Germanen und Romanen im Merowingerreich: Frühgeschichtliche Archäologie zwischen Wissenschaft und Zeitgeschehen 9783110214611, 9783110214604

This work focuses on one of the most striking archaeological phenomena of the Early Middle Ages in Europe, the so-called

195 83 30MB

German Pages 822 Year 2010

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Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Einleitung
2. „Germanen“ und „Romanen“: Ethnographische Kategorien?
3. „Germanen“ und „Romanen“: Ein Epochengegensatz?
4. „Germanen“ und „Romanen“: Sprachenfamilien als antagonistische Volksgruppen?
5. „Germanen“ und „Romanen“: Anthropologische Typen?
6. „Germanen“ und „Romanen“: Ein kultureller Gegensatz?
7. „Germanen“ und „Romanen“: Ethnische Gruppen im Merowingerreich?
8. Das ethnische Paradigma: Sprache – Kultur – Rasse 1840–1888
9. „La question franque“: Archäologie, Toponymie und Geschichtswissenschaft 1888–1914
10. Frühmittelalterarchäologie und Propaganda: Der Erste Weltkrieg
11. Volkstum als Paradigma: Der Aufbruch der deutschsprachigen Frühmittelalterarchäologie nach dem Ersten Weltkrieg
12. Frühmittelalterarchäologie und Westforschung
13. Ur- und Frühgeschichte im Kriege: Archäologische Forschungen zu Germanen und Romanen 1939 bis 1945
14. Neuformierung und Transformation: Archäologische Volkstumsforschung in der Nachkriegszeit
15. Die „Rehabilitation“ der ethnischen Interpretationen: „Germanen“ und „Romanen“ in den 1970er Jahren
16. Kontinuität wider besseres Wissen?
17. Die Anfänge des Reihengräberhorizontes: Der historische Kontext
18. Die Anfänge des Reihengräberhorizontes: Archäologische Aspekte
19. Zusammenfassung
Backmatter
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Germanen und Romanen im Merowingerreich: Frühgeschichtliche Archäologie zwischen Wissenschaft und Zeitgeschehen
 9783110214611, 9783110214604

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Hubert Fehr Germanen und Romanen im Merowingerreich

Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde Herausgegeben von Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer

Band 68

De Gruyter

Hubert Fehr

Germanen und Romanen im Merowingerreich Frühgeschichtliche Archäologie zwischen Wissenschaft und Zeitgeschehen

De Gruyter

ISSN 1866-7678 ISBN 978-3-11-021460-4 e-ISBN 978-3-11-021461-1 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin/New York Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ÜGedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degryuter.com

Dem Andenken meiner Mutter Anna Fehr

VII

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

I. „Germanen“ und „Romanen“: eine wissenschaftliche Dichotomie in der interdisziplinären Diskussion 2. „Germanen“ und „Romanen“: Ethnographische Kategorien? . . a) Ethnographische Begriffsbildung in der Antike . b) Der antike Germanenbegriff . . . . . . . . . . . „Germanen“ im frühen Mittelalter . . . . . . . . Die Franken als ethnographische Kategorie . . . c) Die Romani: Römer – Romanen – Rhomäer? . . . Romani und Rhomaioi in den antiken Quellen . . . Römer, Romanen und Rhomäer in der Moderne

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21

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23 26 29 30 34 34 38

3. „Germanen“ und „Romanen“: Ein Epochengegensatz? . . . . .

42

a) Die Ungleichzeitigkeit von Germanen und Romanen im frühen Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das sogenannte Kontinuitätsproblem . . . . . . . . . . . . . Siedlungsforschung als Kontinuitätsforschung versus Gräberarchäologie und Diskontinuität? . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Völkerwanderung als Zäsur . . . . . . . . . . . . . . . .

59 62

4. „Germanen“ und „Romanen“: Sprachenfamilien als antagonistische Volksgruppen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

a) Die politische Bedeutung der Sprachen . . . . . . . . . . . . b) Der Verlauf der germanisch-romanischen Sprachgrenze . . . c) Die politische Instrumentalisierung der Sprachgrenze und der Sprachgrenzforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bemerkungen zur Methodik der interdisziplinären Sprachgrenzforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42 52

71 76 80 84

VIII

Inhaltsverzeichnis

e) Modelle zur Entstehung der germanisch-romanischen Sprachgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sprachgrenze als Ergebnis einer germanischen „Landnahme“ im 5./6. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . Die Sprachgrenze als „Ausgleichsgrenze“ . . . . . . . . . Die vorrömische Entstehung der Sprachgrenze . . . . . .

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86

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87 90 92

5. „Germanen“ und „Romanen“: Anthropologische Typen? . . . .

97

a) Rasse, Rassenklassifikation und Rassismus . . . . . . . . . . b) „Germanen“ und „Romanen“ als Rassetypen . . . . . . . . . c) Die anthropologische Differenzierung von Reihengräberpopulationen in der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . .

98 108

6. „Germanen“ und „Romanen“: Ein kultureller Gegensatz? . . . .

126

a) Etappen der Konstruktion des kulturellen Gegensatzes „Germanen versus Romanen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Germanische Kultur“ als Forschungsproblem . . . . . . . .

126 132

7. „Germanen“ und „Romanen“: Ethnische Gruppen im Merowingerreich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

139

a) Begriffliche Grundlagen: Nationalität, Volkstum, Ethnizität Nation, Nationalität, national . . . . . . . . . . . . . . . . Volk, Volkstum, völkisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethnos, Ethnizität, ethnisch: Essentialismus und Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Umvolkung und Volkwerdung: Zur Herleitung des Ethnogenesebegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Franken und Römer als Kollektivbezeichnungen im Merowingerreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Romani im Merowingerreich . . . . . . . . . . . . . . . Franci als ethnische Bezeichnung im Merowingerreich . . . d) Die Franken – Volk oder Staat? . . . . . . . . . . . . . . .

121

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139 140 143

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146

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149

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161 162 163 165

8. Das ethnische Paradigma: Sprache – Kultur – Rasse 1840–1888 .

177

a) Germanophile und Keltophile: Die Nationalisierung der Frühgeschichte in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . .

180

II. „Germanen“ und „Romanen“ in der Archäologie des Merowingerreiches

IX

Inhaltsverzeichnis

Heinrich Schreiber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Wilhelmi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wilhelm und Ludwig Lindenschmit . . . . . . . . . . . b) Selzen – ein germanisch-fränkisches Gräberfeld? . . . . Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Nationalstil“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die internationale Wurzel der Frühmittelalterarchäologie Auf der Suche nach Angelsachsen und „Teutonen“: Britische Frühmittelalterforschung . . . . . . . . . . . . Der „Kampf der zwei Rassen“: Germanen und GalloRömer in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbé Cochet und sein Umfeld . . . . . . . . . . . . . .

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186 190 191 194 195 201 204 208

. . . 211 . . . 215 . . . 219

9. „La question franque“: Archäologie, Toponymie und Geschichtswissenschaft 1888–1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 a) Godefroid Kurth und der Kongress von Charleroi 1888 . . . 233 b) Numa Denis Fustel de Coulanges und seine Nachfolger . . . 251 10. Frühmittelalterarchäologie und Propaganda: Der Erste Weltkrieg

255

a) Die Archäologie des frühen Mittelalters am Vorabend des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der deutsche Kunstschutz im Westen . . . . . . . . . . . c) Die Kunst der Barbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das linke Ufer des Rheins . . . . . . . . . . . . . . . . .

256 262 268 281

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11. Volkstum als Paradigma: Der Aufbruch der deutschsprachigen Frühmittelalterarchäologie nach dem Ersten Weltkrieg . . . . . . 299 a) Die deutsche Ur- und Frühgeschichte und die Niederlage von 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Entstehung der „Germanischen Denkmäler der Völkerwanderungszeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Einfluss der Volkstumsforschung auf die Frühmittelalterarchäologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volksgeschichte und Volkstumsforschung . . . . . . . . . . . Volksgeschichte und Archäologie . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Aubin und die Kulturkontinuität im Rheinland . . . Einheitliches Germanentum oder Vielfalt der Stämme? . . . . d) Hans Zeiss und die Methodik der Archäologie des frühen Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

301 303 317 318 323 325 328 332

X

Inhaltsverzeichnis

Die Stellungnahme gegen die ethnische Binnendifferenzierung des Merowingerreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Tracht“ und „Sitte“: Hans Zeiss’ „Grabfunde aus dem spanischen Westgotenreich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . .

340

12. Frühmittelalterarchäologie und Westforschung . . . . . . . . . .

352

a) Die Ur- und Frühgeschichte und die Institutionen der Westforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Westdeutsche Forschungsgemeinschaft . . . . . . . . . . b) Die rheinische Volkstumsforschung und die Entstehung der „westlichen Volksgrenze“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Steinbachs „Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Petris „Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Rezeption in der Sprach- und der Geschichtswissenschaft d) Die Rezeption in der Ur- und Frühgeschichte . . . . . . . . . e) Die „Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung des germanischen Erbes in den an das Rheinland angrenzenden Gebieten“ . . . f) Eine Alternative: Herbert Kühn und die Bügelfibeln der Rheinprovinz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Ur- und Frühgeschichte im Kriege: Archäologische Forschungen zu Germanen und Romanen 1939 bis 1945 . . . . . . . . . . . . a) Die „Arbeitsgruppe Belgien und Nordfrankreich“ des „Reichsbunds für Deutsche Vorgeschichte“ . . . . . . . . . b) Das „Ahnenerbe“ der SS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Referat „Vorgeschichte und Archäologie“ des Militärischen Kunstschutzes des Heeres . . . . . . . . . . . . . . . Die Errichtung des Referats „Vorgeschichte und Archäologie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgaben und Tätigkeit des Referats „Vorgeschichte und Archäologie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das „Kriegsprogramm“ der RGK . . . . . . . . . . . . . . Die politische Bedeutung des „Kriegsprogramms“ . . . . . d) Hans Zeiss und die Germanen und Romanen im Frankenreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans Zeiss’ Forschungsreise in Frankreich im Sommer 1941

336

352 353 359 365 366 371 386 392 397 399 404

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409 411

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429 434 442

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447 447

XI

Inhaltsverzeichnis

Die Intervention Werner Bests im Herbst 1941 . . . . . . . . Hans Zeiss und die „Neuordnung Europas“ . . . . . . . . . . Die germanischen Grabfunde zwischen mittlerer Seine und Loiremündung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Ur- und Frühgeschichte und die Volkstumspolitik im besetzten Belgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Petri als Kulturreferent der deutschen Militärverwaltung in Belgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Werner als Referent für „Vorgeschichte und Archäologie“ in Belgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das „Deutsche Institut“ in Brüssel und der „Germanische Wissenschaftseinsatz“ des „Ahnenerbes“ . . . . . . . . . . .

451 463 466 477 479 482 497

14. Neuformierung und Transformation: Archäologische Volkstumsforschung in der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . 515 a) Zusammenbruch und Neuanfang: Das Beispiel Joachim Werner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die „Entstehung der Reihengräberzivilisation“ . . . . . . . c) Die Kritik an der germanischen Interpretation der Reihengräberfelder in Westeuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . Édouard Salin und die fusion progressive . . . . . . . . . . . . Jan Dhondt, Sigfried De Laet und die Ursprünge der Kultur der Merowingerzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere kritische Stimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Rezeption der Kritik der belgischen Gelehrten in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Werner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Petri . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Arbeitsgemeinschaft für westdeutsche Landes- und Volksforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurt Böhner und die fränkische Landnahme im Rheinland . Die Tagungen der Arbeitsgemeinschaft während der frühen 1950er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Tagung in Kleve 1956: Heli Roosens und das Gräberfeld von Haillot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Tagung „Austrien im Merowingerreich“ in Mainz im Oktober 1964 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Der Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterliche Geschichte Die Ur- und Frühgeschichte im Rahmen der Konstanzer Tagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 517 . 520 . 528 . 528 . 532 . 540 . 544 . 545 . 549 . 553 . 559 . 566 . 569 . 582 . 586 . 589

XII

Inhaltsverzeichnis

Die „Stammesproblematik“ bei den Konstanzer Tagungen während der 1950er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Der Sammelband „Siedlung, Sprache und Bevölkerungsstruktur im Frankenreich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15. Die „Rehabilitation“ der ethnischen Interpretationen: „Germanen“ und „Romanen“ in den 1970er Jahren . . . . . . . a) Ein methodischer Neuanfang? . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Franken und „Romanen“ in Lothringen . . . . . . . . . . . . c) Das Gräberfeld von Dieue-sur-Meuse und die Frage von Franken und „Romanen“ als archäologischem Forschungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die „germanischen“ Grabfunde des 4./5. Jahrhunderts zwischen Loire und unterer Elbe . . . . . . . . . . . . . . . e) Frühgeschichtliche „Akkulturationsprozesse“ . . . . . . . . . f) Der positive Nachweis der „Romanen“ . . . . . . . . . . . . g) Die Konstanzer Tagungen „Von der Antike zum Mittelalter“ 1976 und 1977 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Die Kritik an den Ansätzen der deutschsprachigen Forschung seit dem Ende der 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . Edward James und das Problem der fränkischen Besiedlung Galliens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das „fränkische Problem“ bei Bailey Young . . . . . . . . . Patrick Périn und die merowingerzeitliche Besiedlung Galliens 16. Kontinuität wider besseres Wissen? . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bemerkungen zu den Forschungen seit Anfang der 1980er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die „Franken“ im „Lexikon des Mittelalters“ und dem „Reallexikon der Germanischen Altertumskunde“ . . . . . . Die Bevölkerungsverhältnisse im Saar-Mosel-Raum . . . . . Der Katalog „Die Franken – Wegbereiter Europas“ . . . . . Die Bügelfibeln im westlichen Merowingerreich . . . . . . . b) Zusammenfassende Bemerkungen zur Entwicklung des Germanen-Romanen-Diskurses in der Frühmittelalterarchäologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Reihengräberforschung als „germanische Volkstumskunde“ – ein Forschungsprogramm? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

592 599 601 603 607 610 617 623 631 636 646 646 650 652 658 658 660 661 664 666 669 674

Inhaltsverzeichnis

XIII

III. Germanische Einwanderung oder kulturelle Neuorientierung? Die Anfänge des Reihengräberhorizontes 17. Die Anfänge des Reihengräberhorizontes: Der historische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681 a) „Sitte und Brauch“ oder „Ritual“? . . . . . . . . . . . . . . . b) Identitätskrise und Neuorientierung: Die Transformation der gallorömischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Grenzen des Reiches und die Herausbildung einer „Grenzkultur“ in der Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Phänomen des ehemals römischen Gebiets und seiner Peripherie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenze, Grenzkultur und Grenzstil . . . . . . . . . . . . . .

684 693 705 705 714

18. Die Anfänge des Reihengräberhorizontes: Archäologische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725 a) Das Reihengräberfeld als Idealtypus . . . . . . . . . . . . . . b) Körperbestattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gräberfelder mit Wechsel der Orientierung . . . . . . . . . . Orientierung, Heidentum und Christentum . . . . . . . . . . d) Waffenbeigabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine „ostgermanische“ Herkunft der Waffenbeigabe? . . . . . Beschränkung der Waffenbeigabe auf Germanen? . . . . . . . Militarisierung der Gesellschaft oder elitärer Lebensstil? . . . e) Bestattung in fibelgeschmückter Kleidung . . . . . . . . . . . „Tracht“ und „Trachtenparadigma“ oder Kleidungsforschung? Die Entstehung der frühmerowingerzeitlichen Frauenkleidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

725 730 733 734 746 750 751 759 763 768 769 775

19. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 784 Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur . . . . . . . . . . . . . 789 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 797 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 799

Vorwort

XV

Vorwort Die vorliegende Arbeit verdankt ihre Konzeption dem Projekt „Ethnische Einheiten im frühgeschichtlichen Europa. Archäologische Forschung und ihre politische Instrumentalisierung“, das im Rahmen des Freiburger Sonderforschungsbereichs 541 „Identitäten und Alteritäten. Die Funktion von Alterität für die Konstitution und Konstruktion von Identität“ durchgeführt wurde. Herr Prof. Dr. Heiko Steuer ermöglichte es mir dankenswerterweise, dass ich zunächst als wissenschaftliche Hilfskraft und später als „assoziiertes Mitglied“ an diesem Projekt teilhaben konnte. Gleichermaßen möchte ich ihm meinen Dank dafür aussprechen, dass er die Betreuung einer Dissertation übernahm, die hinsichtlich Gegenstand und Methode noch keineswegs selbstverständlich ist in der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie. Ohne die kontinuierlichen Diskussionen mit den weiteren Mitarbeitern des Sonderforschungsbereichs, Prof. Dr. Sebastian Brather, Dr. Dietrich Hakelberg, Dr. Philipp von Rummel und PD Dr. Wolfgang Pape, wäre die vorliegende Arbeit in ihrer jetzigen Form sicher nicht entstanden. Herrn Dr. Pape schulde ich überdies Dank für zahlreiche Anregungen und Auskünfte aus seinem umfassenden Wissen zur Wissenschaftsgeschichte der deutschen Ur- und Frühgeschichte während des „Dritten Reiches“. Die offene und anregende Atmosphäre am Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters der Universität Freiburg trug maßgeblich zum Gelingen dieser Arbeit bei, darunter neben den bereits Genannten nicht zuletzt auch Dr. Stefan Eismann, Dr. Florian Gauß, Dr. Niklot Krohn, Dr. Marcus G. Meyer, Dr. Michael Nick und Marion Sorg, M.A. Sehr herzlich möchte ich ferner der Studienstiftung des Deutschen Volkes danken, die die Finanzierung meines Studiums und meiner Promotion übernahm, der ich jedoch für mehr als nur den Lebensunterhalt in dieser Zeit zu Dank verpflichtet bin. Vom Sommer 2002 bis Frühjahr 2003 bot mir eine Anstellung im Rahmen des Projekts „AREA-Archives of European Archaeology“ die Möglichkeit, die hier behandelten Fragestellungen weiter zu verfolgen. Gedankt sei deshalb auch den Initiatoren von AREA am Institut national d’histoire de l’art in Paris, Herrn Prof. Dr. Alain Schnapp und Dr. Nathan Schlanger, die das Freiburger Teilprojekt „Germanic expansion and social structure:

XVI

Vorwort

politicizing German archaeology“ in den Verbund von AREA aufnahmen. Die Finanzierung dieses Projektes erfolgt durch das Programm „Culture 2000“ der Europäischen Kommission. Frau Dr. Antje Krug und Dr. Martin Maischberger waren mir beim Besuch im Archiv des Deutschen Archäologischen Instituts in Berlin sehr behilflich. Prof. Dr. Claus von Carnap-Bornheim, jetzt Schleswig, ermöglichte den Zugang zu den Archivalien im Institut für Vor- und Frühgeschichte der Philipps-Universität Marburg. Der ehemalige Direktor der Römisch-Germanischen-Kommission in Frankfurt am Main, Herr Prof. Dr. Siegmar von Schnurbein, öffnete bereitwillig das Archiv der RGK. Frau Katharina Becker M. A. schulde ich Dank für wertvolle Hinweise aus den Akten dieser Institution. Dr. Laurent Olivier vom Musée des Antiquités Nationales in St. Germain-en-Laye überließ mir freundlicherweise Kopien wichtiger Dokumente. Frau Prof. Dr. Uta Halle, Bremen, und Dr. Martijn Eickhoff, Nijmegen, ließen mir unpublizierte Manuskripte zukommen. Danken möchte ich ferner den Herausgebern des Reallexikons der Germanischen Altertumskunde für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der Ergänzungsbände sowie den Mitarbeitern des Verlags Walter de Gruyter für die gute Zusammenarbeit und ihre Geduld. Gedankt sei schließlich auch meinen Eltern und meinen Geschwistern, die mich während des Studiums und der Promotion rückhaltlos unterstützten. Widmen möchte die Arbeit dem Andenken meiner Mutter, die leider ihr Erscheinen nicht mehr erleben durfte.

Einleitung

1

1. Einleitung Im Zentrum dieser Studie steht das Begriffspaar „Germanen und Romanen“. Anhand eines konkreten archäologischen Problems, der ethnischen Interpretation der sogenannten Reihengräberfelder1 des frühen Mittelalters, analysiere ich die Debatte über dieses Begriffspaar aus zwei Blickwinkeln: Einerseits aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive, andererseits im Hinblick auf die Plausibilität traditioneller ethnischer Interpretationen, die in den letzten Jahren in der frühgeschichtlichen Archäologie intensiv diskutiert wird.2 Diese doppelte Perspektive ist notwendig, weil beide Aspekte nicht voneinander zu trennen sind: Die systematische und kritische Analyse der Wissenschaftsgeschichte ist eine unumgängliche Voraussetzung für fruchtbare Diskussionen um Stand und Perspektiven des Faches. „Germanen und Romanen“ werden hier als Begriffspaar gemeinsam behandelt, weil sie sich – wie zu zeigen sein wird – gegenseitig konstituieren. Bereits in der Antike entwarfen griechische und römische Schriftsteller die germanische Welt als Alterität zum eigenen mediterranen Kulturkreis. Auf ihren Texten sowie den Ergebnissen der humanistischen Antikenrezeption

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H. A MENT , s.v. Reihengräberfriedhöfe. In: RGA2, Bd. 24 (Berlin, New York 2003) 362–365. – Für eine ausführliche Diskussion des Begriffs siehe Kap. 18a. Vgl. etwa H. S TEUER, Archäologie und germanische Sozialgeschichte. Forschungstendenzen in den 1990er Jahren. In: K. Düwel (Hrsg.), Runische Schriftkultur in kontinental-skandinavischer und -angelsächsischer Wechselbeziehung. Ergbde. RGA 10 (Berlin, New York 1994) 10–55, bes. 13–16. – J ONES, Ethnicity. – B RATHER, Identitäten. – M. M ARTIN , Zum archäologischen Aussagewert frühmittelalterlicher Gräber und Gräberfelder. Zeitschr. Schweizer. Arch. u. Kunstgesch. 59, 2002, 291–306, bes. 302. – V. B IERBRAUER, Zur ethnischen Interpretation in der frühgeschichtlichen Archäologie. In: W. Pohl (Hrsg.), Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des Frühmittelalters. Forsch. z. Gesch. d. Mittelalters, Bd. 8 (Wien 2004) 45–84. – B RATHER, Interpretationen. – V. B IERBRAUER, Archäologie der Langobarden in Italien. Ethnische Interpretation und Stand der Forschung. In: W. Pohl/P. Erhart (Hrsg.), Die Langobarden. Herrschaft und Identität. Österr. Akad. Wiss., Denkschr. phil.-hist. Kl. 329 (Wien 2005) 21–66. – F. C URTA , Some remarks on ethnicity in medieval archaeology. Early Medieval Europe 15, 2007, 159–185. – V. B IERBRAUER, Ethnos und Mobilität im 5. Jahrhundert aus archäologischer Sicht: Vom Kaukasus bis nach Niederösterreich. Abhand. Bayer. Akad. Wiss., phil.-hist. Kl., NF 131 (München 2008) bes. 5–7.

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aufbauend schufen dann vor allem mitteleuropäische Gelehrte seit dem 19. Jahrhundert ein positives Idealbild der Germanen, denen sie als Gegenstück für das Mittelalter die „Romanen“ gegenüber stellten. Beide Begriffe sind somit sowohl in der antiken Wahrnehmung als auch in der neuzeitlichen Forschung untrennbar aufeinander bezogen. Sie können deshalb nur gemeinsam analysiert werden. Der Problematik „Germanen und Romanen“ eine umfassende wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zu widmen, erscheint in mehrfacher Hinsicht lohnend. Ein erster Grund liegt in ihrer großen Bedeutung für die Frühmittelalterforschung, insbesondere des deutschsprachigen Raums. Bereits für die nationale Schule der Frühgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts war der vermeintliche Gegensatz „Germanisch-Romanisch“ ein zentrales Motiv.3 Für die Entwicklung der Archäologie ist die Bedeutung entsprechender Denkmuster ebenfalls kaum zu überschätzen. Die amerikanische Wissenschaftshistorikerin Suzanne Marchand vertrat in diesem Zusammenhang sogar die Auffassung, der vermeintliche Antagonismus von „Römern“ und „Germanen“ sei mehr noch als die Rezeption rassenbiologischen Denkens der Schlüssel zum Verständnis eines „Sonderwegs“ der deutschen Ur- und Frühgeschichtsforschung seit dem 19. Jahrhundert.4 Nicht allein in Deutschland prägte die germanisch-romanische Dichotomie das Bild des frühen Mittelalters. Kaum weniger von ihr beeinflusst waren die Ansichten über diese Epoche in Frankreich, Belgien oder Großbritannien, aber auch Italien oder Spanien. Neben der christlichen Heilsgeschichte und dem klassischen Altertum bildete das Zeitalter der so genannten Völkerwanderungen seit dem späten Mittelalter in weiten Teilen Europas eine wichtige Quelle für dynastische und nationale Ursprungsmythen. Dabei ergänzten und modifizierten Eigenheiten der jeweiligen nationalen Geschichtskonstruktionen die international verbreiteten Geschichtsbilder. Die sich verändernden archäologischen Interpretationen lassen dieses Wechselspiel deutlich erkennen. So spiegeln die konkurrierenden und einander ablösenden Erklärungen für das Aufkommen und die Verbreitung der frühmittelalterlichen Reihengräberfelder letztlich recht genau die Entwicklung des politischen und kulturellen Verhältnisses zwischen Deutschland und seinen westlichen Nachbarstaaten in den letzten eineinhalb Jahrhunderten wider. Ferner legt die generelle Ernüchterung, die sich in Bezug auf den erreichten Kenntnisstand in der historischen Frühmittelalterforschung ge3

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A. A NGENENDT , Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 bis 900 (2Stuttgart, Berlin, Köln 1995) 31 f. M ARCHAND , Olympus, 155.

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genwärtig durchsetzt, nahe, die Rezeption des germanisch-romanischen Antagonismus in der Archäologie näher zu untersuchen. „Wir wissen weniger über die Germanen, als es aus älteren Handbüchern den Anschein hat“, resümierte der Historiker Walter Pohl vor wenigen Jahren die Situation; viele Vermutungen und Gewissheiten vergangener Forschergenerationen habe die historische Forschung mittlerweile widerlegt.5 Diese neu gewonnene Skepsis bezieht sich ausdrücklich auch auf die grundlegenden Denkraster der traditionellen Frühgeschichtsforschung, wie das Begriffspaar „Germanen-Romanen“. Immer dringender stellt sich die Frage, ob sie zur Beschreibung kultureller Zustände nach dem Ende der Antike überhaupt zweckmäßig sind. Denn es stehe zu befürchten, so Pohl, dass gerade die großen Gegensatzpaare, die den Interpretationen der älteren Forschung paradigmatisch zugrunde lagen, eine wesentlich komplexere Realität verdecken.6 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der Historiker Jörg Jarnut vor wenigen Jahren den Begriff des „Germanischen“ für das frühe Mittelalter nicht nur als „anachronistisch und irreführend“ bezeichnete, sondern forderte, ihn als obsoleten Zentralbegriff in der Frühmittelalterforschung außerhalb der Sprachwissenschaften ganz abzuschaffen.7 Zur Begründung verwies er auf die bekannte Tatsache, dass das Attribut „germanisch“ in den Quellen des frühen Mittelalters nur sehr selten und dann in einem völlig anderen Sinn als in der modernen Forschung verwendet werde. Auch die von der Forschung vorausgesetzte Prämisse einer kulturellen Einheit der Germanen habe lediglich zu Konstrukten geführt, die die Forschung der letzten Jahrzehnte allesamt demontiert habe. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die zweite Hälfte des Begriffspaars „Germanen und Romanen“ kaum weniger problematisch ist. Denn wie in dieser Arbeit gezeigt wird, gelten die von Jarnut formulierten Einwände in gleichem, wenn nicht sogar in noch stärkerem Maße für den Romanenbegriff der Frühgeschichtsforschung.8 Folgt man seiner Argumentation, so müsste die Frühgeschichtsforschung abgesehen von den Sprachwissenschaften auch die „Romanen“ fallen lassen. Somit ergibt sich ein ganzes Bündel von Fragen, die in dieser Arbeit beantwortet werden sollen: Besitzt das Begriffspaar „Germanen-Romanen“ für die Frühgeschichtsforschung ein nennenswertes heuristisches Poten5 6 7 8

P OHL , Germanen, 2. P OHL , Völkerwanderung, 219 f. J ARNUT , Plädoyer. Vgl. Kap. 2–7.

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tial? Weshalb wurde es in der Frühmittelalterarchäologie lange Zeit ganz selbstverständlich als zentrale Interpretationsgrundlage verwendet? Und schließlich: Welche alternativen Interpretationen sind für jene archäologischen Phänomene vorhanden, die bislang auf der Grundlage eines germanisch-romanischen Antagonismus gedeutet wurden, insbesondere das Aufkommen der frühmittelalterlichen Reihengräberfelder? Die gegenwärtige Debatte über den wissenschaftlichen Wert des Germanenbegriffs ist Teil einer Neuorientierung der historischen Frühmittelalterforschung. Galten ihr im Gefolge der nationalen Geschichtsinterpretation seit dem 19. Jahrhundert die Abstraktionen „Völker“ und „Stämme“ vielfach bis in jüngste Zeit als eigentliche Akteure des historischen Geschehens, so wird nun gefordert „die Geschichte der Menschen, in ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit“ wieder ins Zentrum der Forschung zu rücken.9 In der benachbarten Frühmittelalterarchäologie zeichnet sich gegenwärtig eine ähnliche Situation ab. Gleichwohl scheint hier die ethnozentrische Geschichtsauffassung tiefer verwurzelt zu sein. Ethnische Interpretationen besitzen in der Archäologie des frühen Mittelalters nach wie vor einen großen Stellenwert. Ein Großteil der Publikationen zu frühmittelalterlichen Grabfunden aus dem deutschsprachigen Raum verweist bereits im Titel auf eine bestimmte Ethnie.10 Selbst eher nebensächliche Eigentümlichkeiten der Bestattungsweise, wie die Beigabe von Scheren11 oder Hühnereiern12, werden ausführlich hinsichtlich ihrer ethnischen Signifikanz diskutiert. In den letzten drei Jahrzehnten ging die Forschung zudem immer häufiger dazu über, nicht nur die frühmittelalterlichen Gräber eines bestimmten Gebietes jenem Stamm zuzuweisen, der den historischen Quellen zufolge im fraglichen Zeitraum dort siedelte. Zunehmend werden einzelne Bestattungen oder ganze Gräberfelder auch Ethnien zugeschrieben, deren historisch überlieferte Siedlungsgebiete weit entfernt von den fraglichen Fundorten liegen. So meint man etwa Thüringer13 und Westgoten14 in 9 10 11

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P OHL , Völkerwanderung, 22. S IEGMUND , Alemannen, 4 Abb. 1. R. G OTTSCHALK , Zur ethnischen Einordnung einiger spätantiker Gräber des Rheinlands. In: Th. Fischer/G. Precht/J. Tejral (Hrsg.), Germanen beiderseits des spätantiken Limes. Spisy Archeologického Ústavu AV CˇR Brno 14 (Köln, Brünn 1999) 81–91, hier 82 f. M. C. B LAICH , Das frühmittelalterliche Gräberfeld von Eltville, Rheingau-TaunusKreis. Beiträge zur Siedlungsgeschichte des Rheingaus vom 5. bis 8. Jahrhundert n. Chr. Fundber. Hessen, Beih. Bd. 2/1 (Wiesbaden, Kassel 2006) 208–210. H. W. B ÖHME , Les Thuringiens dans le Nord du royaume franc. Rev. Arch. Picardie 3/4, 1988, 57–69. V. B IERBRAUER, Les Wisigoths dans le royaume franc. Ant. Nat. 29, 1997, 167–200.

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Nordfrankreich, Franken15, Ostgoten16 und „Nordleute“17 in Thüringen, Angelsachsen in Unterfranken18, Langobardinnen in der Alamannia,19 Ostgotinnen auf bayerischen Gräberfeldern20 oder Alemannen in Italien21 erkannt zu haben und wertet diese Interpretation als Beleg für eine „ethnischen Vielfalt“22 der frühmittelalterlichen Gesellschaft. Vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung war die Inszenierung der frühmerowingischen Bevölkerung Nordgalliens als „multikulturelle Gesellschaft“23 auf der großen Ausstellung „Die Franken – Wegbereiter Europas“ in Mannheim 1996. Manchen Forschern gilt diese „ethnische Vielfalt“ sogar als Ergebnis eines planvollen Eingreifens politischer Entscheidungsträger, weshalb sie meinen, ausgehend von den ethnischen Interpretationen etwa eine „Bevölkerungspolitik der Merowinger“24 oder eine „fränkische Siedlungspolitik“25 nachweisen zu können.

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W. T IMPEL , Das fränkische Gräberfeld von Alach, Kreis Erfurt. Alt-Thüringen 25, 1990, 61–155. W. T IMPEL , Das ostgotische Adelsgrab von Ossmannstedt, Lkr. Weimarer Land. In: S. Duˇsek, Weimar und Umgebung. Arch. Denkmale Thüringen 2 (Weimar 2001) 158–161. U. K OCH , Nordeuropäisches Fundmaterial in Gräbern Süddeutschlands rechts des Rheins. In: Dies./U. v. Freeden/A. Wieczorek (Hrsg.), Völker an Nord- und Ostsee und die Franken. Akten des 48. Sachsensymposiums in Mannheim vom 7. bis 11. Sep. 1997 (Bonn 1999) 175–194, bes. 177–180. E. S TAUCH , Wenigumstadt. Ein Bestattungsplatz der Völkerwanderungszeit und des frühen Mittelalters im nördlichen Odenwaldvorland. Universitätsforsch. Prähist. Arch. 111 (Bonn 2004) 32; 120–124. G. G RAENERT , Langobardinnen in Alamannien. Germania 78/2, 2000, 417–447. V. B IERBRAUER, Das Reihengräberfeld von Altenerding in Oberbayern und die bajuwarische Ethnogenese – eine Problemskizze. Zeitschr. Arch. Mittelalter 13, 1985, 7–25, hier 19 ff. V. B IERBRAUER, Alamannische Funde der Frühen Ostgotenzeit aus Oberitalien. In: G. Kossack/G. Ulbert (Hrsg.), Studien zur Vor- und Frühgeschichtlichen Archäologie. Festschrift für Joachim Werner zum 65. Geburtstag (München 1974) 559–577. In Bezug auf das merowingerzeitliche Südwestdeutschland: U. K OCH , Ethnische Vielfalt im Südwesten. Beobachtungen in merowingerzeitlichen Gräberfeldern an Neckar und Donau. In: Die Alamannen (Stuttgart 1997) 219–232. U. K OCH /K. v. W ELCK / A. W IECZOREK , Die Bevölkerung Nordgalliens: Einheimische und Fremde. In: Die Franken, 840 f., A. W IECZOREK , Identität und Integration. Zur Bevölkerungspolitik der Merowinger nach archäologischen Quellen. In: Die Franken, 346–357. U. G ROSS, Das Zeugnis der handgemachten Tonware. Fränkische Siedlungspolitik im Spiegel der südwestdeutschen Rippen- und Buckelkeramik. In: Die Alamannen (wie Anm. 22) 233–242.

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Antrieb für diese Interpretationen war offenkundig das gut gemeinte Bemühen, zu aktuellen gesellschaftlichen Themen einen konstruktiven Beitrag aus Sicht der Altertumswissenschaften zu leisten. Allerdings führte dieses Bemühen zu nicht unproblematischen Geschichtsbildern. So ist die Feststellung, dass die Gesellschaften des frühen Mittelalters „multikulturell“ oder „polyethnisch“ waren, einerseits banal – schließlich haben nirgendwo jemals „monokulturelle“ oder ethnisch „reine“ Gesellschaften existiert, außer in der Phantasie völkischer Phantasten.26 Andererseits erinnern die von den Frühmittelalterarchäologen entworfenen Geschichtsbilder mitunter eher an ethnisch segregierte Gesellschaften, in denen die ethnische Identität nicht nur geradezu allgegenwärtig sämtliche Lebensbereiche durchdrungen habe, sondern auch die Integration von Zuwanderern allenfalls äußerst langsam vonstatten ging. Wie bereits angedeutet, erfreuen sich ethnische Interpretationen ungeachtet aller Wandlungen bei der Wertung von Zuwanderung und kultureller Vielfalt einerseits ungebrochener Beliebtheit in der Frühgeschichtlichen Archäologie, andererseits mehren sich in den letzten Jahren Stimmen, die ihre Plausibilität grundsätzlich in Frage stellen.27 Die Reaktionen auf diese Kritik sind mitunter erstaunlich emotional. Offenbar rührt sie an einen wunden Punkt, an dem die Bereitschaft, eigene Positionen zu überdenken, rapide nachlässt. Allenfalls über das „Wie“, nicht aber über das „Ob“ ethnischer Interpretationen möchte man diskutieren. Mitunter wird das Problem der ethnischen Interpretationen gar zur finalen Schicksalsfrage erklärt, von der die Zukunft des gesamten Faches abhänge. Gäbe die frühgeschichtliche Archäologie die Tradition der ethnischen Interpretationen auf, so bedeute dies unweigerlich die Preisgabe des Faches als „historisch arbeitende Disziplin“.28 In einem anderen Fall etikettierte man den traditionellen „volksgeschichtlichen“ Ansatz der mitteleuropäischen Frühmittelalterarchäologie kurzerhand zur „kulturgeschichtlichen Archäologie“ um und steckte die Kritiker in die im mitteleuropäischen Raum wenig angesehene Schublade postprozessualer Theoretiker.29 Woher rührt diese Haltung, den ethnischen Interpretationen einen derart zentralen Stellenwert einzuräumen und sie als eigentliches Endziel archäologischer Forschung anzusehen? Wiederholt führte man die Domi26 27 28 29

Zur Problematik des hier zugrunde liegenden holistischen Kulturbegriffs vgl. Kap. 6. Zusammenfassend zuletzt: B RATHER, Interpretationen. B IERBRAUER, Interpretation (wie Anm. 2) bes. 48. F. S IEGMUND , Die Alemannia aus archäologischer Sicht und ihre Kontakte zum Norden. In: H.-P. Naumann (Hrsg.), Alemannien und der Norden. Ergbde. RGA 43 (Berlin, New York 2004) 142–164, bes. 146.

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nanz ethnischer Fragestellungen in der Frühgeschichtsforschung auf das Wirken von Traditionen zurück, die bis zur nationalen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts zurückreichen.30 In zahlreichen Fällen wurde diese Ansicht jedoch wenig differenziert begründet. Nicht selten führte man etwa die ethnischen Interpretationen in der Frühmittelalterarchäologie pauschal auf die methodischen Axiome des Berliner Prähistorikers Gustaf Kossinna zurück.31 Angesichts solch grober Vereinfachungen von Forschungsgeschichte und aktuellem Diskussionsstand verwundert es nicht, wenn im Gegenzug die Frage aufgeworfen wird, weshalb ethnische Interpretationen denn auf einmal als „überholt“ gelten sollen.32 Offensichtlich besteht Bedarf an Arbeiten, die diese Fragen systematisch analysieren, und die Wissenschaftsgeschichte für die aktuelle Forschungsdiskussion fruchtbar machen. Die geradezu topische Gleichsetzung der ethnischen Interpretationen mit der Tradition Kossinnas ist für den Fortgang der Debatte in jedem Fall hinderlich. Denn einerseits findet sich gegenwärtig wohl kein Gelehrter gerne in den Kontext einer intellektuellen Kontinuität mit dem Vordenker der „völkischen Vorgeschichtsforschung“ gerückt; andererseits ist diese Zuschreibung in Bezug auf die aktuelle Frühmittelalterarchäologie mindestens äußerst ungenau, wenn nicht gar schlichtweg falsch. Die enge Assoziation der Problematik der ethnischen Interpretationen mit der Person Kossinnas ist auf fachgeschichtliche Wurzeln zurückzuführen, die hier nicht weiter erläutert werden müssen.33 Wichtig ist aber festzuhalten, dass die Problematik der ethnischen Interpretationen in der Archäologie wesentlich mehr umfasst, als allein die Frage, ob sich hinter archäologischen „Kulturen“ oder „Kulturgruppen“ Ethnien verbergen.34 Wie in dieser Arbeit gezeigt wird, ist die gängige Praxis der ethnischen In30

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B RATHER, Identitäten, 140 ff. – T HEUWS /A LKEMADE , Sword depositions, 405 mit Anm. 10. – P. A MORY, People and identity in Ostrogothic Italy, 489–554 (Cambridge 1997) 332–337. So z. B. A MORY, People (wie Anm. 30) 334. – M. T ODD , Die Zeit der Völkerwanderung (Stuttgart 2002) 11. – B. E FFROS, A century of remembrance and amnesia in the excavation, display, and interpretation of Early Medieval burial artifacts. In: J. Jarnut/M. Wemhoff (Hrsg.), Erinnerungskultur im Bestattungsritual. MittelalterStudien, Bd. 3 (München 2003) 75–96, hier 90 f. – P. G EARY, Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen (Frankfurt 2002) 45f; 48 f. Vgl. etwa R. K AISER, Rez. Guy Halsall, Settlement and social organisation. Dt. Archiv. Erforsch. Mittelalters 53, 1997, 339 f., hier 339. Zu Kossinna vgl. H. G RÜNERT , Gustaf Kossinna (1858–1931). Vom Germanisten zum Prähistoriker. Ein Wissenschaftler im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Vorgesch. Forsch. 22 (Rahden/Westf. 2002). – S. B RATHER, s.v. Kossinna, Gustaf. In: RGA2, Bd. 17 (Berlin, New York 2001) 263–267. B RATHER, Interpretationen, bes. 318–322.

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terpretation in der Gräberarchäologie des frühen Mittelalters auf eine andere Traditionslinie zurückzuführen, auf die Kossinnas „ethnische Deutung“ allenfalls mittelbar eingewirkt hat. Ihre Wurzeln reichen bis zu den Anfängen der wissenschaftlichen Frühmittelalterforschung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Auch die einflussreiche Frühmittelalterforschung in der Tradition von Hans Zeiss seit den 1930er Jahren, die in dieser Arbeit breiten Raum einnimmt, setzte keineswegs die Konzepte Kossinnas einfach fort, sondern entstand im Gegenteil aus der Kritik an dessen vergleichsweise grobschlächtigem Ansatz.35 Nicht ganz zu Unrecht wird im Rahmen der Diskussion um die Möglichkeit ethnischer Interpretationen gefordert, die Kritiker müssten sich eingehender mit den traditionellen Ansätzen auseinandersetzen. Dieser Forderung wird in dieser Arbeit insofern nachgekommen, als in ihr eine ganze Reihe jener Arbeiten berücksichtigt werden, die vor wenigen Jahren als methodisch vorbildliche und überzeugende ethnische Interpretationen ins Feld geführt wurden.36 Das Urteil über ihre Plausibilität fällt jedoch – soviel sei vorweggeschickt – wenig günstig aus, sondern bestätigt vielmehr die Kritik an der gängigen Forschungspraxis. Die Rekonstruktion der archäologischen Diskussion um „Germanen und Romanen“ umfasst nicht allein die Analyse der verschiedenen Ansätze der ethnischen Interpretationen, sondern auch die Darstellung der Kritik, die bereits in der Vergangenheit an ihnen geübt wurde. In der gegenwärtigen Debatte zeigen sich manche Vertreter traditioneller Positionen überrascht von den massiven Einwänden, die gegenwärtig vorgebracht werden.37 Dies ist insofern bemerkenswert, als entsprechende Kritik keineswegs neu ist: Wie in dieser Arbeit gezeigt wird, ist etwa die grundlegende ethnische Interpretation der Archäologie des Merowingerreiches – die Zuweisung der typischen Reihengräberfelder mit Waffenausstattungen und Beisetzungen in fibelgeschmückter Kleidung an die Germanen – seit mehr als 100 Jahren grundsätzlich umstritten. Etwas ernüchternd ist es, in diesem Zusammenhang zu beobachten, dass nicht wenige Argumente, die in der neueren Debatte angeführt werden, bereits bei ähnlichen Diskussionen in vergangenen Jahrzehnten vorgebracht wurden. Weshalb sich diese kritischen Positionen nicht gegen den „herrschenden Diskurs“ der ethnischen Interpretationen durchsetzen konnten, ist eine weitere Frage, der in dieser Arbeit nachgegangen wird. Zu diesem Zweck scheint es notwendig, die Entwicklung der Diskussion von ihren Anfängen bis in die Gegenwart im 35 36 37

Vgl. Kap. 11d. B IERBRAUER, Interpretationen (wie Anm. 2) 49 mit Anm. 24. M ARTIN , Aussagewert (wie Anm. 2) hier 302.

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Zusammenhang darzustellen. Es steht zu hoffen, dass es auf diese Weise gelingt, den Kreislauf von immer neuen Anläufen und anschließendem Verdrängen und Vergessen zu durchbrechen, der symptomatisch für die Stagnation der gesamten Debatte ist. Eine Beschäftigung mit diesem Thema erscheint noch aus einem weiteren Punkt notwendig: Zwar ist es an sich nicht ungewöhnlich, dass auch in ganz grundlegenden fachlichen Fragen sehr konträre Positionen vertreten werden; es sollte aber nachdenklich stimmen, wenn sich die gegensätzlichen Positionen entlang nationaler Grenzen konstituieren. In der Archäologie des frühen Mittelalters wurde viele Jahrzehnte lang weitgehend kommentarlos akzeptiert, dass die wissenschaftliche Gemeinde in der Frage des ethnischen Charakters der frühmittelalterlichen Reihengräberfelder in zwei Lager gespalten war. Im betreffenden Stichwort des „Lexikons des Mittelalters“ erfährt man etwa lapidar, dass die deutschsprachige Forschung die beigabenführenden Reihengräberfelder traditionell den Germanen zuschreibe, wohingegen die französische Forschung dies vehement bestreite.38 Auf den ersten Blick mag dieser Dissens recht akademisch erscheinen. Er steht jedoch in engem Zusammenhang mit einem Komplex, der sowohl von verschiedenen altertumskundlichen Disziplinen als auch in der Wissenschaftsgeschichte seit einem Jahrzehnt intensiv diskutiert wird. Das Problem der Ausdehnung und Intensität germanischer Besiedlung in den heute romanischsprachigen Gebieten Westeuropas war mehrere Jahrzehnte lang die politisch wohl brisanteste Forschungsfrage der Frühmittelalterforschung. Die Auseinandersetzungen um die „fränkische Landnahme“ im frühmittelalterlichen Gallien sowie die Entstehung der romanisch-germanischen Sprachgrenze besaßen eine politische Dimension, die erst im Zuge der wissenschaftsgeschichtlichen Diskussion über die so genannte „Westforschung“ in ihrem vollen Umfang zu Tage trat. Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass der Rolle der Frühmittelalterarchäologie innerhalb der „Westforschung“ im Rahmen der vorliegenden Arbeit ein verhältnismäßig breiter Raum eingeräumt wird. Dieser Schwerpunkt ergibt sich vielmehr daraus, dass der vermeintliche Antagonismus zwischen Germanen und Romanen für die Westforschung konstitutiv war. Der niederländische Soziologe Hans Derks formulierte in diesem Zusammenhang kürzlich zutreffend: „The concept of Westforschung [cannot] do without the strongest

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H. A MENT , s.v. Franken, Frankenreich. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4 (München 1989) 689–693, hier 692. – Vgl. auch Kap. 16a.

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possible duality between German and Romance people, not only in a linguistic sense but also in the realms of culture, politics and ethnicity“.39 Diesen politischen Hintergrund der Entwicklung archäologischer Interpretationen gilt es nicht nur als bedeutenden Teil der Wissenschaftsgeschichte zu erforschen, sondern auch, weil er mehr oder minder latent die Beziehungen zwischen den verschiedenen europäischen Wissenschaftstraditionen teilweise bis heute belastet. So wurde etwa noch vor wenigen Jahren an durchaus prominenter Stelle gegenüber Teilen der deutschen Frühmittelalterarchäologie der Vorwurf erhoben, sie pflege „noch heute die Kolonialarchäologie des mittleren Drittels des 20. Jahrhunderts, in der Belgien oder Italien ebenso als Kolonie zählen wie Ungarn oder Böhmen und […] Frankreich“.40 Schließlich legt auch die aktuelle Diskussion zwischen den verschiedenen altertumskundlichen Fächern nahe, sich mit dem Beitrag der Archäologie zur Problematik der germanischen Besiedlung im romanischen Sprachgebiet nochmals auseinander zu setzen. Die Erforschung der ethnischen Gruppen des frühen Mittelalters wird seit vielen Jahrzehnten als interdisziplinäres Unternehmen betrieben.41 So sehr dieser Ansatz grundsätzlich zu begrüßen ist, so sehr verdeutlicht gerade die Diskussion um die Genese der romanisch-germanischen Sprachgrenze und das Ausmaß der germanischen Besiedlung Galliens die Grenzen und Gefahren dieses Ansatzes.42 Über lange Zeit hinweg bauten die beteiligen Disziplinen – vor allem die Geschichtswissenschaft, die Sprachwissenschaften und die Archäologie – die Interpretationen ihres eigenen Materials auf vermeintlich sicheren Fakten aus den Nachbarwissenschaften auf. Aufgrund dieses Verfahrens entstand ein bislang nur schwer zu entwirrendes Geflecht von Zirkelschlüssen und wechselseitigen Abhängigkeiten, das es nicht leicht macht, den gegenwärtigen Forschungsstand zu bilanzieren. Die Sprachwissenschaftlerin Martina Pitz wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass nur eine „fachliche und wissenschaftsgeschichtliche

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H. D ERKS, German Westforschung, 1918 to the present. The Case of Franz Petri, 1903–1993. In: I. Haar/M. Fahlbusch (Hrsg.), German scholars and ethnic cleansing, 1920–1945 (New York 2005) 175–199, hier 178. I. B ÓNA , Rez. A. Koch, Bügelfibeln der Merowingerzeit im westlichen Frankenreich. Acta Arch. Acad. Scient. Hungaricae 52, 2001, 417–420, hier 420. W. P OHL , Ethnizität des Frühmittelalters als interdisziplinäres Problem. Das Mittelalter 4, 1999, 69–75. H. F EHR, s.v. Romanisch-Germanische Sprachgrenze. In: RGA2, Bd. 25 (Berlin, New York 2003) 304–310.

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Perspektiven zusammenführende kritische Analyse“43 einen Ausweg aus dieser verfahrenen Situation bieten kann. Nötig seien eine schrittweise Revision der wichtigsten Werke und die Neubewertung des vorhandenen Materials auf der Grundlage eines zeitgemäßen methodischen Instrumentariums. Diesem Weg folgt die vorliegende Arbeit. Eine Stellungnahme zu dieser Problematik von Seiten der Archäologie erscheint auch deshalb notwendig, da es – anders als Pitz annimmt – keinesfalls zutrifft, dass die Frühmittelalterarchäologie als einzige der beteiligten Wissenschaften ihren Anteil an dieser Problematik bereits hinreichend aufgearbeitet hat.44 Vielmehr krankten die wissenschaftsgeschichtlichen Diskussionen um die Bewertung der historischen „Westforschung“ und die interdisziplinäre Debatte über die frühmittelalterliche Besiedlung Galliens bislang unter anderem daran, dass die Geschichte der Forschung und der gegenwärtige Diskussionsstand in der Archäologie in den Nachbarwissenschaften nur ungenügend bekannt sind oder unvollständig wahrgenommen werden. Letztlich beruht etwa die These, der interdisziplinäre Ansatz bei der Erforschung der Genese der romanischgermanischen Sprachgrenze sei in den 1930er Jahren innovativ gewesen und bis heute unverzichtbar,45 auf der Überzeugung, die Archäologie sei in der Lage, die Anwesenheit germanischsprachiger Bevölkerungsgruppen zweifelsfrei nachzuweisen. Wie in dieser Arbeit ausführlich gezeigt wird, ist dies aber nicht der Fall. Vielmehr zeichnet sich ab, dass der spezifische interdisziplinäre Ansatz der historischen „Kulturraumforschung“ über seine unerfreuliche politische Rolle hinaus auch wissenschaftlich ein Irrweg war.46 Das Begriffspaar „Germanen und Romanen“ besitzt nicht nur für verschiedene aktuelle Diskussionen in der Frühmittelalterarchäologie erhebliche Bedeutung. Wie bereits angedeutet, ist es darüber hinaus geeignet, die zentralen Etappen der Entwicklung dieses Zweiges der Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie aufzuzeigen. Die Anfänge der Konstruktion des germanisch-romanischen Gegensatzes reichen bis in die Renaissance zurück. Auch in der Gegenwart sind seine 43

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M. P ITZ , s.v. Franz Petri. In: RGA2, Bd. 22 (Berlin, New York 2003) 631–635, hier 632. P ITZ , Petri (wie Anm. 43) 632. M. P ITZ , Franz Petris Habilitationsschrift in inhaltlich-methodischer und forschungsgeschichtlicher Perspektive. In: Dietz/Gabel/Tiedau, Westforschung, 225–246, hier 245 f. Vgl. dazu auch H. F EHR, Die archäologische Westforschung und das Problem der germanischen Besiedlung Galliens. In: M. Middell/U. Sommer (Hrsg.), Historische West- und Ostforschung in Zentraleuropa zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg – Verflechtung und Vergleich. Geschichtswiss. u. Geisteskultur im 20. Jh. (Leipzig 2004) 29–53.

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Nachwirkungen kaum zu übersehen. Da die Wissenschaftsgeschichte der Ur- und Frühgeschichtsforschung in vielen Bereichen bislang nicht über Anfänge hinaus gediehen ist, verwundert es nicht, dass die Wirkungsgeschichte dieser Interpretationstradition bislang nicht systematisch untersucht wurde. Als unverzichtbare Reflexionsebene finden sich forschungsgeschichtliche Abschnitte seit langem in vielen archäologischen Studien. Nur selten wurden bislang jedoch umfassendere wissenschaftsgeschichtliche Abhandlungen vorgelegt. So enthalten etwa die großen Synthesen zur Archäologie des frühen Mittelalters in der Regel entsprechende Beiträge. Diese konzentrieren sich meist auf die wissenschaftlichen Anfänge dieses Forschungszweiges und behandeln die „Gründerväter“ der Frühmittelalterarchäologie im 19. Jahrhundert recht ausführlich.47 Bonnie Effros’ vor wenigen Jahren erschienene Darstellung der Geschichte der Merowingerarchäologie in Frankreich endet ebenfalls mit dem Ende des 19. Jahrhunderts.48 Immerhin einen Ausblick in das 20. Jahrhundert enthält Heino Neumayers wissenschaftliche Untersuchung ausgehend von den aus Frankreich stammenden merowingerzeitlichen Beständen des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte.49 Wesentlich zurückhaltender war man bislang dagegen bei der Darstellung der „zweiten Gründerzeit“ der Frühmittelalterarchäologie nach dem Ersten Weltkrieg. Neben dem unzureichenden Forschungsstand ist dies wohl darauf zurückzuführen, dass dieser Aufbruch in die politische Instrumentalisierung der Ur- und Frühgeschichte während der nationalsozialistischen Diktatur mündete. Die Erforschung dieser fachgeschichtlich besonders problematischen Epoche setzte erst im letzten Jahrzehnt in angemessenem Umfang ein. Tagungen in Berlin 199850 und Freiburg 199951 waren die bislang bedeutendsten Etappen dieser Entwicklung. Durch Ausstellungen in Straßburg und Metz (2001–2002)52 bzw. Trier 200253 wurde

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H. R OTH , Kunst und Handwerk im frühen Mittelalter. Archäologische Zeugnisse von Childerich I. bis zu Karl d. Großen (Stuttgart 1986) 12–16. – H. A MENT , Frühe Funde und archäologische Erforschung der Franken im Rheinland. In: Die Franken, 23–34. – H. N EUMAYER, Geschichte der archäologischen Erforschung der Franken in Frankreich. Ebd. 35–42. – G. F INGERLIN , Vom Schatzgräber zum Archäologen. Die Geburt einer Wissenschaft. In: Die Alamannen (Stuttgart 1997) 45–51. E FFROS, Mortuary Archaeology, 12–70. N EUMAYER, Frankreich, 13–56 L EUBE /H EGEWISCH , Prähistorie. S TEUER, Wissenschaft. A DAM U. A ., Alsace et Moselle.

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die Problematik erstmals einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht. Im Rahmen einer Sektion während der Jahrestagung der European Association of Archaeologists in Lyon 2004 setzte man sich auch im internationalen Rahmen mit dem Thema auseinander.54 Obwohl in dieser Arbeit ein wesentlich größerer Zeitraum – von den Anfängen der wissenschaftlichen Frühmittelalterarchäologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart – behandelt wird, zeigt bereits der Umfang der verschiedenen Kapitel, dass ein Schwerpunkt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt. Dieser Zeitabschnitt verdient nicht allein deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil er bislang niemals systematisch untersucht wurde. Seine Bedeutung für die Wissenschaftsgeschichte rührt zunächst daher, dass in ihm Wissenschaft und Politik besonders intensiv miteinander verflochten waren. Zudem markierte er zumindest im deutschsprachigen Raum die entscheidende Phase der Institutionalisierung der Ur- und Frühgeschichte als akademische Disziplin, in der auch inhaltlich lange nachwirkende Weichen gestellt wurden.55 Diese scheinen in ihrem Umfang und ihrer Bedeutung bislang noch wenig bekannt zu sein; vor wenigen Jahren vertrat ein britischer Gelehrter gar die Auffassung, in den Jahren zwischen 1930 und 1950 seien kaum Fortschritte der Frühmittelalterarchäologie zu verzeichnen gewesen.56 Selbst wenn man den Begriff „Fortschritt“ sehr eng fasst, kann diese Position nicht überzeugen. Vielmehr übten die neuen Erkenntnisse und Interpretationen, die in diesem Zeitraum erzielt und entwickelt wurden, nicht nur im mitteleuropäischen Raum einen prägenden Einfluss aus. Zudem besitzt dieser Zeitraum auch aus internationaler Perspektive beträchtliche Relevanz. Zum einen betrafen die Forschungen, die im Rahmen der deutschen Besatzungsherrschaft während des Zweiten Weltkriegs durchgeführt wurden, andere Länder ganz unmittelbar. Zum anderen ist die mittelbare Wirkung, die von den Ansätzen der deutschsprachigen Forschungstradition auf die europäische Prähistorie ausging, nicht zu unterschätzen. Besonders in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen besaß die deutschsprachige Forschung eine starke, fast dominierende Rolle in Europa, die fachlich deutliche Akzente setzte.57 53

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56 57

H.-P. K UHNEN (Hrsg.), Propaganda. Macht. Geschichte. Archäologie an Rhein und Mosel im Dienst des Nationalsozialismus (Trier 2002). L EGENDRE /O LIVIER /S CHNITZLER, Archéologie. W. P APE , Zur Entwicklung des Faches Ur- und Frühgeschichte in Deutschland bis 1945. In: Leube/Hegewisch, Prähistorie, 163–226. T ODD , Völkerwanderung (wie Anm. 31) 11. J. C ALLMER, Archäologie und Nationalsozialismus als Gegenstand der modernen Forschung. In: Leube/Hegewisch, Prähistorie, 3–9.

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Bei der Erforschung der Wissenschaftsgeschichte der Archäologie während des Nationalsozialismus richtete sich der Blick im Gefolge der grundlegenden Studien von Reinhard Bollmus und Michael Kater zunächst auf die beiden originär nationalsozialistischen Wissenschaftsorganisationen, den „Reichsbund für Deutsche Vorgeschichte“ des „Amtes Rosenberg“58 und das „Ahnenerbe“ der SS.59 Die Konzentration auf die Protagonisten der „Auseinandersetzungen um die deutsche Vorgeschichtsforschung“60 besaß zweifellos ihre Berechtigung, da die Dramatik der Entwicklung nach 1933 ohne die Kenntnis dieser Ereignisse unverständlich bliebe. Durch die Forschungen der letzten Jahre erweiterte sich das Blickfeld jedoch deutlich. Hat nicht – wie Johan Callmer zu Bedenken gab61 – die Fokussierung auf das „Ahnenerbe“ und das „Amt Rosenberg“, auf Schlüsselund Symbolfiguren wie Hans Reinerth oder Herbert Jankuhn viele andere Entwicklungen verdeckt? Das „Ahnenerbe“ und das „Amt Rosenberg“ waren Institutionen, die ihre Entstehung dem Nationalsozialismus verdankten und mit ihm auch untergingen. Die Frage nach Wurzeln und Vorläufern der politischen Instrumentalisierung der Ur- und Frühgeschichte trat somit ebenso in den Hintergrund wie die Nachwirkungen der Ideologisierung des Faches nach 1945. Die Ergebnisse der Wissenschaftsgeschichtsschreibung der letzten 15 Jahre legen nahe, hier genauer nachzuforschen. Willi Oberkromes Studie über die „Volksgeschichte“62 lenkte den Blick auf einen Paradigmenwechsel in den historischen Wissenschaften, auf eine ethnozentrische Forschungstradition, deren Wurzeln bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückreichen, und deren Transformationen nach 1945 in den letzten Jahren intensiv diskutiert wurden.63 Die Publikationen von Peter Schöttler zur „Westforschung“64 und von Michael Fahlbusch zu den „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“65 verdeutlichten die große Bedeutung

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B OLLMUS, Amt Rosenberg. – Vgl. zu diesem Komplex zuletzt U. H ALLE , Ur- und Frühgeschichte. In: J. Elvert/J. Nielsen-Sikora (Hrsg.), Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus. Hist. Mitt., Bd. 72 (Stuttgart 2008) 109–166, hier 124–137. K ATER, Ahnenerbe. B OLLMUS, Amt Rosenberg, 153 ff. C ALLMER, Archäologie (wie Anm. 57) 7. O BERKROME , Volksgeschichte. W. O BERKROME , Zur Kontinuität ethnozentrischer Geschichtswissenschaft nach 1945. Zeitschr. f. Geschichtswiss. 49, 2001, 50–61, bes. 51 f., 55 ff. – O. G. O EXLE , „Zusammenarbeit mit Baal“. Über die Mentalitäten deutscher Geisteswissenschaftler 1933 – und nach 1945. Hist. Anthr. 8, 2000, 1–27. S CHÖTTLER, Westforschung. – S CHÖTTLER, Landesgeschichte. F AHLBUSCH , Forschungsgemeinschaften.

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jener wissenschaftlichen Netzwerke, die bereits vor 1933 etabliert worden waren und denen ein bemerkenswertes Nachleben nach dem Zweiten Weltkrieg beschert war.66 Die Spuren der Prähistoriker innerhalb dieser wissenschaftlichen Netzwerke und interdisziplinären Forschungsprojekte sind allenthalben zu entdecken. Die Geschichtswissenschaft schenkte ihnen dennoch kaum Aufmerksamkeit. Spielte die Ur- und Frühgeschichte in diesem Zusammenhang tatsächlich eine zu vernachlässigende Rolle oder spricht diese Tatsache nicht eher gegen einen „Primat der Geschichtsforschung“67 in der Wissenschaftsgeschichte der Prähistorischen Archäologie? Ohne die Vertrautheit mit den wissenschaftlichen Grundlagen und Fragestellungen lässt sich die Geschichte eines Faches offenbar nur unvollkommen erfassen. Besonders der fachinterne Stellenwert von Forschungsprojekten oder Wechselwirkungen zwischen wissenschaftlichen Konzepten und politischem Kontext erschließt sich oftmals erst auf der Grundlage des Wissens um gegenwärtige und vergangene Fachdiskussionen. Dies spricht dafür, dass neben Wissenschaftshistorikern auch Fachvertreter die Geschichte ihrer Disziplin erforschen sollen.68 Abgesehen von den bereits erwähnten Arbeiten von Effros und Neumayer wurden zur Geschichte der Archäologie des frühen Mittelalters in jüngerer Zeit nur wenige größere Arbeiten vorgelegt. Neben zahlreichen Nekrologen und einzelnen biographischen Arbeiten69 liegen einige umfangreichere Untersuchungen zur Geschichte bestimmter wissenschaftlicher Fragestellungen vor, etwa zur Geschichte der chronologischen Gliederung frühmittelalterlicher Grabfunde,70 zur bayerischen Frühgeschichte71 oder den ethnischen Interpretationen der frühmittelalterlichen Gräberfelder Südwestdeutschlands.72 Neben diesen speziellen Untersuchungen wurde die Archäologie des frühen Mittelalters in den Überblickswerken zur Forschungsgeschichte gestreift, in denen die Entwicklung des Faches gewissermaßen aus der „Vogelperspektive“ in den Kontext einer allgemeinen Ideengeschichte einge-

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Vgl. z. B. D ERKS, Westforschung, 206–255. B. H ÄNSEL , Einführungsworte. In: Leube/Hegewisch, Prähistorie, 17. C ALLMER, Archäologie (wie Anm. 57) 4. Vgl. S TEUER, Wissenschaft. – L EUBE /H EGEWISCH , Prähistorie. P ÉRIN , Datation, 5–93. M. M ENKE , 150 Jahre Forschungsgeschichte zu den Anfängen des Baiernstammes. In: H. Friesinger/F. Daim (Hrsg.), Typen der Ethnogenese unter besonderer Berücksichtigung der Bayern II. Österr. Akad. Wiss., phil.-hist. Kl., Denkschr. 204 (Wien 1990) 123–220. J ENTGENS, Alamannen, 15–119.

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ordnet wird.73 So hilfreich diese Arbeiten für den Einstieg in die Geschichte des Faches sind, so schwierig gestaltet sich mitunter der Umgang mit den großen ideengeschichtlichen Konzepten wie „Positivismus“ oder „Nationalismus“, wenn es gilt, die Veränderung der Interpretation eines bestimmten archäologischen Sachverhalts zu deuten – ein Ziel, das die vorliegende Arbeit verfolgt. Mit ihrer Fokussierung auf das Begriffspaar „Germanen und Romanen“ entspricht diese Arbeit methodisch in etwa einer „Problemgeschichte“ – eines Ansatzes, dessen Potential für entsprechende wissenschaftsgeschichtliche Arbeiten der Historiker Otto Gerhard Oexle kürzlich noch einmal hervorgehoben hat. Wie Oexle in diesem Zusammenhang formulierte, werden bei diesem Ansatz „gewissermaßen Tiefenschichten der Erkenntnis erfasst, nämlich bestimmte Arten konstitutiver Fragestellungen, auf die dann unterschiedliche Antworten gegeben werden können und auch gegeben wurden“.74 Der problemgeschichtliche Ansatz bietet nicht nur den Vorteil, die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Fachdisziplinen prägnant darstellen zu können, sondern auch Entwicklungen über längere Zeiträume hinweg. Zudem erlaubt er komparatistische Vergleiche von Arbeiten aus unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen. Nicht zuletzt führt die Problemgeschichte auch weg vom personengeschichtlichen Ansatz, der bislang besonders die Erforschung der Wissenschaftsgeschichte während des Nationalsozialismus dominierte und welcher den Autoren nicht selten den Vorwurf des retrospektiven Moralisierens einbrachte. Die Problemgeschichte schließt nicht nur die Debatten um einen bestimmten wissenschaftlichen Gegenstand ein, sondern auch Herangehensweise und Haltung von Wissenschaftlern zu ihrem Forschungsgegenstand. Durch die Analyse von Sprache, Konzepten und Begriffen soll der Zusammenhang zwischen der wissenschaftlichen Tätigkeit und ihrem sozialen und politischen Kontext herausgearbeitet werden. Diese Arbeit setzt somit

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H. K ÜHN , Geschichte der Vorgeschichtsforschung (Berlin, New York 1976). – T RIGGER , History. – K OSSACK , Prähistorische Archäologie. – G. M ANTE , Die deutschsprachige prähistorische Archäologie. Eine Ideengeschichte im Zeichen von Wissenschaft, Politik und europäischen Werten (Münster 2007). O. G. O EXLE , „Staat“ – „Kultur“ – „Volk“. Deutsche Mittelalterhistoriker auf der Suche nach der historischen Wirklichkeit 1918–1945. In: P. Moraw/R. Schieffer (Hrsg.), Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert. Vorträge u. Forsch. 62 (Ostfildern 2005) 63–101, hier 71. – Zur Ansatz der Problemgeschichte vgl. auch D ERS. (Hrsg.), Das Problem der Problemgeschichte 1880–1932. Göttinger Gespräche z. Geschichtswiss. 12 (Göttingen 2001).

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einen Ansatz fort, der bereits bei der Tagung „Eine hervorragend nationale Wissenschaft“ in Freiburg 1999 im Vordergrund stand.75 Die Analyse der wissenschaftlichen Sprache und Begriffe gibt weit mehr zu erkennen als lediglich einen jeweils aktuellen Jargon oder Zeitgeist. Die Diskussion über eine bestimmte archäologische Quellengattung, wie frühmittelalterliche Reihengräberfelder, ist gleichzeitig immer auch eine Debatte über die Begriffe, mit denen diese Quellen wahrgenommen und interpretiert werden. Wissenschaftliche Begriffe und Konzepte werden keineswegs unmittelbar aus den Quellen abgeleitet. Es handelt sich vielmehr um gesellschaftliche Produkte, die auf ihre Produzenten zurückwirken und eine Dynamik entwickeln, die nicht unbedingt an eine materielle Realität gebunden sein muss. Begriffe und ihre Bedeutungen sind keine passiven Widerspiegelungen historischer Prozesse, sondern vor allem auch Faktoren, die maßgeblich die Wahrnehmungsfähigkeit prägen und gewissermaßen dem Bewusstsein und Handeln vorgegeben sind. Letztlich besitzen sie keinen geringeren Wirklichkeitscharakter als etwa die archäologischen Quellen selbst.76 Den Kern der vorliegenden Arbeit bildet somit eine Analyse der wichtigsten Arbeiten zur Interpretation des frühmittelalterlichen „Reihengräberhorizontes“77 vor dem Hintergrund eines angenommenen germanischromanischen Antagonismus. Sie gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil der Arbeit hat das Problem der interdiszipinären Dependenzen der archäologischen Interpretationen zum Gegenstand. Behandelt werden einerseits fachübergreifende Probleme, wie das sogenannte „Kontinuitätsproblem“78 oder das der historischen Periodisierung. Andererseits wurde angestrebt, den jeweiligen Stand und die Entwicklung der Germanen-Romanen-Problematik in den Nachbardisziplinen (Sprachwissenschaft, Anthropologie, Geschichtswissenschaft) zu skizzieren, soweit sie für die Debatte in der Ur- und Frühgeschichte von Belang sind. 75

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H. S TEUER, Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995 – Begründung und Zielsetzung des Arbeitsgesprächs. In: Ders., Wissenschaft, 1–54, hier 1f. A. L ANDWEHR, Geschichte des Sagbaren. Einführung in die historische Diskursanalyse (Tübingen 2001) 35 f. Um den problematischen Kulturbegriff (Vgl. Kap. 6) zu vermeiden, verwende ich in der vorliegenden Arbeit nicht die traditionellen Bezeichnungen „Reihengräberkultur“ und „Reihengräberzivilisation“. „Reihengräberhorizont“ bezeichnet dagegen lediglich einen Zeitabschnitt, für den ein bestimmter Typus von Gräberfeldern charakteristisch war, ohne dass dieser zeitlich und räumlich scharf abgrenzbar wäre (Kap. 18a). Kap. 3b.

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Der zweite Teil der Arbeit behandelt ausführlich den Germanen-Romanen-Diskurs in der Frühmittelalterarchäologie von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute. Wie bereits erwähnt, liegt der Schwerpunkt dabei auf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wohingegen im 19. Jahrhundert nur bestimmte ausgewählte Abschnitte, die für den weiteren Verlauf bedeutsam waren, behandelt werden. Im dritten und letzten Teil der Arbeit wende ich mich abschließend der archäologischen Problematik zu, die in der Vergangenheit enger als jede andere mit der Germanen-Romanen-Problematik verbunden ist: Die Frage nach den Anfängen des Reihengräberhorizontes. Abschließend noch eine technische Bemerkung: Um dem Benutzer möglichst viel zeitraubendes Blättern zu ersparen, bildete jedes Kapitel eine selbstständige Zitiereinheit. Alle Arbeiten werden bei der ersten Erwähnung vollständig zitiert, bei nachfolgenden Anmerkungen wird dann mit einem Kurztitel auf die Erstnennung verwiesen. Auf eine Auswahl wichtiger Arbeiten, die in verschiedenen Kapiteln immer wieder erwähnt werden, verweist lediglich eine Nennung mit Autor und Kurztitel. Das vollständige Zitat dieser Arbeiten findet sich im „Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur“.

I. „Germanen“ und „Romanen“: eine wissenschaftliche Dichotomie in der interdisziplinären Diskussion

Einleitung

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2. „Germanen“ und „Romanen“: Ethnographische Kategorien? Ausgehend von Leopold von Rankes 1824 erschienenen „Geschichten der romanischen und germanischen Völker“1 stand für die west- und mitteleuropäische Historiographie lange Zeit unverrückbar fest, dass die Geschicke Europas nach dem Ende der Antike maßgeblich von zwei Volksgruppen bestimmt wurden: den „Germanen“ und den „Romanen“. Betrachtet man den gegenwärtigen Kenntnisstand in den verschiedenen altertumskundlichen Fächern, so verlieren beide Kategorien rasch ihre scheinbare Selbstverständlichkeit. Anders als die deutsche Geschichtswissenschaft viele Jahrzehnte vorausgesetzt hat, verberge sich, so Walter Pohl, hinter der Bezeichnung „Germanen“ kein „wirkungsmächtiger, seiner selbst bewusster Großverband“2. Jörg Jarnut forderte vor wenigen Jahren mit guten Gründen sogar, den Germanenbegriff außerhalb der Sprachwissenschaften ganz abzuschaffen.3 Auch die Tatsache, dass die Bezeichnung „Romanen“ ebenso wenig eine solche Einheit beschreibt, ist bereits seit längerer Zeit weit über die betreffenden Fachdisziplinen hinaus bekannt geworden: „Der aus der Sprachwissenschaft gewonnene Begriff „romanisch“ beinhaltet keine ethnische, kulturelle, historische oder politische Einheit; einzige Gemeinsamkeit der Romanen ist der lateinische Ursprung ihrer Sprachen.“4 Die Bezeichnungen Germanen und Romanen gehen auf antike Quellenbegriffe zurück, wurden aber durch eine jahrhundertelange Rezeptionsgeschichte tiefgreifend verändert. Nach heutiger Einschätzung bezeichneten die antiken Begriffe „Germani“ und „Romani“ deutlich andere Phänomene, als die, welche in den altertumskundlichen Fächern lange Zeit ganz selbstverständlich mit „Germanen“ und „Romanen“ assoziiert wurden. Will man das Verhältnis zwischen den antiken Bezeichnungen und ihren modernen Entsprechungen klären, so bildet die Frage, was in der Antike 1

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L. V. R ANKE , Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535 (Leipzig, Berlin 1824). P OHL , Germanen, IX. J ARNUT , Plädoyer. s. v. Romanen. In: Meyers Enzyklopädisches Lexikon. Bd. 20 (9Mannheim, Wien, Zürich 1977) 281.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ethnographische Kategorien?

und dem frühen Mittelalter unter „Germanen“ und „Romanen“ verstanden wurde, den Ausgangspunkt. Im Kontext der antiken Ethnographie erweisen sich die Begriffe „Germani“ und „Romani“ als ähnlich komplex wie ihre modernen Pendants. Nach einem Überblick über die ethnographische Begriffsbildung wende ich mich deshalb den Germanen und Franken in der Antike und dem frühen Mittelalter zu, um anschließend die „Romanen“ zu behandeln. Die terminologischen Probleme in Bezug auf „Germanen“ und „Romanen“ gehen vor allem auf die unterschiedlichen Herangehensweisen in den beteiligten Fächern zurück. Hier herrscht eine erstaunliche Begriffsverwirrung, die letztlich vor allem auf das Konzept des „Volkes“ als einer Menschengruppe mit gemeinsamen objektivierbaren Merkmalen wie Sprache und Kultur zurückzuführen ist. Diese Verwirrung ist dadurch entstanden, dass die verschiedenen altertumskundlichen Fächer ihre jeweiligen Klassifikationen mit denselben, ethnischen Bezeichnungen versehen haben. So verfügen die Geschichtswissenschaft, die Sprachwissenschaft, die Ur- und Frühgeschichte und die Anthropologie über jeweils ganz eigene Definitionen, was als „germanisch“ zu bezeichnen ist. Hinzu kommt, dass sich diese verschiedenen modernen Germanenbegriffe ganz wesentlich von denen der Antike unterscheiden.5 Abgesehen von der Frage, ob die als „germanisch“ bezeichneten fachinternen Klassifikationen wirklich tragfähig sind, was im Gegensatz zur Sprachwissenschaft bei der Ur- und Frühgeschichte mindestens fraglich und bei der Anthropologie sicher zu verneinen ist, sind diese Begriffe darüber hinaus nicht selbstverständlich in Übereinstimmung zu bringen, wie dies ältere Volksvorstellungen paradigmatisch vorausgesetzt haben. In dem Zuge, in dem das „Volk“ seine Stellung als zentrale historische Kategorie einbüßte, verloren die verschiedenen Disziplinen auch einen gemeinsamen Bezugspunkt, durch den sich die Beiträge der beteiligten Fächer scheinbar mühelos integrieren ließen. Ob es einen solchen „allgemeinen interdisziplinären Germanenbegriff“ überhaupt geben kann, ist gegenwärtig mehr als ungewiss.6 Die derzeit gängigen fachspezifischen Germanenbegriffe sind jedenfalls weitgehend unvereinbar.7 5

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M. S PRINGER, Zu den begrifflichen Grundlagen der Germanenforschung. Abhandl. Ber. Staatl. Mus. Völkerkde. Dresden 44, 1990, 169–177, hier 170. – S. F EIST , Germanen und Kelten in der antiken Überlieferung (Halle 1927) 28. R. W ENSKUS, Über die Möglichkeit eines allgemeinen interdisziplinären Germanenbegriffs. In: H. Beck (Hrsg.), Germanenprobleme in heutiger Sicht. Ergbd. RGA 1 (Berlin, New York 1986), 1–21, bes. 3. D. T IMPE , Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde, I: Geschichte. In: Beck u. a, Germanen, 11.

Ethnographische Begriffsbildung in der Antike

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a) Ethnographische Begriffsbildung in der Antike Die Geschichtswissenschaft ist zweifellos die Wissenschaft, die am ehesten eine quellengerechte Verwendung des Germanenbegriffs für sich reklamieren kann; schließlich sind die Germanenbegriffe der Nachbardisziplinen von dem der antiken Schriftquellen abgeleitet. Allein aufgrund ihrer Quellen können weder die Sprachwissenschaft, die Archäologie,8 noch die Anthropologie die Frage lösen, was sinnvoll als „germanisch“ zu benennen ist.9 Welche Personengruppen in der Antike als „Germanen“ bezeichnet wurden und welche Wandlungen der Inhalt dieses Begriffs sukzessive durchlaufen hat, ist Gegenstand einer umfangreichen Literatur.10 Für den hier behandelten Sachverhalt reicht es aus, einige Kernpunkte festzuhalten. Bei der Verwendung ethnischer Terminologien ist zwischen der Außenwahrnehmung und dem für die Definition der ethnischen Gruppe entscheidenden Selbstverständnis zu unterscheiden. Die zweitgenannte Perspektive ist bei den Germanen mangels Quellen fast gänzlich zu vernachlässigen: Über das Selbstverständnis der als Germanen bezeichneten Personen ist im Grunde kaum etwas bekannt. Die Behandlung der Frage, was unter Germanen zu verstehen ist, muss deshalb weitgehend auf die Wahrnehmung von außen beschränkt bleiben. Inhaltlich können Fremd- und Selbstwahrnehmung eng korrespondieren, mitunter aber auch weit auseinander klaffen; in manchen Fällen steht der Außenbezeichnung überhaupt keine Entsprechung im Selbstverständnis der Betroffenen gegenüber. Eine Selbstidentifikation bestimmter Personen oder Personengruppen als „Germanen“ ist nach heutigem Kenntnisstand allenfalls dadurch zustande gekommen, dass die römische Fremdbezeichnung als Selbstbezeichnung rezipiert wurde.11 8

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R. H ACHMANN , Der Begriff des Germanischen. Jahrb. f. Internat. Germanistik 7, 1975, 113–144, bes. 117. – A. A. L UND , Die ersten Germanen. Ethnizität und Ethnogenese (Heidelberg 1998) 26. T IMPE , Germanen (wie Anm. 7) 13. Außer den bereits zitierten Arbeiten vgl. u. a. auch: A. A. L UND , Zum Germanenbild der Römer. Eine Einführung in die antike Ethnographie (Heidelberg 1990). – D. T IMPE , Rom und die Barbaren des Nordens. In: M. Schuster (Hrsg.), Die Begegnung mit dem Fremden. Colloquium Rauricum 4 (Stuttgart, Leipzig 1996) 34–50. – C HR. T RZASKA -R ICHTER, Furor teutonicus. Das römische Germanenbild in Politik und Propaganda von den Anfängen bis zum 2. Jahrhundert n. Chr. (Trier 1991). – B. G ÜNNEWIG , Das Bild der Germanen und Britannier. Untersuchungen zur Sichtweise von fremden Völkern in antiker Literatur und moderner wissenschaftlicher Forschung (Frankfurt 1998). T IMPE , Germanen (wie Anm. 7) 11; 14.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ethnographische Kategorien?

Für den größten Teil der im Laufe der Zeit als „Germanen“ bezeichneten Personengruppen scheint letzteres der Fall zu sein: ein Volk, das sich selbst als „Germanen“ bezeichnete, hat es, wie bereits erwähnt, möglicherweise niemals gegeben.12 Beim Begriff der Germanen handelt es sich um eine Fremdbezeichnung.13 Die Forschung zur Aussagekraft der antiken ethnographischen Quellen hat diesbezüglich in den letzten Jahren deutliche Positionen formuliert. Diesen zufolge wurden die Germanen nicht von den Römern „entdeckt“, sondern „konstruiert“14 bzw. „erfunden“15. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich bei den „Germanen“ nicht um eine stabile historische Gemeinschaft gehandelt hat, die anhand objektiver Kriterien, z.B. Sprache oder Kultur, von ihren Nachbarn, insbesondere den Kelten, abzugrenzen gewesen wäre; sie wurden vielmehr anhand subjektiver, politisch motivierter Kriterien aus römischer Sicht definiert. Die Ursache hierfür ist nicht eine vermeintliche Unzulänglichkeit der antiken Ethnographen, sondern reicht tiefer: Auch in der modernen Ethnographie ist umstritten, ob es „objektive“ Klassifikationen überhaupt geben kann, und, falls ja, wie diese gegebenenfalls durchzuführen wären. Je nachdem, ob man einen „objektivistischen“ oder einen „subjektivistischen“ Standpunkt bei der Klassifikation vertritt bzw. von einem „primordialen“ oder „formalistischen“ Modell von Ethnizität ausgeht,16 fallen die Ergebnisse der Klassifikation unter Umständen sehr verschieden aus. Einen festen Merkmalskatalog, der als Grundlage für eine „objektive“ Klassifikation dienen könnte, gibt es heute weniger denn je. Vor dem Hintergrund des hier behandelten Themas muss vor allem betont werden, dass die in der Forschung seit dem 19. Jahrhundert weit verbreitete Praxis, Sprachgruppen mit Völkern gleichzusetzen, grundsätzlich abzulehnen ist. Wilhelm Mühlmann verwendet in diesem Zusammenhang die treffende Formulierung von den „Pseudovölkern der Linguistik“.17 Die Auffassung, Sprache sei das entscheidende Kriterium für die Definition eines Volkes, ist vielmehr modern und stammt weitgehend aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert.18 12 13 14 15

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P OHL , Germanen, 1. T IMPE , Germanen (wie Anm. 7) 10 f. – P OHL , Germanen, 1. L UND , Germanen (wie Anm. 8) 11 ff. Vgl. A. A. L UND , Die Erfindung der Germanen. Der altsprachliche Unterricht 38/2, 1995, 4–20. H EINZ , Ethnizität, 261–288. – J ONES, Ethnicity, 56–72. W. E. M ÜHLMANN , Ethnogonie und Ethnogenese. Theoretisch-ethnologische und ideologiekritische Studie. In: Studien zur Ethnogenese, Bd. 1. Abhandl. Rhein.-Westfäl. Akad. Wiss 72 (Opladen 1985) 9–26, hier 15 f. P OHL , Germanen, 45 f. – Vgl. Kap. 4a.

Ethnographische Begriffsbildung in der Antike

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Die Vorstellung, dass sich Völker anhand objektivierbarer Merkmale voneinander trennen lassen, war in der antiken ethnographischen Tradition geläufig. So gingen die antiken Autoren davon aus, dass sich die barbarischen Völker hinsichtlich Sprache, Kleidung, Sitten, Recht, Kampfesweise etc. unterschieden.19 Die permanenten Widersprüche zwischen den Angaben der verschiedenen antiken Autoren bei der Benennung der spezifischen Merkmale eines bestimmten Volkes belegen jedoch,20 dass nicht die konkrete Beobachtung der Ausgangspunkt ihrer ethnographischen Klassifikation war. Entsprechende Darstellungen wurden vielmehr maßgeblich durch die Traditionen literarischer Gestaltung beeinflusst. Die Erwartungen des Lesepublikums, das mit den Stereotypen der antiken Barbarentopik vertraut war, konnten dabei nicht außer Acht gelassen werden. Keinesfalls war es die primäre Intention der antiken Ethnographen, möglichst objektiv über ihren Gegenstand zu berichten. Ethnographische Darstellungen bildeten in der Antike kein eigenständiges literarisches Genre. Die übliche Form war die eines Exkurses innerhalb historischer oder geographischer Werke. Diese Exkurse sollten Hintergrundinformationen bieten und die Leser unterhalten.21 Selbst Autoren wie Caesar, die über den Gegenstand ihrer Ausführungen aus eigener Anschauung gut informiert waren, konnten diese Regeln gegebenenfalls zwar modifizieren, niemals aber einfach übergehen.22 Teilweise verzichteten sie aufgrund ihrer literarischen Konzeption darauf, ihre Darstellung auf eigenen Kenntnissen aufzubauen und schöpften stattdessen bevorzugt aus sekundären Quellen, wie Ammianus Marcellinus.23 Jede sich auf die Germanen beziehende Überlieferung ist durch den Filter der literarischen Gestaltung in der Tradition der antiken Ethnographie auf uns gekommen. Die diesbezüglichen Quellen erlauben deshalb primär Aussagen über das Weltbild der antiken Ethnographen und es bedarf sorgfältiger Untersuchungen, um herauszufinden, in welchem Maße die Überlieferung überhaupt Schlüsse auf die beschriebene Bevölkerung zulässt. Bereits seit langem ist bekannt, dass die antike ethnographische Literatur von vielfältigen ethnographischen, geographischen, historiographi19 20

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Belege dazu bei P OHL , Difference, 17 f. Exemplarisch anhand der Spätantike und des frühen Mittelalters: P OHL , Difference, 22–61. L UND , Germanenbild (wie Anm. 10) 19. D. T IMPE , Ethnologische Begriffsbildung in der Antike. In: Beck, Germanenprobleme (wie Anm. 6) 22–40, hier 31. A. M OMIGLIANO, Der einsame Historiker Ammianus Marcellinus. In: Ders., Ausgewählte Schriften zur Geschichte und Geschichtsschreibung, Bd. 1 (Stuttgart, Weimar 1998) 373–386, hier 383 f.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ethnographische Kategorien?

schen und poetischen Topoi durchzogen ist, die in stereotyper Form zur Beschreibung ganz unterschiedlicher Völker benutzt werden konnten.24 Bei Tacitus’ Bemerkung, die Germanen seien ein unvermischtes und nur sich selbst gleiches Volk (tantum sui similes gens), – eine Textstelle, die besonders viele unheilvolle Interpretationen über sich ergehen lassen musste – handelt es sich um einen wohl auf Poseidonios zurückgehenden Topos, mit dem in gleicher Weise auch Skythen und Ägypter beschrieben worden waren.25 Der weitgehend topische Charakter antiker ethnographischer Quellen war zwar durch die Arbeiten Karl Trüdingers26 und Eduard Nordens27 bereits seit etwa 1920 bekannt, es dauerte jedoch bis in die 1970er Jahre, bis sich die Mehrheit der deutschsprachigen Forschung endgültig mit der begrenzten ethnographischen Aussagekraft der antiken Quellen abfand.28

b) Der antike Germanenbegriff Antike Ethnographen klassifizierten fremde Bevölkerungsgruppen auf zwei Ebenen. Auf einer übergeordneten Ebene unterteilte man die Barbaren in Großverbände wie Skythen, Thraker, Kelten oder Libyer. Bei den nicht selten auftretenden Zuordnungsproblemen konnten zwei Kategorien miteinander kombiniert werden, in der Weise, dass beispielsweise ein bis dahin unbekannter Verband als „Kelto-Skythen“ bezeichnet wurde. Diese Großverbände wurden wiederum in Untereinheiten, „Stämme“, unterteilt.29 Terminologisch wurden diese beiden Ebenen von den antiken Ethnographen allerdings nicht unterschieden.30 24

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30

K. E. M ÜLLER, Geschichte der antiken Ethnographie und ethnologischen Theoriebildung. Von den Anfängen bis auf die byzantinischen Historiographen. 2 Bde (Wiesbaden 1972 und 1980). – Zur Forschungsgeschichte über die antiken ethnographischen Topoi: G ÜNNEWIG , Bild der Germanen (wie Anm. 10) 9–24. – Zu den wichtigsten Topoi der Germanendarstellung insgesamt: K. v. S EE , Der Germane als Barbar. In: Ders., Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen (Heidelberg 1994) 31–60. E. N ORDEN , Die germanische Urgeschichte in Tacitus Germania (Stuttgart 1920) 115. K. T RÜDINGER, Studien zur Geschichte der griechisch-römischen Ethnographie (Basel 1918). N ORDEN , Urgeschichte (wie Anm. 25). G ÜNNEWIG , Bild der Germanen (wie Anm. 10) 239 ff. T IMPE , Germanen (wie Anm. 7) 8. – Dem widerspricht nicht, dass es bisweilen ethnographische Klassifikationen gibt, die auf einer mittleren Ebene zwischen diesen beiden Kategorien anzusiedeln sind. T IMPE , Begriffsbildung (wie Anm. 22) 33. T IMPE , Begriffsbildung (wie Anm. 22) 34.

Der antike Germanenbegriff

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Bei den „Germanen“ handelt es sich um eine Großgruppe der übergeordneten Ebene, d. h. um einen klassifikatorischen Sammelbegriff, der Personengruppen wechselnden Umfangs bezeichnen konnte.31 Ein Gemeinschaftsgefühl der auf dieser Ebene klassifizierten Personengruppen ist in keiner Weise nachzuweisen und wohl weitgehend auszuschließen.32 Damit fehlt den Germanen nach gegenwärtigem Kenntnisstand jenes Merkmal, das heute als entscheidend für die Definition einer im modernen Wortsinn „ethnischen“ Gruppe angesehen wird: Ein Gemeinschaftsgefühl, das von dem Glauben an eine gemeinsame Abstammung herrührt.33 Mit anderen Worten: Bei den Germanen hat es sich zwar durchaus um einen „Ethnos“ im antiken Wortsinn, nicht aber um eine „Ethnie“ oder ein „Volk“ nach modernem Verständnis gehandelt. Die Bedeutung des Germanennamens als ethnographische Sammelbezeichnung geht weitgehend auf Caesar zurück. Die vorcaesarischen Ethnographen kannten nur zwei Großverbände in Mitteleuropa, nämlich Kelten und Skythen. Erst Caesar führte die „Germanen“ als dritte, geographisch zwischen beiden Gruppen angesiedelte Kategorie ein.34 Allerdings setzte sich diese Klassifikation in der Antike nicht allgemein durch. Die griechischsprachigen Ethnographen übernahmen die neue Kategorie nicht, sondern unterschieden weiterhin nur zwischen Kelten und Skythen; die Germanen wurden dabei als Untergruppe der Kelten angesehen.35 Dieser Befund gab im Laufe der Forschungsgeschichte wiederholt Anlass für die Deutung, dass es sich bei Germanen nicht um eine eigenständige Gruppe, sondern in Wirklichkeit um (im sprachlichen Sinne) Kelten gehandelt habe.36 Was der Name der „Germanen“ im etymologischen Sinne bedeutet, ist bis heute ungeklärt. Alle vorgeschlagenen Etymologien sowohl aus den germanischen als auch den keltischen Sprachen sind wenig überzeugend. Am 31 32 33

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35 36

T IMPE , Germanen (wie Anm. 7) 14. Ebd. – P OHL , Germanen, 10; 50 f. „Wir wollen solche Menschengruppen, welche auf Grund von Aehnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitten oder beider oder von Erinnerungen an Kolonisation und Wanderung einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinsamkeit hegen, derart, daß dieser für die Propagierung von Vergemeinschaftungen wichtig wird, dann, wenn sie nicht „Sippen“ darstellen, „ethnische“ Gruppen nennen.“ M. W EBER, Wirtschaft und Gesellschaft (5Tübingen 1980) 237. – Vgl. auch B RATHER, Identitäten, 160. – P OHL , Germanen, 9. Dazu T IMPE , Germanen (wie Anm. 7) 8–10. – L UND , Germanen, 36–57. – T RZASKA R ICHTER, Furor (wie Anm. 8) 87 ff. P OHL , Germanen, 3. – H ACHMANN , Begriff (wie Anm. 8) 121. So etwa bei A. H OLTZMANN , Kelten und Germanen. Eine historische Untersuchung (Stuttgart 1855). – Vgl. auch F EIST , Germanen (wie Anm. 5) 29 f.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ethnographische Kategorien?

wenigsten angreifbar scheint derzeit eine Herleitung aus dem Lateinischen, von „germanus“ „echt“ oder „Bruder“.37 Eine Herkunft des Germanennamens aus dem Lateinischen entspräche auch der bereits erwähnten Tatsache, dass die antike Bedeutung des Begriffs „Germanen“ als geographische Sammelbezeichnung für die Bevölkerung jenseits des Rheins von den Römern geprägt wurde. Die Germania im geographischen Sinn bildete den Ausgangspunkt für Tacitus’ Beschreibung der Germanen am Ende des ersten Jahrhunderts.38 Dieser Germania als geographische Bezeichnung für den rechtsrheinischen Raum war im Gegensatz zu den Germanen als ethnographischer Kategorie in der Folge eine wichtige und langlebige Funktion beschieden. Während der Germanenbegriff im Laufe der Spätantike allmählich ungebräuchlich und erst in der Renaissance wiederbelebt wurde, blieb die Germania während des gesamten Mittelalters geläufig. In der Tradition Caesars behielt Tacitus den Rhein als Westgrenze der Germania bei, klammerte also die linksrheinischen germanischen Provinzen ebenso aus, wie die meisten seiner Nachfolger. Über den Verlauf der Ostgrenze der Germania waren sich die Autoren der Antike dagegen stets unsicher, während die Südgrenze entweder an der Donau oder den Alpen angegeben wurde.39 Die Vorstellung, der Rhein bilde die Grenze zwischen der Gallia und der Germania, geriet das gesamte Mittelalter über nicht in Vergessenheit.40 Oben wurde bereits erwähnt, dass die antiken Ethnographen ihre Kategorien nicht nach objektiven Kriterien bildeten, sondern weitgehend subjektiv klassifizierten. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Vorstellung, die Völker unterschieden sich durch objektivierbare Merkmale voneinander, in der Antike unbekannt war. Für den hier behandelten Sachverhalt ist vor allem die Frage der Bedeutung der Sprache als distinktives Merkmal von Belang. Bis in jüngere Zeit legte die ur- und frühgeschichtliche Archäologie bei ihren Interpretationen die Vorstellung zugrunde, die sprachliche Zuge37

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S. Z IMMER, Germani und die Benennungsmotive für Völkernamen in der Antike. In: H. Beck u. a. (Hrsg.), Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen. Ergbde RGA 34 (Berlin, New York 2004) 1–23, bes. 1–7. A. A. L UND , Zum Germanenbegriff bei Tacitus. In: Beck, Germanenprobleme (wie Anm. 6) 53–81, hier 56. M. L UGGE , „Gallia“ und „Francia“ im Mittelalter. Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen geographisch-historischer Terminologie und politischem Denken vom 6.–15. Jahrhundert. Bonner Hist. Forsch. 15 (Bonn 1960) 12 ff. L UGGE , Gallia und Franica (wie Anm. 39) 93 ff. – G. T ELLENBACH , Zur Geschichte des mittelalterlichen Germanenbegriffs. Jahrb. f. Internat. Germanistik 6, 1974, 145–165, hier 152 ff.

Der antike Germanenbegriff

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hörigkeit habe die ethnische und kulturelle Zugehörigkeit eines Menschen bestimmt: „ein Mensch, der sich der einheimischen Bevölkerungsgruppe zugehörig fühlte, sprach als Muttersprache „romanisch“, ein Mensch, der sich als Franke fühlte, „fränkisch“ “.41 So einleuchtend diese Ansicht auf den ersten Blick erscheinen mag, so steht sie dennoch im Widerspruch zum gegenwärtigen Kenntnisstand in der Geschichtswissenschaft. Welche Sprache die als „Germanen“ bezeichneten Personengruppen tatsächlich sprachen, ist im Einzelfall ungewiss. Verschiedene Beispiele zeigen, dass der antike Volksbegriff nicht sprachlich definiert war:42 Das „Gotische“ ist beispielsweise moderner sprachlicher Definition zufolge das bedeutendste Beispiel einer altgermanischen Sprache. In den antiken Quellen wurden die „gotischen Völker“ jedoch niemals den Germanen zugerechnet, sondern den Skythen bzw. Sarmaten, Alanen und Hunnen.43 Deshalb ist es nur konsequent, wenn in einer kürzlich erschienenen Einführung zum Thema „Die Germanen“ die Goten nicht mehr berücksichtigt werden.44 Auch die kaiserzeitlichen Bewohner Skandinaviens, die aller Wahrscheinlichkeit nach eine „germanische“ Sprache sprachen, zählten ethnographisch nicht zu den Germanen. Dagegen sprach jene ethnische Gruppe, die sich möglicherweise als einzige selbst als Germanen betrachtete, nämlich die caesarischen germani cisrhenani, wahrscheinlich keine germanische, sondern eine keltische Sprache.45 „Germanen“ im frühen Mittelalter In der Spätantike wurde die Verwendung des Germanennames allmählich unüblich, in der Merowingerzeit ist er als Ethnonym kaum noch geläufig. Wo man ihn im frühen Mittelalter noch verwendete, handelte es sich in aller Regel um einen veralteten Sprachgebrauch, auf den Autoren dann zurückgriffen, wenn sie ihre Darstellung unmittelbar aus älteren Vorlagen kompilierten.46 Gelegentlich wurde er im Zusammenhang mit der geographischen Bezeichnung Germania gebraucht, d. h. wenn von Verbänden

41 42 43 44 45 46

S TEIN , Bevölkerungsverhältnisse, 69. H ACHMANN , Begriff (wie Anm. 8) 125. S PRINGER, Germanenbegriff (wie Anm. 5) 169 f. – P OHL , Germanen, 3. So bei P OHL , Germanen. P OHL , Germanen, 3. So etwa bei Jordanes, Cassiodor und Orosius: N. W AGNER, Der völkerwanderungszeitliche Germanenbegriff. In: Beck, Germanenprobleme (wie Anm. 6) 130–154, hier 135; 145.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ethnographische Kategorien?

die Rede war, die vom Gebiet der Germania aus operierten.47 Für die Beschreibung aktueller ethnographischer Zustände bediente man sich hingegen seit dem Ende des 3. Jahrhunderts zunehmend neugeschöpfter kleinräumiger Stammesbezeichnungen, wie Franken oder Alemannen. Anders als die zeitgleiche Verwendung des Germanennamens orientierten sich diese Bezeichnungen an aktuellen politischen und militärischen Realitäten.48 Die Franken als ethnographische Kategorie Für die hier behandelte Fragestellung ist der Frankenname am wichtigsten. Festzuhalten ist, dass die Franken aus ethnographischer Sicht nicht selbstverständlich als Zweig der übergeordneten Völkerfamilie der Germanen anzusehen sind. Eine solche Zuordnung ist allein aufgrund der modernen linguistischen Klassifikation möglich, den Angaben der antiken Ethnographen ist sie dagegen nicht zu entnehmen. Die Terminologie in den antiken Quellen ist vielmehr sehr uneinheitlich. Jordanes etwa beschrieb Germanen und Franken als zwei unterschiedliche Völker, die sich als Bewohner des gleichen geographischen Gebiets nacheinander ablösten: ihm zufolge bewohnten die Germanen einst jene Länder, welche nun die Franken inne hätten.49 Prokop verwendete den Frankennamen teils synonym zu Germanen, teils als Überbegriff für die am Rhein siedelnden Völker insgesamt.50 Agathias war dagegen der Meinung, bei den Franken müsse es sich um die seit alters her bekannten Germanen insgesamt handeln.51 Als eine übergeordnete Kategorie sah er die Germanen indes nicht an: Die Burgunden rechnete er den gotischen Völkern zu, die Zugehörigkeit der Alemannen blieb unklar.52 In einem anderen Text aus den frühen Scriptores historiae augustae wurden dagegen die Alemannen insgesamt mit den Germanen gleichgesetzt: „Alamannos, qui tunc adhuc Germani dicebantur “.53 Auf die Entwicklung des Frankennamens hatte die römische Außenperspektive ebenfalls einen bedeutenden Einfluss. Sicher belegt ist der Fran-

47 48 49 50 51 52 53

W AGNER, Germanenbegriff (wie Anm. 46) 148. W AGNER, Germanenbegriff (wie Anm. 46) 148. Jordanes, Getica, 67. W AGNER, Germanenbegriff (wie Anm. 46) 138 Agathias, 1,2. – Vgl. W AGNER, Germanenbegriff (wie Anm. 46) 141. W AGNER, Germanenbegriff (wie Anm. 46) 142. Quadr. Tyr. 13,3. – Vgl. W AGNER, Germanenbegriff (wie Anm. 46) 146.

Der antike Germanenbegriff

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kenname erstmals gegen Ende des 3. Jahrhunderts.54 Die frühesten Nennungen beziehen sich auf das Nordseeküstengebiet und sind verbunden mit Berichten über Seeräuberei.55 Im Laufe des 4. Jahrhunderts weitet sich der Bedeutungsinhalt des Begriffs erheblich aus, ohne dass die Hintergründe dieser Entwicklung deutlich würden. Ob es sich dabei um eine bloße Erweiterung einer Fremdbezeichnung durch die Römer handelte, oder ob diese Bedeutungsveränderung politische Prozesse bei den Bezeichneten widerspiegelte, ist mangels Quellen nicht zu entscheiden. Denkbar wäre ein Zusammenschluss kleinerer Stämme zu einer Föderation, die Unterwerfung benachbarter Stämme durch die frühen Träger des Frankennamens oder die freiwillige Übernahme des Frankennamens als „zukunftsträchtiges Programm“ durch die Anrainer.56 Aus römischer Perspektive wurde der Begriff zur Bezeichnung aller barbarischen Bevölkerungsgruppen am Niederrhein, analog zur Benennung der Anwohner des Oberrheingebiets als Alemannen.57 Unbekannt ist, ob mit der Fremdbezeichnung „Franken“ ein entsprechendes Selbstverständnis verbunden war,58 was im Übrigen auch für die Alemannen gilt.59 Erste Zeugnisse eines fränkischen Selbstbewusstseins stammen bereits aus einem anderem Milieu: Der erstaunlichste Aufstieg der Franken vollzog sich innerhalb der Institutionen des römischen Imperiums. Seit der Mitte des 4. Jahrhunderts erlangten Militärs fränkischer Herkunft die höchsten Positionen im römischen Heer, drei Heermeister fränkischer Abstammung bekleideten sogar den Konsulat. Parallel zu dieser Entwicklung siedelte die römische Reichsregierung im Laufe des 4. und 5. Jahrhunderts wiederholt fränkische Gruppen in Gallien an. Die vielzitierte Grabinschrift aus Pannonien: „Francus ego cives, Romanus miles in armis“60 lässt eine ausgeprägte fränkisch-römische Mischidentität erkennen, die für viele römische Militärs barbarischer Abstammung charakteristisch gewesen sein dürfte. In den römischen Quellen wurde das Verhältnis von Germanen und dem römischen Imperium auf der Grundlage der ethnographisch-ideologischen Dichotomie Römer-Barbaren geschildert. In leicht modifizierter 54

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E. S EEBOLD , Wann und wo sind die Franken vom Himmel gefallen? Beitr. z. Gesch. d. dt. Sprache u. Literatur 122/1, 2000, 40–56, hier 44 ff. S EEBOLD , Franken (wie Anm. 54) 52 in Anlehnung an W. J. DE B OONE , De Franken van hun eerste optreden tot de dood van Childerik (Amsterdam 1954) 16. S EEBOLD , Franken (wie Anm. 54) 53. P OHL , Germanen, 29. P OHL , Germanen, 35. G EUENICH , Alemannen, 10. CIL III, 3576 (Aquincum).

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„Germanen“ und „Romanen“: Ethnographische Kategorien?

Weise überlebte dieses Wahrnehmungsschema sogar das Ende des römischen Reiches, obwohl seit dem Ende des 4. Jahrhunderts eine schier unüberbrückbare Kluft aufgetreten war zwischen der Ideologie der Überlegenheit der Römer über die Barbaren einerseits und der faktischen Rolle der Barbaren in weiten Teilen des Reiches andererseits.61 Während des 5. Jahrhunderts verloren die Begriffe „römisch“ und „barbarisch“ endgültig ihren ursprünglichen Bedeutungskontext.62 Deshalb ist fraglich, in welchem Maße dieses quellenbedingte Raster einen angemessenen Zugang zu den politischen und kulturellen Zuständen der Spätantike erlaubt. Auch aus anderen Zusammenhängen in der Alten Geschichte ist bekannt, dass bestimmte ideologiebedingte Wahrnehmungsmuster antiker Autoren in geradezu diametralem Gegensatz zur zeitgenössischen sozialen Realität standen. In solchen Fällen erlaubt erst ein die Quellenperspektive abstrahierender Standpunkt, etwa im Stile der Historischen Anthropologie, der Forschung eine realistische Einschätzung des Sachverhaltes.63 Für das Verständnis des Aufstiegs der Franken ist, wie Walter Pohl betont, die Wahrnehmung durch das ideologische Schema „Römer – Barbaren“ eher hinderlich.64 Während die politisch-militärischen Stationen des Aufstiegs der Franken vergleichsweise gut zu erkennen sind, entziehen sich die ethnisch-demographischen Dimensionen weitgehend dem Zugriff der historischen Forschung. Lange Zeit ging der überwiegende Teil der Forschung von einer parallel zur militärischen Expansion der frühen Merowingerherrscher stattfindenden, umfassenden fränkischen Migration nach Gallien aus. Diese These findet indessen keinen Rückhalt in den zeitgenössischen Quellen, es handelt sich dabei vielmehr um eine fehlerhafte historiographische Konstruktion des 19. Jahrhunderts.65 Von der Vorstellung einer regelrechten „fränkischen Landnahme“ nahm die Forschung in den letzten Jahren wohl endgültig Abstand.66 Auch die lange akzeptierte ethnische Zweiteilung der 61

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P. H EATHER, The Barbarian in Late Antiquity. Image, reality and transformation. In: R. Miles (Hrsg.), Constructing identities in Late Antiquity (London, New York 1999) 234–258. Vgl. Kap. 17b. Vgl. z. B. die Ausführungen Egon Flaigs zur Funktion des römischen Donativs: E. F LAIG , Geschichte ist kein Text. „Reflexive Anthropologie“ am Beispiel der symbolischen Gaben im römischen Reich. In: H. W. Blanke u. a. (Hrsg.), Geschichtstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Geschichtskultur heute. Jörn Rüsen zum 60. Geburtstag (Köln, Weimar, Wien 1998) 345–360. P OHL , Germanen, 36. W ERNER, Conquête franque. B ÖHME , Söldner, 101.

Der antike Germanenbegriff

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frühen Franken in einen salischen und ripuarischen Zweig wurde mit gewichtigen Gründen in Zweifel gezogen.67 Zwar ist die Diskussion um die Bedeutung der Begriffe Salier und Ripuarier sicher noch nicht abgeschlossen, die Auffassung, es habe sich dabei um die Bezeichnung zweier fränkischer Teilstämme gehandelt, wird aber in Zukunft wohl kaum aufrecht erhalten werden können. Durch diese Erkenntnisse stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen den spätantiken (rechtsrheinischen) Franken und denen des merowingerzeitlichen Frankenreichs noch dringlicher. Auf der Grundlage des heutigen Kenntnisstandes kann keinesfalls mehr vorausgesetzt werden, dass sie genetisch auseinander hervorgingen. Aus heuristischen Gründen erscheint es deshalb ratsam, analytisch zwischen beiden Gruppen zu unterscheiden. Auch im Falle der merowingerzeitlichen Franken stellt sich die Frage, welche Personengruppen im Merowingerreich damit bezeichnet wurden. Diese Problematik ist eng verknüpft mit der Frage der ethnischen Identität der merowingerzeitlichen Franken, auf die ich an anderer Stelle ausführlich eingehen werde.68 Zunächst ist festzuhalten, dass mit den Franci der merowingerzeitlichen Quellen keine vorwiegend sprachlich, sondern eine politisch und sozial definierte Gruppe gemeint war. Eugen Ewig hat in seinem grundlegenden Artikel über die Entwicklung der ethnischen Identitäten im merowingerzeitlichen Frankenreich bereits vor mehreren Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass gerade die gentile Volksauffassung des frühen Mittelalters einem linguistischen Volksbegriff entgegenstand.69 Für das historische Bewusstsein des frühen Mittelalters war das sprachliche Moment nur von sekundärer Bedeutung.70 Erst in der Karolingerzeit ist in dieser Hinsicht ein Wandel festzustellen. Von den Zeitgenossen wurden sprachliche Zustände nun zunehmend in diesem Sinne wahrgenommen. Deutlich wird dies etwa in der bekannten Textstelle, in der ein Kommentator des Liber historiae Francorum darauf verfiel, die Tatsache, dass die Franken keine germanische Sprache 67

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M. S PRINGER, Gab es ein Volk der Salier? In: D. Geuenich / W. Haubrichs / J. Jarnut (Hrsg.), Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft frühmittelalterlicher Personennamen. Ergbde RGA 16 (Berlin, New York 1997) 58–83. – D ERS., „Riparii“ – Ribuarier – Rheinfranken nebst einigen Bemerkungen zum Geographen von Ravenna. In: Geuenich, Franken und Alemannen, 200–269. Vgl. Kap. 7d. E WIG , Volkstum, 273. E. E WIG , Das Fortleben römischer Institutionen in Gallien und Germanien. In: Ders., Spätantikes und fränkisches Gallien. Bd. 1 (München 1976) 409–434, hier 430. (Erstdruck 1955). – F. R EXROTH , s.v. Franken § 25: Kulturgeschichtliche Aspekte. In: RGA2, Bd. 9 (Berlin, New York 1995) 447–461, hier 449.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ethnographische Kategorien?

sprachen, dadurch zu erklären, dass die Franken, bevor sie alle Römer in Gallien töteten, noch deren Sprache übernommen hätten.71

c) Die Romani: Römer – Romanen – Rhomäer? Romani und Rhomaioi in den antiken Quellen Während im Falle der frühmittelalterlichen „Germanen“ festzustellen ist, dass die Forschung die Vielzahl der in den Schriftquellen überlieferten Gruppenbezeichnungen unter einem in dieser spezifischen Bedeutung modernen Sammelbegriff zusammenfasst, ist auf der anderen Seite die entgegengesetzte Tendenz zu beobachten: Dem Terminus lat. „Romani“ bzw. griech. „Rhomaioi“ stehen in der deutschsprachigen Forschungstradition gleich mehrere moderne begriffliche Entsprechungen gegenüber: „Römer“, „Rhomäer“ und „Romanen“. Bevor ich auf die Bedeutung dieser Begriffe im frühen Mittelalter näher eingehe, soll zunächst die Entwicklung des Begriffs Romani bzw. Rhomaioi skizziert werden. Ursprünglich bezeichnete Romani die Bewohner Roms im Gegensatz zu den Latini, den Bewohnern Latiums.72 Mit der Expansion des Römischen Reiches wurde der Inhalt des Begriffs ausgeweitet. Durch die Verleihung des römischen Bürgerrechts an alle freien Bewohner des Römischen Reiches durch Kaiser Caracalla verlor er seine rechtliche Qualität. Als Alterität zu Romani diente zunehmend der Terminus Barbari, mit dem alle außerhalb des Reiches ansässigen Völker bezeichnet wurden.73 Romani war ein politischer Begriff, der alle Bewohner des Römischen Reiches mit einschloss, auch die Bewohner der überwiegend griechischsprachigen öst71

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E WIG , Volkstum, 273. – W.-D. H EIM , Romanen und Germanen in Charlemagnes Reich. Untersuchungen zur Benennung romanischer und germanischer Völker, Sprachen und Länder in französischen Dichtungen des Mittelalters. Münstersche Mittelalter-Schr. 40 (München 1984) 28f Die Quellenbelege wurden erstmals in einem bis heute vielzitierten Aufsatz von Gaston Paris zusammengestellt: G. P ARIS, Romani, Romania, lingua romana, romanicum. In: Ders., Mélanges linguistiques (Paris 1909) 3–31. (Erstdruck: Romania 1, 1872, 1–22.) – Ausführlich dazu zuletzt: J. K RAMER, Die Sprachbezeichnungen Latinus und Romanus im Lateinischen und Romanischen. Studienreihe Romania, Bd. 12 (Berlin 1998) bes. 70–94. – D. K REMER, Der Begriff Romanisch und romanische Volksbegriffe. In: D. Hägermann/W. Haubrichs/J. Jarnut (Hrsg.), Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter. Ergbde RGA 41 (Berlin, New York 2004) 35–60. C. T AGLIAVINI , Einführung in die romanische Philologie (2Tübingen, Basel 1998) 120.

Die Romani: Römer – Romanen – Rhomäer?

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lichen Reichshälfte. Nach dem Ende der Einheit des Römischen Reiches verlor der Begriff als politische Kategorie an Bedeutung, entsprechend fächerte sich sein Inhalt in verschiedene Richtungen auf. Einerseits wurde er in unterschiedlichen Zusammenhängen weiter als ethnische Selbstbezeichnung benutzt. Im lateinischen Sprachgebiet blieb er – auf mancherlei Umwegen – bei den Bündner Raetoromanen und den Rumänen geläufig sowie natürlich als Bezeichnung der Bewohner der Stadt Rom. Bedeutender jedoch war paradoxerweise die Deszendenz im ostmediterranen Raum. In seiner griechischen Form Rhomaioi diente er das gesamte Mittelalter hindurch – ganz unabhängig von sprachlichen Zuständen – zur Selbstbezeichnung der Bewohner des Byzantinischen Reiches.74 In dieser Bedeutung blieb er in der Folge als Selbstbezeichnung der (Neu-)Griechen bis in das 19. Jahrhundert erhalten; erst dann wurde er von dem gegen Ende des 18. Jahrhunderts durch die Gelehrten wiederentdeckten Hellenenbegriff verdrängt.75 Die moderne terminologische Differenzierung zwischen „Römern“ und „Rhomäern“ widerspricht somit dem Selbstverständnis der Benannten: die sog. „Byzantiner“ haben sich immer als „Römer“ verstanden, und deshalb auch so bezeichnet. In der identischen Bedeutung wurde er aus dem Griechischen in der Form Rum ins Türkische übernommen. Davon abgeleitet diente er zeitweilig als Selbstbezeichnung – so bei den Rumseldschuken, d. h. den „römischen Seldschuken“ – bzw. als geographischer Terminus: vgl. Rumelien als Bezeichnung für den europäischen Teil des Osmanischen Reiches.76 Die lateinische geographische Bezeichnung Romania ist erstmals im 4. Jahrhundert belegt.77 Sie bezeichnete zunächst das gesamte Gebiet des Römischen Reiches im Gegensatz zur Barbaria.78 Nach dem Ende der Reichseinheit wird sie in dieser Bedeutung zunehmend ungebräuchlich. In der Karolingerzeit wird der Begriff Romania vor allem für die byzantinisch verbliebenen Teile Italiens verwandt. Über die Bezeichnung für das Gebiet des byzantinischen Exarchats von Ravenna blieb der Name Romania schließlich bis heute in der Regionalbezeichnung (Emilia-)Romagna erhal-

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J. K ODER, Byzanz, die Griechen und die Romaiosyne – Eine „Ethnogenese“ der „Römer“? In: H. Wolfram/W. Pohl, (Hrsg.), Typen der Ethnogenese unter besonderer Berücksichtigung der Bayern. Bd. 1 (Wien 1990) 103–111. F. G SCHNITZER, s.v. Hellas. In: Der Neue Pauly, Bd. 5 (Stuttgart, Weimar 1998) 297f, hier 298. Vgl. s.v. „Rumeli“ und s.v. „Rumsel˘guqen“. In: LMA, Bd. 7 (München 1995) 1095 f. J. Z EILLER, L’apparition du mot Romania chez les écrivains latins. Rev. Études Latines 7, 1929, 194–198. T AGLIAVINI , Philologie (wie Anm. 73) 125.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ethnographische Kategorien?

ten.79 Bei dem Landesnamen Romania für Rumänien handelt es sich dagegen um eine gelehrte Neubildung des 19. Jahrhunderts. Die Veränderung des Begriffs Romani im Westen hängt eng mit der Umformung des Barbarenbegriffs sowie der Entwicklung der ethnischen Identitäten in den westeuropäischen Nachfolgestaaten des Römischen Reiches zusammen. Diese Fragen werde ich an anderer Stelle ausführlich erläutern, an dieser Stelle genügen wiederum einige Kernpunkte.80 Durch den Prozess der Territorialisierung der ethnischen Identität im Verlauf der Merowingerzeit veränderte sich der Begriff Romani grundlegend. Dem antiken Verständnis zufolge bezeichnete er eine Rechts-, Glaubens- und Kulturgemeinschaft und wurde nicht ethnisch (im Sinne einer Abstammungsgemeinschaft) aufgefasst. Diese Bedeutung war bis zum Ende des 6. Jahrhunderts verbreitet. Erst im Laufe der Merowingerzeit ist eine Ethnisierung des Romanibegriffs in dem Sinne festzustellen, dass er analog zu barbarischen gentes als gleichartige Klassifikation, d. h. als eine natio, aufgefasst wurde.81 Mit dieser Veränderung der Qualität der Bezeichnung ging eine beträchtliche Bedeutungsverschiebung einher. Während der Begriff Romani zunächst in allen Teilreichen des Merowingerreichs geläufig war, wurde er zunehmend auf die Bewohner Aquitaniens eingeschränkt, in der Francia und Burgundia verschwindet er ganz aus den Quellen.82 Ausgangspunkt für diese Entwicklung ist, wie bereits angedeutet, die Veränderung des Barbarenbegriffs. Barbari bezeichnete in der Antike die Alterität zur römischen Welt schlechthin.83 In der Spätantike treten weitere Bedeutungsebenen hinzu. Wichtig wird vor allem die religiöse Nebenbedeutung: Romanus bedeutet nun vielfach auch „katholisch“, während mit „barbarisch“ zunehmend „heidnisch“, „häretisch“ oder „feindlich“ gemeint war. Dies hatte zur Folge, dass es immer weniger gerechtfertigt erschien, auch rechtgläubige Barbarenvölker, wie die Franken, als „Barbaren“ zu bezeichnen.84 Der Vollständigkeit halber muss in diesem Zusammenhang auch die Benennung der altfranzösischen Sprache als lingua romana erläutert werden. Die Entwicklung der sprachlichen Nebenbedeutung des Wortfelds um romanus steht in ursächlichem Zusammenhang mit der Entstehung der roma79 80 81 82 83

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T AGLIAVINI , Philologie (wie Anm. 73) 126. Vgl. Kap. 7c. E WIG , Volkstum, 247. E WIG , Volkstum, 272. Zur antiken Konzeption des Barbaren vgl. die umfassende Studie Y. D AUGE , Le Barbare. Recherches sur la conception romaine de la barbarie et de la civilisation. Coll. Latomus 176 (Brüssel 1981). E WIG , Volkstum, 250.

Die Romani: Römer – Romanen – Rhomäer?

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nischen Sprachen aus der lateinischen Umgangssprache. Sicher als Bezeichnung für das Galloromanische ist der Ausdruck lingua romana erstmals in der Mitte des 9. Jahrhunderts überliefert, und zwar in Zusammenhang mit dem bedeutendsten altfranzösischen Sprachdenkmal, den bekannten Straßburger Eiden. Hier wird sie der deutschen Sprache, der lingua teudisca, gegenübergestellt.85 Trotz der Auseinanderentwicklung des Lateinischen und des Romanischen konnte aber noch bis ins 11. Jahrhundert der Ausdruck lingua latina synonym zu lingua romana verwendet werden.86 Eine sprachliche Unterscheidung zwischen römisch und romanisch liegt durch den Begriff romanicus zu Romania im Gegensatz zu romanus bzw. Roma vor. Mit dem Adverb zu romanus, romanice bzw. davon abgeleitet altfranz. romanz wird tatsächlich vorwiegend die gesprochene altfranzösische Sprache im Gegensatz zum geschriebenen Latein bezeichnet; allerdings setzen die Belege hierfür erst im 12. Jahrhundert ein. Theodisk und romanisce stehen im semantischen Gegensatz zu lateinisch und nicht zueinander: wie theodiscus, das erstmals in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts belegt ist87 und zunächst auf alle germanischen Sprachen bezogen werden kann, meint romanisce zunächst nichts anderes als „volkssprachlich“ im Gegensatz zur lateinischen Schriftsprache.88 Wie bereits erwähnt, scheinen sprachliche Zusammenhänge erst seit der Karolingerzeit allmählich eine größere Bedeutung für Identifikationsprozesse gespielt zu haben. Es ist wohl kein Zufall, dass der erste sichere Beleg für die Sprache als Distinktionsmerkmal zwischen den Sprechern germanischer und romanischer Sprachen aus dem 9. Jahrhundert stammt. Ein bekanntes zweisprachiges Spottgedicht aus dem Kasseler Glossar stellt die „Dummheit“ der Romanen der „Klugheit“ der Baiern gegenüber.89 Die Übersetzung des Ausdrucks Romani mit Uualha („Welsche“) im Gegensatz zu den Peigira bzw. Paioari (Bayern) zeigt, dass hier ein sprachlicher Unterschied bezeichnet werden sollte. Allerdings ist nicht sicher zu entscheiden, welche Romani – etwa die Alpen- oder Galloromanen – mit dem Gedicht verunglimpft werden sollten. Der Schreiber des baierischen Teils der

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H EIM , Romanen (wie Anm. 71) 20. H EIM , Romanen (wie Anm. 71) ebd. H EIM , Romanen (wie Anm. 71) 52. W. V. W ARTBURG , s.v. romanice. In: Französisches Etymologisches Wörterbuch 10 (Basel 1962) 452–457, hier 454. – B RÜHL , Deutschland – Frankreich, 189. Der Text des Gedichts findet sich z. B. bei H. D OPSCH , Zum Anteil der Romanen und ihrer Kultur an der Stammesbildung der Bajuwaren. In: Ders./H. Dannheimer (Hrsg.), Die Bajuwaren. Von Severin bis Tassilo 488–788 (München, Salzburg 1988) 47–54, hier 54.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ethnographische Kategorien?

