschaft zu sein. Die Angst im Zweifel wurde in den Mut aufgenommen, Teil der Gemeinschaft zu sein, in der Offenbarung und Vernunft geeint sind. In dieser Weise war der mittelalterliche Mut zum Sein trotz seiner Verschiedenheit vom primitiven Kollektivismus der Mut, Teil eines Ganzen zu sein. Die Spannung, die durch diese Situation geschaffen wurde, fand ihren theoretischen Ausdruck in dem Kampf des Nominalismus gegen den mittelalterlichen Realismus und in dem ständigen Konflikt zwischen diesen beiden. Der Nominalismus sieht die letzte Wirklichkeit in dem Individuum und hätte viel früher, als es tatsächlich geschah, zur Auflösung des mittelalterlichen Systems der Partizipation geführt, wenn die ungeheuer angewachsene Autorität der Kirche dies nicht zunächst verhindert hätte. Im religiösen Leben fand die gleiche Spannung in der Dualität von dem Sakrament der Messe und dem Sakrament der Buße Ausdrude. Das Sakrament der Messe vermittelte die objektive Erlösungsmacht, an der jeder partizipierte, wenn möglich durch die tägliche Teilnahme an der Messe. Infolge dieser universellen Partizipation wurden Schuld und Gnade nicht nur als eine persönliche, sondern auch als eine kollektive Angelegenheit empfunden. Die Bestrafung des Sünders hatte repräsentativen Charakter: die ganze Gemeinschaft litt mit ihm. Und die Befreiung des Sünders von der Bestrafung auf Erden und im Fegefeuer war zum Teil abhängig von der Heiligkeit der stellvertretenden Heiligen und der Liebe derer, die Opfer für seine Befreiung brachten. Nichts ist für das mittelalterliche System der Partizipation charakteristischer als diese wechselseitige Stellvertretung. Der Mut, Teil eines Ganzen zu sein und die Ängste des Nichtseins auf sich zu nehmen, ist in den mittelalterlichen Institutionen ebenso verkörpert wie in den primitiven Lebensformen. Aber als der antikollektivistische Pol, durch das Sakrament der Buße vertreten, in den Vordergrund rückte, zerfiel der mittelalterliche Halbkollektivismus. Das Prinzip, daß nur die contritio, die persönliche und totale Annahme des Gerichts und der Gnade, die objektiven Sakramente wirksam macht, führte zu einer Beschränkung und schließlich zur Aufgabe der objektiven Elemente, der Stellvertretung und der Partizipation. Im Akt der Reue steht jeder Mensch allein vor Gott, und es war schwierig für die Kirche, dieses Element mit dem objektiven zu verbinden. Schließlich erwies es sich als unmöglich, und das System löste sich auf. Zur gleichen Zeit gewann die nominalistische 76

Tradition an Macht und befreite sich von der Heteronomie der Kirche. In der Reformation und der Renaissance brachen der mittelalterliche Mut, Teil eines Ganzen zu sein, und das zu ihm gehörige halbkollektivistische System zusammen, und es setzten Entwicklungen ein, die die Frage nach dem Mut, man selbst zu sein, in den Vordergrund rückten.

NEUKOLLEKTIVISTISCHE ERSCHEINUNGSFORMEN DES

MUTES,

TEIL EINES G A N Z E N ZU SEIN

Als Reaktion auf den Mut, man selbst zu sein, der in der neueren abendländischen Geschichte vorherrschte, erhoben sich Bewegungen von neukollektivistischem Charakter: Nationalsozialismus, Faschismus und Kommunismus. Ihr grundlegender Unterschied vom primitiven Kollektivismus und mittelalterlichen Halbkollektivismus ist dreifach: Erstens geht dem Neukollektivismus die Befreiung der autonomen Vernunft und die Schaffung einer technischen Zivilisation voraus, deren wissenschaftliche und technische Errungenschaften er für seine Zwecke verwendet. Zweitens ist der Neukollektivismus in einer Situation hochgekommen, in der viele konkurrierende Tendenzen bestanden, sogar innerhalb der neukollektivistischen Bewegung selbst. Deshalb ist; er weniger stabil und sicher als die älteren Formen des Kollektivismus. Dies führt zu dem dritten und deutlichsten Unterschied: den totalitären Methoden des heutigen Kollektivismus in Form eines Nationalstaates oder eines übernationalen Imperiums. Ursache für die Entwidmung ist die Notwendigkeit einer zentralisierten technischen Organisation und - in noch stärkerem Maße - die Notwendigkeit, Tendenzen zu unterdrücken, die das kollektivistische System durch Alternativlösungen und individuelle Entscheidungen zersetzen können. Aber diese drei Unterschiede verhindern nicht, daß der Neukollektivismus viele Züge des primitiven Kollektivismus aufweist, vor allem die ausschließliche Betonung der Selbstbejahung durch Partizipation oder des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein. Der Rückfall in den Stammeskollektivismus war im Nationalsozialismus leicht erkennbar. Die deutsche Idee vom „Volksgeist" bildete eine gute Grundlage für ihn, die „Blut und Boden"-Mythologie verstärkte diese Tendenz, und die mythische Vergottung des Führers tat das übrige. Im Vergleich mit dem Nationalsozialismus war der ursprüngliche Kommunismus eine rationale Eschatologie, eine Bewegung der Kritik und der Erwartung, in vielerlei Hinsicht den prophetischen 77

Ideen verwandt. Nach der Errichtung des kommunistischen Staates in Rußland wurden jedoch die rationalen und eschatologischen Elemente verstoßen, sie verschwanden, und der Rückfall in den Stammeskollektivismus setzte sich in allen Lebensbereichen durch. Der russische Nationalismus mit seinen politischen und mystischen Formen wurde mit der kommunistischen Ideologie verschmolzen. Heutzutage ist „Kosmopolit" in kommunistischen Ländern die Bezeichnung f ü r die schlimmsten Ketzer. Der Kommunismus hat trotz seines prophetischen Hintergrundes, trotz seiner positiven Bewertung der Vernunft und seiner ungeheuren technischen Produktivität fast die Stufe des Stammeskollektivismus erreicht. Deshalb kann man den Mut, Teil eines Ganzen zu sein, im Neukollektivismus am besten analysieren, indem man sich auf seine kommunistische Erscheinungsform konzentriert. Ihre weltgeschichtliche Bedeutung muß im Lichte einer Ontologie der Selbstbejahung und des Mutes gesehen werden. Man würde das Wesen des kommunistischen Neukollektivismus verkennen, wenn man seinen Charakter aus sekundären Faktoren erklären wollte wie dem russischen Charakter, der Geschichte des Zarentums, dem stalinistischen Terror, der Dynamik eines totalitären Systems, der weltpolitisdien Konstellation. Alle diese Dinge haben zu seiner Bildung beigetragen, aber sie sind nicht seine Ursache. Sie helfen, das System zu erhalten und zu verbreiten, aber sie konstituieren nicht sein Wesen. Sein Wesen ist der Mut, Teil eines Ganzen zu sein, den er den Massen eingibt, die unter einer wachsenden Drohung des Nichtseins und einem wachsenden Angstgefühl leben. Die traditionellen Lebensformen, aus denen sie Formen des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein, schöpften, und die neuen Möglichkeiten des Mutes, man selbst zu sein, wie sie seit dem 19. Jahrhundert bestanden, waren in der modernen Welt schnell untergraben worden. Das war sowohl in Europa wie im entferntesten Asien und Afrika geschehen und geschieht noch immer - es ist eine weltweite Entwicklung. Der Kommunismus gibt denen, die ihre alte kollektivistische Selbstbejahung verloren haben oder dabei sind, sie zu verlieren, einen neuen Kollektivismus und damit einen neuen Mut, Teil eines Ganzen zu sein. Sehen wir uns die überzeugten Anhänger des Kommunismus an, so finden wir überall die Bereitwilligkeit, jede individuelle Erfüllung der Selbstbejahung der Gruppe und dem Ziel der Bewegung zu opfern. Aber der kommunistische Kämpfer würde vermutlich eine derartige Beschreibung seiner Haltung nicht gelten lassen; er hätte vermutlich wie alle fanatischen Gläubigen in allen Bewegungen nicht das Gefühl, daß er ein Opfer bringt. Vermutlich glaubt er, daß er den einzigen Weg einge78

schlagen habe, auf dem er seine eigene Erfüllung erreichen könne. Wenn er sich bejaht, indem er das Kollektiv, an dem er partizipiert, bejaht, empfängt er sich von dem Kollektiv zurück, von ihm ausgefüllt und erfüllt. Er gibt viel von dem auf, was zu seinem individuellen Selbst gehört, vielleicht seine Existenz als partikulares Sein in Raum und Zeit, aber er empfängt mehr zurück, weil sein wahres Sein im Sein der Gruppe eingeschlossen ist. Indem er sich selbst der Sache des Kollektivs hingibt, gibt er das in sich hin, was nicht in der Selbstbejahung des Kollektivs mit eingeschlossen ist, und dies erachtet er nicht für bejahenswert. So wird die Angst vor dem individuellen Nichtsein in die Angst um das Kollektiv verwandelt, und die Angst um das Kollektiv wird besiegt durch den Mut, der sich durch die Partizipation am Kollektiv bejaht. Das kann in bezug auf die drei Haupttypen der Angst gezeigt werden. Wie in jedem menschlichen Wesen ist in dem überzeugten Kommunisten die Angst vor Schicksal und Tod vorhanden. Kein Wesen kann sein eigenes Nichtsein ohne negative Reaktion akzeptieren. Der Terror des totalitären Staates wäre zwecklos, wenn er nicht Angst in seinen Untertanen erzeugte. Aber die Angst vor Schicksal und Tod wird hineingenommen in den Mut, Teil eines Ganzen zu sein, durch dessen Terror man bedroht ist. Durch die Partizipation bejaht man das, was zum vernichtenden Schicksal oder sogar zur Ursache des eigenen Todes werden kann. Eine genauere Analyse deckt die folgende Struktur auf: Partizipation ist teilweise Identität und teilweise Nichtidentität. Derjenige Teil des Selbst, der nicht mit dem Kollektiv, an dem es partizipiert, identisch ist, kann durch Tod und Schicksal Schaden leiden oder vernichtet werden. Aber es gibt einen anderen Teil des Selbst, der teilweisen Identität in der Partizipation gemäß, und dieser andere Teil wird durch die Forderungen und Handlungen des Ganzen weder beschädigt noch vernichtet. Er transzendiert Schicksal und Tod. Er ist ewig in dem Sinne, in dem das Kollektiv als ewig gilt, nämlich als eine essentielle Manifestation des universalen Seins. Dies braucht den Gliedern des Kollektivs nicht bewußt zu sein, aber es lebt in ihren Empfindungen und Handlungen. Ihr unendliches Anliegen ist die Erfüllung der Gruppe; aus diesem Anliegen leiten sie ihren Mut zum Sein ab. Der Begriff „ewig" darf nicht mit dem Begriff „unsterblich" verwechselt werden. Weder der alte noch der neue Kollektivismus kennen die Idee der individuellen Unsterblichkeit. Das Kollektiv, an dem das Individuum partizipiert, ersetzt die individuelle Unsterblichkeit. Es handelt sich aber auch nicht um ein resignierendes Sich-Sdiicken in die Vernichtung - sonst wäre kein Mut zum Sein möglich - , sondern um etwas, 79

das jenseits von Unsterblichkeit und Vernichtung liegt: es ist die Partizipation an etwas, das den Tod transzendiert, nämlich am Kollektiv und durch das Kollektiv am Sein-Selbst. Wer diese Haltung einnimmt, glaubt sich in dem Augenblick, in dem er sein Leben opfert, in das Leben des Kollektivs aufgenommen und durch dies in das Leben des Universums als ein Element von ihm, wenn auch nicht als partikulares Sein. Diese Haltung gleicht dem stoischen Mut zum Sein, und letztlich beruht sie auf dem Stoizismus. Heute wie in der Spätantike ist die stoische Haltung, selbst in ihrer kollektivistischen Form, die einzige ernsthafte Alternative zum Christentum. Der Unterschied zwischen dem echten Stoiker und dem Neukollektivisten besteht darin, daß dieser in erster Linie an das Kollektiv gebunden ist und erst an zweiter Stelle an das Universum, während der Stoiker sich in erster Linie auf den universalen Logos bezog und erst an zweiter Stelle auf mögliche menschliche Gruppen. In beiden Fällen wird die Angst vor Schicksal und Tod in den Mut, Teil eines Ganzen zu sein, hineingenommen. Auf die gleiche Weise wird die Angst im Zweifel und die Angst vor der Sinnlosigkeit in den neukollektivistischen Mut hineingenommen. Die Stärke der kommunistischen Selbstbejahung verhindert den Ausbruch des Zweifels und der Angst vor der Sinnlosigkeit. Der Sinn des Lebens ist der Sinn des Kollektivs. Selbst diejenigen, die als Opfer des Terrors auf der tiefsten Stufe der sozialen Hierarchie leben, bezweifeln nicht die Gültigkeit der Prinzipien. Was ihnen geschieht, ist ein Problem des Schicksals und erfordert den Mut, die Angst vor Schicksal und Tod zu überwinden und nicht die Angst im Zweifel und die Angst vor der Sinnlosigkeit. In dieser Gewißheit blickt der Kommunismus voll Verachtung auf die westliche Gesellschaft. Dort beobachtet er ein Ubermaß an Angst und Zweifel, das er als Symptom für die Morbidität und das nahende Ende der bürgerlichen Gesellschaft betrachtet. Das ist in den neukollektivistischen Ländern einer der Gründe für die Ausrottung und das Verbot moderner künstlerischer Bewegungen, obwohl sie in der vorkollektivistischen Periode wichtige Beiträge zur Entstehung und Entwicklung der modernen Kunst geleistet haben und obwohl der Kommunismus in der Zeit seines Kampfes um die Macht ihre antibürgerlichen Elemente für seine Propaganda benutzt hatte. Mit der Herrschaft des Kollektivs und der ausschließlichen Betonung der Selbstbejahung als Teil eines Ganzen mußten diese Ausdrucksformen des Mutes, man selbst zu sein, abgelehnt werden. Der Neukollektivismus kann auch die Angst vor Schuld und Verdammung in seinen Mut, Teil eines Ganzen zu sein, hineinnehmen. Nicht die persönliche Sünde erzeugt die Schuld-Angst, sondern eine tatsäch80

lidie oder mögliche Sünde gegen das Kollektiv. Das Kollektiv ersetzt in dieser Hinsicht den Gott des Gerichts, der Rache, der Strafe und der Vergebung. Der Mensch beichtet dem Kollektiv, oft in Formen, die an das Frühchristentum oder an spätere Sektengruppen erinnern. Von dem Kollektiv nimmt er Urteil und Strafe an; an das Kollektiv richtet er seine Bitte um Vergebung und sein Versprechen, sich zu ändern. Wird er von ihm angenommen, so ist seine Schuld überwunden, und ein neuer Mut zum Sein ist möglich. Diese auffallenden Züge in der kommunistischen Lebensform können kaum verstanden werden, wenn man nicht auf ihre ontologischen Wurzeln zurückgeht und auf ihre existentielle Macht in einem System, das aüf den Mut, Teil eines Ganzen zu sein, gegründet ist. Dies ist eine typologische Beschreibung wie die Beschreibung der älteren Formen des Kollektivismus. Eine typologische Beschreibung als solche setzt voraus, daß der Typus selten in Reinheit erscheint. In der Wirklichkeit gibt es Grade der Annäherung an ihn, Mischungen, Ubergänge und Abweidlungen. Es war jedoch nicht meine Absicht, ein Bild von der russischen Situation als solcher zu geben, z. B. von der Bedeutung der griechisch-orthodoxen Kirche oder von den verschiedenen nationalen Bewegungen oder von einzelnen Andersdenkenden. Idi wollte vielmehr die neukollektivistische Struktur und ihren Typ des Mutes beschreiben, wie er in erster Linie im heutigen Rußland verwirklicht ist.

D E R M U T , TEIL EINES G A N Z E N ZU SEIN, IM DEMOKRATISCHEN KONFORMISMUUS

In gleicher Weise wie der Neukollektivismus soll nun die Lebensform behandelt werden, die man demokratischen Konformismus nennen könnte. Seine deutlichste Verwirklichung findet sich in den Vereinigten Staaten von Amerika, aber seine Wurzeln reichen weit zurück in die europäische Vergangenheit. Wie der Neukollektivismus kann auch er nicht aus zufälligen Faktoren erklärt werden, wie der „Pionier-Situation", der Notwendigkeit, viele Nationalitäten miteinander zu verschmelzen, der langen Zurückhaltung von aktiver Weltpolitik, dem Einfluß des Puritanismus usw. Um den demokratischen Konformismus zu verstehen, muß man fragen: Welcher Typ des Mutes liegt ihm zugrunde, wie wird er mit der Angst der menschlichen Existenz fertig, und was ist sein Verhältnis zu der neukollektivistischen Selbstbejahung einerseits und zu den Manifestationen des Mutes, man selbst zu sein, 81

andrerseits? Dabei muß folgendes beachtet werden: Seit Anfang der dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts ist Amerika Einflüssen aus Europa und Asien ausgesetzt, die entweder extreme Formen des Mutes, man selbst zu sein, darstellen oder Versuche, die Angst unserer Epoche durch verschiedene Formen eines transzendenten Mutes zu überwinden. Vorläufig sind diese Einflüsse noch auf die Intelligenz beschränkt und auf Menschen, die unter dem Eindruck der welthistorischen Ereignisse auf Fragen aufmerksam geworden sind, wie sie der jüngste Existentialismus stellt. Die neuen Strömungen haben noch in keiner sozialen Gruppe die Masse des Volkes erreicht, und sie haben die gefühlsmäßigen und verstandesmäßigen Grundtendenzen und die diesen entsprechenden Haltungen und Institutionen nicht verändert. Im Gegenteil: die Tendenz, sich als Teil eines Ganzen zu empfinden und das eigene Sein durch Partizipation an gegebenen Lebensstrukturen zu bejahen, wächst weiter. Die Konformität nimmt zu, aber sie ist noch nicht Kollektivismus geworden. Die Neostoiker der Renaissance haben die Form des Mutes zum Sein, wie sie im demokratisdien Konformismus Amerikas herrsdit, vorbereitet, indem sie den im antiken Stoizismus geübten Mut, das Schicksal passiv hinzunehmen, in ein aktives Ringen mit dem Schicksal verwandelten. In der Symbolik der Renaissancekunst wird das Schicksal durch den Wind dargestellt, der die Segel eines Schiffes aufbläst, während der Mensch am Steuer steht und die beabsichtigte Richtung soweit wie möglich einzuhalten sucht. Der Mensch versucht, seine sämtlichen Potentialitäten zu aktualisieren, und seine Potentialitäten sind unerschöpflich. Denn er ist der Mikrokosmos, in dem alle kosmischen Kräfte potentiell gegenwärtig sind und der an allen Sphären und Dimensionen des Universums partizipiert. Durch den Menschen setzt das Universum den schöpferischen Prozeß fort, der ihn ursprünglich als Ziel und Zentrum der Schöpfung erschaffen hat. Jetzt muß der Mensch seine Welt und sich selbst gestalten, je nach den produktiven Kräften, die ihm gegeben sind. In ihm kommt die Natur zu ihrer Erfüllung, sie wird in seine Erkenntnis und seine verwandelnde technische Tätigkeit hineingenommen. In den bildenden Künsten wird die Natur in die menschliche Sphäre hineingezogen, und der Mensch wird in die Natur hineingestellt, und beide werden in den letzten Möglichkeiten ihrer Schönheit gezeigt. Träger dieses sdiöpferisdien Prozesses ist das Individuum, das als Individuum ein einmaliger Repräsentant des Universums ist. Am wichtigsten ist das schöpferische Individuum, das Genie, in dem, wie Kant später sagte, die unbewußte schöpferische Kraft der Natur in das 82

Bewußtsein des Menschen bricht. Menschen wie Pico della Mirandola, Leonardo da Vinci, Giordano Bruno, Shaftesbury, Goethe, Schelling waren von dieser Idee einer Partizipation am schöpferischen Prozeß der Natur inspiriert. In diesen Männern vereinten sich Enthusiasmus und Rationalität. Ihr Mut war sowohl der Mut, man selbst zu sein, wie der Mut, Teil eines Ganzen zu sein. Die Lehre vom Individuum als dem Mikrokosmos, der am schöpferischen Prozeß des Makrokosmos partizipiert, hatte die Möglichkeit zu dieser Synthese geschaffen. Die schöpferische Kraft des Menschen bewegt sich von der Potentialität zur Aktualität auf solche Weise, daß alles Aktualisierte Potentialitäten für weitere Aktualisierung enthält. Das ist die Grundstruktur des Fortschritts. Obwohl der Fortschrittsglaube in aristotelischer Terminologie beschrieben ist, ist er doch etwas völlig anderes als die Haltung des Aristoteles und der gesamten antiken Welt. Bei Aristoteles ist die Bewegung von der'Potentialität zur Aktualität vertikal; sie geht von den niederen zu den höheren Formen des Seins. Im modernen Fortschrittsglauben ist sie horizontal, zeitlich, futuristisch. Und das ist die Hauptform, in der sich die Selbstbejahung der modernen westlichen Menschheit manifestiert. Es ist eine Form des Mutes, die die wachsende Angst der Neuzeit in sich hineinnimmt - eine Angst, die teilweise durch das wachsende Wissen vom Universum und von unserer Erde ausgelöst ist. Kopernikus und Galilei hatten die Erde aus dem Zentrum der Welt verstoßen. Die Erde war klein geworden, und trotz des „heroischen Affektes", mit dem Giordano Bruno sich in die Unendlichkeit des Universums gestürzt hatte, hatte sich in die Herzen vieler Menschen das Gefühl eingeschlichen, in dem Ozean kosmischer Körper und unter den unerschütterlichen Gesetzen ihrer Bewegungen verloren zu sein. Der Mut der Neuzeit war kein einfacher Optimismus. Er mußte in einem Universum ohne Grenzen und ohne menschlich verständlichen Sinn die tiefe Angst des Nichtseins in sich aufnehmen. Diese Angst konnte in den Mut hineingenommen, aber sie konnte nicht aufgelöst werden und kam folglich immer wieder zum Ausbruch, wenn der Mut geschwächt war. Das ist die wichtigste Quelle für den Mut, ein Teil im schöpferischen Prozeß der Natur und der Geschichte zu sein, wie er sich in der abendländischen Kultur und am deutlichsten in der Neuen Welt entwickelte. Aber er unterlag vielen Veränderungen, ehe er zum konformistischen Typ des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein, wurde, der die heutige amerikanische Demokratie kennzeichnet. Der kosmische Enthusiasmus der Renaissance verschwand unter dem Einfluß des Protestantismus und des Rationalismus, und als er in den klassisch-romantischen Bewegun83

gen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts wieder hervortrat, konnte er keinen großen Einfluß mehr auf die industrielle Gesellschaft ausüben. Die Synthese von Individualität und Partizipation, die auf dem kosmischen Enthusiasmus fußte, hatte sidi aufgelöst. Es kam zu einer unausgesetzten Spannung zwischen dem Mut, man selbst zu sein, wie er in dem Individualismus der Renaissance enthalten war, und dem Mut, Teil eines Ganzen zu sein, wie er in dem Universalismus der Renaissance enthalten war. Den extremen Formen des Liberalismus stellten sich reaktionäre Versuche entgegen, wieder einen mittelalterlichen Kollektivismus einzuführen, oder utopische Versuche, eine neue organische Gesellschaft zu schaffen. Liberalismus und Demokratie konnten auf zweierlei Weise miteinander in Konflikt geraten: der Liberalismus konnte die Herrschaft der Demokratie untergraben, oder die Demokratie konnte tyrannisch werden und eine Übergangsstufe zum totalitären Kollektivismus bilden. Neben diesen dynamischen und aggressiven Bewegungen konnte eine statische und inaggressive Entwicklung einhergehen, d. h. es konnte eine demokratische Konformität entstehen, die alle extremen Formen des Mutes, man selbst zu sein, zurückdrängte, ohne die liberalen Elemente zu zerstören, die sie vom Kollektivismus unterscheiden. Dies war vor allem der Weg Großbritanniens. Die Spannung zwischen Liberalismus und Demokratie erklärt ebenfalls viele Züge des amerikanischen demokratischen Konformismus. Aber unter all diesen Veränderungen blieb eines unveränderlich, nämlich der Mut, ein Teil im schöpferischen Prozeß der Geschichte zu sein. Urid das macht den gegenwärtigen amerikanischen M u t zu einem der großen Typen des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein. Seine Selbstbejahung ist die Bejahung des Selbst, das an der schöpferischen Entwicklung der Menschheit partizipiert. Für einen Beobachter aus Europa hat der amerikanische Mut etwas Erstaunliches. Obwohl als seine Symbole vor allem die frühen Pioniere gelten, findet er sich noch immer in der großen Mehrheit des amerikanischen Volkes. Ein Amerikaner kann eine Katastrophe erlebt haben, einen vernichtenden Schicksalsschlag, den Zusammenbruch seiner Überzeugungen, er kann sogar Schuld und Verzweiflung durchgemacht haben - trotzdem hält er sein Leben weder f ü r zerstört noch f ü r sinnlos, hält sich nicht f ü r verdammt und verliert die H o f f n u n g nicht. Ein römischer Stoiker, der die gleichen Katastrophen erlebte, nahm sie mit dem Mut der Resignation hin. Wenn der typische Amerikaner die Grundlage seiner Existenz verloren hat, baut er sich eine neue Grundlage auf. Das gilt von dem Individuum und von der N a t i o n als ganzer. Man k a n n es wagen, Experimente anzustellen, weil das Mißlingen 84

eines Experiments keine Entmutigung mit sich bringt. Der schöpferische Prozeß, an dem man partizipiert, schließt natürlicherweise Wagnisse, Mißerfolge, Katastrophen ein. Aber sie untergraben den Mut nicht. Das bedeutet: die Mächtigkeit und Bedeutung des Seins ist in dem schöpferischen Akt selbst gegenwärtig. Damit ist eine Frage teilweise beantwortet, die oft von ausländischen Beobachtern gestellt wird, besonders vön Theologen, die Frage nämlich: wozu? Was ist der Zweck all dieser großartigen Mittel, die die produktive Energie der amerikanischen Gesellschaft erzeugt? Verschlingen die Mittel nicht die Ziele, und bedeutet die uneingeschränkte Produktion von Mitteln nicht, daß die Ziele fehlen? Selbst viele geborene Amerikaner sind heutzutage geneigt, die letzte Frage zu bejahen. Aber es geht bei der Produktion der Mittel um mehr. Nicht die Werkzeuge und die technischen Geräte aller Art sind das telos, das innere Ziel der Produktion, sondern die Produktion an sich ist Ziel. Die Mittel sind mehr als bloße Mittel; sie werden als Schöpfungen betrachtet, als Symbole für die unendlichen Möglichkeiten, die mit der Produktivität des Menschen gegeben sind. Das Sein selbst ist essentiell produktiv. Die Rückhaltlosigkeit, mit der das ursprünglich religiöse Wort „schöpferisch" von Christen und Nichtchristen auf die produktive Tätigkeit des Menschen angewandt wird, zeigt, daß der schöpferische Prozeß der Geschichte als göttlich empfunden wird. In dieser Eigenschaft verleiht er den Mut, an ihm teilzunehmen. (Es scheint mir richtiger, in diesem Zusammenhang von einem produktiven als von einem schöpferischen Prozeß zu sprechen, da es sich um technische Produktion handelt.) Ursprünglich war der demokratisch-konformistische Typ des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein, ausgesprochen mit der Fortschrittsidee verknüpft. Der Mut, Teil im Fortschritt der Gruppe zu sein, zu der man gehört, seiner Nation, der ganzen Menschheit, kommt in allen spezifisch amerikanischen Philosophien zum Ausdruck: im Pragmatismus, in der Prozeßphilosophie, in der Ethik des Wachstums, in der progressiven Erziehung, in den Weltverbesserungsexpeditionen der Demokratie. Aber dieser Typ des Mutes wird nicht notwendig zerstört, wenn, wie heute, der Glaube an den Fortschritt erschüttert wird. Fortschritt kann zweierlei bedeuten. In jeder Tätigkeit, in der etwas über das Gegebene hinaus produziert wird, wird ein Fortschritt gemacht - wird fortgeschritten. In diesem Sinne sind Tätigkeit und Fortschrittsglaube nicht zu trennen. In seiner anderen Bedeutung steht Fortschritt für ein universales metaphysisches Gesetz fortschreitender Evolution, in der akkumulativ immer höhere Formen und Werte produziert werden. Die Wahrheit eines derartigen Gesetzes kann nicht bewiesen werden. Die 85

meisten Prozesse zeigen, daß sich Gewinn und Verlust die Waage halten. Trotzdem ist ein neuer Gewinn notwendig, da sonst alle früheren Gewinne ebenfalls verloren wären. Der Mut der Partizipation am produktiven Prozeß hängt nicht von der metaphysischen Fortschrittsidee ab. Der Mut, Teil im produktiven Prozeß zu sein, nimmt die Angst in ihren drei Hauptformen in sich auf. Wie er der Angst vor dem Schicksal begegnet, ist schon beschrieben worden. Diese Form des Mutes ist besonders bemerkenswert in einer Gesellschaft, in der ein radikaler Konkurrenzkampf ausgefochten wird und in der die Sicherheit des Individuums fast auf den Nullpunkt reduziert ist. Die Angst, die in dem Mut, Teil des produktiven Prozesses zu sein, besiegt wird, ist beachtlich, denn es ist die Angst vor dem, was für uns heute Schicksal ist: vor der Drohung, von der Partizipation durch Arbeitslosigkeit und den Verlust einer wirtschaftlichen Grundlage ausgeschlossen zu sein. Nur wenn diese Situation erkannt wird, kann die ungeheure Erschütterung verstanden werden, die die Krise der dreißiger Jahre im amerikanischen Volke auslöste, und der häufige Verlust des Mutes zum Sein während dieser Krise. Der Angst vor dem Tod begegnet der Konformist auf zweifache Art: erstens, indem er die Wirklichkeit des Todes soweit wie möglich aus dem täglichen Leben ausschließt. Man darf dem Toten nicht ansehen, daß er tot ist; er wird in eine Maske des Lebenden verwandelt. Der andere und wichtigere Weg, sich damit abzufinden, daß man sterben muß, ist der Glaube an eine Fortsetzung des Lebens nach dem Tode, „Unsterblichkeit der Seele" genannt. Das ist keine christliche und kaum eine platonische Idee. Das Christentum spricht von Auferstehung und Ewigem Leben, der Piatonismus von einer Partizipation der Seele an der überzeitlichen Sphäre der Wesenheiten. Aber nach der modernen Vorstellung bedeutet Unsterblichkeit eine nie endende Partizipation am produktiven Prozeß („Zeit und Welt ohne Ende"). Nicht die ewige Ruhe in Gott, sondern sein nie aufhörender Beitrag zur Dynamik des Universums gibt dem Individuum den Mut, dem Tode entgegenzusehen. Für diese Art von Hoffnung ist die Idee von Gott fast überflüssig. Gott kann als Garant der Unsterblichkeit betrachtet werden, aber auch ohne ihn wird der Glaube an diese nicht notwendigerweise erschüttert. Für den Mut, Teil des produktiven Prozesses zu sein, ist die Idee der Unsterblichkeit und nicht die Idee Gottes entscheidend, außer wo Gott, wie bei einigen amerikanischen Theologen, mit dem produktiven Prozeß selbst identifiziert wird. Die Angst im Zweifel und die Angst vor der Sinnlosigkeit ist potentiell ebenso groß wie die Angst vor Schicksal und Tod. Sie wurzelt 86

in der Natur der Produktivität, die endlich ist. Obgleich, wie wir sahen, nicht das Werkzeug als soldies wichtig ist, sondern das Werkzeug als Ergebnis menschlicher Produktivität, kann die Frage nach dem Wozu nicht gänzlich unterdrückt werden. Sie ist zum Schweigen gebracht worden, kann aber jederzeit wieder laut werden. Heute erleben wir ein Anwachsen dieser Angst und eine Schwächung des Mutes, der sie in sich hineinnimmt. Die Angst vor Schuld und Verdammung ist tief in der amerikanischen Seele verwurzelt, ursprünglich eine Folge des Puritanismus, zu dem später der Einfluß evangelischpietistischer Bewegungen kam. Aber selbst wenn ihre religiösen Fundamente untergraben sind, ist die Angst noch vorhanden. In Verbindung mit dem Mut, Teil im produktiven Prozeß zu sein, hat sie sich jedoch verändert. Als Schuld wird die offensichtlich unzulängliche Leistung und die ungenügende Anpassung an das Leben der Gesellschaft empfunden. Die soziale Gruppe, an der man produktiv partizipiert, ist es, die den Menschen verurteilt, ihm vergibt und ihn wieder in seine Rechte einsetzt, nachdem die Anpassung gelungen und die Leistung vollbracht ist. Das ist der Grund dafür, daß die Erfahrung der Rechtfertigung oder der Vergebung der Sünden existentiell unwichtig ist im Vergleich zu dem Streben nach Heiligung und Verwandlung der eigenen Person wie der eigenen Welt. Ein neuer Anfang wird gefordert und versucht. Das ist der Weg, auf dem der Mut, Teil des produktiven Prozesses zu sein, die Angst vor der Schuld in sich hineinnimmt. Die Partizipation am produktiven Prozeß verlangt Konformität und Anpassung an die Produktionsmethoden der Gesellschaft. Beide werden um so notwendiger, je gleichförmiger und umfassender die Produktionsmethoden werden. Die technische Gesellschaft schafft definitive Modelle. Die Konformität auf den Gebieten, die das glatte Funktionieren der großen Produktions- und Konsumtionsmaschine aufrecht erhalten, nimmt zu mit dem zunehmenden Einfluß der öffentlichen Kommunikationsmedien. Das weltpolitische Denken, der Kampf gegen den Kollektivismus zwingt denen, die gegen ihn kämpfen, kollektivistische Züge auf. Dieser Prozeß ist noch im Gange und kann zu einer Stärkung der konformistischen Elemente in dem amerikanischen Typ des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein, führen. Der Konformismus kann sich dem Kollektivismus annähern, weniger in wirtschaftlicher Hinsicht und nicht allzusehr auf politischem Gebiet, aber sehr stark in Formen des täglichen Lebens und des gewöhnlichen Denkens. Ob dies tatsächlich geschehen wird oder nicht, hängt zum Teil von der Widerstandskraft derer ab, die die verschiedenen Erscheinungsformen des Mutes, 87

man selbst zu sein, repräsentieren. Das bezieht sich sowohl auf seine älteren Formen, die in Amerika auch heute noch eine große Rolle spielen, wie auf die Einbrüche des existentialistischen Mutes man selbst zu sein in die amerikanische Situation. Entscheidend ist dabei, ob die führenden Gruppen in Amerika zu einer Haltung finden, die sich über die Alternative von Individualismus und Kollektivismus erhebt.

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V MUT UND INDIVIDUATION Der Mut, man selbst zu sein

D A S AUFKOMMEN DES MODERNEN INDIVIDUALISMUS UND DER M U T , MAN SELBST ZU SEIN

Individualismus ist die Selbstbejahung des individuellen Selbst als individuelles Selbst ohne Rücksicht auf seine Partizipation an der Welt. Deshalb steht er im Gegensatz zum Kollektivismus, der Bejahung des Selbst als Teil eines größeren Ganzen ohne Rücksicht auf seinen Charakter als individuelles Selbst ist. Der Individualismus hat sidi aus der Gebundenheit des Individuums im primitiven Kollektivismus und im mittelalterlichen Halbkollektivismus entwickelt. Er konnte unter dem Schutze der demokratischen Konformität wachsen und ist in gemäßigter oder radikaler Form in der existentialistischen Bewegung offen zutage getreten. Der primitive Kollektivismus war durch die Erfahrung der persönlichen Schuld und die Macht des individuellen Fragens unteugraben worden. Beide übten am Ende des Altertums eine starke Wirkung aus und führten den radikalen Nonkonformismus der Zyniker und Skeptiker herbei, den gemäßigten Nonkonformismus der Stoiker und die Versuche des Stoizismus, der Mystik und des Christentums, eine transzendente Grundlage für den Mut zum Sein zu finden. Alle diese Motive waren im mittelalterlichen Halbkollektivismus vorhanden, der wie der frühe Kollektivismus durch die Erfahrung der persönlichen Schuld und die zersetzende Madit des radikalen Fragens aufgelöst worden war. Aber das hatte noch nicht zum Individualismus geführt. Der Protestantismus war trotz seiner Betonung des individuellen Gewissens ein streng autoritäres und konformistisches System, ähnlich dem seiner Gegner, der katholisdien Kirche der Gegenreformation. In den großen konfessionellen Gruppen gab es keinen Individualismus, und außerhalb der Kirchen gab es nur versteckten Individualismus, da die Kirchen die individualistischen Tendenzen in sich einbezogen und ihrer kirchlichen Konformität angepaßt hatten. Diese Situation hielt hundertfünfzig Jahre an, nicht länger. Nach dieser Zeit der konfessionellen Orthodoxie rückte das persönliche Ele89

ment wieder in den Vordergrund. Der Pietismus und der Methodismus legten entscheidenden Nachdruck auf die persönliche Schuld, das persönliche Erlebnis und die individuelle Vollkommenheit. Es lag zwar nicht in ihrer Absicht, von der kirchlichen Konformität abzuweichen, aber es war unvermeidlich; die subjektive Frömmigkeit erwies sich als Brücke für den neuen siegreichen Einzug der autonomen Vernunft, und der Pietismus bildete die Brücke zur Aufklärung. Aber selbst die Aufklärung betrachtete sich nicht als individualistisch. Sie glaubte zwar nicht an eine Konformität, die sich auf die biblische Offenbarung stützt, aber man glaubte an eine Konformität, die auf die in allen Individuen vorhandene Macht der Vernunft gegründet werden kann. Die Prinzipien der praktischen und theoretischen Vernunft galten als allgemein menschlich und als fähig, eine neue Konformität mit Hilfe von Wissenschaft und Erziehung herbeizuführen. Diese ganze Epoche glaubte an das Prinzip der „Harmonie" - wobei unter Harmonie das Gesetz des Universums verstanden wurde, nach dem die Handlungen des Individuums, wie individualistisch sie auch gemeint und ausgeführt werden, „hinter dem Rücken" des Individuums zu einem harmonischen Ganzen führen, zu einer Wahrheit, der zumindest eine große Mehrheit beistimmen kann, zu einem Guten, an dem immer mehr Menschen teilhaben können, zu einer Konformität, die auf der freien Tätigkeit jedes Einzelnen fußt. Das Individuum kann frei sein, ohne dadurch die Gruppe zu zerstören. Die Leistungsfähigkeit des wirtschaftlichen Liberalismus schien diese Ansicht zu bestätigen: die Marktgesetze produzieren hinter dem Rücken der Konkurrenten die größtmögliche Warenmenge für jedermann. Die Leistungsfähigkeit der liberalen Demokratie bewies, daß die Freiheit des Individuums, politische Entscheidungen zu treffen, nicht notwendig die politische Konformität zerstören muß. Der Fortschritt in den Wissenschaften bewies, daß die individuelle Forschung und die Meinungsfreiheit in wissenschaftlichen Fragen eine weitgehende Übereinstimmung in der Wissenschaft nicht verhindert. Die liberale Erziehung bewies, daß die Betonung der freien Entwicklung des einzelnen Kindes seine Chancen nicht verringert, ein nützliches Glied der konformistischen Gesellschaft zu werden. Und die Geschichte des Protestantismus bestätigte den Glauben der Reformatoren, daß die freie Auseinandersetzung eines jeden Menschen mit der Bibel trotz aller persönlichen konfessionellen Unterschiede eine kirchliche Konformität möglich macht. Deshalb war es keineswegs absurd, daß Leibniz das Gesetz der prästabilierten Harmonie aufstellte, nach dem die Monaden, aus denen die Dinge bestehen, auch ohne Türen oder Fenster zu haben, durch die sie miteinander in 90

Verbindung sind, an der gleichen Welt partizipieren, die in jeder von ihnen - klarer oder dunkler bewußt - gegenwärtig ist. Das Problem von Individuation und Partizipation schien philosophisch wie praktisch gelöst zu sein. Der Mut, man selbst zu sein, wie er in der Aufklärung verstanden wurde, ist ein Mut, bei dem die individuelle Selbstbejahung die Partizipation an der universalen rationalen Selbstbejahung einschließt. Es ist nicht das individuelle Selbst als solches, das sich bejaht, sondern das individuelle Selbst als Träger der Vernunft. Der Mut, man selbst zu sein, ist der Mut, der Vernunft zu folgen und sich irrationaler Autorität zu widersetzen. In dieser Hinsicht - aber nur in dieser - ist er Neostoizismus, denn der Mut zum Sein der Aufklärung ist kein resignierter Mut. Er wagt nicht nur, den Schicksalsfällen und der Unentrinnbarkeit des Todes standzuhalten, sondern er wagt auch, sich zu bejahen als einer, der die Wirklichkeit den Forderungen der Vernunft entsprechend umgestaltet. Es ist ein kämpfender, wagender Mut. Er besiegt die Drohung der Sinnlosigkeit durch mutige Tat. Er besiegt die Drohung der Schuld, indem er Irrtümer, Mängel und Untaten im persönlichen Leben wie im Leben der Gesellschaft als unvermeidlich akzeptiert und zugleich glaubt, sie durch Erziehung überwinden zu können. In der Aufklärung ist der Mut, man selbst zu sein, der Mut, sich zu bejahen als Ubergang von einer niederen zu einer höheren Stufe der Rationalität. Es ist offensichtlich, daß diese Form des Mutes zum Sein in dem Augenblick zu einer konformistischen werden muß, in dem der revolutionäre Kampf gegen das, was der Vernunft widerspricht, aufhört, nämlich im siegreichen Bürgertum.

ROMANTISCHE U N D NATURALISTISCHE

ERSCHEINUNGSFORMEN

DES M U T E S , M A N SELBST ZU SEIN

Die Romantik hat einen Begriff der Individualität geschaffen, der sich gleichermaßen von dem des Mittelalters wie dem der Aufklärung unterscheidet und Elemente von beiden enthält. Das Individuum wird als einmaliger, unvergleichlicher und unendlich bedeutsamer Ausdruck des Seinsgrundes verstanden. Nicht die Konformität, sondern die Differenzierung ist das Ziel der „Wege Gottes". Die Bejahung der eigenen Einmaligkeit und die Annahme der Forderungen, die das eigene individuelle Wesen an den Menschen stellt, sind der rechte Mut zum Sein. Das muß noch nicht Willkür und Irrationalität bedeuten, denn die Einmaligkeit der eigenen Individualität wird in ihren schöpferischen Möglichkeiten gesehen, aber die Gefahr ist vorhanden. Die romantische

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Ironie erhob das Individuum über alle Inhalte und entleerte es auf diese Art: es war nicht mehr verpflichtet, ernstlich an irgend etwas zu partizipieren. Bei einem Mann wie Friedrich Schlegel brachte der Mut, ein individuelles Selbst zu sein, die vollständige Vernachlässigung der Partizipation mit sich, aber er erzeugte andrerseits, als Reaktion auf die Leere dieser Selbstbejahung, das Verlangen, in ein Kollektiv zurückzukehren. Sdilegel und mit ihm viele radikale Individualisten der letzten hundert Jahre sind zum Katholizismus übergetreten. Der Mut, man selbst zu sein, war zusammengebrodien, und man wandte sich einer institutionellen Verkörperung des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein, zu. Eine solche Umkehr war durch die andere Seite im romantischen Denken vorbereitet, die Vorliebe für die kollektiven und halbkollektiven Gemeinschaftsformen der Vergangenheit, für das Ideal der „organischen Gesellschaft". Der Organismus war wieder, wie so oft in der Vergangenheit, zum Symbol für ein Gleichgewicht zwischen Individuation und Partizipation geworden. Trotzdem bestand seine geschichtliche Bedeutung am Anfang des 19. Jahrhunderts nicht darin, daß er das Bedürfnis nach einem Gleichgewicht ausdrückte, sondern darin, daß er die Sehnsucht nach dem kollektivistischen Pol befriedigte. Er wurde von allen reaktionären Gruppen dieser Epoche aufgegriffen, die - sei es aus politischen, sei es aus geistigen Gründen oder aus beiden versuchten, ein „neues Mittelalter" zu errichten. So brachte die Romantik beides hervor: eine radikale Form des Mutes, man selbst zu sein, und den (unerfüllten) Wunsch nach einer radikalen Form des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein. Die Romantik als Haltung hat die Romantik als geschichtliche Bewegung überdauert. Die sogenannte „Boheme" ist eine Fortsetzung des romantischen Mutes, man selbst zu sein. Sie setzte den romantischen Angriff auf das etablierte Bürgertum und seinen Konformismus fort. Beide Bewegungen, die Romantik wie die Boheme, haben entscheidend zum heutigen Existentialismus beigetragen. Aber Boheme und Existentialismus haben Elemente einer anderen Bewegung in sich aufgenommen, in der sich der Mut, man selbst zu sein, ausdrückt: des Naturalismus. Das Wort Naturalismus wird auf verschiedene Erscheinungen angewandt. Für unsere Zwecke genügt es, den Typ des Naturalismus zu erörtern, in dem die individualistische Form des Mutes, man selbst zu sein, zum Ausdruck kommt. Nietzsche ist ein hervorragender Vertreter dieses Naturalismus. Er ist ein romantischer Naturalist und zugleich einer der wichtigsten - vielleicht der wichtigste - Vorläufer des existentialistischen Mutes, man selbst zu sein. Der Ausdruck „romantischer Naturalist" scheint ein Widerspruch in sich selbst zu sein: Die Selbsttranszendierung der Romantik und die natu92

ralistische Selbstbesdiränkung auf das empirisch Gegebene scheinen durch eine tiefe Kluft getrennt zu sein. Aber Naturalismus bedeutet die Identifizierung des Seins mit der Natur und die daraus folgende Leugnung eines Übernatürlichen. In dieser Definition bleibt die Frage nach dem Wesen des Natürlichen völlig offen. Die Natur kann als Medianismus beschrieben werden oder als Organismus; sie kann als gesetzmäßig fortschreitende Integration oder als schöpferische Evolution beschrieben werden; sie kann als ein System von Gesetzen und Strukturen oder als eine Mischung von beiden beschrieben werden. Der Naturalismus kann von dem absolut Konkreten, dem individuellen Sein, wie wir es im Menschen finden, ausgehen oder von dem absolut Abstrakten, den mathematischen Gleichungen, die den Charakter von Kraftfeldern bestimmen. Dies alles und noch vieles andere kann Naturalismus bedeuten. Aber nicht alle Typen des Naturalismus sind Ausdrucksformen des Mutes, man selbst zu sein. Nur wenn der individualistische Pol in der Struktur des Natürlichen als entscheidend betrachtet wird, kann der Naturalismus romantischen Charakter annehmen und mit der Boheme und dem Existentialismus verschmelzen. Das ist der Fall bei den voluntaristischen Typen des Naturalismus. Wenn die Natur (und das heißt für den Naturalisten „das Sein") als schöpferischer Ausdruck'eines unbewußten Willens oder als Objektivierung des Willens zur Macht verstanden wird, oder als Produkt des élan vital, dann sind die Zentren des Willens, die Individuen, für die Bewegung des Ganzen entscheidend. In der individuellen Selbstbejahung bejaht sich das Leben. Selbst wenn die Individuen einer letzten kosmischen Bestimmung unterworfen sind, bestimmen sie ihr eigenes Sein in Freiheit. Ein großer Teil des amerikanischen Pragmatismus gehört zu dieser Gruppe. Trotz des amerikanischen Konformismus und seines Mutes, Teil eines Ganzen zu sein, hat der Pragmatismus viele Begriffe mit der Lebensphilosophie gemein. Sein ethisches Prinzip ist Wachstum, seine Erziehungsmethode die Selbstbejahung des Individuums, sein bevorzugter Begriff das Schöpferische. Die Pragmatiker sind sich nicht immer der Tatsache bewußt, daß der Mut zum schöpferischen Handeln den Mut, das Alte durch das Neue zu ersetzen, einschließt - das Neue, für das es keine Normen und Kriterien gibt, das Neue, das ein Wagnis ist und das, gemessen am Alten, unberechenbar ist. Ihre soziale Konformität verbirgt den amerikanischen Pragmatikern, was in Europa offen und bewußt bejaht wird. Sie vergegenwärtigen sich nicht, daß der Pragmatismus in seiner logisdien Konsequenz (wenn er nicht durch christliche oder humanistische Konformität modifiziert ist) zu dem Mut, man selbst zu sein, 93

führt, der von den radikalen Existentialisten vertreten wird. Der pragmatische Typ des Naturalismus ist in seinem Charakter, nicht in seiner Intention, ein Nachfolger des romantischen Individualismus und ein Vorläufer des existentialistischen Independentismus. Das Wesen des richtungslosen Wachstums unterscheidet sich nicht von dem Wesen des Willens zur Macht und des élan vital. Aber der Naturalismus ist verschieden in den beiden Erdteilen: Die europäischen Naturalisten sind konsequent und selbstzerstörerisch, die amerikanischen Naturalisten werden durch eine glückliche Inkonsequenz gerettet: sie haben noch den konformistischen Mut, Teil eines Ganzen zu sein. Der Mut, man selbst zu sein, hat in allen diesen Gruppen den Charakter einer Bejahung des individuellen Selbst als individuelles Selbst trotz der Elemente des Nichtseins, die es bedrohen. Die Angst vor dem Schidcsal wird besiegt durch die Selbstbejahung des Individuums als eines unendlich bedeutsamen mikrokosmischen Repräsentanten des Universums. Das Individuum ist ein Mittler der Seinsmächtigkeiten, die in ihm konzentriert sind. Es trägt sie in sich in seinem Wissen, und es gestaltet sie in seinem Handeln. Das Individuum bestimmt den Lauf seines Lebens, und es kann Tragik und Tod ertragen im „heroischen Affekt" und in der Liebe zu dem Universum, das es spiegelt. Selbst die Einsamkeit ist nicht absolut, weil das Individuum die Inhalte des Universums in sich trägt. Diese Art Mut unterscheidet sich von dem der Stoiker hauptsächlich dadurch, daß er die Einmaligkeit des individuellen Selbst betont in Ubereinstimmung mit einer Denkrichtung, die in der Renaissance anhebt und über die Romantik zur Gegenwart führt. Beim Stoizismus ist es die Weisheit des Weisen, die in jedem wesentlich die gleiche ist, aus der der Mut zum Sein entspringt. In der modernen Welt ist es die Bejahung des Individuums als Individuum. Hinter dieser Wandlung liegt die christliche Bewertung der individuellen Seele als von ewiger Bedeutsamkeit. Aber nicht diese Lehre ist es, die dem modernen Menschen den Mut zum Sein verleiht, sondern die Lehre vom Individuum als Spiegel des Universums. Die Begeisterung für das Universum, die das erkennende wie das schöpferische Individuum erfüllt, löst auch das Problem des Zweifels und der Sinnlosigkeit. Der Zweifel ist das notwendige Werkzeug des Erkennens, und die Sinnlosigkeit ist keine Drohung, solange die Begeisterung für das Universum und für den Menschen als sein Zentrum lebt. Die Angst vor der Schuld ist behoben, die Symbole von Tod, Gericht und Hölle verlieren ihr Gewicht. Es wird alles getan, sie ihres Ernstes zu berauben. Der Mut der Selbstbejahung wird nicht durch die Angst vor Schuld und Verdammung erschüttert.

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Die Spätromantik erschloß eine neue Dimension der Schuld-Angst und ihrer Überwindung: sie entdeckte die zerstörerischen Triebe in der menschlichen Seele. In ihrer zweiten Phase löste sich die Romantik sowohl in der Philosophie wie in der Dichtung von dem Harmoniegedanken, der von der Renaissance bis zur Klassik und Frühromantik entscheidend gewesen war. In dieser Periode, in der Philosophie vom späten Schelling und von Schopenhauer vertreten, in der Literatur von Männern wie E. T. A. Hoffmann, wurde eine Art dämonischer Realismus geboren, der den Existentialismus und die Tiefenpsychologie stark beeinflußte. Der Mut, sich selbst zu bejahen, mußte den Mut, die eigene dämonische Tiefe zu bejahen, einschließen. Dies stand in radikalem Widerspruch zu dem moralischen Konformismus des Durchschnittsprotestanten und des Durchschnittshumanisten, wurde aber von der Boheme und vom romantischen Naturalismus begierig aufgenommen. Die Form, in der die Angst vor der Schuld überwunden wurde, war der Mut, die Angst vor dem Dämonischen auf sich zu nehmen, obwohl es Zerstörung und Verzweiflung mit sich bringen konnte. Aber dies war nur möglich, weil in der vorangegangenen Entwicklung das Böse als persönliche Qualität negiert worden war und nun durch das kosmische Böse ersetzt werden konnte, das eine Struktur ist und keine persönliche Verantwortung impliziert. Der Mut, die Angst vor der Schuld auf sich zu nehmen, wurde zu dem Mut, die dämonischen Triebe im eigenen Selbst zu bejahen. Dieser Mut war nur möglich, weil das Dämonische nicht als unzweideutig negativ angesehen wurde, sondern als Teil der schöpferischen Seinsmacht. Das Dämonische als zweideutiger Grund des Schöpferischen - das war eine Entdeckung der Spätromantik, und der Existentialismus des 20. Jahrhunderts übernahm sie auf dem Weg über die Boheme und den Naturalismus. Ihre wissenschaftliche Bestätigung war die Tiefenpsychologie. In gewisser Hinsicht sind alle diese Formen des individualistischen Mutes zum Sein Vorläufer des Radikalismus des 20. Jahrhunderts, in dem der Mut, man selbst ?u sein, durch die existentialistische Bewegung seinen mächtigsten Ausdrude fand. Der hier gebrachte Uberblick zeigt, daß der Mut, man selbst zu sein, niemals völlig getrennt ist von dem anderen Pol, dem Mut, Teil eines Ganzen zu sein; und er zeigt weiter, daß in der Art, wie die Isolierung des Individuums überwunden wird und wie der Gefahr, durch die Bejahung des Selbst als Individuum die Welt zu verlieren, begegnet wird, beide, das Selbst und die Welt, transzendiert werden. Ideen wie die vom Mikrokosmos, der das Universum spiegelt, oder von der Monade, die das Weltall repräsentiert, oder von 95

dem Willen zur Macht des Individuums, in dem sich der Wille zur Macht im Leben selbst ausdrückt weisen alle auf eine Lösung hin, in der die beiden Typen des Mutes zum Sein transzendiert sind.