Glosse ist zwar in Bayern zu lokalisieren, die Herkunft des Verfassers der lateinisch-romanischen Entsprechung ist dagegen ungeklärt.90 Festzuhalten ist, dass der Begriff der Romani in dem für diese Arbeit wichtigen zeitlichen Abschnitt keine fest gefügte Bedeutung hatte, sondern im Gegenteil gerade während der Merowingerzeit eine dramatische Bedeutungsveränderung durchlief. Eine stabile, klar umrissene und historisch wirksame Personengruppe bezeichnete er im frühen Mittelalter ebenso wenig wie der Germanenbegriff in der Antike. Römer, Romanen und Rhomäer in der Moderne Bei der Lektüre deutschsprachiger Literatur zur Spätantike und frühem Mittelalter ist ein eigenartiges Phänomen zu beobachten: Obwohl der Quellenbegriff Romani stets der gleiche bleibt, wird er in spätantikem und frühmittelalterlichem Kontext anders übersetzt als für die davor liegenden Epochen. Aus „Römern“ werden in Westeuropa im Laufe der Spätantike offenbar allmählich „Romanen“, während sich für den ostmediterranen Raum gelegentlich die Bezeichnung „Rhomäer“ findet. Anhand des Quellenbefundes ist dieser wissenschaftliche Sprachgebrauch nicht zu rechtfertigen. Er spiegelt vielmehr Bedeutungsebenen wider, die nicht aus der antiken Überlieferung herauszulesen sind. Durch die Differenzierung in „Römer“, „Romanen“ und „Rhomäer“ soll vielmehr der Quellenbefund einem Geschichtsbild angepasst werden, das in den Quellen nicht zu finden ist. Bei der Unterscheidung von „Römern“ und „Romanen“ handelt es sich um eine Besonderheit der deutschsprachigen Wissenschaftstradition. Werden entsprechende Texte deutschsprachiger Autoren in andere Sprachen übersetzt, bereiten die Romanen regelmäßig Schwierigkeiten.91 Diese rühren weniger daher, dass in anderen Sprachen eine begriffliche Entsprechung fehlt, sondern sind darauf zurückzuführen, dass das gesamte zugrundeliegende Geschichtsbild nicht geläufig ist. Am einleuchtendsten ist die Unterscheidung von Römern, Romanen und Rhomäern als Ausdruck einer linguistischen Klassifikation. „Rhomäer“ bezieht sich auf den griechischen Ausdruck Rhomaioi und bezeichnet die griechisch sprechenden Oströmer, wohingegen die Romanen die Sprecher der aus dem Lateinischen hervorgegangen romanischen Sprachen 90 91

T AGLIAVINI , Philologie (wie Anm. 73) 370. Vgl. etwa V. B IERBRAUER, L’insediamento del periodo tardoantico e altomedievale in Trentino-Alto Adige V–VII secolo. In: G. C. Menis (Hrsg.), Italia longobardo (Venedig 1991) 121–174, hier 146 Anm.*.

Die Romani: Römer – Romanen – Rhomäer?

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meint, die auf diese Weise von den lateinisch sprechenden Römern abgesetzt werden können. Neben der Verwendung dieser Bezeichnungen im Rahmen einer linguistischen Klassifikation enthalten die genannten Begriffe jedoch eine weitere Bedeutungsebene, die viel entscheidender die Grundlage für den Sprachgebrauch in der Ur- und Frühgeschichte bildet als die sprachwissenschaftliche. Bereits seit langem benutzt die historische Forschung die genannte begriffliche Differenzierung dazu, den Quellenbegriff der chronologischen Dreiteilung der Geschichte in Antike, Mittelalter und Neuzeit anzupassen. Dieses Geschichtsbild spiegelt sich in den Quellenbegriffen nicht wider; die Differenzierung in „Römer“ und „Romanen“ steht im Gegenteil in ausdrücklichem Widerspruch zu den Sprachintentionen der antiken Autoren, denen die Vorstellung, das Römische Reich sei im 5. Jahrhundert untergegangen, fremd war. Wenn man die Begriffe Romani und Rhomaioi dem Verständnis der Zeitgenossen gemäß wiedergeben will, so müssen sie auch im frühen Mittelalter konsequent mit „Römer“ übersetzt werden. Bei der Einteilung der Geschichte in Antike, Mittelalter und Neuzeit handelt es sich nicht um eine wertneutrale Periodisierung. Wie ich im nächsten Kapitel zeigen werde, wurden diese Epochen vielfach als wesensgegensätzliche, in sich geschlossene Abschnitte betrachtet. Deutlich wird der Zusammenhang zwischen den Begriffspaaren „Antike und Mittelalter“ einerseits und „Römer und Romanen bzw. Rhomäer“ andererseits beispielhaft in einer Abhandlung von Karl Dieterich vom Anfang des 20. Jahrhunderts: „Welch wundersamen Wandel der Dinge bezeichnen die drei Worte: Römer – Romäer – Romanen, und welch ein welthistorischer Prozess spiegelt sich darin wieder! “ leitete er seinen begriffsgeschichtlichen Aufsatz ein.92 Ihm gilt die Bezeichnung „Rhomäer“ als „der echte Inbegriff des nationalitätslosen oströmischen Reiches“, der im Gegensatz zu „Romanen“ „kein Rassenkollektivum“ bezeichne und darüber hinaus im Laufe des Mittelalters von einem „Herrennamen“ zu einem „Knechtsnamen“ geworden sei. Inhaltlich steht die Differenzierung zwischen Römern und Rhomäern auf einer Stufe mit der Differenzierung zwischen „Römischem“ Reich und „Byzantinischem“ Reich. Bei dem Begriff „Byzantinisch“ handelt es sich ebenfalls um eine moderne Neuschöpfung, mit der das historische Kontinuum zwischen Römischem und „(Ost)-Römischem“ Reich begrifflich durchtrennt werden sollte.93 Durch den Zusammenhang mit dem Begriff „byzantinisch“ kann 92

93

K. D IETERICH , Römer – Romäer – Romanen. Neue Jahrb. f. Klass. Altertum, Geschichte und Deutsche Literatur 19, 1907, 482–499, hier 482. G. M AKRIS, s.v. Byzantinistik. In: Der Neue Pauly, Bd. 13 (Stuttgart 1999) 583–592, hier 584.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ethnographische Kategorien?

auch dem Begriff der Rhomäer eine pejorative Färbung („byzantinisch“ = „kriecherisch, unterwürfig“) innewohnen, die daher rührt, dass das Byzantinische Reich in der Geschichtsphilosophie insbesondere zur Zeit der Aufklärung einen äußerst schlechten Ruf genoss. Die Romanen werden von Dieterich insgesamt günstiger beurteilt, als die Rhomäer. Ihm zufolge – und hier gibt Dieterich eine typische, weit verbreitete Definition wieder – sind die Romanen dadurch entstanden, dass das Römische Reich dem Ansturm der „jugendkräftigen Germanen“ zum Opfer gefallen sei. Dadurch wurde „der Boden politisch aufgelockert und für die Aufnahme neuer Volks- und Kulturkeime fähig gemacht […]: das Römertum beginnt sich zum Romanentum zu wandeln.“94 Hinter der sprachlichen Unterscheidung „Römer – Romane“ steht also ebenfalls ein bestimmtes Geschichtsbild: Diesem zufolge wandelt sich das „Römische“ durch den Einfluss des Germanischen zum „Romanischen“. Aus diesem Blickwinkel kann auch der Begriff „romanisch“ eine potentiell abwertende Bedeutungsebene enthalten. Da das „Romanentum“ lediglich eine Synthese zwischen „absterbendem Römertum“ und „jugendfrischem Germanentum“ darstellt, ist es nicht gleichwertig mit letzterem. Tatsächlich zeigt etwa die Geschichte des Faches „Romanistik“, das nicht zufällig unter diesem Namen in Deutschland entstanden ist und dessen Konzeption bereits ein entsprechendes Geschichtsbild zugrunde lag,95 dass solche Wertungen in der Geschichte der Forschung – implizit oder explizit – eine bedeutende Rolle spielten. Nicht zuletzt deshalb ist die romanistische Forschung bereits seit langem zunehmend zurückhaltender dabei geworden, andere als sprachliche Phänomene – insbesondere ethnische oder kulturelle – als „romanisch“ zu bezeichnen.96 Auffällig ist ferner, dass die Bezeichnung von historischen Personengruppen als „Romanen“ bzw. von archäologischen Phänomenen als „romanisch“ ein Charakteristikum des deutschen Sprachraums ist. Im französischen Sprachraum werden dagegen für die entsprechenden frühmittelalterlichen Phänomene fast ausschließlich die Begriffe Galloromains bzw. galloromain verwendet, die englische Forschung spricht entsprechend Galloromans und galloroman; eine direkte Entsprechung des deutschen Romanenbegriffs fehlt dagegen in diesen Sprachen. Der Begriff „Galloromanen“ ist in der deutschsprachigen Frühgeschichtsforschung wenig gebräuchlich, im Gegensatz zu „Gallorömern“ und „gallorömisch“, die auch von der deutschsprachigen Provinzialrömischen Archäologie häufig verwendet 94 95 96

D IETERICH , Römer, 485. Kap. 4a. Vgl. etwa O. D EUTSCHMANN , Lateinisch und romanisch (München 1971) 29.

Die Romani: Römer – Romanen – Rhomäer?

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werden. Das Adjektiv galloromanisch ist hingegen vor allem in der sprachwissenschaftlichen Forschung geläufig, um die regionalen Ausprägungen des Romanischen in Gallien von anderen Regionalvarianten wie dem Italooder Iberoromanischen zu unterscheiden. In der archäologischen und historischen Forschung ist von „Galloromanen“ dagegen meist dann die Rede, wenn ursprünglich französischsprachige Texte ins Deutsche übertragen werden.97 Auch diesem Begriff liegt ein bestimmtes Geschichtsbild zugrunde, das vor allem die historische Kontinuität der Bevölkerung Galliens betonen möchte, während romanisch entweder stärker auf die sprachliche Ebene abzielt oder die Einbettung in eine übergeordnete „romanische“ kulturelle Sphäre betont.

97

Vgl. etwa P. V. O SSEL , Die Gallo-Romanen als Nachfahren der römischen Provinzialbevölkerung. In: Die Franken, 102–109. – J.-J. H ATT , Kelten und Galloromanen (München 1970).

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„Germanen“ und „Romanen“: Ein Epochengegensatz?

3. „Germanen“ und „Romanen“: Ein Epochengegensatz? a) Die Ungleichzeitigkeit von Germanen und Romanen im frühen Mittelalter Der Titel dieses Kapitels mag zunächst etwas paradox klingen; schließlich handelt es sich bei den hier behandelten „germanischen“ und „romanischen“ Bestattungen des frühen Mittelalters zweifellos um im chronologischen Sinne gleichzeitige Erscheinungen. Im letzten Kapitel wurde jedoch anhand der begrifflichen Unterscheidung zwischen Germanen und Römern bzw. Romanen gezeigt, dass dieser Differenzierung mitunter eine gewisse Ungleichzeitigkeit innewohnen kann. Diese rührt daher, dass sie in engem Zusammenhang mit einem historischen Epochengegensatz getroffen wurde: Der Unterscheidung von „römischer“ Antike und „germanischem“, seltener „germanisch-romanischem“ Mittelalter.1 Es ist kein Zufall, dass bei der Formulierung „germanisch-romanisch“ in diesem Zusammenhang der Wortteil „germanisch“ fast immer an erster Stelle steht. Häufig wurden die merowingerzeitlichen Romanen tendenziell als Überrest der vorangegangenen römischen Epoche angesehen, während die Germanen – je nach Standpunkt – als deren Vernichter, Überwinder oder Erben galten. In der Summe schienen die Germanen dem neuen Abschnitt der Geschichte wesentlich näher zu stehen als die Romanen, wenn sie nicht überhaupt als Verkörperung des neuen Zeitalters angesehen wur1

Für die Unterscheidung von römisch geprägter Antike und germanischem Mittelalter lassen sich mühelos zahlreiche Beispiele finden. Vgl. etwa A. V. G UTSCHMID , Die Grenze zwischen Altertum und Mittelalter. In: Hübinger, Periodengrenze, 1–23, hier 7 (Erstdruck 1863). – K. M ÜLLER, Die Grenze zwischen Altertum und Mittelalter in der Kirche. In: Hübinger, Periodengrenze, 24–48, hier 24. (Erstdruck 1887). – E. K ORNEMANN , Zwischen zwei Welten. In: Hübinger, Periodengrenze, 55–82, hier 81. (Erstdruck 1943). – H. A UBIN , Die Frage nach der Scheide zwischen Altertum und Mittelalter. In: Hübinger, Periodengrenze, 93–113, hier 100. (Erstdruck 1951). – F. M ILTNER, Grenzmarke zwischen Antike und Mittelalter. In: Hübinger, Periodengrenze, 283–297, hier 297. (Erstdruck 1955). – F R . V ITTINGHOFF , Der Übergang von der „Antike“ zum „Mittelalter“. In: Hübinger, Periodengrenze, 298–321, hier 305. (Erstdruck 1958).

Die Ungleichzeitigkeit von Germanen und Romanen im frühen Mittelalter

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den. Bereits die Spätantike gilt weithin als Übergangsperiode zwischen griechisch-römischer Antike und dem germanisch-romanischen Mittelalter.2 Die Wertung der Romanen als „Überrest“ bezieht sich selbstverständlich nicht auf ihre physische Existenz, obwohl auch diese Facette nicht unbekannt ist, wie jene Theorien belegen, die das Ende des Römischen Reiches auf „Rassenentartung“ zurückführten.3 In abgeschwächter Form findet sich diese Anschauung in Geschichtsbildern wie dem der „dezimierten, kinderschwachen, verzweifelnden, z. T. weltabgewandten Romanenbevölkerung“4 wieder. Einflussreicher war jedoch die Vorstellung, dass mit dem politischen Ende des Weströmischen Reiches auch dessen „Kultur“5 erloschen sei. In gesteigerter Form konnte diese Betrachtungsweise dazu führen, dass die „Dekadenz“ der römischen Kultur als Ursache für den „Fall Roms“ angesehen wurde,6 wenn er nicht sogar im Stile der Kulturmorphologie durch den quasi naturbedingten zyklischen Verfall aller Kulturen vorherbestimmt war.7 Entsprechende Vorstellungen reichen bis in die Antike zurück. In der Neuzeit wurden sie vor allem seit der Romantik wiederbelebt. Bereits die üblichen Bezeichnungen „spätantik“ und „frühmittelalterlich“ bzw. „frühbyzantinisch“ rufen Bilder des Verdämmerns einer alten und der Morgenröte einer neuen Kultur hervor. Die Metaphern, die von der Geschichtswissenschaft zur Beschreibung für das Ende des Römischen Reiches verwendet wurden, sind ebenso vielfältig wie jene, die sie zur Beschreibung seiner Ursachen bemühte: Das wahlweise „überlebte“, „altersschwache“, „erschöpfte“ oder „kranke“ Römische Reich „schied dahin“, „wurde ermordet“ oder „beging Selbstmord“, wobei sich die Reihe der verwendeten Motive beinahe beliebig verlängern ließe.8 Johann Gottfried Herder, der sich von allen Aufklärern am ausführlichsten zum Ende des Römischen Reiches äußerte, ist eine besonders plastische Schilderung des Zustandes der römischen Zivilisation der Spätantike zu verdanken: Alles war erschöpft, entnervt, zerrüttet: von Menschen verlassen, von entnervten Menschen bewohnt, in Üppigkeit, Lastern, Unordnung, Freiheit und wildem Kriegesstolz untersinkend. […] ein abgematteter, im Blute liegender Leichnam […].9

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A. D EMANDT , Geschichte der Spätantike (München 1998) 451. Vgl. A. D EMANDT , Der Fall Roms (München 1984) 368–396. A UBIN , Scheide (wie Anm. 1) 110. Zum dem in diesem Zusammenhang problematischen Kulturbegriff vgl. Kap. 6. Vgl. D EMANDT , Fall Roms (wie Anm. 3) 198–215. Vgl. D EMANDT , Fall Roms (wie Anm. 3) 431–466. Vgl. die eindrucksvolle Zusammenstellung bei D EMANDT , Fall Roms (wie Anm. 3) 181–188. J. G. H ERDER, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (Frankfurt 1967) 51.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ein Epochengegensatz?

Für die Einschätzung der frühmittelalterlichen Romanen bedeutete dies, dass ihre kulturelle Flexibilität und Potenz tendenziell geringer eingeschätzt wurde als die der Germanen. Innovationen innerhalb der frühmittelalterlichen Gesellschaft wurden in aller Regel eher den Germanen als den Romanen zugeschrieben. Die in der Forschung zeitweilig beliebte Charakterisierung des Mittelalters als einer Synthese von „Antike, Christentum und Germanentum“10 bezieht sich entsprechend mit dem Schlagwort Antike in erster Linie auf die von den mittelalterlichen Kopisten tradierten antiken Schriften und nicht auf die sich verändernden und fortentwickelnden Elemente antiker Kultur im frühen Mittelalter.11 Die Ungleichzeitigkeit verschiedener Gruppen im Epochenübergang wird dann besonders deutlich, wenn dieser als länger andauernder Prozess angesehen und nicht an einem epochalen Ereignis festgemacht wird. Jahrgenaue Datierungen von Epochenwechseln werden in der Forschung heute grundsätzlich skeptisch beurteilt.12 Die Kritik an solchen fixen Epochengrenzen ist allerdings nicht neu. Bereits Hermann Aubin beschrieb den Epochenwechsel als Ablösungsprozess zweier gegenläufiger Entwicklungen. Ein Epochenwechsel ist ihm zufolge erst dann anzusetzen, wenn die jüngere Tendenz gegenüber der älteren vorherrscht, wodurch diese aber nicht schlagartig abbricht.13 Folgerichtig sprach Aubin deshalb an anderer Stelle vom „Absterben antiken Lebens im Frühmittelalter“.14 Als Träger dieser „sterbenden Kultur“ betrachtete er die Romanen. Dieses Geschichtsbild wurde im Laufe der Zeit in verschiedenster Form ausgestaltet. Bisweilen fand es Eingang in geschichtsphilosophische Systeme, von denen ich weiter unten stellvertretend zwei Beispiele besprechen werde. Für die historische Forschung ergaben sich aus dieser Disposition zwei in der Vergangenheit ebenso häufig wie oftmals fruchtlos diskutierte Fragen, die aber auf die Entwicklung der Interpretation der frühmittelalterlichen Grabfunde einen bedeutenden Einfluss ausübten. Gemeint ist einerseits das sogenannte Kontinuitätsproblem, d. h. die Frage, ob bzw. in welchem Maße Bevölkerung, Institutionen und Kultur des Römischen Reiches im frühen Mittelalter weiterlebten. Andererseits rang die Forschung zeitweilig erbittert darum, welcher Anteil jeweils Germanen und Romanen an 10

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H.-D. K AHL , Was bedeutet „Mittelalter“? Saeculum 40, 1989, 15–38, hier 19. – Belegt z. B. bei A UBIN , Scheide (wie Anm. 1) 108. K AHL , Mittelalter (wie Anm. 10) 31 f. G. V OGLER, Probleme einer Periodisierung der Geschichte. In: H.-J. Goertz (Hrsg.), Geschichte (Reinbek bei Hamburg 1998) 203–213, hier 204. A UBIN , Scheide (wie Anm. 1) 97 f. Vgl. H. A UBIN , Vom Absterben antiken Lebens im Frühmittelalter. In: H ÜBINGER, Kulturbruch, 203–258.

Die Ungleichzeitigkeit von Germanen und Romanen im frühen Mittelalter

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der Neuentstehung der mittelalterlichen Kultur zuzuschreiben sei. Beide Fragen beinhalten bereits weitreichende Interpretationen, die in hohem Maße ideologieträchtig sind.15 Dass dies der Fall sein kann, hängt ursächlich mit den methodologischen Unsicherheiten zusammen, die sich bei der historischen Periodenbildung ergeben. Aus diesem Grund sollen diese kurz erläutert werden. Fragen nach historischer Kontinuität sind methodologisch eng mit Periodisierungsproblemen verbunden: Bereits die Auswahl des betrachteten Zeitabschnitts bestimmt nicht unwesentlich den Blickwinkel, aus dem die Frage nach Kontinuität oder Diskontinuität beantwortet werden soll.16 Eine in allen Teilen objektive Geschichtsperiodisierung kann es nicht geben: Dies würde voraussetzen, dass es sich bei historischen Epochen um objektiv gegebene Realitäten quasi in Form metaphysischer Entitäten handelt, die von Historikern oder Archäologen nur entdeckt, nicht aber konstruiert werden müssten. Die Existenz solcher absoluter Epochen ist aber sicher zu verneinen.17 Das Ziel einer Geschichtsperiodisierung kann es allenfalls sein, objektiv erfassbares historisches Material nach subjektiven Kriterien möglichst sinnvoll zu gliedern.18 Eine solche sinnvolle Gliederung wird dadurch möglich, dass es sich bei dem historischen Geschehen nicht um ein homogenes, sondern ein heterogenes Kontinuum handelt: Trotz der in irgendeiner Form immer vorhandenen Kontinuität weist es durchaus Höhen, Tiefen und Einschnitte auf, die als Ansatzpunkte für eine Periodisierung dienen können.19 Grundsätzlich ist das sogenannte Kontinuitätsproblem unter zwei Aspekten zu betrachten: Zum einen stellt sich die Frage, welche Einschnitte gewählt werden, um den zeitlichen Rahmen für das fragliche Kontinuitätsproblem festzulegen. Darüber hinaus bedingt die Gewichtung der verschiedenen historischen Dimensionen – z. B. Ideengeschichte, Religionsgeschichte, politische Geschichte oder Wirtschafts- und Sozialgeschichte – ganz wesentlich das Ergebnis der Frage nach Kontinuität oder Diskontinuität. Aus diesem Grund ist jeweils danach zu fragen, wie die Gewichtung der einzelnen Ebenen begründet wird.

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A. D EMANDT , s. v. Kontinuitätsprobleme. In: RGA2, Bd. 17 (Berlin, New York 2001) 205–210, hier 205 f. C HR . L ORENZ , Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie (Köln, Weimar, Wien 1997) 281. J. H. J. VAN DER P OT , Sinndeutung und Periodisierung der Geschichte. Eine systematische Übersicht der Theorien und Auffassungen (Leiden, Boston, Köln 1999) 58. V AN DER P OT , Periodisierung (wie Anm. 17) 59 f. V AN DER P OT , Periodisierung (wie Anm. 17) 55–57.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ein Epochengegensatz?

Die relative Ungleichzeitigkeit von Germanen und Romanen findet sich im Rahmen ganz unterschiedlicher Geschichtsperiodisierungen. Grundlage ist aber in allen Fällen die humanistische Dreiteilung der Geschichte. Älteren Geschichtsbetrachtungen war dagegen die Vorstellung fremd, das Römische Reich sei im 5. Jahrhundert untergegangen. Die vorherrschende Geschichtsdeutung bewegte sich von der Spätantike bis ins 17. Jahrhundert vielmehr im Rahmen der christlichen Heilsgeschichte.20 Ganz selbstverständlich wurde im Mittelalter die Fortdauer des Römischen Reiches vorausgesetzt. Umstritten war allenfalls, wer sich von den verschiedenen europäischen Herrschern als rechtmäßiger Nachfolger des römischen Kaisers betrachten durfte: Sowohl die Herrscher des Frankenreichs als auch die Byzantinischen Kaiser oder die Päpste in Rom legitimierten ihre Position durch den Verweis auf die Kontinuität ihrer Herrschaft seit der Antike.21 Zum epochemachenden Einschnitt wurden das Ende des Westreichs und die Etablierung seiner Nachfolgestaaten erst im Geschichtsdiskurs der Humanisten.22 Die klassische Dreiteilung der Geschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit gehört zu den kulturklassizistischen Geschichtsdeutungen, die sich dadurch auszeichnen, dass ein bestimmter Zustand in der Vergangenheit zum Ideal erklärt wird, das verloren ging und das es wieder zu erreichen gilt.23 Dabei galt nicht die gesamte Antike als Ideal, sondern, abgesehen von bestimmten Abschnitten der griechischen Geschichte, vor allem die Zeit der späten Republik und die frühe Kaiserzeit innerhalb der römischen Geschichte. Seit ihrem ersten Vertreter Francesco Petraca24 erfreute sich diese Geschichtsperiodisierung außerordentlicher Beliebtheit. Im Laufe des 17. Jahrhunderts fand sie Eingang in die Historiographie,25 wo sie bis heute eine beherrschende Stellung einnimmt. Daran konnte auch die Kritik nichts ändern, die verstärkt seit dem 19. Jahrhundert an diesem System geäußert wurde. Von manchen Forschern wurde es mit guten Argumenten vollständig abgelehnt.26 Bei solchen Überlegungen handelt es sich nicht um bloße Fragen der Semantik. Zahlreiche Geschichtsstereotypen über das Verhältnis von Germanen und Romanen im frühen Mittelalter sind untrennbar mit der humanis-

20 21 22 23 24 25 26

V AN DER P OT , Periodisierung (wie Anm. 17) 220. D EMANDT , Fall Roms (wie Anm. 3) 89. D EMANDT , Fall Roms (wie Anm. 3) 91–121. V AN DER P OT , Periodisierung (wie Anm. 17) 306f; 312 ff. V AN DER P OT , Periodisierung (wie Anm. 17) 312. V AN DER P OT , Periodisierung (wie Anm. 17) 316 f. V AN DER P OT , Periodisierung (wie Anm. 17) 326–331.

Die Ungleichzeitigkeit von Germanen und Romanen im frühen Mittelalter

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tischen Dreiteilung der Geschichte verbunden. Karl Ferdinand Werner wies darauf hin, dass der Begriff „Mittelalter“ eine Bezeichnung sei, die zwar einstmals zur leichteren Orientierung geschaffen wurde, vor dem heutigen Kenntnisstand aber den Blick auf die Vergangenheit eher verstellt als erleichtert.27 Für die vermeintliche Zäsur zwischen Antike und Mittelalter im 5. Jahrhundert bzw. um 500 trifft dies in besonderem Maße zu. Werner plädiert dafür, den Begriff Mittelalter ganz abzuschaffen, und den fraglichen Zeitraum in eine Epoche einzugliedern, die mit der Schaffung des christlichen Staates im 4. Jahrhundert begann und bis ins 18. Jahrhundert andauert; eine Zäsur innerhalb dieser Epoche sieht Werner am ehesten im 11./12. Jahrhundert gegeben.28 Ein ähnlicher Ansatz vertritt Jacques Le Goff, der zwar den Mittelalterbegriff beibehält, dessen „Langes Mittelalter“ aber ebenfalls vom 3. bis zum 19. Jahrhundert dauert.29 Le Goffs langes Mittelalter hat sich in zahlreichen Untersuchungen bewährt und findet auch außerhalb des französischen Sprachraums Verwendung.30 Innerhalb dieses Mittelalters sieht Le Goff am ehesten im 10. Jahrhundert und im 14. Jahrhundert Zäsuren. Die Ansicht, dass die Desintegration des Römischen Reiches im 5. Jahrhundert nicht das Ende der „Spätantike“ bedeutet, wird ferner von jenen Forschern vertreten, die im Gefolge Henri Pirennes das 7. Jahrhundert als einen deutlichen Einschnitt sehen; auf diese Tradition werde ich weiter unten eingehen. Zwar hat sich die Erkenntnis, dass etwa das Jahr 476 keine tiefgreifende Epochenzäsur markiert, noch nicht so allgemein verbreitet wie dies für das Jahr 1500 der Fall ist,31 trotzdem kann gegenwärtig weniger denn je davon ausgegangen werden, dass Spätantike und Merowingerzeit durch einen epochalen Umbruch der Weltgeschichte voneinander getrennt wurden. Die Konsequenzen dieser Entwicklung für das Bild der Germanen und Romanen im frühen Mittelalter können innerhalb dieser Arbeit nur angerissen werden. Wenn ich in der folgenden Darstellung die Begriffe „spätantik“ und „frühmittelalterlich“ verwende, so sind damit allein die im Grund will27

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K. F. W ERNER, Das „Europäische Mittelalter“. Glanz und Elend eines Konzepts. In: K.-E. Jeismann/R. Riemenschneider (Hrsg.), Geschichte Europas für den Unterricht der Europäer. Stud. Internat. Schulbuchforsch. 27 (Braunschweig 1980) 23–35, hier 24. W ERNER, Mittelalter (wie Anm. 27) 28–30. – D ERS., Naissance, 42–57. – Zur Bedeutung von Werners Ansatz vgl. P. V. M OOS, Gefahren des Mittelalterbegriffs. Diagnostische und präventive Aspekte. In: J. Heinzle (Hrsg.), Modernes Mittelalter (Frankfurt, Leipzig 1994) 33–63, hier 41 ff. J. L E G OFF , Vorwort. In: Ders., Für ein anderes Mittelalter (Weingarten 1987) 22. V. M OOS, Mittelalterbegriff (wie Anm. 28) 46. V. M OOS, Mittelalterbegriff (wie Anm. 28) 48.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ein Epochengegensatz?

kürlich festgelegten chronologischen Abschnitte gemeint, nicht aber historische Epochen im tieferen Sinne. Charakteristisches Merkmal der humanistischen Dreiteilung der Geschichte war ursprünglich die Abwertung des Mittelalters als einer dunklen, düsteren Verfallszeit. Aber bereits in der Romantik wurden diese Wertungen teilweise ins Gegenteil gewendet: Ein verklärtes Mittelalter wurde zum eigentlichen Höhepunkt der Geschichte stilisiert und diente als Projektionsfläche für nationale, später antiaufklärerische und schließlich antimoderne Sehnsüchte.32 Das Ende der politischen Einheit des Römischen Reiches und die Herausbildung seiner Nachfolgestaaten findet als Einschnitt Eingang in andere Periodisierungssysteme, darunter selbst solche, die das humanistische Geschichtsbild explizit zu überwinden suchten. Darüber hinaus konnte es in Systemen, in denen es ursprünglich keine Rolle spielte, sekundär integriert werden. Dies war beispielsweise bei der Deutung der Geschichte als einer Abfolge verschiedener Weltreiche der Fall. Zwar galt das Römische Reich in aller Regel als das letzte der vier Reiche der Weltgeschichte, durch den Gedanken der translatio imperii, z. B. von den Römern auf die Franken und später etwa auf das Deutsche Reich, wurde dieser Einschnitt jedoch auch in diese Geschichtsperiodisierung integriert.33 Ganz ähnlich ist die Lehre der Geschichte als einer Ost-West-Verlagerung der Kultur aufgebaut: In diesem Zusammenhang findet sich ebenfalls die Verlagerung der Kultur von den Römern auf das frühmittelalterliche Frankenreich.34 Die Vorstellung, das Ende der Einheit des Weströmischen Reiches habe eine bedeutende Zäsur der Weltgeschichte gebildet, beeinflusste also das allgemeine Geschichtsbild weit über die klassische humanistische Geschichtsdeutung hinaus. Während die humanistische Dreiteilung der Geschichte ursprünglich das Mittelalter insgesamt als Zeit des Niedergangs betrachtete, sonst aber nicht weiter charakterisierte, entwickelte sich später die Auffassung, die Germanen hätten im Mittelalter die Römer als führendes Kulturvolk abgelöst. Staat, Gesellschaft und Kultur des Mittelalters erschienen insgesamt als germanisch geprägt. Bereits für Herder wurde der „Riss im Faden der Weltgeschichte“, den das Ende der antiken Welt bedeutet habe, durch das Auftreten einer neuen Welt „geheilt“. Begründet wurde diese neue Welt von jun32

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G. K OZIE Ł EK , Ideologische Aspekte der Mittelalter-Rezeption zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: P. Wapnewski (Hrsg.), Mittelalterrezeption. Ein Symposion (Stuttgart 1986) 119–132. V AN DER P OT , Periodisierung (wie Anm. 17) 131 ff. V AN DER P OT , Periodisierung (wie Anm. 17) 385 f.

Die Ungleichzeitigkeit von Germanen und Romanen im frühen Mittelalter

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gen, aus dem Norden stammenden Völkern, die auf die „traurigleeren Äcker “ der Mittelmeerwelt verpflanzt wurden: „die ganze neuere Welt vom Mittelländischen bis zum Schwarzen, vom Atlantischen bis zum Nordmeer ist ihr Werk! ihr Geschlecht! ihre Verfassung! “.35 Allerdings zählte Herder nicht allein die germanischen Stämme der Völkerwanderungszeit zu den kulturbegründenden nordischen Völkern, sondern auch die nichtgermanischen Hunnen, Bulgaren und Slawen. Herders Nachfolger schrieben diese Rolle zunehmend allein den Germanen zu. Leopold von Ranke erklärte etwa die Geschichte der „stammverwandten Nationen entweder rein germanischer oder germanisch-romanischer Abkunft “ zum „Kern aller neueren Geschichte“.36 Insbesondere die Geschichtsphilosophie Gottfried Wilhelm Friedrich Hegels verhalf dieser Vorstellung zu großer Popularität. Hegels Geschichtsphilosophie war für die hier behandelte Frage noch in einer weiteren Hinsicht bedeutsam, weshalb seine Position zum Verhältnis von Germanen und Romanen kurz referiert werden soll: Mehr noch als Herder hat Hegel die Idee des „Volkes“ bzw. des „Volksgeists“ im 19. und 20. Jahrhundert nachhaltig geprägt37 und so zumindest mittelbar auf das Geschichtsbild einiger Generationen von Archäologen eingewirkt. Hegel zufolge stellte die Weltgeschichte einen von Stufe zu Stufe fortschreitenden Prozess der Bewusstwerdung von Freiheit dar. Jede Stufe wird durch ein weltgeschichtliches Volk verkörpert, in dem sich der Geist der Epoche manifestiert. Diese Völker verfügen jeweils über einen spezifischen Volksgeist, den Hegel mit organischen Metaphern beschreibt: „Der Volksgeist ist ein natürliches Individuum; als ein solches blüht er auf, ist stark, nimmt ab und stirbt.“ Während jeder Volksgeist einen Zyklus von Entfaltung, Leistungsfähigkeit und Niedergang durchläuft, stellt die Entwicklung von Volksgeist zu Volksgeist insgesamt einen Fortschritt dar. Die Ablösung des Römischen Reiches durch die germanischen Völker bedeutete in Hegels System den Übergang von der dritten zur vierten und letzten Stufe der Weltgeschichte. Die germanische Welt verkörpert zwar insgesamt das „Greisenalter des Geistes“, allerdings beschreibt diese Metapher hier nicht eine Phase des Verfalls, sondern die Zeit der „vollkommenen Reife“ des Intellekts.38 Die rö-

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H ERDER, Philosophie der Geschichte (wie Anm. 9) 50 f. L. V. R ANKE , Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535 (Leipzig, Berlin 1824) IV. L. H OFFMANN , Das „Volk“. Zur ideologischen Struktur eines unvermeidbaren Begriffs. Zeitschr. f. Soziologie 20, 1991, 191–208, bes. 200 Anm. 16. – B RATHER, Identitäten, 149. V AN DER P OT , Periodisierung (wie Anm. 17) 452–455.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ein Epochengegensatz?

mische und die germanische Epoche sind also für Hegel durch einen unterschiedlichen „Volksgeist“ geschieden. Dabei geht Hegel nicht von einer umfassenden Zäsur aus. So habe die germanische Welt bestimmte Elemente der römischen Kultur übernommen, wie Bildung oder Religion, später sei sogar das römische Kaisertum wiederhergestellt worden. Äußerlich erscheine die germanische Welt durchaus als eine Fortsetzung der römischen. „Aber es lebte in ihr ein vollkommen neuer Geist, aus welchem sich nun die Welt regenerieren musste, nämlich der freie Geist, […]“39 Möglich wird die Wertung der Germanen als welthistorisches Volk seit dem frühen Mittelalter durch die Abwertung der Byzantinischen Geschichte. Sie stellt sich Hegel zufolge als „eine tausendjährige Reihe von fortwährenden Verbrechen, Schwächen, Niederträchtigkeiten und Charakterlosigkeiten dar, das schauderhafteste und deswegen uninteressanteste Bild“.40 Zu kulturellen Leistungen war sie entsprechend nicht in der Lage: „Das Reich […] stellt im ganzen ein ekelhaftes Bild der Schwäche dar, worin elende, ja absurde Leidenschaften nichts Großes an Gedanken, Taten und Individuen aufkommen lassen.“41 Das Entstehen einer neuen Kultur im Westteil des ehemaligen Römischen Reiches ist dagegen auf die Zuwanderung der Germanen zurückzuführen: „Die Völker, die bleibendes auf dem Boden der römischen Welt gegründet haben, sind germanisch gewesen.“42 Auch bei Hegel entstehen die romanischen Völker durch die Verschmelzung der fortlebenden Römer mit den Germanen. Diese Verschmelzung ist aber nicht vollständig, sondern hat einen besonderen, in sich gespaltenen Charakter der romanischen Völker zur Folge: „Der Kontrast zwischen den schon gebildeten Einwohnern jener Länder und ihren Besiegern endet in der Zwitternatur dieser nunmehr gebildeten neuen Nationen. Ihr ganzes geistiges Dasein ist so in seiner Wurzel ein Geteiltes […].“43 Während Hegel die Entwicklung von der Spätantike zum frühen Mittelalter als Ablösung zweier weltgeschichtlicher Völker darstellte, lösen sich in kulturzyklischen Periodisierungssystemen an dieser Stelle verschiedene Kulturen ab. Bekanntester Vertreter einer solchen Betrachtungsweise war Oswald Spengler, dessen kurz nach dem Ersten Weltkrieg publiziertes Werk über den „Untergang des Abendlandes“ eine nicht zu unterschätzende Breitenwirkung erzielte und zahlreiche Nachfolger fand.44 Spengler zufolge

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G. W. F R . H EGEL , Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd. IV: Die germanische Welt. Hrsg. v. G. Lasson (Leipzig 1920) 759. H EGEL , Philosophie der Weltgeschichte (wie Anm. 39) 770. H EGEL , Philosophie der Weltgeschichte (wie Anm. 39) 774. H EGEL , Philosophie der Weltgeschichte (wie Anm. 39) 776. H EGEL , Philosophie der Weltgeschichte (wie Anm. 39) 778. D EMANDT , Fall Roms (wie Anm. 3) 446–463.

Die Ungleichzeitigkeit von Germanen und Romanen im frühen Mittelalter

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sind im Lauf der Weltgeschichte bislang acht, teilweise gleichzeitig existierende „Kulturen“ aufgetreten, die gleich Organismen einen Zyklus von Jugend, Wachstum, Blütezeit und Verfall durchliefen.45 In Europa trat die „antike Kultur“ in der Spätantike in ihre letzte, erstarrte und potenzlose Phase ein, während im frühen Mittelalter der Aufstieg der „abendländischen Kultur“ begann, die in der Karolingerzeit ihre erste schöpferische Phase erlebte; der Begriff „Merowingerzeit“ diente Spengler sogar als Bezeichnung für die ihm zufolge typische, erste Phase im Lebenszyklus einer Kultur.46 Träger dieser neuen „abendländischen“ Kultur waren die Germanen. Unter ihnen erwachte die „faustische Seele“, deren „Körper“ die abendländische Kultur gewesen sei.47 Die erste Emanation dieser „faustischen Seele“ war Spengler zufolge die altgermanische Edda.48 Bedeutsam für die hier behandelte Fragestellung ist bei Spengler ferner, dass ihm zufolge ein wirklicher Austausch zwischen Kulturen nicht stattfinden kann. Sie sind Organismen gleich völlig voneinander abgeschlossene Einheiten, was ein Verstehen zwischen den Kulturen unmöglich macht. Fremde Einflüsse können zwar formal übernommen werden, falls sie das Potential zu bieten scheinen, in modifizierter Weise in die übernehmende Kultur fruchtbar integriert zu werden; bereits im Moment der Übernahme werden sie aber gemäß der eigenen Kultur so umgestaltet, dass sie im neuen Kontext eine völlig andere Bedeutung annehmen, als dies in der Ausgangskultur der Fall war. Formen werden also nur dann übernommen, wenn sie dem Übernehmenden die Möglichkeit zur eigenen Schöpfung zu bieten scheinen; Bedeutungen sind dagegen unübertragbar. Spengler nennt dies die „Kunst des planmäßigen Missverstehens“.49 Solche Deutungsmuster wurden verschiedentlich in der frühmittelalterlichen Archäologie verwendet, vor allem zur Erklärung der unleugbar vorhandenen römischen bzw. mediterranen Einflüsse auf die vermeintlich eigenständige „germanische“ Kunstentwicklung. In diesen Kontext gehören etwa die Ausführungen Hans Zeiss’, der bei den Germanen deren „Erbanlage zur selbstständigen Neugestaltung“ hervorhebt und ihre Fähigkeit betont, „sich Lehngut im besten Sinne zu eigen zu machen und auf ihm fußend Kulturwerte zu 45

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O. S PENGLER, Der Untergang des Abendlandes. Bd. 1. 11.–14. Aufl. (München 1920) 150–155. So spricht Spengler etwa davon, dass um 3000 v. Chr. in Ägypten die „Merowingerzeit“ der ägyptischen Kultur begonnen habe. Üblicherweise bezeichnet Spengler diese Phase als „Vorkultur“. Vgl. S PENGLER, Untergang (wie Anm. 45), Bd. 2. (München 1922) 46. S PENGLER, Untergang, Bd. 1 (wie Anm. 45) 254–257. S PENGLER, Untergang, Bd. 1 (wie Anm. 45) 256. S PENGLER, Untergang, Bd. 2 (wie Anm. 45) 62–68, bes. 65 und 67.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ein Epochengegensatz?

schaffen“.50 Ungeachtet der römischen Wurzeln des frühmittelalterlichen Tierstils meinte auch Herbert Kühn, der Mäander sei der „klarste Ausdruck des antiken Menschen“, wogegen die Tierornamentik den „faustischen Drang“ des „nordischen“ Menschen zum Ausdruck bringe.51

b) Das so genannte Kontinuitätsproblem Oben wurde bereits erwähnt, dass das Ergebnis bei der Frage nach historischer Kontinuität beziehungsweise Diskontinuität maßgeblich davon abhängt, wie man die unterschiedlichen gesellschaftlichen Dimensionen gewichtet. Das klassische Bild des Untergangs der antiken Welt in der Völkerwanderungszeit hat seine Wurzeln in der politischen Geschichte. Aus dieser Perspektive bedeuteten die politische Desintegration des Römischen Reiches und die anschließende Etablierung der „barbarischen“ Regna unzweifelhaft einen gravierenden Einschnitt. Ob dies für andere gesellschaftliche Bereiche gleichermaßen galt, war vor allem nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ein bedeutender Streitpunkt unter Historikern und Archäologen. Diese Auseinandersetzungen waren für die frühmittelalterliche Archäologie in zweierlei Hinsicht bedeutsam: Einerseits spielten im Laufe der Debatte archäologische Quellen zunehmend eine bedeutende Rolle, was nicht unwesentlich zum beträchtlichen Bedeutungsgewinn der frühmittelalterlichen Archäologie im Laufe der 1930er Jahre beitrug. Andererseits ist ihr Einfluss auf die bevorzugte Erforschung bestimmter archäologischer Quellengattungen sowie deren Interpretation nicht zu unterschätzen. Aus diesem Grund soll die Entwicklung der Hauptargumentationslinien der Auseinandersetzung kurz skizziert werden. Auslöser der Kontroverse war das monumentale Werk des österreichischen Historikers Alfons Dopsch über die „Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung“,52 dessen erster Band 1918 erschien. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war innerhalb der Archäologie verschiedentlich für eine zumindest teilweise Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter plä-

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H. Z EISS, Gedanken zum Vorgeschichtsunterricht. Deutsches Bildungswesen 3, 1935, 615–621, hier 618. H. K ÜHN , Das Kunstgewerbe der Völkerwanderungszeit. In: H. Th. Bossert, Geschichte des Kunstgewerbes aller Zeiten und Völker. Bd. 1 (Berlin 1928) 69–100, hier 71. A. D OPSCH , Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung. Aus der Zeit von Caesar bis auf Karl den Grossen. 2 Bde (2Wien 1923/1924).

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diert worden.53 Dopsch radikalisierte die bis dahin geäußerten, durchaus differenzierten Ansichten über den Übergang von der Antike zum Mittelalter, indem er sie auf zwei antagonistische Positionen reduzierte. Gemeinsam mit den Thesen Henri Pirennes bilden diese Positionen trotz aller daran geäußerter Kritik noch immer den Ausgangspunkt der Debatte über den Übergang von der Antike zum Mittelalter, auch wenn der statische Antagonismus von Katastrophe oder Kontinuität mittlerweile von dem dynamischeren und gleichzeitig neutraleren Bild der „Transformation“ der Antiken Welt abgelöst wurde.54 Die weit verbreitete Ansicht, mit dem Ende des Weströmischen Reiches sei auch dessen Kultur im weitesten Sinne untergegangen, fasste Dopsch mit dem Schlagwort „Katastrophentheorie“55 zusammen. Dieser stellte er die von ihm vertretene These einer weitgehenden Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter gegenüber. Seiner „Kontinuitätstheorie“ zufolge bedeutete das Ende des Römischen Reiches keineswegs das Ende der römischen Kultur; diese habe vielmehr die politische Zäsur weitgehend unbeschadet überstanden. Diese Sichtweise des Übergangs von der Antike zum Mittelalter resultierte aus einer stärkeren Gewichtung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte gegenüber der politischen Geschichte. Dopsch, der einen Großteil seines Gesamtwerkes den Problemen der frühmittelalterlichen Wirtschafts- und Sozialgeschichte widmete,56 behandelte in seinen „Grundlagen“ verschiedenste gesellschaftliche Bereiche. Gegenstand waren u. a. die Entwicklung des politischen Systems, der Sozialordnung, des Kirchenwesens, die Siedlungsformen, der Handel und die Münz- und Geldwirtschaft. Als Ergebnis seiner Untersuchung hielt er fest, dass zum einen der kulturelle Abstand zwischen Germanen und Römern nicht so bedeutend gewesen sei, wie lange Zeit vorausgesetzt wurde, da die Germanen bereits lange vor dem Ende der Reichseinheit tiefgreifend von der römischen Kultur beeinflusst worden waren. Andererseits betont er, dass die Germanen, nachdem sie die politische Nachfolge des Römischen Reiches angetreten 53

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Vgl. G. W OLFF , Römische Totenfelder in der Umgebung von Hanau. Westdt. Zeitschr. 2, 1883, 420–427, bes. 425 ff. – D ERS., Die Bevölkerung des rechtsrheinischen Germaniens nach dem Untergang der Römerherrschaft. Quartalbl. Hist. Ver. Hessen NF 1, 1891–95, 602–608. – F R . C RAMER, Römisch-fränkische Kulturzusammenhänge am Rhein. Ann. Hist. Ver. Niederrhein 91, 1911, 1–14. Vgl. W. P OHL , Introduction: The empire and the integration of Barbarians. In: Ders. (Hrsg.), Kingdoms of the empire. Transformation of the Roman world 1 (Leiden, New York, Köln 1997) 1–11, bes. 1. D OPSCH , Kulturentwicklung. Bd. 2 (wie Anm. 52) 5. H. V OLLRATH , Alfons Dopsch. In: H.-U. Wehler, Deutsche Historiker. Bd. 7 (Göttingen 1980) 39–54, hier 39.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ein Epochengegensatz?

hätten, aus eigenem Interesse eine grundsätzlich konservative Haltung gegenüber dem römischen Erbe an den Tag legten: Sie hätten dieses übernommen und weiterentwickelt.57 Trotz seiner radikalen Abkehr von vielen bis dahin vorherrschenden Deutungsmustern, hielt Dopsch an bestimmten traditionellen Positionen fest. Auch für ihn bedeutete der Übergang von der Antike zum Mittelalter gleichzeitig einen Wechsel des kulturtragenden Volkes von den Römern zu den Germanen. Innerhalb der frühmittelalterlichen Gesellschaft waren die Germanen die tonangebende Bevölkerung. Neben Mängeln im Detail sowie aufgrund des Umstands, dass Dopsch bei der Beurteilung der Werke seiner Kollegen wenig rücksichtsvoll verfuhr, war es vor allem seine Sicht der Wurzeln der frühmittelalterlichen Gesellschaft, die bei vielen Historikern und Archäologen des deutschsprachigen Raums lebhaften Widerspruch hervorrief. Dopsch zufolge waren die gesellschaftlichen Institutionen des frühen Mittelalters nicht germanischer, sondern weitgehend römischer Herkunft. Im Gegensatz zu vielen seiner Vorgänger sah er die Bedeutung der frühmittelalterlichen Germanen nicht darin, dass sie die „absterbende“ römische Kultur vernichtet und durch eine neue, lebenskräftigere ersetzt hätten. Ihr Verdienst bestehe im Gegenteil darin, bei der Eroberung des Römischen Reiches dessen Kultur übernommen und am Leben erhalten zu haben. Seine diesbezüglichen Ausführungen gipfeln in der Aussage, dass die Germanen nicht als Kulturfeinde die römische Kultur zerstört, sondern sie im Gegenteil erhalten und weitergeführt hätten.58 Aufgrund dieser Position wurde Dopsch für manche seiner Gegner zu einem „Romanisten“ und damit in einen Konflikt eingereiht, der im 18. und 19. Jahrhundert insbesondere unter französischen Historikern ausgetragen wurde und für den soziale Auseinandersetzungen innerhalb der französischen Gesellschaft den Hintergrund bildeten.59 Streitpunkt war dabei die Herleitung der Institutionen des frühmittelalterlichen Frankreichs. In Auseinandersetzung mit den sich auf die Bedeutung der germanisch-fränkischen Eroberung Galliens stützenden Thesen des Grafen Boulainvilliers60 (1658–1722) vertrat Abbé Jean Baptiste Dubos61 (1670–1742) erstmals die

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D OPSCH , Kulturentwicklung. Bd. 2 (wie Anm. 52) 540. D OPSCH , Kulturentwicklung. Bd. 1 (wie Anm. 52) 412 f. Vgl. dazu Kap. 8c – Zusammenfassend dazu jetzt: N ICOLET , Fabrique. H. DE B OULAINVILLIERS, Histoire de l’ancien gouvernement de la France (Den Haag, Amsterdam 1727). J. B. D UBOS, Histoire critique de l’établissement de la monarchie Françoise dans les Gaules (Paris 1734).

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Theorie von der Fortexistenz der staatlichen Institutionen des Römischen Reiches im Merowingerreich.62 Als sein bedeutendster Nachfolger im 19. Jahrhundert gilt Numa Denis Fustel de Coulanges,63 dessen diesbezügliche Arbeiten bis heute zu den grundlegenden Werken über diese Epoche zählen.64 Trotz der inhaltlichen Nähe unterschied sich Dopschs Position von der Fustel de Coulanges in vielem grundlegend.65 Während Fustel de Coulanges der Kultur der Germanen nur eine untergeordnete Rolle bei der Entstehung der frühmittelalterlichen Gesellschaft zubilligte, waren sie für Dopsch durchaus deren maßgebliche Träger, ungeachtet der Tatsache, dass sie viele Elemente der antiken Kultur übernahmen. Obwohl Marc Bloch bereits Mitte der 1920er Jahre darauf hinwies, dass die simplifizierenden antithetischen Positionen „Germanismus oder Romanismus“ grundsätzlich nicht geeignet sind, um das komplexe Phänomen der Formierung der mittelalterlichen Gesellschaft zu erfassen66, war dieses Denkschema noch lange wirksam. Im deutschsprachigen Raum waren „romanistische“ Positionen nach dem Ersten Weltkrieg wenig angesehen; so warf etwa der Rechtshistoriker Ulrich Stutz Dopsch explizit vor, dass sich dieser auf Fustel de Coulanges gestützt habe.67 Im Laufe der 1930er Jahre nahmen manche deutsche Historiker diesbezüglich noch radikalere „germanistische“ Positionen ein. Der österreichische Volkstumshistoriker Adolf Helbok definierte etwa Romanismus als die „übertriebene Auffassung von der Bedeutung der römischen Kultur “,68 und der Historiker Adolf Waas wollte in einer Ende der 1930er Jahre erschienenen Abhandlung nachweisen, dass der „deutsche“ Staat des Frühmittelalters „sich aus rein germanischen Elementen aufbaut“.69 Weiterhin wurden Parallelen zwischen Dopsch und dem belgischen Historiker Henri Pirenne gezogen, der Anfang der 1920er Jahre erstmals

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F R . H ARTOG , Le XIXe siècle et l’histoire. Le cas Fustel de Coulanges (Paris 1988) bes. 87–89. N. D. F USTEL DE C OULANGES, Histoire des institutions politiques de l’ancienne France. Bd. 2. L’invasion germanique et la fin de l’Empire (Paris 1891). B RÜHL , Geburt, 16. M. B LOCH , Sur les grandes invasions. In: Ders., Melanges historiques. Bd. 1 (Paris 1963) 102. M. B LOCH , La société du Haut Moyen Âge et ses origines. Journal des Savants NF 24/9, 1926, 403–420, bes. 407–409. U. S TUTZ , Alfons Dopsch und die Deutsche Rechtsgeschichte. Zeitschr. der SavignyStiftung f. Rechtsgesch., GA 46, 1926, 331–359, bes. 348 ff. H ELBOK , Grundlagen, Bd. 1, IV. A. W AAS, Herrschaft und Staat im deutschen Frühmittelalter. Hist. Stud. 335 (Berlin 1938) Vorwort.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ein Epochengegensatz?

die These vortrug,70 dass die Etablierung der westeuropäischen Nachfolgestaaten im 5. und 6. Jahrhundert nicht das Ende des Römischen Reichs bedeutet habe. Erst mit der Expansion des Islams im 7. Jahrhundert und der damit verbundenen Zerstörung des mediterranen Verkehrsraumes sei das Ende der Antike anzusetzen. Wie Dopsch gewichtete auch Pirenne die soziale und vor allem die wirtschaftliche Entwicklung stärker als die des politischen Machtstaates. Den Einfluss der Germanen auf Entwicklung der Gesellschaft schätzte er dagegen eher gering ein. Nur wenige germanische Siedler hätten sich auf dem Gebiet des ehemaligen Römischen Reiches niedergelassen, die staatlichen Institutionen im frühen Mittelalter seien nach wie vor römisch geprägt gewesen. Insgesamt maß er der germanischen Bevölkerung noch im 6. Jahrhundert keine besondere Bedeutung zu. Pirennes Theorie erfuhr wie Dopschs These von verschiedenen Seiten Widerspruch und Korrektur. Ungeachtet aller Kritik beschäftigt und befruchtet sie die historische und archäologische Forschung bis heute.71 Pirennes Ansatz, das 7. Jahrhundert als wichtigsten Einschnitt im fraglichen Zeitraum anzusehen, hat sich vielfach bestätigt; so vertritt gegenwärtig etwa Alexander Demandt die Position, dass in diesem Jahrhundert aufs Ganze gesehen mehr Fäden der historischen Entwicklung abgerissen seien, als in irgendeinem anderen der europäischen Geschichte.72 Für die hier behandelte Frage ist es von noch größerem Belang, wie die Rolle der Germanen von der Spätantike zum frühen Mittelalter beurteilt wird. Sowohl bei Dopsch als auch bei Pirenne haben die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs eine Rolle bei der Darstellung der Germanen gespielt.73 Pirenne wandte sich erst nach dem Ersten Weltkrieg der frühmittelalter70

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H. P IRENNE , Mahomet und Charlemagne. Rev. Belge Philologie Hist. 1, 1922, 77–86. – D ERS., Un contraste économique. Mérovingiens et Carolingiens. Rev. Belge Philologie Hist. 2, 1923, 223–235. Vgl. T. K ÖLZER, Kulturbruch oder Kulturkontinuität? Europa zwischen Antike und Mittelalter. Die Pirenne-These nach 60 Jahren. In: K. Rosen (Hrsg.), Das Mittelmeer – die Wiege der europäischen Kultur (Bonn 1998) 208–227. – P. D ELOGU , Reading Pirenne again. In: R. Hodges/W. Bowden (Hrsg.), The sixth century. The Transformation of the Roman world 3 (Leiden 1998) 15–40. – Zur Wirkung in der Archäologie vgl. R. H ODGES, Towns and trade in the Age of Charlemagne (London 2000) bes. 16 ff. – D ERS./D. W HITEHOUSE , Mohammed, Charlemagne, and the origins of Europe. Archaeology and the Pirenne thesis (London 1983). – H. S TEUER, Die Kultur der Germanen von Theoderich dem Großen bis Karl dem Großen. In: H. Pirenne, Mohammed und Karl der Große. Die Geburt des Abendlandes (Stuttgart, Zürich 1987) 207–304. D EMANDT , Spätantike (wie Anm. 2) 458. K ÖLZER, Kulturbruch (wie Anm. 71) 210.

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lichen Geschichte zu.74 Aufgrund seiner rückhaltlosen Kritik an der nationalistischen Haltung weiter Teile der deutschen Historikerkollegen seiner Zeit, wurde er für diese zum wichtigsten Gegner.75 Bei Dopsch ist dagegen das Bemühen zu erkennen – wohl in Auseinandersetzung mit der alliierten Propaganda während des Ersten Weltkriegs76 –, das Bild der Germanen als Vernichter der antiken Kultur zu korrigieren, und im Gegenteil deren Leistungen für das Werden der mittelalterlichen Gesellschaft hervorzuheben.77 Eine solche Absicht stand in Einklang mit Dopschs politischer Haltung.78 Trotzdem stieß Dopsch ähnlich wie wenig später Pirenne bei der Frage, wie die Rolle der Germanen zu Beginn des Mittelalters zu bewerten sei, auf großen, zum Teil erbitterten Widerspruch. Pirenne, den einer seiner Biographen als „lediglich moderaten Romanisten“ bezeichnete,79 wurde von Rudolf Buchner in einer richtungsweisenden Rezension zu Pirennes posthum veröffentlichtem Werk „Mahomet et Charlemagne“ vorgeworfen, seine Darstellung sei von „ungeheurer Einseitigkeit“ geprägt, da er ausdrücklich bestreite, das „Germanentum“ habe seit der Gründung der „Germanenreiche“ großen Einfluss auf die Entwicklung der mediterranen Welt ausgeübt. Ebenso verkenne Pirenne die Bedeutung der germanischen Elemente im Wesen und Aufbau des Mero-

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B. L YON , Die wissenschaftliche Diskussion über das Ende der Antike und den Beginn des Mittelalters. In: Pirenne, Mohammed (wie Anm. 71) 7–19, hier 13. S CHÖTTLER, Westforschung, 225. Vgl. Kap. 10. D OPSCH , Grundlagen. Bd. 1 (wie Anm. 52) bes. 407–413. – A. D OPSCH , Der Wiederaufbau Europas nach dem Untergange der alten Welt. In: Die feierliche Inauguration der Rektors der Wiener Universität 1920/21 (Wien 1920) 65–80. Dopsch beschreibt in einem autobiographischen Text seine politische Haltung schon früh als „ausgesprochen großdeutsch“. Vgl. A. D OPSCH , Selbstdarstellung. In: S. Steinberg (Hrsg.), Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Bd. 1 (Leipzig 1925) 51–90, hier 52. Nach 1918 engagierte er sich in der Volkstumsforschung, besonders in bezug auf die Belange der Sudetendeutschen. Vgl.: Ergänzung zur Selbstdarstellung. In: A. Dopsch, Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (Wien 1938) 319–328, hier 321. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich Dopsch an dem von der Leipziger „Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung“ herausgegebenen Band über den „ostdeutschen Volksboden“ beteiligte. Vgl. A. D OPSCH , Die historische Stellung der Deutschen in Böhmen und Mähren. In: W. Volz, Der ostdeutsche Volksboden. Aufsätze zu den Fragen des Ostens (Breslau 1926). Zu diesem Band: F AHLBUSCH , Stiftung 126. – Dopsch gehörte Anfang der 30er Jahre auch zu den Gründungsmitgliedern der „Alpenländischen Forschungsgemeinschaft“. F AHLBUSCH , Forschungsgemeinschaften, 299. B. L YON , Henri Pirenne. A biographical and intellectual study (Gent 1974) 449.

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wingerreichs.80 Dabei war Pirennes Position gegenüber den Germanen keinesfalls ausschließlich negativ: so waren für ihn die Germanen dazu berufen, beim Wiederaufbau Europas in der Karolingerzeit nach dem Zusammenbruch der antiken Welt eine konstruktive Rolle zu spielen.81 Im deutschsprachigen Raum war Hermann Aubin wohl der bedeutendste wissenschaftliche Gegenspieler von Dopsch und Pirenne.82 In ungleich stärkerem Maße als bei seinen Kontrahenten wurde seine wissenschaftliche Position von seiner politischen Haltung geprägt.83 Deutlich ist bei ihm das Bemühen zu erkennen, gegen Dopsch und Pirenne die Bedeutung der Völkerwanderung als kulturelle Zäsur hervorzuheben. Diese wurde von ihm mit der bezeichnenden Formel einer „großen Revolution der germanischen Völkerwanderung“ umschrieben.84 Wie im zweiten Hauptteil dieser Arbeit ausführlich gezeigt wird, spielten archäologische Argumente im Laufe dieser Debatte zunehmend eine zentrale Rolle.85 Bereits Dopsch hatte sich in starkem Maße auf archäologische Quellen gestützt. Mit Hilfe von „Prähistorie und Archäologie“ – so führt er in seinen „Grundlagen“ aus – sei es möglich, zeitnahe Primärquellen zu gewinnen und auf diese Weise die einseitigen Schilderungen der antiken Autoren zu korrigieren. In diesem Zusammenhang hebt er besonders die Erkenntnisse zur spätrömischen Epoche hervor und würdigt die Arbeiten der Reichslimeskommission, des Römisch-Germanischen Zentralmuseums in Mainz sowie der Altertumsund Geschichtsvereine.86 Retrospektiv schrieb Dopsch, gerade der Fortschritt der Forschung auf diesem Gebiet habe eine bedeutende Rolle für die Konzeption seiner Arbeit dargestellt. Die germanische Altertumskunde habe außer auf der linguistisch-philologischen auch auf der archäologischen Seite große Fortschritte gemacht und deshalb seinen Forschungen einen sicheren Ausgangspunkt geboten.87 Aus diesem Grund widmete 80

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R. B UCHNER, Der Beginn des Mittelalters. In: P. E. Hübinger, Bedeutung und Rolle des Islams beim Übergang vom Altertum zum Mittelalter. Wege der Forschung 202 (Darmstadt 1968) 58–64, hier 60 und 62. (Erstdruck 1939). H. P IRENNE , Mohammed und Karl der Grosse (Frankfurt 1985) 134. H. A UBIN , Zur Frage der historischen Kontinuität im Allgemeinen. In: Hübinger, Kulturbruch, 164–202. – D ERS., Absterben (wie Anm. 14). – D ERS., Scheide (wie Anm. 1). – D ERS., Vom Altertum zum Mittelalter. Absterben, Fortleben und Erneuerung (München 1949). H.-E. V OLKMANN , Historiker aus politischer Leidenschaft. Hermann Aubin als Volksgeschichts-, Kulturboden- und Ostforscher. Zeitschr. f. Geschichtswiss. 49/1, 2001, 32–49. Zu Aubins Rolle innerhalb der Volkstumsforschung vgl. Kap. 11c. A UBIN , Frage (wie Anm. 82) 174. Vgl. Kap. 11 und 12. D OPSCH , Kulturentwicklung. Bd. 1 (wie Anm. 52) 51. D OPSCH , Selbstdarstellung (wie Anm. 78) 82.

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er den ersten Band seines Werkes „Den Deutschen Altertums- und Geschichtsvereinen“. Siedlungsforschung als Kontinuitätsforschung versus Gräberarchäologie und Diskontinuität? Sowohl Dopsch als auch seine wissenschaftlichen Gegner griffen auf archäologische Argumente zurück, allerdings tendenziell auf unterschiedliche Ausschnitte des archäologischen Quellenmaterials. Aus dieser Konstellation entwickelte sich im Laufe der Zeit eine gewisse Aufgabenteilung bei der Heranziehung der verschiedenen archäologischen Quellengattungen: Die Befürworter des Kontinuitätsdenkens neigten wie Alfons Dopsch im Allgemeinen dazu, sich vor allem auf die Entwicklung des Siedlungsgefüges zu stützen. Diese Tendenz hängt eng mit den spezifischen Eigenschaften der siedlungsarchäologischen Quellen zusammen, auf die an dieser Stelle kurz eingegangen werden soll, da sie im weiteren Verlauf dieser Arbeit nur noch am Rande behandelt werden. In Regionen, die für die Landwirtschaft attraktiv sind, kommen umfassende Unterbrechungen der Siedlungstätigkeit nur äußerst selten vor. Fast immer ist irgendeine Form von Siedlungskontinuität nachzuweisen,88 wobei als Erklärung für etwaige Lücken in der Entwicklung in jedem Fall auch der fragmentarische Charakter der archäologischen Quellen in Betracht zu ziehen ist. Darüber hinaus sind Anhaltspunkte für politisch oder ethnisch bedingte Wechsel des Siedlungsmusters nur schwer zu gewinnen. Siedlungstypen sind in viel stärkerem Maße an bestimmte Wirtschaftsweisen als an ethnische Traditionen gebunden. So belegt das Abbrechen typischer antiker Siedlungtypen, wie der villae rusticae, in erster Linie das Ende der römischen Villenwirtschaft und nicht das Ende der römischen Bevölkerung in den betreffenden Gebieten; das Fortleben der ehemals römischen Bevölkerung in Westeuropa wäre sonst schwerlich zu erklären. Auf der anderen Seite galten bestimmte Siedlungsformen, wie ländliche Siedlungen, die aus Wohnhäusern in Holzbauweise sowie Grubenhäusern und Speicherbauten bestanden, lange Zeit als unzweifelhaft „germanisch“.89 Mit88

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Zu den verschiedenen Erscheinungsformen der Siedlungskonstanz vgl. S T. E ISMANN , Frühe Kirchen über römischen Grundmauern. Untersuchungen zu ihren Erscheinungsformen in Südwestdeutschland, Südbayern und der Schweiz. Freiburger Beitr. Arch. Gesch. d. ersten Jahrt. 8 (Rahden/Westf. 2004) bes. 167–169. Vgl. etwa J. H ENNING , Germanische Siedlungen in Nordgallien. Zeitschr. f. Arch. 23, 1989, 211–217.

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unter gilt das Vorkommen von Häusern in Holzbauweise oder gar einzelner Pfostenlöcher auf ehemals römischen Siedlungsplätzen bereits als Beleg für eine „germanische“ Weiternutzung.90 Sehr selten sind dagegen Befunde von Siedlungen, die hinsichtlich Bauweisen und Sachkultur derart fremd in ihrem Umfeld wirken, dass sie tatsächlich plausibel als Niederlassungen von Siedlergemeinschaften aus dem Barbaricum interpretiert werden können.91 Gegen die schematische Interpretation bestimmter Bauweisen als „germanisch“ wurden in letzter Zeit gewichtige Einwände vorgebracht. Grundsätzlich wurde zu bedenken gegeben, dass die Unterteilung der spätantiken und frühmittelalterlichen Siedlungsformen Nordgalliens92 in „germanische“ und „römische“ bzw. „nichtgermanische“ Formen in der Vergangenheit zu sehr von entsprechenden Interpretationen der Grabfunde beeinflusst wurde. Sie sei insgesamt nicht geeignet, die komplexe Entwicklung des Siedlungswesens adäquat zu beschreiben.93 Vermeintlich typisch „germanische“ Siedlungsformen, wie Pfostenbauten oder Grubenhäuser, kamen in Nordgallien seit dem 4. Jahrhundert parallel zu den zunächst weiterhin genutzten Villen auf, die in verminderter Zahl auch in Nordgallien bis ans Ende des 5. bzw. den Anfang des 6. Jahrhunderts genutzt und mitunter sogar mit neuen Mosaikfußböden ausgestattet wurden.94 Daneben fand ebenfalls eine Entwicklung einheimischer Bauformen statt. Verstärkt wurde nun die Holzbauweise genutzt, auch Pfostenbauten und Grubenhäuser wurden errichtet. Aufgrund der Übereinstimmung dieser Bauformen mit jenen der Germania brachte man diese Erscheinungen in der Vergangenheit häufig mit einer Einwanderung germanischer Personengruppen in Verbindung.95 Bestimmte Bauformen wie Grubenhäuser sind jedoch nicht vorwiegend 90

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Ein extremes Beispiel dieser Argumentationsweise bietet K. H. L ENZ , Germanische Siedlungen des 3. bis 5. Jahrhunderts n. Chr. in Gallien. Schriftliche Überlieferung und archäologische Befunde. Ber. RGK 86, 2005, 349–444, bes. 386 ff. Vgl. vor allem den Befund von Saint-Ouen-du-Breuil: V. G ONZALES /P. O UZOULIAS /P. V AN O SSEL , Saint-Ouen-du-Breuil (Haute-Normandie, Frankreich) – eine germanische Siedlung aus der Mitte des 4. Jahrhunderts. Germania 79/1, 2001, 43–61. Eine Übersicht bei E. P EYTREMANN , Ländliche Siedlungen des 4. bis 7. Jahrhunderts in Nordfrankreich. Acta Arch. et Praehist. 30, 1998, 198–210. P. V AN O SSEL , La part du Bas-Empire dans la formation de l’habitat rural du VIe siècle. In: N. Gauthier/H. Galinié (Hrsg.), Grégoire de Tours et l’espace gaulois. Actes du congrès international Tours, 3.–5. novembre 1994 (Tours 1997) 81–91, hier 81. – F. T HEUWS /H. A. H IDDINK , Der Kontakt zu Rom. In: Die Franken – Wegbereiter Europas, 66–80, hier 66. O SSEL , Part du Bas-Empire (wie Anm. 93), hier 82 f. O SSEL , Part du Bas-Empire (wie Anm. 93) 84–86.

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kulturell, sondern zumindest gleichermaßen funktional bedingt, weshalb sie auch in anderen zeitlichen und kulturellen Zusammenhängen nicht unbekannt sind.96 Sie wurden über vermeintliche oder tatsächliche kulturelle Schranken hinweg übernommen und lassen somit nicht unbedingt die Herkunft ihrer Benutzer erkennen.97 Ein paralleler Befund zum fränkischen Nordgallien zeichnet sich im langobardenzeitlichen Italien ab. Grubenhäuser finden sich hier nicht allein im langobardischen Teil der Apenninenhalbinsel, wie in Brescia,98 sondern ebenfalls im durchgehend byzantinisch gebliebenen Apulien, wo nicht mit der Anwesenheit germanischer Einwanderer zu rechnen ist.99 Im Gegensatz zu den Siedlungen galten die frühmittelalterlichen Grabfunde im Laufe der oben geschilderten Kontroverse zunehmend als Kronzeugen für germanische Landnahmevorgänge. Eine dichte Verbreitung frühmittelalterlicher Reihengräber in einem bestimmten Gebiet werteten viele Archäologen und Historiker als sicheren Beleg für eine bedeutende germanische Bevölkerung, die je nach Intensität fast zwangsläufig eine Veränderung oder den Abbruch der römischen Besiedlung zur Folge gehabt haben muss. Aus diesem Grund stützten sich Anhänger einer Kulturzäsur zwischen Antike und Mittelalter verstärkt auf Untersuchungen zu Grabfunden. Diese Rolle der Grabfunde ist ebenfalls auf die spezifischen Eigenschaften der Quellengattung Grab zurückzuführen. Grabformen reflektieren über ihre grundlegende funktionale Dimension hinaus in großem Maße gesellschaftliche Entwicklungen. Insbesondere aufwendige Grabformen sind als Mittel sozialer Kommunikation und Distinktion starken Modeerscheinungen unterworfen und ändern sich mitunter recht abrupt.100 Voraussetzung für jede Rekonstruktion von Bevölkerungsverschiebungen anhand von Grabfunden ist deshalb, dass Innovationen im Bereich der Grabformen nur innerhalb spezifischer ethnischer oder kultureller Traditionen auftreten. Aus diesem Grund verwundert es nicht, dass gerade die 96

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So etwa in Bezug auf die Grubenhäuser: R. S TRUWE , Erdhütte – Wohngrube – Grubenhaus. Ethnoarchäologisches zur Funktion eingetiefter Behausungen. In: M. Meyer (Hrsg.), „ … trans Albim Fluvium“. Festschrift für Achim Leube zum 65. Geburtstag. Studia honoraria 10 (Rahden/Westf. 2001) 51–61. T HEUWS /H IDDINK , Kontakt (wie Anm. 93) 78. G. P. B ROGIOLO, Transformazioni urbanistiche nella Brescia longobardo. In: C. Stella/G. Spinelli (Hrsg.), S. Giulia di Brescia. Archeologia, arte, storia di un monastero regio dai Longobardi al Barbarossa. Atti del Convegno Internazionale, Brescia 4–5 maggio 1990 (Brescia 1992) 179–210. P. A RTHUR, Grubenhauser nella Puglia bizantina. A proposito di recenti scavi a Supersano (LE). Arch. Medievale (Firenze) 26, 1999, 171–177, bes. 175. Vgl. Kap. 17a.

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Anhänger des Kontinuitätsgedankens, wie Fustel de Coulanges101 und Pirenne102, der ethnischen Gebundenheit von Grabformen und -funden grundsätzlich skeptisch gegenüberstanden, oder sie wie Dopsch103 in ihren Arbeiten nicht in diesem Sinne berücksichtigen.

c) Die Völkerwanderung als Zäsur Die Ansiedlung barbarischer Bevölkerungsteile auf dem Gebiet des Römischen Reiches sowie die Etablierung der sogenannten „Germanenreiche“ galten – wie bereits erwähnt – vielfach als entscheidende Zäsur zwischen Antike und Mittelalter. Über die Bewertung dieses Vorganges sowie der Rolle, die die Germanen dabei spielten, wurden im Laufe der Forschungsgeschichte höchst widersprüchliche Ansichten geäußert. Die beiden Pole, zwischen denen sich die Auffassungen bewegen, lassen sich mit zwei bekannten Zitaten verdeutlichen. Den ersten Band seiner „Grundlagen“ schloss Alfons Dopsch mit einer wenige Jahre zuvor publizierten Feststellung des finnischen Historikers Johannes Sundwall, der zufolge das Römische Reich „ohne Erschütterung eingeschlafen“ sei.104 Die wohl deutlichste Gegenposition formulierte 1947 sein französischer Kollege André Piganiol, der an das Ende seines Werkes über das spätantike christliche Imperium das Fazit stellte, dass die römische Zivilisation keines natürlichen Todes gestorben sei, sondern „ermordet“ wurde.105 Als „Mörder“ identifizierte er die Barbaren.106 Derart polarisierte Positionen wurden in den letzten Jahrzehnten kaum mehr vertreten, sieht man einmal vom britischen Gelehrten Bryan WardPerkins ab, der jüngst die Germanen erneut des „Totschlags“ an der römischen Zivilisation bezichtigte.107 Dass sich die große Mehrheit der Historiker und Archäologen von solchen Polarisierungen mittlerweile weit entfernt 101

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N. D. F USTEL DE C OULANGES, Histoire des institutions politiques de l’ancienne France. La monarchie franque (Paris 1888) 296. H. P IRENNE , Mahomet et Charlemagne (8Paris, Brüssel 1937) 112–115. D OPSCH , Kulturentwicklung. Bd. 1(wie Anm. 52) 144–149. J. S UNDWALL , Weströmische Studien (Berlin 1915) 19. – D OPSCH , Kulturentwicklung. Bd. 1 (wie Anm. 52) 413. A. P IGANIOL , L’empire chrétien (325–395). Histoire romaine, Bd. IV/2 (Paris 1947) 422: „La civilisation romaine n’est pas morte de sa belle mort. Elle a été assassinée.“ P IGANIOL , Empire (wie Anm. 105) 420 f. B. W ARD -P ERKINS, The Fall of Rome and the End of Civilisation (Oxford 2005) bes. 134. – Zur holzschnittartigen Argumentationsweise Ward-Perkins vgl. G. H ALSALL , Rez. Ward-Perkins, The Fall of Rome. Early Medieval Europe 16, 2008, 384–386.

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hat, heißt aber nicht, dass die zugrunde liegenden antagonistischen Anschauungen vollständig überwunden wären. Indirekt leben die entgegengesetzten Bewertungen und Modelle in der Terminologie fort, die Archäologen und Historikern zur Beschreibung der germanischen Ansiedlungen auf dem Gebiet des ehemaligen Römischen Reichs verwenden. Häufig nehmen sie grundlegende Interpretationen bereits durch die Wahl der verwendeten Begriffe vorweg, ohne dass die Plausibilität des zugrunde liegenden Modells erläutert würde. Bei näherer Betrachtung der verwendeten Begriffe ist zudem zu erkennen, dass manche auf unsicheren historischen Prämissen aufbauen oder ideologisch belastet sind. Aus diesem Grund sollen kurz die wichtigsten Begriffe bzw. Modelle erläutert werden, die in der archäologischen Forschung üblich sind. Beim Begriff „Völkerwanderung“ handelt es sich um eine Übersetzung des lateinischen migratio gentium, ein Ausdruck, der von den Humanisten geprägt wurde, um die Barbareneinfälle zu bezeichnen, die ihrer Ansicht nach die römische Welt zerstörten. Seit seiner ersten Verwendung durch den österreichischen Geschichtsschreiber Wolfgang Lazius im Jahre 1557 wurde er nach und nach zu einem zentralen Begriff der spätantiken und frühmittelalterlichen Geschichte.108 Die Bezeichnung „Völkerwanderung“ ist in zweierlei Hinsicht problematisch. Zum einen ist „Volk“ ebenso wie „Stamm“ keineswegs eine adäquate Übersetzung für das lateinische gens. Eine solche Übersetzung verhindert im Gegenteil bisweilen sogar das Verständnis der in den Quellen geschilderten Zusammenhänge. Matthias Springer zufolge ist etwa der Ausdruck gens francorum richtiger als „Geschlecht der Franken“ und nicht als „Volk“ oder „Stamm der Franken“ zu übersetzen.109 Selbst wenn in Bezug auf die Völkerwanderungen nicht der antike Quellenbegriff gens, sondern der moderne Volksbegriff zugrunde gelegt wird, bleibt der Ausdruck „Völkerwanderung“ problematisch. Manche der germanischen „Völker“ des frühen Mittelalters glichen in bestimmten Abschnitten ihrer Geschichte eher Armeen, die der Kontrolle der Reichsregierung entglitten waren, und entsprechen kaum unseren modernen Volksvorstellungen; die Frage „Volk oder Armee“ wird von der Geschichtsforschung bis heute lebhaft diskutiert.110 Zur Beschreibung sukzessiver, nicht gesteuerter, kleinräumiger Mi108

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K. R OSEN , Die Völkerwanderung (2München 2003) 28–37. – G OFFART , Barbarian Invasions, 93. – H. W OLFRAM , Die Germanen (München 1995) 86. S PRINGER, Geschichtsbilder, 224 f. P OHL , Zwischenbilanz, 18 f. – M. K ULIKOWSKI , Nation versus Army: A necessary contrast? In: A. Gillet (Hrsg.), On Barbarian identity. Critical approaches to ethnicity in the Early Middle Ages (Turnhout 2002) 69–84.

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grationsbewegungen, wie sie mittlerweile etwa für die Ansiedlung der Franken in Nordgallien diskutiert werden,111 ist dieser Begriff jedenfalls kaum geeignet. Darüber hinaus liegt dem Begriff die Vorstellung zugrunde, dass mitunter ganze Völker wandern. Bei dem Motiv, dass ein Volk vor seiner endgültigen Niederlassung erst eine langandauernde Wanderschaft zu absolvieren habe, handelt es sich nicht um eine Erfindung der neuzeitlichen Historiographie. Bereits in der frühmittelalterlichen Literatur finden sich solche Topoi, wobei der Prestigegewinn offenbar umso größer war, je weiter der Ausgangspunkt der Wanderschaft vom späteren Siedlungsgebiet entfernt lag.112 Die Beispiele der trojanischen Herkunft der Franken oder der Sachsen aus Makedonien verdeutlichen jedoch den mehr oder minder erkennbar fiktiven Charakter solcher Herkunftsmythen. Grundsätzlich ist nicht einzusehen, weshalb man der angeblichen Herkunft verschiedener frühmittelalterlicher Völker aus Skandinavien oder der östlichen Germania mehr Vertrauen schenken sollte.113 Ob es tatsächlich möglich ist, aus den verschiedenen Herkunftsmythen der frühmittelalterlichen Völker einen historisch „wahren Kern“ herauszuschälen, etwa eine Wanderung der Goten von der Weichselmündung nach Italien und Spanien, wie dies in der historischen und archäologischen Forschung gelegentlich unternommen wird,114 ist gegenwärtig umstritten.115 Im Französischen wird der Begriff der Völkerwanderungszeit meist mit dem Ausdruck „Les invasions barbares“ oder „Les grandes invasions (germanique)“ wiedergegeben.116 Die englischsprachige Übersetzung als „Barbarian invasions“ ist weniger geläufig. Im deutschsprachigen Raum wird in Bezug auf die Germanen die Bezeichnung „Invasion“ nur ausnahmsweise verwendet. Als Umschreibung des Auftretens barbarischer Gruppen in der 111 112 113 114

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B ÖHME , Söldner, 101. G OFFART , Barbarian invasions, 88 ff. G OFFART , Barbarian invasions, 90. H. W OLFRAM , Die Goten (München 1979). – V. B IERBRAUER, Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.–7. Jahrhundert. Versuch einer Bilanz. Frühmittelalterl. Stud. 28, 1994, 51–172. W. G OFFART , Does the distant past impinge on the Invasion Age Germans? In: Gillet, Barbarian identity (wie Anm. 110) 21–37. Vgl. etwa die wichtigsten französischsprachigen Handbücher: P. C OURCELLE , Histoire littéraire des grandes invasions germaniques (Paris 31964). – E. D EMOUGEOT , La formation de l’Europe et les invasions barbares. Des origines germaniques à l’avènement de Dioclétien (Paris 1969). – L. H ALPHEN , Les barbares des grandes invasions aux conquetes turques de XIe siècle (Paris 1997). (Erstauflage 1926). – F. L OT , Les invasions germaniques (Paris 21945). – P. R ICHÉ , Les invasions barbares. Que sais-je 556 (Paris 91996).

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Spätantike und dem frühen Mittelalter evoziert die Verwendung des Begriffs „Invasion“ das Bild eines plötzlichen, planmäßig durchgeführten Einbruches kriegerischer Verbände. Dieses Modell ist zur Beschreibung mancher Ereignisse gut geeignet; so für die typischen, schnell durchgeführten Plünderungszüge, die nicht nur an den Grenzen des spätantiken Reiches regelmäßig vorkamen, oder den sogenannten „Vandalensturm“117 zu Beginn des 5. Jahrhunderts. Als Erklärung jener Ereignisse, die beispielsweise im Gebiet des späteren Merowingerreiches die Ansiedlung größerer barbarischer Verbände zur Folge hatten, führt es jedoch in die Irre. Die Ansiedlung der Westgoten und Burgunden wurde durch Verträge zwischen den gentes und der römischen Regierung geregelt. Die Franken haben genauso wenig Gallien erobert,118 wie die Alemannen das Limeshinterland.119 Über die Modalitäten der Etablierung der Bajuwaren in Raetien und Noricum liegen schließlich überhaupt keine Informationen vor. Grundsätzlich ist bei der Bewertung antiker Schilderungen über das Ausmaß und das Bedrohungspotential durch barbarische Einfälle Vorsicht geboten. Selbst Autoren, die den Gegenstand ihrer Darstellung aus eigener Anschauung gut kannten, verfolgten nicht primär das Ziel, die tatsächlichen Begebenheiten möglichst objektiv wiederzugeben, sondern gestalteten sie nach anderen, literarischen oder politischen Zwecken.120 Problematisch ist darüber hinaus die weitgehend exklusive Assoziierung der „Völkerwanderung“ oder der „Invasionen“ mit den Germanen. Bei der „germanischen Völkerwanderung“ bzw. den „ grandes invasions germaniques “ handelt es sich um stehende Begriffe. Autoren, die Einfälle der Barbaren als Ursache für das Ende des Römischen Reiches ansahen, meinten damit fast immer die Germanen. Aber nicht einmal in Westeuropa handelte es sich bei den Barbaren ausschließlich um Germanen (weder ethnographisch noch linguistisch), sondern hier waren ebenfalls Hunnen und Alanen beteiligt.121 Weiterhin war das Phänomen der „barbarischen“ Einfälle keineswegs auf die von Germanen bedrohten Rhein- und Donaupro117

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H. W OLFRAM , Das Reich und die Barbaren. Siedler Deutsche Geschichte 1 (Berlin 1998) 231–233. W ERNER, Conquête franque. Vgl. Kap. 17c. Vgl. etwa J. F. D RINKWATER, Julian and the Franks and Valentinian I and the Alamannni: Ammianus on Romano-German relations. Francia 24/1, 1997, 1–16. Für eine entscheidende Rolle der Hunnen beim „Fall“ des Weströmischen Reichs plädierte in den letzten Jahren vor allem der britische Historiker Peter Heather: vgl. P. H EATHER, The Huns and the End of the Roman Empire in Western Europe. English Hist. Review 110, 1995, 4–41. – D ERS., The Fall of the Roman Empire. A new history (London 2005).

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„Germanen“ und „Romanen“: Ein Epochengegensatz?

vinzen beschränkt. In ähnlicher Weise wurden die Britischen Inseln von Iren und Pikten, Nordafrika von Berberstämmen oder Kleinasien von Isauriern heimgesucht.122 Insgesamt erscheint der Begriff der „Invasion“ ebenso wenig wie „Völkerwanderung“ geeignet, die Niederlassung „barbarischer“ Gruppen auf dem Gebiet des Römischen Reiches während der Spätantike adäquat zu beschreiben. Walter Goffart zufolge handelt es sich auch hier um einen Fall, in dem von der Forschung lange Zeit gebrauchte Begriffe kaum noch den aktuellen Forschungsstand auszudrücken vermögen, sondern dies im Gegenteil eher behindern.123 Ein weiterer in diesem Kontext bis in die Gegenwart häufig verwendeter Begriff ist „Landnahme“.124 Er ist unzweifelhaft stark ideologisch geprägt.125 Abgeleitet wurde er vom isländischen Landnámabók, einem Werk des 12. Jahrhunderts, in dem die an der Kolonisation Islands beteiligten Personen aufgezählt werden.126 Vor diesem Hintergrund erscheint der Begriff zur Beschreibung der friedlichen Erschließung unbesiedelten oder zumindest weitgehend unbesiedelten Gebietes geeignet. In der deutschsprachigen Forschung wurde er dagegen zur Bezeichnung der kriegerischen Eroberung eines Landes und der damit verbundenen Unterwerfung einheimischer Bevölkerungsteile verwendet. Dabei erweckt der Begriff Landnahme den irrigen Eindruck, es habe sich bei den entsprechenden Vorgängen um planmäßige und zielgerichtete Unternehmen gehandelt,127 wenn nicht gar „Landhunger“ oder „Raumnot“ als eigentliche Auslöser der Wanderung angesehen wurden. Solche Vorstellungen werden heute nicht mehr ernsthaft diskutiert. Darüber hinaus ist strittig, ob bzw. in welchem Maße Landzuweisungen bei der vertraglich geregelten Einquartierung barbarischer Völker bzw. Armeen auf römischem Boden überhaupt eine Rolle gespielt haben. Ob bei Siedlungsvorgängen im Rahmen des römischen Sys-

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G OFFART , Barbarian invasions, 88. G OFFART , Barbarian invasions, 87. Am umfassendsten zuletzt in: M. M ÜLLER -W ILLE /R. S CHNEIDER (Hrsg.), Ausgewählte Probleme europäischer Landnahmen des Früh- und Hochmittelalters. Methodische Grundlagendiskussion im Grenzbereich zwischen Archäologie und Geschichte. Vorträge und Forschungen 41. 2 Bde (Sigmaringen 1993/94). – Zur Kritik der Verwendung des Landnahmebegriffs in diesen Bänden: H. W OLFRAM , Landnahme, Stammesbildung und Verfassung. Überlegungen zu „Vorträge und Forschungen“ 41,1 und 2. Dt. Archiv f. Erforsch. d. Mittelalters 52, 1996, 161–170. R. C ORRADINI , s.v. Landnahme. In: RGA2, Bd. 17 (Berlin, New York 2001) 602–611, hier 602. S. R AFNSSON , s.v. Landnámabók. In: RGA2, Bd. 17 (Berlin, New York 2001) 611–617. C ORRADINI , Landnahme (wie Anm. 125) 602.

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tems der hospitalitas überhaupt Land zugewiesen wurde, oder ob nicht vielmehr den Ankömmlingen – wie regulären römischen Soldaten auch – lediglich ein Teil des Steueraufkommens aus dem betreffenden Gebiet überlassen wurde, wird von der historischen Forschung nach wie vor heiß diskutiert.128 Da einerseits diese Diskussion bislang zu keinem vorläufigen Abschluss gekommen ist und andererseits kein anders gearteter heuristischer Wert der „Landnahme“ zu erkennen wäre,129 besteht im Grunde kein Anlass, diesen Begriff weiterhin im hier behandelten Zusammenhang zu verwenden. Ideologisch weit weniger belastet, aber inhaltlich ebenfalls problematisch ist der von der älteren französischsprachigen Forschung gelegentlich verwendete Begriff der „colonisation“.130 Beide mögliche Bedeutungsebenen dieses Begriffs sind gleichermaßen ungeeignet, Besiedlungsvorgänge über die römische Reichsgrenze hinweg zutreffend zu beschreiben: Weder hat es sich dabei um die Urbarmachung von Land gehandelt, das zuvor kaum oder gar nicht genutzt worden war, noch um die politische und wirtschaftliche Erschließung eines bereits besiedelten Gebietes durch eine technologisch und administrativ überlegene Militärmacht. Im zweiten Falle enthält der Begriff zudem eine stark euphemistische Färbung. Aufgrund seines wenig spezifischen Inhaltes ist dagegen „Besiedlung“ bzw. „settlement“ in diesem Zusammenhang insgesamt ein brauchbares Konzept. Entsprechend häufig wird er auch von der archäologischen und historischen Forschung gebraucht. Problematisch sind dagegen bestimmte Erweiterungen des Siedlungsbegriffs, die vor allem seit den 1930er Jahren in der deutschsprachigen Forschung gelegentlich verwendet wurden. Mit dem Begriff „Herrensiedlung“131 sollte ein Besiedlungsvorgang beschrie128

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Grundlegend: W. G OFFART , Barbarians and Romans. A.D. 418–584 (Princeton 1980). – J. D URLIAT , Le salaire de la paix sociale dans les royaumes barbares. In: H. Wolfram und A. Schwarcz (Hrsg.), Anerkennung und Integration: Zu den wirtschaftlichen Grundlagen der Völkerwanderungszeit (400–600) (Wien 1988) 21–72. – Zum Stand der Diskussion siehe die Beiträge im Band: W. P OHL (Hrsg.), Kingdoms of the Empire. The integration of barbarians in Late Antiquity. The transformation of the Roman world 1 (Leiden, New York, Köln 1997). – W. G OFFART , Barbarian Tides. The Migration Age and the Later Roman Empire (Philadelphia 2006) 119–186. C ORRADINI , Landnahme (wie Anm. 125) 602. Vgl. G. D ES M AREZ , Le problème de la colonisation franque et du régime agraire en Belgique (Bruxelles 1926). – C H . V ERLINDEN , Les origines de la frontière linguistique en Belgique et la colonisation franques. (Bruxelles 1955). – A. J ORIS, On the edge of two worlds in the heart of the new empire. The romance regions of Northern Gaul during the Merovingian period. In: Studies in medieval and renaissance history 3, 1966, 1–52, hier 9 ff. Vgl. P ETRI , Volkserbe, 850.

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ben werden, bei dem eine kriegerische Oberschicht, die „Herrenschicht“, eine besiegte autochthone Bevölkerung überlagert. Im Gegensatz dazu steht die „Volkssiedlung“132, auch „Massensiedlung“133 oder „völkische Massensiedlung“134 genannt. Diese begriffliche Differenzierung entstand in Zusammenhang mit der Kontroverse, auf welche historische Mechanismen die Herausbildung der Nachfolgestaaten des Römischen Reiches letztlich zurückzuführen seien. Dabei standen sich zwei gegensätzliche Erklärungsmuster gegenüber, wovon das eine die Bedeutung politischmilitärischer Entwicklungen, das andere die ethnisch-demographischen Veränderungen favorisierte. In Bezug auf das Merowingerreich fanden die beiden unterschiedlichen Versionen ihren Ausdruck in der Frage, ob es seine Existenz der Eroberung Galliens durch die Franken zu verdanken habe, oder ob es nicht vielmehr auf einen persönlichen Triumph Chlodwigs über seine politischen Rivalen zurückzuführen sei.135 Das Begriffspaar „Volkssiedlung“ und „Herrensiedlung“ diente zur Untermauerung der These einer fränkischen Eroberung. „Volkssiedlung“ sollte das Gebiet bezeichnen, in dem es zu einer mehr oder minder flächendeckenden bäuerlichen Besiedlung gekommen sei. Mit dem Begriff der „Herrensiedlung“ war es dagegen möglich, in jenen Gebieten, in denen die zuwandernden Germanen nur eine Minderheit bildeten, trotzdem eine politische und soziale Vorherrschaft der Eroberer zu behaupten. Diese wurde aus dem Vorrecht der Eroberer hergeleitet. Wenn schon nicht die Mehrheit der gesamten Bevölkerung germanisch war, so konnte auf diese Weise wenigstens die Herkunft des überwiegenden Teils der Oberschicht der barbarischen Nachfolgestaaten für die Germanen reklamiert werden. Die dem Begriffspaar „Volkssiedlung/Herrensiedlung“ zugrunde liegenden historischen Prämissen müssen heute als vollständig überholt gelten. Im Falle der Franken hat sich einerseits die Eroberung Galliens, wie bereits erwähnt, als ein Irrtum der Geschichtswissenschaft erwiesen, andererseits leitet sich die politische Stellung der Oberschicht der Germanenreiche keinesfalls aus dem Recht der Eroberung ab. Die Etablierung der barbarischen Nachfolgestaaten erfolgte auf der Grundlage vertraglicher Übereinkünfte oder gar im Auftrag der römischen Reichsregierung. Ohne die Kooperation zumindest eines Teils der ortsansässigen Eliten wäre dieser Vorgang nicht denkbar gewesen. 132 133 134 135

Vgl. P ETRI , Volkserbe, 27 passim. Vgl. P ETRI , Volkserbe, 852. Vgl. P ETRI , Volkserbe, 998. W ERNER, Conquête franque, 7.

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Auch in der frühgeschichtlichen Archäologie setzen sich zunehmend unspezifischere Begriffe durch, vor allem „Migration“,136 aber etwa auch „Wanderungsbewegung“137. Diese Begriffe sind wohl am besten geeignet, um die Gesamtheit der Erscheinungsformen individueller oder kollektiver Ortswechsel zu beschreiben, mit denen in Spätantike und frühem Mittelalter zu rechnen ist, ohne sich bereits durch die Wahl der Bezeichnung auf weitreichende Interpretationen festzulegen. In dem Maße, wie die Forschung ein zunehmend differenziertes Bild von den Erscheinungsformen und der Bedeutung der Migrationsvorgänge am Ende der Antike gewann, wurde der Blick frei für eine Neubewertung der Rolle der Gallorömer in der Transformationsphase des ehemaligen weströmischen Reiches. Aufgrund des heutigen Kenntnisstandes ergibt sich ein völlig anders geartetes Bild, als das einer degenerierten Provinzialbevölkerung, die passiv das Ende ihrer Kultur erduldete, selbst aber keinen Beitrag zur Gestaltung der Gesellschaft der nachrömischen Zeit zu leisten vermochte. In einem aufschlussreichen Aufsatz kommt Bernhard Jussen vielmehr zu dem Schluss, dass die Eliten Galliens in einer bestimmten politischen Konstellation während des 5. Jahrhunderts erkannten, dass es aussichtslos war, zur Stabilisierung der eigenen Position auf den Einfluss der Zentralregierung in Ravenna bauen zu wollen.138 Im dritten Teil dieser Arbeit werde ich auf diese Entwicklung ausführlich zu sprechen kommen.139

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Vgl. etwa L. O PSTEYN / E. T AAYKE , De Frankische migratie. Nederland en Vlaanderen in de laat-Romeinse tijd (Leuven, Amsterdam 1998). – G. H ALSALL , Barbarian Migrations and the Roman West, 376–568 (Cambridge 2007). Vgl. H. W. B ÖHME , Kontinuität und Traditionen bei Wanderungsbewegungen im frühmittelalterlichen Europa vom 1.–6. Jahrhundert. Arch. Inf. 19, 1996, 89–103. B. J USSEN , Liturgie und Legitimation, oder: Wie die Gallo-Romanen das Römische Reich beendeten. In: R. Blänkner (Hrsg.), Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens. Veröffentl. MaxPlanck-Inst. Gesch. 138 (Göttingen 1998) 75–136. Vgl. Kap. 17b.

70„Germanen“ und „Romanen“: Sprachenfamilien als antagonistische Volksgruppen?

4. „Germanen“ und „Romanen“: Sprachenfamilien als antagonistische Volksgruppen? Die sprachliche Dimension des Germanen-Romanen-Diskurses ist für die archäologische Diskussion um den Nachweis von Germanen und Romanen im Merowingerreich in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Einerseits ist die Frage des ethnischen Charakters der frühmittelalterlichen Reihengräberfelder mit keinem anderen wissenschaftlichen Problem so eng verbunden wie mit der Frage der Entstehung der romanisch-germanischen Sprachgrenze.1 Wie im zweiten Teil dieser Arbeit ausführlich gezeigt wird, gab die interdisziplinäre Sprachgrenzforschung einen entscheidenden Impuls für die Formulierung archäologischer Konzepte zur Unterscheidung von „germanischen“ und „romanischen“ Bestattungen.2 In der Diskussion um die Nachweisbarkeit ethnischer Identitäten anhand archäologischer Befunde seit dem Zweiten Weltkrieg beharrte die interdisziplinäre Sprachgrenzforschung andererseits besonders nachdrücklich auf der Möglichkeit, frühmittelalterliche Grabfunde ethnisch zu interpretieren und somit als Quelle zur Sprachgeschichte verwenden zu können.3 Bis in jüngste Zeit wird versucht, die archäologischen Quellen zur Lösung dieser Fragestellung heranzuziehen.4 Da sich in den letzten beiden Jahrzehnten das Bild von der Beschaffenheit der frühmittelalterlichen gentes sowie der historischen Prozesse am Übergang von der Antike zum Mittelalter grundlegend gewandelt hat, stellt sich jedoch die Frage, welche Auswirkungen diese fundamentalen Umwertungen für die Grundlagen der interdisziplinären Sprachgrenzforschung nach sich ziehen. 1

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Zur Forschungsstand vgl. etwa H. F EHR, s. v. Romanisch-Germanische Sprachgrenze. In: RGA2, Bd. 25 (Berlin, New York 2003) 304–310. – L. VAN D URME , Genesis and Evolution of the Romance-Germanic language border. In: J. Treffers-Daller/R. Willemyns (Hrsg.), Language contact at the Romance-Germanic language border (Clevedon u. a. 2002) 9–21. Kap. 12 und 13. P ETRI , Landnahme. – D ERS., Siedlung. – Vgl. dazu auch Kap. 13 und 14. Vgl. etwa M. P ITZ /F. S TEIN , Genèse linguistique d’une région frontalière. Les environs de Forbach et de Sarreguemines. Cahiers Lorrains 2000, H.1, 365–412. – S IMMER , Frontière linguistique. – D. L AMARCQ /M. R OGGE (Hrsg.), De taalgrens. Van de oude tot de nieuwe Belgen (Leuven 1996). – S TEIN , Bevölkerungsverhältnisse.

Die politische Bedeutung der Sprachen

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Die Ideologisierung der Sprachzugehörigkeit und des Verlaufs der Sprachgrenze wirkte sich nachhaltig auf die betroffenen archäologischen Konzepte aus. Spätestens seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war die Frage nach nationaler und ethnischer Identität eng verbunden mit der Sprachzugehörigkeit. Die Gleichung von „Muttersprache“ und „Nationalität“ bildete, wie bereits angedeutet, eines der wirkungsmächtigsten Elemente des modernen Volksbegriffs. Ihren Höhepunkt erreichte die Ideologisierung von Sprache und Sprachgrenze im Kontext der interdisziplinären Volkstumsforschung nach dem Ersten Weltkrieg, deren Wirkungsgeschichte in der frühgeschichtlichen Archäologie einen Hauptgegenstand dieser Arbeit bildet. Noch vor wenigen Jahren wurde in diesem Zusammenhang die Ansicht vertreten, die frühmittelalterliche Archäologie habe sich als einzige der beteiligten Disziplinen bereits hinreichend kritisch mit dem wissenschaftlichen Erbe der Sprachgrenzforschung auseinandergesetzt.5 Da diese Feststellung, wie in dieser Arbeit gezeigt wird, jedoch auch für die frühgeschichtliche Archäologie unzutreffend ist, besteht umso mehr die Notwendigkeit, die Entwicklung dieses Komplexes hier zu skizzieren.

a) Die politische Bedeutung der Sprachen Wie kaum ein anderes Thema der Frühgeschichtsforschung wurde die wissenschaftliche Diskussion um die Entstehung der germanisch-romanischen Sprachgrenze ganz unmittelbar durch politische Entwicklungen geprägt. Lange Jahrhunderte hindurch schenkte man der Sprachgrenze kaum Beachtung. Erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wandten sich zahlreiche Gelehrte ihrem Studium zu. Die Wurzeln dieses erwachenden Interesses an der Sprachgeographie sind in einer neuen Qualität zu suchen, die der Sprache seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in einigen Teilen Europas zugeschrieben wurde. Der Wirkung der Sprach- und Kulturphilosophie Johann Gottfried Herders kommt in diesem Zusammenhang überragende Bedeutung zu. Gemeinsam mit der epochalen Neudefinition des Volksbegriffs konstituierte sich im Gefolge Herders auch die Gleichung von „Volk“ und „Sprache“.6 Zu den wichtigsten Ergebnissen dieser Entwicklung, auf die hier im Einzelnen nicht eingegangen werden muss, ge5

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M. P ITZ , s. v. Petri, Franz. In: RGA2, Bd. 22 (Berlin, New York 2003) 631–635, hier 632. – Ähnlich auch D IES., Franz Petris Habilitationsschrift in inhaltlich-methodischer und forschungsgeschichtlicher Perspektive. In: Dietz/Gabel/Tiedau, Westforschung, 225–246, hier 231 f. – Vgl. auch Kap. 1. G SCHNITZER U. A ., Volk, 316–319.

72 „Germanen“ und „Romanen“: Sprachenfamilien als antagonistische Volksgruppen? hörten bestimmte Denkfiguren, die in der folgenden Zeit eine ungeheure Wirkung entfalten sollten: Die Sprache wurde als hervorragendste Emanation eines eigentümlichen „Volksgeists“ angesehen und damit auf die Bedeutung der Nationalsprache eingeengt. Auf diese Weise entwickelte sich die Sprache zum vorrangigen Klassifikationsmerkmal der gesamten Menschheit. Die Völker Europas gruppierte man zu Germanen, Romanen, Slawen und Kelten und erklärte diese zunehmend zu den eigentlichen Subjekten der Geschichte. Aus der besonderen identitätsstiftenden Qualität der Sprache wurde ferner die Pflicht abgeleitet, die eigene, organisch gewachsene „Muttersprache“ zu bewahren, zu pflegen und nach Möglichkeit zu vervollkommnen.7 Hier lagen die Wurzeln für einen zeitweilig weit verbreiteten Sprachpurismus, der danach strebte, die eigene Sprache möglichst von fremden Einflüssen „rein“ zu halten und von Lehnworten aus anderen Sprachen („Fremdworten“) zu „säubern“. Entsprechende Bestrebungen in Deutschland fanden seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in gebildeten Kreisen regen Anklang und richteten sich vorrangig gegen die Dominanz des Französischen als Bildungssprache.8 In diesem Kontext findet sich erstmals das Schlagwort von der Gefahr der „Verwelschung“. Lange bevor dieser Begriff auf „Volkstums-“ oder gar „Rasseverhältnisse“ übertragen wurde, beschwor man damit eine vermeintliche Bedrohung der Reinheit der deutschen Sprache. Auch nach der rasanten Karriere der Volkstums- und Rassekonzepte gegen Ende des 19. Jahrhunderts war ein engstirniger Sprachpurismus weiterhin ein konstitutives Element aller Ideologien völkischer Couleur.9 Die Entstehung der Nationalphilologien war ein weiteres Ergebnis des neu bewerteten Verhältnisses von Sprache und Volk. Das philologische Interesse verlagerte sich von den christlichen Offenbarungssprachen (Hebräisch, Griechisch, Lateinisch) auf die diversen modernen Sprachen, was einen mächtigen Impuls für die Entfaltung neuer philologischer Felder wie Germanistik und Romanistik bedeutete. Im Gefolge von Jacob und Wilhelm Grimm setzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die Bezeichnung „Germanisch“ für eine Sprachgruppe durch, der die Sprachen der Bewohner großer Teile Mittel-, Nord- und Nordwesteuropas angehörten. Durch den Aufschwung der philologischen Forschung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde sie in ihrer historischen Entwicklung erstmals weit7

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J. E CHTERNKAMP, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840) (Frankfurt, New York 1998) 98–109, bes. 104. E CHTERNKAMP, Nationalismus (wie Anm. 7) 110–117. P USCHNER, Bewegung, 27 ff.

Die politische Bedeutung der Sprachen

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gehend erkannt. Während die mitteleuropäischen Vertreter der neu entstehenden „Germanistik“ zur Benennung dieser Sprachgruppe auf die Germanen zurückgriffen, die bereits von den Humanisten zu den eigentlichen Vorfahren der Deutschen erklärt worden waren, leisteten skandinavische Sprachwissenschaftler noch lange Widerstand gegen diese Bezeichnung. Sie zogen stattdessen vor, diese Sprachgruppe als „nordisk“ oder „gotisk“ anzusprechen.10 Durch die Verknüpfung des antiken Ethnonyms „Germanen“ mit dieser Sprachgruppe ergab sich im 19. Jahrhundert eine beträchtliche Ausweitung der Traditionsbasis, auf die in Deutschland zur Schöpfung einer nationalen Identität zurückgegriffen werden konnte. Das „Germanische“ umfasste nun nicht mehr vorrangig den geographischen Raum der taciteischen Germania, sondern den weit größeren „germanischen“ Sprachraum. Verschiedentlich wurde zu begründen versucht, weshalb trotzdem dem Deutschen unter den germanischen Sprachen eine bevorzugte Stellung zukam. Bedeutendstes Beispiel für die Behauptung eines Vorrangs des Deutschen innerhalb der germanischen Sprachen sind Johann Gottlieb Fichtes 1807/08 gehaltene „Reden an die Deutsche Nation“. Fichtes „Ursprachentheorem“ zufolge bildeten die Deutschen das germanische „Urvolk“, im Gegensatz zu jenen Gruppen, die aus der germanischen Heimat ausgewandert seien, wie die Angelsachsen. Fichte erklärte ferner das Deutsche zur eigentlichen, weil ursprünglichen Sprache der Germanen: Während die Germanen, die im Lande verblieben, ihre originäre Sprache beibehielten, übernahmen die übrigen germanischen Völker fremde und vermischte Sprachen, die deshalb qualitativ unter dem Deutschen als einer „reinen Menschensprache“ stünden.11 Dem Milieu der germanischen Altertumskunde der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts verdankte neben der „Germanistik“ auch deren Pendant für die westlich bzw. südlich angrenzende Sprachgruppe seine Entstehung: die „Romanistik“. Dieses Fach, das man nach dem Wirkungsort seines wichtigsten Begründers Friedrich Diez eine „Bonner Erfindung“ genannt hat,12 war nicht nur seiner Konzeption nach auf das Vorbild der Germanistik bezogen; sondern bildete auch inhaltlich seine Alterität.

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11 12

H. F. N IELSEN , On the terms for Germanic employed by Scandinavian scholars in the 19th and 20th centuries. In: H. Beck u. a (Hrsg.), Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen. Ergbde RGA 34 (Berlin, New York 2004) 309–323. E CHTERNKAMP, Nationalismus (wie Anm. 7) 292–298. W. H IRDT , Romanistik: eine Bonner Erfindung. 2 Bde. Academica Bonnensia 8 (Bonn 1993).

74 „Germanen“ und „Romanen“: Sprachenfamilien als antagonistische Volksgruppen? Paradoxerweise wies die Konzeption der frühen Romanistik eine deutliche antifranzösische Stoßrichtung auf. Michael Nerlich zufolge war es wiederum Johann Gottlieb Fichte, der in seiner vierten Rede an die Deutsche Nation erstmals das Konzept einer sprachlich und kulturell definierten „Romania“ entwarf. Fichte konstruierte bei dieser Gelegenheit einen Gegensatz zwischen „Deutschland“, worunter er das vermeintliche Ursprungsgebiet der Germanen in Mitteleuropa und Skandinavien verstand, sowie dem „Ausland“, womit er in diesem Zusammenhang den Bereich der „Neulateiner“ bezeichnete. Die Einbettung Frankreichs in eine namentlich so noch nicht genannte „Romania“, die mit zahlreichen negativen Eigenschaften belegt wurde, hatte den willkommenen Nebeneffekt, die kulturelle Eigenständigkeit und Tradition Frankreichs negieren zu können. Fichte wandte sein Ursprachentheorem auch auf die romanischen Sprachen an. Wie bei den nichtdeutschen germanischen Sprachen handelt es sich Fichte zufolge bei den romanischen Sprachen um keine „reinen“ Sprachen. Die in die Romania eingewanderten Germanen konnten ebenso wenig ihre eigentliche Sprache bewahren wie die (keltischen, iberischen etc.) Ureinwohner des Landes. Auch bei den „neulateinischen“ Sprachen handele es sich somit um keine „wirklichen“, „lebendigen“ Ursprachen. Ihre Sprecher seien deshalb auch nicht zu tiefem und schöpferischem Denken in der Lage. Wo in der Vergangenheit in den romanischen Sprachen die Fähigkeit zu solchem Denken noch vorhanden war, habe es sich um Reste des germanischen Erbes innerhalb der romanischen Völker gehandelt.13 Solche Denkmuster prägten die Ausrichtung der Romanistik im deutschsprachigen Raum für Jahrzehnte. Das Interesse galt vorwiegend dem vermeintlichen germanischen Erbteil in der Kultur der Romania, kaum aber der lebendigen Gegenwartskultur der romanischen Völker. Aus diesem Grund beschäftigte sich die frühe romanistische Forschung zwar umfassend mit der mittelalterlichen französischen Literatur, wo sie etwa innerhalb der höfischen Heldenepik allenthalben das Nachwirken des germanischen Wesens zu erkennen glaubte. Die moderne französische Literatur wurde dagegen weitgehend ignoriert oder abgelehnt.14 Die Vorstellung, die Sprache sei das wichtigste Kriterium zur Bestimmung der Nationalität, verbreitete sich im Laufe des 19. Jahrhunderts weit über ihr deutschsprachiges Ursprungsgebiet hinaus. Mitunter veränderte oder verdrängte der Sprachnationalismus ältere Muster der nationalen 13

14

M. N ERLICH , Romanistik: Von der wissenschaftlichen Kriegsmaschine gegen Frankreich zur komparatistischen Konsolidierung der Frankreichforschung. Romanistische Zeitschr. f. Literaturgesch. 20, 1996, 396–436, bes. 403–406. N ERLICH , Romanistik (wie Anm. 13) 411 ff.

Die politische Bedeutung der Sprachen

75

Identitätskonstruktion. Gut zu beobachten ist dies z. B. in Belgien, das bei der Erforschung der germanisch-romanischen Sprachgrenze eine bedeutende Rolle spielt.15 Auch hier hat das Aufkommen des Sprachnationalismus den Verlauf der Diskussion erkennbar beeinflusst. Während für die Entstehung des belgischen Königreichs vorwiegend das katholische Sonderbewusstsein sowie die liberale und profranzösische Haltung der Eliten der ehemals habsburgischen südlichen Niederlande verantwortlich waren, trat im Laufe des 19. Jahrhunderts der sprachliche Gegensatz zwischen dem französischsprachigen Wallonien und dem niederländischsprachigen Flandern immer mehr in den Vordergrund. Gegen die Vormachtstellung des Französischen als Bildungs- und Verwaltungssprache erlangte die Forderung nach der Emanzipation der flämischen Sprache etwa ab 1860 auch eine politische Dimension.16 Im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelten sich der flämische bzw. wallonische Nationalismus zu einer Konkurrenz und Bedrohung für das belgische Nationalbewusstsein.17 Dieses Problem beschäftigt Belgien bekanntlich bis heute. Vom Sprachnationalismus weitgehend unberührt blieb dagegen das französische Nationalverständnis. Ungeachtet der ethnischen Herkunft oder Muttersprache stellt es traditionell den Willen des Einzelnen zur Zugehörigkeit zum französischen Staat in den Vordergrund. Bis heute unterscheidet sich der in Frankreich vorherrschende Nationsbegriff in vielem grundlegend von den in Deutschland verbreiteten Ansichten. Anders als in Deutschland galt nicht das sprachlich-ethnisch definierte „Volk“ als Wurzel der Nation, sondern das politische Gebilde, der Staat und seine Staatsbürger.18 Diese grundsätzlich unterschiedlichen Auffassungen ziehen sich wie ein roter Faden durch die gesamte hier behandelte Problematik. Allerdings wäre es verfehlt, aus der politischen Definition der Nation automatisch auf eine grundsätzlich liberale Haltung gegenüber Fragen der Sprachenpolitik zu schließen. Zum Erbe des jakobinischen Staatsideals gehörte auch die Vorstellung eines zentral und rational organisierten Staatswesens, das selbstverständlich einer einheitlichen Verwaltungssprache bedarf. Da diese in Form der französischen Sprache vorhanden war, gerieten Forderungen nach Respektierung regionaler sprachlicher Sondertraditionen schnell in 15 16

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18

Vgl. Kap. 9. M. E RBE , Belgien, Niederlande, Luxemburg. Geschichte des niederländischen Raumes (Stuttgart, Berlin, Köln 1993) 236 ff. L. V OS, The Flemish national question. In: K. Deprez (Hrsg.), Nationalism in Belgium. Shifting identies, 1780–1995 (Basingstoke 1998) 83–95. – C H . K ESTELOOT , The growth of the Walloon movement. Ebd. 139–152. R. B RUBAKER, Staats-Bürger. Deutschland und Frankreich im historischen Vergleich (Hamburg 1994), bes. 24–42.

76 „Germanen“ und „Romanen“: Sprachenfamilien als antagonistische Volksgruppen? den Ruch, eine Opposition gegen den französischen Staat und somit die gesamte französische Nation darzustellen – entsprechend rigoros ging man in Frankreich zeitweilig gegen sie vor.

b) Der Verlauf der germanisch-romanischen Sprachgrenze Sprachgrenzen prägen sich in ganz unterschiedlichen Erscheinungsformen aus. Während in weiten Teilen Osteuropas bis zum Zweiten Weltkrieg kleinräumige Gemengelagen zwischen verschiedenen Sprachgruppen charakteristisch waren, herrschen in Westeuropa seit langem lineare Sprachgrenzen vor. Seit vielen Jahrhunderten wird der germanische Sprachraum durch eine lineare und verhältnismäßig scharfe Grenze vom romanischen Sprachgebiet geschieden. Ohne erkennbaren Bezug zu geographischen Gegebenheiten zieht sie sich von der französischen Kanalküste bei Boulogne durch Belgien und Lothringen über die Vogesen, durch die Burgundische Pforte, den Jura, die Schweizerischen, Italienischen und die Österreichischen Alpen, bis sich schließlich in den Ostalpen das Slawische (Slowenische) zwischen das germanische und das romanische Sprachgebiet schiebt. Ungeachtet aller politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen der Neuzeit hat sich der Verlauf dieser Grenze in historischer Zeit nur geringfügig verschoben: etwa in Belgien19 und Lothringen20 vom 16. Jahrhundert bis heute nur um wenige Kilometer zugunsten des Französischen, in Graubünden dagegen durch die Walserzüge zugunsten des Deutschen. Die Veränderungen der Sprachverhältnisse durch die Sprachpolitik in der Moderne sind dagegen auf andere Mechanismen zurückzuführen und bleiben deshalb hier außer Acht. Das Vorkommen zahlreicher nichtgermanischer Orts- und Gewässernamen im germanischen Sprachraum belegt, dass dieser Zustand Ergebnis eines historischen Prozesses ist. Während die Ausbreitung des Lateinischen als Wurzel der romanischen Sprachen historisch verhältnismäßig gut nachzuvollziehen ist, sind die Quellen für die frühe Geschichte der germanischen Sprachen spärlich. Die vorgermanischen bzw. vorromanischen ono19

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L. C AMERLYNCK , Die Entwicklung der germanisch-romanischen Sprachgrenze in West-Belgien und Nordfrankreich anhand der Flandernkarten Mercators. In: I. Hantsche (Hrsg.), Mercator – ein Wegbereiter neuzeitlichen Denkens. Duisburger Mercator-Studien 2 (Bochum 1994) 182–199, hier 185. W. H AUBRICHS, Über die allmähliche Verfestigung von Sprachgrenzen. Das Beispiel der Kontaktzonen von Germania und Romania. In: Ders./R. Schneider (Hrsg.), Grenzen und Grenzregionen. Veröffentl. d. Komm. f. Saarländische Landesgesch. u. Volksforsch. 22 (Saarbrücken 1993) 99–129.

Der Verlauf der germanisch-romanischen Sprachgrenze

77

mastischen Quellen können nur zum Teil aus bestimmten Sprachen hergeleitet werden, vor allem dem Keltischen. Toponyme und Hydronyme keltischen Ursprungs kommen in den an die Sprachgrenze anschließenden Teilen des germanischen und romanischen Sprachgebiets in großer Zahl vor. Der sprachliche Ursprung anderer Namensschichten, wie der sogenannten „alteuropäischen“ (=vorindogermanischen) Gewässernamen, ist dagegen weiterhin unklar. Als sprachliches Erbe der Antike bestanden während des frühen Mittelalters innerhalb des germanischen Sprachgebiets mehrere größere romanische Sprachinseln. Es handelt sich zum einen um die „Salzburger Romania“, die bis ins 11. Jahrhundert fortlebte.21 Gut belegt ist auch die „Moselromania“ um das Zentrum Trier, die sich erst im 10./12. Jahrhundert aufzulösen begann.22 Nachrömische lateinische Grabgedichte in Hexameterform legen nahe, dass hier – wie in Köln – die römische Schultradition nach der Desintegration des Römischen Reiches einige Zeit lang weiter gepflegt wurde.23 Auch im churrätischen Raum war das Romanische bis weit ins Mittelalter hinein verbreitet.24 Allerdings ist die Entwicklung der Sprachgrenze im Alpenraum insgesamt schwieriger nachzuvollziehen als in ihrem westeuropäischen Teilstück. Die Ausweitung des germanisch-deutschen Sprachraumes ist hier nicht allein auf das Zurückweichen des romanischen Sprachgebietes zurückzuführen, sondern in erheblichem Maße auch auf die Erschließung bis dahin unbesiedelter Areale im Zuge des mittelalterlichen Landesausbaus.25 Neben diesen umfangreichen sprachlichen Reliktgebieten bestanden im frühen Mittelalter weitere kleinere Sprachinseln, etwa im mittleren Schwarzwald, in der Eifel um Prüm und um Mayen, um St. Avold in Lothringen, in mehreren Regionen des Hunsrück und des südlichen Hunsrückvorlandes sowie am Mittelrhein zwischen Koblenz und Bingen. Da die

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22 23

24 25

I. R EIFFENSTEIN , Vom Sprachgrenzland zum Binnenland. Romanen, Baiern und Slawen im frühmittelalterlichen Salzburg. In: W. Haubrichs (Hrsg.), Sprachgrenzen (Göttingen 1992) 40–64, hier 47. (=Zeitschr. f. Literaturgesch. u. Linguistik 21, Heft 83, 1991). H AUBRICHS, Sprachgrenzen (wie Anm. 20) 123. W. S CHMITZ , Spätantike und frühmittelalterliche Grabinschriften als Zeugnisse der Besiedlungs- und Sprachkontinuität in den germanischen und gallischen Provinzen. In: Th. Grünewald (Hrsg.), Germania inferior. Besiedlung, Gesellschaft und Wirtschaft an der Grenze der römisch-germanischen Welt. Ergbde. RGA 28 (Berlin, New York 2001) 261–305, hier 264. R. K AISER, Churrätien im frühen Mittelalter (Basel 1998) 191 ff. S T. S ONDEREGGER, Die Siedlungsverhältnisse Churrätiens im Lichte der Namensforschung. In: Werner/Ewig, Spätantike, 219–254, hier 231.

78 „Germanen“ und „Romanen“: Sprachenfamilien als antagonistische Volksgruppen? Belege für diese Sprachinseln meist nicht sehr zahlreich sind, ist die Datierung ihres jeweiligen Endes nur schwer zu fixieren. Allgemein wird angenommen, dass wohl keine das 8./9. Jahrhundert überdauerte.26 Neben solchen Sprachinseln ist ebenfalls zumindest zeitweilig mit der Existenz von echten germanisch-romanischen sprachlichen Mischgebieten zu rechnen.27 Schwieriger als die Existenz romanischer Sprachinseln im germanischen Sprachgebiet ist die ehemalige Verbreitung des Germanischen im romanischen Sprachgebiet westlich und südlich der Sprachgrenze zu beurteilen. Von der Sprachwissenschaft wird die germanische Sprache, die einst westlich der Sprachgrenze in Frankreich und Belgien gesprochen wurde, als „westfränkisch“ bezeichnet. Hinter dem Begriff „westfränkisch“ verbirgt sich jedoch keine nachweisbare sprachliche Einheit; es handelt sich vielmehr um eine Sammelbezeichnung für die wenigen germanischen Sprachrelikte, die überhaupt aus diesem Raum bekannt sind. Doch nicht nur die Gestalt des „Westfränkischen“ ist bis heute ein weitgehend ungelöstes Problem,28 auch Umfang, Lokalisierung und Dauer der germanischen Sprechergemeinschaften sind zurzeit nur schwer abzuschätzen. Die Gründe hierfür sind in erster Linie in der problematischen Forschungsgeschichte bzw. im problematischen Charakter vermeintlich grundlegender Werke zu suchen. Ausgehend von den Ortsnamen haben sich vor allem zwei Richtungen zum Problem der ehemaligen Verbreitung der germanischen Sprache südlich der Sprachgrenze geäußert: Auf die Arbeiten der sogenannten rheinischen Schule der Kulturraumforschung seit den 1930er Jahren werde ich im Hauptteil dieser Arbeit ausführlich eingehen.29 Wichtig waren vor allem die Arbeiten des Historikers Franz Petri und besonders dessen 1937 erschienene monumentale Habilitationsschrift „Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich“.30 Die diesbezüglichen Arbeiten Franz Steinbachs und Franz Petris wurden laut Wolfgang Haubrichs auf der Grundlage „ fehlerhafter oder mangelnder Quellenkritik, falscher Etymologien und fragwürdiger methodischer Grundannahmen “

26

27 28

29 30

W. K LEIBER /M. P FISTER (Hrsg.), Aspekte und Probleme der römisch-germanischen Kontinuität. Sprachkontinuität an Mosel, Mittel- und Oberrhein sowie im Schwarzwald (Mainz 1992) 37; 82–86. H AUBRICHS, Sprachgrenzen (wie Anm. 20) 123. A. Q UAK , s. v. Franken, Sprache. In: RGA2 (Berlin, New York 1995) 374–381, hier 378. Kap. 12. P ETRI , Volkserbe. – Vgl. Kap. 12b.

Der Verlauf der germanisch-romanischen Sprachgrenze

79

erstellt.31 In ihren sprachwissenschaftlichen Teilen müssen sie deshalb als vollständig widerlegt gelten. Da diese Arbeiten jedoch noch immer gelegentlich als Grundlage für weiterführende Interpretationen herangezogen werden – besonders außerhalb der Sprachwissenschaften – wies Haubrichs vor wenigen Jahren noch einmal darauf hin, dass sich die Forschung endgültig und in noch radikalerer Form als bisher von der Vorstellung verabschieden müsse, der germanische Sprachraum habe sich zu Beginn des frühen Mittelalters weit nach Nordfrankreich hinein erstreckt.32 Ewas günstiger beurteilt werden dagegen die Arbeiten des Romanisten Ernst Gamillscheg, dessen umfassendes Werk zur „Romania Germanica“ erstmals Mitte der 1930er Jahre erschien. Allerdings ist auch Gamillschegs Werk aufgrund mangelnder Quellenkritik mit zahlreichen Fehlern behaftet. Laut Haubrichs hält z. B. kein einziger von Gamillschegs Belegen für eine „fränkische“ Besiedlung des Raumes zwischen Seine und Loire einer kritischen Überprüfung stand.33 Vor diesem Hintergrund skizzierte Haubrichs vor einigen Jahren folgenden Forschungsstand, an dem sich bis heute nichts grundlegend geändert hat: Gegenüber den 1930er Jahren habe sich der Kenntnisstand kaum gebessert. Eine gründliche Revision der Arbeiten Gamillschegs und Petris stelle nach wie vor ein Desiderat der Forschung dar.34 Ein grundsätzliches Problem bei älteren Arbeiten war, dass diese nicht in ausreichendem Maße den erheblichen Anteil an Lehnworten germanischen Ursprungs im Französischen berücksichtigten. Dieser Lehnwortschatz belegt zwar eindrucksvoll die intensiven Kontakte zwischen den Sprechern germanischer und romanischer Sprachen, andererseits werden diese Lehnworte mitunter weit über das ursprüngliche Gebiet der Entlehnung hinaus verbreitet. Sie können deshalb nicht als Quellen für die Ansiedlung germanischer Sprechergemeinschaften herangezogen werden.35 Aus diesem Grund tendiert die aktuelle sprachwissenschaftliche Forschung dazu, in viel stärkerem Maße als in der Vergangenheit die Mikrotoponymie (Flurnamen, Gewässernamen) zu berücksichtigen. Im Gegensatz zu den großflächigen älteren Arbeiten sind neuere Untersuchungen meist regional begrenzt angelegt. Auf diese Weise wird auch bei den nur 31

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34 35

W. H AUBRICHS, Fränkische Lehnwörter, Ortsnamen und Personennamen im Nordosten der Gallia. Die ‚Germania submersa‘ als Quelle der Sprach- und Siedlungsgeschichte. In: Geuenich, Franken und Alemannen, 102–129, hier 116. H AUBRICHS, Lehnwörter (wie Anm. 31) 116. E. G AMILLSCHEG , Romania Germanica. Sprach- und Siedlungsgeschichte der Germanen auf dem Boden des alten Römerreichs. 3 Bde (Berlin 1934–36). H AUBRICHS, Germania submersa, 643. – P ITZ , Petri (wie Anm. 5) 632 f. H AUBRICHS, Germania submersa, 639.

80 „Germanen“ und „Romanen“: Sprachenfamilien als antagonistische Volksgruppen? aufwändig zu erhebenden Flurnamen eine statistisch relevante Belegtiefe erzielt. Im Gegensatz zu Petris und Gamillschegs Arbeitsweise betont man heute ferner, dass nur Material heranzuziehen sei, das der philologischen Quellenkritik standhält. Schließlich setzte sich auch die Erkenntnis durch, dass in Zukunft entsprechende Forschungen besser als interdisziplinäre Projekte gemeinsam von Germanisten und Romanisten durchzuführen seien. Ich komme auf die Frage der ehemaligen Ausdehnung des germanischen Sprachgebiets jenseits der späteren Sprachgrenze zurück. Sicher nachgewiesen ist, dass sich im Bereich der französischen Kanalküste das germanische Sprachgebiet in der Vergangenheit über die spätere Sprachgrenze hinaus erstreckte; hier reichte das germanische Sprachgebiet einstmals bis nahe an das Tal der Somme heran.36 Daneben konnte Wolfgang Haubrichs in einer methodisch exemplarischen Studie zwei kleine germanische Sprachinseln nachweisen, in der sogenannten „Terra Gallia“ im wallonisch-lothringischen Grenzgebiet sowie im Verdunois. Die Dauer dieser germanischen Sprachinseln ist mit sprachwissenschaftlichen Mitteln kaum festzulegen. Allerdings legen historische Indizien den Schluss nahe, dass diese Sprachinseln ihre Entstehung nicht einer fränkischen Einwanderung während der Völkerwanderungszeit verdanken. Vielmehr seien sie auf Siedlungsvorgänge des 7./8. Jahrhunderts zurückzuführen, die in Zusammenhang mit der Fiskalpolitik austrasischer Adelsfamilien stünden.37 Abgesehen von diesen nachgewiesenen Sprachinseln haben sehr wahrscheinlich noch weitere bestanden, die in Zukunft von der sprachwissenschaftlichen Forschung herausgearbeitet werden können. Von der Existenz eines großflächigen und geschlossenen germanischen Sprachgebiets jenseits der Sprachgrenze kann dem heutigen Kenntnisstand zufolge dagegen keine Rede mehr sein.

c) Die politische Instrumentalisierung der Sprachgrenze und der Sprachgrenzforschung Die Versuche, den Verlauf der germanisch-romanischen Sprachgrenze zur Legitimation politischer Forderungen heranzuziehen, reichen weit vor die Zeit zurück, in der archäologische Funde in die Diskussion mit einbezogen wurden. In einer Debatte, die vor allem während und nach dem deutsch-

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H AUBRICHS, Lehnwörter (wie Anm. 31) 118. H AUBRICHS, Germania submersa, 662.

Die politische Instrumentalisierung der Sprachgrenze und der Sprachgrenzforschung 81

französischen Krieg 1870/71 unter Historikern und Philologen geführt wurde, waren bereits zahlreiche Argumentationsmuster vorhanden, die später auch bei der Interpretation der archäologischen Quellen verwendet wurden. Aus diesem Grund ist es nötig, die Diskussion um die politische Inanspruchnahme der germanisch-romanischen Sprachgrenze in ihren Grundzügen zu skizzieren. Bereits auf dem Höhepunkt der sogenannten Befreiungskriege erhob Ernst Moritz Arndt die Forderung, die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich solle entlang der Sprachgrenze verlaufen. In Auseinandersetzung mit der in Frankreich diskutierten Frage, was die natürliche Grenze des französischen Staates sei, stellte Arndt fest: „Die einzige gültigste Naturgränze macht die Sprache.“38 Für Arndt verlief die Westgrenze Deutschlands entlang der Sprachgrenze von Dünkirchen durch Flandern und Luxemburg über die Vogesen bis nach Montbéliard und an die Schweizer Grenze.39 Solche Forderungen gerieten bald wieder in Vergessenheit und spielten in den folgenden Jahrzehnten zunächst kaum eine Rolle. Latent blieben sie aber weiter vorhanden. Erst um 1860 erschien eine Reihe von Schriften, in denen die Annexion der deutschsprachigen Gebiete des Elsass’ und Lothringens gefordert wurde. Bei den Verfassern handelte es sich jedoch um keine Wissenschaftler.40 Eine Wende bahnte sich im Vorfeld des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 an. Am Anfang seines einflussreichen Werks „Der Deutschen Volkszahl und Sprachgebiet in den europäischen Staaten“ formulierte Richard Böckh, ein Beamter des „Königlich Statistischen Bureaus“ in Berlin, das sogenannte „Nationalitätenprinzip“. In diesem sah er den „Keim zu einem unermeßlichen Fortschritt in der Entwicklung der Völker “. Die Menschheit gliederte sich Böckh zufolge in „Völkerindividuen“. Die „Volksprache“ war dabei das charakteristische Merkmal für diese „Individuen“. Da die Sprache somit ein untrügliches Zeichen für die Volkszugehörigkeit sei, ließe sich – ungeachtet des politischen Selbstverständnisses – durch die statistische Erhebung der Sprecherzahl einer Sprache auch die Anzahl der Angehörigen einer Nation feststellen. Dass Teile der deutschen Nation in anderen Staaten lebten, war für Böckh durchaus akzeptabel, sofern ihre Sprache 38

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E. M. A RNDT , Der Rhein, Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Gränze (Leipzig 1813) 7. A RNDT , Rhein (wie Anm. 38) 31. W. H AUBRICHS, Der Krieg der Professoren. Sprachhistorische und sprachpolitische Argumentationen in der Auseinandersetzung um Elsaß-Lothringen zwischen 1870 und 1918. In: R. Marti (Hrsg.), Sprachenpolitik in Grenzregionen. Veröffentl. d. Komm. f. Saarländische Landesgesch. u. Volksforsch. 29 (Saarbrücken 1996) 205–249.

82 „Germanen“ und „Romanen“: Sprachenfamilien als antagonistische Volksgruppen? in dem Landesteil, den sie bewohnten, als offizielle Landessprache akzeptiert werde. Die Aufdrängung fremder Sprachen und insbesondere die Verdrängung der Volkssprache durch die Staatssprache liefen dagegen laut Böckh nicht nur dem Nationalitätenprinzip zuwider, sondern seien „ein Frevel gegen die geistige Ordnung der Völker.“41 Wenn ein Staat, wie Frankreich im Elsass und in Lothringen, nichts unversucht lasse, die deutsche Sprache zu „vernichten“, so stelle dies eine „offene Kriegserklärung gegen die deutsche Nation“ dar.42 Man täte Böckh allerdings Unrecht, wenn man ihn vor allem als germanozentrischen Chauvinisten ansehen würde. Sein Nationalitätenprinzip galt gleichermaßen für die polnisch sprechende Minderheit in Preußen und Österreich-Ungarn.43 Böckhs Werk ist für die hier behandelte Problematik bedeutsam, weil sich in ihm erstmals die bedeutende Rolle abzeichnete, die wissenschaftlichstatistische Erhebungen später bei der politischen Diskussion um die Grenzziehung zwischen Deutschland und seinen westlichen Nachbarn spielen sollten. Während der sogenannten Befreiungskriege hatten Dichter und Militärs, die die Angliederung des Elsass’ an Deutschland forderten, vor allem auf allgemeine historische Argumente zurückgegriffen. Im Gefolge von Böckh begann eine Periode, in der es üblich wurde, politische und territoriale Forderungen durch den Verweis auf tatsächliche oder vermeintliche wissenschaftliche Tatsachen zu legitimieren. Die spätere Verschiebung des Untersuchungsgegenstandes war dabei lediglich die Weiterentwicklung eines bereits vorhandenen Argumentationsmusters: Statt der rezenten Sprachverhältnisse wurden bald historische Sprachzustände zugrunde gelegt, die über die Orts- und Flurnamen erschlossen wurden. Von hier bis zur Einbeziehung angeblicher, rezenter oder historischer Rasseverbreitungen oder archäologisch fassbarer prähistorischer Siedlungsgebiete war es dann nur noch ein verhältnismäßig kleiner Schritt. Böckhs Nationalitätenprinzip wurde nur wenige Jahre später zum Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen Kontroverse, die sich während des Krieges 1870/71 zwischen deutschen und französischen Wissenschaftlern entspannte und die die nationale Zugehörigkeit des Elsass’ und Lothringens zum Gegenstand hatte. Dieser „Krieg der Professoren“, an dem sich so klangvolle Namen wie Theodor Mommsen, Numa Denis Fustel de Coulanges, David Friedrich Strauß, Ernest Renan und Heinrich von Treitschke beteiligten, produzierte ein Vielzahl von Artikeln, Denkschriften und pole41

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R. B ÖCKH , Der Deutschen Volkszahl und Sprachgebiet in den europäischen Staaten. Eine statistische Untersuchung (Berlin 1869) 1. B ÖCKH , Volkszahl (wie Anm. 41) 17. B ÖCKH , Volkszahl (wie Anm. 41) 15.

Die politische Instrumentalisierung der Sprachgrenze und der Sprachgrenzforschung 83

mischen Briefwechseln.44 Die Mehrzahl der Befürworter des deutschen Anspruchs auf das Elsass und Lothringen untermauerte diese Forderung neben historischen Argumenten auch mit dem Verweis auf das linguistisch begründete Nationalitätenprinzip.45 Die Kombattanten auf französischer Seite wie Renan oder Fustel de Coulanges bestritten zwar nicht, dass etwa im Elsass die deutsche Sprache vorherrsche. Sie verneinten jedoch, dass die Sprache das vorrangige Kennzeichen der Nationalität sei. In diesem Punkt zeigte sich die bereits angesprochene, in Deutschland und Frankreich traditionell unterschiedliche Auffassung darüber, was unter einer Nation zu verstehen sei. Diese bildete den Grund dafür, dass die jeweiligen Argumente im anderen Lager in der Regel nur wenig Verständnis fanden. Insgesamt stand man in Frankreich dem Nationalitätenprinzip argumentativ etwas hilflos gegenüber. Geradezu prophetisch äußerte Renan seine Warnung, dass das Nationalitätenprinzip, das Deutschland nun gegenüber Frankreich geltend mache, dereinst auch gegen Deutschland gewendet werden könne und slawische Völker mit dem selben Recht Anspruch auf bestimmte Teile Deutschlands erheben könnten.46 Nur vereinzelt versuchte die profranzösische Partei, auf derselben Ebene argumentativ gegenzuhalten. Der belgische Historiker Alfred Michiels vertrat die Meinung, dass die Elsässer zwar einen germanischen Dialekt sprächen. Dies bedeute jedoch nicht, dass es sich bei den Elsässern um eine germanische Bevölkerung im eigentlichen Sinne handele. Man könne wie die Juden die deutsche Sprache sprechen, ohne deshalb der deutschen Rasse anzugehören. Bei den Elsässern handele es sich jedenfalls um eine „race mixte“, die zu einem Gutteil aus den Nachfahren der keltischen Gallier bestehe.47 Wolfgang Haubrichs wies darauf hin, dass Michiels in diesem Zusammenhang ein Argumentationsmuster aufgriff, das auf deutscher Seite am deutlichsten Heinrich von Treitschke vertrat. Haubrichs bezeichnet es als den „Diskurs vom verdeckten Volkstum “.48 Dieser Argumentation zufolge ist weder der ethnographische Präsens noch der Wille der betroffenen Bevölkerung eine legitime Grundlage für die Entscheidung über die nationale Zugehörigkeit einer Bevölkerung, sondern allein die historische Zugehö44

45 46

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H AUBRICHS, Krieg (wie Anm. 40) 222–235. – Vgl. auch M. V ÖLKEL , Geschichte als Vergeltung. Zur Grundlegung des Revanchegedankens in der deutsch-französischen Historikerdiskussion von 1870/71. Hist. Zeitschr. 257, 1993, 63–107. H AUBRICHS, Krieg (wie Anm. 40) 233. Zitiert bei H. K OHN , Wege und Irrwege. Vom Geist des deutschen Bürgertums (Düsseldorf 1962) 176. H AUBRICHS, Krieg (wie Anm. 40) 235. H AUBRICHS, Krieg (wie Anm. 40) 238.

84 „Germanen“ und „Romanen“: Sprachenfamilien als antagonistische Volksgruppen? rigkeit zu einem Volkstum. Auf dieser Grundlage formulierte Treitschke einen ungeheuren Anspruch: Wir Deutsche, die wir Deutschland und Frankreich kennen, wissen besser, was den Elsässern frommt, als jene Unglücklichen selber, die in der Verbildung ihres französischen Lebens von dem neuen Deutschland ohne treue Kunde blieben.49

Wie noch zu zeigen ist, folgten zahlreiche politische Legitimationsbemühungen, die in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts mit Hilfe archäologischer Quellen vorgetragen wurden, diesem Muster. Die Grenzlinie zwischen dem neu geschaffenen Deutschen Reich und Frankreich lehnte sich, wohl als erste Grenzziehung in der europäischen Geschichte, tatsächlich weitgehend an den Verlauf der Sprachgrenze an: in Lothringen wurde jedoch aus strategischen Gründen der seit jeher französischsprachige Landstrich um Metz dem Deutschen Reich zugeschlagen. In den folgenden zwei Jahrzehnten erschienen zahlreiche grundlegende Arbeiten zum Verlauf der deutsch-französischen Sprachgrenze und zu den historischen Ortsnamen im neuen „Reichsland“ Elsass-Lothringen. Entsprechende Forschungen wurden auch in Frankreich und Belgien aufgenommen.

d) Bemerkungen zur Methodik der interdisziplinären Sprachgrenzforschung Das grundsätzliche Problem bei der Rekonstruktion ur- und frühgeschichtlicher Sprachzustände anhand onomastischer Quellen ist die Tatsache, dass die Sprachwissenschaft zwar die relativchronologische Ordnung ihres Materials herausarbeiten, dessen absolutchronologische Einordnung aus methodischen Gründen grundsätzlich aber nicht ermitteln kann. Zur Bestimmung der absoluten Chronologie wird deshalb häufig auf zusätzliche, extralinguistische Informationen zurückgegriffen. Vor allem die historischen und archäologischen Quellen werden in diesem Zusammenhang herangezogen. Wolfgang Haubrichs beschrieb dieses Verfahren vor wenigen Jahren als „Eichung“ der sprachwissenschaftlichen relativen Chronologie durch die Geschichtswissenschaft und die Archäologie.50 Diese Vorgehens-

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H. V. T REITSCHKE , Was fordern wir von Frankreich? In: Ders., Zehn Jahre Deutscher Kämpfe. Schriften zur Tagespolitik (2Berlin 1879) 285–327, hier 289. (Zitiert nach H AUBRICHS, Krieg (wie Anm. 40) 238). W. H AUBRICHS, Romania-Germania. Die Bedeutung von Ortsnamen für die Sprachgeschichte im Grenzgebiet zweier Sprachen. Teil B. In: F. Debus (Hrsg.), Romania-

Bemerkungen zur Methodologie der interdisziplinären Sprachgrenzforschung 85

weise ist nicht unproblematisch. Denn keineswegs ist selbstverständlich, dass die Quellen der Nachbarwissenschaften überhaupt Aufschluss über sprachliche Zustände geben können. Auf die Tatsache, dass die antiken Ethnographen fremde Bevölkerungen nicht primär nach linguistischen Kriterien klassifizierten, wurde bereits hingewiesen.51 Das Verfahren, antike Quellen zu den Siedlungsgebieten von Kelten oder Germanen zur Datierung von Namensschichten heranzuziehen, steht deshalb methodisch auf schwankendem Boden. Noch problematischer ist die Praxis, archäologische Quellen für die Datierung ur- und frühgeschichtlicher Namensschichten zugrunde zu legen. Manche Vertreter der Sprachwissenschaften neigen mitunter dazu, die diesbezügliche Aussagekraft der archäologischen Quellen zu überschätzen. In vielen Fällen wurden neuere archäologische Arbeiten, die das grundsätzliche Problem der archäologischen Nachweisbarkeit von Völkern und Sprachgruppen aufgezeigt haben, nicht hinreichend zur Kenntnis genommen.52 Wenn Wolfgang Haubrichs etwa im Zuge seiner bereits erwähnten Arbeit über die germanischen Sprachinseln in der „Terra Gallica“ die Annahme zugrunde legt, von Seiten der Archäologie stehe außer Frage, dass das Altsiedelgebiet der Terra Gallica sowohl romanische Kontinuitätszonen aufweise als auch sicher von einer im 5. Jahrhundert einsetzenden germanischen Besiedlungswelle erfasst wurde,53 so wird dabei übersehen, dass die Plausibilität dieser archäologischen These ihrerseits bereits zu einem gewissen Teil auf älteren sprachwissenschaftlichen Theorien aufbaut. Die frühmittelalterliche Archäologie vermag im fraglichen Zeitraum aufgrund ihrer Quellen lediglich das Aufkommen einer bestimmten Bestattungsweise erkennen. Diese Entwicklung wurde zwar in der Vergangenheit häufig mit einer germanischen Einwanderung bzw. dem Beharren unterworfener ehemals römischer Bevölkerungsteile in Verbindung gebracht. Diese Interpretation beruht jedoch ihrerseits bereits zu einem nicht unwesentlichen Teil auf den erwähnten sprachgeschichtlichen Theorien von Steinbach und Petri. Diese aber werden von Haubrichs selbst als unhaltbar angesehen.

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Germania. Beiträge zur Namenforschung NF, Beih. 53 (Heidelberg 1999) 45–61, hier 50. Vgl. Kap. 2a. Ein besonders eindrückliches Beispiel ist : E. M EINEKE /J. S CHWERDT , Einführung in das Althochdeutsche (Paderborn u. a. 2001) 40–42 (zur Einwanderung der Indogermanen); 42 ff. (Herkunft und früheste Wanderung der Germanen). H AUBRICHS, Germania submersa, 644.

86 „Germanen“ und „Romanen“: Sprachenfamilien als antagonistische Volksgruppen? Hier liegt also zum Teil ein klassischer Zirkelschluss vor: Allein aufgrund ihrer (nichtepigraphischen) Quellen kann die Archäologie ebenso wenig über ur- und frühgeschichtliche Sprachzustände aussagen wie die Sprachwissenschaft über die absolute Chronologie der frühgeschichtlichen Ortsnamenschichten. Die Frage, in wie weit die Entstehung der germanisch-romanischen Sprachgrenze überhaupt wissenschaftlich erschlossen werden kann, hat Jean Stengers in einem noch immer lesenswerten Essay bereits vor mehreren Jahrzehnten skeptisch beurteilt.54 Schwierigkeiten bereiten den beteiligten Wissenschaften (Geschichte, Archäologie, Sprachwissenschaften) nicht allein die Lückenhaftigkeit des jeweiligen Materials und die methodischen Unsicherheiten bei der Interpretation; es muss auch die Möglichkeit zugestanden werden, dass über die vorhandenen spärlichen Fakten hinaus die Entstehung der Sprachgrenze von kulturellen Faktoren bedingt wurde, die gänzlich außerhalb der Reichweite der vorhandenen Quellen liegen. Die Tatsache, dass trotz intensiver und jahrzehntelanger Bemühungen keine der vorgeschlagenen Hypothesen bislang einen methodisch akzeptablen Lösungsweg aufzeigen konnte, stimmt in dieser Hinsicht nicht eben optimistisch.

e) Modelle zur Entstehung der germanisch-romanischen Sprachgrenze Die bisher vorgeschlagenen Hypothesen über die Entstehung der Sprachgrenze lassen sich grundsätzlich auf drei unterschiedliche Modelle zurückführen. Damit soll jedoch nicht behauptet werden, dass keine Möglichkeiten denkbar wären, die verschiedenen Modelle miteinander zu kombinieren. Alle drei Modelle wurden in jüngerer Zeit innerhalb der Ur- und Frühgeschichte vertreten bzw. der ethnisch-sprachlichen Interpretation frühmittelalterlicher Grabfunde zugrunde gelegt. Die archäologische Seite der verschiedenen Hypothesen bzw. deren Konsequenzen für die ethnische Interpretation der Reihengräber sollen hier nur angerissen werden. Im Hauptteil der Arbeit werden sie in ihrer chronologischen Entwicklung detailliert erörtert.

54

J. S TENGERS, La formation de la frontière linguistique en Belgique ou de la légitimité de l’hypothèse historique. Coll. Latomus 41 (Brüssel 1959) bes. 50 f.

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87

Abb. 1: Ausdehnung des germanischen Sprachgebiets vom 5. bis zum 9. Jahrhundert bis zur späteren Sprachgrenze (nach J AMES, Franks [wie Anm. 55] 118).

Die Sprachgrenze als Ergebnis einer germanischen „Landnahme“ im 5./6. Jahrhundert Eine weit verbreitete Ansicht führt die Entstehung der germanisch-romanischen Sprachgrenze auf die Migration germanischsprechender Bevölkerungsgruppen zurück, die vor allem während des 5. und 6. Jahrhunderts die Gebiete südlich der Donau und des Hochrheins bzw. westlich des Oberund Niederrheins besiedelt haben. Dieses Modell vertraten bereits die Pioniere der onomastischen Sprachgrenzforschung Godefroid Kurth und Hans Witte am Ende des 19. Jahrhunderts. In der jüngeren Ur- und Frühgeschichtsforschung wurde es z. B. in den Handbüchern von Edward James sowie von Laure-Charlotte Feffer und Patrick Périn referiert.55 55

E. J AMES, The Franks (Oxford 1988) 117 ff. – L.-C H . F EFFER /P. P ÉRIN , Les Francs. A l’origine de la France. Bd. 2 (Paris 1987) 129.

88 „Germanen“ und „Romanen“: Sprachenfamilien als antagonistische Volksgruppen? Dieses Modell geht davon aus, die römische Reichsgrenze sei bis in die Spätantike weitgehend identisch mit der Sprachgrenze zwischen der vorwiegend lateinisch bzw. vulgärlateinisch sprechenden Provinzialbevölkerung und der germanisch sprechenden Bevölkerung jenseits von Rhein und Donau gewesen. Nach dem Ende der römischen Grenzverteidigung sei es zu umfangreichen Migrationsbewegungen germanischer Bevölkerungsgruppen aus der Germania in die ehemals römischen Gebiete rechts des Rheins und südlich der Donau gekommen, durch die die Sprachgrenze allmählich nach Süden und Westen verschoben wurde. Diese Besiedlungswellen waren so intensiv, dass die Provinzialbevölkerung entweder verdrängt oder nach und nach sprachlich assimiliert wurde. Die Sprachgrenze markiert somit im Wesentlichen die Linie, an der der germanische Besiedlungsstrom zum Erliegen kam. Dieses Modell enthält einige Schwachpunkte. Zum einen beruhte es ursprünglich auf der mittlerweile als irrig erkannten These, das Römische Reich sei von den Germanen erobert worden. Dabei wurde unterstellt, dass die Motivation für die Einfälle der germanischen Stämme bereits in der Spätantike die Gewinnung von neuem Siedlungsland gewesen sei. In älteren historischen Arbeiten erschienen die römischen Grenzbefestigungen häufig als ein letztes Bollwerk, hinter dem sich die germanischen Bevölkerungsmassen aufstauten, um sich schließlich gleich einer Flutwelle in das Römische Reich zu ergießen. In jüngerer Zeit verglich ein Historiker die entsprechenden Vorgänge an der unteren Donau mit dem einprägsamen Bild eines „Dammbruchs“.56 Aufgrund dieses Geschichtsbildes war es nur logisch anzunehmen, nach der „Niederlage“ des Römischen Reiches sei es zur lange angestrebten Ansiedlung der Germanen gekommen. Anhand der Schriftquellen ist jedoch nicht nachzuweisen, dass die Barbareneinfälle des 5. Jahrhunderts tatsächlich Besiedlungsvorgänge in das Gebiet zwischen spätantiker Reichsgrenze und germanisch-romanischer Sprachgrenze nach sich zogen. Die einzige belegte Ansiedlung, die der Burgunden, war bekanntlich nur von begrenzter Dauer (413–443).57 In ihrem endgültigen Ansiedlungsgebiet in der Sapaudia wurden die Burgunden zudem sprachlich ebenso assimiliert wie die Goten oder Langobarden. Dagegen ist anhand der Schriftquellen in keiner Weise zu belegen, dass die Entstehung des Merowingerreichs von einer umfassenden „Landnahme“ 56

57

G. S CHRAMM , Ein Damm bricht. Die römische Donaugrenze und die Invasionen des 5. – 7. Jahrhunderts im Lichte von Namen und Wörtern. Südosteuropäische Arbeiten 100 (München 1997). H. H. A NTON , s.v. Burgunden: Historisches. In: RGA2, Bd. 4 (Berlin, New York 1981) 235–248, hier 238 ff.

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begleitet wurde, die von der Germania ausging.58 Ebenso wenig ist anhand der historischen Quellen eine alemannische „Landnahme“ am Oberrhein und in der Nordschweiz nachzuweisen. Sicher ist lediglich, dass der alemannische Dukat, der von den Merowingerkönigen geschaffen wurde, Teile der Nordschweiz umfasste. Dieser politische Vorgang setzt jedoch keine Bevölkerungsverschiebung voraus.59 Auch für das bajuwarische Gebiet ist aufgrund der Schriftquellen keine Besiedlungswelle aus dem Gebiet nördlich der Donau zu belegen.60 Die Bajuwaren werden erstmals bereits in ihrem endgültigen Siedlungsgebiet südlich der Donau erwähnt. Anhänger des Ethnogenesemodells61 unter den Historikern und, daran angelehnt, auch Teile der archäologischen Forschung gehen aufgrund von Analogieschlüssen zu anderen germanischen Stämmen davon aus, dass ein bajuwarischer „Traditionskern“ aus den Gebieten nördlich der Donau einwanderte.62 Eine gravierende Verschiebung der Sprachgrenze in Süddeutschland kann jedoch auf diese Weise kaum erklärt werden. Ein zweiter Schwachpunkt dieser Theorie liegt darin, dass sie nicht deutlich machen kann, weshalb die Sprachgrenze ausgerechnet dort entstanden ist, wo sie später festgestellt werden kann. Älteren Geschichtsdarstellungen scheint häufig die Vorstellung zugrunde zu liegen, dass sich eine germanische Siedlungswelle in der Art eines Lavastroms in das römische Gebiet ergoss, der die Sprachinseln wie Erhebungen aussparte. Die Sprachgrenze bildete sich demnach dort heraus, wo der Lavastrom schließlich zum Stillstand kam und erkaltete. Insgesamt ist es trotz der genannten Einschränkungen dennoch recht wahrscheinlich, dass es nach der Aufgabe der römischen Grenzverteidigung zur Ansiedlung größerer Menschengruppen aus der Germania in den Gebieten rechts des Rheins und südlich der Donau gekommen ist. Historisch zu belegen ist dies im Grunde aber nicht. Die frühmittelalterlichen Reihengräber spielten bei der Entwicklung dieses Modells keine Rolle, da 58 59 60

61 62

Zur Geschichte dieser Fehlinterpretation vgl. W ERNER, Conquête Franque. G EUENICH , Alemannen, 94–96. Vgl. dazu künftig H. F EHR, Am Anfang war das Volk? Die Entstehung der bajuwarische Identität als archäologisches und interdisziplinäres Problem. In: W. Pohl/M. Mehofer (Hrsg.), Archäologie der Identität. Methodenprobleme der Frühmittelalterforschung (Wien [im Druck]). Zur Problematik des Ethnogenesemodells vgl. Kap. 7b. K. R EINDEL , Herkunft und Stammesbildung der Bajuwaren nach den schriftlichen Quellen. In: H. Dannheimer/H. Dopsch (Hrsg.), Die Bajuwaren. Von Severin bis Tassilo 488–788 (München, Salzburg 1988) 56–60. – T H . F ISCHER /H. G EIS LER , Herkunft und Stammesbildung der Baiern aus archäologischer Sicht. Ebd. 61–68.

90 „Germanen“ und „Romanen“: Sprachenfamilien als antagonistische Volksgruppen? die Verbreitung der Gräberfelder vom Reihengräbertypus in keiner Weise Rücksicht auf den Verlauf der Sprachgrenze nimmt. Aus diesem Grund ließen die Vertreter dieses Modells die archäologischen Quellen entweder gänzlich beiseite oder bestritten deren ethnisch-sprachliche Aussagekraft. Die Sprachgrenze als „Ausgleichsgrenze“ Das Modell der Entstehung der Sprachgrenze als Ausgleichsgrenze innerhalb eines zuvor sprachlich heterogenen Gebiets bezieht sich allein auf den westlichen Abschnitt der Sprachgrenze von der Schweiz bis zur Kanalküste. Es wurde in den 1920er und 1930er Jahren von der bereits erwähnten Bonner Schule der volksgeschichtlichen Landesforschung entwickelt. Die Grundlagen für dieses Modell legte 1926 Franz Steinbach in seinem Buch über die „westdeutsche Stammes- und Volksgeschichte“.63 Eine umfassende Ausgestaltung erfuhr seine These in Franz Petris 1937 erschienenem Werk über das „Germanische Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich“.64 In modifizierter Form verteidigte Petri das Modell bis in die 1970er Jahre.65 In der Ur- und Frühgeschichte vertraten es in jüngerer Zeit etwa Alexander Koch66 und Volker Bierbrauer.67 Wie das zuvor beschriebene Modell geht dieses ebenfalls davon aus, dass es zu einer umfassenden germanischen „Landnahme“ in Nordgallien gekommen ist. Während aber das erste Modell voraussetzt, die Sprachgrenze markiere im Wesentlichen die Grenze der germanischen Besiedlung, gingen Petri und Steinbach davon aus, dass sich die frühmittelalterliche germanische Besiedlung ursprünglich weit über die Sprachgrenze hinaus über ganz Nordgallien bis zur Loire erstreckt habe. Nicht nur der westliche Teil des merowingischen Kerngebiets wurde davon erfasst, sondern die gesamte Francia. In einem länger andauernden Ausgleichsprozess wurden in der Folge die germanischen Sprachgebiete westlich der Sprachgrenze ebenso sprachlich assimiliert, wie die romanischsprachigen Regionen auf der anderen Seite der Sprachgrenze. Petri und Steinbach gingen ursprünglich davon aus, dass das germanische Element in Nordgallien anfänglich ein deutliches Übergewicht besessen habe. Durch einen romanischen „Rückstoß“68 sei je63 64 65 66 67 68

Vgl. Kap. 12b. Vgl. Kap. 12b. S TEINBACH , Studien. – P ETRI , Volkserbe. – P ETRI , Landnahme. K OCH , Bügelfibeln, 571. – Vgl. Kap. 16a. B IERBRAUER, Romanen, 110. – Vgl. Kap. 16a. P ETRI , Volkserbe, 998.

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doch das Gebiet jenseits der Sprachgrenze in der späten Merowingerzeit und in der Karolingerzeit „reromanisiert“ worden. Dieses Modell beruht hauptsächlich auf der Interpretation der frühmittelalterlichen Grabfunde und der Ortsnamen. Daneben wurden auch rassekundliche Argumente berücksichtigt. Ferner basiert das Modell auf zahlreichen impliziten historischen Prämissen. Die oben aufgeführten Einwände gelten uneingeschränkt auch für dieses Modell: Eine umfassende germanische „Landnahme“ oder „völkische Massensiedlung “ – so der Sprachgebrauch der 30er Jahre – in ganz Nordgallien ist historisch ebenso wenig belegt wie im Rheinland oder in Süddeutschland. Auf die Unhaltbarkeit von Petris methodischen Axiomen bei der Auswertung der onomastischen Quellen wurde oben bereits hingewiesen. Wolfgang Haubrichs bescheinigt Petri eine „die tatsächliche Überlieferung in Beliebigkeit vergewaltigende Sichtweise “.69 Bereits unmittelbar nach der Publikation des „Germanischen Volkserbes“ war Petris Vorgehensweise vernichtend kritisiert worden70 und die moderne romanistische Kritik beurteilt Petris Arbeitsweise trotz aller Modifikation in der Nachkriegszeit keineswegs günstiger. Wenn sie zwischenzeitlich trotzdem eine gewisse Verbreitung fand, was vor allem im deutschen Sprachraum der Fall war, so war dies weitgehend auf bestimmte politische Rahmenbedingungen zurückzuführen, auf die ich im zweiten Teil meiner Arbeit eingehen werde. Da der onomastische Teil der Begründung für das Modell der Sprachgrenze als Ergebnis eines weiträumigen Ausgleichsprozesses als unhaltbar erwiesen wurde, kann es nur noch durch den archäologischen Teil der Interpretation gestützt werden. Allerdings ist bereits an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die sprachhistorische Interpretation der Grabfunde selbst ursprünglich von der onomastischen These abhing, da die Gräber aus sich heraus keine Aussagen über Sprachzustände erlauben. Der bereits skizzierte onomastische Befund zum Umfang des germanischen Sprachgebiets jenseits der Sprachgrenze steht dagegen im Widerspruch zur These einer einstmals umfassenden germanischsprachigen Bevölkerung weit jenseits der Sprachgrenze. Das Modell der Ausgleichsgrenze kann lediglich für die Gebiete im Nahbereich der Sprachgrenze, der sich durch Namenpaare auszeichnet, plausibel erwogen werden.71

69 70

71

H AUBRICHS, Germania submersa, 636. E. G AMILLSCHEG , Rez. Franz Petri, Germanisches Volkserbe. Deutsche Literaturzeitung 59/1, 1939, 370–378. M. B ESSE , Namenpaare an der Sprachgrenze (Tübingen 1997) 760.

92 „Germanen“ und „Romanen“: Sprachenfamilien als antagonistische Volksgruppen? Die vorrömische Entstehung der Sprachgrenze Das letzte Modell zur Entstehung der germanisch-romanischen Sprachgrenze, das hier zu besprechen ist, geht davon aus, dass die Sprachgrenze im Wesentlichen bereits in vorrömischer Zeit entstanden ist. Dieses Modell war im Laufe der Wissenschaftsgeschichte insgesamt wenig verbreitet. Der erste mir bekannte Vertreter dieser These war der Geograph Karl Bernhardi. In seiner 1844 erstmals erschienenen „Sprachkarte von Deutschland“ äußerte er die Ansicht, das gegenwärtige „deutsche“, d. h. germanische Sprachgebiet umfasse, von einigen Abweichungen abgesehen, jene Regionen, die bereits Caesar als Siedlungsgebiet der Deutschen beschrieben habe.72 Auch in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen wurde aus politisch-ideologischen Gründen vereinzelt die Ansicht geäußert, das Rheinland sei in römischer Zeit weitgehend germanisches Sprachgebiet gewesen.73 Für sein Arbeitsgebiet Lothringen trat Alain Simmer vor einigen Jahren für einen vorrömischen Ursprung der Sprachgrenze ein.74 Den Ausgangspunkt dieses Modells bilden die antiken Quellen, die berichten, dass sich bereits in caesarischer Zeit mehrere germanische Gruppen rechts des Rheins aufgehalten haben. Zwar behauptete Caesar einerseits, der Rhein bilde die Grenze zwischen Gallien und Germanien; andererseits erwähnt er, dass bestimmte germanische bzw. den Germanen verwandte Gruppen teils zeitweilig, wie die Sueben, teils dauerhaft rechts des Rheins ansässig waren, besonders die sogenannten Germani cisrhenani. Zudem legten andere Gruppen wie die Treverer und Nervier laut Tacitus Wert auf die Tatsache, germanischer Abstammung zu sein. Ferner könnte die Umsiedlung germanischer Gruppen auf das linke Rheinufer (z. B. Ubier am Niederrhein, Triboker, Nemeter und Vangionen am Oberrhein) zu einer sprachlichen Germanisierung des Rheingebiets in frührömischer Zeit beigetragen haben.75 Voraussetzung für diese These ist jedoch, dass die ethnographisch als Germanen bezeichneten Gruppen tatsächlich auch „germanisch“ sprachen. Welche Sprachen die Ger-

72 73

74 75

K. B ERNHARDI , Sprachkarte von Deutschland (Kassel 1844) 1 ff. So etwa U. K AHRSTEDT , Die germanische Sprachgrenze im antiken Elsass. Nachr. Ges. Wiss. Göttingen, phil.-hist. Kl. 1930, 381–395. S IMMER, Frontière linguistique. S IMMER, Frontière linguistique, 212–215. – Zu den verschiedenen Germanengruppen in frührömischer Zeit links des Rheins: H. V. P ETRIKOVITS, Germani cisrhenani. In: H. Beck (Hrsg.), Germanenprobleme in heutiger Sicht. Ergbde RGA 1 (Berlin, New York 1986) 88–106, bes. 104.

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mani cisrhenani jedoch tatsächlich sprachen, entzieht sich weitgehend der Kenntnis.76 Grundsätzlich lässt sich kaum feststellen, welche Sprachen während der Kaiserzeit in den betreffenden Provinzen des Römischen Reiches – Germania superior, Germania inferior und der östliche Teil der Gallia Belgica – neben dem Lateinischen gesprochen wurden. Aufschluss hierzu gewähren allein epigraphische und literarische Quellen in lateinischer Sprache. Diese enthalten allerdings weder für Kelten noch Germanen Informationen über Satzbau, Grammatik oder Wortschatz, so dass allein das Namenmaterial zur Verfügung steht. Verschiedene Faktoren schränken jedoch die Aussagekraft der Namen hinsichtlich der Verbreitung nichtlateinischer Volkssprachen ein: Zunächst ist die Anzahl der Personen, die germanisch oder keltisch sprachen, grundsätzlich wohl höher anzusetzen als der Anteil der Personennamen, die aus diesen Sprachen abzuleiten sind. Die Namengebungen in römisch-lateinischer Tradition spiegelte im Römischen Reich nicht die ethnische Herkunft des Namenträgers wider, sondern war ein bedeutendes Mittel sozialer Integration bzw. Distinktion.77 Aus diesem Grund bestand ein großer Anreiz für die Provinzialbevölkerung, sich nach Möglichkeit in das römische System der Namengebung zu integrieren. Ob mit der Übernahme der römischen Namengebung auch ein Sprachwechsel verbunden war, steht auf einem anderen Blatt. Es ist damit zu rechnen, dass neben dem Lateinischen als Lingua franca überall im Römischen Reich regionale Sprachen weiterhin gebräuchlich blieben. Im Ostteil des Römischen Reiches lässt sich (epigraphische) Bilingualität recht häufig nachweisen, da dort die Regionalsprachen teilweise ebenfalls Schriftsprachen waren. In den germanischen Provinzen war jedoch das Lateinische die einzige Schriftsprache, weshalb mittels des epigraphischen Materials lediglich der literate Ausschnitt der Bevölkerung fassbar wird. Die Sprachverhältnisse des illiteraten Teils der Bevölkerung liegen überwiegend außerhalb der Reichweite der Quellen.78 Im Einzelfall bereitet ferner die Zuweisung bestimmter Personennamen zu den keltischen oder den germanischen Sprachen Schwierigkeiten. Auf76

77

78

H. R EICHERT , s. v. Linksrheinische Germanen. In: RGA2, Bd. 18 (Berlin, New York 2001) 483–494, bes. 487–489. B. S ALWAY, What’s in a name? A survey of Roman onomastic practice from c. 700 B.C. to A.D. 700. Journal Roman Studies 84, 1994, 124–145. – C H . K UNST , Identität und Unsterblichkeit. Zur Bedeutung des römischen Personennamens. Klio 81/1, 1999, 156–179. G. N EUMANN , Die Sprachverhältnisse in den germanischen Provinzen des Römischen Reiches. In: ANRW II, 29/2 (Berlin, New York 1983) 1061–1088, hier 1062.

94 „Germanen“ und „Romanen“: Sprachenfamilien als antagonistische Volksgruppen? grund der Verwandtschaft beider Sprachen kommen bestimmte Namenselemente in beiden Sprachen vor. Der Anteil unbestimmbarer Namen ist deshalb verhältnismäßig umfangreich. Weiterhin ist bemerkenswert, dass hybride Namensbildungen belegt sind, d. h. die unterschiedlichen Elemente des Namens stammen aus verschiedenen Sprachen. Schließlich ist daran zu erinnern, dass der Träger eines Namens, der etwa aus dem Keltischen herzuleiten ist, nicht zwangsläufig keltisch gesprochen haben muss. Auch hier ist mit sprachübergreifenden Namenmoden zu rechnen. Sofern man voraussetzt, dass die Sprecher der als Germanen bezeichneten Gruppen tatsächlich germanisch gesprochen haben, könnte etwa das nicht seltene Vorkommen keltischer Personennamen innerhalb dieser Gruppen als Beleg für solche Namenmoden gewertet werden. Der Suebe Ariovist ist das prominenteste Beispiel für einen Träger eines keltischen Namens in einer Gruppe, die die römischen Ethnographen als Germanen ansahen.79 Unter all diesen Vorbehalten ergibt sich für die germanischen Provinzen der Kaiserzeit laut Günter Neumann folgender Befund: Gut belegt sind germanische Namen im Gebiet der Bataver am Niederrhein. Hier deutet das Namenmaterial darauf hin, dass eine germanische Sprache gesprochen wurde.80 Auch im Namenmaterial der Angehörigen der frühkaiserzeitlichen Bataver- und Tungrerkohorten, die in jüngerer Zeit durch die Funde von Schreibtafeln in Vindolanda in einiger Zahl bekannt wurden, sind germanische Namen neben den lateinischen und keltischen relativ zahlreich vertreten.81 Aus dem Gebiet der Germani cisrhenani (Condrusi, Eburones etc.) liegen hauptsächlich lateinische Namen vor. Daneben finden sich aber ebenso einige unzweifelhaft germanische und keltische.82 Im ubischen Gebiet um Köln überwiegen ebenfalls die lateinischen Namen. Germanische Namen sind mit ca. 4 % insgesamt noch seltener als die keltischen mit 7 %.83 Im Gebiet der Treverer überwiegt unter den nichtlateinischen Namen das keltische Element bei weitem. Es ist hier nur ein kleiner Bestand an sicheren germanischen Personennamen nachzuweisen.84 In der Provinz Germania superior ist der Forschungsstand gegenwärtig schlechter als in Niedergermanien. Gut untersucht sind allein die Namen der Mediomatriker, von denen sich aber das Namenmaterial der germanischen Stämme der Tri-

79 80 81

82 83 84

N EUMANN , Sprachverhältnisse (wie Anm. 78) 1063. N EUMANN , Sprachverhältnisse (wie Anm. 78) 1067. A. R. B IRLEY, The Names of the Batavians and Tungrians in the Tabulae Vindolandenses. In: Grünewald, Germania inferior (wie Anm. 23) 241–240, hier 255–257. N EUMANN , Sprachverhältnisse (wie Anm. 78) 1072. N EUMANN , Sprachverhältnisse (wie Anm. 78) ebd. N EUMANN , Sprachverhältnisse (wie Anm. 78) 1081.

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boker, Nemeter und Vangionen nicht zu unterscheiden scheint. Hier ist neben den überwiegenden lateinischen Namen ein hoher Prozentsatz keltischer Namen vorhanden, während germanische Namen keine Rolle spielen.85 Eine Quellengattung, die über die bislang bekannten epigraphischen Quellen hinaus weitere Informationen zu liefern verspricht, sind die Graffiti auf römischen Gebrauchsgegenständen. Leider ist dieser Quellenbestand bislang nur ausschnittsweise erschlossen. Aufgrund ihres im Vergleich zu Grab- oder Weiheinschriften alltäglicheren Charakters sind hier möglicherweise breitere Bevölkerungsschichten zu erfassen, als bei den Inschriften mit offiziöser Funktion. Die Graffiti der römischen Siedlung von Nida-Heddernheim wurden in Bezug auf die hier behandelte Frage eingehend untersucht. Obwohl diese Siedlung in unmittelbarer Nähe der Grenze zur Germania lag, konnte hier kein nennenswerter Anteil an Personen nachgewiesen werden, die germanische Namen trugen. Typische Verschreibungen, die wahrscheinlich machten, dass die Schreiber das Germanische zur Muttersprache hatten, konnten ebenfalls nicht nachgewiesen werden.86 Auch unter den 135 Namen, die anhand von Graffiti auf römischer Keramik aus dem Rheinland bekannt sind, finden sich zwar zahlreiche zweifellos keltische Namen, aber kein einziger sicher germanischer Herkunft.87 Insgesamt skizziert Neumann aufgrund des Namenmaterials folgenden Befund, der allerdings in seiner Aussagekraft mit den oben erläuterten Einschränkungen zu versehen ist: Der Anteil der germanischen Personennamen nimmt im Bereich der germanischen Provinzen von Norden nach Süden ab. Im Oberrheingebiet sind germanische Personennamen kaum nachzuweisen, während hier ein entsprechend umfangreicher keltischer Namenschatz vorhanden ist.88 Insgesamt deutet dieser Befund darauf hin, dass zumindest ein Teil der Bevölkerung der niedergermanischen Provinz in römischer Zeit germanisch sprach. Für die Provinz Germania superior fehlen entsprechende Hinweise. Das Vorkommen von keltischem Namenma85 86

87

88

N EUMANN , Sprachverhältnisse (wie Anm. 78) 1079. M. S CHOLZ , Namen von Kelten, ‚Römern‘ und Germanen? Die Bevölkerung von Nida-Heddernheim im Spiegel der Namengraffiti. In: C. Bridger/C. v. Carnap-Bornheim (Hrsg.), Römer und Germanen – Nachbarn über Jahrhunderte. BAR Int. Ser. 678 (Oxford 1997) 47–57, bes. 50. – D ERS., Graffiti auf römischen Tongefäßen aus Nida-Heddernheim. Schr. Frankfurter Mus. Vor- u. Frühgesch. Arch. Mus. 16 (Frankfurt 1999) 64. L. B AKKER /B. G ALSTERER -K RÖLL , Graffiti auf römischer Keramik im Rheinischen Landesmuseum Bonn. Epigr. Stud. 10 (Köln 1975) 30–50. N EUMANN , Sprachverhältnisse (wie Anm. 78) 1082.

96 „Germanen“ und „Romanen“: Sprachenfamilien als antagonistische Volksgruppen? terial auch in jenen Gegenden, in denen germanische Personennamen belegt sind, deutet darüber hinaus eher auf eine sprachliche Gemengelage zwischen Kelten und Germanen hin, nicht aber auf den Verlauf einer keltisch-germanischen Sprachgrenze deutlich rechts des Rheins. Aus diesem Grund erscheint eine Entstehung der Sprachgrenze in vor- und frühgeschichtlicher Zeit aus sprachwissenschaftlicher Sicht wenig wahrscheinlich. Ferner bietet dieses Modell keine Antwort auf die Frage, weshalb in römischer Zeit allein das Keltische vom Lateinischen abgelöst wurde und dieser Verdrängungsprozess ausgerechnet an der ehemaligen keltisch-germanischen Sprachgrenze halt gemacht haben soll. Die frühmittelalterlichen Grabfunde spielen für dieses Modell keine Rolle. Sie müssen in seiner Logik als ethnisch-sprachlich indifferent gelten. Archäologische Quellen können aber berücksichtigt werden, um eine Kontinuität der Besiedlung von der römischen in die frühmittelalterliche Epoche aufzuzeigen. Entsprechende Befunde stützen das Modell allerdings nur dann, wenn angenommen wird, dass die Ausbreitung der germanischen Sprache durch solche Migrationsprozesse ausgelöst wurde, die im Siedlungsgefüge deutliche Brüche verursacht haben müssen.

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5. „Germanen“ und „Romanen“: Anthropologische Typen? Bis in jüngste Zeit spielen anthropologische Argumente bei der archäologischen Diskussion um den ethnischen Charakter der frühmittelalterlichen Reihengräber eine nicht unbeträchtliche Rolle.1 Die wechselseitige Bezugnahme auf den jeweiligen Forschungsstand verfügt sowohl in der Archäologie als auch in der Anthropologie über eine lange Tradition, die bis in die Anfänge der wissenschaftlichen Frühmittelalterarchäologie zurückreicht. Die frühmittelalterlichen Körpergräberfelder liefern nicht nur archäologisches Fundmaterial in beispielloser Fülle, sondern stellen ebenfalls seit langem für die prähistorische Anthropologie Europas eine der bedeutendsten 1

Vgl. z. B. O. R ÖHRER -E RTL , Über die Skelette aus zwei Plattengräbern. Bayer. Vorgeschbl. 69, 2004, 105 f. – S T. H OCHULI /K. M ÜLLER, Das Frühmittelalter in der Region Baar ZG. Arch. Schweiz 26/3, 2003, 27–35, hier 34. – M. K UNTER, Anthropologische Beobachtungen zur Binnendifferenzierung des alamannischen Gräberfeldes von Bohlingen, Kr. Konstanz. In: T. Stöllner u. a. (Hrsg.), Man and Mining – Mensch und Bergbau. Studies in honour of Gerd Weisgerber on occasion of his 65th birthday (Bochum 2003) 275–283. – O. R ÖHRER -E RTL , Über Menschenreste aus dem karolingisch-ottonischen Reihengräberfeld von Alladorf, Gem. Thurnau, Lkr. Kulmbach (Ofr.). Anthropologische Fallstudie zu Bevölkerungsbiologie und Bevölkerungsgeschichte oberfränkischer Slawen. In: R. Pöllath, Karolingerzeitliche Gräberfelder in Nordostbayern. Bd. 2 (München 2002) 197–241, hier 201. – A. V ONDERACH , Anthropologischer Beitrag zur Frage der Schwarzwaldromania. Untersuchungen anhand des Materials von Otto Ammon und Johann Schäuble. Alemann. Jahrb. 2001/2002, 191–255. – W. S TÖRMER, Die Baiuwaren. Von der Völkerwanderung bis Tassilo III. (München 2002) 30. – F. V ALLET , Les fédérés barbares dans le nord de la Gaule. In: L’or des princes barbares. Du Caucase à la Gaule Ve siècle après J.-C. (Paris 2000) 37–41, hier 38. – O. R ÖHRER -E RTL , Zu Bevölkerungsbiologie und Bevölkerungsgeschichte des nördlichen Voralpenlandes am Beispiel des archäologischen Materials von Donaueschingen-Tafelkreuz. Alemann. Jahrb. 1997/98, 61–78. – L. B UCHET / C HR . P ILET , Diversité du peuplement en Gaule du Nord-Ouest. In: L’identité des populations archéologiques. XVIe rencontres Internationales d’Archéologie et d’Histoire d’Antibes (Sophia Antipolis 1996) 141–166. – C. S EILLIER, La présence germanique en Gaule du Nord au Bas-Empire. Rev. Nord-Arch. 77, 1995, 71–78, bes. 71. – J. B LONDIAUX , La présence germanique en Gaule du nord: La preuve anthropologique? Stud. z. Sachsenforsch. 8, 1993, 13–20. – W. M ENGHIN , Frühgeschichte Bayerns (Stuttgart 1990) 75.

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„Germanen“ und „Romanen“: Anthropologische Typen?

Quellen an Skelettfunden dar. Aus diesem Grund war es kein Zufall, dass der bis heute gelegentlich zitierte sogenannte „germanische Reihengräbertypus“2 verhältnismäßig früh definiert3 und in der Folge zum verbreitetsten Referenztyp für weitergehende Definitionsversuche germanischer Rassetypen wurde. Neben anderen seit Langem florierenden gemeinsamen Forschungsfeldern wie der Paläodemographie oder der Paläopathologie bildete die ethnisch-kulturelle Einordnung des Materials über viele Jahrzehnte hinweg die dominierende Fragestellung in beiden Fächern. Bereits früh entwickelte sich ein Muster für die Zusammenarbeit in dieser Frage: Während die Archäologie den zeitlichen, räumlichen sowie in gewissem Rahmen auch den kulturellen Kontext des Materials zu liefern vermochte, bestätigte oder verneinte die Anthropologie auf der Grundlage des biologisch aufgefassten Volksbegriffs die ethnische Einordnung der Individuen und Populationen. Aus heutiger Sicht bestehen jedoch hinsichtlich der ethnischen Aussagekraft der prähistorischen anthropologischen Quellen noch gravierendere Zweifel als bei den archäologischen Quellen. Diese Bedenken erstrecken sich nicht allein auf die anthropologische Unterscheidung von Germanen und Romanen, sondern sind grundsätzlicher Natur.

a) Rasse, Rassenklassifikation und Rassismus Ausgangspunkt für die ethnische Interpretation des anthropologischen Materials waren in der Vergangenheit verschiedene Rassenklassifikationen und Rassentypologien, deren Aussagekraft mittlerweile aus guten Gründen grundsätzlich in Frage gestellt wird. Ob wissenschaftliche Rassenklassifikationen des Menschen überhaupt irgendeinen heuristischen Wert besitzen, ist gegenwärtig zweifelhafter denn je. Aus biologischer Sicht muss die Frage nach der Existenz menschlicher Rassen eindeutig verneint werden.4

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4

M. K UNTER /U. W ITTWER -B ACKOFEN , Die Franken – Anthropologische Bevölkerungsrekonstruktion im östlichen Siedlungsgebiet. In: Die Franken, Bd. 2, 653–661, hier 659. A. E CKER, Crania germaniae meridionalis occidentalis. Beschreibung und Abbildung von Schädeln früherer und heutiger Bewohner des südwestlichen Deutschlands insbesondere des Grossherzogtums Badens. Ein Beitrag zur Kenntnis der physischen Beschaffenheit und Geschichte der deutschen Volksstämme (Freiburg 1865). G. G RUPE U. A ., Anthropologie. Ein einführendes Lehrbuch (Berlin, Heidelberg 2005) 170–172.

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Traditionellen morphologischen Rassenklassifikationen zufolge, wie sie etwa vor einigen Jahren Rainer Knußmann in seinem Handbuch zur „vergleichenden Biologie des Menschen“5 vertrat, gehören Germanen und Romanen unterschiedlichen Rassen innerhalb der „europiden Großrasse“ an. Die „Nordiden“, die „nordische Rasse“, trägt bezeichnenderweise den Beinamen „germanische Rasse“, während die Romanen überwiegend zu den „Mediterraniden“, auch „westische“ oder „mediterrane Rasse“ genannt, gezählt werden. Geographisch zwischen diesen Gruppen sind die „Alpiden“ verbreitet, die auch „ostische“ oder „alpine Rasse“ genannt werden. Charakterisiert werden diese Gruppen vorwiegend durch Durchschnittsgröße, Gesichtszüge, Schädelform sowie die Farbe von Haut, Haaren und Augen. Für die „Nordiden“ sind laut Knußmann folgende Merkmale typisch: Hochwüchsig; mesokephal; gewölbtes Hinterhaupt, hohes reliefreiches Gesicht; gerades, leicht konvexes oder leicht welliges Nasenrückenprofil; dünne Lippen, vorspringendes, markantes Kinn; schlichtes oder leicht welliges, blondes oder hellbraunes Kopfhaar, blaue oder blaugraue Augen, sehr helle Haut (mitunter Rosaton).

Diese Merkmale variieren leicht bei den drei Unterrassen der „Nordiden“, den „Teutonordiden“, „Dalonordiden“ (Dalofäliden, fälische Rasse) und „Fennonordiden“. Die Mediterraniden sind dagegen klein- bis mittelwüchsig bis zu mittel- bis hochwüchsig, schlank oder vollschlank; meso- bis dolichokephal, gewölbtes Hinterhaupt; hohes Gesicht, meist weiche Züge; mittelgroße, schmale Nase, meist mit geradem Rückenprofil; mäßig volle Lippen, kleines aber gut modelliertes Kinn; schlichtes oder leicht welliges, meist dunkelbraunes Kopfhaar, meist dunkelbraune Augen, Haut mäßig hell bis hellbraun.

Die Mediterraniden werden in die Varietäten „Grazilmediterranide“, „Euroafrikanide“ und „Berberide“ unterteilt.6 Diese Rassenklassifikation wird bis in jüngste Zeit auch zur „Rassendiagnose“ von anthropologischem Material aus frühmittelalterlichen Gräberfeldern herangezogen.7 Entsprechende morphologische Rassentypologien verfügen zwar über eine lange Tradition, werden aber, wie bereits erwähnt, mittlerweile grund5

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R. K NUSSMANN , Vergleichende Biologie des Menschen. Lehrbuch der Anthropologie und Humangenetik (2Stuttgart 1996) K NUSSMANN , Biologie (wie Anm. 5) 439 f. R ÖHRER -E RTL , Alladorf (wie Anm. 1) 201. – D ERS., Das alemannische Reihengräberfeld Donaueschingen-Tafelkreuz (6. bis 8. Jahrhundert n. Chr.). Anthropologische Fallstudie zu Bevölkerungsbiologie und Bevölkerungsgeschichte. Schr. Ver. Gesch. Naturgesch. Baar 37, 1991, 127–214, bes. 135–141. – D ERS., Zu Bevölkerungsbiologie und Bevölkerungsgeschichte des nördlichen Voralpenlandes am Beispiel des archäologischen Materials von Donaueschingen-Tafelkreuz. Alemann. Jahrb. 1997/98, 61–78.

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Abb. 2: Beispiele „europider“ Rassentypen (nach K NUSSMANN , Biologie [wie Anm. 5] 433).

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sätzlich in Frage gestellt.8 Die Kritik an dem zugrunde liegenden Rassekonzept erfolgte in zwei Phasen.9 In einer ersten Phase setzte sich die Überzeugung durch, dass sich Rassenklassifikationen allein physischer Merkmale bedienen sollten und mit der „Rasse“ keinerlei psychische Eigenschaften, wie Charakterzüge, Intelligenz oder Kriminalitätsanfälligkeit verbunden sind. Einen Meilenstein in diese Richtung stellte das „Statement on Race“ dar, das eine Gruppe von Humanbiologen und Genetikern 1951 im Auftrag der UNESCO verfasste.10 Diese Erklärung wurde seinerzeit nur von einem Teil der weltweit arbeitenden Anthropologen unterstützt, mittlerweile gilt sie als Allgemeingut der anthropologischen Forschung. Gemeinsam mit der Feststellung, dass Forschungszweige wie die „Rassenpsychologie“, früher gelegentlich „Rassenseelenkunde“ genannt, über keine wissenschaftliche Grundlage verfügen, wurde auch die Existenz „reiner Rassen“ grundsätzlich verneint. Dennoch widmeten sich bis in jüngere Zeit Wissenschaftler dem Forschungszweig „Rassenpsychologie“ bzw. entsprechenden Fragestellungen.11 Da heute ebenso wenig wie zum Zeitpunkt der Formulierung des „Statement on Race“ Untersuchungen vorliegen, die einen Zusammenhang zwischen „Rasse“ und „Intelligenz“ wissenschaftlich plausibel machen könnten, andererseits aber fehlerhafte Arbeiten in der Vergangenheit vielfach nachweislich von rassistischen Vorurteilen der beteiligten Wissenschaftler motiviert waren,12 gerieten entsprechende Forschungsansätze innerhalb der Anthropologie zunehmend in Misskredit. Erst in den beiden letzten Jahrzehnten bürgerte sich in der Anthropologie allmählich ein angemessen kritischer Umgang mit dieser Problematik ein. Diese scheut sich nun nicht 8

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Einen Überblick bietet C. L. B RACE , s.v. Race concept. In: F. Spencer (Hrsg.), History of Physical Anthropology. Vol. 2 (New York, London 1997) 861–867. – J. C. S TEVENSON , s. v. Race. In: Dies., Dictionary of concepts in physical anthropology (New York 1991) 341–347. Vgl. dazu allgemein L. L IEBERMANN /L. T. R EYNOLDS, Race: the deconstruction of a scientific concept. In: Dies. (Hrsg.), Race and other misadventures: Essays in honor of Ashley Montagu in his ninetieth year (Dix Hill 1996) 142–173. UNESCO (Hrsg.), The race concept. Results of an inquiry (Paris 1952) 11–16. – Vgl. dazu H. S EIDLER, Einige Bemerkungen zur sogenannten Rassenkunde unter besonderer Berücksichtigung der deutschsprachigen Anthropologie. In: H. Preuschoft/U. Kattmann (Hrsg.), Anthropologie im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik (Oldenburg 1992) 75–101 bes. 88 ff. – S T. K ÜHL , Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert (Frankfurt, New York 1997) 182–190. K NUSSMANN , Biologie (wie Anm. 5) 426–429. Zahlreiche Beispiele bei S T. J. G OULD , Der falsch vermessene Mensch. SuhrkampTaschenbuch Wiss. 583 (3Frankfurt am Main 1999).

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mehr, entsprechende Ansätze als „wissenschaftlichen Rassismus“ zu klassifizieren.13 In einer zweiten Phase der Dekonstruktion stellte die Anthropologie das Rassekonzept selbst in Frage. Grundlegende Kritik an den morphologischen Rassetypologien wurde bereits Anfang der 1940er Jahre von Seiten der aufstrebenden Humangenetik geäußert. Bedeutsam waren vor allem die Arbeiten Ashley Montagus, dem später Charles Loring Brace und Frank Livingston nachfolgten.14 Während die meisten Humangenetiker trotzdem weiterhin die Existenz von Menschenrassen grundsätzlich bejahten, setzte sich verstärkt seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre die Auffassung durch, dass es wissenschaftlich nicht möglich sei, die Spezies Homo sapiens in verschiedene Rassen zu unterteilen. Einen vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung bedeutete die „Stellungnahme zur Rassenfrage“, die 1995 im Anschluss an die UNESCO-Konferenz „Gegen Rassismus, Gewalt und Diskriminierung“ in Stadtschlaining (Österreich) veröffentlicht wurde. Sie wurde von 18 international renommierten Humanbiologen und Genetikern unterzeichnet, die an einem Workshop zum Problem des Rassekonzepts während der Konferenz teilgenommen hatten. Dieser Stellungnahme zufolge existiert aus biologischer und genetischer Sicht kein Grund mehr, den Begriff „Rasse“ weiter zu verwenden.15 13

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Der international aufsehenerregendste Fall war R. J. H ERRNSTEIN /C H . M URRAY, The bell curve: intelligence and class structure in American life (New York 1994). – Vgl. dazu z. B. R. G. N EWBY (Hrsg.), This issue is devoted to the Bell Curve: laying bare the resurgence of scientific racism (Thousand Oaks 1995). (= American behavioral scientist Vol. 39, H. 1). – Innerhalb der deutschsprachigen Anthropologie rief das oben erwähnte Handbuch Rainer Knußmanns eine vergleichbare Reaktion hervor: vgl. dazu A. L ÜDDECKE , Rassen, Schädel und Gelehrte. Zur politischen Funktionalität der anthropologischen Forschung und Lehre in der Tradition Egon von Eickstedts. Europ. Hochschulschr. III, 880 (Frankfurt u. a. 2000). – H. K AUPEN -H AAS /C HR . S ALLER (Hrsg.), Wissenschaftlicher Rassismus. Analysen einer Kontinuität in den Humanund Naturwissenschaften (Frankfurt, New York 1999). – AG GEGEN R ASSENKUNDE (Hrsg.), Deine Knochen – Deine Wirklichkeit. Texte gegen rassistische und sexistische Kontinuität in der Humanbiologie (Hamburg, Münster 1998). A. M ONTAGU , The genetic theory of race, and anthropological method. Am. Anthr. 44, 1942, 369–375. – D ERS., Man’s most dangerous myth: The fallacy of race (New York 1942). – F. L IVINGSTON, On the non-existence of human races. Current Anthr. 3, 1962, 279–281. – CH. L. BRACE, A non-racial approach towards the understanding of human diversity. In: A. Montagu (Hrsg.), The concept of race (New York 1964) 103–152. – Vgl. dazu L IEBERMANN /R EYNOLDS, Deconstruction (wie Anm. 9) 148–153. Stellungnahme zur Rassenfrage. In: AG GEGEN R ASSENKUNDE , Knochen (wie Anm. 13) 196–198. – Ebenso gedruckt in den Zeitschriften: Biologen in unserer Zeit, H. 5, 1996 und Die Brücke. Forum für antirassistische Politik und Kultur, H. 2, 1997.

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Ein Jahr später veröffentlichte die American Association of Physical Anthropologists eine ähnliche Erklärung, der heftige Auseinandersetzungen vorausgegangen waren.16 Dieser Erklärung zufolge ist das Konzept der Rasse als einer abgrenzbaren Gruppe von Menschen, die sich hauptsächlich aus Vertretern mit typischen Merkmalen zusammensetze, wissenschaftlich nicht haltbar.17 1998 verlautbarte schließlich auch die American Anthropological Association, dass jeder Versuch, Trennlinien zwischen menschlichen Populationen ziehen zu wollen, subjektiv und irreführend sei.18 Basis der wissenschaftlichen Ablehnung des Rassekonzepts sind die Ergebnisse der humangenetischen Forschung der letzten Jahrzehnte. Traditionelle Rassenklassifikationen gingen von der Voraussetzung aus, dass es sich bei Rassen um Subspezies des Menschen handelt, die in sich genetisch weitgehend homogen, untereinander aber verschieden sind. Sie bildeten eine Abstammungsgemeinschaft und wiesen, zumindest ursprünglich, ein geographisch lokalisierbares Verbreitungsgebiet auf. Unter den Anhängern der Rassenklassifikationen konnte jedoch während der gesamten Wissenschaftsgeschichte zu keinem Zeitpunkt auch nur annähernd ein Konsens darüber erzielt werden, in wie viele und welche Rassen der moderne Mensch zu unterteilen sei. Die gängigen Klassifikationen schwanken zwischen drei und bis zu 60 Rassen,19 anderen Autoren zufolge sogar bis zu 300.20 Auch hinsichtlich der Frage, welche Methoden bei der Rassenklassifikation anzuwenden seien, bildete sich kein allgemein akzeptierter wissenschaftlicher Standard heraus. Die Auswahl vermeintlich rassisch distinktiver Merkmale ist untrennbar mit der Geschichte des Rassenvorurteils verbunden. In der Vergangenheit wurden die entsprechenden Klassifikationen häufig, in manchen Epochen fast regelhaft von rassistischen Vorurteilen gesteuert. Dies konnte umso leichter geschehen, da lange Zeit der größte Teil der Anthropologen einem relativ geschlossenen sozialen Milieu entstammte, das einen ausgeprägten Eurozentrismus hegte.21 Am deutlichsten wurde dies in jenen Fällen, in denen die Rassen wertend hierarchisch geordnet und ihnen bestimmte mentale Fähigkeiten oder Charakterzüge zugewiesen wurden. An der Spitze der Pyramide fanden sich fast 16

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M. C ARTMILL , The status of the race concept in Physical Anthropology. Am. Anthr. 100, 1998, 651–660, hier 651 f. AAPA statement on biological aspects of race. Am. Anthr. 100, 1998, 714 f., bes. § 5. AAA Statement on Race. Am. Anthr. 100, 1998, 712 f., hier 712. L. C AVALLI -S FORZA /F. C AVALLI -S FORZA , Verschieden und doch gleich. Ein Genetiker entzieht dem Rassismus die Grundlage (München 1994) 356. U. K ATTMANN , Warum und mit welcher Wirkung klassifizieren Wissenschaftler Menschen? In: Kaupen-Haas/Saller, Rassismus (wie Anm. 13) 65–83, hier 69. K ATTMANN , Wissenschaftler (wie Anm. 20) 72 ff.

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ausnahmslos die Europäer wieder, während am anderen Ende der Hierarchie meist die afrikanischen oder australischen „Rassen“ in Tiernähe gerückt wurden.22 Auch vermeintlich positivistische, allein auf körperliche Merkmale bezogene Klassifikationen können bereits rassistischen Denkmustern folgen, etwa wenn die Klassifikation vermeintlich universalen ästhetischen Prinzipien folgt. George L. Mosse wies in diesem Zusammenhang auf das Ende des 18. Jahrhunderts unter Anlehnung an die antike Kunst definierte klassizistische Schönheitsideal als einer Wurzel des europäischen Rassismus hin.23 Ein typisches Beispiel hierfür ist der vom Niederländer Pieter Camper Ende des 18. Jahrhunderts definierte Gesichtswinkel, d. h. das Verhältnis der Wölbung der Stirn zur Ausprägung der Kieferpartie. Je höher der Gesichtswinkel, umso höherwertiger war laut Camper der Menschentyp. Am einen Ende der Skala standen dabei die in Affennähe gerückten Afrikaner, während das Ideal durch die Abbildung einer antiken Portraitplastik verkörpert wurde.24 Bei Rassentypologien nach dem Schema: „groß, hell, schmal, kräftig = hochwertig“ versus „klein, dunkel, breit, gedrungen = minderwertig“ sind entsprechende Muster noch vergleichsweise subtil. Bei älteren Rassetypologien verraten dagegen Formulierungen wie „wohlgeformte Stirn, gut geformtes Kinn“ bzw. „fliehende Stirn, breitgesichtig mit unausgesprochenem Kinn“ häufig überdeutlich, dass die Klassifikation auf der Grundlage rassistischer Denkmuster vorgenommen wurde. Möglich wurde dies vor allem dadurch, dass bei Rassenklassifikationen in der Vergangenheit häufig nicht einmal der Versuch unternommen wurde, sie durch wissenschaftlich nachvollziehbare Verfahren zu objektivieren. Bevorzugt griff man auf wenige leicht erkennbare und statistisch einfach zu erhebende morphologische Merkmale zurück. Vielfach wurde aus dem vorhandenen Material intuitiv und impressionistisch die vermeintlich typische „reine“ Form herausgegriffen und als Norm definiert. Abweichungen von dieser intuitiv erfassten Norm galten als „nicht typisch“ bzw. konnten als Ausgangspunkt für Spekulationen über Rassenmischungen dienen. Erst zu einem späteren Zeitpunkt versuchten Wissenschaftler, die bereits impressionistisch definierten Typen etwa durch aufwändige Schädelmessungen statistisch nachzuweisen, wobei solche Versuche regelmäßig fehlschlugen. 22 23 24

Vgl. G OULD , Mensch (wie Anm. 12) 26 ff. G. L. M OSSE , Die Geschichte des Rassismus in Europa (Frankfurt 1990) 28 f. P. C AMPER, Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegenden und verschiedenen Alters; über das Schöne antiker Bildsäulen und geschnittener Steine (Berlin 1792).

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Diese gescheiterten Versuche führten im Übrigen häufig dazu, dass nicht die Typen in Frage gestellt wurden, sondern man nach Wegen suchte, die Messverfahren zu verbessern. Die Anzahl der Merkmale, die zur Rassenklassifikation herangezogen werden können, ist beinahe beliebig vergrößerbar, vor allem wenn nicht allein morphologische, sondern ebenfalls genetische Merkmale berücksichtigt werden. Traditionelle Rassentypologien griffen aus dieser fast unüberschaubaren Menge an Klassifikationsmöglichkeiten wenige Merkmale heraus. Besonders Hautfarbe und Schädelform wurden so im Grunde willkürlich eine besondere Qualität als distinktive Rassenmerkmale zugesprochen. Dieses Vorgehen ist vor dem heutigen Kenntnisstand der Populationsgenetik völlig unangemessen. Zum einen ist vom humangenetischen Standpunkt nicht nachzuvollziehen, weshalb allein auf der Grundlage weniger morphologischer Merkmale klassifiziert werden soll, deren einzige Qualität darin liegt, dass sie einfach zu erkennen und leicht statistisch zu erheben sind.25 Neuere populationsgenetische Befunde stützen die Ansicht, die Menschheit könne in verschiedene Rassen bzw. eine größere Anzahl von Untergruppen klassifiziert werden, in keiner Weise. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die genetische Variabilität innerhalb einer Population wesentlich größer ist, als der durchschnittliche Unterschied zwischen verschiedenen Populationen. Die genetische Variationsbreite von Population zu Population ist gleitend und weist keine größeren Diskontinuitäten zwischen den einzelnen Populationen auf. Im Vergleich zu anderen großen Säugetierarten ist die genetische Variation der Menschen untereinander gering, obwohl sie das bei weitem größte Verbreitungsgebiet aufweisen. Wenn man das Maß an genetischer Diversifikation zugrunde legt, das in der nichtmenschlichen Biologie üblicherweise als Schwellenwert für die Definition einer Subspezies angesetzt wird, so besteht kein Anlass, die Gattung Homo sapiens in verschiedene Rassen zu unterteilen, da dieser Wert nicht erreicht wird.26 Eine weitere Möglichkeit, menschliche Subspezies wissenschaftlich sinnvoll zu definieren, bestünde dann, wenn nachgewiesen werden könnte, dass trotz geringer absoluter genetischer Differenz menschliche Populationen über lange Zeit genetisch voneinander isoliert waren und deshalb eigenständige Zweige der menschlichen Evolution darstellen. Ernsthaft diskutiert wird diesbezüglich die These, vor etwa 100 000 Jahren habe sich 25

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A. T EMPLETON , Human races: A genetic and evolutionary perspective. Am. Anthr. 100, 1998, 632–650, hier 650. T EMPLETON , Human races (wie Anm. 25) 633 f.

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eine relativ kleine Gruppe moderner Menschen von den in Afrika verbliebenen Gruppen getrennt. Seither stellten die Afrikaner einerseits und die übrigen Menschengruppen andererseits (Europäer, Asiaten) aus evolutionärer Perspektive zwei getrennte Gruppen dar, die als menschliche Subspezies angesehen werden könnten.27 Allerdings widerlegen die bisher vorliegenden genetischen Daten eindeutig die Theorie, dass es zu keinem Austausch von Genen (Gendrift) zwischen diesen beiden Gruppen gekommen sei. Vielmehr bestand ein kontinuierlicher Austausch zwischen den verschiedenen Menschengruppen und der genetische Abstand vergrößert sich proportional zur geographischen Distanz der einzelnen Populationen.28 Paradoxerweise weisen ausgerechnet zwei Gruppen, die nach traditioneller morphologischer Rassenklassifikation als verhältnismäßig eng verwandt einzustufen wären, die Melanesier und die Afrikaner (dunkle Haut, ähnliche Haartextur und Schädel- bzw. Gesichtsform), die maximale genetische Distanz innerhalb der menschlichen Spezies auf, während die Europäer nicht nur geographisch in der Mitte zwischen diesen beiden Gruppen liegen, sondern beiden Gruppen jeweils genetisch näher stehen, als sich diese untereinander. Dieser Befund widerlegt ebenfalls die Brauchbarkeit der morphologischen Rassenklassifikation bei der Bestimmung evolutionärer Entwicklungslinien innerhalb der Menschheit.29 Alan Templeton kommt in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, dass es weder anhand der absoluten genetischen Distanz, noch auf der Grundlage der Definition von Subspezies bzw. Rassen als eigenständigen evolutionären Entwicklungslinien möglich sei, die Gattung Mensch biologisch sinnvoll zu unterteilen.30 Innerhalb der Anthropologie scheint sich diese Auffassung mittlerweile allgemein durchzusetzen. Umfragen unter Anthropologen in den USA zeigen, dass 1985 nur 41 % der Physischen Anthropologen und 55 % der Kulturanthropologen das Rassekonzept ablehnten, diese Rate aber in den letzten eineinhalb Jahrzehnten erheblich angestiegen ist. 1999 verneinten bereits 69 % der Physischen Anthropologen und 80 % der Kulturanthropologen die wissenschaftliche Haltbarkeit des Rassekonzepts.31 27 28 29 30

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T EMPLETON , Human races (wie Anm. 25) 635 f. T EMPLETON , Human races (wie Anm. 25) 640. T EMPLETON , Human races (wie Anm. 25) 638–640. T EMPLETON , Human races (wie Anm. 25) 640; 646. – Ähnlich auch C. L ORING B RACE , A four-letter word called „race“. In: Liebermann/Reynolds, Race (wie Anm. 9) 106–141, bes. 135 f. L. L IEBERMAN , How „Caucasoids“ got such big crania and why they shrank: From Morton to Ruston. Current Anthr. 42/1, 2001, 69–95, hier 75.

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Für die Vertreter der traditionellen rassenkundlichen Forschungsrichtung stellt sich der Sachverhalt derweil anders dar. Mitunter sehen sie sich in einer Opferrolle und selbst einer Form von „Rassismus“ ausgesetzt. Der Ulmer Anthropologe Friedrich Wilhelm Rösing beklagt in diesem Zusammenhang die „Tabuisierung“ des Rassebegriffs, die in den USA aufgekommen sei. Diese stelle eine ebensolche „ politische Korruption “ der Anthropologie dar, wie seinerzeit der Rassismus oder Sozialdarwinismus. Versuche der „Zensur“, „zur Ausmerze des Wortes Rasse “, wie sie von der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie unternommen würden, zeigten Rösing zufolge lediglich, wie wenig die Grundübel des Rassismus, Wertung und Ausgrenzung, reflektiert worden seien.32 Auch Olav Röhrer-Ertl äußerte vor wenigen Jahren noch die Ansicht, die Deklaration der American Anthropological Association sei „leider eher im Sinne der political correctness als sachlich-fachlich begründet “. Die Paläoanthropologie werde auch in Zukunft nicht auf Rassentypologien verzichten. Allerdings gesteht Röher-Ertl ein, dass den traditionellen Rassetypologien lediglich ein „deskriptiver, nicht aber ein taxonomischer Wert “ beigemessen werden könne.33 Welchen Nutzen ein solcher „deskriptiver“, d. h. empirisch nicht fassbarer und somit letztlich impressionistischer und willkürlicher Rassebegriff haben soll, wird jedoch nicht geklärt. In Hinblick auf die im Rahmen dieser Arbeit behandelte Problematik stellt sich die Frage, ob in Zukunft von Seiten der Anthropologie überhaupt sinnvolle Beiträge zur Debatte um Germanen und Romanen in der Merowingerzeit zu erwarten sind. Angesichts des rapiden Verlusts an wissenschaftlicher Legitimität, den das Rassekonzept in der Physischen Anthropologie in den letzten beiden Jahrzehnten erfahren hat, scheint dies mehr als zweifelhaft. Oben wurde bereits erwähnt, dass die genetische Distanz zwischen Populationen umso größer ist, je weiter sie geographisch voneinander entfernt sind, wobei das genetische Merkmalskontinuum keine gravierenden Diskontinuitäten aufweist. Aus historischer Sicht ist keine bedeutende genetische Distanz zwischen Germanen und Romanen zu erwarten: Soweit es sich anhand der Schriftquellen nachvollziehen lässt, bewohnten Germanen und Gallorömer in frühgeschichtlicher Zeit unmittelbar benachbarte Siedlungsgebiete. Die Schriftquellen belegen einen nicht unerheblichen Bevölkerungsaustausch zwischen den Gebieten links und rechts des Rheins, etwa durch Umsiedelung, Mitnahme von Kriegsgefangenen, Sklavenhandel oder Plünderungszüge. Bei den Migrationen germani32

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F. W. R ÖSING , Geschichte, Grundprobleme und Zukunft der Anthropologie. Mitt. Anthr. Ges. Wien 128, 1998, 1–14, hier 8. R ÖHRER -E RTL , Alladorf (wie Anm. 1) 201.

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scher Gruppen im Gebiet des Merowingerreichs während der Spätantike und des frühen Mittelalters hat es sich vorrangig um Ortswechsel im Nahbereich gehandelt. Im Vergleich zum Bevölkerungsaustausch innerhalb des Römischen Reichs, z. B. durch Truppenstationierungen, Veteranenansiedlungen, Sklavenhandel, Niederlassungen von Händlern und Gewebetreibenden, dürfte die relative genetische Distanz zwischen den Populationen beiderseits des Rheins im Vergleich zur genetischen Variabilität innerhalb der Provinzialbevölkerung recht gering ausfallen.

b) „Germanen“ und „Romanen“ als Rassetypen Der ethnographische Erkenntniszuwachs, den die Entdeckungsfahrten der Neuzeit mit sich brachten, regte in Europa zu zahlreichen Versuchen an, die neu erkannte Vielfalt des Menschen zu systematisieren.34 Die außereuropäischen Völker, die erstmals in das Blickfeld der Wissenschaft geraten waren, bildeten zunächst den bevorzugten Gegenstand der Klassifikation. In den frühen Rassenklassifikationen von Karl v. Linné, Philipp Ludwig Müller, Immanuel Kant, Johann Reinhold Forster, Johann Friedrich Blumenbach oder Georges Cuvier in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden die Europäer in der Regel als ein einheitlicher Rassetyp aufgefasst. Als Bezeichnung für diesen Rassetyp verwendete Linné den Ausdruck Homo europaeus, Blumenbach prägte den Begriff der „kaukasischen Rasse“ und Couvier sprach von einer „weißen Rasse“.35 Erst nach den Napoleonischen Kriegen war vor allem in Frankreich ein deutlicher Aufschwung der Rassenklassifikationen zu verzeichnen, bei denen erstmals auch die Bevölkerung Europas in Rassen eingeteilt wurde. In der Zeit der deutschen Klassik war das Denken in Rassekategorien kaum verbreitet. Erst während des Vormärz wurden entsprechende Denkmuster populär.36 Zur Benennung dieser Rassen griffen die Anthropologen bevorzugt auf antike Völkernamen oder auf die Bezeichnungen für Sprachgruppen zu34

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Den materialreichsten Überblick über die älteren Ansätze zur Rassenklassifikation bietet immer noch: E GON V. E ICKSTEDT , Geschichte der anthropologischen Namengebung und Klassifikation (unter besonderer Betonung der Erforschung von Südasien) Teil 1. Zeitschr. Rassenkde 5, 1937, 209–282. – Teil 2, ebd. 6, 1937, 36–96 und 151–210. V. E ICKSTEDT , Klassifikation Teil 1 (wie Anm. 34) 218; 224–226; 230; 247. W. C ONZE /A. S OMMER, s.v. Rasse. In: Ders./O. Brunner/R. Kosselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5 (Stuttgart 1984) 135–178, hier 152f; 154–156.

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rück bzw. schrieben den historisch überlieferten oder linguistisch definierten Gruppen die Qualität einer Rasse zu. Dabei lehnte sie sich bevorzugt an die ältesten zur Verfügung stehenden ethnographischen Angaben an. Entsprechend findet sich in zahlreichen Klassifikationssystemen zwar eine „germanische“ Rasse, aber keine „romanische“ bzw. „lateinische“ Rasse. Der Begriff der „race latine“ ist aber in Frankreich ebenfalls für den Beginn des 19. Jahrhunderts belegt, etwa in dem bekannten Deutschlandbuch der Madame de Staël, die hier die „lateinische“ Rasse erstmals der „germanischen“ und der „slawischen“ gegenüberstellte.37 Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wird der Begriff der „Rasse“ insgesamt zunehmend geläufiger. Allerdings bezieht sich der französische Ausdruck „race“ in diesem Kontext meist nicht auf eine „Rasse“ im ausschließlich naturwissenschaftlichen Sinn, sondern ist entsprechend der ursprünglichen Bedeutung des Wortes („Stamm, Haus, Familie, Herkunft“) eher kulturell und ethnisch als biologisch gemeint.38 In zeitgenössischen Übersetzungen ins Deutsche wurde diese spezifische Bedeutung des Wortes „race“ häufig mit „Volksrasse“ übersetzt. Diese terminologische Unschärfe ist charakteristisch für die älteren historischen Arbeiten in französischer Sprache. Eine begriffliche Unterscheidung zwischen „Rasse“ im biologisch-naturwissenschaftlichen Sinn und „Race“ als sozialem Verband auf der Grundlage biologischer Verwandtschaft (Volk, Stamm, Geschlecht) wird dabei nicht angestrebt. So schrieb Augustin Thierry die Geschichte Frankreichs zwar als einen ewigen Widerstreit germanischer Einwanderer mit der keltischen Urbevölkerung und bezeichnete dabei die jeweiligen Protagonisten als Rassen. Vom biologistischen „Rassenkampf“ des österreichischen Soziologen Ludwig Gumplowicz39 in den 1880er Jahren ist Thierrys „antipathie des races“ der 1830er und 1840er Jahre aber noch weit entfernt.40 Insgesamt setzte sich jedoch in den Jahren seit 1840 zunehmend die Auffassung durch, dass die grundlegende Rivalität der „Rassen“ – Germanentum, Romanentum und Sla-

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K. P ANICK , La race latine. Politischer Romanismus im Frankreich des 19. Jahrhundert (Bonn 1978) 68. P ANICK , Race latine (wie Anm. 37) 35–37; 68. L. G UMPLOWICZ , Der Rassenkampf. Soziologische Untersuchungen (Innsbruck 1883). A. T HIERRY, Sur l’antipathie de race qui divise la nation française. In: D ERS, Dix ans d’études historiques. Oeuvres complètes 6 (Paris 1846) 235–242. – C L . B LANCKAERT , On the origins of French Ethnology: William Edwards and the doctrine of race. In: G. W. Stocking (Hrsg.), Bones, bodies, behavoir. Essays in biological anthropology. History of Anthropology 5 (Madison 1988) 18–55, bes. 26. – Vgl. Kap. 8c.

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wentum – einen zentralen Mechanismus der gesamten Weltgeschichte darstellte.41 In den naturwissenschaftlichen Klassifikationen der Zeit ist der Begriff der „race latine“ jedenfalls nicht üblich. Für die Völker Westeuropas wählte man vielfach die Bezeichnung „keltisch“, während die Anwohner Südeuropas gerne als „pelagisch“ bezeichnet wurden. Die Herausbildung des Begriffs der germanischen Rasse sowie die Festlegung seiner Position innerhalb des Klassifikationsschemas war das Ergebnis eines Prozesses, der sich über mehrere Jahrzehnte erstreckte. Bei der „race Gothico-germanique“ des Pariser Geographen Conrad Malte-Brun42 (1812) zeichnete sich erstmals die „germanische“ Rasse ab, die er u. a. der slawischen sowie den westeuropäischen Rassen gegenüberstellte. Antoine Desmoulins (1826) sah dagegen die „race Indo-Germaine“ als Untergruppe des „skythischen“ Zweigs der Menschen, während ihm die „race celtique“ zusammen mit der „race étrusco pélasge“ als Varietät der „espèce semitique“ galt.43 Der Begriff der „keltischen Rasse“ war zuvor bereits von Julien Joseph Virey (1801) verwendet worden.44 Bory de St.-Vicent (1827) unterteilte dagegen seine „japhetische“ Spezies unter anderem in die „race celtique“ sowie die „race germanique“, die er weiter in eine „teutonische“ und eine „slawische“ Varietät gliederte.45 Gemeinsam mit Desmoulins’ „indogermanischer“ Rasse stellt Borys „japhetische“ Rasse im Übrigen auch einen deutlichen Beleg für den Einfluss der Sprachklassifikation auf die Rassenklassifikation dar.46 Analog zu Bory sah Pierre Paul Broc (1836) ebenfalls den germanischen Typ als Überbegriff zu den teutonischen und slawischen Zweigen eines einheitlichen Stammes an.47 In Deutschland änderte dagegen Johann Baptist Fischer (1829) Borys Klassifikation dahin41

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H. G OLLWITZER, Zum politischen Germanismus des 19. Jahrhunderts. In: MaxPlanck-Institut für Geschichte (Hrsg.), Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag (Göttingen 1971) 282–356, hier 318. C. M ALTE -B RUN , Précis de la géographie universelle ou description de toutes les parties du monde (Paris 1812). – V. E ICKSTEDT , Klassifikation Teil 1 (wie Anm. 34) 246. A. D ESMOULINS, Histoire naturelle des races humaines du Nord-Est de l’Europe, de l’Asie Coréale et orientale et de l’Afrique australe (Paris 1826). – V. E ICKSTEDT , Klassifikation Teil 1 (wie Anm. 34) 249. J. J. V IREY, Histoire naturelle du genre humain. 2 Bde (Paris 1800–1801). – V. E ICKSTEDT , Klassifikation Teil 1 (wie Anm. 34) 243. – Zu Virey vgl. auch P OLIAKOV, Mythos, 206–208. J.-B. G. M. B ORY DE S AINT-V INCENT , L’homme. Essai zoologique sur le genre humain. 2 Bde (2Paris 1827). – V. E ICKSTEDT , Klassifikation Teil 1 (wie Anm. 34) 252. Zu Ludwig von Schlözers „japhetischer“ Sprachfamilie vgl. P OLIAKOV, Mythos, 215 f. P. P. B ROC, Essai sur les races humaines (Paris 1836). – V. E ICKSTEDT , Klassifikation Teil 2 (wie Anm. 34) 37.

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gehend, dass er die großen Sprachgruppen „germanisch“, „keltisch“ und „slawisch“ auf eine Ebene neben die übrigen Unterrassen (caucasicus-orientalis und pelagius-meridionalis) der Spezies „Homo japeticus“ stellte.48 Im gleichen Jahr erschien auch Carl Friedrich Heusingers Schema, der die „ovalgesichtige“ oder kaukasische Rasse unter anderem in einen germanischen, keltischen und slawischen Stamm unterteilte.49 Einen weiteren Beleg, dass zu diesem Zeitpunkt der Begriff der „germanischen Rasse“ bereits gut etabliert war, bietet schließlich Samuel George Mortons System (1839), der die kaukasische Rasse unter anderem in eine germanische und eine keltische Familie unterteilte.50 Die zwischen 1810 und 1840 entstandenen Klassifikationen lehnten sich eng an historisch-ethnographische Kenntnisse an. Die Charakterisierung der einzelnen Rassen erfolgte zwar in einem deskriptiv-ethnographischen Stil; um Versuche der naturwissenschaftlichen Klassifikation im eigentlichen Sinne anhand nachvollziehbarer Kriterien handelte es sich dabei aber nicht. Einen Einschnitt in diese Richtung bedeuteten die Publikationen des Schweden Anders Retzius, der 1842 den sogenannten Längen-Breiten-Index in die Wissenschaft einführte. Retzius gliederte alle Rassen anhand des Verhältnisses der Längen- und Breitenmaße des Schädels in zwei Gruppen: die Dolichokephalen (Langschädel), zu denen er unter anderem die Gallier, Kelten, Briten, Schotten und Skandinavier zählte, und die Brachykephalen (Kurzschädel), denen er unter den europäischen Völkern die Slawen, Finnen und Lappen zurechnete.51 Retzius verband seinen Schädelindex in der Folge mit einer Kulturtheorie, der zufolge die langschädeligen Völker den unterentwickelten kurzschädeligen Völkern überlegen seien.52 Ausgehend von Retzius’ Index nahm die Kraniologie in den folgenden Jahrzehnten einen gewaltigen Aufschwung. Die Gründung der Pariser Anthropologischen Gesellschaft durch Paul Broca 1859 gab den Impuls für die Bildung zahlreicher weiterer anthropologischer Gesellschaften in ganz 48

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J. B. F ISCHER, Synopsis mammalium (Stuttgart 1829). – V. E ICKSTEDT , Klassifikation Teil 1 (wie Anm. 34) 252 f. C. F. H EUSINGER, Grundriß der physischen und psychischen Anthropologie für Ärzte und Nichtärzte (Eisenach 1829). – V. E ICKSTEDT , Klassifikation Teil 2 (wie Anm. 34) 206. S. G. M ORTON , Crania Americana or a comparative view of the skulls of various aboriginal nations of North and South America (Philadelphia 1839). – V. E ICKSTEDT , Klassifikation Teil 2 (wie Anm. 34) 38. A. R ETZIUS, Ueber die Schädelformen der Nordbewohner. Archiv f. Anatomie, Physiologie u. wiss. Medicin (=Müllers Archiv) 1845, 84–129, bes. 85. (Erstpublikation 1842 unter dem Titel: Om Formen af Nordboarnes Cranier). P OLIAKOV, Arischer Mythos, 297. – G OULD , Mensch (wie Anm. 12) 101 f.

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Europa, in denen menschliche Schädel auf alle erdenklichen Arten vermessen wurden. 1861 fand in Göttingen das erste Anthropologentreffen in Deutschland statt. Die Definition des „Reihengräbertypus“ durch Alexander Ecker in den Jahren 1863/65 stand am Anfang dieses Aufschwungs, durch den sich die Anthropologie als eigenständige Wissenschaft etablierte. Retzius’ Längen-Breiten-Index wurden bald weitere Indices hinzugefügt. Ferner fügte man weitere Zwischenstufen in Retzius’ ursprünglich zweigliedriges System der Rassentypen ein. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war schließlich im Jahre 1890 erreicht, als Aurel von Török insgesamt 5000 an einem Schädel zu messende Werte beschrieb.53 Die zunehmende Unfähigkeit, diese Datenflut in ein sinnvolles System zu gliedern, führte gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer tiefgreifenden „Krise der Anthropometrie“, wie sie vor allem die Schule Brocas bis zu Perfektion entwickelt hatte.54 Allerdings eröffnete der Datenzuwachs die Möglichkeit, umfangreiche Kartierungen einzelner Merkmale vorzunehmen und so erstmals detaillierte Aussagen über deren geographische Verbreitung zu treffen. Wie verwurzelt die Einteilung der europäischen Bevölkerung im Sinne von Retzius’ System bzw. die darauf aufbauenden Wertungen bereits nach nur zweieinhalb Jahrzehnten waren, zeigten die Argumentationsmuster in einer Auseinandersetzung zwischen französischen und deutschen Archäologen im Gefolge des deutsch-französischen Kriegs 1870/71. Das seines Erachtens edlen arischen Germanen nicht gemäße Verhalten preußischer Soldaten während des Kriegs erklärte der Anthropologe Armand de Quatrefages damit, dass die Preußen im Gegensatz zu den übrigen Deutschen überhaupt keine Germanen seien. Der Abstammung nach sei die „race prussienne“ vielmehr den „Finnen“ bzw. „Slawo-Finnen“ zuzurechnen. Diese beiden Völker wurden, wie bereits erwähnt, von Retzius der minderbegabten brachykephalen europäischen Urbevölkerung zugerechnet. Im Gegensatz zu den übrigen, von dolichokephalen arischen Einwanderern abstammenden Europäern zeichneten sich diese Völker Quatrefages zufolge durch atavistische Grausamkeit und Rachsucht aus.55 53

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A. V. T ÖRÖK , Grundzüge einer systematischen Kraniometrie (Stuttgart 1890). – W. E. M ÜHLMANN , Geschichte der Anthropologie (2Frankfurt, Bonn 1968) 98. C. B LANCKAERT , La crise de l’anthropométrie: Des arts anthropotechniques aux dérives militantes (1860–1920). In: Dies. (Hrsg.), Les politiques de l’Anthropologie. Discourse et pratiques en France (1860–1940) (Paris 2001) 95–172. A. DE Q UATREFAGES, Histoire naturelle de l’homme. La race prussienne. Rev. Deux Mondes 91/1, 1871, 647–669, bes. 653f und 662 ff. – P OLIAKOV, Mythos, 294 f. – M. V ÖLKEL , Geschichte als Vergeltung. Zur Grundlegung des Revanchegedankens in der deutsch-französischen Historikerdiskussion von 1870/71. Hist. Zeitschr. 257, 1993, 63–107, hier 89–99.

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Unter der Leitung Rudolf Virchows wurde zur Widerlegung dieser These in Deutschland die bekannte, groß angelegte anthropologische Untersuchung mehrerer Millionen Schulkinder durchgeführt, der zufolge das Überwiegen blonder Haare und blauer Augen in Norddeutschland zeige, dass die Bewohner dieses Gebiets mehrheitlich germanischer Abstammung seien.56 Zur Ehrenrettung der Finnen konnte Virchow zudem nachweisen, dass auch sie überwiegend blond waren und keineswegs dem vermeintlichen dunklen, brachykephalen europäischen Urtypus angehörten.57 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichten schließlich zwei Autoren die Klassifikationen, auf denen im Grunde alle später gebräuchlichen Einteilungen aufbauten.58 Der Pariser Anthropologe Joseph Deniker publizierte kurz vor der Jahrhundertwende mehrere Arbeiten, in denen er sein System vorstellte und noch leicht variierte. Deniker klassifizierte die Rassen ausschließlich nach somatischen Merkmalskombinationen wie Haut- und Augenfarbe, Größe und Schädelindex. In seinem 1898 vorgelegten endgültigen Schema unterschied Deniker in Europa sechs Hauptrassen mit vier Unterrassen. Die „nordische“ Rasse zeichne sich durch blonde Haare, hohen Wuchs und Langschädeligkeit aus; diese würde von anderen Forschern auch „germanische Rasse“ oder „race des Reihengraeber“ genannt.59 Als Verbreitungsgebiet dieses Typs – einschließlich des subnordischen Untertyps – beschrieb Deniker im Wesentlichen den germanischen Sprachraum (Skandinavien, Deutschland, Teile der britischen Inseln, Baltikum).60 Im romanischen Sprachraum Westeuropas finde sich dagegen eine brünette, ebenfalls langschädelige, aber kleinwüchsige Rasse, die Deniker „ibéro-insulaire“ nennt, was mit der „mediterranen Rasse“ bzw. dem „Homo mediterraneus“ gleichzusetzen sei. Ihre Verbreitungsgebiete sind die Iberische Halbinsel, die Mittelmeerinseln sowie Teile Italiens und Frankreichs. Zwischen der nordischen und der mediterranen Rasse siedelte er zwei weitere Rassen an: den „Homo alpinus“, der u. a. auch „keltische Rasse“ genannt werde und der über große Teile Frank56

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R. V IRCHOW, Die Verbreitung des blonden und des brünetten Typus in Mitteleuropa. Sitzber. kgl.-preuß. Akad. Wiss. 1885, 39–47. – Vgl. auch D ERS., Über die Race prussienne. Beil. Korrbl. Dt. Ges. Anthr. 1872, 49–57. R. V IRCHOW, Vortrag über die physische Anthropologie der Finnen. Zeitschr. Ethn. 6, 1874, 300–320. I. S CHWIDETZKY, Geschichte der Anthropologie. In: R. Knußmann (Hrsg.), Anthropologie. Handbuch der vergleichenden Biologie des Menschen. Bd. 2 (Stuttgart, New York 1988) 47–126, hier 98. – V. E ICKSTEDT , Klassifikation Teil 2 (wie Anm. 34). J. D ENIKER, Les races de l’Europe. L’Anthropologie 9, 1898, 113–133, hier 128. D ENIKER, Races (wie Anm. 59) 128.

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reichs, aber auch in Norditalien, Süddeutschland bis weit nach Osteuropa verbreitet sei (brünett, breitschädlig, klein) sowie eine ebenfalls brünette, mesokephale, große Rasse, die Deniker „race littoriale“ bzw. „atlanto-méditerranéenne“ nennt. Dieser Typ findet sich in den Küstenregionen des Mittelmeergebiets.61 Die zweite einflussreiche Klassifikation dieser Zeit aus der Feder des amerikanischen Anthropologen William Ripley behandelte ebenfalls allein die europäischen Rassen. Ripley ging im Gegensatz zu Deniker nur von drei europäischen Hauptrassen aus: „Teutonisch“, „Alpin“ und „Mediterran“. Als Merkmale führte Ripley neben Schädel- und Gesichtsform, Haar- und Augenfarbe, Statur noch die Form der Nase auf.62 Als Synonyme für seine teutonische Rasse nannte er die germanische Rasse bzw. wiederum den Reihengräbertypus. Seine alpine Rasse galt ihm wie Deniker als keltisch, während er unter dem Begriff „mediterran“ Denikers ibero-insulare und atlantomediterrane Rasse zusammenfasste. Abgesehen vom Vorkommen der alpinen Rasse in Frankreich fasste Ripley anders als in Denikers Schema demnach auch den romanischen Sprachraum als rassische Einheit auf. Bald nachdem Ripley und Deniker ihre Schemata vorgelegt hatten, wurden erstmals deutliche Zweifel an der Erblichkeit der Schädelform geäußert. 1899 veröffentlichte der Gründervater der modernen amerikanischen Anthropologie, Franz Boas, eine Studie, in der er nachwies, dass der Schädelindex bei den Individuen innerhalb einer Gruppe schwankt. In einer 1911 publizierten Untersuchung über die Anthropologie von Einwanderern in die USA konnte Boas ferner nachweisen, dass die Schädelindices von in die USA eingewanderten Personen und ihren bereits im Land geborenen Kindern erheblich voneinander abwichen.63 Noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs machte Boas seine Beobachtungen auch der deutschsprachigen Forschung bekannt.64 Hier wurden sie durchaus wahrgenommen, dienten jedoch lediglich als Munition in den Grabenkämpfen völkischer Rassenideologen. Ausgerechnet der altgediente völkische Aktivist Karl Felix Wolff65 zog aus Boas’ Befund die konsequente Schlussfolgerung, dass der „Längen-Breiten-Index kein Rassenmerk61 62 63

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D ENIKER, Races (wie Anm. 59) 131 f. W. Z. R IPLEY, The races of Europe. A sociological study (London 1900) 121. F. B OAS, The cephalic index. Am. Anthropology 1, 1899, 448–461. – D ERS./W. P. D ILLINGHAM , Changes in bodily form of descendants of immigrants: final report (Washington 1911). – D ERS., Instability of Human Typs. In: G. W. Stocking (Hrsg.), The shaping of American Anthropology 1883–1911. A Franz Boas Reader (New York 1974) 214–218. – G OULD , Mensch (wie Anm. 12) 112. F. B OAS, Kultur und Rasse (2Berlin, Leipzig 1922) bes. 61–67. (Erstauflage 1914). P USCHNER, Bewegung, 16; 81–85.

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mal sein kann“. Dieser sei nicht erblich und unterliege bei allen Rassen derselben Schwankungsbreite.66 Neben Boas stießen um die Jahrhundertwende weitere Anthropologen auf die Tatsache, dass der Schädelindex keineswegs ein stabiles, da genetisch determiniertes „Rassenmerkmal“ war. In Deutschland hatte Otto Ammon, eine weitere bedeutende Figur innerhalb der völkischen Bewegung,67 in seiner Studie über die Anthropologie der Einwohner Badens festgestellt, dass es erhebliche Schwankungen im Schädelindex zwischen Stadt und Land gab. Der russische Anthropologe Ivanovskij plädierte etwa zur gleichen Zeit für einen Zusammenhang zwischen Ernährung und Schädelindex.68 Die Brauchbarkeit des Schädelindex als rassisch distinktives Merkmal war damit im Grunde widerlegt.69 Spätestens gegen Ende der 1920er Jahre war in Deutschland zudem bekannt, dass der Schädelindex im Laufe längerer Zeitspannen starken Schwankungen unterworfen war, ohne dass dies auf Migrationen zurückgeführt werden konnte. Unter dem Begriff der „süddeutschen Brachykephalie“ behandelte man etwa die Frage, weshalb die heutigen Bewohner Süddeutschlands im Gegensatz zu ihren vermeintlich ausschließlich langschädeligen germanischen Vorfahren überwiegend runde Kopfformen aufwiesen, obwohl man meinte, aus historischen (und ideologischen) Gründen eine Einwanderung von „Kurzköpfen“ ausschließen zu können. Trotz dieser Erkenntnisse bildete der Schädelindex auch in den folgenden Jahrzehnten einen wichtigen Angelpunkt für Rassenklassifikationen. Die erwähnten Arbeiten Ripleys und Denikers dienten Anfang der 1920er Jahre Hans F. K. Günther, der als „Rasse-Günther“ traurige Bekanntheit erlangte, als Grundlage für seine Rasseneinteilung. In zahlreichen rassekundlichen Büchern lieferte Günther das Vokabular, mit dem wenige Jahre später die Rassenpolitik des Nationalsozialismus begründet wurde.70 66

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K. F. W OLFF , Der heutige Stand der Rassenforschung. Mannus 20, 1928, 328–364, hier 328 f. – Vgl. auch D ERS., Rassenlehre. Neue Gedanken zur Anthropologie, Politik, Wirtschaft, Volkspflege und Ethik. Mannus-Bibliothek 39 (Leipzig 1927) 26–28; 51–61. P USCHNER, Bewegung, bes. 89. O. A MMON , Anthropologische Untersuchungen der Wehrpflichtigen in Baden. Samml. gemeinverständlicher wiss. Vortr. NF 5, H. 101 (Hamburg 1890) bes. 35 f. – D ERS., Zur Anthropologie der Badener: Bericht über die von der Anthropologischen Kommission des Karlsruher Altertumsvereins an Wehrpflichtigen und Mittelschülern vorgenommenen Untersuchungen (Jena 1899) Abschnitt 6, VI. – P. E. B ECKER, Wege ins Dritte Reich, Teil 2. Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und Völkischer Gedanke (Stuttgart, New York 1990) 313. S CHWIDETZKY, Geschichte (wie Anm. 58) 95. Zu Günther vgl. u. a. B ECKER, Wege (wie Anm. 68) 230–307. – E. W EISENBURGER, Der Rassepapst. Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde. In: M. Ki-

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Abb. 3: Verbreitung der Rassentypen in Europa nach Hans F. K. Günther (nach H. H AHNE , Deutsche Vorzeit [Bielefeld, Leipzig 1933] Taf. 25.)

Günther ging zunächst von vier Hauptrassen in Europa aus. Denikers „nordische Rasse“ behielt er bei. Wie Ripley fasste er Denikers „ibero-insulare“ und „atlanto-mediterrane“ Rassen zur sogenannten „westischen Rasse“ zusammen. Ripleys „alpine“ Rasse taufte Günther in „ostische Rasse“ um, während Denikers „race orientale“ bei Günther zur „ostbaltischen Rasse“ wurde.71 1927 fügte Günther seinem System noch die fälische Rasse hinzu, die angeblich in Westfalen am typischsten vertreten sei und die vom Anthropologen Fritz Paudler kurz zuvor unter dem Namen „dalische Rasse“ in die Wissenschaft eingeführt worden war.

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ßener (Hrsg.), Die Führer der Provinz. NS-Biographien aus Baden und Württemberg. Karlsruher Beitr. Gesch. Nationalsozialismus 2 (Konstanz 1997) 161–199. H. F. K. G ÜNTHER, Rassenkunde des deutschen Volks. (81925) 23–25.

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Die letzte hier zu behandelnde Klassifikation ist schließlich die Egon von Eickstedts aus den 1930er Jahren. Sie blieb in den folgenden Jahrzehnten in Deutschland die gebräuchlichste und wurde weitgehend unverändert von Rainer Knußmann in seiner eingangs zitierten Definition wiedergegeben.72 Eickstedt ordnete die Rassen Europas zu drei Gruppen: zu den „depigmentierten Nordformen“ zählte er die nordische und die „osteuropeide“ Rasse, wie Eickstedt Günthers ostbaltische Rasse umbenannte. In Günthers „fälischer Rasse“ sah Eickstedt nur eine Varietät der nordischen Rasse und stellte sie als dalisch-fälischen Typus neben die teuto-nordische und die fenno-nordische Varietät. Die dinarische und die alpine Rasse bildeten Eickstedt zufolge den „zentralen Gürtel der Kurzkopfrassen“, während die „mediterrane Rasse“ dem westlichsten Teil des sich weit in den Orient erstreckenden „Südgürtels der dunklen Langköpfe“ zugerechnet wurde.73

Abb. 4: Entwicklung der Rassenklassifikation der Bevölkerung Europas

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K NUSSMANN , Biologie (wie Anm. 5) 429. E. V. E ICKSTEDT , Rassenkunde und Rassengeschichte der Menschheit (Stuttgart 1934) 334–403.

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Die Erkenntnisse der Humangenetik bildeten, wie oben bereits erwähnt, den Ausgangspunkt für die Kritik am Rassekonzept. Während das Infragestellen des Rassekonzepts seinen Ausgang in den 1940er Jahren in den USA nahm, wurde auch in der deutschsprachigen Forschung das Verfahren der morphologischen Rassenklassifikation einer grundlegenden Kritik unterzogen, ohne jedoch den Rassebegriff selbst in Frage zu stellen. In der Diskussion standen sich dabei einerseits die humangenetische Schule um Eugen Fischer, Otmar von Verschuer und Fritz Lenz sowie auf der anderen Seite Eickstedts „Breslauer Schule“ gegenüber.74 Auslöser der Kontroverse waren Rassenuntersuchungen, die Eickstedt gemeinsam mit seiner Assistentin Ilse Schwidetzky in Schlesien durchführte. In einer ausführlichen Kritik an der Methodik Eickstedts legte der Humangenetiker Lenz die Schwächen der traditionellen Rassentypologien offen. Lenz wies darauf hin, dass es sinnlos sei, im Stile Eickstedts die Rassenbestandteile sowohl innerhalb einzelner Individuen also auch von Populationen quantifizieren zu wollen. Ein genetischer Grundstock sei bei allen Rassen gleich. Wie groß der Anteil der Gene sei, durch die sich verschiedene Rassen unterscheiden, sei dagegen unbekannt, während aber davon ausgegangen werden müsse, dass bestimmte Gene auch bei zwei Rassen vorkommen können.75 Überhaupt beruhe das Eickstedt’sche Verfahren auf einem Zirkelschluss: zunächst würden aufgrund von anthropologischen Merkmalen Typen bestimmt, die man dann in einem zweiten Schritt zur Bestimmung zweifelhafter Fälle heranziehe. Weiterhin verwarf Lenz das Verfahren der Typdefinition, die darauf hinauslaufe, intuitiv „reine“, „ursprüngliche“ Typen zu erfassen; Eickstedt zufolge müsse man die Typen „sehen lernen“.76 Letztendlich laufe dieses Verfahren darauf hinaus, dass „man das, was man in den Koffer hineingetan hat, hinterher auch wieder herausholen könne“.77 Insgesamt plädierte Lenz dafür, dass nicht die äußeren Merkmale das Wesen einer Rasse ausmachten; diese manifestiere sich vielmehr in ihrer „biologischen Lebensleistung, besonders in ihrer Kulturleistung“.78 74

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Zu dieser Kontroverse vgl. B. M ASSIN , Anthropologie und Humangenetik im Nationalsozialismus oder: Wie schreiben deutsche Wissenschaftler ihre eigene Wissenschaftsgeschichte? In: Kaupen-Haas/Saller, Rassismus (wie Anm. 13) 12–64, hier 31–36. – J. M ICHELSEN , Die „Breslauer Schule“ der Rassenkunde – zur Geschichte des Hamburger Instituts für Humanbiologie. In: AG gegen Rassenkunde, Knochen (wie Anm. 15) 88–127, hier 96–102. F. L ENZ , Über Wege und Irrwege rassenkundlicher Untersuchungen. Zeitschr. Morphol. Anthr. 39, 1941, 385–413, hier 386 f. L ENZ , Irrwege (wie Anm. 75) 388. L ENZ , Irrwege (wie Anm. 75) 394. L ENZ , Irrwege (wie Anm. 75) 396.

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Anders als nach dem Krieg gelegentlich behauptet, spielten politische Motive bei dieser Auseinandersetzung keine Rolle.79 Hinsichtlich ihrer Verstrickung in die Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur unterschieden sich beide Schulen kaum voneinander. Zwar hätte das konsequente Weiterdenken der humangenetischen Position dazu führen müssen, die Existenz menschlicher Rassen grundsätzlich in Frage zu stellen; dazu kam es jedoch nicht.80 Der Rassebegriff der deutschen Humanbiologen war mitunter noch tödlicher als der rassenmorphologische Ansatz der traditionellen Anthropologenschule. Fritz Lenz führte etwa in seiner oben zitierten Kritik an Eickstedts Ansatz aus: Wichtiger als die äußeren Merkmale ist die abstammungsmäßige Herkunft eines Menschen. Ein blonder Jude ist auch ein Jude. Ja, es gibt Juden, die die meisten äußeren Merkmale der nordischen Rasse haben und doch von jüdischer Wesensart sind. Die Gesetzgebung des nationalsozialistischen Staates definiert einen Juden daher mit Recht nicht nach äußeren Rassenmerkmalen, sondern nach der Abstammung.81

Die Verteidigung der Position der traditionellen Rassenklassifikation überließ Eickstedt seiner Assistentin Ilse Schwidetzky. Deutlicher als die Kritiker aus der Humangenetik erkannte sie, dass deren Kritik nicht nur die morphologische Rassenklassifikation in Frage stellte, sondern in letzter Konsequenz die Existenz von Rassen insgesamt: Am Anfang ihrer Entgegnung stand deshalb die Frage „Gibt es überhaupt Rassen oder nicht? “, was sie selbstverständlich bejahte. Ihre Argumentation zielte darauf ab, die Nützlichkeit und Praktikabilität entsprechender Untersuchungen in den Vordergrund zu stellen. Sie zeigte sich verwundert, dass es „in der Zeit des Rassegedankens“ überhaupt nötig sei, die Berechtigung rassensystematischer Arbeiten zu verteidigen; den wissenschaftlichen Einwänden von Lenz hatte sie jedoch im Grunde Nichts entgegenzusetzen.82 Die Auseinandersetzungen zwischen der frühen Humangenetik und der traditionellen anthropologischen Rassenklassifikation sind insofern bedeutsam, als sie zeigen, dass die traditionelle Schule schon gegen Ende der 1930er Jahre große Schwierigkeiten hatte, ihre wissenschaftliche Grundla79

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M ASSIN , Anthropologie (wie Anm. 74) 23–42. – Zu Eickstedts und Schwidetzkys Tätigkeit als „Rassegutachter“ vgl. ebd. 41 f. N. C. L ÖSCH , Rasse als Konstrukt. Leben und Werk Eugen Fischers. Europ. Hochschulschr. III, 737 (Frankfurt u.a 1997) 158 f. L ENZ , Irrwege (wie Anm. 75) 397. I. S CHWIDETZKY, Über Wege rassenkundlicher Untersuchungen. Zeitschr. Morphol. Anthr. 40, 1943, 178–184, Zitate 178, 179. – D IES., Merkmalszählung oder Rassenforschung? Zeitschr. Rassenforsch. 13, 1942, 177–182. – F. L ENZ , Noch einmal die Irrwege bei rassenkundlichen Untersuchungen. Zeitschr. Morphol. Anthr. 40, 1943, 185–187. – Vgl. dazu M ASSIN , Anthropologie (wie Anm. 74) 35.

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gen zu rechtfertigen. Umso erstaunlicher war es deshalb, dass sie in der Nachkriegszeit über lange Zeit unverändert gelehrt werden konnte und geradezu eine Renaissance erlebte. Die Wirkungsgeschichte der wissenschaftlichen Traditionslinie von Egon von Eickstedt über Ilse Schwidetzky bis zu Rainer Knußmann wurde von Andreas Lüddecke bereits ausführlich behandelt,83 weshalb sie hier nur kurz gestreift werden soll. Eickstedt wurde 1946 Professor in Mainz, seine Schülerin Ilse Schwidetzky folgte ihm 1960 auf den dortigen Lehrstuhl. Noch mehr als Eickstedt war die Ende der 1990er Jahre verstorbene Schwidetzky die zentrale Figur der deutschen Nachkriegsanthropologie.84 Als Autorin einflussreicher apologetischer Abhandlungen zur Wissenschaftsgeschichte der Anthropologie hatte sie maßgeblichen Anteil daran, dass die wissenschaftlich überholte und in der Tradition Eickstedts stehende Rassenklassifikation weiter gepflegt wurde.85 Sie verfasste zahlreiche Arbeiten zur Rassenkunde und gab die umfassende Reihe „Rassengeschichte der Menschheit“ heraus, von der bis 1993 14 Bände erschienen.86 Der Schlüssel zum Verständnis dieser Kontinuität ist wohl vor allem darin zu suchen, dass die morphologischen Rassenklassifikationen der deutschsprachigen Nachkriegsanthropologie durchaus in Einklang mit dem Vorgehen großer Teile der internationalen Forschung standen. Auch andernorts vertraten Anthropologen und Genetiker weiterhin ganz ähnlich Standpunkte bezüglich Menschenrassen.87 Indem sich zudem die humangenetische Richtung der Anthropologie in der Nachkriegszeit vermehrt anderen Forschungsfeldern zuwandte, überlies sie die Problematik der Rassenklassifikation den Vertretern der traditionellen anthropometrischen Richtung.88 83 84

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L ÜDDECKE , Gelehrte (wie Anm. 13). W. B ERNHARD , Nachruf auf Ilse Schwidetzky-Rösing (1907–1997). Mitt. Anthr. Ges. Wien 128, 1998, 179–181. I. S PIEGEL -R ÖSING /I. S CHWIDETZKY, Maus und Schlange. Untersuchungen zur Lage der deutschen Anthropologie (München, Wien 1982). – S CHWIDETZKY, Geschichte (wie Anm. 58). – D IES./A. K ANDLER -P ÁLSSON /R. K NUSSMANN /F. W. R ÖSING , Biographie Egon von Eickstedt (10. 4. 1892–20. 12. 1965). Homo 43, 1992, 3–28. – Vgl. dazu M ASSIN , Anthropologie (wie Anm. 74) 23 ff. I. S CHWIDETZKY, Rassen und Rassenbildung beim Menschen. Typen, Bevölkerungen, geographische Variabilität (Stuttgart 1979). – D IES., Grundlagen der Rassensystematik (Mannheim 1974). – D IES. (Hrsg.), Rassengeschichte der Menschheit. 14 Bde (München, Wien 1968–1993). S EIDLER, Bemerkungen (wie Anm. 10) 97. F. W. R ÖSING , Die fränkische Bevölkerung von Mannheim-Vogelstang (6.–7. Jh.) und die merowingerzeitlichen Germanengruppen Europas (Diss. Hamburg 1975). – F. W. R ÖSING /I. S CHWIDETZKY, Vergleichend-statistische Untersuchungen zur Anthropologie des frühen Mittelalters (500–1000 n. Chr.). Homo 29, 1977, 65–115. – W. B ERN-

Die anthropologische Differenzierung von Reihengräberpopulationen

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c) Die anthropologische Differenzierung von Reihengräberpopulationen in der Nachkriegszeit Die Arbeiten, die in der Nachkriegszeit zur Klassifikation der Bevölkerung aus den frühmittelalterlichen Reihengräbern erschienen, setzten sich meist weitgehend unbeeindruckt über die Einwände gegen die bekannten morphologischen Verfahren hinweg. Bemerkenswert für die hier behandelte Fragestellung ist zudem, dass in der Nachkriegszeit vielfach versucht wurde, die archäologischen Ansätze zur Unterscheidung von Germanen und Romanen mit der anthropologischen Klassifikation zu verbinden. In jenen Fällen, in denen man nicht durch eine „Rassendiagnose“ die ethnische Zugehörigkeit der menschlichen Überreste unmittelbar zu bestimmen versuchte, beruhte die Zuweisung der anthropologischen Gruppen auf historischen Überlegungen oder archäologischen Interpretationen. Abgesehen von der bereits referierten allgemeinen Problematik des naturwissenschaftlichen Rassebegriffs wird die Plausibilität entsprechender Ansätze somit vielfach dadurch erschüttert, dass die ethnischen Interpretationen des anthropologischen Materials auf unzutreffenden oder unsicheren historischen Prämissen aufbauten. Vielfach wurde etwa schlichtweg eine soziale Differenz mit einer ethnischen gleichgesetzt. Auf der Grundlage der traditionellen Ansicht, das Römische Reich sei von den Germanen erobert worden, suchte man die Personen mit „mediterranen“ Rassenmerkmalen vor allem in den sozialen Unterschichten. Die Träger germanischer Merkmale, so wurde vorausgesetzt, müssten dagegen innerhalb der sozialen Eliten besonders stark vertreten sein. Ein typisches Beispiel für dieses Vorgehen ist die 1958 erschienene Untersuchung zur Kontinuität der Bevölkerung in der frühmittelalterlichen Alamannia von Roderich Straub.89 Straub wies dabei zunächst die These Eugen Fischers zurück, die Kopfform hänge maßgeblich von Umwelteinflüssen ab. Stattdessen legte er seiner Untersuchung die Prämissen zugrunde, die „Schädelbildung“ stelle ein „erbliches Rassemerkmal “ dar und Änderungen der Kopfform seien weitgehend durch „Rassenmischung“ bedingt.90 Die Frage der Kontinuität der Bevölkerung der Alamannia analyHARD /A.

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K ANDLER -P ÁLSSON (Hrsg.), Ethnogenese europäischer Völker. Aus der Sicht der Anthropologie und Vor- und Frühgeschichte (Stuttgart, New York 1986). (= Festschrift für Ilse Schwidetzky zum 75. Geburtstag). R. S TRAUB, Zur Kontinuität der voralamannischen Bevölkerung. Bad. Fundber. 20, 1958, 127–137. S TRAUB, Kontinuität (wie Anm. 89) 129 mit Anm. 13.

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„Germanen“ und „Romanen“: Anthropologische Typen?

sierte Straub ausgehend von einem sehr konkreten Geschichtsbild. Eine Kontinuität sei lediglich in der Form denkbar, dass galloromanische Bevölkerungsteile in die „Hörigenschicht der Alamannen“ aufgenommen worden seien. Im Falle einer Kontinuität der älteren Bevölkerung müsse deshalb mit einer Korrelation von Beigabenarmut und den vermeintlich typischen körperlichen Merkmalen gerechnet werden: „die Toten mit einfacheren Beigaben wären dann kurzköpfiger und kleinwüchsiger als die Toten mit reicheren Beigaben “.91 In ähnlicher Weise legte ein Jahrzehnt später auch Neil Huber seiner Untersuchung des anthropologischen Materials aus dem Gräberfeld von Weingarten die Prämisse zugrunde, die Nachfahren der gallorömischen Bevölkerung seien im frühen Mittelalter „natürlich vor allem in der niedrigsten sozialen Schicht zu erwarten“.92 Da Huber meinte, eine entsprechende Korrelation von Körpergröße und Schädelform einerseits und Waffenkombinationen andererseits feststellen zu können, galt das Beispiel von Weingarten in der Folge als Beleg dafür, dass die einwandernden germanischen Alemannen tatsächlich teilweise eine gallorömische Bevölkerung überschichtet hätten.93 Noch deutlicher als bei Straub und Huber zeigt die Arbeit von Eva Burger über das anthropologische Material des Reihengräberfelds von Altenerding,94 wie sehr die ethnische Interpretation des anthropologischen Materials von den historischen Prämissen und der Erwartungshaltung der Nachbarwissenschaften abhing. Mit dem während der 1960er Jahre ausgegrabenen Gräberfeld von Altenerding wurde schon während der Grabung die Hoffnung verbunden, die Frage der Entstehung der Bajuwaren klären zu können. Bereits nach einer oberflächlichen Sichtung eines Teils des archäologischen und anthropologischen Materials gewannen die beteiligten Wissenschaftler den Eindruck, dass innerhalb der Population von Altenerding zwei Gruppen erkennbar seien: Ein „üblicher starkknochiger Reihengräbertypus“ hebe sich von einem Typus mit „grazil-mediterranen Formen“

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S TRAUB, Kontinuität (wie Anm. 89) 128 f. N. M. H UBER, Anthropologische Untersuchungen an den Skeletten aus dem alamannischen Reihengräberfeld von Weingarten, Kr. Ravensburg. Naturwiss. Untersuch. Vor- u. Frühgesch. Württemberg u. Hohenzollern 3 (Stuttgart 1967) 29. A. C ZARNETZKI U. A ., Menschen des frühen Mittelalters im Spiegel der Anthropologie und Medizin (Stuttgart 1982) 8. E. B URGER, Differenzierung historischer Populationen durch metrische Merkmale am Schädel. Ein Beitrag zur Anthropologie der frühmittelalterlichen Bajuwaren. Diss. Masch. (München 1982).