EXISTENTIALISTISCHE FORMEN DES M U T E S , MAN SELBST ZU SEIN

Existentielle

Haltung

und

Existentialismus

Die Spätromantik, die Boheme und der romantisdie Naturalismus haben den heutigen Existentialismus vorbereitet - die radikalste Form des Mutes, man selbst zu sein. Trotz der umfangreichen Literatur über den Existentialismus, die in den letzten Jahren erschienen ist, ist es für unseren Zweck notwendig, ihn unter dem Gesichtspunkt seines ontologischen Charakters und seines Verhältnisses zum Mut zum Sein zu behandeln. Zunächst müssen wir zwischen der existentiellen Haltung und dem philosophischen oder künstlerischen Existentialismus unterscheiden. Die existentielle Haltung ist eine Haltung des Engagements im Gegensatz zu einer rein theoretischen, distanzierten Haltung. Sie kann demgemäß als Partizipation an einer Situation, insbesondere einer Erkenntnissituation, beschrieben werden, bei der unsere gesamte Existenz beteiligt ist. Diese schließt zeitliche, räumliche, geschichtliche, psychologische, soziologische und biologische Bedingungen ein; und sie schließt die endliche Freiheit ein, die auf diese Bedingungen reagiert und sie verändert. Existentielle Erkenntnis ist eine Erkenntnis, an der alle diese Elemente und folglich die gesamte Existenz dessen, der erkennt, partizipieren. Das scheint der notwendigen Objektivität des Erkenntnisaktes und der Distanzierung, die von dem Erkennenden verlangt wird, zu widersprechen. Aber Erkenntnis ist abhängig von ihrem Objekt. Es gibt Bereiche der Wirklichkeit oder präziser: der Abstraktion von der Wirklichkeit, in denen die möglichst vollständige Distanzierung der adäquate Zugang zur Erkenntnis ist. Alles, was in quantitativen Begriffen ausgedrückt werden kann, besitzt diesen Charakter. Aber für die Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrer unendlich vielfältigen Konkretheit ist dieser Zugang höchst unangemessen. Ein Selbst zum Beispiel, das zu einem Gegenstand der Berechnung und Handhabung gemacht worden ist, hat aufgehört, ein Selbst zu sein. Es ist ein Ding geworden. Man muß an einem Selbst partizipieren, um zu erkennen, was es ist. Aber indem man an ihm partizipiert, verändert man es. In jeder existentiellen Erkenntnis werden durch den Akt des Erkennens als solchen sowohl Subjekt

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wie Objekt verändert. Existentielle Erkenntnis gründet in einer Begegnung, in der ein neuer Sinn geschaffen ufid erkannt wird. Die Erkenntnis einer anderen Person, die Erkenntnis der Geschichte, die Erkenntnis einer geistigen Schöpfung, die religiöse Erkenntnis - sie haben alle existentiellen Charakter. Das schließt theoretische Objektivität, die sich auf Distanzierung gründet, nicht aus, aber es reduziert die Distanzierung auf nur ein Element in dem umfassenden Akt der kognitiven Partizipation. Man kann eine genaue objektive Kenntnis von einer anderen Person haben, von ihrem psychologischen Typ und von ihren berechenbaren Reaktionen. Aber damit kennt man die Person noch nicht, ihr zentriertes Selbst, ihr Selbst-Verständnis. Nur durch die Partizipation an ihrem Selbst, durch einen existentiellen Durchbruch in das Zentrum ihres Wesens wird man sie in der Situation dieses Durchbruchs zu ihr erkennen. Das ist die erste Bedeutung von „existentiell", nämlich existentiell als Haltung der Partizipation an einer anderen Existenz mit der gesamten eigenen Existenz. In seiner anderen Bedeutung bezeichnet „existentiell" einen Inhalt und keine Haltung. Es steht für eine besondere Form der Philosophie: den Existentialismus. Dieser ist für uns wichtig, weil er der Ausdruck der radikalsten Form des Mutes, man selbst zu sein, ist. Aber bevor wir darauf eingehen, müssen wir zeigen, warum beide, Haltung wie Inhalt, mit Worten beschrieben werden, die von dem gleichen Wort „Existenz" abgeleitet sind. Existentielle Haltung und existentialistischer Inhalt haben ein Verständnis der menschlichen Situation gemein, das in Widerspruch steht zu einem nicht-existentiellen Verständnis. Letzteres glaubt, daß der Mensch - im Erkennen und im Leben - imstande ist, die Endlichkeit, die Entfremdung und die Zweideutigkeit der menschlichen Existenz zu transzendieren. Hegels System ist ein klassischer Ausdruck dieses Essentialismus. Als Kierkegaard sich von Hegels System der Essenzen lossagte, tat er zweierlei: er brachte eine existentielle Haltung zum Ausdruck, und er begründete eine Philosophie der Existenz. Er sah ein, daß die Erkenntnis dessen, was uns unendlich angeht, nur möglich ist in einer Haltung des unendlichen Interesses, in einer existentiellen Haltung. Zugleich entwickelte er eine Lehre vom Menschen, die die Entfremdung des Menschen von seiner essentiellen Natur in Form von Angst und Verzweiflung beschreibt. In der existentiellen Situation der Endlichkeit und der Entfremdung kann der Mensch die Wahrheit nur in einer existentiellen Haltung erreichen. Der Mensch „sitzt nicht auf dem Thron Gottes" und partizipiert nicht an seiner essentiellen Erkenntnis alles dessen, was ist. Der Mensch hat keinen Ort reiner 97

Objektivität über Endlichkeit und Entfremdung. Als Erkennender ist er existentiell ebenso bedingt wie in seinem ganzen Sein. Hier liegt die Verbindung der beiden Bedeutungen von „existentiell". Der existentialistische

Gesichtspunkt

Wenden wir uns nun zum Existentialismus - nicht als Haltung, sondern als Inhalt so können wir drei Bedeutungen von Existentialismus unterscheiden: Existentialismus als Gesichtspunkt, Existentialismus als Protest, Existentialismus als Ausdrucksform. Der existentialistische Gesichtspunkt ist in der Theologie sehr häufig und in der Philosophie, der Kunst und der Literatur oft zu finden. Aber er bleibt ein Gesiditspunkt, oft ohne als solcher erkannt zu werden. Nach vereinzelten Vorläufern wurde der Existentialismus als Protest in dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einer bewußten Bewegung, die das Schicksal des 20. Jahrhunderts weithin bestimmte. Existentialismus als Ausdrucksform kennzeichnet Philosophie, Kunst und Literatur in der Epoche der Weltkriege, der Epoche einer alles beherrschenden Angst vor Leere und Sinnlosigkeit. Er ist Ausdruck unserer eigenen Situation. Zunächst sollen ein paar Beispiele für den existentialistisdien Gesichtspunkt gegeben werden. Am charakteristischsten und zugleich am entscheidendsten für die gesamte Entwicklung aller Formen des Existentialismus ist Plato. Er folgt orphisdien Beschreibungen der menschlichen Situation und lehrt die Trennung der menschlidien Seele von ihrer „Heimat" in dem Bereich der reinen Wesenheiten. Der Mensch ist entfremdet von dem, was er essentiell ist. Seine Existenz in einer vergänglichen Welt widerspricht seiner essentiellen Partizipation an der ewigen Welt der Ideen. Das wird in mythologischen Bildern ausgedrückt, weil die Existenz nicht begrifflich erfaßt werden kann. N u r der Bereich der Wesenheiten erlaubt eine Strukturanalyse. Wenn Plato einen Mythos verwendet, so beschreibt er damit immer den Übergang vom essentiellen Sein zur existentiellen Entfremdung und die Rückkehr zu ersterem. Die platonische Unterscheidung zwischen dem essentiellen und dem existentiellen Bereich ist grundlegend für alle späteren philosophischen Entwicklungen. Sie liegt selbst dem heutigen Existentialismus zugrunde. Ein anderes Beispiel für den existentialistisdien Gesichtspunkt ist die christliche Lehre vom Fall, von der Sünde und von der Erlösung. Ihre Struktur ist der platonischen Unterscheidung analog. Wie bei Plato ist die essentielle Natur des Menschen und seiner Welt gut. Sie ist für das christliche Denken gut, weil sie göttliche Schöpfung ist. Aber der Mensch 98

hat die essentielle oder geschöpfliche Gutheit verloren. Der Fall und die Sünde haben nicht nur seine ethischen, sondern auch seine kognitiven Qualitäten verdorben. Er ist den Konflikten der Existenz verfallen, und seine Vernunft ist davon nicht ausgenommen. Aber wie bei Plato das übergeschichtliche Gedächtnis nie verloren werden kann, selbst nidit in der größten Entfremdung der menschlichen Existenz, so ist im Christentum die essentielle Struktur des Menschen und seiner Welt durch die erhaltende und lenkende Schöpferkraft Gottes bewahrt, die nicht nur Gutes, sondern auch Wahres möglich macht. N u r aus diesem Grunde kann der Mensch die Konflikte seiner existentiellen Situation erfahren und die Wiederherstellung seines essentiellen Seins erhoffen. Der Piatonismus wie auch die klassische christliche Theologie vertreten den existentialistischen Gesichtspunkt; er bestimmt ihr Verständnis der menschlichen Situation. Aber keiner von beiden ist existentialistisch im engeren Sinne des Wortes. Der existentialistische Gesichtspunkt wirkt sich innerhalb ihrer essentialistischen Ontologie aus. Das gilt nicht nur für Plato, sondern auch für Augustin, obgleich seine Theologie tiefere Einsichten in die Negativitäten der menschlichen Situation enthält als die irgendeines anderen Denkers im Frühchristentum und obgleich er seine Lehre vom Menschen gegen den essentialistischen Moralismus des Pelagius zu verteidigen hatte. In der Nachfolge der augustinischen Analyse der menschlichen Situation brachten die mönchische und die mystische Selbstprüfung reiches tiefenpsychologisches Material ans Licht, das in die Theologie einging, in die Kapitel von der Geschöpflichkeit, der Sünde und der Heiligung des Menschen. Es kam auch im mittelalterlichen Verständnis des Dämonischen zum Ausdruck und wurde von den Beichtvätern, besonders in den Klöstern, verwandt. Vieles von dem, was heute in der Tiefenpsychologie und dem zeitgenössischen Existentialismus diskutiert wird, war den religiösen „Analytikern" des Mittelalters nicht unbekannt. Es war den Reformatoren noch bekannt, besonders Luther, dessen dialektische Beschreibung der Zweideutigkeit des Guten, der dämonischen Verzweiflung und der Notwendigkeit des Glaubens tiefe Wurzeln in der mittelalterlichen Erforschung der menschlichen Seele und ihrem Verhältnis zu Gott hat. Der größte dichterische Ausdruck des existentialistischen Gesiditspunktes im Mittelalter ist Dantes „Göttliche Komödie". Sie bleibt wie die religiöse Tiefenpsychologie der Mönche in den Grenzen der scholastischen Ontologie. Aber innerhalb dieser Grenzen dringt sie in die tiefsten Tiefen menschlicher Selbstzerstörung und Verzweiflung vor und zugleich in die höchsten Höhen des Mutes und der Erlösung und 99

gibt in dichterischen Symbolen eine allumfassende cxistentialistische Lehre vom Menschen. Einige Künstler der folgenden Zeit haben in Zeichnungen und Gemälden die heutige existentialistische Kunst vorweggenommen. Die dämonischen Gegenstände, die Männer wie Bosch, Breughel, Grünewald, die Spanier und die Süditaliener, die spätgotischen Meister von Massenszenen und viele andere darstellten, sind Ausdrucksformen eines existentialistischen Verständnisses der menschlichen Situation (z. B. die Breughelschen Bilder vom Turmbau zu Babel). Aber in keinem von diesen war mit der mittelalterlichen Tradition völlig gebrochen worden. Sie waren erst Ausdruck des existentialistisdien Gesichtspunktes, noch nicht des Existentialismus selbst. In Verbindung mit der Entwicklung des modernen Individualismus erwähnten wir die nominalistische Aufspaltung der Universalien in individuelle Dinge. Es gibt Seiten im Nominalismus, die Motive des jüngsten Existentialismus vorwegnehmen. Die erste ist sein Irrationalismus, der aus dem Zusammenbruch der essentialistischen Philosophie unter dem Angriff von Duns Scotus und Ockham folgte. Die Betonung der Zufälligkeit alles Existierenden macht den Willen Gottes wie das Sein des Menschen zu etwas gleich Zufälligem. Sie gibt dem Menschen das Gefühl, daß es keine letzte Notwendigkeit gibt, weder in bezug auf sich selbst noch in bezug auf seine Welt; und sie erweckt in ihm die Angst vor dem Zufall. Ein anderes Motiv im jüngsten Existentialismus, das der Nominalismus vorweggenommen hatte, ist die Flucht in die Autorität, die eine Folge der Auflösung der Universalien ist und der Unfähigkeit des vereinzelten Individuums zu dem Mut, man selbst zu sein. Deshalb hatten die Nominalisten sidi eine Brücke zum kirchlichen Autoritarismus gebaut, der alles Autoritäre im frühen und späten Mittelalter übertraf und schließlich zu dem modernen katholischen Kollektivismus führte. Aber trotz alledem war der Nominalismus kein Existentialismus, wenn er auch einer der wichtigsten Vorläufer des existentialistisdien Mutes, man selbst zu sein, war. So weit konnte er nicht gehen, weil selbst der Nominalismus nicht aus der mittelalterlichen Tradition ausbrechen wollte. Was ist der Mut zum Sein in einer Situation, in der der existentielle Gesichtspunkt den essentiellen Rahmen noch nicht gesprengt hat? Im allgemeinen kann man sagen, daß es der Mut ist, Teil eines Ganzen zu sein. Aber diese Antwort genügt nicht. Wo ein existentialistischer Gesichtspunkt vorhanden ist, ist das Problem der individuellen menschlichen Situation vorhanden. Am Schluß des Dialogs „Gorgias" bringt Plato die Individuen vor den Richter der Unterwelt, Rhadamanthys, der über ihre persönliche Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit urteilt. 100

Im klassischen Christentum betrifft das ewige Gericht das Individuum; bei Augustin ändert die Universalität der Erbsünde nichts an dem Dualismus in dem ewigen Schicksal des Individuums; die mönchische und mystisdie Selbstprüfung betrifft das individuelle Selbst; Dante weist die Individuen, ihrem besonderen Charakter entsprechend, den verschiedenen Bereichen der Wirklichkeit zu; die Maler des Dämonischen rufen das Gefühl hervor, daß das Individuum einsam ist in der Welt, so wie sie ist; der Nominalismus isoliert die Individuen. Trotzdem ist in allen diesen Fällen der Mut zum Sein nicht der Mut, man selbst zu sein. Es ist ein umfassendes Ganzes, aus dem der Mut zum Sein gewonnen wird: die himmlische Sphäre, das Reich Gottes, die göttliche Gnade, die von der Vorsehung bestimmte Struktur der Wirklichkeit, die Autorität der Kirche. Es ist kein Rückfall in den Mut, Teil eines Ganzen zu sein; es ist vielmehr ein Fortschritt und eine Erhebung zu einer Quelle des Mutes, die beides transzendiert, den Mut, Teil eines Ganzen zu sein, und den Mut, man selbst zu sein. Der Verlust des existentialistischen

Gesichtspunktes

Der existentialistische Protest des 19. Jahrhunderts ist eine Reaktion gegen den Verlust des existentialistischen Gesichtspunktes seit dem Anfang der Neuzeit. Während die Frühzeit der Renaissance, durch Nikolaus Cusanus, die florentinische Akademie und die Malerei der Frührenaissance vertreten, noch von der augustinischen Tradition bestimmt war, machte sich die Spätrenaissance von ihr los und schuf einen neuen wissenschaftlichen Essentialismus. Bei Descartes ist die antiexistentialistische Haltung vollendet. Die Existenz des Menschen und seiner Welt wird „eingeklammert", wie es Husserl nennt, der seine „phänomenologische Methode" von Descartes ableitet. Der Mensch wird reines Bewußtsein, ein nacktes erkenntnistheoretisches Subjekt; die Welt (einschließlich der psychosomatischen Seite des Menschen) wird ein Objekt wissenschaftlicher Untersuchung und technischer Handhabung. Der Mensch in seiner existentiellen Situation verschwindet. Es ist durchaus konsequent, wenn der jüngste philosophische Existentialismus darauf hinweist, daß hinter dem sum in Descartes' cogito ergo sum das Problem des Wesens dieses sum liegt, das mehr als bloße cogitatio (Bewußtsein) ist - nämlich Existenz in Zeit und Raum, und zwar unter den Bedingungen der Endlichkeit und der Entfremdung. Der Protestantismus schien mit seiner Ablehnung der Ontologie den existentialistischen Gesichtspunkt zu erneuern. Und tatsächlich unterstützten die protestantische Beschränkung des Dogmas auf die Gegen101

Überstellung von menschlicher Sünde und göttlicher Vergebung und die Voraussetzungen und Konsequenzen dieser Gegenüberstellung den existentialistischen Gesichtspunkt - allerdings mit einer entscheidenden Einschränkung: die Fülle des existentialistischen Materials, das im Mittelalter in Verbindung mit der mönchischen Selbstprüfung entdeckt worden war, war verschwunden, nicht bei den Reformatoren selbst, aber bei ihren Nachfolgern, die den Nachdruck auf die Lehren von der Rechtfertigung und der Vorsehung legten. Die protestantischen Theologen betonten den unbedingten Charakter des göttlichen Gerichts und die Unabhängigkeit der göttlichen Vergebung. Sie mißtrauten der Analyse der menschlichen Existenz; die Relativitäten und Zweideutigkeiten der menschlichen Situation waren für sie ohne Bedeutung. Im Gegenteil: sie glaubten, daß derartige Betrachtungen das absolute Ja und Nein abschwächten, das die göttlich-menschliche Beziehung charakterisiert. Die unexistentielle Methode der protestantischen Theologie hatte zur Folge, daß die dogmatischen Begriffe der biblischen Botschaft als objektive Wahrheit verkündet wurden, ohne den Versudi zu machen, die Botschaft dem Menschen in seiner psychosomatischen und psychosozialen Existenz nahezubringen. (Erst unter dem Druck der sozialen Bewegungen des späten 19. Jahrhunderts begann der Protestantismus, sich den existentiellen Problemen der Gegenwart zu öffnen.) Im Calvinismus und in den Sekten wurde der Mensch immer mehr zu einem abstrakten sittlichen Subjekt gemacht, wie er bei Descartes zum erkenntnistheoretischen Subjekt gemacht worden war. Und als sich im 18. Jahrhundert der Inhalt der protestantischen Ethik den rationalen Forderungen der aufkommenden Industriegesellschaft anpaßte, verschmolzen antiexistentialistische Philosophie und antiexistentialistisdie Theologie. Das rationale Subjekt ersetzte in moralischer und wissenschaftlicher Hinsicht das existentielle Subjekt, seine Konflikte und Verzweiflungen. Einer der Führer dieser Entwicklung, Immanuel Kant, der Lehrer der moralischen Autonomie, räumte dem existentialistischen Gesichtspunkt in seiner Philosophie zwei Stellen ein: eine in seiner Lehre von der unendlichen Distanz zwischen dem endlichen Menschen und dem Sein-Selbst und eine andere in seiner Lehre von der Verderbtheit der menschlichen Vernunft durch das radikale Böse. Aber wegen dieser existentialistischen Ideen griffen ihn viele seiner Bewunderer an, audi die größten unter ihnen, Goethe und Hegel. Beide waren vorwiegend antiexistentialistisch. In Hegels Versuch, die gesamte Realität als ein System von Essenzen zu interpretieren, dessen mehr oder weniger angemessener Ausdruck die existierende Welt ist, erreichte die essentia102

listische Richtung der modernen Philosophie ihren Höhepunkt. Die Existenz war in die Essenz aufgelöst. Die Welt ist vernünftig, so wie sie ist. Die Existenz ist ein notwendiger Ausdruck der Essenz. Die Weltgeschichte ist die Manifestation des essentiellen Seins unter den Bedingungen der Existenz. Ihr Gang kann verstanden und gerechtfertigt werden. Einen Mut, der die Negativitäten des individuellen Lebens besiegt, können die gewinnen, die an der Weltgeschichte partizipieren, in der sich der absolute Geist aktualisiert. Die Angst vor Schicksal, Schuld und Sinnlosigkeit wird überwunden durch die Erhebung über die verschiedenen Grade von Sinngehalten hinweg zu einem höchsten Sinn, der philosophischen Betrachtung des Universalprozesses selbst. Hegel versucht, den Mut, Teil eines Ganzen zu sein (besonders eines Volkes), mit dem Mut, man selbst zu sein (besonders als Denker), in einem Mut zu vereinen, der beide transzendiert und einen mystischen Untergrund hat. Aber die existentialistischen Elemente in Hegel dürfen nicht übersehen werden. Sie sind stärker, als man gewöhnlich annimmt. Vor allem ist sich Hegel der Ontologie des Nichtseins bewußt. Die Negation ist die dynamische K r a f t in seinem System, die die absolute Idee (das Essentielle) zur Existenz antreibt und die Existenz zur absoluten Idee zurücktreibt (die sich in dem Prozeß als absoluter Geist aktualisiert). Hegel weiß von dem Geheimnis des Nichtseins und der Angst vor ihm. Aber er nimmt es in die Selbstbejahung des Seins hinein. Ein zweites existentialistisches Element in Hegel ist seine Einsicht, daß ohne Interesse und Leidenschaft nichts Großes innerhalb der Existenz vollbracht wird. Diese Behauptung in der Einleitung zu seiner „Philosophie der Geschichte" zeigt, daß Hegel sich der Einsichten in die niditrationalen Schichten der menschlichen Natur ebenso bewußt war wie die Romantiker und die Lebensphilosophen. Das dritte Element, das zusammen mit den beiden anderen Hegels existentialistische Feinde stark beeinflußt hat, ist die realistische Beurteilung der menschlichen Situation innerhalb der Weltgeschichte. „Die Weltgeschichte", sagt er in der gleichen Einleitung, „ist nicht der Boden für das Glück" des Individuums. Das bedeutet entweder, daß sich das Individuum über die Weltgeschichte zu ihrer philosophischen Betrachtung erheben muß oder daß das existentielle Problem des Individuums nicht gelöst werden kann. Dies machte der Existentialismus zum Ausgangspunkt seines Protestes gegen Hegel und gegen die Welt, die sich in ihm spiegelt.

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Existentialismus

als Protest

Der Protest gegen Hegels essentialistische Philosophie bediente sich der existentialistischen Elemente, die in Hegel selbst, wenn auch nur implizit, vorhanden waren. Der erste existentialistische Angriff kam von Hegels ehemaligem Freund Schelling, unter dessen Einfluß Hegel einmal gestanden hatte. Schelling hatte in seinem Alter die sogenannte „positive Philosophie" entwickelt, deren Begriffe von den protestierenden Existentialisten des 19. Jahrhunderts zum großen Teil aufgegriffen wurden. Schelling nannte den Essentialismus „negative Philosophie", weil er von der realen Existenz abstrahiert, und er stellte ihr die „positive Philosophie" entgegen, wie er das Denken des Individuums nannte, das aus seiner geschichtlichen Situation heraus lebt, denkt und entscheidet. Er war der erste, der den Ausdruck „Existenz" in Opposition gegen den philosophischen Essentialismus verwandte. Obgleich seine Philosophie nicht akzeptiert wurde, weil sie den christlichen Mythos philosophisch in existentialistischen Begriffen neu deutete, übte er auf viele großen Einfluß aus, in erster Linie auf Kierkegaard. Schopenhauer nahm in seinem antiessentialistisdien Denken die voluntaristische Tradition auf. Er entdeckte aufs neue Charakteristika der menschlichen Seele und der existentiellen Situation des Menschen, die durch die essentialistische Tendenz des modernen Denkens verdeckt worden waren. Zur gleichen Zeit wies Feuerbach auf die materiellen Bedingungen der menschlichen Existenz hin und leitete den religiösen Glauben von dem Wunsch des Menschen ab, seine Endlichkeit in einer transzendenten Welt zu überwinden. Max Stirner schrieb ein Buch, in dem der Mut, man selbst zu sein, als ein praktischer Solipsismus erschien, der jede Gemeinschaft zwischen Mensch und Mensch vernichtete. Marx gehört insofern zum existentialistischen Protest, als er die tatsächliche Existenz des Menschen im frühkapitalistischen System Hegels essentialistischer Beschreibung der Versöhnung des Menschen mit sich selbst in der Gegenwart entgegenstellte. Der bedeutendste von allen Existentialisten war Nietzsche, der in seiner Beschreibung des europäischen Nihilismus eine Welt aufzeigte, in der die menschliche Existenz ihren letzten Sinn verloren hat. Die Lebensphilosophen und die Pragmatiker versuchten, von der Spaltung zwischen Subjekt und Objekt auf etwas zurückzugehen, das beiden zugrunde liegt: „das Leben", und die objektivierte Welt als Selbstverneinung des schöpferischen Lebens zu deuten (Dilthey, Bergson, Simmel, James). Der Soziologe Max Weber, einer der größten Gelehrten des 19. Jahrhunderts, sah die tragische Selbst104

Zerstörung des Lebens kommen, nachdem die technische Vernunft zur Herrschaft gelangt ist. Am Ende des 19. Jahrhunderts waren alle diese Stimmen noch Protest, die Situation selbst hatte sich nodi nicht sichtbar verändert. Seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bestimmt der Protest gegen die verdinglichte Welt Kunst und Literatur. Während die großen französischen Impressionisten trotz der Betonung des subjektiven Elements die Spaltung in Subjektivität und Objektivität nicht transzendierten, sondern das Subjekt selbst als wissenschaftliches Objekt behandelten, hat sich die Situation mit Cézanne, van Gogh und Münch geändert. Von dieser Zeit an erschien das Problem der Existenz in den beunruhigenden Formen des künstlerischen Expressionismus. - Der existentialistische Protest brachte in allen seinen Phasen ein reiches psychologisches Material zutage. Die existentialistischen Revolutionäre wie Baudelaire und Rimbaud in der Lyrik, Flaubert und Dostojewski im Roman, Ibsen und Strindberg im Drama, haben in den Wüsten und Dschungeln der menschlichen Seele neue Entdeckungen gemacht. Ihre Einsichten sind durch die Tiefenpsychologie, die am Ende des Jahrhunderts aufkam, bestätigt und methodisch begründet worden. Als das 19. Jahrhundert mit dem 31. Juli 1914 zu Ende ging, hörte der Existentialismus auf, Protest zu sein und wurde zum Spiegel einer erfahrenen Wirklichkeit. Was die revolutionären Existentialisten des 19. Jahrhunderts zum Protest trieb, war die Drohung eines unendlichen Verlustes, nämlich des Verlustes der individuellen Person. Sie sahen, daß eine Entwicklung im Gange war, die die Person zum Ding machte, zu einem Stück Wirklichkeit, das die Wissenschaft berechnen und die Technik manipulieren kann. Die idealistische Richtung des bürgerlichen Denkens machte die Person zu einem mehr oder minder angemessenen Träger von Universalien. Die naturalistische Richtung machte sie zu einem leeren Feld, das Sinneseindrücke aufnimmt und sich von ihnen je nach dem Grade ihrer Intensität beherrschen läßt. In beiden Fällen ist das individuelle Selbst leerer Raum oder Gefäß für einen Inhalt, der ihm fremd ist und durch den es sich selbst entfremdet. Idealismus und Naturalismus sind sich in ihrer Haltung zur existierenden Person darin gleich, daß sie beide deren unendlichen Wert aufheben und sie zu einem Raum machen, durch den etwas Fremdes hindurchgeht. Beide Philosophien sind Ausdruck einer Gesellschaftsform, die zur Befreiung des Menschen entworfen war, aber unter die Knechtschaft der Objekte geriet, die sie selbst geschaffen hatte. Die Sicherheit, die durch gut funktionierende Mechanismen für die technische Beherrschung der 105

Natur, durch die verfeinerte psychologische Manipulation der Person und durch die schnell anwachsende organisatorische Lenkung der Gesellschaft gewährleistet wird, diese Sicherheit wird mit einem hohen Preis erkauft: der Mensch, für den all dies als Mittel erfunden worden war, wird selbst zum Mittel im Dienst von Mitteln. Das liegt Pascals Angriff auf die Herrschaft der mathematischen Vernunft im 17. Jahrhundert zugrunde; es liegt dem romantischen Angriff auf die Herrschaft der moralischen Vernunft im späten 18. Jahrhundert zugrunde; es liegt Kierkegaards Angriff auf die Herrschaft der entpersönlichenden Logik in Hegels Denken zugrunde. Es liegt dem Kampf von Marx gegen die wirtschaftliche Entmenschlichung zugrunde sowie Nietzsches Kampf für das schöpferische Leben und Bergsons Kampf gegen den Raum als Bereich toter Objekte. Es liegt dem Bestreben der meisten Lebensphilosophen zugrunde, die versuchen, das Leben vor der zerstörerischen Macht der Objektivierung zu retten. Sie haben für die Erhaltung der Person gekämpft, für die Selbstbejahung des Selbst in einer Situation, in der das Selbst immer mehr in seiner Welt unterging. Sie haben unter Bedingungen, die das Selbst vernichten und es durch das Ding ersetzen, nach einem Weg für den Mut man selbst zu sein gesucht.

D E R GEGENWÄRTIGE EXISTENTIALISMUS UND DER M U T DER VERZWEIFLUNG

Mut und Verzweiflung Im 20. Jahrhundert tritt der Existentialismus in seiner eindrucksvollsten und drohendsten Form hervor. In ihr gelangt die Entwicklung zu einem Punkt, über den sie nicht hinausgehen kann. Der Existentialismus ist in allen Ländern der westlichen Welt eine Realität geworden. Er hat in allen Bereichen des geistigen Schaffens Ausdruck gefunden, er bewegt alle gebildeten Klassen. Er ist nicht die Erfindung eines philosophischen Bohemiens oder eines neurotischen Romanschreibers. Er ist keine Übertreibung, die der Sensation oder des Profits halber gemacht wird; er ist kein morbides Spiel mit Negativitäten. Alle diese Elemente sind in ihn eingegangen, aber er selbst ist etwas anderes: Er ist Ausdruck der Angst vor der Sinnlosigkeit und des Versuchs, diese Angst in den Mut, man selbst zu sein, hineinzunehmen. Die jüngste Entwicklung des Existentialismus muß von diesen beiden Gesichtspunkten aus betrachtet werden. Er ist nicht einfach Individualismus vom rationalistischen, romantischen oder naturalistischen Typ. 106

Was ihn von diesen Bewegungen, die ihn vorbereitet haben, unterscheidet, ist, daß er den allgemeinen Zusammenbruch aller Sinngehalte erlebt hat. Der Mensch des 20. Jahrhunderts hat eine sinnvolle Welt verloren und ein Selbst, das aus einem geistigen Zentrum in Sinnbezügen lebt. Die vom Menschen geschaffene Welt der Dinge hat den, der sie schuf, verschlungen, er hat in ihr seine Subjektivität verloren. Er ist das Opfer seiner eigenen Geschöpfe. Aber der Mensch weiß noch, was er verloren hat und ständig verliert. Er ist noch Mensch genug, um seine Entmenschlichung in seiner Verzweiflung zu erfahren. Er weiß zwar keinen Ausweg, aber er versucht, seine Menschlichkeit dadurch zu retten, daß er diese ausweglose Situation zum Ausdruck bringt. Er reagiert auf sie mit dem Mut der Verzweiflung, dem Mut, diese Verzweiflung auf sich zu nehmen und der radikalen Drohung des Nichtseins durch den Mut. man selbst zu sein, zu widerstehen. Jede Analyse des gegenwärtigen Existentialismus in Philosophie, Kunst und Literatur kann seine zweideutige Struktur aufzeigen: die Sinnlosigkeit, die zur Verzweiflung treibt, die leidenschaftliche Enthüllung dieser Situation und den - geglückten oder mißglückten - Versuch, die Angst vor der Sinnlosigkeit in den Mut, man selbst zu sein, hineinzunehmen. Es ist nicht überraschend, daß diejenigen, die unerschüttert sind in ihrem Mut, Teil eines Ganzen zu sein - sei es in der Weise des Kollektivismus oder des Konformismus - , von der Form beunruhigt werden, in der sich der existentialistische Mut der Verzweiflung ausdrückt. Sie können nicht verstehen, was heute vor sich geht. Sie können die echte Angst im Existentialismus nicht von der neurotischen unterscheiden. Sie greifen als morbides Verlangen nach Negativität an, was in Wirklichkeit mutiges Aufsichnehmen der Negativität ist. Sie bezeichnen als Verfall, was in Wirklichkeit die schöpferische Enthüllung des Verfalls ist. Sie lehnen als sinnlos ab, was der sinnvolle Versuch ist, die Sinnlosigkeit unserer Situation aufzudecken. Die Ursache für den weitverbreiteten Widerstand gegen den jüngsten Existentialismus liegt nicht in der Schwierigkeit, diejenigen zu verstehen, die in Philosophie und Kunst neue Wege gehen, sondern in dem Wunsch, die Sicherheit zu retten, die ein sich selbst beschränkender Mut, Teil eines Ganzen zu sein, mit sich zu bringen scheint. Man ahnt irgendwie, daß dies keine wirkliche Sicherheit ist, man muß eine gewisse Neigung bekämpfen, sich den existentialistischen Visionen hinzugeben, man genießt sie sogar, wenn sie auf dem Theater oder in Romanen dargestellt werden; aber man weigert sich, sie ernst zu nehmen, d. h. als Enthüllungen der eigenen existentiellen Sinnlosigkeit und verborgenen Verzweiflung zu verstehen. Die heftige Reaktion gegen die moderne Kunst, sowohl in kollektivistischen 107

wie in konformistischen Gruppen (im Nationalsozialismus und im Bolschewismus wie in der amerikanischen Demokratie), zeigt, daß man sich von ihr ernstlich bedroht fühlt. Aber niemand fühlt sich von etwas ernstlich bedroht, das nicht Element des eigenen Selbst ist. Und da es ein Symptom des neurotischen Verhaltens ist, dem Nichtsein durch Reduzierung des Seins zu widerstehen, könnte der Existentialismus den häufigen Vorwurf des Neurotischen damit erwidern, daß er den neurotischen Verteidigungsmedianismus des antiexistentialistischen Wunsches nadi traditioneller Sicherheit aufzeigt. Es sollte keine Frage sein, was die christliche Theologie in dieser Situation zu tun hat: Sie sollte sich für die Wahrheit gegen die Sicherheit entscheiden, selbst wenn die Sicherheit von den Kirdien sanktioniert und unterstützt wird. Es gibt zwar einen kirchlidien Konformismus seit den Anfängen der Kirche und einen kirchlichen Kollektivismus, oder zumindest Halbkollektivismus, in den verschiedenen Perioden der Kirchengeschichte; aber das sollte die christlichen Theologen nicht dazu verleiten, den christlichen Mut mit dem Mut, Teil eines Ganzen zu sein, zu identifizieren. Sie sollten verstehen, daß der Mut, man selbst zu sein, ein notwendiges Korrektiv des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein, ist - selbst wenn sie zu Recht behaupten, daß keine dieser Formen des Mutes zum Sein die endgültige Lösung ist. Der Mut der Verzweiflung in der zeitgenössischen Kunst und Literatur In den Existentialisten des 20. Jahrhunderts manifestieren sich der Mut der Verzweiflung, die Erfahrung der Sinnlosigkeit und die Selbstbejahung trotz der Sinnlosigkeit. Die Sinnlosigkeit ist ihrer aller Problem. Wie wir gesehen haben, ist die Angst im Zweifel und die Angst vor der Sinnlosigkeit die Angst unserer Zeit. Die Angst vor Schicksal und Tod und die Angst vor Schuld und Verdammung sind in ihr enthalten, aber sie sind nidit entscheidend. Wenn Heidegger von der Vorwegnahme des eigenen Todes spricht, geht es ihm dabei nicht um die Frage der Unsterblichkeit, sondern um die Frage, was die Vorwegnahme des Todes für die menschliche Situation bedeutet. Wenn Kierkegaard das Problem der Schuld behandelt, bewegt ihn dabei nicht die theologische Frage von Sünde und Vergebung, sondern die Frage, wie angesichts persönlicher Schuld persönliche Existenz möglich ist. Es ist die Sinnfrage, die die jüngsten Existentialisten beunruhigt, auch wenn sie von Endlichkeit und Schuld reden. Der Frage nach dem Sinn und der Verzweiflung über die Sinnlosig108

keit im 20. Jahrhundert liegt ein entscheidendes Erlebnis des 19. Jahrhunderts zugrunde, nämlich das Erlebnis, daß Gott tot ist. Feuerbach hatte Gott als Produkt der unendlichen Sehnsucht des menschlichen Herzens erklärt und damit geleugnet; Marx hatte ihn als ideologischen Versuch, sich über die gegebene Realität zu erheben, aufgelöst, Nietzsche als Symptom für das Erschlaffen des Willens zum Leben. Das Ergebnis war die Feststellung, daß „Gott tot ist" und mit ihm das ganze System von Werten und Sinnbezügen, in denen man gelebt hatte. Das wird zugleich als Verlust und als Befreiung empfunden. Es führt entweder zum Nihilismus oder zu dem Mut, der das Nichtsein in sich hineinnimmt. Wahrscheinlich hat keiner den modernen Existentialismus so stark beeinflußt wie Nietzsche, und wahrscheinlich hat niemand den Willen, man selbst zu sein, konsequenter und so bis zum Widersinn verfochten wie er. In ihm führt die Erfahrung der Sinnlosigkeit bis zur Verzweiflung und Selbstzerstörung. Auf diesen Voraussetzungen entwickelte der Existentialismus, d. h. die große Kunst, Literatur und Philosophie des 20. Jahrhunderts, den Mut, der Angst vor der Sinnlosigkeit zu begegnen, sie auszuhalten und zum Ausdruck zu bringen. Es ist ein schöpferischer Mut, der sich in den schöpferischen Ausdrucksformen der Verzweiflung zeigt. Sartre nennt eines seiner stärksten Stücke „Huis clos", was soviel wie kein Ausweg bedeutet, eine klassische Metapher für die Situation der Verzweiflung. Aber er selbst besitzt einen Ausweg, er kann sagen: „Kein Ausweg" und so die Situation der Sinnlosigkeit auf sich nehmen. T. S. Eliot nennt sein erstes großes Gedicht „Das wüste Land" (The Waste Land); es beschreibt die Zersetzung der Zivilisation, den Mangel an Oberzeugung, die Richtungslosigkeit, die Armut und die Hysterie des modernen Bewußtseins (wie einer seiner Kritiker es analysiert hat). Aber es ist der schön gepflegte Garten eines großen Gedichts, in dem Eliot die Sinnlosigkeit des „wüsten Landes" beschreibt und in dem er den Mut der Verzweiflung zum Ausdruck bringt. In Kafkas Romanen „Das Schloß" und „Der Prozeß" werden die Unerreichbarkeit der Quelle des Sinns und die Dunkelheit der Quelle der Gerechtigkeit in einer Sprache beschrieben, die rein und klassisch ist. Der Mut, die Einsamkeit eines solchen Schaffens und die Qual solcher Visionen auf sich zu nehmen, sind ein großartiger Ausdruck für den Mut, man selbst zu sein. Der Mensch ist von den Quellen des Mutes getrennt - aber nicht vollständig; er ist noch fähig, seine Entfremdung zu erkennen und anzunehmen. In W. H. Audens „Zeitalter der Angst" (Age of Anxiety) offenbart sich der Mut, die Angst in einer Welt, die ihren Sinn verloren hat, auf sich zu nehmen, ebenso deutlich wie das 109

tiefe Erlebnis dieses Verlustes: die beiden Pole, die in dem Ausdruck „Mut der Verzweiflung" vereint sind, haben das gleiche Gewicht. In Sartres „Zeitalter der Vernunft" (L'âge de raison) hält der Held einer Situation stand, in der ihn sein leidenschaftlicher Wunsch, er selbst zu sein, zur Ablehnung jeder menschlichen Verantwortung treibt. Er weigert sich, irgend etwas zu akzeptieren, das seine Freiheit beschränken könnte. Nichts hat endgültigen Sinn für ihn, weder Liebe und Freundschaft, noch Politik. Das einzig Unveränderliche ist die unbeschränkte Freiheit, sich zu ändern und diese inhaltslose Freiheit zu bewahren. Dieser Held repräsentiert eine der extremsten Formen des Mutes, man selbst zu sein, nämlich ein Selbst zu sein, das frei von jeder Bindung ist und dafür den Preis völliger Leere zahlt. Durch die Erfindung einer solchen Gestalt beweist Sartre seinen Mut der Verzweiflung. Von der anderen Seite wird das gleiche Problem in der Erzählung „Der Fremde" (L'étranger) von Camus behandelt. Camus steht auf der Grenze zum Existentialismus, sieht aber das Problem der Sinnlosigkeit ebenso sdiarf wie die Existentialisten. Sein Held ist ein Mensdi ohne Subjektivität. Er ist in keiner Weise außergewöhnlich: er handelt, wie ein gewöhnlicher Beamter in einer untergeordneten Stellung handeln würde. Er ist ein Fremder, weil er in nichts eine existentielle Beziehung zu sich oder zu seiner Welt erreicht. Was ihm auch widerfährt, hat für ihn keine Wirklichkeit und keinen Sinn: eine Liebe, die keine wirklidie Liebe ist; ein Gerichtsverfahren, das kein wirkliches Gerichtsverfahren ist; eine Hinrichtung, die keine Rechtfertigung in der Wirklichkeit besitzt. Er kennt weder Sdiuld noch Vergebung, weder Verzweiflung noch Mut. Er ist nicht als Person, sondern als psydiologischer Prozeß beschrieben, der von allen Seiten determiniert ist, ob er arbeitet, liebt oder tötet, ißt oder schläft. Er ist ein Ding unter Dingen, das keinen Sinn in sich selbst hat und deshalb auch keinen Sinn in seiner Welt finden kann. Er repräsentiert das Schicksal absoluter Verdinglichung, gegen das alle Existentialisten ankämpfen. Er repräsentiert es auf die radikalste Art, ohne irgendwelche Versöhnung. Der Mut, diese Gestalt zu schaffen, gleicht dem Mut, der Kafka die Gestalt des K. schaffen ließ. Ein Blick auf das Theater zeigt das gleiche Bild. Besonders in Amerika ist die Bühne angefüllt mit Darstellungen der Sinnlosigkeit und der Verzweiflung, und in manchen Dramen wird nichts anderes gezeigt wie in Arthur Millers „Tod des Handlungsreisenden" (Deatb of a Salesman), während in anderen die Negativität weniger unbedingt ist wie in Tennessee Williams „Endstation Sehnsucht" (A Streetcar Named Desire). Aber es kommt selten bis zur Positivität; selbst relativ positive Lösungen werden vom Zweifel und von dem Bewußtsein von 110

der Zweideutigkeit aller Lösungen üntergraben. Es ist erstaunlich, daß diese Stücke in einem Lande große Zuschauermassen anziehen, dessen vorherrschender Mut der Mut ist, Teil in einem System demokratischer Konformität zu sein. Was bedeutet das für die Situation in Amerika und damit in der Welt überhaupt? Man unterschätzt die Bedeutung dieses Phänomens, wenn man auf die unbestreitbare Tatsache hinweist, daß selbst die größten Zuschauermassen nur einen unendlich geringen Prozentsatz der amerikanischen Bevölkerung darstellen. Man kann die Anziehungskraft, die das existentialistische Theater für viele hat, damit abtun, daß es eine importierte Mode sei, die ihren Reiz bald verlieren wird. Es kann aber auch sein, daß die verhältnismäßig wenigen (wenige audi dann noch, wenn man ihnen all die Zyniker und Verzweifelten an den amerikanischen akademischen Bildungsstätten zuzählt) eine Avantgarde sind, die eine große Umwälzung in der geistigen und sozialpsychologischen Situation ankündet. Es kann sein, daß die Grenzen des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein, von mehr Menschen erkannt werden, als die wachsende Konformität vermuten läßt. Wenn dies die Begründung für die Anziehungskraft des Existentialismus im Theater ist, so sollte man sie genau beobachten und verhindern, daß sie zum Wegbereiter kollektivistischer Formen des Mutes, Teil eines Ganzen zu sein, wird - eine Gefahr, deren Ernst von der Geschichte vielfach bestätigt wird. Das Erlebnis der Sinnlosigkeit und der Mut, man selbst zu sein, bilden in ihrer Verbindung den Schlüssel für die Entwicklung der bildenden Künste seit der Jahrhundertwende. Im Expressionismus und Surrealismus werden die Oberflächenstrukturen der Wirklichkeit zerbrochen. Die Kategorien, die die gewöhnliche Erfahrung konstituieren, haben ihre Macht verloren. Die Kategorie der Substanz gilt nicht mehr: massive Gegenstände werden wie Stricke verdreht. Der Kausalzusammenhang der Dinge wird nicht mehr beachtet: die Dinge erscheinen in völliger Zufälligkeit. Die zeitliche Aufeinanderfolge ist unwichtig geworden: es kommt nicht darauf an, ob ein Ereignis vor oder nach einem anderen stattfindet. Die räumlichen Dimensionen werden reduziert oder in eine schreckenerregende Unendlichkeit aufgelöst. Die organischen Lebensstrukturen werden zerstückelt, und die Stücke werden willkürlich (vom biologischen, nicht vom künstlerischen Standpunkt) wieder zusammengesetzt: Glieder werden verstreut, Farben von ihren natürlichen Trägern abgelöst. Der psychologische Prozeß (dies gilt mehr von der Literatur als von der Kunst) wird umgekehrt: man lebt von der Zukunft in die Vergangenheit und das ohne Rhythmus oder irgendwelche sinnvolle Gliederung. Die Welt der Angst ist eine Welt, 111

in der die Kategorien, die Strukturen der Wirklichkeit, ihre Gültigkeit verloren haben. Jedem müßte es schwindlig werden, wenn die Kausalität plötzlich nicht mehr gültig wäre. In der existentialistischen Kunst (wie ich sie nenne) hat sie ihre Gültigkeit verloren. Man hat die moderne Kunst als Vorläufer des Totalitarismus angegriffen. Die Antwort, daß alle totalitären Systeme damit begannen, daß sie sidi gegen die moderne Kunst stellten, genügt nicht, denn man könnte entgegnen, daß die totalitären Systeme gerade deshalb gegen die moderne Kunst kämpfen, weil sie die in ihr ausgedrückte Sinnlosigkeit bekämpfen wollten. Die wirkliche Antwort liegt tiefer: die moderne Kunst ist nicht Propaganda f ü r eine Situation, sondern ihre Enthüllung. Sie zeigt unsere Existenz, wie sie ist; sie versucht nicht, die Wirklichkeit, in der wir leben, zu verdecken. Deshalb müssen wir fragen: Ist die Enthüllung einer Situation Propaganda f ü r diese Situation? Wenn das der Fall wäre, müßte alle Kunst unredliche Verschönerung werden. Die Kunst, wie sie von beiden, dem Totalitarismus und dem demokratischen Konformismus, gepflegt wird, ist solch unredliche Schönfärberei. Sie ist idealisierter Naturalismus, der bevorzugt wird, weil er die Gefahr beseitigt, daß die Kunst kritisch und revolutionär wird. Die Schöpfer der modernen Kunst haben die Sinnlosigkeit unserer Existenz erkannt; sie partizipieren an ihrer Verzweiflung. Zugleich haben sie den Mut, ihr standzuhalten und sie in ihren Gemälden und Bildwerken zum Ausdruck zu bringen. Sie haben den Mut, man selbst zu sein.

Der Mut der Verzweiflung in der zeitgenössischen

Philosophie

Die Existenzphilosophie hat theoretisch formuliert, was wir in Kunst und Literatur als den „Mut der Verzweiflung" bezeichneten. In „Sein und Zeit" (das seine philosophische Bedeutung behält trotz Kritik und Widerruf seines Autors) beschreibt Heidegger den „Mut der Verzweiflung" in philosophisch exakten Begriffen. Er arbeitet die Begriffe Nichtsein, Endlichkeit, Angst, Sorge, das Sein zum Tode, Schuld, Gewissen, Selbst usw. sorgfältig aus. Danach analysiert er ein Phänomen, das er „Entschlossenheit" nennt. Mit diesem Wort weist er auf das symbolische Aufschließen dessen hin, was Angst, Unterwerfung unter die Konformität und Selbstabschließung verschlossen haben. Sobald dieses „entschlossen" ist, kann man handeln, aber nicht nach Normen, die von irgend jemandem oder irgend etwas gegeben sind. Niemand kann dem „entschlossenen" Individuum Anweisungen f ü r seine Handlungen geben, kein Gott, keine Konvention, kein Vernunftgesetz, keine N o r m und kein Prinzip. Wir müssen wir selbst sein, wir selbst müssen entscheiden, 112

wohin wir gehen wollen. Unser Gewissen ist der Ruf zu uns selbst. Es sagt uns nichts Konkretes, es ist weder die Stimme Gottes, noch die Anerkennung ewiger Prinzipien. Es ruft uns zu uns selbst aus dem „man", aus dem „Gerede", aus der „Uneigentlichkeit", aus der Anpassung, dem Hauptprinzip des konformistischen Mutes, Teil eines Ganzen zu sein. Aber wenn wir diesem Ruf folgen, werden wir unausweidilich schuldig, nicht durch unsere moralische Schwäche, sondern durch unsere existentielle Situation. In dem Mut, wir selbst zu sein, werden wir schuldig, und es wird von uns verlangt, diese existentielle Schuld auf uns zu nehmen. Der Sinnlosigkeit in allen ihren Aspekten kann nur standhalten, wer entschlossen die Angst vor Endlichkeit und Schuld auf sich nimmt. Es gibt keine Norm, kein Kriterium für das, was recht oder unrecht ist. Die Entschlossenheit macht das zum Rechten, was recht sein soll. Es war eine geschichtliche Funktion Heideggers, die existentialistische Analyse des Mutes, man selbst zu sein, radikaler und - historisch gesehen - zerstörerischer durchzuführen als irgendein anderer. Sartre zog aus dem frühen Heidegger Konsequenzen, die der späte Heidegger nicht akzeptierte. Aber es bleibt zweifelhaft, ob Sartre nicht historisch im Recht war. Es war für Sartre leichter, diese Konsequenzen zu ziehen, als für Heidegger, denn Heideggers Ontologie liegt der mystische Seinsbegriff zugrunde, während Sartre vom Humanismus abhängig ist. So konnte Sartre Heideggers existentialistisdie Analysen weiterführen, ohne durch einen mystischen SeinsbegrifT beschränkt zu sein. Aus diesem Grunde konnte er zum Symbol des zeitgenössischen Existentialismus werden, eine Stellung, die er weniger für die Originalität seiner Grundbegriffe verdient als für den Radikalismus, die Konsequenz und das psychologische Verständnis, mit denen er seine Philosophie durchgeführt hat. Ich weise vor allem auf seine These hin, daß die Essenz des Menschen seine Existenz ist. Dieser Satz ist wie ein Blitz, der die ganze existentialistisdie Situation erhellt. Man könnte ihn den verzweifeltsten und den mutigsten Satz in der ganzen existentialistischen Literatur nennen. Er besagt, daß es eine essentielle Natur des Menschen nicht gibt mit Ausnahme des einen Punktes, daß der Mensch aus sich machen kann, was er will. Der Mensch macht sich zu dem, was er ist. Es ist ihm nichts gegeben, was seine Tätigkeit bestimmt. Die Essenz seines Seins - das, was er sein sollte - ist nichts, was er vorfindet, er schafft sie. Der Mensch ist, was er aus sich macht. Und der Mut, man selbst zu sein, ist der Mut, aus sich zu machen, was man sein will. Andere Existentialisten sind weniger radikal. Karl Jaspers empfiehlt eine neue Konformität in Form eines allumfassenden „philosophi113

sehen Glaubens"; andere sprechen von einer philoso pbia perennis; Gabriel Marcel geht von einem existentialistisdien Radikalismus zu einer Haltung über, die auf dem Halbkollektivismus des mittelalterlichen Denkens fußt. In der Philosophie wird der Existentialismus mehr als von irgendwelchen anderen von Heidegger und Sartre vertreten. Der Mut der Verzweiflung in der unscböpferischen existentialistisdien

Haltung

In den letzten Abschnitten haben wir von denen gesprochen, die ihr schöpferischer Mut befähigt, die existentielle Verzweiflung zum Ausdruck zu bringen. Aber nicht viele Menschen sind schöpferisch, und es gibt auch eine unschöpferische existentialistische Haltung, den sogenannten Zynismus. Heute verstehen wir unter einem Zyniker nicht mehr das gleiche wie die Griechen. Für die Griechen war ein Zyniker ein Mensch, der ihre Kultur vom Standpunkt der Vernunft und der Naturgesetze kritisierte; er war ein revolutionärer Rationalist, ein Anhänger des Sokrates. Die modernen Zyniker wollen nicht als Anhänger irgendeiner Schule gelten. Sie glauben nicht an die Vernunft, sie kennen kein Kriterium der Wahrheit, kein Wertsystem und keine Antwort auf die Frage nach dem Sinn. Sie versuchen jede Norm, die ihnen gegeben wird, zu untergraben. Ihr Mut findet keinen schöpferischen Ausdruck, aber er drückt sich in ihrer Lebenshaltung aus. Sie verwerfen mutig jede Lösung, die sie der Freiheit beraubt, alles zu verwerfen, was sie verwerfen wollen. Die modernen Zyniker sind einsam, obwohl sie der Gesellschaft bedürfen, um ihre Einsamkeit zeigen zu können. Sie kennen weder vorläufige Sinnbezüge noch einen letzten unbedingten Sinn und fallen deshalb leicht der neurotischen Angst zum Opfer. Zwanghafte Selbstbejahung wie fanatische Selbstaufgabe sind häufig Ausdruck des nicht-schöpferischen Mutes, man selbst zu sein. Die Grenzen des Mutes, man selbst zu sein Das führt zu der Frage nach den Grenzen des Mutes, man selbst zu sein, in seinen schöpferischen wie in seinen unsdiöpferischen Formen. Mut ist Selbstbejahung „trotz", und der Mut, man selbst zu sein, ist die Bejahung des Selbst als eines Selbst. Aber die Frage ist: Was ist dieses Selbst, das sich selbst bejaht? Der radikale Existentialismus antwortet: Es ist das, was es aus sich selbst macht. Das ist alles, was er sagen kann, weil alles weitere die absolute Freiheit des Selbst beschränken würde. Das Selbst, das von der Partizipation an seiner Welt abgeschnitten ist. 114

ist eine leere Hülse, eine bloße Möglichkeit. Es muß handeln, weil es lebt, aber es muß jede Handlung wieder zurücknehmen, weil das Handeln den Handelnden in den Gegenstand seiner Handlung verwickelt. Es verleiht ihm Inhalt und beschränkt darum seine Freiheit, aus sich zu machen, was er will. In der klassischen Theologie, der katholischen wie der protestantischen, hat nur Gott dieses Vorrecht: er ist a se (aus sich) oder absolute Freiheit. Nichts ist in ihm, was nicht durch ihn ist. Der Existentialismus gibt dem Menschen auf Grund der Feststellung, daß Gott tot ist, die göttliche Aseität. Nichts soll im Menschen sein, was nicht durch ihn ist. Aber der Mensch ist endlich, er findet sich als das, was er ist. Er hat sein Sein empfangen und mit ihm die Struktur seines Seins, die Struktur der endlichen Freiheit eingeschlossen, und endliche Freiheit ist nicht Aseität. Der Mensch kann sich nur bejahen, wenn er nicht eine leere Hülse, eine bloße Möglichkeit, bejaht, sondern die Struktur des Seins, in der er sich vor allem Handeln und Nichthandeln vorfindet. Endliche Freiheit hat eine bestimmte Struktur, und wenn das Selbst versucht, gegen diese Struktur zu verstoßen, endet es mit dem Verlust seines Selbst. Der nicht-partizipierende Held in Sartres L'âge de raison ist in einem Netz von Zufälligkeiten gefangen, die zum Teil aus den unterbewußten Schichten seines eigenen Selbst stammen, zum Teil aus seiner Umwelt, von der er sich nicht zurückziehen kann. Das angeblich leere Selbst ist gefüllt mit Inhalten, die es versklaven, gerade weil es sie nicht als seine Inhalte erkennt oder annimmt. Das gilt auch für den Zyniker, wie wir oben gezeigt haben. Er kann den Mächten seines Selbst, die ihn in den völligen Verlust der Freiheit treiben, nicht entrinnen. Im 20. Jahrhundert vollzieht sich auf der ganzen Welt die dialektische Selbstzerstörung der radikalen Formen des Mutes, man selbst zu sein, in Form der totalitären Reaktion gegen den revolutionären Existentialismus des 19. Jahrhunderts. Der existentialistisdie Protest gegen die Entmenschlichung und Verdinglichung mit seinem Mut, man selbst zu sein, verkehrt sich in die raffiniertesten und bedrückendsten Formen des Kollektivismus, die die Geschichte kennt. Es ist die tiefe Tragik unserer Zeit, daß der Marxismus, der als Bewegung zur Befreiung aller Menschen gemeint war, in ein System der Versklavung aller Menschen verwandelt wurde, von dem auch die nicht ausgenommen sind, die die Versklavung anderer in der Hand haben. Es ist schwer, sich die Unermeßlichkeit dieser Tragik vorzustellen, besonders die psychologische Zerrüttung innerhalb der Intelligenz. Der Mut zum Sein war in zahllosen Menschen untergraben, weil er Mut zum Sein im Sinne des revolutionären Existentialismus des 19. Jahrhunderts gewesen war. Als er 115

zusammenbrach, wandten sich diese Menschen entweder in einer fanatisdi-neurotischen Reaktion gegen die Ursache ihrer tragisdien Enttäuschung einem neokollektivistischen System zu, oder sie fielen in eine zynisch neurotische Indifferenz gegenüber allen Systemen und Inhalten. Ähnliches vollzog sich bei der Verwandlung von Nietzsches Typ des Mutes, man selbst zu sein, in die faschistisch-nationalsozialistischen Formen des Neokollektivismus. Die totalitären Systeme, die in diesen Bewegungen geschaffen wurden, verkörperten fast alles, wogegen der Mut, man selbst zu sein, ursprünglich revoltiert hatte. Sie wandten alle denkbaren Mittel darauf an, einen solchen Mut nicht aufkommen zu lassen. Obgleich diese Systeme, im Gegensatz zum Kommunismus, zusammengebrochen sind, haben sie Verwirrung, Indifferenz und Zynismus verursacht. Und das ist der Boden, auf dem der Wunsch nach Autorität und nach einem neuen Kollektivismus wächst. Die beiden letzten Kapitel über den Mut, Teil eines Ganzen zu sein, und den Mut, man selbst zu sein, haben gezeigt, daß ersterer in seiner radikalen Form zum Verlust des Selbst im Kollektivismus führt und daß letzterer zum Verlust der Welt im Existentialismus führt. Damit kommen wir zu der Frage des letzten Kapitels: Gibt es einen Mut zum Sein, der beide Formen vereint, indem er beide transzendiert?

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VI

MUT U N D T R A N S Z E N D E N Z Der Mut, sich zu bejahen als bejaht

Mut ist die Selbstbejahung des Seienden trotz des Nichtseins. Er ist der Akt des individuellen Selbst, in dem es die Angst vor dem Nichtsein auf sich nimmt, entweder durch die Bejahung seines Selbst als eines Teils in einem umfassenden Ganzen oder durch die Bejahung seines Selbst als eines individuellen Selbst. Mut ist immer vom Nichtsein bedroht und schließt immer ein Wagnis ein, sei es das Wagnis, sich selbst zu verlieren und ein Ding in der Gesamtheit der Dinge zu werden, oder sei es das Wagnis, die Welt in einer leeren Selbstbezogenheit zu verlieren. Der Mut bedarf der Macht des Seins-Selbst, einer Macht, die das Nichtsein transzendiert, das in der Angst vor Schicksal und Tod erfahren wird, in der Angst vor Leere und Sinnlosigkeit gegenwärtig ist und in der Angst vor Schuld und Verdammung wirkt. Der Mut, der diese dreifache Angst in sich hineinnimmt, muß in einer Seinsmacht wurzeln, die größer ist als die Macht des eigenen Selbst und die Madit unserer Welt. Weder die Bejahung des Selbst als Teil eines Ganzen noch die Bejahung des Selbst als eines Selbst transzendiert die vielfältige Bedrohung durch das Nichtsein. Viele von denen, die diese Formen des Mutes repräsentieren, versuchen, sich selbst ebenso zu transzendieren wie das, woran sie partizipieren, und die Macht des Seins-Selbst zu finden und einen Mut, zum Sein, der jenseits der Drohung des Nichtseins liegt. Das ist bei fast allen Existentialisten sichtbar und bedeutet, daß der Mut zum Sein eine offene oder verborgene religiöse Wurzel hat, denn Religion ist der Zustand, in dem wir von der Macht des Seins-Selbst ergriffen sind. In einigen Fällen ist die religiöse Wurzel sorgfältig verdeckt, in anderen wird sie leidenschaftlich geleugnet, bei manchen Menschen liegt sie in der Tiefe, bei anderen an der Oberfläche. Aber niemals fehlt sie gänzlich; denn alles, was ist, partizipiert am Sein-Selbst, und jeder hat ein gewisses Bewußtsein von dieser Partizipation, besonders in Augenblicken, in denen er sich vom Nichtsein bedroht weiß. Dies führt uns zu einer abschließenden Betrachtung, nämlich zu der doppelten Frage: Wie ist der Mut zum Sein im SeinSelbst verwurzelt? Und wie müssen wir im Lichte des Mutes zum Sein 117

das Sein-Selbst verstehen? In der ersten Frage geht es um den Seinsgrund als Quelle des Mutes zum Sein, in der zweiten um den Mut zum Sein als Schlüssel zum Seinsgrund.