Die anthropologische Differenzierung von Reihengräberpopulationen

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ab.95 Zudem deute sich an, dass sich unter den Gräbern der Grazilmediterraniden kaum Bestattungen mit voller Bewaffnung befänden.96 Nach Abschluss der Grabung wurden der Anthropologin Eva Burger insgesamt 159 Individuen zur Bearbeitung übergeben, und zwar bereits vorsortiert in zwei Gruppen, „Bajuwaren“ und „Mediterrane“.97 Anhand zahlreicher Schädelmessungen versuchte sie, die Richtigkeit dieser Differenzierung zu überprüfen. Allerdings gelang ihr dies nur in eingeschränktem Maße. Aus diesem Grund diskutierte sie recht ausführlich, weshalb die Trennung von zwei Populationen nur eingeschränkt erfolgen könne.98 Letztlich meinte sie jedoch die Existenz zweier unterschiedlicher Populationen festzustellen. Diese unterschieden sich anhand bestimmter Merkmale des Gesichtsschädels.99 Obwohl Burger daran festhielt, diese Populationen entsprechend der ursprünglichen Fragestellungen weiterhin als „bajuwarisch“ und „mediterran“ zu bezeichnen, wies sie jedoch nachdrücklich darauf hin, dass die als „mediterran“ bezeichnete Population keineswegs dem traditionellen grazilen und langköpfigen mediterranen Typus der Anthropologie entsprach.100 Falls sich also in Altenerding tatsächlich anhand bestimmter Merkmale des Gesichtsschädels zwei Populationen unterscheiden lassen – und dieser Befund nicht etwa bereits durch die entsprechende Fragestellung determiniert wurde – so besteht dennoch kein Anlass, diese mit Germanen bzw. Romanen zu identifizieren. Mit den gängigen germanischen und romanischen Rassetypen stimmen sie nicht überein. Legt man nicht einen biologisch bestimmten Volksbegriff zugrunde, so besteht kein Anlass, die beiden Populationen mit ethnischen Gruppen gleichzusetzen. Während Burger verhältnismäßig zurückhaltend wertete, wurde der anthropologische Befund von Altenerding – z. T. in Anlehnung an ältere Vorberichte101 – zunehmend als eindeutiger Beleg für die Existenz zweier unterschiedlicher ethnischer Gruppen gewertet. Gerfried Ziegelmayer behandelte sie wenige Jahre später im Zusammenhang mit der Stammesbil-

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W. S AGE , Zur germanischen Landnahme in Altbayern. Das Reihengräberfeld von Altererding. In: K. Schwarz (Hrsg.), Neue Ausgrabungen in Bayern (München 1970) 41–46, hier 44. (=Probleme der Zeit. Zeitschr. f. Wiss., Wirtschaft u. Kultur). S AGE , Altbayern (wie Anm. 95) 46. B URGER, Differenzierung (wie Anm. 94) 7. B URGER, Differenzierung (wie Anm. 94) 89–95. B URGER, Differenzierung (wie Anm. 94) 96–104. B URGER, Differenzierung (wie Anm. 94) 95. H. H ELMUTH , Zwei künstlich deformierte Schädel aus Altenerding. Ber. RGK 54, 1973, 304–317, bes. 311.

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„Germanen“ und „Romanen“: Anthropologische Typen?

dung der Bajuwaren.102 Anfang der 1990er ging Wilfried Menghin bereits davon aus, dass sich innerhalb der Bevölkerung von Altenerding anhand von „Rassenmerkmalen“ eine Gruppe „mediterraner“ Personen nachweisen lasse.103 Diese Ansicht wird in der Forschung bis heute weiter tradiert.104 Auch die einflussreiche Untersuchung von Friedrich Rösing über die Bevölkerung der merowingerzeitlichen „Germanengruppen Europas“ zeigt, wie sehr die Anthropologie in der Nachkriegszeit ihre ethnischen Interpretationen des Skelettmaterials auf historischen „Vor-Urteilen“ aufbaute.105 In einer von Ilse Schwidetzky angeregten Dissertation untersuchte Rösing ausgehend von dem Material des Gräberfelds von MannheimVogelstang verschiedene weitere, vermeintlich germanische Populationen. Der germanische Charakter des Skelettmaterials war dabei nicht das Ergebnis seiner anthropologischen Studien, sondern vielmehr das Kriterium für die Auswahl seines Materials. Anthropologische Serien aus Gebieten, die Rösing als Siedlungsgebiet frühmittelalterlicher Germanenstämme betrachtete, rechnete er von vornherein den Germanen zu. Dabei stützte sich Rösing auf zweifelhafte historische Prämissen. In Anlehnung an die Thesen der Historiker Franz Steinbach und Franz Petri, die im zweiten Teil dieser Arbeit ausführlich erläutert werden,106 ging Rösing etwa davon aus, das gesamte Nordgallien bis zur Loire sei im frühen Mittelalter von germanischen Franken besiedelt worden.107 In seiner Arbeit verbuchte Rösing deshalb mehrere Skelettserien aus Nordfrankreich als „fränkisch“. Das Material aus dem Jura und der Nordschweiz wies er ebenso unbedenklich den germanischen Burgunden zu.108 Mit Nachfahren der ehemaligen Provinzialbevölkerung rechnete Rösing in seinem Untersuchungsgebiet dagegen nicht. Rösings Fazit einer relativen anthropologischen Homogenität der von ihm untersuchten „germanischen“ Gruppen109 ist somit hinsichtlich der 102

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G. Z IEGELMAYER, Die Bajuwaren aus anthropologischer Sicht. In: H. Dannheimer/H. Dopsch (Hrsg.), Die Bajuwaren. Von Severin bis Tassilo 488–788 (München, Salzburg 1988) 249–257, hier 252. M ENGHIN , Bayern (wie Anm. 1) 75. S TÖRMER, Baiuwaren (wie Anm. 1) 30. F. W. R ÖSING , Die fränkische Bevölkerung von Mannheim-Vogelstang (6.–7. JH.) und die merowingerzeitlichen Germanengruppen Europas. Diss. Masch. (Hamburg 1975). Kap. 12b. R ÖSING , Mannheim-Vogelstang (wie Anm. 105) 14. R ÖSING , Mannheim-Vogelstang (wie Anm. 105) 74–79. R ÖSING , Mannheim-Vogelstang (wie Anm. 105) 103.

Die anthropologische Differenzierung von Reihengräberpopulationen

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Identifikation typisch germanischer Populationen in keiner Weise aussagekräftig. Es muss deshalb als äußert zweifelhaft gelten, ob es mit Hilfe der von Rösing zusammengestellten „germanischen“ Serien möglich ist, germanische Siedler in Nordfrankreich anhand des anthropologischen Materials erkennen zu können, wie dies bis in jüngere Zeit auch von französischen Anthropologen angenommen wird.110

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B LONDIAUX , Présence germanique (wie Anm. 1).

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„Germanen“ und „Romanen“: Ein kultureller Gegensatz?

6. „Germanen“ und „Romanen“: Ein kultureller Gegensatz? Bei näherer Betrachtung liegt allen Versuchen, Germanen und Romanen im frühen Mittelalter anhand des archäologischen Befundes voneinander zu unterscheiden, die Ansicht zugrunde, diese gehörten grundsätzlich zwei unterschiedlichen kulturellen Sphären an. Am pointiertesten vertrat diese Auffassung zuletzt Volker Bierbrauer, der Germanen und Romanen im Merowingerreich anhand der Grabfunde als antagonistische „Kulturmodelle“ beschrieb.1 Auch in den Nachbarfächern wird seit langer Zeit das jeweilige Material vielfach ausgehend von der Annahme einer tiefgreifenden kulturellen Differenz zwischen beiden Gruppen interpretiert. Andererseits wurden in den letzten beiden Jahrzehnten von verschiedenen Seiten verstärkt Zweifel an der Plausibilität dieser Prämisse geäußert. Probleme bereitet dabei vor allem die germanische Seite des Begriffspaars. Jeweils auf den eigenen Forschungsgegenstand bezogen, wurden in verschiedenen Wissenschaften, die sich mit der „Kultur“ der Germanen beschäftigen, zunehmend Schwierigkeiten bei der Aufgabe formuliert, spezifisch „Germanisches“ zu benennen bzw. dieses schlüssig von benachbarten Kulturräumen abzugrenzen. Als grundsätzliches Problem erkannte man ferner die undifferenzierte Verwendung des zugrunde gelegten Kulturbegriffs. Daher ist es nötig, zunächst in groben Zügen die Entwicklung des von der Forschung verwendeten Kulturbegriffs nachzuzeichnen.

a) Etappen der Konstruktion des kulturellen Gegensatzes „Germanen versus Romanen“ Kaum ein anderer wissenschaftlicher Begriff verfügt über eine solch schillernde Geschichte wie „Kultur“.2 Die Kontroverse um den heuristischen Wert der verschiedenen Spielarten des archäologischen Kulturbe1 2

B IERBRAUER, Siedelgebiet, bes. 111–113. – Vgl. Kap. 16a. Eine Übersicht bei J. F ISCH , s.v. Zivilisation, Kultur. In: O. Brunner/W. Conze/ R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 7 (Stuttgart 1992) 679–774.

Etappen der Konstruktion des kulturellen Gegensatzes

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griffs3 bildet dabei nur einen Ausschnitt eines umfassenderen Problems. In einer begriffsgeschichtlichen Abhandlung aus den 1960er Jahren wurden bereits nicht weniger als 164 verschiedene Definitionen von „Kultur“ aufgelistet.4 Unter den Systematisierungen, mit deren Hilfe man dieser Vielfalt Herr zu werden versucht, erweisen sich die von Ulrich Gotter vorgeschlagenen Begriffstypen als hilfreich. Gotter machte darauf aufmerksam, dass „Kultur“ in der Regel nicht positiv definiert, sondern implizit in Abgrenzung von einer begrifflichen Alterität verwendet wird. Er unterscheidet jeweils zwei Varianten des „holistischen“ („Kultur – Natur“ und „Kultur – Kultur“) und des „segmentären“5 Kulturbegriffs („Kultur – Staat, Religion, Wirtschaft“ bzw. „Kultur – Gesellschaft“) sowie eine völkisch-nationalistische Spielart („Kultur – Zivilisation“).6 Für die hier behandelte Fragestellung sind die beiden Varianten des holistischen sowie der völkisch-nationalistische Kulturbegriff von Belang. Diese Varianten traten in chronologischer Reihenfolge in der Debatte um das Verhältnis von Germanen und Romanen auf. Sie eignen sich deshalb als Gerüst für eine Skizze der Entwicklung. Die erste Etappe der Konstruktion des kulturellen Gegensatzes zwischen Römern und Germanen folgte Gotters erster Variante des holistischen Kulturbegriffs, die durch die Gegenüberstellung von „Kultur“ und „Natur“ gekennzeichnet wird. Gesellschaften werden nach dem Grad ihrer kulturellen Entwicklung hierarchisch geordnet. Am einen Ende der Skala stehen die differenzierten „Hochkulturen“, deren Gegenpol die in Naturnähe verharrenden „primitiven“ Kulturen bilden. Dieser Kulturbegriff lässt einem impliziten oder expliziten Chauvinismus großen Raum.7 Entsprechende Muster der Selbstdefinition und Fremdwahrnehmung liegen bereits dem antiken Barbarenbegriff zugrunde, wie im Abschnitt

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Zum Problem des archäologischen Kulturbegriffs (mit weiterer Literatur) vgl. B RATHER , Identitäten, 152–157. – H.-P. W OTZKA , „Kultur“ in der deutschsprachigen Urgeschichtsforschung. In: S. Fröhlich (Hrsg.), Kultur – ein interdisziplinäres Kolloquium zur Begrifflichkeit (Halle 2000) 55–80, bes. 60–68. – D ERS., Zum traditionellen Kulturbegriff in der prähistorischen Archäologie. Paideuma 39, 1993, 25–44. A. K ROEBER /C. K LUCKHOHN , Culture: a critical review of concepts and definitions (New York 1963) 81–142; 291 f. Wotzka spricht in diesem Zusammenhang von einem „partitiven Kulturbegriff“: W OTZKA , Kultur (wie Anm. 3) 58. U. G OTTER, „Akkulturation“ als Methodenproblem der historischen Wissenschaften. In: W. Eßbach (Hrsg.), wir / ihr / sie. Identität und Alterität in Theorie und Methode. Identitäten und Alterität 2 (Würzburg 2000) 373–406, hier 376–382. G OTTER, Akkulturation (wie Anm. 6) 376.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ein kultureller Gegensatz?

über die antike Ethnographie ausgeführt wurde.8 Da alle Schriftquellen über die germanischen Gruppen nur durch diesen Filter wahrgenommen werden können, sind auch die nachantiken Darstellungen weitgehend von den zugrunde liegenden Wertungen befangen. Mangels alternativer Zugänge prägen sie letztlich bis heute maßgeblich das Bild des Verhältnisses zwischen dem mediterranen Kulturraum und den Germanen. Die Tatsache, dass die antike Barbarentopik die gesamte Neuzeit hindurch eine bedeutende Quelle für Nationalstereotypen bildete, tat ihr übriges, um diesem Denkschema ein langes Nachleben zu bescheren.9 Dabei ist bezeichnend, dass auch Versuche, die Rolle der Germanen gegenüber den antiken Kulturen aufzuwerten, sich in der Regel nicht von den überlieferten Argumentationsmustern lösen konnten. Entweder betonte man, wie schon die deutschen Humanisten unter Berufung auf Tacitus’ Germania, einseitig jene Quellen, in denen den Germanen aufgrund eines innerrömischen Diskurses positive Eigenschaften zugeschrieben wurden. Die andere, ebenfalls schon im Humanismus belegte Möglichkeit bestand darin, die Wertungen umzukehren, d. h. ursprünglich abwertend gemeinte Zuschreibungen positiv umzudeuten. So konnte etwa aus dem unbeherrschten furor der Barbaren, der antiker Topik zufolge ein Zeichen mangelnder Kultiviertheit war, die positiv verstandene „deutsche Kühnheit“ werden.10 Die zweite, von Gotter beschriebene holistische Kulturdefinition lässt sich auf einen Gegensatz „Kultur versus Kultur“ zurückführen. Kulturen werden dabei als zwar verschieden, aber im Grunde gleichberechtigt angesehen. Auch hier handelt es sich um einen holistischen Kulturbegriff, d. h. die jeweilige „Kultur“ umfasst und prägt alle gesellschaftlichen Bereiche, wie Politik, Wirtschaft und Religion.11 Dieser Kulturbegriff wurde ausgehend von der Kritik an älteren Traditionen des Eurozentrismus in der Ethnologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts populär und erfreut sich bis heute großer Beliebtheit. Im Fall des Begriffspaars Germanen und Romanen ist die folgenschwerste Umsetzung dieses Kulturbegriffs jedoch bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts festzustellen. Unter dem Eindruck von Herders Volksgeisttheorem – der Gleichung von Volk, Sprache und Volksgeist – machte sich die erste Generation der germanistischen Altertumsforschung daran, eine germanisch-deutsche Kultur zu erschaffen, die bis in die Vorzeit zurückreicht. Ungeachtet einer 8 9

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Vgl. Kap. 2a. K. V. S EE , Der Germane als Barbar. In: Ders., Barbar, Germane, Arier (Heidelberg 1994) 31–60, hier 52–60. V. S EE , Germane (wie Anm. 9) 57. G OTTER, Akkulturation (wie Anm. 6) 376 f.

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gewissen nationalliberalen Grundstimmung enthielt das Unternehmen bereits in seinen Anfängen eine Stoßrichtung, die später folgenschwere Konsequenzen nach sich ziehen sollte. Jürgen Habermas verweist in diesem Zusammenhang vor allem auf die „Konstruktion von Herkunftsbezügen, die der Nation den Schein des organisch Gewachsenen verleihen sollten“.12 Bereits die frühen „Germanisten“ entwickelten eine Vorgehensweise, an der große Teile späterer Gelehrtengenerationen festhalten sollten. Wilhelm Busse zeigte, dass dieser Ansatz, den er exemplarisch anhand der Werke Jacob Grimms erläuterte, bis heute nachwirkt.13 Ein erster typischer Charakterzug ist die „pan-germanische“ Ausrichtung. Das beherrschende Erkenntnisziel bildet das „Germanische“ schlechthin. Grimm vereinnahmte in seinen Arbeiten, wie den „Deutschen Rechtsaltertümern“, alle Zeugnisse aus dem germanischen Sprachgebiet für einen einheitlichen germanisch-deutschen Großraum. Dieser sprachlich definierte Raum bildete bei Grimm die einzige kulturelle Bezugsgröße. Alle historisch gewachsenen, nur regional verbreiteten Sondertraditionen innerhalb dieses Gebietes wurden um der Einheitlichkeit der germanischen Kultur willen entgrenzt und eingeebnet. Diese konnte so auf eine Stufe mit anderen, ebenso konstruierten kulturellen Entitäten, wie den lateinischen, griechischen, slawischen oder keltischen „Kulturen“ gestellt werden.14 Für das merowingerzeitliche Frankenreich hatte dies u. a. zur Folge, dass es aus seinem kulturellen Kontext innerhalb der Nachfolgestaaten des Römischen Reiches herausgelöst, seine kulturelle Eigenständigkeit geleugnet und es statt dessen in ein germanisches kulturelles Kontinuum eingegliedert wurde. Ein zweiter typischer Zug des Grimm’schen Mittelalterbildes war seine Ahistorizität. Ebenso wie aus ihrem geographischen wurden die Quellen aus ihrem historischen Kontext herausgerissen. Da alle kulturellen Merkmale letztlich auf ein einheitliches germanisches Urvolk zurückzuführen seien, dessen Kultur Grimms vorrangiges Interesse galt, könnten auch Quellen aus unterschiedlichstem zeitlichen Kontext zur Rekonstruktion der germanischen Urkultur herangezogen werden.15 12

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J. H ABERMAS, Was ist ein Volk? Bemerkungen zum politischen Selbstverständnis der Geisteswissenschaften im Vormärz am Beispiel der Frankfurter Germanistenversammlung von 1846. In: F. Fürbeth u. a. (Hrsg.), Zur Geschichte und Problematik der Nationalphilologien in Europa (Tübingen 1999) 23–39, hier 25. W. G. B USSE , Jacob Grimms Konstruktion des Mittelalters. In: P. Segl (Hrsg.), Mittelalter und Moderne. Kongressakten des 6. Symposiums des Mediävistenverbandes in Bayreuth 1995 (Sigmaringen 1997) 243–251, hier 243. B USSE , Konstruktion (wie Anm. 13) 243–245. B USSE , Konstruktion (wie Anm. 13) 246–248.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ein kultureller Gegensatz?

Das dritte typische Merkmal von Grimms Mittelalterkonstruktion war schließlich die Idealisierung einer paganen Urkultur der Germanen. Zugunsten dieser wurden alle kulturellen Phänomene, die das Christentum hervorgebracht hat, abgewertet oder beiseite geschoben. Nur das vorchristliche Germanentum galt Grimm als „echtdeutsche“ Wurzel. Allenthalben innerhalb der mittelalterlichen Überlieferung fahndete er nach Resten dieser vom Christentum noch unverfälschten ursprünglichen Überlieferung. Für die Beurteilung des Verhältnisses von Germanen und Romanen im Merowingerreich hatte dies zur Folge, dass ausgerechnet die überragende und offensichtlichste kulturelle Klammer innerhalb des Frankenreichs, das katholische Christentum, in seiner Bedeutung heruntergespielt oder geleugnet wurde. Hinter der Frage, was an der Kultur des Mittelalters nun echt heidnisch-germanisch und was christlich(-romanisch) sei, verschwand lange Zeit die grundlegende Bedeutung der christlichen Kultur des Merowingerreichs.16 Auch nachdem der Versuch, die „Germanistik“ als umfassendes interdisziplinäres Fach zu etablieren, gescheitert war, behielten viele der beteiligen Einzeldisziplinen diese „germanistische“ Ausrichtung bei. Dabei war es weniger die germanische Philologie selbst, als vielmehr die Rechtswissenschaft und die Geschichtswissenschaften, die diese Form des „Germanismus“ weitertrugen. Unzählige Historiker des 19. Jahrhunderts haben, Heinz Gollwitzer zufolge, den Fortgang der Universalgeschichte jeweils als Siege und Niederlagen des Germanentums ausgelegt. Dabei wurden bestimmte „Kultur- und Rechtssysteme, Staats- und Gesellschaftssysteme […] als Leistungen des Germanentums kanonisiert, und die entsprechenden Gegenbilder als antigermanisch abgewertet “.17 Vielfach beschränkten sich entsprechende Geschichtsbilder nicht allein auf ethnische Gegensätze. Als weitere Bedeutungsebene floss häufig der konfessionelle Gegensatz zwischen (germanisch-)protestantisch und römisch-katholisch mit ein.18 Vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bis zum Ersten Weltkrieg war in Deutschland die nationalistisch ausgerichtete Polemik des Protestantismus gegen Katholizismus und „Ultramontanismus“19 eine ebenso bedeutende

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B USSE , Konstruktion (wie Anm. 13) 248–250. H. G OLLWITZER, Zum politischen Germanismus des 19. Jahrhunderts. In: MaxPlanck-Institut für Geschichte (Hrsg.), Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag (Göttingen 1971) 282–356, hier 287–301, Zitat 296. G OLLWITZER, Germanismus (wie Anm. 17) bes. 298 f. Vgl. etwa: A NTIULTRAMONTANER R EICHSVERBAND (Hrsg.), Was ist Ultramontanismus? und Was will der Antiultramontane Reichsverband? (Berlin o. J. [ca. 1912]) bes. 18–20.

Etappen der Konstruktion des kulturellen Gegensatzes

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Quelle für antiromanische Affekte wie der deutsch-französische Gegensatz. Die verschiedenen Etappen der Konstruktion des kulturellen Gegensatzes zwischen Germanen und Romanen gingen jeweils mit einer Verschiebung der Wertung beider Kulturen einher. Während die Interpretation des Verhältnisses von Germanen und Romanen auf der Grundlage eines zivilisatorischen Gefälles zwischen „Hochkultur“ und „Barbarei“ die kulturelle Überlegenheit der einen über die andere behauptete, versuchte die Konstruktion einer gleichwertigen germanischen Kultur mindestens deren Eigenwert, später deren Ebenbürtigkeit und schließlich sogar deren Überlegenheit zu demonstrieren. Die Behauptung der Überlegenheit der germanischen Kultur verbreitete sich vor allem seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Sie ist mit dem letzten der oben beschriebenen Kulturbegriffe zu verbinden, dem völkisch-nationalistisch inspirierten Gegensatz von „Kultur“ und „Zivilisation“.20 Unter dem Eindruck der negativen Begleiterscheinungen der Modernisierung wurde der Begriff „Kultur“ in verschiedenen philosophischen Strömungen auf die als positiv empfundenen Bereiche des seelisch-geistigen Lebens eingeschränkt. Als Alterität diente zunehmend die geringwertigere „Zivilisation“, die alles „Äußere, Seelenlose, rein Intellektuelle, Nivellierende, Zweckhafte, Übertragbare, Internationale, Technisch-Mechanische und Wirtschaftliche “ beinhalte.21 Diesen Gegensatz projeziert etwa Houston Stewart Chamberlain in die Vergangenheit. Chamberlain argumentierte, das Römische Reich habe zwar eine hochentwickelte Zivilisation hervorgebracht, seine „Kultur“ sei dagegen „sehr gering und unoriginell “ gewesen. Als Gegenpol galt ihm das Griechentum, das eine reiche und tiefe Kultur besessen habe, eine „überschwänglich reiche Blüte des Menschengeistes“.22 Solche Stimmen traten vor der Jahrhundertwende noch vereinzelt auf. Um 1900 wurde die begriffliche Unterscheidung allmählich üblicher, ohne sich jedoch allgemein durchzusetzen.23 Während des Ersten Weltkriegs erzielte die nationalistische Konstruktion des Gegensatzes von „Kultur“ und „Zivilisation“ eine grö-

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Grundlegend dazu bereits N. E LIAS, Über den Prozeß der Zivilisation. Bd. 1 (Frankfurt 1997) 89–131. M. P FLAUM , Die Kultur-Zivilisation-Antithese im Deutschen. In: J. Knobloch u. a. (Hrsg.), Europäische Schlüsselwörter. Bd. 3: Kultur und Zivilisation (München 1967) 288–427, hier 313. H. S T. C HAMBERLAIN , Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts. Bd. 1 (9München 1909) 69. S. B REUER, Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945 (Darmstadt 2001) 263.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ein kultureller Gegensatz?

ßere Breitenwirkung. Auf deutscher Seite bemühte die Propaganda vielfach den vermeintlichen Gegensatz zwischen „deutscher“ Kultur und „westlicher“ Zivilisation. Auf französischer Seite zitierte man dagegen weiterhin das ältere Argumentationsmuster des Kampfes zwischen Zivilisation und Barbarei.24 Wie verbreitet die Ansicht der grundlegenden Verschiedenheit von „deutscher Kultur“ und „westlicher Zivilisation“ war, wird etwa dadurch deutlich, dass selbst ein so feinsinniger Geist wie der Schriftsteller Thomas Mann ihr zeitweilig anhing. In seinen während des Ersten Weltkriegs verfassten „Betrachtungen eines Unpolitischen“ argumentierte er für die Verschiedenheit von deutschem „Geist“ und westlicher „Politik“: „[…] Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur “.25 Der Erste Weltkrieg stellte den Höhepunkt der Instrumentalisierung des Gegensatzes zwischen „Kultur“ und „Zivilisation“ dar. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg verlor er rasch an Aktualität.26

b) „Germanische Kultur“ als Forschungsproblem Bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ging die „Germanische Altertumskunde“ paradigmatisch davon aus, dass die Germanen in einem frühen Stadium ihrer Geschichte eine kulturelle Einheit gebildet hätten. Die Rekonstruktion dieser ursprünglichen Einheit galt vielfach als vornehmste Aufgabe der germanischen Altertumskunde. Die Ausführungen, die der Germanist Hermann Schneider seiner „Germanischen Altertumskunde“ voranstellte, sind hierfür ein typisches Beispiel: Kurz vor 200 v. Chr. treten die Germanen in das Licht der Geschichte. Wir hören dann lange Zeit von ihnen weit mehr durch andere als durch sie selbst. Bis das Germanentum in eigener Sprache aus eigenem Geist über eigene Dinge zu uns spricht, vergehen viele Jahrhunderte. Da ist es schon längst gespalten und teilweise schon in voller Auflösung. Es zu erfassen in der Gestalt, die es hatte, als es noch eine Einheit war, das ist die Aufgabe. Die Germanen neigten immer zu Vereinzelung und bevorzugten die kleine Gemeinschaft vor der großen. Aber wenn auch staatlich gesondert, haben sie doch eine Einheit gebildet durch Brauch, Kunstausübung, Bekenntnis. Es gab germanische Sittlichkeit, germanisches Recht, germanische Dichtung, germanischen Glauben, ehe es gotische und skandinavische, englische und deutsche Eigenart gab. Die Wirklichkeit zeigt uns nur Spaltung, und Vereinzelung, unser Forschen und

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F ISCH , Zivilisation (wie Anm. 2) 766. – Vgl. dazu auch Kap. 10. T H . M ANN , Betrachtungen eines Unpolitischen (7–10Berlin 1919) XXXIII. P FLAUM , Antithese (wie Anm. 21) 333 ff.

„Germanische Kultur“ als Forschungsproblem

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Ahnen soll uns zur alten Einheit zurückführen. Dieser geschichtliche Abschnitt, den man gemeinhin, nüchtern genug, als die „gemeingermanische“ Zeit bezeichnet, ist für uns das eigentliche, „klassische“ germanische Altertum.27

Die Merowingerzeit steht in diesem Geschichtsbild am Übergang zwischen germanischem Altertum und der Aufspaltung des „Germanentums“ in verschiedene nationale Sondertraditionen. In manchen Teilen der merowingerzeitlichen Kultur wähnte die Forschung die altgermanische Kultur noch intakt, in anderen Bereichen meinte man allenthalben deren Nachwirkung bzw. Transformation erweisen zu können. In den letzten Jahrzehnten wurde die Ansicht von der einstmaligen kulturellen Einheit der Germanen grundlegend erschüttert. Zahlreiche der vermeintlich typischen Bestandteile altgermanischer Kultur entpuppten sich bei kritischer Betrachtung der Quellen als wissenschaftliche Konstrukte, die zwar viel über die Mentalität der Wissenschaftler des 19. und frühen 20. Jahrhunderts aussagen, aber nur schwer aus den zeitgenössischen Quellen zu belegen sind.28 Der Rechtsgeschichte kam in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Sie lieferte in der Vergangenheit zahlreiche zentrale Begriffe der „Verfassung“ der germanischen Gesellschaft, die ihrerseits von der Geschichtswissenschaft,29 aber auch in der Archäologie als grundlegende Kategorien bei der Erforschung der Geschichte der Germanen angesehen wurden. Vor wenigen Jahren hat nun der Rechtshistoriker Uwe Wesel die Entwicklung der germanistischen Rechtsgeschichte in den letzten Jahrzehnten durch den bemerkenswerten Satz „Der Erdrutsch hat stattgefunden“ charakterisiert. Was ist geschehen? Wesel beschreibt den gegenwärtigen Forschungsstand in der Rechtsgeschichte, die in den letzten Jahrzehnten zahlreiche altgediente Theorien über die Germanen endgültig über den Haufen geworfen hat. Viele zentrale Begriffe der deutschen Rechtsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert, wie die agnatische „Sippe“,30 „germanische Treue“31 und „germanische Gefolgschaft“32 oder die „Friedlosig27

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H. S CHNEIDER (Hrsg.), Germanische Altertumskunde (München 1938) VIII. – Vgl. dazu H. B ECK , s.v. V: Germanische Altertumskunde. In: Ders. u. a., Germanen, 240–258, hier 249 f. K. K ROESCHELL , Germanisches Recht als Forschungsproblem. In: Ders., Studien zum frühen und mittelalterlichen Recht. Freiburger Rechtsgesch. Abhandl. NF 20 (Berlin 1995) 65–88, bes. 75 f. F. G RAUS, Verfassungsgeschichte des Mittelalters. Hist. Zeitschr. 243, 1986, 529–589. Ausgehend von K. K ROESCHELL , Die Sippe im germanischen Recht. In: Ders., Studien (wie Anm. 28) 13–34. (Erstdruck 1960). Ausgehend von F. G RAUS, Über die sogenannte germanische Treue. Historica 1, 1959, 71–121. – K. K ROESCHELL , Die Treue in der deutschen Rechtsgeschichte. In: Ders., Studien (wie Anm. 28) 157–181. (Erstdruck 1969)

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„Germanen“ und „Romanen“: Ein kultureller Gegensatz?

keit“33 erwiesen sich als wissenschaftliche Konstrukte, die die Rechtswissenschaft zusammen mit ihren nationalistischen Traditionen endgültig hinter sich lassen musste.34 Von der Vorstellung eines einheitlichen „germanischen“ Rechtes musste sie ebenfalls Abschied nehmen. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg wies der Rechtshistoriker Ernst Levy nach, dass die sogenannten „Germanenrechte“ des frühen Mittelalters, die Leges, keineswegs unverfälschte germanische Rechtszustände dokumentieren. In wesentlichen Teilen sind sie vielmehr auf römisches Vulgarrecht35 zurückzuführen. Auch jene Abschnitte der Rechtstexte, in denen nicht unmittelbar eine Textabhängigkeit vom römischen Vulgarrecht nachzuweisen ist, stimmen laut Karl Kroeschell in ihrem rechtspolitischen Horizont sowie der begrifflichen Vorstellungswelt weitgehend mit dem römischen Vulgarrecht überein. Aus diesem Grund ist gegenwärtig zweifelhaft, ob in ihnen überhaupt spezifisch „germanische“ Rechtstraditionen ermittelt werden können.36 Keinesfalls lassen sich die bislang nicht zuweisbaren Trümmer zu einer einheitlichen „germanischen“ Rechtstradition zusammenfügen. Was nicht vom römischen Vulgarrecht her erklärt werden kann, versucht man nun mit den Begriffen der Rechtsethnologie bzw. -soziologie zu erhellen. In ähnlicher Weise wie die Rechtsgeschichte hat sich auch die vergleichende Religionsgeschichte wohl endgültig von der Vorstellung einer einheitlichen germanischen Religion verabschiedet. Der Religionswissenschaftler Bernhard Maier wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Vorstellung einer essentiell germanischen Religion letztlich ebenfalls 32

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Ausgehend von H. K UHN , Die Grenzen der germanischen Gefolgschaft. Zeitschr. Rechtsgesch., Germ. Abt. 73, 1956, 1 ff. Ausgehend von G. Å QUIST , Frieden und Eidschwur. Studien zum mittelalterlichen germanischen Recht (Stockholm 1968). – H. N EHLSEN , Der Grabfrevel in den germanischen Rechtsaufzeichnungen – zugleich ein Beitrag zur Diskussion um Todesstrafe und Friedlosigkeit bei den Germanen. In: H. Jankuhn/H. Nehlsen/H. Roth (Hrsg.), Zum Grabfrevel in vor- und frühgeschichtlicher Zeit. Abhandl. Akad. Wiss. Göttingen, phil.-hist. Kl., 3 F., 113 (Göttingen 1978) 107–168. – E. K AUFMANN , Zur Lehre von der Friedlosigkeit im Germanischen Recht. In: G. Kleinheyer/P. Mikat (Hrsg.), Beiträge zur Rechtsgeschichte. Gedächtnisschrift für Hermann Conrad (Paderborn 1979) 329–365. U. W ESEL , Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zum Vertrag von Maastricht (München 1997) 261. – K. K ROESCHELL , s.v. Recht § 47–50. In: Beck u. a., Germanen, 215–228, bes. 226. Zum Begriff des Vulgarrechts vgl. H. S CHMIDT , Die Vulgarrechtsdiskussion. In: K. Kroeschell/A. Cordes (Hrsg.), Funktion und Form. Schr. Europ. Rechts- und Verfassungsgesch. 18 (Berlin 1996) 1–22. K ROESCHELL , Recht (wie Anm. 34) 220 f. – W ESEL , Recht (wie Anm. 34) 262 f.

„Germanische Kultur“ als Forschungsproblem

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auf der mittlerweile unhaltbar gewordenen „romantischen Verabsolutierung des Kriteriums der Sprache als Ausdruck ethnischer, kultureller und religiöser Gemeinsamkeit “ beruhe. Vor dem heutigen Kenntnisstand verberge sich hinter dem Begriff der „germanischen Religion“ lediglich eine Sammelbezeichnung für verschiedene religionsgeschichtliche Erscheinungen, die ganz unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Kontexten entstammten.37 Ein weiterer, sehr problematischer Bereich ist die Frage des Fortlebens germanisch-heidnischer Traditionen im christlichen Frühmittelalter. Auf die einseitige Idealisierung eines heidnischen Urzustandes seit Jacob Grimm wurde bereits hingewiesen. Vielfach setzte man Traditionen des Mittelalters, die nicht unmittelbar den kanonischen christlichen Gewohnheiten entsprachen, automatisch mit vorchristlichen gleich. Dabei wirkt das Christentum selbst in großem Umfang mythenbildend und brachte Traditionen hervor, die tatsächlich oder vermeintlich in Widerspruch zur Lehre der Amtskirche standen. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts diskutierte man ferner die Frage, ob es so etwas wie eine spezifisch „germanische“ Form des Christentums gegeben habe bzw. eine „Germanisierung des Christentums“ festzustellen sei.38 Ihre größte Konjunktur erlebten entsprechende Denkmuster am Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Völkisch-germanische Apologeten konstruierten einen Gegensatz zwischen dem Christentum als Vermittler der absterbenden antiken Zivilisation und der unverfälschten, reinen germanischen Religiosität. Frantiˇsek Graus skizzierte dieses Geschichtsbild bereits vor einigen Jahrzehnten besonders prägnant: Auf der einen Seite fänden sich die christlichen Priester als Träger der „verfaulenden Zivilisation“ der Spätantike. Ihm wurde der Typus des unschuldigen, blondgelockten Germanen gegenüber gestellt, der von dem verweichlichten und lasterhaften „welschen“ Priester seiner geistigen Unschuld beraubt wurde. Auf den wissenschaftlichen Wert solcher Vorstellungen hat Graus an gleicher Stelle hingewiesen: Sie seien zwar für den Zeithistoriker beim Studium reaktionärer Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts von großem Interesse, bei der wissenschaftlichen Erforschung des frühen Mittelalters könnte man sie jedoch getrost ignorieren.39 Die „Germanisierung des Christentums“ galt seit Mitte des 20. Jahrhunderts 37 38

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B. M AIER, s.v. Religion § 42–45. In: Beck u. a., Germanen, 199–208, hier 205. A. A NGENENDT , Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 bis 900 (2Stuttgart, Berlin, Köln 1995) 32–34. – K. S CHÄFERDIEK , s.v. Religion § 46, Christianisierung. In: Beck u. a., Germanen, 208–215, hier 210. F. G RAUS, Volk, Heiliger, Herrscher im Reich der Merowinger. Studien zur Hagiographie der Merowingerzeit (Prag 1965) 141 f.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ein kultureller Gegensatz?

als wissenschaftlich widerlegt, da eine Kontinuität zwischen vorchristlicher germanischer Religiosität und dem mittelalterlichen Christentum quellenmäßig nicht zu belegen ist.40 Nicht nur die „Germanisierung des Christentums“, sondern auch andere religiös motivierte Elemente oder Institutionen germanischer Kultur konnten einer quellenkritischen Untersuchung nicht standhalten. Zu nennen sind hier etwa die spezifisch „germanische Christenfrömmigkeit“, aber auch das „germanische Eigenkirchenwesen“41 oder das „germanische Sakralkönigtum“42. Nicht alle Wissenschaftler zeigen sich mit der zunehmenden Infragestellung zahlreicher alt vertrauter Institutionen der „germanischen Kultur“ einverstanden. Georg Scheibelreiter beschrieb vor wenigen Jahren diese Einwicklung als einen breit angelegten Versuch von „Ideologen“. In den sechziger und siebziger Jahren hätten diese begonnen, „die Substanz des Germanischen […] auszuhöhlen“ und in diesem Zuge Begriffe wie Sippe, Gefolgschaft, Friedlosigkeit und Treue prinzipiell in Frage zu stellen. Der Versuch, die frühmittelalterliche Geschichte mit Hilfe der Sozialwissenschaften zu „entgermanisieren“, sei aber gescheitert. Mittlerweile müssten auch Wissenschaftler, denen dies unangenehm sei, wieder zugeben, dass es eine „germanische Identität “ gegeben habe.43 Scheibelreiters Einschätzung weicht gravierend von dem Eindruck ab, der sich bei der Lektüre neuerer Darstellungen zur frühmittelalterlichen germanischen Geschichte einstellt. Dies gilt sowohl in Bezug auf die angeblichen ideologischen Wurzeln der „Entgermanisierung“, die – anders als die Germanenideologie, die bei der ursprünglichen Konstruktion einer einheitlichen germanischen Kultur im 19. Jahrhundert Pate gestanden hat – für mich nicht erkennbar ist, als auch bei der Einschätzung des gegenwärtigen Forschungsstandes. Bei der wissenschaftlichen Erforschung der „Germanen“ bildet die Ideologiekritik gegenwärtig geradezu zwangsläufig einen wesentlichen Gesichtspunkt.44 Ein solcher Ansatz, wie er bei der Auseinandersetzung mit den älteren Kapiteln der Germanenforschung vielfach un40

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S CHÄFERDIEK , Religion (wie Anm. 38) 209. – A NGENENDT , Frühmittelalter (wie Anm. 38) 36–42. S CHÄFERDIEK , Religion (wie Anm. 38) 209 f. – A NGENENDT , Frühmittelalter (wie Anm. 38) 36 f. E. P ICARD , Germanisches Sakralkönigtum? Quellenkritische Studien zur Germania des Tacitus und zur altnordischen Überlieferung. Skandinavistische Arbeiten 12 (Heidelberg 1991). G. S CHEIBELREITER, Die barbarische Gesellschaft. Mentalitätengeschichte der europäischen Achsenzeit 5.–8. Jahrhundert (Darmstadt 1999) 15. P OHL , Germanen, IX.

„Germanische Kultur“ als Forschungsproblem

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umgänglich ist, stellt nicht a priori selbst eine Ideologie dar. Das Grundproblem bleibt weiterhin vielmehr die Frage, ob die Behauptung der Existenz spezifisch germanisch-barbarischer Lebensformen tatsächlich einen Rückhalt in den Quellen findet oder nicht. Und hier tut sich die Forschung nach wie vor äußerst schwer damit, nicht nur zu behaupten, sondern auch zu beweisen.45 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Bewertung des Beitrags der frühmittelalterlichen Gräberarchäologie zur Erforschung der „germanischen Kultur“. Zunächst ist festzuhalten, dass die zunehmend skeptischere Einschätzung vermeintlich typischer Elemente germanischer Kultur in der frühmittelalterlichen Archäologie bereits einen deutlichen Widerhall gefunden hat. So ist die archäologische Forschung in den letzten beiden Jahrzehnten etwa davon abgekommen, den Ursprung des frühmittelalterlichen Beigabenwesens in den vermeintlichen gemeingermanischen Rechtsinstitutionen „Heergewäte“ und „Gerade“ zu suchen.46 Auch die archäologischen Nachweismöglichkeiten des sogenannten „germanischen“ Gefolgschaftswesens werden mittlerweile eher skeptisch betrachtet. Entsprechende Erscheinungen sieht man eher im Kontext kriegerischer Patron-Klienten-Verhältnisse, wie sie auch bei anderen antiken Gruppierungen z. B. den Kelten belegt sind.47 Der gegenwärtig bedeutendste Beitrag der frühmittelalterlichen Gräberarchäologie bezieht sich auf den vielfach vertretenen germanischen Charakter der Reihengräber selbst. Die Bestattungsweise „Reihengrab“ wird in diesem Sinne als Ausdruck germanischen (Grab-)„Brauchtums“ angesehen und ihre Entstehung auf das Wirken germanischer Traditionen zurückgeführt. Ob der germanische Charakter der Reihengräberfelder tatsächlich wissenschaftlich zu begründen ist, werde ich im zweiten Teil dieser Arbeit ausführlich untersuchen. Vorausgeschickt sei jedoch, dass im Zuge der Dekonstruktion der germanischen Kultur auch der germanische Charakter der Reihengräberfelder bereits in Frage gestellt wurde. Bernhard Jussen äußerte etwa die These, bei den germanischen Reihengräbern handle es sich wohl um ein weiteres überholtes Relikt der Wissenschaftsgeschichte. Dieses werde aus dem Mittelalterbild der Gegenwart ebenso verschwinden, wie

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Vgl. M. B ECHER, Rez. Georg Scheibelreiter, Die barbarische Gesellschaft. Hist. Zeitschr. 272, 2001, 168–170. J.-P. J ACOB /J.-R. M IRBEAU -F AUVIN (Hrsg.), Heergewäte und Gerade: „Les mots et les choses“. Bull. Liaison (Arch. Mérovingienne) 3, 1980, 81–85. – S TEIN , Bevölkerung, 147. H. S TEUER, s.v. Gefolgschaft, Archäologisches. In: RGA2, Bd. 10 (Berlin, New York 1998) 546–554, bes. 546.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ein kultureller Gegensatz?

sich die Wissenschaft zuvor bereits von der germanischen Eigenkirche, der Gefolgschaftstreue, dem germanischen Formalismus etc. verabschiedet habe.48 Obwohl Jussen seine provokante These an durchaus prominenter Stelle vorgetragen hat, ließen sich die Befürworter des germanischen Charakters der Reihengräber bislang nicht zu einer Reaktion hinreißen. Im letzten Teil meiner Arbeit werde ich auf diese Frage zurückkommen.

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J USSEN , Bischofsherrschaften, 698 f.

Begriffliche Grundlagen: Nationalität, Volkstum, Ethnizität

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7. „Germanen“ und „Romanen“: Ethnische Gruppen im Merowingerreich? Der terminologische Wandel von „Nationalität“ über „Volkstum“ zu „Ethnizität“ im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts ist im Rahmen dieser Arbeit von besonderem Interesse. Er entspricht einer Entwicklung von Volksvorstellungen, die die Grundlage für die verschiedenen ethnischen Interpretationen der Archäologie des frühen Mittelalters bilden. Obwohl zwischen den Begriffen „Nationalität“, „Volkstum“ und „Ethnizität“ beträchtliche inhaltliche Überschneidungen bestehen, sind sie nicht austauschbar. Die Konjunktur der verschiedenen Begriffe spiegelt vielmehr einerseits eine jeweils veränderte Einschätzung der zugrunde liegenden Konzepte in Wissenschaft und Gesellschaft wider; andererseits legen die partiellen inhaltlichen Überschneidungen zwischen den Begriffen auch eine gewisse Kontinuität nahe. Ausgehend von diesen Begriffen möchte ich zunächst kursorisch die Frage von Kontinuität und Wandel des Konzepts des „Volkes“ skizzieren, bevor ich mich der Frage zuwende, ob Germanen bzw. die verschiedenen germanischen Stämme einerseits und die „Romanen“ andererseits tatsächlich unterschiedliche ethnische Gruppen innerhalb des Merowingerreiches bildeten.

a) Begriffliche Grundlagen: Nationalität, Volkstum, Ethnizität Das Wortfeld „Ethnien“, „Ethnizität“, „ethnisch“ ist gegenwärtig ein selbstverständlicher Bestandteil unserer sozialen, politischen und wissenschaftlichen Sprache. Seine erstaunliche Konjunktur reicht jedoch erst wenige Jahrzehnte, bis etwa in die 1960er Jahre, zurück. Das Interesse an entsprechenden Fragestellungen ist hingegen wesentlich älter.1 Spätestens durch die nationale Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts wurden „Nation“, „Nationalität“ und „national“ in Europa zu zentralen Kategorien historischen Denkens. In der deutschsprachigen Wissenschaftstradi1

H. S CHULZE , Staat und Nation in der europäischen Geschichte (2München 1995) 108 ff.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ethnische Gruppen im Merowingerreich?

tion verlor der Nationsbegriff seit dem späten 19. Jahrhundert zeitweilig gegenüber „Volk“, „Volkstum“ und „völkisch“ an Bedeutung; die Jahrzehnte vom Beginn des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs stellten den Höhepunkt der Verwendung dieser Begriffe dar. In der frühmittelalterlichen Gräberarchäologie wird gegenwärtig ganz überwiegend der Begriff „Ethnizität“ verwendet. Allerdings ist der Begriff des „Volkstums“ auch in neueren Texten durchaus gebräuchlich.2 Da das „Volkstum“ im Allgemeinen in den letzten beiden Jahrzehnten aus der wissenschaftlichen Sprache verschwunden ist, dürfte es sich bei der Frühmittelalterarchäologie um eines der letzten Refugien dieses Ausdrucks handeln. Im Vergleich dazu ist von „Nationalität“ in neueren archäologischen Texten selten die Rede; gänzlich ungebräuchlich ist dieser Ausdruck aber nicht.3 Alle drei fraglichen Konzepte werden gegenwärtig für das frühe Mittelalter mit einer gewissen Skepsis betrachtet. Mitunter versuchte man deshalb, den Schwierigkeiten beim Umgang mit diesen Begriffen zu begegnen, indem auf den vermeintlich objektiveren Quellenbegriff „gens“ bzw. das davon abgeleitete Attribut „gentil“ ausgewichen wurde. Ob dadurch Abhilfe geschaffen werden kann, ist zweifelhaft. Arnold Angenendt formulierte in diesem Zusammenhang pointiert, das Fremdwort „gentil“ werde lediglich verwendet, um nicht das diskreditierte Adjektiv „völkisch“ benutzen zu müssen.4 Nation, Nationalität, national Die Geschichte des Nationalstaatsgedankens bzw. des Nationalismus gehört in den letzten drei Jahrzehnten zu den am häufigsten untersuchten Forschungsfeldern in den kulturwissenschaftlichen Fächern. Entsprechend umfangreich ist mittlerweile die Literatur zu dieser Frage.5 Für den hier be2

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Vgl. z. B.: B IERBRAUER, Siedelgebiet, 113: „romanisches Volkstum“. – A MENT , Franken, 391: „germanisches Volkstum“. – K OCH , Bügelfibeln, 565 passim: „germanisches Volkstum“, „Volkstumsverhältnisse“. – P IRLING , Gelduba, 641: „fremdes Volkstum“. Vgl. z. B. A MENT , Franken, 395: „Germanisch-fränkische Nationalität“. A. A NGENENDT , Mission und Christianisierung im Frühmittelalter. In: W. Berschin/D. Geuenich/H. Steuer (Hrsg.), Mission und Christianisierung am Hochrhein. (6. – 8. Jahrhundert). Freiburger Forsch. Arch. u. Gesch. d. Ersten Jahrtausends 10 (Stuttgart 2000) 11–21, hier 12. Zur Geschichte des Nationalstaatsgedankens vgl. z. B. H.-U. W EHLER, Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen (München 2001). – S CHULZE , Nation (wie Anm. 1). – E. H OBSBAWN , Nation und Nationalismus: Mythos und Realität seit 1780 (München

Begriffliche Grundlagen: Nationalität, Volkstum, Ethnizität

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handelten Zusammenhang genügen wenige Kernpunkte: Die Geschichte des Nationsbegriffs reicht, wie bereits erwähnt, bis in das Mittelalter zurück.6 Wie ich an anderer Stelle erläutern werde,7 hat die natio des frühen Mittelalters aber mit der spätmittelalterlichen oder gar der modernen Nation nur wenig gemein. Hinsichtlich des modernen Nationsbegriffs besteht Einigkeit darin, dass in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Vorstellung der Nation allmählich eine neue Qualität gewann. Die Anfänge dieses neuen Nationsbegriffs werden mit dem Beginn des modernen Nationalismus gleichgesetzt. Umstritten ist gegenwärtig, welcher Zusammenhang zwischen dem modernen Nationalismus und den Vorläufern der modernen Nationen im Mittelalter und der frühen Neuzeit bestand. Im Gefolge von Benedict Anderson plädiert ein Teil der Forschung dafür, den Nationsbegriff allein für neuzeitliche Phänomene zu reservieren; ältere nationale Traditionen seien dagegen lediglich „erfunden“ worden.8 Gegen diese Position wurde sicher nicht zu unrecht auf Vorformen der europäischen Nationalstaaten verwiesen.9 Ungeachtet dieser Debatte um die verschiedenen Erscheinungsformen des Nationalismus10 besteht über bestimmte grundlegende Züge des modernen Nationsbegriffs mittlerweile ein Konsens. Vor allem setzte sich innerhalb der letzten beiden Jahrzehnte eine neue Auffassung durch, was unter einer Nation zu verstehen sei: In Fortschreibung des modernen Nationsbegriffs war die Forschung bis Anfang der 1980er Jahre überwiegend davon ausgegangen, dass es sich bei Nationen um quasi-natürliche Einheiten der europäischen Geschichte handele. Die Wurzeln der europäischen

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1996). – B. A NDERSON , Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts (Frankfurt/Main, New York 1996). – Zur Geschichte des Nationalstaatsgedankens in Deutschland vgl. etwa J. E CHTERNKAMP /S. O. M ÜLLER (Hrsg.), Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760–1960 (München 2002). – D. L ANGEWIESCHE , Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa (München 2000). – J. E CHTERNKAMP, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840) (Frankfurt/Main 1998). Wie Anm. 1. Siehe unten Kap. 7d. A NDERSON , Erfindung (wie Anm. 5). J. E HLERS, Erfundene Traditionen? Zum Verhältnis von Nationsbildung und Ethnogenese im deutschen und französischen Mittelalter. In: H. Beck u. a. (Hrsg.), Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen. Ergbde. RGA 34 (Berlin, New York 2004) 131–162. Vgl. dazu U. P LANERT , Wann beginnt der „moderne“ deutsche Nationalismus? Plädoyer für eine nationale Sattelzeit. In: Echternkamp/Müller, Nation (wie Anm. 5) 25–59.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ethnische Gruppen im Merowingerreich?

Nationen reichten demnach teils bis in die Völkerwanderungszeit, mindestens aber bis ins Mittelalter zurück. Bei „Nationen“ handele es sich um historische Einheiten, die über viele Jahrhunderte hinweg in ihrem Wesenskern unverändert existierten, auch wenn sie in den zeitgenössischen Schriftquellen nicht nachgewiesen werden könnten. Durch bestimmte, nicht näher zu definierende Prozesse würden „schlummernde“ Nationen „erweckt“ oder erwachten zu neuem Leben. Ziel der Nation sei dann, in einem Staat vereinigt zu werden. Gleichzeitig brächte die Nation ein gemeinsames Ideen- und Wertesystem hervor, das sie von anderen Nationen unverwechselbar unterscheide.11 Von diesem Konzept der Nation hat sich die Forschung in den letzten beiden Dekaden vollständig gelöst. Stattdessen setzte sich eine konstruktivistische Auffassung der Nation durch. Ähnlich wie im Falle des Volkes, anhand dessen ich auf den Gegensatz von Konstruktivismus und Essentialismus noch näher eingehen werde, ist die Nation demnach keine tatsächlich vorhandene essentielle Einheit, sondern eine Idee, eine „‚gedachte Ordnung‘, die unter Rückgriff auf die Traditionen eines ethnischen Herrschaftsverbandes entwickelt “ wurde.12 Für die hier behandelte Fragestellung ist zudem die Unterscheidung von „Volk“ und „Nation“ im Deutschen von Belang. Im Gefolge der Französischen Revolution wurden beide anfangs weitgehend synonym verwendet,13 wobei „Nation“ und „Nationalität“ eindeutig gebräuchlicher waren. „Volk“ und „Nation“ blieben auch während des 19. Jahrhunderts weitgehend austauschbar. Den Begriff „Volkstum“ erfand Friedrich Ludwig Jahn in seinem 1810 erschienenen Werk „Deutsches Volksthum“14 als Verdeutschung für „Nationalität“. Der semantische Unterschied zwischen „Volkstum“ und „Nationalität“, der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte, hat seine Wurzeln in der antagonistischen Unterscheidung von „Staatsnation“ und „Volksnation“. Auch bei dieser Differenzierung handelte es sich weitgehend um ein Spezifikum des deutschen Sprachraums. In diesem Sinne wurde „Nation“ vor allem auf ein politisches Gebilde, den „Staat“, bezogen. Ihre Existenz verdanke sie einem politischen Willensakt, wohingegen „Völker“ als vorpolitische und außerstaatliche Einheiten imaginiert wurden.15 Da den barbarischen Nachfolgestaaten des Römischen Reiches al11 12 13 14 15

W EHLER, Nationalismus (wie Anm. 5) 7 f. W EHLER, Nationalismus (wie Anm. 5) 13. G SCHNITZER U. A ., Volk, 325 ff. F. L. J AHN , Deutsches Volksthum (Berlin 1810). G SCHNITZER U. A ., Volk, 405 f.

Begriffliche Grundlagen: Nationalität, Volkstum, Ethnizität

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lenfalls eine rudimentäre Staatlichkeit zugestanden wurde, verdrängte das Modell des „germanischen Volkes“, das in einzelne Stämme gegliedert war, im 19. Jahrhundert weitgehend die ältere Vorstellung einer „fränkischen Nation“. In der Mittelalter-Geschichtsforschung wird der Nationsbegriff gegenwärtig vor allem als Bezeichnung für die hoch- und spätmittelalterlichen Nationen verwendet – zum Beispiel die deutsche oder französische –, deren Wurzeln maximal bis in die späte Karolingerzeit zurückreichen.16 Dieser mittelalterliche und frühneuzeitliche Nationsbegriff wird von dem der Moderne unterschieden, der erst in der Folge der Französischen Revolution entstand.17 Für die Erforschung der Merowingerzeit spielte der Nationsbegriff während des 20. Jahrhunderts im Gegensatz zum 19. Jahrhundert kaum eine Rolle. Erst in jüngster Zeit wurde er auch für das frühe Mittelalter wieder ins Gespräch gebracht. In bewusster Abgrenzung zur geläufigen Vorstellung der Franken als germanischem „Stamm“ benutzte etwa Franz Staab jüngst den Begriff der „fränkischen Nation“.18 Volk, Volkstum, völkisch Die Entwicklung des Konzepts des „Volkes“ in der Tradition Johann Gottfried Herders wurde bereits in Zusammenhang mit der Frage eines Antagonismuses zwischen „römischer Antike“ und „germanischem Mittelalter“ angesprochen.19 Während Herder ein „Volk“ noch als quasi metaphysische Einheit, als Manifestation eines „Volksgeists“ betrachtete, wurde es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend als kulturelle und biologische Ganzheit, als Organismus aufgefasst, der sich durch ein gemeinsames „Volkstum“ auszeichne.20 Was dieses „Volkstum“ letztlich ausmache, blieb aber von Anfang an unscharf. Friedrich Ludwig Jahn definierte es als „das gemeinsame des volks, sein innewohnendes wesen, sein regen und leben“.21 Zur Beschreibung der Substanz des Volkstums griff Jahn auf mystifizierende For-

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Vgl. EHLERS, Traditionen (wie Anm. 9). J. E HLERS, Nation und Geschichte. Anmerkungen zu einem Versuch. In: Ders., Ausgewählte Aufsätze. Berliner Hist. Stud. 21 (Berlin 1996) 433–447, hier 433. F. S TAAB, Die Franken – Wegbereiter Europas. In: Die Franken, 10–22. Kap. 3a. G SCHNITZER U. A ., Volk, 407. S CHMITZ -B ERNING , Vokabular, 675.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ethnische Gruppen im Merowingerreich?

meln zurück: Es sei das „unnennbare Etwas“, das „Ungenannte“, das im Leben eines Volkes immer wieder zu Tage träte.22 Anders als die „Nationalität“ war das „Volkstum“ kein kulturübergreifendes Konzept. Bereits bei Jahn war eine enge Verbindung zur deutschen Nationalbewegung angelegt. „Volkstümlichkeit“ war weitgehend identisch mit „Deutschheit“.23 Insbesondere innerhalb der von Jahn begründeten Turnerbewegung wurde „Volkstum“ zum hasserfüllten Schlagwort gegen Frankreich.24 Der volkskundliche Ansatz des 19. Jahrhunderts richtete sich allein auf das deutsche Volkstum. Seine Manifestationen wurden in Volkssitten, Volksbräuchen, Volkstrachten etc. gesucht, welche insgesamt eine einheitliche deutsche Kultur ergäben. Auch als Mittel zur „Nationalerziehung“ war die Erforschung des Volkstums gedacht.25 Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts verdichteten sich die frühen „volkskundlichen“ Ansätze sukzessive zu einer regelrechten „Volksideologie“26 bzw. „Volkstumsideologie“27. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gewann der Volkstumsbegriff verstärkt eine rassistische Konnotation hinzu. In der Weimarer Zeit wurde das Rassedenken allmählich zu einem integralen Bestandteil. Der „Große Brockhaus“ definierte „Volkstum“ 1934 als „Summe aller Lebensäußerungen eines Volkes, das innerlich durch seine Volkheit (gleiche Geistesrichtung und gleiche rassische Zugehörigkeit) verbunden ist.“28 Die archäologische und historische „Volkstumsforschung“ nach dem Ersten Weltkrieg, die im zweiten Teil dieser Arbeit behandelt wird,29 entwi-

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H. B AUSINGER, Volkskunde. Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse (Berlin, Darmstadt 1972) 37. B AUSINGER, Volkskunde (wie Anm. 22) 37. D. L ANGEWIESCHE , ‚Für Volk und Vaterland zu würken …‘. Zur politischen und gesellschaftlichen Rolle der Turner zwischen 1811 und 1871. In: Ders., Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa (Berlin 2000) 103–131, hier 105 ff. K. D. S IEVERS, Fragestellungen der Volkskunde im 19. Jahrhundert. In: R. W. Brednich (Hrsg.), Grundriss der Volkskunde (2Berlin 1994) 31–50, hier 39. H. B AUSINGER, Volksideologie und Volksforschung. Zeitschr. Volkskde 61, 1965, 177–204. W. E MMERICH , Germanistische Volkstumsideologie. Volksleben 20 (Tübingen 1968). – D ERS., Zur Krititik der Volkstumsideologie (Frankfurt/Main 1971). – Zur Kritik an der marxistischen Herleitung der Volkstumsideologie bei Emmerich vgl. K. V. S EE , Die Ideen von 1789 und die Ideen von 1914. Völkisches Denken in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg (Frankfurt/ Main 1975) bes. 8–12. Der Große Brockhaus, Bd. 19 (15Leipzig 1934) 666. Vgl. Kap. 11c und 12.

Begriffliche Grundlagen: Nationalität, Volkstum, Ethnizität

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ckelte somit Ansätze, die bereits während des 19. Jahrhunderts entstanden waren. Die Konjunktur des Volkstumsbegriffs nach 1918 drückte sich auch in der Bildung zahlreicher Komposita wie „Volkstumspflege“, „Volkstumsinsel“, „Volkstumskampf“, „Volkstumsschäden [sic!]“ etc. aus. Höhepunkt der politischen Instrumentalisierung des Volkstumsbegriffs war die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur. „Volkstum“ wurde zur juristisch relevanten Kategorie. Mit seiner Hilfe unterschied man zwischen „Staatsangehörigkeit“ und „Volkszugehörigkeit“. Während die erste durch Geburt, Heirat oder Einbürgerung erworben werden konnte, beruhte die Zugehörigkeit zum deutschen Volk den nationalsozialistischen Juristen zufolge allein auf dem rassisch bestimmten Volkstum.30 Politische Konsequenzen hatte diese Unterscheidung nicht nur im Innern Deutschlands. Während des Zweiten Weltkriegs wurde Volkstum zu einer handlungsleitenden Maxime für die deutsche Besatzungspolitik, insbesondere in Osteuropa. Die „Volkstumspolitik“ beinhaltete die Umsiedlung oder Neuansiedlung sogenannter „Volksdeutscher“ in Osteuropa einerseits, sowie die Deportation und Vernichtung jüdischer und „fremdvölkischer“ Bevölkerungsgruppen andererseits. Wie die historische Forschung in den letzten Jahren deutlich herausarbeiten konnte, war sie einer der auslösenden Faktoren für den nationalsozialistischen Völkermord in Osteuropa.31 In der Nachkriegszeit diskreditierte diese Apokalypse des „Völkischen“ zunehmend das „Volkstum“ als wissenschaftliche Kategorie. Das Wort „Volkstum“, so stellte Hermann Bausinger in diesem Zusammenhang fest, könne wohl niemals von den Jahn’schen Mystifikationen befreit werden.32 In den historischen Wissenschaften, etwa der Geschichtswissenschaft, der Volkskunde oder der Sprachwissenschaft, wurde der Volkstumsbegriff in den letzten drei Jahrzehnten nahezu vollständig fallengelassen. Parallel zu dieser Entwicklung verschwand das „Volkstum“ aus dem allgemeinen Sprachgebrauch. In den großen enzyklopädischen Nachschlagewerken deutscher Sprache wird es gegenwärtig nicht mehr verzeichnet.33

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S CHMITZ -B ERNING , Vokabular, 677. Zum Stand der Diskussion vgl. U. H ERBERT , Vernichtungspolitik. Neue Antworten und Fragen zur Geschichte des „Holocaust“. In: Ders. (Hrsg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939–1945 (Frankfurt 1998) 9–66, bes. 23–26. B AUSINGER, Volkskunde (wie Anm. 22) 37. Weder die Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 23 (20Leipzig, Mannheim 1999) noch Mayers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 24 (9Mannheim, Wien, Zürich 1979) verzeichnen in ihren aktuellen Auflagen das Stichwort „Volkstum“.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ethnische Gruppen im Merowingerreich?

Ethnos, Ethnizität, ethnisch: Essentialismus und Konstruktivismus Der Begriff „Ethnizität“ ist vieldeutiger als der des „Volkstums“. Mitunter werden beide Begriffe synonym verwendet. Allerdings liegen auch Definitionen von „Ethnizität“ vor, die mit dem Volkstumsbegriff unvereinbar sind. Diese Differenz hängt eng zusammen mit der Diskussion um die „essentialistische“ oder „konstruktivistische“ Auffassung von Identität. Stark schematisiert liegt der entscheidende semantische Unterschied zwischen „Volkstum“ und „Ethnizität“ darin, dass „Volkstum“ inhärent essentialistisch ist. „Ethnizität“ wird dagegen teils essentialistisch, teils konstruktivistisch aufgefasst. Die Begriffe „Essentialismus“ und „Konstruktivismus“ beziehen sich in diesem Zusammenhang auf ihre einfachsten, idealtypischen Grundvarianten. Die essentialistische Position behauptet dabei, dass Identität quasi natürlich vorgegeben ist. Jedes Individuum besitzt demnach im Regelfall eine einzige, unteilbare, harmonische und unproblematische Identität. Kollektive Identitäten dieser Ebene beruhen auf einem gemeinsamen „Wesen“ (‚Nationalcharakter‘, ‚Volksgeist‘, ‚Sozialpsyche‘ oder ähnliches) oder einem Set an gemeinsamen Merkmalen, die von allen Mitgliedern einer Identitätsgruppe geteilt werden, und die sie von allen anderen Gruppen unterscheiden. Der Konstruktivismus negiert dagegen die Existenz von wesenhaften Identitäten und geht davon aus, dass Identitäten vielschichtig, flexibel und situativ konstruiert sind.34 Kollektive Identitäten existieren somit nicht wirklich, sondern sind lediglich gedankliche Abstraktionen. Etwas vergröbert und schematisiert könnte man den Unterschied zwischen beiden Varianten des Ethnizitätsbegriffs wie folgt skizzieren: Das Volkstum bzw. der essentialistische Ethnizitätsbegriff geht davon aus, dass Völker bzw. Ethnien tatsächlich existieren. Sie zeichnen sich durch gemeinsame Merkmale, wie Sprache, Kultur, Sitten, Gebräuche und Traditionen etc. aus. Zwar lässt sich kein fester Merkmalskatalog aufstellen, insgesamt können Völker aber anhand solcher Kriterien beschrieben und von anderen Völkern abgegrenzt werden. Einer solchen Auffassung von Ethnizität entspricht bereits die oben zitierte Definition des Volkstums („das gemeinsame des volks, sein innewohnendes wesen, sein regen und leben“) durch Jahn. Sie blieb in der Folge verbindlich. Die konstruktivistische Definition von Ethnizität geht dagegen davon aus, dass Völker nicht wirklich existieren, sondern dass es sich dabei um

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C. C ALHOUN , Social theory and the politics of identity. In: Ders. (Hrsg.), Social theory and the politics of identity (Cambridge 1994) 9–36, hier 13.

Begriffliche Grundlagen: Nationalität, Volkstum, Ethnizität

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„imaginierte Gemeinschaften“35 bzw. „gedachte Ordnungen“ handelt.36 Nicht die Völker existieren, sondern allein die Vorstellung davon. Auch wenn ethnische Identitäten „nur“ sozial „konstruiert“, „imaginiert“ oder „erfunden“ werden, so glauben Mitglieder verschiedenster Ethnien nichtsdestotrotz, dass ihre ethnische Identität primordial und essentiell ist.37 Entsprechende Vorstellungen können deshalb sehr wirkungsmächtig sein, wie die Geschichte des Nationalismus eindrücklich belegt. Als analytisches Konzept ist Ethnizität im konstruktivistischen Sinne keine übergeordnete essentielle Kategorie, sondern ein sozialpsychologisches Phänomen. Ethnizität ist dabei nur eine unter zahlreichen verschiedenen Identitätsebenen eines Individuums.38 Die ethnische Identität ist nicht permanent bewusst, sondern wird nur in bestimmten Situationen vergegenwärtigt.39 Als konstitutives Merkmal der ethnischen Identität gilt vielfach der Glaube an eine gemeinsame Herkunft mit einer bestimmten Personengruppe.40 Die verschiedenen Identitäten eines Individuums werden nur kontextabhängig wirksam. Die ethnische Identität durchdringt nicht unweigerlich alle Lebensbereiche, sondern manifestiert sich nur dann, wenn sie in einem Willensakt zum Ausdruck gebracht werden soll. Neben der bereits beschriebenen politischen Diskreditierung des „Völkischen“ war ein weiterer Grund für den Niedergang des Volkstums als wissenschaftliches Konzept die Tatsache, dass die Existenz von essentialistischen kollektiven Identitäten – und nicht allein der ethnischen – in den letzten beiden Jahrzehnten grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Gleiches gilt, wie bereits erwähnt, für den Nationsbegriff, für den sich im Gefolge 35 36

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A NDERSON , Erfindung (wie Anm. 5). Hans-Ulrich Wehler wies in diesem Zusammenhang hin, dass diese Position weniger eine Innovation der letzten zwei Jahrzehnte sei, als vielmehr die Renaissance der neukantianischen Erkenntnistheorie; letztlich habe bereits Max Weber eine solche Auffassung vertreten vgl. W EHLER, Nationalismus (wie Anm. 5) 9. K. E. M ÜLLER, Ethnicity, Ethnozentrismus und Essentialismus. In: W. Eßbach (Hrsg.), Wir/ihr/sie. Identität und Alterität in Theorie und Methode. Identitäten und Alteritäten 2 (Würzburg 2000) 317–343, hier 327; 338. In Bezug auf das frühe Mittelalter vgl. F. D AIM , Archaeology, ethnicity and the structures of identification: the example of the Avars, Carantanians and Moravians in the eighth century. In: W. Pohl/H. Reimitz (Hrsg.), Strategies of distinction. The construction of ethnic communities 300–800. Transformation of the Roman world 2 (Leiden, Boston, Köln 1998) 71–93, hier 76–78. Für das frühe Mittelalter vgl. P. J. G EARY, Ethnic identity as a situational construct in the Early Middle ages. Mitt. Anthr. Ges. Wien 113, 1983, 15–26. Vgl. z. B. M. W EBER, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie (5Tübingen 1972) 237.

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der Arbeiten Ernest Gellners, Eric Hobsbawns und Benedict Andersons eine konstruktivistische Betrachtungsweise durchsetzte.41 Zumindest verbal werden im Identitätsdiskurs gegenwärtig ganz überwiegend konstruktivistische Positionen vertreten. Die Debatten kreisen vielfach darum, in welchem Maße sich hinter dem konstruktivistischen Vokabular doch noch essentialistische Positionen verbergen oder ob der Begriff der kollektiven Identität nicht ganz fallengelassen werden sollte.42 Die klassische, essentialistische Definition kollektiver Identitäten gilt dagegen als wissenschaftlich überwunden. Die Unterscheidung des konstruktivistischen und des essentialistischen Ethnizitätsbegriffs mag für die ur- und frühgeschichtliche Archäologie auf den ersten Blick belanglos scheinen. Für das Problem der Nachweisbarkeit von Ethnizität in der Archäologie hat sie jedoch gravierende Konsequenzen. Nur auf der Grundlage eines essentialistischen Ethnizitätsbegriffs kann die Frage, ob archäologische „Kulturen“, „Kulturmodelle“, „Formenkreise“ o. ä. ethnische Gruppen widerspiegelten, überhaupt diskutiert werden. Die konstruktivistische Auffassung von Ethnizität verneint dagegen die Prämisse, dass Ethnien zwangsläufig eine – wie auch immer geartete – gemeinsame „Kultur“ hervorbringen müssen. Auch auf der Grundlage des konstruktivistischen Ethnizitätsbegriffs ist keineswegs sichergestellt, dass Ethnizität zu einem fruchtbaren Forschungsfeld für die Archäologie gemacht werden kann.43 Von diesem ausgehend müsste in der Archäologie jeweils wahrscheinlich gemacht werden, dass bei einer Handlung, die archäologisch erkennbare Spuren hinterlassen hat, bewusst eine ethnische Identität zum Ausdruck gebracht werden sollte. Dies kann jedoch nur anhand zusätzlicher, außerarchäologischer Informationen wahrscheinlich gemacht werden. Grundsätzlich kommen viele archäologisch erkennbare Merkmale als Medien zum Ausdruck von Ethnizität (‚ethnische Marker‘) in Frage. Ob, und wenn ja, welche Merkmale tatsächlich als ethnische Marker verwendet wurden, kann aus den Artefakten und Befunden selbst nicht erschlossen werden. In diesem Sinne plädierte vor wenigen Jahren Frank Siegmund für einen konstruktivistischen Ethnizitätsbegriff in der frühmittelalterlichen Gräberarchäologie. Siegmund wies darauf hin, dass sich die Frage der Ethnizität in der Ur- und Frühgeschichte auf jene Bereiche konzentrieren solle, in denen 41 42

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W EHLER, Nationalismus, 8–10. Vgl. etwa R. B RUBAKER /F. C OOPER, Beyond identity. Theory and society 29, 2000, 1–47. – M ÜLLER, Ethnicity (wie Anm. 37). – L. N IETHAMMER, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur (Reinbek 2000). B RATHER, Identitäten, bes. 171 f.

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sich soziales Verhalten, identitätsstiftende Merkmale, Ereignisse oder Handlungen archäologisch beobachten lassen. Letztlich schätzt er das diesbezügliche Potential der Archäologie aber eher gering ein.44 In sprachlogischer Hinsicht könnte man den Unterschied zwischen essentialistischer und kontruktivistischer Auffassung von Ethnizität abschließend so zusammenfassen: Aus essentialistischer Sicht ist die Aussage „Diese Fibel ist germanisch“ legitim. Fibeln könnten durchaus die Manifestation einer objektiv vorhandenen „germanischen“ „Kultur“ oder „Identität“ sein. Auf der Grundlage der konstruktivistischen Identitätskonzeption erscheint dieser Satz dagegen etwa so sinnvoll wie die Aussage, eine Fibel fahre gerne Fahrrad oder leide an Zahnschmerzen. Nur Menschen und Menschengruppen, ihre Handlungen und Äußerungen können letztlich ein adäquater Gegenstand für eine wissenschaftliche Diskussion um Ethnizität sein, nicht aber Artefakte, die über kein Bewusstsein verfügen.

b) Umvolkung und Volkwerdung: Zur Herleitung des Ethnogenesebegriffs Als Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Konjunktur des Ethnosbegriffs seit den 1970er Jahren wird retrospektiv häufig die Publikation des Sammelbandes „Ethnic groups and boundaries“ genannt, der vom norwegischen Ethnologen Fredrik Barth herausgegeben wurde.45 Dies ist für die Frühmittelalterarchäologie allerdings ebenso ungenau wie für die Ethnizitätsforschung insgesamt.46 Die partielle Dependenz des Ethnizitätskonzepts von älteren Volkstums- und Nationsvorstellungen wurde bereits angedeutet. Für die frühmittelalterliche Archäologie war die Ethnizitätsdebatte in der Mediävistik ungleich bedeutsamer als die direkte Beeinflussung durch den entsprechenden Diskurs in der Ethnologie. Die historische Frühmittelalterforschung stützte sich dagegen vor allem auf noch ältere Ethnizitäts- bzw. Volktumskonzepte der Ethnologie. Insbesondere die Theorien zur „Ethnogenese“ des Ethnosoziologen Wilhelm Emil Mühlmann übten auf diesem Weg großen Einfluss auf die Frühmittelalterarchäologie aus.

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S IEGMUND , Alemannen, 83. S IEGMUND , Alemannen, 46 f. – F. B ARTH (Hrsg.), Ethnic groups and boundaries. The social organization of culture difference (Bergen 1969). H EINZ , Ethnizität, 125.

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Deutlich wird dieser bis heute nachwirkende Zusammenhang etwa in der Ende der 1990er Jahre erschienenen Studie von Alexander Koch zu den merowingerzeitlichen Bügelfibeln des westfränkischen Gebiets, in der Koch zur Erläuterung seines Ethnosbegriffs auf eine Definition Mühlmanns verwies:47 „Volkstum ist niemals naturgegebene Tatsache, sondern stets politische Leistung“.48 Die hier dokumentierte Gleichsetzung von „Volkstum“ und „Ethnizität“ ist nicht zufällig, sondern auf eine für diese Untersuchung bedeutsame Etappe der Wissenschaftsgeschichte zurückzuführen. Sie soll deshalb als Ausgangspunkt für die folgenden Erläuterungen dienen. Auf den ersten Blick erscheint Mühlmanns Volkstumsdefinition etwas kryptisch. Ihre Bedeutung lässt sich jedoch aus dem Kontext ihrer Entstehung erschließen. Sie findet sich im gleichen Wortlaut bereits in der 1948 erschienenen ersten Auflage von Mühlmanns „Geschichte der Anthropologie“,49 die nach Mühlmanns Angaben bereits in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs entstanden ist.50 Als Begründer der Ethnosoziologie beschäftigte sich Wilhelm Emil Mühlmann bis ins hohe Alter mit Fragen der Ethnizität und Ethnogenese.51 Sein Einfluss auf die Ethnostheorien innerhalb der mittelalterlichen Geschichtsforschung rührt unter anderem daher, dass seine frühen Arbeiten zur Ethnizität das theoretische Fundament für Reinhard Wenskus’ bekannte Arbeit über Stammesbildung und Verfassung der frühmittelalterlichen Gentes bildeten.52 Für die Entwicklung des Ethnogenesekonzepts war der Einfluss Mühlmanns wesentlich bedeutender als das Vorbild der „Neuen Schule“ der deutschen Rechtsgeschichte der 1930er Jahre oder der Kontinuitätstheorie Otto Höflers, die Alexander Murray in diesem Zusammenhang hervorhob.53 47 48 49

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K OCH , Bügelfibeln, 570 Anm. 23. – Vgl. dazu Kap. 16a. W. E. M ÜHLMANN , Geschichte der Anthropologie (3Frankfurt, Bonn 1984) 235. W. E. M ÜHLMANN , Geschichte der Anthropologie (Bonn 1948) 236f: „Volkstum ist niemals naturgegebene Tatsache, sondern stets politische Leistung, also Willensschöpfung; dies gilt bereits für den Klan, erst recht für entwickeltere Phasen ethnischer Einheiten.“ M ÜHLMANN , 3Geschichte (wie Anm. 48) 11. – M ÜHLMANN , Geschichte (wie Anm. 49) 6. Etwa W. E. M ÜHLMANN , Ethnogonie und Ethnogenese. Theoretisch-ethnologische und ideologiekritische Studie. In: Studien zur Ethnogenese. Abhandl. Rhein.-Westf. Akad. Wiss. 72 (Opladen 1985) 9–23. P OHL , Ethnogenese, 11. – R. W ENSKUS, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes (Köln 1961) bes. 2; 5–9. A. C. M URRAY, Reinhard Wenskus on ‚ethnogenesis‘, ethnicity, and the origin of the Franks. In: A. Gillet (Hrsg.), On Barbarian identity. Critical approaches to ethnicity in the Early Middle Ages (Turnhout 2002) 39–68, hier 53 ff.

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Wenskus „Stammesbildung und Verfassung“ nimmt in der deutschsprachigen Tradition der Frühmittelalterforschung bis heute einen überragenden Platz ein. Das Erscheinen dieses Buches wird retrospektiv vielfach als grundlegender Bruch und Neuanfang in der deutschsprachigen Frühgeschichtsforschung gewertet. Mitunter wird gewissermaßen der Eindruck erweckt, als habe die deutschsprachige Frühmittelalterforschung im Gefolge der Publikation von „Stammesbildung und Verfassung“ gleichsam eine kollektive Katharsis durchlaufen, die einen unbefangenen Umgang mit „Germanen“ und „Ethnizität“ wieder ermöglichte.54 Bei näherer Betrachtung knüpfte Wenskus jedoch an Traditionen an, die einige Jahrzehnte zurückreichen. Diese haben ihre Wurzeln in den Volkstheorien der „Konservativen Revolution“ während der 1920er und 1930er Jahre. Für die Rezeption dieser Volkskonzepte in der Mediävistik stellte die Ethnosoziologie Mühlmanns die entscheidende Etappe dar. Mühlmanns Interesse an der Ethnostheorie entwickelte sich nach eigenen Angaben unter anderem aus seinen Beobachtungen über Phänomene der „Umvolkung“ bzw. des „Volkstumswechsels“ in Osteuropa.55 Nachdem er sich zunächst mit Anthropologie, Eugenik und Rassenkunde beschäftigt hatte, wurde Mühlmann Mitte der 1930er Jahre gemeinsam mit Richard Thurnwald zum Hauptvertreter der funktionalistischen Richtung der deutschsprachigen Ethnologie. Anders als die rivalisierende „Kulturkreislehre“, die bei ihren Arbeiten von einem statischen, historistischen Kulturbegriff ausging, legte die funktionalistische Schule ihren Arbeitsschwerpunkt auf den Kulturwandel und dessen soziale Bedingungen.56 Parallel dazu richtete Mühlmann sein Forschungsinteresse zunehmend auf die Völker Osteuropas, an deren Erforschung während der 1930er und frühen 1940er Jahre ein größeres politisches Interesse bestand als an den traditionellen ethnologischen Forschungsfeldern in Übersee.57 Seine diesbezüglichen Theorien zu „Umvolkung“, „Assimilation“ und „Volkwerdung“ entwickelte Mühlmann vor allem ab 1942, nachdem er für 54

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Vgl. z. B: H. W OLFRAM , Die Germanen (München 1995) 10 f. – G. D OBSCH , Das 3. und 4. Jahrhundert n. Chr. als Zeit einer politischen Krise im Barbaricum. In: J. Tejral (Hrsg.), Das mitteleuropäische Barbaricum und die Krise des römischen Weltreiches im 3. Jahrhundert. Spisy Archeologického Ústavu AV CR Brno 12 (Brünn 1999) 7–18, hier 11. M ÜHLMANN , Ethnogonie (wie Anm. 51) 10. U. M ICHEL , Wilhelm Emil Mühlmann (1904–1988) – ein deutscher Professor. Amnesie und Amnestie: Zum Verhältnis von Ethnologie und Politik im Nationalsozialismus. Jahrb. f. Soziologiegesch. 1991, 69–117, hier 72–74. M ICHEL , Mühlmann (wie Anm. 56) 81.

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seine wissenschaftlichen Forschungen vom Militärdienst freigestellt worden war.58 In seinen Publikationen aus dieser Zeit betonte er, dass sich aus ihnen keine unmittelbaren praktischen Schlüsse für die Volkstumspolitik ableiten ließen, sondern zunächst allein die Problemlage geklärt werden solle.59 Es handelte sich demnach wohl um keinen Zufall, dass Mühlmann seine ersten Ergebnisse unter anderem in dem Sammelband „Volkwerdung und Volkstumswandel“ publizierte, der von Karl Christian von Loesch, dem langjährigen Präsidenten des „Deutschen Schutzbundes für das Grenzund Auslandsdeutschtum“ herausgegeben wurde. Bereits 1925 hatte Loesch in einer Publikation des „Deutschen Schutzbundes“ gefordert, die Gesetzmäßigkeiten der Assimilations- und Umvolkungsvorgänge wissenschaftlich zu erforschen.60 In Auseinandersetzung mit älteren Volkstumsvorstellungen, die mit aller Macht die Kontinuität eines im Kern unwandelbaren Volkstums aufzuzeigen versuchten – „Kontinuität“ und „Gemeinschaft“ waren seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Leitvorstellungen des Stammesbegriffs gewesen61 –, behauptete Mühlmann, die statische und starre Auffassung ethnischer Einheiten sei unhaltbar. Stattdessen plädierte er für einen dynamischen Volksbegriff.62 Die Kontinuität der Völkernamen gaukele oftmals eine Kontinuität der Völker vor, während sich diese durch historische Prozesse, wie der Aufnahme neuer Bevölkerungsgruppen, laufend und mitunter radikal veränderten. Aus diesem Grund sei es nötig, hinter die suggestiven „Völkernamen“ zu blicken und „volksgeschichtliche Aufbauvorgänge“ zu untersuchen.63 In seiner dynamischen Volkstheorie unterschied Mühlmann verschiedene „ethnische Reifegrade“. Während bestimmte Gruppen, wie Deutsche, Italiener oder Japaner einen „hochvolklichen“ Zustand erreicht hätten, befänden sich manche ethnische Gemeinschaften in einem „ethnischen Schwebezu-

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W. E. M ÜHLMANN , Umvolkung und Volkwerdung. Deutsche Arbeit 42, 1942, 287–297. – D ERS., Umvolkung und Volkwerdung. In: K. v. Loesch (Hrsg.), Volkwerdung und Volkstumswandel. Volktumskundliche Unters. d. Inst. f. Grenz- u. Auslandsstud. z. Europäischen Problem, 2. F. (Leipzig 1943) 153–180. – D ERS., Assimilation, Umvolkung und Volkwerdung. Ein globaler Überblick und ein Programm (Stuttgart 1944). M ÜHLMANN , Umvolkung 1943 (wie Anm. 58) 69 K. V. L OESCH , Eingedeutschte, Entdeutschte und Renegaten. In: Ders. (Hrsg.), Volk unter Völkern. Bücher d. Deutschtums 1 (Breslau 1925) 213–241, hier 213. – Vgl. auch H AAR, Historiker, 78. B AUSINGER, Volkskunde (wie Anm. 22) 107. M ÜHLMANN , Umvolkung 1942 (wie Anm. 58) 295. M ÜHLMANN , Umvolkung 1942 (wie Anm. 58) 287 f.

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stand “. Dieses „schwebende Volkstum“64 setzte sich einerseits aus Gruppen zusammen, die an Volkstumsgrenzen großem „Umvolkungsdruck“ ausgesetzt seien („zwischen zwei Feuer geraten sind “), andererseits aus „Wurzellosen oder Entwurzelten (Juden, Zigeuner), des aus allen ethnischen Gemeinschaften sich immer wieder aussiebenden Bodensatzes der Vaganten, Landstreicher, Gauner, „jenischen Leuten“ usw., deren soziologischer Zusammenhang mit Juden und Zigeunern mehrfach geklärt werden konnte.“65 Die Bildung größerer ethnischer Gruppen, die „Volkwerdung“, erfolge nach Mühlmann im Wesentlichen durch „Umvolkungsvorgänge“. Die Ausgangslage ist ein „ethnisches Gefälle“ zwischen einem „aktiven Volkstum“, das kulturell, demographisch und politisch überlegen sei, und einem unterlegenen, „leidenden Volkstum“. Entscheidend ist dabei die politische Komponente: „Es gibt keine Volkwerdung ohne politisches Wachstum, aber nicht jedes politische Wachstum führt zur Volkwerdung“.66 Die Assimilationsvorgänge zwischen diesen beiden Gruppen verlaufen Mühlmann zufolge nach dem Muster: Dem, der hat, werde gegeben und dem, der nicht hat, werde das letzte noch genommen. Das aktive Volkstum vermehre sich durch „Auslese“, d. h. es „saugt aus den leidenden Gruppen gerade die assimilationstüchtigsten Elemente heraus und drängt den Rest in ungünstige Lebensräume. Das leidende Volkstum wird relativ ausgemerzt, durch den Verlust seiner aktiven Erblinien primitivisiert und in die Rückzugsgebiete abgeschoben.“ Mühlmann zufolge verläuft der Prozess der Umvolkung gemäß geopolitischen und strategischen Gesetzen: Wie das Ziel des Krieges die Vernichtung des Gegners ist, so das der Umvolkung die ethnische Auslöschung. Der subjektive Volkstumswechsel unter der Wucht des fremd-ethnischen Gefälles entspricht dem Überlaufen zum Feinde. Das siedlungsgeographische Bild des Umvolkungsdruckes entspricht nicht selten dem strategischen Bild von Durchbruch und Umfassung. Das leidende Ethnos bildet kleine und kleinste Volkstumsinseln, die immer mehr eingekesselt werden und schließlich ganz in der Flut des stärkeren Ethnos untergehen. Bei planmäßiger Umvolkung kann die zerstückelnde Umsiedlung mit dem Zweck, leicht zerschlagbare Einheiten zu schaffen, ein ähnliches Bild ergeben. Die der Vernichtung entgangenen Reste flüchten in die Rückzugsgebiete (Urwälder, Sümpfe, Plateaus, unwegsame Gebirgstäler), deren „festungsartigen“ Charakter die Anthropogeographie oft betont und charakterisiert hat. Schließlich fallen auch diese „Horste“ der aktiven Menschheit zum Opfer.67

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Dieser Begriff war kurz zuvor neu geprägt worden: Vgl. R. B ECK , Schwebendes Volkstum im Gesinnungswandel. Eine sozialpsychologische Untersuchung. Schriftenr. d. Stadt d. Auslandsdeutschen 1 (Stuttgart 1938). M ÜHLMANN , Umvolkung 1942 (wie Anm. 58) 293 f. M ÜHLMANN , Umvolkung 1942 (wie Anm. 58) 295. M ÜHLMANN , Umvolkung 1942 (wie Anm. 58) 296.

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In den Fortentwicklungen seiner Theorie, die Mühlmann in der Nachkriegszeit veröffentlichte, verwendete er allmählich eine zurückhaltendere Diktion, ohne jedoch ihre Ursprünge zu verleugnen. Den Begriff der „Umvolkung“ ließ er zugunsten der „Assimilation“ fallen,68 nachdem er ihn zwischenzeitig durch „Umnationalisierung“ ersetzt hatte; „umnationalisierend“ sei gleichbedeutend mit „assimilativ“.69 Vor 1945 war für ihn die „Assimilation“ noch ein Sonderfall der Umvolkung gewesen, nämlich die „Umvolkung bei geringer Rassenspanne“.70 Seine „soziologischvolkstumsgeschichtliche“71 Theorie wurde zur „Ethnosoziologie“. Analog zum Begriffswandel „Umvolkung – Assimilation“ ersetzte Mühlmann zunehmend „Volkwerdung“ durch „Ethnogenese“. In der historischen Literatur wurde der Begriff der „Volkwerdung“ vereinzelt noch bis in die 1970er Jahre verwendet.72 In jüngster Zeit findet er sich erneut als Übersetzung für die Ethnogenese.73 Der Begriff der „Volkwerdung“ entstand in der Weimarer Zeit, wo er im Kontext der Utopie von der „völkischen Wiedergeburt“ anzusiedeln ist. Auch die Nationalsozialisten gebrauchten ihn gerne. Besonders im Jahr 1933 gehörte es zu den geläufigen politischen Schlagworten.74 Den Nationalsozialisten galt vor allem die sogenannte „Machtergreifung“ retrospektiv als entscheidende Etappe der „Volkwerdung“ der Deutschen.75 „Volkwerdung ist der durchgehende, der aufsteigende Sinn der deutschen Geschichte, soweit wir von seiner solchen überhaupt wissen. Volkwerdung bezeichnet den Schicksalsweg des Deutschtums“ verkündete der programmatische Einleitungsartikel der Zeitschrift „Volk im Werden“, die 1933 erstmals erschien.76 In einem Beitrag Joseph Goebbels über die „nationalsozialistische Revolution“ hieß es: 68

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Vgl. etwa: W. E. M ÜHLMANN , Über gestaffelte Assimilation. Forsch. u. Fortschritte 25, 1949, 12–16. – D ERS., Ethnische Aufstiegsassimilation und Rassenwandel. Ein Problemkreis der Rassenbiologie und Sozialanthropologie. Homo 1, 1949/50, 123–136. W. E. M ÜHLMANN , Ethnische Assimilation und Ethnogenese. In: Akten des 15. Internationalen Soziologenkongresses, Istanbul 1952 (Meisenheim 1954) 175–180, hier 176. M ICHEL , Mühlmann (wie Anm. 56) 96. M ÜHLMANN , Ethnogenese (wie Anm. 69) 176. Vgl. z. B. E. Z ÖLLNER, Geschichte der Franken bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts (München 1970) 4. Vgl. etwa E. K ÜNZL , Die Germanen. Theiss Wissen kompakt (Stuttgart 2006) 11. – G. K AMPERS, Geschichte der Westgoten (Paderborn u. a. 2008) 77. Vgl. z. B. S. H AFFNER, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933. Taschenbuchausgabe (München 2002) 215. Vgl. z. B. A. R OSENBERG , Die Volkwerdung der Deutschen. Nationalsozialistische Monatshefe 4, 1933, 241–244. E. K RIECK , Die große Stunde Deutschlands. Volk im Werden 1, 1933, 1.

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Der Sinn der Revolution, die wir gemacht haben, ist die Volkwerdung der deutschen Nation. Diese Volkwerdung war zweitausend Jahre lang die Sehnsucht aller guten Deutschen. […] Wir können heute die historische Tragweite dieses Volkswerdungsprozesses überhaupt noch nicht überblicken.77

Den Stellenwert des Begriffs „Volkwerdung“ für den Nationalsozialismus verdeutlicht ferner die Schriftenreihe „Volkwerdung und Glaube“, die vom NSDAP-Parteiverlag Eher herausgegeben wurde.“78 Gleichzeitig war „Volkwerdung“ seit der Frühphase des „Dritten Reiches“ ein zentraler Begriff der sogenannten „deutschen Soziologie“,79 einer Forschungsrichtung, die von einer Gruppe von Soziologen betrieben wurde, die vor 1933 meist der sogenannten „Konservativen Revolution“ nahe gestanden hatten. Die „deutsche Soziologie“ stand im Gegensatz zu den zahlreichen deutschen Soziologen, die ins Ausland emigriert waren, dem nationalsozialistischen Staat positiv gegenüber.80 In diesem soziologischen Sinne wurde der Begriff der „Volkwerdung“ maßgeblich vom Soziologen und Philosophen Hans Freyer geprägt.81 In Freyers Volkssoziologie bezeichnete „Volkwerdung“ das Erreichen eines höheren Aggregatzustandes des „Volk-seins“, ein „Zu-sich-selbst-Kommen des Volkes“.82 Durch die Volkwerdung entwickle sich das Volk von einer Vorstellung zu einer „vorhandenen Wirklichkeit“, einer „Willensgemeinschaft“. Diese Volkwerdung vollziehe sich auf drei Ebenen: Die erste umfasse die Herausbildung eines Selbstbewusstseins; die zweite betreffe den politischen Bereich, indem sich das Volk ein adäquates Herrschaftssystem gäbe und sich ein entsprechendes Territorium, einen „Raum“, schaffe; zum Dritten umfasse die Volkwerdung schließlich die Überwindung innerer sozialer Gegensätze.83 Mit der „Volkwerdung“ plädierten die Volkstheoretiker der „Konservativen Revolution“ insgesamt für einen dynamischen Volksbegriff, dessen Herkunft und Wirkungsgeschichte noch einer detaillierten Untersuchung 77

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J. G OEBBELS, Die nationalsozialistische Revolution. In: H. Liese (Hrsg.), Ich kämpfe. Die Pflichten des Parteigenossen (München 1943) 39. Schriftenreihe der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, Gruppe 3: Volkwerdung und Glaube. 16 Bde (Berlin 1940–1943). O. R AMMSTEDT , Deutsche Soziologie 1933–1945 (Frankfurt 1986) 29. Zum politischen Kontext der Konjunktur der „Volkwerdung“: R AMMSTEDT , Soziologie (wie Anm. 79) bes. 42–54. Vgl. u. a. H. F REYER, Volkwerdung: Gedanken über den Standort und über die Aufgabe der Soziologie. Volksspiegel 1, 1934, 3–9. – Zur Person Freyers vgl. u. a. R. P. S IEFERLE , Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen (Frankfurt 1995) 164–197. R AMMSTEDT , Soziologie (wie Anm. 79) 33. R AMMSTEDT , Soziologie (wie Anm. 79) 29 f.

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bedarf: „Das Volk ist ein Werdewesen“ formulierte der Volkstheoretiker Max Hildebert Böhm, der wie Freyer den Ideologen der „Konservativen Revolution“ zugerechnet wird84, „da der Vorgang der Volkwerdung als solcher überhaupt niemals abgeschlossen zu sein braucht, wird der Übergang zwischen Volksentstehung und Volksumgestaltung fließend “.85 Böhms Studie über „das eigenständige Volk“ aus dem Jahre 1932 verhalf dem Volksbegriff endgültig dazu, zu einem Schlüsselbegriff der deutschen Geschichtswissenschaft zu werden.86 Dieses Werk rezipierten die deutschen Historiker nicht nur während der nationalsozialistischen Diktatur, sondern auch in der Nachkriegszeit; es findet sich etwa noch unter den Quellen zu Reinhard Wenskus’ „Stammesbildung und Verfassung“.87 Hans Freyer vertrat einen ähnlich dynamischen „prozessualen“ Volksbegriff wie Böhm.88 Seine Konzeption der Volkwerdung wurde in unterschiedlichsten Strömungen in den Geisteswissenschaften rezipiert, neben der Philosophie und Pädagogik auch von Mühlmanns Ethnosoziologie und in der Geschichtswissenschaft.89 Freyers Einfluss auf die polydisziplinäre Volksforschung der 1920er bis 1940er Jahre kann Willi Oberkrome zufolge gar nicht unterschätzt werden. Da Freyer explizit für einen Brückenschlag zwischen völkischer Soziologie und ethnohistorischer Geschichtsforschung plädierte, und zudem die Vertreter der Volksgeschichte nach einer ethnosoziologischen Fundamentierung ihres Ansatzes strebten, waren Freyers Thesen innerhalb der historischen Volkstumsforschung besonders wirkungsmächtig.90 Diese griff die Volkwerdung auch rasch als Thema auf.91 Insgesamt enthielten Mühlmanns Theorien zu „Umvolkung“ und „Volkwerdung“ durchaus innovative Elemente. Richtungsweisend war 84 85

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S T. B REUER, Anatomie der Konservativen Revolution. (2Darmstadt 1995) 3. M. H. B ÖHM , Das eigenständige Volk. Volkstheortische Grundlagen der Ethnopolitik und Geisteswissenschaften (Göttingen 1932) 43. H AAR, Historiker, 95. W ENSKUS, Stammesbildung (wie Anm. 52) 594. E. Ü NER, Soziologie der Volksgemeinschaft – Hans Freyer. In: B. Streck (Hrsg.), Ethnologie und Nationalsozialismus. Veröff. Inst. Ethnologie Leipzig, Reihe Fachgesch. 1 (Gehren 2000), 25–50, hier 46. R. B LÄNKNER, Von der „Staatsbildung“ zur „Volkwerdung“. Otto Brunners Perspektivenwechsel der Verfassungshistorie im Spannungsfeld zwischen völkischem und alteuropäischem Geschichtsdenken. In: L. Schorn-Schütte (Hrsg.), Alteuropa oder Frühe Moderne. Zeitschr. Hist. Forsch. Beih. 23 (Berlin 1999) 87–135, hier 109. O BERKROME , Volksgeschichte, bes. 111–116. Vgl. z. B. H. W AIDHAAS, Die Volkwerdung der Westslawen und das Reich. Jahrb. Geschichte Osteuropas 3, 1938, 481–532. – F. S TEINBACH , Austrien und Neustrien. Die Anfänge der deutschen Volkwerdung und des deutsch-französischen Gegensatzes. Rhein. Vierteljahrsbl. 10, 1940, 217–228.

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vor allem, dass er mit älteren statischen Volkstumskonzepten brach, wobei jedoch zu berücksichtigen ist, dass auch andere wissenschaftliche Traditionslinien bereits früh und unabhängig von der Volkstumsideologie zum gleichen Ergebnis kamen.92 Völker sind Mühlmann zufolge keine geschlossenen, sondern offene soziale Systeme, die permanentem Wandel unterliegen.93 Die Vorstellung, Völker entständen im Wesentlichen durch Abspaltung von einem bzw. die Aufspaltung eines „Urvolkes“, etwa nach dem Muster Indogermanen > Germanen > Deutsche, wurde von ihm zu Recht auf eine Stufe mit mythischen Ethnogonien gestellt. Mit Hilfe des prozessualen Volksbegriffes konnte die Frage nach Entstehung und Wandel ethnischer Gruppen zum Gegenstand historischer Betrachtung werden. Nicht mehr die Konstruktion ethnischer Kontinuitäten bildete nun das wissenschaftliche Erkenntnisziel, sondern explizit die Dynamik hinter scheinbar statischen Zuständen. „Volkwerdung“ bzw. „Ethnogenese“ rückten statt statischem Volkstum zunehmend den ethnischen Wandel in den Vordergrund. Allerdings beinhaltete Mühlmanns Ethnostheorie auch problematische Vorstellungen über die sozialen Mechanismen, die den Verlauf von Ethnogeneseprozessen bestimmten. In der Geschichtswissenschaft wirkten diese noch lange nach. Als erstes Element zu nennen ist die überragende Bedeutung, die Mühlmann den sozialen Eliten für den Erfolg eines Ethnogeneseprozesses bzw. den Bestand eines Volks zumaß. Ein beherrschender Zug in Mühlmanns gesamtem Werk ist seinem Schüler Gerhard Hauck zufolge ein ausgesprochener Antiegalitarimus.94 Mühlmanns diesbezügliche Äußerungen aus den 1930er Jahren rekurrieren deutlich auf die Führerideologie. Politische Geschichte wird ihm zufolge in der Hauptsache von Persönlichkeiten gestaltet, die sich durch Anlagen zum „natürlichen“ Führertum auszeichnen: körperliche Stärke, Mut, Intelligenz und Umsicht, Rednergabe, Organisationstalent, kriegerische Fähigkeiten, taktische Gaben etc.95 „Große Politik ist nicht denkbar ohne geniale Persönlichkeiten, weil nur solche zum Kristallisationskern werden, um den an und für sich auseinanderstrebenden zahlreichen Personen, Gruppen und Antrieben in einem großen Gemeinwesen anschließen.“96 Doch nicht 92 93

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M URRAY, Wenskus (wie Anm. 53) 50. W. E. M ÜHLMANN , Ethnologie als soziologische Theorie der interethnischen Systeme. Kölner Zeitschr. Soziologie u. Sozialpsychologie 8, 1956, 186–205, hier 192. G. H AUCK , Konzepte einer aristokratischen Gesellschaftstheorie – Wilhelm Emil Mühlmann als Sozialwissenschaftler. Zeitschr. Ethn. 117, 1992, 71–87, bes. 75–77. W. E. M ÜHLMANN , Krieg und Frieden. Ein Leitfaden der politischen Ethnologie. Kulturgesch. Bibliothek NF 2 (Heidelberg 1940) 23 f. M ÜHLMANN , Krieg (wie Anm. 95) 205.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ethnische Gruppen im Merowingerreich?

nur für die Entstehung der Völker, sondern auch für ihren Bestand sei das Vorhandensein von Führergestalten unerlässlich. „Siebungssperren“, die verhinderten, dass „befähigte“ Führergestalten ihren gebührenden Platz in der Gesellschaft einnähmen, führten unweigerlich zu gesellschaftlichen Krisen und Katastrophen.97 In den ethnogenetischen Modellen, die Mühlmann in der Nachkriegszeit vorlegte, findet sich die überragende Rolle einzelner Gestalten wieder. So schrieb Mühlmann in seinem Modell der „Volksentstehung durch Asylbildung“, den „Colluvies gentium“, dem Wirken einzelner „mächtiger Häuptlinge“ die entscheidende politische Rolle bei der Ethnogenese zu. Die Klientel, die solche Gestalten bzw. deren Sippe um sich versammeln, bilden „Kristallisationskerne“, eine „Traditionskompanie“98 bzw. einen „Assimilationskern“99, um die sich neue Stämme bilden können. An diese Überlegung knüpfte Reinhard Wenskus mit seinem Modell des „Traditionskerns“ an. Dieser wird bei Wenskus jedoch nicht mehr durch eine mit Führerqualitäten begabte Einzelpersönlichkeit, sondern durch die Stammestradition zusammengehalten.100 Die positive Rezeption von Mühlmanns ethnosoziologischen Vorstellungen über die herausragende Bedeutung der Eliten in der Geschichtswissenschaft hängt wohl damit zusammen, dass seine diesbezüglichen Überlegungen im Einklang mit einer analogen Entwicklung in der Geschichtswissenschaft standen. Im Gegensatz zu älteren Forschergenerationen, die von einer weitgehenden Egalität der Germanen ausgingen, betonte die Schule der „Neuen Deutschen Verfassungsgeschichte“ seit den 1930er Jahren die Bedeutung herrschaftlicher Strukturen, „Uradel“, „Heer – oder Sakralkönigtum“ etc. bei den Germanen. Die ideologischen Wurzeln dieser Schule, die die deutschsprachige Forschungstradition bis weit in die Nachkriegszeit prägen sollte, entsprachen in etwa denen von Mühlmanns Thesen.101 Ein zweites problematisches Element von Mühlmanns Ethnostheorie betraf den Modus der Entstehung größerer ethnischer Verbände. Mühlmann zufolge regieren darwinistische Prinzipien die Beziehungen zwischen Ethnien. Erfolg oder Misserfolg kriegerischer Unternehmungen besitzen

97 98

99 100 101

H AUCK , Konzepte (wie Anm. 94) 75. W. E. M ÜHLMANN , Colluvies Gentium. Volksentstehung aus Asylbildung. Stud. Generale 3, 1950, 572–576, hier 573. – D ERS., Ethnologie (wie Anm. 93) 197. M ÜHLMANN , Ethnogenese (wie Anm. 69) 176. W ENSKUS, Stammesbildung (wie Anm. 52) 75 f. W. G OFFART , Two notes on Germanic antiquity today. Tradition 50, 1995, 9–30, hier 10 ff.

Umvolkung und Volkwerdung: Zur Herleitung des Ethnogenesebegriffs

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deshalb überragende Bedeutung für den Bestand der Ethnien. Mühlmann geht von einem Gesetz des fortschreitenden Wachstums größerer Ethnien zuungunsten kleinerer Ethnien aus. Das Vorhandensein eines „ethnischen Gefälles“ zwischen „überlegenen“ und „unterlegenen“ Ethnien führe unweigerlich zur Assimilation des unterlegenen Ethnos. Entsprechende Entwicklungen sah Mühlmann vor allem vor 1945 ohne Bedauern. Wie er in seiner 1940 erschienenen Apologie des Krieges, „Krieg und Frieden“, ausführte, sei der Krieg ein Akt „völkischer Selbsthilfe“,102 ein „integrierender Bestandteil “ der menschlichen Kulturgeschichte;103 wer, wie die Pazifisten, seine Funktion verneine, verneine somit auch die Geschichte der Menschheit.104 Ein dritter Problembereich betrifft den trotz seiner Wandelbarkeit letztlich essentialistischen Volksbegriff bei Mühlmann. Zwar betrachtete er Völker durchaus als flexible Einheiten, der Übergang zwischen den Volkstümern sei jedoch keineswegs fließend. Mühlmann unterschied zunächst zwischen stabilem Volkstum und schwebendem, sich in Transformation befindendem Volkstum. Der Übergang von einem Volkstum in ein anderes sei nicht gleitend, sondern bedeute eine tiefgreifende psychische und kulturelle Um- und Neuorientierung. Die „Labilität der Volkstumsgesinnung“105 führe nicht nur zu einer Identitätskrise,106 sondern bedeute gleichermaßen einen Wechsel des Kulturbesitzes, der Sprache und der politischen Zugehörigkeit.107 Mühlmann unterschied hier allerdings zwischen kleineren ethnischen Gruppen und den eigentlichen Völkern. Während kleinere ethnische Gruppen kaum spezifische Merkmale ausbildeten, stellten Völker „große Individualitäten“ dar, die an ihren unverwechselbaren Zügen erkannt werden könnten.108 Entsprechende Ansichten bezüglich des Übergangs zwischen zwei Volkstümern finden sich etwa gleichzeitig auch in der Geschichtswissenschaft. Bedeutsam ist für die hier behandelte Problematik vor allem die Formel von der „Frankisierung der Romanen“ bzw. der „Romanisierung der Franken“ im Merowingerreich, die auf den österreichischen Historiker Erich Zöllner zurückgeht.109 Sie wurde in der Folge von der historischen For-

102 103 104 105 106 107 108 109

M ÜHLMANN , Krieg (wie Anm. 95) 210 ff. M ÜHLMANN , Krieg (wie Anm. 95) 187. M ÜHLMANN , Krieg (wie Anm. 95) 194. M ÜHLMANN , Ethnogenese (wie Anm. 69) 180. M ÜHLMANN , Umvolkung (wie Anm. 58) 294. M ÜHLMANN , Ethnogenese (wie Anm. 69) 176. M ÜHLMANN , Ethnogenese (wie Anm. 69) 175. E. Z ÖLLNER, Die politische Stellung der Völker im Frankenreich. Veröff. Inst. Österr. Geschichtsforsch. 13 (Wien 1950) 105.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ethnische Gruppen im Merowingerreich?

schung aufgegriffen110 und wird bis in die Gegenwart in der frühmittelalterlichen Archäologie verwendet.111 Zöllner versuchte in seiner Habilitationsschrift, die zwar erst 1950 erschien, aber schon 1940 weitgehend fertiggestellt war, unter anderem die „volksbiologischen Grundlagen“ des Frankenreiches zu klären.112 Im Gegensatz zu den Vertretern der Kontinuitätstheorie ging Zöllner davon aus, dass „völkische Gegensätze“ innerhalb des Merowingerreiches eine bedeutende politische Rolle spielten.113 Vor allem die Beziehung zwischen Germanen und Romanen sei von diesen geprägt worden. Sprache ist ihm zufolge ein Hauptunterschied zwischen den Völkern.114 Explizit wandte sich Zöllner in diesem Zusammenhang gegen die These Julius Fickers, zwischen germanischsprachigen und romanischsprachigen Franken habe, anders als im Falle einzelner Stämme, wie Franken, Sachsen, Bayern etc., kein Gegensatz bestanden.115 Stattdessen ging Zöllner davon aus, dass es ein gemeingermanisches Zusammengehörigkeitsgefühl gegeben haben müsse, dessen maßgebliche Alterität die Römer gewesen seien. Zwar hätten die Germanen bereitwillig manche Errungenschaften der römischen Kultur übernommen, „in ihrem Gefühlsleben bleiben sie dem Römertum fremd, lehnten sie es ab.“116 Diese emotionalen Gegensätze bestanden Zöllner zufolge solange fort, wie die „völkische Trennung“ zwischen Germanen und Romanen bestanden habe. Der Mechanismus, der zur partiellen „Romanisierung“ der Franken führte, waren die zahlreichen Mischehen zwischen Franken und Romanen, die eine sukzessive sprachliche Romanisierung der Franken nach sich zogen. Parallel zu diesem Prozess fand die teilweise „Fränkisierung“ der Romanen statt. Hierunter verstand Zöllner u. a. die Ausbreitung fränkischen Volksbewusstseins in jenen Teilen der Romania, in denen romanisch gesprochen wurde.117 Die Römer waren Zöllner zufolge die zahlenstärkste „ fremdvölkische Gruppe“ im Frankenreich.118 Als bedeutende Faktoren für die „Frankisierung“ der Römer nannte Zöllner das Vordringen des fränkischen Rechts und der germanischen Eigennamen. Ferner habe das Fehlen einer

110 111 112 113 114 115 116 117 118

W ENSKUS, Stammesbildung (wie Anm. 52) 537. Vgl. z. B. B IERBRAUER, Romanen, 113. Z ÖLLNER, Stellung (wie Anm. 109) 29. Z ÖLLNER, Stellung (wie Anm. 109) 22. Z ÖLLNER, Stellung (wie Anm. 109) 51. Z ÖLLNER, Stellung (wie Anm. 109) 13. Z ÖLLNER, Stellung (wie Anm. 109) 41. Z ÖLLNER, Stellung (wie Anm. 109) 105. Z ÖLLNER, Stellung (wie Anm. 109) 79.

Franken und Römer als Kollektivbezeichnungen im Merowingerreich

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„bewusst römischen, ahnenstolzen Führungsschicht mit eigenem Lebensstil […] die geistige Umvolkung der romanischen Bevölkerung ermöglicht “.119 Wie lange die Verflechtung zwischen den Konzepten „Ethnogenese“, „Umvolkung“ und „Frankisierung“ in der Forschung nachwirkte, verdeutlicht exemplarisch eine Diskussion bei einer Tagung des „Konstanzer Arbeitskreises für Mittelalterliche Geschichte“ im Jahre 1977.120 Aus Sicht eines Historikers, „der sich mit Volksgeschichte beschäftigt “, warnte Reinhard Wenskus in diesem Zusammenhang davor, Ethnizität im frühen Mittelalter mit biologischer Herkunft gleichzusetzen. Ethnizität sei kein statischer Zustand, sondern verlaufe prozesshaft. Die Angleichung der Bestattungsweise der Romanen an das fränkische Vorbild etwa sei auf einen solchen ethnischen Prozess zurückzuführen, nämlich die „Umvolkung“ bzw. „Frankisierung der Romanen in ihrem Bewusstsein im nördlichen Gallien“. Man müsse sich bewusst machen, dass die „Ausweitung der Beigabensitte auf ehemals romanisch sprechende Gruppen einen Umvolkungsprozeß beinhaltet “ durch den Menschen anderer Herkunft in das fränkische „Ethnikum“ aufgenommen worden seien.121

c) Franken und Römer als Kollektivbezeichnungen im Merowingerreich Während die Theorien über die wechselseitige Assimilation bzw. Umvolkung von Franken und Romanen notwendigerweise einen essentialistischen Volksbegriff voraussetzen, besteht eine alternative Möglichkeit darin, sich dem Phänomen der Ethnizität zunächst über die Kollektivbezeichnungen anzunähern, die in den frühgeschichtlichen Schriftquellen überliefert sind. Die Schwierigkeiten bei diesem Unterfangen sind jedoch beträchtlich. Zum einen verbirgt sich nicht hinter jeder Kollektivbezeichnung ein Ethnos. Matthias Springer verwies in diesen Zusammenhang auf reine Gruppenbezeichnungen wie etwa „Wikinger“, die zu keiner Zeit ein „Volk“ dargestellt haben; der Ausdruck „Wikinger“ bezeichnete Personen, die auf Heer- oder Raubfahrt waren, ungeachtet ihrer Herkunft.122 Von ethnischen Bezeichnungen im eigentlichen Sinne sind ferner Einwohnernamen zu unterschei-

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Z ÖLLNER, Stellung (wie Anm. 109) 108. Vgl. Kap. 14 f. Diskussionsbeitrag R. Wenskus. Protokoll der Arbeitstagung des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte Nr. 231 vom 29. 3/1. 4. 1977, 34 f. S PRINGER, Geschichtsbilder, 227.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ethnische Gruppen im Merowingerreich?

den, d. h. Namen, mit denen die Bewohner eines bestimmten Gebietes bezeichnet werden, ungeachtet ihrer Selbstwahrnehmung. Die Grundzüge der Entwicklung der Ethnonyme bzw. vergleichbarer Kollektivbezeichnungen im Frankenreich wurden von Eugen Ewig bereits vor mehreren Jahrzehnten geklärt.123 Über Details der Chronologie und Chorologie der Ergebnisse Ewigs wird zwar noch diskutiert, sein Hauptergebnis – so Patrick Amory – steht dagegen fest.124 Die Romani im Merowingerreich Anhand einer detaillierten Analyse der Terminologie, die in den frühmittelalterlichen Schriftquellen zur Bezeichnung ethnischer Gruppen verwendet wurde, konstatierte Ewig während der Merowingerzeit eine „Regionalisierung des Volksbewusstseins“.125 Die allgemeine Veränderung des Begriffs „Römer“, die bereits erläutert wurde,126 lässt sich auch im Merowingerreich nachvollziehen. Bis zum Ende der Spätantike habe Romani keine Gruppe bezeichnet, die sich als ethnische (im Sinne des Glaubens an eine gemeinsame Abstammung) verstand, sondern eine Rechts-, Glaubens- und Kulturgemeinschaft. Zu einer ethnischen Bezeichnung analog zu denen der barbarischen gentes wurde Romani erst in den Nachfolgestaaten des Römischen Reiches.127 Romani bezeichnete in römischer Zeit entweder die gesamte Reichsbevölkerung oder die Bevölkerung der lateinisch sprechenden Westprovinzen des Reiches. Diese Gruppe wurde wiederum in verschiedene regionale Gruppen unterteilt, wie Galli, Itali, Hispani oder Afri. Entsprechende Bezeichnungen verwendete in der frühen Merowingerzeit auch Gregor von Tours. Er rechnete die Westgoten zu den Hispani, die Ostgoten zu den Itali, Theoderich bezeichnet er als Italicus rex und die Westgotenkönige als reges Hispanorum. Die Bewohner Galliens nannte Gregor dagegen nicht analog Galli – dieser Begriff ist in den Quellen der Merowingerzeit kaum belegt –, sondern Romani, während die Könige in Gallien die reges francorum sind.128 Ferner gewann der Begriff Romanus in der Spätantike zunehmend eine religiöse Konnotation. Der Begriff romanus kann nun ebenfalls 123 124

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E WIG , Volkstum. (Erstdruck 1958). P. A MORY, Ethnographic rhetoric, aristocratic attitudes and political allegiance in Post-Roman Gaul. Klio 76, 1994, 438–453, hier 439. E WIG , Volkstum, 245. Kap. 2c. E WIG , Volkstum, 247. – J. K RAMER, Die Sprachbezeichnungen Latinus und Romanus im Lateinischen und Romanischen. Studienreihe Romania 12 (Berlin 1998) 77 f. E WIG , Volkstum, 247.

Franken und Römer als Kollektivbezeichnungen im Merowingerreich

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katholisch bzw. rechtgläubig heißen, während Heiden bzw. Häretiker analog als barbarus bezeichnet werden.129 Dieser Sprachgebrauch veränderte sich im Laufe der Merowingerzeit grundlegend. Der Begriff der Romani wurde territorialisiert und „gentilisiert“. Zunehmend entwickelte er sich zur Bezeichnung für die Bewohner Churrätiens sowie vor allem der Einwohner Aquitaniens. In den übrigen Teilen des Frankenreichs erwähnen ihn die Schriftquellen dagegen kaum mehr.130 Zu einer vollständigen Angleichung der Identitätskonstruktion der Aquitanier an das barbarische Vorbild, d. h. zur Ausbildung eines gemeinsamen Abstammungsglaubens, kam es jedoch offenbar nicht.131 In der Zeit König Pippins veränderte sich die Verwendung des Römernamens noch einmal rapide. Vermutlich aufgrund der engeren Beziehungen des Frankenreiches zum Papsttum bezeichnete Romanus genere nun wieder die Bewohner der Stadt Rom.132 Als Alterität zu den Romani galten während der römischen Zeit zunächst die barbari, die in verschiedene gentes unterteilt waren. Je mehr der Begriff barbarus die oben erwähnte Zusatzbedeutung heidnisch oder häretisch annahm, umso weniger konnten damit rechtgläubige christliche Barbarenvölker wie die Franken bezeichnet werden. Franci als ethnische Bezeichnung im Merowingerreich Insgesamt ist die Entwicklung des Frankenbegriffs im Merowingerreich kaum weniger komplex als der der „Römer“.133 Grundsätzlich steht die Verwendung des Frankennamens in engem Zusammenhang mit der Veränderung der geographischen Bezeichnung Francia. Die Francia bezeichnete im 6. Jahrhundert das Gebiet des Reiches Chlodwigs in den Grenzen von 507, d. h. grob das Gebiet zwischen unterer Loire und dem Rhein. Im 7. Jahrhundert schränkte sich die Bedeutung auf die Territorien der merowingischen Teilreiche Austrasien und Neustrien ein, während das Gebiet 129 130 131

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E WIG , Volkstum, 250. – A MORY, Rhetoric (wie Anm. 124) 440–444. E WIG , Volkstum, 248 f. M. R OUCHE , Peut-on parler d’une ethnogenèse des Aquitains? In: H. Wolfram/ W. Pohl (Hrsg.), Typen der Ethnogenese unter besonderer Berücksichtigung der Bayern, Bd. 1. Österr. Akad. Wiss, phil.-hist. Kl. Denkschr. 201 (Wien 1990) 45–51. E WIG , Volkstum, 249. Vgl. auch Kap. 2b. – H.-W. G OETZ , Zur Wandlung des Frankennamens im Frühmittelalter. In: W. Pohl/M. Diesenberger (Hrsg.), Integration und Herrschaft. Ethnische Identitäten und soziale Organisation im Frühmittelalter. Österr. Akad. Wiss., phil.hist. Kl., Denkschr. 301 (Wien 2002) 133–150.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ethnische Gruppen im Merowingerreich?

des Teilreichs Burgund nicht mehr dazu gerechnet wurde.134 In die Karolingerzeit fällt schließlich ein weiterer Bedeutungswandel, durch den die Francia zunehmend einerseits auf Neustrien bzw. das Gebiet zwischen Loire und Seine und andererseits auf Mainfranken um Würzburg eingeschränkt wurde.135 Die Bezeichnung „Franken“ nicht im Sinne der Bewohner der beiden fränkischen Teilreiche, sondern als Bezeichnung für die gesamte Bevölkerung des Herrschaftsgebietes der Frankenkönige, verwendete man nur außerhalb des Merowingerreiches. Der Sprachgebrauch innerhalb des Reiches unterschied sich grundlegend davon: „Innerhalb des Merowingerreiches sprach man wohl von zentralen Institutionen „der Franken“, von den Königen und Heerführern der Franken, den reges und duces francorum, von den Franci als den Großen im Teil- oder Gesamtreich, nicht aber von den Franken als Reichsbevölkerung“.136 Wie ist dieser Befund zu erklären? Der populus romanus und die barbarischen gentes befanden sich ursprünglich begrifflich nicht auf einer Ebene. Gemäß der römischen Identitätskonstruktion der Spätantike war der populus romanus eine übergeordnete, nichtethnische Entität, die ebenso über den verschiedenen gentes angesiedelt war wie das imperium über den verschiedenen regna. Die gentes bzw. deren Könige konnten mittels eines Rechtsaktes als Föderierte in den römischen Staatsverband aufgenommen werden. Auch wenn die regna im Laufe der Zeit zunehmend politisch eigenständig agierten, respektierten die barbarischen Herrscher den übergeordneten Anspruch der römischen Herrschaft bzw. des populus romanus. Der erste Versuch der Goten, eine gens zum populus, d. h. zu einem den Römern ebenbürtigen „Reichsvolk“ zu machen, scheiterte.137 Erfolgreicher waren dagegen die Franken. Sie beanspruchten, bestätigt durch die Siege über die häretischen Westgoten und die heidnischen Alemannen, die Würde eines Reichsvolkes, das den anderen gentes übergeordnet war. Dabei traten die Franken zunächst ebenbürtig neben die Römer, allmählich lösten sie diese als Reichsvolk gänzlich ab: Die untrennbare Verknüpfung der eigenen Staatlichkeit und des ihr zugeordneten „Nationalstolzes“ mit herausragender Qualität von Glaubenseifer und Rechtgläubigkeit […], war von Anbeginn und blieb Charakteristikum der sich aus dem Gesamtverband der fränkischen wie gallorömischen (zum Heeresdienst herangezogenen!) Untertanen des ‚rex Francorum‘ im Gallien nördlich der Loire neu formierenden ‚gens Francorum‘.138 134 135 136 137 138

E WIG , Volkstum, 263. E WIG , Volkstum, 265. E WIG , Volkstum, 266. W ERNER, Volk, 186 f. W ERNER, Volk, 190 f.

Die Franken – Volk oder Staat?

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Im Laufe des 7. Jahrhunderts begriffen sich die nördlich der Loire ansässigen Franken zunehmend als Abstammungsgemeinschaft. Die Neustrier, obwohl sie ganz überwiegend gallorömischer Herkunft waren und romanisch sprachen, beanspruchten für sich, Nachkommen der Franken Chlodwigs zu sein, die als siegreiche Eroberer die Romani getötet oder vertrieben hätten. Aus diesem Grund sah man sich gezwungen, das Verbleiben der Römer in den nun allein von Franken besiedelten Gebieten zu erklären. Der Autor der Passio Sigismundi verfiel zur Lösung dieses Problems für den burgundischen Raum auf die Theorie, dass die Burgunden alle Römer getötet hätten, die bei ihrer Ankunft nicht geflohen waren. Eine ähnliche Erklärung gab später ein Lütticher Kommentator des Liber Historiae Francorum, der behauptete, Chlodwig habe alle Römer, die bis dahin in Gallien gewohnt hätten, vertrieben.139 Wohl während des 7. Jahrhunderts entstand ferner die Legende von der trojanischen Herkunft der Franken.140 Diese Identitätskonstruktion behauptete bezeichnenderweise nicht nur eine „nichtbarbarische“ Herkunft der Franken, sondern machte sie auf dieser Ebene den Römern, den Nachfahren des mythischen Aeneas, ebenbürtig.

d) Die Franken – Volk oder Staat? Auf faktischer Ebene kann von einer Vertreibung bzw. Tötung aller „Römer“ in Nordgallien selbstverständlich keine Rede sein. Aus diesem Grund stellt sich die Frage, auf welchen Prozess die Ausweitung des Frankennamens auf alle Bewohner Nordgalliens tatsächlich zurückzuführen ist. Einen Erklärungsansatz bietet das Ethnogenesemodell in der Tradition Reinhard Wenskus’. Herwig Wolfram rechnet die Entstehung der Franken seinem ersten Typus von Ethnogenesen zu. Dieser Typus ist Wolfram zufolge dadurch gekennzeichnet, dass eine Gruppe von Stämmen ihre jeweiligen „Traditionskerne“ verliert und zunächst zu einem neuen, königlosen und multizentralen Ethnos wird, der sich dann einen neuen Namen gibt.141 Dieser Typus von gentes habe sich während der Spätantike im Vorfeld der römischen Reichsgrenzen gebildet. Während der Völkerwanderung über-

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141

E WIG , Volkstum, 272. E. E WIG , Troiamythos und fränkische Frühgeschichte. In: Geuenich, Franken und Alemannen, 1–30, hier 2. – I. W OOD , Defining the Franks: Frankish origins in Early Medieval Historiography. In: S. Forde u. a. (Hrsg.), Concepts of national identity in the Middle Ages (Leeds 1995) 47–57. H. W OLFRAM , Typen der Ethnogenese. Ein Versuch. In: Geuenich, Franken und Alemannen, 608–627, hier 614.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ethnische Gruppen im Merowingerreich?

schreite er nur zögerlich die Reichsgrenzen und dringe nicht weit in das römische Gebiet vor. Die Zuordnung der frühen Franken zu diesem Typus von Ethnogenese ist nicht unproblematisch. Wolframs Modell zufolge setzt dieser Ethnogenesetyp eine „Landnahme“ in Form der Gewinnung neuen Landes bzw. einer Landwegnahme voraus.142 Eine solche ist aber im Falle der Franken nicht nachzuweisen.143 Ferner ist Wolframs Zuweisung der Franken zu diesem Typ der Ethnogenese insofern anfechtbar, als nicht sicher ist, dass die Franken vor der oben beschriebenen Ethnogenese im Merowingerreich tatsächlich einen Ethnos gebildet haben. Die ersten Erwähnungen der Franken als Seeräuber an der Nordseeküste deuten zunächst auf einen Kollektivnamen entsprechend dem Beispiel der Wikinger hin, auf das Springer in diesem Zusammenhang hingewiesen hat. Zu einem späteren Zeitpunkt wird „Franken“ zu einem Einwohnernamen, der die Bewohner des Gebietes bezeichnet, das der römischen Provinz Germania inferior vorgelagert war.144 Dass die Franken zu diesem Zeitpunkt einen Ethnos, etwa in Form eines „Stammesschwarms“145 oder „Frankenbundes“146 gebildet haben, wird seit langem bezweifelt;147 dies kann allenfalls vermutet werden, ist aber nicht zu beweisen. Ein „fränkisches“ Bewusstsein ist am ehesten unter den römischen Militärs fränkischer Herkunft zu erkennen,148 die seit der Zeit Kaiser Julians die Alemannen aus ihrer Machtstellung in der römischen Verwaltung verdrängten.149 Ungewiss ist, inwieweit dem Zusammengehörigkeitsgefühl dieser Militärs und Staatsmänner, die zudem teilweise miteinander verwandt waren, entsprechende Identifikationsmuster in ihrer rechtsrheinischen Heimat entsprachen. Erkennbar wird allein die Integration der fränkischen Militärs in die römische Kultursphäre: Teutomer und Richomer korrespondierten mit dem berühmten heidnischen Rhetor Libanios,150 Fla-

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W OLFRAM , Typen (wie Anm. 141) 624. W ERNER, Conquête franque, bes. 15. – D ERS., Conquête franque de la Gaule ou changement de régime? In: Ders., Vom Frankenreich zur Entfaltung Deutschlands und Frankreichs (Sigmaringen 1984) 1–11. S PRINGER, Geschichtsbilder, 228. W ENSKUS, Stammesbildung (wie Anm. 52) 518. E WIG , Merowinger, 10. Zur älteren Diskussion um diese Frage vgl. W ENSKUS, Stammesbildung (wie Anm. 52) 515 f. W ERNER, Ursprünge, 277–283. M. M ARTIN , Alemannen im römischen Heer – eine verpasste Integration und ihre Folgen. In: Geuenich, Franken und Alemannen, 407–422. W ERNER, Ursprünge, 278.

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vius Merobaudes verfasste lateinische Panegyrici151, Arbogast und Bauto waren überzeugte römische (!) Heiden.152 Eine politische Einheit der Franken schuf erst Chlodwig am Ende des 5. Jahrhunderts. Auch für seine Reichsbildung wurde lange Zeit ein Ethnos als Keimzelle angenommen, der jedoch in zwei Zweige zerfalle. In jüngster Zeit stellte Matthias Springer die Lehre von der ethnischen Zweiteilung der frühen Franken in „Salier“ und „Ribuarier“ jedoch grundsätzlich in Frage. Springer zufolge handelte es sich weder bei den „Salfranken“ noch bei den „Rheinfranken“ um Völker bzw. Ethnien. Ausgangspunkt für Springers Argumentation ist die Beobachtung, dass im Grunde weder die Bezeichnung „Salier“ noch die „Ribuarier“ in der Merowingerzeit geläufig waren.153 Die insgesamt wenigen Belege für „Salier“ („Salii “) aus dem 4./.5. Jahrhundert lassen sich ausnahmslos mit dem Aufenthalt Kaiser Julians in Gallien in Verbindung bringen.154 Ferner stellte Springer fest, dass Salier keinen Eigennamen darstelle. Die Bezeichung Salier sei vielmehr auf ein germanisches Begriffswort *saljon zurückzuführen, das „Geselle, Gefährte, Freund“ bedeutet habe.155 Springer vermutet deshalb, dass Julian dieses Gemeinschaftswort als Eigennamen auffasste.156 Entsprechend sei der Titel Lex Salica nicht als „Stammesrecht der Salfranken“ zu übersetzen, sondern als „landsmännisches Recht“ oder „gemeines Recht“ der Franken. Das vermeintliche ethnische Gegenstück zu den Saliern, die „Ribuarier“, sind erst seit dem 7. Jahrhundert belegt. Dieser Name bezeichnete zwar Personengruppen, von einer gens Ribuariorum ist dagegen im frühen Mittelalter nicht die Rede. Das Gebiet „Ribuarien“ bezog sich auf das Gebiet der antiken civitas um Köln. Möglicherweise ist „Ribuarier“ auf die spätantiken Einheiten der riparii bzw. riparenses zurückzuführen, deren vermutliche militärische oder polizeiliche Funktion nicht vollständig zu klären ist.157

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W ERNER, Ursprünge, 291. W ERNER, Ursprünge, 280. M. S PRINGER, Gab es ein Volk der Salier? In: D. Geuenich/W. Haubrichs/J. Jarnut (Hrsg.), Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft frühmittelalterlicher Personennamen. Ergbde RGA 16 (Berlin, New York 1997) 58–83, hier 60. S PRINGER, Salier (wie Anm. 153) 60–70. S PRINGER, Salier (wie Anm. 153) 74. S PRINGER, Salier (wie Anm. 153) 81. M. S PRINGER, Riparii – Ribuarier – Rheinfranken nebst einigen Bemerkungen zum Geographen von Ravenna. In: Geuenich, Franken und Alemannen, 200–269, hier 232 f.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ethnische Gruppen im Merowingerreich?

Da ein Ethnos der „Salier“ gegenwärtig als Ausgangspunkt der fränkischen Expansion in seiner Existenz in Zweifel zu ziehen ist, stellt sich die Frage nach dem Movens dieser Entwicklung. Hierfür werden in der Forschung bereits seit langem zwei entgegengesetzte Varianten, eine ethnische und eine politische, diskutiert. Der ethnisch orientierten Version zufolge ist das Frankenreich die Schöpfung des fränkischen Volkes. Dieses eroberte große Teile Galliens, ließ sich im Zuge einer Landnahme dort nieder, und assimilierte sukzessive die verbliebenen und unterworfenen römischen Bevölkerungsgruppen. Gegen dieses Geschichtsbild erhob der französische Historiker Numa Denis Fustel de Coulanges bereits am Ende des 19. Jahrhunderts Einspruch: „Es war nicht das fränkische Volk, es war der fränkische König, der Gallien eroberte.“158 Eine ähnliche politische anstelle der ethnischen Version der Entstehung des Frankenreichs vertrat in jüngerer Zeit Karl Ferdinand Werner. Seiner Deutung zufolge war nicht das Volk der Franken, sondern die Dynastie der Merowinger die Keimzelle des Frankenreichs.159 Die Expansion des Frankenreichs vollzog sich zunächst allein in Form einer Ausdehnung des Herrschaftsgebietes der Merowingerkönige, nicht aber als Ausweitung des Siedlungsgebiets der Franken. Im Nordwesten Galliens war unter Aegidius und später Syagrius in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts ein eigenständiges römisches regnum entstanden, das durch die Gebiete der Westgoten und Burgunden vom Mittelmeerraum abgetrennt war. Diese Zweiteilung Galliens in einen Südteil, der zu großen Teilen der Herrschaft barbarischer Heere unterstand, und einen Nordteil, der zunächst zumindest nominell weiterhin unter direkter römischer Jurisdiktion verblieb, setzte die seit spätrömischer Zeit bestehende administrative Gliederung Galliens fort.160 In ihrem Widerstand gegen die Westgoten stützten sich die einheimischen Eliten auf den Frankenkönig Childerich, der als rex foederatus anerkannt worden war. Wie sein Sohn Chlodwig führte er allein den Titel rex. Der Titel eines rex francorum findet sich erst bei dessen Nachfolgern. Von seinem Vater übernahm Chlodwig die Verwaltung eines Teils der römischen Provinz Belgica secunda. Nachdem es zu Spannungen zwischen Syagrius und Chlodwig gekommen war, be158

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N. D. F USTEL DE C OULANGES, Histoire des institutions politiques de l’ancienne France. L’invasion germanique et la fin de l’empire (6Paris 1930) 499: „Ce n’est pas le peuple franc, c’est un roi franc qui a conquis la Gaule“ W ERNER, Ursprünge, 302. U. N ONN , Zur Verwaltungsorganisation in der nördlichen Galloromania. In: Geuenich, Franken und Alemannen, 82–94, hier 89.

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siegte Chlodwig den rex romanorum, der möglicherweise ein Bündnis mit den häretischen Westgoten angestrebt hatte, was sicher zu Spannungen mit den einheimischen katholischen Adeligen geführt hätte.161 Durch seinen Sieg über Syagrius konnte Chlodwig dessen intaktes regnum im Nordwesten Galliens übernehmen. Es handelte sich Karl Ferdinand Werner zufolge um keine „Eroberung“ im eigentlichen Sinne, sondern eher um eine „Machtübernahme“.162 Chlodwig gründete in diesem Sinne keinen neuen Staat, sondern übernahm ein bereits bestehendes regnum. Diesen Staat baute er aus, so dass er als solcher vom Hof in Konstantinopel offiziell anerkannt wurde.163 Der exercitus Francorum, ein vom kaiserlichen Hof anerkanntes verbündetes Heer, besiegte um 486/87 den exercitus Gallicanus des Syagrius. Diese beiden Heere hatten zuvor ein Vierteljahrhundert lang gemeinsam Nordgallien verteidigt. Nach der Niederlage wurde der unterlegene exercitus Gallicanus in den exercitus Francorum eingegliedert.164 Die Ausweitung des fränkischen Identitätsbewusstseins im Laufe der Merowingerzeit auf ganz Nordgallien war somit eine Folge der Herrschaftsbildung der Merowinger, nicht deren Voraussetzung. Da aber nicht alle Bewohner des Merowingerreichs automatisch zu Franken wurden, sondern dieses auch andere Gruppen umfasste, ist die Zugehörigkeit zum politischen Verband der Merowingerkönige nicht das alleinige Merkmal für die Zugehörigkeit der Franken. Karl Ferdinand Werner beschrieb in einem grundlegenden Beitrag165 einen Mechanismus, der diese Entwicklung maßgeblich beeinflusste. Sein Ausgangspunkt ist die vielzitierte Formel Regino von Prüms: „diversae nationes populorum inter se discrepant genere moribus lingua legibus“.166 Diese Stelle möchte auch Wolfgang Haubrichs zum Ausgangspunkt einer interdisziplinären Diskussion um den Nachweis von Germanen und Romanen in der Merowingerzeit machen.167 Bei näherer Betrachtung ist Reginos Formulierung jedoch weniger eindeutig, als sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Vor allem die Begriffe populus und natio bedürfen einer Erläuterung. Karl Ferdinand Werner zufolge zeigt der Sprachgebrauch Reginos an anderer Stelle, dass populus und natio hier nicht „Volk“ und „Nation“ bezeich161 162 163 164 165 166

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W ERNER, Ursprünge, 315. W ERNER, Ursprünge, 314. W ERNER, Ursprünge, 320. W ERNER, Ursprünge, 314. W ERNER, Volk. R. V. P RÜM , De synodalibus causis et disciplinis ecclesiasticis. Ed. F. Kruze. MGH SS rer. Germ. (Berlin 1890) 129 f. H AUBRICHS, Romanen, 408.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ethnische Gruppen im Merowingerreich?

nen, sondern allein den Adel der verschiedenen regna innerhalb des Frankenreiches.168 Der Begriff nationes in Reginos Formulierung wurde dagegen mitunter in Zusammenhang mit den entstehenden „Nationen“ des nachkarolingischen Europas gebracht.169 Allerdings handelt es sich bei natio im Gegensatz zu populus oder gens nicht um einen originären Kollektivbegriff. Werner zufolge bezieht sich natio vielmehr auf den individuellen Geburtsstand. Durch Geburt wurde man in einen bestimmten Stand hineingeboren, war frei oder unfrei. Ein merowingischer Bischof wurde etwa als „vir gente Romanus, nacione clarus“ bezeichnet; gens bezeichnet hier die ethnische Zuordnung, natio den Rang. Gleichermaßen konnte die natio die Zugehörigkeit zu einer Rechtsgemeinschaft bezeichnen. Diese richtete sich im frühen Mittelalter – entsprechend dem Grundsatz der „Personalität des Rechts“ – nach dem Recht des regnum, in dem der Geburtsort einer Person lag. Jedes regnum innerhalb des Merowingerreiches verfügte über eigene Rechtstraditionen. Nachdem die Merowingerkönige ein eigenes Recht für den alemannischen Dukat erließen, wurden jene Alemannen, die außerhalb dieses Gebietes lebten, rechtlich zu Franken oder Bayern. Alemannen waren ab diesem Zeitpunkt nur noch jene Personen, die im Geltungsbereich des alemannischen Rechts, der patria alamannorum, dem alemannischen Dukat, geboren wurden.170 Da insbesondere Adelsfamilien überregional mobil waren, konnten bei ihnen innerhalb einer Familie unterschiedliche „nationale“ (Rechts-)Zugehörigkeiten auftreten. In diesem Sinne ist die erwähnte Stelle bei Regino von Prüm dahingehend zu verstehen, dass die verschiedenen nationes innerhalb des Adels eines regnums hinsichtlich Herkunft, Sprache, Recht und Sitten uneinheitlich sind.171 Bei dieser Formulierung handelt es sich somit um eine interessante kulturgeschichtliche Beobachtung, die aber nicht als Ausgangspunkt für eine Debatte des Verhältnisses von Germanen und Romanen im Merowingerreich dienen kann. Wie bereits erwähnt, war die Zugehörigkeit einer Person zu einer Rechtsgemeinschaft an den Geburtsort der Person gebunden und nicht an seine Abstammung. Wie ebenfalls bereits erwähnt, stellte die Lex Salica Matthias Springer zufolge kein Stammesrecht der „salischen Franken“ dar, sondern bezeichnete das „landsmännische“ oder „gemeine Recht“ der

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W ERNER, Volk, 215. W ERNER, Volk, 215. W ERNER, Volk, 220. W ERNER, Volk, 216.

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Franken.172 In ähnlichem Sinne wies Jean Durliat darauf hin, dass „Franken“ und „Römer“ in der Lex Salica keine ethnischen (im Sinne einer gemeinsamen Herkunft) Gruppen bezeichneten, sondern die Angehörigen unterschiedlicher öffentlicher Bereiche.173 „Franken“ waren in erster Linie die Mitglieder des exercitus Francorum, ein Franke war demnach eine Person, die nach fränkischem Recht lebte, ein homo ingenuus oder barbarus salicus.174 Diese Personengruppe verfügte gegenüber den Romani aufgrund ihres Militärdienstes über Privilegien. Rechtlich herausgehoben waren innerhalb der Gruppe der Romani ferner jene Personen, die in besonderem nichtmilitärischem Dienst des fränkischen Königs standen, so z. B. der romanus conviva regis oder der romanus possessor, der im Auftrag des fränkischen Königs Steuern einzog.175 Der „Rechtsgemeinschaft“ der Lex salica gehörte man somit unabhängig von der Herkunft an.176 Damit löst sich auch ein Widerspruch, auf den bereits frühere Forschergenerationen mehrfach hingewiesen haben. Den Wergeldsätzen der Lex Salica zufolge sind die Römer eindeutig schlechter gestellt als die Franken. Eine solche generelle rechtliche Zurücksetzung der Römer ist in den erzählenden Quellen jedoch in keiner Weise nachzuweisen. Bereits Johann Wilhelm Loebell hatte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts versucht, eine Begründung für dieses Phänomen zu finden. Er vertrat die Meinung, die niedrigeren Wergeldsätze der Römer stellen keine Herabwürdigung dar, „man muss darin vielmehr eine Einräumung zu ihren Gunsten sehen“.177 Heinrich Brunner entwickelte in seiner „Deutschen Rechtsgeschichte“ eine juristisch spitzfindige Berechnungsweise, mit der er zu belegen glaubte, dass die Römer letztlich den Franken hinsichtlich der Wergelder gleichgestellt waren.178 Simon Stein äußerte dagegen als erster die Ansicht, dass die einzig plausible Lösung des Problems darin bestehe, dass in den fränkischen Rechtsquellen Romanus nicht „Römer“ bedeute,

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S PRINGER, Salier (wie Anm. 153) 75. J. D URLIAT , Les Francs et les Romains devant la loi salique. Doss. Arch. 223, 1997, 20–23, hier 21. J. D URLIAT , Recherches sur la Loi salique et la société gallo-franque. Ant. Nat. 29, 1997, 267–279, hier 270. D URLIAT , Francs (wie Anm. 173) 21. R. S CHMIDT-W IEGAND , s.v. Lex salica. In: RGA2 Bd. 18 (Berlin, New York 2001) 326–332, hier 326. J. W. L OEBELL , Gregor von Tours und seine Zeit vornehmlich aus seinen Werken geschildert. Ein Beitrag zur Geschichte der Entstehung und ersten Entwicklung romanisch-germanischer Verhältnisse (Leipzig 1839) 135. H. B RUNNER, Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Die germanische Zeit (München 1887) 229.

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„Germanen“ und „Romanen“: Ethnische Gruppen im Merowingerreich?

d. h. die Unterscheidung zwischen Franci und Romani nicht auf einen „nationalen Gegensatz“ zurückzuführen sei.179 Stein zufolge bedeutet Romanus in den Rechtsquellen lediglich „gemeiner Mann“ oder „Bauer“.180 Auch Karl Ferdinand Werner sieht in der Differenzierung von „Franken“ und „Römern“ keinen nationalen Unterschied, sondern die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Rechtsgemeinschaften. Werner zufolge bot die Verbindung des neuen, territorial fixierten Geltungsbereichs des Rechts mit dem Prinzip der „Personalität des Rechts“ die Möglichkeit des Übergangs zwischen zwei Gruppen. Vor Gericht bestand die Möglichkeit in einer professio juris anzugeben, welcher Rechtsgemeinschaft man als Person angehörte. Im Geltungsbereich der Lex Salica legten besonders die pagenses, die für den fränkischen König in den Krieg zogen, trotz ihrer überwiegend provinzialrömischen Abstammung offenbar wert darauf, dem populus francorum anzugehören. Das Resultat dieses Prozesses war, dass im 7. Jahrhundert alle Personen, die Heeresdienst leisteten, „Franken“ waren.181 Die „Territorialisierung“ des Frankenbegriffs fand ihren Abschluss darin, dass die so neu formierten Franken schließlich begannen, sich als Abstammungsgemeinschaft zu begreifen. Wie oben bereits erwähnt, entwickelte sich in Neustrien die Überzeugung, dass alle Franken Nachfahren der Franken der Chlodwigzeit seien. Diese Ausbildung eines gemeinsamen Abstammungsglaubens einer anfangs politisch und territorial begründeten Gruppe bezeichnet Werner in Anlehnung an Eugen Ewig als „Regentilisierung“.182 In diesem Zusammenhang wies Ewig auf eine weitere bemerkenswerte Entwicklung hin. Die bereits erwähnte Marginalnotiz des Kommentators des Liber Historiae Francorum überliefert die Nachricht, die Franken hätten nach der Eroberung ihres Landes die Sprache der Römer übernommen, die bis dahin in diesem Gebiet gewohnt hatten, und ihre eigene alte Sprache vergessen. Diese Notiz stammt frühestens aus dem 9. Jahrhundert. Ewig zufolge zeigt sie somit einerseits, dass zu dieser Zeit sprachlichen Unterschieden mehr Aufmerksamkeit als zuvor geschenkt worden sei, anderer-

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S. S TEIN , Der „Romanus“ in den fränkischen Rechtsquellen. Mitt. Inst. Österr. Geschichtsforsch. 43, 1929, 1–19, hier 11. S TEIN , Romanus (wie Anm. 179) 17. – Zur Diskussion vgl. auch U. S TUTZ , „Römerwergeld“ und „Herrenfall“. Zwei kritische Beiträge zur Rechts- und Verfassungsgeschichte der fränkischen Zeit. Abhandl. Preuss. Akad. Wiss, phil.-hist. Kl., 2 (Berlin 1934). – S. S TEIN , Der „Romanus“ in den fränkischen Rechtsquellen. Hist. Vierteljahrschr. 31, 1939, 232–250. W ERNER, Volk, 221. W ERNER, Volk, 219.

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seits aber, dass sich im frühen Mittelalter gerade die gentile Volksauffassung einem linguistischen Volksbegriff entgegenstellte.183 Insgesamt ergeben sich aus diesen Erkenntnissen zur Entstehung des fränkischen Reiches drei Feststellungen, die für die ethnische Interpretation der frühmittelalterlichen Reihengräberfelder von besonderer Bedeutung sind. 1. Anders als die ur- und frühgeschichtliche Forschung bei der Interpretation frühmittelalterlicher Grabfunde bis in jüngere Zeit mitunter voraussetzt,184 bezeichnen Franci bwz. Romani im Merowingerreich keine Sprachgemeinschaften. 2. Bei Franci und Romani handelt es sich nicht um ethnisch-kulturell distinkte Abstammungsgemeinschaften, sondern um wandelbare politischrechtliche Gruppierungen 3. Diese Beobachtungen deuteten darauf hin, dass es weder eine stabile „romanische“ ethnische Identität noch eine „germanisch-fränkische Nationalität“185, die in der frühgeschichtlichen Archäologie bei ethnischen Interpretationen zugrunde gelegt werden, jemals gegeben hat.

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E WIG , Volkstum, 273. S TEIN , Bevölkerungsverhältnisse, 69. – Vgl. auch Kap. 2 – Kap. 4. A MENT , Franken, 395.

II. „Germanen“ und „Romanen“ in der Archäologie des Merowingerreiches

Das ethnische Paradigma: Sprache – Kultur – Rasse 1840–1888

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8. Das ethnische Paradigma: Sprache – Kultur – Rasse 1840–1888 Die Publikation des frühmittelalterlichen Gräberfelds von Selzen in Rheinhessen durch die Brüder Wilhelm und Ludwig Lindenschmit gilt zu Recht als Wendepunkt in der Geschichte der Frühmittelalterarchäologie.1 Das Werk markiert den Beginn einer Forschungstradition, die sich bis in die Gegenwart im Wesentlichen ungebrochen fortsetzt. Durch die Grabungen in Selzen in den Jahren 1845 und 1846 wurden zwei eng miteinander verknüpfte Streitfragen entschieden, die einer Gruppe von Gelehrten über Jahre hinweg Anlass zu einer teilweise erbittert geführten Kontroverse geboten hatten. Dank eines glücklichen Zufalls enthielten zwei der insgesamt 22 Gräber von Selzen Münzen, die durch ihre Umschriften in justinianische Zeit datiert werden konnten.2 Aufgrund dieser Funde wurde die Auseinandersetzung um die Datierung der „Gräber mit Eisenwaffen“ entschieden, deren frühmittelalterliche Zeitstellung nun sicher erwiesen war. Mehr noch als die chronologische Einordnung hatte die Gelehrten jedoch die Frage erhitzt, welches Volk – Germanen oder Kelten – diese Gräber hinterlassen hatte. In Anbetracht der Datierung des Gräberfelds von Selzen galt der Streit um die ethnische Zugehörigkeit der Reihengräberfelder als gelöst: Die Brüder Lindenschmit wiesen das Gräberfeld den Germanen („Deutschen“) bzw. den Franken zu.3 Aus diesem Grund gilt das Gräberfeld von Selzen vielfach bis heute als wissenschaftlicher „Beweis für die Zuordnung von archäologischen Fundstücken zu historisch überlieferten Ethnien“.4 Eine Zuweisung der Funde an die Römer bzw. Romanen wurde in diesem Zusammenhang von vorneherein nicht erwogen: Zum einen unter1

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P ÉRIN , Datation. – H. A MENT , Frühe Funde und archäologische Erforschung der Franken im Rheinland. In: Die Franken, 23–34, hier 32. – K. B ÖHNER, Das RömischGermanische Zentralmuseum – eine vaterländische und gelehrte Gründung des 19. Jahrhunderts. Jahrb. RGZM 25, 1978, 1–47, hier 26. W. L INDENSCHMIT /L. L INDENSCHMIT , Das germanische Todtenlager bei Selzen in der Provinz Rheinhessen (Mainz 1848) 16 f. L INDENSCHMIT /L INDENSCHMIT , Selzen (wie Anm. 2) 38. T. P ANKE , Altertumskunde zwischen Fortschritt und Beharrung: Ludwig Lindenschmit d. Ä. (1809–1893) in seiner Zeit. Jahrb. RGZM 45/2, 1998, 711–774, hier 714.

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Das ethnische Paradigma: Sprache – Kultur – Rasse 1840–1888

schieden sich die fraglichen Friedhöfe sehr deutlich von den bereits bekannten römischen Grabstätten. Ein weiterer Grund war weit weniger pragmatisch: Die frühmittelalterlichen „Romanen“ und ihre archäologischen Hinterlassenschaften eigneten sich kaum als Bezugspunkt nationaler Identität – und hier lag zweifellos ein Hauptantrieb für die Beschäftigung mit diesen Altertümern. Ausgehend vom Gräberfeld von Selzen möchte ich der Frage nachgehen, inwieweit bereits die Anfänge der wissenschaftlichen Frühmittelalterarchäologie unter dem Eindruck des „ethnischen Paradigmas“ standen. Im Anschluss an Wolfgang Kaschuba verstehe ich unter „ethnischem Paradigma“ solche Forschungen, deren zentraler Gegenstand das „Volk“ in einem biologisch aufgeladenen Sinne bildet. Das „Volk“ meint somit primär eine Abstammungsgemeinschaft, wobei mit der biologischen Zusammengehörigkeit weitere mentale und kulturelle Gemeinsamkeiten verbunden werden.5 Im 19. Jahrhundert wurde das „Volk“ in diesem Sinne nach und nach in allen Kulturwissenschaften zum paradigmatischen Leitbegriff. Die heimische Altertumsforschung bildete in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Bemerkenswert an den Ausführungen der Brüder Lindenschmit zu Selzen ist vor allem, dass drei zentrale Argumentationsmuster bereits vorhanden waren, die die Diskussion um die ethnische Interpretation der frühmittelalterlichen Reihengräberfelder bis weit in das 20. Jahrhundert prägen sollten: 1) Die Auffassung, dass die Kunststile, mit denen die frühmittelalterlichen Kleinfunde verziert sind, charakteristisch für ein bestimmtes Volk seien. 2) Die Ansicht, dass das anthropologische Material aus den Reihengräberfeldern einer einheitlichen Rasse zugeschrieben werden könne. 3) Die Überzeugung, die historischen Quellen würden einen fundamentalen Antagonismus zwischen Römern und Germanen belegen, welcher dazu geführt habe, dass die einheimische Bevölkerung entweder getötet, vertrieben oder unterjocht wurde. Obwohl die Publikation zu Selzen zweifellos einen wichtigen Anfang markierte, sollte die traditionsbildende Bedeutung dieses Ereignisses nicht überschätzt werden. Dieses Werk konnte nur deshalb so breit rezipiert werden, weil sowohl in Mittel- als auch in Westeuropa seit längerem vergleichbare Fragestellungen verfolgt wurden. Bevor ich mich der Frage zuwende, mit welchen Argumenten die Brüder Lindenschmit ihre Zuweisung der Selzener Funde an die Franken bzw. Germanen stützten, sollen deshalb diese

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K ASCHUBA , Europäische Ethnologie, 140.

Das ethnische Paradigma: Sprache – Kultur – Rasse 1840–1888

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Voraussetzungen skizziert werden. Dabei handelt es sich zunächst um die bereits erwähnte wissenschaftliche Kontroverse zwischen germanophilen und keltophilen Gelehrten in Südwestdeutschland und in der Schweiz. In der Folge werde ich anhand der britischen Altertumskunde sowie des Beispiels des Abbé Cochet auf die Situation in Großbritannien und Frankreich eingehen. Die Frage nach den Auswirkungen des ethnischen Paradigmas ist eng verbunden mit dem Phänomen des Nationalismus. Der nachhaltige Anstoß, den der Siegeszug des Nationalstaatsgedankens der entstehenden Altertumsforschung gegeben hat, ist sicher kaum zu überschätzen. In der Fachgeschichte der Archäologie wird er deshalb meist gebührend herausgestellt.6 In manchen wissenschaftsgeschichtlichen Darstellungen wird zuweilen der Eindruck erweckt, bei „Nationalismus“ bzw. „Patriotismus“ habe es sich um Erscheinungen gehandelt, die gleich einer Epidemie nach und nach um sich griffen und unterschiedslos immer größere Bevölkerungskreise erfassten. Angesichts der Fülle von Arbeiten zum Thema „Archäologie und Nationalismus“ aus den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten wurde, wie Marc-Antoine Kaeser zu Recht hervorhob, mitunter übersehen, dass es ebenso eine „international“ bzw. universalistisch orientierte Richtung der Forschung gab.7 Archäologische Forschung ist ebenso wenig immanent „nationalistisch“ wie Forscher notwendigerweise von einem nationalen oder patriotischen „Zeitgeist“ geprägt werden.8 Welcher geistigen Strömung ein Gelehrter sich anschloss, blieb letztlich auch in diesem Zusammenhang eine persönliche Entscheidung.9 Das Beispiel der Frühmittelalterarchäologie zeigt, dass nicht allein nationale Traditionen, sondern ebenfalls die Entstehung eines internationalen Netzwerks von Wissenschaftlern die Entwicklung der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie entscheidend beeinflusst hat. Ob etwa der xenophobe Nationalismus eines Wilhelm Lindenschmit10 für die Entfaltung der frühmittelalterlichen Gräberforschung um 1850 insgesamt bedeutender war als etwa die internationale Diskussion in der britischen Zeitschrift „Archaeologia“11, darf bezweifelt werden. Im konkreten Fall gestaltet sich der Umgang mit dem frühen „Nationalismus“ in der Wissenschaftsgeschichte eher beschwerlich. Bei näherer Be6 7 8 9 10 11

T RIGGER, History, 148 ff. – M ARCHAND , Olympus, passim. M.-A. K AESER, On the international roots of prehistory. Antiquity 76, 2002, 170–184. K AESER, Roots (wie Anm. 7) 171. K AESER, Roots (wie Anm. 7) 177. Siehe unten Kap. 8a. Siehe unten Kap. 8c.

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trachtung entpuppt sich der „nationale Aufbruch“12 des frühen 19. Jahrhunderts als äußerst komplexes Phänomen.13 Einen einheitlichen „Nationalismus“ hat es wohl nie gegeben. Die verschiedenen Strömungen, die den Nationalstaatsgedanken verinnerlichten, besaßen vielfach sehr unterschiedliche und zum Teil konträre Vorstellungen davon, wie die künftige Nation beschaffen sein sollte. Die Frage nach dem Einfluss des nationalen Gedankenguts auf die Interpretationen in der Archäologie des frühen Mittelalters muss deshalb für jeden Forscher individuell gestellt werden.

a) Germanophile und Keltophile: Die Nationalisierung der Frühgeschichte in Deutschland Bei archäologischen Forschungen in den Jahrzehnten nach 1820 erfasste man verschiedentlich größere Ausschnitte frühmittelalterlicher Gräberfelder. Anhand der Publikationen, die daraufhin erschienen, wurde bald offensichtlich, dass bestimmte Gräberfelder, wie die von Nordendorf14, Fridolfing15, Wiesenthal bei Bruchsal16, Ebringen17 oder Bel-Air bei Lausanne18, große Ähnlichkeiten aufwiesen. Im deutschsprachigen Raum erkannte der Sinsheimer Pfarrer Karl Wilhelmi wohl als Erster die archäologischen Funde des Reihengräberhorizontes als zusammengehörige Fundgruppe.19 1846 verglich der Schweizer Frédéric Troyon20 die Gräber12 13

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K OSSACK , Prähistorische Archäologie, 19. U. P LANERT , Wann beginnt der „moderne“ deutsche Nationalismus? Plädoyer für eine nationale Sattelzeit. In: J. Echternkamp/S. O. Müller (Hrsg.), Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760–1960. Beitr. z. Militärgesch. 56 (München 2002) 25–59. J. N. V. R AISER, Die uralte Grabstätte bey Nordendorf. Jahresber. Hist. Ver. Schwaben 8/9, 1842/1843, 14–38. – D ERS., Fortgrabung auf der uralten Grabstätte bey Nordendorf bis zur Erschöpfung derselben. Jahresber. Hist. Ver. Schwaben 10/11, 1844/45, 1–48. J. E. V. K OCH -S TERNFELD , Zur bayerischen Fürsten-, Volks-, und Culturgeschichte, zunächst im Uebergange vom V. in das VI. Jahrhundert nach Christus. Abhandl. Hist. Cl. Kg. Bayer. Akad. Wiss. 2, 1 (München 1837) bes. 50–66. – M. K OCH , Aufklärung über die Schlacht zu Fridolfing durch die neusten antiquarischen Funde. Oberbayer. Archiv 6, 1844, 77–112. K. W ILHELMI , Die Todtenhügel im Wiesenthal. Jahresber. Mitglieder Sinsheim 6, 1838, 5–32. H. S CHREIBER, Die neuentdeckten Hünengräber im Breisgau (Freiburg i. Br. 1826). F. T ROYON , Description des tombeaux de Bel-Air près Cheseaux sur Lausanne (Lausanne 1841). K. W ILHELMI , Vergleichende Darstellung der Resultate der bis jetzt geschehenen Eröffnungen der uralten nicht Römischen Grabstätten in der südlichen Hälfte Deutsch-

Germanophile und Keltophile: Die Nationalisierung der Frühgeschichte

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felder von Bel-Air, Nordendorf und Lens (Pas-de-Calais) miteinander, datierte sie anhand von Münzfunden ins frühe Mittelalter und wies sie Burgunden, Alemannen und Franken zu.21 Durch seine persönlichen Kontakte zu den Brüdern Lindenschmit übte Troyon ferner einen beträchtlichen Einfluss auf die systematische Behandlung der Chronologie im Werk über Selzen aus.22 Die diesbezüglichen Ansätze Wilhelmis und Troyons wurden durch die Grabung in Selzen endgültig auf eine solide Basis gestellt: „Die Gräber mit Eisenwaffen stammen aus der Zeit der Völkerwanderung“ verkündete bereits das Titelblatt der Publikation zu Selzen (Abb. 5). Mit der Datierung der Reihengräberfelder war auch die Streitfrage entschieden, die der Hauptantrieb für die wissenschaftliche Beschäftigung mit den archäologischen Funden gewesen war. Die Frage, welchen Völkern ihre Entdeckungen jeweils zuzuweisen seien, beschäftigte die archäologische Forschung bereits seit ihren Anfängen.23 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewannen diese Debatten allmählich eine neue Qualität. Verschiedene Umwälzungen in den Jahren um 1800 – die territoriale Neuordnung des Reiches 1803, das Ende des Alten Reichs 1806, die napoleonischen Kriege – erschütterten in Deutschland die überlieferten Identifikationsmuster besonders der Bildungseliten tiefgreifend. Diese Entwicklung bildete den Hintergrund für den erstaunlichen Erfolg des neuen nationalen Gedankenguts, das in einer Phase unsicherer Selbstzuschreibungen eine neue Identität zu verheißen schien. Träger des frühen Nationalismus war zunächst eine schmale Schicht Intellektueller, meist protestantische Theologen, Historiker, Schriftsteller, Beamte und Gymnasiallehrer; jene Schicht also, der auch die meisten archäologisch interessierten Antiquare angehörten.

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lands. Jahresber. Mitglieder Sinsheim 7, 1840, 5–72; ebd. 8, 1842, 3–83; ebd. 9, 1843, 4–76; ebd. 11, 1846, 1–150; ebd. 12, 1848, 1–44. – Vgl. dazu E. W AHLE , Karl Wilhelmi (1786–1857) als Begründer der Altertumsforschung in Süddeutschland. In: Ders., Tradition und Auftrag prähistorischer Forschung (Berlin 1964) 132–219, hier 191–194. – A MENT , Erforschung (wie Anm. 1) 31. – H.-M. M AURER, BadenWürttembergs frühester Altertumsverein. Die Sinsheimer Gesellschaft von 1828 bis 1856 und ihr kurpfälzischer Gründer. Zeitschr. Gesch. Oberrhein 147, 1999, 671–699. W. L EITZ , Das Gräberfeld von Bel-Air bei Lausanne. Frédéric Troyon (1815–1866) und die Anfänge der Frühmittelalterarchäologie. Cahiers Arch. Romande 84 (Lausanne 2002) bes. 13–76. F. T ROYON , Antiquités de Bel-Air, près de Lausanne, de Nordendorf, près Augsbourg en de Leus, dans le département du Pas-de-Calais. Allgemeine Zeitschr. f. Gesch. 5, 1846, 272–285, bes. 281 und 283. L EITZ , Bel-Air (wie Anm. 20) 38. B RATHER, Identitäten, 139 ff.

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Abb. 5: Titelblatt der Publikation zu Selzen

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Insbesondere für jene Teile der Bildungseliten, die sich von den kirchlichen Dogmen weitgehend gelöst hatten, gewann der Nationalismus den Status einer Ersatzreligion. Die Nation, die das in den Selbstzuschreibungen klaffende „sozialpsychische Vakuum“ (Hans-Ulrich Wehler) ausfüllen sollte, wurde zeitlich in zwei Richtungen konstruiert: Einerseits rückwärtsgewandt, als Mythos einer großen, national interpretierten Vergangenheit, andererseits als Utopie einer nationalen Regeneration in der Zukunft, die die Vergangenheit noch übertreffen werde.24 In diesem Zusammenhang begannen zahlreiche Gelehrte damit, sich neben anderen Quellen zur vaterländischen Geschichte auch mit den archäologischen Hinterlassenschaften zu befassen. Der deutsche Nationalismus entwickelte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich von einem ausgesprochenen Elitennationalismus zum Massennationalismus. Vor allem die sogenannte Rheinkrise von 1840, als in Frankreich als Reaktion auf eine diplomatische Niederlage in der Orientpolitik lautstark der Anspruch Frankreichs auf die Rheingrenze erneuert wurde,25 führte zu einer außerordentlichen Beschleunigung der Massenverbreitung nationalen Gedankenguts.26 Vor diesem Hintergrund war es wohl kein Zufall, dass in den Jahren unmittelbar nach 1840 die Auseinandersetzung über die ethnische Zuweisung der ur- und frühgeschichtlichen Funde Süddeutschlands vor allem von germanophiler Seite mit einer zuvor nicht gekannten Schärfe geführt wurde. Hinter der teils erbittert geführten Kontroverse zwischen „Keltophilen“ und „Germanophilen“ stand letztlich die Frage, welches Volk die eigentliche Urbevölkerung Deutschlands sei – und somit der Gegenstand der eigenen Nationalgeschichte.27 24

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H. U. W EHLER, Nationalismus und Nation in der deutschen Geschichte. In: H. Berding (Hrsg.), Nationales Bewusstsein und kollektive Identität (2Frankfurt 1996) 163–175, hier 166 f. J. S METS, Der Rhein, Deutschlands Strom, aber Frankreichs Grenze. Zur Rheinmythologie in Frankreich und in Deutschland vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Jahrb. westdt. Landesgesch. 24, 1998, 7–50, hier 34 ff. W EHLER, Nationalismus und Nation (wie Anm. 24) 169 f. In den folgenden Ausführungen stützte ich mich maßgeblich auf: D. H AKELBERG , Nationalismus einer Elite. „Heidnisches Teutschland“ und „vaterländische Altertumskunde“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: E. Vogel/A. Napp/W. Lutterer (Hrsg.), Zwischen Ausgrenzung und Hybridisierung. Zur Konstruktion von Identitäten aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. Identitäten und Alteritäten, Bd. 14 (Würzburg 2003) 15–35. – Zu den Auseinandersetzungen zwischen Keltophilen und Germanophilen vgl. auch: F. G ARSCHA , Heinrich Schreiber und die oberrheinische Frühgeschichtsforschung im 19. Jahrhundert. In: H. Kirchner (Hrsg.), Ur- und Frühgeschichte als historische Wissenschaft. Festschrift zum 60. Geburtstag von

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Die Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern ist ein elementarer Mechanismus bei der Konstituierung einer Nation. Jedem Nationalismus ist die Abgrenzung von vermeintlich Nationsfremdem eigen. Die „Ausgrenzung des Fremden“ kann laut Dieter Langewiesche dabei sowohl nach innen wie nach außen erfolgen. Unter den gebildeten Eliten des deutschen Vormärz konkurrierten verschiedene Ausgrenzungsdiskurse miteinander.28 Diese bildeten den Hintergrund für die Debatten zwischen Germanophilen und Keltophilen. „Kelten“ bzw. „Germanen“ dienten dabei zumindest partiell als Chiffren für unterschiedliche Strömungen innerhalb der deutschen Nationalbewegung. Zur Begründung der Forderung nach einem deutschen Nationalstaat und zur Abgrenzung seines Territoriums nach Westen waren die Kelten denkbar ungeeignet. Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich im Gefolge der gefälschten Ossian-Dichtung des Schotten James MacPherson eine Welle der Kelten- und Nordlandeuphorie („Ossianismus“) in ganz Europa verbreitet.29 Für die romantisch verklärten Kelten begeisterten sich im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert zahlreiche Gelehrte in verschiedenen Teilen des europäischen Kontinents. Der Aufschwung der Philologien führte ferner dazu, dass vielerorts keltisches Namensgut tatsächlich oder irrtümlich identifiziert wurde. Die Entdeckung des Zusammenhangs der indogermanischen Sprachfamilie löste ferner eine zuvor nicht gekannte Flut von Hypothesen und Spekulationen über Wanderungen und Urheimaten der Völker des Altertums aus. Diese Diskurse wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich nationalisiert. Wie ich weiter unten zeigen werde, galten in Frankreich seit der Französischen Revolution zunehmend die Kelten als eigentliche und ausschließliche Vorfahren der Franzosen. Einen ersten institutionellen Ausdruck fand dies in der Gründung der „Académie celtique“ 1804.30 Ab den 1820er Jahren wurde die fränkische bzw. germanische Traditionslinie in Frankreich zunehmend aus der eigenen Nationalgeschichte ausgegrenzt.31

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Ernst Wahle (Heidelberg 1950) 3–18. – K. B ÖHNER, Vorwort zum Neudruck. In: W. Lindenschmit/L. Lindenschmit, Das germanische Todtenlager bei Selzen (2Mainz 1969) VII–XIX. D. L ANGEWISCHE , Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert: zwischen Partizipation und Aggression. In: Ders., Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa (München 2000) 35–54, hier 52 f. K. V. S EE , Vom edlen Wilden zum Volk der Dichter und Denker. In: Ders., Barbar, Germane, Arier (Heidelberg 1994) 61–82, hier 75 f. K. P OMIAN , Francs et Gaulois. In: P. Nora (Hrsg.), Les lieux de mémoire, Bd. III, 1 (Paris 1992) 41–105, hier 54. P OMIAN , Francs (wie Anm. 30) 72 ff. – Nicolet, Fabrique, 177 ff.

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Im Gegenzug setzte man die Gallorömer der römischen und frühmittelalterlichen Epoche mit fortlebenden Kelten gleich. Die ausschließliche Identifikation von Kelten mit Franzosen bzw. Briten verbreitete sich auch in Deutschland. Die Politisierung der Begriffe „Germanen“ und „Kelten“ hatte hier ebenfalls zur Folge, dass für beide ethnischen Traditionsstränge innerhalb der neuen deutschen Nationalgeschichte kein Platz war. Sowohl die Kelten als auch die (Gallo)-Römer und deren Nachfahren wurden als „fremd“ aus der deutschen Nationalgeschichte ausgegrenzt. Die Tradition der Gleichsetzung von Deutschen und Germanen reicht in Deutschland bis in die Zeit des Humanismus zurück. In vielen archäologischen Arbeiten seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Germanen ganz selbstverständlich als „Deutsche“ bzw. „alte Deutsche“ bezeichnet. Seit napoleonischer Zeit stellte die Abgrenzung gegen Frankreich für den deutschen Nationalismus ein bedeutendes Motiv dar.32 In den Jahren nach 1815 war eine antifranzösische Gesinnung in Teilen der nationalen Bewegung weit verbreitet, vor allem unter den Turnern und Burschenschaftlern. Sie war jedoch keineswegs allgemein vorherrschend. Insbesondere in jenen Teilen West- und Süddeutschlands, in denen sich die napoleonischen Reformen positiv ausgewirkt hatten, fanden antifranzösische Tiraden im Stile Jahns, Fichtes oder Arndts insgesamt wenig Anklang.33 Erst durch die bereits erwähnte Rheinkrise von 1840 flammten kurzzeitig antifranzösische Ressentiments auf.34 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die keltophile Strömung unter den Gelehrten des süddeutschen Raums bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Anhänger hatte. Die Verdrängung dieser Richtung aus dem wissenschaftlichen Diskurs fällt in die Jahrzehnte nach der gescheiterten Revolution von 1848. Welchen Anteil dabei neben wissenschaftsimmanenten Entwicklungen die darauf folgende politische Neuorientierung der Bildungseliten hatte, ist weitgehend ungeklärt. Neben dem Feindbild Frankreich rückte im Vormärz zunehmend das „Fremde im Inneren“ in das Blickfeld der nationalen Bewegung. Vor allem

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H.-U. W EHLER, Nationalismus. Geschichte, Folgen, Formen (München 2001) 68–70. D. L ANGEWIESCHE , „für Volk und Vaterland kräftig zu würken …“. Zur politischen Rolle der Turner zwischen 1811 und 1871. In: Ders., Nation (wie Anm. 28) 103–131, hier 107; 109; 113. M. J EISMANN , Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918 (Stuttgart 1991) 170–172.

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die republikanischen Demokraten innerhalb der Nationalbewegung erklärten die reaktionären Kräfte im Land zum eigentlichen Gegner. Diese Strömung, die schließlich in der gescheiterten Revolution von 1848 gipfelte, wandte sich in zahlreichen Stellungnahmen gegen die antifranzösischen Affekte („hohler Rheinlandsliedenthusiasmus“) innerhalb der Nationalbewegung, die im Verdacht standen, Gegensätze im Inneren durch einen nationalen Einheitskult übertünchen zu wollen.35 Bemerkenswert für die hier behandelte Fragestellung ist, dass auch die Begeisterung für mittelalterliche Monumente den republikanischen bzw. radikaldemokratischen Kräften verdächtig erschien. So heißt es im „Deutschen Buergerbuch für 1845“: Betheiligt euch an keinem nationalen Geschrei, freßt keine Franzosen, meidet die Erinnerungsfeste an die sogenannte Befreiungszeit, schließt euch keinen politisch-religiösen Vereinen an, wendet das Geld, das man euch für die Re s t a u r a t i o n d e s M i t t e l a l t e r s abfordert, lieber zur Anschaffung und Verbreitung guter Zeitungen und Bücher an, […] errichtet keine Monumente, wobei es nicht auf einen Zweck politischer Freiheit ankommt […] kurzum entzieht eure Bereitwilligkeit, Theilnahme und Unterstützung Allem und Jedem, was nicht von Freiheit ausgeht und auf Freiheit hinaus will, t h u t k e i n e S p a n n d i e n s t e a m Tr i u m p h w a g e n d e r Re a k t i o n .36

Heinrich Schreiber Ich komme auf die Auseinandersetzung in der Altertumskunde der 1840er Jahre zurück. In beiden Lagern – bei „Germanophilen“ wie bei „Keltophilen“ – spielten patriotische bzw. nationale Motive eine Rolle. Ohne damit die verschiedenen Lager pauschal bestimmten politischen Richtungen zuweisen zu wollen – diese Frage bedürfte einer detaillierten Untersuchung, – lässt etwa der Vergleich zwischen Heinrich Schreiber einerseits und Karl Wilhelmi bzw. den Brüdern Lindenschmit andererseits deutliche Unterschiede erkennen.37 Der Freiburger Historiker und katholische Theologe Heinrich Schreiber war Hauptwortführer der keltophilen Richtung der Altertumsforschung in Südwestdeutschland. Seiner Autobiographie zufolge entsprangen seine archäologischen Arbeiten nicht allein altertumskundlichem Interesse. Retrospektiv bekannte er, durch seine Studien zur vaterländischen Altertums35 36

37

L ANGEWIESCHE , Nationalismus (wie Anm. 28) 52. K. H EINZEN , Ein Wort über erlaubten Widerstand. In: H. Püttmann (Hrsg.), Deutsches Buergerbuch für 1845 (Darmstadt 1845) 1–21, hier 20 (Sperrungen im Original). H AKELBERG , Teutschland (wie Anm. 27).

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kunde habe er einem breiten Publikum seine theologischen Überzeugungen nahebringen wollen: Es sollte Moral lehren unter dem Gewande der Geschichte. Dazu war nun allerdings noch ein besonderes Vehikel nötig, das der Verfasser in seinen Studien über die vaterländische Archäologie fand.38

Sein besonderes Interesse an den Kelten führte Schreiber darauf zurück, dass einerseits die keltische Richtung in Deutschland nur wenige Vertreter gehabt habe, andererseits weil er sich „durch eigene Gemütsstimmung […] damit befreundet fühlte“.39 Ferner stand er zu Beginn seiner Beschäftigung mit der Altertumskunde in engem wissenschaftlichem Kontakt zu Forschern, die sich von philologischer Seite mit den Kelten beschäftigt hatten.40 Schließlich dürfte auch seine religiöse Prägung seine keltistische Ausrichtung mitbestimmt haben. War nicht gerade seine Heimat am Oberrhein von den iroschottischen, d. h. keltischen, Wandermönchen Gallus und Columban zum Christentum bekehrt worden? Gerade der Verherrlichung des vorchristlichen, „heidnischen“ Altertums der Germanen, wie sie auf germanistischer Seite verbreitet war, musste Schreiber ablehnend gegenüber stehen. Trotz seiner nationalen Überzeugung war Schreiber Kosmopolit und seit seiner Jugend den Idealen der Aufklärung verbunden.41 Seine nationalen Bestrebungen richteten sich auf religiöse und konfessionelle Probleme. In den konfessionellen Spannungen sah er den Hauptgrund für die Spaltung der deutschen Nation. Seine Hoffnung für die Überwindung der gesellschaftlichen Fragmentierung in religiös-weltanschauliche Gruppierungen, konkurrierende Stände, Klassen und Parteien richtete er auf die Errichtung einer „Deutschkatholischen Nationalkirche“. Schreiber strebte zwar nach einer der „deutschen Volkstümlichkeit angemessenen Nationalkirche“, wollte diese aber in eine allgemein-christliche und katholische Weltkirche einbinden und ausdrücklich entsprechende Bestrebungen bei jeder anderen Nation „achten und fördern“.42 In seiner 1842 erschienenen Schrift „Die ehernen Streitkeile zumal in Deutschland“ beschwor Schreiber die „heiligen Bande […] der Aufklärung und 38

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H. S CHREIBER, Selbstbiographie. Zitiert nach: R. R IEKE , Heinrich Schreiber 1793– 1872. Beitr. Freiburger Wiss.- u. Universitätsgesch. 9 (Freiburg 1956) 88. S CHREIBER, Selbstbiographie (wie Anm. 38). R IEKE , Schreiber (wie Anm. 38) 82. H AKELBERG , Teutschland (wie Anm. 27) 22–26. – F. W. G RAF , s.v. Heinrich Schreiber. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 9 (Herzberg 1995) 927–959, hier 928 und 935 f. G RAF , Schreiber (wie Anm. 41) 938–945, bes. 941.

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Bildung“ und äußerte die Hoffnung, die Beschäftigung mit den „keltischen Streitkeilen“ werde in Zukunft Männer auf beiden Seiten des Rheins miteinander verbinden.43 Überhaupt galten ihm die Kelten als das „eigentliche Urvolk“ Europas, das zum „christlichen Urvolk“ geworden sei.44 Sie hätten bereits auf einer gehobenen Kulturstufe gestanden. Ihnen verdanke das Oberrheintal seine erste Bevölkerung, seinen Bergbau, Ackerbau und Weinbau, seine „frühe Bildung“ und das Christentum.45 In ihrer heidnischen Phase beurteilte er sie dagegen kritisch. Neben ihrem Aberglauben beschrieb er auch Eitelkeit, Galanterie und Grausamkeit als typische Charakterzüge.46 Unter römischer Oberherrschaft seien die Kelten allmählich zu Romanen geworden. Die römische Herrschaft beurteilte Schreiber sehr positiv: Gewerbe aller Art blühten; Tempel und Stadtmauern zerfielen, nicht durch Feindesgewalt, sondern durch Alter. Das C h r i s t e n t h u m fand allenthalben bereitwillige Aufnahme, und das Land r o m a n i s i e r t e sich; sowohl den E i n r i c h t u n g e n als auch der S p r a c h e nach.

Die Bewohner des heutigen Südwestdeutschlands standen Schreiber zufolge in einem ebensolchen Verhältnis zum Römischen Reich wie die Elsässer zu Frankreich. So wie die Elsässer heute Franzosen hießen, so seien auch aus den Kelten Romanen geworden.47 In den Rätoromanen sah er die Nachfahren der alten Helvetier, die beim „Einbruche der Germanen in das Hochgebirge geworfen“ wurden, hier aber zusammen mit ihrer Freiheit auch einiges von ihrer ursprünglichen Nationalität bewahrt hätten. Nicht ohne Bedauern beschrieb er die „immer schweigsamen Bewohner “, auf denen eine gewisse „aus uralter Zeit ererbte Sorge und Verdüsterung“ laste.48 Von den Germanen zeichnete Schreiber im Gegensatz zu den Kelten ein wenig schmeichelhaftes Bild. Anders als die Kelten seien die Germanen kein europäisches „Urvolk“, sondern erst spät aus Asien nach Europa eingewandert.49 Auffällig ist zudem, dass Schreiber, im Unterschied zu vielen 43

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H. S CHREIBER, Die ehernen Streitkeile zumal in Deutschland. Eine historisch-archäologische Monographie (Freiburg 1842) VII–VIII. H. S CHREIBER, Die Metallringe der Kelten als Schmuck und Geld. In: Taschenbuch Gesch. Alterthum Süddeutschland 2, 1840, 67–152, hier 75. H. S CHREIBER, Die Keltengräber am Oberrhein. In: Taschenbuch Gesch. Alterthum Süddeutschland 1, 1839, 131–232, hier 232. H. S CHREIBER, Das Kriegswesen der Kelten. II: Altnationales Schildbild der Kelten. Taschenbuch Gesch. Alterthum Süddeutschland 4, 1844, 177–196, hier 181. S CHREIBER, Metallringe (wie Anm. 44) 99 f. H. S CHREIBER, Die Romanen im hohen Rhätien. Das Pferd als Nationalsymbol der Kelten. In: Taschenbuch Gesch. Alterthum Süddeutschland 2, 1840, 237–249. S CHREIBER, Metallringe (wie Anm. 44) 94.

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seiner Zeitgenossen, den Begriff „Deutsche“ niemals synonym zu „Germanen“ verwendete. Die These, die Germanen hätten bereits Eisenwaffen besessen, lehnte er mit der Begründung ab, diese hätten seit alters her eine „Abneigung gegen jede anstrengende Arbeit gezeigt “ und deshalb weder zu Bergleuten noch zu Metallarbeitern getaugt.50 Er sprach von der „Zerstörungswut der Alemannen“51 und lastete den Germanen die Zerstörung der „Cultur eines Urvolkes“ an. Das Vordringen der Germanen wertete er als „Z e r s t ö r u n g einer auch im N o r d e n schon weit vorgerückten Entwicklung und Bildung der U r e i n w o h n e r , durch gewaltsam einbrechende B a r b a r e n “. Allerdings hebt Schreiber auch hervor, dass aus den Zerstörungen durch die Germanen schließlich eine „verjüngte, kraftvolle Menschheit “ hervorging.52 Vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte ist die von Schreiber angeführte Analogie zwischen der römischen Oberherrschaft über die Kelten und der französischen Oberherrschaft über das Elsass bemerkenswert. Die römische Herrschaft bewertet er sehr positiv und auch im zweiten, französischen Fall sind in der Darstellung Schreibers keine antifranzösischen Ressentiments zu erkennen. Auch in den Jahren nach der Rheinkrise von 1840, als in Deutschland eine antifranzösische Stimmung weit verbreitet war, rückte Schreiber nicht von seiner Position ab. Obwohl Schreiber in einer spezifisch christlich-katholischen Weise sehr national eingestellt war, wandte er sich in verschiedenen Situationen ausdrücklich gegen die Politisierung der Geschichte und der Religion. Für sein Engagement in der „Gesellschaft für Beförderung der Geschichtskunde in Freiburg“ galt dies ebenso wie für die „Deutschkatholische Kirche“, der er 1845 beigetreten war.53 In ähnlicher Weise warnte Schreiber davor, dass nationale Motive die archäologische Forschung beeinträchtigen können: Beim ersten Anblicke dieser Gräber drängt sich allerdings der Gedanke auf, sie möchten demjenigen Volke angehören, wovon jetzt noch ein Stamm diese Gegenden bewohnt, also den Germanen […]. Es liegt nämlich für das patriotische Gefühl ein großer Reiz darin, sich von den ältesten Denkmalen seiner Vorfahren umgeben zu sehen, und daraus ihren Culturzustand, ihre Lebensweise, einzelne Gebräuche u.s.w. ableiten zu können.54

An anderer Stelle führte Schreiber diesen Gedanken weiter: Er warnte vor einem „vorgefassten Partikularismus“, der dazu führen könne, alle archäologischen Denkmäler für jenes Volk in Anspruch zu nehmen, das gegen50 51 52 53 54

S CHREIBER, Streitkeile (wie Anm. 43) 71–72. S CHREIBER, Keltengräber (wie Anm. 45) 153. S CHREIBER, Metallringe (wie Anm. 44) 74 f. G RAF , Schreiber (wie Anm. 41) 931; 949. S CHREIBER, Keltengräber (wie Anm. 45) 201.

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wärtig darauf siedelte: „Diese und ähnliche Momente mögen daher auch nicht ohne Einfluss auf Forscher geblieben sein, welche sich bemühten und noch bemühen, sämmtliche in Deutschland gefundenen Altertümer (mit Ausschluss der offenbar römischen) für das eigene Volk zu vindicieren.“55 Karl Wilhelmi Die Arbeiten Karl Wilhelmis, des protestantischen Pfarrers und bedeutendsten wissenschaftlichen Widerparts Schreibers, wurden von einer anderen Motivation geleitet. In seiner Rede über Entstehung und Zweck der Altertumsvereine rekurrierte Wilhelmi vor allem auf die antifranzösische Begeisterung der sogenannten Befreiungskriege. Er schilderte zunächst den Werdegang der „Deutschen“, die bereits in der Antike als „größte Nation der Erde“ aufgetreten seien und zuletzt sogar die Römer überwunden hätten. Im Mittelalter habe jedoch ein langsamer Niedergang Deutschlands eingesetzt. Die neuzeitliche Geschichte schilderte er als eine Kette von Demütigungen, die Deutschland von Frankreich angetan worden seien, vom Dreißigjährigen Krieg über den Verlust Straßburgs 1679 durch „trugvolle gallische List “, die „Untaten“ der Französischen Revolution bis zu Napoleon. Erst die „ruhmvollen Befreiungskriege“, als die Verbündeten über den „alten deutschen Rhein“ gezogen seien, habe die Macht der Deutschen wieder hergestellt. Aus diesem Sieg leitete Wilhelmi die Entstehung der vaterländischen Altertumskunde ab. Mit dem „Deutschen Bund“ sei in nachnapoleonischer Zeit ein „starker Deutscher Staatenbund “ geschlossen worden, zur „Bewahrung des Friedens im Innern Deutschland’s“ und zum Schutze gegen jeden Angriff von außen: „Nun war es wieder ein erhebendes Gefühl, eine Ehre, ein Triumph, ein Deutscher zu sein“. Auf diesen nationalen Impetus führte Wilhelmi den Aufschwung der Altertumskunde zurück: „Nun wandte man sich forschend auch nach der Deutschen Urzeit und den Jahren der frühen Größe und des Glanzes der deutschen Nation zurück, bis in jene Tage selbst hinein, in denen die alten Germanen noch nicht schrieben, und über die uns keine Zeugnisse übrig sind, als die heidnischen Totenhügel der edelsten Geschlechter.“56 Bemerkenswert sind an Wilhelmis Ausführungen zwei Punkte: Mit der Herleitung der deutschen Nationalbewegung aus den sogenannten Befrei55 56

S CHREIBER, Streitkeile (wie Anm. 43) 67 f. K. W ILHELMI , Geschichtliche Übersicht aller geschichts- und alterthumsforschenden Vereine deutscher Zuge; nebst Andeutungen über ihren Zweck. Schr. AlterthumsVer. Baden 1, 1845, 17–31, hier 18–20.

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ungskriegen gibt er einen Topos wieder, der erst im Nachhinein in die Genealogie der deutschen Nationalbewegung aufgenommen wurde.57 Die von Wilhelmi damit parallelisierte Entstehung der Altertumskunde wurde, wie Dietrich Hakelberg ausführte, ebenfalls bis weit in das 20. Jahrhundert hinein auf vergleichbar topische Weise begründet.58 Die positive Bewertung des Deutschen Bundes am Vorabend der Revolution verdeutlicht ferner, dass Wilhelmi in seiner Altertumskunde tendenziell eine affirmative Kraft für die herrschende politische Ordnung sah. Wilhelm und Ludwig Lindenschmit Auch für die altertumskundlichen Interessen der Brüder Wilhelm und Ludwig Lindenschmit lassen sich andere Motive ausmachen als beim keltophilen Heinrich Schreiber. Beide Lindenschmits waren Protestanten und in ihrer Jugend Turner, Wilhelm Lindenschmit darüber hinaus auch Burschenschafter gewesen.59 Der Ausbildung nach beide Kunstmaler, wandten sie in den frühen 1840er Jahren ihr Interesse der Altertumskunde zu.60 Beide sahen ihre archäologischen Arbeiten in „germanistischem“ Kontext. Wilhelm Lindenschmit stellte seinem 1846 erschienenen Werk „Die Räthsel der Vorwelt: oder sind die Deutschen eingewandert?“ ein Grußwort an Jacob Grimm, den „Fürst der Forscher “,61 voran, und überreichte ihm die Schrift während der Frankfurter Germanistenversammlung.62 Ludwig Lindenschmit rekurrierte in seiner Vorrede zur Selzener Publikation auf den Lübecker Germanistentag, der die „Beurtheilung des deutschen Nationalcharakters immer enger an die Aufhellung unserer Urgeschichte“ geknüpft habe.63 Die Frage, ob ein Forscher für Kelten oder Germanen Partei nahm, war weit mehr als eine rein antiquarische Frage. Während Ludwig Lindenschmit trotz aller nationaler Begeisterung einen recht sachlichen Stil pflegte, überschüttete Wilhelm Lindenschmit, der noch im Jahr des Erscheinens der Publikation zu Selzen verstarb, sowohl die verhassten Kelten als auch die keltenbegeisterten Gelehrten mit heftigen Injurien. Die in 57 58 59 60 61

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W EHLER, Nationalismus (wie Anm. 32) 71. H AKELBERG , Teutschland (wie Anm. 27). P ANKE , Lindenschmit (wie Anm. 4) 757. P ANKE , Lindenschmit (wie Anm. 4) 720. W. L INDENSCHMIT , Die Räthsel der Vorwelt oder: Sind die Deutschen eingewandert? (Mainz 1846) Vorwort und 35 Anm. 1. L INDENSCHMIT , Räthsel (wie Anm. 61) Nachtrag 2. L INDENSCHMIT /L INDENSCHMIT , Selzen (wie Anm. 2) Vorrede.

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Abb. 6: Selbstportrait Wilhelm Lindenschmits im Kreise seiner Familie (1836). (nach W. W EBER (Hrsg.), Die Künstlerfamilien Lindenschmit aus Mainz. Gemälde, Graphiken, Dokumente [Mainz 1983] 34.)

den „Räthseln der Vorwelt“ behandelte Frage, ob die Germanen aus Asien nach Deutschland eingewandert – wie im Anschluss an die indogermanische Sprachwissenschaft häufig behauptet wurde – oder das autochthone Urvolk Deutschlands seien, war für ihn nicht allein eine wissenschaftliche, sondern auch eine Frage des „Patriotismus“. Wer nicht für die „alten Deutschen“, die Germanen, Partei nahm, war auch gegen die nationale Sache der Deutschen. Die keltophilen Gelehrten beschuldigte er deshalb des mangelnden Patriotismus. Die These des Historikers Hermann Müller, der behauptet hatte, der Begriff „Germanen“ bezeichne etwas ganz anderes als die Deutschen und sei darüber hinaus im sprachlichen Sinne undeutsch, rief nicht nur seinen wissenschaftlichen Widerspruch hervor. Gleichermaßen heftig kritisierte Wilhelm Lindenschmit, dass der Autor mit seinen Thesen „ geschichtliche Großtaten“ der eigenen Vorfahren verschleudere und der französischen Forschung in die Hände spiele.64 Besonders erzürnte ihn der Vorwurf der „patriotischen Befangenheit “ gegenüber den Germanomanen:

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W. L INDENSCHMIT , Über Hermann Müller’s Marken des Vaterlandes. Beitr. Gesch. Dt. Altertums 4, 1842, 121–170.

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Abb. 7: Selbstbildnis Ludwig Lindenschmit (1879) (nach W. W EBER (Hrsg.), Die Künstlerfamilie Lindenschmit aus Mainz. Gemälde, Graphiken, Dokumente [Mainz 1983] 44.) Wie verstehen wir jenen Jubel, jene athemlose Hast, jene keltomanischen Orgien, womit jeder eingebildete neue Sieg über das Deutsche gefeiert ward? Wie fassen wir jenes manchmal unter abgemessener Haltung hervorscheinende freudige Zittern womit der deutsche Afterkelte nicht erwarten konnte bis er seinem eigenen Nationalgefühl gleichsam die Nase aus dem Gesichte verstümmeln durfte. […] Darf man von „patriotischer Befangenheit“ sprechen, wenn wir uns besinnen ehe wir den gewünschten Enthusiasmus fühlen für ein Volk von Pederasten und Blutschändern wie die Kelten, und wenn wir zögern die hinkenden Beweise ihrer Verehrer als baare Münze hinzunehmen? […] Und somit sind wir angelangt bei einer grössten Lächerlichkeit des deutschen Philistertums, nämlich der Furcht vor dem Patriotismus, der wirklich bereits als eines der größten Verbrechen in der Wissenschaft gilt. […] Wer kein Patriot ist, der ist ein mangelhafter Mensch, und also auch ein mangelhafter Geschichtsforscher […].65

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L INDENSCHMIT , Räthsel (wie Anm. 61) 19.

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Im Gegensatz zu seinem Bruder finden sich in den frühen Schriften von Ludwig Lindenschmit keine ähnlich patriotischen Bekenntnisse. In seinem in den 1880er Jahren erschienenen Hauptwerk über die Altertümer der merowingischen Zeit skizzierte auch er die Entwicklung der Altertumskunde. Ludwig Lindenschmit führte diese ebenfalls auf die Zeit der französischen „Fremdherrschaft“ unter Napoleon zurück. Retrospektiv verglich er diese mit den Römerkriegen der augusteischen Zeit: Gleiche Gefahr, wie zur Zeit der alten Römerkriege, die gleichmässig drohende Entscheidung über Leben und Zukunft unserer Nation führte zu den letzten und tiefsten Quellen ihrer Macht, zu der Hebung des Selbstgefühls und der Selbstachtung des Volkes durch die Erinnerung an die alten Ehren des Landes und die Grosstaten einer mehrtausendjährigen Geschichte. Im brennenden Gefühl der Unterdrückung wie in der Freude der wiedergewonnenen Unabhängigkeit haftete fester der Blick an den Denkmalen jener alten, mit welthistorischer Kraft und Leidenschaft geführten Kämpfe gegen das weltbezwingende Rom.66

Obwohl die Auseinandersetzungen mit den Keltophilen zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als ein Vierteljahrhundert zurücklagen, erwähnte Ludwig Lindenschmit diese, mit dem Bedauern, dass die deutsche Forschung in einer Phase als die französische Forschung ungehindert voranschreiten konnte, durch die „Bekämpfung antinationaler Vorurtheile“ aufgehalten worden sei.67 Sein nationales Sentiment hinderte Ludwig Lindenschmit aber nicht daran, ab 1860 Kaiser Napoleon III. bei dessen Vorhaben zu unterstützen, die nationale Archäologie in großem Maßstab zu fördern. Diese Tätigkeit trug Ludwig Lindenschmit schließlich die Ernennung zum Ritter der französischen Ehrenlegion ein.68

b) Selzen – ein germanisch-fränkisches Gräberfeld? Durch die Münzdatierung des Gräberfelds von Selzen in das frühe Mittelalter galt die Zuweisung der Reihengräberfelder an die Kelten zu Recht als widerlegt. Um ihre wissenschaftlichen Opponenten ganz zu überwinden, bemühten sich die Brüder Lindenschmit im Gegenzug nun seine germani66

67 68

L. L INDENSCHMIT , Handbuch der deutschen Alterthumskunde. Erster Theil: Die Alterthümer der merovingischen Zeit (Braunschweig 1880–89) 32. L INDENSCHMIT , Handbuch (wie Anm. 66) 73. F.-W. V. H ASE , Ludwig Lindenschmit et Napoléon III. Un chapitre précoce de la coopération archéologique franco-allemande. In: P. Jacquet/R. Périchon (Hrsg.), Aspects de l’archéologie française au XIXème siècle. Actes du colloque international tenu à La Diana à Montbrison les 14 et 15 octobre 1995 (Montbrison 2000) 63–88, bes. 67.

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sche Identität zu beweisen. Dies taten sie in einer für die Zeit nicht selbstverständlichen systematischen Weise. Insgesamt fünf Gründe führten sie an, weshalb es sich bei den Toten von Selzen zweifelsfrei um Germanen gehandelt habe: 1. die Anthropologie („Körperbildung“), 2. die Funde von „Schrift“, 3. der „Kunstgeschmack“, 4. die Münzen und 5. die historischen Quellen. Die Punkte 2 und 4 waren dabei vor allem in chronologischer Hinsicht von Bedeutung, die Zuweisung an die Germanen stützte sich dagegen auf die Argumente 1, 3 und 5. Anthropologie Für Wilhelm und Ludwig Lindenschmit lieferte die Anthropologie das wichtigste Indiz für die germanische „Nationalität“ der Toten von Selzen. Ihre Körperbildung zeige nicht das geringste Zeichen fremden Blutes, sondern auffallend deutsches Gepräge.69 Jedem, so führten sie aus, der die „Knochenbildung“ studiert habe, sei offensichtlich, dass diese ein untrügliches Zeichen für die Zugehörigkeit eines Individuums zur „reinen weissen, d. h. germanischen Raçe“ darstelle. Im Gegensatz zur Sprache, die sich seit dem Altertum verändert habe, lebe die „deutsche Raçe“ in „unveränderter Gleichheit“ bis heute fort. Die Völker unterschieden sich in der „Knochenbildung“ von einander wie unterschiedliche Schrifttypen: So wie sich die deutsche und die lateinische Schrift voneinander unterschieden, so unterscheide sich auch die deutsche von der italienischen Physiognomie.70 Die Schädel von Selzen sind den Brüdern Lindenschmit zufolge „rein europäisch und weder von der gemischten Raçe des Kaukasus oder Mittelmeeres, noch mongolischen oder afrikanischen Stammes“. Bestimmte Details an den Schädeln – die Form der Nasenöffnung, des Ohrlochs bzw. des Hinterhaupts – belegten ferner, dass sie nicht den „slavischen“ bzw. „gallisch-romanischen Völkern“ zugerechnet werden könnten. Andererseits stimmten die Schädel von Selzen sowohl mit denen von Fridolfing und Nordendorf als auch mit modernen „deutschen Schädeln“ überein.71 Obwohl Kurt Böhner anhand sprachstilistischer Überlegungen wohl zurecht vermutete, dass der Text der Publikation zu Selzen überwiegend von Ludwig Lindenschmit verfasst wurde,72 sind die anthropologischen Aus69 70 71 72

L INDENSCHMIT /L INDENSCHMIT , Selzen (wie Anm. 2) 37. L INDENSCHMIT /L INDENSCHMIT , Selzen (wie Anm. 2) 33 f. L INDENSCHMIT /L INDENSCHMIT , Selzen (wie Anm. 2) 11 f. B ÖHNER, Vorwort (wie Anm. 27) XVIII.

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führungen inhaltlich eher auf Wilhelm Lindenschmit zurückzuführen.73 Noch Jahrzehnte später bezog sich Ludwig Lindenschmit in seinem „Handbuch der Alterthumskunde“ auf die rassekundlichen Überlegungen seines Bruders und bildete dessen Zeichnung eines germanischen Idealtypus ab.74 Bereits einige Jahre vor der Publikation zu Selzen hatte Wilhelm Lindenschmit in seiner Polemik gegen Hermann Müllers „Marken des Vaterlandes“ die Ansicht vertreten, die „Körperbildung“ sei das wichtigste Merkmal eines Volkes. In diesem Zusammenhang unterschied Wilhelm Lindenschmit zwischen einer unvermischten, keusch und rechtschaffen gesinnten, leidenschaftslosen „gelbhaarigen Raçe“ und einer gemischten, leidenschaftlichsinnlichen und blutdürstigen schwarzhaarigen Rasse.75 Sein Interesse an rassekundlichen Fragen reichte bis in die Zeit seines Kunststudiums zurück. Vor allem während eines Studienaufenthaltes in Wien Mitte der 1820er Jahre hatte er sich offenbar intensiv damit beschäftigt.76 Seine Rassenklassifikationen nahm er intuitiv und impressionistisch, mit künstlerischem Auge vor. Wie ein Künstler anhand des Feder- und Pinselstrichs verschiedene Handschriften oder Malstile unterscheide, so könne man laut Wilhelm Lindenschmit sein Auge auch für Rassenunterschiede schärfen.77 Zusätzlich untermauerte Wilhelm Lindenschmit seine rassekundlichen Theorien mit entsprechenden Zitaten aus den antiken Schriftquellen. In den „Räthseln der Vorwelt“ demonstrierte er seine Methode der rassenkundlichen Einordnung beispielhaft anhand dreier Portraits: Zwei fratzenhaft verzerrten „jüdischen“ Gesichtern („Negerphysiognomien“) stellte er ein idealisiertes „deutsches“ Knabenbildnis gegenüber (Abb. 6). Bemerkenswert ist, dass Wilhelm Lindenschmit die Juden nicht seiner „weissen Rasse“ zurechnete, sondern behauptete, sie gehörten einem aus afrikanischen und asiatischen Elementen zusammengesetzten „vermischten“ Stamm an. Die Merkmale dieses Stammes seien auch nach zweitausend Jahren deutlich zu erkennen. „Es ist das Blut, das solche unverwüstliche 73

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In den rassenkundlichen Ausführungen zu Selzen wird in der ich-Form ein Besuch in München im Jahre 1845 erwähnt, den W. Lindenschmit in gleicher Form bereits in seinen „Rätseln der Vorwelt“ schildert. Vgl. LINDENSCHMIT /L INDENSCHMIT , Selzen (wie Anm. 2) 12 und L INDENSCHMIT , Räthsel (wie Anm. 61) 14f Anm. **. L INDENSCHMIT , Handbuch (wie Anm. 66) 138. L INDENSCHMIT , Marken (wie Anm. 64) 141–144. W. L INDENSCHMIT , Des Historienmalers Willhelm Lindenschmit, des Aelteren, Jugend und Bildungszeit bis zur Darstellung der Sendlinger Bauernschlacht an der St. Margaretenkirche zu Untersendling. Teil 1. Altbayer. Monatsschr. 6, 1906, 37–90, hier 48. – P ANKE , Lindenschmit (wie Anm. 4) 757. LINDENSCHMIT /L INDENSCHMIT , Selzen (wie Anm. 2) 33 f.

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Merkmale hervorbringt, in dem Bau und in der Stimme des menschlichen Leibes“. Wenn gegenwärtig manche Juden ein „fast deutsches Aussehen“ aufwiesen, so läge dies daran, dass bereits in ihrer Heimat entsprechende Merkmale vorhanden gewesen seien, wie Darstellungen von gelbhaarigen und blauäugigen Menschen auf ägyptischen Grabreliefs belegten.78

Abb. 8: N ACH L INDENSCHMIT , Räthsel (wie Anm. 61) 6.

In der Rassismusforschung wird üblicherweise zwischen einem religiös motivierten „Antijudaismus“ und dem rassenideologisch fundierten „Antisemitismus“ unterschieden, der erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Der Begriff des „Antisemitismus“ selbst wurde erst in den 1870er Jahren geprägt.79 Auch wenn es sich bei den antijüdischen rassenkundlichen Ausführungen Wilhelm Lindenschmits demnach noch um keinen „Antisemitismus“ im eigentlichen Sinne handelte, so doch um einen bemerkenswerten Vorläufer. Die historischen Überlegungen, die Wilhelm Lindenschmit in seinem Werk „Räthsel der Vorwelt“ vorlegte, sind maßgeblich von seinen rassenkundlichen Theorien geprägt. Ausgangspunkt war für ihn die Überzeugung, die Germanen bzw. Deutschen seien in Nord- und Mitteleuropa beheimatet und nicht aus Asien eingewandert. In Auseinandersetzung mit sprachwissenschaftlichen Spekulationen über eine asiatische Urheimat der Indogermanen, vertrat er einen autochthonen Ursprung der Germanen. Von ihrer europäischen Heimat aus hätten sie sich „nicht aus Asien her, sondern nach Asien hin“ ausgebreitet.80 Wilhelm Lindenschmit zufolge setzte sich die Menschheit ursprünglich aus drei „Hauptraçen“ zusammen. Neben der afrikanischen und asiatischen („mongolischen“) Rasse handelte es sich um die reine weiße „germanische“ 78 79

80

L INDENSCHMIT , Räthsel (wie Anm. 61) 6 f. U. P USCHNER, s.v. Wilhelm Marr. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 5 (Herzberg 1993) 879–883. L INDENSCHMIT , Räthsel (wie Anm. 61) 31.

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Das ethnische Paradigma: Sprache – Kultur – Rasse 1840–1888

Abb. 9: L INDENSCHMIT , Räthsel (wie Anm. 61) 33.

bzw. „deutsche Raçe“, die in Europa beheimatet sei. Nur zum kleinen Teil habe sich diese „unverfälscht“ erhalten. Alle anderen Rassen, wie die „mittelländischen Raçen“, seien dagegen durch Kreuzungen entstanden,81 also „Bastardraçen“. Zwischen diesen Rassen kam es zu „Völkerkämpfen“82 und Vermischungen. Nach Osten hin vermischten sich die Germanen teilweise mit asiatischen Völkern. Auf diese Weise entstanden etwa die „halbgermanischen“ Skythen.83 Für die Gegenwart identifizierte Lindenschmit seine weiße Rasse exklusiv mit den Deutschen: „der deutsche Mensch allein ist der wirkliche weisse Mann.“84 Außer in Deutschland sei die „vollständig germanische Körperbildung“ teilweise noch in England anzutreffen.85 Diese Konzentration der reinen weißen Rasse in Deutschland war Wilhelm Lindenschmit zufolge das Ergebnis eines langen historischen Prozesses. Ursprünglich war sie über 81 82 83 84 85

L INDENSCHMIT , Räthsel (wie Anm. 61) 21. L INDENSCHMIT , Räthsel (wie Anm. 61) 32. L INDENSCHMIT , Räthsel (wie Anm. 61) 28. L INDENSCHMIT , Räthsel (wie Anm. 61) 46. L INDENSCHMIT , Räthsel (wie Anm. 61) 6.

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große Teile Europas verbreitet. Ihre Heimat lag in Nordeuropa, von wo aus sie sich nach Osten, Süden und Westen ausgebreitet habe (Abb. 9).86 In langen Kämpfen sei sie jedoch wieder „in der Mitte des nördlichen Europas“ zusammen gedrängt worden. Die Kelten waren Wilhelm Lindenschmit zufolge keine wirkliche Rasse, keine „naturhistorische Bestimmung“87, sondern eine gemischte Rasse, eine „Schattierung in der Völkermischung“, die insgesamt etwas „nordischer “ zusammengesetzt war als später die Romanen. Alle vermischten europäischen Völker bestünden rassisch aus zwei Teilen. Dies führe unweigerlich zu Spannungen innerhalb der Völker, zwischen der progermanischen „nordischen Partei “ und einer entgegengesetzten Fraktion. Unterlag die germanische „freiheitsliebende Partei “, so wich sie nach Norden und Osten aus. Sie trug somit dazu bei, die germanische Rasse weiter rein zu erhalten. Dieser Mechanismus wirkte laut Wilhelm Lindenschmit seit frühester Zeit, von den cäsarischen Kelten bis in die Gegenwart, wo noch immer innerhalb Deutschlands „Afterfranzosen ihre Fürsprecher fast in jedem Haus hätten“.88 Auch im Alpenraum und in Rätien habe unter römischer Herrschaft ein ähnlicher Prozess stattgefunden: Der Teil des Volkes, welcher „wälsches Geblüt und wälsche Gesinnung“ aufwies, wurde geschont und blieb, sich immer mehr romanisierend im Lande, wohingegen die „Verfolgung, Vernichtung, und Austreibung, nur dem deutschen Bestandtheile, und der deutschgesinnten Partei galt “. Diesen Prozess bezeichnete Wilhelm Lindenschmit als den „Uebertritt vom Germanismus zum Romanismus“.89

Abb. 10: Idealtypische Rassebilder nach L INDENSCHMIT , Rhätsel [wie Anm. 61] 46.

In seinen rassenkundlichen Ausführungen berief sich Wilhelm Lindenschmit nicht explizit auf wissenschaftliche Vorbilder. Zu einem guten Teil hatte er sie sich wohl selbst zurechtgelegt. Allerdings wandte er sich gegen eine weitverbreitete Tradition in der Anthropologie, da er den von Blu86 87 88 89

L INDENSCHMIT , Räthsel (wie Anm. 61) 47. L INDENSCHMIT , Räthsel (wie Anm. 61) 22. L INDENSCHMIT , Räthsel (wie Anm. 61) 32. L INDENSCHMIT , Räthsel (wie Anm. 61) 33.

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Das ethnische Paradigma: Sprache – Kultur – Rasse 1840–1888

menbach geprägten Begriff der „kaukasischen Rasse“ ablehnte.90 Für Wilhelm Lindenschmit war dieser Begriff zu sehr mit der Theorie der asiatischen Herkunft der Germanen verbunden. Mit seiner eigenen Überzeugung, die Deutschen seien die einzigen Vertreter der reinen weißen Rasse, war Blumenbachs Ansicht, im Kaukasus fänden sich die typischsten Vertreter der europäischen Rasse, unvereinbar. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die Bemerkung, die Schädel von Selzen seien rein europäisch und gehörten nicht der „vermischten Raçe des Kaukasus“ an. Ferner unterschied sich Wilhelm Lindenschmit von der älteren anthropologischen Forschung insofern, als er die europäischen Völker in verschiedene Rassen unterteilte. Wie an anderer Stelle gezeigt wurde,91 legte die Anthropologie nach 1800 zögerlich erste Klassifikationen vor, die die Bevölkerung Europas in verschiedene Rassen differenzierten. In den 1840er Jahren war allerdings ein Aufschwung entsprechender Rassenklassifikationen und Rassenspekulationen zu verzeichnen. Wilhelm Lindenschmit lag hier also im Trend der Zeit. Die Tatsache, dass er die Schädel von Selzen als „reine Hochschädel im schroffsten Gegensatz zu den Langschädeln und Breitschädeln“ bezeichnete, zeigt, dass er den Längen-Breiten-Index kannte, den Anders Retzius 1842 eingeführt hatte. Wilhelm Lindenschmit unterschied die verschiedenen Rassen hinsichtlich ihrer Wertigkeit. Solche Wertungen waren zu dieser Zeit nicht unüblich. Egon von Eickstedt bezeichnete die 1840er Jahre retrospektiv sogar als „Jahrzehnt der Rassenphilosophie“.92 In enger Weise verknüpfte Wilhelm Lindenschmit Charaktereigenschaften und Rasse. Der Körper des „Germanen“ sei etwa „bei weitem weniger sinnlich“ als der des „Mongolen“ oder „Negers“. Die von den Germanen unberührten östlichen Asiaten lebten hingegen „gefühlloser als das Thier, und noch heute herabgewürdigt durch unnatürliche Sinnlichkeit, ohne Anstand und Schamgefühl, ohne Bewusstsein von Recht und Unrecht dahin.“93 Seine Wertungen basierten auf den Stereotypen der zeitgenössischen Ethnographie, wie jene von den „menschenfressenden“ Australiern.94 Ludwig Lindenschmit berief sich, wie bereits erwähnt, noch Jahrzehnte später in seinem für die weitere Forschung grundlegenden „Handbuch der Alterthumskunde“ auf die rassenkundlichen Ausführungen seines Bruders. Wie dieser betonte er, dass die „Körperbildung“ „eine wesentliche Grundlage 90 91 92

93 94

L INDENSCHMIT , Räthsel (wie Anm. 61) 23. Kap. 5b. E. V. E ICKSTEDT , Geschichte der anthropologischen Namengebung und Klassifikation. Teil II. Zeitschr. f. Rassenkde 6, 1937, 36–96, hier 39. L INDENSCHMIT , Räthsel (wie Anm. 61) 28. L INDENSCHMIT , Räthsel (wie Anm. 61) 7.

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für die Eigentümlichkeit der Völker darstelle“.95 Er wandte sich gegen neuere Rassenklassifikationen, die von der Existenz einer „mittelländischen“ bzw. „lateinischen Rasse“ ausgingen. Demgegenüber beharrte er darauf, dass die Romanen ein Mischvolk seien.96 Die ursprünglichen, ebenfalls gemischten Bewohner West- und Südeuropas seien in der Antike durch ungünstige Verhältnisse bereits verfallen und verkümmert gewesen. Erst durch den Zustrom von Germanen wurden sie „zu neuer Lebensentwicklung befähigt“.97 Im Gegensatz zu den „herabgekommenen Romanen“ könne man die Germanen bzw. die Franken an „ihrer edlen und vollkommenen, durch lichte Farbe und Schönheit ausgezeichneten Leibesgestalt “ erkennen.98 Anders als die Romanen seien die Germanen „mit allen Kennzeichen eines Rassecharakters“ ausgestattet.99 Die Skelette aus den germanischen Gräbern zeigten fast ausnahmslos einen „wohlgestalten, kräftigen Bau“. Ihre Gleichartigkeit sei als eine „Eigentümlichkeit unvermischter Völkerschaften“ anzusehen.100 „Nationalstil“ Als zweites Kriterium für die germanische Identität der Toten von Selzen führten die Brüder Lindenschmit den „Kunstgeschmack“ an. Die Funde aus dem Gräberfeld von Selzen spiegelten ihnen zufolge ausnahmslos jenen Stil wider, der für den Übergang zwischen der spätrömischen Ornamentik zum „verwilderten und phantastischen Geschmack der Völkerwanderungszeit“ charakteristisch sei. Obwohl sie also den Zusammenhang zwischen spätantiker und frühmittelalterlicher Kunst erkannten und sogar ausdrücklich die Flechtbandornamentik als „antike Reminiscenz “ hervorhoben, meinten sie gleichermaßen in ihr „nordische Elemente“ erkennen zu können.101 Grundsätzlich gingen sie davon aus, dass Kunst „Merkmale nationaler Individualität “ widerspiegelt. Diese mache sich auch dann bemerkbar, wenn andere Kunststile, wie die klassische Kunst des Mittelmeerraumes, nachgeahmt würden. Als Beispiel führten sie die stilistische Kontinuität von der Ornamentik der „gallischen“ (keltischen) Münzen zum frühmittelalterlichen Tierstil an. Die verfremdeten Darstellungen von Tieren und Men-

95 96 97 98 99 100 101

L INDENSCHMIT , Handbuch (wie Anm. 66) 10. L INDENSCHMIT , Handbuch (wie Anm. 66) 10–14. L INDENSCHMIT , Handbuch (wie Anm. 66) 13. L INDENSCHMIT , Handbuch (wie Anm. 66) 141. L INDENSCHMIT , Handbuch (wie Anm. 66) 144. L INDENSCHMIT , Handbuch (wie Anm. 66) 135. L INDENSCHMIT /L INDENSCHMIT , Selzen (wie Anm. 2) 23 f.

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schen auf den keltischen Münzen seien auf die Wirkung des Kunsttriebes des „nordisch geborenen Teils der Gallier “ zurückzuführen; wie oben erwähnt, bestanden die Kelten Wilhelm Lindenschmits Rassentheorie zufolge zum Teil aus Angehörigen der germanischen Rasse. Dieser Kunststil gleiche nun jenem Stil, der sich auf vielen Gegenständen aus dem germanischen Skandinavien bzw. in Gräbern der Völkerwanderungszeit finde. Auch unter den Massengütern der römischen Epoche sei der germanische „Nationalgeschmack“ wiederzufinden: so seien die keramischen Tiergefäße der römischen Zeit mit dem „Styl des germanischen Mittelalters“ und nicht mit römischen Formen in Beziehung zu setzten.102 Die Ansicht, dass der Kunstgeschmack untrüglich den Nationalcharakter widerspiegelt, ist bei den Brüdern Lindenschmit auf ihre eigene künstlerische Sozialisation zurückzuführen. Wilhelm und Ludwig Lindenschmit hatten beide in München bei Peter von Cornelius studiert,103 der der Schule der „Nazarener“ angehörte104. Diese Richtung strebte nicht allein nach einer Revitalisierung der mittelalterlichen christlichen Kunst, sondern gleichermaßen nach der Wiedererstehung einer betont nationalen „deutschen“ Kunst.105 Die Wurzeln der Überzeugung, dass Kunst jeweils durch einen Nationalcharakter geprägt werde, reichen bis ins 17. Jahrhundert zurück.106 Einen Wendepunkt für die spätere Entwicklung bedeutete das Werk Johann Joachim Winckelmanns, der in seiner „Geschichte der Kunst des Altertums“ als erster die Summe der Kunstwerke eines bestimmtes Raumes und einer bestimmten Epoche als „Ausdruck einer als organischer Ganzheit bestimmten Nation“ auffasste. Die Kunst des Altertums erschien ihm in ihrer Gesamtheit als „Offenbarung“ des Wesens einer Nation.107 Bereits wenig später übertrug Johann Gottfried Herder diesen Gedanken auf die Germanen und forderte ein ähnliches Werk über die Kunst der „alten Nordischen Nation“. Bei Herder findet sich ebenfalls die Ansicht, dass sich der Nationalcharakter in der Kunst unverändert durch die Zeit erhalte.108 102 103 104

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L INDENSCHMIT /L INDENSCHMIT , Selzen (wie Anm. 2) 35. P ANKE , Lindenschmit (wie Anm. 4) 758. Vgl. dazu allgemein: H. S CHINDLER, Nazarener. Romantischer Geist und christliche Kunst im 19. Jahrhundert (Regensburg 1982). F. B ÜTTNER, Peter von Cornelius. In: Saur Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 21 (München, Leipzig 1999) 243–246. H. L OCHER, Kunstgeschichte als historische Theorie der Kunst 1750–1950 (München 2001) 99 ff. L OCHER, Kunstgeschichte (wie Anm. 106) 109. – J. J. W INCKELMANN , Geschichte der Kunst des Alterthums (Dresden 1764). H. L OCHER, Stilgeschichte und die Frage der „nationalen Konstante“. Zeitschr. Schweizer. Arch. u. Kunstgesch. 53, 1996, 285–294.

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Als Alterität zur nordischen Kunst galt zu diesem Zeitpunkt bereits die Kunst der mediterranen Welt. In seiner Rezension zu Paul-Henri Mallets „Introduction à l’Histoire de Dannemarc“, einem Werk, das die Kultur Skandinaviens nachhaltig in das Bewusstsein der europäischen Eliten rückte,109 regte Herder die Abfassung einer zusammenfassenden Arbeit über die nordische Kultur an: An diesem Werk würden wir ungleich mehr Antheil nehmen, als an den für uns fremden und entfernten Alterthümern der Griechen und Römer, die meistens nur dazu dienen, eine schwere Stelle eines Scholiasten zu verbessern, und doch so viele gelehrte Hände beschäftigen, daß man es vergißt, die Sitten unserer Väter aus der Vergangenheit zu reißen, oder vielmehr aus den etwas seltenen Ueberbleibsel ihrer Schriften zu entziffern.110

Wieder aktuell wurde die Debatte um den nationalen Charakter der Kunst zu Beginn des 19. Jahrhunderts.111 Diese Entwicklung fand im internationalen Kontext statt, eine Besonderheit des deutschen Kulturraums war allerdings die Diskussion um den nationalen Stil in der Malerei. Zahlreiche Künstler der Romantik strebten nach einer Erneuerung der deutschen Kunst, wobei dieser in Deutschland aufgrund der politischen Bedeutungslosigkeit der Nation ein größerer Stellenwert zukam als etwa in Frankreich.112 Als Alterität zur deutschen Kunst diente auch in diesem Zusammenhang von Anfang an die klassische Kunst Italiens und Frankreichs. Bereits 1799 veröffentlichten die Brüder Friedrich und August Wilhelm Schlegel einen Dialog, in dem sie darüber spekulierten, was aus der „Altdeutschen“ Malerei geworden wäre, hätte nicht die Renaissance die Weiterentwicklung der deutschen Kunst verhindert: Die Erinnerung an die Zeit, wo wir auf dem Wege waren, eine ächte einheimische Kunst zu bekommen, wenn ungünstige Umstände und die Sucht des Fremden es nicht verhindert hätten, macht mich immer recht wehmütig.113

Diese Entwicklung wurde nur von einem Teil der kunstbegeisterten Eliten unterstützt. Insbesondere der Kosmopolit Goethe erhob schon früh Ein109

110 111 112 113

P.-H. M ALLET , Introduction a l’Histoire de Dannemarc, ou l’on Traite de la Religion, des Loix, des Moeurs et des Usages des Anciens Danois (Kopenhagen 1755). – Vgl. dazu: K. V. S EE , Vom ‚Edlen Wilden‘ zum ‚Volk der Dichter und Denker‘. Die Anfänge der Germanen-Ideologie. In: Ders., Arier, Germane, Barbar (Heidelberg 1994) 61–82, hier 73–75. L OCHER, Kunstgeschichte (wie Anm. 106) 127. L OCHER, Kunstgeschichte (wie Anm. 106) 147 ff. L OCHER, Kunstgeschichte (wie Anm. 106) 156. A. W. S CHLEGEL , Die Gemählde. Gespräch. Athenaeum 2, 1799, 39–151, hier 75. – Vgl. dazu: H. B ELTING , Die Deutschen und ihre Kunst. Ein schwieriges Erbe (München 1992) 15 f.

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spruch gegen die Nationalisierung der Kunst, indem er darauf hinwies, dass Kunst keine patriotische Angelegenheit sei, sondern eine universale. Aus diesem Grund wandte er sich gegen den altertümelnden, an der altdeutschen Malerei orientierten Malstil der Nazarener.114 Gerade der Lehrer der Brüder Lindenschmit, Peter von Cornelius, werde „unter den Bekennern des neu-altertümlichen Geschmacks als einer der Häuptlinge angesehen“.115 Angesichts ihrer künstlerischen Herkunft war es insgesamt naheliegend, dass die Brüder Lindenschmit bei der Interpretation der Funde von Selzen die Vorstellung zugrunde legten, dass Kunst jeweils einen Nationalcharakter widerspiegelt. Die Ansicht, dass die nationale Kunst des Altertums Deutschlands von der griechisch-römischen Antike wesensverschieden sei, besaß während der 1840er Jahre eine bereits mehrere Jahrzehnte zurückreichende Tradition. Die Brüder Lindenschmit wandten lediglich ein in der Kunsttheorie verhältnismäßig gängiges Interpretationsmuster auf frühgeschichtliches Material an. Unter den Pionieren der Frühmittelalterarchäologie standen sie damit nicht allein. In seiner großen, leider unpubliziert gebliebenen Gesamtdarstellung der burgundischen, fränkischen und alemannischen Funde argumentierte Karl Wilhelmi ganz ähnlich. Auch für Wilhelmi waren die „ächt nationalen Deutschen Ideen“, die die frühmittelalterlichen Künstler bei der Herstellung der Tierstildarstellungen geleitet hätten, ein Hauptargument dafür, dass es sich bei seinem Forschungsgegenstand um „Christlich-Deutsche Gräber “ handele.116 Historische Quellen Den letzten ins Feld geführten Beweis, dass die Gräber von Selzen germanisch bzw. fränkisch seien, lieferten die historischen Quellen. Bereits die Urbewohner der Rheinlande seien Germanen gewesen, insbesondere die germanischen Vangionen. Diese hätten unter römischer Herrschaft fortgelebt. Die Alemanneneinfälle der Spätantike ließen die betreffenden Gebiete weitgehend öde und menschenleer zurück; durch den Sieg Chlodwigs wurden sie endgültig fränkisch. Da nach diesem Sieg die Bevölkerung

114

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H. B ELTING , Deutsche Kunst und deutsche Identität. In: Ders., Identität im Zweifel (Köln 1999) 21–63, bes. 44–49. J. W. V. G OETHE , Neu-deutsche Religios-Patriotische Kunst. In: Ders., Ästhetische Schriften 1816–1820. Sämtliche Werke, 1. Abt., Bd. 20. Hrsg. v. H. Birus (München 1999) 105–129, hier 120. – Vgl. dazu LOCHER, Kunstgeschichte (wie Anm. 106) 157. K. W ILHELMI , Die Grabalterthümer der Burgunden, Franken und Alamannen aus den ersten Zeiten des Christenthums. Hrsg. von K. Eckerle (Sinsheim 1986) 123.

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der Rheinlande nicht mehr gewechselt habe, müsse es sich bei den dort Bestatteten unzweifelhaft um Angehörige des fränkischen Stammes handeln.117 Die Nachfahren der Römer kamen für die Brüder Lindenschmit dagegen ausdrücklich nicht in Frage. Grundsätzlich schilderten die Brüder Lindenschmit das Verhältnis von Germanen und Römern als heftige Konfrontation. Bereits im Vorwort zur Publikation von Selzen rekurrierte Ludwig Lindenschmit auf den „Rhein, wo der grosse Kampf der Völker ausgerungen“ worden sei. Durch den „grossartigsten Gränzkampf der Weltgeschichte“, durch den die römische Universalmonarchie zunächst in ihrem „Umsichfressen“ aufgehalten und später ganz besiegt wurde, sei „eine verdorbene Welt durch frische Kräfte ersetzt worden“.118 Dieser Topos vom degenerierten Zustand der römischen Bevölkerung in der Spätantike119 findet sich auch an anderer Stelle: Während die Germanen gegen Ende der römischen Periode Militär und Staat dominierten, seien die südlichen Völker „entnervt“ und „ohne Männer “ gewesen.120 Ganz ähnlich argumentierte Ludwig Lindenschmit noch Jahrzehnte später in seinem „Handbuch der Alterthumskunde“: Die romanische Welt sei in „feiger Verderbnis“ versunken gewesen.121 Nicht die „blinde Zerstörungswuth der wilden Eroberer “, sondern der „sinkende Lebensmuth“ der Völker unter römischer Herrschaft habe das Ende des Römischen Reiches herbeigeführt. Die Eroberung durch die Germanen bewertete Ludwig Lindenschmit dagegen äußerst positiv, da „mit dem Eintritte der Eroberer in die erschöpften und zerrütteten Provinzen erst wieder der frische Keim eines neuen culturlichen Aufwuchses Wurzeln gewinnen konnte.“122 In der Publikation zu Selzen schrieben die Brüder Lindenschmit den Germanen bereits für die römische Zeit eine dominante Rolle zu. „Groß war die Anzahl der Deutschen im Römerheere; sie galten für die Tapfersten. Sie waren es, die die Kaiser ein- und absetzten.“123 Dagegen zeichneten sich manche römische Kaiser durch „Falschheit “ und „Treulosigkeit “ aus. Zudem zeigten sich die Brüder Lindenschmit bemüht, negative Urteile über die Germanen zu revidieren. So wiesen sie den Vorwurf der „Tyrannei“, des „Land- und Menschenraubs“ zurück: „Die eigentlichen Länder- und Menschenräuber waren die

117 118 119 120 121 122 123

L INDENSCHMIT /L INDENSCHMIT , Selzen (wie Anm. 2) 37f; 47. L INDENSCHMIT /L INDENSCHMIT , Selzen (wie Anm. 2) 39. Kap. 3a. L INDENSCHMIT /L INDENSCHMIT , Selzen (wie Anm. 2) 44. L INDENSCHMIT , Handbuch (wie Anm. 66) 202. L INDENSCHMIT , Handbuch (wie Anm. 66) 63. L INDENSCHMIT /L INDENSCHMIT , Selzen (wie Anm. 2) 41.

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Römer, welche in zwei Welttheilen alle Völker bis auf ’s Blut aussaugten und entnervten. Die Germanen waren ihre Rächer und Befreier “.124 Ein Fortleben der Provinzialbevölkerung im Rheinland nach dem Ende der römischen Herrschaft schlossen sie aufgrund der Schriftüberlieferung aus. Diese sei „verjagt, ausgemordet, fortgeschleppt “, ihre Priester von den „Hunnen an ihren Altären getödtet “ worden. Ferner entspreche das Erscheinungsbild der Gräber von Selzen nicht dem „verachteter, entwaffneter Besiegter “. Bei der Charakterisierung der Franken, die sich im entvölkerten Gebiet angesiedelt hätten, sind Anklänge an die bürgerlichen Ideale der Biedermeierzeit nicht zu übersehen. In den Gräbern von Selzen gäben sich die Franken nicht als prunkliebende Sklavenbesitzer, sondern als „wohlhabende, kriegerische Landbewohner “ zu erkennen, „mit Waffen und Werkzeugen des Weinbaues und der Kochkunst ausgestattet, die, nach germanischer Sitte, auf die Pflege ihrer langen Haare hielten, gerne tranken, und mit dem wenigen Geld, das sie hatten, Schmucksachen aus Bronze, Glas und dünnem Silber aus den gallischen Werkstätten kauften. Dieser Überfluss bei Genügsamkeit zeigt uns ein Volk, das den weiten, ersiegten Boden mit eigenen Händen bebaut.“125 Auch in weiteren Publikationen der Brüder Lindenschmit findet sich die Prämisse eines grundlegenden politischen und kulturellen Antagonismus von Germanen und Römern. Ludwig Lindenschmit äußerte etwa im Vorwort seines „Handbuchs“ die Ansicht, man könne die „Völkerbewegungen des höchsten Alterthums“ als einen Kampf „verschiedenartiger, körperlich und geistig gegensätzlich angelegter Völkergeschlechter “ auffassen.126 Bei Wilhelm Lindenschmit ist diese Auffassung angesichts seines gesamten Geschichtsbildes nur naheliegend. Wie bereits erwähnt, betrachtete er in seinen „Räthseln der Vorwelt“ die gesamte Geschichte Europas als einen permanenten Kampf der „weissen Rasse“ gegen die „vermischten“ Völker des Westens, Südens und Ostens. Während jedoch im Osten „Körper gegen Körper “ standen, sei der Kampf gegen die Südländer bis heute ein „Kampf des Geistes und Gemüths “.127 Wilhelm Lindenschmits Bild der Beziehung von Germanen und Römern wurde wohl maßgeblich von den Arbeiten des befreundeten Münchner Philologen und Historikers Hans Ferdinand Maßmann beeinflusst.128 Neben Wilhelm Grimm und Heinrich Hoffmann von Fallersleben hatte 124 125 126 127 128

L INDENSCHMIT /L INDENSCHMIT , Selzen (wie Anm. 2) 45 f. L INDENSCHMIT /L INDENSCHMIT , Selzen (wie Anm. 2) 48. L INDENSCHMIT , Handbuch (wie Anm. 66) X. L INDENSCHMIT , Räthsel (wie Anm. 61) 31. J. B. R ICHTER, Hans Ferdinand Maßmann. Altdeutscher Patriotismus im 19. Jahrhundert (Berlin, New York 1992) 275.

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Maßmann einen der drei zwischen 1830 und 1840 neu eingerichteten germanistischen Lehrstühle inne.129 Wie Wilhelm Grimm interessierte sich Maßmann seit den 1820er Jahren auch für die archäologischen Forschungen zur germanischen Urgeschichte.130 Bereits im Vorwort der „Räthsel der Vorwelt“ berief sich Wilhelm Lindenschmit auf Maßmann und verwies auf dessen 1843 erschienene Studie „Deutsch und Welsch oder der Weltkampf der Germanen und Romanen“.131 Maßmann, wie Wilhelm Lindenschmit Burschenschafter und Turner, war ein Aktivist der „altdeutschen“ bzw. „deutschtümlichen Bewegung“. Vor allem in seinen Schriften aus den 1840er Jahren finden sich zahlreiche antifranzösische Stereotype.132 In seiner Schrift „Deutsch und Welsch“ stellte Maßmann die gesamte gemeinsame Geschichte der Germanen und Romanen als einen durch „Volkstumsverschiedenheit “ bedingten Konflikt dar. Dieser setze sich von den Kämpfen zwischen Römern und Germanen bis zu den Auseinandersetzungen mit Frankreich („Neurom an der Seine“133) in der Gegenwart nahtlos fort: Die beiden Eigenschaftswörter D e u t s c h und We l s c h , von denen man eine eigene Lebensgeschichte schreiben könnte, haben durch alle Jahrhunderte einen bedeutsamen, fast sittlichen Gegensatz bezeichnet, und namentlich läßt der erhebende Gebrauch des Wortes Deutsch für alles Edelmenschliche und wahrhaft Friedenskräftige in einen trostreichen Spiegel volksthümlichen Selbstbewußtseyns wie menschheitlicher Ausgleichung blicken. […] In Wahrheit – zwey solche Völker konnten sich nie friedlich befreunden. Hier handelt es sich um innerste Volksthumsverschiedenheit, verschieden wie Tag und Nacht, Freiheit und Knechtschaft, Liebe und Herrschsucht, Arminius und Augustus.134

Die germanentümelnde, antifranzösische Richtung Maßmanns und Wilhelm Lindenschmits war, wie bereits erwähnt, kennzeichnend für ein bestimmtes Segment der deutschen Nationalbewegung. Wie begrenzt dieser Kreis in den 1840er Jahren aber letztlich noch war, zeigt etwa Heinrich Heines bissige Satire auf den Arminiuskult in Deutschland, das bekannte Caput XI des Gedichtes „Deutschland – ein Wintermärchen“. Unter den Exponenten der „deutschtümlichen“ Nationalisten, über die Heine seinen 129

130 131

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J. H ERMAND , Geschichte der Germanistik. Rowohlts Enzyklopädie 534 (Reinbek 1994) 41. H AKELBERG , Teutschland (wie Anm. 27). H. F. M ASSMANN , Deutsch und Welsch oder der Weltkampf der Germanen und Romanen. Ein Rückblick auf unsere Urgeschichte zur tausendjährigen Erinnerung an den Vertrag zu Verdun (München 1843). – L INDENSCHMIT , Räthsel (wie Anm. 61) Widmung und 10. R ICHTER, Maßmann (wie Anm. 128) 327–337. M ASSMANN , Deutsch und Welsch (wie Anm. 131) 32. M ASSMANN , Deutsch und Welsch (wie Anm. 131) 16 f.

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Spott ausschüttet, befanden sich nicht nur Hans Ferdinand Maßmann, sondern auch der künstlerische Mentor der Brüder Lindenschmit, der Maler Peter von Cornelius. Auch in dem ironischen Portrait Maßmanns in seinen „Reisebildern“ nimmt Heine sowohl dessen betont altertümelnden Kleidungsstil als auch den Glauben, in einer Kontinuität des Germanentums zu stehen, und dessen frankophobes Philistertum aufs Korn: Die Bekleidung war ein altdeutscher Rock, zwar schon etwas modifizirt nach den dringendsten Anforderungen der neueuropäischen Civilisazion, aber im Schnitt noch immer erinnernd an den, welchen Arminius im teutoburger Walde getragen, und dessen Urform sich unter einer patriotischen Schneidergesellschaft eben so geheimnißvoll tradizionell erhalten hat, wie einst die gothische Baukunst, unter einer mystischen Maurergilde. […] er preist noch immer Arminius den Cherusker und Frau Thusnelda, als sey er ihr blonder Enkel; er bewahrt noch immer seinen germanisch patriotischen Haß gegen welsches Babelthum, […] gegen Varus, […] und so steht er da, als wandelndes Denkmal einer untergegangenen Zeit […].135

Heine, der schärfste Kritiker der restaurativen, antifranzösischen Richtung des deutschen Nationalismus,136 sah in seinem bevorzugten Spottopfer Maßmann den Prototypen einer Geisteshaltung, die ihm zutiefst verhasst war, die „Nationalisten, sogenannte Patrioten, die nur Rasse und Vollblut und dergleichen Roßkammgedanken im Kopfe tragen, diese Nachzügler des Mittelalters“, […] mit „allen ihren Träumen von germanischer, romanischer und slawischer Volksthümlichkeit […]“.137

c) Die internationale Wurzel der Frühmittelalterarchäologie Die Entstehung der „vaterländischen Altertumskunde“ in Deutschland vollzog sich im internationalen Kontext. Auch in anderen europäischen Ländern ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein deutlicher Aufschwung archäologischer Forschungen zu verzeichnen. „Vaterländische“, „patriotische“ oder „nationale“ Motive schwangen dabei durchgehend mit. Die verschiedenen nationalen Traditionen lassen jedoch zahlreiche Besonderheiten und Unterschiede erkennen. In Frankreich ist etwa die besondere 135

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H. H EINE , Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Bd. 7/1, Reisebilder III/IV. Hrsg. von A. Opitz (Hamburg 1986) 21–23. S. B. W ÜRFFEL , Geistige Bastillen und Tempel der Freiheit. Zur Konstruktion politischer Identität bei Heine im Spannungsfeld von Nationalismus und Kosmopolitismus. In: J. A. Kruse u. a. (Hrsg.), Aufklärung und Skepsis. Internationaler Heine-Kongreß 1997 zum 200. Geburtstag (Stuttgart, Weimar 1999) 119–136. H. H EINE , Ludwig Marcus Denkworte. In: Sämtliche Schriften, Bd. 5, Hrsg. von K. Briegleb (München 1974) 175–189, hier 185.

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Rolle staatlicher Institutionen hervorzuheben; insbesondere die Errichtung der „Academie celtique“ 1804 sowie der „Commission des travaux historiques“ und des „Comité des travaux historiques“ in den 1830er Jahren138 waren langfristig von großer Bedeutung. Ferner wurde 1814 die „Sociéte royale des Antiquaries de France“ gegründet.139 Das nach deutschem und dänischem Vorbild geplante „Musée des Antiquites Nationales“ komplettierte schließlich 1867 die Reihe der nationalen Institutionen für Altertumskunde. In Großbritannien waren die entsprechenden Einrichtungen zum Teil noch älter. Die „Society of Antiquaries of London“ geht auf das frühe 18. Jahrhundert zurück. Allerdings brachten die 1840er Jahre auch auf der britischen Insel einen weiteren Entwicklungsschub. 1843 wurde die „British Archaeological Society“ gegründet, die sich zwei Jahre später in die „British“, später „Royal Archaeological Association“ sowie das „Archaeological Institute of Great Britain“ spaltete. Neben diesen nationalen Organisationen wurden in den 1840er und 1850er Jahren, ähnlich wie in Deutschland, zahlreiche regionale und lokale Altertumsvereine gegründet.140 In anderen Teilen Europas nahmen die Forschungen zur Gräberarchäologie des frühen Mittelalters in den Jahren nach 1840 ebenfalls einen merklichen Aufschwung. Auch in den anderen Ländern Westeuropas wurden in dieser Zeit zahlreiche frühmittelalterliche Gräberfelder entdeckt und publiziert.141 In Frankreich und England erschienen in den 1850er Jahren mehrere zusammenfassende Arbeiten, in denen lokale oder regionale Forschungen in einen internationalen Kontext eingeordnet wurden. Die umfangreichen Monographien des Abbé Cochet, der vielfach als Gründervater der Merowingerarchäologie in seinem Vaterland gilt,142 stehen in Frankreich am Beginn der wissenschaftlichen Frühmittelalterarchäologie.143 138

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A. S CHNAPP, French archaeology: between national identity and cultural identity. In: M. Díaz-Andreu/T. Champion (Hrsg.), Nationalism and archaeology in Europe (London 1996) 48–67, hier 53–55. È. G RAN -A YMERICH , Naissance de l’archéologie moderne, 1789–1945 (Paris 1998) 61 Anm. 178. T. C HAMPION , Three nations or one? Britain and the national use of the past. In: Ders./Díaz-Andreu, Nationalism (wie Anm. 138) 119–145, hier 122–124. H. K ÜHN , Geschichte der Vorgeschichtsforschung (Berlin, New York 1976) 220–228. A. F RANCE -L ANORD , Un siècle d’archéologie mérovingienne en France. Cochet, son œuvre, sa méthode, ses continuateurs. In: L’Abbé Cochet et l’archéologie au XIXe siècle. Centenaire de l’Abbé Cochet 1975. Actes du colloque internationale d’Archéologie Rouen 3–4–5 juillet 1975 (Rouen 1978) 37–46, hier 37. J. B. D. C OCHET , La Normandie souterraine ou notices sur des cimetières romains et des cimetières Francs explorés en Normandie (2Paris 1855). – D ERS., Sépultures Gauloises, Romaines, Franques et Normandes. Faisant la suite a „La Normandie souterraine“ (Paris 1857). – D ERS., Le tombeau de Childéric Ier roi des Francs, restitué a

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Während Cochets Arbeiten im nationalen Rahmen kaum Entsprechungen neben sich hatten, entstand in Großbritannien seit den 1840er Jahren eine ganze Reihe von Werken über die einheimischen Grabfunde des frühen Mittelalters. Zu nennen sind vor allem die postum erschienenen Arbeiten von Bryan Faussett,144 und John Mitchell Kemble145 sowie die Werke von Thomas Wright146, einem Schüler Kembles, William W. Wylie147 und John Yonge Akerman148. Im Laufe der 1850er Jahre entwickelte sich ein dichtes Netz persönlicher Beziehungen zwischen den betreffenden Forschern in ganz Europa. Auf diese Weise erreichte der internationale wissenschaftliche Austausch in den 1850er und 1860er Jahren eine Intensität, wie sie in den folgenden Jahrzehnten kaum erlangt wurde. Britische Antiquare unternahmen ausgedehnte Forschungsreisen auf dem Kontinent. Auch Frédéric Troyon bereiste auf der Suche nach frühmittelalterlichen Vergleichsfunden Mitteleuropa und Skandinavien.149 Abbé Cochet unterhielt nicht allein zu britischen Forschern enge Kontakte,150 sondern auch zu Troyon und Ludwig Lindenschmit. Er war sowohl Mitglied zahlreicher französischer Institutionen als auch des Londoner, des Züricher, des Luxemburger und des Mainzer Altertumsvereins.151 Jacob Grimm galt den deutschen Altertumsforschern ebenso als Autorität wie Cochet, welcher ihn als „Großmeister der germanischen Altertumskunde“ bezeichnete.152

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l’aide de l’archéologie et des découvertes récentes faites en France, en Belgique, en Suisse, en Allemagne et en Angleterre (Paris 1859). B. F AUSSETT , Inventorium sepulchrale. An account of some antiquities dug up at Gilton, Kingston, Sibertsworld, Barfriston, Beakesbourne, Chartham, and Crundale, in the County of Kent, from a.d. 1757 to a.d. 1773. Hrsg. von C. R. Smith (London 1856). J. M. K EMBLE , Horae feriales or studies in the archaeology of the northern nations (London 1863). T. W RIGHT , The Celt, the Roman and the Saxon. A history of the early inhabitants of Britain, down to the conversion of the Anglo-Saxons to Christianity (London 1845). W. M. W YLIE , Fairford graves. A record of researches in an Anglo-Saxon burial-place in Gloucestershire (Oxford 1852). – Vgl. dazu H. W ILLIAMS, Anglo-Saxonism and Victorian archaeology: William Wylie’s Fairford Graves. Early Medieval Europe 16, 2008, 49–88. J. Y. A KERMAN , Remains of pagan Saxondom (London 1855). L EITZ , Bel-Air (wie Anm. 18) 26 ff. D. K IDD , Charles Roach Smith and the Abbé Cochet. In: Abbé Cochet (wie Anm. 142) 63–77, bes. 63. Vgl. das Titelblatt von „La Normandie souterraine“ sowie den Band: La Normandie souterraine: l’Abbé Cochet et l’archéologie au XIXe siècle. Ausstellung des Musée Départemental des Antiquités Rouen 1975. Bd. 1 (Rouen 1975) 70. C OCHET , Childéric (wie Anm. 143) XVIIf.

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Im Rahmen dieser Arbeit ist es weder möglich, die Rezeption der Publikation zu Selzen unter den europäischen Gelehrten detailliert zu untersuchen, noch der Frage nachzugehen, auf welche bereits vorhandenen Theorien über die ethnische Zugehörigkeit der frühmittelalterlichen Grabfunde die Ansätze der Brüder Lindenschmit jeweils trafen. Dieser Komplex bedürfte einer gesonderten Untersuchung, die hier nicht geleistet werden kann. Aus diesem Grund sollen exemplarisch das Beispiel des Abbé Cochet sowie die mit ihm in Verbindung stehenden Gelehrten besprochen werden. Zunächst gehe ich jedoch kursorisch auf das Bild der Angelsachsen in England sowie der Germanen bzw. Franken in Frankreich ein, da hier die Politisierung der frühmittelalterlichen Geschichte noch komplexer war als in Deutschland. Auf der Suche nach Angelsachsen und „Teutonen“: Britische Frühmittelalterforschung Die Arbeiten der oben genannten britischen Antiquare erweiterten nicht allein die Kenntnis über die Archäologie des frühen Mittelalters beträchtlich, von ihnen ging auch ein bedeutender Impuls für die Intensivierung der Forschung auf dem Kontinent aus. Abbé Cochet betonte ausdrücklich den Pionierstatus der britischen Forscher. Vor allem das Drängen seiner dortigen Kollegen habe ihn veranlasst, etwa sein Werk über das Childerichgrab in Angriff zu nehmen.153 Bedeutsam war ferner, dass sich die in London erscheinende Zeitschrift „Archaeologia or Miscellaneous tracts relating to Antiquity“ zunehmend zu einem Medium internationaler Kommunikation auch für die Frühmittelalterarchäologie entwickelte. Hier wurden zahlreiche Berichte über Entdeckungen frühmittelalterlicher Gräber veröffentlicht, darunter nicht nur solche aus Großbritannien, sondern auch aus anderen Teilen Europas. Wylie machte auf die Funde von Oberflacht154, bei Dieppe155 und Envermeu156 aufmerksam. Abbé Cochet publizierte mehrfach Berichte über seine Grabungen in

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C OCHET , Childéric (wie Anm. 143) XVIIIf. W. M. W YLIE , The graves of the Alemanni at Oberflacht in Suabia. Archaeologia 36, 1855, 129–160. W. M. W YLIE , Account of Teutonic remains, apparently Saxon, found near Dieppe. Archaeologia 35, 1853, 100–113. W. M. W YLIE , Some account of the Merovingian Cemetery of Envermeu, also of certain Weapons of the Franks. Archaeologia 35, 1853, 223–231.

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Frankreich,157 und John Yonge Akerman übersetzte einen Kommentar Ludwig Lindenschmits zur Frage der Angone.158 Der Aufschwung der britischen Angelsachsenforschung sowie das deutlich gesteigerte Interesse an vergleichbaren Funden auf dem Kontinent war wohl maßgeblich darauf zurückzuführen, dass unter den britischen Intellektuellen der 1840er Jahre der „Anglo-Saxonism“ einen regelrechten Boom erlebte. Bezeichnenderweise ist das begriffliche Äquivalent zur deutschen „Germanomanie“, die englische „Teutomania“, erstmals 1848 belegt.159 Auch in Großbritannien konkurrierten mehrere Abstammungsmythen miteinander. Neben dem aus der Antike überlieferten Trojamythos und der christlich-biblischen Tradition konnten die Anfänge der britischen bzw. englischen Nation sowohl auf die Kelten als auch auf die Germanen bzw. Angelsachsen zurückgeführt werden.160 Die Anfänge des „Anglo-Saxonism“ reichen bis ins 16. Jahrhundert zurück, zu den antirömischen und antikatholischen Affekten der britischen Reformation und des frühen britischen Protestantismus.161 Im 19. Jahrhundert erlangte die Ansicht ihre größte Verbreitung, die Wurzeln der vermeintlich überlegenen Staatsformen Großbritanniens und der USA lägen in der besonderen Qualität der „Angelsächsischen Rasse“ sowie in der germanischen Freiheit, die von den Angelsachsen nach England gebracht worden sei.162 Die 1840er Jahre brachten noch einmal eine Wende des „Anglo-Saxonism“ mit sich.163 Einerseits verschmolz er mit den zeitgenössischen Rassentheorien. Auch die Frühmittelalterforscher versuchten ihre Funde nicht

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z. B. J. B. D. C OCHET , On the interment of a young Frankish warrior discovered at Envermeu, Seine-Inferieur, France. Archaeologia 37, 1856, 102–112. – D ERS, Note sur des Sépultures Anglo-Normandes trouvées à Bouteilles, près Dieppe. Archaeologia 37, 1856, 32–38. J. Y. A KERMAN , Note on the Angon of Agathias, introductory of drawings of examples, and some Remarks by Herr Ludwig Lindenschmit of Mayence. Archaeologia 36, 1855, 78–79. T. S HIPPEY, Germanen, Deutsche und Teutonen in der englischsprachigen Geistesgeschichte. In: H. Beck u. a. (Hrsg.), Zur Geschichte der Gleichung „germanischdeutsch“. Spache und Namen, Geschichte und Institutionen. Ergbde RGA 34 (Berlin, New York 2004) 325–341, hier 334. P OLIAKOV, Arischer Mythos, 54–71. H. A. M AC D OUGALL , Racial myth in English history. Trojans, Teutons, and AngloSaxons (Montreal 1982) 31 ff. P. G EARY, Teutonische Rassenideologie im Amerika des 19. Jahrhunderts. In: Beck u. a., Gleichung (wie Anm. 159) 343–356. R. H ORSMAN , Origins of racial Anglo-Saxonism in Great Britain before 1850. In: M. C. Horowitz (Hrsg.), Race, gender, and rank. Early modern ideas of humanity. Library of the history of ideas 8 (Rochester 1992) 77–100, hier 89.