D I E M A C H T DES SEINS ALS Q U E L L E DES M U T E S ZUM SEIN

Die mystische

Erfahrung

und der Mut zum

Sein

Da das Verhältnis des Menschen zu dem Grund seines Seins in Symbolen ausgedrückt werden muß, die der Struktur des Seins entnommen sind, müssen wir sagen, daß die Polarität von Partizipation und Individuation den besonderen Charakter dieses Verhältnisses bestimmt, ebenso wie sie den besonderen Charakter des Mutes zum Sein bestimmt. Wenn Partizipation vorherrscht, hat das Verhältnis zum Sein-Selbst mystischen Charakter, wenn Individuation vorherrscht, hat es personhaften Charakter, und wenn beide Pole akzeptiert und transzendiert werden, hat es den Charakter des Glaubens. In der Mystik erstrebt das individuelle Selbst eine Partizipation am Seinsgrund, die sich der Einswerdung nähert. Unsere Frage ist nicht, ob dieses Ziel jemals von einem endlichen Wesen erreicht werden kann, sondern ob und in welcher Weise die Mystik eine Quelle des Mutes zum Sein sein kann. Wir haben auf den mystischen Untergrund von Spinozas System hingewiesen, nämlich darauf, daß er die Selbstbejahung des Menschen von der Selbstbejahung der göttlichen Substanz ableitet, an der er partizipiert. Auf ähnliche Weise ziehen alle Mystiker ihre Kraft der Selbstbejahung aus der Erfahrung von der Macht des Seins-Selbst, mit dem sie geeint sind. Aber man könnte fragen, ob der Mut überhaupt mit der Mystik verbunden werden kann. In Indien scheint der Mut z. B. als die Tugend des kshatriya (des Ritters) betrachtet zu werden, der auf einer tieferen Stufe als der Brahmane oder der asketische Heilige steht. Die mystische Einswerdung transzendiert die aristokratische Tugend des mutigen Selbstopfers. Sie ist Selbsthingabe in einer höheren, vollständigeren und radikaleren Form; sie ist eine vollkommene Form der Selbstbejahung. Aber das heißt, daß sie Mut im weiteren, nicht im engeren Sinn des Wortes ist. Der asketische und ekstatische Mystiker bejaht sein eigenes essentielles Sein gegen die Elemente des Nichtseins, die in der endlichen Welt vorhanden sind, gegen den Bereich der Maja. Es erfordert ungeheuren Mut, der Verlockung der Erscheinungen zu widerstehen. Die Macht des Seins, die sich in einem solchen Mut offenbart, ist so groß, daß selbst die Götter vor ihr zittern. Der 118

Mystiker sucht sich mit dem Seinsgrund, der allgegenwärtigen und alles durchdringenden Brahman-Macht, zu vereinen. Auf diese Art bejaht er sein essentielles Sein, das eins ist mit der Brahman-Macht, während alle, die sich in der Knechtschaft der Maja bejahen, nicht ihr wahres Selbst bejahen, gleich, ob sie Tiere, Menschen oder Götter sind. Dies erhebt die Selbstbejahung des Mystikers über den Mut, der die besondere Tugend des aristokratisch-soldatischen Standes ist; aber es erhebt sie nicht über den Mut überhaupt. Was vom Standpunkt der endlichen Welt als Selbstverneinung erscheint, ist vom Standpunkt des letzten Seins die vollkommenste Selbstbejahung, die radikalste Form des Mutes zum Sein. In der K r a f t dieses Mutes besiegt der Mystiker die Angst vor Schicksal und Tod. D a das Sein in Zeit und Raum und unter den Kategorien der Endlichkeit im letzten Grunde unwirklich ist, sind die Schicksalsfälle, die ihm entspringen, und das endgültige Nichtsein, das es beendet, ebenso unwirklich. Nichtsein ist keine Bedrohung, da das endliche Sein im letzten Grunde Nichtsein ist. Der Tod ist die Negation dessen, was negativ ist, und die Bejahung dessen, was positiv ist. Auf die gleiche Weise wird die Angst im Zweifel und die Angst vor der Sinnlosigkeit in den mystischen Mut zum Sein hineingenommen. Der Zweifel richtet sich auf alles, was ist und was, seinem Maja-Charakter entsprechend, zweifelhaft ist. Er zerstört den Schleier der Maja, er untergräbt die Verteidigung bloßer Meinungen, die die letzte Wirklichkeit verhüllen. Diese selbst ist dem Zweifel nicht ausgesetzt, denn sie ist die Voraussetzung für jeden Akt des Zweifeins. Ohne ein Bewußtsein von der Wahrheit an sich wäre die Frage nach der Wahrheit nicht möglich. Die Angst vor der Sinnlosigkeit wird besiegt, wenn nicht ein bestimmter Sinn als letzter Sinn gilt, sondern der Abgrund jedes bestimmten Sinns. Der Mystiker erfährt von Stufe zu Stufe, daß es keinen Sinn gibt in den verschiedenen Sphären der Wirklichkeit, die er erreicht, durchlebt und wieder verläßt. Solange er auf diesem Weg vorwärts schreitet, überwindet er auch die Angst vor Schuld und Verdammung. Diese Bedrohungen fehlen jedoch nicht. Schuld kann der Mensch auf jeder Stufe auf sich laden, entweder weil er ihre besonderen Forderungen nicht erfüllt oder weil er nicht über die Stufe hinausgeht. Aber solange er der endgültigen Erfüllung gewiß ist, wird die Angst vor der Schuld nicht zur Angst vor der Verdammung. Es gibt in der asiatischen Mystik automatische Bestrafung nach dem Gesetz des Karma, aber es gibt keine Verdammung. Der mystische Mut zum Sein lebt so lange, wie die mystische Situation anhält. Ihre Grenze ist der Zustand, in dem das Sein leer geworden und 119

der Sinn verloren ist, ein Zustand des Entsetzens und der Verzweiflung, den die Mystiker beschrieben haben. In solchen Augenblicken ist der Mut zum Sein auf die Annahme selbst dieses Zustandes reduziert als eines Weges durch die Dunkelheit zum Licht, durch die Leere zur Fülle. Solange die Abwesenheit der Macht des Seins in der Verzweiflung erlebt wird, ist es die Macht des Seins, die sich in der Verzweiflung fühlbar macht. Darin, diese Situation zu erkennen und auszuhalten, besteht der Mut des Mystikers, der den Zustand der Leere erfahren hat. Obgleich die Mystik in ihren extrem positiven wie in ihren extrem negativen Formen relativ selten ist, ist ihre Grundhaltung - das Streben nach einer Einung mit der letzten Wirklichkeit und der entsprechende Mut, Nichtsein und Endlichkeit auf sich zu nehmen - zur Lebensform großer Menschheitsgruppen geworden, die sie gestaltet hat. Aber Mystik ist mehr als ein besonderes Verhältnis zum Seinsgrund; sie ist ein Element in jedem derartigen Verhältnis. Da alles, was ist, an der Macht des Seins partizipiert, kann das Element der Identität, auf dem die Mystik beruht, in keiner religiösen Erfahrung fehlen. Es gibt keine Selbstbejahung eines endlichen Wesens und keinen Mut zum Sein, in denen nicht der Grund des Seins und seine Macht, das Nichtsein zu besiegen, wirksam wäre. Die mystische Erfahrung von der Gegenwart dieser Macht ist ein Element auch in der Ich-Du-Begegnung mit Gott. Die göttlich-menschliche Begegnung und der Mut zum Sein In der religiösen Erfahrung der personhaften Begegnung mit Gott herrscht der Pol der Individuation. Der Mut, der aus dieser Erfahrung erwächst, ist der Mut des Vertrauens auf die personhafte Wirklichkeit, die sich in der religiösen Erfahrung offenbart. Im Unterschied zur mystischen Einswerdung könnte man sagen, daß dieses Verhältnis eine persönliche Teilhabe an der Quelle des Mutes ist. Obgleich die beiden Typen im Gegensatz zueinander stehen, schließen sie einander nicht aus, denn sie sind durch die polare Beziehung zwischen Individuation und Partizipation miteinander verbunden. Man hat häufig, besonders im Protestantismus, den Mut des Vertrauens mit dem Mut des Glaubens identifiziert. Aber das ist nicht berechtigt, denn Vertrauen ist nur ein Element im Glauben; Glaube umfaßt beides, mystische Partizipation und persönliches Vertrauen. In den meisten Teilen der Bibel wird die religiöse Begegnung in ausgesprochen personalistischen Begriffen beschrieben. Der Biblizismus, besonders der der Reformatoren, tut das gleiche. Luther griff die objektiven, quantitativen und unper120

sönlidien Elemente im Katholizismus an. Er kämpfte für eine unmittelbare Idi-Du-Begegnung zwischen Gott und Mensch. Bei ihm erreidite der Mut des Vertrauens seine höchste Stufe in der Geschichte des christlichen Denkens. Alle Werke von Luther, besonders seine frühen, sind erfüllt von diesem Mut. Immer wieder findet sich in ihnen das Wort „trotz'. Trotz aller Negativitäten, die er erfahren hatte, trotz der Angst, die sein Zeitalter beherrschte, gewann er aus seinem unerschütterlichen Vertrauen auf Gott und aus der persönlichen Begegnung mit ihm den Mut zur Selbstbejahung. Die Negativitäten, die sein Mut besiegen mußte, sind - entsprechend den Ausdrucksformen der Angst in seiner Zeit - in den Figuren von Tod und Teufel symbolisiert. Man hat mit Recht gesagt, daß Dürers Holzschnitt „Ritter, Tod und Teufel" den Geist der lutherischen Reformation und - wie wir hinzufügen können den lutherischen Mut des Vertrauens, seine Form des Mutes zum Sein, in klassischer Form zum Ausdruck bringt: ein Ritter reitet in voller Rüstung durch einen Hohlweg, von der Gestalt des Todes und der des Teufels begleitet; aber er blickt furchtlos, gesammelt und vertrauensvoll geradeaus. Er ist allein, aber er ist nicht verlassen. In seiner Einsamkeit partizipiert er an der Macht, die ihm den Mut gibt, sich zu bejahen trotz der Negativitäten der Existenz. Sein Mut ist gewiß nicht der Mut, Teil eines Ganzen zu sein. Die Reformation hatte sich aus dem Halbkollektivismus des Mittelalters gelöst. Luthers Mut des Vertrauens wurzelt in einem persönlichen Vertrauen, das aus der Ich-DuBegegnung mit Gott gewonnen ist. Weder der Papst noch Konzilien konnten ihm dieses Vertrauen eingeben. Diese hatten sich auf eine Lehre verlassen, die den Mut des Vertrauens nicht aufkommen ließ, deshalb mußte Luther sie verwerfen. Sie sanktionierten ein System, in dem die Angst vor Tod und Schuld niemals völlig besiegt war. Sie gaben viele Zusicherungen, aber keine Gewißheit, viele Stützen für den Mut des Vertrauens, aber kein unbezweifelbares Fundament. Das Kollektiv bot verschiedene Wege dar, der Angst zu widerstehen, aber keinen Weg, auf dem das Individuum seine Angst auf sich nehmen konnte. Der Mensch hatte niemals Gewißheit, er konnte sein Sein niemals mit unbedingtem Vertrauen bejahen. Er konnte dem Unbedingten niemals direkt und mit seinem ganzen Sein in einer unmittelbaren persönlichen Begegnung gegenübertreten. Abgesehen von den mystischen Bewegungen war das Individuum auf die Vermittlung durch die Kirche angewiesen, auf eine indirekte und begrenzte Begegnung zwischen Gott und der Seele. Als die Reformation diese Vermittlung abschaffte und einen unmittelbaren, totalen und persönlichen Zugang zu Gott eröffnete, machte sie einen neuen, nichtmystischen Mut zum Sein möglich. Er tritt 121

in den heroischen Vertretern des kämpfenden Protestantismus zutage, in der calvinistisdien wie der lutherischen Reformation, aber am sichtbarsten im Calvinismus. Der Heroismus dieser Menschen besteht nicht darin, daß sie sich dem Märtyrertum aussetzen, den Autoritäten Widerstand leisten, die Struktur der Kirche und der Gesellschaft zu verändern suchen, sondern es ist der Mut des Vertrauens, der diese Männer zu Helden macht und die Grundlage für die anderen Formen ihres Mutes bildet. Man könnte sagen - und der liberale Protestantismus hat es o f t gesagt - , daß der Mut der Reformatoren der Beginn der individualistischen Form des Mutes, man selbst zu sein, ist. Aber in dieser Interpretation wird eine mögliche geschichtliche Wirkung mit der Sache selbst verwechselt. In dem Mut der Reformatoren ist der Mut, man selbst zu sein, zugleich bejaht und transzendiert. Im Gegensatz zu der mystischen Form der Selbstbejahung bejaht der protestantische Mut des Vertrauens das individuelle Selbst als individuelles Selbst in der Begegnung mit Gott als Person. Das unterscheidet den Personalismus der Reformation radikal von allen späteren Formen des Individualismus und des Existentialismus. Der Mut der Reformatoren ist nicht der Mut, man selbst zu sein, wie er auch nicht der Mut, Teil eines Ganzen zu sein, ist. Er transzendiert und vereint beide; denn der Mut des Vertrauens wurzelt nicht in dem Vertrauen auf sich selbst. Die Reformation verkündet das Gegenteil: Wir können Vertrauen in bezug auf unsere Existenz nur haben, wenn wir unser Vertrauen nicht mehr auf uns selber gründen. Aber der Mut des Vertrauens ist auch nicht auf etwas Endliches außer uns gegründet, nicht einmal auf die Kirche. Er gründet sich auf Gott und allein auf Gott, den wir in einer einmaligen und persönlichen Begegnung erfahren. Der Mut der Reformation transzendiert sowohl den Mut, Teil eines Ganzen zu sein, wie den Mut, man selbst zu sein. Er ist weder durch den Verlust unseres Selbst noch durch den Verlust unserer Welt bedroht.

Schuld und der Mut, sich zu bejahen als bejaht Im Mittelpunkt des protestantischen Mutes des Vertrauens steht der Mut, sich zu bejahen als bejaht trotz des Wissens um unsere Schuld. Luther selbst wie seine ganze Zeit erlebten die Angst vor allem als Angst vor Schuld und Verdammung. Der Mut, sich trotz dieser Angst zu bejahen, ist der Mut, den wir den Mut des Vertrauens genannt haben. Er wurzelt in der persönlichen, totalen und unmittelbaren Gewißheit von der göttlichen Vergebung. Der Glaube an die Vergebung ist in allen Formen des menschlichen Mutes zum Sein, sogar im Neokollektivismus, 122

vorhanden. Aber es gibt keine Interpretation der menschlichen Existenz, in der er so beherrschend ist wie im ursprünglichen Protestantismus, und es gibt in der Geschichte keine Bewegung, in der er ebenso tief und ebenso paradox ist. In Luthers Ausspruch, daß „der Ungerechte gerecht ist" (d. h. in der Sicht der göttlichen Vergebung), oder in moderner Terminologie, daß „der, der unannehmbar ist, angenommen wird", ist der Sieg über die Angst vor Schuld und Verdammung prägnant zum Ausdrude gebracht. Man könnte sagen: der Mut zum Sein ist der Mut, uns anzunehmen als angenommen trotz unserer Unannehmbarkeit. Die Theologen brauchen nicht daran erinnert zu werden, daß dies der echte Sinn der paulinisch-lutherischen Lehre von der „Rechtfertigung durch den Glauben" ist - einer Lehre, die in ihrer ursprünglichen Formulierung sogar Theologiestudenten unverständlich geworden ist. Aber Theologen und Seelsorger müssen darauf aufmerksam gemacht werden, daß die Psychotherapie in ihrem Kampf gegen die Angst vor der Schuld der Idee der „Annahme" das gleiche Gewicht beigelegt hat, das in der Reformationszeit Ausdrücke wie „Vergebung der Sünden" oder „Rechtfertigung durch den Glauben" besaßen. Annehmen, daß wir angenommen sind, obwohl wir unannehmbar sind, das ist die Grundlage für den Mut des Vertrauens. Entscheidend für diese Selbstbcjahung ist, daß sie von allen moralischen, intellektuellen oder religiösen Voraussetzungen unabhängig ist. Nicht die Guten, Weisen oder Frommen sind berechtigt zu dem Mut, anzunehmen, daß sie angenommen sind, sondern die, denen diese Eigenschaften fehlen und die sich dessen bewußt sind, daß sie unannehmbar sind. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie sich in ihrer Zufälligkeit annehmen. Es handelt sich nicht um eine Rechtfertigung unserer zufälligen Individualität. Dieser Mut darf nicht mit dem existentialistischen Mut, man selbst zu sein, verwechselt werden. Vielmehr ist die Annahme der paradoxe Akt, in dem wir von dem, was unser individuelles Selbst unendlich transzendiert, angenommen werden. In der Erfahrung der Reformatoren ist sie die Aufnahme des unannehmbaren Sünders in die richtende und verwandelnde Gemeinschaft mit Gott. Der Mut zum Sein ist der Mut, die Vergebung der Sünden anzunehmen, nicht als abstrakte Idee, sondern als fundamentale Erfahrung in unserer Begegnung mit Gott. Selbstbejahung trotz der Angst vor Schuld und Verdammung setzt Partizipation an etwas voraus, was das Selbst transzendiert. In der Gemeinschaft zwischen Heilendem und Krankem, z. B. in der psychoanalytischen Behandlung, partizipiert der Patient an der heilenden Kraft des Arztes, von dem er angenommen wird, obwohl er sich als unannehmbar empfindet. Der Heilende steht in diesem 123

Verhältnis nidit für sich selbst als Individuum, sondern er repräsentiert eine objektive Macht, die annimmt und bejaht. Diese Macht wirkt durch den Heilenden auf den Patienten. Allerdings muß diese Madit in einer Person verkörpert sein, die Schuld erkennen kann, die urteilen kann und die trotz des Urteils annehmen kann. Eine Annahme durch etwas, das weniger als persönlich wäre, könnte niemals die persönliche Selbstverwerfung überwinden. Eine Wand, der ich beichte, kann mir nidit vergeben. Selbstannahme ist nidit möglich ohne Annahme in einer IdiDu-Beziehung. Aber selbst wenn wir persönlich angenommen sind, bedürfen wir eines selbsttranszendierenden Mutes, um diese Annahme anzunehmen, wir bedürfen des Mutes des Vertrauens. Denn angenommen sein bedeutet nicht, daß die Sdiuld geleugnet ist. Der Heilende, der seinen Patienten davon zu überzeugen versuchte, daß er nicht wirklich schuldig ist, würde ihm einen außerordentlich schlechten Dienst erweisen. Er würde ihn daran hindern, seine Schuld in seine Selbstbejahung hineinzunehmen. Er kann ihm helfen, falsche neurotische Schuldgefühle in echte zu verwandeln, sie sozusagen auf den richtigen Gegenstand zu konzentrieren, aber er darf ihm nicht sagen, daß er ohne Schuld ist. Er nimmt den Patienten in die Gemeinschaft mit sich auf, ohne irgendetwas in ihm zu verdammen oder zu verdedien. An diesem Punkt jedoch transzendiert das religiöse Sich-Annehmen als angenommen das Heilen durch den Arzt. Die Religion fragt nach der letzten Quelle der Macht, die durch die Annahme des Unannehmbaren heilt; sie fragt nach Gott. Die Annahme durch Gott, seine Vergebung oder Rechtfertigung, ist die einzige und letzte Quelle des Mutes zum Sein, der die Angst vor Schuld und Verdammung in sidi hineinzunehmen vermag. Denn die letzte Macht der Selbstbejahung kann nur die Macht des Seins-Selbst sein. Alles, was weniger ist, die endliche Macht des eigenen Seins oder die eines anderen, kann nicht die radikale Drohung des Nichtseins überwinden, die wir in der Verzweiflung der Selbstverdammung erfahren. Aus diesem Grunde betont der Mut des Vertrauens, der in einem Manne wie Luther Ausdruck gefunden hat, unaufhörlich das ausschließliche Vertrauen auf Gott und verwirft alles andere als Fundament seines Mutes zum Sein, nidit nur weil es unzureichend ist, sondern weil es ihn in größere Schuld und tiefere Angst treibt. Die ungeheure Befreiung, die die Botschaft der Reformatoren den Menschen des 16. Jahrhunderts brachte, und ihr unbezwingbarer Mut, sich zu bejahen als bejaht, war der Lehre der sola fide zu verdanken, nämlich der Botschaft, daß der Mut des Vertrauens durch nichts Endliches bedingt ist, sondern allein durch das, was selbst unbedingt ist und was wir als Unbedingtes in einer Ich-Du-Begegnung erfahren. 124

Schicksal und der Mut, sich zu bejahen als bejaht Wie die symbolischen Figuren von Tod und Teufel zeigen, war die Angst dieses Zeitalters nicht auf die Angst vor der Schuld beschränkt; es kannte auch die Angst vor Tod und Schicksal. Die astrologischen Vorstellungen der Spätantike, die die Renaissance neu belebt hatte, beeinflußten sogar die Humanisten, die sich der Reformation anschlössen. Wir haben bereits auf den neostoischen Mut hingewiesen, der in Renaissancebildern zum Ausdruck kommt, auf denen der Mensch gezeigt wird, der das Schiff seines Lebens lenkt, obgleich es von den Winden des Schicksals getrieben wird. Luther begegnete der Angst vor dem Schicksal auf einer anderen Ebene. Für ihn war die Angst vor dem Schicksal mit der Angst vor der Schuld verbunden. Es ist das unruhige Gewissen, das die irrationale Furcht im täglichen Leben verursacht. Wen Schuldgefühle quälen, der erschrickt beim Rascheln des trockenen Laubes. Deshalb ist die Oberwindung der Angst vor der Schuld zugleich die Überwindung der Angst vor dem Schicksal. Der Mut des Vertrauens nimmt die Angst vor dem Schicksal ebenso in sich hinein wie die Angst vor der Schuld. Er sagt sein „Trotzdem" zu beiden. Das ist der ursprüngliche Sinn der Lehre von der Vorsehung. Vorsehung ist keine Theorie über gewisse Handlungen Gottes, sondern das religiöse Symbol für den Mut des Vertrauens in bezug auf Schicksal und Tod; denn der Mut des Vertrauens sagt „Trotzdem" selbst zum Tode. Wie Paulus wußte Luther, daß die Angst vor der Schuld mit der Angst vor dem Tode verbunden ist. Nach dem Stoizismus und dem Neostoizismus ist das essentielle Selbst nicht vom Tode bedroht, denn es gehört zum Sein-Selbst und transzendiert das Nichtsein. Sokrates, der in der Macht seines essentiellen Seins die Angst vor dem Tode besiegte, ist zum Symbol für den Mut geworden, der den Tod auf sich nimmt. Das ist der wahre Sinn, von Piatos Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. Wenn wir diese Lehre diskutieren, sollten wir die Beweise für die Unsterblichkeit übergehen, selbst diejenigen in Piatos „Phaidon", und uns auf das Bild des sterbenden Sokrates konzentrieren. Diese Beweise, die von Plato selbst skeptisdi behandelt werden, sind Versuche, den Mut des Sokrates zu erklären, den Mut, den Tod in die Selbstbejahung aufzunehmen. Sokrates weiß, daß das Selbst, das der Scharfrichter vernichtet, nicht das gleiche Selbst ist, das sidi in seinem Mut zum Sein bejaht. Er sagt nicht viel aus über das Verhältnis der beiden Selbste; er kann es nidit, denn es sind nicht zahlenmäßig zwei verschiedene Selbste, sondern ein und dasselbe Selbst, unter zwei verschiedenen Aspekten gesehen. Aber er macht klar, daß der Mut zum 125

Sterben der Prüfstein für den Mut zum Sein ist. Eine Selbstbejahung, die die Bejahung des Todes nicht in sich hineinzunehmen vermag, beweist damit, daß sie nicht fähig ist, dem Nichtsein in seiner radikalen Form zu begegnen. Der gewöhnliche Unsterblichkeitsglaube, der in der abendländischen Welt das christliche Symbol der Auferstehung weitgehend ersetzt hat, ist eine Mischung aus Mut und Flucht. Er versucht, die Selbstbejahung aufrechtzuerhalten, selbst angesidits des Todes. Aber er tut es, indem er die Endlichkeit, und das heißt den schließlichen Tod, ins Unendliche hinausgeschoben denkt, so daß der tatsächliche Tod niemals eintritt. Das ist jedoch eine Illusion und, logisch ausgedrückt, ein Widerspruch in sich selbst. Was ex definitione zu einem Ende kommen muß, wird als endlos gedacht. Angesichts des Todes ist „die Unsterblichkeit der Seele" ein armseliges Symbol für den Mut zum Sein. Der Mut des Sokrates fußte nach Plato nicht auf der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, sondern auf der Bejahung seines Selbst in seinem essentiellen unzerstörbaren Sein. Er weiß, daß er zwei Ordnungen der Wirklichkeit angehört und daß die eine der beiden Ordnungen eine überzeitliche ist. Der Mut des Sokrates offenbart deutlicher als irgendeine philosophische Überlegung der antiken Welt, daß jeder Mensch einer zeitlichen und einer ewigen Ordnung angehört. Aber der sokratische (stoische und neostoische) Mut hatte eine Voraussetzung, nämlich die Fähigkeit des Individuums, an beiden Ordnungen zu partizipieren, der ewigen wie der zeitlichen. Diese Voraussetzung erkennt das Christentum nicht an. Nach seiner Lehre sind wir von unserem essentiellen Sein entfremdet; wir sind nicht frei, unser essentielles Sein zu verwirklichen, wir sind gezwungen, ihm zu widersprechen. Deshalb kann der Tod nur in dem Mut des Vertrauens, in dem der Tod aufgehört hat, der „Sünde Sold" zu sein, hingenommen werden. Das aber ist der Zustand unseres Angenommenseins trotz unserer Unannehmbarkeit. In dieser Hinsicht hat das Christentum die antike Welt verwandelt, und Luthers Mut, dem Tod ins Auge zu sehen, hat hier seine Wurzel. Diesem Mut liegt nicht die fragwürdige Theorie der Unsterblichkeit zugrunde, sondern das Bewußtsein, in die Gemeinschaft mit Gott aufgenommen zu sein. Die Begegnung mit Gott ist für Luther nicht nur die Grundlage des Mutes, sich trotz Sünde und Schuld zu bejahen, sondern sie ist auch die Quelle der Selbstbejahung trotz Schicksal und Tod. Denn Gott begegnen heißt, der Quelle der Gnade begegnen, die annimmt, was unannehmbar ist, und an der Ewigkeit teilhaben läßt, was der Zeit angehört. Luther durchlebte in dem, was er Anfechtungen nannte, die Drohun126

gen vollkommener Sinnlosigkeit. Alles wurde ihm in diesen Augenblicken fragwürdig: sein christlicher Glaube, das Vertrauen in sein Werk, die Reformation, die Vergebung seiner Sünden. Alles brach in diesen Augenblicken der Verzweiflung zusammen, und vom Mut zum Sein war nichts mehr übrig. In diesen Erfahrungen und in den Beschreibungen, die er von ihnen gibt, nahm Luther voraus, was der Existentialismus später beschrieben hat. Aber für Luther war dies nicht das Endgültige; das Endgültige für ihn war das erste Gebot, die Aussage, daß Gott Gott ist. Es gemahnte ihn an das unbedingte Element in der menschlidien Erfahrung, das uns selbst im Abgrund der Sinnlosigkeit bewußt sein kann. Und dieses Bewußtsein rettete ihn. Wir sollten nicht vergessen, daß der große Gegner Luthers, der Wiedertäufer und religiöse Sozialist Thomas Münzer, ähnliche Erfahrungen beschreibt. Er spricht von einem letzten Stadium, in dem alles Endliche seine Endlichkeit offenbart, in dem das Endliche an sein Ende gelangt ist, in dem die Angst unser Herz ergreift und alle vorläufigen Sinngehalte zusammengebrochen sind. Gerade aus diesem Grunde kann sich uns in diesem Stadium der göttliche Geist offenbaren und kann unseren Zustand in Mut zum Sein verwandeln, der in der revolutionären Tat Ausdruck findet. Während Luther den kirchlichen Protestantismus vertritt, vertritt Münzer den evangelischen Radikalismus. Beide Männer haben die Geschichte beeinflußt, und Amerika ist sogar von den Ideen, die Münzer vertrat, stärker beeinflußt worden als von Luther. Beide Männer erlebten die Angst vor der Sinnlosigkeit und beschrieben sie in Ausdrucksformen, die der christlichen Mystik entstammen, aber indem sie das taten, transzendierten sie den Mut des Vertrauens, der zur persönlichen Begegnung mit Gott gehört. Sie mußten Elemente aus der mystischen Form des Mutes zum Sein aufnehmen. Dies führt zu der letzten Frage, nämlich der, ob die zwei Typen des Mutes, sich zu bejahen als bejaht, vereinigt und in ihrer Isolierung transzendiert werden können. Die Antwort auf diese Frage ist entscheidend für unser Zeitalter, für das die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit charakteristisch ist. Der absolute Glaube und der Mut zum Sein Wir haben das Wort „Glaube" in der Beschreibung sowohl der mystisch wie der personalistisch gefärbten Teilnahme an dem Grund des Seins vermieden. Das war zum Teil in der Tatsache begründet, daß das Wort „Glaube" wie kaum ein anderes Wort der religiösen Sprache verfälscht ist und den Sinn angenommen hat: „Unglaubhaftes glauben". Aber neben diesem mehr äußerlichen Grund hat uns noch etwas Widi127

tigeres zu der Vermeidung des Wortes geführt: keiner der beiden Typen des religiös begründeten Mutes zum Sein erfüllt den Sinn von „Glauben" vollständig. Sicherlich ist in der mystischen Erhebung des Endlichen zum Unendlichen Glaube wirksam. Und sicherlidi ist die vertrauensvolle Begegnung der Person mit dem persönlichen Gott eine Sache des Glaubens. Aber im Begriff des Glaubens ist nodi mehr enthalten. Glaube ist Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht, dem Grund unseres Seins und Sinns. Der Mut zum Sein ist ein Ausdruck des Glaubens, und was Glaube ist, muß verstanden werden vom Mut zum Sein aus. Mut ist Selbstbejahung des Seienden trotz der immer gegenwärtigen Drohung des Nichtseins. In jedem Akt des Mutes zum Sein ist die Selbstbejahung des Seins-Selbst in einem Seienden wirksam. Glaube ist die Erfahrung der Macht des Seins-Selbst, die einem Seienden den Mut zum Sein gibt. Diese Erfahrung hat paradoxen Charakter, sie ist die Bejahung dessen, daß man bejaht ist, und die Selbstbejahung auf Grund dieser Bejahung. Der Grund des Seins transzendiert das endliche Sein unendlich. Gott transzendiert den Menschen unbedingt. In der Paradoxie des Glaubens wird diese Kluft überbrückt. Der Glaube sagt „ja", weil er „trotzdem" sagen kann; und in dem „trotzdem" des Glaubens ist das „trotzdem" des Mutes zum Sein geboren. Der Glaube ist nicht die theoretisdie Annahme von etwas, das erkenntnismäßig zweifelhaft ist, sondern er ist die existentielle Bejahung von etwas, das alle gegenständliche Erfahrung transzendiert. Er ist keine Meinung, sondern ein Zustand. Glaube ist der Zustand des Ergriffenseins von der Macht des Seins-Selbst, die alles transzendiert und an der alles partizipiert. Wer von dieser Macht ergriffen ist, kann sich bejahen, weil er weiß, daß er bejaht ist. Das ist der Punkt, in dem der mystisch und der personal begründete Mut zum Sein eins sind. Das ist entscheidend für ein Zeitalter wie das unsrige, in dem die Angst vor Zweifel und Sinnlosigkeit herrscht. Gewiß fehlt unserer Zeit auch die Angst vor Schicksal und Tod nicht. Die Angst vor dem Schicksal ist in dem Maße gewachsen, in dem die schizophrene Spaltung unserer Welt die letzten Reste einer ehemaligen Sicherheit zerstört hat. Auch die Angst vor Schuld und Verdammung fehlt nicht. Es ist überraschend, welch ein Maß von Schuldangst in psychoanalytischer und persönlicher Beratung zutage kommt. Jahrhunderte von puritanischen und bürgerlichen Verdrängungen vitaler Triebe haben fast ebensoviel Schuldgefühl verursacht wie im Mittelalter die Drohung mit Hölle und Fegefeuer. Aber trotz dieser Einschränkungen muß man sagen, daß die Angst, die unsere Zeit charakterisiert, die Angst des Zweifels, die Angst vor 128

Leere und Sinnlosigkeit ist. Wir fürchten, den Sinn unserer Existenz verloren zu haben oder ihn verlieren zu müssen. In dem Existentialismus der Gegenwart kommt diese Situation zum Ausdruck. Welcher Mut ist imstande, das Nichtsein in Form des Zweifels und der Sinnlosigkeit in sich aufzunehmen? Das ist die wichtigste und beunruhigendste Frage in der Suche nach dem Mut zum Sein; denn die Angst vor der Sinnlosigkeit untergräbt das, was durdi die Angst vor Schicksal und Tod und die Angst vor Schuld und Verdammung noch nicht erschüttert worden ist. In der Angst vor Schuld und Verdammung hat der Zweifel noch nicht die Gewißheit einer letzten Verantwortung untergraben. Wir sind bedroht, aber noch nicht vernichtet. Wenn jedoch Zweifel und Sinnlosigkeit herrschen, stehen wir an dem Abgrund, in dem der Sinn des Lebens und die Wahrheit einer letzten Verantwortung untergehen. Sowohl der Stoiker, der die Angst vor dem Schicksal durch den sokratischen Mut der Weisheit überwindet, wie der Christ, der die Angst vor der Schuld durch den protestantischen Mut, mit dem er die Vergebung annimmt, überwindet, befinden sich in einer anderen Lage. Sogar in der Verzweiflung der Todesangst und der Selbstverdammung ist ein Sinn bejaht und eine Gewißheit erhalten. Aber in der Verzweiflung des Zweifels und der Sinnlosigkeit werden beide vom Nichtsein verschlungen. Die Frage ist also: Gibt es einen Mut, der die Angst vor der Sinnlosigkeit und den Zweifel besiegen kann? Oder mit anderen Worten: Kann der Glaube, der bejaht, daß man bejaht ist, der Macht des Nichtseins in seiner radikalsten Form Widerstand leisten? Gibt es einen Glauben, der angesichts von Zweifel und Sinnlosigkeit bestehen kann? Diese Fragen führen zu dem letzten und aktuellsten Aspekt unseres Problems, nämlich zu der Frage: Wie ist Mut zum Sein möglich, wenn alle Wege zu ihm durch die Erfahrung ihrer Unzulänglichkeit verschlossen sind? Wenn das Leben so sinnlos wie der Tod ist und die Vollkommenheit so fragwürdig wie die Schuld, wenn das Sein nicht sinnvoller als das Nichtsein ist, worauf kann sich dann der Mut zum Sein gründen? Einige Existentialisten neigen dazu, diese Fragen durch einen Sprung aus dem Zweifel in die dogmatische Gewißheit zu beantworten. Sie fliehen aus der Sinnlosigkeit in ein System von Symbolen, in denen sich der Geist einer kirchlichen oder politischen Gruppe verkörpert. Dieser Sprung kann auf verschiedene Weisen erklärt werden. Er kann Ausdruck eines Verlangens nach Sicherheit sein; er kann so willkürlich sein, wie nach existentialistischen Auffassungen jede Entscheidung ist; in ihm kann sidi die Empfindung ausdrücken, daß die christliche Botschaft die 129

Antwort auf die Fragen enthält, die mit der menschlichen Existenz gegeben sind; er kann eine echte Bekehrung bedeuten, die unabhängig von der prinzipiellen Situation ist - auf jeden Fall ist er keine Lösung für das Problem des radikalen Zweifels. Er verleiht den Bekehrten zwar Mut zum Sein, aber er beantwortet die Frage nicht, wie ein solcher Mut überhaupt möglidi ist. Die Antwort muß den Zustand der Sinnlosigkeit als gegeben voraussetzen; sie ist keine Antwort, wenn sie die Aufhebung dieses Zustandes verlangt, denn gerade das kann nicht gestehen. Wer von Zweifel und Sinnlosigkeit überwältigt ist, kann sich nicht von ihnen befreien; er verlangt nadi einer Antwort, die innerhalb dieser Situation gültig ist und nicht außerhalb liegt. Er fragt nach dem letzten Fundament für das, was wir den „Mut der Verzweiflung" genannt haben. Wenn man nicht versucht, dieser Frage auszuweichen, gibt es nur eine Antwort, nämlich die, daß der Mut, der Verzweiflung standzuhalten, selber Glaube ist und Mut zum Sein gleichsam an seiner äußersten Grenze ausdrückt. In dieser Situation ist der Sinn des Lebens auf den Zweifel an dem Sinn des Lebens reduziert. Aber da dieser Zwei-, fei selbst ein Akt des Lebens ist, ist er etwas Positives trotz seines negativen Inhalts. Zynisch gesprochen könnte man sagen, daß es der Wahrheit des Lebens entspricht, ihm zynisch zu begegnen. In religiöser Sprache würde man sagen, daß man sich bejaht als bejaht trotz des Zweifels an dem Sinn einer solchen Bejahung. Das Paradoxe in jeder radikalen Negation ist, daß sie sich als lebendigen Akt bejahen muß, um imstande zu sein, radikal zu verneinen. Es gibt in jeder Verzweiflung ein Element verborgener Lust, das von dem Paradox der Verzweiflung Zeugnis ablegt. Das Negative lebt von dem Positiven, das es negiert. Der Glaube, der den Mut der Verzweiflung möglich macht, ist das Ergriffensein von der Macht des Seins trotz der überwältigenden Erfafirung des Nichtseins. Selbst in den Augenblicken, in denen wir am Sinn verzweifeln, bejaht sich der Sinn durch uns. Der Akt, in dem wir Sinnlosigkeit auf uns nehmen, ist ein sinnvoller Akt: er ist ein Akt des Glaubens. Wir haben gesehen, daß, wer den Mut hat, sich trotz Sdiicksal und Schuld zu bejahen, Schicksal und Schuld nicht aufgehoben hat. Er bleibt von ihnen bedroht und wird von ihnen getroffen. Aber er bejaht, daß er bejaht ist in der Macht des Seins-Selbst, an der er teilhat und die ihm den Mut gibt, die Angst vor Schicksal und Sdiuld auf sich zu nehmen. Das gleiche gilt von Zweifel und Sinnlosigkeit. Der Glaube, der den Mut erzeugt, sie in sich hineinzunehmen, hat keinen besonderen Inhalt. Er ist einfach Glaube - ohne auf etwas Bestimmtes gerichtet zu sein, absoluter Glaube. Er ist undefinierbar, da alles Definierte durdi Zweifel und Sinnlosigkeit aufgelöst ist. Trotzdem ist absoluter Glaube 130

nicht eine Entladung subjektiver Gefühle oder eine Stimmung ohne objektives Fundament. Eine Analyse des Wesens des absoluten Glaubens deckt die folgenden Elemente in ihm auf: als erstes die Erfahrung von der Macht des Seins, die selbst angesichts der radikalen Manifestation des Nichtseins vorhanden ist. Wenn man sagt, daß in dieser Erfahrung die Vitalität der Verzweiflung widersteht, muß man hinzufügen, daß die Vitalität des Menschen seiner Intentionalität entspricht. Die Vitalität, die dem Abgrund der Sinnlosigkeit standhalten kann, ist sich eines verborgenen Sinnes selbst in der Zerstörung bewußt. Das zweite Element im absoluten Glauben ist, daß die Erfahrung des Nichtseins von der Erfahrung des Seins abhängt und die Erfahrung der Sinnlosigkeit von der Erfahrung des Sinnes. Selbst im Zustand der Verzweiflung am Sinn des Seins ist es die Macht des Seins, die die Verzweiflung möglich macht. Das dritte Element des absoluten Glaubens ist die Erfahrung des Bejahtseins. Sie schwingt durch den Zustand der Sinnlosigkeit hindurch, auch wenn sie nicht als solche erkannt wird. Es ist der Sinn der religiösen Antwort, dieses Element des Bejahtseins ausdrücklich zum Gegenstand zu machen. Wo das geschieht, ist der absolute Glaube seiner selbst bewußt geworden. Er weiß um sich als einen Glauben, der durch den Zweifel jeden konkreten Inhalt verloren hat, aber trotzdem Glaube ist und die Quelle der höchst paradoxen Manifestation des Mutes zum Sein. Dieser Glaube transzendiert sowohl die mystische Erfahrung wie die göttlich-menschliche Begegnung. Die mystische Erfahrung scheint dem absoluten Glauben näher zu sein, ist es aber nicht. Der absolute Glaube schließt ein Element der Skepsis ein, das in der mystischen Erfahrung nicht vorhanden ist. Zwar transzendiert auch die Mystik alle besonderen Inhalte, aber nicht, weil sie diese bezweifelt oder sinnlos gefunden hat, sondern weil sie sie als vorläufige betrachtet. Die Mystik verwendet die besonderen Inhalte als Stufen, über die sie hinwegsdireitet, nachdem sie sich auf ihnen emporgehoben hat. Die Erfahrung der Sinnlosigkeit jedoch leugnet diese Inhalte, ohne sie sidi nutzbar gemacht zu haben. Die Erfahrung der Sinnlosigkeit ist radikaler als die Mystik; deshalb transzendiert sie die mystische Erfahrung. Der absolute Glaube transzendiert auch die göttlich-menschliche Begegnung. In dieser Begegnung herrscht das Subjekt-Objekt-Schema: ein bestimmtes Subjekt (der Mensch) begegnet einem bestimmten Objekt (Gott). Man kann diese Behauptung umkehren und sagen, daß ein bestimmtes Subjekt (Gott) einem bestimmten Objekt (dem Menschen) begegnet. Aber der Zweifel untergräbt in beiden Fällen die Subjekt131

Objekt-Struktur. Die Theologen, die so überzeugt und selbstsicher von der göttlich-menschlichen Begegnung sprechen, sollten bedenken, daß es eine Situation gibt, in der diese Begegnung durch radikalen Zweifel verhindert wird und nichts bleibt als der absolute Glaube. Einer solchen Situation religiöse Gültigkeit zuzuerkennen, führt jedoch dazu, daß die konkreten Inhalte des gewöhnlichen Glaubens der Kritik und der Verwandlung unterworfen werden müssen. Der Mut zum Sein in seiner radikalen Form ist der Schlüssel zu einer Gottesidee, die beide transzendiert, die Mystik wie die göttlich-menschliche Begegnung.

D E R M U T ZUM SEIN ALS SCHLÜSSEL ZUM SEIN-SELBST

Das Nichtsein erschließt das Sein

Der Mut zum Sein in allen seinen Formen hat in sich selbst offenbarenden Charakter. Er zeigt das Wesen des Seins, er zeigt, daß die Selbstbejahung des Seins eine Bejahung ist, die die Negation überwindet. Metaphorisch - und jede Aussage über das Sein ist entweder metaphorisch oder symbolisch - könnte man sagen, daß Sein Nichtsein einschließt, aber daß das Nichtsein dem Sein gegenüber machtlos ist. »Einschließen" ist eine räumliche Metapher, die anzeigt, daß das Sein sich und das, was ihm entgegensteht, das Nichtsein, umfaßt. Nichtsein gehört zum Sein, es kann nicht von ihm getrennt werden. Wir können das Sein nicht denken ohne eine doppelte Negation: Sein muß als Negation der Negation des Seins gedacht werden. Aus diesem Grund beschreiben wir das Sein am besten durch die Metapher „Seinsmächtigkeit". „Mächtigkeit" ist die Möglichkeit eines Seienden, sich gegen den Widerstand anderer Seiender und gegen sein eigenes teilweises Nichtsein zu realisieren. Wenn wir nun - symbolisch - von der Macht des Seins-Selbst sprechen, so sagen wir damit, daß das Sein-Selbst sich gegen und durch das Nichtsein bejaht. Wir haben uns auf die dynamische Interpretation des Seins durch die Lebensphilosophen berufen. Das Sein kann aber nur dann als dynamisch verstanden werden, wenn das Nichtsein zu ihm gehört. Nur dann kann es der Grund von endlich Seiendem sein. Ohne das Nichtsein wäre die Selbstbejahung des Seins noch nicht Selbstbejahung, sondern unveränderliche Selbst-Identität. Nichts wäre manifest, nichts wäre zum Ausdruck gebracht, nichts wäre offenbar. Aber das Nichtsein treibt das Sein aus seiner Abschließung, es zwingt es, sich selbst dynamisch zu bejahen. Die Philosophie hat immer von der dynamischen Selbstbejahung des Seins-Selbst gesprochen, wenn sie dialektisch 132

gesprochen hat, vor allem im Neuplatonismus, bei Hegel und den Lebens- und Prozeßphilosophen. Die Theologie hat das gleiche getan, sobald sie die Idee des lebendigen Gottes ernst genommen hat, am deutlichsten in der Trinitätslehre, in der sie das innere Leben Gottes symbolisierte. Spinoza vereint trotz seines statischen Substanz-Begriffes (seine Bezeichnung für die letzte Seinsmadit) philosophische und mystische Tendenzen, wenn er von der Liebe und dem Wissen spricht, in denen Gott sich selbst liebt und erkennt durch die Liebe und das Wissen endlicher Wesen. Das Nichtsein (dasjenige in Gott, das seine Selbstbejahung dynamisch macht) läßt Gott aus seiner Selbstabschließung herausgehen und zeigt ihn als Macht und Liebe. Das Nichtsein macht Gott zum lebendigen Gott. Ohne das Nein, das er in sich und in seinem Geschöpf überwinden muß, wäre das göttliche Ja zu sich selbst tot. Es gäbe keine Offenbarung des Seinsgrundes, es gäbe kein Leben. Aber wo es Nichtsein gibt, gibt es Endlichkeit und Angst. Wenn wir sagen, daß Nichtsein zum Sein-Selbst gehört, sagen wir, daß Endlichkeit und Angst zum Sein-Selbst gehören. Wenn immer Philosophen oder Theologen von der göttlichen Seligkeit gesprochen haben, haben sie implizit (und zuweilen explizit) von der Angst der Endlichkeit gesprochen, die auf ewig in die Seligkeit der göttlichen Unendlichkeit hineingenommen ist. Das Unendliche umfaßt sich selbst und! das Endliche; das Ja schließt sich selbst und das Nein ein, das es in sich hineinnimmt; die Seligkeit enthält sich selbst und die Angst, deren Überwindung sie ist. All dies ist gemeint, wenn man sagt, daß das Sein das Nichtsein einschließt und daß das Sein sich durch das Nichtsein offenbart. Es ist eine symbolische Sprache, die wir hier verwenden. Aber ihr Symbolcharakter tut ihrer Wahrheit keinen Abtrag, im Gegenteil, er ist eine Bedingung ihrer Wahrheit. Unsymbolisch über das Sein-Selbst zu sprechen, wäre unwahr. Die göttliche Selbstbejahung ist die Macht, die die Selbstbejahung des endlichen Seins, den Mut zum Sein, möglich macht. Nur weil das Sein-Selbst den Charakter der Selbstbejahung trotz des Nichtseins hat, ist Mut möglich. Der Mut partizipiert an der Selbstbejahung des SeinsSelbst, er partizipiert an der Macht des Seins, die sich gegen das Nichtsein behauptet. Wer diese Macht in einem Akt des mystischen oder des persönlichen oder des absoluten Glaubens empfängt, ist sich der Quelle seines Mutes zum Sein bewußt. Der Mensch ist sich ihrer nicht immer bewußt; im Zustand des Zynismus und der Indifferenz ist er es nicht. Aber er lebt aus ihr in jedem Akt des Mutes zum Sein. In ihm wird die Seinsmächtigkeit in uns wirksam, ob wir uns dessen bewußt sind oder nicht. Jeder Akt des Mutes ist eine 133

Manifestation des Seinsgrundes, wie fragwürdig der Inhalt des Aktes auch sein mag. Der Inhalt kann das wahre Sein verbergen oder verzerren, der Mut in ihm offenbart es. Die wahre Natur des Seins wird nidit durch Beweise offenbart, sondern durch den Mut zum Sein. Dadurch daß wir unser Sein bejahen, partizipieren wir an der Selbstbejahung des Seins-Selbst. Es gibt keine stichhaltigen Beweise für die „Existenz" Gottes, aber es gibt Akte des Mutes, in denen wir die Macht des Seins bejahen, ob wir es wissen oder nicht. Wissen wir es, so bejahen wir bewußt, daß wir bejaht sind. Wissen wir es nicht, so bejahen wir es nichtsdestoweniger und partizipieren so an der Macht des Seins. Und in unserer Bejahung dessen, wovon wir nicht wissen, ist die Macht des Seins in uns wirksam. Der Mut hat offenbarende Kraft, der Mut zum Sein ist der Schlüssel zum Sein-Selbst. Die Überwindutig des Theismus Der Mut, die Sinnlosigkeit in sich hineinzunehmen, setzt eine Beziehung zum Seinsgrund voraus, die wir „absoluten Glauben" genannt haben. Er ist ohne spezifischen Inhalt, aber er ist nicht ohne Inhalt. Der Inhalt des absoluten Glaubens ist der „Gott über Gott". Der absolute Glaube und das, was aus ihm entspringt: der Mut, der den radikalen Zweifel, den Zweifel an Gott, in sich hineinnimmt, transzendieren die theistisdie Gottesidee. Theismus kann die nicht-spezifizierte Bejahung Gottes bedeuten. In diesem Sinne sagt er nicht aus, was er unter dem Namen Gottes versteht. Wegen der traditionellen und psychologischen Assoziationen, die mit dem Namen „Gott" verbunden sind, kann ein solch leerer Theismus in ehrfürchtige Stimmung versetzen, wenn er von Gott spricht. Politiker, Diktatoren und andere, die ihre Zuhörer mit rhetorischen Mitteln zu beeinflussen suchen, gebrauchen das Wort Gott gern in diesem Sinne. Es erzeugt bei den Zuhörern das Gefühl, daß der Redner es ernst meint und moralisch vertrauenswürdig ist. Diesen Erfolg hat der Redner besonders, wenn er seine Gegner als Atheisten brandmarken kann. Auf einer höheren Stufe des Theismus gibt es Menschen ohne eine bestimmte religiöse Bindung, die sich gern als Theisten bezeichnen, nidit aus praktischen Gründen, sondern weil sie eine Welt ohne Gott, was audi dieser Gott sein mag, nicht ertragen können. Sie haften an einigen Vorstellungen, die mit dem Wort Gott verbunden sind, und sie sdirecken vor dem, was sie Atheismus nennen, zurück. Auf der hödisten Stufe dieser Art von Theismus wird der Name Gottes als poetisches oder praktisches Symbol gebraucht, in dem sich ein tiefes emotionales Erlebnis oder eine höchste 134

sittliche Idee ausdrückt. Es ist ein Theismus, der auf der Grenze zwischen dem zweiten T y p des Theismus u n d dem, was wir „transzendierten Theismus" nennen, steht. Aber er ist noch zu unbestimmt, um diese Grenze überschreiten zu können. - Die atheistische Verneinung dieses Theismus ist so unbestimmt wie der Theismus selbst. Sie kann E h r furchtlosigkeit erzeugen und eine ärgerliche Reaktion von Seiten derjenigen, die ihre theistische Bejahung ernst nehmen. D e r Atheismus k a n n sogar als gerechtfertigt e m p f u n d e n werden angesichts des rhetorisch-politischen Mißbrauchs des Gottesnamens; aber er ist im G r u n d e so belanglos wie der Theismus, den er verneint. Er kann ebensowenig z u r letzten Verzweiflung durchdringen, wie der Theismus, den er bek ä m p f t , zum letzten Glauben durchdringen k a n n . Theismus kann noch eine andere Bedeutung haben, die im Gegensatz zu der ersten steht: er kann die Bezeichnung f ü r das sein, was wir die göttlich-menschliche Begegnung genannt haben. In diesem Fall weist er auf die Elemente der jüdisch-christlichen Tradition hin, die das Ich-DuVerhältnis zu G o t t betonen. Diese Form des Theismus b e r u f t sich auf die personalistischen Aussagen in der Bibel und in den protestantischen Bekenntnissen, auf das personalistische Gottesbild, auf das Wort als das Werkzeug der Schöpfung und der Offenbarung, auf den ethischen u n d sozialen C h a r a k t e r des Reiches Gottes, auf den persönlichen C h a r a k t e r des menschlichen Glaubens und der göttlichen Vergebung, auf die geschichtliche Sicht des Universums, auf die Idee eines göttlichen Zweckes, auf die unendliche Distanz zwischen Schöpfer u n d Geschöpf, auf die absolute T r e n n u n g zwischen G o t t u n d Welt, auf den Konflikt zwischen dem heiligen G o t t u n d dem sündigen Menschen, auf den persönlichen C h a r a k t e r von Gebet u n d Andacht. Theismus in diesem Sinne ist die nicht-mystische Seite der biblisdien Religion und des geschichtlichen Christentums. Atheismus, vom S t a n d p u n k t dieses Theismus gesehen, ist der menschliche Versuch, der göttlich-menschlichen Begegnung zu entgehen. E r stellt ein existentielles und kein theoretisches Problem dar. Theismus h a t eine dritte, rein theologische Bedeutung. Der theologische Theismus ist wie jede Theologie von der religiösen Substanz abhängig, die er in Begriffe f a ß t . Er ist von dem Theismus in der ersten Bedeutung des Wortes abhängig, insofern er die Notwendigkeit, G o t t auf irgendeine Weise zu bejahen, zu beweisen sucht; er vertritt gewöhnlich die sogenannten Beweise f ü r die „Existenz" Gottes. Aber er ist noch mehr von dem Theismus in der zweiten Bedeutung des Wortes a b h ä n gig, insofern er eine Lehre von G o t t aufzustellen sucht, in der die IchDu-Begegnung mit G o t t in eine Lehre über zwei Personen verwandelt 135

ist, die sich begegnen oder audi nicht begegnen können und von denen jede eine Realität besitzt, die unabhängig von der anderen ist. Der Theismus in der ersten Bedeutung des Wortes muß transzendiert werden, weil er belanglos ist; der Theismus in der zweiten Bedeutung muß transzendiert werden, weil er einseitig ist; der Theismus in der dritten Bedeutung muß transzendiert werden, weil er falsch ist. Er ist schlechte Theologie. Das kann durch eine eingehendere Analyse gezeigt werden. Der Gott des theologischen Theismus ist ein Wesen neben anderen und als solches ein Teil der gesamten Wirklichkeit. Er wird zwar als deren wichtigster Teil betrachtet, aber doch als ein Teil und deshalb als der Struktur der Wirklichkeit unterworfen. Es wird zwar behauptet, daß er jenseits der ontologisdien Elemente und Kategorien sei, die die Wirklichkeit konstituieren. Aber jede Behauptung über ihn unterwirft ihn diesen. Er wird als ein Selbst betrachtet, das eine Welt hat, als ein Ich, das auf ein Du bezogen ist, als eine Ursache, die von ihrer Wirkung getrennt ist, als ein Sein, das einen bestimmten Raum und eine endlose Zeit hat. Er ist ein Sein, nicht das Sein-Selbst, und als solches ist er an die Subjekt-Objekt-Struktur der Wirklichkeit gebunden. Er ist ein Objekt für uns als Subjekte, zugleich sind wir Objekte für ihn als Subjekt. Und das ist der entscheidende Grund, warum der theologische Theismus transzendiert werden muß. Denn Gott als Subjekt macht mich zu einem Objekt, das nichts als Objekt ist. Er beraubt mich meiner Subjektivität, weil er allmächtig und allwissend ist. Dagegen wehre ich mich und versuche, ihn zu einem Objekt zu machen, aber es mißlingt mir, und ich ende in Verzweiflung. Gott erscheint als der unbesiegbare Tyrann, das Wesen, dem gegenüber alle anderen Wesen ohne Freiheit und Subjektivität sind. Er erscheint uns wie die Tyrannen unserer Zeit, die mit Hilfe des Terrors Menschen in bloße Objekte zu verwandeln sudien, in Dinge unter Dingen, in Räddien einer Maschine, die sie dirigieren. Er wird zum Muster alles dessen, wogegen der Existentialismus revoltiert. Er ist der Gott, von dem Nietzsche den Mörder Gottes sagen läßt, daß er getötet werden mußte, weil niemand ertragen kann, zu einem bloßen Objekt absoluten Wissens und absoluter Beherrschung gemacht zu werden. Hier liegt die tiefste Wurzel des Atheismus. Es ist ein Atheismus, der gerechtfertigt ist als Reaktion gegen den theologischen Theismus und dessen erdrückende Konsequenzen. Hier liegt auch die tiefste Wurzel der existentialistisdien Verzweiflung und der weitverbreiteten Angst vor dem Sinnverlust in unserer Zeit. Der Theismus in allen seinen Formen wird in der Erfahrung transzendiert, die wir absoluten Glauben genannt haben. Er ist das Bejahen des Bejahtseins ohne jemanden oder etwas, das uns bejaht. Es ist die 136

Macht des Seins-Selbst, die bejaht und den Mut zum Sein verleiht. Das ist der höchste Punkt, zu dem unsere Analyse uns führen kann. Der Gott über Gott kann nicht beschrieben werden, wie der Gott aller Formen des Theismus beschrieben werden kann. Er kann auch nicht auf mystische Weise benannt werden. Er transzendiert sowohl Mystik wie persönliche Begegnung, ebenso wie der absolute Glaube sowohl den Mut, Teil eines Ganzen zu sein, wie den Mut, man selbst zu sein, transzendiert. Der Gott über Gott und der Mut zum Sein Die letzte Quelle des Mutes zum Sein ist der Gott über Gott; zu dieser Einsicht führt uns die Notwendigkeit, den Theismus zu transzendieren. Nur wenn der Gott des Theismus transzendiert wird, können der Zweifel und die Angst vor der Sinnlosigkeit in den Mut zum Sein hineingenommen werden. Der Gott über Gott ist das Ziel aller mystischen Sehnsucht, aber auch die Mystik muß transzendiert werden, um ihn zu erreichen. Die Mystik nimmt das Konkrete und den Zweifel in bezug auf das Konkrete nicht ernst. Sie versenkt sich unmittelbar in den Grund des Seins und läßt das Konkrete, die Welt endlicher Werte und Sinngehalte, hinter sich. Deshalb kann sie das Problem der Sinnlosigkeit nicht lösen. In bezug auf die gegenwärtige religiöse Situation bedeutet das, daß die östliche Mystik keine Lösung für die Probleme des westlichen Existentialismus ist, obwohl viele Menschen diese Lösung anstreben. Der Gott über dem Gott des Theismus stellt keine Abwertung der Sinngehalte dar, die der Zweifel in den Abgrund der Sinnlosigkeit gestoßen hat, sondern er ist ihre potentielle Restitution. Trotzdem stimmt der absolute Glaube mit dem Glauben der Mystik überein, insofern beide die theistische Objektivierung eines Gottes als eines Seienden transzendieren. Für die Mystik ist ein solcher Gott nicht realer als irgendein endliches Wesen; für den Mut zum Sein ist er mit allen anderen Werten und Sinngehalten in dem Abgrund der Sinnlosigkeit untergegangen. Der Gott über dem Gott des Theismus ist in jeder göttlich-menschlichen Begegnung gegenwärtig, wenn auch nicht offenbar. Die biblische Religion wie die protestantische Theologie wissen um den paradoxen Charakter dieser Begegnung. Sie wissen, daß Gott, wenn er dem Menschen begegnet, weder Objekt nodi Subjekt ist und folglich über dem Schema steht, in das ihn der Theismus gezwungen hat. Sie wissen, daß dem Personalismus in bezug auf Gott durch eine überpersönliche Gegenwart des Göttlichen das Gleichgewicht gehalten werden muß. Sie wissen, daß die Vergebung nur angenommen werden kann, wenn die 137

Macht der Vergebung im Menschen wirksam ist - biblisch gesprochen: wenn die Macht der Gnade in ihm wirkt. Sie wissen um den paradoxen Charakter jedes Gebets, in dem zu jemandem gesprochen wird, mit dem man nicht sprechen kann, weil es kein jemand ist; in dem an jemanden eine Bitte gerichtet wird, von dem man nichts erbitten kann, weil er gibt, oder nicht gibt, ehe man ihn bittet; in dem man „Du" zu jemandem sagt, der dem Ich näher ist als das Ich sich selbst. Jedes von diesen Paradoxen treibt das religiöse Bewußtsein zu einem Gott, der über dem Gott des Theismus ist. Der Mut zum Sein, der in der Erfahrung des Gottes über dem Gott des Theismus wurzelt, vereint in sich den Mut, Teil eines Ganzen zu sein, und den Mut, man selbst zu sein, und transzendiert sie beide. Er vermeidet beides, den Verlust des Selbst durch Partizipation und den Verlust der Welt durch Individuation. Die Bejahung des Gottes über dem Gott des Theismus macht uns zu einem Teil dessen, was selbst kein Teil ist, sondern der Grund des Ganzen. Deshalb ist unser Selbst nicht in einem Kollektiv verloren, das selbst begrenzt ist. Wenn das Selbst an der Macht des Seins-Selbst partizipiert, empfängt es sich zurück, denn die Macht des Seins wirkt durch die Macht des individuellen Selbst. Sie verschlingt es nicht, wie es jedes begrenzte Ganze, jeder Kollektivismus und jeder Konformismus tut. Aus diesem Grund kann die eine Kirche, die für die Macht des Seins-Selbst steht und für den Gott, der den Gott der Religionen transzendiert, den Anspruch erheben, Mittler des Mutes zum Sein zu sein. Eine Kirdie, die sich auf die Autorität des Gottes des Theismus stützt, kann einen solchen Anspruch nicht erheben. Sie muß sich zwangsläufig zu einem kollektivistischen oder halbkollektivistischen System entwickeln. Aber eine Kirche, die sich in ihrer Verkündigung und ihrer Andacht zu dem Gott über dem Gott des Theismus erhebt, ohne ihre konkreten Symbole zu opfern, kann einen Mut vermitteln, der Zweifel und Sinnlosigkeit in sich hineinnimmt. Einzig die Kirche unter dem Kreuz vermag das zu tun, die Kirche, die den Gekreuzigten predigt, der den Gott anrief, der Gott blieb, nachdem der Gott des Vertrauens ihn in dem Dunkel der Verzweiflung und der Sinnlosigkeit verlassen hatte. Teil einer solchen Kirche sein heißt, einen Mut zum Sein empfangen, in dem man sein Selbst nicht verliert und seine Welt wieder empfängt. Absoluter Glaube oder der Zustand des Ergriffenseins von dem Gott über Gott ist kein Zustand, der uns neben anderen Seelenzuständen zuteil wird. Er ist nichts Abgegrenztes oder Bestimmtes, kein Geschehnis, das isoliert und beschrieben werden könnte. Er ist immer ein Zustand in und zusammen mit anderen Seelenzuständen. Er ist die Situa138

tion auf der Grenze menschlicher Möglichkeiten - er ist diese Grenze. Deshalb ist er sowohl der Mut der Verzweiflung wie der Mut in allem Mut und über allem Mut. Er ist kein Ort, wo man leben kann; er ist ohne die Sicherheit, die Worte und Begriffe vermitteln, er ist ohne Namen, ohne Kirche, ohne Kult, ohne Theologie. Aber er ist in der Tiefe von ihnen allen wirksam. Er ist die Macht des Seins, an dem sie alle partizipieren und dessen fragmentarische Ausdrucksformen sie sind. Wir können uns seiner bewußt werden in der Angst vor Schicksal und Tod, wenn die traditionellen Symbole, die dem Menschen halfen, die Schicksalsfälle und den Schrecken des Todes zu ertragen, ihre Macht verloren haben. Wenn die „Vorsehung" zum Aberglauben geworden ist und die „Unsterblichkeit" zu einer Phantasievorstellung, kann die Macht, die einmal in diesen Symbolen lebte, noch gegenwärtig sein und trotz der Erfahrung einer chaotischen Welt und einer endlichen Existenz in uns den Mut zum Sein schaffen. Der stoische Mut taucht wieder auf, aber nicht als Glaube an die universale Vernunft, sondern als absoluter Glaube, der Ja sagt zum Sein, ohne daß sich ihm etwas Konkretes zeigt, das das Nichtsein in Schicksal und Tod besiegen könnte. Und der Gott über dem Gott des Theismus kann uns bewußt werden in der Angst vor Schuld und Verdammung, wenn die traditionellen Symbole, die dem Menschen halfen, die Angst vor Schuld und Verdammung auszuhalten, ihre Macht verloren haben. Wenn das „Gericht Gottes" als ein bloß psychologisches Phänomen gedeutet wird und die „Vergebung" als ein Überrest des Vaterbildes, kann die Macht, die einmal in diesen Symbolen lebte, noch gegenwärtig sein und trotz der Erfahrung einer unendlichen Kluft zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir sein sollen, in uns den Mut zum Sein schaffen. Der Mut Luthers kehrt wieder, aber nicht durch den Glauben an einen richtenden und vergebenden Gott gestützt, sondern als absoluter Glaube, der Ja sagt, obwohl es keine bestimmte Macht gibt, die die Schuld überwindet. Der Mut, die Angst vor der Sinnlosigkeit auf sich zu nehmen, ist die Grenze, bis zu der der Mut zum Sein gehen kann. Jenseits dieser Grenze ist bloßes Nichtsein. In diesem Mut werden alle Formen des Mutes wiedergeboren aus der Macht des Gottes über dem Gott des Theismus. Der Mut zum Sein gründet in dem Gott, der erscheint, wenn Gott in der Angst des Zweifels untergegangen ist.