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mehr nur Völkern, sondern „Rassen“ zuzuordnen. Ein Beispiel hierfür sind etwa Akermans Ausführungen über die Zuordnung frühgeschichtlicher Waffentypen zu den verschiedenen Völkern der „keltischen“ und „germanischen Rassen“.164 Andererseits floss in den „Anglo-Saxonism“ verstärkt die aus Deutschland stammende Vorstellung der Zusammengehörigkeit und Überlegenheit des Germanentums ein. Dabei konkurrierten zwei Ansichten miteinander, welche Germanen die engsten Verwandten der Angelsachsen seien. Während die eine enge Verbindungen nach Skandinavien betonte, unterhielt die andere Gruppe intensive Beziehungen nach Deutschland und zur deutschen Germanistik.165 Bedeutendster Vertreter jener Richtung, die sich nach Deutschland orientierte, war der bereits erwähnte Philologe, Historiker und Archäologe John Mitchell Kemble. Kemble, der bedeutendste Vertreter der Angelsachsenforschung seiner Zeit,166 hatte unter anderem in Deutschland bei Maßmann und Wilhelm Grimm studiert167 und galt als wichtigster Gefolgsmann Grimms in Großbritannien.168 Neben seinen editorischen und historischen Arbeiten beschäftigte sich Kemble ebenfalls mit der Archäologie. In den Jahren 1849 bis 1855 hielt er sich in Niedersachsen auf,169 wo er unter anderem die Verwandtschaft der niedersächsischen Urnenbestattungen zu jenen des angelsächsischen Englands entdeckte.170 Seine Schlussfolgerungen aus dieser Entdeckung belegen stellvertretend, dass sich die britischen Antiquare hinsichtlich Motivation und Interessen grundsätzlich kaum von ihren Kollegen auf dem Kontinent unterschieden. Kemble teilte Akerman in einem Brief mit, seines Erachtens käme nur eine „Rasse“ in Frage, die die Urnengräber hinterlassen haben könnte: die Sachsen.

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J. Y. A KERMAN , On some of the weapons of the Celtic and Teutonic races. Archaeologia 34, 1852, 171–189. S HIPPEY, Germanen (wie Anm. 159) 332. M AC D OUGALL , Racial myth (wie Anm. 161) 95. R. A. W ILEY, John Mitchell Kemble and Jakob Grimm. A correspondence 1832–1852 (Leiden 1971) 5. S HIPPEY, Germanen (wie Anm. 159) 333. W ILEY, Kemble (wie Anm. 167) 16. – Vgl. jetzt auch H. W ILLIAMS, Heathen graves and Victorian Anglo-Saxonism: Assessing the Archaeology of John Mitchell Kemble. In: S. Semple (Hrsg.), Anglo-Saxon Studies in Archaeology and History 13 (Oxford 2006) 1–18. H. G UMMEL , John Mitchell Kemble in seiner Bedeutung für die niedersächsische Urgeschichtsforschung. Nachr. Niedersachsens Urgesch. 20, 1951, 3–54, bes. 49–53.

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Die Knochen stammen von Männern, deren Sprache wir sprechen, deren Blut in unseren Adern fließt. Ich weiß, dass ich einen Archäologen von ihrer Fähigkeit und Erfahrung nicht darauf hinzuweisen brauche, welche wichtigen Schlussfolgerungen sich aus diesem Vergleich von englischen und deutschen Altertümern ergeben: wir kommen dadurch um viele Schritte näher an unsere Vorväter an den Ufern der Elbe und seinen Nebenflüssen heran, und können fortan gleichermaßen die Entdeckungen der Engländer und der Norddeutschen zur Aufhellung unserer nationalen Kostbarkeiten heranziehen.171

Ähnliche Erwartungen leiteten das Interesse der britischen Forschungsreisenden an den Reihengräberfunden, wie etwa in Wylies Bericht über die Gräber von Oberflacht deutlich wird. In diesem Zusammenhang stellte er zunächst fest, dass die Bemühungen der Forschung in England bereits zu einem besseren Verständnis der eigenen nationalen Altertümer geführt hätten. Manche Forscher gäben sich jedoch nicht damit zufrieden und versuchten, den spärlichen Bestand an Informationen zu ergänzen, indem sie die heimischen Funde mit den Überresten der „verwandten Rassen“ auf dem Kontinent verglichen. Die alemannischen Gräber von Oberflacht stimmten mit jenen der „Eroberer Galliens und Britanniens“ überein. Diese Ähnlichkeit fände sich möglicherweise bei allen „teutonischen“ Gräbern der heidnischen Epoche. In Wylies Bericht über die Gräber von Oberflacht findet sich ferner der älteste mir bekannte Beleg für die Hoffnung, das Studium der frühmittelalterlichen Funde möge in einer konkreten Situation politischen Nutzen tragen. Den Hintergrund bildete wohl der zu diesem Zeitpunkt tobende Krimkrieg, in dem unter anderem Großbritannien, Frankreich und Österreich gemeinsam gegen Russland kämpften: Zu diesem Zeitpunkt, da der furchtbare Kampf um die Vorherrschaft zwischen den rivalisierenden Rassen der Teutonen und Slawen die Welt zu erschüttern droht, mögen solche in die Vergangenheit zurückblickende Untersuchungen nicht gänzlich nutzlos und uninteressant sein, da sie die ursprünglichen verwandtschaftlichen Bande und die Brüderlichkeit von Franken, Deutschen und Sachsen in Erinnerung rufen.172 171

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J. M. K EMBLE , On mortuary urns found at Stade-on-the-Elbe, and other parts of North Germany, now in the Museum of the Historical society of Hanover. Archaeologia 36, 1855, 270–282, hier 282: „The bones are those of men whose tongue we speak, whose blood flows in our veins. I know that I need not point out to an archaeologist of your skill and experience what important corollaries derive from this comparison of English and German antiquities; we are brought by it many steps nearer to our forefathers on the banks of the Elbe and its tributary rivers, and we can henceforth use indifferently the discoveries of Englishmen and North Germans for the elucidation of our national treasures.“ W YLIE , Oberflacht (wie Anm. 154) 129f, Zitat 130: „At this moment, when the fearful struggle for mastery between the rival races of Teuton and Sclave seems about to convulse the world, such retrospective inquiry as may recall the primaeval kindred ties and brotherhood of Frank, German, and Saxon, may not be altogether useless or uninteresting.“

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Insgesamt blieb das besondere Interesse der britischen Archäologen am kontinentalen Zweig der „teutonischen“ Archäologie nur eine Episode. Der Grund für das Nachlassen des Interesses dürfte vor allem der Niedergang des „Anglo-Saxonism“ bzw. der „Teutomania“ gewesen sein. Bereits der Preussisch-Dänische Krieg von 1864 und der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 dämpften die enthusiastische Einschätzung der deutschangelsächsischen Verwandtschaft erheblich bzw. ließen allmählich mit dem Deutschen Reich einen ernsthaften Rivalen innerhalb der germanischen Völkerfamilie erwachsen. Allerdings finden sich bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs auch in Großbritannien immer wieder Gelehrte, die die frühmittelalterlichen Funde des Kontinents als Überreste der eigenen „teutonischen“ Vorfahren interpretierten, wie etwa George Baldwin Browns 1910 erschienene Untersuchung über das frühmittelalterliche Kunsthandwerk „unserer teutonischen Vorfahren“ zeigt.173 Erst die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts diskreditierten die betont „teutonische“ Interpretation des Angelsachsentums vollends.174 Der „Kampf der zwei Rassen“: Germanen und Gallo-Römer in Frankreich Wie bereits angedeutet, konstruierte die Geschichtswissenschaft bereits vor der Französischen Revolution einen tiefgreifenden historischen Antagonismus zwischen Galliern und Franken, welcher letztlich zur Ausgrenzung der fränkisch-germanischen Traditionslinie aus der nationalen Genealogie führte. Dieser Gegensatz beeinflusste das Bild beider Gruppen innerhalb der französischen Nationalgeschichte nachhaltig. Trotz einer bisweilen erkennbaren ironischen Distanz blieb die Formulierung „nos ancêtres, les Gauloises“ bis heute geläufig.175 Anders als in Deutschland, wo, wie oben gezeigt wurde, die Debatte um Kelten und Germanen von Anfang an in Zusammenhang mit einem Ausgrenzungsdiskurs nach außen, gegen Frankreich, stand, waren die entsprechenden Auseinandersetzungen in Frankreich maßgeblich auf innere soziale und politische Spannungen zurückzuführen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts widmeten sich vor allem Historiker der Konstruktion einer nationalen Vergangenheit. Die Bedeutung der Archäologie für diese 173

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G. B. B ROWN , The arts and crafts of our teutonic forefathers, being the substance of the Rhind lectures for 1909 (London, Edinburgh 1910). S HIPPEY, Germanen (wie Anm. 159) 336 f. – M AC D OUGALL , Racial myth (wie Anm. 161) 127–130. K. P OMIAN , Francs et Gaulois. In: P. Nora (Hrsg.), Les lieux de mémoire. Bd. 3,1: Les France, Conflits et partages (Paris 1992) 41–105, 41 ff.

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Diskussion war Alain Schnapp zufolge dagegen anfangs gering.176 Entsprechende Äußerungen in den archäologischen Texten der Zeit sind deshalb weniger als Bestandteil denn als Widerhall der Auseinandersetzungen um den „Streit der zwei Rassen“ anzusehen. Erst einige Jahrzehnte nach der Etablierung der Gleichsetzung von Franzosen und Galliern wurde die Archäologie stärker in den nationalen Diskurs mit einbezogen. Vor allem die Grabungen in Alesia und auf dem Mont Beuvray, die Napoleon III. in den 1860er Jahren initiierte, trugen dazu bei, die Geschichte der zu den eigenen Vorfahren erkorenen Gallier bzw. Gallorömer auszugestalten.177 Wie im Falle von Germanen und Deutschen reichen die Anfänge der Gleichsetzung von Franzosen und Kelten bis in das 15. Jahrhundert zurück. Bis zum Vorabend der Französischen Revolution begannen Abhandlungen über die Geschichte Frankreichs jedoch üblicherweise mit den Franken. Die Infragestellung dieser Position hatte ihre Wurzeln in den Debatten um eine französische Verfassung gegen Ende der Regierungszeit Ludwigs des XIV. Graf Henri de Boulainvilliers178 zog in seinem Geschichtswerk erstmals den Gegensatz zwischen den fränkischen Eroberern und den gallischen Unterworfenen zur Untermauerung einer aktuellen politischen Forderung heran. In diesem Fall diente er zur Begründung der Stellung des französischen Adels gegenüber König und Drittem Stand. Boulainvilliers argumentierte, die Franken hätten ursprünglich gemeinsam Gallien erobert und das gewonnene Land samt seiner Bewohner untereinander aufgeteilt. Anfangs hätte Chlodwig keinerlei Vorrechte besessen, sondern sei vom Adel gewählt worden. Später habe er jedoch den Dritten Stand, der dadurch entstanden sei, dass die Franken ihre gallischen Untertanen frei ließen, gegen ihre Herren aufgehetzt, um diese ihrer Rechte zu berauben. Erst die Errichtung des Lehenswesens durch Karl den Großen habe wieder zu einem gerechten Ausgleich zwischen König und Adel geführt. Da dieses Verhältnis aber in der Gegenwart erneut 176 177

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S CHNAPP, French archaeology (wie Anm. 138) 54. Im Gegensatz zur Bedeutung der frühmittelalterlichen Franken liegen hinsichtlich der Bedeutung der Kelten für die Konstruktion der französischen Nationalgeschichte auch von Seiten der Archäologie mehrere Arbeiten vor. Vgl. z. B. O. B UCHSENSCHUTZ /A. S CHNAPP, Alésia. In: P. Nora (Hrsg.), Les lieux de mémoire. Bd. III, 3 (Paris 1992) 273–315. – M. D IETLER, „Our ancestors the Gauls“: archaeology, ethnic nationalism, and the manipulation of Celtic identity in modern Europe. Am. Anthr. 96, 1994, 584–605. – Allgemein: P. V IALLANEIX (Hrsg.), Nos ancêtres, les Gaulois: Actes du Colloque international de Clermont-Ferrand. Publications de la Faculté des Lettres de Clermont II, N.S. 13 (Clermont-Ferrand 1982). Zur Person Boulainvilliers vgl. O. T HOLOZAN , Henri de Boulainvilliers. L’antiabsolutisme aristocratique légitimé par l’histoire (Aix-en-Provence 1999) bes. 83–112.

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in Schieflage geraten sei, forderte Boulainvilliers die Einberufung einer Nationalversammlung, in der lediglich Adel und Klerus vertreten sein sollten. Eine Beteiligung des dritten Standes hielt Boulainvilliers nicht von Nöten. Er argumentierte, bis in die Gegenwart sei eine Trennung zwischen den fränkischen Eroberern und ihren steuerpflichtigen Untertanen festzustellen. Deren Aufgabe bestehe allein in der Bearbeitung des Bodens, nicht aber in der Teilnahme an den Regierungsgeschäften.179 Für die weitere Entwicklung war nun entscheidend, dass Boulainvilliers Argumentation einige Ideen enthielt, die nur allzu leicht gegen seinen Stand gewendet werden konnten. Mit seiner Stellungnahme gegen die Gallier bzw. die Gallorömer wandte sich Boulainvilliers gegen eine Gruppe, die in der nationalen Genealogie Frankreichs seit mehr als zwei Jahrhunderten einen festen Bestandteil ausgemacht hatte, und deren Status als ursprüngliche Bevölkerung auch Boulainvilliers nicht in Frage stellte. Durch die Identifikation des französischen Adels mit den Franken sowie der Herleitung seiner Privilegien aus dem Recht der gewaltsamen Eroberung wurde der französische Adel geradezu zu einem Fremdkörper innerhalb der alteingesessenen Bevölkerung Galliens. Vor allem die Herleitung der Adelsprivilegien von der fränkischen Eroberung sowie die These, der französische Adel habe seinen Ursprung in Germanien, wurde in den politischen Auseinandersetzungen am Vorabend der Revolution rezipiert.180 In seinem flammenden Plädoyer „Was ist der Dritte Stand?“ griff Abbé Sieyès Boulainvilliers historische Argumentation auf, um die Rechte des Dritten Standes gegen den französischen Adel einzufordern. Weshalb, so Sieyès, solle man nicht jene Familien, die sich anmaßten von der Rasse der Eroberer abzustammen, und die ihre Rechte von denen der Eroberer herleiteten, nicht wieder in die Wälder Germaniens zurückjagen? Die so gereinigte Nation werde sich sicher darüber hinweg trösten können, nur noch aus jenen zusammengesetzt zu sein, die von den Galliern und Römern abstammten.181 Diese negative Sicht der Rolle der Franken in der französischen Geschichte konnte sich zunächst nicht allgemein durchsetzen. Ein deutlicher Beleg für das ungebrochene Prestige der Franken war die Tatsache, dass Napoleon seinen Krönungsmantel mit Nachbildungen der bienenförmigen Appliken aus dem Childerichgrab verzieren ließ.182 179

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H. DE B OULAINVILLIERS, Histoire de l’ancien gouvernement de la France. 3 Bde. (Den Haag, Amsterdam 1727). P OLIAKOV, Mythos, 40–44. – Ausführlich dazu jetzt N ICOLET , Fabrique, 67–96. E. J. S IEYÈS, Was ist der Dritte Stand? (Essen 1988) 35. (Erstausgabe 1789). F. W AGNER, Die politische Bedeutung des Childerich-Grabfundes von 1653. Sitzungsber. Bayer. Akad. Wiss., phil.-hist. Kl. 1973, H. 2 (München 1973) 26 f.

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Nach der Restauration der Bourbonenherrschaft flammten die Auseinandersetzungen wieder auf. Um die Rechte des alten Adels wieder einzufordern, verlautbarte Graf Montlosier 1814 gegenüber dem Dritten Stand: Rasse der Freigelassenen, wir gehören nicht zu Eurer Gemeinde; wir bilden ein Ganzes aus uns selbst! Eure Herkunft ist klar! Die unsere ebenfalls […] Die Franken waren eine Art Elite eines Volkes, das selbst die Elite der Völker war.183

Als Reaktion auf diesen restaurativen Vorstoß vertraten vor allem zwei Historiker, Augustin Thierry und François Guizot, eine ausgeprägte Gegenposition. Durch sie sollten die Gallier nun endgültig zu den eigentlichen Vorfahren der Franzosen werden. Augustin Thierry, dessen Werke nachhaltig die nationale Geschichtsschreibung Frankreichs beeinflussen sollten,184 schrieb die Geschichte Frankreichs unter dem Leitmotive eines ewigen „Kampfes zweier Rassen“. Thierry zufolge lebten auf dem Boden Frankreichs zwei feindliche Nationen, von denen eine die andere erobert habe. Ungeachtet der Tatsache, dass sich beide „Rassen“ im physischen Sinne auch vermischt hätten, lebe ihre konträre Geisteshaltung ungebrochen fort. Die französische Nation stamme jedoch allein vom Dritten Stand ab; die Französische Revolution sei somit das letzte Kapitel dieses Kampfes gewesen.185 Noch deutlicher formulierte François Guizot diese Ansicht: Die Revolution war ein Krieg, der wirkliche Krieg, so wie ihn die Welt als Krieg zwischen fremden Völkern kennt. Seit dreizehn Jahrhunderten beherbergte Frankreich zwei Völker, ein Siegervolk und ein Volk der Besiegten […] Franken und Gallier, Herren und Bauern, Adlige und Bürgerliche […]. Der Kampf tobte zu allen Zeiten, in allen Formen, mit allen Waffen; und als 1789 die Abgeordneten ganz Frankreichs in einer Nationalversammlung vereint waren, beeilten sich die beiden Völker, ihren alten Streit wieder aufzurollen. Der Tag, ihn zu bereinigen, war endlich gekommen.186

Zwar zeichneten in den folgenden Jahren zahlreiche Historiker wesentlich versöhnlichere Bilder des Verhältnisses von Galliern und Gallorömern 183

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F. D. DE R EYNAUD DE M ONTLOSIER, De la monarchie française, depuis son établissement jusqu’à nos jours. Bd. 1 (Paris 1814) 136. – Zitiert nach der Übersetzung bei P OLIAKOV, Arischer Mythos, 46. M. G AUCHET , Les lettres sur l’histoire de France d’Augustin Thierry. In: P. Nora (Hrsg.), Les lieux de mémoire. Bd. 2, La Nation, Teil 1 (Paris 1986) 247–316. – C. C ROSSLEY, French historians and romanticism (London, New York 1993) 45–70. – N ICOLET , Fabrique, 107–137. A. T HIERRY, Sur l’antipathie de race qui divise la nation française. In: Ders., Oeuvres complètes, Bd. 6 (5Paris 1846) 235–242, bes. 239 f. F. G UIZOT , Du gouvernement de la France depuis la restauration et du ministère actuel (Paris 1820). – Übersetzung nach P OLIAKOV, Arischer Mythos, 47. – Zur Person Guizot vgl. C ROSSLEY, Historians (wie Anm. 184) 71–104.

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einerseits und Franken andererseits; die Gleichsetzung von Galliern und Franzosen wurde in den Jahren ab 1820 jedoch weitgehend verbindlich. Die Gegenposition, wie sie etwa gleichzeitig zu Thierry und Guizot von Sismondi geäußert wurde, setzte sich nicht durch. Auch Sismondi leugnete zwar nicht die partielle Kontinuität der Gallier mit den späteren Franzosen. Während der vier Jahrhunderte andauernden Herrschaft der Römer seien sie jedoch zu einer unselbstständigen Bevölkerung ohne eigenes Bewusstsein geworden. Der wahre Ursprung der Franzosen liege deshalb in der Eroberung Galliens durch die Franken.187 In den Jahren bis zum Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 formulierten französische Wissenschaftler wiederholt solche „germanistischen“ Standpunkte, danach wurden sie endgültig zu einer absoluten Minderheitenposition.188 Abbé Cochet und sein Umfeld Im Frankreich der 1850er Jahre war also die Frage, welches Volk die eigentlichen Vorfahren der Franzosen seien, eng verbunden mit politischen und sozialen Überzeugungen. Obwohl man bereits überwiegend die Kelten mit den Franzosen identifizierte, vertrat der Pionier der Frühmittelalterarchäologie in Frankreich, der Abbé Jean Benoît Désiré Cochet, die Ansicht, dass eher den Franken diese Ehre gebühre. Wiederholt finden sich in seinen Texten Formulierungen wie „les Francs, nos ancêtres“189 oder „les Francs, nos pères“190. Vereinzelt hebt er besonders die neustrischen Franken, „nos FrancsNeustriens“, hervor.191 Allerdings hatte Cochets Interesse an den Franken keineswegs zur Folge, dass er im Gegenzug die Gallier aus der französischen Nationalgeschichte ausschließen wollte. Neben den Franken bezeichnete er auch die Namenspatrone seiner Heimatregion, die Normannen, und gleichermaßen die Kelten als Vorfahren der Franzosen.192 Ferner ging Cochet davon aus, dass die „race gallo-romaine“ nach der fränkischen Eroberung fortbestanden

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J. C. L. S IMONDE DE S ISMONDI , Histoire des Français. Bd. 1 (Paris 1821). – Vgl. P OMIAN , Francs et Gaulois (wie Anm. 175) 79 f. P OMIAN , Francs et Gaulois (wie Anm. 175) 85. Vgl. z. B C OCHET , Childéric (wie Anm. 143) 13. C OCHET , Normandie (wie Anm. 143) 33. C OCHET , Normandie (wie Anm. 143) 8. Vgl. z. B. C OCHET , Childéric (wie Anm. 143) 12 und 346 Anm. 1: („nos pères, les Normands“) bzw. („les Gaulois, nos ancêtres“).

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Das ethnische Paradigma: Sprache – Kultur – Rasse 1840–1888

habe und bis heute den Grundstock der Bevölkerung bilde.193 An anderer Stelle bezeichnete er ganz im Sinne des vorherrschenden Geschichtsbildes die „Zeit der gallischen Unabhängigkeit “ als Beginn „unserer nationalen Geschichte“.194 Im Gegensatz zur Debatte zwischen Germanophilen und Keltophilen in Deutschland wird bei Cochet das Verhältnis von Franken und Galliern nicht durch einen Ausgrenzungsdiskurs bestimmt. Hier zeigt sich deutlich eine Facette der französischen Nationalgeschichtsschreibung, die bereits im Zusammenhang mit der politischen Bedeutung der Sprachzugehörigkeit angesprochen wurde.195 Anders als in Deutschland ist der französische Nationalmythos weniger ethnisch als territorial bestimmt. Seit dem 18. Jahrhundert stellte die französische Geschichtsforschung weniger die Gallier als „Volk“ als vielmehr „Gallien“ als territoriale Einheit an den Anfang der nationalen Geschichte. Diesem Geschichtsmythos gilt „Gallien“ – so Suzanne Citron – als eine „schon immer vorhandene Wesenheit, eine metahistorische Hülle“, die die Konstruktion einer linearen Geschichte ermöglicht. Auf dieser „Bühne“ treten nacheinander verschiedene Völker und Nationalhelden auf, ohne dass die Übergänge zwischen den einzelnen Stadien, von „Gallien“ über das „Frankenreich“ zu „Frankreich“, als problematisch empfunden würden.196 Es liegt nahe, die Bevorzugung der Franken bei Cochet auf seine politische Überzeugung zurückzuführen. Cochet war Monarchist und vertrat diese Gesinnung auch öffentlich. Der Französischen Revolution und ihren Folgen stand er ablehnend gegenüber.197 In den Merowingerkönigen, den „rois de la première race“,198 sah er den Ursprung der Monarchie in Frankreich sowie „den Ahnherrn der modernen Zivilisation“.199 In seiner großen Monographie über das Grab des Frankenkönigs Childerich wird diese Haltung am deutlichsten. Bereits im ersten Satz bezeichnete Cochet es als „ältestes 193

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C OCHET , Normandie (wie Anm. 143) 33: „[…] la race gallo-romaine qui faisait alors et qui fit toujours le fond de la population“ J. B. D. C OCHET , La Seine-inférieure historique et archéologique (2Paris 1866) 1: „A l’origine de notre histoire, c’est-à-dire au temps de l’indépendance gauloise […].“ Kap. 4a. S. C ITRON , Der Nationalmythos in Frankreich. In: Y. Bizeul (Hrsg.), Politische Mythen und Rituale in Deutschland, Frankreich und Polen. Ordo Politicus 34 (Berlin 2000) 43–57, hier 49. J. G IFFARD , L’Abbé Cochet et la politique. In: L’Abbé Cochet et l’archéologie au XIXe siècle. Centenaire de l’Abbé Cochet 1975. Actes du colloque internationale d’Archéologie Rouen 3–4–5 juillet 1975 (Rouen 1978) 47–62, hier 51. C OCHET , Childéric (wie Anm. 143) 96.“ C OCHET , Normandie (wie Anm. 143) 17: „[…] cet homme de la monarchie primitive, cet aïeul de la civilisation moderne.“

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Abb. 11: Abbé Cochet (C OCHET , Normandie [wie Anm. 143] Frontispiz)

Monument der französischen Monarchie“ und Ausgangspunkt der fränkischen Archäologie.200 Cochets politische Haltung entsprach somit recht genau dem Typus des Altertumsforschers in den Provinzen Frankreichs, als dessen hervorragendstes Beispiel Alain Schnapp Arcisse de Caumont beschrieb. Auch Caumont, der wie Cochet aus der Normandie stammte, begeisterte sich für die nationale Geschichte und verfolgte seine Interessen durch Forschungen vor Ort und im Gelände. Die Gelehrten dieses Typus, die sich in Frankreich in verschiedenen regionalen Altertumsgesellschaften organisierten, entstammten – laut Schnapp – einem besonderen Segment der französischen Gesellschaft. Dieses hielt die traditionellen gesellschaftlichen Werte und die 200

C OCHET , Childéric (wie Anm. 143) IX: „Le tombeau de Childéric est le plus ancien monument de la monarchie française et le point de départ de l’archéologie franque. Dépose dans le sol de la Gaule, avec les racines mêmes de la monarchie, il forme aujourd’hui la pierre angulaire de la France historique et monumentale“.

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Das ethnische Paradigma: Sprache – Kultur – Rasse 1840–1888

Aristokratie hoch und war durchaus bereit zur politischen Ordnung des Ancien Régime zurückzukehren.201 Im Gegensatz zu den Hinterlassenschaften der Römer und Franken sowie des Mittelalters spielten die keltischen Altertümer in den Werken Cochets nur eine untergeordnete Rolle. Als Archäologe beschäftigte er sich fast ausschließlich mit der Erforschung römischer und frühmittelalterlicher Gräberfelder. In seinem grundlegenden Werk La Normandie souterraine betonte er allerdings, dies sei lediglich darauf zurückzuführen, dass er in seinem Arbeitsgebiet, der Normandie, keine keltischen Gräberfelder entdeckt habe. Zwar seien sie sicher auch dort vorhanden, er selbst habe jedoch nie das Glück besessen selbst keltische Altertümer aufzufinden.202 Insgesamt lässt Cochets Darstellung der Kelten wenig Sympathie erkennen. Er beschreibt sie als „wilden Volksstamm“ („peuplade sauvage“), weit entfernt von jeder Zivilisation. Die Eroberung Galliens durch die Römer sei deshalb eine „immense Wohltat“ gewesen, durch die sich das Land innerhalb kurzer Zeit äußerst positiv entwickelt habe.203 Andererseits war Cochet weit davon entfernt, die Franken beziehungsweise die Merowingerzeit zu idealisieren. Ganz im Gegensatz etwa zu Wilhelm Lindenschmit galt ihm vor allem die römische Epoche als vorbildhaftes Zeitalter, der er die Epoche der Franken gegenüberstellte. Die Römer seien ein ruhiges, zivilisiertes, bodenständiges Volk gewesen, im Besitz inneren Friedens, reich, kultiviert und kunstfertig, fortgeschritten in Handwerk und Wirtschaft, mit einfachen und sicheren Kommunikationswegen und den griechischen und ägyptischen Traditionen bei der Herstellung von Bronzen, Metallen, Spiegeln, Keramik, Glas und Malerei.204 Den zivilisatorischen Grad der Franken beschrieb Cochet in der Normandie souterraine dagegen in einer Tirade, wie sie sich nur selten bei einem Forscher findet, der seinem Untersuchungsgegenstand mit Sympathie gegenüber steht. Im Gegensatz zu den Römern seien die Franken ungehobelt in ihren Sitten gewesen, von gewöhnlicher Art, einfach in ihren Gewohnheiten, gleichgültig gegenüber Kunst und Handwerk; sie stellten nichts mehr her, außer auf eine minderwertige Weise; sie waren unwissend über die richtigen Verfahren der Metallverarbeitung, der Keramik- und Glasherstellung und der Münzprägung, welche nur mehr unförmige Münzen hervorbrachte, mit abscheulichen Münzbildern und beschriftet mit unvollständigen und unlesbaren Legenden; sie waren weder fähig, Keramik zu glasieren, noch die Formen zu variieren; in ihren Händen hielten sie

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S CHNAPP, French archaeology (wie Anm. 138) 55 f. C OCHET , Normandie (wie Anm. 143) 5 f. C OCHET , Normandie (wie Anm. 143) 54. C OCHET , Normandie (wie Anm. 143) 24.

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nur eine gewöhnliche Ware, ärmlich und grob, weil diese landestypisch war, und weil sowohl die Mittel fehlten, um Güter austauschen, als auch Märkte; sie waren ein kriegerisches Volk, das mit seinen Waffen lebte und starb, allzeit umgeben von seinen Verteidigungsmitteln wie ein wildes Tier, das mit seinen Zähnen und Klauen schläft. Man weiß, dass sie vom Rauben lebten und nichts besaßen als das, was sich gerade vor der Spitze ihres Schwertes befand. Jeden Tag bangten sie um einen Besitz, den sie mit Gewalt erworben hatten, und nur durch diese erhalten konnten. Man bemerkt, dass sie nichts anderes sahen, als Menschen, die in jenen Jahrhunderten des Eisens lebten, als dauernd Krieg herrschte, und als die königlichen Familien die Provinzen untereinander aufteilten, als im Staat Anarchie herrschte und der Straßenraub zur Pflicht für alle Privatleute wurde. Es war die Zeit als das Reich stärker und kühner war, als sich die Könige gegenseitig umbrachten und als die Königinnen unter ihren Augen Bischöfe ermorden ließen, in ihren Heiligtümern und noch in ihre bischöflichen Gewänder gehüllt. Diese Messer, diese Dolche, diese Säbel, diese Lanzen, diese Äxte und Schilde sind nichts anderes als der äußerste und wahrhaftigste Ausdruck der Gebräuche, Sitten und Gewohnheiten einer barbarischen Gesellschaft, in der den Menschen nichts heilig war und rücksichtslose Gewalt die öffentliche Moral bestimmte.205

Trotz all dieser negativen Eigenschaften hob Cochet, der katholische Geistliche, einen zentralen Bereich hervor, in dem das frühe Mittelalter gegenüber der Römerzeit eine Fortentwicklung gebracht habe und der für ihn entscheidend war: die Religion. Bei aller Zivilisiertheit waren die Römer dennoch Heiden, die die falschen Götter anbeteten, Götzendienst leisteten

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C OCHET , Normandie (wie Anm. 143) 24f: „L’autre, au contraire, grossier dans ses mœurs, commun dans ses étoffes, simple dans ses habitudes, étranger aux arts et à l’industrie, ne fabriquant plus que d’une manière inférieure, ignorant les bons procédés de la métallurgie, de la céramique, de la verrerie et de l’art monétaire, frappant des monnaies informes, recouvertes de figures hideuses, entourées de légendes incomplètes et inintelligibles, ne sachant plus vernir la poterie, ni en varier les formes, n’ayant entre les mains qu’une matière commune, pauvre et grossière, parce qu’elle est celle du pays et que les moyens de commerce manquent pour les échanges ou les marchés; un peuple guerrier vivant et mourant sous les armes, toujours entouré de ses moyens de défense comme les bêtes fauves qui dorment avec leurs dents et leurs ongles. On comprend que ces êtres qui vivent de rapines, qui ne possèdent qu’à la pointe de l’épée, tremblent tous les jours pour une propriété acquise par la force et qui ne se conserve que par elle. On sent, rien qu’en les voyant, que ces hommes ont vécu dans ces siècles de fer où la guerre était éternelle, où les races royales divisaient les provinces, où l’anarchie étant dans l’État, le brigandage devait être chez les particuliers. C’était le temps où l’empire était au plus fort et au plus audacieux, où les rois se massacraient entre eux, et où des reines faisaient assassiner, sous leurs yeux, des évêques dans le sanctuaire et encore couverts le leurs habits pontificaux. Ces couteaux, ces poignards, ces sabres, ces lances, ces haches, ces boucliers, ne sont que l’expression suprême et vraie des usages, des mœurs et des habitudes d’une société barbare où rien n’était sacré pour l’homme et où la force brutale dominait le monde morale.“

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und glaubten, ihre materiellen Güter als Grabbeigaben mit ins Jenseits hinüber retten zu können.206 Zwar falle es manchmal schwer, anhand der einfachen und rohen Grabbeigaben der Barbaren deren Religion zu erkennen; deutlich sähe man jedoch, dass sie weder an die römischen Götter noch an den Gebrauch der Grabbeigaben im Jenseits glaubten. Auf zahlreichen Gegenständen aus den frühmittelalterlichen Gräbern fände sich das Kreuzzeichen.207 Die grobe Form seiner Grabbeigaben seien einem Volk in seiner Kindheit geschuldet und die Vielzahl der Waffen verrate eine unruhige und kriegerische Nation. Im Vergleich zu den reichen Grabbeigaben der Römer ließe da nicht der Reichtum auf der einen und die Armut auf der anderen Seite die unterschiedlichen Glaubensformen erkennen? Und kann man nicht in der Verarmung der Grabbeigaben bereits den Durchbruch der christlichen Idee erkennen, die im Tod keine materiellen Güter und keinen Reichtum mehr kennt, sondern allein das Gebet und die guten Werke?208

Anders als viele seiner Zeitgenossen, die in der Zerstörung des Römischen Reiches einen Verdienst sehen wollten, oder sie durch historische Gesetzmäßigkeiten vorausbestimmt sahen, schrieb Cochet diesen Vorgang allein dem Willen Gottes zu: Gott habe, so Chateaubriand, „mit einer Hand das Römische Reich erniedrigt, und mit der anderen das fränkische Reich erhöht “.209 Wie seine Kollegen in Deutschland und Großbritannien stellte auch Cochet seine archäologischen Forschungen durchaus in den nationalen Kontext. Insbesondere mit seiner Monographie über das Childerichgrab beabsichtigte er explizit, „seinem Land einen Dienst zu erweisen“. Frankreich über seine Ursprünge aufzuklären, trüge zu dessen Ehre bei, zumal diese Objekte einen großen historischen Wert besäßen und in ganz Europa berühmt seien.210 In diesem Zusammenhang beklagte Cochet, dass die Gelehrten den heimischen Altertümern in der Vergangenheit nicht dieselbe Aufmerksamkeit geschenkt hätten, wie den Denkmälern des Mittelmeerraumes. Im 18. Jahrhundert habe man die Altertümer Griechenlands und Italiens genauestens 206 207 208

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C OCHET , Normandie (wie Anm. 143) 24. C OCHET , Normandie (wie Anm. 143) 25 f. C OCHET , Normandie (wie Anm. 143) 27: „[…] n’est il pas évident pour vous que cette richesse d’une part et cette indigence de l’autre indiquent des croyances bien différentes? Et dans l’appauvrissement de la sépulture ne voyez-vous pas déjà percer l’idée chrétienne qui ne connaît plus pour le mort de besoins matériels ni d’autres richesses que la prière et les bonnes œuvres?“ C OCHET , Childéric (wie Anm. 143) 12: „Dieu, dit Chateaubriand, abaissant d’une main l’empire romain et élevait de l’autre l’empire français […]“ C OCHET , Childéric (wie Anm. 143) XVII.

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studiert. Nur wenige Autoren hätten sich dagegen dem Mittelalter zugewandt, auch die Denkmäler des „vaterländischen Altertums“ seien von den Gelehrten weitgehend vernachlässigt worden. „Man durchschnitt den Faden der historischen Traditionen, und, so könnte man sagen, von allen Denkmälern der Vergangenheit wurden die Grabstätten unserer Vorväter zum geheimnisvollsten Rätsel und zur unentzifferbarsten Hieroglyphe“. Während man in den letzten beiden Jahrhunderten bei der Erforschung der römischen oder ägyptischen Denkmäler weit fortgeschritten sei, bedecke noch immer ein dichter Schleier „die Gräber der Franken und unsere nationalen Grabdenkmäler “.211 Als Besonderheit der französischen Antiquare hob Alain Schnapp hervor, dass diese im Vergleich zu ihren Zeitgenossen in anderen europäischen Ländern stärker universalistisch ausgerichtet gewesen seien.212 Eine entsprechende Orientierung lässt auch das Werk des Abbé Cochet erkennen. Cochets nationales Anliegen richtete sich nicht gegen außen, wie auch die Ausgrenzung der Franken aus der französischen Nationalgeschichte im Zuge des „Streits der zwei Rassen“ auf innerfranzösische Auseinandersetzungen zurückzuführen war und sich nicht gegen Deutschland richtete, das im zeitgenössischen Frankreich unter dem Eindruck der Lektüre Madame de Staëls vielfach romantisch verklärt wurde. Cochet sah die Franken als Teil der germanischen Völkerfamilie an, der „grande famillie teutonique“, die vom 4. bis zum 6. Jahrhundert ganz Europa besiedelt habe213 und die sich in den fränkischen, burgundischen, deutschen und sächsischen Volksstamm unterteilen ließe. Aus dieser Verwandtschaft leitete er Konsequenzen bis in die Gegenwart ab. Allerdings war die Betonung der germanischen Zusammengehörigkeit nicht ausschließlich. Besonders deutlich wird dies in einem Zitat aus einem Brief seines Schweizer Kollegen Frédéric Troyon, das Cochet sicher nicht zufällig an das Ende der Einleitung seines Buches La Normandie souterraine stellte. In Bezug auf die „Einheit der Rassen“ habe ihm dieser geschrieben: Sie haben von der Brüderlichkeit des Germanentums auf die gleiche Weise gesprochen wie von der Adams und Jesus Christus und ich pflichte ihnen darin vollkommen bei. Ich möchte sogar hinzufügen, dass ich in den gesamten Studien, die ich zur Entwicklung der Menschheit anstelle, immer wieder beeindruckt bin von der Einheit des menschlichen Geistes und von der Ähnlichkeit, mit der er sich unabhängig von Ort und Zeit ausdrückt. Die Menschheit ist wirklich eine Familie, und trotz der Verschie211

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C OCHET , Childéric (wie Anm. 143) X. „On avait perdu le fil des traditions historiques, et l’on peut dire que, de tous les monuments de passé, la tombe de nos pères était devenue l’énigme la plus mystérieuse et le plus indéchiffrable hiéroglyphe. […] un voile épais a continué de recouvrir la tombe des Francs et nos sépultures nationales.“ S CHNAPP, French archaeology (wie Anm. 138) 50 f. C OCHET , Childéric (wie Anm. 143) 60.

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denheit der Neigungen, oder vielmehr, um dieser Verschiedenheit Willen, ist es gut, die Bande eines gemeinsamen Ursprungs und einer gemeinsamen Hoffnung wieder enger zu gestalten.214

Cochet ging bei seiner Interpretation der frühmittelalterlichen Gräberfelder ganz selbstverständlich von der zu diesem Zeitpunkt bereits etablierten Ansicht aus, Gallien sei von den germanischen Franken erobert worden. Aus diesem Grund spiegelten für ihn die frühmittelalterlichen Grabfunde in Deutschland den Ursprung der fränkischen Kultur wider. Wie seinen deutschen Kollegen galt Cochet die germanische Völkerwanderung aber gleichermaßen als Anfang der deutschen Geschichte. So bezeichnet er Belgien und Luxemburg als „Schauplatz der germanischen Invasionen, jenem ersten Abschnitt der altdeutschen Geschichte“.215 Besonders die Ausgrabungen von Phillip Houben in Xanten und vor allem die der Brüder Lindenschmit in Selzen hätten „uns an der Quelle je deutsche Zivilisation gezeigt, jene fränkischen Sitten, jene germanischen Kunstfertigkeiten und Gebräuche, die, wie ein Fluss, unsere Gegenden überfluteten und auf dem Boden, den wir bewohnen, den Keim der feudalen Welt und einer neuen Gesellschaft hinterließen“.216 Das alte Germanien, die „officina gentium“, sei die Mutter der modernen Völker, von wo aus Childerich und die Franken gekommen seien.217 In Deutschland stehe die gemeinsame Wiege aller germanischen Stämme218 und das Heimatland der Franken: „L’Allemagne, la patrie des Francs“.219 Die frühmittelalterlichen Gräberfelder seines Heimatlandes galten Cochet insgesamt als unzweifelhaft germanisch. Diese Ansicht untermauerte er minutiös durch den Vergleich seiner Funde mit Parallelen aus anderen 214

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Vgl. C OCHET , Normandie (wie Anm. 143) 11: „Et à propos de l’unité des races, il ajoute: „Vous m’avez parlé, Monsieur, de fraternité en germanisme de même qu’en Adam et en Jesus Christus, ce que j’adopte tout-à-fait. J’ajouterai même que dans l’étude générale que je cherche à faire sur le développement de l’humanité, je suis frappé de l’unité de l’esprit humain et de l’analogie avec laquelle il s’exprime indépendamment du temps et des lieux. L’humanité est bien une famille, et malgré la diversité des tendances, ou plutôt à cause de cette diversité, il est bon de resserrer les liens d’une origine et d’une espérance communes.“ C OCHET , Childéric (wie Anm. 143) 354: „La Belgique et le Luxembourg, ce premier théâtre des invasions germaniques, cette première étape de la civilisation tudesque […].“ C OCHET , Normandie (wie Anm. 143) 8 f: „Les magnifiques fouilles de M. Houben à Xanten et surtout celles de MM. V. [sic] et L. Lindenschmit, à Selzen près Mayence, nous font voir dans leur source cette civilisation allemande, ces coutumes franques, ces arts et ces usages germaniques qui, comme un fleuve, ont inondé nos contrées aux bas temps de l’Empire et déposé sur le sol que nous habitons le germe du monde féodale et d’une société nouvelle.“ C OCHET , Childéric (wie Anm. 143) 42. C OCHET , Childéric (wie Anm. 143) 143. C OCHET , Childéric (wie Anm. 143) 352.

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Teilen Europas. Sein Werk über das Grab des Frankenkönigs Childerich gewann dank dieser Arbeitsweise geradezu den Charakter eines Handbuchs. Cochet zog vor allem Analogien aus dem angelsächsischen England heran, wo der Forschungsstand durch die rege Publikationstätigkeit der britischen Antiquare besonders gut war. Daneben berücksichtigte er regelmäßig Funde aus Belgien, Luxemburg, der Schweiz und Deutschland. Sogar Analogien aus den frühmittelalterlichen Gräbern der Krim, die durch die Grabungen Duncan MacPhersons während des Krimkrieges bekannt wurden,220 waren ihm geläufig.221 Aufgrund dieser Vergleiche kam Cochet zum Schluss, die Ähnlichkeit der Funde sei nur dadurch zu erklären, dass es sich bei den betreffenden Grabfunden um Relikte der „gleichen Epoche, der gleichen Kultur, des gleichen Volkes und des gleichen Geschlechtes“ gehandelt habe.222 Ferner sah Cochet in bestimmten Teilen der frühmittelalterlichen Funde besondere Kennzeichen der germanischen Kultur. Das galt in erster Linie für die Waffen. Trotz kleiner individueller Unterschiede zeigten alle Waffen der „grand famille teutonique“ ein eigenes Gepräge.223 Die Waffenbeigabe sei zwar bei nahezu allen Völkern verbreitet. Die Germanen hätten sie aber mehr als jedes andere Volk der Erde geübt. Auch nachdem die Germanen nach Gallien verpflanzt worden seien, behielten sie diese Gewohnheit bei. Auf allen fränkischen, angelsächsischen und burgundischen Friedhöfen fänden sich Waffen aller Art, hier zeigten sich die Toten ausstaffiert wie zu einer großen Militärparade.224 Besonders die Franziska, „la francisque nationale“, sei eine typisch fränkische Waffe gewesen;225 die Lanze fände sich ebenfalls in allen Gräbern der „race teutonique“. Gerade dieses verachtete Objekt sei „in den Händen unserer Väter der kraftvollste Zerstörer jenes Kolosses gewesen, der als Römisches Reich die Welt bedrückt habe“.226 Unter den Kleidungsbestandteilen aus den Reihengräbern waren für Cochet vor allem die Gürtelschnallen typisch germanisch. Nichts sei unvermeidbarer in einem fränkischen, burgundischen, sächsischen oder aleman220

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D. M AC P HERSON , Antiquities of Kertch and researches in the Cimmerian Bosphorus. With remarks in the ethnological and physical history of the Crimea (London 1857). C OCHET , Childéric (wie Anm. 143) 227; 268. C OCHET , Childéric (wie Anm. 143) 144 „Voilà bien la même époque, la même civilisation, le même peuple, la même famille“ C OCHET , Childéric (wie Anm. 143) 140. C OCHET , Childéric (wie Anm. 143) 61. C OCHET , Childéric (wie Anm. 143) 123. C OCHET , Childéric (wie Anm. 143) 130: „Ce pauvre tronçon, aujourd’hui si dédaigné, fut dans la vaillante main de nos pères le plus énergique démolisseur du grand colosse qui pesait sur le monde sous le nom d’Empire romain.“

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nischen Grab als eine Gürtelschnalle; im Grab bilde sie ein typisches Merkmal der „race teutonique“.227 Wie der Ringschmuck typisch gallisch sei, die Fibel römisch, so sei die Gürtelschnalle dem Wesen nach germanisch.228 In Anlehnung an seinen geschätzten Kollegen Marcel Rigollot vertrat Cochet die Auffassung, die Verzierungsweise der Gürtelschnallen stelle etwas essentiell Neues dar, das in keiner Weise mehr an die Antike erinnere.229 Rigollot hatte jedoch noch stärker als Cochet zwischen antiker und barbarischer Kunst differenziert. Das Beispiel Rigollots zeigt zudem, dass das Konzept der Nationalstile auch unter französischen Gelehrten geläufig war. In Bezug auf die Gürtelschnallen formulierte er, „der ganze Werkstoff und die Form, der Stil und die Verzierungsweise berichten uns von einer anderen Welt als jener der klassischen Antike […]“. Es handele sich somit um „künstlerische Erfindungen der Germanen“. „Diese Muster erinnern weder auf irgendeine Weise an die Ornamente, die von den degenerierten Künstlern der Spätantike verwendet wurden, noch haben sie etwas mit dem zu tun, was man byzantinische Kunst nennt “.230 Wie Rigollot argumentierte auch Cochet ausgehend von der Prämisse einer Existenz von Nationalstilen. Am deutlichsten wird dies in seinen Ausführungen zur Herkunft der Cloisonnéarbeiten des Childerichgrabs. Cochet verteidigte deren einheimische Herkunft gegen die – gegenwärtig wieder sehr aktuelle – These Jules Labartes, der behauptet hatte, die Arbeiten aus dem Childerichgrab könnten nur in Konstantinopel hergestellt worden sein.231 Mit dem Hinweis auf zahlreiche andere Cloisonnéarbeiten unter den Reihengräberfunden meinte Cochet dagegen belegen zu können, dass „diese kleinen Wunderwerke unserer alten nationalen Kunst“, „ces petites merveilles de notre vieil art national “, nicht im Orient hergestellt wurden.232 227 228

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C OCHET , Childéric (wie Anm. 143) 233. C OCHET , Childéric (wie Anm. 143) 234f: „C’est que si l’armille est gaulois, si la fibule est romaine, la boucle à son tour est essentiellement teutonique.“ C OCHET , Childéric (wie Anm. 143) 235. M. J. R IGOLLOT , Recherches historiques sur les peuples de la race teutonique qui envahirent les Gaules au Ve siècle, et sur le caractère des armes, des boucles et des ornements recueillis dans leurs tombeaux, particulièrement en Picardie. Mem. Soc. Ant. Picardie 10, 1850, 121–227, hier 185f: „Tout, dans les boucles de ceinture, la matière et la forme, le style et la nature des ornements, nous reporte vers un monde différent de celui de l’antiquité classique […] Ces dessins, ne rappèlent en aucune manière les ornements employés par les artistes dégénérés du Bas-Empire et n’ont rien de commun avec ce qu’on appelle l’art byzantin.“ J. L ABARTE , Recherches sur la peinture en émail dans l’antiquité et au moyen âge (Paris 1856) bes. 92. C OCHET , Childéric (wie Anm. 143) 117.

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Cochet vertrat jedoch keineswegs die Meinung, die Beigaben des Childerichgrabs seien genuin germanisch. Klar erkannte er, dass etwa die Fibel Childerichs mehr römisch als fränkisch sei und im Grunde ganz in antiker Traditionen steht. An diese Erkenntnis knüpfte er die Überlegung, es sei kaum davon auszugehen, dass das, was man gemeinhin als „fränkische“ oder „germanische Kunst“ bezeichne, bereits beim Tode Childerichs voll ausgeprägt gewesen sei. Vielmehr müsse man damit rechnen, dass die „gallo-römische Kunst“ zunächst weiter vorherrschte und sich erst allmählich unter dem Einfluss des Geistes der Sieger, des „génie des vainqueurs“, gewandelt habe. Bereits dieses Beispiel zeigt, dass Cochet weder von einem abrupten Bruch zwischen der Antike und dem barbarischen Mittelalter ausging, noch von einer tiefgreifenden Feindschaft zwischen einwandernden Franken und einheimischen Gallorömern. Am deutlichsten wird dies in seinen Ausführungen zu den Gräbern des 4. und 5. Jahrhunderts. Zwar seien die Gräber der römischen und der frühmittelalterlichen Epoche verhältnismäßig leicht voneinander zu unterscheiden, die Gräber der Übergangsphase jedoch umso schwieriger zu identifizieren. Der „Übergang zwischen Römern und Franken, zwischen Urne und Grab, zwischen christlicher Idee und heidnischem System“ sei weder plötzlich noch vollständig geschehen. In dieser Übergangsphase seien gallorömische und fränkische Bestattungen nicht klar voneinander zu scheiden. Zwischen beiden gebe es vielmehr unmerkliche und kaum wahrnehmbare Zwischenstadien. Auch der Übergang zum Christentum sei nicht schlagartig erfolgt. Zwar wisse man aus den historischen Quellen, dass die Franken unter Chlodwig an einem Tag getauft worden seien. Gleiches gelte aber kaum für die fortlebende „race gallo-romaine“.233 Auch Cochet sah den Übergang von der römischen zur fränkischen Epoche als Ergebnis eines Kampfes an. Er war jedoch weit davon entfernt, im Stile der Vertreter des „Streits der zwei Rassen“ die Auseinandersetzungen in der Spätantike und im frühen Mittelalter eindimensional auf einen Kampf zwischen Germanen und Gallorömern zu verkürzen. Cochet betonte vielmehr, dass am Übergang von der Antike zum Mittelalter verschiedene Konflikte parallel zueinander verliefen. Dies stelle auch den Grund dar, weshalb die Gräber der fränkischen und römischen Epoche nicht scharf voneinander zu trennen seien, sondern ineinander übergingen. Die Zeit des Übergangs sei eine Zeit der Kämpfe und Invasionen jeder Art. Der Boden aus jener Zeit schließt die Spuren der Barbarei und der Zivilisation mit ein, es sind die Kaiser im Innern und die Sachsen an den Küsten. Es ist das Heidentum, das stirbt, und das Christentum, das 233

C OCHET , Normandie (wie Anm. 143) 33.

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langsam in die Gebräuche und das Denken eindringt. Aus diesem Grund zeichnen sich die Gräber durch eine Vermischung aller Bräuche, aller Merkmale und Nationalitäten aus. Man erkennt den Kampf bei den Toten wie den Lebenden, im Grab ebenso wie im Leben.234

Zwar verwendete Cochet in seinen Werken regelmäßig die Begriffe „race gallo-romaine“, „race franque“ und „race teutonique“. Entsprechend der Mehrfachbedeutung des Begriffs „race“ im Französischen war damit aber wohl eher „Geschlecht“ oder „Volk“ gemeint. So spricht Cochet etwa auch von der „races des mérovees“. Das bedeutet andererseits nicht, dass er die „Rasse“ bzw. die Anthropologie nicht in seine Argumentation mit einbezogen hätte. Auch bei ihm spielten die anthropologischen Daten eine Rolle für die ethnische Zuweisung der Bestattungen. Seit seinen frühesten Arbeiten schenkte Cochet den anthropologischen Quellen, die bei seinen Grabungen zu Tage kamen, besondere Aufmerksamkeit. Im Gegensatz zu den Brüdern Lindenschmit stützte er sich jedoch weniger auf eigene Beobachtungen als auf die Auskünfte von Fachleuten.235 Laut dem Pariser Anthropologen Étienne Serres gehörten etwa die Schädel von Londinières der „race franque“ an.236 Einige Schädel aus Envermeu sandte Cochet an Joseph Barnard Davies, der später durch die Publikation der Crania Britannica237 zum bedeutendsten Kraniologen Großbritanniens wurde. Als Ergebnis seiner Untersuchung konstatierte Davies, die Schädel von Envermeu gehörten der „great Teutonic family“ an. Unzweifelhaft seien sie mit den Vorfahren der Angelsachsen verwandt. Dieser Befund decke sich sowohl mit dem, was Caesar über die Angehörigen der germanischen Nationen berichte, als auch mit den Ergebnissen, die die Grabungen der Brüder Lindenschmit in Selzen erbracht hätten. Die Schä234

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237

C OCHET , Normandie (wie Anm. 143) 34: „C’est un temps de luttes et d’invasions de toute espèce. Aussi le sol de cet âge renferme des couches de barbarie et des assises de civilisation; ce sont les Césars par le fond et les Saxons sur les bords. C’est le Paganisme qui se meurt, et le Christianisme que s’infiltre doucement dans les mœurs et dans les idées. Voilà pourquoi les sépultures de cette époque se distinguent par le mélange de toutes les coutumes, de tous des caractères, de toutes les nationalités. On sent que la lutte est chez les morts comme elle est chez les vivants, dans le tombeau comme dans la vie.“ C OCHET , Normandie (wie Anm. 143) 318–320. L. F LAVIGNY, Étude anthropologique et image du barbare à travers l’œuvre de l’Abbé Cochet et celle des ses correspondants. In: X. Barral i Altet (Hrsg.), Les Mérovingiens: archéologie et historiographie. Actes des VIe Journées Nationales de l’Association Française d’Archéologie Mérovingienne 6 (Paris 1989) 33 f. J. B. D AVIES, Crania Britannica. Delineations and descriptions of the skulls of the aboriginal and early inhabitants of the British Islands; with notices of their other remains (London 1865).

Die internationale Wurzel der Frühmittelalterarchäologie

231

del seien deshalb als „authentische Überreste der fränkischen Invasoren Galliens“ anzusehen.238 Schließlich führte Archimedes Pouchet, Zoologe in Rouen, an den Schädeln von Envermeu nicht nur eine anthropologische und rassenkundliche, sondern auch eine phrenologische Untersuchung durch.239 Unter Berufung auf den von Pieter Camper definierten Gesichtswinkel240 stellte er fest, dass die Schädel von Envermeu der am höchsten entwickelten Rasse, dem „kaukasischen Typ“, angehörten. Die von Franz Joseph Gall um 1800 entwickelte „Phrenologie“ ging davon aus, dass die individuellen Charaktereigenschaften an der Form bzw. den Ausbuchtungen des Schädels zu erkennen seien; diese Lehre fand während des 19. Jahrhunderts zahlreiche Anhänger in ganz Europa sowie in Amerika.241 Bei einem der Schädel von Envermeu diagnostizierte Pouchet anhand der von Gall definierten Kriterien eine Abneigung gegen Raub und Zerstörung, was jedoch – wie er feststellte – nicht dem entspreche, was aus den Schriftquellen über die Franken bekannt sei. Der ebenfalls erkennbare Familiensinn sowie der ausgeprägte Sexualtrieb stünden dagegen schon eher in Einklang mit den überlieferten Sitten der Merowingerzeit.242

238 239 240 241

242

Davies/Cochet, 25. 1. 1854. – Gedruckt bei F LAVIGNY, Étude (wie Anm. 236) 34. F LAVIGNY, Etude (wie Anm. 236) 33. Vgl. Kap. 5a. S. O EGLER -K LEIN , Die Schädellehre Franz-Joseph Galls in Literatur und Kritik des 19. Jahrhunderts. Zur Rezeption einer medizinisch-biologisch begründeten Theorie der Physiognomik und Psychologie. Soemmering-Forschungen 8 (Stuttgart, New York 1990). C OCHET , Normandie (wie Anm. 143) 318.

232 „La question franque“: Archäologie, Toponymie und Geschichtswissenschaft

9. „La question franque“: Archäologie, Toponymie und Geschichtswissenschaft 1888–1914 Um die Mitte des 19. Jahrhunderts bildete sich unter der Mehrzahl der europäischen Gelehrten ein Konsens über den germanischen Charakter der frühmittelalterlichen Reihengräber heraus. Nach längerer Suche und Unsicherheiten über ihre chronologische und ethnische Einordnung gelangte der überwiegende Teil der archäologischen Forschung zur Überzeugung, die Relikte jener germanischen Völker gefunden zu haben, denen in zahlreichen europäischen Ländern eine bedeutende Rolle in der nationalen Geschichtsmythologie zugeschrieben wurde. Zwar unterschieden sich die jeweiligen Rollen der germanischen Stämme und deren Bewertung von Land zu Land teilweise erheblich, insgesamt standen die Germanen aber hoch im Kurs. Dies war nicht zuletzt auf den Einfluss zeitgenössischer Rassentheorien zurückzuführen, die den „hochgewachsenen langschädligen Germanen“ zum Prototyp einer „hochwertigen“ Rasse erkoren hatten. Es wäre aber verfehlt, den Grund für die weitgehende Akzeptanz der germanischen Interpretation der Reihengräberfelder allein in der zeitgenössischen Konjunktur des Germanenmythos sehen zu wollen. Ein mindestens ebenso bedeutender Grund – das sei hier mit Nachdruck hervorgehoben – dürfte die Struktur des archäologischen Befundes gewesen sein: Der martialische Habitus der Reihengräber entsprach einerseits so weitgehend dem aus der Antike überlieferten Bild der wilden, kampfeslustigen Germanenvölker und unterschied sich andererseits so deutlich von den Erscheinungsformen römerzeitlicher Bestattungen, dass eine Identifikation von Reihengräberfeldern und Germanen in der Tat nahe lag. Zweifel an dieser Gleichsetzung ergaben sich daher weniger im fachinternen Diskurs als vielmehr durch die Konfrontation der archäologischen Befunde mit den Quellen und Interpretationen der Nachbarwissenschaften. Insbesondere der Vergleich der Besiedlungsmuster, die sich aus der Analyse der Verbreitung, Dichte und Chronologie der Reihengräberfelder ergaben, mit den historischen und sprachwissenschaftlichen Theorien zur frühmittelalterlichen Siedlungsgeschichte, ließ wiederholt so gravierende Widersprüche deutlich werden, dass der ausschließlich germanische Charakter der Reihengräberfelder in Frage gestellt werden musste.

Godefroid Kurth und der Kongress von Charleroi 1888

233

Die Bedenken gegenüber dieser germanischen Interpretation sind fast ebenso alt wie der weitgehende Konsens über den germanischen Charakter. Der früheste mir bekannte Beleg stammt aus dem Jahre 1858 und wurde im Rahmen einer Diskussion auf dem 25. nationalen französischen Archäologenkongress in Cambrai geäußert. Im Anschluss an ein Referat über das merowingerzeitliche Gräberfeld von Vendhuile, das der Berichterstatter anhand der Vergleichsfunde aus Selzen und der Normandie den germanischen Franken zuschrieb,1 entwickelte sich eine Debatte über die ethnische Aussagekraft eines Merkmals, das bis in die Gegenwart häufig als Hauptindiz für die germanische Zugehörigkeit gewertet wird: die Waffenbeigabe. Kein geringerer als der Nestor der „Archéologie nationale“ in Frankreich, Arcisse de Caumont2, äußerte dabei die Ansicht, es ginge zu weit, wenn man alle merowingischen Bestattungen „Fremden“ zuschreibe: Die einheimische Bevölkerung, die von den Römern organisiert worden sei, habe die gleichen Waffen wie die Barbaren getragen.3

a) Godefroid Kurth und der Kongress von Charleroi 1888 Während der Einwand Caumonts zunächst ohne Widerhall blieb, wurde das Problem der germanischen Interpretation der frühmittelalterlichen Reihengräber durch eine emotionsgeladene Diskussion auf dem vierten nationalen Kongress der Fédération archéologique et historique de Belgique in Charleroi 1888 dauerhaft in das Bewusstsein der archäologischen Forschung gerückt. Die Debatte um die ethnische Zugehörigkeit der wallonischen – und damit letztlich aller nordgallischen – Gräberfelder wurde unter der Chiffre „La question franque“ zum Bezugspunkt für alle späteren diesbezüglichen Debatten zwischen der Archäologie und ihren Nachbarwissenschaften.4 Noch einige Jahrzehnte später galt diese Auseinandersetzung, bei der es, wie Jacques Breuer berichtete, fast zu Handgreiflichkeiten gekommen wäre, als eines der denkwürdigsten Ereignisse der belgischen Archäologie und Geschichtsforschung.5 Für die vorliegende Arbeit ist sie schon deshalb einer 1

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3 4 5

C H . G OMART , Cimetière franc mérovingien de Vendhuile. In: 25. Congrès Arch. France, Séances générales tenues à Périgueux et Cambrai en 1858 (Paris 1859) 323–332. Zu Arcisse de Caumont (mit weiterer Literatur) vgl.: G RAN -A YMERICH , Dictionnaire, 148 f. Congrès (wie Anm. 1) 332. Vgl. z. B. P ÉRIN , Publications. J. B REUER, s.v. Désire-Alexandre Henri Van Bastelaer. In: Biographie nationale, Bd. 26 (Brüssel 1936/38) 144–150, hier 150.

234 „La question franque“: Archäologie, Toponymie und Geschichtswissenschaft näheren Betrachtung wert, weil hier der germanische Charakter der frühmittelalterlichen Reihengräberfelder erstmals zum Gegenstand einer ausführlichen Debatte wurde. Der archäologische Teil der Diskussion erscheint zwar in wissenschaftlicher Hinsicht heute insofern gegenstandslos, als alle Kontrahenten von unzutreffenden chronologischen Ansätzen ausgingen.6 In methodischer Hinsicht ist jedoch bemerkenswert, dass einerseits bei dieser Gelegenheit bereits nahezu alle Argumente angeführt wurden, die auch die späteren Debatten prägten, andererseits aber auch die bis in die Gegenwart letztlich nicht zu widerlegenden Argumente gegen die ausschließliche Zuweisung der frühmittelalterlichen Grabfunde mit Waffen und Fibeln an die Germanen vorgebracht wurden. Hauptprotagonisten des Streitgesprächs waren für die Archäologie der Präsident des Kongresses und Vorsitzende der gastgebenden Société paléontologique et archéologique de Charleroi, Désiré-Alexandre van Bastelaer7, sowie sein Kollege Alfred Bequet8 aus Namur. Die Gegenposition vertrat Godefroid Kurth. Kurth gilt bis heute als einer der bedeutendsten Historiker seines Landes und Gründervater der belgischen Geschichtsschreibung. Seit 1872 hatte Kurth den Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte an der Universität Lüttich inne. Neben anderen Forschungsschwerpunkten galt er als ausgewiesener Spezialist für die merowingische Epoche.9 Die Auseinandersetzung zwischen Kurth und den Vertretern der Archäologie beschränkte sich zwar vordergründig auf die Frage der ethnischen Interpretation der spätantiken und frühmittelalterlichen Friedhöfe. Letztlich handelte es sich aber ebenfalls um eine Konfrontation unterschiedlicher Versionen der belgischen Geschichte. Zum Hauptthema des Kongresses war im Vorfeld die fränkische Epoche erkoren worden. Disku6 7 8

9

P ÉRIN , Datation, bes. 26 f. Zu Van Bastelaer vgl. B REUER, Van Bastelaer (wie Anm. 5) 150. Zu Bequet vgl. A. D ULIÈRE , s.v. Alfred Bequet. In: Biographie nationale, Supplement 4, Bd. 32 (Brüssel 1964) 50–53. Zu Kurth vgl. A. B REUKELAAR, s.v. Kurth, Godefroid. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 4, 1992, 835 f. – J. C LOSON , Godefroid Kurth. In: L. Halkin (Hrsg.), Liber memorialis. L’université de Liége de 1867 à 1935. Notices biographiques. Bd. 1 (Lüttich 1936) 248–302. – F. N EURAY, Godefroid Kurth. Un demi siècle de vie belge (Brüssel 1931). – H. P IRENNE , Notice sur Godefroid Kurth. Ann. Acad. Royale Scien. Lettres Beaux-Arts Belgique 90, 1924, 193–261. – Aufgrund der Relevanz seiner Forschungen sowie seiner Herkunft aus der deutschsprachigen Minderheit Belgiens wurde ihm auch seitens der deutschsprachigen Volkstumsforschung während des Zweiten Weltkriegs einige biographische Aufmerksamkeit zuteil: Vgl. E. S TRIEFLER, Gottfried Kurth, Ein deutsch-belgisches Grenzlandschicksal. Dt. Schr. Landes- u. Volksforsch. 8 (Leipzig 1941). – G. F ITTBOGEN , Der volksdeutsche Historiker Gottfried Kurth. Die Westmark 9/1, 1941, 15–17.

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Abb. 12: Portrait Godefroid Kurth (nach Mélanges Godefroid Kurth, Bibl. Faculté Phil. Lettres Univ. Liége, Ser. Gr. 8° 1 [Lüttich, Paris 1908])

236 „La question franque“: Archäologie, Toponymie und Geschichtswissenschaft tiert werden sollten vor allem die verschiedenen Abschnitte und Modi der fränkischen Ansiedlung sowie die chronologische Differenzierung der fränkischen Gräber auf dem Gebiet Belgiens.10 Die Erforschung der reichen frühmittelalterlichen Gräberfunde Walloniens bildete bereits seit längerer Zeit einen Schwerpunkt der einheimischen Altertumsforschung. Hintergrund für diese Entwicklung war nicht zuletzt das Bestreben, archäologische Funde zur Konstruktion einer nationalen belgischen Geschichte heranzuziehen. Wie in den benachbarten Niederlanden spielte die frühmittelalterliche Epoche für die belgische Nationalgeschichte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine immer bedeutendere Rolle. Die Gründe hierfür sind – wie Marnix Beyen anhand des Beispiels der Niederlande gezeigt hat – letztlich in der zunehmenden Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung zu suchen. Aufgrund der sich rapide vermehrenden Erkenntnisse der kritischen Geschichtswissenschaft bei gleichzeitig steigendem Bedarf nach einem wohlfundierten nationalen Geschichtsmythos war die zuvor geläufige Herleitung der Niederländer und Belgier von den Batavern bzw. den belgischen Stämmen der caesarischen Zeit kaum noch aufrecht zu erhalten.11 An Stelle dieser Geschichtskonstruktion trat zunehmend der Glaube an eine Abstammung von den Völkern des frühen Mittelalters. Dementsprechend suchte die archäologische Forschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Anfänge der belgischen Nation ebenfalls im frühen Mittelalter. So bezeichnete etwa Van Bastelaer in seinem einleitenden Referat in Charleroi die fränkische Epoche als „zweifellos die wichtigste unserer nationalen Geschichte“.12 Ein wiederkehrendes Motiv war dabei die einheitsstiftende gemeinsame fränkische Herkunft der Flamen und Wallonen, die in diesem Zusammenhang postuliert wurde. Im jungen, erst durch die Revolution von 1830 entstandenen belgischen Staat maß man der Tatsache, dass die Bevölkerung in zwei unterschiedliche Sprachgruppen zerfiel, in der Öffentlichkeit zunächst keine besondere Bedeutung bei. In der Geschichtswissenschaft wurde dagegen von verschiedenen Seiten versucht, die offensichtlichen Unterschiede durch den Hinweis auf eine gemeinsame germanische Ab10

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V. T AHON (Hrsg.), Compte-rendu des travaux du congrès tenu à Charleroi les 5,6,7, et 8 août 1888. Ann. Fédér. Arch. Hist. Belgique 4/1, 1889, 97. (= Doc. et Rapports Soc. Royale Paléont. Charleroi 15, 1889) M. B EYEN , A tribal trinity: The rise and fall of the Franks, the Frisians and the Saxons in the historical consciousness of the Netherlands since 1850. European Hist. Quarterly 30, 2000, 493–532, bes. 495 f. Diskussionsbeitrag Van Bastelaer. In: T AHON (Hrsg.), Compte-rendu (wie Anm. 10) 97.

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stammung sowie die daraus resultierende gemeinsame Rassezugehörigkeit der Flamen und Wallonen zu relativieren. Neben der Attraktivität des romantisch verklärten Bildes der unverdorbenen, freiheitsliebenden Germanen war mitunter ein antiklerikal motivierter Antiromanismus ein weiterer Grund dafür, dass gerade den frühmittelalterlichen Franken eine herausragende Rolle innerhalb der belgischen Nationalgeschichte zugeschrieben wurde.13 Bereits 1845 erklärte der Historiker Pierre Gérard die Belgier zu „Söhnen der Franken“ und argumentierte, dass das Gebiet um Lüttich und die wallonischen Gegenden Belgiens seit undenklicher Zeit von einer Bevölkerung deutscher Rasse bewohnt werden, und als die romanische Sprache eingeführt wurde, was nicht vor das Mittelalter datiert werden kann, so geschah dies durch die Tätigkeit der Klöster, denn es waren gallorömische Mönche, die sie mitbrachten.14

Ein anderer belgischer Historiker äußerte 1867 die Ansicht: Wenn sich die Wallonen und die Flamen auch hinsichtlich der Sprache unterscheiden, so sind sie doch Brüder durch das Blut, denn die einen wie die anderen entstammen derselben germanischen Rasse.15

In ganz ähnlicher Weise beschrieb Van Bastelaer in seiner einführenden Ansprache die fränkischen Funde, die im Laufe des Kongresses im Museum von Charleroi besichtigt würden, als „Überreste jener energischen und kraftvollen Rasse von Kriegern; jener Rasse, die die unserer Väter ist “.16 In der belgischen archäologischen Literatur der 1880er Jahre sind ferner deutliche Abgrenzungsbestrebungen gegenüber Frankreich zu beobachten, die sich bei der Interpretation der archäologischen Quellen niederschlugen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Text, den Van Bastelaer einige Jahre vor dem Kongress von Charleroi publizierte. Darin führte er aus, dass die „schlechte Angewohnheit“ (mauvaise habitude), die einheimische Archäologie mit der französischen gleichzusetzen, die belgische For13 14

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F. V ERCAUTEREN , Cent ans d’histoire nationale en Belgique (Brüssel 1959) 185 ff. P. A. F. G ÉRARD , La barbarie franke et la civilisation romaine (Brüssel 1845) zitiert nach V ERCAUTEREN , Histoire (wie Anm. 13) 188: „[…] que le pays de Liège et les autres contrées wallonnes de la Belgique eurent de temps immémorial une population de race tudesque et si la langue romane, qui ne date que du moyen âge, s’y est introduite, c’est à la suite des monastères [car] … ce sont les moines gallo-romain qui l’y ont apportée.“ Edouard de Liedekerke in Revue General, April 1867, zitiert nach V ERCAUTEREN , Histoire (wie Anm. 13) 190: „Si les Wallons et les Flamands diffèrent par la langue ils sont frères par le sang car les uns comme les autres sont issues de la même race germanique.“ T AHON (Hrsg.), Compte-rendu (wie Anm. 10) 98.

238 „La question franque“: Archäologie, Toponymie und Geschichtswissenschaft schung häufig auf den falschen Weg geführt habe. Van Bastelaer vertrat dagegen die These, dass sich die Belgier seit der Antike von den Galliern bzw. den Franzosen abgehoben hätten: Unter dem Gesichtspunkt der Rasse und in allen anderen Gesichtspunkten unterschied sich die belgische Bevölkerung seit dem frühesten Altertum vollständig von den gallischen Bevölkerungen des Südens […].17

Grundlage für diese Ansicht war die historische These, dass Belgien nicht wie Frankreich im frühen Mittelalter von der fränkischen Besiedlung erfasst wurde, sondern dass Belgien vielmehr das eigentliche Kerngebiet der Franken sei. Dabei stützte sich Van Bastelaer auf Gérards These, die Belgier seien im Gegensatz zu den Franzosen die Nachfahren der Sieger, nicht die der Verlierer in den Auseinandersetzungen während der Völkerwanderung: Der äußerste Norden Galliens, der heute den Königreichen von Belgien und der Niederlande entspricht, wurde nicht von den Barbaren erobert, wie das keltische bzw. römische Gallien; im Gegenteil gingen die Eroberer von hier aus.18

Van Bastelaer zufolge verdrängten die Kelten bereits in vorcaesarischer Zeit von germanischen Stämmen aus Belgien. Die belgischen Stämme setzten sich aus verschiedenen germanischen Völkerschaften zusammen. Unter römischer Herrschaft wurden diese „Belgo-Germanen“ (Belgo-Germains) zu „Belgo-Römern“ (Belgo-Romains). Diese waren den Eroberern die gesamte Kaiserzeit hindurch feindlich gesinnt, während sie „ihren Brüdern in Germanien“ Sympathien entgegenbrachten und diese nach Kräften bei ihren Unternehmungen unterstützten.19 Van Bastelaer unterschied für das römische Belgien vier verschiedene Phasen des Zustroms von Germanen. Bereits zu Beginn des 4. Jahrhunderts begannen die verschiedenen germanischen Gruppen in Belgien – Belgo-Römer, Sicambrer, Salier und germanische Laeten – sich zusammenzuschließen, um einerseits ihre Grenzen gegen neue Invasionen zu verteidigen, andererseits um das schwere Joch

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D.-A. V AN B ASTELAER, L’époque franque au point de vue des archéologues n’est pas la même en France et en Belgique. Doc. et Rapports Soc. Royale Paléont. Charleroi 12, 1882, 149–204, hier 152: „Dès la plus haute antiquité, au point de vue de la race et à tous autres points de vue, les populations belges étaient complètement distinctes des populations gauloises du sud […]“. P. A. F. G ÉRARD , Histoire des Francs d’Austrasie (Brüssel, Paris, Leipzig 1864), zitiert nach V AN B ASTELAER, Époque (wie Anm. 17) 151. „L’extrémité septentrionale des Gaules, qui correspond aujourd’hui au royaume de Belgique et aux Pays-Bas, n’a pas été conquise par les Barbares, comme la Gaule celtique ou romaine, c’est au contraire d’ici que partirent les conquérants.“ V AN B ASTELAER, Époque (wie Anm. 17) 153 f.

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der römischen Herrschaft abzuwerfen. Insgesamt habe es sich in Belgien um keine „fränkische Invasion“ im eigentlichen Sinne gehandelt, das Römische Reich sei vielmehr zusammengebrochen und habe das Land den fränkischen Stämmen, die es bereits seit langer Zeit verteidigten, überlassen, da die vorigen Besitzer zu schwach gewesen seien, um ihren Besitz zu verteidigen.20 Insgesamt vertrat Van Bastelaer die Ansicht, dass die Kriege der germanischen Völker gegen die römische Macht für die Belgier „wahrhaftige Aufstände gegen eine gierige und quälende Herrschaft “ waren, die mit Hilfe der Brüder aus den benachbarten Gegenden unternommen wurden.21 Während Van Bastelaer seine Periodisierung des germanischen Einflusses auf das frühgeschichtliche Belgien zunächst anhand schriftlicher Quellen vornahm, strebte Alfred Bequet wenige Jahre später an, ein vergleichbares Geschichtsbild anhand der archäologischen Quellen zu belegen. Aufgrund der These Van Bastelaers, dass die fränkische Siedlungsgeschichte in Belgien grundsätzlich zwei Jahrhunderte vor der Frankreichs begann, wollte Bequet vor allem die Frühphase der fränkischen Präsenz in Belgien erforschen. Neben dem Nachweis germanischer Laeten versuchte er auch, Anhaltspunkte für die archäologische Unterscheidung zwischen salischen und ripuarischen Franken zu gewinnen. Letzteren wies er etwa die bekannten Friedhöfe von Samson, Spontin und Furfooz zu. Aufgrund der typischen Vermischung von römischem und barbarischem Fundgut in diesen Gräberfeldern habe es sich dabei zweifellos um die Bestattungen von Personen gehandelt, die bereits seit langer Zeit mit dem römischen Reich in Kontakt standen und Dienst als Auxiliare im römischen Heer leisteten.22 Andererseits stellte Bequet anhand der Verbreitung und Dichte der Gräberfelder Überlegungen zum Verlauf und zur Intensität der fränkischen Besiedlung an. So meinte er, dass die Gegend südlich von Lüttich zu den am frühesten von den Franken besetzten Gebieten gehörte. Insgesamt zeigten die Friedhöfe, die man nahezu in jedem Dorf südlich von Maas und Sambre finde, dass dieses Gebiet umfassend von den Franken besiedelt wurde.23 Schließlich meinte Bequet auch die Koexistenz der fortlebenden belgo-römischen Bevölkerung und der Franken archäologisch nachweisen zu kön-

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V AN B ASTELAER, Époque (wie Anm. 17) 202. V AN B ASTELAER, Époque (wie Anm. 17) 202f: „Les guerres des peuples germaniques contre la puissance romaine […] étaient pour les Belges de vraies insurrections contre une autorité avide et tracassière, avec l’aide de frères venus de contrées voisines.“ A. B EQUET , La Belgique avant et pendant les invasions des Francs. Ann. Soc. Arch. Namur 17, 1886, 419–461, hier 451 f. B EQUET , Belgique (wie Anm. 22) 454 f.

240 „La question franque“: Archäologie, Toponymie und Geschichtswissenschaft nen. Bei den birituell belegten Gräberfeldern von Strée, Francesse, Éprave und Jamiolle deutete er die Brandgräber als Bestattungen der Belgo-Römer, während er die Körperbestattungen den Franken zuwies.24 Godefroid Kurths Überlegungen zur spätantiken und frühmittelalterlichen Besiedlungsgeschichte gingen dagegen von dessen ortsnamenkundlichen Studien aus. Den Anlass zu diesen Studien gab eine Preisfrage der königlich belgischen Akademie der Wissenschaften, die die Ermittlung des genauen Verlaufes der germanisch-romanischen Sprachgrenze zum Gegenstand hatte. Festgestellt werden sollte, ob die Sprachgrenze in der Vergangenheit ihren Verlauf geändert habe oder bereits seit langer Zeit dort verlaufe, wo sie noch heute festgestellt werden könne.25 In seiner preisgekrönten Studie kam Kurth zu einem eindeutigen Ergebnis: Der Befund der Ortsnamen ergab, dass eine umfassende germanischsprachige Bevölkerung im französischsprachigen Gebiet südlich der Sprachgrenze historisch nicht nachzuweisen ist. Wie sein Brüsseler Kollege Alphons Wauters26 wandte sich Kurth deshalb gegen einen gemeinsamen Ursprung von Flamen und Wallonen. Vielmehr spiegele die Sprachgrenze frühmittelalterliche Bevölkerungsverhältnisse wieder. Die Flamen seien die Nachfahren der germanischsprachigen Franken, während die Wallonen von den Gallorömern abstammten. Diese Ansicht stand damit im diametralen Widerspruch zu Van Bastelaers und Bequets archäologischer Interpretation der frühmittelalterlichen Siedlungsgeschichte. Aus diesem Grund standen Kurth und Wauters den Theorien der Archäologen grundsätzlich skeptisch gegenüber. Während Wauters aus Krankheitsgründen beim Kongress nicht anwesend sein konnte und seine Einwände schriftlich vorbrachte27, trug Kurth seine Position den in Charleroi in großer Zahl versammelten belgischen Archäologen persönlich vor. Obwohl die Redebeiträge während der Tagung in der üblichen Weise stenographiert wurden, ist es nicht möglich den Verlauf der Diskussion zuverlässig nachzuvollziehen. Van Bastelaer war über den Verlauf der Debatte offenbar so erzürnt, dass er nicht bloß umgehend einen umfangreichen 24 25

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B EQUET , Belgique (wie Anm. 22) 459. G. K URTH , La frontière linguistique en Belgique et dans le nord de la France. Mémoires couronnés et autres mémoires, Acad. Royale des Sciences, des Lettres et des Beaux-Arts de Belgique 48 (Brüssel 1895/99) 2. A. W AUTERS, Les origines de la population flamande de la Belgique, étude précedée de quelques nouveaux détails à propos des Suèves de la Flandre. Bull. Acad. Royale Belgique 3. F., 10, 1885, 99–181, bes. 115. A. W AUTERS, A propos d’un nouveau système historique relatif à l’établissement des Francs en Belgique. Bull. Acad. Royale Belgique 3.F., 15, 1888, 991–995.

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Aufsatz zur Widerlegungen seines Kontrahenten publizierte28, sondern ebenfalls zahlreiche Änderungen vornahm und Argumente nachträglich in das Tagungsprotokoll einfügte. Diese „Ergänzungen“ waren offenbar so umfangreich und tendenziös, dass Kurth sich beschwerte, die Debatte sei verfälscht und seine Position sowie sein Auftreten verzerrt wiedergegeben worden.29 Ein wohlmeinenderer Beobachter konstatierte jedenfalls, Kurth habe seine These mit großem Talent vorgetragen.30 Im Anschluss an einen Überblick über den Stand der Frühmittelalterarchäologie in Europa durch Joseph de Baye ergriff Kurth das Wort. Explizit wandte er sich gegen die von der Mehrheit der Archäologen vertretene Theorie, dass die Franken das wallonische Belgien besiedelt hätten und deshalb die Franken die Vorfahren der heutigen Wallonen seien: „Mit anderen Worten: die Wallonen wären Flamen, ohne es zu wissen“. Ohne Umschweife äußerte er seine These, für ihn sei die Mehrheit der Friedhöfe, die von den Archäologen als fränkisch angesehen werde, in Wirklichkeit überhaupt nicht fränkisch: „Sie sind aus der fränkischen Epoche, zugegeben, aber sie enthalten die Gebeine der einheimischen Bevölkerung, die eine gallorömische war.“31 Zur Untermauerung dieser These stützte sich Kurth auf historische und ortsnamenkundliche Argumente. Kurth führte aus, dass die Franken zunächst im heutigen Flandern ansässig gewesen seien. Später hätten sie den Rest Galliens erobert. Diese Eroberung habe jedoch keine Besiedelung des Landes nach sich gezogen. Die Franken unterwarfen zwar die dortige Bevölkerung der Herrschaft ihrer Könige; keinesfalls aber hätten sie ihre Wohnstätten von Flandern in die Hügel Walloniens verlagert. Wallonien habe bis zum Anfang des 5. Jahrhunderts zum Römischen Reich gehört. Deshalb würden zumindest die sogenannten fränkischen Gräber, die in das 4. und 5. Jahrhundert datiert würden, von Ausnahmen abgesehen, keine

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D.-A. V AN B ASTELAER, La question franque devant le congrès de Charleroi. Etudes sur les émigrations successives des Francs en Belgique et sur la conquête définitive de la Gaule qui s’ensuivit. Ann. Soc. Arch. Bruxelles 2, 1888/89, 221–300. G. K URTH , Observations sur le compte rendu du congrès archéologique de Charleroi. Bull. Soc. Art Liège 5, 1889, 187–199. A. DE L OË , Compte rendu succinct des travaux du 4me Congrès de la Fédération historique et archéologique de Belgique à Charleroi, les 5, 6, 7, 8 août 1888. Ann. Soc. Arch. Bruxelles 2, 1888/89, 126–135, hier 133. Diskussionsbeitrag Kurth. In: T AHON (Hrsg.), Compte-rendu (wie Anm. 10) 121: „Je m’explique sans ambages, Messieurs, et je dis que selon moi, pour la très grande majorité, vos cimetières francs ne sont pas des cimetières francs. Ils sont de l’époque franque, d’accord, mais ils renferment les ossements de la population indigène qui était une population de Gallo-Romains.“

242 „La question franque“: Archäologie, Toponymie und Geschichtswissenschaft fränkischen Krieger enthalten, sondern in Wirklichkeit die Reste der indigenen Gallorömer bzw. Belgorömer.32 Als zweites Argument für seine These führte Kurth die Ortsnamenskunde an. Die Sprachgrenze, die heute durch Belgien verlaufe, bestehe bereits sei dem frühen Mittelalter und habe sich in den vergangenen eineinhalb Jahrtausenden nur geringfügig verändert: Die Franken und die Gallorömer waren auf dieselbe Weise getrennt wie heute die Flamen und die Wallonen. Überall wo heute Flamen sind, gab es früher Franken; und überall wo heute Wallonen sind, gab es Gallorömer und sind Gallorömer geblieben.33

Den Wandel der Bestattungsweise der Gallorömer interpretierte Kurth im Kontext einer umfassenden und rapiden Angleichung der gallorömische Bevölkerung an die Franken. Man dürfe nicht vergessen, dass die gallorömische Bevölkerung nach der Gründung des fränkischen Reiches sehr schnell die Sitten, Gebräuche und Gewohnheiten der Sieger, der Franken, angenommen habe. Kurth zufolge übernahmen die Gallorömer zu Beginn des 6. Jahrhunderts mit geradezu fieberhafter Eile eine Vielzahl fränkischer Eigenheiten. So nahmen Gallorömer etwa germanische Namen an. Diese Übernahme von Namen beschränkte sich nicht allein auf einzelne Personen. Die Gallorömer strebten sogar gemeinsam danach ihren „nationalen“ Namen „Römer“ abzustreifen und sich stattdessen des Frankennamens zu bemächtigen. Der Name „Franken“ habe unter den Gallorömern einen Ehrentitel dargestellt, wie das Beispiel der Franzosen zeigte. Obwohl diese der keltischen und keineswegs der germanischen Rasse angehörten, trügen sie ihn bis heute.34 Die Schriftquellen belegten ferner, dass die Gallorömer die gleiche Kleidung wie die Franken trugen und ebenso wie jene bewaffnet waren.35 Im Merowingerreich seien die Gallorömer den Franken weitgehend gleichgestellt gewesen. Alle Positionen im Heer und in der Verwaltung hätten ihnen offen gestanden. Sie nahmen die Ämter von Grafen, Herzögen und Hausmeiern wahr. „Mit einem Wort: die Gallorömer unterschieden sich durch nichts von den Franken, außer durch die sehr beträchtliche Differenz des Wergeldes […]“.36 Aus 32

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Diskussionsbeitrag Kurth. In: T AHON (Hrsg.), Compte-rendu (wie Anm. 10) 121–124. Diskussionsbeitrag Kurth. In: T AHON (Hrsg.), Compte-rendu (wie Anm. 10) 124: „Les Francs et les Gallo-Romains étaient séparés de la même façon que le sont aujourd’hui les Flamands et les Wallons. Partout où il y a des Flamands, il y a eu des Francs, et partout où il y a des Wallons, il y a eu et il est resté des Gallo-Romains.“ Diskussionsbeitrag Kurth. In: T AHON (Hrsg.), Compte-rendu (wie Anm. 10) 126. Diskussionsbeitrag Kurth. In: T AHON (Hrsg.), Compte-rendu (wie Anm. 10) 162. Diskussionsbeitrag Kurth. In: T AHON (Hrsg.), Compte-rendu (wie Anm. 10) 126: „En un mot, les Gallo-Romains ne se distinguaient en rien des Francs, si ce n’est par la différence très considérable du Wergeld […].“

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dieser umfassenden Angleichung der Gallorömer an die Franken folgerte Kurth, dass die archäologischen Kriterien zur Unterscheidung von fränkischen und gallorömischen Bestattungen nicht stichhaltig seien: In jenen Gräbern, die wir als fränkisch bezeichnen, finden wir Krieger, die mit Waffen, Schmuck und allerlei Grabbeigaben bestattet wurden, unzweifelhaft germanischen Charakters, die sich sehr von den Beigaben unterscheiden, die wir in den römischen Gräbern finden. Man könne nicht verneinen, so meine verehrten Widerredner, dass die Individuen, die in diesen fränkischen Gräbern bestattet wurden, einer anderen Rasse angehörten als jene, die wir in den römischen Gräbern finden.

Dies aber sei ein grundlegender Fehler! Ich glaube, dass jene Menschen, deren Reste wir in den sogenannten fränkischen Gräbern wieder finden, neben sich die Franziska, die Lanze, umgeben von Keramik barbarischen Typs und ausgestattet mit Schmuck eines besonderen Stils – ich verweise z. B. auf jene schönen Gürtelschnallen, von denen wir Stücke im Museum von Charleroi bewundern durften – also ich glaube, dass diese Menschen keine Franken, sondern Gallo-Römer sind, oder, um meinen Gedanken noch griffiger auszudrücken: ich glaube, dass all diese Menschen nicht Flamen, sondern Wallonen sind.37 All jene Merkmale, die in den Augen der Archäologen heute für die fränkische Nationalität jener Menschen zu sprechen scheinen, deren Überreste in den so genannten fränkischen Gräbern gefunden werden, all jene Merkmale, all jene archäologischen Elemente sprechen deshalb in den wallonischen Provinzen in gleicher Weise, und mit gleichem Recht, für deren gallorömische Nationalität.38

Diese Merkmale seien durchaus beweiskräftig und überzeugend, wenn man sie in den germanischen Provinzen, in Flandern, finden würde, denn es 37

38

Diskussionsbeitrag Kurth. In: T AHON (Hrsg.), Compte-rendu (wie Anm. 10) 125: „Dans les tombeaux que nous qualifions de francs, nous trouvons des guerriers qui ont été enterrés avec des armes, des bijoux, et tout un mobilier funéraire qui a un caractère barbare incontestable et qui est très différent du mobilier funéraire que nous trouvons dans les tombes romaines. On ne peut donc nier, ajoutent nos honorables contradicteurs, que les individus enterrés dans ces tombes franques soient d’une autre race que ceux qu’on découvre dans les tombes romaines. […] Je crois que les hommes, dont nous retrouvons les restes dans les tombes dites franques, ayant à côté d’eux la francisque, la lance, entourés de poteries au type barbare et ornés de bijoux d’un style particulier, je citerai par exemple ces belles boucles de ceinturons dont nous avons admiré des spécimens au musée de Charleroi; eh bien! je crois que ces hommes sont, non des Francs, mais des Gallo-Romains, ou, pour rendre ma pensée d’une manière plus saisissable, je crois que ces hommes sont, non des Flamands, mais des Wallons.“ Diskussionsbeitrag Kurth. In: T AHON (Hrsg.), Compte-rendu (wie Anm. 10) 127: „Tous les indices, qui semblent plaider aujourd’hui, aux yeux des archéologues, en faveur de la nationalité franque des hommes dont on trouve les restes dans des tombes dites franques, tous ces indices, tous ces éléments archéologiques plaident donc également, et au même titre, en faveur le leur nationalité gallo-romaine, dans les provinces wallones.“

244 „La question franque“: Archäologie, Toponymie und Geschichtswissenschaft gäbe keinen Grund davon auszugehen, dass die dortige Bevölkerung seither gewechselt habe. Falls es aber tatsächlich so sein sollte, dass die Gräber des wallonischen Gebiets fränkisch seien, so stelle sich die Frage, wo man denn die Überreste der Gallorömer finden könne. Obwohl die gallorömische bzw. belgorömische Bevölkerung seit der römischen Epoche die Mehrheit der Bevölkerung gebildet habe, sei die Zahl der Gräber, die den fortlebenden Gallorömern zugeschrieben werde, sehr klein.39 Abschließend wandte sich Kurth der Anthropologie zu. Diese belege, dass heute eine grundlegende Differenz zwischen Flamen und Wallonen bestünde. Anhand Kurths These ließe sich dieser Sachverhalt problemlos erklären, während es fraglich sei, wie er mit einer Abstammung der Wallonen von den Germanen in Einklang gebracht werden könne.40 Mit seiner Anzweifelung des germanischen Charakters der Reihengräber Walloniens stieß Kurth bei den versammelten Archäologen auf wenig Verständnis. Überwiegend war man sich einig, dass Kurth seiner Phantasie wohl zu freien Lauf gelassen habe. Allerdings hatten die Anwesenden große Schwierigkeiten, Kurths These argumentativ zu widerlegen. Van Bastelaer äußerte zwischenzeitlich, dass es ihm unmöglich sei, diese Behauptungen aufzuklären, „die uns in einer Weise mitgeteilt wurden, als seien sie Dogmen, ohne sie auf Beweise zu stützen, und ich kann nicht, auch nicht mit dem besten Willen der Welt, darin etwas anderes finden als mehr oder minder willkürliche Hypothesen“.41 Die versammelten Archäologen brachten verschiedene Argumente gegen die Plausibilität von Kurths These vor. Zum einen führten sie anthropologische Argumente ins Feld. Der Brüssler Anthropologe Victor Jacques wies darauf hin, dass die Gebeine, die bei Ausgrabungen fränkischer Gräberfelder in Wallonien zutage kämen, ausschließlich die Charakteristika der germanischen Rasse zeigten. Diese Merkmale seien dieselben, wie man sie in Deutschland in den Reihengräbern beobachten könne. Sie seien grundverschieden von der Vorgängerbevölkerung, die entweder keltisch oder vorgermanisch bzw. vorarisch zu nennen sei. Die „germanischen Invasoren“ seien im Gegensatz zur kurzköpfigen „eroberten Bevölkerung“ langschädelig gewesen. „Die fränkischen Schädel sind dolichokephal, wie die flämischen

39 40 41

Diskussionsbeitrag Kurth. In: T AHON (Hrsg.), Compte-rendu (wie Anm. 10) 127. Diskussionsbeitrag Kurth. In: T AHON (Hrsg.), Compte-rendu (wie Anm. 10) 128. Diskussionsbeitrag Van Bastelaer. In: T AHON (Hrsg.), Compte-rendu (wie Anm. 10) 134 f.: „Franchement, il m’est impossible de débrouillier ces assertions, que l’on nous donne en quelque sorte comme des dogmes sans les étayer d’aucune preuve, et je ne puis, malgré la meilleure volonté du monde, y trouver autre chose que des hypothèses plus ou moins gratuites.“

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Schädel, wie die Reihengräberschädel, weil die Franken Germanen sind.“42 Ein anderes Tagungsmitglied vertrat jedoch unter Berufung auf die von den antiken Autoren überlieferte Abstammung der alten Belgier, dass auch die fortlebende einheimische Bevölkerung zumindest teilweise germanischer Abstammung gewesen sein müsse; im übrigen überlieferten die antiken Autoren auch, dass die Kelten blond und groß gewesen seien.43 In archäologischer Hinsicht versuchte Van Bastelaer Kurth insofern entgegen zu kommen, dass er seine Einwände für die Zeit nach der Gründung des Merowingerreiches gelten ließ. Die fränkische Kolonisation gliedere sich in zwei Abschnitte: im 4. Jahrhundert seien die Franken im Einvernehmen mit der römischen Regierung in Flandern angesiedelt worden. Dabei habe es sich um Laeten gehandelt bzw. um Personen, die im Zuge eines Vertrages mit dem Römischen Reich als Föderaten angesiedelt worden seien.44 Davon sei die Epoche nach der fränkischen Eroberung zu unterscheiden. Wie manche Kollegen teile er die Ansicht, dass die Mehrzahl der fränkischen Friedhöfe nicht vor das Ende des 4. Jahrhunderts datiert werden könne. Wie alle anderen Archäologen gestehe er zudem Kurth gerne zu, dass es nicht möglich sei, die Gräber genauer als auf 40 oder 50 Jahre zu datieren. Von den Gräberfeldern nach der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts wolle er jedoch schweigen; hier könne Kurth keine Einwände gegen ihre Deutung als echte fränkische Friedhöfe erheben. Abgesehen von einer Spanne von 50 Jahren sei also Übereinstimmung erreicht.45 Auf diesen salomonischen Kompromissvorschlag ließ sich Kurth jedoch nicht ein. Hinsichtlich der Frage, wo denn die Gräber der fortlebenden belgorömischen Bevölkerung zu finden seien, wies Van Bastelaer darauf hin, dass jeder praktische Archäologe den Unterschied zwischen römischen und fränkischen, d. h. germanischen Gräbern kenne. Im Gegenzug forderte er Kurth auf, dieser solle doch erst einmal die Gräber der „Pseudo-Franken“ von jenen der „echten Franken“ unterscheiden. Van Bastelaer führte ferner eine vermeintliche epistemologische Überlegenheit der archäologischen Quellen gegenüber den linguistischen und 42

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Diskussionsbeitrag Jacques. In: T AHON (Hrsg.), Compte-rendu (wie Anm. 10) 139 „[…] les crânes francs sont dolichocéphales, comme les crânes flamands, comme les crânes des Reihengräber, parce que les Francs sont des Germains.“ Diskussionsbeitrag Sélys-Longchamps. In: T AHON (Hrsg.), Compte-rendu (wie Anm. 10) 167. Diskussionsbeitrag Van Bastelaer. In: T AHON (Hrsg.), Compte-rendu (wie Anm. 10) 130; 178. Diskussionsbeitrag Van Bastelaer. In: T AHON (Hrsg.), Compte-rendu (wie Anm. 10) 178 f.

246 „La question franque“: Archäologie, Toponymie und Geschichtswissenschaft ortsnamenkundlichen Interpretationen ins Feld. Linguistik und Ortsnamenkunde seien zwei theoretische Wissenschaften wogegen die Archäologie von Praktikern ausgeübt werde.46 Während die Ortsnamenkunde, Sprachwissenschaft und Etymologie lediglich Schlussfolgerungen („déductions“) vorbringen könne, die mitunter falsch oder übertrieben wären, förderten die Archäologen Fakten zutage, „Fakten, die mehr wert sind als Schlussfolgerungen“.47 In diesem Teil der Debatte wird ein Sachverhalt deutlich, der in den folgenden Jahrzehnten bei vergleichbaren Gelegenheiten regelhaft wiederkehren sollte, nämlich dass die Vertreter der Archäologie mitunter beträchtliche Schwierigkeiten hatten, Befund und Interpretation klar voneinander zu trennen. Gerade aufgrund der ethnischen Benennung von Fund- und Befundkategorien – „fränkische“ Gräberfelder, „fränkische“ Epoche, „belgorömische“ Friedhöfe usw. – verschmolzen Klassifikation und Ansprache von Funden und Befunden mitunter gedanklich so sehr mit ihrer Interpretation, dass Archäologen geneigt waren, bereits sehr weitgehende Interpretationen noch für Fakten zu halten.48 Genau an diesem Punkt setzte Kurth an. In einem temperamentvollen Monolog warf Kurth den Vertretern der Gegenposition vor, es seien vielmehr sie, die Schlussfolgerungen zögen, bei denen sie ihrer Phantasie zu freien Lauf ließen: Ich bitte [die Herren] zu bemerken, dass Sie ihr Studienfeld verlassen, wenn Sie über die Rasse und Nationalität der Insassen der sogenannten fränkischen Gräberfelder diskutieren. Wie können Sie behaupten, dass es sich dabei um Franken handelt? Ohne Zweifel können Sie behaupten, dass jene stummen Toten, die sich niemals wieder erheben werden, um uns mitzuteilen, welcher Nationalität sie angehörten, von fränkischen Beigaben umgeben sind. Ich erkenne das wohl! Sie können sagen, dass sie auf fränkische Weise bewaffnet waren, dass sie der fränkischen Zeit angehören, und sogar, dass ihre körperliche Beschaffenheit in allem den Merkmalen der fränkischen Konstitution gleicht; ich stimme Ihnen zu, jedoch nicht ohne eine gewisse Zurückhaltung bezüglich des letzten Punktes. Aber behaupten, dass es Franken wären, das können Sie nicht. Sie können es nicht, weil es sich dabei, genau gesagt, um eine Frage handelt, die in den Bereich der Geschichtswissenschaft gehört, und die nicht anders gelöst werden 46

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Diskussionsbeitrag Van Bastelaer. In: T AHON (Hrsg.), Compte-rendu (wie Anm. 10) 129. Diskussionsbeitrag Van Bastelaer. In: V AN B ASTELAER, Question (wie Anm. 28) 230. Ähnlich auch ebd, 279 sowie T AHON (Hrsg.), Compte-rendu (wie Anm. 10) 176. Zur Problematik der Abgrenzung von „Fakten“ und „Interpretationen“, die in gleicher Weise für die Archäologie gilt vgl. C. L ORENZ , Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie (Köln, Weimar, Wien 1997) 17–34.

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kann als durch das positive Zeugnis der Schriftquellen, und keineswegs durch die vieldeutige und vage Sprache der Archäologie. Die Geschichte ist in der Lage, jene Argumente, auf die Sie sich stützen, zu widerlegen. Sie behaupten: jene Krieger, deren Reste wir in den Gräbern wiederfinden, waren auf fränkische Weise gekleidet; deshalb seien sie Franken. Einen Moment! Es sind Franken, aber nur unter der Voraussetzung, dass Sie mir beweisen können, dass sich die Gallorömer in merowingischer Zeit nicht auf fränkische Weise kleideten. Ich warte darauf, dass Sie mir diesen Beweis vorlegen. Wie können Sie der Meinung bleiben, dass es eher Franken als Gallorömer waren? Ich meine beweisen zu können, dass sich die Gallorömer auf fränkische Weise kleideten, wenigstens jene, die in Verbindung mit den Machthabern standen. Sie sagen mir: sie sind umgeben von fränkischen Waffen, Lanzen, Franzisken usw. Das ist schön und gut; allerdings, ich sage es noch einmal, nur unter der Bedingung, dass Sie mir beweisen können, dass die Gallorömer in der Merowingerzeit keine solchen Waffen trugen. Können Sie mir das beweisen? Ich glaube nicht. Kann ich das Gegenteil beweisen? Ja. Die Gallorömer waren mit dem gleichen Recht Mitglieder der Armee wie die fränkischen Krieger; sie trugen fränkische Waffen, sie erlangten die gleichen militärischen Würden wie die Franken, wurden Herzöge, Grafen usw. Folglich, wenn Sie ein Skelett finden, umgeben von fränkischen Waffen, können sie nicht folgern, dass damit ein fränkischer Krieger zum Vorschein kam, denn die Gallorömer trugen dieselben Waffen. Ich glaube, in Bezug auf die Archäologie allen Argumenten meiner ehrenwerten Widerredner entgegen getreten zu sein.49

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Diskussionsbeitrag Kurth. In: T AHON (Hrsg.), Compte-rendu (wie Anm. 10) 161–163: „[…] je les prie de remarquer qu’ils abandonnent le terrain de leurs études lorsqu’ils discutent la race et la nationalité des habitants des nécropoles dites franques. Comment pouvez-vous affirmer que ce sont des Francs? Vous pouvez dire, sans doute, que ces morts silencieux, et qui ne se lèveront plus jamais pour nous dire à quelle nationalité ils appartenaient, sont entourés d’un mobilier franc; je le veux bien. Vous pouvez dire qu’ils sont armés à la franque, qu’ils appartiennent à l’époque franque, et même que leur constitution physique présente tous les caractères de la constitution franque; je l’admets encore, non sans quelque réserve quant à ce dernier point. Mais dire que ce sont des Francs, vous ne le pouvez pas. Vous ne le pouvez pas, parce que la question est de celles qui appartiennent au domaine de l’histoire proprement dite, et qu’elle ne peut être résolue que par le témoignage positif des textes et nullement par le langage ambigu et vague de l’archéologie. Les arguments sur lesquels vous vous appuyez, l’histoire est en état de les réfuter. Vous dites: ces guerriers dont nous retrouvons les restes étaient habillés à la franque; donc ce sont des Francs. Un instant. Ce sont des Francs, mais à condition que vous puissiez me prouver que les Gallo-Romains de l’époque mérovingienne ne s’habillaient pas à la franque. J’attends que vous ayez fourni cette preuve.

248 „La question franque“: Archäologie, Toponymie und Geschichtswissenschaft Die Ursache dafür, dass Kurths These von der zeitgenössischen Archäologie nicht angenommen wurde, obwohl es weder während des Kongresses noch in den später publizierten Stellungnahmen gelang, seine Einwände schlüssig zu widerlegen, lässt sich nicht auf einen einzigen Grund reduzieren. Kurth vertrat seine Position auch weiterhin in seinen Schriften.50 Zunächst hat es die apodiktische Form, in der Kurth seine These vortrug, den anwesenden Archäologen sicher nicht leicht gemacht, sich auf seine Argumentation einzulassen. Offenbar pflegte er nicht nur während der Auseinandersetzungen in Charleroi einen äußerst kompromisslosen Diskussionsstil. Sein Schüler Henri Pirenne überlieferte, dass Kurth Widerspruch nur schlecht vertrug. Seine Thesen habe er so ernst genommen und sich so weitgehend mit ihnen identifiziert, dass er jegliche Einwände als Ungerechtigkeit empfand. Nicht zuletzt deshalb sei sein Engagement in der Fédération historique et archéologique de Belgique, die er eigentlich als Forum zur Verbreitung seiner Ansichten gewinnen wollte, von so wenig Erfolg gekrönt gewesen, dass er es schließlich resigniert beendete.51 Schwerwiegender als diese persönlichen Gründe wog jedoch wohl das Infragestellen des wissenschaftlichen Selbstverständnisses der Prähistoriker. Selbst Jules Pilloy, der nicht in Charleroi anwesend war, sondern Van Bastelaer und Bequet umgehend in schriftlicher Form zur Hilfe eilte, emp-

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Comment pouvez-vous soutenir que ces morts sont des Francs plutôt que des Gallo-Romains? Je crois pouvoir prouver, moi, que ces Gallo-Romains s’habillaient à la franque, tout au moins lorsqu’ils étaient en relations avec les détenteurs du pouvoir. Vous me dites: Ils sont entourés d’armes franques, de la lance, de la frankiske, etc. C’est fort bien; à la condition pourtant, encore une fois, que vous puissiez me démontrer que les Gallo-Romains de l’époque mérovingienne ne portaient pas ces armes. Pouvez-vous le prouver? Je ne le crois pas. Puis-je prouver le contraire? Oui. Les Gallo-Romains étaient membres des armées au même titre que les guerriers francs; ils portaient des armes franques, obtenaient les mêmes dignités militaires que les Francs, devenaient ducs, comtes, etc. Donc, quand vous trouvez un squelette entouré d’armes franques, vous ne pouvez en inférer que ce squelette appartient à un guerrier franc, puisque les Gallo-Romains portaient les mêmes armes. Je crois avoir rencontré tous les arguments de vos honorables contradicteurs pour ce qui regard l’archéologie; […]“. G. K URTH , Les nationalités en Touraine au VIe siècle. In: Ders., Etudes franques. Bd. 1 (Brüssel 1919) 243–264 bes. 260 ff. P IRENNE , Kurth (wie Anm. 9) 214.

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fand die Ausführungen Kurths als einen „Guss kalten Wassers, der über den Köpfen der Archäologen ausgegossen“ wurde.52 Wenn man bedenkt, dass Joseph de Baye in seinem einführenden Referat der belgischen Forschung eingangs bescheinigt hatte, sie habe mittlerweile die internationale Führungsrolle bei der archäologischen Erforschung der Völkerwanderungszeit übernommen, so musste diese die Anzweifelung des fränkischen Charakters der frühmittelalterlichen Gräber an einem besonders empfindlichen Punkt berühren. Anders als zu vermuten wäre, spielten die weitreichenden Konsequenzen für das nationale Geschichtsbild, die Kurths These von der unterschiedlichen Abstammung von Flamen und Wallonen unweigerlich nach sich zog, in der Diskussion keine Rolle. Alle Redner behandelten diesen Punkt als eine akademische Frage, ohne in irgendeiner Weise die nicht unbeträchtlichen politischen Konnotationen des Diskussionsgegenstandes ins Feld zu führen. Van Bastelaer erklärte vielmehr ausdrücklich, dass er im Prinzip die linguistischen und ortsnamenkundlichen Argumente von Kurth und Wauters akzeptiere. Widerspruch erregte vielmehr die ebenfalls implizierte Umwertung des kulturellen Verhältnisses von Römern und Barbaren. Trotz seiner Begeisterung für die Franken betrachtete Van Bastelaer die Auseinandersetzungen zwischen Römern und Barbaren als einen „Kampf zwischen der Zivilisation und der Barbarei“, wobei über das Resultat dieses Konflikts kein Zweifel bestehen könne: Ich kann mir nicht erklären, wie man behaupten kann, dass die Belgorömer des Landes ihre so fortschrittliche römische Zivilisation zugunsten der Gewohnheiten der Barbaren vollständig und plötzlich aufgegeben haben sollten […].53

Van Bastelaer scheint die Vorstellung, die Gallorömer hätten ihre hochstehende Kultur aufgegeben und sich gewissermaßen selbst erniedrigt, indem sie eine niedriger stehende Kultur übernahmen, als geradezu widernatürlich empfunden zu haben. Eine Übernahme kultureller Elemente meinte er nur bei den Franken erkennen zu können. Diese hätten sich romanisiert, während die Belgorömer, obgleich besiegt, Belgorömer geblieben seien.54 Als 52

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J. P ILLOY, La question franque au congrès de Charleroy (Belgique). Parallèle des faits historiques et archéologiques se rapportant aux origines de notre histoire. Bull. Arch. Com. Trav. Hist. 1891, 3–31, hier 26. V AN B ASTALAER, Question (wie Anm. 28) 287f: „Je ne m’explique pas comment on peut soutenir que les Belgo-Romains du pays auraient abandonné complètement et subitement leur civilisation romaine, si avancée pour les habitudes barbares des Francs […].“ V AN B ASTALAER, Question (wie Anm. 28) 290.

250 „La question franque“: Archäologie, Toponymie und Geschichtswissenschaft Begründung für diese Ansicht verwies er auf den archäologischen Befund. In „rein fränkischen“ Gräbern kämen durchaus zahlreiche römische Gegenstände vor. Insgesamt habe die Wirkung der römischen Zivilisation die barbarischen Völker besänftigt und geformt. Gäbe es denn trotz der kriegerischen und nomadischen Lebensweise ihrer barbarischen Vorfahren ein weniger abenteuerlustiges, sesshafteres, häuslicheres und bodenständigeres Volk als die Belgier, und besonders die Flamen, die Nachkommen der Franken? Zwar sei es keineswegs so, dass die römische Zivilisation unverändert geblieben sei; aber auch in diesem Fall müsse man konstatieren, was die Philosophie der Geschichte so häufig zeige: „die erobernden Völker verschmelzen in den allermeisten Fällen mit dem eroberten Volk und verändern sich dabei vollständig.“55 Noch weniger behagte den Archäologen, dass mit der These Kurths ein etablierter Konsens der gesamten archäologischen Forschung plötzlich in Frage gestellt wurde. Gegen seine Einwände führte etwa Pilloy an, dass die erreichte Ordnung des Materials auf der „Erfahrung langer Jahre der Grabungstätigkeit, bibliographischen Recherchen sowie Beobachtungen in den Spezialsammlungen und Museen […] beruhe“. Der gravierendste Widerstand der Archäologen gegen die These Kurths rührt jedoch letztlich wohl daher, dass er mit seinen Ausführungen explizit die Möglichkeiten der Archäologie, anhand ihrer Quellen zu tragfähigen ethnischen Interpretationen zu gelangen, in Abrede stellte. Durch diese Ansicht sahen die betroffenen Archäologen den Wert ihrer Arbeit und ihrer Wissenschaft grundsätzlich in Frage gestellt. Gegen diese Bedrohung fühlte sich Van Bastelaer genötigt, die Archäologie in Schutz zu nehmen: „[…] ich verteidige aufs energischste, gemeinsam mit allen Archäologen, unsere archäologischen Entdeckungen, welche Fakten darstellen, die man nicht negieren kann, und die man studieren muss, bevor man sie in Frage stellt.56

Nicht erst im 20. Jahrhundert verknüpften Archäologen die Bedeutung ihres Faches mit der Fähigkeit ethnische Interpretationen vornehmen zu können. Bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts war, unter dem Eindruck der nationalen Geschichtsschreibung, eine entsprechende Denkweise fest etabliert. Mit der Anzweifelung ethnischer Interpretation sah man, wie die Se55

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V AN B ASTALAER, Question (wie Anm. 28) 293 f.: „[…] mais il arriva ici encore ce que la philosophie de l’histoire nous montre si souvent, que les peuples envahisseurs se fondent le plus souvent dans les peuples envahis et se transforment entièrement.“ Diskussionsbeitrag Van Bastelaer. In: T AHON (Hrsg.), Compte-rendu (wie Anm. 10) 135: „[…] je défends vigoureusement, avec tous les archéologues, nos découvertes archéologiques, lesquelles constituent des faits que l’on ne peut nier, et qu’il aurait fallu étudier avant de les contester.“

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quenz Van Bastelaers gegen Ende der Diskussion in Charleroi zu erkennen gibt, den Wert der entsprechenden archäologischen Forschungen insgesamt in Frage gestellt: […] jene unglückselige Idee von der Bestattung der Belgorömer in den fränkischen Gräbern wäre ebenso die Negation der fränkischen Archäologie wie die Negation der Wichtigkeit von Ausgrabungen, der vorgelegten Studien und der Entdeckungen, die in dieser Hinsicht seit zahlreichen Jahren von den Gesellschaften von Namur und Charleroi gemacht wurden.57

b) Numa Denis Fustel de Coulanges und seine Nachfolger Die Äußerungen Godefroid Kurths auf dem Kongress in Charleroi stellten nicht die einzige Gelegenheit im Jahre 1888 dar, bei der die germanische Zugehörigkeit der Reihengräber in Frage gestellt wurde. Im gleichen Jahr erschien der Band über die fränkische Monarchie von Fustel de Coulanges großem Werk Histoire des institutions politiques de l’ancienne France. Obwohl es sich bei der betreffende Passage nur um eine Notiz handelte, wurde diese Äußerung zum Referenzpunkt für spätere Kritiker der Germanenthese. Wie auch Godefroid Kurth führte Fustel de Coulanges aus, in merowingischer Zeit könne keine Rede davon sein, dass das Heer allein aus Angehörigen der „fränkischen Rasse“ bestanden habe. Die „römische Rasse“ sei hier in keiner Weise benachteiligt gewesen. Überhaupt habe die „Rassezugehörigkeit“ beim Militärdienst keine Rolle gespielt.58 Aus dieser Erkenntnis zog Fustel de Coulanges für die Archäologie den gleichen Schluss wie Kurth: Diese Fakten widerlegen die Theorie, die bei der Unterscheidung zwischen dem Grab eines Franken und dem eines Römers vorherrscht. Wenn man eine Waffe findet, so sagt man, es sei das Grab eines Franken. Dies ist ein Fehler. Es gab Römer, die Soldaten waren, die sich im Krieg hervortaten, und die mit ihren Waffen bestattet werden konnten, wie man es auch bei Franken tat. Die Regel, die die Gelehrten aufgestellt haben, um in den Gräbern die Rassen zu unterscheiden, ist äußerst willkürlich.59 57

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Diskussionsbeitrag Van Bastelaer. In: T AHON (Hrsg.), Compte-rendu (wie Anm. 10) 179: […] cette malheurese idée de l’ensevelissement du Belgo-Romain dans les tombes franques serait la négation de l’archéologie franque aussi bien que la négation de l’importance des fouilles, des études et des découvertes faites à cet égard depuis bien des années par les Sociétés de Namur et de Charleroi.“ N. D. F USTEL DE C OULANGES, Histoire des institutions politiques de l’ancienne France. La Monarchie franque (Paris 1888) 296. F USTEL DE C OULANGES, Monarchie (wie Anm. 58) 296 Anm. 5: „Ces faits contredisent la théorie qui règne sur la manière de distinguer le tombeau d’un Franc du tombeau d’un Romain. Quand vous trouvez une arme, dit-on, c’est le tombeau d’un

252 „La question franque“: Archäologie, Toponymie und Geschichtswissenschaft Numa Denis Fustel de Coulanges wurde hier bereits als einer der Protagonisten des „Krieges der Professoren“ während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 erwähnt. Die Ablehnung der germanischen Interpretation der Reihengräber war das Ergebnis seiner grundlegenden Arbeiten zur Herleitung der gesellschaftlichen Institutionen des Merowingerreiches. Fustel de Coulanges wandte sich ebenso gegen die Theorie, die Oberschicht des Merowingerreiches habe allein aus Nachfahren der germanischen Eroberer bestanden, wie gegen die Ansicht, die staatlichen Institutionen und die gesellschaftlichen Einrichtungen seien allein aus germanischer Wurzel entstanden. In aller Klarheit vertrat Fustel de Coulanges zudem die Meinung, die Gründung des Merowingerreichs sei ein politischer Akt gewesen und nicht das Ergebnis einer Verschiebung von Völkermassen: „Es war nicht das fränkische Volk, es war ein fränkischer König, der Gallien eroberte.“60 So deutlich wie kein anderer Historiker vor ihm – und nur wenige seiner Kollegen nach ihm – wandte sich Fustel de Coulanges dagegen, in den Vorgängen während der Völkerwanderungszeit und des frühen Mittelalters vorrangig eine Auseinandersetzung zweier verfeindeter Völker, der Germanen und Römer, sehen zu wollen. Die Vorgänge in Gallien seien viel zu komplex, um sie auf einen einheitlichen Akt der Eroberung reduzieren zu können, bei der sich eine Rasse auf Kosten einer anderen ausgebreitet habe. Fustel de Coulanges lehnte die Überbewertung des germanischen Elements in der frühmittelalterlichen Gesellschaft ab, ohne im Mindesten seine Existenz leugnen zu wollen. In der Einleitung seines Werks zur Völkerwanderungszeit wandte er sich nachdrücklich gegen die herrschenden Doktrinen zur germanischen Völkerwanderung. In einer Textpassage, auf die Carlrichard Brühl vor wenigen Jahren hinwies, benannte er prägnant eine Reihe axiomatischer Geschichtsbilder, denen die historische Frühmittelalterforschung bis dahin gefolgt war und die auch die zeitgenössische Archäologie als Grundlage zur Interpretation ihrer Funde heranzog: Es gibt Behauptungen, die als Hypothesen begannen und die dadurch, dass sie immer wieder wiederholt werden, zu Axiomen wurden. Ich habe deshalb weder die Freiheitsliebe fränkischer Krieger erwähnt, noch das Wahlkönigtum, noch Volksversammlungen, Volksgerichte, die Enteignung des Landes der Besiegten oder die Verteilung der Güter an die Sieger. Ich habe all dies in den Quellen gesucht, aber in

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Franc. C’est une erreur. Il y avait des Romains qui étaient soldats, qui se distinguaient à la guerre, et on pouvait enterrer leurs armes avec eux, comme on faisait aux Francs. La règle que les érudits ont établie pour distinguer les races dans le tombeau est fort arbitraire.“ N. D. F USTEL DE C OULANGES, Histoire des institutions politiques de l’ancienne France. L’invasion germanique et la fin de l’empire (6Paris 1930) 499: „Ce n’est pas le peuple franc, c’est un roi franc qui a conquis la Gaule.“

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keinem Fall gefunden. Im Gegenzug stellt man jedoch einige sichere Fakten fest: zum Beispiel das Fortbestehen des Rechts des Grundbesitzes ohne irgendeine Änderung, die Kontinuität des Verwaltungssystems zumindest der Form nach, vor allem das Fortbestehen der sozialen Unterschiede sowie die Existenz einer Aristokratie, in die zweifellos zahlreiche Germanen aufgenommen wurden, die aber keineswegs ausschließlich germanisch war.

Schließlich zeigte Fustel de Coulanges auf, wo der Ursprung für die axiomatische Fixierung der Wissenschaft auf den germanisch-romanischen Dualismus zu suchen ist: Das moderne Denken ist zu sehr auf ethnographische Theorien fixiert und überträgt dieses Vorurteil in die Beschäftigung mit der Geschichte.61

Fustel de Coulanges’ Arbeiten zur Völkerwanderungszeit gehören, wie Carlrichard Brühl vor wenigen Jahren noch einmal hervorhob, bis heute zu den Grundlagenwerken über diese Epoche. Ihre Rezeption in Deutschland wurde dadurch erschwert, dass ihr Autor vielfach als antideutsch eingestellt galt. Angesichts der lange Zeit ungebrochenen Konjunktur der ausschließlich germanischen Herleitung der frühmittelalterlichen Gesellschaftsordnung galten seine Werke als einseitig „romanistisch“.62 In Frankreich fanden die Zweifel an der germanischen Interpretation der Reihengräberfelder bei Historikern Zustimmung, allerdings nur bei wenigen Archäologen. So lehnte auch Maurice Prou, Spezialist für frühmittelalterliche Geschichte und Numismatik, die Unterteilungen der Reihengräber in germanische und romanische ab. In seinem 1897 erschienenen umfassenden Handbuch zum merowingischen Gallien führte er aus, dass im 6. Jahrhundert alle Gallorömer, abgesehen von Klerikern und Mönchen, die barbarische Kleidungsweise übernommen hätten. Schmuck und Waffen seien für alle die gleichen gewesen. Aus diesem Grund sei es nicht möglich, in den Gräbern der merowingischen Epoche zwei verschiedene Typen zu

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Invasion (wie Anm. 60) XIf: „Il y a des assertions qui ont commencé par être des hypothèses et qui, à force d’être redites, sont devenues des axiomes. Je n’ai parlé ni de l’esprit de liberté des guerriers francs, ni de la royauté élective, ni des assemblées nationales, ni des jurys populaires, ni de la confiscation des terres des vaincus, ni d’alleux distribués aux vainqueurs. J’ai cherché tout cela dans les documents, et ne l’ai point trouvé. On y aperçoit, en compensation, quelques faits certains: par exemple, le maintien du droit de propriété foncière sans nulle altération, la continuité du régime administratif, au moins dans ses formes, surtout la permanence des mêmes distinctions sociales et l’existence d’une aristocratie où entrèrent sans nul doute beaucoup de Germains, mais qui ne fut pas exclusivement germaine. L’esprit moderne est tout préoccupé de théories ethnographiques, et il porte cette prévention dans l’étude de l’histoire.“ B RÜHL , Geburt, 16.

254 „La question franque“: Archäologie, Toponymie und Geschichtswissenschaft unterscheiden, von denen der eine allein barbarische Gegenstände enthalte, während im anderen nur Gegenstände vorkämen, die an die früheren, rein gallorömischen erinnerten.63 Auf Kurth, Fustel de Coulanges und Prou stützte sich schließlich auch Ferdinand Lot, als er in den 1930er Jahren erneut der germanischen Interpretation der Reihengräber widersprach. Auch Lot betonte, dass die Gallorömer in der Merowingerzeit die fränkische Bewaffnung, Kampfesweise und Kleidung übernommen hätten und auf diese Weise nicht von den Franken zu unterscheiden gewesen seien. Daher schloss er sich der These an, die Mehrzahl der so genannten fränkischen Gräberfelder in Gallien seien in Wirklichkeit gallorömische.64

63 64

M. P ROU , La Gaule mérovingienne (Paris 1897) 275. F. L OT , Les invasions germaniques. La pénétration mutuelle du monde barbare et du monde romain (Paris 1935) 210.

Numa Denis Fustel de Coulanges und seine Nachfolger

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10. Frühmittelalterarchäologie und Propaganda: Der Erste Weltkrieg In der Geschichte des Germanen-Romanen-Diskurses bildet der Erste Weltkrieg einen kaum zu überschätzenden Einschnitt. Anders als gelegentlich angenommen wird, übten frühere politische Umwälzungen, wie der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71,1 im Vergleich dazu nur einen begrenzten und mittelbaren Einfluss auf die Entwicklung der Frühmittelalterarchäologie aus. Durch den Ersten Weltkrieg und seine Folgen gewann die archäologische Diskussion um den ethnischen Charakter der frühmittelalterlichen Grabfunde dagegen eine völlig neue Qualität. Die meisten dieser Umwälzungen vollzogen sich erst nach dem Ende des Krieges.2 Allerdings fallen einige bedeutsame Entwicklungen bereits in die Kriegszeit, die den Gegenstand dieses Kapitels bilden. Die Tätigkeit des deutschen „Kunstschutzes“ ist in diesem Zusammenhang von Interesse, weil er das Vorbild für eine gleichartige Institution während des Zweiten Weltkriegs bilden sollte,3 die für die hier behandelte Fragestellung von einiger Bedeutung sein wird.4 Auf französischer Seite prägten vor allem zwei Punkte die weitere Entwicklung der Frühmittelalterarchäologie: Einerseits die Instrumentalisierung des Barbarenbegriffs durch die alliierte Kriegspropaganda sowie andererseits die Rolle, welche die Archäologie bei der Legitimierung von Ansprüchen spielte, die auf die Rheingrenze erhoben wurden. Die Wurzeln für die tiefgreifende Ideologisierung, die die Archäologie des frühen Mittelalters nach 1918 durchlaufen sollte, reichen jedoch in die Vorkriegszeit zurück. Sie sollen zunächst skizziert werden, bevor ich mich den Ereignissen während des Krieges zuwende.

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T HEUWS /A LKEMADE , Sword depositions, 405 Anm. 10. Kap. 11. Vgl. dazu jetzt auch: C HR . K OTT , Der deutsche „Kunstschutz“ im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Ein Vergleich. In: U. Pfeil (Hrsg.), Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert. Pariser Hist. Stud., Bd. 81 (München 2007) 137–153. Kap. 13c.

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Frühmittelalterarchäologie und Propaganda: Der Erste Weltkrieg

a) Die Archäologie des frühen Mittelalters am Vorabend des Krieges Politische Bezüge finden sich in den Arbeiten zur Gräberarchäologie des frühen Mittelalters seit ihren Anfängen. Bereits Chiflets Publikation zum Childerichgrab5 stand im Spannungsfeld der großen Politik zwischen Habsburg und den Bourbonen.6 Die Entstehung der wissenschaftlichen Ur- und Frühgeschichtsforschung im 19. Jahrhundert wurde, wie bereits gezeigt, durch den Siegeszug nationalen Gedankenguts mit all seinen politischen Implikationen nachhaltig geprägt.7 Allen politischen Hoffnungen zum Trotz, welche die Zeitgenossen in die Altertumskunde setzten, ist jedoch nicht zu übersehen, dass die politische Wirkung der archäologischen Forschung vor dem Ersten Weltkrieg – im Gegensatz etwa zur Geschichtswissenschaft – summa summarum marginal war. Dies galt insbesondere für die frühmittelalterliche Archäologie. Die vaterländische Altertumskunde der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Stile Wilhelmis oder der Brüder Lindenschmit erreichte in Deutschland nur ein schmales Segment der bürgerlichen Eliten.8 Eine gewisse politische Relevanz erlangte zunächst allenfalls die Klassische, später eher die Vorderasiatische Archäologie, da der Besitz bedeutender Antikensammlungen oder der Erwerb lukrativer Grabungskonzessionen mitunter zu einer Frage nationalen Prestiges werden konnte.9 Während im „Krieg der Professoren“ von 1870/71 zwar reichlich auf historische, nicht aber auf ur- und frühgeschichtliche Argumente zurückgegriffen wurde, änderte sich dies im Ersten Weltkrieg. 5

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J.-J. C HIFLET , Anastasis Childerici I. Francorum regis, sive thesaurus sepulchralis Tornaci Nerviorum effossus et commentario illustratus (Antwerpen 1655). F. W AGNER, Die politische Bedeutung des Childerich-Grabfundes von 1653. Sitzungsber. Bayer. Akad. Wiss., phil. hist. Kl. 1973, H. 2 (München 1973). – N EUMAYER, Frankreich, 25 f. Kap. 8. D. H AKELBERG , Nationalismus einer Elite. „Heidnisches Teutschland“ und „vaterländische Altertumskunde“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: E. Vogel/ A. Napp/W. Lutterer (Hrsg.), Zwischen Ausgrenzung und Hybridisierung. Zur Konstruktion von Identitäten aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. Identitäten und Alteritäten, Bd. 14 (Würzburg 2003) 15–35. Vgl. z. B. S. M ARCHAND , Orientalism as Kulturpolitik. German archaeology and cultural imperialism in Asia Minor. In: G. W. Stocking (Hrsg.), Volksgeist as method and ethic. Essays on Boasian ethnography and the German anthropological tradition. History of anthropology 8 (Madison 1996) 298–336. – Eine Vielzahl an Beispielen bietet jetzt C H . T RÜMPLER (Hrsg.), Das große Spiel. Archäologie und Politik zur Zeit des Kolonialismus (1860–1940) (Köln 2008).

Die Archäologie des frühen Mittelalters am Vorabend des Krieges

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Vor dem Hintergrund der allgemeinen Akzeptanz der Identifizierung von Reihengräbern mit „Germanen“ bzw. „Barbaren“ einerseits sowie der noch tiefer verwurzelten Gleichsetzung von „Germanen“ und „Deutschen“ bzw. „Gallorömern“ und „Franzosen“ andererseits, bedarf es im Grunde keiner weiteren Erläuterung, weshalb die Entwicklung des deutschfranzösischen Verhältnisses in ganz besonderem Maße auf die Interpretation der frühmittelalterlichen Funde einwirkte. Anspielungen auf die internationale Tagespolitik finden sich in Werken zur frühmittelalterlichen Archäologie auch in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg immer wieder. Diese besitzen jedoch meist nur anekdotischen Charakter und stehen als gelegentliche individuelle Meinungsäußerungen in keinem übergeordneten politischen Kontext. In der Mitte des 19. Jahrhunderts sind solche Äußerungen zudem deutlich häufiger als in den folgenden Jahrzehnten. Auf die antifranzösischen Bemerkungen Wilhelm Lindenschmits wurde bereits hingewiesen. Ein etwas späteres Beispiel sind die Ausführungen von Konrad Dietrich Haßler in seiner Publikation zum „alemannischen Todtenfeld bei Ulm“.10 Haßler, der erste staatlich bestellte Denkmalpfleger in Württemberg,11 nahm den Umstand, dass das Grabungsareal einst Schauplatz einer Kapitulation deutscher Truppen in den napoleonischen Kriegen gewesen war, zum Anlass für einen Seitenhieb auf Napoleon, „des schlauen Neffen gewaltigen Onkel“. Dieser habe wohl kaum geahnt, dass unter ihm ganze Geschlechter „deutscher Krieger in voller Waffenrüstung“ geruht hätten. Unter deren „wildem Anprall“ hätten die Römer einst Süddeutschland räumen müssen, das ein „mit Recht beanspruchtes Erbgut“ der Alemannen bzw. ihrer suebischen Vorfahren gewesen sei. Dieses weltgeschichtliche Ereignis habe bewirkt, dass Süddeutschland „nicht romanisch wurde, vielmehr deutsche Sprache und deutsche Sitte sich hier unvermischt erhielten und, so Gott will, sich gegen jeden neuen Versuch der Romanen auch fernerhin erhalten werden“.12 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts finden sich entsprechende Äußerungen in wissenschaftlichen Publikationen zu frühmittelalterlichen Gräberfeldern kaum mehr. Der internationale Schwerpunkt der frühmittelalterlichen Gräberarchäologie lag seit den 1880er Jahren vor allem in Frankreich. Hier entstanden die zum Teil sehr aufwändig gestalteten Sammelwerke von

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K. D. H ASSLER, Das alemannische Todtenfeld bei Ulm (Ulm 1860). Zu Haßler vgl. H. K RINS, Die Gründung der staatlichen Denkmalpflege in Baden und Württemberg. Denkmalpfl. Baden-Württemberg 12, 1983, 34–42, bes. 40 f. H ASSLER, Ulm (wie Anm. 10) 1.

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Frühmittelalterarchäologie und Propaganda: Der Erste Weltkrieg

Jules Pilloy,13 Joseph de Baye,14 Casimir Barrière-Flavy15 oder Clodomir Boulanger.16 Die Arbeiten der Vorkriegszeit waren insgesamt ausgesprochen antiquarisch ausgerichtet. Sie zielten ebenso auf die chronologische und typologische Ordnung des Materials wie etwa Eduard Brenners großer Überblick über die bis dahin bekannt gewordenen Funde.17 Selbst nationalpolitisch motivierte Spitzen in den Texten prägte diese antiquarische Betrachtungsweise, etwa wenn Casimir Barrière-Flavy Ludwig Lindenschmits Handbuch recht harsch kritisierte und ihm vorwarf, unzweifelhaft gallorömische mit merowingischen und karolingischen Objekten vermengt zu haben.18 Größere Arbeiten zu frühmittelalterlichen Gräberfeldern erschienen in Deutschland in der Zeit nach der Publikation von Lindenschmits Handbuch und vor dem Ausbruch des Krieges nur wenige;19 zu nennen wären neben dem genannten Aufsatz Brenners etwa die Arbeiten zu den Gräberfeldern von Reichenhall,20 Gammertingen21 oder Weimar22. Vom allmählichen Aufschwung der archäologischen Forschung in Deutschland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts blieb die Frühmittelalterforschung zunächst weitgehend unberührt. Die Aufmerksamkeit der verschiedenen Schulen, die sich in diesem Zeitraum herausbildeten, sollte erst zu einem späteren Zeitpunkt auch auf die Frühmittelalterarchäologie einwirken. Die völkische Richtung der Urgeschichte in der Tradition Gustaf Kossinnas widmete sich vorwiegend der heidnischen Frühzeit der 13

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J. P ILLOY, Études sur d’anciens lieux de sépulture dans l’Aisne. 3 Bde. (St. Quentin 1880–1899). J. DE B AYE , Études archéologiques. Époque des invasions barbares. Industrie longobarde (Paris 1888). – D ERS., Études archéologiques. Époque des invasions barbares. Industrie anglo-saxonne (Paris 1889). C. B ARRIÈRE -F LAVY, Étude sur les sépultures barbares du midi et de l’ouest de la France. Industrie wisigothique (Toulouse, Paris 1892). – D ERS., Les arts industriels des peuples barbares de la Gaule du Vème au VIIIème siècle. 3 Bde. (Toulouse, Paris 1901). C. B OULANGER, Le mobilier funéraire gallo-romain et franc en Picardie et en Artois (Paris 1902–1905). – D ERS., Le cimetière franco-mérovingien et carolingien de Marchélepot (Somme). Étude sur l’origine de l’art barbare (Paris 1909). E. B RENNER, Der Stand der Forschung über die Kultur der Merowingerzeit. Ber. RGK 7, 1912, 253–351. B ARRIÈRE -F LAVY, Arts industriels (wie Anm. 15) XVI. G. F INGERLIN , Vom Schatzgräber zum Archäologen. Die Geburt einer Wissenschaft. In: Die Alamannen (Stuttgart 1997) 45–51, hier 48. M. V. C HLINGENSPERG -B ERG , Das Gräberfeld von Reichenhall in Oberbayern (Reichenhall 1890). J. W. G RÖBBELS, Der Reihengräberfund von Gammertingen (München 1905). A. G ÖTZE , Die altthüringischen Funde von Weimar (5.–7. Jahrhundert nach Chr.) (Berlin 1912).

Die Archäologie des frühen Mittelalters am Vorabend des Krieges

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Germanen. Die christlichen „Germanenstaaten“ des frühen Mittelalters wurden dagegen nicht zum Gegenstand des Forschungsinteresses. Kossinnas völkische Schule war geographisch vor allem im Norden und Osten Deutschlands beheimatet und tätig, so dass eine Beschäftigung mit den Reihengräberfunden von daher nicht nahe lag. Charakteristisch für die Fraktion um die Deutsche Gesellschaft für Vorgeschichte waren die frühen Kontakte zwischen der akademischen Vorgeschichtsforschung und den Protagonisten eines neuen völkisch-rassistischen Germanenwahns. Innerhalb der „Völkischen Bewegung“, die ab 1890 entstand, bildete eine rassisch fundierte Germanenideologie einen integralen Bestandteil der Weltanschauung.23 Ein für die hier behandelte Fragestellung relevantes Elaborat der völkischen Germanenverehrung ist etwa Ludwig Woltmanns 1907 erschienenes Werk über die „Germanen in Frankreich“.24 Wie auch in seiner Arbeit über die Renaissance in Italien wandte sich Woltmann darin gegen die Auffassung, die Romanitas sei aus einer „Verschmelzung von römischem und germanischem Volkstum“ hervorgegangen. Ausgehend von Rasseanalysen, die er anhand von zeitgenössischen Portraitbildern durchführte, meinte Woltmann belegen zu können, dass nahezu alle Geistesgrößen der romanischsprachigen Länder der Neuzeit Nachfahren der „rassisch hochwertigen“ nordischen Germanen seien, die sich während der Völkerwanderung im Süden niedergelassen hatten. Als Ergebnis hielt er fest, dass „d i e g e s a m t e f r a n z ö s i s c h e K u l t u r d e s M i t telalters von der germanischen Her renschicht des Landes hervor geb r a c h t w o r d e n i s t .“25 Solches Gedankengut, das zunächst in allerlei sektiererischen Grüppchen und Zirkeln gepflegt worden war, übte auf die völkische Vorgeschichtsforschung um Kossinna bereits vor dem Ersten Weltkrieg bedeutenden Einfluss aus. Theobald Bieder, ein Hauptvertreter der völkisch bewegten Germanenpublizistik, empfahl etwa den Lesern des Mannus Woltmanns Rassentheorien als vorbildlich.26 Im Verbreitungsgebiet der Reihengräberfelder in Süd- und Westdeutschland florierte dagegen die institutionell gut etablierte provinzialrö23

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P USCHNER, Bewegung, bes. 92 ff. – D ERS., Die Germanenideologie im Kontext der völkischen Weltanschauung. Göttinger Forum f. Altertumswiss. 4, 2001, 85–97. – Vgl. jetzt auch I. W IWJORRA , Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts (Darmstadt 2006). L. W OLTMANN , Die Germanen in Frankreich. Eine Untersuchung über den Einfluss der germanischen Rasse auf die Geschichte und Kultur Frankreichs (Jena 1907). L. W OLTMANN , Germanische Rasse und romanische Kultur. Politisch-anthropologische Revue 5, 1906/07, 545–552, hier 547. T H . B IEDER, Die deutsche Rassenforschung und ihre Ausprägung in Dr. Ludwig Woltmann. Mannus 2, 1910, 162–168.

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Frühmittelalterarchäologie und Propaganda: Der Erste Weltkrieg

mische Archäologie. Ausgehend von der humanistischen Bildungstradition herrschte hier zwar eine ausgesprochen konservativ-nationale Grundhaltung vor; von der völkischen Germanenbegeisterung blieb sie vor dem Ersten Weltkrieg aber weitgehend unberührt.27 Die zunehmenden politischen Spannungen zwischen Deutschland und seinen westlichen Nachbarstaaten vor dem Ersten Weltkrieg fanden hingegen in den populäreren Arbeiten der provinzialrömischen Archäologen einen deutlichen Niederschlag. Der spätere Direktor der Römisch-Germanischen Kommission, Friedrich Koepp, leitete beispielsweise sein 1905 erschienenes Werk über die Römer in Deutschland mit der bekannten Sentenz ein: „‚Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze‘ war schon zur Römerzeit der Rhein.“ Er behauptete eine Abstammung der linksrheinischen germanischen Bevölkerung von den caesarischen Germani cisrhenani, wobei die verbliebenen Kelten bereits in römischer Zeit endgültig aus dem Rheinland verdrängt worden seien: „[…] das Gebiet der beiden römischen Germanien wurde im Laufe der Jahrhunderte zum weitaus größten Teil germanisches Land – germanisches und auch deutsches“.28 Franz Cramer29 erinnerte im ersten Satz seines Überblicks über die römische Archäologie in Deutschland aus dem Jahre 1912 an den „nationalen Zusammenschluss der Deutschen, die endlich im Kampf um den Rheinstrom ihre Einheit fanden“ und spannte mit seinen Schlussworten einen Bogen von den germanischen Erfolgen in der Vergangenheit zu den Grundlagen der deutschen Kultur der Gegenwart: Germanentum und Christentum im Bunde siegten über heidnische Weltanschauung und den römischen Weltstaat. Und auf diesem Grunde ruhen wir, ruht unser Staat, unsere Bildung.30

An das Ende eines Vortrags über die römisch-fränkischen Kulturzusammenhänge am Rhein, den Cramer im Jahre 1911 vor den versammelten Mitgliedern des Historischen Vereins für den Niederrhein hielt, stellte er einen Appell an „deutsches Volkstum“, an „deutsche Kraft und Treue“, an den „Boden, den die Recken der germanischen Heldenzeit in jahrhundertelangem Ringen den einst mächtig herrschenden Völkern, Kelten und Römern, abgewonnen“. Mit seinen Schlussworten schärfte er seinen Zuhörern auch für die Zukunft Wachsamkeit ein: 27

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I. W IWJORRA , Die deutsche Vorgeschichtsforschung und ihr Verhältnis zu Nationalismus und Rassismus. In: U. Puschner (Hrsg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918 (2München 1999) 186–207, hier 191. F. K OEPP, Die Römer in Deutschland (Bielefeld, Leipzig 1905) 1. Zu Cramer vgl. S. W IDMANN , Franz Cramer (1860–1923). Biographisches Jahrb. Altertumskde. 44, 1924, 193–205. F. C RAMER, Deutschland in römischer Zeit (Berlin, Leipzig 1912) 5 und 165.

Die Archäologie des frühen Mittelalters am Vorabend des Krieges

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Auch den Germanen, den Franken hat das Schicksal keinen Schenkungsbrief auf ewige Zeiten geschrieben. Vertiefen wir daher die eigene Kraft – verstärken wir, jeder an seinem Teil und auf seinem Arbeitsgebiete, wo immer es liegen mag, die hohe Warte, von der aus auch dieser Verein dem deutschen Gedanken dient: Die Wacht am Rhein.31

Wie an diesen Beispielen deutlich wird, bedeutete eine Beschäftigung mit den römischen Altertümern keineswegs gleichzeitig eine Parteinahme für die römische Kultur; im Gegenteil, provinzialrömische Forschung schloss eine betont germanisch-nationale Gesinnung keineswegs aus. Das Dilemma zwischen der positiven Bewertung des römischen Deutschlands einerseits und dem Kult des Arminius32 andererseits, dessen Sieg dem deutschen Geschichtsmythos als Akt nationaler Befreiung und Selbstbehauptung galt, reicht vielmehr bis in die Anfänge der archäologischen Forschung zurück.33 Letztlich prägte dieser Zwiespalt zwischen humanistischer Antikenbegeisterung und nationalem Germanenkult nicht allein die provinzialrömische Archäologie, sondern die gesamte deutsche Altertumswissenschaft. Dem charakteristischen Philhellenismus deutscher Intellektueller wohnte stets, mehr oder minder latent, ein gewisser Antiromanismus inne, der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt auch unter Altertumswissenschaftlern zu beobachten war.34 Im Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende erlebte die populäre Germanenschwärmerei einen ersten Höhepunkt. Zwar gehörten Fachvertreter wie Koepp und Cramer insgesamt zu den besonneneren Gemütern, die einem allzu ausgeprägten Teutonismus nur wenig Sympathie entgegen brachten,35 die nationale Geschichtsbetrachtung herrschte jedoch auch unter ihnen vor. Eine einseitig romfreundliche und antigermanische Parteinahme, wie sie die völkische Vorgeschichtsforschung wenig später in einer absurden Polemik mit dem Schlagwort „Römlinge“ der römisch-germanischen Forschung vorwarf, traf auch in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in keiner Weise zu. Selbst Georg Wolff, der erste ausgesprochene Vertreter 31

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F. C RAMER, Römisch-fränkische Kulturzusammenhänge am Rhein. Ann. Hist. Ver. Niederrhein 91, 1911, 1–14, hier 13 f. M. F ANSA (Hrsg.), Varusschlacht und Germanenmythos. Arch. Mitt. Nordwestdeutschland, Beih. 9 (Oldenburg 1993). V. L OSEMANN , Arminius und Augustus. Die Römisch-Germanische Auseinandersetzung im Deutschen Geschichtsbild. In: K. Christ/E. Gabba (Hrsg.), Caesar und Augustus. Römische Geschichte und Zeitgeschichte in der deutschen und italienischen Altertumswissenschaft während des 19. und 20. Jahrhunderts. Bibliotheca di Athenaeum 12 (Como 1989) 129–163, hier 138 f. M ARCHAND , Olympus, bes. 156–162. V. L OSEMANN , Nationalistische Interpretationen der römisch-germanischen Auseinandersetzung. In: R. Wiegels/W. Woesler (Hrsg.), Arminius und die Varusschlacht. Geschichte – Mythos – Literatur (Paderborn u. a. 1995) 419–432, hier 421 f.

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Frühmittelalterarchäologie und Propaganda: Der Erste Weltkrieg

einer Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter unter den heimischen Archäologen, bezeichnete die römische Epoche in Süddeutschland am Vorabend des Krieges als „Fremdherrschaft “.36 Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass es auch humanistisch gebildeten Althistorikern und Archäologen keinerlei Schwierigkeiten bereitete, in die auf beiden Seiten weit verbreitete Parallelisierung des Ersten Weltkrieges mit den Auseinandersetzungen von Römern und Germanen mit einzustimmen. Während die alliierte Seite bevorzugt die Gefahr der alles zerstörenden barbarischen Invasionen während der Völkerwanderungszeit bemühte, beschworen die deutschen Gelehrten – da der Krieg entgegen den Tatsachen offiziell als Verteidigungskrieg galt37 – häufig die heldenhafte Rettungstat des Arminius, der die deutsche Nation in tiefster Not vor der Vernichtung durch die Römer bewahrt habe. So trug etwa Emil Sadée in seiner Ansprache anlässlich des Winckelmanntags 1916 seinem Publikum vor, dass durch das Scheitern der Eroberungspolitik des Augustus und Tiberius „die Zukunft unserer Nation“ gerettet worden sei. Hätte Rom gesiegt, so wäre das Germanentum hoffnungslos zertreten worden, wie vorher das Keltenvolk, ohne die Möglichkeit, seine nationale Eigenart von innen heraus selbstständig zu entwickeln. Noch begann ein germanisches Gemeingefühl erst in den Herzen weniger, vor allem wohl des Arminius, zu keimen, noch auf Jahrhunderte hinaus gab es nur Einzelstämme, kein deutsches Volk, und doch hing die Zukunft alles dessen, was wir Deutsche und was die Welt als eigentümlich germanische Kulturerrungenschaft empfindet, an der Erhaltung der Freiheit jener armen nordischen Barbaren. […] Mit diesem Gefühle begehen wir heute, wo noch in unseren Ohren das Feiergeläute der Einnahme von Bukarest klingt, den Winckelmanntag […].“38

b) Der deutsche Kunstschutz im Westen Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs überrollte eine Welle nationaler Begeisterung die beteiligten Nationen, die die Gelehrten ebenso erfasste wie die übrige Bevölkerung.39 Beseelt von den „Ideen von 1914“ war ein Großteil der deutschen Intellektuellen und Wissenschaftler bereit, durch eine Aktion wie dem Aufruf „An die Kulturwelt“ – unter den 93 Unterzeichnern

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G. W OLFF , Frankfurt am Main und seine Umgebung in vor- und frühgeschichtlicher Zeit (Frankfurt 1913) 54. H. A. W INKLER, Der lange Weg nach Westen. Bd. 1 (München 2000) 340. E. S ADÉE , Rom und Deutschland vor 1900 Jahren. Weshalb hat das römische Reich auf die Eroberung Germaniens verzichtet? Bonner Jahrb. 124, 1917, 1–16, hier 16. K. S CHWABE , Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkriegs (Göttingen 1969) 9 ff.

Der deutsche Kunstschutz im Westen

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befanden sich immerhin vier Archäologen (Wilhelm Dörpfeld, Friedrich von Duhn, Theodor Wiegand, Karl Robert)40 – ihren Beitrag zur geistigen Mobilmachung sowie zur propagandistischen Verteidigung des Vaterlandes zu leisten.41 Vor allem im Rahmen der deutschen Kulturpropaganda sowie des militärischen Kunstschutzes erlangte die Archäologie sogar eine gewisse Bedeutung. Die Zerstörung der Bibliothek von Löwen und die Beschießung der Kathedrale von Reims bedeuteten für die deutsche Heeresleitung eine propagandistische Katastrophe. Sie musste besonders schmerzen, da – wie das Beispiel Thomas Mann zeigt42 – der Krieg von deutscher Seite zur Auseinandersetzung zwischen der westlichen „Zivilisation“ und der überlegenen deutschen „Kultur“ stilisiert wurde. Um der alliierten Kriegspropaganda zu begegnen, die das deutsche Militär wahlweise zu blindwütigen „Barbaren“, „Hunnen“ oder „Vandalen“ erklärte, engagierten sich zahlreiche deutsche Altertumswissenschaftler innerhalb der deutschen Kulturpropaganda. Die vielfältigen diesbezüglichen Aktivitäten hat Suzanne Marchand bereits ausführlich diskutiert,43 weshalb ich mich im Folgenden auf die Aktivitäten des deutschen Kunstschutzes im Westen beschränken werde, der von der deutschen Militärverwaltung eingerichtet wurde. Unter der Leitung des Bonner Kunsthistorikers Paul Clemen hatte diese Dienststelle den Schutz von Kunst- und Kulturdenkmälern zur Aufgabe. Während die Erfolge beim Schutz der Denkmäler im Kampfgebiet insgesamt bescheiden blieben, widmeten sich die Mitarbeiter des Kunstschutzes in größerem Maßstab der Propagandaarbeit. Diese hatte zum Ziel, den Vorwurf der mutwilligen Zerstörung von Kulturdenkmälern durch die deutschen Truppen zu widerlegen. Im Gegenteil sollte durch den Kunstschutz demonstriert werden, dass deutsche Truppen besondere Sorgfalt für den Schutz der Kulturgüter trugen. Nicht wenig Energie verwendete man deshalb darauf, den Alliierten ihrerseits die Zerstörung und Plünderung von Kulturgütern nachzuweisen, sowohl im aktuellen wie auch in früheren Kriegen.44 40

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J. V. U NGERN -S TERNBERG , Der Aufruf „An die Kulturwelt!“. Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg. Hist. Mitteil., Beih. 18 (Stuttgart 1996) 145 ff. – Vgl. dazu auch M ARCHAND , Olympus, 236 f. J. V. U NGERN -S TERNBERG , Deutsche Altertumswissenschaftler im Ersten Weltkrieg. In: T. Maurer (Hrsg.), Kollegen – Kommilitonen – Kämpfer. Europäische Universitäten im Ersten Weltkrieg. Pallas Athene, Bd. 18 (Stuttgart 2006) 239–254. Kap. 6a. M ARCHAND , Olympus, 228–262. T H . G OEGE , Kunstschutz und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Paul Clemen als Kunstschutzbeauftragter an der Westfront. Jahrb. Rhein. Denkmalpfl. 35, 1991, 149–168. – C HR . K OTT , Die deutsche Kunst- und Museumspolitik im besetzten

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Frühmittelalterarchäologie und Propaganda: Der Erste Weltkrieg

Bald nach Kriegsende wurde eine aufwändig gestaltete zweibändige Dokumentation zum Kunstschutz veröffentlicht. Bei diesen Bänden handelte es sich, den treffenden Aussagen eines kritisch eingestellten Kunstschutzoffiziers zufolge, um „ein Propagandawerk, dessen Ausstattung und Umfang in sonderbarem Missverhältnis zu dem geleisteten stehe“;45 eine Einschätzung, der sich mit einigen Jahren Abstand sogar der Herausgeber Paul Clemen selbst anschloss.46 Dieser Dokumentation zufolge waren vor allem Klassische Archäologen auf dem Balkan, in Kleinasien und dem Vorderen Orient für den Kunstschutz im Einsatz.47 Der Bericht über den Kunstschutz in Belgien48 enthält dagegen leider keine näheren Angaben über die dort unternommenen archäologischen Arbeiten. Tätig war hier zunächst Gerhard Bersu, der ab 1917 von Wilhelm Unverzagt unterstützt wurde. Gemeinsam unternahmen sie eine Grabung im spätantiken Kastell von Famars.49 Ferner wurde Bersu 1916 vom deutschen Generalgouverneur in Belgien, Moritz von Bissing, damit beauftragt, eine „Museograpie der vorgeschichtlichen Funde in Belgien“50 bzw. eine „Denkschrift über die vorgeschichtlichen Denkmäler des Generalgouvernements von Belgien“ zu erstellen. Unverzagt hatte dagegen zur Aufgabe eine entsprechende Darstellung der römischen und frühmittelalterlichen Denkmäler anzufertigen.51

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Nordfrankreich im Ersten Weltkrieg – zwischen Kunstraub, Kunstschutz, Propaganda und Wissenschaft. Kritische Berichte 1997, H. 2, 5–24. H. B URG , Kunstschutz an der Westfront. Kritische Betrachtungen und Erinnerungen (Charlottenburg 1920) 6. P. C LEMEN , Aufgaben und Arbeiten des Kunstschutzes im Weltkriege. In: M. Schwarte (Hrsg.), Der große Krieg, 1914–1918. Bd. 10, Teil 3: Die Organisationen der Kriegsführung (Leipzig 1923) 389–421, hier 390. H. D RAGENDORFF , Archäologische und kunstwissenschaftliche Arbeit während des Weltkrieges in Mazedonien. In: P. Clemen (Hrsg.), Kunstschutz im Kriege, Bd. 2 (Leipzig 1919) 155–166. – G. K ARO, Deutsche Denkmalpflege im westlichen Kleinasien, 1917/18. Ebd., 167–173. – T H . W IEGAND , Denkmalschutz und kunstwissenschaftliche Arbeit während des Weltkrieges in Syrien, Palästina und Westarabien. Ebd., 174–190. – F. S ARRE , Kunstwissenschaftliche Arbeit während des Weltkrieges in Mesopotamien, Ost-Anatolien, Persien und Afghanistan. Ebd., 191–202. P. C LEMEN /G. B ERSU , Kunstdenkmäler und Kunstpflege in Belgien. In: P. Clemen (Hrsg.), Kunstschutz im Kriege, Bd. 1 (Leipzig 1919) 16–35. G. B ERSU /W. U NVERZAGT , Le castellum de Fanum Martis (Famars, Nord). Gallia 19, 1961, 159–190. W. K RÄMER, Gerhard Bersu. Ein deutscher Prähistoriker 1889–1964. Ber. RGK 82, 2001, 5–101, hier 12 f. F. K OEPP, Bericht über die Tätigkeit der Römisch-Germanischen Kommission im Jahre 1916, Ber. RGK 9, 1916, 14–17, hier 17. – D ERS., Bericht über die Tätigkeit der Römisch-Germanischen Kommission im Jahre 1917. Ber. RGK 10, 1917, 1–6, hier 5.

Der deutsche Kunstschutz im Westen

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Die oben genannten Arbeiten Bersus und Unverzagts waren bei Kriegsende offenbar bereits so weit fortgeschritten, dass zunächst weiter erörtert wurde, in welcher Form sie „für die Wissenschaft gerettet werden könnten“.52 Zu einer Publikation dieser Ergebnisse kam es jedoch nicht. Wohl unter dem Eindruck der Rolle des Kunstschutzes im Zweiten Weltkrieg warf Uta Halle in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob die archäologischen Arbeiten mit den weitreichenden Annexionsplänen verknüpft waren, die die deutsche Regierung im Westen hegte;53 ein Programm des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg aus dem Jahre 1914 sah unter anderem die Annexion der Stadt Belfort, des nordlothringischen Kohlebeckens, die Umwandlung Luxemburgs in einen Bundesstaat des Deutschen Reiches sowie die Umwandlung Belgiens zu einem deutschen Vasallenstaat vor.54 Tatsächlich unterstützte auch der Auftraggeber der Arbeiten Bersus und Unverzagts diese Linie. In einer Denkschrift, die 1917 posthum in der Zeitschrift Das Größere Deutschland veröffentlicht wurde, plädierte von Bissing nachdrücklich dafür, Belgien dauerhaft dem deutschen Machtbereich einzugliedern. Für die Notwendigkeit der Annexion Belgiens brachte von Bissing vor allem strategische und wirtschaftliche Argumente vor. Historische Argumente zog er in diesem Zusammenhang zwar keine heran, allerdings bemühte er sie im Zusammenhang mit der Frage, welche Konsequenzen die Eingliederung einer umfangreichen, nicht deutschsprachigen Bevölkerung in das Deutsche Reich haben könnte. Seine diesbezüglichen Überlegungen basierten auf der Auffassung, die belgische Bevölkerung sei überwiegend germanischer Abstammung. Die Flamen brächten „als germanischer Volksstamm eine Stärkung des deutschen Volkstums“, auch die Wallonen seien „nur im Getriebe der Zeit Franzosen geworden“. Nach einer Übergangszeit unter deutscher Herrschaft, so äußerte sich von Bissing optimistisch, würden sich die Flamen „von welscher Tyrannei zu ihrer freien, wenngleich nicht leicht zu behandelnden niederdeutschen Art zurückführen lassen“, wohingegen die Wallonen vor die Wahl zu stellen seien, sich entweder dieser Art anzupassen oder aber Belgien zu verlassen.55 52

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F. K OEPP, Bericht über die Tätigkeit der Römisch-Germanischen Kommission im Jahre 1918/19. Ber. RGK 11, 1918/19, 1–3, hier 1. H ALLE , Westforschung, 395. W INKLER, Weg (wie Anm. 37) 340 f. – Zur deutschen Belgienpolitik während des Ersten Weltkriegs insgesamt vgl. F. W ENDE , Die belgische Frage in der deutschen Politik des Ersten Weltkriegs. Schriftenreihe z. Auswärtigen Politik 7 (Hamburg 1969). M. V. B ISSING , Belgien. Eine Denkschrift. Das Größere Deutschland. Wochenschrift für Deutsche Welt- und Kolonialpolitik 4, H. 20, 19. Mai 1917, 609–624, Zitate 615f; 619; 623.

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Frühmittelalterarchäologie und Propaganda: Der Erste Weltkrieg

Wie Halle selbst ausführt, ist die Frage nach einer Verbindung zwischen diesen Plänen und der Tätigkeit der Kriegsarchäologie im Westen vor dem Hintergrund des heutigen Kenntnisstands nicht zu beantworten.56 Falls hier überhaupt ein Zusammenhang besteht, so deutet sich an, dass die Initiative nicht von den staatlichen Stellen ausging. Den Auftrag zu Bersus Denkschrift erteilte der Generalgouverneur auf Anregung der RömischGermanischen Kommission.57 Denkbar wäre auch, dass die Denkschriften mit den Bestrebungen deutscher Museumsstellen in Zusammenhang standen, sich für die Verluste deutscher Kunstwerke in napoleonischer Zeit zu „entschädigen“, indem Kunstwerke aus dem besetzten Gebiet im Westen als „Kompensation“ nach Deutschland gebracht würden. Bereits zu Beginn des Krieges hatte der Berliner Museumsdirektor Wilhelm von Bode Anspruch auf die entsprechenden Bestände der Pariser Museen erhoben; 1915 richtete er seine Begehrlichkeiten erstmals auch auf Kunstsammlungen in den besetzten Gebieten. In diesem Kontext wurde 1917 ein Inventar der belgischen Kunstwerke in Angriff genommen.58 Ebenso ist möglich, dass eine politische Verwendung der Kriegsarchäologie im Westen im oben genannten Rahmen der propagandistischen Instrumentalisierung des Kunstschutzes geplant war. Immerhin legt das publizierte Material nahe, dass die Initiative zur Etablierung des archäologischen Kunstschutzes nicht vom Militär bzw. den Besatzungsbehörden ausging, sondern aus der Tätigkeit der Kriegsarchäologie heraus erwuchs. Aufgrund der Taktik des Stellungskrieges kam es durch Schanzarbeiten und Trommelfeuer zu massiven großflächigen Bodeneingriffen, die in viel stärkerem Maße als bei vergangenen Kriegen archäologische Denkmäler zerstörten. Diese Tatsache registrierten auch die zeitgenössischen Prähistorikern aufmerksam.59 Aus diesem Grund wurden verschiedentlich Ausgrabungen durchgeführt, sowohl von Laien als auch von im Heeresdienst stehenden Archäologen.60 Da ihn offenbar regelmäßig Anfragen und 56 57 58 59

60

H ALLE , Westforschung, 395. K RÄMER, Bersu (wie Anm. 50) 12. – V. S CHNURBEIN , Entwicklung RGK, 150 f. M ARCHAND , Olympus, 249 f. E. W AHLE , Der moderne Krieg, ein Minderer der vor- und frühgeschichtlichen Bodenfunde. Mannus 10, 1918, 117–120. Vgl. C. S CHUCHHARDT , Kriegsarchäologie. Prähist. Zeitschr. 6, 1914, 359–361. – A NONYM , Lothringen: Römische und mittelalterliche Ansiedlungen in den Schützengräben. Röm.-Germ. Korrbl. 8, 1915, 62. – H. L EHNER, Über einige Altertumsfunde von der Westfront. Bonner Jahrb. 123, 1916, 264–274. – P. G OESSLER, Römische Altertumsfunde aus Nordfrankreich. Röm.-Germ. Korrbl. 9, 1916, 41 f. – D ERS., Aus der Aisnegegend. Bibrax. Prähist. Zeitschr. 9, 1917, 105–110. – D ERS., Auf Caesars

Der deutsche Kunstschutz im Westen

267

Fundmeldungen vom Kriegsschauplatz erreichten, regte der Direktor des Rheinischen Landesmuseums Bonn, Hans Lehner,61 an im Reich eine Zentralstelle zu schaffen, die für die an der Westfront anfallenden Funde zuständig sein sollte.62 Offenbar war lange Zeit der Zweck des Einsatzes der Prähistoriker an der Westfront nicht klar definiert. Nachdem Lehner zuvor im Auftrag der Kommission das westliche Kriegsgebiet bereist hatte,63 fand im März 1917 unter der Leitung von Friedrich Koepp in Frankfurt eine Zusammenkunft von neun Mitgliedern der RGK statt, um „die Aufgaben dieser ‚Kriegsarchäologie‘ in gemeinsamer Beratung zu klären und zu fördern“. Der dabei gefasste Beschluss wurde jedoch nicht veröffentlicht, da „die Verfolgung dieser Linien ja nicht von uns allein abhängt “.64 Intern wurde vereinbart, weitere Forscher heranzuziehen, um über die bereits in Auftrag gegebene Denkschrift Bersus hinaus die gesamte Zeitspanne vom Paläolithikum bis zum Mittelalter abzudecken.65 Noch 1916 gab die RGK einen Aufruf mit der Aufforderung heraus, bei Kriegshandlungen zu Tage tretende archäologische Denkmäler an die Kommission zu melden.66 Im April 1918 veröffentlichte der Generalquartiermeister des Großen Hauptquartiers schließlich einen Erlass, in dem er das Durchführen „wilder Ausgrabungen“ verbot. Überdies seien Grabungen auf ein Mindestmaß zu beschränken und lediglich unter sachkundiger Leitung durchzuführen. Fundmeldungen möge man an die RGK weiterleiten und die Grundstückseigentümer entschädigen, falls die örtlichen Bestimmungen dies vorsähen. Nach Möglichkeit sollten die Funde an Ort und Stelle verbleiben; die Überführung von Fundmaterial zu wissenschaftlichen Zwecken nach Deutschland sollte nur in Absprache mit dem RGZM vorgenommen werden. Die auf diese Weise in Mainz gesammelten Funde waren insgesamt wenig bedeutend und gingen nach Kriegsende aufgrund einer Übereinkunft mit der Restitutionskommission in den Besitz des RGZM

61

62 63

64 65 66

Spuren an der Westfront. Korrbl. Dt. Ges. Anthr. 48, 1917, 51–56. – H. R EINERS, Eine Römersiedlung vor Verdun (München 1918). – Eine Übersicht über die Grabungen: F. O ELMANN , Deutsche Bodendenkmalpflege im Weltkriege 1914/18. Rhein. Vorzeit Wort u. Bild 3, 1940, 77–79, hier 78 f. – Vgl. auch V. S CHNURBEIN , Entwicklung RGK, 150 mit Anm. 64. Zu Lehner vgl. F. O ELMANN , Zur Erinnerung an Hans Lehner. Bonner Jahrb. 143/144, 1938/39, 304–311. L EHNER, Westfront (wie Anm. 60) 274. Jahresbericht des kaiserlich Deutschen Archäologischen Instituts für das Jahr 1917. Arch. Anz. 1918, If, hier II. K OEPP, Bericht 1917 (wie Anm. 51) 5. V. S CHNURBEIN , Entwicklung RGK, 151. Prähist. Zeitschr. 8, 1916, 175. – Röm.-Germ. Korrbl. 9, 1916, 78.

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Frühmittelalterarchäologie und Propaganda: Der Erste Weltkrieg

über.67 Die vom Tübinger Kunsthistoriker Georg Weise im Rahmen seiner Grabungstätigkeit für den Kunstschutz in Frankreich zusammengetragene Sammlung frühmittelalterlicher Altertümer aus Frankreich wurde dagegen 1925/26 unter konspirativen Bedingungen vom Berliner Museum für Vorund Frühgeschichte angekauft.68

c) Die Kunst der Barbaren Die Archäologie des frühen Mittelalters wurde vor allem auf zwei Gebieten zum Schlachtfeld gelehrter Stellvertreterkriege. Neben der Debatte um die Herkunft der Bewohner des linken Rheinufers, auf die ich im nächsten Kapitel eingehen werde, entzündete sich über den Ursprung der beiden wichtigsten merowingerzeitlichen Kunststile, des Cloisonnéstils und der Tierornamentik, eine heute grotesk anmutende Kontroverse. 1916/17 publizierte Émile Mâle, der Pionier der Erforschung mittelalterlicher Kirchenbaukunst,69 eine Reihe von Aufsätzen zur „deutschen Kunst“, die in überarbeiteter monographischer Form in der Nachkriegszeit noch drei Auflagen erleben sollten.70 Noch im Jahr der Erstpublikation wurden die Aufsätze ins Deutsche übertragen und gemeinsam mit einer Reihe von – ebenfalls deutlich polemischen – Gegendarstellungen deutscher Gelehrter publiziert.71 Mâles Absicht war es zu belegen, „dass Deutschland auf dem Gebiet der Kunst nichts erfunden hat “. Er polemisierte gegen Deutschlands „Anmaßung, sich für das große schöpferische Volk zu halten“; nun müsse ihm gezeigt werden, dass es sich irre. Die Germanen hätten sich „seit ihrem Auftauchen in der Kunstgeschichte als Nachahmer erwiesen, und das bleibt ihr unabänderlicher Charakter.“72 Seinen 67

68 69

70 71

72

K. S CHUMACHER, Das Römisch-Germanische Central-Museum von 1901–1926. In: Festschrift zur Feier des fünfundsiebzigjährigen Bestehens des Römisch-Germanischen Central-Museums zu Mainz (Mainz 1927) 53–88, hier 76. – Anders als Uta Halle angibt (Vgl. H ALLE , Westforschung [wie Anm. 56] Anm. 71) geht aus dem Wortlaut dieser Textstelle nicht hervor, dass Unverzagt dem RGZM merowingische Grabfunde aus Nordfrankreich übergeben hat. N EUMAYER, Frankreich, 89 f. Zu Mâle vgl. H. D ILLY, Émile Mâle (1862–1954). In: Ders. (Hrsg.), Altmeister moderner Kunstgeschichte (Berlin 1990) 133–148. É. M ÂLE , L’art allemand et l’art français du Moyen Age (4Paris 1923). É. M ÂLE , Studien über die deutsche Kunst. Herausgegeben mit Entgegnungen von Paul Clemen, Kurt Gerstenberg, Alfred Götze, Cornelius Gurlitt, Arthur Haseloff, Rudolf Kautzsch, H. A. Schmid, Josef Strzygowski, Géza Supka, Oskar Wulff von Otto Grautoff (Leipzig 1917). M ÂLE , Studien (wie Anm. 71) 7.

Die Kunst der Barbaren

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deutschen Kollegen warf er vor, zu Unrecht alle Elemente mittelalterlicher Kultur und Kunst für die Germanen, und damit für ihre eigene Nation, vereinnahmt zu haben. Die mittelalterliche Kunst sei jedoch ebenso wenig „germanisch“ wie die persönliche Freiheit, der Minnedienst oder die Heldenepik. In diesem Kontext wandte sich Mâle auch gegen einen germanischen Ursprung der Zierstile der Funde aus den Reihengräbern: Deutschland erhob noch andere Ansprüche. Es wollte uns glauben machen, die Barbaren als wahre Schöpfer der Kunst der nachfolgenden Jahrhunderte hätten eine neue, eigenartige Kleinkunst reinsten deutschen Ursprungs nach Gallien gebracht.73

Die Fortschritte der archäologischen Forschung im Orient und in Asien hätten jedoch gezeigt, dass deren Ursprünge dort zu suchen seien. Jede weitere Entdeckung im Orient sei „ein Schlag gegen den germanischen Stolz. Der germanische Barbar, von deutschen Geschichtsschreibern mit allen Tugenden ausgestattet, wird nun bald in seiner ursprünglichen Nacktheit dastehen.“74 Nicht nur mit der deutschen Forschung ging Mâle unbarmherzig ins Gericht. In gleicher Weise polemisierte er gegen jene älteren französischen Forscher, die zu bereitwillig an den germanischen Ursprung der mittelalterlichen Kunst und an das „barbarische Genie“ geglaubt hätten. Ausdrücklich wandte sich Mâle gegen seinen kunsthistorischen Kollegen Louis Courajod, dem er vorwarf, er habe „das Barbarentum als von der Vorsehung gesandten Erlöser “ betrachtet, das „die alte Welt von der doppelten Tyrannei Roms und der römischen Kunst befreien würde“.75 Dagegen vertrat Mâle die Ansicht, die Kunst der Merowingerzeit sei nicht im Geringsten originär „germanisch“; eine „barbarische Kunst“ habe es vielmehr gar nicht gegeben. Alles, was man bislang so bezeichnet habe, sei in Wirklichkeit orientalische oder asiatische Kunst, die die Barbaren nachgeahmt hätten.76 Der Cloisonnéstil, dessen Herkunft von der Forschung bis in jüngste Zeit kontrovers diskutiert wird,77 sei, anders als deutsche Wissenschaftler behaupteten, keine Erfindung der Goten, sondern stamme in Wirklichkeit aus dem Orient, aus Persien: „Der Geist des Orients liegt in diesem tiefen Farbensinn, dieser warmen Harmonie und der Leuchtkraft und dort im Orient befinden wir 73 74 75 76 77

M ÂLE , Studien (wie Anm. 71) 2. M ÂLE , Studien (wie Anm. 71) 13. M ÂLE , Studien (wie Anm. 71) 3. M ÂLE , Studien (wie Anm. 71) 1–3. Zum gegenwärtigen Stand der Diskussion vgl. M. K AZANSKI /P. P ÉRIN , Der polychrome Stil im 5. Jahrhundert. In: A. Wieczorek/P. Périn (Hrsg.), Das Gold der Barbarenfürsten. Schätze aus Prunkgräbern des 5. Jahrhunderts n. Chr. zwischen Kaukasus und Gallien (Stuttgart 2001) 80–84.

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Frühmittelalterarchäologie und Propaganda: Der Erste Weltkrieg

Abb. 13: Speisekarte des „Kriegsmenus“ zum Andenken an Gabriel de Mortillet 1915 (nach Antiquity 76, 2002, 210)

Die Kunst der Barbaren

271

uns am heimischen Herde der Kunst, deren Strahlen sich über Europa und Asien ergossen haben. Wie hätte auch der Germane in seinen Mooren, unter seinem niedrigen, lastenden Himmel diese Pracht ausdenken können? “78 Anhand des gravierenden Qualitätsunterschieds zwischen der Cloisonnéverzierung am Schwert des Childerich im Vergleich zu anderen Arbeiten aus dem Merowingerreich stelle sich die Frage, ob nicht das Schwert Childerichs direkt aus Byzanz oder Persien stamme.79 Insgesamt hielt Mâle jedoch an der älteren These fest, der Cloisonnéstil sei von den Goten in Südrußland übernommen und anschließend von gotischen Handwerkern im Zuge ihrer Wanderung nach Mittel- und Westeuropa verbreitet worden. Die frühmittelalterliche Tierornamentik war Mâle zufolge ebenso wenig eine germanische Erfindung. In diesem Fall plädierte Mâle für einen skythischen Ursprung. Wie beim Cloisonnéstil meinte Mâle auch beim Tierstil einen gravierenden Qualitätsunterschied zwischen den originalen Vorbildern und den germanischen Nachahmungen erkennen zu können. Im Gegensatz zu ihren Vorbildern sei die Kunst der Germanen keineswegs „ jung, frei, spontan“, sondern vielmehr „senil, gewohnheitsmäßig, mechanisch“. Im Vergleich zu den skythischen Originalen wirkten die Objekte aus den germanischen Gräbern „ärmlich und degeneriert “. Auch die durchbrochenen Zierscheiben der Merowingerzeit gingen auf orientalische Vorbilder zurück, die die Germanen jedoch auf unförmige Weise nachgeahmt hätten. Im Grunde ergäbe sich immer wieder das gleiche Muster: Die Vorbilder für die Reihengräberfunde seien im Osten zu finden. Die „riefenverzierten“ (kerbschnittverzierten?) Gürtelschnallen, welche in ähnlicher Form auch in den Barbarengräbern Galliens gefunden würden, hätten ihre Vorbilder ebenso im Kaukasus bzw. in Südrußland wie die bekannte merowingische Fünfknopffibel. Letztlich bliebe nichts von der „barbarischen Kunst“ in Gallien. Was sich nicht aus dem Osten herleiten ließe, sei antikes Erbe, wie etwa die Flechtbandornamentik. Das Schlingornament der barbarischen Kunst hat überhaupt nichts Germanisches, es fügt sich der klassischen Kunst durch das Bindeglied der syrischen und koptischen Manuskripte an, welche damals die Muster für alle dekorativen Künste in Gallien lieferten.

In diesem Zusammenhang sprach sich Mâle zudem gegen die Zuweisung der gallischen Reihengräber an die Germanen aus. Bei den meisten Gürtelschnallen und Fibeln handele es sich um Produkte gallorömischer Gold-

78 79

M ÂLE , Studien (wie Anm. 71) 7. M ÂLE , Studien (wie Anm. 71) 7.

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Frühmittelalterarchäologie und Propaganda: Der Erste Weltkrieg

schmiede, da auch die Gallorömer die neuen Schmuckformen übernommen hätten: Daher rührt der außerordentliche Irrtum der Gelehrten, sich einzubilden, anhand der Anzahl der Friedhöfe, die Fibeln und Gürtelgarnituren lieferten, die Dichte der germanischen Bevölkerung erkennen zu wollen. Die Grabstätten der Gallorömer unterschieden sich nicht von jenen der Barbaren.80

Unter den Entgegnungen, die Otto Grautoff gemeinsam mit der deutschen Übersetzung von Mâles Text publizierte, bezogen sich vor allem Géza Supka, Kustos am ungarischen Nationalmuseum in Budapest, und Alfred Götze auf den archäologischen Teil von dessen Ausführungen. Wie die übrigen Autoren versuchten sie zunächst nachzuweisen, dass nicht allein deutsche Wissenschaftler einen germanischen Ursprung der frühmittelalterlichen Kunst vertreten hätten. Supka wies darauf hin, dass sowohl zahlreiche französische als auch britische, skandinavische und osteuropäische Forscher bis in jüngste Zeit dieselbe Meinung vertreten hätten. Allerdings gestand Supka ein, dass es auf deutscher Seite „extreme Richtungen“ gäbe, wobei er neben den beiden Kunsthistorikern Albrecht Haupt und August Schmarsow als Dritten Gustaf Kossinna nannte. Zwar äußerte er für deren Position ein gewisses Verständnis, da sie „mit voller Einsetzung ihrer gesamten Persönlichkeit für die germanische Wesenheit der Kunst der dunklen Jahrhunderte ihren ehrlichen und deshalb ehrenwerten Kampf bis auf den heutigen Tag bestehen.“ Der deutschen Vorgeschichtswissenschaft gereiche es jedoch zum größten Lob, nämlich dem der absoluten Objektivität, dass diese Richtung gerade in ihrer Heimat die schärfsten Kritiker fände.81 Andererseits wies Supka wie die übrigen Kommentatoren darauf hin, dass gerade die deutschsprachige Forschung in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg die nichtgermanischen Einflüsse in der Kunst der Völkerwanderungszeit herausgearbeitet habe, etwa Josef Strzygowski die asiatischen Einflüsse oder Alois Riegl die spätantiken römischen Elemente. Keiner dieser Autoren habe es jedoch gewagt „das vielleicht manchmal allzu begeisterte Bild, das germanische Forscher von dem Kunstvermögen ihres eigenen Volkstums entwarfen“, derart entstellt wiederzugeben wie Mâle. Supka leugnete zwar keineswegs die Existenz fremder Einflüsse auf die germanische Kunst; allerdings meinte er in ihr durchaus typische „Kunst- und Lebensprinzipien“ erkennen zu können. Diese Prinzipien beschrieb er als Alterität zu jenen der süd80

81

M ÂLE , L’art allemand (wie Anm. 70) 29 f.: „De là la singulière erreur des érudits qui s’imaginent, par le nombre des cimetières qui donnent des fibules et des boucles de ceinturon, pouvoir reconnaître la densité de la population germanique. Les sépultures des Gallo-Romains ne différaient pas alors de celles des Barbares.“ G. S UPKA , Entgegnung. In: Mâle, Studien (wie Anm. 71) 72–79, hier 74.

Die Kunst der Barbaren

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lichen Kunst. Das „nordische Ideal“ betrachtete er jedoch nicht als exklusiven Besitzstand der Germanen, sondern ebenfalls der sibirischen Völker. In der germanischen Kunst meinte er das „nordische Ideal des Graphischen“ im Gegensatz zum „plastischen des Südens“ verwirklicht zu sehen. Gleichermaßen stellte er das „Dekorative“ des Nordens dem „Konstruktiven“ des Südens gegenüber, dem nordischen „äußeren Rhythmus“ den „inneren Rhythmus“ des Mittelmeerraumes.82 Als zweiter Autor neben Supka kommentierte Alfred Götze, zu diesem Zeitpunkt Direktorialassistent am Museum für Völkerkunde in Berlin,83 Mâles Ausführungen zur frühmittelalterlichen Archäologie. Auch Götze beharrte darauf, dass die Kunst der Völkerwanderungszeit keine ungelenke Nachahmung fremder Vorbilder, sondern im Gegenteil „ein Wesen für sich“ sei. Dieses „Wesen“ könne nicht anders als „germanisch“ bezeichnet werden, „denn Germanen haben es zu dem gemacht, was es ist, und Germanen und kein anderes Volk haben diese Kunst besessen und ausgeübt.“ Fremde Anregungen seien lediglich im Moment der Übernahme fremd gewesen und danach auf eigenartige Weise umgebildet worden. Diese Umbildung fremder Einflüsse durch die Kunst der Völkerwanderungszeit sei im Übrigen kein Zeichen von Dekadenz und Barbarisierung, sondern eine Schöpfung „von einer inneren Kraft, wie sie sich in der Kunstgeschichte nur selten zeigt.“ Als Beleg für die These, die Germanen hätten ihre künstlerische Potenz nicht erst durch den Kontakt zu den Völkern des Mittelmeerraumes erworben, verwies Götze auf die urgeschichtlichen, v.a. bronzezeitlichen Funde der „rein germanischen“ Gebiete Norddeutschlands und Skandinaviens, die „einen durchaus nationalen Charakter “ zeigten. So verrieten die Fibeln der nordischen Bronzezeit bereits „dieselbe sichere Stilisierungsgabe wie ihr völkerwanderungszeitlicher Enkel.“84 Ähnlich wie Supka betonte auch Götze, dass keineswegs nur deutsche Forscher die germanische Deutung der frühmittelalterlichen Kunst vertraten und im Gegenteil gerade deutsche Forscher nichtgermanische Einflüsse aufgezeigt hätten. Im Übrigen widersprach Götze sowohl der These, Schwert und Scheide des Childerich stammten aus dem Orient, wie auch einer Herkunft der Flechtbandornamentik aus dem Mittelmeerraum.85 Bemerkenswerterweise erhob keiner der Autoren Widerspruch gegen Mâles Thesen bezüglich der Gallorömer. Götze machte sogar darauf aufmerksam, dass Mâle neben den persischen, skythischen, armenischen und 82 83

84 85

G. S UPKA , Entgegnung. In: Mâle, Studien (wie Anm. 71) 78 f. Zu Götze vgl. zuletzt W. B ÜTTNER, Alfred Götze – Pionier der Spatenforschung und der archäologischen Denkmalpflege. Alt-Thüringen 33, 1999, 10–29. A. G ÖTZE , Entgegnung. In: Mâle, Studien (wie Anm. 71) 81–86, hier 82. A. G ÖTZE , Entgegnung. In: Mâle, Studien (wie Anm. 71) 83 f.

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ägyptischen Einflüssen die griechisch-römische Kunst vergessen habe.86 Weder die These, die Mehrzahl der Edelmetallarbeiten aus den Reihengräbern sei von gallorömischen Schmieden hergestellt worden, noch die Ansicht, die frühmittelalterlichen gallorömischen Gräber seien nicht von jenen der Germanen zu unterscheiden, waren in diesem Zusammenhang so brisant, dass sie einen Vertreter der deutschsprachigen Forschung zu einem Kommentar provoziert hätten. Einzig der Kunsthistoriker Rudolf Kautzsch übertrug süffisant Mâles Charakterisierung der Germanen als geistlose Nachahmer durchaus logisch auf die Gallorömer: Die „romanischen Gallier“, auch „reine Franzosen“ genannt, haben immerhin auch nichts anderes fertig gebracht, als die Art und Kunst der wenigen eingedrungenen „Barbaren“ weiter nachzuahmen. Oder sollte es im 6. und 7. Jahrhundert eine autochthone französische Kunst gegeben haben, die wir in Deutschland bisher übersahen?! Wir sind bereit uns belehren zu lassen.87

Die politisch motivierten Auseinandersetzungen endeten auf dem Gebiet der Kunstgeschichte der Merowingerzeit ebenso wenig mit dem Kriegsende wie in den anderen Gebieten der Wissenschaft. Allerdings verlor – zumindest bei dem hier behandelten Beispiel – die Debatte etwas vom hasserfüllten Furor der Kriegszeit. Die Denunzierung der barbarischen Kunst hielt jedoch an, wie etwa Ernest Babelons Ausführungen zum Childerichgrab und der Herkunft des Cloisonnéstils aus dem Jahre 1924 zeigen. Der Numismatiker und Archäologe Ernest Babelon,88 der sich während des Kriegs, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, in der Rheinpropaganda engagiert hatte, griff in einer kleinen Monographie Mâles Thesen auf. Grundsätzlich schloss sich Babelon der Meinung seines Kollegen an, die dieser in seinem „reizenden Buch“ vorgetragen habe: Von einer „barbarischen Kunst“ könne keine Rede sein, da diese verschiedenen Wurzeln entstamme, die die Barbaren lediglich „imitierten und entstellten“.89 Aufgrund ihrer „angeborenen Rohheit“ und ihrer künstlerischen Unbedarftheit konnten sie nichts anderes schaffen als barbarisierte Imitate, die weit entfernt von ihren byzantinischen oder persischen Vorbildern seien: „Dies ist die neue Doktrin, die ich mir rückhaltlos zu eigen mache.“90 Aufgrund dieser „neuen Lehre“ stellte sich für Babelon die Frage, ob die Preziosen aus dem Grab des Frankenkönigs Childerich weiterhin den Bar86 87 88 89

90

A. G ÖTZE , Entgegnung. In: Mâle, Studien (wie Anm. 71) 81. R. K AUTZSCH , Entgegnung. In: Mâle, Studien (wie Anm. 71) 97–102, hier 98. Zu Babelon vgl. mit weiterer Literatur G RAN -A YMERICH , Dictionaire, 43 f. E. B ABELON , Le tombeau du roi Childéric et les origines de l’orfèvrerie cloisonnée (Paris o. J. [ca. 1924]) 78. B ABELON , Childeric (wie Anm. 89) 83.

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baren als Ehre angerechnet werden könnten; immerhin handele es sich bekanntlich um die ältesten und schönsten Vertreter des Cloisonnés mit zusammengesetzten und verlöteten Zellstegen.91 Diese rhetorische Frage verneinte Babelon mit allem Nachdruck. Stattdessen plädierte er dafür, dass die qualitativ hochwertigen Cloisonnéarbeiten des Merowingerreiches allesamt von byzantinischen Handwerkern hergestellt worden seien, die am Hofe der Barbarenherrscher lebten. Diese byzantinischen Handwerker seien es gewesen, die für die Barbaren die „schönsten steinbesetzten Schmuckstücke, die funkelndsten Rüstungen, die prächtigsten mit Glasperlen besetzten Gewänder “ herstellten. Daneben hätten die byzantinischen Lehrmeister einheimische Handwerker ausgebildet, die jedoch lediglich „imitierte Werke“ herzustellen vermochten: „[…] weniger auserlesen, weniger geschmackvoll, gröber: Dies ist die Rolle der germanischen Handwerker in der Entwicklung der Kunst.“92 Wie bereits gezeigt, reichte die Gleichsetzung von Stilgeschichte und Nationalgeschichte bis in die Anfänge kunstgeschichtlichen Denkens zurück.93 Die Auseinandersetzungen um die Ursprünge der Kunst der Barbaren während des Ersten Weltkriegs lösten sich nicht im Mindesten von diesem Argumentationsmuster. Im Gegenteil vertieften sie die Identifikation der frühmittelalterlichen Funde mit „Germanen“ bzw. „Barbaren“ weiter. Wie die Forscher des 19. Jahrhunderts unterteilten die Kontrahenten die Sachkultur des Reihengräberhorizontes ausgehend von der Dichotomie „germanisch bzw. barbarisch“ oder „nicht-germanisch“ bzw. „mediterran oder orientalisch“. Politische Wertungen schwangen bei der Zuweisung zur einen oder anderen Kategorie von Anfang an mit. Oben wurde bereits das Beispiel Cochets besprochen, der Jules Labartes Theorie einer ostmediterranen Herkunft der Cloisonnéarbeiten aus dem Childerichgrab – „ces petites merveilles de notre vieil art national “ – zurückgewiesen hatte.94 Vor allem bei Funden von herausragenden Stücken der frühmittelalterlichen Epoche flackerte in den folgenden Jahrzehnten die Diskussion um deren germanische oder römisch-byzantinische Provenienz immer wieder auf. Während etwa Ferdinand de Lasteyrie die Kronen aus dem Fund von Guarrazar als Produkte einer Kunst „nordisch-germanischen“ Ursprungs ansprach,95 plädierte sein 91 92

93 94 95

B ABELON , Childeric (wie Anm. 89) 98. B ABELON , Childeric (wie Anm. 89) 104: „C’est à ces techniciens barbares qu’on doit les œuvres imitées, moins fines, moins délicates, plus grossières: voilà le rôle des artisans germains dans le développement de l’art“. Kap. 8b. Kap. 8c. F. DE L ASTEYRIE , Description du trésor de Guarrazar accompagnée de recherches sur toutes les questions archéologiques qui s’y rattachent (Paris 1860) bes. 34.

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spanischer Kollege José Amador de los Rios für eine lateinisch-byzantinische Herkunft.96 Angesichts der in der Kunstgeschichte vor dem Ersten Weltkrieg gängigen Interpretationsmuster wäre es kaum denkbar gewesen, dass sich die Deutung der Reihengräberfunde von der verbreiteten ethnischen Interpretation löst. Durch die Etablierung der akademischen Kunstgeschichte im Laufe des 19. Jahrhunderts gewann die Debatte über nationale Kunststile allmählich eine neue Qualität. Die Suche nach nationaler Identität gab – Hubert Locher zufolge – den Ausschlag für die Begründung der Kunstgeschichte als staatlich institutionalisierte Wissenschaft. Hintergrund dieser Entwicklung war die Erwartung, das Fach könne Fragen nach dem „nationalen Wesen“ in der Kunst beantworten.97 Unter der Mehrzahl der Gelehrten in weiten Teilen Europas bildete sich ein Konsens heraus, demzufolge das Kunstschaffen, abgesehen vom Geist der jeweiligen Stilepoche, vor allem durch unwandelbare Volks- oder Nationalcharaktere geprägt werde. In der Zeit nach 1900 bestand ein so weitgehender Konsens über das Verfahren, Kunststile auf die Wesensart eines Volkes zurückzuführen, dass es in der Forschung meist nicht weiter problematisiert wurde.98 Teilweise beanspruchte die Kunstgeschichte sogar, besser als jede andere Wissenschaft das nationale Wesen der Völker erfassen zu können. So formulierte Georg Dehio, einer der einflussreichsten Kunsthistoriker seiner Generation, es gäbe „in der deutschen Volksgeschichte innerste Kammern, zu denen nur die Kunstgeschichte den Schlüssel hat.“99 Auch in der frühmittelalterlichen Archäologie ging man zu diesem Zeitpunkt ganz selbstverständlich auf diese Weise vor. Deutlich wird dies etwa in Bernhard Salins grundlegendem Werk über die frühmittelalterliche Tierornamentik. Erklärtermaßen hatte sich Salin zum Ziel gesetzt, dem „nationalen Stilgefühl “ der Germanen auf die Spur zu kommen. Seine Arbeit basierte auf der Prämisse, dass die Gebrauchsgegenstände, die in den Gräbern zu Tage treten, besonders gut zum „Studium der nationalen Eigenart “ geeignet seien. Den Ausgangspunkt hätten dabei zu96

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J. A MADOR DE LOS R IOS, El arte latino-byzantino en España y las coronas de Guarrazar: ensayo histórico-crítico (Madrid 1861). – Zu dieser Diskussion vgl. B. S ASSE K UNST , s.v. Guarrazar. In: RGA2, Bd. 13 (Berlin, New York 1999) 129–132. – A. P EREA (Hrsg.), El tesoro visigodo de Guarrazar (Madrid 2001). H. L OCHER, Stilgeschichte und die Frage der „nationalen Konstante“. Zeitschr. Schweizer. Arch. u. Kunstgesch. 53, 1996, 285–294, hier 285. L. O. L ARSSON , Nationalstil und Nationalismus in der Kunstgeschichte der zwanziger und dreißiger Jahre. In: L. Dittmann (Hrsg.), Kategorien und Methoden der deutschen Kunstgeschichte 1900–1930 (Stuttgart 1985) 169–184, hier 170f und 173. G. D EHIO, Geschichte der deutschen Kunst. Bd. 1 (2Berlin, Leipzig 1921) 5.

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nächst jene Fundkomplexe zu bilden, die nach einstimmigem Urteil aller Gelehrten zweifelsfrei „germanisch“ seien, wie die Gräberfelder von Selzen, Nordendorf oder Cividale. Von hier aus sei es dann möglich, sich in zeitlich und räumlich unbestimmtere Regionen des germanischen Kunstschaffens vorzuarbeiten.100 Als Begründung für die Existenz eines zeitlich konstanten Nationalcharakters in der Kunst führte die Kunstgeschichte um die Jahrhundertwende psychologische und biologische Faktoren an; in der Kunst spiegele sich sowohl die psychische Veranlagung einer Nation wieder, ihr „Volkscharakter“, als auch ihre anthropologische Substanz, die Rasse. Ferner leisteten neue kunstgeschichtliche Kategorien, wie Alois Riegls „Kunstwollen“, der Nationalisierung der Kunstgeschichte weiteren Vorschub. Riegls Kunstwollen erlaubte es der Kunstgeschichte, sich vom „Klassischen“, „Schönen“ und „Lebendigen“ zu lösen und sich so profanen Gegenständen wie den Produkten des spätrömischen Kunstgewerbes zuzuwenden. Offen blieb dagegen, wer eigentlich Subjekt des kollektiven Kunstwollens sein sollte.101 Gerade in frühgeschichtlichen Epochen, in denen in der Regel nichts über die Persönlichkeit der Künstler und ihre Auftraggeber bekannt ist, war es deshalb einfach, kollektive Subjekte wie Stämme oder Völker als Träger des Kunstwollens vorauszusetzen.102 Um die Jahrhundertwende wurde die Frage nach der nationalen Eigenart in der Kunst zunehmend aggressiver diskutiert. Diese Tendenz beschränkte sich nicht auf die Kunstgeschichte, sondern erfasste gleichermaßen die Künstler selbst, die im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert vielfach betont „nationale Kunst“ schaffen wollten.103 Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs radikalisierten sich die Positionen weiter; insbesondere in der deutschsprachigen Kunstgeschichte der Zwischenkriegszeit gehörte die Frage nach dem nationalen Charakter der Kunst zu den am häufigsten diskutierten.104 Lars Olof Larsson zufolge haben gerade die besprochenen Ausführungen Mâles zusammen mit ähnlichen, weniger prominenten Stimmen, die nationalistischen Tendenzen in der deutschsprachigen Kunstwissenschaft wesentlich gefördert.105 Mâles Vorwurf der einseitig germanischen Interpre100 101

102 103 104 105

B. S ALIN , Die altgermanische Thierornamentik (2Stockholm 1935) 3 f. H. B AUER, Kunsthistorik. Eine kritische Einführung in das Studium der Kunstgeschichte (3München 1989) 74 ff. L ARSSON , Nationalstil (wie Anm. 98) 174 f. L ARSSON , Nationalstil (wie Anm. 98) 171. L OCHER, Stilgeschichte (wie Anm. 97) 286. L ARSSON , Nationalstil (wie Anm. 98) 180. – Vgl. auch V. G EBHARDT , Das Deutsche in der deutschen Kunst (Köln 2004) bes. 12–21.

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tation des merowingischen Kunstgewerbes basierte insgesamt auf einem groben Zerrbild der deutschsprachigen Wissenschaft. Anders als in den Entgegnungen zugestanden, vertraten jedoch nicht nur einzelne germanomane „Hitzköpfe“ à la Gustaf Kossinna und Albrecht Haupt entsprechende Positionen. Ein typisches Beispiel ist etwa der kurz vor der Jahrhundertwende entstandene Aufsatz des Kunsthistorikers Rudolf Adamy, der sich den merowingerzeitlichen germanischen Grundlagen der romanischen Baukunst widmete. Den germanischen Stil der Völkerwanderungszeit charakterisierte Adamy in diesem Zusammenhang als keck und frisch wie die Völker selber, denen er angehörte, auch zuweilen barbarisch, roh und zügellos wie diese erscheinend, hat er vor der gesamten römischen Ornamentik, die kaum ein einziges Motiv selbstständig zu erschaffen vermochte, den überall ansprechenden Grundton einer ursprünglichen bestimmten Originalität voraus.

Diese Kunst – so Adamy – sei „ein eigentümliches Lebenselement der germanischen Völker unserer Heimat, ein nicht nebensächliches Stück ihres Seins und ein Hauptteil ihrer väterlichen Tradition […]“.106 Das römische Kunstschaffen betrachtete er dagegen ganz im Sinne der Dekadenztheorie. Zwar waren ihm die Verbindungen zwischen dem spätrömischen Kunsthandwerk und der Tierstilornamentik durchaus bekannt. Allerdings plädierte er dafür, dass hier ein germanischer Einfluss auf die römische Kunst vorläge: Die Römer erhielten dieses Motiv durch die Berührung mit den Germanen; sie selbst waren längst zu unfruchtbar und schaffensmüde geworden, um ein so völlig neues Motiv aus eigener Erfindung in ihre Kunst einführen zu können.107

Gerade durch Arbeiten von Kunsthistorikern der Vorkriegszeit aus dem deutschsprachigen Raum war dieses Geschichtsbild vielfältig relativiert worden, wie in den Entgegnungen zu Mâles Ausführungen zutreffend angeführt wurde. Allerdings dürfte dieses Wissen kaum über den Kreis der damit befassten Spezialisten hinaus gedrungen sein. In populären Geschichtsdarstellungen waren die älteren Deutungsmuster noch immer geläufig. Nicht zuletzt deshalb konnten sie in der Zwischenkriegszeit fröhliche Urstände feiern und in teils grotesk übersteigerter Form popularisiert werden. Noch gravierender als auf die deutsche Forschung wirkte sich die Polemik während des Ersten Weltkriegs auf die französische Frühmittelalter-

106

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R. A DAMY, Die merowingische Ornamentik des Kunsthandwerks und der Architektur als Grundlage der romanischen. Quartalbl. Hist. Ver. Hessen NF 2, 1896–1900, 422–438. A DAMY, Ornamentik (wie Anm. 106) 424.

Die Kunst der Barbaren

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archäologie aus. Mâle hatte in seinen Ausführungen namentlich nur seinen kunsthistorischen Kollegen Louis Courajod wegen dessen Parteinahme für die Germanen denunziert. Dieser Vorwurf musste aber zumindest implizit in gleichem Maße die französische Frühmittelalterarchäologie treffen. Vor allem Joseph de Baye hatte seit den 1880er Jahren grundlegende Studien zum merowingerzeitlichen Kunstgewerbe vorgelegt.108 Für ihn, wie für den ganz überwiegenden Teil der französischen Frühmittelalterforschung, galt die „barbarische Kunst“ ganz selbstverständlich als germanisch. Trotz Mâles oben angeführter Bemerkung, die meisten Kunstgegenstände der französischen Reihengräber seien gallorömischen Ursprungs, wurde die Zuweisung der Reihengräberfunde an die Germanen grundsätzlich nicht in Frage gestellt, sondern vielmehr weiter gefestigt: Da Mâle explizit nur die Prunkfunde für die orientalisch-byzantinisch-mediterrane Tradition in Anspruch nahm, deklarierte man die weniger qualitätvollen endgültig zu minderwertigen „barbarischen“ Produkten. Überdies beschränkte sich die Denunziation des „Barbarischen“ während des Ersten Weltkriegs bekanntlich nicht allein auf das frühmittelalterliche Kunstgewerbe. Durch die weit verbreitete Stilisierung des Weltkriegs zum „Schicksalskampf“ der westlichen Zivilisation gegen die Einfälle barbarischer „Hunnen“ oder „Vandalen“ war sie in der Propaganda der Ententestaaten geradezu allgegenwärtig. Daher verwundert es nicht, dass die Bereitschaft der französischen Gelehrten, sich mit den archäologischen Hinterlassenschaften des frühen Mittelalters zu beschäftigen, nach Kriegsende rapide abnahm. Der internationale Schwerpunkt der Frühmittelalterarchäologie verschob sich in der Nachkriegszeit grundlegend. In Frankreich kam die Forschung, von beachtenswerten Ausnahmen abgesehen, bis in die 1960er Jahre weitgehend zum Erliegen.109 In Deutschland nahm sie in der Zwischenkriegszeit dagegen einen zunächst zögerlichen, bald aber rasanten Aufstieg. Aber nicht allein in Frankreich, sondern auch in Deutschland wurde durch die Kriegspolemik der Forschung eine Tür zugeschlagen, die sich in den Jahren vor Kriegsausbruch erstmals geöffnet hatte. Wie bereits erwähnt, wurden in der Kunstwissenschaft seit der Jahrhundertwende Stimmen laut, die nachdrücklich auf die antiken Wurzeln des frühmittelalterlichen Kunstgewerbes hinwiesen. Wohl deutlicher als jeder andere Forscher vor ihm hatte der österreichische Kunsthistoriker Alois Riegl die enge Abhängigkeit der Kunststile der Reihengräberzeit von der spätrömischen Kunstindustrie erkannt. Vor allem in seinem posthum erschienenen Werk 108

109

Neben den in Anm. 14 genannten Werken vgl. zusammenfassend J. DE B AYE , L’art des Barbares à la chute de l’empire romain. Anthropologie (Paris) 1, 1890, 385–400. N EUMAYER, Frankreich, 53.

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über das „Kunstgewerbe des Frühmittelalters“ wies er darauf hin, dass von einem antagonistischen Verhältnis zwischen germanischer und romanischer Kunst keine Rede sein könne. Die Romanen hätten das Ende des Römischen Reiches keineswegs von den Germanen aufgezwungen bekommen, dieses habe vielmehr „ihren innersten Wünschen“ entsprochen.110 Zwar sei es unzutreffend, dass das Auseinanderbrechen des Reichs vor allem ein Werk der Romanen gewesen sei, und dass es neben dem „Romanischen gar nichts spezifisch Germanisches“ in dieser Entwicklung gegeben habe; als spezifisch germanische Elemente verwies Riegl jedoch lediglich auf das Recht und die Staatsauffassung der Germanen, nicht aber auf die frühmittelalterliche Kunst:111 Auch die künstlerischen Erzeugnisse der Völkerwanderungszeit waren hauptsächlich das Ergebnis des ästhetischen Wollens der Romanen. Es muß uns von vornherein der größte Zweifel entstehen, ob die Bezeichnung „Barbarenkunst“ für die Kunst dieser Zeit nicht geradewegs falsch ist.112

Zwar bezeichnete Riegl es durchaus als bedeutendes kunstgeschichtliches Problem, spezifisch germanisches Kunstwollen herauszuarbeiten; für die Zeit vor dem späten Mittelalter war er jedoch sehr skeptisch, ob ein solcher Nachweis gelingen könne. Die Naturforscher und Prähistoriker, die sich hauptsächlich bislang mit dieser Frage beschäftigten, hätten naturgemäß keinen Beruf zur Vornahme solcher rein kunstgeschichtlicher Untersuchungen, und daher kommt es hauptsächlich, daß über den Charakter des Völkerwanderungsstils so widersprechende und vielfach grundfalsche Anschauungen laut werden und Glauben finden konnten.113

Im frühen Mittelalter fasse man die Germanen aus kunstgeschichtlicher Sicht im Grund nur dort, wo sie bereits mit Romanen in Verbindung standen, d.h. in den Reichen der Franken, Burgunder, Westgoten und Langobarden; die Funde der rein germanisch gebliebenen Gebiete, etwa der Sachsen, seien in dieser Hinsicht dagegen weitgehend unergiebig.114 Neben dem „germanischen Nebenteil “ habe die Kunstgeschichte vielmehr zwei Strömungen unter den „hauptsächlich von romanischem Kunstwollen zeugenden Denkmälern des Völkerwanderungsstils“ herauszuarbeiten: Die römische und die byzantinische. Seine diesbezüglichen Überlegungen konkretisierte Riegl anhand 110

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A. R IEGL , Die spätrömische Kunstindustrie. II. Teil: Kunstgewerbe des frühen Mittelalters auf Grundlage des nachgelassenen Materials Alois Riegls bearbeitet von E. Heinrich Zimmermann (Wien 1923) 4. R IEGL , Kunstgewerbe (wie Anm. 110) 5. R IEGL , Kunstgewerbe (wie Anm. 110) 6. R IEGL , Kunstgewerbe (wie Anm. 110) 8. R IEGL , Kunstgewerbe (wie Anm. 110) 7.

Das linke Ufer des Rheins

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verschiedener Fallstudien: Bereits im ersten Teil seiner „spätrömischen Kunstindustrie“ hatte Riegl die Herkunft der Kerbschnittornamentik von altgermanischen Holzschnitzarbeiten ebenso zurückgewiesen wie den vermeintlich barbarischen Charakter der Cloisonnéarbeiten; beide Stile gehörten dem spätrömischen Milieu an.115 Im zweiten Teil seines Werkes argumentierte Riegl anhand typologischer Vergleiche nun dafür, dass auch die frühmittelalterlichen Bügelfibeln „aus römischen Fabrikaten“ hervorgegangen seien.116 Die „gotische“ Provenienz der Silberblechfibel bestritt Riegl in diesem Zusammenhang ebenfalls nachdrücklich,117 und nahm somit eine These vorweg, die erst seit wenigen Jahren wieder diskutiert werden sollte.118 Angesichts der ideologischen Vereinnahmung der „Barbarenkunst“ während des Krieges verhallte Riegls Plädoyer für die römischen Wurzeln des frühmittelalterlichen Kunstschaffens in der Nachkriegszeit weitgehend ungehört. In Deutschland bildeten die frühmittelalterlichen Funde vielmehr zunehmend ein wichtiges Element für die Argumentation, dass die Germanen, anders als die westeuropäische Forschung behauptete, keineswegs „Barbaren“ gewesen seien, sondern vielmehr seit alters her über eine besonders hochstehende Kultur verfügt hätten. Im Zuge des Bestrebens, das Germanenbild zu entbarbarisieren, waren die Produkte des frühmittelalterlichen Kunstgewerbes viel zu wertvoll, als dass die Mehrheit der deutschsprachigen Forschung in der Nachkriegszeit bereit gewesen wäre, deren römischen Wurzeln nachzuspüren.

d) Das linke Ufer des Rheins Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs setzten sowohl in Deutschland als auch in Frankreich öffentliche und nichtöffentliche Debatten über die territorialen Ansprüche ein, die nach einem siegreichen Ende des Kriegs erhoben werden sollten. Zwar unterschieden sich die Vorstellungen je nach politischem Lager innerhalb der beiden Länder durchaus beträchtlich; über bestimmte Fragen bildete sich jedoch bald ein Konsens heraus. Während in Deutschland, wie oben bereits erwähnt, im Westen und im Osten bedeutende Annexionen vorgesehen waren und allgemein eine weitreichende 115

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A. R IEGL , Spätrömische Kunstindustrie (2Wien 1927) bes. 312–321; 340 ff. (Erstdruck 1901). R IEGL , Kunstgewerbe (wie Anm. 110) 18 f. R IEGL , Kunstgewerbe (wie Anm. 110) 24–29. B. S ASSE , Die Westgoten in Südfrankreich und Spanien. Zum Problem der archäologischen Identifikation einer wandernden „gens“. Arch. Inf. 20, 1997, 29–48; hier 37 f.

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deutsche Hegemonie angestrebt wurde, kreisten die Debatten auf französischer Seite vielfach um die „Wiedergewinnung“ des linken Rheinufers. Gegenstand der Diskussion war weniger Elsass-Lothringen – die diesbezüglichen Ansprüche waren seit der Niederlage von 1870/71 in der französischen Öffentlichkeit stets wach gehalten worden119 – als um das Saargebiet, die Pfalz sowie den linksrheinischen Teil der preußischen Rheinprovinz.120 Die Planungen der französischen Militärs und Politiker schwankten zwischen verschiedenen Optionen. Diskutiert wurden die Annexion von Teilen oder des gesamten linken Rheinufers, dessen dauerhafte Besetzung oder eine Neutralisierung und Anbindung des Rheinlands an Frankreich.121 Entsprechend gehörte in der französischen Geschichtspropaganda während des Ersten Weltkrieges die Herkunft und nationale Zugehörigkeit der linksrheinischen Bevölkerung zu den am häufigsten behandelten Fragen. In einer Vielzahl von Aufsätzen, Broschüren und Monographien suchten französische Gelehrte die Ansprüche Frankreichs auf das linke Rheinufer zu begründen. Grundsätzlich führte man drei Argumentationen ins Feld, um die französischen Anrechte zu untermauern:122 Zum einen die These, der Rhein sei die „natürliche Grenze“ Frankreichs, ferner strategische und ökonomische Erfordernisse, sowie schließlich ein historisch begründeter Anspruch, der für die hier behandelte Fragestellung von besonderem Interesse ist. Die Wurzeln des Rheinmythos in Frankreich reichen Josef Smets zufolge bis ins späte Mittelalter zurück. In Anlehnung an das Diktum Caesars, der Rhein bilde die Grenze zwischen Gallien und Germanien, äußerten erstmals am Ende des 14. Jahrhunderts einige Publizisten, die dem französischen Königshaus nahe standen, die Ansicht, der Rhein sei die natürliche Grenze zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich.123 Im Laufe der 119

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J. S CHRODA , Der Mythos der ‚provinces perdues‘ in Frankreich. In: M. Einfalt u. a. (Hrsg.), Konstruktion nationaler Identität. Identitäten und Alteritäten 11 (Würzburg 2002) 115–133. W. K ERN , Die Rheintheorie der historisch-politischen Literatur Frankreichs im Ersten Weltkrieg (Diss. Saarbrücken 1973) 1. F. W EIN , Deutschlands Strom – Frankreichs Grenze. Geschichte und Propaganda am Rhein 1919–1930 (Essen 1992) 15 ff. – G.-H. S OUTOU , La France et les Marches de l’Est 1914–1919. Rev. Hist. 260, 1978, 341–388. – D ERS., Die Kriegsziele Frankreichs im Ersten Weltkrieg. In: W. D. Gruner/K. J. Müller (Hrsg.), Über Frankreich nach Europa. Frankreich in Geschichte und Gegenwart (Hamburg 1996) 327–339. K ERN , Rheintheorie (wie Anm. 120) 42. J. S METS, Der Rhein, Deutschlands Strom, aber Frankreichs Grenze. Zur Rheinmythologie in Frankreich und in Deutschland vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Jahrb. Westdt. Landesgesch. 24, 1998, 7–50, hier 9.

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frühen Neuzeit bildete die Erlangung der Rheingrenze eines der handlungsleitenden Motive französischer Außenpolitik.124 Bezeichnenderweise handelte es sich bei der französischen Expansionspolitik Richtung Osten dem bourbonischen Geschichtsverständnis zufolge nicht um Annexionen. Das Ziel der Politik war vielmehr die „Wiedergewinnung“ ursprünglich zu Gallien, d. h. zu Frankreich gehöriger Gebiete. Der Logik des Rheinmythos zufolge handelte es sich in der offiziellen Terminologie der Zeit, die im übrigen auch in Deutschland unwidersprochen übernommen wurde, bei den französischen Erwerbungen des 17. Jahrhunderts um „Wiedervereinigungen“, um „Reunionen“.125 Verwirklicht wurde dieses Ziel schließlich in napoleonischer Zeit, als 1798 das gesamte linke Rheinufer in Form der Départements „Roer“, „Rhin et Moselle“, „Mont Tonnere“ und „Sarre“ in den französischen Staat eingegliedert wurde. Auch nachdem Frankreich durch den Frieden von 1815 gezwungen war, diese Gebiete wieder aufzugeben, verschwand die Vorstellung, seine „wahre Grenze“ liege am Rhein, nicht aus dem kollektiven Gedächtnis Frankreichs. Deutlichster Beleg hierfür war die sogenannte Rheinkrise von 1840, während der in der französischen Presse mit großem Nachdruck die Forderung nach der Rheingrenze erhoben wurde, als Kompensation für eine diplomatische Niederlage Frankreichs im Orient.126 Auf die Bedeutung der Rheinkrise für die Popularisierung des Nationalbewusstseins in Deutschland wurde in Zusammenhang mit dem Aufschwung der vaterländischen Altertumsforschung nach 1840 bereits hingewiesen. Was bis dahin im Grunde eine Facette dynastischer Politik gewesen war, wurde nun zur umstrittenen Frage nationalen Prestiges. Während sich 1813 in Deutschland nur wenige Nationalbewegte von der Losung Ernst Moritz Arndts „Der Rhein, Deutschlands Strom, aber nicht Deutschlands Grenze“ mitreißen ließen, fanden Nikolaus Beckers „Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein“ oder Max Schneckenburgers „Wacht am Rhein“ einen großen und nachhaltigen Wiederhall in der deutschen Bevölkerung. Durch die Entstehung des deutschen Nationalbewusstseins wurde der Rhein endgültig zum symbolbefrachteten Zankapfel zwischen beiden Nationen.127 124 125 126 127

S METS, Rhein (wie Anm. 123) 17; 25 ff. S METS, Rhein (wie Anm. 123) 20. S METS, Rhein (wie Anm. 123) 34 f. Zu diesem Thema existiert eine umfangreiche Literatur, vgl. etwa die Beiträge in den Bänden: H. H. S CHMIDT /F. M ALSCH /F. VAN DE S CHNOOR (Hrsg.), Der Rhein, Le Rhin, De Waal. Ein europäischer Strom in Kunst und Kultur des 20. Jahrhunderts (Köln 1995). – R. W. G ASSEN /B. H OLECZEK (Hrsg.), Mythos Rhein. Ein Fluss – Bild und Bedeutung (Ludwigshafen 1992).

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Innerhalb der Geschichtspropaganda während des Ersten Weltkriegs stand die akademische Forschung an vorderster Front.128 Die Altertumsforschung gab dabei mit den Ton an. Für die hier behandelte Fragestellung sind vor allem drei Gelehrte zu nennen. Der bereits erwähnte Ernest Babelon verfasste neben einer Broschüre zum „linken Rheinufer“, die den vielsagenden Untertitel „die französischen Rückforderungen in der Geschichte“ trug, eine über tausend Seiten umfassende, von nationalistischer Polemik strotzende zweibändige Geschichte des Rheins.129 Auch der Historiker und Archäologe Émile Espérandieu130 verfasste 1915 ein kleines Bändchen über den „französischen Rhein“.131 Der wichtigste Autor in diesem Zusammenhang war jedoch der „Vater der gallischen Geschichte“, der Historiker, Archäologe und Epigraphiker Camille Jullian,132 der unter anderem 1915 eine kleine Monographie mit dem sprechenden Titel „Der gallische Rhein“ publizierte. Die relevanten Publikationen erschienen teils aus Eigeninitiative, teils im Rahmen von Organisationen, die zur Unterstützung der Kriegspropaganda gegründet wurden, etwa dem Comité de la rive gauche du Rhin, dem Babelon angehörte. Ein Sonderfall sind aufgrund ihres offiziösen Charakters die Publikationen des Comité d’étude, das 1917 auf Verlangen des französischen Außenministers Aristide Briand gebildet wurde. In diesem Komitee versammelten sich insgesamt 16 Personen, darunter die angesehensten Historiker und Geographen Frankreichs. Neben Babelon gehörte auch Jullian diesem Arbeitskreis an. Die Aufgabe des Komitees bestand darin, eine Reihe wissenschaftlicher Dossiers zu politischen Fragen vorzubereiten. Diese sollten der französischen Regierung als Grundlage für politische Forderungen dienen, die man bei den Friedensverhandlungen nach Kriegsende vorbringen wollte, vor allem bezüglich Elsass-Lothringens und des Rheinlands. Das 1918 fertiggestellte zweibändige Werk über „Elsass-Lothringen und die nordöstliche Grenze“ wurde zunächst geheim gehalten und erst

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P. S CHÖTTLER, Der Rhein als Konfliktthema zwischen deutschen und französischen Historikern in der Zwischenkriegszeit. 1999 (Zeitschr. f. Sozialgesch. d. 20. u. 21. Jhds.) 2/1994, 46–67. – D ERS., Geschichtsschreibung in einer Trümmerwelt. Reaktionen französischer Historiker auf die deutsche Historiographie während und nach dem Ersten Weltkrieg. In: Ders./P. Veit/M. Werner (Hrsg.), Plurales Deutschland – Allemagne Plurielle. Festschrift für Étienne François (Göttingen 1999) 296–313. E. B ABELON , Le Rhin dans l’histoire. La grande question d’occident. 2 Bde. L’antiquité: Gaulois et germains. Les Francs de l’est: Français et Allemands (Paris 1916/17). Zu Espérandieu vgl. G RAN -A YMERICH , Dictionnaire, 248 f. É. E SPÉRANDIEU , Le Rhin français (Paris o. J [1915]). Zu Jullian vgl. G RAN -A YMERICH , Dictionnaire, 369–371.

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später an öffentliche Bibliotheken verteilt.133 Relevant sind hier vor allem der Beitrag Jullians über die rheinische Bevölkerung in der Antike sowie Christian Pfisters Abhandlung über die Geschicke der Rheinlande von der Völkerwanderungszeit bis zur französischen Revolution.134 Anhand von Babelons Broschüre über das linke Rheinufer lässt sich ein typischer Argumentationsgang in der Rheinpropaganda in konzentrierter Form nachvollziehen. Babelon referierte zunächst eine Reihe nichthistorischer Argumente für die „legitimen Ansprüche“ Frankreichs auf das linksrheinische Rheinland. Dafür sprächen zunächst die naturgeographischen Verhältnisse, die allesamt belegten, dass vom geographischen und natürlichen Standpunkt aus „der Rhein in seinem gesamten Verlauf die Grenze des französischen Raumes, des vollständigen Frankreichs ist.“135 Ferner führte er ökonomische Argumente an. Frankreich müsse sich als Kompensation für erlittene Schäden die reichen Rohstoffvorkommen und Industrieanlangen sichern. Es sei naiv, sie den Deutschen zu überlassen. Darüber hinaus benötige Frankreich den Rhein als Schifffahrtsweg. Schließlich führte Babelon auch strategische Argumente an: Der Besitz oder die Besetzung der Rheinlinie sei nötig, um die Verteidigung und die materielle Sicherheit Frankreichs zu gewährleisten, „so wie es im römischen Gallien der Fall gewesen ist.“ Seinen eigenen Beitrag wollte Babelon jedoch auf historischem Gebiet leisten: „Ich möchte in der Geschichte zeigen, ohne Partei zu nehmen, dass Frankreich traditionelle, verwurzelte, ausschließliche und unantastbare Rechte auf die Rheingegend hat.“ Diese nicht wahrzunehmen, wäre ein Verleugnen der altüberlieferten Solidarität und öffnete gleichzeitig „unserem Erbfeind die Tür unseres Hauses“.136 Die historischen Rechte Frankreichs auf den Rhein reichten nach Babelon bis in keltische Zeit zurück. Die gallischen Völker hätten bis an 133

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J. B ARIÉTY, Die französische Besatzungspolitik im Rheinland nach dem Ersten Weltkrieg. Historisch-politische Mythen und geostrategische Realitäten. In: T. Koops/ M. Vogt (Hrsg.), Das Rheinland in zwei Nachkriegszeiten 1919–1930 und 1945–1949 (Koblenz 1995) 5–18, hier 8. – S CHÖTTLER, Rhein (wie Anm. 128) 49 f. C. J ULLIAN , Les populations rhénanes dans l’antiquité. In: Travaux du Comité d’Etudes, L’Alsace-Lorraine et la frontière du nord-est. Bd. 1 (Paris 1918) 345–354. – C HR . P FISTER, Le sort des pays rhénans depuis les invasions barbares jusqu’à la révolution française. Ebd., 357–372. E. B ABELON , La rive gauche du Rhin. Les revendications françaises dans l’histoire (Paris 1917) 2: „[…] au point de vue géographique et naturel […] le Rhin est, sur tout son parcours, la limité de la région française, de la France intégrale“. B ABELON , Rive gauche (wie Anm. 135) 3: „Je voudrais montrer dans l’histoire, sans parti pris, que la France a, sur la contrée rhénane, des droits traditionnels, invétérés, absolus, imprescriptibles; et que ne pas les faire valoir et les réclamer, c’est déchoir; c’est renier notre solidarité ancestrale; c’est ouvrier la porte de notre maison à l’ennemi héréditaire […]“.

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Abb. 14: Der „französische Rhein “ (nach E SPÉRANDIEU , Rhin [wie Anm. 131] 4.

den Rhein gesiedelt, das „Reich der Gallier“, „l’empire gaulois“, sich bis an den Rhein erstreckt. Alle alten Orts-, Fluss- und Personennamen am linken Rheinufer seien von der gallischen Sprache abzuleiten.137

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B ABELON , Rive gauche (wie Anm. 135) 4 f.

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Für Babelon trennte die Gallier von den Germanen mehr als nur der Rhein. Während es sich bei den einen um eine sesshafte Bevölkerung gehandelt habe, die über alle Merkmale einer geordneten Gesellschaft verfügte – Städte, Marktorte, Bauernhöfe, eine soziale Hierarchie, Heere, regelmäßige Abgaben, Kunst, Schriftlichkeit, öffentliche Kulte und Münzgebrauch –, sei bei den umherstreifenden germanischen Stämmen auf der anderen Rheinseite während der gesamten Antike nichts dergleichen vorhanden gewesen: „keine Städte, keine Staaten, keine Zivilisation“. Vom Reichtum Galliens angezogen, kamen die Barbaren über den Rhein, „um ihren Hunger, ihren Trieb zum Rauben und Plündern, ihre Kriegslust zu stillen“. Es bedurfte längerer Zeit und strikter Disziplin, jene Barbaren, die in Gallien angesiedelt wurden, sesshaft zu machen, „zu gallifizieren und zu romanisieren“. Man benutzte sie für die niedrigen Tätigkeiten der Sklaven, man beschäftigte sie im Ackerbau zum Roden der Wälder und zum Hüten der Herden; man gliederte sie als Hilfstruppen in die Heere ein, die ihre germanischen Brüder bekämpften: Das ist ihre ganze Geschichte in der Antike.138

Während fünf Jahrhunderten hätten es die „gallorömischen [sic] Legionen“ vermocht, die andauernden barbarischen Invasionen aufzuhalten, bis sich eines unglücklichen Tages die „zerstörerische Flut der großen germanischen Invasionen des 5. Jahrhunderts“ über Gallien ergoss. In dieser Situation trug nun die Romanisierung und Gallifizierung der angesiedelten Barbaren Früchte, denn diese übernahmen die historische Mission der Rettung Frankreichs: Nachdem das Römische Reich vom Sturm hinweggefegt wurde, nehmen nunmehr die Franken, immer noch am Rhein, den Schutz und die Verteidigung der gallorömischen Zivilisation in die Hand. Es ist das fränkische Austrasien, das heißt, Rheinfranken, das den Barbaren den Weg verstellt. Chlodwig, ein Wahl-Gallorömer, ist jener fränkische Befehlshaber, der sich, wie zuvor die Kaiser, gegen das Germanentum und die Barbarei von jenseits des Rheins erhebt. Chlodwig und seine Franken, durch die Taufe romanisiert und christianisiert und leidenschaftlich unterstützt von der gallorömischen Bevölkerung und dem katholischen Klerus, erreicht es, über ganz Gallien zu regieren.139

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B ABELON , Rive gauche (wie Anm. 135) 6: „On les utilise dans les bas métiers de l’esclavage, on les emploie à la culture et au défrichement des forêts, à la garde des troupeaux; on les incorpore comme auxiliaires dans les armées qui combattent leurs frères de Germanie: voilà toute leur histoire dans l’antiquité.“ B ABELON , Rive gauche (wie Anm. 135) 8: „L’empire romain, emporté par la tourmente, ce sont désormais les Francs qui, sur le Rhin toujours, prennent en main la protection et la défense de la civilisation gallo-romaine. C’est l’Austrasie franque, c’est-à-dire la France rhénane, qui barre le chemin aux Barbares. Clovis est le chef franc, gallo-romain d’adoption, qui se dresse, comme autrefois les Empereurs, contre le germanisme et la barbarie d’outre-Rhin. Clovis et ses Francs, romanisés et christia-

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Durch das Argument der „Adoption“ nahm Babelon nicht allein Chlodwig für die gallorömische Tradition in Anspruch. Gleiches galt für Karl den Großen und die austrasischen Franken insgesamt. Charlemagne sei, anders als die deutschen „Pangermanisten“ behaupteten, kein deutscher, sondern ein austrasischer Franke. Für ihn gelte ebenso: Er ist „ein Franke, aber kein Teutone“ wie für die mittelalterliche Heldenepik gilt: Sie ist „ihrem Wesen nach fränkisch, austrasisch, französisch“, nicht aber „germanisch“.140 Überhaupt hätten die austrasischen Franken ausschließlich feindliche Beziehungen zu den rechtsrheinischen Barbaren, wie Sachsen, Alemannen und Thüringern, unterhalten. „Die Franken, das sind wir, gewiss, nicht die Deutschen! “141 Insgesamt betrachtete Babelon die Geschichte am Rhein als einen andauernden Kampf der Zivilisation gallorömischen Ursprungs gegen die „ewige Gefahr: die germanische Invasion“.142 Dies sei in der Gegenwart nicht anders als zu Caesars Zeiten: Es ist immer die Flut der drohenden und um sich greifenden Barbarei, es ist immer die gleiche Gefahr, die gleiche Schlacht, verlagert sich nun der Schauplatz ins Elsass, in die Ardennen, auf die katalaunischen Felder oder an die Somme.143

Am Schluss seines Pamphlets stellte Babelon schließlich diesen andauernden Kampf in den metahistorischen Kontext der hier behandelten Problematik, wobei die Stilisierung Frankreichs zur Grenzbastion der Latinität ein gängiges Motiv in der einschlägigen Literatur war:144 […] in diesem ungeheuren Kampf […] des Romanentums gegen das Germanentum ist es am Rhein, wo Frankreich zur Wacht gerufen werden muss, als Ehrenwache der lateinischen Kultur und der Zivilisation, der Freiheit der Völker gegen die pangermanische Unterdrückung.145

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nisés par le baptême, ardemment secondés par la population gallo-romaine et le clergé catholique, parvient à régner sur la Gaule entière.“ B ABELON , Rive gauche (wie Anm. 135) 9 f. B ABELON , Rive gauche (wie Anm. 135) 13f: „Les Francs, c’est nous, certes, ce ne sont par les Allemands!“ B ABELON , Rive gauche (wie Anm. 135) 31. B ABELON , Rive gauche (wie Anm. 135) 7: „[…] c’est toujours le flot de la barbarie menaçante et envahissante, c’est toujours le même danger, le même combat, que le théâtre en soit reporté en Alsace, dans les Ardennes, dans les champs catalauniques ou sur la Somme.“ K ERN , Rheintheorie (wie Anm. 120) 113. B ABELON , Rive gauche (wie Anm. 135) 39: „[…] dans cette formidable lutte […] du Romanisme contre le Germanisme, c’est sur le Rhin que la France doit être appelée à veiller, comme la garde d’honneur de la culture latine et de la civilisation, de la liberté des peuples contre l’oppression pangermaniste.“

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In der Einleitung seines Rheinwerks formulierte Babelon diesen Gedanken noch deutlicher: Heute, wie alle Jahrhunderte der Geschichte hindurch, erleben wir jenen Kampf zweier gegensätzlicher Elemente, zweier Prinzipien der Zivilisation, die noch nie in Übereinstimmung miteinander gebracht werden konnten, des Romanentums und des Germanentums, oder, genauer gesagt, weil uns naheliegender, des Teutonentums; das eine, geformt durch die griechisch-römische Kultur, durch die die westlichen Völker bis ins Mark geprägt sind, das andere, hervorgegangen aus den germanischen Wäldern, und auf dem die griechisch-lateinische Kultur immer ein oberflächlicher Firnis geblieben ist, ein Luxus Belesener und pedantischer Gelehrter. Die geographische Grenze zwischen diesen beiden Zivilisationen ist der Rhein, heute wie in der Antike.146

Babelons Argumentation weist eine Besonderheit auf, die typisch ist für die französische Geschichtskonstruktion und die sie nicht unbeträchtlich von ähnlichen Konstruktionen auf deutscher Seite unterscheidet. In anderem Zusammenhang wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Nationenbegriff in der französischen Tradition im Gegensatz zu Deutschland eher territorial als ethnisch aufgefasst wurde.147 Am Anfang der französischen Geschichte standen weniger die Gallier als Volk denn Gallien als geographische Einheit. Ihren Höhepunkt fand die Rückführung der französischen Nation auf die Einheit der gallischen Nation seit dem Altertum in Camille Jullians monumentaler Geschichte Galliens, die dieser bereits vor dem Ersten Weltkrieg begann.148 Während heute das Bild Frankreichs als „Hexagon“ häufig als territoriale Bezugsgröße angeführt wird,149 konstruierte Jullian eine Kontinuität des caesarischen Galliens von der keltischen Urzeit über die römische Epoche und das Mittelalter hinweg bis in die Gegenwart. Über diese gesamte Zeitspanne hinweg erzeugte und bewahrte die geographische Einheit „Gallien“ einen gallischen Nationalsinn, der allen politischen Wechselfällen zum Trotz bis in die Moderne überdauerte:

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B ABELON , Rhin, Bd. 1 (wie Anm. 129) VII: „Aujourd’hui, comme à travers tous les siècles de l’histoire, nous assistons à cette lutte de deux éléments contraires, de deux principes de civilisation qui n’ont jamais pu s’accorder, le Romanisme et le Germanisme ou, plus exactement, parce que plus près de nous, le Teutonisme. L’un, formé de culture gréco-latine dont les peuples occidentaux sont imprégnés jusqu’à la moelle, l’autre, engendré par la forêt germaine et sur lequel la culture gréco-latine est toujours demeurée un vernis superficiel, un luxe de lettrés de d’érudits pédants. La limite géographique de ces deux types de civilisation, c’est le Rhin, aujourd’hui comme dans l’antiquité.“ Kap. 4a. C. J ULLIAN , Histoire de la Gaule. 8 Bde (Paris 1907–1926). Vgl. W ERNER, Ursprünge, 57 ff.

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Der römische Senat zerschlug Gallien: Die Kaiser mussten seine Einheit anerkennen. Die Barbaren teilten es unter sich auf, die Franken stellten es wieder her. Durch das Feudalsystem gewann das Leben in den Provinzen Oberhand über das nationale Dasein: Die Natur ist stärker, und Frankreich stellt sich dort wieder her, wo Gallien gewesen war. Dank des Bodens existierte über Jahrtausende hinweg unter verschiedenen Namen – gallisch, römisch, fränkisch, französisch – der unzerstörbare Keim eines nationalen Geistes.150

In zwei Punkten kollidierte dieses Geschichtsbild mit der in Deutschland geläufigen nationalen Geschichtskonstruktion: Dem gallischen Charakter des römischen Rheinlands einerseits sowie andererseits der Kontinuität der gallorömischen Nation von der Antike ins Mittelalter. Unter deutschsprachigen Archäologen herrschte dagegen, wie oben gezeigt wurde, bereits in der Vorkriegszeit die Ansicht vor, die Provinzen am Rhein seien die römische Zeit hindurch weitgehend germanisch geprägt gewesen. Demgegenüber vertraten französische Gelehrte nun die Auffassung, das Rheinland habe auch unter römischer Herrschaft seine gallische bzw. gallorömische Prägung unbeschadet bewahrt. Zur Untermauerung dieser Sichtweise bemühte man auch die Archäologie. In der französischen Rheinpropaganda spielte die keltische Kontinuitätstheorie eine nicht unbeträchtliche Rolle. Ihren Höhepunkt fand sie in der Zeitung „Le Rhin français – Journal panceltique“, die 1917 für einige Zeit von der sogenannten „Ligue panceltique“ herausgegeben wurde.151 Camille Jullian widmete seinen bereits erwähnten Aufsatz zur rheinischen Bevölkerung in der Antike, der von der französischen Regierung als Grundlage für spätere Friedensverhandlungen angefordert worden war, fast ausschließlich dem Nachweis, dass in der Antike links des Rheins keine nennenswerte germanische Bevölkerung ansässig gewesen sei. Dies galt sowohl für die Germani cisrhenani als auch für jene Gruppen, die unter römischer Regie auf dem linken Rheinufer angesiedelt wurden.152 Anders als die antiken Quellen überlieferten, seien die Treverer ein keltischer Stamm gewesen, wie deutsche Gelehrte hätten nachweisen können, die diese Frage ohne Hintergedanken studierten. Die Eburonen und Tungrer dagegen 150

151 152

C. J ULLIAN , L’ancienneté de l’idée de nation. Rev. Bleue 51/1, 1913, 99–103, hier 102: „Le sénat romain a brisé la Gaule: les empereurs doivent reconnaître son unité. Les Barbares l’ont partagée entre eux: les Francs la reconstituent. Le régime féodal a fait prévaloir, sur la vie nationale, la vie provinciale: la nature est la plus forte, et la France se reforme là où était la Gaule. Grâce à la terre, à travers des milliers d’années, il a existé sous des noms différents, gaulois, romain, franc et français, le germe indestructible d’un génie national.“ K ERN , Rheintheorie (wie Anm. 120) 84. Vgl. dazu H. R EICHERT , s.v. Linksrheinische Germanen. In: RGA2, Bd. 18 (Berlin, New York 2001) 483–494.

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stammten zwar tatsächlich von den linksrheinischen Barbaren ab; allerdings hätten sie ihr Ursprungsland sehr schnell vergessen.153 Die wiederholte Ansiedlung weiterer Germanengruppen auf dem linken Rheinufer während der Kaiserzeit führte ebenfalls zu keiner Germanisierung des Rheinlandes. Die linksrheinischen Germanenstämme, wie die Triboker im Unterelsass, waren wenig zahlreich. Die keltische Besiedlung sei dagegen in der Gegend von Saverne sehr dicht gewesen, wie zahlreiche Siedlungen und Gräberfelder belegten. Aus diesem Grund hätten die Triboker nur eine kleine Minderheit gestellt unter einer Mehrheit der indigenen Bevölkerung, die keltisch geblieben sei. Die germanischen Stämme gaben überdies ihre ursprüngliche Sprache und ihre Gebräuche auf und übernahmen die Dialekte und Gewohnheiten Galliens oder Roms. Wo sie also nicht romanisiert wurden, seien sie zu Kelten geworden.154 Insgesamt kam Jullian zum Ergebnis, dass das germanische Element auf der linken Rheinseite in römischer Zeit rasch bedeutungslos geworden sei: „Eine Zone zivilisierteren Lebens auf dem linken Ufer des Rheins trennte den Rest Galliens von Germanien, das noch immer vollkommen barbarisch war.“155 Noch deutlicher als Jullian rekurrierte Babelon auf die Archäologie als Kronzeugin für den keltischen Charakter der römischen Rheinlande: Nicht nur alle alten Überlieferungen bestätigen uns dies, sondern auch die archäologischen Reste in den Museen der rheinischen Städte bezeugen es. Die Deutschen haben zwar über die Portale ihrer umfangreichen Antikenmuseen in Mainz oder in Bonn die Worte Museum germanicum graviert: Sie enthalten jedoch kein einziges Objekt, das germanisch wäre. Alles, absolut alles in ihnen ist gallisch oder gallorömisch; zu dieser Feststellung führen alle archäologischen Grabungen, alle Forschungen der Gelehrten in den Rheinlanden, sogar die deutschen Gelehrten waren sehr zu ihrer Enttäuschung gezwungen, dies anzuerkennen.156

Während sich Babelon in der ausführlichen Fassung seiner Rheinthesen als Beleg für den keltischen Charakter der Rheinlande auf die Archäologie be153 154 155

156

J ULLIAN , Populations rhénanes (wie Anm. 134) 346 f. J ULLIAN , Populations rhénanes (wie Anm. 134) 351. J ULLIAN , Populations rhénanes (wie Anm. 134) 353: „Une zone de vie plus civilisée, sur la rive gauche du Rhin, séparait le reste de la Gaule de la Germanie encore plus toute barbare“. B ABELON , Rive gauche (wie Anm. 135) 5: „Non seulement tous les témoignages anciens nous l’affirment, mais les débris archéologiques qui sont dans les musées des villes rhénanes l’attestent. Les Allemands ont beau graver au frontispice de leurs vastes musées antiques de Mayence ou de Bonn les mots Museum germanicum: ils ne renferment pas un seul objet qui soit germanique. Tout, absolument tout, y est gaulois ou gallo-romain: c’est à cette constatation qu’aboutissent toutes les fouilles archéologiques du pays rhénan, toutes les recherches des érudits, même des érudits allemands qui, à leur grande déception, ont été forcés de le reconnaître“.

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rief,157 ignorierte er bei seinen Ausführungen zur fränkischen Epoche die archäologischen Quellen. Dieser Umstand dürfte aus der Struktur des archäologischen Befundes zu erklären sein. Auch mit einigem Willen konnten die frühmittelalterlichen Grabfunde kaum zur Untermauerung der These herangezogen werden, dass die fränkischen Invasoren schnell und nachhaltig assimiliert worden seien. Als Nachweis einer tiefgreifenden Animosität zwischen den austrasischen Franken und den rechtsrheinischen Germanenstämmen eignen sie sich ebenso wenig. Grundsätzlich bereitete die Merowinger- und die Karolingerzeit den Vertretern der gallischen Kontinuitätstheorie die größten Probleme. Wie Babelon plädierten zwar noch weitere Autoren für einen hervorgehobenen Platz Austrasiens in der französischen Geschichte,158 allen voran Maurice Barrès, die Schlüsselfigur des neueren französischen Nationalismus,159 zu dem Babelon während der Abfassung seiner Rheinbände in engem Austausch gestanden hatte.160 Zahlreiche andere Autoren zogen es dagegen vor, die Merowinger- und Karolingerzeit weitgehend auszuklammern und den Faden der französischen Nationalgeschichte nach der römischen Epoche erst wieder mit den Kapetingern aufzunehmen.161 Falls sie nicht gänzlich unterschlagen wurde, handelte man die Ansiedlung germanischer Gruppen in Gallien während der Völkerwanderungszeit meist kurz ab. Camille Jullian widmete ihr in seinem Bericht für die französische Regierung lediglich die drei Schlusssätze seines Textes. Sein Kollege Christian Pfister, dessen Ausführungen wesentlich nüchterner waren als die Jullians, besprach sie dagegen knapp am Anfang seines Berichtes. Im Wesentlichen referierte Pfister die These Kurths, der zufolge die Sprachgrenze das Ergebnis der Völkerwanderungszeit gewesen sei: In kompakten Massen hätten sich die Germanen zwischen Rhein und der Sprachgrenze niedergelassen, auf diese Weise ihre Sprache ausgebreitet und den Orten germanische Namen gegeben.162 Babelon löste diesen Punkt, indem er zu bedenken gab, dass die Frage der Sprache eine „delikate Sache“ sei. In bester Tradition des Nationsbegriffs Renans wandte er sich gegen die Ansicht, dass „Sprache“ mit „Nation“ oder „Rasse“ gleichgesetzt werden könne.163 Diese Auffassung hin157 158 159

160 161 162 163

Vgl. z. B. B ABELON , Rhin, Bd. 1 (wie Anm. 129) 360–365. K ERN , Rheintheorie (wie Anm. 120) 128 ff. F. C ARON , Frankreich im Zeitalter des Imperialismus 1851–1918. Geschichte Frankreichs 5 (Stuttgart 1991) 436–440. K ERN , Rheintheorie (wie Anm. 120) 56. K ERN , Rheintheorie (wie Anm. 120) 51 ff. P FISTER, Pays rhénans (wie Anm. 134) 357. B ABELON , Rhin, Bd. 1 (wie Anm. 129) 294.

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derte ihn jedoch nicht, im unmittelbar folgenden Kapitel umfangreiche Belege keltischer Ortsnamen als Nachweis keltischer Besiedlung zusammenzustellen. Die französische Rheinpropaganda endete nicht mit dem Waffenstillstand im November 1918. Durch den Versailler Vertrag wurde bekanntlich nicht nur das Elsass und Lothringen wieder zu einem Teil Frankreichs, auch das Saarland löste man zunächst für 15 Jahre von Deutschland. Die ehrgeizigen Ziele bezüglich des Rheinlands und der Pfalz ließen sich dagegen gegenüber den anderen Siegermächten nur begrenzt durchsetzen, weshalb die französische Regierung sich mit der Entmilitarisierung und einer auf 15 Jahre befristeten Besetzung des linken Rheinufers zufrieden geben musste.164 Die französische Regierung sah sich jedoch nicht veranlasst, damit die Ambitionen auf das Rheinland endgültig zurückzustellen. Stattdessen suchte sie den Besatzungsstatus in ihrem Sinne zu nutzen. Zwei Wege wurden dabei beschritten: Zum einen protegierten die französischen Behörden tatkräftig rheinische Separatisten, andererseits bauten sie einen Propagandaapparat auf, der in zahlreichen Presse- und Informationsorganen die Bevölkerung des Rheinlandes – auch unter Rückgriff auf historische Argumente – enger an Frankreich anbinden sollte.165 Die Besatzungsmacht hing dabei lange Zeit der illusionären Vorstellung an, die rheinische Bevölkerung sei, anders als das übrige, preußisch geprägte Deutschland, Frankreich gegenüber positiv eingestellt und habe insbesondere Napoleon und die Besatzungszeit während der Französischen Revolution stets in guter Erinnerung behalten.166 Zielpublikum der historischen Propaganda war jedoch nicht allein die Bevölkerung des Rheinlandes. Auch die Angehörigen der Besatzungstruppen wurden über die historische Dimension ihrer Mission orientiert, um so ihr labiles Selbstverständnis als Besatzungsmacht zu stärken.167 Die Argumentationsweise der historischen Propaganda zielte darauf ab, den Nachweis zu erbringen, dass die Bevölkerung des Rheinlands durch eine prägende gemeinsame Vergangenheit mit Frankreich und der westlichen Zivilisation eng verbunden sei. Vor allem zum Nachweis der vermeintlichen gallorömischen Herkunft der rheinischen Bevölkerung war die Archäologie von Belang. Zum typischen Arsenal der historischen Propaganda gehörte das Bild, die Rheinländer seien im Grunde Romanen, die von jeher in die abendländische Kultur164 165 166 167

W EIN , Strom (wie Anm. 121) 30. W EIN , Strom (wie Anm. 121) bes. 33–39. W EIN , Strom (wie Anm. 121) 42 ff. W EIN , Strom (wie Anm. 121) 39.

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gemeinschaft integriert waren, während sie mit den barbarischen Germanen bzw. germanisierten Slawen jenseits des Rheins nichts gemein hätten. Diese Argumentationsweise zielte vor allem gegen Preußen und auf die im Rheinland durchaus vorhandenen antipreußischen Ressentiments. Die zivilisierten Rheinländer und Romanen wurden somit zur positiven Antithese der barbarischen „Preußen“ bzw. „Slawen“ stilisiert.168 Bei der Propagierung dieses Geschichtsbildes spielte die archäologische Forschung nur eine untergeordnete Rolle. Möglicherweise stand eine dreimonatige Reise Émile Espérandieus Ende 1919 und Anfang 1920 in die Museen des Rheinlandes in Zusammenhang mit der Rheinpolitik. In dieser Zeit sammelte Espérandieu Material für einen weiteren Band seines großen Sammelwerks römischer Statuen und Reliefs, der bereits 1922 erscheinen konnte.169 Dem 1914 erschienenen Band hatte Koepp noch eine euphorische Rezension gewidmet, in der er seiner Hoffnung Ausdruck gab, die Archäologie werde nach dem Krieg dazu beitragen können, die durch den Krieg abgerissenen Verbindungen neu zu knüpfen. In seiner Rezension zu dem 1918 erschienenen 8. Band über die Denkmäler der germanischen Provinzen ist dagegen nicht zu übersehen, dass Espérandieus Engagement in der französischen Rheinpolitik seinen deutschen Kollegen nicht entgangen war. Zwar fehlt ein direkter Hinweis, jedoch kritisierte Koepp den Ausdruck „Gaule germanique“, den Espérandieu als Bezeichnung für die germanischen Provinzen verwendete. Dagegen hieß Koepp die Absicht Espérandieus ausdrücklich gut, seine Sammlung über den Rhein hinweg auf rechtsrheinisches Gebiet ausdehnen zu wollen, da die Denkmäler des linken Rheinufers ebenso wenig als gallisch gelten könnten, wie die des rechten Ufers. Ungeachtet dieser politischen Bedenken empfahl Koepp den Leitern der deutschen Museen weiterhin mit Espérandieu zu kooperieren, wenn dieser Material für ein weiteres Werk über die römischen Denkmäler auf deutschem Boden benötige.170 Tatsächlich entspannte sich die Situation zwischen Espérandieu und seinen westdeutschen Kollegen bald; Anfang der 1930er Jahre wurde er schließlich ordentliches Mitglied des DAI.171

168 169

170

171

W EIN , Strom (wie Anm. 121) 64 f. É. E SPÉRANDIEU , Recueil général des bas-reliefs, statues et bustes de la Gaule Romaine. Bd. 8, 2. Gaule Germanique (Paris 1922) bes. V–VII. F. K OEPP, Rez. É. Espérandieu, Recueil général des bas-reliefs, statues et bustes de la Gaule Romaine. Germania 4, 1920, 91–94, hier 92. – Vgl. V. S CHNURBEIN , Entwicklung RGK, 159. V. S CHNURBEIN , Entwicklung RGK, 160 f.

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Während bei Espérandieus Reise durch die rheinischen Museen ein Zusammenhang mit der französischen Rheinpolitik bislang nur zu vermuten ist, sind die Indizien bei den Tagungen der Société française d’archéologie deutlicher. Zu nennen ist vor allem der 85. nationale französische Archäologiekongress, der 1922 im Rheinland abgehalten wurde. Bereits die Eröffnungsansprachen, die bei dem 1920 in Metz, Straßburg und Colmar veranstalteten 83. Kongress gehalten wurden, standen deutlich unter dem Eindruck des Krieges.172 So warf etwa in Straßburg der Vorsitzende der gastgebenden Société des Monuments historiques d’Alsace, Anselme Laugel, den deutschen Gelehrten vor, ihre Wissenschaft zu einer „ fügsamen Sklavin“ gemacht zu haben, „dazu verdammt, die egoistischen und brutalen Doktrinen des Pangermanismus zu vertreten“.173 Das Elsass sei dagegen reich an Zeugnissen, die belegten, dass es seit den weit zurückliegenden Zeiten, als sich die keltischen Stämme an den Ufern des Rheins niederließen, und sogar darüber hinaus, unser Land den Lehren des Westens folgte. Seit jener Epoche, als unsere Vorfahren die berühmte Befestigung auf dem Odilienberg errichteten […], ist der westliche Einfluss deutlich zu spüren. […] Auf diese Weise wurde die Archäologie, die für viele eine Wissenschaft von rein rückwärtsgewandtem Interesse ist, für uns zu einer Wissenschaft von größter Aktualität, denn sie bestärkte uns in unserem Hass auf den Deutschen. Wenn wir von Gallien sprachen, dachten wir an Frankreich […].174

Der nationale französische Archäologiekongress des Jahres 1922 fand schließlich auf Einladung des Leiters der französischen Besatzungsbehörden, Paul Tirard, im besetzten Rheinland statt. Gemeinsam besuchten die Kongressteilnehmer unter anderem Trier, Andernach, Mainz, Speyer, Worms, Bonn, Köln und Aachen. Da im besetzten Gebiet die üblichen Empfänge durch die gastgebenden archäologischen und historischen Gesellschaften bzw. durch die lokalen politischen Größen entfielen, bildete der Empfang in Tirards Dienstsitz in Koblenz den Höhepunkt des Kon-

172

173 174

S CHNITZLER, Alsace, 205–207. – Vgl. Congrès archéologique de France. 83e session tenue à Metz, Strasbourg et Colmar en 1920 (Paris 1922) 501–525. Congrès 1920 (wie Anm. 172) 509. Congrès 1920 (wie Anm. 172) 510f: „Partout, sur cette vieille terre d’Alsace, abondent les témoignages qui nous prouvent que, depuis les temps lointains où les tribus celtiques étaient établies sur les bords du Rhin, et même au delà, notre pays était docile aux leçons de l’Occident. Depuis l’époque où nos ancêtres construisaient la célèbre enceinte de Sainte-Odile […] l’influence occidentale se fait nettement sentir. […] C’est ainsi, encore, que l’archéologie qui, pour beaucoup, est une science d’un intérêt purement rétrospectif, était devenue pour nous une science toute d’actualité, parce qu’elle nous fortifiait dans notre haine de l’Allemand. En parlant de la Gaule, c’est à la France que nous pensions […]“.

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Frühmittelalterarchäologie und Propaganda: Der Erste Weltkrieg

gresses. Neben Tirard als Haut Commissaire de la Republique Française war auch ein Vertreter Belgiens zugegen. Als erster ergriff Ernest Babelon das Wort und fasste gegenüber Tirard die Absicht der Kongressteilnehmer zusammen: Wir sind hierher gekommen, um unter ihrem Schutz die Denkmäler der schönen Rheinlande zu studieren, zu untersuchen und zu bewundern, in denen sich auf jedem Schritt, in der lokalen Erinnerung, die Geschicke der vergangenen Epochen mit jenen unseres alten Galliens oder Frankreichs vermischen, gehen sie nun auf früheste Zeiten zurück oder seien sie von gestern.175

Der Vertreter der belgischen Behörden, Paul Saintenoy, erinnerte dagegen an die Siege der französischen und belgischen Truppen, denen man verdanke, nun an den Ufern des Rheins tagen zu können. Des Weiteren führte er aus, dass die Kultur des Rheinlandes von besonderer Wichtigkeit für die nationale Geschichte sei. Es handele sich um ein „Zwischenland“, eine „contrée intermédiaire“, das sowohl Grenzgebiet Frankreichs als auch Deutschlands sei, und das manchmal der einen, manchmal der anderen Kultur angehört habe. In allen Denkmälern des Rheinlandes erkenne man den Anteil jener zwei Rassen, die an den Rhein angrenzten.176 Paul Tirard, dem während des Kongresses die Große Ehrenmedaille der Société Française d’archéologie verliehen wurde,177 erläuterte in seiner Replik zunächst die kulturpolitische Funktion der Besatzungsbehörden. In ihren Zonen hätten die französischen und belgischen Behörden Bildungseinrichtungen geschaffen, „wahre Leuchten des lateinischen Glanzes“. In diesem Zusammenhang verwahrte er sich gegen den Vorwurf, dass damit politische Hintergedanken verfolgt würden, wie von der anderen Seite des Rheins unterstellt werde. Frankreich habe im Verlauf seiner Geschichte viele Völker befreit, sogar jenseits des Ozeans, sie jedoch niemals unterjocht. In erstaunlicher Deutlichkeit formulierte Tirard daraufhin die von seiner Behörde verfolgten kulturpolitischen Absichten: Wir beabsichtigen wohl – und dies ist, so glaube ich, legitim, und muss öffentlich gesagt werden –, rechtschaffen die ethnischen und geologischen Affinitäten zu pflegen,

175

176 177

Réception des membres du congrès par M. le Haut commissaire de la Republique française a Coblence et séance solennelle, le 9. Juin. In: Congrès archéologique de France. 85e session tenue en Rhénanie en 1922 (Paris 1924) 560–568, hier 561: „Nous venons, sous votre égide, étudier, vérifier et admirer les monuments de ces beaux pays rhénans où à chaque pas, aux souvenirs locaux, qu’ils remontent aux âges les plus lointains, ou qu’ils soient d’hier, se mêlent les épisodes des annales de notre vieille Gaule ou de la France.“ Congrès 1922 (wie Anm. 175) 562. Congrès 1922 (wie Anm. 175) 566.