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I P R O B L E M E UND MISSVERSTÄNDNISSE Die innere Problematik der Begriffe Liebe, Madit und Gerechtigkeit Weder in der Theologie noch in der Philosophie ist ein fruchtbares Arbeiten möglich, ohne auf Schritt und Tritt den Begriffen zu begegnen, die den Gegenstand dieser Vorlesungen ausmachen: Liebe, Macht und Gerechtigkeit. Sie begegnen uns an den entscheidenden Stellen in der Lehre vom Menschen, in der Psychologie und Soziologie; sie haben eine Schlüsselstellung in der Ethik und Rechtswissenschaft inne, aber sie spielen auch eine große Rolle in der politischen Theorie und der Pädagogik, und selbst in den medizinischen Wissenschaften muß man sich mit ihnen auseinandersetzen. Jeder der drei Begriffe ist für sich von allgemeiner Bedeutung, und das gleiche gilt auch von ihrem Verhältnis zueinander. Darum ist es nötig, jeden einzelnen Begriff gesondert zu untersuchen, obgleich eine solche Trennung fast unmöglich ist. Es ist notwendig, weil keine wissenschaftliche Forschung in irgendeinem der Bereidie, in denen sie begegnen, es umgehen kann, sich in bedeutungsvoller und oft sogar in entscheidender Weise auf sie zu beziehen. Und doch ist das fast unmöglich, weil niemand ein Fachmann auf allen Gebieten ist, wo die drei Begriffe eine überragende Rolle spielen. Deshalb ist zu fragen, ob nicht jedem dieser Begriffe eine gemeinsame Bedeutung zugrunde liegt, die ihre Verwendung in so unterschiedlichen Zusammenhängen ermöglicht. Die logische Gültigkeit einer solchen Grundbedeutung würde über der Vielfalt der Bedeutungen stehen, die aus ihr abgeleitet werden können. Daher muß diese Untersuchung mit der Frage nach der Grundbedeutung beginnen, die Liebe, Macht und Gerechtigkeit an sich haben, und diese Frage muß wiederum mit dem Aufsuchen der Grundbedeutung all jener Begriffe verknüpft werden, ohne die der Mensch seine Welt nicht denkend erfassen kann. Gewöhnlich werden sie Prinzipien, Strukturelemente oder Seinskategorien genannt. Ihre genaue Bestimmung ist die Aufgabe der Ontologie. Ontologie ist die Methode, mit deren Hilfe sich die Grundbedeutung aller Prinzipien und somit auch der drei Begriffe unserer Untersuchung bestimmen läßt. Nach dieser Methode gedenke ich zu verfahren. Wir werden also ontologisch nach der Grundbedeutung von

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Liebe, Macht und Gerechtigkeit fragen. Und auf diese Weise erschließt sich uns vielleicht nicht nur die besondere Bedeutung dieser drei Begriffe, sondern auch ihr Strukturverhältnis zueinander und ihr Zusammenhang mit dem Sein als solchem. Falls wir auf diesem Wege Erfolg hätten, wären wir in der Lage, die mannigfaltigen Auffassungen zu beurteilen, in denen sowohl die innere Problematik der drei Begriffe an sich wie auch ihr gegenseitiges Verhältnis bisher erschien. Und wir könnten dann auch zu einer besser begründeten Vorstellung ihres gegenseitigen Verhältnisses gelangen. Was dieses Vorhaben so unendlich schwierig macht, ist nicht nur die Vielfalt der Bedeutungen, in denen die Begriffe Liebe, Macht und Gerechtigkeit gebraucht werden, sondern auch die allgemeine Verwirrung in der Erörterung ihres gegenseitigen Verhältnisses. Dennoch müssen wir den Versuch unternehmen. Zunächst gilt es, einen Uberblick über die Problematik und die Mißverständnisse zu gewinnen, denen wir bei unserer Untersuchung auf Schritt und Tritt begegnen werden. Es ist ungewöhnlich, das Wort „Mißverständnisse" in die Überschrift eines Kapitels zu setzen. Aber wenn man die Aufgabe hat, über Liebe, Macht und Gerechtigkeit zu schreiben, dann wird das Ungewöhnliche fast selbstverständlich. Die Mahnung zur Vorsicht und die Hilfe des Semantikers sind vielleicht nirgends so nötig wie in dem Dschungel der Zweideutigkeiten, der sich aus dem Mangel an begrifflicher Klarheit und übergroßer Gefühlsbetontheit auf dem Gebiet von Liebe, Macht und Gerechtigkeit ergeben hat. Die hier vorherrschenden Mißverständnisse beziehen sich teils auf das Verständnis der einzelnen Begriffe, teils auf ihr Verhältnis zueinander. Trotz allem Mißbrauch, dem das Wort Liebe in der Literatur und im täglichen Leben ausgesetzt ist, hat es seilie Wirkung auf unsere Gefühle nicht verloren. So oft es gebraucht wird, erweckt es. ein Empfinden der Wärme, der Leidenschaft, des Beglücktseins, der Erfüllung. Es erinnert uns an die Glückseligkeit des Liebens und Geliebtwerdens, die wir erfahren haben oder erhoffen. Die Grundbedeutung von Liebe scheint somit ein gefühlsmäßiger Zustand zu sein, der sich wie alle Gefühle einer begrifflichen Bestimmung entzieht und nur in seinen Qualitäten und Ausdrucksformen beschrieben werden kann. Er kann darum auch nicht erstrebt oder gefordert werden, sondern ist etwas, das geschieht oder geschenkt wird. Wäre die Liebe nur gefühlsbedingt, könnte sie auf die Sphäre der Gemütsbewegungen beschränkt und als ein Gefühl unter anderen behandelt werden, wie das z. B. Spinoza tat. Aber es ist doch bezeichnend: wenn Spinoza das Letzte aussagen will über die Natur der göttlichen 144

Substanz und die mannigfache Weise, in der der Mensch an ihr teilhat, dann spricht er von der intellektuellen Liebe des Menschen zu Gott als der Liebe, mit der Gott sich selbst liebt. Das bedeutet aber, daß er die Liebe von der emotionalen auf die ontologische Ebene hebt. Es ist ja auch genügend bekannt, daß von Empedokles und Plato bis zu Augustin und Pico sowie zu Hegel und Schelling, bis zum Existentialismus und der Tiefenpsychologie die Liebe eine beherrschende ontologische Rolle spielt. Es gibt eine andere Deutung der Liebe, die weder emotional noch ontologisch, sondern ethisch ist. In einem der entscheidenden Dokumente des Judentums und Christentums, ja, aller abendländischen Kultur überhaupt, wird das Wort „Liebe" mit dem Imperativ „du sollst" verbunden. Das „vornehmste Gebot" fordert von jedem Menschen die ganze Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten in einem Maße, daß sie nicht hinter seiner natürlichen Selbstbejahung zurückbleibt. Wenn aber Liebe nur Gefühl ist, wie kann sie dann gefordert werden? Wir können sie ja nicht einmal von uns selbst fordern. Versuchen wir es dennoch, so entsteht etwas Künstliches, hinter dem das sichtbar wird, was bei seiner Erzeugung unterdrückt werden mußte. Bewußt erzeugte Reue verdeckt entartete Selbstzufriedenheit, bewußt erzeugte Liebe verrät Gleichgültigkeit oder gar Feindschaft in pervertierter Form. Das bedeutet: Liebe als ein Gefühl kann nicht befohlen werden. Entweder ist also die Liebe mehr als ein bloßes Gefühl, oder das „vornehmste Gebot" ist sinnlos. Der Liebe als einem Gefühl muß etwas zugrunde liegen, was sowohl ihre ethische als audi ontologische Deutung rechtfertigt. Und es ist durchaus möglich, daß die ethische Natur der Liebe von ihrer ontologischen Natur abhängt, wie auch, daß die ontologische Natur der Liebe durch ihren ethischen Charakter näher bestimmt wird. Aber wenn das alles zutrifft — und wir werden den Nachweis versuchen, daß es der Fall ist dann erhebt sich die Frage, wie diese Deutungen der Liebe mit der Tatsache vereinbar sind, daß die Liebe als das leidenschaftlichste aller Gefühle auftritt. Diese Frage kann jedoch nicht beantwortet werden, ohne auf eine andere Problemreihe einzugehen, die nicht nur an sich außerordentlich wichtig ist, sondern die seit einigen Jahrzehnten im Vordergrund des theologischen und ethischen Interesses steht. Es handelt sich um die Frage nach den Qualitäten der Liebe. In der allgemeinen Erörterung des Unterschiedes zwischen eros und agape (der irdischen und himmlischen Liebe in der Symbolik der Renaissance) erscheinen diese Qualitäten der Liebe als Typen der Liebe, wobei man sogar gelegentlich so weit geht, die Verwendung ein und desselben Wortes „Liebe" für diese ge145

gensätzlidien Typen abzulehnen. Aber es ist mir bei der Abfassung dieser Vorträge klar geworden, daß es keine verschiedenen Typen, sondern nur Abwandlungen der Liebe gibt, denn die verschiedenen Qualitäten sind in jeder Bekundung der Liebe enthalten, entweder als wirkende Kraft oder in der Form des Mangels. Diese Einsicht macht jedoch die Unterscheidung der Qualitäten der Liebe keineswegs zu einer nebensächlichen Angelegenheit. Wenn man, wie ich vorschlagen mödite, zwischen der Libido-, der Philia-, der Eros- und der AgapeQualität der Liebe zu unterscheiden hat, muß man fragen: In welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Was bedeutet es, wenn man von der Liebe ohne jede nähere Bestimmung spricht? Welche Eigenschaft der Liebe entspricht dem „vornehmsten Gebot"? Welche ihrem gefühlsmäßigen Charakter? Wann immer das Wort „Liebe" gebraucht wird, spricht man auch von Selbstliebe. In welchem Verhältnis steht nun die Selbstliebe zu den Qualitäten der Liebe, zu ihrem ontologischen und ihrem ethischen Charakter? Vor allem muß gefragt werden, ob es überhaupt einen Sinn hat, von Selbstliebe zu sprechen. Liebe setzt doch eine Trennung des liebenden Subjekts von einem geliebten Objekt voraus; aber gibt es eine solche Trennung in der Struktur des Selbstbewußtseins? Ich habe starke Bedenken, den Ausdruck „Selbstliebe" zu verwenden, und, wenn dies geschieht, ihn anders als im bildlichen Sinn zu gebrauchen. Abgesehen von dieser terminologischen Frage muß untersucht werden, wie sich die verschiedenen Qualitäten der Liebe zu dem verhalten, was in übertragenem Sinn Selbstliebe genannt wird, und in welchem Verhältnis diese zur ethischen und ontologischen Natur der Liebe steht. Die Problematik und die Mißverständnisse, die mit der Verwendung des Wortes „Liebe" verknüpft sind, wiederholen sich bei der allgemeinen Erörterung des Begriffes „Macht". So wird der Ausdruck power = Macht oder Kraft in der Bedeutung von Kraft auf alle physikalischen Ursachen angewandt, obwohl die theoretische Physik dieses anthropomorphe Symbol über Bord geworfen und durch mathematische Gleichungen ersetzt hat. Doch spricht auch die heutige Physik immer noch von „Kraftfeldern", um die Grundstrukturen der Materie zu beschreiben. Das ist zumindest ein Hinweis auf die Bedeutung, die der Ausdruck power selbst in der abstraktesten Analyse physikalischer Vorgänge hat. Die Physiker sind sich gewöhnlich der Tatsache bewußt, daß sie mit dem Ausdruck power eine anthropomorphe Metapher verwenden. Denn power im Sinne von Macht ist zunächst eine soziologische Kategorie, und aus dem gesellschaftlichen Bereich ist der Begriff auf 146

die N a t u r übertragen worden (das gleiche gilt von „Gesetz", wie wir später sehen werden). Aber es löst das Problem nicht, wenn wir das Wort als Metapher bezeichnen. Wir müssen vielmehr fragen, wie es möglich ist, daß sowohl die Physik wie auch die Soziologie das gleiche Wort gebrauchen. Es muß also etwas Gemeinsames in der Struktur der sozialen und der unbelebten Welt geben. Und diese Übereinstimmung muß sich in dem gemeinsamen Gebrauch des gleichen Wortes erweisen. Es gibt jedoch nur einen Weg, um die Grundbedeutung von Macht zu erfassen, nämlich den, nach ihrer ontologischen Grundlage zu fragen. Und das ist natürlich eine der Aufgaben dieser Vorträge. Innerhalb des sozialen Bereichs ist die Bedeutung von Macht durch eine weitere Zweideutigkeit belastet, nämlich das Verhältnis von Macht zu Gewalt. Diese Spaltung in der Wortbedeutung ist fast ausschließlich auf die menschliche Sphäre beschränkt. Denn der Unterschied zwischen Macht und Gewalt ist nur beim Menschen sinnvoll als dem Seienden, dessen Natur endliche Freiheit ist. Man spricht von „Machtpolitik", und zwar häufig im Tone moralischer Entrüstung. Aber das ist ein großes Mißverständnis. Politik und Machtpolitik sind ein und dasselbe, denn es gibt keine Politik ohne Madit, weder in der Demokratie noch in der Diktatur. Politik und Machtpolitik weisen auf dieselbe Wirklichkeit. Es ist völlig gleichgültig, welchen der beiden Ausdrücke man verwendet. Unglücklicherweise wird jedoch der Ausdruck Machtpolitik für eine besondere Form der Politik gebraucht, nämlich für die, bei der Macht ohne jede Bindung an Gerechtigkeit und Liebe auftritt und somit nichts anderes ist als Zwang. Dieses Mißverständnis erklärt sich daraus, daß tatsächlich in der Wirklichkeit der Macht ein Element des Zwanges vorhanden ist. Aber das ist nur ein Element, und wenn die Macht darauf beschränkt wird und die Form der Gerechtigkeit und die Substanz der Liebe verliert, zerstört sie sich selbst und die Politik, die auf ihr begründet ist. Diese Unklarheiten im Verhältnis von Macht und Zwang lassen sich nur ausschalten, wenn wir bis zu den ontologischen Wurzeln der Macht vorstoßen. Wenn ein Unterschied gemacht wird zwischen Macht und Zwang, ergibt sich die Frage, ob es eine Form der Macht gibt, die weder physisch noch seelisch, sondern geistig ist. Der Zwang gebraucht sowohl physische wie psychologische Mittel, um Macht auszuüben; am offensichtlichsten geschieht das in den Terrormethoden der Diktaturen. Dagegen wird jeglicher Zwang bei der Macht des Geistes ausgeschlossen. Dennoch glaubt man allgemein, daß die geistige Macht die stärkste, ja die absolute Macht ist. Man bekennt sich jedesmal zu diesem Glauben, wenn gesagt wird, daß Gott Geist ist. Das führt uns zur Frage: 147

Wie wirkt die Macht des Geistes? In welchem Verhältnis steht sie zur physischen und seelischen Macht und wie zum Element des Zwanges in der Macht? Jahrhundertelang erörtern nun schon die Menschen die Bedeutung unseres dritten Begriffes, der „Gerechtigkeit". Seit den frühesten Zeiten wurde die Idee der Gerechtigkeit in Mythos und Dichtung, in Werken der Plastik und Baukunst symbolisch dargestellt. Dennoch ist ihre Bedeutung nicht scharf umrissen. Im Gegenteil, ihre Bedeutung in der Rechtsprechung scheint zu ihrer ethischen im Widerspruch zu stehen, und beide scheinen mit ihrer religiösen Bedeutung im Konflikt zu liegen. Juristisch bestimmte Gerechtigkeit, moralische Rechtschaffenheit und religiöse Rechtfertigung sind offensichtlich schwer zu vereinbaren. Aristoteles bezeichnet die Gerechtigkeit als ein rechtes Maß und unterscheidet dabei „austeilende" und „ausgleichende" Gerechtigkeit. Daraus ergeben sich verschiedene Probleme. Zunächst ist zu fragen, ob die Begriffe „austeilende" und „ausgleichende" Gerechtigkeit als eine zutreffende Unterscheidung anzusehen sind. Austeilende Gerechtigkeit gibt jedem das Seine gemäß seinem gerechten Anspruch, und sein gerechter Anspruch wird durch seinen gesellschaftlichen Rang bestimmt. Dieser Rang wiederum hängt teilweise von der Stellung ab, die ihm durch geschichtliches Schicksal in der Welt und Gesellschaft zugewiesen worden ist, teilweise von seiner eigenen Leistung bei der Verwirklichung der Möglichkeiten, die in seiner Stellung liegen. Ausgleichende Gerechtigkeit tritt auf den Plan, wenn der Mensch seinen Status und die mit ihm verknüpften gerechten Ansprüche dadurch schwächt, daß er dessen Möglichkeiten nicht verwirklicht, oder dadurch, daß er gegen die soziale oder kosmische Ordnung verstößt, in der sein Stand verwurzelt ist. Ausgleichende Gerechtigkeit erscheint dann als Strafe, und damit entsteht das Problem des eigentlichen Sinnes der Strafe und ihres Verhältnisses zur Gerechtigkeit. H a t Strafe einen eigenen Zweck im Rahmen der ausgleichenden Gerechtigkeit, oder ist sie nur die negative Seite der austeilenden Gerechtigkeit und somit durch sie bestimmt? N u r eine ontologische Betrachtung der Gerechtigkeit kann hier eine Antwort finden. Das gleiche gilt von der Bedeutung der Gerechtigkeit als eines rechten Maßes. Der Ausdruck „zumessende Gerechtigkeit" ist nur sinnvoll, wenn man verschiedene Grade in der Berechtigung von Ansprüchen anerkennt. Er setzt eine Hierarchie der Stände und auch in den berechtigten Ansprüchen voraus. Andererseits umschließt aber der Begriff der Gerechtigkeit auch die Vorstellung der Gleichheit. Wie verhält sich nun das hierarchische Element im Begriff der „zumessenden Gerechtigkeit" zu dem Gleichheitsprinzip? Die Frage wird noch 148

schwieriger, wenn wir uns klarmachen, daß die Stellung eines Wesens in Universum und Gesellschaft ständigem Wandel unterworfen ist. Der dynamische Charakter des Lebens scheint den Begriff eines gerechten Anspruchs auszuschließen. Er scheint sogar die ganze Idee einer zumessenden Gerechtigkeit in Frage zu stellen. Gibt es nun einen Typ der Gerechtigkeit, der über die Gerechtigkeit im Sinne des Aristoteles hinausgeht und sie zugleich begrenzt? Kann nicht vielleicht das zumessende Element der aristotelischen Auffassung in einen dynamischschöpferischen T y p der Gerechtigkeit hineingenommen werden? Das verlangt wiederum bestimmte Annahmen über das Verhältnis des statischen zum dynamischen Charakter des Seins; es erfordert die Anerkennung ontologischer Voraussetzungen. Ohne eine ontologische Analyse ihrer Grundbedeutungen kann keiner der drei Begriffe Liebe, Macht und Gerechtigkeit in seinen mannigfachen Bedeutungen definiert, beschrieben und verstanden werden. Es kann keine Unklarheit und Zweideutigkeit im Gebrauch der drei Begriffe beseitigt, keines ihrer eigentlichen Probleme gelöst werden, bevor die Frage beantwortet ist: Wie sind Liebe, Macht und Gerechtigkeit in der N a t u r des Seins als solchen verwurzelt? 1

Die Problematik

in der Beziehung der Begriffe

zueinander

Die Zweideutigkeiten in der Verwendung der Begriffe Liebe, Macht und Gerechtigkeit schaffen manche Verwirrung und bringen neue Probleme mit sich, sobald man sich einer Untersuchung ihrer gegenseitigen Beziehungen zuwendet. Liebe und Macht werden oft dergestalt einander entgegengestellt, daß Liebe mit einem Verzicht auf Macht und Macht mit einer Verneinung der Liebe gleichgesetzt werden. Machtlose Liebe wird liebloser Macht gegenübergestellt. Das ist natürlich unvermeidbar, wenn Liebe nur als Gefühl und Macht als Zwang verstanden werden. Aber solch eine Auffassung ist irrig und schafft Verwirrung. Diese Fehldeutung ließ den Philosophen des „Willens zur Macht", Nietzsche, die christliche Idee der Liebe radikal verwerfen. Und die gleiche Fehldeutung lag dem Kampf zugrunde, den christliche Theologen im Namen des christlichen Liebesbegriffs gegen Nietzsches Philosophie vom „Willen zur Macht" führten. In beiden Fällen zeigt sich das Fehlen einer Ontologie der Liebe, und dazu wird auf christlicher Seite Macht eben mit Zwang verwechselt. Zu jener Zeit wurde die protestan1

Für eine volle Entwicklung der drei Begriffe siehe die späteren Kapitel. 149

tische Theologie von der Schule Albrecht Ritschis beherrscht. Der metaphysikfeindlichen Einstellung dieser Richtung erschien die Liebe Gottes in einem solchen Gegensatz zu seiner Macht, daß diese völlig übersehen und Gott mit einer ethisch verstandenen Liebe gleichgesetzt wurde. Das führte zu einem ethischen Theismus, der das göttliche Mysterium und die Majestät Gottes fast gänzlich vernachlässigte. Die Vorstellung von Gott als Macht des Seins wurde als ein Einbruch heidnischen Denkens verworfen. Damit war die Symbolik der Dreieinigkeitslehre aufgelöst, das Reich Gottes auf das Ideal einer ethischen Gemeinschaft beschränkt. Die Natur wurde ausgeschlossen, weil die Macht ausgeschlossen wurde, und die Macht wurde ausgeschlossen, weil die Seinsfrage ausgeklammert blieb. Denn nur wenn die Frage nach dem Sein gestellt wird und Begriffe wie Liebe und Macht im Lichte der ontologischen Frage gesehen werden, tritt die Einheit ihrer Grundbedeutung hervor. Von höchster Wichtigkeit aber sind die sozialethischen Probleme, die sich aus der Gegenüberstellung von Liebe und Macht ergeben. Man darf vielleicht sagen, daß eine fruchtbare Sozialethik unmöglich ist, solange Macht mit Mißtrauen betraditet und Liebe auf das rein Gefühlsmäßige und Ethische beschränkt wird. Eine solche Sicht führt dazu, daß man auf Seiten der Religion die Politik ablehnt oder ihr zumindest gleichgültig gegenübersteht. Sie führt damit zur Trennung des Politischen vom Religiösen und Ethischen, d. h. zu einer Politik, die nur den Zwang kennt. Eine sinnvolle Sozialethik setzt die Einsicht voraus, daß Machtstrukturen ein Element der Liebe enthalten müssen, wie auch, daß in der Liebe ein Element der Macht vorhanden sein muß, ohne das die Liebe zur chaotischen Hingabe wird. Und diese Einsicht kann nur durch eine ontologische Analyse von Liebe und Macht gewonnen werden. Die Probleme und Mißverständnisse, die die Erörterungen über das Verhältnis von Liebe und Macht kennzeichnen, beherrschen auch die Erörterungen über das Verhältnis von Liebe und Gerechtigkeit. Diese werden gewöhnlich nicht in einem solchen Gegensatz gesehen, wie das bei Liebe und Macht der Fall ist. Aber man erkennt allgemein an, daß die Liebe zur Gerechtigkeit etwas hinzufügt, was diese aus sich heraus nicht hervorbringen kann. Gerechtigkeit, so heißt es, fordert z. B., daß ein ererbtes Vermögen zu gleichen Teilen unter jene verteilt wird, die den gleichen rechtlichen Anspruch darauf haben. Aber die Liebe kann einen der Erben veranlassen, sein Recht einem der anderen Erben abzutreten. In diesem Fall wird sein Verhalten nicht von der Forderung der Gerechtigkeit bestimmt, sondern von dem Gebot der Liebe. Die Liebe geht über die Gerechtigkeit hinaus. Das erscheint ziemlich 150

selbstverständlich, ist es aber nicht. Wenn Gerechtigkeit nicht nur dem Prinzip der abwägenden Zuteilung folgt, dann kann dieser Verzicht entweder ein Akt liebevoller Gerechtigkeit sein oder eine Ungerechtigkeit gegen sich selbst, wie das im ersten Aufzug von Shakespeares „König Lear" der Fall ist, wo Lear alle seine Macht an die Töchter abtritt. Das Verhältnis der Liebe zur Gerechtigkeit kann nicht so verstanden werden, als ob jene zur Gerechtigkeit etwas hinzufügt, ohne deren Charakter zu verändern. Aber nur eine Ontologie der Gerechtigkeit kann das wahre Verhältnis der beiden Grundbegriffe herausstellen. Diese Ansicht wird durch ein weiteres Beispiel gestützt. Ein Mensch kann zu einem anderen sagen: „Ich weiß, was für ein Verbrechen du begangen hast, und die Gerechtigkeit verlangt eigentlich, daß ich dich vor Gericht bringe, aber aus christlicher Nächstenliebe will ich dich laufen lassen." Durch eine solche Nachsicht, die nichts mit Liebe zu tun hat, kann ein Mensch für immer auf die Bahn des Verbrechens gedrängt werden. Das heißt, ihm ist weder Gerechtigkeit noch Liebe zuteil geworden, sondern Ungerechtigkeit im Gewände der Sentimentalität. Er hätte vielleicht gerettet werden können, wenn man ihn nach seiner ersten Verfehlung vor Gericht gestellt hätte. In diesem Fall wäre also die Ausübung der Gerechtigkeit ein Akt der Liebe gewesen. In der klassischen Theologie wird die Spannung zwischen Liebe und Gerechtigkeit in der Lehre von der Versöhnung symbolisiert, wie sie Anselm von Canterbury entwickelt hat. Nach Anselm muß Gott selbst einen Weg finden, um den Folgen seiner vergeltenden Gerechtigkeit zu entgehen, die im Widerspruch zu seiner barmherzigen Liebe stehen. Gott ist gebunden an das Gesetz der Gerechtigkeit, das er selbst gegeben hat. Aber dieses Gesetz würde allen Menschen nur Verdammnis bringen, obgleich Gott in seiner Liebe will, daß der Mensch gerettet werde. Der Ausweg aus diesem Widerspruch ist der unverdiente, stellvertretende Tod des Gottmenschen Jesus Christus. Wegen ihrer psychologischen Stärke wurde diese Lehre trotz ihrer theologischen Schwäche im westlichen Christentum allgemein anerkannt. Sie enthält unausgesprochen die ontologische Einsicht, der sie ausdrücklich widerspricht, daß nämlich letztlich die Liebe der Gerechtigkeit Genüge tun muß, um wahre Liebe zu sein, und daß die Gerechtigkeit zur Einheit mit der Liebe erhöht werden muß, um der Ungerechtigkeit ewiger Vernichtung zu entgehen. Aber in der juristischen Ausprägung dieser Lehre tritt das nicht zutage. Die Unhaltbarkeit der „Additionstheorie" in bezug auf Liebe und Gerechtigkeit erweist sich ferner in dem Bezogensein von Liebe und Gerechtigkeit auf eine konkrete Situation. Gerechtigkeit findet ihren 151

Ausdruck in Prinzipien und Gesetzen, die niemals der Einmaligkeit einer bestimmten Lage gerecht werden können. Jede Entscheidung, die allein auf einer abstrakten Formulierung der Gerechtigkeit beruht, ist darum notwendigerweise ungerecht. Gerechtigkeit ist nur dann möglich, wenn sowohl die Forderung des allgemeingültigen Gesetzes wie auch die der bestimmten Lage anerkannt und auf die konkrete Situation angewandt werden. Aber es ist die Liebe, die das Eingehen auf die konkrete Situation bewirkt. Es wäre jedodi vollkommen falsdi, zu behaupten, daß die Liebe zur Gerechtigkeit hinzugefügt werden müsse, um die Einmaligkeit der Situation zur Geltung zu bringen. Denn das hieße, daß Gerechtigkeit als solche unmöglich ist. Tatsächlich zeigt die bestimmte Situation, daß die Gerechtigkeit gerecht ist eben durch die Liebe, die in ihr enthalten ist. Das kann jedoch nur im Zusammenhang einer ontologischen Analyse der Grundbedeutung von Liebe und Gerechtigkeit ganz verstanden werden. Die Schwere der Problematik und die Gefahr verworrenen Denkens werden gleichermaßen deutlich, wenn wir schließlich Madit der Gerechtigkeit gegenüberstellen. Hier geht es um das Verhältnis von Gesetz und Ordnung zur Gerechtigkeit und ihrer aller Verhältnis zur Macht. Auch auf diesem Gebiet herrscht mehr Verwirrung als Klarheit. Die erste Frage lautet: Wer gibt das Gesetz, in dem die Gerechtigkeit zum Ausdruck kommen soll? Gesetze zu geben ist die grundlegende Bekundung der Macht. Aber wenn eine Gruppe, die im Besitze der Macht ist, die Gesetze erläßt, wie verhalten sich diese dann zur Gerechtigkeit? Verkörpern sie nicht bloß den Machtwillen dieser Gruppe? Die marxistische Staatstheorie behauptet das, indem sie erklärt, daß die Gesetze von der herrschenden Klasse nur als Werkzeug zur Aufrechterhaltung ihrer Macht über die Gesellschaft benutzt werden. Die Macht kann auf militärische Eroberung zurückgehen oder sich aus gesellschaftlich-wirtschaftlichen Gegebenheiten herleiten. In beiden Fällen ist Gerechtigkeit nur dann möglich, wenn sich der Staat aufgelöst hat und durch eine Verwaltung ohne politische Macht ersetzt worden ist. Die Gerechtigkeit einer herrschenden Klasse ist Ungerechtigkeit, und die Verteidigung dieser Ungerechtigkeit ist Ideologie. Die Gesetze, die von ihr gegeben werden, sichern eine bestimmte soziale Ordnung, und solange es keine Alternative zu dieser Ordnung gibt, sind die Gesetze der herrschenden Klasse besser als das Chaos. Die zynischen Vertreter dieser Theorie verstehen Gerechtigkeit ausschließlich als eine Funktion der Macht und keineswegs als deren Richter. Sie stimmen der marxistischen Analyse zu, ohne die marxistische Erwartung zu haben, und machen die Gerechtigkeit lediglich zu einer Funktion der Macht. In der Abwehr gegen diese Aus152

Schaltung der Gerechtigkeit als eines unbedingten Prinzips ist eine Theorie auf den Plan getreten, die die Gerechtigkeit völlig von der Macht zu trennen versucht und sie als ein autonomes System gültiger Urteile begründen möchte. In dieser Sicht ist Gerechtigkeit ein Absolutes, ohne jede Verbindung mit bestimmten Machtstrukturen. Das positive Recht, das aus den Prinzipien des Natur- oder Vernunftrechts abgeleitet wird, drückt nicht aus, was ist, sondern fordert, was sein sollte. Ohne Rücksicht auf Macht fordert und erwartet es Gehorsam aufgrund der ihm innewohnenden Gültigkeit. Es ist nicht ein Ausdruck der Macht, sondern richtet über sie. Die Kluft zwischen diesen beiden Theorien über das Verhältnis der Macht zur Gerechtigkeit zeigt die Schwierigkeit des Problems und die Notwendigkeit einer ontologischen Untersuchung der Grundbedeutungen von Macht und Gerechtigkeit. Wie von mir angekündigt wurde, habe ich in einen Dschungel von Problemen und Mißverständnissen geführt, aber an jeder entscheidenden Stelle habe ich einen Ausweg aufzeigen können, nämlich die ontologische Analyse von Liebe, Macht und Gerechtigkeit. Im folgenden Kapitel soll das Wesen dieser Methode erörtert und zugleich versucht werden, das Wesen der Liebe ontologisch zu deuten.

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II

DAS S E I N U N D D I E L I E B E Die ontologische

Frage

Sämtliche Probleme, die mit Liebe, Macht und Gerechtigkeit verknüpft sind, führen uns zu einer ontologischen Analyse. Ohne Beantwortung der Frage: Wie ist jeder dieser Begriffe im Sein-Selbst verwurzelt? können weder die bestehenden Unklarheiten beseitigt noch die Probleme selbst gelöst werden. Und die Frage nadi dem Sein-Selbst ist die ontologische Frage. Aber bevor wir uns mit den ontologischen Wurzeln eines jeden unserer Begriffe befassen, ist es angebracht, die Frage zu stellen: Was besagt in diesem Zusammenhang „Wurzel"? Was ist überhaupt die "Grundbedeutung" eines Begriffs? Wie soll die ontologische Frage gestellt und wie soll sie beantwortet werden? Ontologie ist die Erfassung des „logos" im „on", d. h. des „vernünftigen Wortes", welches das „Sein als solches" begreift. Der moderne Geist hat es schwer, das lateinisdie esse ipsum, Sein-Selbst oder das griediisdie öv f j ov, „das Seiende, insofern es Seiendes ist", zu verstehen. Wir alle sind von Hause aus Nominalisten, und als solche sind wir geneigt, nur Dinghaftes in unserer Welt anzuerkennen. Aber diese Einstellung erklärt sich aus einem Zufall der geschichtlichen Entwicklung und ist keine innere Notwendigkeit. Den sogenannten Realisten des Mittelalters ging es darum, die Gültigkeit der Allgemeinbegriffe als echter Erscheinungsformen des Seins zu erhärten. Ich will nun keineswegs, daß Sie den naiven Nominalismus der modernen Welt aufgeben und sich dem Realismus zuwenden; sondern ich möchte Sie auf etwas hinweisen, was älter ist als Nominalismus und Realismus, nämlich auf die Philosophie, die die Frage nach dem Sein vor der Spaltung in allgemeine Wesenheiten und besondere Inhalte stellt. Diese Philosophie ist älter als jede andere. Sie ist das mächtigste Element in allen großen philosophischen Lehren der Vergangenheit, und in den bedeutenden philosophischen Bemühungen unserer Zeit ist ihre Bedeutung wieder voll erkannt worden. Es handelt sich um die Philosophie, die die Frage stellt: Was bedeutet es, daß etwas ist? Was sind die charakteristischen Merkmale von allem und jedem, das am Sein teilhat? Das aber ist die Frage der Ontologie. Die Ontologie versucht nicht, die Natur des Seienden zu beschrei-

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ben, handele es sich nun um seine allgemeinen Gattungseigenschaften oder um seine individuellen geschichtlichen Erscheinungsformen. Sie fragt nicht nach Sternen und Pflanzen, Tieren und Menschen. Sie fragt auch nicht nach Ereignissen und nicht nach denen, die in diesen Ereignissen handelnd auftreten. Das ist die Aufgabe naturwissenschaftlicher Forschung und der Geschichtsschreibung. Die Ontologie stellt dagegen die einfache und doch unendlich schwierige Frage: Was heißt das, zu sein? Welches sind die Strukturen, die allem Seienden, allem, das am Sein teilhat, zugrundeliegen? Man kann dieser Frage nicht dadurch ausweichen, daß man das Bestehen solcher gemeinsamer Strukturen einfach bestreitet. Es läßt sich nicht leugnen, daß das Sein eins ist und daß die Merkmale und Elemente des Seins ein Gewebe von miteinander verbundenen und einander widerstrebenden Kräften bilden. Dieses Gewebe ist eins, insofern es ist, und verleiht die Macht zu sein jeder seiner Qualitäten und jedem seiner Elemente. Es ist eins, aber es ist weder eine tote Identität noch eine sich ewig wiederholende Gleichheit. Es ist eins in der Mannigfaltigkeit seines Gewebes. Ontologie ist der Versuch, dieses Gewebe zu beschreiben, seine verborgene Natur durch das Wort zu enthüllen, das zum Sein gehört und in dem das Sein zu sich selbst kommt. Doch geben wir uns keiner Täuschung hin. Die Ontologie beschreibt nicht die unendliche Mannigfaltigkeit des Seienden, des lebenden oder toten, des außermenschlichen oder menschlichen. Die Ontologie charakterisiert das Gewebe des SeinsSelbst, das in allem Seienden wirksam ist, in lebendem oder totem, außermenschlichem oder menschlichem. Die Ontologie geht jedem anderen Versuch voraus, die Wirklichkeit erkennend zu erfassen. Sie geht allen Wissenschaften voraus, nicht immer im Sinne des zeitlichen Ablaufs, aber stets an logischem Gewicht und grundlegender Bedeutung. Man braucht sich nicht vergangenen Jahrhunderten oder entlegenen Gegenden der Welt zuzuwenden, um den Vorrang der ontologischen Frage bestätigt zu finden. Die beste Methode, sich dieses Vorranges heute bewußt zu werden, ist eine sorgfältige Analyse der Schriften führender anti-ontologischer Philosophen oder anti-philosophischer Naturwissenschaftler und Historiker. Man wird dann leicht entdekken, daß diese Männer fast auf jeder Seite ihrer Schriften eine ganze Reihe grundlegender ontologischer Begriffe verwenden, aber nicht offen, und darum oft fälschlich. Man kann der Ontologie nicht ausweichen, wenn es um Erkenntnis geht. Denn erkennen heißt, etwas als Seiendes zu erfassen. Das Sein aber ist ein unendlich verwickeltes Gewebe, dessen Beschreibung die niemals endende Aufgabe der Ontologie ist. Von entscheidender Bedeutung für unser Vorhaben ist die Feststel155

lung, daß die frühen Philosophen auf Wörter wie Liebe, Macht und Gerechtigkeit oder Synonyme für sie angewiesen waren, wenn sie den Versuch unternahmen, das Sein begrifflich zu erhellen. Unsere Dreiheit von Begriffen weist auf eine Dreiheit in der Struktur des Seins-Selbst hin. Metaphysisch gesprochen sind Liebe, Macht und Gerechtigkeit so alt wie das Sein-Selbst. Sie gehen allem Seienden voraus und können nicht von irgendetwas Seiendem abgeleitet werden. Sie haben ontologische Würde. Und bevor sie diese ontologische Würde empfingen, hatten sie mythische Bedeutung. Sie waren Götter, bevor sie rationale Wesensmerkmale des Seins wurden. Die Substanz ihrer mythischen Bedeutung spiegelt sich in ihrem ontologisdien Gewicht wider. Dike, die Göttin der Gerechtigkeit, empfängt Parmenides, als er in die Wahrheit selbst eingeführt wird. Denn es gibt keine Wahrheit ohne die Form der Wahrheit, nämlich Gerechtigkeit. Und nach demselben Philosophen ist das Sein-Selbst ewigen Gesetzen unterworfen. Nach Heraklit ist der logos des Seins die Macht, die die Welt bewegt und den Staat erhält; und Xenophanes sieht im Geist die göttliche Macht, die das Rad des Seins in Schwung hält. In der Schau des Empedokles bestimmen H a ß und Liebe, Trennung und Wiedervereinigung die Bewegungen der Elemente. Liebe, Macht und Gerechtigkeit sind also die Gegenstände, denen wir immer wieder in der Ontologie begegnen. Es gibt kaum einen Denker von Rang, der sie nicht in den Grundlagen seines Denkens verankert. Bei Plato finden wir die Lehre vom eros als der Macht, die zur Einigung mit dem Wahren und Guten an sich treibt. In seiner Auffassung von den Ideen als den Wesenheiten aller Dinge erscheinen sie als die eigentlichen „Seinsmächte". Und Gerechtigkeit ist für ihn nicht eine besondere Tugend, sondern die zusammenhaltende Kraft im einzelnen Menschen wie auch in einer Gemeinschaft. Bei Aristoteles finden wir die Lehre vom weltumfassenden eros, der alles Seiende zu seiner höchsten Vollendung treibt, die Lehre von der reinen Aktualität, die die Welt bewegt, und zwar nicht als eine bloße Ursache (kinoumenon), sondern als Liebe zur Welt (eromenon). Und die Bewegung, die er beschreibt, ist eine Entwicklung von der Potentialität zur Aktualität, von dynamis zu energeia, zwei Begriffe, die die Vorstellung der Macht mit einschließen. In der Denkrichtung, die von Augustin zu Böhme, Schelling und Schopenhauer führt, bleibt das Element der Macht in dem halbsymbolischen Gebrauch des Begriffes „Wille" bewahrt, während die nachdrückliche Betonung des logos des Seins durch all diese Denker das Element der Gerechtigkeit zur Geltung bringt. Hingegen zeigt die Ontologie der Liebe bei Augustin und all seinen Nachfolgern den Vorrang der Liebe im Verhältnis zu Macht und Gerechtigkeit. 156

Allen Kennern Hegels ist es wohl bekannt, daß er in seinen frühen Fragmenten als ein Philosoph der Liebe begann, und es kann ohne Übertreibung gesagt werden, daß sein dialektisches Schema eine Abstraktion aus seiner intuitiven Erfassung der Liebe als Trennung und Wiedervereinigung ist. Es darf auch erwähnt werden, daß in der jüngsten psychotherapeutischen Literatur die Beziehung zwischen Machttrieb und Liebe im Vordergrund des Interesses steht. Die Liebe erscheint immer mehr als die Lösung der Probleme, die sich in der Angst und Neurose bekunden. Dieser geschichtliche Oberblick zeigt die grundlegende ontologische Bedeutung der Dreiheit der Begriffe, die hier zur Erörterung stehen. Nun erhebt sich die methodische Frage: Wie unterscheidet sich die Ontologie von dem, was man Metaphysik nennt? Die Antwort darauf lautet, daß die Ontologie die Grundlage der Metaphysik, aber daß sie selbst nicht Metaphysik ist. Die Ontologie stellt die Frage nach dem Sein, d. h. nach etwas, das in allem und jedem in jedem Augenblick gegenwärtig ist. Sie ist niemals „spekulativ" in dem (ganz ungerechtfertigt) abwertenden Sinn des Wortes, sondern sie ist immer deskriptiv, denn sie beschreibt die Strukturen, die in jeder Begegnung mit der Wirklichkeit vorausgesetzt sind. Die Ontologie ist also deskriptiv, nicht spekulativ. Sie versucht, die Grundstrukturen des Seins zu erfassen. Und Sein ist allem gegeben, was ist und damit am Sein-Selbst teilhat. Ontologie in diesem Sinne ist analytisch. Sie zerlegt die vorgefundene Wirklichkeit und versucht, die Strukturelemente zu ergründen, die ein Seiendes zur Teilhabe am Sein befähigen. Sie scheidet die Elemente des Wirklichen, die gattungsbedingt oder individuell sind, von denen, die alles Seiende erst ermöglichen und daher universalen Charakter haben. Jene überläßt die Ontologie den Einzelwissenschaften oder metaphysischen Konstruktionen, während sie diese durch eine kritische Analyse herausarbeitet. Diese Aufgabe kommt offensichtlich niemals zu einem Abschluß, weil die möglichen Formen der Begegnung mit der Wirklichkeit unerschöpflich sind und immer wieder Seinseigenschaften enthüllen, deren ontologische Grundlage untersucht werden muß. Und dann muß die Frage gestellt werden: Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, ontologische Urteile als wahr zu erweisen? Gewiß gibt es keinen experimentellen Weg dahin, aber es gibt den Weg der Erfahrung. Es ist der Weg einer einsichtigen Erkenntnis der grundlegenden Strukturen in der begegnenden Wirklichkeit einschließlich des Prozesses der Begegnung selbst. Die einzige, aber durchaus befriedigende Antwort auf die Frage, wie sich ontologische Aussagen bestätigen lassen, ist, wie gesagt, die Methode einsichtiger Erkenntnis. Die folgende Analyse fordert dazu auf. Aber letztlich gilt es, daß 157

die Frage nach der Berechtigung einer Methode vor ihrer erfolgreichen oder mißglückten Anwendung nicht beantwortet werden kann. Die Methode läßt sich nicht von der behandelten Sache trennen. Eine Ontotogie der Liebe Alle Probleme, die sich auf das Verhältnis der Liebe zu Macht und Gerechtigkeit beziehen - und das gilt sowohl für das Leben eines Einzelnen wie auch einer ganzen Gemeinschaft - werden unlösbar, wenn Liebe im Grunde als Gefühl verstanden wird. Denn dann wäre Liebe nichts als eine sentimentale Zutat zu Macht und Gerechtigkeit, letztlich ohne Bedeutung und unfähig, die Gesetze der Gerechtigkeit oder die Strukturen der Macht zu ändern. Die meisten Fehlschlüsse in der Sozialethik, der politischen Theorie und der Pädagogik lassen sich aus einem Mißverständnis des ontologischen Charakters der Liebe erklären. Versteht man dagegen die Liebe in ihrer ontologischen Natur, dann erscheint ihr Verhältnis in einem Lichte, das die grundlegende Einheit der drei Begriffe und den bedingten Charakter des Konflikts zwischen ihnen sichtbar macht. Leben ist verwirklichtes Sein, und die Liebe ist die bewegende Macht im Leben. In diesen beiden Sätzen wird die ontologische Natur der Liebe erfaßt. Sie besagen, daß das Sein nicht zur Verwirklichung kommt ohne die Liebe, die alles Seiende zu allem anderen Seienden hinzieht. Im Erfahren der Liebe offenbart sich dem Menschen das Wesen des Lebens. Liebe ist das Verlangen nach der Einheit des Getrennten. Wiedervereinigung aber setzt Trennung dessen voraus, was seinem Wesen nach zusammengehört. Es wäre jedoch irrig, der Trennung dieselbe ontologische Endgültigkeit zuzuschreiben wie der Wiedervereinigung. Denn der Begriff der Trennung setzt eine ursprüngliche Einheit voraus. Die Einheit des Seienden umfaßt sich selbst und die Trennung, geradeso wie das Nichtsein im Sein enthalten ist. Es ist ganz unmöglich, das zu vereinen, was sich seinem Wesen nach ausschließt. Ohne eine letzte Zusammengehörigkeit läßt sich keine Vereinigung eines Seienden mit einem anderen Seienden denken. Das einander absolut Fremde kann keine Gemeinschaft eingehen. Wohl aber strebt nach Wiedervereinigung, was sich gegenseitig fremd geworden ist. In der liebenden Freude über den Anderen ist auch die Freude über die eigene Seinserfüllung durch den Anderen gegenwärtig. Was mir aber absolut fremd ist, kann nicht zu meiner Seinserfüllung beitragen; es kann mich nur zerstören, wenn es in den Kreis meines Daseins eindringt. Darum kann die Liebe nicht als die Vereinigung des sich Fremden betrachtet 158

werden, sondern nur als die Wiedervereinigung des Entfremdeten. Entfremdung setzt ursprüngliches Einssein voraus. Die Liebe beweist da ihre größte Macht, wo sie die größte Trennung überwindet. Und die größte Trennung ist die Trennung eines Selbst vom Selbst. Jedes Selbst ist auf sich selbst bezogen, und ein vollkommenes Selbst ruht gänzlich in sich selbst. Es ist eine unabhängige Mitte, unteilbar und undurchdringlich, und wird daher mit Recht ein Individuum genannt. Die Trennung eines Wesens, das die höchste Stufe der Vereinzelung erreicht hat, von einem anderen solchen Wesen ist vollständig. Die Mitte eines völlig individualisierten Seienden bleibt jedem anderen Seienden dieser Art verschlossen, und es kann nicht zu einem bloßen Bestandteil einer machtvolleren Einheit gemacht werden. Selbst als Teil ist das Individuum unteilbar, denn auch in dieser Rolle ist es mehr als ein Teil. Liebe führt zur Wiedervereinigung dessen, was eine eigene Mitte hat und unteilbar ist. Die Macht der Liebe ist nicht etwas, das zu einem sonst vollendeten Prozeß hinzutritt, sondern das Leben birgt die Liebe in sich als eines seiner grundlegenden Elemente. Die Erfüllung und der Triumph der Liebe zeigen sich darin, daß sie imstande ist, das am radikalsten getrennte Seiende, nämlich einzelne Personen, wieder zu vereinen. Die Person in ihrer individuellen Eigenart ist das am stärksten getrennte Wesen, zugleich aber auch der Träger der mächtigsten Liebe. Wir haben den Versuch zurückgewiesen, die Liebe auf das rein Gefühlsmäßige zu beschränken. Aber es gibt andererseits keine Liebe ohne ein emotionales Element, und eine Analyse, die dieses Element übersieht, wäre gänzlich verfehlt. Das Problem ist nur, wie es mit der ontologischen Bestimmung der Liebe zu vereinbaren ist. Man kann sagen, daß die Liebe als ein Gefühl die Vorwegnahme der Wiedervereinigung ist, die in jeder Liebesbeziehung stattfindet. Wie alle Gemütsbewegungen ist die Liebe ein Ausdruck der restlosen Teilhabe dessen, der von diesem Gefühl erfüllt ist. Sobald man liebt, wird die Erfüllung des Verlangens nach Wiedervereinigung vorweggenommen und das Glück dieser Vereinigung in der Vorstellung erlebt. Das bedeutet, daß das Gefühlselement in der Liebe nicht ihren anderen Elementen ontologisch vorausgeht, sondern daß die ontologisch begründete Bewegung zum anderen hin im Gefühl zum Ausdruck kommt. Die Liebe ist eine Leidenschaft. Diese Aussage schließt die Feststellung mit ein, daß es ein passives Element in der Liebe gibt, nämlich den Zustand des zur Wiedervereinigung Getriebenwerdens. Die unendliche Leidenschaft in der Hingabe an Gott, wie sie Kierkegaard beschreibt, ist nicht weniger als die sexuelle Leidenschaft eine Folge der objektiv gegebenen Situation, 159

nämlich des Zustandes der Trennung derer, die zusammengehören und durch die Liebe zueinander getrieben werden. Die ontologische Auffassung der Liebe muß sich in der Erfahrung der erfüllten Liebe bewähren. Aber dieser Erfahrung haftet eine tiefe Zweideutigkeit an. Erfüllte Liebe ist höchstes Glüdc und zugleich das Ende des Glückes. Die Trennung ist überwunden, aber ohne Trennung gibt es keine Liebe und kein Leben. Die Würde des personalen Verhältnisses zwischen zwei Menschen äußert sich jedoch gerade darin, daß es wohl das Fürsichsein des in sich ruhenden Selbst bewahrt, aber dennoch eine Vereinigung mit dem anderen in Liebe verwirklicht. Die höchste Form der Liebe, die Form, in der sich die westliche Kultur von der östlichen unterscheidet, ist die Liebe, die das Individuum bewahrt, das sowohl Liebe gibt wie Liebe empfängt. In der Liebesbindung von Person zu Person offenbart das Christentum seine Überlegenheit gegenüber jeder anderen Religion. Die Ontologie der Liebe erschließt uns die Grundeinsicht, daß Liebe in sich eins ist. Das steht im Widerspruch zur Hauptströmung in den jüngsten Untersuchungen über das Wesen der Liebe. Diese waren insofern nützlich, als sie die verschiedenen Qualitäten der Liebe herausstellten. Aber sie stifteten und stiften insoweit Verwirrung, als sie die verschiedenen Qualitäten zu unterschiedlichen Typen der Liebe machten. Der Irrtum bestand nicht darin, daß man überhaupt Qualitäten der Liebe unterschied, im Gegenteil, man hätte noch mehr unterschiedliche Züge an dem komplexen Tatbestand herausarbeiten sollen, der gewöhnlich mit dem Namen eros bezeichnet wird. Der Irrtum bestand einfach darin, daß man nicht davon ausging, die Liebe als eine Einheit aufzufassen. Eine solche Auffassung hätte natürlich zu einer ontologischen Analyse der Liebe geführt. Denn der eigentliche Charakter der Liebe erschließt sich nur dann, wenn diese zum Sein als solchem in Beziehung gesetzt wird. Wenn Liebe in all ihren Formen der Drang zur Wiedervereinigung des Getrennten ist, werden die verschiedenen Qualitäten der in sich einheitlichen Natur der Liebe verständlich. Gewöhnlich wird epithymia (Begierde) als die niedrigste Form der Liebe betrachtet. Sie wird mit dem Verlangen nach sinnlicher Selbsterfüllung gleichgesetzt. Philosophische und theologische Moralisten möchten gern eine unüberbrückbare Kluft aufreißen zwischen dieser Seite der Liebe und jenen Qualitäten, die für edler und wesensmäßig verschieden gehalten werden. Andererseits haben gewisse Anhänger des philosophischen Naturalismus die Tendenz, von allen Qualitäten der Liebe nur die Epithym/d-Qualität gelten zu lassen. Diese ganze Frage läßt sidi nur im 160

Lichte einer ontologischen Deutung der Liebe entscheiden. Zunächst einmal muß gesagt werden, daß die libido, um das lateinische Wort zu gebrauchen, mißverstanden wird, wenn man sie als Verlangen nach Lust definiert. Diese hedonistische Auffassung beruht wie der Hedonismus überhaupt auf einer falschen Psychologie, die wiederum auf eine falsche Ontologie zurückgeht. Den Menschen verlangt es nach Wiedervereinigung mit dem, zu dem er gehört und von dem er getrennt ist. Und das gilt nicht nur vom Menschen, sondern von allen Lebewesen. Sie begehren Nahrung, Bewegung, Entfaltung, Teilhabe am Leben einer Gruppe, geschlechtliche Vereinigung usw. Die Befriedigung all dieser Triebe ist lustbetont. Aber es wird nicht die Lust als solche erstrebt, sondern die Vereinigung mit dem, was das Begehren erfüllt. Gewiß ist erfülltes Verlangen Lust und unerfülltes Verlangen Unlust. Aber es ist eine Verzerrung des wirklichen Lebens, wenn man aus diesem Tatbestand schließen wollte, das Leben bestünde seinem Wesen nach aus der Flucht vor der Unlust und dem Streben nach Lust. Wo das der Fall ist, wird das Leben verfälscht. Nur ein verdorbenes Leben läßt sich vom Lust-Unlust-Prinzip leiten. Unverdorbenes Leben strebt nach dem, was ihm mangelt, es strebt nach Vereinigung mit dem, von dem es getrennt ist, obgleich es zu ihm gehört. Diese Analyse ist vielleicht geeignet, das Vorurteil gegenüber der libido aus dem Wege zu räumen; sie kann uns ferner Kriterien dafür liefern, wieweit Freuds Libidotheone anzunehmen und wieweit sie abzulehnen ist. Wenn Freud die libido als Verlangen des Individuums beschreibt, sich von seinen Spannungen zu befreien, dann handelt es sich um eine entartete Form der libido. Und er hat das unausgesprochen (wenn auch nicht mit vollem Bewußtsein) dadurch zugegeben, daß er den Todestrieb aus der unendlichen, niemals erfüllten libido ableitet. Freud beschreibt die libido des Menschen in ihrem pervertierten, selbstentfremdeten Zustand. Aber seine Beschreibung, die mit der Auffassung vieler Puritaner übereinstimmt (alter und neuer, die insgesamt wenig erbaut wären von dieser Geistesgemeinschaft), verfehlt den Sinn der libido als des natürlichen Triebes zu vitaler Selbsterfüllung. Aufgrund dieser Analyse erscheint die Feststellung berechtigt, daß epithymia eine Qualität ist, die in keiner Liebesbeziehung fehlt. Insoweit hat der philosophische Naturalismus recht. Aber er irrt, wenn er die libido oder epithymia als das Streben nach Lust rein um der Lust willen erklärt. Das Bemühen, agape und eros als einen unvereinbaren Gegensatz zu erweisen, beruht gewöhnlich auf einer Gleichsetzung von eros und epithymia. Gewiß ist epithymia in jeder Form des eros enthalten. Aber eros ist mehr als epithymia. Der eros strebt nach Vereinigung mit 161

einem Wesen, das Werte verkörpert, und zwar um dieser Werte willen. Das gilt für das Schöne in der Natur, das Schöne und Wahre in der Kultur und schließlich für die mystische Vereinigung mit dem Ursprung des Schönen und Wahren. Die Liebe treibt zur Vereinigung mit den Schöpfungen der Natur und Kultur und deren göttlichem Ursprung. Dieser eros ist mit epithymia verbunden, sofern diese das Verlangen nach vitaler Selbsterfüllung ist und nicht nur Begierde nach der Lust, die aus dieser Vereinigung erwächst. Diese Bewertung des eros wird von zwei Seiten angegriffen. Die Liebe als eros wird einmal von jenen Theologen verworfen, die auch die Kultur verwerfen, und auch von jenen, die jedes mystische Element im Verhältnis des Menschen zu Gott leugnen. Aber es ist ein recht widerspruchsvolles Unterfangen, die Kultur zu verwerfen und sich dabei auf die Werte der Kultur zu stützen, so z. B. wenn die in Jahrtausenden erreichte sprachliche Kultur dazu gebraucht wird, um die Ablehnung der Kultur zu begründen. Ohne den eros zur Wahrheit könnte keine Theologie bestehen, und ohne den eros zum Schönen gäbe es keine Riten. Noch bedenklicher ist die Ablehnung der ErosQualität der Liebe im Verhältnis zu Gott. Eine solche Ablehnung ersetzt die dann unmöglich gewordene Liebe zu Gott durch Gehorsam gegenüber Gott. Aber Gehorsam ist nicht dasselbe wie Liebe. Er kann sogar das Gegenteil von Liebe bedeuten. Ohne die Sehnsucht des Menschen nach Wiedervereinigung mit seinem Ursprung wird die Liebe zu Gott zu einem leeren Wort. Die Eros-Qualität der Liebe steht in einem polaren Verhältnis zu dem, was man die Philia-Qualität der Liebe nennen könnte. Während eros den transpersonalen Pol darstellt, vertritt philia den personalen Pol. Keiner von beiden ist ohne den anderen möglich. In der philia ist froi-Qualität und im eros ist PAi/i'a-Qualität enthalten. Sie sind gegenseitig voneinander abhängig in der Weise der Polarität. Das bedeutet zugleich, daß ohne die radikale Vereinzelung des in sich geschlossenen Selbst weder der schöpferische noch der religiöse eros möglich ist. Wesen ohne personhafte Mitte sind ohne eros, wenngleich sie epithymia haben mögen. Wer zu einer Ich-Du-Beziehung unfähig ist, hat kein Verhältnis zum Wahren und Guten und zum Grund des Seins, in dem sie verwurzelt sind. Wer den Freund nicht lieben kann, vermag auch nicht die Kunst zu lieben, in der die letzte Wirklichkeit Gestalt annimmt. Kierkegaards Stufen des Ästhetischen, Ethischen und Religiösen sind in Wirklichkeit nicht Stufen, sondern Qualitäten, die in gegenseitiger struktureller Abhängigkeit erscheinen. Andererseits ist philia auch vom eros abhängig. Begriffe wie Teilhabe und Gemeinschaft weisen auf die £roi-Qualität in jeder P/n/id-Beziehung hin. Es handelt sich 162

hier um das Verlangen nach Vereinigung mit einer Seinsmaclit, die zugleich unendlich getrennt und doch wieder ganz nahe ist und die in der Entfaltung ihrer einmaligen Individualität Möglichkeiten und Verwirklichungen des Guten und Wahren ausstrahlt. Aber eros und philia sind nicht nur in den Beziehungen zwischen Individuen vereint; sie sind das auch in dem Zusammenleben von sozialen Gruppen. In Familien und Völkern richtet sich das Verlangen nach Teilhabe auf die Scinsmächtigkeit, die in der Gruppe verkörpert ist, wenn auch hier das Philia-Element fehlen sollte. Bereits die Tatsache, daß solche Gruppen aus Individuen bestehen, die alle die Möglichkeit einer Ich-Du-Beziehung haben, unterscheidet den eros innerhalb einer Gruppe von dem eros, wie er z. B. in künstlerischen Schöpfungen wirksam ist. Liebe als philia setzt eine gewisse Vertrautheit mit dem Gegenstand der Liebe voraus. Aus diesem Grunde vertrat Aristoteles die Ansicht, daß philia nur zwischen Gleichen möglich ist. Das ist richtig, wenn man den Begriff „gleich" weit genug faßt und die Ausschließlichkeit esoterischer Gruppen vermeidet. Wie wir bereits angedeutet haben, enthalten sowohl eros wie philia ein Element der epithymia. Das wird vor allem in den Fällen deutlich, wo eine Philia- und Erosbeziehung mit geschlechtlicher Anziehung oder Erfüllung verbunden ist. Aber es trifft nicht nur in diesen Fällen zu; es ist stets der Fall. In dieser Hinsicht hat die Tiefenpsychologie eine Seite der menschlichen Existenz enthüllt, die niemals wieder durch idealistische oder moralistische Befürchtungen und Forderungen verdeckt werden sollte. Das natürliche Verlangen eines jeden Wesens, sich durch die Vereinigung mit anderen Wesen zu erfüllen, ist universal und liegt sowohl der Eros- wie auch der Philia-Qualitit der Liebe zugrunde. Selbst in den höchsten Formen geistiger Freundschaft oder asketischer Mystik ist ein Element der libido enthalten. Ein Heiliger ohne alle libido würde aufhören, Geschöpf zu sein. Aber einen solchen Heiligen gibt es nicht. Bisher ist von der Qualität der Liebe, die das Neue Testament beherrscht, nämlich der ^4g«pe-Qualität, noch nicht die Rede gewesen. Das geschah nicht deswegen, weil agape die letzte und höchste Form der Liebe ist, sondern weil sie von einer anderen Dimension her das Ganze des Lebens und alle Qualitäten der Liebe durchdringt. Man könnte agape die Tiefendimension der Liebe oder Liebe in der Bezogenheit auf den Grund des Lebens nennen. Man könnte auch sagen, daß sich in der agape die letzte Wirklichkeit offenbart und Leben und Liebe verwandelt. Agape ist Liebe, die in die Liebe einbricht, gerade so wie Offenbarung Vernunft ist, die in die Vernunft einbricht, und das Wort 163

Gottes das Wort ist, das in alle Worte einbricht. Das soll jedoch das Thema des letzten Kapitels sein. In diesem Zusammenhang müssen wir die Fragen beantworten, die im ersten Kapitel bei der Erörterung des Begriffs der Selbstliebe berührt wurden. Wenn Liebe der Drang nach Wiedervereinigung des Getrennten ist, hat es wenig Sinn, von Selbstliebe zu sprechen. Denn innerhalb des Selbstbewußtseins gibt es keine wirkliche Trennung, die der Trennung eines in sich geschlossenen Selbst von allen anderen Wesen vergleichbar wäre. Gewiß befindet sich das völlig selbstzentrierte Seiende, der Mensch, nur deshalb in diesem Zustand, weil sein Selbst gespalten ist in ein Selbst, das Subjekt, und in ein Selbst, das Objekt ist. Aber in dieser Struktur gibt es weder Trennung noch Sehnsucht nach Wiedervereinigung. Selbstliebe ist eine Metapher und sollte nicht wie ein Begriff gebraucht werden. Der Mangel an begrifflicher Klarheit in der Verwendung des Ausdrucks „Selbstliebe" zeigt sich darin, daß er in drei verschiedenen und teilweise sich widersprechenden Bedeutungen gebraucht wird. Man verwendet ihn, um die natürliche Selbstbejahung zu bezeichnen (etwa im Sinne der Wendung: seinen Nächsten lieben wie sich selbst). Er wird zur Benennung von Selbstsucht gebraucht, d. h. des Strebens, alle Dinge an sich zu ziehen. Schließlich braucht man ihn auch im Sinne der Selbst-Annahme, d. h. der Bejahung seiner selbst, so wie Gott uns bejaht. Es wäre für die Klärung unserer Begriffe sehr dienlich, wenn man den Ausdruck „Selbstliebe" überhaupt aus unserem Wortschatz streichen würde, um ihn je nach dem Zusammenhang durch Selbstbejahung, Selbstsucht oder Selbstannahme zu ersetzen.

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III

DAS S E I N

UND

DIE

MACHT

Das Sein als Seinsmächtigkcit Wir haben es als das eigentliche und niemals abgeschlossene Geschäft der Ontologie hingestellt, die Struktur des Seins als Sein zu beschreiben oder als das, an dem alles, was ist, teilhat. Es erhebt sich jedoch die Frage, ob man nicht etwas Grundlegenderes über das Sein sagen kann, als nur die Kategorien und Polaritäten herauszuarbeiten, die seine Struktur bestimmen. Die Antwort darauf lautet: nein und ja. Das Nein ergibt sich aus der Tatsache, daß das Sein nicht definiert werden kann. Denn in jeder Begriffsbestimmung ist Sein schon vorausgesetzt. Das J a ist gerechtfertigt, weil das Sein durch Begriffe näher gekennzeichnet werden kann, die zwar von ihm abhängen, aber die es in bildhafter Weise erhellen. Die Frage, was für Begriffe diese Funktion zu erfüllen vermögen, kann nur versuchsweise beantwortet werden, und die Brauchbarkeit der gewählten Begriffe muß sich an ihrem Vermögen erweisen, die Begegnung des Menschen mit der Wirklichkeit verständlich zu machen. Der Begriff, der mir für eine grundlegende Beschreibung des Seins an sich am geeignetsten erscheint, ist der Begriff der Macht. Bei der Erörterung über das Wesen der Ontologie und die Bedeutung von Liebe, Macht und Gerechtigkeit in der Ontologie früherer Zeiten habe ich bereits darauf hingewiesen, daß der Machtbegriff eine wichtige Rolle bei der Beschreibung der letzten Wirklichkeit spielt. Sowohl in der aristotelischen als auch in der augustinischen Überlieferung werden für die grundlegende Charakterisierung des Seins an sich Begriffe verwendet, die das Element der Macht enthalten. Am bemerkenswertesten in dieser Hinsicht ist Nietzsches Lebensphilosophie, die als „Wille zur Macht" auftritt. In einer ontologischen Untersuchung der Macht, wie wir sie uns vorgenommen haben, muß kurz gesagt werden, wie sein Wille zur Macht eigentlich zu verstehen ist. Ich fühle mich in meiner Auffassung durch die tiefsinnige Analyse bestätigt, die Martin Heidegger in seinem Buch „Holzwege" gibt. Nietzsches „Wille zur Macht" bedeutet danach weder Wille noch Macht im herkömmlichen Sinne des Wortes. Nietzsche meint nicht das psychologische Phänomen, das Wille genannt wird, obgleich sich der Wille zur Macht durchaus im bewußten Han165

dein des Menschen bekunden kann, z. B. in der Selbstbeherrschung, wie sie vom befehlenden Willen ausgeübt wird. Aber letztlich bezeichnet der Wille zur Macht bei Nietzsche wie auch bei Schopenhauer die dynamische Selbstbejahung des Lebens. Wie überall, wo es um die letzte Wirklichkeit geht, sind die gebrauchten Begriffe mehr symbolisch als wörtlich zu verstehen. Das gilt natürlich auch für die Bedeutung von „Macht" in dem Begriff „Wille zur Macht". Hier ist nicht die soziologische Funktion der Macht gemeint, obgleich soziologische Macht als eine der Manifestationen der ontologischen Macht mit dazu gehört. Aber soziologische Macht als die Möglichkeit, seinen Willen gegen den Widerstand der Gesellschaft durchzusetzen, ist nicht der Kern des Willens zur Macht. Der besteht vielmehr in der Dynamik alles Lebendigen, sich mit wachsender Stärke nach innen und außen zu verwirklichen. Der Wille zur Macht ist nicht der Wille des Menschen, Macht über andere Menschen zu gewinnen, sondern er ist die Selbstbejahung des Lebens, das dynamisch über sich hinausdrängt und dabei inneren und äußeren Widerstand überwindet. Diese Deutung von Nietzsches „Wille zur Macht" führt uns von selbst zu einer systematischen Ontologie der Macht. An den Anfang dieses Kapitels stellten wir die Frage, was wir grundlegend über die Natur des Seins aussagen können. Die Antwort lautete: gar nichts durch Definitionen, wohl aber einiges durch verdeutlichende Metaphern. Und wir schlugen in diesem Zusammenhang den Begriff der Macht vor. Danach ist Sein gleichbedeutend mit Seinsmächtigkeit, es ist die Macht zu sein. Aber selbst bei einem bildlichen Gebrauch des Wortes gilt für „Macht" eine Voraussetzung, nämlich daß etwas da ist, worüber sie ihre Macht beweist. Wir sprachen über die dynamische Selbstbejahung des Lebens bei der Uberwindung innerer und äußerer Widerstände. Aber, so müssen wir fragen, was kann der Macht des Seins Widerstand leisten, wenn alles, was ist, an ihm partizipiert? Wo ist der ontologisdie Ort dessen, was von der Macht des Seins überwunden werden kann, wenn alles Seiende erst durch diese Macht seinen Standort zugewiesen erhält? Was kann das sein, was das Sein zu verneinen sucht und selbst von ihm verneint wird? Darauf kann es nur eine Antwort geben. Was von der Seinsmächtigkeit überwunden wird, ist das Nichtsein. Das ist eine uralte Antwort, wie sie im Mythos vorliegt, lange vor den Anfängen der Philosophie. Die Philosophen aller Kulturkreise und aller Zeiten haben sie ins Rationale übertragen, und heute ist sie von den führenden existentialistischen Philosophen erneut in den Mittelpunkt unseres Interesses gerückt worden. Versucht man jedoch, diese Antwort erneut zu formulieren, muß man sich dessen bewußt 166

sein, daß man hier an das tiefste Geheimnis des Seins rührt und daß es unmöglich ist, das Rätsel des Nichtseins anders zu erklären als durch Begriffe, die selbst die Zeichen des Nichtseins aufweisen, d. h. man muß die Sprache der Paradoxie gebrauchen. Jedermann wird dem die Frage entgegenstellen: Wie kann das Nichtsein die Macht haben, dem Sein zu widerstehen? Erscheint in der Feststellung, daß das Sein das Nichtsein überwindet, das Nichtsein nicht vielmehr als Teil des Seins-Selbst, und wenn das der Fall ist, geht es nicht gänzlich im Sein auf, sodaß die Metapher von der Seinsmächtigkeit sinnlos wird? Es ist begreiflich, daß die Anhänger der modernen analytischen Logik bei solchem Sprachgebrauch ungeduldig werden und hier von leeren Aussagen sprechen. Aber wenn die analytische Logik die heutige Ontologie ablehnt, muß sie die Ontologie überhaupt ablehnen und damit das Denken fast aller Philosophen der Vergangenheit und Gegenwart verwerfen. Das haben die logischen Positivisten auch getan. Aber eine solche Einstellung vermag die frühere Philosophie nicht zu widerlegen, sie widerlegt vielmehr die Gegner dieser Philosophie. Die Antwort auf die Frage, wie das Nichtsein der Seinsmächtigkeit Widerstand entgegenzusetzen vermag, kann nur lauten, daß das Nichtsein dem Sein nicht fremd ist, sondern daß es jene Qualität des Seins darstellt, die alles, was am Sein teilhat, verneint. Das Nichtsein ist die Verneinung des Seins innerhalb des Seins-Selbst. Natürlich ist jedes dieser Wörter als Metapher gebraucht. Aber metaphorische Sprache kann wahre Sprache sein und auf etwas hinweisen, was in dieser Sprache zugleich verborgen und enthüllt ist. Sein, das Nichtsein in sich birgt, ist endliches Sein. „Endlich" bedeutet, daß das betreffende Sein das Schicksal hat, dem Nichtsein zu verfallen. Der Ausdruck bezeichnet eine begrenzte Seinsmächtigkeit, eine solche, die eingeschränkt ist zwischen einem Anfang und einem Ende, zwischen dem Nichtsein zuvor und dem Nichtsein danach. Das ist jedoch nur ein Teil der Antwort. Es muß noch erklärt werden, warum die Waagschale des Seins ein größeres Gewicht hat als die des Nichtseins. Die Antwort hierauf ist sowohl logisch wie existentiell. Logisch (und audi sprachlich) ist es offensichtlich, daß das Nichtsein nur als Verneinung des Seins möglich ist. Das Sein geht logisch dem Nichtsein voraus. Das, was besteht und dann wieder vergeht, geht logisch dem Ende voraus. Das Negative „lebt" von dem Positiven, das es verneint. Aber wie einleuchtend solcüe Antworten auch erscheinen mögen, sie befriedigen dennoch nicht die Frage nach dem Ubergewicht des Seins über das Nichtsein. Könnte hier nicht von einem Gleichgewicht gesprochen werden, in dem keines von beiden überwiegt? Darauf ist nur eine existentielle Antwort möglich, die Ant167

wort des Glaubens oder Mutes. Mut und das im Glauben, was an ihm Mut ist, bejaht den schließlichen Sieg des Seins über das Nichtsein. Dieser Mut bejaht die Gegenwart des Unendlichen in allem Endlichen. Und eine Theologie, die sich auf einen solchen Mut stützt, versucht den Nachweis, daß gerade so, wie das Nichtsein von dem Sein abhängt, das es verneint, auch das Bewußtsein der Endlichkeit einen Ort außerhalb alles Endlichen voraussetzt, von dem erst das Endliche als solches begriffen wird. Aber einen solchen Standort einzunehmen, verlangt einen mutigen Entschluß und nicht so sehr logisches Denken. Alles Seiende bejaht sein eigenes Sein. Sein Leben ist seine Selbstbejahung, auch wenn diese die Form der Selbstpreisgabe annimmt. Jedes Wesen wehrt sidi gegen die Verneinung seiner selbst. Die Selbstbejahung eines Wesens entspricht der in ihm verkörperten Seinsmächtigkeit. Im Menschen ist sie größer als im Tier, aber natürlich ist sie nicht in allen Menschen gleich stark. Ein Lebensprozeß ist um so machtvoller, je mehr Nichtsein er in seine Selbstbejahung hineinnehmen kann, ohne davon zerstört zu werden. Der Neurotiker kann nur wenig Nichtsein in sich aufnehmen, der Durchschnittsmensch ist dazu im begrenzten Umfang befähigt, aber der schöpferische Mensch vermag ein großes Maß und Gott, symbolisch gesprochen, ein unendliches Maß von Nichtsein in sich zu tragen. Die Selbstbejahung eines Wesens trotz der Bedrohung durdi das Nichtsein drückt den Grad seiner Seinsmächtigkeit aus. Damit sind wir zu den Wurzeln des Machtbegriffs gelangt. Macht ist die Möglichkeit der Selbstbejahung trotz innerer und äußerer Verneinung; sie ist die Möglichkeit, den Widerstand des Nichtseins zu überwinden. Menschliche Macht ist die Möglichkeit des Menschen, das Nichtsein unaufhörlich zu überwinden. In der Geschichte der Philosophie, vor allem in der platonischen Schule, ist wiederholt von „Stufen des Seins" die Rede. Das ist ein schwieriger und umstrittener Begriff. Er erscheint sinnlos, wenn Sein und Existenz in Raum und Zeit gleichgesetzt werden. Es gibt keine Stufen des Existierens, sondern nur ein Entweder - Oder. Der Begriff der Seinsstufen verliert jedoch seine Schwierigkeit, wenn Sein als Seinsmächtigkeit verstanden wird. Denn es gibt sicherlich Abstufungen der Seinsmächtigkeit gemäß dem Vermögen, Nichtsein in die eigene Selbstbejahung hineinzunehmen. Eine Phänomenologie der Macht Wenn es nun Stufen der Seinsmächtigkeit gibt, erhebt sich die Frage: Wo offenbart sich die Seinsmächtigkeit, und wie kann sie gemessen 168

werden? Die Antwort lautet, daß sich die Macht des Seins nur in dem Prozeß zeigt, in dem es seine Macht verwirklicht. In diesem Prozeß erscheint seine Macht, und zwar in einer solchen Form, daß sie gemessen werden kann< Macht ist nur in ihrer Aktualisierung wirklich, in der Begegnung mit anderen Trägern von Macht und in dem sich ständig verändernden Gleichgewicht, das sich aus diesen Begegnungen ergibt. Das Leben ist dynamische Verwirklichung des Seins. Es ist kein System von Regeln, die aus einer Grundauffassung des Lebens abgeleitet werden könnten. Nichts läßt sich in einem Lebensprozeß eindeutig ableiten, nichts ist hier a priori bestimmt, und nichts ist endgültig außer jenen Strukturen, die die Dynamik des Lebensprozesses ermöglichen. Das Leben ist eine Sache ununterbrochener Entscheidungen, die nicht immer bewußt getroffen werden, sich aber doch in der Begegnung von Seinsmächtigkeiten vollziehen. In jeder Begegnung eines Wesens von einer bestimmten Seinsmächtigkeit mit einem anderen solchen Wesen entscheidet sich das Maß an Macht, über das beide verfügen. Solche Entscheidungen können nicht von vornherein bestimmt werden. Das Leben bleibt immer offen. Jedes Wesen hat Chancen und muß Wagnisse auf sich nehmen, weil seine Seinsmächtigkeit verborgen bleibt, solange sie sich nicht in wirklichen Begegnungen erweist. Die typischen Formen, in denen Seinsmächtigkeiten einander begegnen, sind ein faszinierender Gegenstand für eine phänomenologische Darstellung. Alles Leben, vor allem das in einem menschlichen Individuum, drängt über sich selbst hinaus. Es stößt vorwärts, es schreitet aus und begegnet dabei Leben in einem anderen Individuum, das ebenfalls vorwärts stößt, sich zurückzieht oder an seinem Platz verharrt und sich gegen fremde Macht wehrt. In jedem einzelnen Fall solcher Begegnungen ergibt sich eine andere Machtkonstellation. Man zieht eine andere Seinsmächtigkeit in sich hinein und wird dadurch entweder gestärkt oder geschwächt. Man verwehrt der fremden Scinsmächtigkeit jegliches Eindringen in das eigene Wesen oder eignet sie sich völlig an. Man formt die widerstrebende Seinsmacht um oder paßt sich ihr an. Man wird von ihr absorbiert und verliert dabei die eigene Seinsmächtigkeit; man wächst mit ihr zusammen und stärkt sich gegenseitig in der Macht seines Seins. Solche Prozesse gehen in jedem Augenblick des Lebens vor sich und begegnen in allen Beziehungen zwischen Seiendem. Sie vollziehen sich in der Welt der Dinge, die wir Natur nennen, zwischen Mensch und Natur, Mensch und Mensch, zwischen Individuen und Gruppen sowie auch zwischen einzelnen Gruppen. Sartre beschreibt in seinem Buch „Das Sein und das Nichts" den Machtkampf, der sich in der Begegnung zwischen Menschen abspielt. 169

Die Beispiele, die er dafür gibt, erstrecken sich von der Art und Weise, wie ein Mensch zufällig auf einen anderen aufmerksam wird, bis zu den verwickeltsten Formen von Liebesbeziehungen. In diesen Beispielen wird der ständige Kampf zwischen Seinsmächtigkeiten auf eine Art beschrieben, die gar nicht auf Feindseligkeiten, Neurosen oder Ideologien einzugehen braucht. Es handelt sich lediglich um eine Darstellung von Lebensprozessen, die sich auf allen Stufen des menschlichen Daseins abspielen. Sie sind bedingt durch die Struktur des Seins. Eine verwandte Schau des Lebens begegnet uns in Toynbees „Der Gang der Weltgeschichte", wo mit Hilfe einer Phänomenologie der Machtbeziehungen alle wichtigen geschichtlichen Bewegungen gedeutet werden. Toynbee verwendet dabei Begriffe wie Herausforderung. Antwort, Rückzug und Wiederkehr. Und er entwickelt seine Phänomenologie der Begegnungen nicht nur zur Kennzeichnung der Beziehungen zwischen Gruppen, sondern auch der zwischen Gruppen und der Natur. Überhaupt finden wir in den Werken der Historiker und Tiefenpsychologen genügend Material für eine vollständige Phänomenologie der Machtbeziehungen. Toynbees Beispiel führt zu einer Analyse der Beziehungen zwischen der Seinsmächtigkeit eines Individuums und der einer ganzen Gruppe. Gemäß der Polarität, die zwischen „Individuation" und „Partizipation" besteht und die charakteristisch für das Sein als solches ist, ist alles Wirkliche eine individuelle Seinsmächtigkeit innerhalb eines umfassenden Ganzen. Im Rahmen des Ganzen der Macht kann das Individuum Seinsmächtigkeit gewinnen oder verlieren. Was im Einzelfall tatsächlich geschieht, kann niemals im voraus gesagt werden, denn es ist das Ergebnis ständiger konkreter Entscheidungen. Ein Kind z. B. hat zunächst nur innerhalb der Familie Seinsmächtigkeit. Aber in einem bestimmten Augenblick regt sich in den meisten Kindern das Bedürfnis, sich von der Familie zurückzuziehen, um ihr eigenes Wesen zu entfalten. Sie haben das Empfinden, daß die Bindung an das Familienleben eine Schwächung ihrer eigenen Seinsmächtigkeit bedeutet. So ziehen sie sich zurück, meistens nur innerlich, gelegentlich auch in sichtbarer Form. Sie wollen ihre Seinsmächtigkeit vermehren, die nach ihrer Ansicht innerhalb der Gruppe zu sehr eingeengt ist. Aber es kann durchaus geschehen, daß sie nach einer gewissen Zeit in den Kreis der Familie zurückkehren, weil sie verspüren, daß ihre eigene Seinsmächtigkeit außerhalb der Gruppe ernsthaft gefährdet ist. Und möglicherweise empfinden sie danach abermals, daß sie dem Einfluß der Gruppe zu sehr nachgegeben haben und daß diese Preisgabe von Eigenem nicht nur ihr Sein, sondern auch das ihrer Gruppe schwächt. Dann ziehen sie 170

sich aufs neue zurück, und die Konflikte wiederholen sich in gewissen Abständen. Diese ganze Problematik, so wie sie in der soeben beschriebenen Lage zur Geltung kommt, erfährt durch die hierarchische Struktur des Lebens noch eine Verschärfung. J e stärker ein Seiendes auf sich bezogen ist, desto mehr Seinsmächtigkeit ist in ihm verkörpert. Das völlig auf sich selbst zentrierte und seiner selbst bewußte Wesen, der Mensch, hat die größte Seinsmächtigkeit. Er hat nicht nur Umgebung, sondern er hat eine Welt und damit unbegrenzte Möglichkeiten der Selbstverwirklichung. Die Tatsache, daß er um ein Zentrum strukturiert ist, macht ihn zum Herrn seiner Welt. Aber wo sich alles um ein Zentrum aufbaut, liegt eine hierarchische Struktur der Macht vor. J e näher ein Element dem Mittelpunkt ist, desto stärker hat es teil an der Macht des Ganzen. Die alte Fabel vom Aufstand der Glieder des Körpers gegen den Magen und die Antwort des Magens, daß ohne seine zentrale Stellung die Glieder alle absterben müßten, zeigt die entscheidende Bedeutung des Zentrums für die Existenz jedes einzelnen Teils. Strukturen mit einem Zentrum gibt es nicht nur im organischen, sondern auch im anorganischen Bereich, nicht zuletzt in der atomaren und subatomaren Welt der Materie. Selbst in einer weitgehend auf dem Grundsatz der Gleichheit aufgebauten Gesellschaft gibt es Zentren der Macht und Entscheidung, an denen die Mehrheit des Volkes nur mittelbar und in abgestufter Form teilhat. Diese Zentren werden in dem Augenblick gestärkt, wo eine soziale Gruppe die höchste Machtentfaltung benötigt, in Zeiten höchster Gefahr. Die Notwendigkeit des Vorhandenseins einer zentralen Instanz, die Entscheidungen zu treffen vermag, gibt selbst einer auf dem Prinzip der Gleichheit aufgebauten Gesellschaft eine hierarchische Struktur. Aber das Zentrum der Macht kann nur so lange der Mittelpunkt des Ganzen sein, wie es nicht seine Stellung zur Förderung von Sonderinteressen mißbraucht. In dem Augenblick, wo sie die Macht des Ganzen für eigennützige Zwecke mißbrauchen, hören die Repräsentanten des Zentrums auf, der eigentliche Mittelpunkt zu sein, und ohne einen solchen zerfällt das Ganze. Gewiß ist es einer herrschenden Gruppe möglich, ihren Willen der Gesamtheit aufzuzwingen, selbst wenn dieser nicht mit dem Ganzen im Einklang steht. Aber das ist nur für eine begrenzte Zeit möglich. Schließlich verliert das Ganze seine Macht, sei es nun durch innere oder äußere Ursachen.

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Macht und, Zwang Das führt zu der entscheidenden Frage nach dem Verhältnis von Macht zu Gewalt und Zwang. Wie das bereits in dem einleitenden Abschnitt hervorgehoben wurde, haben die bestehenden Begriffsverwirrungen bisher die Ausbildung einer befriedigenden Theorie der Macht verhindert, und das gilt vor allem für das Verständnis der Macht im sozialen und politischen Bereich. Unsere Auffassung von der Macht als Seinsmächtigkeit ist der erste Schritt zu größerer Klarheit in dieser Problematik. Aber es bleibt hier noch mehr zu tun. Vor allem verlangt die schwierige Frage, ob es überhaupt Macht ohne Gewalt und Zwang gibt, eine Antwort. Sollte sie nein lauten, dann wäre es nicht Unklarheit, sondern Realismus, Macht mit Gewalt gleichzusetzen. Der Ausdruck „Gewalt" weist auf die Stärke hin, die ein Ding an sich und ferner in der Einwirkung auf andere Dinge hat. Diese Stärke zwingt die einzelnen Dinge zu einer Bewegung oder ganz allgemein zu einem bestimmten Verhalten, ohne daß dabei deren eigene Mitwirkung in Anspruch genommen wird. Natürlich kann kein Ding zu etwas gezwungen werden, das seiner Natur widerspricht. Wenn man das versucht, wird der betreffende Gegenstand vernichtet oder allenfalls zu etwas anderem umgeformt. In dieser Hinsicht gibt es eine äußerste Grenze für jede Gewaltanwendung. Das, was gezwungen wird, muß seinen Wesenskern bewahren, sonst wird es nicht nur gezwungen, sondern zerstört. Auf dem Gebiet der Physik werden die Dinge gezwungen, sich zu bewegen oder so zu verhalten, wie es ihren eigenen Möglichkeiten und den auf sie einwirkenden Kräften entspricht. Das Ergebnis ist in jedem Fall berechenbar; es ergibt sich als Ausgleich der verschiedenen wirksamen Kräfte. Im Bereich des Organischen zeigen sich die gleichen Möglichkeiten und die gleichen Grenzen der Gewalt. Aber es besteht hier doch ein Unterschied zum Anorganischen. Solange ein Lebewesen nicht zu einem Mechanismus gemacht worden ist, reagiert es spontan, und zwar entweder im Einklang mit den Kräften, die auf es einwirken, oder in Abwehr dagegen. Aber natürlich kann man kein Lebewesen in einen reinen Mechanismus verwandeln, ohne seine Mitte zu zerstören, und das bedeutet nichts anderes, als sein Leben auszulöschen. Man kann die meisten seiner Reaktionen abrichten, aber es bleiben stets noch Teilbereiche übrig, die spontan reagieren, solange nicht alles Leben durch rein chemische Prozesse verdrängt ist. Spontaneität bedeutet, daß eine Reaktion zwar durch einen Reiz angeregt, aber nicht erzwungen wird; diese kann somit auch nicht im voraus berechnet werden. Denn eine 172

ganzheitliche Reaktion wirkt immer vom Zentrum her, das sich jeder Berechnung entzieht, weil es unteilbar ist und das eigentliche Wesen eines Individuums ausmacht. Soweit die Gewalt in ihrer Einwirkung auf Lebewesen nicht ohne Spontaneität auskommt, wäre es vielleicht besser, von Zwang oder Nötigung zu sprechen. Das ist sicherlich der Fall in den Begegnungen zwischen Menschen. Denn in den Ausdrücken „Zwang" oder „Nötigung" liegt die Vorstellung eines psychologischen Widerstands, der überwunden werden muß. Und diesen Widerstand muß die Macht brechen, wenn sie es mit Menschen zu tun hat. Macht verwirklicht sich durch Gewalt und Zwang; aber sie ist weder das eine noch das andere. Macht ist Sein, das sich gegen die Drohung des Nichtseins behauptet. Sie gebraucht und mißbraucht den Zwang, um diese Drohung zu überwinden. Sie gebraucht und mißbraucht Gewalt, um sich zu verwirklichen. Aber sie ist, wie gesagt, weder das eine noch das andere. Darum muß das Verhältnis zwischen Macht und Zwang folgendermaßen beschrieben werden: Macht ist auf Zwang angewiesen; aber Zwang kann von ihr nur so lange wirksam ausgeübt werden, wie er ein Ausdruck des wirklichen Machtverhältnisses ist. Wenn der Zwang diese Grenze überschreitet, kehrt er sich gegen sich selbst und untergräbt die Macht, der er dienen soll. Nicht der Zwang an sich ist schlecht, sondern ein Zwang, der nicht mit der Seinsmächtigkeit übereinstimmt, in deren Namen er angewandt wird. Macht braucht Zwang, aber dieser Zwang muß sich vor den tatsächlich gegebenen Machtverhältnissen rechtfertigen. Die sozialen und politischen Folgen dieser Auffassung sollen später aufgezeigt werden. Die ontologische Einheit von Liebe und Macht Wenn in jeder Verwirklichung von Macht ein Element des Zwanges enthalten ist, wie kann dann Macht mit Liebe in Einklang gebracht werden? Diese Frage wird von all denen gestellt, die um der Liebe willen die Macht ausschalten wollen. Und in der Tat, wenn die Macht zu ihrer Selbstverwirklichung nicht ohne Gewalt und Zwang auskommt, schließt sie dann nicht die Liebe aus? Die ontologische Antwort auf diese brennende Frage des praktischen Lebens ergibt sich aus unserer Auffassung von Liebe und Macht. Macht des Seins ist gleichbedeutend mit ihrem Vermögen, sich gegen das Nichtsein zu behaupten, das in ihm enthalten ist und ihm widersteht. Je mehr Nichtsein das Lebendige in sich bewältigen kann, um so größer ist 173

seine Seinsmächtigkcit. Die Macht des Seins ist keine tote Identität, sondern ein dynamischer Prozeß, in dem es sich von sich selbst trennt und zu sich selbst zurückkehrt. Je größer die zu überwindende Trennung ist, desto größer ist die wirkende Macht. Der Prozeß, in dem das Getrennte sich wiedervereinigt, ist die Liebe. Je stärker die Liebe ist, desto mehr Nichtsein vermag sie zu überwinden, desto mehr Seinsmächtigkeit bekundet sie. Die Liebe ist das Fundament, nicht die Verneinung der Macht. Ob man nun sagt, daß das Sein das Nichtsein in sich birgt oder daß das Sein sich von sich selbst trennt, um sich wieder mit sich zu vereinigen, ist völlig gleichgültig. Die Grundformel, mit der man den Prozeß in der Liebe und in der Macht wiedergeben kann, ist identisch: Trennung und Wiedervereinigung oder Sein, das Nichtsein in sich hineinnimmt. Aufgrund dieser letzten Einheit von Liebe und Macht läßt sich die Frage beantworten, wie das Element des Zwanges in der Macht mit der Liebe vereint werden kann. Niemand verspürte die Schwere dieser Frage mehr als Luther, der seine vergeistigte Liebesethik mit einer höchst realistischen Auffassung von der Rolle der uneingeschränkten Macht in der Politik in Einklang bringen mußte. Luther antwortete mit der Feststellung, daß Zwang das „fremde Werk" der Liebe sei. Nach ihm sind Sanftmut, Hingabe und Barmherzigkeit die eigentlichen Werke der Liebe, während Härte, Töten und Verurteilung ihr fremdes Werk sind; aber Liebe liegt ihnen allen zugrunde. Was er meinte, ließe sich auch so ausdrücken, daß es das fremde Werk der Liebe ist, zu zerstören, was gegen die Liebe ist. Das setzt jedoch die Einheit von Liebe und Macht voraus. Um ihr eigentliches Werk (nämlich Nächstenliebe und Vergebung) verrichten zu können, muß die Liebe sich einen Raum schaffen, in dem das möglich ist, und zwar durch das fremde Werk des Richtens und Strafens. Um zu überwinden, was gegen 'die Liebe ist, muß sich die Liebe mit der Macht verbinden, und zwar nicht nur mit der Macht als solcher, sondern auch mit der Macht, insofern sie Zwang ausübt. Das führt zu einer neuen Frage: Wenn Liebe mit dem Element des Zwanges in der Macht verbunden ist, wo liegen dann die Grenzen einer solchen Verbindung? Wann steht der Zwang im Widerstreit mit der Liebe? Ein solcher Widerstreit liegt vor, wenn sich der Zwang dem Ziel der Liebe, nämlich der Wiedervereinigung des Getrennten, entgegenstellt. Liebe muß durch Gewalt das niederzwingen, was gegen die Liebe gerichtet ist. Aber die Liebe kann nicht den Menschen vernichten, der gegen die Liebe verstößt. Selbst wenn sie sein Tun zunichte macht, vernichtet sie nicht ihn selbst. Sie versucht, ihn zu retten und ihm zur 174

Selbsterfüllung zu verhelfen, indem sie das in ihm auslöscht, was gegen die Liebe ist. Das Kriterium, nach dem hier entschieden wird, ist: Alles, was eine Wiedervereinigung unmöglich macht, ist gegen die Liebe. Es wird uns aus dem Mittelalter berichtet, daß während eines Gerichtsverfahrens gegen einen Massenmörder die Verwandten der Ermordeten auf die Knie fielen und für die Seele des Mörders beteten. Seine physische Vernichtung wurde nicht als eine Verletzung, sondern als eine Bestätigung der Liebe empfunden. Sie machte die Wiedervereinigung der Seele des Verbrechers, die sich aufs äußerste von der Liebe getrennt hatte, sowohl mit sich selbst wie auch mit den Seelen seiner natürlichen Feinde möglich. Das vollkommene Gegenbeispiel hierzu ist die Art und Weise, wie heutzutage totalitäre Systeme Macht ausüben, indem sie ihre Opfer durch Ermüdung, Drogen und ähnliche Mittel in bloße Sachen verwandeln. Dabei wird nicht einmal den Freunden und Verwandten erlaubt, bei ihrer Zerstörung zugegen zu sein, deren Zweck es ist, ihr ganzes Sein zu vernichten, ohne eine Spur wiedervereinigender Liebe. Vielleicht gibt es hier einen Punkt, den Luther nidit klar genug gesehen hat, nämlich daß das „fremde Werk" der Liebe, das Element des Zwanges in der Macht, nicht nur der „fremde", sondern auch der tragische Aspekt der Liebe ist. Dieses Element des Zwanges stellt den Preis dar, der für die Wiedervereinigung des Getrennten gezahlt werden muß. Und darüber hinaus hat Luther sicherlich nicht genügend beachtet, daß diejenigen, die an der Macht sind, das „fremde Werk" der Liebe als ein Mittel verwenden können, um sich an der Macht zu behaupten, und nicht, um die einander Entfremdeten wieder zu vereinigen. Luther stellte sich nicht die Frage, wie diese Verzerrung der Lehre vom „fremden Werk" der Liebe zu verhindern sei. Darum hat man ihm oft vorgeworfen, daß er in Fragen der Macht einen machiavellischen Zynismus an den Tag lege. Das ist sicher unberechtigt, was Luthers eigene Einstellung betrifft, aber doch nicht ganz unbegründet, wenn man an die Auswirkungen seiner Lehre denkt. Nun erhebt sich die Frage, wie Liebe und Macht zu vereinen sind, wenn man Liebe und Macht als Einheit betrachten muß, Zwang aber in keiner Verwirklichung der Macht zu vermeiden ist. Die Antwort darauf bildet das Thema des Kapitels über die Ontologie der Gerechtigkeit. Wir haben den Ausdruck „Selbstliebe" erörtert und sind zur Ansicht gekommen, daß man ihn am besten überhaupt nicht gebraucht. Gleiches gilt vom Ausdruck „Selbstmächtigkeit", den man allerdings nicht verwendet; aber doch gebraucht man die Wendung „Selbstbeherr175

schling" in dem Sinne, daß man sich in der Gewalt hat. Wieder müssen wir fragen, ob die Struktur der Selbstbezogenheit so etwas wie die Macht des Selbst über das Selbst zuläßt. Die Frage muß in gleicher Weise entschieden werden wie im Falle der „Selbstliebe". Es handelt sich um einen bildlichen Ausdruck, denn es gibt ja kein Selbst, das mit einem anderen Selbst im Kampfe liegt, mit dem es im übrigen identisch ist. Die Macht des Selbst liegt in seiner Selbstzentriertheit. Selbstbeherrschung ist daher die Bewahrung der eigenen Mitte gegen auseinanderstrebende Tendenzen, und diese kommen aus den Elementen, die die Mitte des eigenen Wesens ausmachen. Man darf vielleicht sagen, daß zwischen diesen Elementen ein Kampf im Gange ist, weil ein jedes von ihnen versucht, das Zentrum zu beherrschen. Aber ein solcher Kampf setzt voraus, daß es ein selbstbezogenes Ich gibt, innerhalb dessen einander widerstrebende Triebe walten können. Logisch gesehen, geht das Zentrum jedem Teil voraus, das es zu bestimmen sucht. Sich in der Gewalt haben meint die Tatsache, daß die Macht des Selbst größer ist als die einzelnen Kräfte, die das Selbst ausmachen und die alle versuchen, es zu beherrschen. Wir müssen jedoch fragen: Wie kann ein Mittelpunkt (ein Symbol der Geometrie) Macht haben über die Macht der Elemente hinaus, deren Mitte er ist? Die Antwort darauf lautet, daß er keine unabhängige Macht besitzt, sondern daß seine Macht ausschließlich auf einem ausgewogenen Gleichgewicht zwischen den Elementen beruht, die auf ihn als ihre Mitte bezogen sind. Dieses ausgewogene Gleichgewicht zwischen seinen unentbehrlichen Elementen, das ist die Macht des Zentrums. In diesem Gleichgewicht haben einige Elemente Vorrang, andere treten an Bedeutung zurück, ohne jedoch alles Gewicht zu verlieren. Selbstbeherrschung ist der Prozeß in dem zentrierten Selbst, der das einmal hergestellte Gleichgewicht gegen zerstörerische Kräfte bewahrt und stärkt. Das kann dadurch geschehen, daß Elemente, die im Selbst vorhanden sind, aus dem Zentrum entfernt werden. Es ist aber auch dadurch möglich, daß im Zentrum eine große Zahl von Elementen in einer solchen Weise vereinigt wird, daß sich keine Gefahr für das Gleichgewicht im Selbst ergibt. Ob Selbstbeherrschung in jenem oder in diesem Sinne ausgeübt wird, entscheidet über den ethischen Charakter der Selbstbeherrschung, und zwar im Sinne einer mehr puritanischen oder romantischen Ethik. Aber in beiden Fällen ist die Grundstruktur die gleiche. Ein aus einer Mitte lebendes Selbst setzt eine Macht voraus, die das Selbst durch ein stabiles Gleichgewicht zwischen seinen einzelnen Elementen über jedes einzelne dieser Elemente ausübt. In diesem Sinne ist jedes Selbst eine Machtstruktur. 176

IV DAS S E I N U N D D I E

GERECHTIGKEIT

Gerechtigkeit als die Form des Seienden Verwirklichtes Sein oder Leben verbindet Dynamik mit Form. Alles Wirkliche hat eine Form, sei es ein Atom oder der menschliche Geist. Was keine Form hat, ist ohne Sein. Gleichzeitig strebt alles Wirkliche über sich hinaus. Es begnügt sich nicht mit dem Zustand, in dem es sich befindet. Es drängt zu einer umfassenderen Form, schließlich zu der allumfassenden Form. Alles Bestehende will wachsen. Es will seine Seinsmächtigkeit vermehren, indem es Formen annimmt, die mehr Nichtsein in sich hineinnehmen und überwinden. In bildlicher Sprache könnte man sagen, daß das Molekül Kristall werden will, das Kristall Zelle, die Zelle ein Zentrum von Zellen, die Pflanze Tier, das Tier Mensch, der Mensch Gott, das Schwache stark, das Isolierte Glied einer Gemeinschaft, das Unvollkommene vollkommen und so fort. In dem Drang dieser Bewegung kann es geschehen, daß ein Seiendes sich selbst verliert, indem es seine Grenzen überschreitet. Es kann geschehen, daß es seine gegebene Form zerstört, ohne eine neue zu gewinnen, und sich so selbst vernichtet. Das Leben begegnet dieser Drohung, indem es Formen des Wachstums schafft. Ein Seiendes überschreitet seine gegebenen Grenzen in Formen, die den Prozeß der Selbsttranszendenz bestimmen. Aber diese Bestimmung ist niemals vollständig. Wäre das der Fall, dürfte nicht von Selbsttranszendenz die Rede sein; man müßte dann vielmehr von Selbstbekundung sprechen. Die Lücken, die die Wachstumsgesetze lassen, stellen alles Lebendige unter ein Wagnis. Die Selbsttranszendenz eines Seienden kann zur Selbsterfüllung, aber auch zur Selbstzerstörung führen. Man könnte hier vom Risiko der schöpferischen Kraft sprechen. Symbolisch könnte man sagen, daß selbst Gott in seinem Schöpfungswerk das Wagnis auf sich nahm, daß sich seine Schöpfung in Selbstzerstörung verkehrt. In jener Vision, in der Parmenides die Antwort auf die philosophische Frage nach der Wahrheit erhält, ist es Dike, die Göttin der Gerechtigkeit, die ihn in die Wahrheit über das Sein einführt. Gerechtigkeit ist nämlich keine soziale Kategorie, die wenig mit der ontologischen Fragestellung zu tun hat, sondern eine Kategorie, ohne die überhaupt keine Ontologie möglich wäre. In dem dichterischen Fragment

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des Parmenides haben wir eine archaische Ontologie der Gerechtigkeit. In seinen Ausführungen über den logos, d. h. das Gesetz, das das Leben des Kosmos bestimmt, wendet Heraklit den Begriff des logos sowohl auf die Naturgesetze als audi auf die Gesetze der polis an. Nach Plato ist Gerechtigkeit die einigende Kraft in jedem Individuum wie auch in sozialen Gruppen. Sie ist in beiden Fällen die umfassende Form. Seinsmächtigkeit beruht danach auf Gerechtigkeit. In der Stoa wirkt der gleiche logos in den Naturgesetzen wie im Sittengesetz. Er ist als Prinzip der Gerechtigkeit Maßstab für alle bestehenden Gesetze. Er gibt den römischen Stoikern den Prüfstein für die Ausgestaltung und Handhabung des römischen Rechts. Er wurde als unbedingt und als im ganzen Weltall gültig angesehen, unabhängig von den Folgen seiner Anwendung in der Praxis. Jedesmal, wenn die ontologische Grundlage' der Gerechtigkeit zugunsten einer positivistischen Auffassung des Rechts preisgegeben wurde, fehlte ein Kriterium gegen tyrannische Willkür oder utilitaristischen Relativismus. In dem Kampf des Sokrates mit den Sophisten war das der entscheidende Punkt. In der Verteidigung der „Menschenrechte" gegen Zynismus und Diktatur wiederholt sich der gleiche Kampf in unserer Zeit. Er kann nur gewonnen werden, wenn es uns gelingt, eine neue Grundlage für das Naturrecht und die Gerechtigkeit zu finden. Ein Blick auf das Alte Testament zeigt uns, daß in ihm trotz des unmetaphysischen Charakters des prophetischen Denkens das gleiche Prinzip der Gerechtigkeit nicht nur für Israel, sondern für die ganze Menschheit und auch die Natur gilt. Im Spätjudentum wird das Recht im Bereich des Ewigen verankert, nur seine Erscheinungsform ist zeitlich bedingt. Das bedeutet letztlich, daß Gerechtigkeit die Form des Seins ist, die zu allen Zeiten für alles Bestehende gültig ist. Gehorsam gegenüber dem Recht verleiht Seinsmächtigkeit, Ungehorsam führt zur Selbstzerstörung. Wenn Gerechtigkeit die Form ist, in der sich die Macht des Seins verwirklicht, so muß, wie das bereits erwähnt wurde, die Gerechtigkeit der Dynamik des Seins angemessen sein. Sie muß z. B. imstande sein, den zwischenmenschlichen Beziehungen eine Form zu geben. Das Problem der Gerechtigkeit in der Begegnung von Seinsmächtigkeit mit Seinsmächtigkeit ergibt sich aus der Tatsache, daß im voraus unmöglich gesagt werden kann, wie sich das Machtverhältnis innerhalb der Begegnung gestalten wird. Jeder Augenblick eröffnet neue Möglichkeiten. Jede dieser Möglichkeiten verlangt eine eigene Form. Ein falsches, ungerechtes Machtverhältnis vermag das Leben zu zerstören. Jeder Akt der Gerechtigkeit erfordert Wagemut und ist unvermeidlich mit einem 178

Risiko verknüpft. Es gibt hier keine Prinzipien, die sich mechanisch anwenden ließen und in jedem Fall Gerechtigkeit gewährleisten könnten. Und dennoch gibt es gewisse Prinzipien der Gerechtigkeit, die die Form des Seins in seinem allgemeingültigen und ewigen Charakter widerspiegeln. Prinzipien der Gerechtigkeit Auf der Grundlage einer Ontologie der Liebe ist es offensichtlich, daß die Liebe das Grundprinzip der Gerechtigkeit ist. Wenn Leben als sich verwirklichendes Sein wesensgemäß der Drang nach Wiedervereinigung des Getrennten ist, dann folgt daraus, daß die Gerechtigkeit des Seins die Form ist, die dieser Bewegung entspricht. Die weiteren Prinzipien, die sich aus dem genannten Grundprinzip ergeben, vermitteln zwischen ihm und der konkreten Situation, in der das Wagnis der Gerechtigkeit gefordert wird. Die folgenden vier Prinzipien erfüllen diese Aufgabe der Vermittlung. Das erste Prinzip ist das der Angemessenheit zwischen Form und Inhalt. Solange es menschliche Gesetze gibt, ist immer wieder die Klage laut geworden, daß Gesetze, die früher einmal angemessen waren, noch zu einer Zeit gelten, wo das nicht mehr der Fall ist. Sie vermitteln dann nicht mehr die Form, in der schöpferische Begegnungen möglich sind, solche, aus denen sich eine bestimmte Seinsmächtigkeit ergibt. Uberholte Gesetze verhindern, daß Begegnungen schöpferisch werden oder daß sie das Getrennte wieder vereinen, um einen Begriff aus der Ontologie der Liebe zu gebrauchen. Gesetze, die in einer früheren Zeit depi Bestand der Familie oder einem gesunden Wirtschaftsleben dienten, können heute Familien zerstören und die Struktur der Gesellschaft zersetzen. Die Möglichkeit solcher Widersprüche zwischen Gesetz und konkreter Situation beruht auf der Tatsache, daß die Formen, die einmal bestimmten Seinsmächtigkeiten entsprachen, sich auch dann noch behaupten möchten, wenn sie nicht mehr angemessen sind. Das ist sogar in der Natur der Fall, wie die Überreste früher biologischer Entwicklungsstufen in späteren Stadien der Entwicklung zeigen. Dieser Tatbestand wird ferner durch das Beharrungsvermögen von kulturellen und sozialen Einrichtungen der Menschheit bestätigt. In beiden Fällen ist es die Scheu vor dem Wagnis der Selbsttranszendenz, die das Leben in den Fesseln bewährter Einrichtungen festhält. Aber der Preis für die Sicherheit in der alten Form ist Ungerechtigkeit. Und die Ungerechtigkeit, die sich aus der Unangemessenheit der Form ergibt, untergräbt letztlidi die Sicherheit, so daß der Preis umsonst bezahlt wurde. Das zweite Prinzip der Gerechtigkeit ist Gleichheit. Sie wird in 179

jedem Gesetz vorausgesetzt, insofern das Gesetz in gleicher Weise für eine Gruppe von gleidien gültig ist. Aber hier stellt sich die Frage: Wer sind die gleichen? Wie ist die Gleichheit gemeint? In Piatos „Staat", dessen eigentlicher Kern die Idee der Gerechtigkeit ist, bleibt eine große Gruppe von Menschen, nämlich die Sklaven, von der vollen Menschlichkeit und der entsprechenden Gerechtigkeit ausgeschlossen. Unter den drei Ständen, die als Bürger gleichberechtigt sind und als vollwertige Menschen betrachtet werden, besteht große Ungleichheit hinsichtlich ihrer Ansprüche auf „zuteilende Gerechtigkeit". Das Christentum hat die grundsätzliche Ungleichheit der Antike eingeschränkt, indem es die Unterschiede zwischen Menschen mit voller und solchen mit begrenzter Menschlichkeit aufhob. Vor Gott sind letztlich alle Menschen gleich, und seine Gerechtigkeit wird ihnen ohne Unterschied gewährt. Rang und Stand gelten nichts im Urteil Gottes; aber sie sind doch sehr wichtig für die zwischenmenschlichen Beziehungen. Die frühe Kirche schaffte die Sklaverei nicht ab, und die Ordnung der mittelalterlichen Gesellschaft beruhte auf dem Feudalsystem mit seinen abgestuften Rechten gemäß der sozialen Stellung des Einzelnen. Das Prinzip der Gleichheit war auf die Standesgenossen beschränkt, die gleichsam denselben ontologischen Rang hatten, und zwar innerhalb wie außerhalb der menschlichen Gesellschaft. Die Gerechtigkeit jener Zeit beruht auf einer kosmischen Hierarchie. Sie ist die Form, in der diese Hierarchie ins Leben tritt. Das Prinzip der Gleichheit kann aber auch ganz anders verstanden werden, indem es in demokratischer Weise auf alle Menschen angewandt wird. In diesem Falle verweist man auf die Vernunft, an der jeder teilhat, der den Namen „Mensch" verdient. Die Fähigkeit zur Vernunft macht alle Menschen gleich. Diese Fähigkeit muß in Wirklichkeit umgesetzt werden, wenn tatsächliche Gleichheit entstehen soll. Aber im Prozeß der Verwirklichung der Vernunft treten zahllose Unterschiede zu Tage, Verschiedenheiten in den Naturanlagen der einzelnen Menschen, Verschiedenheiten in ihren sozialen Aussichten, Verschiedenheiten in ihrer schöpferischen Kraft, kurz, Verschiedenheiten in allen Bereichen ihrer Seinsmächtigkeit. Diese Unterschiede bedingen Abstufungen in dem gesellschaftlichen Einfluß des Einzelnen und folglich in seinem Anspruch auf „zuteilende Gerechtigkeit". Aber diese Unterschiede sind geschichtlich und nicht ontologisch bedingt, wie z. B. in den Systemen, die auf hierarchischem Denken beruhen. Sie sind dem Wandel unterworfen, aber dennoch verhindern sie ein egalitäres Gesellschaftssystem. Tatsächlich gibt es auch kein System, in dem das Gleichheitsprinzip restlos verwirklicht ist. 180

Das Verhältnis von Gleichheit zur Gerechtigkeit ist abhängig von der Seinsmächtigkeit eines Menschen und dem dadurch bestimmten Anspruch auf Gerechtigkeit. In der Festlegung dieses Anspruchs bestehen beträchtliche Unterschiede. Es ist etwas völlig anderes, ob ein Mensch einen bestimmten Platz in einer hierarchischen Struktur hat und die Gerechtigkeit erwartet, die seinem gesellschaftlichen Rang zukommt, oder ob er als einmaliges und unvergleichliches Wesen betrachtet wird und eine Form der Gerechtigkeit beansprucht, die seiner besonderen Seinsmächtigkeit entspricht. Und die Lage ist wiederum anders, wenn der Mensch als potentieller Träger von Vernunft gesehen wird und als solcher die Gerechtigkeit erwartet, die seiner Würde als Vernunftwesen auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung entspricht. In all diesen Fällen ist Gleichheit vorhanden, aber eine abgewandelte, keine starre Gleichheit. Jede Lösung des Problems der menschlichen Freiheit ist annehmbar, sofern sie mit den hier erörterten Grundsätzen übereinstimmt. Ausschlaggebend ist nur, daß der Mensch als ein denkendes, sich entscheidendes und verantwortliches Wesen betrachtet wird. Es wäre darum vielleicht besser, das Persönlichkeitsprinzip als ein Prinzip der Gerechtigkeit aufzufassen. Der Kern dieses Prinzips ist die Forderung, jede Person auch als Person zu behandeln. Gegen die Gerechtigkeit wird immer verstoßen, wenn mit Menschen umgegangen wird, als wären sie Dinge. Dieses Verhalten hat man Verdinglichung oder Vergegenständlichung genannt. Jedenfalls widerspricht es der Gerechtigkeit des Seins, dem inneren Anspruch jeder Person, als solche behandelt zu werden. Dieser Anspruch umfaßt und bestimmt das Verhältnis der Freiheit zur Gerechtigkeit. Freiheit kann die innere Überlegenheit der Person über die Versklavung bedeuten, in die er durch äußere Umstände geraten ist. Der stoische und der christliche Sklave glichen sich in ihrer Unabhängigkeit von den sozialen Verhältnissen, die zwar ihrer äußeren Freiheit entgegenstanden, aber nicht notwendigerweise ihre innere Freiheit oder ihren Anspruch auf Behandlung als Person ausschlössen. Der Stoiker hat teil an der Gerechtigkeit des Universums und der in ihm waltenden Vernunft; der Christ erwartet die Gerechtigkeit des Reiches Gottes. Das -soziale Schicksal eines Menschen bedeutet somit nicht zugleich eine Versklavung der Person. Geistige Freiheit ist auch »in Ketten" möglich. Im Gegensatz zu diesem Ideal einer von den politischen Verhältnissen unabhängigen Freiheit versucht der Liberalismus, Verhältnisse, die Unfreiheit zur Folge haben, zu beseitigen. Der Obergang von jener zu dieser Idee der Freiheit vollzieht sich in der Einsicht, daß es soziale Bedingungen gibt, die geistige Freiheit unmöglich machen, und zwar ganz allgemein oder 181

für eine große Anzahl von Menschen. Das war das Argument der revolutionären Wiedertäufer der Reformationszeit. Darauf stützten sich viele Sozialreformer in der Geschichte des Christentums, und dieses Argument wurde schließlich von den humanistischen und religiösen Sozialisten in unserer Zeit vorgebracht. Aber in dem liberalen Kampf um politische Freiheit geht es um mehr. Freiheit gilt in dieser Sicht als ein wesentlicher Bestandteil der Gerechtigkeit, weil die Freiheit zu politischer und kultureller Selbstbestimmung als ein wesentliches Element persönlicher Existenz betrachtet wird. Die Sklaverei widerspricht in jeglicher Gestalt der Gerechtigkeit, selbst wenn Herr wie Sklave an der transzendenten Freiheit teilhaben können. Diese liberale Lehre von der Gerechtigkeit bildet allerdings eine Ausnahme in der Geschichte der Menschheit, und ihr Einfluß geht heute zurück. Gibt nun unsere ontologische Analyse eine Antwort auf die Frage nach der Freiheit im Liberalismus? Und enthält sie eine Lösung des oben berührten Problems, wie sich die aristokratische und die demokratische Idee der Gleichheit zur Freiheit verhält? Die Ontologie der Liebe gibt in der Tat die Antwort. Wenn die Gerechtigkeit die Form ist, in der sich die Wiedervereinigung des Getrennten vollzieht, muß sie sowohl die Trennung umfassen, ohne die es keine Liebe gäbe, als auch die Wiedervereinigung, in der die Liebe sich verwirklicht. Aus diesem Grund hat man häufig den Grundsatz der Brüderlichkeit, des Gemeinsinns, der Kameradschaft oder besser noch der Gemeinschaft mit den Prinzipien der Gleichheit und Freiheit gekoppelt. Diese Verbindung ist jedoch im Namen eines rein formalen Begriffs der Gerechtigkeit zurückgewiesen worden. Das geschah in der Annahme, daß Gemeinschaft eine vom Gefühl bestimmte Vorstellung sei und somit nichts Wesentliches dem rationalen Begriff der Gerechtigkeit hinzufüge, sondern im Gegenteil seine Strenge gefährde. Die Klärung all dieser eng miteinander verflochtenen Probleme erfordert eine Erörterung der Qualitäten der Gerechtigkeit und der Beziehung der Gerechtigkeit zu Macht und Liebe. Bedeutmgsschicbten

der

Gerechtigkeit

Wir haben verschiedentlich von „austeilender" und „ausgleichender Gerechtigkeit" gesprochen, von Aristoteles geprägten Begriffen. Um diese Unterscheidung verstehen zu können, müssen wir sie in dein größeren Zusammenhang der Mehrschichtigkeit der Gerechtigkeit erörtern. Die Grundlage der Gerechtigkeit ist der Anspruch auf Gerechtigkeit, 182

der allem Seienden zusteht. Der wesensgemäße Anspruch eines Baumes unterscheidet sich von dem wesensgemäßen Anspruch einer Person. Die Ansprüche auf Gerechtigkeit sind unterschiedlich, da sie auf den verschiedenen Formen beruhen, in denen sich die Macht des Seins verwirklicht. Aber sie sind dennoch gerecht, wenn sie der Seinsmächtigkeit entsprechen, auf der sie beruhen. Gerechtigkeit ist in erster Linie ein Anspruch, der von einem Seienden stillschweigend oder vernehmlich aufgrund seiner Seinsmächtigkeit erhoben wird. Sie ist ein innerer Anspruch, aus dem die Form spricht, in der sich ein Ding oder eine Person verwirklicht. Ansprüche auf Gerechtigkeit können der jeweiligen Seinsmächtigkeit angemessen sein, aber das ist nicht immer der Fall. Ob nun der Betroffene selbst oder andere f ü r ihn die Stimme erheben, um seinen Anspruch auf Gerechtigkeit anzumelden, in keinem dieser Fälle ist die Berechtigung des Anspruchs verbürgt. Eine der Ungerechtigkeiten, die sich bei der juristischen Verwirklichung des inneren Anspruchs auf Gerechtigkeit ergeben, ist die Verkennung des dynamischen Charakters alles Lebens. Die entgegengesetzte Ungerechtigkeit ergibt sich aus der Mißachtung der statischen Struktur des Seienden, innerhalb derer das dynamische Element erst wirksam werden kann. Die zweite Form der Gerechtigkeit ist die „zumessende" oder „abwägende Gerechtigkeit". Sie tritt ais „austeilende" oder „ausgleichende" Gerechtigkeit" 1 in Erscheinung und gibt jedem nach seinem Verdienst, im positiven wie auch im negativen Sinne. Es handelt sich um eine berechnende Gerechtigkeit, die die Seinsmächtigkeit aller Dinge unter dem Gesichtspunkt bemißt, was ihnen gegeben oder vorenthalten werden soll. Ich habe diese Form der Gerechtigkeit „zumessend" genannt, weil sie über den Anteil oder „Tribut" 1 entscheidet, den ein Ding oder eine Person gemäß ihrer besonderen Seinsmächtigkeit erhalten sollte. Tribut wird von besiegten Völkern den Herrschern der siegreichen Staaten gezollt. Er wird von dankbaren Menschen überragenden Persönlichkeiten oder ganzen Gruppen geleistet. Vertreter von Macht erhalten ihn als ein Zeichen der Dankbarkeit aus den H ä n d e n derer, die ihrer Macht unterworfen sind. Austeilende Gerechtigkeit gibt jedem Menschen den Anteil an Gütern, der ihm zusteht, ausgleichende Gerechtigkeit tut das gleiche, aber in negativer Weise, nämlich durch Entziehung von Gütern oder Bestrafung. Diese Tatsache macht deutlich, daß kein wesentlicher Unterschied zwischen austeilender und ausgleichender Gerechtigkeit besteht. Beide Formen der Gerechtigkeit wägen i Die englischen Worte für „austeilend" und „ausgleichend" lauten distributive und retributive; daher die Bezugnahme auf das verwandte Wort „Tribut". (D. Hrsg.) 183

ab und werden durch den Begriff der Quantität bestimmt. Im Bereich des Rechts und der Gesetzesvollstreckung ist die zumessende Form der Gerechtigkeit die Norm. Aber es gibt doch Ausnahmen, und die weisen auf eine dritte Form der Gerechtigkeit hin. Ich schlage vor, diese dritte Form der Gereditigkeit die „verwandelnde" oder „schöpferische Gerechtigkeit" zu nennen. Sie beruht auf der Tatsache, die ich bereits hervorgehoben habe, daß nämlich die innere Gerechtigkeit dynamisch ist. Als solche läßt sie sich nicht in starre Begriffe bannen. Aus diesem Grunde kann ihr auch die zumessende Gerechtigkeit nicht Genüge tun, da diese sich nach festen Maßstäben richtet. Man weiß aber nie von vornherein, wie die Begegnung von Seinsmächten verlaufen wird. Wenn man eine Begegnung auf der Grundlage früherer Machtverhältnisse beurteilt, ist man zwangsläufig ungerecht, selbst wenn man dem Buchstaben des Gesetzes nach im Recht ist. Diese Erfahrung können wir tagtäglich machen. Hier ist z. B. auf alle Verstöße gegen bestehende Gesetze zu verweisen, die im Namen eines höheren Rechts geschehen, das noch nicht formuliert und gültig ist. Hierher gehören auch Machtkämpfe, die im Konflikt mit nicht genügend klaren oder veralteten Satzungen stehen und die schließlich Siegern wie auch Besiegten zugute kommen. Hier ist schließlich auf jene Fälle zu verweisen, in denen um der Gerechtigkeit willen auf Gerechtigkeit verzichtet wird, ein Verhalten, ohne das keine menschliche Beziehung und keine menschliche Gruppe Bestand haben könnte. Man sollte in diesem Zusammenhang eigentlich vom Verzicht auf zumessende Gerechtigkeit um der schöpferischen Gerechtigkeit willen sprechen. Was ist aber der Prüfstein für schöpferische Gerechtigkeit? Um diese Frage beantworten zu können, muß man sich vor Augen halten, was letztlich der innere Anspruch eines Wesens auf Gerechtigkeit ist. Die Antwort hierauf lautet: Selbsterfüllung in einem Rahmen, der allem Seienden Erfüllung ermöglicht. Das religiöse Symbol hierfür ist „Reich Gottes". Die dritte Form der Gerechtigkeit fand ihren klassischen Ausdruck in den Schriften der Bibel, und zwar im Neuen und Alten Testament. Es trifft allerdings nicht zu, daß die biblische Vorstellung von der Gerechtigkeit eine Ablehnung der zumessenden Gerechtigkeit bedeutet. In beiden Testamenten gibt es unzählige Stellen, in denen Gott oder auch Christus als Richter erscheint. Und es gibt auch andere Stellen, wo die Ungerechtigkeit menschlicher Richter entlarvt und schärfer gegeißelt wird als fast jede andere Sünde. Dennoch weist das Hauptanliegen der Bibel in eine andere Richtung. Die zadikim, d. h. die Gerechten, sind jene, die sich der göttlichen Ordnung unterwerfen, die in Natur und 184

Geschichte waltet und nach der alles lebt. Aber diese Unterwerfung bedeutet nicht die bloße Annahme von Geboten, sondern sie ist ein liebender Gehorsam gegenüber dem, der Ursprung aller Gesetze ist. Daher verbindet der Begriff des zadik Unterwerfung unter das Gesetz mit Frömmigkeit gegenüber dem, der die Gesetze gibt. Hinter der personalistischen Terminologie des Alten Testaments verbirgt sich eine tiefe Einsicht in den ontologischen Charakter des Rechts. Im Spätjudentum trat es zutage und förderte das Verständnis von Christus als dem logos in der frühen Kirche. Sowohl in bezug auf den Menschen wie auch in bezug auf Gott bedeutet wahre Gerechtigkeit mehr als zumessende Gerechtigkeit. Sie bedeutet schöpferische Gerechtigkeit und findet ihren Ausdruck in der göttlichen Gnade, die vergibt, um wieder zu vereinen. Gott ist nicht an ein festes Verhältnis zwischen Verdienst und Belohnung gebunden. Er kann das Maß schöpferisch ändern und tut das, um jenen Erfüllung zu gewähren, denen nach dem Maßstab zumessender Gerechtigkeit die Erfüllung ihres Wesens versagt bliebe. Daher kann es geschehen, daß die göttliche Gerechtigkeit geradezu als Ungerechtigkeit erscheint. In dem Paradox der „Rechtfertigung aus Gnade durch den Glauben", wie es Paulus formuliert, offenbart sich die göttliche Gerechtigkeit in dem göttlichen Akt, der den Ungerechten gerecht macht. Das kann wie jeder Akt der Vergebung nur aus der Idee der schöpferischen Gerechtigkeit verstanden werden. Aber schöpferische Gerechtigkeit ist die Form der wiedervereinigenden Liebe. Die ontologische Einheit von Gerechtigkeit, Macht und Liebe Wir haben Gerechtigkeit als die Form bestimmt, in der sich die Macht des Seins in der Begegnung von Seiendem verwirklicht. Gerechtigkeit wohnt notwendig der Macht inne, da es keine Seinsmacht ohne die ihr angemessene Form gibt. Aber wann auch immer eine Begegnung von Seinsmächtigkeiten stattfindet, ist auch Zwang mit im Spiele. Das führt zur Frage: In welchem Verhältnis steht nun die Gerechtigkeit zum Element des Zwanges in der Macht? Die Antwort muß lauten: Nicht Zwang an sich ist ungerecht, sondern nur eine Form des Zwanges, die ein Wesen vernichtet, statt zu seiner Selbstverwirklichung beizutragen. Wenn der totalitäre Staat diejenigen entmenschlicht, gegen die er seine Gesetze vollstreckt, wird ihre Person zerstört und ihr innerer Anspruch auf Gerechtigkeit verneint. Nicht aller Zwang verletzt also die Gerechtigkeit, sondern nur ein solcher, der den inneren Anspruch eines Seienden auf Entfaltung seines Wesens im Zusammenhang mit allem Lebendigen in der Welt mißachtet. Es kann sehr wohl sein, 185

daß ein Zwang, der die Bestrafung eines Verbrechers verhindert, seine Seinsmäditigkeit zerstört, anstatt sie nach dem Maßstab der zumessenden Gerechtigkeit einzuschränken, worauf er einen Anspruch hat. Das ist der wahre Kern in Hegels Formulierung, daß der Verbrecher ein Recht auf Strafe habe. Wo Zwang sich gegen das innere Recht der einzelnen Bestandteile einer Machtstruktur auswirkt, wird diese nicht gestärkt, sondern geschwächt. Nicht anerkannte, aber gerechtfertigte Ansprüche verschwinden nicht einfach dadurch, daß sie unterdrückt werden. Sie wirken gegen das Ganze, indem sie unterdrückt werden, und können schließlich zum Untergang eines Machtgebildes führen, das sich als unfähig erweist, die Träger solcher Ansprüche am Leben des Ganzen teilnehmen zu lassen oder sie als Fremdkörper auszuscheiden. Der begründete Rechtsanspruch eines Seienden kann nicht verletzt werden, ohne daß der Verletzende selbst dadurch verletzt wird. Das gilt gleichermaßen für biologische, psychologische und für soziologische Machtstrukturen. Die geistige Macht eines Menschen kann sich z. B. in drei Formen geltend machen. Sie kann Kräfte seines Selbst unterdrücken, etwa bestimmte Begierden, Hoffnungen oder Ideen. In diesem Fall hören aber die unterdrückten Kräfte nicht auf zu existieren, sie stürzen vielmehr den Geist in einen Zwiespalt und drängen ihn auf den Weg des Zerfalls. Oder aber die geistige Macht eines Menschen kann widerstrebende Kräfte in sein Inneres aufnehmen und so mit dem Ganzen zu einer höheren Einheit verschmelzen. Schließlich kann die geistige Macht sie als Fremdkörper ganz und gar ausstoßen und damit ihren Anspruch, am Ganzen teilzuhaben, erfolgreich zurückweisen. In den beiden letztgenannten Fällen wirkt die Gerechtigkeit des menschlichen Geistes gegenüber widerstrebenden Kräften in gegensätzlicher Richtung; im ersten Fall verletzt er den inneren Anspruch einer vorhandenen Kraft und gefährdet sich dadurch selbst. Dieses Beispiel aus der Psychologie gilt auch für biologische und soziologische Machtstrukturen, was später noch zu erörtern sein wird. Wie die Gerechtigkeit der Macht immanent ist, so ist sie auch ein notwendiger Zug der Liebe. Jegliche Form der Liebe, ja, Liebe überhaupt, ist chaotische Selbstpreisgabe, wenn sie sich von Gerechtigkeit löst. Sie zerstört dann den Liebenden wie auch den, der solche Liebe annimmt. Liebe ist das Verlangen des Getrennten nach Wiedervereinigung. Sie setzt also voraus, daß es etwas gibt, das wiedervereinigt werden soll, etwas, das in gewisser Hinsicht unabhängig ist und für sich bestehen kann. Gelegentlich ist die Liebe in der Form der rückhaltlosen Selbsthingabe als die eigentliche Erfüllung der Liebe gepriesen worden. Aber es muß doch gefragt werden, was für eine Hingabe das ist und 186

was dabei hingegeben wird. Wenn ein Selbst, dessen Seinsmächtigkeit geschwächt oder im Schwinden begriffen ist, sich hingibt, dann ist seine Hingabe nicht viel wert. Es ist ein Wesen, das sich selbst nicht gerecht geworden ist und seinen eigenen inneren Anspruch auf Gerechtigkeit verleugnete. Die Hingabe eines solchen verkümmerten Selbst ist keine echte Liebe, weil sie das Entfremdete nicht vereint, sondern zerstört. Liebe dieser Art ist nichts als ein Trieb, das eigene verantwortliche und schöpferische Selbst zu vernichten, um sich mit einem anderen Selbst zu vereinen, dem bei dem vermeintlichen Akt der Liebe die Verantwortung f ü r sich und den anderen zugeschoben wird. Die chaotische Selbstpreisgabe wird dem Partner nicht gerecht, weil der, der sich hingibt, nicht sich selbst gerecht wird. Gerechtigkeit gegen sich selbst heißt, die eigene Seinsmächtigkeit zu bejahen und den Anspruch auf Gerechtigkeit zu erfüllen, der mit dieser Macht verknüpft ist. Ohne solche Gerechtigkeit gibt es keine wiedervereinigende Liebe, weil es dann nichts gibt, was zu vereinigen ist. Das führt zur Frage nach der Gerechtigkeit gegen sich selbst, eine Frage, die mit dem Problem der Selbstliebe und Selbstbeherrschung verwandt ist. Wir stellten fest, daß diese beiden Begriffe bildlich zu verstehen sind. Das gleiche gilt von der Gerechtigkeit gegen sich selbst. Es gibt natürlich kein unabhängiges Selbst, das über den Anspruch eines anderen Selbst entscheiden könnte, mit dem es identisch ist. Aber man kann doch in einem sehr bestimmten Sinne von Gerechtigkeit gegen sich selbst sprechen, nämlich in dem Sinne, daß das entscheidende Zentrum gerecht ist gegenüber den Elementen, deren Mittelpunkt es ist. Gerechtigkeit gegen sich selbst befindet z. B. in diesem Sinne, daß die puritanische Form der Selbstbeherrschung ungerecht ist, weil sie Elemente des Selbst unterdrückt, die einen berechtigten Anspruch darauf haben, in das Gefüge der anerkannten Bestrebungen und Triebe aufgenommen zu werden. Verdrängung ist Ungerechtigkeit gegen sich selbst, und sie führt zu den Folgen aller Ungerechtigkeit, nämlich zur Selbstzerstörung durch den Widerstand der Elemente, die unterdrückt werden. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Gerechtigkeit gegen sich selbst gleichbedeutend ist mit einem zuchtlosen Nachgeben gegenüber allen Trieben. Im Gegenteil, das kann höchst ungerecht sein, da es ein ausgewogenes Gleichgewicht im Zentrum unmöglich macht und das Selbst in einen Prozeß unverbundener Impulse auflöst. Das ist die Gefahr der romantischen oder offenen Form der Selbstbeherrschung. Diese kann sich als ebenso ungerecht gegen sich selbst erweisen wie der puritanische oder geschlossene Typus der Selbstbeherrschung. Sich selbst gegenüber gerecht zu sein bedeutet, die größtmögliche Zahl von 187

gegebenen Anlagen zu verwirklichen, ohne sich in Zerrissenheit und Chaos zu verlieren. Das ist eine Warnung davor, (in der Liebesbeziehung) sich selbst gegenüber ungerecht zu sein. Denn das bedeutet immer zugleich eine Ungerechtigkeit gegenüber dem, der die Ungerechtigkeit hinnimmt, die wir gegen unser eigenes Ich ausüben. Es wird ihm verwehrt, gerecht zu sein, denn er wird dazu gezwungen, Böses zu tun, indem er selbst Böses an sich zuläßt. Die Liebe tut nicht mehr, als die Gerechtigkeit fordert, aber die Liebe ist das höchste Prinzip der Gerechtigkeit. Liebe führt zur Wiedervereinigung; Gerechtigkeit aber bewahrt, was vereinigt werden soll. Sie ist die Form, in der und durch die die Liebe ihr Werk verrichtet. Gerechtigkeit ist letztlich schöpferische Gerechtigkeit, und schöpferische Gerechtigkeit ist die Form der wiedervereinigenden Liebe.

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V

DIE E I N H E I T VON GERECHTIGKEIT, LIEBE U N D MACHT IN ZWISCHENMENSCHLICHEN BEZIEHUNGEN Ontotogie und Ethik Bisher habe ich versucht, ontologische Grundfragen zu klären und damit das Fundament zu legen, das die nun folgenden ethischen Erörterungen unterbauen soll. Das ist nicht so zu verstehen, als ob es hier eine reinliche Trennung zwischen Unterbau und Oberbau gäbe. Denn man kann nicht über die ontologische Grundlage von Liebe, Macht und Gerechtigkeit sprechen, ohne ihre ethische Bedeutung im Auge zu haben, und wiederum läßt sich diese Bedeutung nicht erörtern, ohne ständig auf ihre ontologische Verwurzelung zu verweisen. Ethik ist die Wissenschaft vom moralischen Verhalten des Menschen. Sie fragt nach den Wurzeln des Sittengesetzes, dem Prüfstein seiner Gültigkeit, den Quellen, aus denen es sich speist, und den Kräften, die zu seiner Verwirklichung erforderlich sind. Stets ist die Antwort auf diese Fragen unmittelbar oder mittelbar abhängig von der jeweiligen Auffassung vom Sein. Die Wurzeln des moralischen Imperativs, die Kennzeichen seiner Gültigkeit, seine inhaltliche Bestimmung und die Kräfte des sittlichen Wollens, dies alles kann nur durch eine Analyse des menschlichen Seins und der Struktur der Welt bestimmt werden. Ethische Probleme lassen sich nicht behandeln, ohne zugleich in irgendeiner Form etwas über die Natur des Seins auszusagen. Der bedeutendste Versuch, die Ethik von der Ontologie zu lösen, liegt in der Wertphilosophie vor. Aber wenn je eine Philosophie zeitgebunden war, so trifft das für die Theorie der Werte zu, wie sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts aufkam. Die Gründe für ihr Auftreten und ihre beherrschende Stellung liegen auf der Hand. Nach dem sogenannten Zusammenbruch der klassischen deutschen Philosophie, vor allem aber von Hegels System, wurde die Deutung von Natur und Mensch einer mechanistischen Naturwissenschaft und einer rein materialistischen Ontologie überlassen. Die Ethik wurde als ein Teilgebiet der Biologie, Psychologie und Soziologie betrachtet. Jedes „Seinsollen" wurde in ein „Ist" verwandelt, jede Norm in ein Faktum, jede Idee in eine Ideologie. In dieser Lage bemühten sich verantwortungsbewußte Phi189

losophen darum, den Elementen der Wirklichkeit, von denen die Menschenwürde und ein sinnvolles Dasein abhängen, allgemeine Geltung zu verschaffen. Sie fanden die Lösung in der Lehre von den Werten. Praktische wie theoretische Werte, so argumentierten sie, seien eigene Wesenheiten. Sie sind nicht von der Ordnung des Seins abhängig, wie sie die philosophische Richtung des Naturalismus verstand. Und da die Ontologie ihrer Zeit materialistisch war, verwarfen sie jeden Versuch einer ontologischen Begründung des Reiches der Werte. Das Gute, das Schöne, das Wahre sind danach jenseits des Seins. Sie haben den Charakter des Seinsollens und nicht den des Seins. Das war ein geistvoller Versuch, die Gültigkeit ethischer Normen zu retten, ohne mit dem einseitigen Wirklichkeitsbegriff des Naturalismus in Konflikt zu geraten. Aber dieser Ausweg wurde von zwei Seiten her versperrt. Auf Seiten der Naturwissenschaft verbanden sich Biologie, Psychologie und Soziologie in der Weigerung, ihren beherrschenden Einfluß im Reich der Werte aufzugeben, weil er nach ihrer Auffassung wissenschaftlich begründet schien. Sie versuchten den Nachweis, daß biologische, psychologische und soziologische Gesetze völlig ausreichten, um die Geltung von Werten sowohl im persönlichen wie auch im gesellschaftlichen Bereich zu erklären. Werte, so schlössen sie, seien Wertungen. Nicht ihre Gültigkeit, sondern ihre Entstehung, Entfaltung und ihr Verfall verlangten eine Erklärung. Je tiefer diese Philosophen in die Dynamik der Lebensprozesse eindrangen, desto mehr Gründe fanden sie zur Bekräftigung ihrer Thesen. Der Sicherheitsabstand zwischen Sein und Wert schien zu verschwinden. Werte erschienen als Ausdruck der Existenz und daher unfähig, diese von einem Ort jenseits der Existenz kritisch zu beurteilen. Der Widerstand der Wertphilosophie gegen diese Gefahr wurde zunehmend schwächer. Aber noch entscheidender war der Angriff von der entgegengesetzten Seite. Er gewann seine Kraft aus einer Analyse der Werte selbst. Werte wollen in der Existenz und durch die Existenz verwirklicht werden. Dann aber erhebt sich die Frage: Wie ist das möglich, wenn es keinerlei ontologische Partizipation der Werte an der Existenz gibt und eine unüberbrückbare Kluft Existenz und Werte trennt? Wie kann ein von jenseits der Existenz kommendes Gebot irgendeinen Einfluß auf sie haben? Auf diese Frage gibt es in der Tat keine Antwort, wenn die Existenz ausschließlich unter dem Gesichtspunkt mechanischer Notwendigkeit gesehen wird. Aber selbst wenn man um der Werttheorie willen den naturwissenschaftlichen Determinismus mit ontologischen Waffen bekämpft und die Möglichkeit der Freiheit bejaht, bleibt doch die Frage bestehen, wie Gebote, die von jenseits der Existenz kommen, 190

verpflichtenden Charakter für Wesen haben können, zu deren Sein sie in keiner wesentlichen,Beziehung stehen. Auch hier blieb die Wertphilosophie die Antwort schuldig. So konnten die folgenden Fragen nicht mehr länger überhört werden: Wie steht es um die ontologische Grundlage der Werte? Wie ist das, was man Wert nennt, im Sein als solchem verwurzelt? Und noch gewichtiger: Ist es überhaupt sinnvoll, die Werttheorie aufrecht zu erhalten? Ist es nicht vielmehr richtiger, die Strukturen der Wirklichkeit zu untersuchen, auf denen die Ethik beruht? Mit anderen Worten: Verlangt nicht die Werttheorie selbst nach ihrer Ablösung durch die Ontologie? Jedoch selbst wenn man die Berechtigung dieser Kritik an der Werttheorie anerkennt, mag man der Versuchung unterliegen, der ontologischen Alternative durch andere Lösungen auszuweichen. Da gibt es zunächst den pragmatischen Weg. Ethische Normen, so argumentiert der Pragmatismus, sind lediglich die Objektivierung menschlicher Erfahrungen. Sie stellen Regeln dar, die das in praktischer Hinsicht angemessenste Verhalten aufzeigen. Aber man fragt sich hier sofort, welche konkrete Bedeutung dieses Angemessensein hat. In ihrem ethischen Aspekt ist doch jede Situation zweideutig und läßt somit verschiedene Antworten auf die Frage nach dem sittlich angemessenen Verhalten zu. Das pragmatische Ausweichen vor der Ontologie - vor bewußter Ontologie natürlich, denn unbewußte Ontologie ist immer im Spiel wird durch die Frage nach den Kriterien der pragmatischen Angemessenheit versperrt. Einen zweiten, in gewisser Hinsicht gegensätzlichen Ausweg bietet uns die Theologie an. Sittliche Normen sind danach von Gott gegeben, und darauf beruht ihre Gültigkeit. Diese Lösung scheint jener Qualität der sittlichen Erfahrung Rechnung zu tragen, für die weder der Pragmatismus noch die Werttheorie eine Erklärung haben, nämlich dem Charakter der Unbedingtheit des Sittengesetzes. Aber kommt nun die Theologie ohne Ontologie aus? Die theologische Alternative kann in zweifacher Weise verstanden werden. Die eine würde ich die heteronome, die andere die tbeonome nennen. Die erste begreift die sittlichen Gebote als Ausdruck eines göttlichen Willens, der souverän ist und keinerlei Rechtfertigung bedarf. Dieser Wille kann nicht danadi beurteilt werden, wieweit er der menschlichen Natur angemessen ist. Man muß ihm in der Form gehorchen, wie er uns durch Offenbarung vermittelt wurde. Aber dann ergibt sich die Frage, warum ein Mensch den Geboten dieses göttlichen Gesetzgebers gehorchen soll. Wie unterscheiden sie sich von den Geboten eines menschlichen Tyrannen? Gewiß, er ist stärker als ich; er kann mich vernichten. Aber muß nicht ein Mensch sehr viel mehr jene Vernichtung fürchten, die sich aus der 191

Unterwerfung seiner personalen Mitte unter einen fremden Willen ergibt? Würde diese Unterwerfung nicht gerade die Verneinung des moralischen Imperativs bedeuten? Die andere Möglichkeit einer theologischen Begründung des Sittengesetzes stellt die theonome Lösung dar. Sie vermeidet die zerstörerische Wirkung des heteronomen Verfahrens. Aber aus eben diesem Grunde wird sie ontologisch. In Übereinstimmung mit der. vorherrschenden Richtung der klassischen Theologie betont sie, daß Gottes Gesetz im Einklang mit der eigentlichen Natur des Menschen steht, die ihm nun als Forderung begegnet. Wäre der Mensch nicht sich selbst entfremdet, wäre seine ursprüngliche Natur nicht in seiner wirklichen Existenz verletzt, würde ihm kein Gesetz gegenüberstehen. Das Gesetz ist dem Menschen nicht wesensfremd. Es ist ein natürliches Gesetz, denn es verkörpert seine wahre Natur, von der er entfremdet ist. Jedes gültige sittliche Gebot ist ein Ausdruck der wesensgemäßen Beziehung des Menschen zu sich selbst, zu anderen und zur Welt. Das allein macht es verpflichtend und seine Ablehnung zu einem Akt der Selbstzerstörung. Das allein rechtfertigt die unbedingte Gültigkeit des Sittengesetzes, so fragwürdig und bedingt auch sein Inhalt im einzelnen sein mag. Die theonome Lösung führt zwangsläufig zu ontologischen Problemen. Wenn Gott nicht als ein fremder und willkürlicher Gesetzgeber verstanden wird, wenn seine Autorität nicht heteronom, sondern theonom ist, dann werden damit ontologische Voraussetzungen anerkannt. Eine theonome Ethik schließt Ontologie ein. Und sie bestätigt zugleich die Richtigkeit der ontologischen Grundlagen, auf denen sie beruht. Die ontologischen Aussagen über die Natur von Liebe, Macht und Gerechtigkeit erfahren ihre Bestätigung, wenn sie imstande sind, die sonst unlösbaren Probleme im Bereich von Liebe, Macht und Gerechtigkeit zu lösen. Um das zu erweisen, müssen wir die ethische Funktion von Liebe, Macht und Gerechtigkeit in den Bereichen der persönlichen Beziehungen, der sozialen Einrichtungen und des Heiligen untersuchen. Im ersten Bereich herrscht die Gerechtigkeit vor, im zweiten die Macht und im dritten die Liebe. Aber in jedem dieser Bereiche sind die Prinzipien von Liebe, Macht und Gerechtigkeit wirksam. Auch das Heilige ist ein Element in jedem der drei genannten Bereiche und stellt nur in gewisser Hinsicht eine eigene Sphäre dar. Daher werden wir zunächst von Gerechtigkeit, Liebe und Macht in den zwischenmenschlichen Beziehungen sprechen, uns dann der Rolle von Macht, Gerechtigkeit und Liebe im sozialen Leben zuwenden, um schließlich die Frage zu erörtern, in welchem Verhältnis Liebe, Macht und Gerechtigkeit zum Heiligen stehen. 192

Von der Gerechtigkeit

in persönlichen

Begegnungen

Der Mensch wird zum Menschen in persönlichen Begegnungen. Erst in der Berührung mit einem „Du" erfährt er, daß er ein „Ich" ist. Auf der ganzen Welt gibt es nichts anderes, das ihm diese Erfahrung vermitteln könnte. Der Mensch vermag nach allen Seiten die Grenzen seines Wissens und seiner Herrschaft zu überschreiten. Er kann alles seinen Zwecken dienstbar machen. N u r seine Endlichkeit setzt ihm eine Grenze. Aber alle dem Menschen gesetzten Begrenzungen lassen sich stetig erweitern. Niemand vermag zu sagen, wo die letzten Grenzen des menschlichen Vermögens liegen. In seiner Begegnung mit dem Weltall ist der Mensch imstande, jede nur denkbare Grenze zu überschreiten. Aber es gibt dennoch eine Grenze f ü r den Menschen, die unverrückbar ist und auf die er immer wieder stößt, und das ist der Mitmensch. Der Andere, das „Du", ist wie eine Mauer, die nicht beseitigt, nicht durchbrochen und nicht f ü r eigene Zwecke dienstbar gemacht werden kann. Wer das versuchen sollte, zerstört sich selbst. Das „Du" fordert durch seine bloße Existenz, daß es als ein „Du" für ein „Ich" und als ein „Ich" in seiner eigenen Einschätzung anerkannt wird. Das ist der Anspruch, der mit seinem Sein gesetzt ist. Wir können uns weigern, den inneren Anspruch des Anderen zu beachten. Wir können sein Verlangen nach Gerechtigkeit mißachten, wir können ihn beseitigen oder ihn ausnützen. Wir können auch versuchen, unseren Mitmenschen zu einem gefügigen Objekt, einem Ding oder einem Werkzeug zu machen. Aber wenn wir das tun, stoßen wir auf den Widerstand dessen, der einen Anspruch darauf hat, als ein „Ich" anerkannt zu werden. Und dieser Widerstand zwingt uns, entweder dem Anderen als einem „Ich" zu begegnen oder unsere eigene N a t u r als ein „Ich" zu verleugnen. Ungerechtigkeit gegenüber dem Anderen ist immer auch Ungerechtigkeit gegenüber sich selbst. Der Herr, der den Sklaven nicht als ein „Ich", sondern wie eine Sache behandelt, gefährdet sein eigenes Wesen als ein „Ich". Durch seine bloße Existenz verletzt der Sklave seinen Herrn ebensosehr, wie er durch ihn verletzt wird. Die Ungleichheit zwischen Herrn und Sklaven wird ausgeglichen durch die Zerstörung der IchQualität des Herrn. Das führt zur Frage, ob die „Goldene Regel" der Bibel (Matth. 7,12) als das Prinzip der Gerechtigkeit in der Begegnung von Personen betrachtet werden kann. Diese Regel wird ja selbst von Jesus befolgt. Auch verrät es gewiß Lebensklugheit, wenn wir uns den Mitmenschen gegenüber so verhalten, wie wir es von ihnen erwarten. Aber diese „Goldene Regel" ist nicht der Prüfstein der Gerechtigkeit in zwi193

schenmenschlichen Beziehungen. Denn es ist ja denkbar, daß man sich Wohltaten erwünscht, die im Widerspruch zur Gerechtigkeit gegenüber sich selbst stehen und die ebenso der Gerechtigkeit gegenüber dem Anderen widersprächen, wenn sie ihm zuteil würden. Sie sind ungerecht, ob sie nun gewährt oder empfangen werden. Wenn man sie von uns erbittet, sollten wir sie ablehnen. Das ist verhältnismäßig leicht, wenn Dinge erbeten oder gewährt werden, die offensichtlich böse sind. Aber die Sache wird schwierig, wenn wir uns verpflichtet fühlen, einen scheinbar gerechten Anspruch zu erfüllen, einen Anspruch, den auch wir erheben würden. Dennoch haben wir Hemmungen. Wir mißtrauen dem Anderen ebenso, wie wir uns selbst mißtrauen würden. Wir haben den Verdacht, daß sich hinter dem offensichtlichen Sinn der Forderung etwas verbirgt, das eigentlich zurückgewiesen werden müßte, z. B. unbewußte Feindseligkeit, Herrschsucht, die Absicht der Ausbeutung, der Trieb zur Selbstzerstörung. In all diesen Fällen kann die Gerechtigkeit in persönlichen Begegnungen nicht im Sinne der „Goldenen Regel" bestimmt werden. Wir haben oben das unbedingt gültige formale Prinzip der Gerechtigkeit in jeder Begegnung von Personen gefunden, nämlich die Anerkennung des Anderen als Person. Aber wir haben vergeblich versucht, für dieses formale Prinzip bestimmte Forderungen aus der „Goldenen Regel" abzuleiten. Wir müssen uns daher die Frage stellen, ob es andere Möglichkeiten gibt, das Prinzip der Gerechtigkeit konkreter zu bestimmen. Eine scheinbar unanfechtbare Antwort lautet, daß die Entfaltung der Kultur uns den Inhalt für das formale Prinzip der Gerechtigkeit in den menschlichen Beziehungen liefert. Ein solcher Inhalt liegt vor in der Erfahrung der Menschheit, wie sie ihre Ausprägung in Gesetzen, Uberlieferungen, den Urteilen von Autoritäten und auch im individuellen Gewissen findet. Wer dieser Richtschnur und der Stimme seines Gewissens folgt, steht auf festem Grund, was die Begegnung von Person zu Person betrifft. Die Menschheit kann nicht auf einen gewissen Schatz an ethischer Weisheit verzichten, der ihre Selbstzerstörung verhindert und der, religiös gesprochen, auf allgemeingültiger Offenbarung beruht. D a Gerechtigkeit die Form ist, in der sich die Macht des Seins verwirklicht, hätte die Menschheit nicht einen Augenblick bestehen können ohne bestimmte Formen der Gerechtigkeit in der Begegnung von Mensch zu Mensch. Die alltäglichen menschlichen Beziehungen werden überwiegend durch Grundsätze geregelt, die den oben angeführten Quellen der Gerechtigkeit entnommen sind. In manchen Fällen bestimmen Gesetz, Überlieferung und Autorität, in anderen Fällen ist das individuelle Gewissen maßgebend. Das ist ein gewichtiger 194

Unterschied, der zu tragischen Konflikten führen kann, wie das in klassischer Form in der „Antigone" des Sophokles dargestellt ist. Aber für unsere Problematik ist dieser Gegensatz nicht entscheidend. Denn objektive Regeln und individuelles Gewissen bedingen sich gegenseitig. In dem Prozeß, der Gesetze, Uberlieferungen und Autoritäten zu Richtlinien der Gerechtigkeit machte, sind ja stets auch individuelle Gewissensentscheidungen am Werke gewesen. Andererseits wurde das individuelle Gewissen durch die Einwirkungen von Gesetzen, Überlieferungen und Autoritäten geformt. In diesem Prozeß sind diese verinnerlicht und zu solchen Regeln der Gerechtigkeit geworden, die äußeren Zwang unnötig machen. In etwas paradoxer Form könnte man also sagen, daß die Gesetze die äußere Ausprägung des Gewissens, das Gewissen aber die verinnerlichte Form der Gesetze ist. Regeln der Gerechtigkeit entstehen durch die wechselseitige Beeinflussung von Gesetz und Gewissen. Ist ein anderer Zugang zur Gerechtigkeit möglich? Gibt es einen anderen Weg als das Wechselspiel von Gesetz und Gewissen, um der Idee der Gerechtigkeit in der Begegnung von Personen einen bestimmten Inhalt zu geben? Die einzige Antwort, die hier noch zu erörtern wäre, ist die klassische Theorie des Naturrechts, der Glaube, daß es möglich sei, Strukturen der menschlichen Beziehungen aufzuzeigen, die allgemein, unveränderlich und in jedem einzelnen Fall gültig sind. So werden die Zehn Gebote von der klassischen Theologie als Aussagen des Naturrechts betrachtet, und das gleiche gilt für die Auslegung, die ihnen in der Bergpredigt gegeben wird. Die katholische Kirche fügt die kirchenamtliche Auslegung in beiden Fällen hinzu. Die katholische Kirche leugnet nicht, daß die Zehn Gebote und die Bergpredigt Naturrecht darstellen. Aber weil das Bewußtsein hiervon zu schwach ist und außerdem mannigfach getrübt wurde, muß die Kirche dieses Naturrecht neu formulieren. Aber es bleibt dennoch Naturrecht, das grundsätzlich von der Vernunft erschlossen werden kann. In unserer Analyse von Gleichheit und Freiheit, zwei wesentlichen Grundsätzen der Naturrechtstheorie, haben wir den Nachweis versucht, daß diese Prinzipien in dem Augenblick unbestimmt, wandelbar und relativ werden, wo sie in konkreten Entscheidungen zur Geltung kommen sollen. Das gilt von allen Bestimmungen des Naturrechts. Sie gleichen in dieser Hinsicht den Prinzipien, die die Beziehungen zwischen den Geschlechtern regeln sollen und die als geschichtlich bedingt oft im krassen Widerspruch zu der inneren Gerechtigkeit dieser Beziehungen stehen. Die Naturrechtstheorie kann die Frage nach dem konkreten Inhalt der Gerechtigkeit nicht beantworten. Und es läßt sich erweisen, daß diese 195

Frage unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit allein überhaupt unlösbar ist. Die Frage nach dem Inhalt der Gerechtigkeit führt uns zu den Prinzipien von Liebe und Macht. Die Einheit von Gerechtigkeit und Liebe in persönlichen

Begegnungen

Gerechtigkeit in ihrer abwägenden Form kann dem Anruf, der in einer konkreten Situation vorliegt, nicht Genüge leisten, aber die Liebe vermag das. Man sollte niemals sagen, daß das Werk der Liebe da beginnt, wo die Gerechtigkeit aufhört. Denn erst die Liebe zeigt, was in einer konkreten Situation gerecht ist. Nichts wäre aber verkehrter, als jemandem zu sagen: „Da ich didi liebe und du mich liebst, brauche ich keine Gerechtigkeit von dir oder du von mir, denn Liebe macht Gerechtigkeit überflüssig." So reden Menschen, die sich der Verpflichtung zur Gerechtigkeit entziehen wollen. Das ist die Sprache von Tyrannen gegenüber ihren Untertanen und von tyrannischen Eltern gegenüber ihren Kindern. Und selbst wenn sie nicht so reden, handeln sie doch so. Das ist eine ausgeklügelte Methode, der Verantwortung und Selbstbeschränkung auszuweichen, die von der Gerechtigkeit gefordert werden. Oft ist eine solche Liebe, die angeblich über die Gerechtigkeit hinausgeht, nichts anderes als eine Gefühlsaufwallung, in der Selbsthingabe und Feindseligkeit aufeinander folgen. Denn es ist falsch zu meinen, daß die Liebe gewährt, was die Gerechtigkeit nicht geben kann, daß die Liebe zu einer Selbsthingabe führt, die über den Anspruch der Gerechtigkeit hinausgeht. Es gibt mancherlei Selbsthingabe, die im Einklang mit der abwägenden Gerechtigkeit steht, z. B. den Tod für eine Sache, von der die eigene Existenz abhängt. Aber daneben stehen andere Formen der Selbsthingabe, die von der abwägenden Gerechtigkeit nicht gefordert werden, wohl aber von der Liebe. Wenn sie aber von der Liebe verlangt werden, geschieht das im Namen der schöpferischen Gerechtigkeit. Denn das schöpferische Element in der Gerechtigkeit ist die Liebe. Die Liebe verhält sich in dieser Hinsicht zur Gerechtigkeit wie die Offenbarung zur Vernunft. Und das ist keine zufällige Analogie. Sie beruht auf dem, was sowohl der Offenbarung wie auch der Liebe eigentümlich ist. Beide gehen über die Normen der Vernunft hinaus, ohne sie auszulöschen. Beide enthalten ein ekstatisches Element. Die Liebe kann in einigen ihrer Erscheinungsformen, wie sie z. B. Paulus in 1. Kor. 13 preist, durchaus als Gerechtigkeit in der Form der Ekstase bezeichnet werden, wie auch die Offenbarung als Vernunft in der Form der Ekstase betrachtet werden kann. Das wird auch von Paulus bestätigt, 196

wenn er sowohl die Offenbarungserfahrung wie auch das Wirken der Liebe auf die Macht des göttlichen Geistes zurückführt. U n d wie uns die Offenbarung keine zusätzlichen Erkenntnisse in dem Bereich vermittelt, in dem die erkennende Vernunft entscheidet, so sind auch von der Liebe keine zusätzlichen Antriebe in dem Bereich zu erwarten, in dem die praktische Vernunft vorherrscht. Beide geben der Vernunft eine neue Dimension, die Offenbarung der erkennenden, die Liebe der praktischen. Weder Offenbarung noch Liebe verneinen die Vernunft, der sie die Dimension der Tiefe geben. Wie die Offenbarung nicht der Struktur der erkennenden Vernunft widerspricht - sonst könnte keine Offenbarung vernommen werden - , so widerspricht die Liebe nidit der Gerechtigkeit, sonst könnte sie nicht verwirklicht werden. Diese Überlegung weist auf etwas hin, mit dem wir uns im. letzten Kapitel zu befassen haben, nämlich auf die Abhängigkeit alles sittlichen Handelns von der Mitwirkung der Macht des göttlichen Geistes. 1 Das Verhältnis von Gerechtigkeit und Liebe in zwischenmenschlichen Beziehungen kommt in drei Funktionen schöpferischer Gerechtigkeit voll zur Geltung, nämlich im Zuhören, Schenken und Vergeben. In keinem dieser Bereiche tut die Liebe mehr, als von der Gerechtigkeit gefordert wird, aber in jedem von ihnen erkennt die Liebe die Forderungen der Gerechtigkeit an. Man kann nicht erfahren, was in einer Begegnung von Person zu Person gerecht ist, wenn nicht die Liebe zuhört. Das ist ihre vornehmste Aufgabe. Es gibt in der Tat keine menschliche Beziehung, vor allem keine vertraute, ohne gegenseitiges Zuhören. Vorwürfe, Vergeltung und Abwehr mögen nach dem Gesetz der abwägenden Gerechtigkeit ihre Berechtigung haben. Aber sie würden sich doch vielleicht als ungerecht erweisen, gäbe es mehr gegenseitiges Zuhören. Von allen Dingen und allen Menschen werden wir gleichsam mit leiser oder lauter Stimme angerufen. Sie haben das Verlangen, d a ß wir auf sie hören; sie wünschen, d a ß wir ihren inneren Anspruch, ihre Seinsberechtigung verstehen. Sie fordern Gerechtigkeit von uns. Aber wir können sie ihnen nur gewähren, wenn wir in Liebe zuhören. Die Liebe, die sich um ein Verstehen des Mitmenschen bemüht, ist damit keineswegs irrational. Sie wendet alle verfügbaren Mittel an, um die dunklen Gründe seiner Motive und Hemmungen zu erhellen. Sie verwendet z. B. die Erkenntnisse der Tiefenpsychologie, die uns unerwartete Möglichkeiten zur Erschließung der inneren Ansprüche eines Menschen an die H a n d geben; von ihr haben wir gelernt, daß die 1 Der englische Ausdrudc Spiritual power wurde hier in Anlehnung an „Systematische Theologie", Bd. III, mit „Madit des göttlichen Geistes" übersetzt. (D.Hrsg.)

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menschlichen Ausdrucksformen etwas ganz anderes meinen können, als sie zu meinen scheinen oder gar aussagen wollen. Sie mögen aggressiv wirken, aber dahinter steht vielleicht eine durch Scheu gehemmte Liebe. Sie können sanft und gutartig erscheinen, aber in Wirklichkeit spricht aus ihnen eine feindselige Gesinnung. Gut gemeinte, aber ungeschickt geäußerte Worte können zu einer völlig ungerechten Reaktion führen. All diese Situationen erfordern eine zuhörende Liebe, die den ersten Schritt zur Gerechtigkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen darstellt. Und diese Liebe hat auch ihre Bedeutung in den Begegnungen mit der lebenden Natur wie mit der Natur überhaupt. Aber wollten wir versuchen, das Problem der menschlichen Gerechtigkeit gegenüber der Natur zu behandeln, eröffnete sich uns ein neues Feld, das den Rahmen unserer Untersuchung sprengen würde. Vor allem wären für ein solches Unternehmen, das sich auf eine ontologische Analyse stützen müßte, zu viele Belege aus dem Gebiete der bildenden Kunst und Dichtung erforderlich. Die zweite Aufgabe der schöpferischen Gerechtigkeit in persönlichen Begegnungen ist das Schenken. Jeder Mensch, dem wir begegnen, hat das Recht, etwas von uns zu fordern, zumindest dies, daß er als Person anerkannt wird, und zwar selbst in den äußerlichsten Beziehungen. Aber wenn wir uns im Schenken auf ein solches Mindestmaß beschränken, befriedigt uns das nicht. Die Bereitschaft zum Schenken strebt nach mehr; sie kann bis zur Selbstaufopferung führen, wenn es die Lage erfordert. Schenken ist ein Ausdruck der schöpferischen Gerechtigkeit, wenn es im Dienste der wiedervereinenden Liebe steht. In dieser Sicht kann es zweifellos die Forderung bedeuten, Widerstand zu leisten, Schranken zu setzen und bestimmte Dinge zu entziehen. Psychologische Einsicht kann uns dabei helfen, das zu tun, was als Gegenteil schenkender Liebe erscheint. Denn schöpferische Gerechtigkeit schließt die Möglichkeit in sich ein, den Anderen in seiner Existenz, wenn auch nicht in seinem Sein als Person zu opfern. Die dritte und paradoxeste Form, in der die Einheit von Gerechtigkeit und Liebe erscheint, ist das Vergeben. Diese Einheit zeigt sich in der paulinischen Wendung von der Rechtfertigung durch Gnade. Rechtfertigung bedeutet zunächst „gerecht machen", und im Zusammenhang mit der paulinischen und lutherischen Lehre bedeutet sie, den als gerecht anzunehmen, der ungerecht ist. Nichts scheint in schrofferem Gegensatz zur Idee der Gerechtigkeit zu stehen als diese Lehre, und jeder, der sie bisher verkündet hat, mußte sich den Vorwurf gefallen lassen, der Ungerechtigkeit und Amoralität Vorschub zu leisten. Es erscheint ja so gänzlich ungerecht, den Ungerechten für gerecht zu er198

klären. Aber gerade das ist in der christlichen Verkündigung als frohe Botschaft gemeint. Und gerade das ist die Erfüllung der Gerechtigkeit. Denn hier eröffnet sich der einzige Weg zur Wiedervereinigung derer, die sich durch Schuld voneinander entfremdet haben. Ohne Versöhnung gibt es keine Wiedervereinigung. Vergebende Liebe ist die einzige Möglichkeit, dem inneren Anspruch jedes Wesens gerecht zu werden, nämlich dem Begehren, wieder in die Einheit aufgenommen zu werden, zu der er gehört. Schöpferische Gerechtigkeit verlangt, daß dieser Anspruch erfüllt und daß der angenommen wird, der nach dem Maßstab der abwägenden Gerechtigkeit verworfen werden müßte. Indem die Liebe ihn in die Gemeinschaft der Vergebenden aufnimmt, macht sie zweierlei deutlich, nämlich einerseits die ihr durchaus bewußte Verletzung der Gerechtigkeit mit all ihren Folgen für den Schuldigen und auf der anderen Seite dessen unaufhebbaren Anspruch darauf, als gerecht erklärt und gerecht gemacht zu werden durch Wiederaufnahme in die Gemeinschaft. Die Einheit von Gerechtigkeit und Macht in persönlichen Begegnungen In jeder Begegnung von Mensch zu Mensch ist Macht wirksam, die Macht der persönlichen Ausstrahlung, wie sie sich in Sprache und Gebärde bekundet, im Leuchten der Augen und im Klang der Stimme, im Gesichtsausdruck, in Gestalt und Bewegung. In dieser Ausstrahlung kommt das zur Geltung, was man als Person ist und was man im Verband der Gesellschaft darstellt. Jede Begegnung, sei sie nun freundlich oder feindselig, wohlwollend oder gleichgültig, ist bewußt oder unbewußt ein Machtkampf. In diesem Kampf fallen ständig Entscheidungen über die relative Seinsmächtigkeit, die jeweils in den Betroffenen verwirklicht ist. Schöpferische Gerechtigkeit übersieht keineswegs den Charakter dieser Begegnungen und die Konflikte, die sie stets auch mit sich bringen. Denn diese Konflikte sind der Preis, der für schöpferisches Leben gezahlt werden muß. Solche Kämpfe beginnen für einen Menschen bereits im Augenblick seiner Empfängnis und hören erst auf, wenn er seinen letzten Atemzug tut. Sie beeinflussen seine Beziehungen zu allen Dingen und allen Menschen, denen er begegnet. Die Form, in der diese Kämpfe zu immer neuen Entscheidungen über die Seinsmächtigkeit der einzelnen Menschen führen, ist die Gerechtigkeit. Aus dieser Auffassung, deren Richtigkeit schwerlich zu bestreiten ist, kann sich der Eindruck ergeben, als ob die Gerechtigkeit in persönlichen Begegnungen ganz und gar von dem Machtgefälle abhängt, das zwischen den betroffenen Personen besteht. Aber dieser Eindruck ist falsch, weil 199

dabei übersehen wird, daß jedes Seiende, das in den Machtkampf verwickelt wird, bereits eine bestimmte Seinsmächtigkeit hat. Es handelt sich um eine Pflanze und keinen Stein, ein Tier und keinen Baum, einen Menschen und keinen Hund, eine Frau und keinen Mann. Diese Wesensmerkmale und zahlreiche andere dazu sind gegeben, bevor der Machtkampf in den einzelnen Begegnungen beginnt, und sie sind die Grundlage für den inneren Anspruch auf Gerechtigkeit, den alles Seiende hat. Aber dieser Anspruch bleibt weithin unbestimmt, und das ist durch den dynamischen Charakter jeder Seinsmächtigkeit bedingt. Und dieses Element des Unbestimmten in der Macht alles Seienden erfordert stets neue Entscheidungen. Hierin liegt natürlich auch der Grund für alle Ungerechtigkeit. Wenn die neuen Entscheidungen den Wesensanspruch eines Seienden verletzen, so sind sie ungerecht. Es bedeutet allerdings noch keine Ungerechtigkeit, wenn in dem Kampf zwischen zwei Mächten die eine der anderen überlegen ist. Daß sich das so verhält, ist nicht ungerecht, sondern davon geht eine schöpferische Wirkung aus. Aber Ungerechtigkeit liegt vor, sobald in diesem Kampf die überlegene Macht ihre Überlegenheit dazu mißbraucht, um die Seinsmächtigkeit des Unterlegenen zu beeinträchtigen oder gar zu zerstören. Das kann in allen Formen menschlicher Beziehungen geschehen, und am häufigsten geschieht es, wenn sich diese persönlichen Begegnungen in einem Rahmen vollziehen, der durch die Struktur bestimmter gesellschaftlicher Einrichtungen gesetzt und wo das Interesse dieser Einrichtungen zum Vorwand für ungerechten Zwang wird. Es gibt ungerechten seelischen Zwang im Leben der Familien, auf dem Gebiet der Erziehung und überall da, wo eine Autorität wirksam ist. Nicht selten geschieht es, daß Eltern, die ein kleines Kind übermäßig streng oder zornig anblicken, in dem Kind für die Dauer seines ganzen Lebens eine ungewöhnliche Angst erzeugen. Es fühlt sich verstoßen und verliert jegliches Zutrauen zur Macht und Gerechtigkeit seines eigenen Seins. Seine gerechten Ansprüche werden unterdrückt oder verwandeln sich in ungerechte Ansprüche, d. h. solche, die sich unbewußt zerstörerisch gegen das eigene Ich oder seine Umgebung auswirken. Das gibt wiederum den Eltern das Gefühl, daß das Kind ihnen trotzt oder ihnen aus dem Weg geht. So bleibt auch der in der Stellung der Eltern begründete Anspruch unerfüllt. Jede Autorität kann neben äußerem Zwang auch einen psychologischen Druck ausüben, der im Gegensatz zur Gerechtigkeit in den menschlichen Beziehungen steht. Hier ergibt sich das schwierige Problem, ob es eine Form der Autorität gibt, die bereits ihrer Natur nach ungerecht ist, und eine andere, die 200

von Natur aus gerecht genannt werden muß. Das scheint der Fall zu sein. Es gibt nämlich „prinzipielle Autorität" und „faktische Autorität". Prinzipielle Autorität bedeutet, daß eine Person Autorität besitzt aufgrund der Stellung, die sie einnimmt, und daß sie aus diesem Grunde über aller Kritik steht. So ist, um das bekannteste Beispiel anzuführen, der Papst als Papst die letzte Autorität für jeden gläubigen Katholiken. Ebenso ist die Bibel als Bibel die höchste Autorität für jeden strenggläubigen Protestanten. In diesem Sinne ist der Diktator als Diktator die entscheidende Autorität in einem totalitären System. So sind die Eltern Autorität für ihre unmündigen Kinder, und sie versuchen nicht selten, diese Stellung zeitlebens zu behaupten. Auf der Grundlage dieses Prinzips werden Lehrer Autoritäten für ihre Schüler, ohne den Versuch zu machen, diese von ihrer Autorität zu lösen. All diese „prinzipielle Autorität" ist ungerechte Autorität. Sie mißachtet den inneren Anspruch der Menschen, selbst verantwortlich für wesentliche Entscheidungen zu werden. Im scharfen Gegensatz dazu steht die „faktische Autorität", die jeder von uns fortwährend ausübt und auch anerkennt. Sie entspricht der gegenseitigen Abhängigkeit, der wir alle unterworfen sind, dem endlichen und bruchstückhaften Charakter unseres Seins, der Begrenztheit unseres Vermögens, für uns allein zu bestehen. Darum ist sie gerechte Autorität. Diese Lage spiegelt sich in unserem Erziehungswesen wider. Man muß sich fragen, ob nicht die Erziehung zur Anpassung eine Ungerechtigkeit darstellt, da sie den mit unserer Geburt gegebenen Anspruch auf Unabhängigkeit beständig unterdrückt. Man muß sich ferner fragen, ob Anpassung nicht eine Form der Vergewaltigung und somit ihrem Wesen nach ungerecht ist. Dazu kann nur gesagt werden, daß Erziehung zur Anpassung insofern gerecht ist, als sie eine Möglichkeit der Formung des Individuums darstellt. Sie ist jedoch insofern ungerecht, als sie es dem Individuum erschwert, neue Formen zu schaffen. Am Ende dieses Kapitels möchte ich hervorheben, daß der existentialistische Protest im kulturellen Schaffen der letzten hundert Jahre in vieler Hinsicht einen Versuch darstellt, dem Individuum gerecht zu werden, indem er dessen berechtigtes Verlangen unterstützt, die bloße Anpassung durch das Prinzip der schöpferischen Erneuerung zu überwinden.

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D I E E I N H E I T VON MACHT, G E R E C H T I G K E I T UND L I E B E IN D E N B E Z I E H U N G E N Z W I S C H E N SOZIALEN G R U P P E N Im vorigen Kapitel haben wir uns mit der Rolle von Gerechtigkeit, Liebe und Macht in den menschlichen Beziehungen befaßt. Immer ging es dabei um die Beziehungen von Mensch zu Mensch, die wir in ihren verschiedenen Erscheinungsformen und ihrer mannigfachen Problematik erörtert haben. Aber keine menschliche Beziehung entfaltet sich in einem leeren Raum. Stets wird sie von der bestehenden gesellschaftlichen Struktur mitbestimmt. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, über Machtstrukturen in Natur und Gesellschaft zu sprechen.

Machtstrukturen in Natur und Gesellschaft Bei der Analyse der Macht ging es um die Macht von Einzelwesen in ihrem Verhältnis zu anderen solchen Wesen. Dabei stießen wir immer wieder auf umfassende Ganzheiten, die dem Individuum Gerechtigkeit gewähren oder verweigern und Regeln für ein gerechtes Verhalten festlegen, so wie sie uns in Überlieferungen, Sitten und Gebräuchen sowie in Gesetzen begegnen. Aber wir waren in diesen Erörterungen nicht am Leben der Gruppen als solcher interessiert. Jetzt müssen wir unsere Aufmerksamkeit diesem äußerst wichtigen Gebiet zuwenden. Sowohl im Anorganischen (z. B. bei Kristallen, Molekülen und Atomen) wie auch im Bereich des Organischen bauen sich Machtstrukturen immer um einen Mittelpunkt herum auf. In organischen Lebewesen nimmt der Grad der Bezogenheit auf eine Mitte zu, bis im Menschen die Stufe des Selbstbewußtseins erreicht ist. Darauf erscheint eine neue, um einen Mittelpunkt aufgebaute Struktur, die soziale Gruppe oder der soziale Organismus, wie man in den Fällen sagt, wo die Bedeutung der Mitte besonders stark hervortritt. Ein Organismus ist um so höher entwickelt und kraftvoller in seiner Seinsmächtigkeit, je mehr verschiedenartige Elemente um eine alles belebende Mitte vereint sind. Darum bildet der Mensch die reichsten, umfassendsten und mächtigsten gesellschaftlichen Organismen. Aber die Individuen, die diese Organismen

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bilden, stellen jeweils eigene unabhängige Einheiten dar, und darum können sie den sozialen Organismen, zu denen sie gehören, Widerstand leisten. Damit kommen wir an den Punkt, an dem die Verwandtschaft zwischen biologischen und sozialen Organismen aufhört. In einem biologischen Organismus sind die Teile nichts ohne das Ganze, zu dem sie gehören. Das trifft aber auf soziale Organismen nicht zu. Zwar kann das Schicksal eines Einzelnen, der außerhalb seiner Gruppe lebt, recht jämmerlich sein, aber diese Trennung bedeutet nicht unbedingt die Vernichtung seiner Existenz. Ein Glied, das von seinem lebendigen Organismus abgetrennt wird, muß dagegen verwesen. Insofern ist also keine menschliche Gruppe ein Organismus im biologischen Sinne. Das gilt sowohl für die Familie wie für ein Volk. Diese Feststellung ist in politischer Hinsicht von besonderer Bedeutung. Wo mit Vorliebe von gesellschaftlichen Organismen gesprochen wird, geschieht das gewöhnlich mit einer reaktionären Tendenz. Man will Gruppen mit unabhängiger Denkweise am Zügel halten, und zu diesem Zwecke verwendet man eine biologische Metapher im wörtlichen Sinn. Preußischer Konservativismus und die katholische Lehre vom Wesen der Familie stimmen in diesem Punkt überein. Aber die individuelle Person ist etwas anderes als das Glied eines Körpers; sie ist eine letzte unabhängige Wirklichkeit von sowohl individueller wie auch sozialer Bedeutung. Der Mensch ist ein soziales Wesen, aber die Gesellschaft erschafft nicht das Individuum. Beide bedingen sich gegenseitig. Das spricht auch gegen das häufig angewandte Verfahren, eine soziale Gruppe wie eine Person zu beurteilen. So ist der Staat oft betrachtet worden, als ob er wie ein Individuum Gefühle, Gedanken und Pläne hegen sowie Entscheidungen treffen könnte. Aber dabei wird ein Punkt übersehen, der solche Gleichsetzung nicht zuläßt: der soziale Organismus hat keine organische Mitte, in der das Sein des Ganzen in einer solchen Weise zusammengefaßt ist, daß zentrale Erwägungen und Entscheidungen möglich werden. Das Zentrum einer sozialen Gruppe wird von jenen gebildet, die sie vertreten, also von den Regierungen, Parlamenten oder wer sonst auch immer die wirkliche Macht hinter den Kulissen ohne offiziellen Auftrag ausübt. Setzt man diese repräsentativen Zentren von sozialen Machtgebilden dem erwägenden und entscheidenden Zentrum einer Person gleich, erliegt man einer Täuschung durch die Metapher. Denn die entscheidende Mitte einer Gruppe ist stets ein Teil dieser Gruppe. Nicht die Gruppe in ihrer Gesamtheit entscheidet, sondern jene entscheiden, die die Macht haben, für die Gruppe zu sprechen und ihre Entscheidungen gegenüber allen 203

Mitgliedern der Gruppe durchzusetzen. Aber sie könnten das nicht tun, ohne wenigstens die stillschweigende Zustimmung der Gruppe zu haben. Die Bedeutung dieser Analyse wird klar, wenn man z. B. eine Gruppe für das verantwortlich macht, was ihre Führung ihr aufgezwungen hat. Hier liegt die Lösung für die schmerzliche Frage nach der moralischen Schuld eines Volkes, wie sie sich für Deutschland unter dem Nationalsozialismus stellt. Niemals ist ein Volk als unmittelbar schuldig anzusehen für seine Taten; die Verantwortung hierfür liegt stets bei der herrschenden Gruppe. Aber jeder Einzelne in einem Volk ist mitverantwortlich dafür, daß es von einer bestimmten Gruppe beherrscht wird. Es gibt nicht sehr viele Deutsche, die eine unmittelbare Schuld an den Grausamkeiten der Nationalsozialisten trifft. Aber das ganze Volk ist dafür verantwortlich, daß es eine Regierung duldete, die willens und fähig war, solche Verbrechen zu begehen. Diejenigen, die die Macht einer sozialen Gruppe verkörpern, bilden ein repräsentatives, aber kein wirkliches Zentrum. Eine Gruppe ist eben keine Person. Trotzdem hat die Gruppe eine bestimmte Machtstruktur. Sie ist auf eine Mitte bezogen. Aus diesem Grunde ist gesellschaftliche Macht hierarchische, d. h. abgestufte Macht. Gesellschaftliche Macht, ihrem Wesen nach zentriert und darum hierarchisch, tritt in vielen Formen auf. Sie kann sich geltend machen in der Beherrschung einer Gesellschaft durch eine feudale Gruppe, eine Militärkaste, die oberste Schicht einer Bürokratie, eine mächtige Wirtschaftsgruppe, eine Priesterkaste, einen starken Mann an der Spitze mit oder ohne verfassungsmäßige Machtbeschränkung, die maßgebenden Ausschüsse eines Parlaments oder auch eine revolutionäre Avantgarde. Jede herrschende Gruppe ist den Spannungen der Macht unterworfen, vor allem aber der Spannung zwischen der Macht, die aus Zustimmung, und solcher, die aus Zwang kommt. Beide Formen der Macht sind stets gleichzeitig wirksam, und keine Machtstruktur hat Bestand, wenn eine von ihnen fehlt. Die schweigende Zustimmung des Volkes zeigt sich z. B. in Überlegungen wie dieser: „Die uns regieren, tun das aufgrund einer göttlichen Berufung oder eines bestimmten geschichtlichen Schicksals. Daran ist nichts zu ändern und zu kritisieren." Oder: „Unsere Abgeordneten sind von uns gewählt worden. Nun müssen wir uns mit ihnen abfinden, solange ihr Mandat läuft, selbst wenn sie es mißbrauchen, sonst bricht das ganze System mit allen Segnungen zusammen, die wir von ihm haben." Die Stellung der herrschenden Gruppe ist solange gesichert, wie diese Art von Zustimmung unbewußt oder auch nur halb bewußt gegeben wird. Es ist bildlich gesprochen eine stillschweigende Zustimmung. Eine Gefahr ergibt sich 204

für das System erst dann, wenn man sich allgemein bewußt wird, daß es der Zustimmung der Mehrheit -bedarf und Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Herrschaft laut werden. Dann kann der Fall eintreten, daß die Unterdrückung nicht länger hingenommen wird und sich eine revolutionäre Situation ergibt. Es ist bemerkenswert, daß selbst in einer solchen Lage das Gesetz gültig bleibt, wonach Macht immer von einem Zentrum ausgeht und hierarchischen Charakter hat. Die eigentlichen Träger des revolutionären Willens sind eine kleine Gruppe von Menschen, die sich dazu entschlossen haben, die bestehende Ordnung nicht mehr länger hinzunehmen. Marx hat sie mit einer Wendung aus der militärischen Sprache als die „Avantgarde" bezeichnet. Sie sind das Machtzentrum in einer revolutionären Situation, die Opfer härtester Verfolgung im vorrevolutionären Stadium, die herrschende Gruppe nach der erfolgreichen Revolution. Zwang ist also die andere Seite der hierarchischen Machtstruktur. Er wirkt so lange reibungslos, wie er sich bei der überwiegenden Mehrheit der betreffenden Gruppe unbemerkt zur Geltung bringt. Das geschieht durch eine Gesetzgebung, die auf allgemeine Zustimmung rechnen kann, eine gute Verwaltung und die Pflege konformistischen Denkens. Aber das ist ein Idealfall, der das Vorhandensein vieler günstiger Umstände voraussetzt, wie z. B. in England. Gewöhnlich tritt das Element des Zwanges viel stärker in Erscheinung. Idealisten erliegen hier leicht einer Selbsttäuschung. Sie bemerken z. B. nur die kleine Zahl von Polizisten in einer Großstadt und erleben außerdem, daß diese wenigen Polizisten nur selten Zwang anwenden müssen. So sehen sie mehr das Fehlen als das tatsächliche Vorhandensein des Zwanges. Aber Zwang wird in den meisten Fällen allein durch die Drohung der Anwendung von Zwang ausgeübt, vorausgesetzt natürlich, daß die Drohung ernst gemeint ist. Das ließe sich leicht durch eine Fülle von Beispielen erhärten, denken wir doch nur an unsere hochgebildeten Bürger und ihre Einstellung zum Steuerbescheid. Kein Machtsystem kann also ohne schweigende Anerkennung und das sichtbare Vorhandensein des Zwanges auskommen. Die in einer sozialen Gruppe herrschende Minderheit braucht einerseits schweigende Zustimmung durch die Mehrheit der Bürger, andererseits ist sie aber ausführendes Organ bei der Vollstreckung der Gesetze gegen Willkür und Ungesetzlichkeit einzelner. Aus diesem Tatbestand ergeben sich Probleme, die einem sozialen Organismus zu schaffen machen und vielleicht gar für ihn verhängnisvoll werden. Die Lage wäre einfach, wenn das Recht, das die herrschende Gruppe zu vertreten und in seiner Geltung zu sichern hat, eindeutig wäre. Aber in Wirk205

lichkeit ist es mit allen Zweideutigkeiten der Rechtspflege behaftet. Diese Tatsache spiegelt sich in der archaischen Ansicht wider, daß der Herrscher über dem Gesetz steht, weil es seine Aufgabe ist, in den Fällen Rechtsprechung auszuüben, wo das Gesetz notwendig Lücken hat. Wenn auch die modernen Verfassungen nichts über eine solche rechtsschöpferische Befugnis aussagen, können sie doch Handlungen der herrschenden Gruppe, die diesem Prinzip folgen, nicht verhindern. Und diese Stellung „über dem Gesetz" bedeutet auch weder im Altertum noch in unserer Zeit eine Absage an die Gültigkeit des Rechts. Im Gegenteil, sie ist als eine Voraussetzung gemeint, die die Anwendung des Gesetzes ermöglicht. Gesetze müssen in einem schöpferischen Akt gegeben werden, und das geschieht durch Mitglieder der herrschenden Gruppe. Sie müssen der jeweiligen Lage in einer mutigen Entscheidung angepaßt werden, und diese Entscheidung obliegt Angehörigen der herrschenden Gruppe. Sie müssen in vorausschauendem Wagemut geändert werden, und Menschen der herrschenden Gruppe nehmen dieses Wagnis auf sich. Diese Erörterung zeigt, daß diejenigen Kreise, die an der Macht sind, immer zweierlei tun: sie vertreten einerseits die Macht und das Lebensrecht der ganzen Gruppe, andererseits bringen sie als herrschende Gruppe ihre eigene Macht und ihr eigenes Lebensrecht zur Geltung. Diese Lage hat christliche und marxistische Anarchisten dazu verleitet, das Ideal einer Gesellschaft ohne Machtstruktur aufzustellen. Aber Sein ohne Machtstruktur bedeutet ein Sein ohne handlungsfähige Mitte. Es bedeutet eine Anhäufung von Einzelwesen ohne eine zusammengefaßte Seinsmächtigkeit und ohne die verbindende Wirkung der Gerechtigkeit. Keine menschliche Gesellschaft kann ohne staatliche Organisationsformen bestehen. Und wo sie einmal bestehen, können weder Kontrollen noch Gegengewichte, nicht einmal solche, wie sie in die amerikanische Verfassung eingebaut sind, die herrschenden Schichten daran hindern, das Recht und die Macht der Gesamtheit ihrer eigenen Macht und ihrem eigenen Recht dienstbar zu machen. Wer zur herrschenden Schicht gehört, muß dafür einen Preis zahlen, und er muß diese Zugehörigkeit auch rechtfertigen. Sein Preis besteht darin, daß er sein eigenes Schicksal mit dem der ganzen Gruppe identifiziert. Die Seinsmächtigkeit der Gesamtheit begründet seine eigene Seinsmächtigkeit; mit ihr steht und fällt er. Und er erfährt seine Rechtfertigung dadurch, daß er von der gesamten Gruppe anerkannt wird, in welchen verfassungsmäßigen Formen das auch geschehen mag. Den in einer Gesellschaft führenden Individuen ist die Grundlage ihrer Existenz entzogen, wenn die ganze Gruppe ihnen endgültig ihre Anerkennung entzieht. Sie können 206

zwar ihre Macht durch physischen und psychischen Zwang eine gewisse Zeit verlängern, aber nicht für immer. Die schweigende Anerkennung, die eine herrschende Gruppe von der Gesamtheit erfährt, läßt sich nicht ohne die Berücksichtigung eines Elementes verstehen, das weder aus der Gerechtigkeit noch aus der Macht, sondern aus der Liebe stammt, und zwar aus ihren Eros- und PhiliaQualitäten. Es handelt sich hier um das Gemeinschaftserlebnis innerhalb einer Gruppe. Jede soziale Gruppe ist potentiell oder aktuell eine Gemeinschaft; und die herrschende Minderheit vertritt nicht nur die Macht und das Lebensrecht der Gruppe, sondern sie verkörpert auch ihren Gemeinschaftsgeist, ihre Ideale und ihre Wertvorstellungen. Jeder natürliche oder soziale Organismus stellt eine gewisse Seinsmächtigkeit dar und ist Träger eines inneren Anspruchs auf Gerechtigkeit, weil er auf irgendeiner Form der wiedervereinigenden Liebe beruht. Als Organismus hebt er die in einem begrenzten Bereich der Welt bestehende Getrenntheit auf. Die Zellen eines Lebewesens, die Mitglieder einer Familie, die Bürger eines Staates können als Beispiel hierfür genannt werden. Diese gemeinsame Selbstbejahung äußert sich auf der Ebene menschlichen Zusammenlebens als Gruppengeist. Dieser Geist der Gruppe bekundet sich in all ihren Lebensäußerungen, in ihren Gesetzen und Einrichtungen, in ihren Symbolen und Mythen, in ihren Sitten und ihrer Kultur. Er wird gewöhnlich von der führenden Schicht verkörpert. Und das ist vielleicht die eigentliche Grundlage ihrer Macht. Jedes Glied der Gruppe sieht in dem Angehörigen der herrschenden Minderheit die Verkörperung jener Ideale, für die er eintritt, wenn er sich für seine Gruppe einsetzt. Könige oder Bischöfe, Großgrundbesitzer oder Vertreter des Großkapitals, Gewerkschaftsführer oder Revolutionshelden können die gemeinsamen Ideale verkörpern. Darum bewahrt und pflegt jede herrschende Minderheit die Symbole, in denen der Gruppengeist zum Ausdruck kommt. Sie gewährleisten weit mehr als die härtesten Zwangsmaßnahmen den Bestand einer Machtstruktur. Sie sichern die schweigende Anerkennung der herrschenden Gruppe durch die Gesamtheit. So hängen Macht und Gerechtigkeit in einer sozialen Gruppe vom Gemeinschaftsgeist ab, und das heißt von der vereinigenden Liebe, die die Gemeinschaft begründet und erhält.

Macht, Gerechtigkeit und Liebe in der Begegnung sozialer Gruppen In unserer Darstellung der Begegnungen von Seinsmächtigkeiten haben wir bisher nur Begegnungen zwischen Individuen untersucht. 207

Wir müssen nunmehr unsere Analyse auf die Begegnungen zwischen sozialen Gruppen ausdehnen. Wenn wir das tun, treffen wir auf die bekannten Kennzeichen aller Machtbegegnungen, das Vorstoßen und das sich Zurückziehen, die Aufnahme oder Absonderung von Elementen, Prozesse der Verschmelzung oder Trennung. Das alles ist unvermeidlich, denn jede Gruppe erfährt Wachstum und Verfall; sie will sich fortentwickeln und zugleich den erreichten Zustand bewahren. Nichts ist in diesem Prozeß im voraus entschieden. Alles ist Versuch, Wagnis und Entscheidung. Und dabei verschmelzen sich Elemente innerer Macht mit Zwang, ob das nun die Gruppe und ihre Repräsentanten wollen oder nicht. Die Begegnungen zwischen sozialen Gruppen liefern den eigentlichen Stoff der Geschichte. In ihnen entscheidet sich das politische Schicksal der Menschheit. Was ist nun über das Wesen dieser Begegnungen zu sagen? Die Grundlage aller Macht einer Gruppe ist der Raum, den sie braucht. Leben heißt Raum haben oder genauer gesagt, sich Raum schaffen. Hierin liegt die ungeheure Bedeutung des geographischen Raums und des Kampfes um seinen Besitz, wie er von allen Gruppen ausgetragen wird. Unsere Zeit liefert uns hierfür ein überzeugendes Beispiel. Der zionistische Kampf wurzelt in der Notwendigkeit, Raum zu besitzen. Israel verlor seine Seinsmächtigkeit und vielfach auch seine Existenzmöglichkeit, als es seinen Raum verlor. Nun hat es seinen Raum, und in diesem Besitz hat es eine starke Seinsmächtigkeit bewiesen. Aber vielleicht ist dabei auch etwas verloren gegangen, nämlich die enge Beziehung zur Dimension der Zeit, die Israel zum auserwählten Volke machte und die mit dem Verzicht auf Macht verknüpft ist. Der Kampf um Raum ist nicht einfach der Versuch, eine andere Gruppe aus einem bestimmten Raum zu verdrängen. Das wahre Ziel hierbei ist, diesen Raum in einen größeren Machtbereich einzubeziehen und ihm seinen eigenen Mittelpunkt zu nehmen. Geschieht das, so hat sich nicht die individuelle Seinsmächtigkeit geändert, sondern das Verhältnis des Einzelnen zur Mitte, die Art, wie er das Gesetz und die geistige Substanz des neuen, größeren Machtgebildes beeinflussen kann. Aber die Macht und der Bestand einer sozialen Gruppe hängen nicht nur vom geographischen Raum ab. Hier zählt auch die Machtausstrahlung in den umfassenderen Raum der Menschheit. Eine dieser Ausstrahlungen, die den eigenen Raum erweitert, ohne den anderer einzuschränken, ist die wirtschaftliche Ausdehnung. Auch die technische Entfaltung oder die Verbreitung von Wissenschaft und Kultur sind hier zu nennen. Auf diesem Gebiet läßt sich nichts im voraus berechnen. Alle Gegebenheiten verändern sich ständig, die Stärke der Bevölkerung, die 208

Produktionskraft, neue Entdeckungen, Entwicklungen, Auswanderung, Konkurrenz, das Entstehen neuer und der Verfall bestehender Staaten. Die Geschichte probiert dabei gleichsam ihre nächste Machtkonstellation aus. Und in diesem Prozeß werden Staaten und Weltreiche geopfert und neue ins Leben gerufen. Die Seinsmächtigkeit jeder politischen Macht erweist sich in ihren Begegnungen mit der Stärke anderer sozialer Gruppen. Aber jetzt müssen wir uns vergegenwärtigen, daß Macht nicht nur physische Gewalt ist, sondern daß sich die Lebenskraft einer sozialen Gruppe auch in Symbolen und Ideen ausdrückt. Das Bewußtsein einer solchen geistigen Substanz kann das Gefühl einer Sendung annehmen, und den bedeutendsten geschichtlichen Leistungen liegt auch ein Sendungsbewußtsein zugrunde. Wenn wir die europäische Geschichte verfolgen, begegnen wir solchem Sendungsbewußtsein nicht selten, und wir müssen feststellen, daß dieses Bewußtsein einen gewaltigen Einfluß auf den Gang der Geschichte hatte. In einer unlösbaren Einheit von Machtstreben und Sendungsbewußtsein unterwarfen die Römer das Mittelmeerbecken dem römischen Recht und der Ordnung ihres Weltreiches, die auf diesem Recht beruhte. In gleicher Weise brachte Alexander die griechische Kultur zu Völkern, die durch Waffengewalt wie auch durch die Verbreitung der griechischen Sprache unterworfen wurden. Wenn wir bedenken, daß diese beiden Reichsgründungen die oikumene und damit die Voraussetzungen und den Rahmen für die Ausbreitung des Christentums schufen, können wir kaum sagen, daß das ihnen zugrundeliegende Sendungsbewußtsein unbegründet war. Das gleiche gilt vom mittelalterlichen deutschen Reich, das, gestützt auf das Machtstreben der germanischen Stämme und das Sendungsbewußtsein der germanischen Könige, die Lebensformen für die gesamte Christenheit schuf mit all dem Glanz der mittelalterlichen Religion und Kultur. Zu Beginn der Neuzeit verbanden die europäischen Völker ihr Machtstreben mit einer neuen Art von Sendungsbewußtsein. Spaniens weltweiter Imperialismus war mit dem fanatischen Glauben verknüpft, das göttliche Werkzeug der Gegenreformation zu sein. Englands Sendungsbewußtsein wurzelte teils in der calvinistischen Vorstellung einer Weltpolitik im Dienst des reinen Christentums, teils in einem christlich-humanistischen Verantwortungsgefühl für die Kolonialländer und für ein stabiles Gleichgewicht der Kräfte zwischen den Kulturvölkern. Das war unlösbar mit wirtschaftlichem und politischem Machtstreben verbunden und schuf das größte Weltreich in der Geschichte, wie es auch für lange Zeit Europa den Frieden sicherte. Frankreichs Sendungsbewußtsein beruhte auf seiner kulturellen Über-

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legenheit im 17. und 18. Jahrhundert. Das moderne Deutschland blieb im Banne der sogenannten Realpolitik ohne Sendungsbewußtsein. Seine Ideologie war der Kampf um Lebensraum, zum Teil im Wettstreit mit den Kolonialvölkern und darum im Gegensatz zu ihnen. Hitlers offensichtlich absurdes Sendungsbewußtsein, das auf der Verherrlichung des nordischen Blutes beruhte, wurde dem Volke künstlich aufgezwungen und von ihm nur widerwillig übernommen, weil es keinen Ausdruck in einem echten Symbol finden konnte. Heute ringen nun zwei große imperialistische Systeme miteinander und gebrauchen dabei die Waffen ihrer Macht und ihres Sendungsbewußtseins: Rußland und Amerika. Das russische Sendungsbewußtsein wurzelte zunächst in dem religiösen Bewußtsein, daß Rußland gegenüber dem Westen eine Sendung zu erfüllen habe, nämlich die zerfallende westliche Kultur durch das mystische Christentum des Ostens zu retten. Das war die Parole der slawophilen Bewegung im 19. Jahrhundert. Das heutige Rußland hat ein ähnliches Sendungsbewußtsein gegenüber dem Westen wie auch gegenüber dem Fernen Osten. Sein Machtstreben, das von seinen Gegnern als Drang zur Weltherrschaft gebrandmarkt wird, bleibt ohne sein fanatisches Sendungsbewußtsein unverständlich, und damit stellt es sich allen anderen imperialistischen Bewegungen an die Seite. Amerikas Sendungsbewußtsein hat man den „amerikanischen Traum" genannt, der darauf zielt, mit erneuter Kraftanstrengung das Reich Gottes auf Erden zu errichten. Die alten Formen der Unterdrükkung hatte man hinter sich gelassen, und nun wurde ein neuer Anfang gemacht. In der Verfassung und der lebendigen Demokratie - beide haben in den Vereinigten Staaten gleichsam religiöse Weihe - kommt der Wille zum Ausdruck, die amerikanische Sendung zu verwirklichen. Das war ursprünglich nur für Amerika gedacht. Jetzt gilt es in erklärter Form für eine Hälfte der Welt, unausgesprochen aber für die ganze Welt. Noch ist das tatsächliche Machtstreben im Verein mit diesem Sendungsbewußtsein nicht voll entfaltet. Aber die geschichtliche Lage verstärkt es in zunehmendem Maße, und es ist schon heute berechtigt, von einem halbbewußten amerikanischen Imperialismus zu sprechen. Ein Sendungsbewußtsein findet seinen Ausdruck auch in Gesetzen. In diesen Gesetzen sind sowohl Gerechtigkeit wie Liebe wirksam. Das von den Weltreichen geschaffene Recht ist nicht nur Ideologie oder Ausdruck zweckmäßigen Denkens. Die großen Reiche unterwerfen nicht nur, sie vereinigen auch. Und soweit sie dazu imstande sind, sind sie nicht ohne Liebe. Daher erkennen die Unterworfenen stillschweigend an, daß sie nun an einer überlegenen Seinsmacht und an überlegenen geistigen Zielsetzungen teilhaben. Wenn diese Anerkennung

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schwindet, weil die einigende Kraft des Reiches, seine Stärke und sein Sendungsbewußtsein schwinden, sind die Tage dieses Reiches gezählt. Seine Seinsmacht zerfällt, und Angriffe von außen vollenden nur, was im Grunde schon entschieden ist. Der in unseren Tagen zu beobachtende Abbau staatlicher Souveränität, das Entstehen großer Machtgruppen und die Spaltung der Welt in zwei gewaltige politische Machtsysteme werfen natürlich das Problem auf, ob und wie die Menschheit politisch geeint werden kann. Welchen Beitrag können unsere Feststellungen über das Wesen von Macht, Gerechtigkeit und Liebe zur Klärung dieses Problems leisten? Auf diese Frage sind bisher drei Antworten gegeben. Die erste erkennt den endgültigen Charakter der gegenwärtigen Entwicklung zu größeren Machteinheiten nicht an und erwartet eine Rückkehr zu verhältnismäßig unabhängigen Machtzentren, die nicht unbedingt nationalen Charakter haben müssen, sondern vielleicht kontinentales Ausmaß haben werden. Die zweite Antwort zielt auf eine Lösung im Rahmen eines Weltstaates, der als eine Art bundesstaatlicher Vereinigung der gegenwärtigen Großmächte gedacht wird, die sich der Zentralgewalt, an der alle Gliedstaaten teilhaben, freiwillig unterwerfen. Die dritte Antwort beruht auf der Erwartung, daß sich eine der Großmächte zur beherrschenden Weltmacht entwickelt, die die anderen Staaten in liberaler Weise und nach demokratischen Methoden beherrscht. Ob die erste Antwort richtig ist, hängt davon ab, welche Beurteilung der Zukunft zutrifft. Es kennzeichnet die Entwicklung sozialer Organismen, daß einer zentralisierenden Tendenz stets eine dezentralisierende entgegenwirkt. Die Frage ist also, welche Tendenz in unserer Zeit überwiegt. Die Einheit der Welt, wie sie in technischer Hinsicht besteht, begünstigt die Zentralisierung. Aber daneben sind andere Kräfte wirksam, vor allem psychologische, die sich als stärker erweisen können. Die zweite Antwort, die Erwartung eines Weltstaates, steht im Widerspruch zur Analyse der Macht, wie wir sie gegeben haben. Ein Machtzentrum, das Stärke mit einem Sendungsbewußtsein verbindet, kann sich nicht einer künstlich geschaffenen Weltregierung unterwerfen, der beides fehlt. Die Voraussetzung für eine politische Einheit der Welt ist das Bestehen einer geistigen Einheit, die ihren Ausdruck in Symbolen und Mythen findet. Nichts Derartiges besteht heute. Und ehe es nicht besteht, hat ein Weltstaat nicht die Macht, sich allgemeine Anerkennung zu verschaffen. Die dritte Antwort scheint die größte Wahrscheinlichkeit für sich zu 211

haben. Es kann nämlich durchaus geschehen, daß nach einem Stadium der Weltgeschichte, in dem sich eine Machtstruktur zu einer Weltmacht mit einem Mindestmaß an Unterdrückung entfaltet, das Gesetz, die Gerechtigkeit und die vereinigende Liebe, die in dieser Macht verkörpert sind, von der gesamten Menschheit anerkannt werden. Aber auch dann wird das Reich Gottes noch nicht verwirklicht sein. Denn auch dann wird es Zerfall und Revolutionen geben. Es werden sich vielleicht neue Machtzentren bilden, zunächst im Verborgenen, dann offen, und das kann zu einer Abspaltung vom Ganzen oder zu seiner radikalen Umgestaltung führen. Und diese neuen Machtzentren werden wahrscheinlich ein eigenes Sendungsbewußtsein entwickeln. Dann beginnt der Machtkampf von neuem, und die Periode eines segensreichen Weltstaates wird genauso vorübergehen, wie das mit dem Friedensreich des Augustus geschah. Aber kann denn die vereinigende Liebe die Menschheit niemals zur Einigung führen? Kann die Menschheit als ein Ganzes niemals eine einzige Machtstruktur bilden und damit weltweite Gerechtigkeit verbürgen? Mit dieser Frage haben wir jedoch das Feld der Geschichte verlassen; wir stoßen hier auf das Problem, wie sich Liebe, Macht und Gerechtigkeit zum Unbedingten verhalten.

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VII

D I E E I N H E I T V O N LIEBE, MACHT U N D GERECHTIGKEIT I N DER B E Z I E H U N G Z U M U N B E D I N G T E N Die ersten vier Kapitel dieses Buches entwickelten unsere Hauptthese unmittelbar. In ihnen wurde der Nachweis versucht, daß ohne ontologische Grundlegung weder Liebe noch Macht oder Gerechtigkeit recht verstanden werden können. Die beiden darauffolgenden Kapitel bestätigten diese These mittelbar, indem sie die Fruchtbarkeit der ontologischen Analyse für die Problematik der Gerechtigkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen und für da? Problem der Macht in den Beziehungen zwischen sozialen Gruppen erwiesen. Aber nachdem auf diese Weise der ontologische Charakter von Liebe, Macht und Gerechtigkeit dargelegt worden ist, erhebt sich nun die Frage nach ihrem theologischen Charakter. Denn Ontologie und Theologie berühren sich in einem Punkt: beide haben es mit dem Sein als solchem zu tun. Die erste Aussage, die wir über Gott zu machen haben, ist die, daß er das SeinSelbst ist. Wir sind der theologischen Fragestellung in unserer Erörterung bereits mehrmals begegnet. Sie klang an bei der Beschreibung des Lebens als Trennung und Wiedervereinigung oder als Liebe. Eine solche Auffassung vom Leben entspricht genau der Lehre, die den lebendigen Gott als Dreifaltigkeit begreift. In seinem Sohn trennt sich Gott von sich selbst, und im Heiligen Geist vereint er sich wieder mit sich. Das ist natürlich symbolisch zu verstehen, aber diese Auffassung soll doch die Christenheit stets auf die Wahrheit hinweisen, daß Gott keine tote Identität, sondern der lebendige Urgrund alles Lebens ist. Darüber hinaus verwiesen wir auf die y4g«/»e-Qualität der Liebe, die im Neuen Testament so nachdrücklich betont wird. Wir sprachen ferner von der göttlichen Gerechtigkeit, und zwar sowohl unter ihrem natürlichen Aspekt, nach dem alles Seiende einen wesensgemäßen Anspruch auf Gerechtigkeit hat, wie auch unter dem Aspekt der vergebenden und wiedervereinigenden Gerechtigkeit. Wir verwiesen auf den Widerstand des Menschen gegen die wiedervereinigende Liebe, seine Entfremdung von sich selbst, von anderem Seienden und vom Urgrund seines Seins. Und wir verwahrten uns gegen einen Gottesbegriff, durch den Gott 213

seiner Macht beraubt wird, denn Sein muß als Seinsmächtigkeit verstanden werden. Das alles zeigt, daß Begriffe wie Liebe, Macht und Gerechtigkeit gar nicht geklärt werden können, ohne in die Dimension dessen vorzustoßen, was uns unbedingt angeht, ohne die Sphäre des Heiligen zu betreten. Aber es gibt noch einen tieferen Grund für die Notwendigkeit, in diesen Bereich vorzustoßen. Wir bemühten uns um den Nachweis, daß ihrem ursprünglichen Wesen nach und gemäß ihrer geschaffenen Natur Liebe, Macht und Gerechtigkeit eine Einheit sind. Das war jedoch nicht möglich, ohne zu zeigen, daß sie sich in der Wirklichkeit voneinander getrennt haben und im Widerstreit miteinander stehen. Daraus ergibt sich die Frage: Wie kann ihre wesensgemäße Einheit wiederhergestellt werden? Zweifellos gibt es darauf nur eine Antwort: durch das Offenbarwerden des Grundes, in dem sie vereint sind. Liebe, Macht und Gerechtigkeit sind eins in ihrem göttlichen Ursprung, und sie sollen wieder eins werden in der menschlichen Existenz. Das Heilige, in dem sie vereint sind, soll sich verwirklichen in Raum und Zeit. Aber wie und in welchem Sinne ist das möglich? Gott als die Quelle von Liebe, Macht und Gerechtigkeit Die grundlegende Aussage über das Verhältnis Gottes zu Liebe, Macht und Gerechtigkeit ist die Feststellung, daß Gott das Sein-Selbst ist. Denn nach unserer ontologischen Analyse umschließt das Sein als solches sowohl Liebe wie Macht und Gerechtigkeit. Gott ist das grundlegende und allumfassende Symbol für das, was uns unbedingt angeht. Als das Sein-Selbst ist er letzte Wirklichkeit, das wahrhaft Wirkliche, der Grund und Abgrund alles dessen, was ist. Als der Gott, zu dem ich ein persönliches Verhältnis habe, ist er das Du, auf das sich alle symbolischen Aussagen beziehen, die das zum Ausdruck bringen, was mich unbedingt angeht. Alles, was wir über das Sein-Selbst aussagen, über den Grund und Abgrund des Seins, kann nur symbolisch verstanden werden. Es ist unserer Erfahrung der endlichen Wirklichkeit entnommen und wird auf das übertragen, was alles Endliche transzendiert. Darum sind unsere Aussagen nicht wörtlich zu verstehen. Irgend etwas über Gott im buchstäblichen Sinne des üblichen Wortgebrauchs aussagen zu wollen, heißt etwas Falsches über ihn aussagen. Die symbolische Aussage über Gott ist nicht weniger wahr als eine wörtliche, und abgesehen davon stellt sie die einzige angemessene Form dar, von Gott zu sprechen. 214

Das gilt auch für die drei Begriffe, von denen hier die Rede ist. Wenn wir sagen, daß Gott ein liebender Gott ist, oder noch besser: daß er die Liebe ist, so verwenden wir unsere Erfahrung der Liebe und unsere Weise, das Leben zu begreifen, gleichsam als den Stoff, der uns hier allein zur Verfügung steht. Aber wir wissen auch, daß wir unsere Vorstellung von der Liebe in das Geheimnis der göttlichen Tiefe tauchen, wenn wir sie auf Gott übertragen. Und in dieser Tiefe wird sie verwandelt, ohne ihren Sinn für uns zu verlieren. Es ist noch Liebe, aber es ist nun göttliche Liebe. Das soll nicht heißen, daß ein höheres Wesen das, was wir Liebe nennen, in größerer Fülle besäße, sondern es bedeutet, daß unsere Liebe ihre Wurzeln im göttlichen Leben hat, d. h. in etwas, das unser Leben unendlich an Sein und Sinn übersteigt. Dasselbe gilt von der göttlichen Macht. Auch die Wendung von der göttlichen Macht ist symbolisch gemeint. Wir erleben Macht in physischem Geschehen, ebenso aber auch in der Fähigkeit, unseren Willen gegen einen fremden Willen durchzusetzen. Auf diese Erfahrung stützen wir uns, wenn wir von der göttlichen Macht sprechen. Wir sprechen von seiner Allmacht und rufen ihn als den Allmächtigen an. Im wörtlichen Sinne würde das bedeuten, daß Gott das höchste Wesen ist, der tun kann, was ihm gefällt, was zugleich besagt, daß es eine Menge Dinge gibt, die er nicht tun will, eine Vorstellung, die uns in einen Nebel absurder Hirngespinste führt. Der wahre Sinn der Allmacht liegt darin, daß Gott die Macht des Seins ist in allem, was ist. Diese Macht geht über jede andere Macht unendlich hinaus, ist aber zugleich ihr schöpferischer Grund. In der religiösen Erfahrung führt die Macht Gottes zu dem Gefühl, in der Hand einer Macht zu sein, die stärker ist als jede andere Macht, oder, ontologisch gesprochen, die der unendliche Widerstand gegen das Nichtsein und der ewige Sieg über das Nichtsein ist. Teilzuhaben an diesem Widerstand und an diesem Sieg wird als die Möglichkeit empfunden, die Bedrohung durch das Nichtsein zu überwinden, eine Bedrohung, der alles Endliche unterworfen ist. In jedem Gebet zum allmächtigen Gott wird Macht im Lichte der göttlichen Macht gesehen. Sie wird als die letzte Wirklichkeit erfahren. Auch der Begriff der Gerechtigkeit wird auf Gott in einem unbedingten und daher symbolischen Sinne übertragen. Gott erscheint im Symbol des gerechten Richters, der nach dem Gesetz richtet, das er selbst gegeben hat. Das ist eine Vorstellung, die aus unserer Erfahrung erwachsen ist. Auch sie muß in das Geheimnis des göttlichen Lebens getaucht werden und dort ihre Bewahrung, aber zugleich auch ihre Verwandlung erfahren. Sie ist so zu einem wahren Symbol geworden 215

für das Verhältnis des letzten Seinsgrundes zu dem, was in ihm gegründet ist, und das gilt vor allem für den Menschen. Das göttliche Gesetz steht jenseits der Spaltung zwischen Naturrecht und positivem Recht. Es ist die Struktur der Wirklichkeit und alles dessen, was wirklich ist, einschließlich der Struktur des menschlichen Geistes. In dieser Hinsicht ist das göttliche Gesetz Naturrecht, das Gesetz der unaufhörlichen Schöpfung, der Seinsgerechtigkeit alles Geschaffenen. Zugleich ist es aber positives Recht, gegeben von Gott in seiner Freiheit, die von keiner Struktur außerhalb ihrer selbst abhängt. Insofern es Naturrecht ist, können wir das göttliche Recht aus seinem Walten in der Natur und Menschheit verstehen und deduktiv ableiten. Insofern es positives Recht ist, müssen wir das uns empirisch Gegebene hinnehmen und es auf induktivem Wege erfassen. Beide Seiten des Rechts wurzeln in dem Verhältnis Gottes zu dem Lebensrecht aller Dinge. Liebe, Macht und Gerechtigkeit als wahre Symbole des göttlichen Lebens zu sehen, heißt ihre letzte Einheit zu erkennen. Einheit ist nicht Identität. Wenn wir von Einheit sprechen, setzen wir ein Element der Trennung voraus. In der symbolischen Anwendung unserer drei Begriffe auf Gott sind auch Symbole der Spannung enthalten. D a ist zunächst die Spannung zwischen Liebe und Macht. Immer wieder ist die quälende Frage laut geworden, und sie wird auch nie verstummen: Wie kann ein allmächtiger Gott, der zugleich der Gott der Liebe ist, so viel Elend zulassen? Entweder hat er nicht genügend Liebe oder nicht genug Macht. Als ein reiner Gefühlsausbruch ist solche Frage durchaus verständlich. In theoretischer Hinsicht steht sie dagegen auf sehr schwachen Füßen. Wenn Gott eine Welt geschaffen hätte, in der es nichts Böses gibt, weder in physischer noch in moralischer Hinsicht, würden die Menschen nicht jene Unabhängigkeit besitzen, ohne die es keine Erfahrung der wiedervereinigenden Liebe gäbe. Die Welt wäre dann ein Paradies träumender Unschuld, ein Paradies für unmündige Kinder; aber weder Liebe noch Macht noch Gerechtigkeit würden jemals als wirkende Kräfte erscheinen. Die Verwirklichung der eigenen Möglichkeiten schließt mit Notwendigkeit die Entfremdung ein, Entfremdung von der ursprünglichen Wesensbestimmung, auf daß wir als Gereifte zu ihr zurückfinden. N u r ein Gott, der einer törichten Mutter gleicht, die in ihrer Sorge um das Wohlergehen ihrer Kinder diese in einem Zustand aufgezwungener Unschuld und erzwungener Abhängigkeit von ihr festhält, könnte seine Geschöpfe in das Gefängnis eines erträumten Paradieses einschließen. Und wie im Falle der törichten Mutter wäre das im Grunde ein Akt der Feindseligkeit, aber nicht Liebe. Und von Macht könnte dann auch nicht die Rede sein. Die Macht Got216

tes zeigt sich darin, daß er die Entfremdung überwindet, nicht darin, daß er sie verhindert. Diese Macht besteht darin, daß er, symbolisch gesprochen, die Entfremdung auf sich nimmt, und nicht darin, daß er in toter Identität mit sich selbst verharrt. Das ist der eigentliche Sinn des uralten Symbols des Gottes, der am Leiden der Kreatur teilhat. Dieses Symbol wurde vom Christentum auf die Deutung dessen, von dem gesagt wird, daß er der Christus sei, bezogen. Das ist die Einheit von Liebe und Macht in der Tiefe der Wirklichkeit selbst, da Macht nicht nur dem Werke der Schöpfung dient, sondern auch als Zwang wirkt und damit zu Zerstörung und Leiden führt. Diese Überlegungen liefern der Theologie einen Schlüssel zum uralten Problem der Theodizee, der Frage nach dem Verhältnis der göttlichen Liebe und der göttlichen Macht zum Nichtsein, nämlich Tod, Schuld und Sinnlosigkeit. Die ontologische Einheit von Liebe und Macht ist der Schlüssel, der gewiß nicht das letzte Geheimnis des Seins erschließt, der aber doch einige verrostete Schlüssel überflüssig machen kann, die zudem nur für falsche Türen passen würden. Während sich die Spannung zwischen Liebe und Macht im Grunde auf die Schöpfung bezieht, muß die Spannung zwischen Liebe und Gerechtigkeit vor allem im Hinblick auf die Erlösung gesehen werden. Unsere Deutung der verwandelnden Gerechtigkeit als eines Zeichens schöpferischer Liebe erspart uns die Widerlegung des gewöhnlich angenommenen Gegensatzes zwischen abwägender Gerechtigkeit und zusätzlicher Liebe. Nach der dargelegten Auffassung kann es in Gott keinen Widerstreit zwischen Gerechtigkeit und Liebe geben. Aber in einem anderen Sinne wäre ein solcher Widerstreit wohl möglich, nämlich in der Weise, wie Liebe und Macht einander gegenübergestellt wurden. Die Liebe vernichtet, was der Liebe widerstrebt, und verrichtet damit ihr „fremdes Werk". Sie tut das im Sinne der Gerechtigkeit, ohne die sie zu chaotischer Preisgabe jeglicher Seinsmacht führen würde. Aber gleichzeitig rettet die Liebe durch Vergebung das, was sich der Liebe entgegenstellt, und verrichtet damit ihr eigentliches Werk. Hier vollzieht sich das Paradox der Rechtfertigung, das die Liebe davor bewahrt, reiner Gesetzesmechanismus zu werden. Wie können diese beiden Werke der Liebe eine Einheit sein? Sie sind es, weil die Liebe die Erlösung nicht erzwingen will. Täte sie das, würde sie eine doppelte Ungerechtigkeit begehen. Sie mißachtete den Anspruch eines jeden Menschen, nicht als Sache, sondern als ein auf eine eigene Mitte bezogenes, sich frei entscheidendes und verantwortliches Selbst behandelt zu werden. Da Gott Liebe ist und seine Liebe eins ist mit seiner Macht, verschmäht er es, jemanden zu der von ihm bestimmten Erlösung zu 217

zwingen. Er würde sich sonst selbst widersprechen. Und das kann Gott nicht tun. Außerdem würde solch ein Akt das „fremde Werk" der Liebe mißachten, nämlich die Zerstörung dessen, was die Liebe zerstört. Er würde der Liebe das Unbedingte nehmen und damit die göttliche Majestät verletzen. Die Liebe muß vernichten, was der Liebe widerstrebt, aber nicht den Menschen, der das tut. Denn als Geschöpf bleibt er eine Seinsmächtigkeit oder eine Schöpfung der Liebe. Aber die ursprüngliche Einheit seines Willens ist dann zerstört, er ist in einem inneren Konflikt mit sich selbst, und der Name hierfür ist Verzweiflung, mythologisch gesprochen: die Hölle. Dante hatte recht, als er sogar die Hölle eine Schöpfung der göttlichen Liebe nannte. Die Hölle der Verzweiflung ist das „fremde Werk", das die Liebe an uns tut, um uns für ihr eigentliches Werk zu öffnen, nämlich die Rechtfertigung dessen, der ungerecht ist. Aber selbst die Verzweiflung verwandelt uns nicht in einen toten Mechanismus. Sie ist ein Prüfstein unserer Freiheit und Würde als Person, auch in unserem Verhältnis zu Gott. Das Kreuz des Christus ist das Symbol der göttlichen Liebe, die teilhat an der Vernichtung, in die sie den stößt, der gegen die Liebe handelt. Das ist der Sinn der Versöhnung. Liebe, Macht und Gerechtigkeit sind in Gott eins. Aber wir müssen fragen, wie es damit in einer entfremdeten Welt bestellt ist. Liebe, Macht und Gerechtigkeit

in der

Geistgemeinschaft1

Liebe, Macht und Gerechtigkeit sind in Gott unlösbar vereint, und sie sind in Gottes neuer Schöpfung auch in der Welt geeint. Der Mensch ist vom Grunde seines Seins entfremdet, von sich selbst und von seiner Welt. Aber er ist immer noch Mensch. Er kann nicht völlig die Bindung an seinen schöpferischen Urgrund lösen, er ist noch eine zentrierte Person und als solche mit sich geeint. Er hat auch noch Anteil an seiner Welt. Das heißt: die wiedervereinigende Liebe, die Macht, dem Nichtsein zu widerstehen, und die schöpferische Gerechtigkeit sind in ihm noch wirksam. Das Leben ist nicht nur unzweideutig gut, sonst wäre es nicht Leben, sondern nur mögliches Leben. Aber das Leben ist nicht nur unzweideutig böse, denn das wäre der Triumph des Nichtseins über das Sein. Das Leben ist vielmehr in all seinen Erscheinungsformen zweideutig. Es ist auch im Hinblick auf Liebe, Macht und Gerechtigkeit zweideutig. Wir sind im Laufe unserer Erörterungen häufig auf diese Tatsache gestoßen. 1 Das Wort „Geist-Gemeinschaf:' steht hier für „holy Community". Es wurde von Tillidi erst später geprägt, aber trifft die gemeinte Sache. Siehe Syst. Theologie, Bd. III. (D. Hrsg.)

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Wir müssen sie nun im Rahmen einer entfremdeten Welt im Lichte der neuen Schöpfung betrachten, und diese neue Schöpfung möchte ich die Geistgemeinschaft nennen. In einer vorläufigen Zusammenfassung möchte ich sagen: in der Geistgemeinschaft durchdringt die ylgape-Qualität der Liebe die Libido-, Eros- und Philia-Qualitäten der Liebe und erhebt sie über die Zweideutigkeiten ihrer Vereinzelung. In der Geistgemeinschaft erhebt die Macht des göttlichen Geistes über die Zweideutigkeiten, die die Macht in ihrer dynamischen Verwirklichung aufweist; sie tut das, indem sie allen Zwang fahren läßt. In der Geistgemeinschaft erhebt die Rechtfertigung durch Gnade die Gerechtigkeit über alle Zweideutigkeiten ihres abstrakten und berechnenden Wesens. Das bedeutet, daß in der Geistgemeinschaft Liebe, Macht und Gerechtigkeit wohl in ihrer ontologischen Struktur bestätigt werden, aber daß sich ihre entfremdete und zweideutige Wirklichkeit in eine Bekundung ihrer Einheit im Schöße des göttlichen Lebens verwandelt. Betrachten wir zunächst die Zweideutigkeiten der Liebe und das Werk der Liebe als agape in der Geistgemeinschaft. Libido ist an sich gut. Wir haben sie gegen Freud verteidigt und gegen seine Abwertung dessen, was er als die unaufhörlich drängende sexuelle Triebhaftigkeit mit all ihren unausweichlichen Folgen, dem Unbefriedigtsein und dem Todestrieb, beschreibt. Wir haben Freuds These als eine Beschreibung der libido in der Entfremdung anerkannt; aber diese These übersieht dodi die schöpferische Bedeutung der libido. Denn ohne libido würde das Leben stillstehen. Die Bibel weiß das ebensogut wie die moderne Tiefenpsychologie. Und wir sollten dafür dankbar sein, daß unsere neuen Einsichten in die tieferen Schichten der menschlichen Natur den biblischen Realismus wieder entdeckt haben, nachdem er so lange durch mehrere Schichten idealistischer und moralistischer Selbsttäuschung über die Natur des Menschen verdeckt war. Der biblische Realismus weiß, daß die libido zu der von Gott geschaffenen guten Natur des Menschen gehört, aber er ist sich zugleich dessen bewußt, daß sie im Stande der Entfremdung des Menschen in verzerrter und zweideutiger Form erscheint. Die libido ist maßlos geworden und ist der Tyrannei des Lustprinzips zum Opfer gefallen. Sie mißbraucht den Mitmenschen als ein Mittel seiner eigenen Lust, statt die Wiedervereinigung mit ihm zu suchen. Sexuelles Begehren ist an sich nicht böse, das gilt auch für die Verletzung konventioneller Gesetze. Aber sexuelle Lust und die Lösung des Sexuellen von allen Bindungen sind böse, insofern sie das innerste Wesen der anderen Person verletzen, mit anderen Worten, wenn sie nicht mit den zwei anderen Qualitäten der Liebe zu219

sammengehen und wenn sie nicht dem Kriterium der agape unterworfen werden. Agape sucht den Anderen in seinem eigentlichen Wesen. Agape sieht ihn, wie Gott ihn sieht. Agape erhebt die libido in die göttliche Einheit von Liebe, Macht und Gerechtigkeit. Das gleiche gilt vom eros. In Ubereinstimmung mit Plato haben wir eros als die treibende Kraft in allem kulturschöpferischen Wirken bezeichnet; das gleiche gilt auch für jede Form mystischer Vereinigung mit Gott. In diesem Sinne hat der eros die Würde einer göttlichmenschlichen Kraft. Er hat teil an der Schöpfung und an der natürlichen Unverdorbenheit alles Geschaffenen. Aber er hat auch teil an den Zweideutigkeiten des Lebens. Die £roi-Qualität der Liebe kann mit der Libido-Qualität verwechselt und in ihre Zweideutigkeiten hineingezogen werden. Ein Beispiel hierfür ist die Tatsache, daß das Neue Testament das Wort eros nicht mehr verwenden konnte, weil es zu stark mit sexuellen Nebenbedeutungen belastet war. Und selbst der mystische eros drückt sich zuweilen in Symbolen aus, die nicht nur der sexuellen Sphäre entlehnt sind, sondern auch die Liebe zu Gott auf eine scheinbar asketische, im Grunde aber sexuelle Ebene stellen. Aber es geht noch um mehr, wenn wir von der Zweideutigkeit der £roi-Qualität sprechen. Vor allem die ästhetische Unverbindlichkeit kann unsere Einstellung zur Kultur beherrschen und damit den eros zweideutig machen. Wir haben das vor allem von Kierkegaard gelernt. Was er die ästhetische Stufe in der religiösen Entwicklung des Menschen nennt, ist nicht eine Stufe, sondern eine allgemeine Qualität der Liebe, die den Gefahren, wie Kierkegaard sie beschreibt, ausgesetzt ist. Die Gefahr des kulturschöpferischen eros ist seine Loslösung von der eigentlichen Wirklichkeit und somit das Schwinden aller existentiellen Bindungen und der letzten Verantwortung. Die Flügel des eros werden zu Flügeln der Flucht. Die Kultur wird -ohne jegliches Verantwortungsbewußtsein genossen. Ihr widerfährt nicht die Gerechtigkeit, die sie erwarten muß. Agape durchdringt die unbekümmerte Sicherheit eines bloß ästhetischen eros. Sie ist nicht gegen die Sehnsucht nach dem Guten und Wahren und ihrem göttlichen Ursprung, aber sie verhindert, daß diese Sehnsucht zu einem ästhetischen Genießen ohne letzten Ernst entartet. Agape zwingt den kulturschöpferischen eros in die Verantwortung und zwingt den mystischen eros in die Gemeinschaft von Person mit Person. Die Zweideutigkeiten der Philia-Qualität der Liebe begegneten uns bereits, als wir sie als persönliche Zuneigung zwischen gleichrangigen Menschen bestimmten. Aber wie groß auch immer die Gruppe der Gleichen sein mag, die Philia-Qualität der Liebe führt zu Begünstigung. 220

Einige werden auserwählt, die Mehrheit aber bleibt ausgeschlossen. Das gilt offensichtlich nicht nur für so enge Beziehungen, wie sie in der Familie und Freundschaft vorherrschen, sondern auch für die mannigfachen Formen der Sympathie in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Die ausgesprochene oder unausgesprochene Zurückweisung all derer, denen keine Zuneigung geschenkt wird, ist negativer Zwang und kann ebenso grausam sein wie jeder andere Zwang. Aber solche Zurückweisung ist eine unvermeidliche Tragik. Niemand kann sich der Notwendigkeit solcher Zurückweisung entziehen. Es gibt bestimmte Formen der pbilia, die der Psychoanalytiker Erich Fromm als symbiotische Beziehungen charakterisiert hat und die diese tragische Notwendigkeit sehr deutlich machen. Wird in einer /^¿/¿¿-Beziehung der eine Partner vom anderen mißbraucht um einer masochistischen Abhängigkeit willen oder zum Zwecke einer sadistischen Beherrschung, bzw. liegt beides in wechselseitiger Verquickung vor, so ist das, was als höchste Form der Freundschaft erschien, in Wirklichkeit Zwang ohne Gerechtigkeit. Und wiederum verneint die agape nicht die auswählende Liebe der philia, aber sie befreit sie von einer würdelosen Knechtschaft und erhebt sie zur allumfassenden Liebe. Die agape lehnt eine auswählende Freundschaft nicht ab; aber es widerspricht ihr, wenn in einer Art aristokratischer Absonderung alle anderen von vornherein ausgeschlossen werden. Nicht jeder kann zum Freund werden, aber jeder ist als Person zu bejahen. Agape hebt die Scheidung zwischen gleidi und ungleich, Zuneigung und Abneigung, Freundschaft und Gleichgültigkeit, Begehren und Widerwille auf. Sie bedarf keiner Sympathie, um zu lieben; sie liebt dort, wo die philia abweist. Agape liebt in jedem und über jeden einzelnen hinaus die Liebe selbst. Wie agape die Zweideutigkeiten der Liebe auf eine neue Ebene hebt, so geschieht das mit den Zweideutigkeiten der Macht durch die Macht des göttlichen Geistes. Die Zweideutigkeiten der Macht wurzeln in dem dynamischen Charakter der Macht und in der unlösbaren Verbindung von Macht und Zwang. Die Macht des göttlichen Geistes überwindet diese Zweideutigkeiten nicht durch Verzicht auf Macht, weil das die Preisgabe des Seins überhaupt bedeuten würde. Es wä'fe der Versuch, sich selbst auszulöschen, um der Schuld zu entfliehen. Die Macht des göttlichen Geistes leugnet nicht die Dynamik in der Entfaltung der Macht. In vielen biblischen Berichten über das Wirken der Macht des göttlichen Geistes werden körperliche Wirkungen erwähnt, wie z. B. Emporgehobenwerden, Fortbewegung an einen anderen Ort, Erschütterung und Schrecken. Psychologische Einwirkungen werden stets festgestellt. Das bedeutet, daß Geist Macht ist, die aus der Dimension 221

des Unbedingten kommt und wirkt. Er ist nicht identisch mit dem Reich der Ideen oder der Begriffe. Er ist eine dynamische Kraft, die Widerstände überwindet. Wodurch unterscheidet er sich aber dann von anderen Formen der Macht? Die Macht des göttlichen Geistes wirkt weder durch physischen noch psychischen Zwang. Sie wirkt durch die ganze Persönlichkeit des Menschen, und das heißt durch ihn in seiner endlichen Freiheit. Sie hebt seine Freiheit nicht auf, sondern sie macht seine Freiheit frei von den Elementen des Zwanges, die sie begrenzen. Die Macht des göttlichen Geistes gibt der Persönlichkeit eine Mitte, die sie ganz und gar durchdringt und überschreitet und daher von jedem ihrer Elemente unabhängig ist. Und das ist letztlich der einzige Weg, auf dem die Person zur Einigung mit sich selbst kommen kann. Wenn das geschieht, wird die natürliche oder soziale Seinsmächtigkeit eines Menschen belanglos. Er mag sie behalten, er kann aber auch ganz oder teilweise auf sie verzichten. Die Macht des göttlichen Geistes kann durch jede Form der Seinsmächtigkeit wirken, aber sie kann auch gerade durch den Verzicht auf sie wirken. Der Mensch vermag durch Worte oder Gedanken zum Medium des göttlichen Geistes zu werden; durch das, was er ist, und durch das, was er tut, oder aber durch den Verzicht auf all das, schließlich sogar durch das Opfer seiner selbst. Das alles sind Möglichkeiten, die Wirklichkeit zu verändern, indem man Ebenen des Seins erreicht, die gewöhnlich verborgen bleiben. Hier zeigt sich die Macht, die die Geistgemeinschaft über die Zweideutigkeiten der Macht stellt. Ober das Verhältnis von Gnade und Macht brauche ich nicht viel zu sagen. Der Akt d6r Vergebung ist erwähnt worden, als von den zwischenmenschlichen Beziehungen die Rede war. Gegenseitige Vergebung ist die Erfüllung schöpferischer Gerechtigkeit. Aber sie ist nur dann Gerechtigkeit, wenn sie auf wiedervereinigender Liebe beruht, auf der Rechtfertigung durch Gnade. Nur Gott kann wahrhaft vergeben, weil in ihm allein Liebe und Gerechtigkeit in vollkommener Weise vereint sind. Die Ethik der Vergebung wurzelt in der Botschaft der göttlichen Vergebung. Sonst ist sie den Zweideutigkeiten der Gerechtigkeit preisgegeben und schwankt zwischen Gesetzesanbetung und Sentimentalität. In der Geistgemeinschaft ist diese Zweideutigkeit überwunden. Agape überwindet die Zweideutigkeiten der Liebe; die Macht des göttlichen Geistes überwindet die Zweideutigkeiten der Macht, Gnade überwindet die Zweideutigkeiten der Gerechtigkeit. Das gilt nicht nur von den Begegnungen der Menschen untereinander, sondern auch für die Begegnung des Menschen mit sich selbst. Der Mensch kann sich nur lieben, d. h. sich innerlich bejahen, wenn er sicher ist, daß er angenom222

men ist. Sonst ist seine Selbstbejahung Selbstgefälligkeit und Willkür. Nur im Lichte und unter dem Einfluß der „Liebe von oben" kann er sich lieben. Hier liegt auch die Antwort auf die Frage nach der Gerechtigkeit des Menschen gegen sich selbst. Er kann gegen sich selbst nur insofern gerecht sein, als ihm selbst die letzte Gerechtigkeit widerfährt, nämlich das verdammende, vergebende und schenkende Urteil der „Rechtfertigung". Das verdammende Element in der Rechtfertigung schließt Selbstgefälligkeit aus, das vergebende Element bewahrt vor Selbstverdammung und Verzweiflung, das schenkende Element schafft eine geistige Mitte, die die Elemente unserer Person eint und Herrschaft über uns selbst ermöglicht. Gerechtigkeit, Macht und Liebe gegen sich selbst wurzeln in der Gerechtigkeit, Macht und Liebe, die wir von dem empfangen, das uns transzendiert und bejaht. In welchem Verhältnis wir zu uns selbst stehen, hängt von unserem Verhältnis zu Gott ab. Die letzte Frage, die uns zu behandeln bleibt, wurde am Ende des Kapitels gestellt, das sich mit den Beziehungen zwischen sozialen Machtgruppen befaßte. Es handelte sich da um die Frage nach der Wiedervereinigung der Menschheit im Zeichen von Liebe, Macht und Gerechtigkeit. Auf der Ebene der Politik konnte diese Frage nicht gelöst werden. Kann sich nun eine Lösung aus dem Verhältnis zum Unbedingten ergeben? Es ist das Verdienst des Pazifismus, daß er trotz seiner Schwächen in theologischer Sicht diese Frage in der heutigen Christenheit lebendig erhalten hat. Ohne ihn würden die Kirchen wahrscheinlich vergessen haben, eine wie qualvolle Sache jede religiöse Rechtfertigung des Krieges ist. Andererseits hat der Pazifismus gewöhnlich ein viel umfassenderes Problem menschlicher Existenz auf die Frage des Krieges eingeengt. Aber es gibt hier andere Fragen von zumindest gleicher Dringlichkeit. Da ist z. B. das Problem von Konflikten, die innerhalb einer sozialen Gruppe mit Waffengewalt ausgetragen werden. Solche Konflikte sind immer da möglich, wo Polizei und bewaffnete Streitkräfte zur Aufrechterhaltung der Ordnung eingesetzt werden, und sie treten manchmal in Revolutionskriegen offen zutage. Sind diese Kriege erfolgreich, spricht man nachträglich von „glorreichen Revolutionen". Bedeutet die Einigung der Menschheit nun, daß damit nicht nur nationale, sondern auch revolutionäre Kriege ausgeschlossen sind? Und wenn das der Fall sein sollte, ist dann die Dynamik des Lebens und damit das Leben selbst zum Stillstand gekommen? Man kann die gleiche Frage im Hinblick auf die Dynamik des Wirtschaftslebens stellen. Selbst in einer statischen Gesellschaft, wie sie im 223

Mittelalter bestand, war diese Dynamik von großer Bedeutung und hatte ungeheure Folgen für den Gang der Geschichte. Man sollte sich auch immer die Tatsache vor Augen halten, daß Wirtschaftskämpfe oft zu größerer Zerstörung und größerem Leid führen als kriegerische Auseinandersetzungen. Sollte darum die wirtschaftliche Dynamik zum Stillstand gebracht und statt dessen ein statisches System der Gütererzeugung und des Verbrauchs für die ganze Welt eingeführt werden? Geschähe das, würde auch aller technischer Fortschritt unterbunden werden, und in den meisten Bereichen ergäbe sich die Notwendigkeit, das Leben als sich ewig wiederholenden Prozeß zu gestalten. Jede Störung müßte vermieden werden. Wiederum würde dann die Dynamik des Lebens und damit alles Leben selbst zum Stillstand gekommen sein. Nehmen wir einmal an, das wäre möglich. Es ergäbe sich dann folgende Lage: Unter einer unveränderlichen zentralen Autorität sind alle Machtverhältnisse festgelegt. Nichts wird gewagt, alles ist im voraus entschieden. Das Leben hat aufgehört, sich zu entfalten. Jedes schöpferische Tun ist erloschen. Die Geschichte der Menschheit ist damit abgeschlossen; die nachgeschichtliche Zeit hat begonnen. Die Menschheit wäre eine Herde glückseliger Tiere ohne jegliche Unzufriedenheit, aber auch ohne jegliches Streben in eine bessere Zukunft. Man würde aufgrund ihrer Schrecken und Leiden die geschichtliche Zeit als das finstere Zeitalter der Menschheit bezeichnen. Aber dann könnte es geschehen, daß den einen oder den anderen dieser glückseligen Menschen ein Gefühl der Sehnsucht nach diesem vergangenen Zeitalter beschleicht, ein Verlangen nach ihrem Elend und ihrer Größe. Und solche Menschen könnten den übrigen einen neuen Anfang geschichtlichen Daseins aufzwingen. Dieses Bild will zeigen, daß eine Welt ohne die Dynamik der Macht und ohne die Tragik des Lebens und der Geschichte nicht das Reich Gottes und auch nicht die Erfüllung des Menschen und seiner Welt ist. Erfüllung ist an das Ewige gebunden, und keine Phantasie kann das Ewige ermessen; aber einiges können wir doch erahnen. Die Kirche ist in dieser Hinsicht eine fragmentarische Vorwegnahme der Ewigkeit. Und es gibt Gruppen und Bewegungen, die zwar nicht zur „manifesten" Kirche gehören, jedoch etwas verkörpern, was man eine „latente" Kirche nennen darf. Aber weder die manifeste noch die latente Kirche sind das Reich Gottes. Viele Probleme, die in den Rahmen des weitgespannten Themas dieses Buches gehören, sind von mir nicht erwähnt worden. Andere wurden nur flüchtig berührt, und wiederum andere sind recht unzulänglich behandelt worden. Ich hoffe jedoch, daß meine Darstellung eine

224

Grundtatsache deutlich gemacht hat, daß nämlich die Probleme von Liebe, Macht und Gerechtigkeit unbedingt eine ontologische Grundlegung und theologische Betrachtungsweise erfordern, um sie dem vagen Gerede, einem falschen Idealismus und auch dem Zynismus zu entziehen, die sich gewöhnlich in ihrer Behandlung breitmachen. Der Mensch kann keines seiner brennenden Probleme lösen, wenn er sie nicht im Lichte seines eigenen Seins und des Seins-Selbst sieht.

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BIBLIOGRAPHISCHE

ANMERKUNGEN

DER MUT ZUM SEIN. Ubers, von: The Courage to Be. New Haven: Yale-University Press 1952. IX, 197 S. - „The Dwight Harrington Terry Foundation Lectures" über „Religion in the Light of Science and Philosophy" an der Yale-University Oktober/November 1950. In dtsdi. Ubers.: Stuttgart: Steingrüben-Verlag 1953. 142 S. LIEBE, MACHT, GERECHTIGKEIT. Übers, von: Love, Power, and

Justice. New York, London: Oxford University Press 1954. VIII, 127 S. - „The Firth Lectures" in Nottingham/Engl. und „The Sprunt Lectures" in Richmond/Va. In dtsdi. Übers.: Tübingen: Mohr 1955. VIII, 134 S.

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NAMEN- UND S A C H R E G I S T E R Bearbeitet von A. Müller

Abendländische Welt 24, 39, 50, 52, 77, 83,126 Absolute, das nadcte 38, 102, 135, 136 Absoluter Glaube 127, 130, 131,132, 133, 134,136, 137, 138, 139 Absolutismus 53 Additionstheorie 151 Adel 14,15, 16, 31, 68 Affekt 27, 28, 94 Afrika 78 Agape 145, 146, 161, 163, 213, 219, 220, 221, 222 Akt - ontisdier 49, 70,117,127,130 - ontologisdier 22, 25, 27, 46, 76, 85, 96, 97, 119, 123, 133, 134, 151, 185,192, 206,216, 218 Aktualität 73 Alexander der Große 50 Allmacht 215,216 Altes Testament 18, 19, 20, 178, 184, 185 Altertum 18,25, 50, 89, 206 Ambrosius 17 Amerika, amerikanisch 35, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 93, 94, 108, 110, 111.127.206.210 Analogie 29,30,196 Analyse 16, 18, 33, 35, 37, 49, 50, 53, 55, 56, 61, 78, 79, 99, 102, 107, 109, 113, 131, 136, 137, 146, 149, 150, 152, 154, 155, 157, 159, 160, 161, 167, 170, 182, 189, 190, 195, 202.204.208.211 Andreia ( = Männlichkeit) 16 Angst - existentielle 35, 36, 37, 38, 39, 44,

49, 55, 56, 59, 60, 61, 62, 64, 72, 81, 157, 200 — geistige 47, 50 - G r u n d 21, 23, 28, 33, 34, 37, 40, 55,66,81,112,127,133 — kollektive 73, 74 — latente 54 — neurotische 39, 55, 57, 58, 59, 61, 62, 63,107,114 — ontische 37, 47,50,121 — Ontologie der Angst 33, 35, 61, 64,70 — pathologische 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61,62, 63,64 — potentielle 74 — psychische 39, 57 — sittliche 50,51 — vor der Endlichkeit 35, 113,133 — Epochen der Angst 35, 50, 51, 53, 65, 74, 82, 98, 109, 121, 125, 127 — vor der Leere, der Sinnlosigkeit und des Zweifels 37, 39, 42, 43, 44, 45, 47, 50, 51, 52, 53, 63, 75, 80, 86, 98, 106, 107, 108, 109, 117, 119, 127, 128, 129, 130, 137, 139 — vor dem Schicksal und dem Tod 18, 19, 20, 21, 22, 36, 39, 40, 47, 48, 50, 51, 62, 64, 79, 80, 86, 94, 103, 108, 117, 119, 121, 125, 127, 129, 130,139 — vor der Schuld und der Verdammung 37, 3,9, 46, 47, 50, 51, 52, 59, 62, 63, 64, 75, 76, 80, 86, 87, 94, 103, 117, 119, 122, 123, 124, 125,127,129,130,139 — vor der vernichtenden Enge 53 — vor der vernichtenden Weite 53

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Angst der Verzweiflung 76, 97 — und Furcht 35, 36, 37, 38, 42, 56, 64, 65,66,70, 74 — und Kollektiv 79 - u n d Nichtsein 32, 33, 34, 35, 37, 38, 52, 56, 57, 68, 70, 78, 79, 83, 103,117 - T y p e n der Angst 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 46, 48, 50, 51, 52, 53 — und Vernunft 20,21 — und2ufall 100 Animositas ( = Mut als Akt der totalen Person) 26 Anomismus 47 Anselm von Canterbury 151 Antigone (des Sophokles) 195 Antike Welt 18, 19, 39, 50, 51, 68, 75, 82, 83,125, 126,180 Arete ( = Tugend) 68 Aristokratie aristokratisch 14, 15, 16, 17, 19, 50, 68, 75, 118, 119, 182, 221 Aristoteles 13, 15, 29, 33, 65, 83, 148,149, 156, 163,165, 182 Asien 78,82,119,210 Askese, asketisch 24, 51, 59, 118, 163 Astrologie, astrologisch 51,125 Atheismus, atheistisch 22, 134, 135, 136 Auden, Wystan Hugh 109 Auferstehung 86,126 Aufklärung 52,90,91 Augustin, Aurelius 29, 33, 99, 101, 145,156, 165 Augustus, römischer Kaiser 50, 212 Autonomie, autonom 75, 77,153 Autorität 44, 52, 63, 76, 89, 91, 100, 101, 116, 122, 138, 192, 194, 200, 201, 224 Baudelaire, Charles 105 Bedrohung, Drohung 29, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 45, 47, 57, 58, 62, 64, 65, 70, 72, 74, 75, 86, 91,

94, 105, 107, 108, 117, 119, 126, 168, 173, 177 Begegnung 120, 121, 122, 123, 126, 127, 128, 131, 132, 135, 137, 157, 169, 178, 179, 184, 193, 196, 198, 199,208, 222 Begierde 14, 21,22, 23,26,28 Bejahtsein 128, 131 Bejahung 24, 72, 94, 125, 126, 128,132, 13,4, 136,137 (s. a. Selbstbejahung) Beratung- Praxis der 60 Berdjajew, Nikolaus 34 Bergson, Henry 34, 104, 106 Bibel, biblisch, Biblizismus 34, 135, 137,138, 201,219 Böhme, Jakob 29, 33,34,156 Böse, das 33, 46,102 Bohème 92, 93, 96, 106 Bolschewismus 108 Bosch, Hieronymus 100 Brahman-Madit 119 Brahmane 118 Brueghel, Pieter 100 Bruno, Giordano 83 Bürgertum 15,91,92

124, 124, 136, 185,

127,

90,

Caesar, Julius 50 Calvin, Johannes 3,8 Calvinismus, calvinistisdi 102, 122, 209 Camus, Albert 110 cartesianisdier Typ des Zweifels 44 Cézanne, Paul 105 Christ, Christentum, christlich 16,17, 18, 19, 24, 39, 45, 48, 51, 80, 86, 89, 93, 94, 98, 99, 101, 108, 121, 126, 127, 145, 149, 151, 160, 180, 181, 182, 199, 206, 209, 210, 213, 216, 223 Christus Jesus 19, 57, 151, 184, 185, 217,218 Cogitation ( = Bewußtsein) 101 Conatus ( = Streben nach Selbstverwirklichung) 25,29,30 228

Conscientia ( = Gewissen) 46 Contritio ( = persönliche und totale Annahme des Gerichts und der Gnade) 76 Cusanus, Nikolaus 101 Dämonische, das 34, 37, 50, 51, 52, 59,98, 99, 100, 101 Dante, Alighieri 37, 99,101,218 Dekadenz ( = Verfall) 30 Demokratie, demokratisch 16,19, 50, 53, 81, 83, 84, 85, 89, 90, 108, 112, 147,180, 182,210,211 Demokrit 33 Descartes, René 14,101, 102 deskriptiv 157 despair ( = ohne Hoffnung) 48 Deutschland 209 Dilthey, Wilhelm 104 Dike ( = Göttin des Rechts) 156, 177 Diktatur 147 Dimension der Tiefe 197 Dionysius Areopagita 33,34 Dogma, Dogmatik christliche 19, 45, 101,102 Dostojewski], Fjodor Michailowitsch 105 Dürer, Albrecht 121 Du (und Ich) 193 Dualismus, dualistisch 14, 24, 47, 76, 101 Duns Scotus 29,100 Dynamik, dynamisch 166, 169, 174, 177, 178, 183, 184, 190, 219, 221, 223,224 Dynamis ( = bewegende Triebkraft) 156 Edel (s. a. „Adel") 15,16,18, 68 Edelmann 16 Elan vital 93,94 Einsamkeit 32, 44, 94, 109, 114, 121 Einswerdung 118,120 Eliot, Thomas Stearns 109 Elite 23,24

Empedokles 145,156 Endliche, das 166, 193, 214 Endlichkeit, endlich 33, 35, 43, 46, 49, 59, 72, 97, 98, 101, 102, 104, 108, 111, 112, 113, 115, 119, 120, 126, 127,128, 132, 133, 139 Endliche Freiheit 46,96, 115 Endliches Sein 167 Energeia ( = Seinsmacht) 156 Engagement 96 England 205,209 Entelechie 15 Enthusiasmus 83, 84 Entfremdet, Entfremdung 44, 46, 48, 63, 70, 72, 97, 98, 99, 101, 109, 126, 159, 175, 192, 216, 218, 219 Entmenschlichung 106, 107, 115 Entscheidung 169, 199, 201, 203, 206, 208, 217 Entschlossenheit 112,113 Epiktet 21,23 Epithymia ( = Begierde) 160, 161, 162,163 Erfahrung 18, 29, 32, 34, 35, 41, 43, 47, 49, 52, 55, 105, 108, 109, 111, 120, 123, 127, 129, 131, 138, 139, 157,160,193,215, 216 Erkenntnis, existentielle 27, 82, 96, 97 Erlöser 19 Erlösung 18, 19, 22, 23, 24, 25, 28, 71, 76, 98,99, 217 Eromenon ( = Liebe zur Welt) 156 Eros 43, 145, 146, 156, 160,161, 162, 163, 207,219, 220 Escatologie 77 Essentia actualis 26 Essentialismus, Essentialist, essentia1 istisch 97, 99, 100, 101, 103, 104 Essentiell und existentiell 14, 15, 20, 22, 23, 40, 44, 45, 46, 47, 48, 50, 59, 65, 72, 79, 81, 87, 96, 97, 98, 99, 100,102,103, 167 Essenz 104 Ethik 19, 25, 46, 69, 85, 102, 103,

229

HO, 113, 118, 125, 126, 127, 135, 143,176, 189,191, 192, 222 ethisch 13, 14, 18, 20, 70, 93, 98, 135, 146, 148, 162, 189, 190, 191, 192 Europa, europäisch 35, 81, 82, 84, 93, 94,104, 209 Evolution 85 Ewig 79, 126,133, 178,224 Existentialismus, Existentialist, existentialistisch 17, 32, 34, 35, 59, 82, 87, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 122, 127, 129,136, 137, 145, 166 Existcntialistische Ausdrucksform 98 Existentialistischer Inhalt 97 Existentialistisdier Protest 98, 101, 104,105, 115,201 Existentieller Ernst 22 Existentieller Gesichtspunkt 98, 100, 101,102 Existentielle Haltung 96,97,114 Existentielle Situation 101,113 Existentielle Torheit 23 Existentielle Verzweiflung 114,136 Existenz 13, 14, 18, 25, 27, 33, 38, 39, 41, 42, 43, 44, 45, 48, 49, 60, 73, 74, 78, 81, 84, 96, 97, 98, 99, 101, 102, 103, 104, 105, 108, 112, 113, 121, 122, 123, 129, 130, 134, 135, 139, 163, 168, 171, 182, 190, 193,196,198,203,206 Existenzphilosophie 112 Expressionismus 105,111 Fall - der Sündenfall 98,99 Fanatiker, Fanatismus, fanatisch 44, 45, 59, 63, 78, 114, 116, 209, 210 Faschismus 66,68, 77,116 Fegefeuer 51,76,128 feudale Gesellschaft 16,52, 75 Feuerbach, Ludwig 104,109 Flaubert, Gustave 105

Fortitudo ( = Stärke) 16, 17, 26 Fortschritt 83,90 Fortschrittsglaube 25, 83, 85, 86 Fortuna ( = Geschick) 51 Frankreich 209 Freiheit 20, 44, 47, 67, 68, 90, 93, 110,114,181,182,195,216 — endliche 46,96,147 — meontisdie 34 — transzendente 182 Freud, Sigmund 20, 21, 45, 55, 161, 219 Freudigkeit 22 Fromm, Erich 27,44,221 Furcht 21, 34, 35, 36, 56, 58, 64, 65, 66,125 Furcht und Angst 35, 36, 37, 38, 42, 56, 64, 65, 66, 70, 74 (s. a. Angst) Furcht — vor dem Leben 20 — vor dem Tod 20, 36, 37, 39, 40, 58 Futuristisch 83 Galilei, Galileo 83 Gebot — vornehmstes 145,146,150 und — Gebote, die Zehn 195 Geist - g ö t t l i c h e r 17, 103, 127,219 — menschlicher 67, 68, 147, 148, 154, 177,186, 221, 222 Geistgemeinschaft 218, 219, 222 Generositas ( = Sozialgefühle und Hilfsbereitschaft) 26,27 Gerechtigkeit 16, 17, 109, 143, 144, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 156, 158, 165, 175, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 183, 185, 186, 187, 188, 189, 192, 193, 194, 199, 200, 202, 206, 207, 210, 211, 212, 213, 214, 216, 217, 218, 219, 220, 221,222, 223, 225 — ausgleichende 148,182 - a u s t e i l e n d e 148, 150, 180, 182, 183,199

230

Gerechtigkeit, vergeltende 151 — verwandelnde 184,217 — zumessende 148, 149, 183, 184, 185,186, 197 Geschichte, geschichtlich 25, 33, 34, 39, 50, 65, 69, 83, 84, 96, 97, 103, 104, 115, 121, 123, 170, 182, 185, 208, 209,212, 224 Gesellschaft 55, 73, 86, 87, 91, 106, 114, 122, 148, 149, 152, 166, 171, 179,180,181,182, 199,206 — aristokratisch-demokratische 50 — bürgerliche 80 — industrielle 84, 87,102 — mittelalterliche 17, 54, 75 — organische 84, 92 — primitive 74 — westliche 80 Gewalt 147, 172, 173, 175 Gewissen 23, 112, 113, 125, 194, 195 Gewißheit 63, 64, 65, 121, 122, 129 Glaube 17, 18, 19, 23, 43, 52, 53, 61, 86, 90, 99, 104, 118, 120, 124, 127, 128, 129, 130, 131, 134, 135, 139, 168 - a b s o l u t e r 127, 130, 131, 132, 133, 134,137, 138, 139 — philosophischer 114 Glaubens - Wagnis des 17 Gleichheit 148, 155, 171, 179, 180, 181,182,195 Glückseligkeit 22,27 Gnade 69, 76, 126, 138, 185, 198, 219, 222 Gnosis 18 Goethe, Johann Wolfgang 83,102 Gogh, Vinzenz van 105 Gorgias — platonischer Dialog 100 „Goldene Regel" 193,194 Götter 22,118,119,156 Göttliches Wesen 18,19,34,137 Götzen 38 Gott 22, 23, 27, 31, 32, 34, 38, 53, 75, 76, 81, 86, 91, 97, 99, 100, 101, 109, 112, 113, 115, 120, 121, 123,

231

124, 125, 126, 127, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 145, 147, 150, 151, 159, 162, 164, 168, 177, 180, 181, 184, 191, 192, 197, 210, 213, 214, 216, 217, 219, 220, 222, 223, 224 Gottesidee 132, 133,134 Gott über Gott 22, 23, 134, 137, 138, 139 Gottes Zorn 51 Grenzsituation 48 Griechenland, Griechen, griechisch 24, 68,69, 209 Großbritannien 84 (s. a. England) Grünewald, Matthias 100 Grund des Seins 91, 118, 119, 120, 127, 133,137,216 Grundstruktur des Seins 70 Hamlet 23, 37, 52 Harmonieprinzip 90,95 Haß 71,156 Hebräerbrief 18 Hedonismus 161 Hegel, Friedrich Wilhelm 33, 97, 102, 103, 104, 106, 133, 145, 157, 186,189 Heidegger, Martin 34, 108, 112, 113, 114,165 Heidentum, heidnisch 24 Heil ( = salus) 28 Heilen, ärztlich und religiös 59, 60, 61,64,123,124 Heiligung 87,99 Heilung 59 Heraklit 156,178 Heroen, heroisch 16, 19, 83, 94, 110, 122 Heteronomie, heteronom 77,191,192 Himmel (und Hölle) 18, 37, 51, 94, 127,218 Hitler, Adolf 210 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 95 Hoffnung 17,18,25, 48, 84, 86

Horizontal 83 Humanismus, Humanisten, humanistisch 16, 17, 24, 25, 52, 93, 113, 125 Husserl, Edmund 101 Hysterie 109 Ibsen, Henrik 105 Ich — das Ich und das Du 193 (s. a. Du) Idealismus 69, 105, 163, 205, 219, 225 Identität, identisch 71, 72, 73, 79, 120, 155, 174, 176,213,217 Ideologie 152, 170,210 Imperium, Ubernationales 77 Impressionismus 105 Independentismus 94 Indien 118 Individualist, individualistisch 18, 73,77, 78, 84, 88,90,92 Individualismus 88, 89, 94, 100, 106, 122 Individualität 40, 84, 91, 123, 163, Individuation 40, 70, 71, 89, 91, 92, 118, 120,138, 170 Individuelles Leben und Wesen 19, 27, 44, 71, 72, 74, 75, 78, 79, 90, 91, 92, 93, 94, 103, 105, 117, 118, 122,123, 155 Individuum 25, 27, 19, 50, 53, 65, 71, 74, 75, 76, 82, 83, 84, 86, 90, 91, 92, 94, 95, 100, 101, 103, 104, 112, 121, 124, 126, 159, 161, 163, 169, 170, 173, 178, 194, 195, 201, 203, 207 Inkarnation 24 Instinkt 28 Intellekt, intellektuell 17, 67,123 Intelligenz 82,115 Intentionalität 36, 66, 67,68, 13,1 Ironie 92 Irrationalismus, irrational 100,125 Irrationalität 41,91

James, William 104 Jaspers, Karl 113 Judentum, jüdisch und Israel 51,135, 145,178, 185,208 Julianus Apostata 19 Kafka, Franz 109,110 Kalos ( = schön) 15 Kant, Immanuel 14, 33, 82, 102 Kardinaltugenden, die vier 16 Karma 119 Katholizismus, katholisch 17, 89, 92, 115, 121,203 Kausalzusammenhang 41,111,112 Kierkegaard, Sören 97, 104, 106,108, 159,162, 220 Kinomenon ( = Ursache) 156 Kirche, kirchlich 19, 52, 75, 76, 77, 89, 90, 100, 101, 108, 121, 122, 127, 129, 138, 139, 180, 185, 195, 223, 225 — latente 225 — manifeste 225 Klassik, klassisch 95, 99, 101, 109, 115,121 Kollektiv, Kollektivismus, kollektivistisch 40, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 84, 87, 88, 89, 92, 100, 107, 108,115, 121, 138 Kollektivismus — Halbkollektivismus 73, 76, 77, 89, 92,108,114,121,138 — heutiger 77, 100 — mittelalterlicher 75, 84, 89 — Neukollektivismus 77, 78, 79, 80, 81,116,122 — primitiver 75,76,77, 79, 89 — Stammeskollektivismus 77,78 — totalitärer 84 Kommunismus, Kommunist 77, 78, 79,80,116 Konflikte 55, 99,102,135 Konformismus, Konformist, Konformität 81, 83, 84, 85, 86, 87, 89, 232

Liebe, emotionale 144, 145, 149, 150, 157, 159 — ethische 145, 146,150 - g e i s t i g e 27, 30, 37, 70, 110, 133 — ontologiche 145, 146, 149, 159, 160, 179, 182 Liebe und Partizipation 28, 29, 36 Literatur 24, 35, 98, 105, 106, 111, 112, 113, 144, 157 Logik — allgemeine oder mathematische 20, 106, 167 Logische Positivisten 34,167 Logos 20, 21, 22, 23, 80, 154, 156, 178, 185 — der Christus 185 Logoslehre, stoische 19 Lucillus 22 Lustprinzip 20 Luther, Martin 37, 38, 52, 99, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 139, 174, 175, 198 — lutherisch 122 Lyrik 105

90, 92, 93, 107, 108, 111, 112, 113, 138, 205 Konservatismus, preußischer 203 Kopernikus, Nikolaus 83 Korrelation 71 Kosmischer Enthusiasmus 84 Kosmopolit 78 Kosmos 82, 94, 178 Kreuz 138 Krieg 223 Kunst, künstlerisch 24, 35, 45, 80, 82, 98,107,112,162 — bildende 80 — existentialistische 100 - m o d e r n e 80,105, 109, 111,112 Ladies, platonischer Dialog 13, 32, 66 Leben 104, 106, 129, 130 -geistiges 28, 30, 31, 33, 42, 43, 44, 45, 67 Lebensphilosophien 30, 31, 33, 34, 93, 103,104,106, 132,133 Lebensraum 210 Leere 42, 43, 45, 46, 47, 49, 63, 110, 120 (s.a. Angst vor der Leere) Legalismus 47 Leibniz, Johann Gottfried 29, 33;, 90 Leiden 22,23 Leonardo da Vinci 83 letztes Anliegen 67 letztlich — was uns angeht 43,214 Liberalismus, liberal 53, 84, 90, 122, 181,182,211 Libido 20, 21, 45, 146, 161, 219, 220 Liebe 143, 144, 146, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 163, 164, 173, 174, 175, 182, 185, 186, 188, 189, 192, 196, 197, 198, 199, 202, 207, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 216, 217, 218, 220, 221, 222, 223, 225 — christliche 17, 27, 36, 37, 76

Machiavelli, Niccolo 175 Macht 29,53,72,80,89,90,93,94,96, 111, 117, 118, 120, 121, 123, 124, 127, 130, 131, 134, 137, 138, 139, 143, 144, 146, 147, 148, 149, 150, 152, 153, 154, 155, 156, 158, 159, 165, 166, 168, 169, 171, 172, 173, 174, 175, 182, 185, 186, 189, 192, 196, 197, 199, 200, 202, 203, 204, 206, 207, 208, 209, 211, 212, 213, 214, 215, 216, 219, 220, 221, 222, 223, 225 - d e s Seins 150, 156, 173, 174, 183, 185, 194, 210, 211,215,217 Mächtigkeit 71,72, 85, 132 Mäßigung 16,17 Machtpolitik 147 Machtstrukturen in N a t u r und Gesellschaft 202,204,206,211 Maja 118, 119

233

Makrokosmos 83 Marcel, Gabriel 114 Mark Aurel 119 Marx,Karl 104,106, 109 Marxismus 115, 152, 205, 206 Masse 15,23, 52, 57, 74,78,100 Massen-Neurose 59 Materie, materiell 24,25, 33,50 Menschen, Lehre vom 60, 99, 100, 112,113,143 Metaphysik, metaphysisch 70, 85, 86,157 Metexis ( = Mithaben oder Anteilhaben des Individuellen am Universalen) 71 Methodismus 90 Michelangelo, Buonarroti 52 Mikrokosmos, mikrokosmisch 28, 82, 83,94,95 Miller, Arthur 110 Mittelalter 16, 17, 24, 51, 52, 53, 68, 75, 76, 77, 89, 91, 92, 99, 100, 102, 114,121,128,154,175,180 Monade 90,95 Moralgesetz, natürliches 19 Moralismus, moralisch 14, 25, 48, 62, 68, 69, 71, 99, 106, 123, 134, 147,. 148,160,163,189 Müntzer, Thomas 127 Münch, Edmund 105 Mut — Definition 13, 14, 15, 16, 17, 18, 32, 56, 64, 72, 75, 96, 110, 114, 117, 137,138, 139,168 — existentialistischer 88,100 — heroischer 19,122 — individualistischer 122 - k o l l e k t i v e r 19,53,73,85 — moralischer 32 — neostoischer 125,126 — ontologischer Charakter 22, 35 — persönlicher 32 — rationaler und universaler 19 — stoischer 20,21,22,50,139 — der Resignation 84

Mut des Tieres 33, 66 — des Vertrauens 120, 121, 122, 123, 124,125, 127 — der Verzweiflung 106, 107, 108, 109, 110, 112, 114, 130, 138 — und Freude 22 - u n d Glaube 18,23,40,120 — und Leben 19,20,28 — und Partizipation 70, 86 — und Protestantismus 129 — und Religion 60, 61, 62, 63, 64, 115 — und Selbstbcjahung 15, 16, 26, 42, 56, 57, 70, 72, 74, 89, 91, 94, 95, 97,127 — und Transzendenz 117 - u n d Tod 19,20,74 — und Tugend 26 — und Vernunft 26 - u n d Weisheit 15, 16, 17, 18, 22, 23,129 Mysterienkulte 50 Mysterium des Seins 57, 150, 162, 163,167,215 — des Nichtseins 103 Mystik, mystisdi 33, 78, 89, 99, 101, 103, 113, 118, 119, 120, 121, 122, 127, 128, 131, 133, 137, 210, 220 — asiatische 119 — christliche 127 — jüdische 28 - ö s t l i c h e 137,210 — protestantische 33 Mystiker 37, 52,119,120 Mythologie von Blut und Boden 77 Mythos 19, 98, 104, 148, 156, 166, 207,211 Natur — die essentielle oder wahre 20, 22, 26,27,31,45,73, 82, 83,93,98,113, 134, 144, 147, 154, 155, 158, 160, 166,169,170,172,185,191, 198 — die menschliche 103,106 — die ontologische 28, 29, 59, 60, 97

234

Nationalsozialismus 66, 68, 77, 108, 116,204 Nationalstaat 77 Naturalismus 67, 69, 91, 92, 93, 94, 96, 105,106,112,160,161,190 Naturrecht 178, 195,216 Neostoisdie Idee 14 Neostoizismus 18, 25, 29, 33, 82, 91, 125 Nero, römischer Kaiser 19 Neues 2 0 , 2 5 , 5 3 , 9 3 Neues Testament 57,163, 184, 213 Neukollektivismus 77, 78, 79, 80, 81, 116,122 Neuplatonismus 18,133 Neurose, neurotisch, Neurotiker 56, 57, 58, 59, 61, 62, 63, 65, 106, 108, 116, 124, 157, 168,170 Neuzeit 18, 50, 83, 101 Nichts, das 34, 36, 40 Nichtsein 32, 33, 34, 35, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 46, 47, 48, 53, 56, 57, 58, 64, 65, 66, 68, 70, 72, 74, 76, 79, 103,108, 109,112,117,118, 119, 120, 124, 125, 126, 127, 129, 130, 131, 132, 133, 139, 158, 166, 167,168, 173,174,217,218 — geistiges 47, 53 — moralisches 47, 53 — ontisches 37, 38, 47,48, 53,94 Nihilismus 104 Nietzsche, Friedrich 28, 29, 30, 31, 32, 37, 39, 92, 104, 106, 109, 116, 136, 149, 165, 166 Nikias, griediischer Feldherr 13 Nikomachische Ethik 15 Nominalismus 53, 76, 77, 100, 101, 154 Nonkonformismus 89 Normaler Mensch 57 — Psyche 57 Objektivität 29 Occam, Wilhelm 100

Offenbarung 17, 76, 90, 133, 135, 163,191,194,196, 197 Ontologie — Bedeutung der 29, 40, 56, 59, 60, 99, 101, 113, 143, 149, 151, 154, 155, 156, 157, 158, 160, 161, 165, 166, 167, 175, 177, 178, 179, 182, 189,191,213 — der Angst 55 — des Mutes 25, 27, 29, 32, 78 — des Nichtseins 103 Ontologisch (und ehtisdi) 13, 14, 18, 20, 21, 24, 32, 39, 59, 64, 70, 81, 93, 96, 98, 135, 136, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 166, 173, 177, 178, 180, 185, 189, 190, 191,192,213,215,219 Ontologische Begriffe 28,29,49 Opfer 15, 31, 44, 68, 76, 78, 79, 80, 107,118, 175, 222 Organische Gesellschaft 92, 111 (s.a. Gesellschaft) Organismus 202, 203, 205, 207, 211 Orphisdi 98 Orthodoxie 89 Pädagogik 143,158 Papst 201 Paradox, christliches 23, 123, 127, 130, 131, 137, 138, 167, 185, 195, 198,217,218 Parmenides 38, 156,177, 178 Partizipation ( = Teilhabe), partizipieren 19, 21, 22, 27, 28, 35, 36, 37, 42, 44, 49, 53, 67, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 79, 80, 83, 84, 85, 86, 87, 89, 91, 92, 96, 97, 98, 103, 112, 114, 117, 118, 120, 121, 123, 126, 127, 133, 134, 138„-139i 159, 161, 162, 163, 165, 166, 167, 170,171,190,210 Pascal, Biaise 106 Paulus, der Apostel 47, 125,185,196, 198

235

Paulinisch-Lutherisdie Lehre 123 Pazifismus 223, Pelagius 99 Person, persönlich, Personalismus 16, 20, 46, 47, 50, 53, 73, 75, 76, 87, 89, 90, 91, 97, 105, 106, 108, 110, 118, 120, 122, 124, 137, 159, 160, 162, 181, lb3, 184, 185, 192, 194, 196, 197, 198, 199, 203, 204, 218, 219,220,221,222 Personhaft 127,128, 133, 135 Persönlichkeit 17, 55, 57 Phaedon-Dialog Piatons 125 Phänomenologie und phänomenologische Methode 101, 168, 169, 170 Phantasie 21 Philia ( = Freundschaft) 146, 162, 163,207,219,220,221 Phylakes ( = Wächter) 14 Pico della Mirandola, Giovanni 83, 145

Propheten im Alten Testament 78

Protestantismus, protestantisch 17, 83, 89, 90, 101, 102, 105, 120, 122, 123, 127, 129, 137, 150, 201 Prozeß schöpferischer 34, 86, 87 Prozeßphilosophien 34, 85, 133 Psychoanalyse, psychoanalytisch 21, 34,56, 5 9 , 1 2 3 , 1 2 8 (s. a. Tiefenpsychologie) Psychologie, psychologisch 96, 97, 105, 110, 111, 113, 115, 143, 147, 151, 161, 165, 173, 198, 200, 211, 221 Psychose, psychotisch 39, 56, 58 Psychosomatisch 5 7 , 5 9 , 6 4 , 102 Psychotherapie, psychotherapeutisch 123,157 Puritanismus, puritanisch 81, 87, 128, 161,176,187

Pietismus, pietistisch 8 7 , 9 0 Piaton, Piatonismus 13, 14, 15, 24, 29, 32, 33, 66, 71, 86, 98, 99, 100, 125, 126, 145, 156, 168, 178, 180,

220

Plotin 33 Polar, Polarität 70, 7 3 , 1 1 8 , 1 2 0 , 1 6 2 , 165,170 Polis 178 Polytheistische Schicksalsmächte 22 Potentiale Madit der Selbstverwirklidiung 29 Potentialität 15, 56, 57, 58, 73, 82, 83,156 Power ( = Kraft) 146 Prädestination 51 Prästabilierte Harmonie 90 Pragmatismus 8 5 , 9 3 , 9 4 , 1 0 4 , 1 9 1 Prediger — der Prediger im Alten Testament

20

Prinzip 179, 180, 182, 188, 192, 194, 196, 201,206

75,

Radikalismus, evangelischer 114,127 Rational 16, 66, 77, 78, 165, 166,182 Rationalistisch 17,106 Rationalität 83,91 Reaktion, Reaktionär 19, 84, 92, 115,203 Realismus 7 5 , 7 6 , 9 5 , 1 5 4 , 1 7 2 Realität 28, 30, 43, 62, 102, 106, 136 Realpolitik 147,150, 210 Rechtfertigung (aus dem Glauben) 87, 102, 123, 124, 148, 185, 198, 217, 218, 219,223 Rechtswissenschaft 143,148, 183,206 Reformation, Reformatoren 51, 53, 77, 90, 99, 102, 120, 121, 122, 123, 124,125,127, 182 Religion, religiös 22,61, 7 5 , 1 1 7 , 1 2 3 , 124, 127, 128, 131, 135, 137, 138, 148,160,162,194,209,215 Religionsphilosophie 24 Renaissance 25, 51, 52, 77, 82, 83, 84,94,95,101,125,145 — Humanismus 24

236

Resignation 19, 22, 23, 24, 25, 28, 84,91 Revolution, industrielle 45 Rhadamanthys 100 Rigorismus 14,47 Rimbaud, Arthur 105 Ritsdil, Albrecht 150 Ritterstand 16 Romantik, romantisch 83, 91, 92, 94, 95, 96, 103, 106,176,187 Rom 17, 50, 51 (s. a. katholisch) Römisches Reich 18,19, 209 Rußland, russisch 78,79,81,210 Sakrament 52, 76 Sartre, Jean 34, 49, 106, 107, 109, 110,113,114,115,169 Sdielling, Friedrich Wilhelm Joseph 29, 34, 83,95, 104,145,156 Schicksal 18, 19, 22, 39, 40, 41, 42, 43, 47, 51, 62, 69, 79, 80, 82, 86, 91, 94, 125, 130, 139,148,167, 181, 203, 204, 208 Schicksal, Angst vor dem 40 (s. a. Angst) Schlegel, von Friederich 92 Schöpfung, schöpferisch 24, 34, 42, 44, 57, 58, 67, 82, 83, 84, 85, 91, 93 96, 98, 104, 106, 107, 109, 114, 135, 162, 177, 179, 216, 217, 219, 220 Schöpferische Gerechtigkeit 184, 185, 196,198,199, 205,218 (s. a. Gerechtigkeit) Schöpferischer Prozeß 25, 84, 85, 86, 87 Schopenhauer, Arthur 29, 34, 95, 104, 156,166 Schuld 23, 37, 39, 46, 48, 49, 50, 53, 59, 62, 74, 75, 76, 81, 84, 87, 89, 90, 108, 110, 112, 113, 119, 124, 139,199, 217 - Angst 80, 95,128,129,130 Schuld-Bewußtsein 32, 46, 63,75

Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper 83 Shakespeare, William 52,151 Sein 149, 150, 154, 155, 156, 158, 160, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 173,177,190, 206, 214 — essentielles 23, 33, 34, 37, 38, 41, 42, 45, 47, 48, 56, 57, 63, 64, 79, 85, 93, 99, 103, 108, 118, 125, 126 — geistiges 46 — ontisdies 46, 56, 68, 98, 100, 112, 113,115,121 — persönliches 46, 73, 79,93 Seinsbegriff 113 Sein-Selbst 24, 28, 29, 33, 34, 72, 80, 102, 117, 118, 124, 125, 127, 130, 132, 133, 134, 136, 137, 138, 154, 155,156, 157,167, 213, 214 Seins-Grund 91, 118, 119, 120, 127, 133, 134, 137, 216 Seins-Mächtigkeit 16, 26, 42, 65, 71, 72, 75, 132, 133, 163, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 172, i'73, 174, 177, 178, 179, 180, 181, 183, 186, 187, 199, 200, 206, 207, 208, 209, 214,222 Seins-Macht 117, 120, 130, 131, 138, 139 Selbst 15, 31, 32, 33, 40, 41, 44, 56, 57, 64, 65, 67, 70, 71, 72, 74, 79, 84, 89, 91, 94, 96, 101, 106, 107, 108, 112, 114, 115, 116 117, 118, 119, 122, 123, 125, 138, 158, 160, 162,164,176, 187,-217 — Achtung 75 — Annahme 124,164 — Aufgabe 114 — Behauptung 45 — Bejahung 14, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 36, 38, 56, 70, 72, 73 74, 75, 77, 78, 80, 83, 84, 89, 91, 103, 106, 108, 114, 118, 119, 121, 123, 124, 127, 132, 133, 134, 145,164,166,168, 207, 223 auf der H u t 64

237

Selbst-Bejahung, biologische 64,65,67 begrenzte 5 6 , 5 7 , 5 8 , 6 1 , 6 4 essentielle 60 geistige 4 2 , 4 3 , 4 5 , 46, 50 individuelle 9 3 , 9 4 , 9 5 letzte 62 moralische 3 9 , 4 6 , 4 7 , 4 8 , 1 2 3 ontisdie 39, 40, 41, 42, 45, 46, 47 ontologische 70, 7 1 , 7 8 pathologische 57, 59 rationale 91 realistische 5 8 , 6 1 unrealistische 58, 64 volle 65 vollkommene 118,119 zwangshafte 114 und Freude 22 und Leben 30,3.1 und Leere 92 und Liebe 28 und Sdiuld und Sünde 126, 130 und Schicksal und Tod 125,126, 130

Scmantiker 144 Sendung und Sendungsbewußtsein 209,211,212 Seneca 20, 21, 2 2 , 2 3 Sentimentalität 151 Sexuelle Leidenschaft 159,219 Sicherheit 62, 64, 65, 107, 108, 127, 129,139, 179 Simmel, Georg 104 Sinnlosigkeit 39, 43, 45, 47, 49, 50, 63, 91, 94, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 119, 127, 129, 130, 131, 134,137, 138, 139 Situation 19, 34, 42, 45, 46, 47, 48, 49, 51, 53, 54, 55, 58, 62, 66, 68, 72, 74, 75, 76, 77, 81, 89, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 119, 129, 130, 132, 137, 138, 151, 152, 159, 179, 191, 196, 198

und Tugend 26, 30,31 und Vernunft 21 Selbstbestimmung 70 Selbstbewahrung 2 6 , 2 8 , 2 9 , 30 Selbstbewußtsein 146,164, 202 Selbstbezogenheit 7 3 , 1 1 7 Selbstentfremdung 45, 63 Selbstliebe 2 7 , 4 2 , 1 3 3 Selbstmord 2 0 , 4 8 , 4 9 Selbstsucht 2 7 , 7 0 , 1 6 4 Sclbsttranszendierung 32,66,92,124, 177,179,214,215 Selbstverlust 74 Selbstverneinung 48, 49, 58,104, 119 Selbstverurteilung 47 Selbstverwerfung 124,129, 223 Selbst-Welt-Korrelation 40 Struktur 70 Selbstzentriertheit 7 3 , 9 7 Selbstzufriedenheit 4 7 , 1 4 5 Seligkeit 23,133 238

Skepsis, Skeptiker, skeptisdi 48, 49, 52, 89, 131 Skeptizismus 24, 50 Sokrates, sokratisch 13, 14, 16, 19, 23,114,125, 126,129,178 Sola fide ( = allein durch den Glauben) 124 Soldat, soldatisch 15,16, 3 0 , 1 1 9 Solipsismus 104 Sophisten 5 0 , 1 7 8 Sophokles 195 Sozialismus, religiöser 182 Soziologie, soziologisch 14, 50, 52, 53, 56, 96, 146, 147, 166, 186, 190 Spätantike 15,18, 50, 75, 80 Spekulativ 157 Spinoza, Barudi de 24, 2 5 , 2 6 , 2 7 , 28, 2 9 , 3 1 , 1 1 8 , 1.33,144 Spontaneität 172,173 Sprache 4 2 , 6 7 , 73 Staat 71, 78, 79 Staatstheorie 24 Stagnation 17 Stalinismus 78

Stirner, Max 104 Stoa, Stoiker, Stolzismus 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 28, 29, 33, 39, 48, 80, 82, 84, 89, 94, 125, 129, 178,181 Stoische Diatribe 23 Stoischc Idee 14,19,20 Stoischer Mut 20, 21, 22, 50, 80, 126 (s. a. Mut) Strafe 148, 183, 186 Streben nach Selbst Verwirklichung ( = conatus) 25 Strindberg, Johan August 105 Struktur der Wirklichkeit 20, 34, 70, 98,115, 136 Subjektivität 29, 70, 71, 136 Surrealismus 111 Symbol, symbolisch 19, 35, 37, 40, 43, 45, 51, 75, 82, 85, 92, 94, 100, 112, 113, 118, 121, 124, 125, 126, 129, 132, 133, 134, 138, 139, 146, 148, 150, 151, 166, 168, 177, 184, 207, 209, 210, 211, 213, 214, 215, 216,217,218,220 Symptom der Grundangst 37 Synkretismus 18, 19 Tapferkeit, tapfer 16, 17, 19, 30, 74 Theismus, theistisch 18, 22, 134, 135, 136, 137, 138, 150 — transzendierter 135 Theodizee 217 Theologie 59, 60, 61, 133, 135, 136, 137, 139, 143, 145, 149, 150, 151, 160, 162, 168, 191, 192, 195, 213, 217,223 Theonom 191,192 Thymoeides ( = ungestüme Leidenschaft) 14, 15 Thymos ( = Lebenskraft, Kühnheit) 14 Thomas von Aquino 1 4 , 1 6 , 1 7 Tiefendimension 163 Tiefenpsychologie, tiefenpsydiolo-

gisdi 34, 56, 95, 99, 105, 145, 163, 170,197,219 Tier, Angst und Mut des 36, 66 Tod 18, 19, 21, 22, 39, 41, 43, 47, 62, 79, 80, 86, 91, 94, 108, 119, 125,126,129,139,196,217 Tod und Teufel 51,121,125 Todesangst 129 Todestrieb 2 0 , 4 5 , 1 6 1 , 2 1 9 T o t a l i t a r i s m e , totalitär 112,116 Toynbee, Arnold 170 Tragik, tragisch, Tragödie 19, 25, 47, 50, 69, 94, 104, 115, 116, 175, 221, 224 Transzendenz, transzendieren 21, 22, 29, 30, 32, 66, 71, 73, 79, 80, 82, 96,97, 103,104,116,117, 122,123, 124, 125, 127, 131, 132, 134, 136, 138 Tribut 183 Trinität 100, 133, 213 Trost der Philosophie 18,19 Trotz, trotzdem 15, 33, 41, 56, 69, 114, 117, 121, 123, 124, 125, 127 Unbedingte, das 121, 124, 127, 213, 217,223 Unbewußte, das 55 Universalien, universal 100,157, 163 Universalistisch 62, 63,64, 84 Universum 25, 70, 71, 80, 82, 83, 86, 90,94,95,135,149,181 Unsterblichkeit, unsterblich 40, 49, 79, 80, 86, 108, 125, 126, 139 Vaterbild 139 Verantwortung 23, 47, 75, 110, 129, 196,220 Verdammung 39, 47, 48, 49, 52, 59, 62, 71,119,139 Verdrängung 187 Vergänglichkeit 34, 35 Vergebung 51, 81, 87, 102, 108, 110, 122, 123, 127, 129, 135, 137, 138, 139, 174, 185, 198,199, 213,222

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Verifikation 157 Verlangen nadi dem Tod ( = inconsulta, unweise) 21 Vernunft 14, 15, 17, 18, 20, 21, 22, 23, 26, 76, 77, 78, 90, 91, 99, 102, 105, 106, 110, 114, 139, 163, 180, 181, 195,196, 197 Versöhnung, Lehre von der 151 Verteidigungsmechanismus, neurotischer 108 Vertikal 83 Verzicht, auf zumessende Gerechtigkeit 184,222 Verzweiflung 20, 23, 44, 47, 48, 49, 50, 52, 56, 58, 84, 99, 102, 106, 107, 108, 109, 110, 112, 114, 120, 124, 127, 129, 131, 136, 139, 218, 223 Virtus(= männliche Stärke) 68 Vitalität, vital 55, 64, 65, 66, 67, 68, 131 Vitalismus 69 Vollkommenheit 15, 23, 46, 62, 64, 65, 68,90, 129 Volksgeist 77 Vornehmste Gebot, das 145, 146 Vorreformation 51 Vorsehung 101,102, 125,139 Wagnis 17, 44, 65, 85, 93, 117, 169, 177, 178, 179,206, 208 Weber, Max 104 Whitehead, Alfred North 34 Weisheit 15, 16, 17, 18, 19, 20, 22, 23, 94, 129, 194 Weltstaat 211,212 Weltseele 28 Wertphilosophie 162, 189, 190, 191 Wesen — göttliches 18 — individuelles 19 Wesenheiten 86

Widerstand 58, 61, 62, 63, 168, 173, 187, 193, 198,203,213 Wiederkehr, des Gleichen 25 Wiedertäufer 182 Wille 17, 29, 30, 32, 34, 72, 93, 156, 165,191,215 — zum Leben 20, 31,109 - z u r Macht 28, 29, 30, 31, 32, 93, 94, 96,149, 165, 166 Williams, Tennesee 110 Willkür 17,91 Wirklichkeit 41, 42, 44, 45, 57, 58, 61, 62, 63, 67, 73, 75, 81, 86, 91, 96, 101, 105, 110, 111, 112, 119, 120, 126, 136, 147, 155, 157, 162, 163, 165, 166, 180, 190, 198, 214, 217,219 Wort 67, 135, 155, 164 Xenophanes 156 Xenophon 23 Zadikim 184,185 Zarathustra 30, 32, 37 Zionismus 208 Zivilisation, technische 53, 62, 77, 109 Zufälligkeit 20, 21, 22, 23, 40, 41, 46, 47, 55, 100,111,115, 123 Zukunft 25, 111 Zwang 147, 148, 149, 150, 172, 173, 174, 175, 185, 186, 200, 204, 205, 207, 208, 217,219 Zweideutigkeit, des Seins 24, 30, 46, 47, 97, 99, 102, 111, 144, 149, 160, 206,218,219, 220, 221,222 (s. a. Sein) Zweifel 44, 45, 48, 51, 59, 63, 75, 94, 110, 119, 129, 130, 131, 134, 137,138,205 Zyniker, Zynismus, zynisch 50, 89, 111, 114, 115, 116, 130, 133, 152, 175, 178, 225

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