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die Herr Babelon auf so vortreffliche Weise angedeutet hat. Es ist normal, dass Frankreich ebenso wie Belgien wünscht, im Vorfeld seiner Grenzen eine befriedete Zone zu errichten, die weitere Angriffe verhindert.178

Welche Rolle die Archäologie über diesen Kongress hinaus innerhalb der französischen Besatzungspolitik spielte, bedürfte einer gesonderten Untersuchung. Abgesehen von dem 1927 erschienenen Werk des Saarburger Museumsleiters Jean Colin über das römische Rheinland, das in der Reihe „Cahiers Rhénans“ erschien, die unter Schirmherrschaft des „Haut Commissariats“ herausgegeben wurde,179 ist vor allem die Abhandlung Albert Greniers über „vier römische Städte des Rheinlands“ zu nennen, die unmittelbar aus dem Rheinlandkongress von 1922 hervorging. Grenier, der seit 1919 den neu geschaffenen Lehrstuhl für „Antiquités nationales et rhénanes“ an der Universität Straßburg inne hatte,180 übernahm bei den Besichtigungen der römischen Denkmäler im Rheinland teilweise die Führungen. In seiner Ansprache bei Tirard berichtete Babelon, Grenier habe den Kongressteilnehmern gezeigt, wie reich und wohlhabend das Rheinland unter dem Schutz der römischen Legionen gewesen sei. Durch seine Kultur, seine Religion und seine Sprache sei es mit Gallien verbunden gewesen.181 Diesen Gedanken brachte Grenier im Vorwort seines 1925 erschienenen Buchs über die römischen Städte im Rheinland noch einmal zum Ausdruck, in dem er in überarbeiteter Form die Referate vorlegte, die er beim Kongress im Rheinland gehalten hatte. Die römischen Denkmäler von Mainz, Trier, Köln und Bonn, im „fremden, nicht aber im feindlichen Land “ gelegen, sprächen „lateinisch zu uns“. Sie gäben eine Vorstellung von der antiken Geschichte einer Provinz, in die der römische Friede Wohlstand gebrachte habe, welcher jedoch von der Barbarei vernichtet worden sei. Am Ende der Einleitung seines Werkes über die römischen Metropolen des Rheinlandes wiederholte Grenier schließlich die Aussage der historischen Propaganda der französischen Behörden zur rheinischen Frühgeschichte: „Die römischen Überreste sind ein gemeinsames Erbe von uns und den Rheinländern“.182 178

179 180 181 182

Congrès 1922 (wie Anm. 175) 565: „Nous entendons bien, et ceci est, je crois, légitime, et doit être dit publiquement, cultiver loyalement des affinités ethniques et géologiques auxquelles M. Babelon a fait allusion en des termes si heureux. Il est normal que la France, comme la Belgique, désire faire sur les marches de ses frontières une zone pacifique qui nous prévienne contre des assauts ultérieurs.“ J. C OLIN , Les antiquités romaines de la Rhénanie. Les cahiers rhénans 6 (Paris 1927). S CHNITZLER, Alsace, 195. Congrès 1922 (wie Anm. 175) 562. A. G RENIER, Quatre villes romaines de Rhénanie. Trèves – Mayence – Bonn – Cologne (Paris 1925) 7–10, Zitat 10: „Les souveniers romains sont un patrimonie commun aux Rhénans et à nous.“

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Frühmittelalterarchäologie und Propaganda: Der Erste Weltkrieg

Die Wirkung der französischen Geschichtspropaganda dürfte insgesamt recht begrenzt gewesen sein. Die rheinischen Archäologen ließen sich kaum davon erweichen. Selbst die provinzialrömischen Fachkollegen zogen es vor, auf dem germanisch-deutschen Standpunkt zu beharren. Sie setzten mitunter die französische Besetzung mit der römischen Fremdherrschaft gleich, wie eine Begebenheit aus dem Frühjahr 1920 illustriert: Die französische Armee stationierte vorübergehend eine Feldwache marokkanischer Soldaten auf dem Saalburgpass. Obwohl das Verhalten der Soldaten zu keiner Klage Anlass bot und überdies viele Franzosen das Saalburg-Museum besuchten, notierte der Leiter des Museums, Heinrich Jacobi, nach ihrem Abzug: „Es war das zweite und hoffentlich das letzte Mal, daß Romanen mit ihren orientalischen Hilfstruppen den Saalburgpaß besetzt hielten! “183

183

H. J ACOBI , Chronik der Saalburg von 1914–1924. Saalburg-Jahrb. 6, 1914–1924, 1–21, hier 12.

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11. Volkstum als Paradigma: Der Aufbruch der deutschsprachigen Frühmittelalterarchäologie nach dem Ersten Weltkrieg In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen änderte sich der Stellenwert der frühmittelalterlichen Gräberarchäologie in Deutschland grundlegend. Während dieser Zweig der Ur- und Frühgeschichte vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs eher am Rande des Forschungsinteresses angesiedelt war, entwickelte er sich in der Zwischenkriegszeit zunehmend zu einem Schwerpunkt der Forschung. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich sein Aufstieg zu einer Paradedisziplin der deutschen Ur- und Frühgeschichte nahtlos fort. Sukzessive erlangte die deutschsprachige Tradition der Frühgeschichtsforschung auch für die internationale Forschung einen zentralen Stellenwert, den sie bis in die Gegenwart teilweise bewahren konnte. Begleitet wurde diese Entwicklung von einer bis heute nachwirkenden inhaltlichen und methodologischen Neuorientierung. Die Etablierung des siedlungs- bzw. volksgeschichtlichen Paradigmas ist für die hier behandelte Thematik von entscheidender Bedeutung. Diese Entwicklung verlief jedoch nicht glatt und unilinear, sondern vollzog sich vor allem während der Zeit der Weimarer Republik zögerlich und stockend. Rekurse auf die Ereignisse während des Krieges – insbesondere die alliierte Geschichtspropaganda – finden sich bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs hinein immer wieder. Es wäre jedoch verfehlt, den Bedeutungsgewinn der Frühmittelalterarchäologie in der Zwischenkriegszeit allein auf diesen Anstoß zurückführen zu wollen. Für ihren letztendlichen Durchbruch war das Zusammenwirken mehrerer Faktoren notwendig, die im Folgenden beschrieben werden. Grundsätzlich lassen sich drei Entwicklungsstränge herausschälen, die sich vielfach berührten und überkreuzten. 1) Zunächst sind die Veränderungen im Wissenschaftsgefüge zu nennen. Wie die gesamte deutschsprachige Wissenschaft wurde auch die deutsche Ur- und Frühgeschichte nach 1918 aus den internationalen Wissenschaftsorganisationen ausgeschlossen und so von der internationalen Entwicklung isoliert. Im Gegenzug etablierte und förderte man wäh-

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Volkstum als Paradigma

rend der 1920er und 1930er Jahre aus politischen Gründen besonders im volkstumskundlichen Bereich wissenschaftliche Institutionen und Netzwerke, die auch auf die ur- und frühgeschichtliche Forschung einigen Einfluss ausübten. Vor allem die neu gegründeten landeskundlichen Institute, die Stiftung für Deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig, sowie ab 1931 die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften sind hier von Belang. Zudem durchlief die Ur- und Frühgeschichte während der 1920er und 1930er Jahre die entscheidende Phase ihrer akademischen Institutionalisierung.1 Die germanozentrische Ausrichtung des Fachs, das von manchen Vertretern bereits vor 1918 primär als „archäologische Germanenkunde“ betrachtet worden war, verstärkte sich in der Zwischenkriegszeit soweit, dass das Fach teilweise offiziell als „Deutsche Vorgeschichte“ oder als Teil der „Germanischen Altertumskunde“ firmierte. In diesem Zeitraum spezialisierten sich einige Wissenschaftler erstmals weitgehend auf die frühmittelalterliche Epoche, so dass sich die archäologische Erforschung des frühen Mittelalters allmählich zu einer eigenständigen Subdisziplin der Ur- und Frühgeschichte entwickelte. Erster Vertreter der Frühmittelalterarchäologie in diesem Sinne war Hans Zeiss, der 1935 das neu errichtete Ordinariat für Vorgeschichte an der Universität München übernahm und mit seinem Schülerkreis eine einflussreiche Tradition in der Archäologie des frühen Mittelalters begründete. 2) Auch außerhalb des Faches entwickelte sich nach 1918 ein verstärktes Interesse an den frühmittelalterlichen Reihengräbern. Durch die Ergebnisse des Versailler Friedensvertrages rückten bestimmte siedlungs- bzw. kulturgeschichtliche Fragen in den Brennpunkt der historischen Forschung, darunter an herausragender Stelle die frühgeschichtliche Besiedlung der Rheinlande. Mit der von Alfons Dopsch angestoßenen Debatte um das so genannte Kontinuitätsproblem2 ging ein verstärktes Interesse am Verhältnis von „antik-römischer“ und „mittelalterlich-germanischer“ Kultur einher. Da von der Archäologie des frühen Mittelalters ein entscheidender Beitrag zur Lösung dieser Frage erhofft wurde, brachten vor allem Historiker der volksgeschichtlichen Richtung der Reihengräberforschung eine zuvor nicht gekannte Aufmerksamkeit ent1

2

W. P APE , Zur Entwicklung des Faches Ur- und Frühgeschichte in Deutschland bis 1945. In: Leube/Hegewisch, Prähistorie, 163–226. – D ERS., Ur- und Frühgeschichte. In: F.-R. Hausmann (Hrsg.), Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933–1945. Schr. Hist. Kollegs, Kolloquien 53 (München 2002) 329–358. Vgl. Kap. 3b.

Die deutsche Ur- und Frühgeschichte und die Niederlage von 1918

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gegen. In manchen Fällen reichte dieses Interesse so weit, dass nicht nur die einschlägige archäologische Literatur rezipiert wurde, sondern einzelne Historiker begannen, selbst die Reihengräberfunde unter ihrem speziellen Blickwinkel auszuwerten. Der auf diese Weise zustande gekommene Einfluss der „Volksgeschichte“ auf die frühmittelalterliche Gräberarchäologie trug maßgeblich zur Neuorientierung der Frühmittelalterarchäologie bei. 3) Schließlich gewann die Frühmittelalterarchäologie nach 1918 innerhalb der heimischen Archäologie zunehmend an Bedeutung. Der Weltkrieg und seine Folgen wirkten katalysierend auf Entwicklungen, die sich bereits in der Vorkriegszeit angebahnt hatten. Bedeutsame Ergebnisse des gestiegenen fachinternen Stellenwerts der Frühmittelalterarchäologie waren vor allem die Etablierung der Publikationsreihe „Germanische Denkmäler der Völkerwanderungszeit“ sowie die sukzessive Herausbildung regionaler Forschungsschwerpunkte. Während der 1920er Jahre entwickelte sich zunächst Württemberg zu einem Zentrum der Erforschung der Reihengräber. In den frühen 1930er Jahren kamen Südbaden sowie die preußische Rheinprovinz hinzu. Von großer Bedeutung war ferner das explosionsartige Anwachsen des Interesses an „germanenkundlichen“ Themen nach 1918. Nicht nur die breite Öffentlichkeit wurde vom stark angewachsenen Interesse an den „germanischen Wurzeln des deutschen Volkstums“ erfasst, wie unzählige populäre Publikationen zu den Germanen während der 1920er und 1930er Jahre belegen. Auch innerhalb der deutschen Ur- und Frühgeschichtsforschung war die Überzeugung, mit den Reihengräberfunden die spezifischen Hinterlassenschaften der eigenen germanischen Vorfahren zu erfassen, das beherrschende Motiv zu vermehrter Beschäftigung mit dieser Quellengattung. Von Nuancen in der Formulierung abgesehen, firmierten alle relevanten archäologischen Projekte der Zwischenkriegszeit offiziell als „Germanenforschungen“.

a) Die deutsche Ur- und Frühgeschichte und die Niederlage von 1918 Besonders in Texten, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Zukunftsaufgaben der ur- und frühgeschichtlichen bzw. provinzialrömischen Forschung behandelten, wird der Zusammenhang deutlich, an einem Tiefpunkt der nationalen Geschichte einen Neuanfang setzen zu wollen. Nicht zuletzt aufgrund der besonderen Gunst des Monarchen Wilhelm II. hatte

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Volkstum als Paradigma

die stark provinzialrömisch orientierte Forschung Süd- und Westdeutschlands in der Vorkriegszeit eine vergleichsweise privilegierte Position genossen, die fast an Saturiertheit grenzte, wie der Direktor des Rheinischen Landesmuseums Bonn, Hans Lehner, wenige Jahre nach Kriegsende resümierte.3 Umso tiefer empfand man den Einschnitt durch den für Deutschland ungünstigen Ausgang des Krieges, der von einer katastrophalen wirtschaftlichen Situation und politischer Unsicherheit begleitet wurde. Nicht nur, dass die hochfliegenden Pläne, die während des Krieges geschmiedet worden waren,4 begraben werden mussten, auch gegenüber dem Stand der Vorkriegszeit wurden drastische Einsparungen notwendig. Grundsätzlich sahen sich die verantwortlichen Archäologen mit der Frage konfrontiert, wie angesichts der deprimierenden Gegenwart und den düsteren Zukunftsaussichten die Bereitstellung erheblicher Mittel für die archäologische Arbeit überhaupt zu rechtfertigen sei. Hans Lehner äußerte in diesem Zusammenhang die Hoffnung, dass die Beschäftigung mit der Geschichte „uns eine Quelle des Trosts, der Aufrichtung und des Ansporns zu werden vermag.“5 Was in der dramatischen Situation nach dem Krieg Not tue, sei „ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit zu einem großen Ganzen“. Und was könnte dieses Gefühl mehr stärken und festigen, als die aus der zweitausendjährigen Geschichte der Heimat geschöpfte Erkenntnis gemeinsamen Volkstums, gemeinsamer Kulturentwicklung in der Vergangenheit und damit der Notwendigkeit festen Zusammenhalts auch für die Zukunft?6

Sicher in Anspielung auf die aktuelle politische Situation fügte Lehner hinzu: Nicht fünf, sondern fünfhundert Jahre war unser linksrheinisches Rheinland von den Römern besetztes Gebiet: eine Fülle von kulturellen Vorteilen und Segnungen verdankte der Rheinländer diesem Zustand. Aber rheinisches Wesen und rheinische Eigenart ist nicht untergegangen, sondern hat sich über die Zeit der Fremdherrschaft siegreich behauptet.7

Wesentlich düsterer war das Bild, das der Direktor der Römisch-Germanischen Kommission zu Frankfurt, Friedrich Koepp, zeichnete: Noch sind wir einer lebenswerten Zukunft keineswegs gewiß. Sicher aber ist, daß unsere Zukunft – wenn es eine gibt – karg sein wird, karg und arm, weit ärmer noch als 3

4 5 6 7

H. L EHNER, Zukunftsaufgaben der rheinischen Altertumsvereine. Bonner Jahrb. 126, 1921, 111–124, hier 114 f. Siehe unten Kap. 11b. L EHNER, Zukunftsaufgaben (wie Anm. 3) 113. L EHNER, Zukunftsaufgaben (wie Anm. 3) 116. L EHNER, Zukunftsaufgaben (wie Anm. 3) 113.

Die Entstehung der „Germanischen Denkmäler der Völkerwanderungszeit“ 303 diese Gegenwart. Darauf muss sich auch die deutsche Wissenschaft einrichten […] Wir werden bald ärmer sein, als die meisten heute noch zu ahnen scheinen.

Aber auch Koepp äußerte die Hoffnung, dass die Beschäftigung mit der Vergangenheit über die trostlose Gegenwart hinweghelfen werde: Die Versenkung in der Vergangenheit soll uns für die Zukunft – Hoffnung wagen wir kaum zu sagen – Anhalt bieten; aus dem heimischen Boden soll uns die Kraft erwachsen, Gegenwärtiges zu ertragen, Zukünftiges vorzubereiten.8

b) Die Entstehung der „Germanischen Denkmäler der Völkerwanderungszeit“ Ausgehend von Plänen, die bereits bei Kriegsausbruch 1914 entwickelt worden waren, nahm man tatsächlich in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein Projekt in Angriff, das langfristig für die Frühmittelalterarchäologie von großer Bedeutung sein sollte. Aufgrund ihrer umfangreichen Tafelteile erfordern qualitätvolle Quellenpublikationen zur Frühmittelalterarchäologie bis heute einen erheblichen drucktechnischen und damit auch finanziellen Aufwand. In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg verlegte man vor allem in Frankreich solch aufwändig ausgestattete Werke, während in Deutschland entsprechende Möglichkeiten weitgehend fehlten. Umso bedeutsamer war deshalb die Gründung der Publikationsreihe Germanische Denkmäler der Völkerwanderungszeit, die bis heute als prestigeträchtiges Publikationsorgan für frühmittelalterliche Gräberfunde gilt.9 Obwohl der erste Band dieses Unternehmens erst im Jahre 1931 erschien, wurde der Plan für die Germanischen Denkmäler der Völkerwanderungszeit schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs gefasst.10 Die erste Anregung stammte von Karl Schumacher, der seit 1901 Leiter des Römisch-Germa8

9

10

F. K OEPP, Aufgaben der Römisch-Germanischen Kommission. Ber. RGK 12, 1920, IV–XX, hier IV f.. Bis 1955 erschienen sechs Bände, danach wurde die Reihe geteilt. Während in der Serie A bislang insgesamt 17 Bände erschienen, umfasst die Parallelserie B „Die fränkischen Altertümer des Rheinlandes“ mittlerweile 18 Bände. Vgl. dazu K. R ASSMANN / F.-K. R ITTERSHOFER /S. V. S CHNURBEIN , Die Veröffentlichungen der Römisch-Germanischen Kommission. Ber. RGK 82, 2001, 363–394, hier 391–393. Für zahlreiche archivalische Angaben in diesem Kapitel bin ich Frau Katharina Becker, Archivarin der Römisch-Germanischen Kommission in Frankfurt a. M., zu großem Dank verpflichtet. Sie unterzog sich freundlicherweise der mühevollen Aufgabe, die Archivbestände der RGK hinsichtlich der Gründungsgeschichte der „Germanischen Denkmäler der Völkerwanderungszeit“ durchzusehen.

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Volkstum als Paradigma

nischen Zentralmuseums in Mainz war. Seit der Jahrhundertwende hatte sich Schumacher intensiv mit der ur- und frühgeschichtlichen Besiedlungsgeschichte des Rheinlandes beschäftigt.11 1914 legte er eine weitere umfassende Studie zur spätlatènezeitlichen Besiedlung des Rheingebiets vor. Unter dem Eindruck des Kriegsausbruchs regte er darin an, die „wichtigen Bodenurkunden germanischer Frühgeschichte“ zu sammeln und in einem größeren Werk geordnet und erläutert vorzulegen. Dies wäre „eine würdige Aufgabe der deutschen Wissenschaft nach dem grossen Kriege, der das deutsche Volk wieder auf sich selbst und den Wert seiner Kultur besinnen lehrte.“12 Noch während des Kriegs entschied sich die Römisch-Germanische Kommission, diese Anregung aufzugreifen. Wann genau der entsprechende Beschluss gefasst wurde, war bislang nicht festzustellen. Die RGK nahm die Vorarbeiten für die Sammlung der germanischen Altertümer spätestens 1917 auf. In einem Arbeitsplan der RGK aus diesem Jahr waren bereits M 500.– für das „Germanenwerk“ vorgesehen.13 Aufgrund der Kriegssituation kamen die Arbeiten bis Kriegsende jedoch kaum über das Planungsstadium hinaus. Treibende Kraft des „Germanenwerks“ war in den ersten Jahren der Direktor der Römisch-Germanischen Kommission, Friedrich Koepp. Als Nachfolger des im Krieg getöteten Walther Barthel hatte Koepp im April 1916 die Leitung des Frankfurter Instituts übernommen. Trotz des Krieges entfaltete er eine rege Tätigkeit, deren wichtigstes unmittelbares Ergebnis die Gründung der Zeitschrift „Germania“ war.14 Wie bereits gezeigt, war Koepp bereits vor dem Krieg sehr patriotisch gestimmt gewesen.15 Während des Krieges beteiligte er sich zudem mit Zeitungsartikeln an der Kriegspropaganda.16 Im Frühjahr 1918 hielt Koepp in Wiesbaden und Bonn – und möglicherweise noch an weiteren Orten – Vorträge, bei denen er um finanzielle Unterstützung für zwei Aufgaben der Römisch-Germanischen Forschung

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13 14 15 16

K. S CHUMACHER, Zur Besiedlungs-Geschichte des rechtsseitigen Rheinthals zwischen Basel und Mainz. In: Festschrift des fünfzigjährigen Bestehens des RömischGermanischen Centralmuseums zu Mainz (Mainz 1902) 16–46. K. S CHUMACHER, Gallische und germanische Stämme und Kulturen im Ober- und Mittel-Rheingebiet zur späteren La-Tènezeit. Prähist. Zeitschr. 6, 1914, 230–292, hier 292. Freundliche Mitteilung Katharina Becker, Frankfurt. Vgl. ARGK, Fasz. 24. Zu Koepp vgl. V. S CHNURBEIN , Entwicklung RGK, 147–157. Kap. 10a. F. K OEPP, 55 Jahre im Dienste der Altertumsforschung 1878–1933 (Göttingen 1933) 21 Anm. 1.

Die Entstehung der „Germanischen Denkmäler der Völkerwanderungszeit“ 305

Abb. 15: Friedrich Koepp (nach V. S CHNURBEIN , Entwicklung RGK, 148).

306

Volkstum als Paradigma

warb.17 Zum einem handelte es sich um ein provinzialrömisches Thema, die Erforschung des Legionslagers von Mainz. Als alternative Aufgabe unterbreitete Koepp seinem Publikum ferner einen Plan von beträchtlicher Reichweite. Denjenigen unter seinen Zuhörern, denen die Aufgabe ein Römerlager zu erforschen, nicht patriotisch genug sei, wisse er eine andere, nicht minder wertvolle Mission zu nennen: Es handelt sich um die S a m m l u n g u n d O r d n u n g d e s g e s a m t e n N a c h l a s s e s d e r G e r m a n e n a u s d e n Ja h r h u n d e r t e n d e r B e r ü h r u n g m i t d e n R ö m e r n – Sammlung des Vorhandenen zunächst, des in Museen Geborgenen, dann aber auch seine Mehrung durch Spatenarbeit, der die aus dem schon Gewonnenen erwachsenden Probleme die Richtung zu geben hätten –, eine Aufgabe, nach Umfang und Art, wie kaum eine andere, würdig der Lösung durch das aus der Katastrophe dieses Weltkrieges, wie wir zuversichtlich hoffen, siegreich sich erhebende Reich.18

Wie Koepp seinen Zuhörern darlegte, erhoffte er von diesem Unternehmen einen Beitrag zur Wiederherstellung des deutschen Einheitsgefühls. Dies sei umso nötiger, da nach der nationalen Euphorie des Augusts 1914 allenthalben Auflösungserscheinungen bei der Gesinnung an der Heimatfront zu erkennen seien: Je schmerzlicher wir, nach dem hochgemuten Aufschwung der ersten Kriegszeit, der ein verstärktes Einigkeitsgefühl, ja geradezu eine sittliche Erneuerung zu versprechen schien, den unleugbaren Niedergang empfinden, den im weiteren Verlauf des endlosen Krieges weiten Kreisen unseres Volkes nicht am wenigsten das S c h w e r g e w i c h t d e s M a t e r i e l l e n gebracht hat, mag es sich nun in Mangel und Not äußern oder in unverdaulichem, nur zu oft unerlaubtem Ueberfluß, je schmerzlicher wir solchen sittlichen Niedergang empfinden, der sich neben dem unvergleichlichen, auf unerschütterlichem Pflichtgefühl ruhenden Heldentum unserer Krieger umso kläglicher ausnimmt, desto mehr werden wir darauf bedacht sein, ideale Güter und Aufgaben in Zukunft wieder mehr auch in dem Alltagsleben des Friedens zur Geltung zu bringen. Welche Aufgabe lieber, welche, wie wir hoffen möchten, wirksamer als die Versenkung in die Geschichte unseres Volkes? Denn über allen Zwist hinweg, der, Sorge und Abscheu weckend, die Gegenwart entstellt, wird die erhebende Erfahrung dieses Krieges aus der ersten köstlichen Zeit der Einigkeit doch hoffentlich ein stolzeres Bewußtsein unseres Deutschtums in die Friedenszeit hinüberretten.19

Als weitere Motivation wird bei Koepp die Reaktion auf die alliierte Kulturpropaganda deutlich. Diese führe eindrücklich vor Augen, dass die aus der Antike überlieferten schriftlichen Quellen über die Frühgeschichte des deutschen Volkes nur unzureichende Informationen enthielten.

17 18

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Bonner Jahrb. 125, 1919, 210. F. K OEPP, Zwei Aufgaben der römisch-germanischen Forschung. Allgemeine Zeitung (München) 121, 1918, 265–267 und 284–285, hier 284. K OEPP, Zwei Aufgaben (wie Anm. 18) 284 f.

Die Entstehung der „Germanischen Denkmäler der Völkerwanderungszeit“ 307 Denn was uns da entgegenschallt aus dem „Korps der Rache“ ist doch nicht nur Verlogenheit – oft genug entlarvt durch unserer Feinde eigenes Zeugnis aus den Tagen geistiger Gesundheit –, sondern zu einem Teil doch auch Unkenntnis und Verständnislosigkeit, bei den Angelsachsen diesseits und jenseits des Ozeans zur Borniertheit des Größenwahns gesteigert.20

In seinem Vortrag stellte Koepp ein gewaltiges Projekt vor, das über viele Jahre hinweg verfolgt werden müsse. Die Scheidung der archäologischen Hinterlassenschaften von Kelten und Germanen sei, wie Schumacher gezeigt habe, ein schwieriges Unterfangen, das größter Anstrengungen bedürfe. Eine befriedigende Lösung dieser Frage sei deshalb nur als Ergebnis lang andauernder Forschung zu erwarten und nicht bereits von vornherein möglich. Im Gegenteil: Nirgendwo sei durch die Ungeduld der Forscher mehr gesündigt worden, als auf dem Gebiet der Ur- und Frühgeschichte. Aus diesem Grund sei es sogar wünschenswert, die Aufgabe, die anzugehen er vorschlage, „über die Lebenszeit des einzelnen, […] über das Arbeitsfeld des einzelnen durch umfassende Organisation auszudehnen.“ Not tue vorerst die Sichtung des bereits vorhandenen Materials. Sich daraus ergebende Fragen könnten anschließend durch zahlreiche gezielte Ausgrabungen geklärt werden, die dann allmählich die schriftlichen Quellen ergänzten oder gar korrigierten. Erst von dieser Basis aus sei es vielleicht möglich, in die unsichere Epoche der Vorgeschichte vorzudringen.21 Die Pläne zur Sammlung des germanischen Fundstoffes beschränkten sich zunächst auf die römische Kaiserzeit. Der Grund hierfür lag wohl in der zeitlichen Begrenzung des Arbeitsgebiets der RGK, die dieser in ihrer Satzung auferlegt worden war. Aufgrund der Auseinandersetzungen, die die Gründung der RGK begleitet hatten,22 musste die Kommission ihre Tätigkeit zeitlich „bis zum Ende der Römerherrschaft “ begrenzen.23 Zwar hatte sie diese Grenze nie wirklich respektiert, sondern stets das frühe Mittelalter in ihre Arbeit mit einbezogen;24 ein größeres Forschungsprogramm auf die20 21 22

23

24

K OEPP, Zwei Aufgaben (wie Anm. 18) 285. K OEPP, Zwei Aufgaben (wie Anm. 18) 285. K. B ECKER, Die Gründung der Römisch-Germanischen Kommission und der Gründungsdirektor Hans Dragendorff. Ber. RGK. 82, 2001, 105–135. – M. U NVERZAGT , Wilhelm Unverzagt und die Pläne zur Gründung eines Instituts für die Vorgeschichte Ostdeutschlands. Dt. Arch. Inst., Gesch. u. Dokumente 8 (Mainz 1985) 3 ff. Satzungen für die Römisch-Germanische Kommission des Kaiserlich deutschen Archäologischen Institut 1901. Ber. RGK 82, 2001, 451–453, hier 451, § 1. N. M ÜLLER -S CHEESSEL U. A ., Die Ausgrabungen und Geländeforschungen der Römisch-Germanischen Kommission. Ber. RGK 82, 2001, 291–361, hier 354. – W. K RÄMER, Fünfundsiebzig Jahre Römisch-Germanische Kommission. In: Festschrift zum 75jährigen Bestehen der Römisch-Germanischen Kommission (Mainz 1979) 5–18, hier 15.

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Volkstum als Paradigma

sem Gebiet hatte die RGK jedoch noch nicht initiiert. Wohl auch deshalb sah sich Koepp veranlasst, sein Plädoyer, den Arbeitsbereich über die Satzung hinaus auszudehnen, ausdrücklich als persönliche Meinungsäußerung zu deklarieren.25 Da die finanzielle Situation der Kommission unmittelbar nach Kriegsende äußerst angespannt war, suchte Koepp Anfang der 1920er Jahre eine breitere Basis für die Herausgeberschaft zu gewinnen. Eine ähnliche Absicht hatte bereits in Koepps Vortrag während des Krieges angeklungen, da es sich fast von selbst verstand, dass ein über mehrere Jahrzehnte angelegtes Projekt, wie ihm offenbar vorschwebte, von der RGK allein kaum zu bewältigten war. Darüber hinaus konnte das Projekt seine beabsichtigte nationalpolitische Wirkung allenfalls durch eine möglichst breite institutionelle Basis erzielen. Koepp schlug deshalb vor, die Edition der archäologischen Hinterlassenschaften der Germanen einem neu zu gründenden „Bund für heimische Altertumsforschung“ zu übertragen. 1919 veröffentlichte Koepp einen Aufruf zur Gründung einer Gesellschaft der Freunde der heimischen Altertumsforschung, zu deren ersten Aufgaben der „große Plan der Sammlung des ganzen monumentalen Nachlasses der germanischen Stämme“ gehören sollte.26 Koepps Begründung für die Notwendigkeit dieses Unternehmens lässt deutlich werden, dass die beabsichtigte politische Wirkung nicht allein gegen die territorialen Ansprüche der westlichen Nachbarn gerichtet war, sondern sich noch stärker nach innen richtete. Von der Stärkung der germanischen Forschung versprach sich Koepp einen Beitrag zur Wiederaufrichtung der allgemeinen Moral. Erschüttert sah er diese nicht nur durch die Kriegsniederlage, sondern auch durch die Revolution von 1918, die eine Staatsform hervorgebracht hatte, der Koepp wie die Mehrzahl der deutschen Gelehrten ablehnend bis feindselig gegenüberstand: Aus der Vergangenheit schöpfen wir, was uns die Gegenwart grausam versagt, und was doch zum Leben nicht weniger nötig ist als das tägliche Brot: H o f f n u n g f ü r d i e Z u k u n f t . Niemals freilich im ganzen Verlauf der Geschichte lastete das Unglück so schwer wie heute auf unserem Volk. Niemals sah die Welt einen jäheren Sturz, als den des Bismarckschen Reiches. Niemals sah sie einen furchtbareren Zusammenbruch aller materiellen und sittlichen Kräfte, die noch eben mit ihren Leistungen die Taten der Väter in Schatten zu stellen schienen. Niemals sah sie ein abge-

25 26

K OEPP, Aufgaben (wie Anm. 8) V. F. K OEPP, Heimische Altertumsforschung. Allgemeine Zeitung (München) 123, 1920, 296–298. – Vgl. auch D ERS., Bericht über die Tätigkeit der Römisch-Germanischen Kommission im Jahre 1919. Ber. RGK 11, 1918/1919, 120–124, hier 121 f. – D ERS., Aufgaben der Römisch-Germanischen Kommission. Ber. RGK 12, 1920, IV–XX, hier XVIII.

Die Entstehung der „Germanischen Denkmäler der Völkerwanderungszeit“ 309 feimteres Bubenstück als das Machwerk dieses sogenannten Friedens von Versailles. Beispiellos scheint alles, was wir in diesen sechs Jahren erlebt haben. Erhebendes wie Niederschmetterndes. Beispiellos wäre es aber auch, wenn alle Kräfte, die einst Preußen groß gemacht, die das Reich geschaffen, die des Reiches Flagge ruhmvoll über die Meere trugen, die im Weltkrieg Wunder der Tapferkeit getan, spurlos verschwunden, für alle Zeit vernichtet sein sollten. […] Wir lassen nicht von dem Glauben, und die Geschichte stärkt ihn uns! Verschüttet nur sind jene Eigenschaften, weil die Revolution ein von Hunger und Krieg entkräftetes, zerrüttetes Volk wie eine gewaltige Krankheit gepackt und geschüttelt, wie sie das Unterste zu oberst, das Oberste zuunterst gekehrt hat. Verschüttet, betäubt sind nur jene Kräfte. Aber laßt sie beim Erwachen nicht allzu heftig sich geberden – gleich erschallt sonst das blöde Geschrei von der „Reaktion“ und vom „Aufleben des „Militarismus“! Laßt sie allmählich erwachen, in der Stille wachsen und wirken! Dieses Wirken braucht durchaus nicht militärische Formen anzunehmen: […] Nur Zucht muß sein an Stelle der Z u c h t l o s i g k e i t ; G e f ü h l d e r P f l i c h t an der Stelle des ewigen Geschwätzes von den Re c h t e n .27

Die von Koepp hier zum Ausdruck gebrachte Stimmung war wohl repräsentativ für die der meisten Prähistoriker nach 1918. Als unmittelbar Beteiligter und guter Kenner der Wissenschaftsgeschichte der Ur- und Frühgeschichte beschrieb der Heidelberger Prähistoriker Ernst Wahle diesen Gemütszustand retrospektiv sehr ähnlich: Mit dem 9. November 1918 wurde die bis dahin führende Schicht, die getragen war vom Staatsgedanken und geprägt durch eine historisch gewordene Sozialordnung, weitgehend abgelöst durch parteipolitisch orientierte Kräfte, welche sehr verschiedenen Kreisen der Gesellschaft entstammten. An der Politisierung des öffentlichen Lebens waren nunmehr bestimmte Schichten der Bevölkerung beteiligt, die speziellen wissenschaftlichen Erfordernissen und Aufgaben zunächst fern standen und somit erst allmählich von deren Notwendigkeit überzeugt werden mussten. Fügt man noch hinzu, dass die an der Parlamentarisierung interessierten Kreise der Weimarer Republik eine ganz wesentliche Revision des bis dahin verbreiteten Bildes der deutschen Geschichte erstrebten, dann ist damit angedeutet, wie sich der politische Wandel im Bereiche des hier in Rede stehenden Teilgebietes der Historie auswirkte. Sofern die genannten Fürsprecher einer inneren Erneuerung nicht überhaupt resignierten, traten sie in die Opposition und kamen kaum mehr irgendwie zur Geltung.28

27 28

K OEPP, Altertumsforschung (wie Anm. 26) 296. UAH, Heid. Hs 3989,3,10: E. W AHLE , Wege und Irrwege der deutschen Vorgeschichtsforschung 1900–1945 (Manuskript ca. 1975) 21 f. – Dieses Manuskript war ursprünglich für die „Jahresschrift für Mitteldeutsche Vorgeschichte“ zur Publikation vorgesehen, musste aber aus politischen Gründen zurückgezogen werden. Zur Entstehungsgeschichte dieser Arbeit vgl. D. H AKELBERG , Deutsche Vorgeschichte als Geschichtswissenschaft – Der Heidelberger Extraordinarius Ernst Wahle im Kontext seiner Zeit. In: H. Steuer (Hrsg.), Eine hervorragend nationale Wissenschaft – Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995. Ergbde RGA 29 (Berlin, New York 2001) 199–310, hier 276 f. – Ich danke Dietrich Hakelberg dafür, mich auf dieses Manuskript aufmerksam gemacht zu haben.

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Volkstum als Paradigma

Ferner beschreibt Wahle ein Verhalten der Gelehrten, nämlich die Rückwendung zur Zeit der napoleonischen Kriege, die auch beim Plan zur Sammlung der archäologischen Hinterlassenschaften der Germanen Pate gestanden hatte: Unwillkürlich ging damals der Blick so mancher zurück zu der französischen Revolution, die, nachdem sie den sinnlosen Zerstörungen wertvollen Kulturgutes ein Ende gemacht, eine „Académie celtique“ eingerichtet hatte, zum Studium derjenigen Urbewohnerschaft des Landes, welche nun im Jahre 1789 die Franken endlich überwunden habe.29

Als Vorbild für Koepps Unternehmen diente jedoch zweifellos nicht die Académie celtique, sondern ein anderes Unternehmen jener Zeit. Implizit dürften die Monumenta Germaniae Historica dem „Germanenwerk“ von Anfang an als Vorbild gedient haben. Der Gesellschaft der Freunde heimischer Altertumskunde dachte Koepp 1920 eine ähnliche Rolle zu, wie sie die vom Freiherrn vom Stein ins Leben gerufene Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde seit 1819 wahrnahm, denn bedauerlicherweise hätten sich die „Monumenta“ allein die Edition der schriftlichen Quellen zur Aufgabe gemacht. Die archäologischen Quellen, deren Bedeutung bis in das frühe Mittelalter den Schriftquellen nahezu ebenbürtig sei, habe man dagegen nicht berücksichtigt: Für die ältesten monumentalen Urkunden unserer Frühgeschichte u n d f ü r d i e u n s e r e r Vo r g e s c h i c h t e b l e i b t a l s o n o c h i n ä h n l i c h e r We i s e z u s o r g e n . Das soll die Aufgabe einer neuen Vereinigung sein, zu deren Begründung wir alle Volksgenossen aufrufen wollen, deren Vorbereitung auch diese Zeilen dienen sollen: einer „G e s e l l s c h a f t d e r F r e u n d e h e i m i s c h e r A l t e r t u m s f o r s c h u n g “. Sie soll diese Urkunden durch Abbildung zugänglich machen, durch Ausgrabung mehren.30

Die Gründungsveranstaltung des Bundes für heimische Altertumsforschung fand Ende September 1920 in Weimar statt. Über Verhandlungen zu Satzungsfragen kam man bei dieser Gelegenheit nicht hinaus, so dass auch kein Vorstand gewählt wurde.31 Die Notwendigkeit der Gesellschaft begründete Koepp bei dieser Gelegenheit mit der aktuellen politischen Situation: Wir wollen uns heute zusammenschließen zu einem Bund, der in dieser Zeit der Not unserer heimischen Altertumsforschung eine Lebensmöglichkeit sichern soll, der aber auch eben diese Altertumsforschung aufrufen will, damit sie ihrerseits unserem armen Volk beistehe in dieser Not der Zeit. Durch gemeinsame ideale Aufgaben soll

29 30 31

W AHLE , Wege (wie Anm. 28) 22. K OEPP, Altertumsforschung (wie Anm. 26) 297. V. S CHNURBEIN , Entwicklung RGK, 153.

Die Entstehung der „Germanischen Denkmäler der Völkerwanderungszeit“ 311 sie ein festes Band schlingen um recht viele Volksgenossen – mögen diese auch sonst, nicht nur räumlich, noch so weit getrennt sein.32

Koepp argumentierte, die Archäologie sei zu diesem Zweck besonders gut geeignet. Anders als die Geschichtswissenschaft sei sie „eher dem widerlichen Streit der Parteien entrückt und sieht nicht jede Abkehr zur Vergangenheit der blödsinnigen Verdächtigung der „Reaktion“ ausgesetzt.“ Auch verlieh Koepp seiner Distanz zu Republik und Demokratie noch einmal Ausdruck, indem er gegen den „verhängnisvollen Wahn“ die Wissenschaft „zum Gemeinbesitz der großen Menge“ machen zu wollen, polemisierte, und bedauerte, dass die Wissenschaft gegenwärtig nicht mehr alleine beim Monarchen um Entscheidungen nachsuchen müsse, sondern nun auf einmal „Hunderte von Einzelpersonen, Tausende womöglich“ zu überzeugen habe.33 Als Begründung für sein Projekt der Sammlung der germanischen Denkmäler führte Koepp an, dass es sich um „vaterländische Werte“ handele, um „ehrwürdige Zeugen unserer Geschichte, den Urkunden unserer Archive vergleichbar, an Alter ihnen oft weit überlegen“. In seinen weiteren Ausführungen wird überdies deutlich, dass die Polemik während des Kriegs eine weitere Motivation für die Initiierung des Denkmälerwerkes darstellte, wenn auch der Klassische bzw. Provinzialrömische Archäologe Koepp eine gewisse Reserve gegenüber den kulturell niedrig stehenden Barbaren nicht verhehlen konnte: ‚Germanen‘ soll kein Sammelname sein für einen Begriff der Kultur, oder auch, wie unsere Feinde lieber sagen, der Unkultur. […] Dem vaterländischen Sinne soll es dabei nicht ergehen, wie es so oft dem Familiensinn ergeht, der bei seiner Forschung enttäuscht haltmacht, wenn er in die Niederungen des Volkstums gerät – als ob es nicht erfreulicher wäre, ein Aufsteigen als ein Absteigen nachweisen zu können! Ja, wir wollen uns freuen, wenn wir die Lebensäußerungen unserer Vorfahren bis in den Zustand des Barbarentums zurückverfolgen können, der der Frühzeit keines Volkes fremd ist, den wir freilich, nach den erleuchteten Forschungen einiger unserer westlichen Nachbarn, aus jener Urzeit uns bewahrt haben sollen.34

Der Gesellschaft der Freunde der Altertumsforschung war kein Erfolg beschieden. Im Anschluss an die Tagung der Altertumsverbände in Gießen im Mai 1921 fand zwar eine weitere Tagung des Bundes für heimische Altertumsforschung statt, bei der nun ein Vorstand gewählt wurde. Wer die Leitung übernahm, gab man jedoch nicht bekannt.35 Über diese Anfänge hinaus gedieh der Bund aber nicht. 32

33 34 35

F. K OEPP, Justus Möser und die Gesellschaft der Freunde heimischer Altertumsforschung. Korrbl. Gesamtver. Dt. Gesch.- u. Altver. 1921, 67–75, hier 67. K OEPP, Gesellschaft (wie Anm. 32) 71 f. K OEPP, Gesellschaft (wie Anm. 32) 75. V. S CHNURBEIN , Entwicklung RGK, 153.

312

Volkstum als Paradigma

Verantwortlich für diesen Fehlschlag waren wohl zwei Umstände: Das Chaos der Inflationszeit führte einerseits das Unterfangen, Spendenmittel für wissenschaftliche Projekte und Publikationen zu sammeln, rasch ad absurdum.36 Andererseits regte sich massiver Widerstand gegen dieses Projekt, vor allem seitens der ostdeutschen Fraktion der Altertumsforschung um Gustaf Kossinna. Hintergrund waren die Bestrebungen der RGK, die ihr satzungsgemäß auferlegte Beschränkung auf die römische Archäologie Süd- und Westdeutschlands zu durchbrechen und ihren Aktionsradius auf Ostdeutschland auszudehnen. Die Auseinandersetzungen um diese Frage schwelten bereits seit der Gründung der RGK und sollten sich in den folgenden Jahrzehnten fortsetzen.37 Obwohl Koepp sich bereits in seiner Gründungsrede präventiv gegen den Vorwurf verteidigte hatte, beim geplanten Bund handele es sich um ein Plagiat von Kossinnas Gesellschaft für deutsche Vorgeschichte,38 wurde sie von Kossinna genau in diesem Sinne aufgefasst. Überdies hatte Koepp in seinem Vortrag während des Kriegs die „vorschnellen Schlussfolgerungen“ der bisherigen Vorgeschichtsforschung harsch kritisiert.39 Zwar nannte er in diesem Zusammenhang den Namen Kossinnas nicht; auf wen dieses Urteil vor allem gemünzt war, dürfte jedoch allgemein bekannt gewesen sein. Als Reaktion auf den Vorstoß Koepps antwortete Kossinna mit einer egomanen Polemik gegen die ihm verhasste süd- und westdeutsche, römisch-germanisch ausgerichtete Forschung, welche nun „infolge der gegenwärtigen unsagbaren Not unseres Vaterlandes von plötzlicher größter Begeisterung für das alte Germanentum befallen“ sei. Diese Begeisterung wies Kossinna jedoch zurück, da sie nicht von echter patriotischer Überzeugung herrühre, sondern allein von der „Not der deutschen Valuta und der Verfehmung des deutschen Namens“, welche die Arbeit der Klassischen Archäologen in ihrem eigentlichen Aufgabenbereich in Südeuropa verhindere.40 Da der Plan gescheitert war, die Herausgabe der „germanischen Denkmäler“ zu einem großen nationalpolitischen Unternehmen auszubauen, beschränkte sich die RGK in den folgenden Jahren darauf, einzelne Werke herauszugeben, in denen der kaiserzeitliche bzw. frühmittelalterliche Fundstoff begrenzter Regionen vorgelegt wurde. Da die vom „Bund für heimi-

36 V. S CHNURBEIN , Entwicklung RGK, 153–157. 37 Vgl. U NVERZAGT , Pläne (wie Anm. 22). 38 39 40

K OEPP, Gesellschaft (wie Anm. 32) 74. K OEPP, Zwei Aufgaben (wie Anm. 18) 285 G. K OSSINNA , Das siegreiche Vordringen meiner wissenschaftlichen Anschauungen als Ergebnis meiner wissenschaftlichen Methode. Mannus 11/12, 1919/20, 396–404, hier 401.

Die Entstehung der „Germanischen Denkmäler der Völkerwanderungszeit“ 313

sche Altertumsforschung“ zur Verfügung gestellten Mittel viel zu gering waren, wandte sich der Generalsekretar des DAI, Gerhart Rodenwaldt, im September 1922 an das Auswärtige Amt mit der Bitte um finanzielle Unterstützung für den ersten Band des „Germanenwerks“. Zur Begründung dieses Anliegens verwies Rodenwaldt einerseits auf die große wissenschaftliche Bedeutung des Unternehmens. Man sei nicht nur in der Lage, die „Kultur der Germanen“ zu ermitteln, auch die Scheidung der Hinterlassenschaften der einzelnen germanischen Stämme sei erstmals gelungen. Überdies sei das Unternehmen politisch bedeutsam. Die Herausgabe der germanischen Funde eigne sich, das „Interesse für die Geschichte unseres Volkes“ zu fördern. Andererseits werde das „Germanenwerk“ auch beweisen, dass die Germanen jener Zeit in wirtschaftlicher und künstlerischer Beziehung nicht jene kulturlosen Barbaren waren, als die sie die tendenziöse und mit großzügiger Propaganda arbeitende französische Wissenschaft im Gegensatz zu den Kelten darstellt.41

1923 erschien als erster Band der „Germanischen Denkmäler der Frühzeit“ die Monographie von Gustav Behrens über die „Denkmäler des Wangionengebiets“. Es folgten 1930 Hermann Hofmeisters Arbeit über die Chatten sowie 1938 Rafael von Uslars einflussreiches Kompendium der „Westgermanischen Bodenfunde“.42 Weitere Bände, die Mitte der 1920er Jahre fest vorgesehen waren, kamen dagegen nicht über das Planungsstadium hinaus.43 Im Gegensatz zu dieser Reihe, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht fortgesetzt wurde, war den als Parallelreihe gedachten „Germanischen Denkmälern der Völkerwanderungszeit“ ein dauerhafter Erfolg beschieden. In einem Arbeitsplan der RGK äußerte Koepp im Jahre 1923 die Absicht, das von der RGK finanziell unterstützte Werk Walther Veecks über die frühmittelalterlichen Funde Württembergs in „einer zweiten Serie des „Germanenwerks“ (Denkmäler der Uebergangszeit zum Mittelalter)“ zu veröffentlichen.44 Ab Mitte der 1920er Jahre intensivierte die RGK ihre Bemühungen um die Erforschung und Edition der frühmittelalterlichen Quellen spürbar, 41 42

43

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BAB, R 901, Fasz. 69518, Bl. 11, Rodenwaldt/Auswärtiges Amt, 22. 9. 1922. G. B EHRENS, Denkmäler des Wangionengebietes (Frankfurt 1923). – H. H OFMEISTER , Die Chatten. Bd. 1. Mattium – Die Altenburg bei Niedenstein. Bd. 2 (Frankfurt 1930). – R. V. U SLAR, Westgermanische Bodenfunde des ersten bis dritten Jahrhunderts nach Christus aus Mittel- und Westdeutschland. Germ. Denkmäler Vorzeit 3 (Berlin 1938). – Vgl. dazu V. S CHNURBEIN , Entwicklung RGK, 157. – R ASSMANN / R ITTERSHOFER / V. S CHNURBEIN , Veröffentlichungen (wie Anm. 9) 393 f. BAB, R 901, Fasz. 519, Bl. 2–14: Römisch-Germanische Kommission, Protokoll der Sitzung vom 12. 6. 1925. ARGK, Fasz. 162, Bl. 1.

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Volkstum als Paradigma

ohne dass die Gründe für diesen Vorgang erschlossen werden können. Retrospektiv verwies der Generalsekretar des DAI, Gerhart Rodenwaldt, darauf, dass der Übergang von der Antike zum Mittelalter in den römischen Provinzen zu einem „Brennpunkte weltgeschichtlichen Interesses“ geworden sei.45 Zudem beeinflussten wohl taktische Überlegungen bei innerfachlichen Auseinandersetzungen die Entscheidung, die Tätigkeit der RGK auf dem Gebiet der Frühmittelarchäologie zu intensivieren. Vor allem Rodenwaldt trieb die Ausweitung des Arbeitsgebietes der RGK voran. Diese Fragen erörterte Rodenwaldt Mitte 1926 mit dem zuständigen Referenten des Außenministeriums, und äußerte im Anschluss daran die Absicht die Tätigkeit der RGK auf „deutsche Frühgeschichte“ auszuweiten.46 Angesichts der gesamtwirtschaftlichen Erholung besserte sich auch die finanzielle Situation für die Archäologie insgesamt. Projekte, die zuvor aus materiellen Gründen zurückgestellt worden waren, konnten nun in Angriff genommen werden. Ab 1925 förderte die Kommission regelmäßig die Ausgrabung frühmittelalterlicher Gräberfelder.47 In einer Sitzung im Juni 1926 plante die RGK, durch eine Resolution auf die Wichtigkeit der Erforschung der „germanischen Völkerwanderungszeit“ aufmerksam zu machen.48 Ende September 1926 beantragte Rodenwaldt beim Auswärtigen Amt Mittel für eine einjährige Aufnahme des „frühgermanischen“ und fränkischen Fundstoffes in Süd- und Westdeutschland: Wie wichtig die Erforschung dieser Uebergänge für das ganze kulturgeschichtliche und nationale Empfinden der betreffenden Teile Deutschlands ist, die zu ihrem grösseren Teile noch zum besetzten Gebiet gehören, bedürfe keiner weiteren Erläuterung. Die Archäologie würde sich vielmehr eines schweren und unverzeihlichen Versäumnis schuldig machen, wenn sie die Durchführung dieser Aufgabe nicht nur unterliesse, sondern nur verzögerte.49

Das Auswärtige Amt seinerseits drängte das Archäologische Institut im gleichen Zeitraum, seine ur- und frühgeschichtlichen Aktivitäten in Deutschland zu intensivieren. Bei einer Sitzung des Engeren Ausschusses des Archäologischen Instituts im Februar 1927 teilte der Vertreter des Auswärtigen Amtes mit, dass durch die Entwicklungen in den vorhergehenden Monaten das Archäologische Institut zunehmend zu einem „organischen Glied der deutschen Kulturpolitik“ geworden sei. Um seine Tätigkeit abzurunden, solle das

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G. R ODENWALDT , Archäologisches Institut des deutschen Reiches 1829–1929 (Berlin 1929) 49. V. S CHNURBEIN , Entwicklung RGK, 167. – U NVERZAGT , Pläne (wie Anm. 22) 10 f. M ÜLLER -S CHEESSEL U. A ., Ausgrabungen (wie Anm. 24) 355. ARGK, Fasz. 162, Bl. 35. BAB, R 901, Fasz. 69502, Bl. 16–17.

Die Entstehung der „Germanischen Denkmäler der Völkerwanderungszeit“ 315

Institut einerseits seine Beziehungen zur „Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft“ und den deutschen Museen verstärken, andererseits seine Tätigkeit in Deutschland ausdehnen, u. a. auf die Prähistorie.50 Ab 1927 unterstützte die RGK die Arbeiten Veecks durch laufende Zuschüsse.51 1928 wurde der promovierte Historiker Hans Zeiss, der erst kurz zuvor seine erste archäologische Arbeit vorgelegt hatte, auf Anregung der RGK ausgestattet mit einem Stipendium der Notgemeinschaft nach Spanien gesandt, um die archäologischen Hinterlassenschaften der Westgoten zu erfassen.52 In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass nicht allein die Edition der frühmittelalterlichen Gräberfelder Deutschlands geplant war. In bester Tradition der Grimm’schen Konzeption des germanisch-deutschen Mittelalters beabsichtigte man, die germanischen Funde ganz Europas zu erfassen. Neben Zeiss’ Arbeit über Spanien erwog man, wie bei einer Sitzung 1928 diskutiert wurde, auch Arbeiten über die britischen, elsässischen, schweizerischen und südrussischen Funde herauszubringen. Diese Bände sollten nicht allein von deutschen Gelehrten, sondern teilweise auch von ausländischen Prähistorikern verfasst werden. Für den Band über die „Alemannen in der Schweiz“ sah man den Zürcher Prähistoriker David Viollier vor, für die alemannischen Funde des Elsass zog man Claude F. A. Schaeffer in Betracht, wogegen die südrussischen Funde durch einen namentlich nicht genannten russischen Gelehrten bearbeitet werden sollten. Diese Planungen entsprachen recht genau jenen Überlegungen, die Rodenwaldt 1926 im Anschluss an die oben erwähnte Besprechung im Außenministerium geäußert hatte, nämlich die Vermittlungstätigkeit der RGK zwischen der deutschen prähistorischen Forschung und jener der Nachbarländer zu forcieren.53 Der Plan, einen Wissenschaftler aus der Sowjetunion zur Bearbeitung der frühmittelalterlichen Funde Russlands zu gewinnen, stand, wie Siegmar von Schnurbein plausibel vermutet, wohl in Zusammenhang mit der Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Sowjetunion im Gefolge des Rapallo-Vertrages.54 Einen weiteren Anstoß für diese Erweiterung der Konzeption der Germanischen Denkmäler der Völkerwanderungszeit gab möglicherweise die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft. Mit dieser arbeitete die RGK 50 51 52 53

54

BAB, R 901, Fasz. 69502, Bl. 23. ARGK, Fasz. 162, Bl. 51. – ARGK, Fasz. 162, Bl. 88. Z EISS, Westgoten, 2 f. Rodenwaldt/Drexel, 2. 7. 1926. Gedruckt bei U NVERZAGT , Pläne (wie Anm. 22) 57. – Vgl. auch V. S CHNURBEIN , Entwicklung RGK, 167. V. S CHNURBEIN , Entwicklung RGK, 168.

316

Volkstum als Paradigma

bereits seit Anfang der 1920er Jahre eng zusammen und diese zeigte offenbar ein großes Interesse an den geplanten Publikationen zur Frühmittelalterarchäologie. Hintergrund hierfür könnte das in diesem Zeitraum erstmals erkennbare Bestreben der Notgemeinschaft gewesen sein, nicht allein archäologische Einzelprojekte zu finanzieren, sondern Förderschwerpunkte zu setzen. In den ersten fünf Jahren ihres Bestehens hatte die Notgemeinschaft vorwiegend Rettungsgrabungen gefördert sowie die Fertigstellung von Grabungen ermöglicht, die bereits in der Vorkriegszeit begonnen worden waren.55 Lediglich provinzialrömische Forschungen im Rheingebiet waren bereits in diesem Zeitraum nach Möglichkeit schwerpunktmäßig gefördert worden, unter anderem deshalb, weil „man sich ihrer von französischer Seite zu bemächtigten drohte.“56 Ab 1926 regte die Notgemeinschaft aktiv wissenschaftliche Projekte und Gemeinschaftsarbeiten an; bekanntestes Beispiel war in diesem Zusammenhang die „Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung der nord- und ostdeutschen vor- und frühgeschichtlichen Wehranlagen“.57 Im Falle der Förderung der Germanischen Denkmäler der Völkerwanderungszeit legten die Mitglieder der RGK jedoch Wert darauf, die Federführung über das Gesamtprojekt auszuüben. Falls sich der Plan eines Corpus der Germanischen Altertümer realisieren lasse, solle darauf geachtet werden, dass die Kommission die Leitung des Unternehmens in der Hand behalte und der Notgemeinschaft die Manuskripte liefere.58 Als ersten Band der „Germanischen Denkmäler der Völkerwanderungszeit“ nahm man schließlich Walther Veecks Arbeit über die frühmittelalterlichen Funde Württembergs in Angriff. Der Erfolg dieses Unternehmens war bis zuletzt ungewiss. Noch 1929 teilte ein Vertreter des Verlags der RGK mit, man nehme mit Veecks Werk bewusst ein erhebliches Risiko auf sich, „um die Bestrebungen der Ministerien, die Vorgeschichte Deutschlands in weiteren Kreisen zu verbreiten, zu unterstützen.“59 Im Jahr 1931 erschien schließlich das Werk über „Die Alamannen in Württemberg“. Obwohl das Ende des Ersten Weltkriegs zu diesem Zeit-

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Rückblick auf die fünfjährige Betätigung der Notgemeinschaft in den verschiedenen Wissenschaftszweigen. Ber. Notgemeinschaft d. Dt. Wiss. 5, 1926, 129–232, hier 156. Geschäftsbericht der Notgemeinschaft für das abgelaufene Jahr 1925/26. Ber. Notgemeinschaft d. Dt. Wiss. 5, 1926, 8–128, hier 107. Vgl. dazu ausführlich H. F EHR, Prehistoric archaeology and German Ostforschung. The case of the excavations at Zantoch. Arch. Polona 42, 2004, 197–228, hier 203–208. BAB, R 901, Fasz. 69522, Bl. 2–14: Sitzung der Römisch-Germanischen Kommission am 11. 5. 1928. ARGK, Fasz. 266, Cram/Bersu, 10. 12. 1929.

Der Einfluss der Volkstumsforschung auf die Frühmittelalterarchäologie

317

punkt bereits mehr als ein Jahrzehnt zurücklag, war der ursprüngliche Anstoß zum Aufschwung der Frühmittelalterarchäologie noch immer präsent. Peter Goeßler nutzte die Gelegenheit, um in seinem Vorwort das bis dahin Erreichte zu resümieren. So sei es nicht ohne tieferen Sinn gewesen, dass „die Jahre, die uns gezwungen haben, wieder mehr auf die Quellen unseres Volkstums zurückzugehen, auch einen starken Aufschwung der frühgermanischen Studien bedeuteten“. Jedoch sei auf diesem Gebiet noch viel zu tun: „Das Wort haben einstweilen die Archäologen aller germanischen und ehemals germanischen Länder “.60

c) Der Einfluss der Volkstumsforschung auf die Frühmittelalterarchäologie Der Begriff „Volkstum“ wurde nicht erst durch den Einfluss der historischen Volkstumsforschung zu einem Thema in der Frühmittelarchäologie. Seine Relevanz für das Problem von Germanen und Romanen reicht bis in die Anfänge der Frühgeschichtsforschung zurück. Wie bereits erwähnt, hatte der Germanist Hans Ferdinand Maßmann schon 1843 den Antagonismus zwischen Germanen und Romanen auf eine „innerste Volksthumsverschiedenheit“ zurückgeführt.61 Das Beispiel von Alfred Götzes Monographie über die Gräber von Weimar zeigt, dass sich den Frühmittelalterarchäologen bereits am Vorabend des Ersten Weltkriegs die „Frage des Volkstums“ der in den Gräbern bestatteten Personen stellte.62 Nach 1918 entwickelte sich der Begriff des Volkstums allmählich zu einem paradigmatischen Leitbegriff der frühmittelalterlichen Gräberarchäologie. Dieser Prozess war nicht allein auf eine Entwicklung des innerarchäologischen Diskurses zurückzuführen, sondern maßgeblich auf einen übergeordneten Paradigmenwechsel zur Volkstumsforschung. Dieser vollzog sich vor allem, aber nicht ausschließlich, in der Geschichtswissenschaft. Die Entwicklung der so genannten „Volksgeschichte“ stellte Willi Oberkrome 1993 detailliert dar.63 Ihm sind bis in jüngste Zeit zahlreiche weitere,

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P. G OESSLER, Zur Einführung. In: W. Veeck, Die Alamannen in Württemberg. Germ. Denkmäler d. Völkerwanderungszeit 1 (Berlin, Leipzig 1931) IX. H. F. M ASSMANN , Deutsch und Welsch oder der Weltkampf der Germanen und Romanen. Rückblick auf unsere Urgeschichte zur tausendjährigen Erinnerung an den Vertrag zu Verdun (München 1843) 16. A. G ÖTZE , Die altthüringischen Funde von Weimar (5. bis 7. Jahrhundert nach Chr.) (Berlin 1912) 24. O BERKROME , Volksgeschichte.

318

Volkstum als Paradigma

vertiefende Arbeiten gefolgt.64 Aus diesem Grund müssen hier lediglich einige Kernpunkte zusammengefasst werden. Volksgeschichte und Volkstumsforschung Die Anfänge der „Volkgeschichte“ bzw. der volksgeschichtlich orientierten Landesgeschichte reichen in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück. Ihre Wurzeln liegen einerseits in einer Strömung der deutschen Geschichtswissenschaft, die einen spezifischen, historisch-philosophischen Volksbegriff in das Zentrum ihres Interesses stellte. Die Entwicklungslinie nahm ihren Anfang im 18. Jahrhundert beim Volksbegriff Justus Mösers, führte über den Gründervater der Volkskunde Wilhelm Heinrich Riehl in der Mitte des 19. Jahrhunderts zur „Politischen Geographie“ Friedrich Ratzels und der Kulturgeschichte Karl Lamprechts. Eine zweite Wurzel bildete die deutsch-österreichische Historiographie des 19. Jahrhunderts, die bereits früh von völkischem und deutschnationalem Gedankengut geprägt war.65 Nach 1918 entwickelten sich im deutschsprachigen Raum rasch drei bedeutende Zentren der volkstumszentrierten Forschung. Einen ersten volksgeschichtlichen Schwerpunkt bildete das von Rudolf Kötzschke geleitete landesgeschichtliche Seminar der Universität Leipzig. Am Institut für alpenländische Siedlungs- und Landeskunde in Innsbruck vertraten vor allem Hermann Wopfner und Adolf Helbok eine explizit volkshistorische Richtung. Für die hier behandelte Problematik ist jedoch vor allem die am Bonner Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande angesiedelte Rheinische Schule der Volkstumsforschung von Belang, deren Vordenker der Historiker Hermann Aubin war.66 Inhaltlich verfolgten die Vertreter der Volksgeschichte einerseits das Anliegen, wissenschaftliche Ergebnisse zu erarbeiten, die in der politischen Situation nach 1918 von Nutzen sein konnten. Ein besonderes Anliegen war dabei die Gewinnung wissenschaftlicher Argumente, die die Forderung nach einer Revision des Versailler Vertrags untermauern konnten. In gewis64

65 66

Zum aktuellen Diskussionsstand vgl. H. W ALLRAFF , Regional- und Landesgeschichte. In: J. Elvert/J. Nielsen-Sikora (Hrsg.), Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus. Hist. Mitt., Bd. 72 (Stuttgart 2008) 246–288. O BERKROME , Volksgeschichte, 41. O BERKROME , Volksgeschichte, 32–37. – D ERKS, Westforschung, 39 f. – Zur Bonner Landesgeschichte vgl. zuletzt die Beiträge in M. G ROTEN /A. R UTZ (Hrsg.), Rheinische Landesgeschichte an der Universität Bonn. Traditionen – Entwicklungen – Perspektiven (Göttingen 2007).

Der Einfluss der Volkstumsforschung auf die Frühmittelalterarchäologie

319

sem Umfang zielte die politische Absicht der Volksgeschichte auch nach innen, erhoffte man sich doch von der Rückbesinnung auf die „Wurzeln des eigenen Volkstums“ positive Impulse für die moralisch-ethische Gesinnung des eigenen Volkes, die man von Modernisierung, liberaler Urbanität, Technisierung und dergleichen bedroht sah. Andererseits strebten die Vertreter der volkshistorischen Richtung, die meist zur jüngeren, reformwillig gestimmten Fraktion ihres Faches zählten, eine Neuausrichtung der historischen Methodik und des historischen Erkenntnisgegenstandes an. Man setzte sich zum Ziel, die dominierende historistische Tradition der deutschsprachigen Historiographie durch einen ethnozentrischen Ansatz zu ersetzen oder zumindest zu ergänzen. Während die Geschichtswissenschaft in der Tradition des Historismus vor allem den Staat zum Subjekt der Geschichte bestimmte und sich daher auf politische Geschichte und Diplomatiegeschichte, auf Kriege, Dynastien und Monarchen konzentrierte, stellte die Volksgeschichte das „Volk“ in das Zentrum ihres Interesses. Befördert wurde diese Abkehr vom Staat durch das neue politische Umfeld: Während sich viele national gesinnte Historiker des Wilhelminismus als bedeutende Stützen des Reichs betrachtet hatten, standen die Volkshistoriker der neuen republikanischen Staatsform in der Regel ablehnend gegenüber. Nicht das verkleinerte, republikanische Deutschland – oder gar die Republik Österreich – betrachteten sie als ihr eigentliches Vaterland, sondern den gesamten vom „deutschen Volkskörper“ besiedelten Raum. Fachlich operierten sie bevorzugt auf landesgeschichtlicher Ebene.67 Das „Volk“ als geschichtsmächtiges, autonom handelndes Subjekt der Geschichte sollte in seinem regionalen „Lebensraum“ erfasst werden. Neben dem „Volk“ wurde der „Raum“ zum zweiten zentralen Begriff der Volkshistorie. Besonders den Wechselwirkungen zwischen „Volk“ und „Raum“ gedachte man nachzuspüren. Von besonderer Bedeutung für die hier behandelte Problematik ist schließlich, dass – wie Matthias Werner jüngst hervorhob – die neu geschaffenen Institutionen ihre spezifischen Arbeitsfelder durchweg in den ethnischen Kontaktzonen ansiedelten, genauer gesagt den Grenzbereichen von „Germanen“ und „Slawen“ sowie „Germanen“ und „Romanen“.68 67

68

Zur Gesamtentwicklung vgl. M. W ERNER, Zwischen politischer Begrenzung und methodischer Offenheit. Wege und Stationen deutscher Landesgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert. In: P. Moraw/R. Schieffer (Hrsg.), Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert. Vorträge u. Forsch. 62 (Ostfildern 2005) 251–364. – Einen konzisen Überblick bietet D ERS., Die deutsche Landesgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert. Aufbrüche, Umbrüche, Perspektiven. In: Groten/Rutz (wie Anm. 66) 157–178. W ERNER, Begrenzung (wie Anm. 67) 280.

320

Volkstum als Paradigma

Mit den herkömmlichen archivalischen Quellen war dieses Ziel nicht zu erreichen. Aus diesem Grund propagierten die Volkshistoriker einen breiten, nach heutigen Begriffen interdisziplinären Ansatz. Durch die Analyse einzelner „Kulturräume“ erhoffte man, Erkenntnisse über das Wesen des „Deutschtums“ an sich zu gewinnen. Methodischer Ausgangspunkt waren dabei vor allem kulturgeographische Verfahren. Anhand von Karten aus unterschiedlichen Wissensbereichen, unter anderem Dialektgeographie, Siedlungs-, Bau- und Flurformen, volkskundlichen Bräuchen und Sitten, politischen Herrschaftsbildungen etc., aber auch archäologischen Quellen, wollte man das „Volkstum“ aus seiner archivalischen Anonymität befreien und in seiner historischen Entwicklung dokumentieren.69 Durch ihren interdisziplinären Ansatz erfasste die volksgeschichtliche Strömung nicht allein Historiker, in weiterem Sinn gehörten zu ihr auch Vertreter anderer Fächer, vor allem Geographen, Germanisten und Soziologen. Kumulationspunkt der interdisziplinären Zusammenarbeit waren historische Atlanten, die bevorzugt für jene Gebiete erarbeitet wurden, die, wie Elsass-Lothringen, von Deutschland abgetrennt worden waren oder deren Zugehörigkeit zum deutschen Staatsverband als bedroht galt, wie das Rheinland. Das besondere Augenmerk der Volksgeschichtsforschung galt von Anfang an den Deutschen, die außerhalb Deutschlands und Österreichs ansässig waren. Oftmals sprach man dem viel beschworenen „Grenz- und Auslandsdeutschtum“ eine besondere sittliche Qualität zu, die es im täglichen Kampf um die Wahrung seines angestammten Volkstums erlangt habe. Da man meinte, hier ein besonders kämpferisches und unverfälschtes deutsches Volkstum erfassen zu können, wurden im Ausland ansässige deutschsprachige oder -stämmige Bevölkerungsgruppen zu einem bevorzugten Studienobjekt. Hinsichtlich des „Lebensraumes“ des deutschen Volkes entwickelte der Geograph Albrecht Penck70 zwei Kategorien, mit deren Hilfe implizit oder explizit territoriale Ansprüche auf Regionen jenseits der Grenzen des Reichs erhoben wurden. Der deutsche „Volksboden“ bezeichnete in diesem Zusammenhang das Gebiet, in dem eine deutschsprachige Bevölkerung in historischer Zeit die Mehrheit der Bewohner stellte. Mit dem deutschen „Kulturboden“ waren dagegen jene Gebiete gemeint, in denen die deutschsprachige Bevölkerung zwar einst gesiedelt, jedoch nie die Bevölkerungsmehrheit gestellt hatte. Ausgehend von einem ausgeprägten Kultur69 70

O BERKROME , Volksgeschichte, 32 f. K. S CHÖNWÄLDER, Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus (Frankfurt, New York 1992) 52.

Der Einfluss der Volkstumsforschung auf die Frühmittelalterarchäologie

321

chauvinismus argumentierte man, dass deutsche Minderheiten innerhalb einer „fremdstämmigen“ Mehrheit trotzdem in der Lage waren, vor allem in weiten Teilen Osteuropas ihrem Lebensraum nachhaltig ein typisch deutsches Gepräge zu verleihen, und ihn so zum deutschen „Kulturboden“ zu machen.71 Innerhalb der Entwicklung der Volksgeschichtsforschung sind mehrere Phasen zu unterscheiden. Auf die Existenz von Vorstufen in Wilhelminischer Zeit wurde bereits hingewiesen. Nach 1918 wurden eine Reihe landeskundlicher Institute gegründet. Wichtigstes Vorbild war dabei das bereits erwähnte Institut für Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande in Bonn72, dessen vordringliche Aufgabe zunächst der wissenschaftliche „Abwehrkampf“ gegen die französischen Ansprüche auf das Rheinland war.73 Einen ersten Verbund der volksgeschichtlich arbeitenden Gelehrten bildete die nach längerem Vorlauf 1926 gegründete Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig, die von dem dort ansässigen Geographen Wilhelm Volz geleitet wurde.74 Abgelöst wurde die Leipziger Stiftung durch die 1931 gegründeten Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften, in denen die Vertreter der historischen Volksforschung eine bedeutende Position innehatten. Inhaltlich gingen die Vertreter der Volksgeschichte im Laufe der 1930er Jahre immer deutlicher in die Offensive. Während in der Zeit der Weimarer Republik die Schwerpunkte der so genannten „Ost-“ bzw. „Westforschung“ noch in den umstrittenen Grenzregionen gelegen hatten, griffen spätere Arbeiten räumlich immer weiter aus. Höhepunkt der politischen Relevanz der Volkstumsforschung war der Zweite Weltkrieg. Zahlreiche Gelehrte beschäftigten sich mit der Begleitforschung, die die geplante gewaltsame Expansion des nationalsozialistischen Staates wissenschaftlich rechtfertigen sollte. Der nationalsozialistischen Ideologie sowie der deutschen Kriegspropaganda zufolge galt der Zweite Weltkrieg als Versuch einer „Neuordnung Europas“. Trotz aller Unterschiede im Detail kehrten 71

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A. P ENCK , Deutscher Volks- und Kulturboden. In: K. Chr. v. Loesch (Hrsg.), Volk unter Völkern. Bücher des Deutschtums 1 (Breslau 1925) 62–73. M. N IKOLAY-P ANTER, Das Institut und die geschichtliche Landeskunde der Rheinlande 1920–1945. Rhein. Vierteljahrsbl. 60, 1996, 233–262. P. S CHÖTTLER, Der Rhein als Konfliktthema zwischen deutschen und französischen Historikern in der Zwischenkriegszeit. 1999 (Zeitschr. f. Sozialgesch. d. 20. u. 21. Jhds) 9, 1994, 46–67, hier 51 ff. – S CHÖTTLER, Landesgeschichte. 94 ff. – S CHÖTTLER , Westforschung, 206 ff. M. F AHLBUSCH , „Wo der deutsche … ist, ist Deutschland!“. Die Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig 1920–1933. Abhandl. z. Gesch. d. Geowiss. u. Religion/Umweltforsch., Beih. 6 (Bochum 1994), zu Wilhelm Volz bes. 49 ff.

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Volkstum als Paradigma

dabei bestimmte Argumentationsmuster immer wieder. Unter deutscher Hegemonie sollte ein von vermeintlich „schädlichen“ Elementen „gesäubertes“ Europa entstehen, dessen gemeinsame Grundlage die Verwandtschaft der europäischen Rassen und Völker bildete, wobei den nordischgermanischen Anteilen im „Großraum Europa“ quasi natürlich die Führungsrolle zufiel.75 Aus diesem Grund kam allen Arten von Untersuchungen über ein vermeintliches oder tatsächliches germanisches Substrat in den verschiedensten Teilen Europas eine besondere Bedeutung innerhalb der wissenschaftlichen Begleitforschung zur nationalsozialistischen Expansionspolitik zu. Bei manchen Vertretern der Volksgeschichte ging das Engagement für den nationalsozialistischen Staat soweit, dass sie nicht nur wissenschaftliche Argumente zur Rechtfertigung des nazistischen Rasseimperialismus lieferten, sondern konkrete Handlungsempfehlungen für die Behörden. Bekanntestes Beispiel hierfür ist ein bevölkerungsgeschichtliches Gutachten aus dem Herbst 1939, in dem der Historiker Theodor Schieder unter Anleitung von Hermann Aubin und Albert Brackmann die Deportation hunderttausender Polen und die „Entjudung Restpolens“ zur Erwägung gab.76 Nach dem Krieg konnten die Vertreter der volksgeschichtlichen Richtung ihre Karrieren in der Regel ungehindert fortsetzen; Hermann Aubin, Theodor Schieder und Werner Conze etwa lösten sich nacheinander als Präsidenten des Verbandes der Historiker Deutschlands ab.77 Inhaltlich lebten die volkshistorischen Ansätze teils relativ unverändert, teils mit allmählichen Modifikationen fort.78 Die vielbesprochene Deszendenz der modernen, vergleichsweise liberalen „Struktur-“ und späteren „Sozialgeschichte“ 75

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Für eine Übersicht über die Konzepte zur „Neuordnung Europas“ vgl. B. K LETZIN , Europa aus Rasse und Raum. Die nationalsozialistische Idee der Neuen Ordnung. Region – Nation – Europa 2 (Münster 2000). A. E BBINGHAUS /K. H. R OTH , Vorläufer des „Generalplans Ost“. Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939. 1999 (Zeitschr. f. Sozialgesch. d. 20. u. 21. Jhds.) 7, 1992, 62–94. – G. A LY, Theodor Schieder, Werner Conze oder Die Vorstufen der physischen Vernichtung. In: Oexle/Schulze, Historiker, 163–182. – Allgemein zur Rolle der Historiker in der Ostforschung vgl. auch I. H AAR, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten. Kritische Stud. z. Geschichtswiss. 143 (Göttingen 2000). – Zum gegenwärtigen Stand der zeitweilig sehr emotionalen Debatte über die Rolle Schieders vgl. W ALLRAFF , Landesgeschichte (wie Anm. 64) 282–284. – W ERNER , Begrenzung (wie Anm. 67) 321 f. W. S CHULZE , Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945 (München 1989) 182. W. O BERKROME , Zur Kontinuität ethnozentrischer Geschichtswissenschaft nach 1945. Weltanschauung und politisches Engagement der westdeutschen Kulturraumforschung in den fünfziger Jahren. Zeitschr. f. Geschichtswiss. 49, 2001, 50–61.

Der Einfluss der Volkstumsforschung auf die Frühmittelalterarchäologie

323

bundesrepublikanischer Zeit von der älteren Volksgeschichte79 war dabei nur ein Teil eines umfassenderen Phänomens. Noch gravierender waren die Nachwirkungen völkischer Ansätze auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung des Mittelalters, die ihre eigene Geschichte bislang nur unvollständig aufgearbeitet hat.80 In welchem Maß entsprechende Ansätze auch innerhalb der Frühmittelalterarchäologie fortlebten, soll in den folgenden Kapiteln untersucht werden. Volksgeschichte und Archäologie Die Reihengräberfunde wurden bereits früh zu potentiellen Quellen der Volksgeschichte erklärt.81 Der Gedanke, ur- und frühgeschichtliche Grabformen zur Erkenntnis der Eigenart und Entwicklung des „deutschen Volkstums“ heranzuziehen, war durchaus naheliegend, wurde doch damit lediglich das methodische Vorgehen bei volksgeschichtlichen Untersuchungen über rezente oder neuzeitliche Bevölkerungsverhältnisse in die fernere Vergangenheit übertragen. So nannte etwa Albrecht Penck in einem programmatischen Aufsatz über den deutschen „Kultur- und Volksboden“ neben bestimmten Siedlungs- und Verwaltungsformen und Erscheinungen des Alttagslebens wie Hausbau-, Garten-, Werkzeugtypen auch Friedhofsformen als Definitionskriterien für den deutschen Kulturboden; während der „deutsche Friedhof“ sich durch Blumen auf den Gräbern auszeichne, bedeckten „im welschen Lande“ Steinplatten dieselben.82 Andererseits richtete sich das Interesse der Volkshistoriker nicht allein auf die historisch erfassbaren Epochen der deutschen Geschichte, sondern ebenfalls von Anfang an auch auf die gesamte Urgeschichte der Germanen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein früher programmatischer Aufsatz über die „Aufgaben vergleichender Landesgeschichte der deutschen Volksstämme“ von Rudolf Kötzschke, des Hauptvertreters der volksgeschichtlichen Landeskunde in Leipzig. Bereits 1909 legte Kötzschke damit 79

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T. E TZEMÜLLER, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 (München 2001). – O BERKROME , Volksgeschichte, 11–21. – D ERS., Historiker im „Dritten Reich“. Zum Stellenwert volkshistorischer Ansätze zwischen klassischer Politik- und neuerer Sozialgeschichte. Gesch. i. Wiss. u. Unterricht 50, 1999, 74–98. W ERNER, Begrenzung (wie Anm. 67) 255. – D ERS., Landesgeschichtsforschung (wie Anm. 67) 177. W ERNER, Begrenzung (wie Anm. 67) 271. – D ERS., Landesgeschichtsforschung (wie Anm. 67) 166. P ENCK , Volks- und Kulturboden (wie Anm. 71) 65.

324

Volkstum als Paradigma

ein Konzept einer reformierten Landeshistorie vor. Zwar wurde es in der Geschichtswissenschaft vor 1918 nur wenig rezipiert,83 die ur- und frühgeschichtliche Siedlungsforschung nahm es jedoch noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs an maßgeblicher Stelle wahr. Die Siedlungsgeschichte sei, wie Kötzschke ausführte, ein „bedeutsamer und grundlegender Teil aller Volksgeschichte“. Als bedeutendstes Ziel dieser Forschungen nannte Kötzschke die Rekonstruktion der Entwicklung der Siedlungsverhältnisse im Bereich der germanisch sprechenden Bevölkerung Europas und im Besonderen im „Ausbreitungsraum jener Germanenstämme, welche sich allmählich zum deutschen Volkstum zusammengeschlossen haben“.84 Unter den Wissenschaften, die zur Lösung dieser Fragen beitragen könnten, verwies er auch auf die prähistorische Archäologie.85 Den Reihengräbern schrieb Kötzschke eine besondere Bedeutung für Rassefragen zu, die im Rahmen von Besiedlungsvorgängen aufträten. Besiedlungsvorgänge seien Massenerscheinungen. Besonders zur „Feststellung der anthropologischen Art“ verwies Kötzschke auf die bajuwarischen Reihengräber; mit ihrer Hilfe sei es möglich, die Frage des Verhältnisses von einwandernden Germanen zur Vorbevölkerung zu lösen. Die Reihengräber Bayerns enthielten bekanntlich sowohl den langköpfigen Typus, der dem blonden, nordeuropäischen Typus eigentümlich sei, als auch den mittel- bis kurzköpfigen Typus sowie Mischungen beider Typen. Da Kötzschke die Gräber mit Waffenbeigabe als jene der bajuwarischen Eroberer ansah, hielt er bereits ein erstes Ergebnis fest: Da sich nun Waffenbeigaben bei den verschiedenerlei Rassetypen finden, so muß angenommen werden, daß die waffen- und rechtsfähige bajuwarische Bevölkerung schon im Ansiedelungszeitalter Rassenmischung aufwies, nicht aber eine alleinberechtigte Rasse die Herrschaft über fremdrassige unterjochte Bevölkerung ausübte.86

Während Kötzschkes Programm zunächst nur eingeschränkt rezipiert wurde, gewannen entsprechende Ansätze nach Kriegsende schnell beträchtlich an Bedeutung. Unmittelbar nach 1918 begannen die Gelehrten den „Abwehrkampf“ gegen die französischen Ansprüche auf das Rheinland bzw. wenig später gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrags.

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O BERKROME , Volksgeschichte 35. R. K ÖTZSCHKE , Über Aufgaben vergleichender Siedlungsgeschichte der deutschen Volksstämme. In: Studium Lipsiense. Ehrengabe Karl Lamprecht dargebracht aus Anlass der Eröffnung des königlich sächsischen Instituts für Kultur- und Universalgeschichte bei der Universität Leipzig (Berlin 1909) 23–54, hier 23. K ÖTZSCHKE , Aufgaben (wie Anm. 84) 30. K ÖTZSCHKE , Aufgaben (wie Anm. 84) 39 f.

Der Einfluss der Volkstumsforschung auf die Frühmittelalterarchäologie

325

Unter den politisch bedeutsamen historischen Fragen sind für die hier behandelte Fragestellung vor allem zwei von Bedeutung: 1) Die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung der Rheinlande in römischer Zeit. 2) Der Zusammenhang zwischen römerzeitlicher und frühmittelalterlicher Bevölkerung der Rheinlande. Hermann Aubin und die Kulturkontinuität im Rheinland Wie bereits erwähnt, spielte das „Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande“ in Bonn eine Schlüsselrolle im Gefüge der Volkstumsforschung. In Anbetracht der Ausrichtung des Instituts, an dem nicht nur Historiker und Germanisten, sondern auch Volkskundler, Geographen, Kunsthistoriker und Nationalökonomen zusammenarbeiteten, ist es nicht verwunderlich, dass von Anfang an auch die archäologischen Quellen zur Rekonstruktion der Besiedlungsverhältnisse herangezogen wurden. Ferner ergaben sich bald auch institutionelle Kontakte zwischen der Volkstumsforschung und den Institutionen der Altertumskunde. Von großem Belang sind hier vor allem die Publikationen Hermann Aubins, der gemeinsam mit dem Germanisten Theodor Frings das Bonner Institut leitete. Aubin, Österreicher sudetendeutscher Herkunft, war bis Ende der 1920er Jahre eine der prägenden Figuren der so genannten Westforschung. Seit 1916 war er als Privatdozent, später als außerplanmäßiger Professor an der Universität Bonn tätig. 1925 nahm er einen Ruf nach Gießen an. Nach seinem Wechsel auf den Lehrstuhl in Breslau 1929 beschäftigte er sich zunehmend mit der Ostforschung; ein Forschungsfeld, das, wie oben erwähnt, in der Ausarbeitung von Plänen zur „Entmischung“ ethnischer Gemengelagen, zur „Umsiedlung“ bzw. „Germanisierung“ großer Gebiete Osteuropas mündete.87 Aufgrund seiner Tätigkeit im Rheinland in der ersten Hälfte der 1920er Jahre war es naheliegend, dass Aubin gute Kontakte zur dortigen archäolo87

H.-E. V OLKMANN , Historiker aus politischer Leidenschaft. Hermann Aubin als Volksgeschichts-, Kulturboden- und Ostforscher. Zeitschr. f. Geschichtswiss. 49, 2001, 32–49. – F AHLBUSCH , Forschungsgemeinschaften, 181–183. – W. J. M OMMSEN , Vom „Volkstumskampf“ zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in Osteuropa. Zur Rolle der deutschen Historiker unter dem Nationalsozialismus. In: Oexle/ Schulze, Historiker, 183–214. – Zu Aubin und dessen Rolle innerhalb der Ostforschung vgl. jetzt E. M ÜHLE , Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung. Schr. d. Bundesarchivs 65 (Düsseldorf 2005).

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Volkstum als Paradigma

gischen Forschung unterhielt und dieser einige bedeutende Impulse vermittelte. So wurde sein programmatischer Vortrag über die römisch-germanischen Kulturzusammenhänge im Rheinland aus dem Winter 1921/22 auf Anregung der Schriftleitung im 13. Bericht der RGK abgedruckt. Zudem überreichte man diesen Text 1922 den Mitgliedern des Bundes für heimische Altertumsforschung in Form eines Sonderdruckes als Jahresgabe.88 Zu einer ersten Zusammenarbeit zwischen der Bonner Landesgeschichte und der regionalen Archäologie kam es anlässlich der 1922 erschienenen zweibändigen „Geschichte des Rheinlandes“, die von der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde herausgegeben wurde. Sowohl Friedrich Koepp als auch Aubin und Frings traten darin als Autoren auf.89 Eine weitere Kooperation ergab sich bei der „Archäologischen Karte der Rheinprovinz“. Die Vorarbeiten zu dieser Karte reichten bis in die Vorkriegszeit zurück. 1923 hatte man eine im Rahmen dieses Projekts entstandene Karte der Römerstraßen in der Rheinprovinz in den „Geschichtlichen Handatlas der Rheinprovinz“ aufgenommen. Mitte der 1920er Jahre baten die Direktoren der Landesmuseen von Trier und Bonn, die das Projekt zunächst gemeinsam betrieben hatten, zunächst die RGK sich leitend an diesem Unternehmen zu beteiligen, worauf die Kommission die Arbeiten auch tatkräftig förderte. Auf das Betreiben Aubins nahm schließlich 1925 die „Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde“ die „Archäologische Karte der Rheinprovinz“ in den Kreis ihrer Unternehmen auf. In der Folge förderten Aubin und später sein Nachfolger Franz Steinbach dieses Projekt tatkräftig. Der erste Band der Archäologischen Karte, Josef Steinhausens „Ortskunde Trier-Mettendorf “, konnte schließlich 1932 in gemeinsamer Herausgeberschaft der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde, der Provinzialmuseen Trier und Bonn sowie der RGK erscheinen.90 Aubins Kooperation mit archäologischen Institutionen führte schließlich dazu, dass er im Juni 1928 als Nachfolger von Georg Wolff in die RGK berufen wurde.91 Gegenüber dem Auswärtigen Amt begründete Rodenwaldt seinen diesbezüglichen Vorschlag mit dem Hinweis, Aubin habe sich seit langen Jahren besonders der Erforschung des Übergangs von der Antike zum Mittelalter gewidmet. Seine entsprechenden Untersuchungen habe 88 V. S CHNURBEIN , Entwicklung RGK, 153 Anm. 84. 89 H. A UBIN U. A ., Geschichte des Rheinlandes von der 90

91

ältesten Zeit bis zur Gegenwart. 2 Bde (Essen 1922). J. S TEINHAUSEN , Archäologische Karte der Rheinprovinz. Bd. 1,1, Ortskunde TrierMettendorf. Geschichtlicher Atlas der Rheinprovinz, Dritte Abt. 1 (Bonn 1932) bes. VIIf. BAB, R 901, Fasz. 69522, Bl. 30, RGK/Aubin, 23. 6. 1928. – Vgl. auch Ber. RGK 82, 2001, 543.

Der Einfluss der Volkstumsforschung auf die Frühmittelalterarchäologie

327

er stets „in engster Verbindung mit der Römisch-Germanischen Archäologie und insbesondere der Römisch-Germanischen Kommission“ durchgeführt. Da sich das Tätigkeitsgebiet der Kommission gerade auf den fraglichen Übergangszeitraum ausgedehnt habe, sei eine Mitarbeit Aubins in der RGK besonders wünschenswert.92 Ob sich die Erwartungen erfüllt haben, die innerhalb der RGK mit der Berufung Aubins verbunden wurden, ist zweifelhaft. Die im Archiv der RGK erhaltene Korrespondenz Aubins mit den Beamten der RGK ist spärlich.93 Sie deutet nicht darauf hin, dass Aubin nach seiner Berufung einen engen Kontakt zur Kommission unterhielt. Die Gründe hierfür sind möglicherweise in seinem 1929 erfolgten Wechsel nach Breslau zu suchen. Zu verdanken ist Aubin allerdings die intellektuelle Anregung zum bedeutendsten Unternehmen der frühmittelalterlichen Archäologie im Rheinland: Sein oben erwähnter programmatischer Vortrag über die römischgermanischen Kulturzusammenhänge im Rheinland bildete für Franz Oelmann die historische Grundlage, als dieser Anfang der 1930er Jahre begann, den Plan einer systematischen Dokumentation aller frühmittelalterlichen Funde der Rheinprovinz in die Tat umzusetzen.94 Den Ausgangspunkt für Aubins Vortrag über die römisch-germanischen Kulturzusammenhänge im Rheinland bildete einerseits die bereits mehrfach erwähnte These Alfons Dopschs über die weitgehende Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter.95 Für Aubins vehementen Widerspruch gegen Dopschs Ansichten dürfte jedoch nicht allein eine abweichende historische Auffassung verantwortlich gewesen sein. Obwohl auch Dopschs Thesen eine aktuelle nationalpolitische Bedeutungsebene besaßen, nämlich das Bemühen die Germanen vom Makel der Zerstörung der antiken Kultur zu befreien, lief die Quintessenz seiner Ausführungen angesichts der auf Kontinuität zielenden französischen Geschichtspropaganda der Argumentationslinie im historischen „Abwehrkampf“ im Rheinland diametral zuwider. Entsprechend setzte sich Aubin zum Ziel, Dopschs These in ihren Kernaussagen am Beispiel des Rheinlandes zu widerlegen und somit dessen Versuch, „für eine wichtige Epoche unserer Volksgeschichte eine neue Anschauung zu begründen“, zurückzuweisen.96 Dabei leugnete Aubin die 92 93 94

95 96

BAB, R 901, Fasz. 69522, Bl. 29, Rodenwaldt/Auswärtiges Amt, 9. 6. 1928. ARGK, Fasz. 316. K. B ÖHNER, Vorwort des Herausgebers. In: Chr. Neuffer-Müller/H. Ament, Das fränkische Gräberfeld von Rübenach, Stadt Koblenz. Germ. Denkmäler d. Völkerwanderungszeit, Ser. B, Bd. 7 (Berlin 1973) 9–11, hier 9. Vgl. dazu Kap. 3b. H. A UBIN , Maß und Bedeutung der römisch-germanischen Kulturzusammenhänge im Rheinland. Ber. RGK 13, 1921, 46–68, hier 48.

328

Volkstum als Paradigma

Existenz von Kontinuitäten im Rheinland nicht grundsätzlich. Allerdings zielten seine gesamten Ausführungen darauf ab, deren Bedeutung und Umfang herunterzuspielen. Den Ausgangspunkt bildete für Aubin die klassische Eroberungsthese. Im Gegensatz zu den westlichen Teilen des Frankenreichs sei das Rheinland im Zuge der Völkerwanderungszeit nicht nur von einer dünnen germanischen „Herrenschicht “, sondern „von den Germanen „volksmäßig“, in Massen“ besiedelt worden.97 Die Provinzbevölkerung habe dagegen nur in geringen Resten überdauert. Aufgrund ihrer unterprivilegierten Stellung übten sie nur „die niederen Dienste des täglichen Lebens“ aus und konnten daher den Germanen nichts anderes als „die Errungenschaften der täglichen Lebensübung“ vermitteln.98 Zudem seien die Germanen einerseits nicht in der Lage gewesen, die Innovationen der Antike zu übernehmen, und andererseits „entschlossen, ihre eigene Art zu behaupten“.99 Abgesehen von der Kirche habe sich der Zusammenhang zwischen antiker und germanischer Kultur gänzlich auf die „niedere Sphäre“ beschränkt. Der gesamte Aufbau des Staates sowie das ganze Leben im Inneren seien dagegen „durchaus germanisch“.100 Sogar die Wurzeln der mittelalterlichen Städte am Rhein lägen keinesfalls in der römischen Antike. Die Triebkraft für das Aufblühen der rheinischen Städte im Mittelalter, die „bürgerliche Freiheit “, sei nämlich kein römisches Erbe, sondern aus „germanischer Wurzel “ hervorgegangen. Insgesamt, so hielt Aubin als Ergebnis seiner Ausführungen fest, sei „das rheinische Leben seit der Völkerwanderung wie die Bewohner selbst überwiegend germanisch“.101 Einheitliches Germanentum oder Vielfalt der Stämme? Das gemeinsame Interesse der Ur- und Frühgeschichte und der archäologisch interessierten Volkstumsforschung an den Reihengräbern war nicht immer harmonisch. Vor allem hinsichtlich der grundlegenden ethnischen Interpretation traten während der 1920er Jahre wissenschaftliche Differenzen zutage. Von großer Bedeutung war vor allem die Diskussion um die Frage, auf welcher Ebene ethnischer Identität die archäologische Forschung anzusetzen habe. Während die frühen archäologischen Untersuchungen darauf abzielten, die germanischen Einzelstämme zu erfassen, schätzte die 97 98 99 100 101

A UBIN , Kulturzusammenhänge (wie Anm. 96) 48. A UBIN , Kulturzusammenhänge (wie Anm. 96) 51. A UBIN , Kulturzusammenhänge (wie Anm. 96) 55. A UBIN , Kulturzusammenhänge (wie Anm. 96) 60 f. A UBIN , Kulturzusammenhänge (wie Anm. 96) 62 f.

Der Einfluss der Volkstumsforschung auf die Frühmittelalterarchäologie

329

rheinische Schule der Volkstumsforschung die Bedeutung der Unterschiede zwischen den Einzelstämmen gering ein. Stattdessen plädierte man für eine weitgehende Homogenität der frühmittelalterlichen Germanen. Sowohl Friedrich Koepp bei der programmatischen Begründung des „Germanenwerks“ als auch Walther Veeck in seinen frühen Berichten über die württembergische Reihengräberforschung betonten ihre Absicht, die Eigenheiten der verschiedenen germanischen Stämme der Völkerwanderungszeit herauszuarbeiten. Wiederholt bezeichnete es Koepp als vordringliches Ziel des „Germanenwerks“, den Unterschieden zwischen den einzelnen germanischen Völkerschaften nachzuspüren. Da bereits die ethnographischen Quellen der caesarischen Zeit die Existenz solcher Unterschiede bezeugten, müssten diese auch in den archäologischen Hinterlassenschaften zum Ausdruck kommen.102 Auch die frühe württembergische Reihengräberforschung zielte in diese Richtung. Walther Veeck und Peter Goeßler beabsichtigen in erster Linie, die alemannischen Vorfahren der südwestdeutschen Bevölkerung zu erforschen. Sie betonten zwar ebenfalls deren Einbindung in den übergeordneten Kontext der Germanen, dieser erschien aber gegenüber dem Alemannischen zweitrangig. Veeck wollte vor allem die Unterschiede zwischen den fränkischen und den alemannischen Gräberfeldern erfassen und auf diese Weise die ursprüngliche Ausdehnung des alemannischen Siedlungsgebietes herausarbeiten.103 Mit dieser Fixierung auf die germanischen Einzelstämme standen die Frühmittelalterarchäologen nicht allein; auch in der Geschichtswissenschaft wurde zu dieser Zeit häufig die Ansicht vertreten, dass der Stammespartikularismus ein typisches Merkmal des deutschen Volkes sei, das sich bis in dessen Frühzeit zurückverfolgen lasse. Gegen diese Ansicht wandte sich 1926 Franz Steinbach,104 der Nachfolger Aubins als Leiter des „Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande“, in seinen „Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte.“ Dieses Werk, das sich gegenüber vielen Schriften der Volkstumsforschung durch einige Originalität und intellektuellen Gehalt auszeichnete, gehörte zu den einflussreichsten Arbeiten der Volkstumsforschung im Westen. Erklärtermaßen handelte es sich bei Steinbachs Studien um eine

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103

104

K OEPP, Gesellschaft (wie Anm. 32) 74. – Ähnlich auch K OEPP, Zwei Aufgaben (wie Anm. 18) 285. – K OEPP, Altertumsforschung (wie Anm. 26) 298. W. V EECK , Über den Stand der alamannisch-fränkischen Forschung in Württemberg. Ber. RGK 15, 1923/24, 41–57, hier 41 ff. Zu Steinbach vgl. O BERKROME , Volksgeschichte, 68 ff. – F AHLBUSCH , Forschungsgemeinschaften, 355–357. – S CHÖTTLER, Landesgeschichte, 95 ff. – D ERKS, Westforschung, 33 ff.

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Volkstum als Paradigma

Programmschrift. Der Autor erhob nicht den Anspruch, die behandelten Fragen endgültig geklärt zu haben, sondern wollte seine Studien ausdrücklich als Versuch und Programm für die Zukunft verstanden wissen.105 Steinbach wandte sich vor allem dagegen, Kontinuitäten der germanischen Einzelstämme von der Urzeit bis in die Gegenwart zu konstruieren. Die Stämme der Völkerwanderungszeit ließen sich nicht unmittelbar aus ihren kaiserzeitlichen Vorläufern herleiten. Vielmehr handle es sich bei ihnen um Neubildungen, die sich erst in den neuen Siedlungsgebieten vollzogen hätten. Die regionalen Unterschiede innerhalb der germanischen Bevölkerung führte Steinbach im Sinne der rheinischen Kulturraumforschung auf die „Wechselwirkung von Raum und Geschichte im weitesten Sinne“ zurück, nicht aber auf die Wirkung ethnischer Sondertraditionen der einzelnen Stämme.106 Vor diesem Hintergrund war es nur folgerichtig, dass Steinbach die aktuellen Versuche der Ur- und Frühgeschichte sich in den „Dienst der Stammesforschung zu stellen“, sehr skeptisch beurteilte. Dies bezog sich nicht allein auf die urgeschichtlichen Epochen, zu denen Steinbach bemerkte, dass die Beweise für die Richtigkeit von Kossinnas Lehrsatz über den ethnischen Charakter archäologischer Kulturprovinzen noch sehr problematisch seien.107 Vielmehr zweifelte er grundsätzlich die Möglichkeiten der Frühmittelalterarchäologie an, anhand ihrer Quellen zwischen den germanischen Einzelstämmen unterscheiden zu können. Die entsprechenden Versuche zeigten lediglich, dass die Archäologie nicht aus den Misserfolgen der Ortsnamenforschung gelernt habe. So wies Steinbach die Behauptung Veecks, dass es gelungen sei bis zu einem gewissen Grad archäologisch zwischen Franken und Alemannen zu unterscheiden, rundweg zurück. In vielen Kulturerscheinungen der merowingischen Periode zeige sich vielmehr eine auffällige Übereinstimmung zwischen den fränkischen und alemannischen Gebieten. Grundsätzlich seien die Gründe für bestimmte regionale Entwicklungen nicht in traditionellen Stammeseigentümlichkeiten zu suchen, sondern in den zeitgenössischen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen: Wenn die Archäologie die Ergebnisse der Mundarten- und Ortsnamenforschung beachtet, wird sie für die Grenzbildungen kultureller Art der Merowingerperiode zunächst einmal die politischen und kirchlichen Zusammenhänge und die verkehrswirtschaftlichen Beziehungen dieser Zeit zum Vergleich heranziehen, ehe sie an alte mythische Kultverbände – Ingwäonen, Istwäonen, Herminonen – denkt.108

105 106 107 108

S TEINBACH , Studien, 4. S TEINBACH , Studien, bes. 123 f. S TEINBACH , Studien, 10. S TEINBACH , Studien, 117–120, Zitat 119.

Der Einfluss der Volkstumsforschung auf die Frühmittelalterarchäologie

331

Steinbachs Skepsis bezog sich allein auf die archäologischen Ansätze zur ethnischen Binnendifferenzierung der Germanen, nicht aber auf die Möglichkeit der ethnischen Interpretation der archäologischen Quellen insgesamt. Vor allem betonte er, dass es seiner Ansicht nach durchaus möglich sei, während der Völkerwanderungszeit zwischen der einheimischen Bevölkerung einerseits und den einwandernden Germanen andererseits zu unterscheiden: Der kulturelle Abstand der einbrechenden Germanen von der römischen Provinzialbevölkerung ist im Anfang nachweislich so bedeutend gewesen, daß in dieser Hinsicht die Funde eine vertrauenswürdige historische Quelle darstellen.109

Von Teilen der Archäologie wurde Steinbachs Werk durchaus positiv aufgenommen. Franz Oelmann,110 der spätere Direktor des Rheinischen Landesmuseums Bonn, stellte es sogar auf eine Stufe mit Karl Hermann JacobFriesens wenig später erschienenen „Grundfragen der Urgeschichtsforschung“.111 Oelmann lobte das Bemühen Steinbachs, „sich energisch gegen das überhand nehmende Arbeiten mit unbewiesenen Dogmen [zu] wenden und fruchtbare Gesichtspunkte in den Vordergrund zu rücken“. Die von Steinbach und JacobFriesen gewiesenen Wege seien „grundsätzlich richtig und geeignet, zu wirklichen Erkenntnissen statt zu unbeweisbaren Hypothesen zu führen“.112 Unter den Archäologen traf Walther Veeck die Kritik Steinbachs am härtesten. Umgehend unternahm Veeck deshalb den Versuch diese zurückzuweisen. Seine Argumentation folgte einem Muster, das bei vergleichbaren Diskussionen um die ethnische Interpretation archäologischer Funde regelmäßig wiederkehren sollte: Veeck zog sich auf seine vermeintliche fachliche Autonomie zurück und meinte, Steinbachs Position resultiere allein aus der Unkenntnis des archäologischen Materials. Hätte sich Steinbach eingehend mit den archäologischen Denkmälern des frühen Mittelalters beschäftigt, so wäre sein Urteil gewiss anders ausgefallen. In diesem Sinne beharrte Veeck darauf, dass es ihm gelungen sei, archäologisch zwischen Franken und Alemannen zu differenzieren. Vor allem bei der Keramik lasse sich der Unterschied deutlich fassen. Bei der

109 110

111

112

S TEINBACH , Studien, 163. Zu Oelmann vgl. B. B OURESH , Die Neuordnung des Rheinischen Landesmuseums Bonn 1930–1939. Zur nationalsozialistischen Kulturpolitik der Rheinprovinz (Köln 1996) 196. K. H. J ACOB -F RIESEN , Grundfragen der Urgeschichtsforschung. Stand und Kritik der Forschung über Rassen, Völker und Kulturen in urgeschichtlicher Zeit (Hannover 1928). F. O ELMANN , Rez. F. Steinbach, Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte. Bonner Jahrb. 133, 1928, 251 f.

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Volkstum als Paradigma

handgemachten Rippenkeramik handele es sich um ein typisch alemannisches Produkt, das diese aus ihrer nordischen Heimat mitgebracht hätten. Ferner könne man keinesfalls bezweifeln, dass es sich bei den merowingerzeitlichen Knickwandtöpfen um ein typisch fränkisches Produkt handele.113 Obwohl Veeck seine Ansicht, Franken und Alemannen seien archäologisch zu unterscheiden, in seiner bereits erwähnten großen Monographie über die frühmittelalterlichen Funde Württembergs nochmals bekräftigte,114 konnte er sich damit nicht dauerhaft durchsetzen. Auch innerhalb der Archäologie mehrten sich skeptische Stimmen. Bereits kurz vor Steinbach hatte der Nestor der Archäologie Bayerns, Paul Reinecke, eine sehr ähnliche Position bezogen. Zwar betonte auch Reinecke die „völkergeschichtliche (ethnographische)“ Bedeutung der Reihengräberfunde,115 zeigte sich aber ebenfalls zurückhaltend hinsichtlich der Möglichkeiten innerhalb des Reihengräbermaterials zwischen verschiedenen Stämmen zu unterscheiden. Zwar sei es durchaus wünschenswert, etwa die Stammesgrenze zwischen Bajuwaren und Alemannen archäologisch zu ermitteln. Allerdings sei dies bislang kaum möglich: Denn die in den Gräbern liegenden Hinterlassenschaft ist bei den einzelnen Stämmen typologisch und stilistisch nicht so erheblich geschieden, weil sie alle an einer einigermassen einheitlichen, von den Stätten des Gewerbefleißes in den Ländern jenseits der Alpen auch wieder stark beeinflussten Kultur Anteil hatten. […] Die damaligen politischen Verhältnisse, das Übergewicht des Frankenreiches und das Bestehen einer Art Einheitsstaates von der Slaven- und Avarengrenze im Osten bis nach Frankreich hinein ließen bei den einzelnen Stämmen ein völkisch stark differenziertes Kunstgewerbe kaum aufkommen.116

d) Hans Zeiss und die Methodik der Archäologie des frühen Mittelalters Die eben besprochenen Arbeiten sind Teil einer Debatte um die methodischen Grundlagen der ethnischen Interpretation in der Ur- und Frühgeschichte, die sich in Deutschland während der zweiten Hälfte der 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre in Ansätzen entwickelte. Diese Diskussion beschränkte sich nicht auf die Frühgeschichte, sondern konzentrierte sich 113 114 115

116

W. V EECK , Archäologie und Stammesforschung. Germania 11, 1927, 58–60. V EECK , Württemberg (wie Anm. 60) 88–90. P. R EINECKE , Unsere Reihengräber der Merowingerzeit nach ihrer geschichtlichen Bedeutung. Bayer. Vorgeschfreund 5, 1925, 54–64, hier 54. R EINECKE , Reihengräber (wie Anm. 115) 63.

Hans Zeiss und die Methodik der Archäologie des frühen Mittelalters

333

eher auf die urgeschichtlichen Epochen. So unterzog Karl Hermann JacobFriesen in seinen „Grundfragen der Urgeschichtsforschung“ Kossinnas Lehrsatz über den ethnischen Charakter archäologischer Fundprovinzen einer vernichtenden Kritik.117 Möglicherweise hätte sich aus diesen Ansätzen eine fruchtbare Debatte entwickeln können. Die veränderte politische Lage nach 1933 verhinderte dies jedoch weitgehend. Während Jacob-Friesen seine Kritik an der Methodik Kossinnas 1928 noch ungehindert äußern konnte, war dies nach der Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur kaum mehr möglich, da Kossinna von den Anhängern des Reichsbunds für Deutsche Vorgeschichte zur Ikone der völkischen Vorgeschichtsforschung erklärt wurde. Offene Kritik wurde damit auf dem Gebiet der Urgeschichtsforschung schwieriger, brach aber nicht ganz ab, wie das Beispiel Ernst Wahles zeigt.118 Obwohl diese Ansätze einer Diskussion über die Methodik der ethnischen Deutung verfrüht zum Stillstand kamen, hinterließen sie in der frühgeschichtlichen Archäologie Spuren, vor allem hinsichtlich der Frage, ob das Reihengräbermaterial in Bezug auf die verschiedenen germanischen Einzelstämme weiter differenziert werden könne. Ausgehend von der Kritik am Ansatz Kossinnas setzte sich während der 1930er Jahre allmählich die Überzeugung durch, dass die Reihengräber zwar insgesamt sicher den Germanen zuzuweisen seien, eine weitere Differenzierung in die Hinterlassenschaften der verschiedenen Einzelstämme wurde jedoch ganz überwiegend abgelehnt. Dieser Konsens bestand weitgehend unangefochten bis etwa in die Mitte der 1970er Jahre. Erst im Zuge der „Rehabilitation der ethnischen Deutung“119 durch manche Teile der Gräberarchäologie des frühen Mittelalters gewann die Ansicht, es sei doch möglich die einzelnen Stämme archäologisch zu identifizieren, wieder an Boden. Für die Etablierung des beschiebenen Konsenses besaßen die Arbeiten des bayerischen Historikers und Archäologen Hans Zeiss große Bedeutung. Dabei lassen sich zwei Phasen unterscheiden: Zunächst setzte sich Zeiss Anfang der 1930er Jahre sehr kritisch mit den gängigen ethnischen Interpretationen in der Frühmittelalterarchäologie auseinander. Mehrfach betonte er, die Stärken der Reihengräberforschung lägen nicht auf diesem Gebiet. 117

118

119

K. H. J ACOB -F RIESEN , Grundfragen der Urgeschichtsforschung. Stand und Kritik der Forschung über Rassen, Völker und Kulturen in urgeschichtlicher Zeit (Hannover 1928) bes. 137–145. E. W AHLE , Zur ethnischen Deutung frühgeschichtlicher Kulturprovinzen. Grenzen der frühgeschichtlichen Erkenntnis I. Sitzber. Heidelberger Akad. Wiss., phil.-hist.Kl. 1940/41, 2 (Heidelberg 1941). – Vgl. dazu H AKELBERG , W AHLE (wie Anm. 28) 252 ff. Kap. 15.

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Volkstum als Paradigma

Gegen Ende der 1930er Jahre verschob sich sein Forschungsschwerpunkt nochmals deutlich. Während des Zweiten Weltkriegs wandte er sich der Rekonstruktion frühmittelalterlicher Siedlungsgebiete anhand der Reihengräber zu. Dabei stand jedoch allein die Differenzierung von germanischen und nichtgermanischen Bestattungen im Zentrum, nicht aber die Unterscheidung zwischen verschiedenen germanischen Stämmen.120 Hans Zeiss’ Einfluss auf die Entwicklung der Gräberarchäologie des frühen Mittelalters ist kaum zu überschätzen. Vielfach wurde er als eigentlicher Gründer der Frühmittelalterarchäologie bezeichnet.121 Da ich seinen Werdegang bereits an anderer Stelle ausführlich behandelt habe122, genügt hier ein Überblick. Der 1895 in Straubing geborene Hans Zeiss gehörte noch jener Generation von Archäologen an, die über Umwege zur Ur- und Frühgeschichtsforschung kam, d. h. im Falle von Hans Zeiss über die Geschichtswissenschaft. Nach dem Weltkrieg und Kriegsgefangenschaft nahm Zeiss 1919 das Studium an der Universität München auf, das er 1923 mit einem Lehramtsexamen für Deutsch, Geschichte und Englisch abschloss. Nach einer kurzen Tätigkeit als Lehrer kehrte Zeiss 1925 an die Universität München zurück, wo er 1926 mit einer Arbeit über die Geschichte der Zisterzienserabtei Ebrach promoviert wurde. Im Jahre 1927 wandte sich Zeiss endgültig der Archäologie zu. Im Auftrag der RGK und mit einem Stipendium der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft ausgestattet, bereiste er Spanien, Portugal und das südliche Frankreich, um die archäologischen Hinterlassenschaften der Westgoten aufzunehmen. Dieses Unternehmen verlief offenbar zur Zufriedenheit aller Beteiligten. Bald nach seiner Rückkehr wurde Zeiss Assistent bei der RGK und 1931 schließlich deren Zweiter Direktor. Im gleichen Jahr habilitierte sich Zeiss in Frankfurt mit einer Arbeit über die westgotischen Funde auf der Iberischen Halbinsel für das Fach „Mittelalterliche Geschichte und Germanische Altertumskunde“. 1935 übernahm er den neu errichteten Lehrstuhl für Vor- und Frühgeschichte an der Universität München. Bis zu seinem Tod 1944 entfaltete er dort eine rege 120 121

122

Kap. 11d. K RÄMER, 75 Jahre (wie Anm. 24) 6. – K. B ÖHNER, Zur Erinnerung an Hans Zeiss. Jahrb. RGZM 12, 1965, IX–XVII, hier IX. – J. W ERNER, Feierstunde im Institut für Vor- und Frühgeschichte 20. Nov. 1965. Chronik d. Ludwigs-Maximilians-Univ. München 1965/66, 66–73, hier 67. – D ERS., Hans Zeiss. In: F. Baethgen (Hrsg.), Geist und Gestalt. Biographische Beiträge zur Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften vornehmlich im zweiten Jahrhundert ihres Bestehens. Bd. 1 Geisteswissenschaften (München 1959) 181–185, hier 182. F EHR, Zeiss und Werner.

Hans Zeiss und die Methodik der Archäologie des frühen Mittelalters

Abb. 16: Hans Zeiss (nach Jahrb. RGZM 12, 1965, VIII).

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Volkstum als Paradigma

Lehrtätigkeit. Sein Schülerkreis übte in der Nachkriegszeit einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung der deutschsprachigen Frühmittelalterarchäologie aus.123 Bis Ende der 1920er Jahre legte Zeiss vorwiegend Publikationen zur mittelalterlichen Landesgeschichte vor. Seine archäologischen Arbeiten – die erste erschien 1927 – zeichneten sich neben der Präzision in der antiquarischen Analyse von Anfang an durch das Bemühen aus, die historische und ethnische Interpretation der frühmittelalterlichen Grabfunde auf eine solide Basis zu stellen. In seinen frühen Jahren publizierte Zeiss darüber hinaus einige Arbeiten, in denen er die Programmatik und den historischen Erkenntniswert der Frühmittelalterarchäologie zu präzisieren suchte. Die Stellungnahme gegen die ethnische Binnendifferenzierung des Merowingerreichs Zeiss’ Frankfurter Antrittsvorlesung über die „geschichtliche Bedeutung der frühmittelalterlichen Archäologie“ war gleichermaßen eine Bilanz über die bisherige Forschung und ein Programm für die Zukunft. Als zentrale Forschungsfelder beschrieb Zeiss drei Bereiche: die „politische Geschichte“, die „Geistesgeschichte“ und die „Handels- und Verkehrsgeschichte“. Als archäologische Quellen zur politischen Geschichte behandelte Zeiss vor allem die verschiedenen frühgeschichtlichen Befestigungsanlagen. Der bedeutendste archäologische Beitrag zur Geistesgeschichte war ihm zufolge die Erforschung der christlichen Missionierung Deutschlands, zu der die Erforschung der frühmittelalterlichen Kirchenbauten einiges beitragen könne.124 Bemerkenswert ist nun, dass Zeiss die Reihengräberfunde vorrangig weder als Quellen für die politische noch für die Geistesgeschichte betrachtete, sondern neben ihrer Bedeutung als früheste Zeugnisse des „nordischen“ Kunstschaffens vor allem ihren Quellenwert für die Wirtschaftsund Verkehrsgeschichte hervorhob. Überregional verbreitete Fundtypen ließen nicht nur weitreichende Verbindungen erkennen, sondern auch Motivwanderungen und stilistische Einflüsse. Ausdrücklich wies er darauf hin, dass das Erkenntnispotential in dieser Richtung erheblich größer sei, als hinsichtlich ethnischer Interpretationen:

123 124

F EHR, Zeiss und Werner, bes. 316–330. H. Z EISS, Die geschichtliche Bedeutung der frühmittelalterlichen Archäologie. Hist. Jahrb. 51, 1931, 297–306, hier 298–304.

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Eine umfassende Darstellung der frühmittelalterlichen Handels- und Verkehrsbeziehungen unter Auswertung der Funde ist noch nicht unternommen worden, wäre aber eine dankenswerte Aufgabe. Die Geschichte hat auf diesem Gebiet mehr zu erwarten, als von den beliebten Versuchen, Fundkomplexe ethnisch zu deuten. Gerade innerhalb des Merovingerreiches erscheint die Scheidung der einzelnen Stämme nach den Grabfunden außerordentlich schwierig und nur in Ausnahmefällen aussichtsreich; soweit sich die Verbreitung bestimmter Schmuckstücke geographisch gut abgrenzen läßt, handelt es sich allem Anschein nach um Absatz- oder Einflussgebiete bestimmter Werkstattgruppen, welche von den natürlichen Grenzen stärker als von ethnisch-politischen abhängig sind und auch eine Einwirkung der großen Verkehrslinien erkennen lassen.125

In seinem 1930 erschienenen Aufsatz „Zur ethnischen Deutung frühmittelalterlicher Funde“ legte Zeiss seine Kritik an der damals gängigen Praxis der ethnischen Deutung systematisch dar. Mit Nachdruck wandte er sich gegen allzu leichtfertige ethnische Interpretationen der Fibelformen. Anhand verschiedener Beispiele, vor allem Arbeiten von Herbert Kühn, Gustaf Kossinna und Helmut Preidel, demonstrierte er die inneren Widersprüche, die er als symptomatisch für zahlreiche ethnische Interpretationen in der Frühmittelalterarchäologie ansah. Grundsätzlich erhob Zeiss die Forderung, eine ethnische Interpretation der frühmittelalterlichen Fibeln sei nur dann plausibel, wenn ihr Hauptverbreitungsgebiet sich in etwa mit dem historisch überlieferten Siedlungsgebiet eines Stammes decke: Wenn aber vereinzelte Vertreter einer Fibelgruppe in so weit von einander entfernten Gebieten vorkommen, ohne daß sich vorläufig eines von ihnen durch eine besonders hohe Fundzahl heraushebt, so spricht dies nicht gerade dafür, daß der Typ einem bestimmten Stamme eigentümlich und etwa von den Markomannen erfunden worden sei.126

Vor diesem Hintergrund wies Zeiss auch die Ansicht Herbert Kühns zurück, der kurz zuvor geäußert hatte, dass besonders die Fibeln es erlaubten, die Hinterlassenschaften der einzelnen germanischen Stämme voneinander zu trennen: „[…] jedes Volk, jede Zeit hatte ihre besondere Form, ihren eigenen Typus. Mit den Fibeln ist uns ein Mittel gegeben, das prähistorisch und kunstgeschichtlich gleichmäßig wertvoll, die genaue Scheidung nach Stämmen, nach Zeit und Ort gestattet.127

Insgesamt vertrat Zeiss die Ansicht, dass die Mehrzahl der Fibeln nicht einem einzigen Stamm zugewiesen werden könne. Überhaupt seien metho125 126

127

Z EISS, Bedeutung (wie Anm. 124) 304. H. Z EISS, Zur ethnischen Deutung frühmittelalterlicher Funde. Germania 13, 1930, 11–24, hier 15. H. K ÜHN , Das Kunstgewerbe der Völkerwanderungszeit. In: H. Th. Bossert (Hrsg.), Geschichte des Kunstgewerbes aller Zeiten und Völker. Bd. 1 (Berlin 1928) 69–100, hier 78.

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disch tragfähige ethnische Interpretationen wohl nur in besonders günstigen Ausnahmefällen wahrscheinlich zu machen. Bei den meisten Formen ließe sich dagegen kein „Sondergut“ einzelner Stämmen bzw. keine Stammeseigentümlichkeiten habhaft machen. Zeiss’ Argumentation gegen die mechanische Zuweisung der einzelnen Fibelformen an die verschiedenen germanischen Stämme setzte sich in der Folge allmählich durch, obschon die Gleichsetzung von Fibelformen und Stämmen in den nächsten Jahrzehnten nie gänzlich unüblich wurde. Wie lange Zeiss’ Verdikt in dieser Sache nachwirkte, zeigt sich etwa darin, dass Alexander Koch sich noch vor wenigen Jahren genötigt sah Zeiss’ Standpunkt zurückzuweisen. Mit seiner Behauptung, „der Versuch, einzelne Fibeltypen und Formengruppen bestimmten germanischen Stämmen bzw. Stammesgruppen“128 zuzuordnen, sei zwar mit gewissen Unsicherheiten behaftet, für den überwiegenden Teil des Materials aber möglich, kehrte Koch letztlich wieder zum oben referierten Standpunkt Herbert Kühns zurück. Anders als Koch meint, lehnte Zeiss ethnische Interpretationen aber nicht allein „bei unzulänglicher Materialkenntnis“ ab. Zeiss’ Zweifel waren vielmehr methodischer Natur. Sehr wahrscheinlich speiste sich seine Skepsis gegenüber den ethnischen Interpretationen aus zwei Quellen. Abgesehen von der Tatsache, dass Zeiss, wie gerade gezeigt, die inneren Widersprüche der gängigen ethnischen Interpretationen deutlich wahrnahm, übte die zeitgenössische Volkstumsforschung einen erkennbaren Einfluss auf seine Haltung aus. Wohl bereits während seines Studiums in München war Zeiss mit den neuen Strömungen in der Historiographie in Berührung gekommen. Spätestens durch die Mitarbeit beim „Pfälzischen Heimatatlas“129, der ausdrücklich als Bindeglied zwischen dem „Elsass-Lothringischen Atlas“ und Aubins „Geschichtlichem Handatlas der Rheinprovinz“ geplant war130, und für den Zeiss die Karte über die pfälzischen Ortsnamen anfertigte, kam er in näheren Kontakt mit der historischen Volkstumsforschung. Die Lektüre von Steinbachs „Studien“ scheint einen besonderen Einfluss ausgeübt zu haben.131 Zeiss betonte wie Steinbach, dass „im 6. und 7. Jahrhundert die Differenzierung der deutschen Stämme viel weniger weit fortgeschrit-

128 129

130

131

K OCH , Bügelfibeln, 535 f. – Vgl. Kap. 16a. H. Z EISS, Aktuelle Probleme der frühmittelalterlichen Archäologie. Prähist. Zeitschr. 22, 1931, 240–242. H. Z EISS, Nachtrag zum geplanten Pfälzischen Heimatatlas. Zeitschr. Bayer. Landesgesch. 1, 1928, 93–95, hier 93. H. Z EISS, Entwicklung des Siedlungsraumes des Pfalz nach den Ortsnamen. In: W. Winkler (Hrsg.), Pfälzischer Geschichtsatlas (Neustadt 1935) 2 f.

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ten war als am Ende des Mittelalters“. Aus diesem Grund sei nicht zu erwarten, dass etwa auf dem Gebiet der Schmuckformen tiefergehende Stammesunterschiede zu erkennen seien. Gerade diese seien in der Vergangenheit ebenso wie heute in besonderem Maße nivellierenden Zeitmoden unterworfen gewesen. Deshalb tue die archäologische Forschung gut daran, sich eher kulturgeschichtlichen Fragen zuzuwenden.132 In der Archäologie stieß Zeiss’ Plädoyer gegen die ethnische Binnendifferenzierung der merowingischen Funde nicht nur auf Zustimmung. 1931 trug er seine Ansichten auf der Tagung des West- und Süddeutschen Verbandes für Altertumsforschung in Stuttgart vor. In der Diskussion lehnten Peter Goeßler und Alfred Götze Zeiss’ Skeptizismus als übertrieben ab und vertraten stattdessen die Ansicht, dass „man mit der typologischen Methode doch weiterkommen werde“.133 Aus verständlichen Gründen wurden Zeiss’ Ansichten von der historischen Volkstumsforschung auf Anhieb positiv aufgenommen. Anlässlich der Publikation von Zeiss’ Habilitationsvortrag drückte Aubin in einem Brief an Zeiss seine Zustimmung aus. Dabei wird deutlich, dass von Seiten der historischen Volkstumsforschung Anfang der 1930er Jahre die besiedlungsgeschichtliche Auswertung der Reihengräberfunde noch nicht als vordringlich erachtet wurde. Aubin pflichtete Zeiss bei, dass die Erforschung der frühmittelalterlichen Handelsgeschichte sowie des merowingisch-karolingischen Grenzsystems die wichtigsten Desiderate darstellten.134 Zeiss gab daraufhin seiner Hoffnung Ausdruck, dass es in Zukunft möglich sein werde, die Kooperation zwischen Aubin und der RGK auszubauen. Er selbst sei der Meinung, dass in den nächsten Jahren wohl am ehesten die Erforschung der fränkischen Expansion östlich des Rheins vorangetrieben werden könne.135 Während der 1930er Jahre setzte sich Zeiss’ Ablehnung der archäologischen Binnendifferenzierung der merowingerzeitlichen Germanen immer mehr durch. Neben den sachlichen Argumenten dürfte Zeiss’ einflussreiche Position innerhalb des Wissenschaftsgefüges entscheidend dazu beigetragen haben. Obwohl Zeiss durch seine Stellungnahme gegen die herrschende Praxis der ethnische Deutung zu den profiliertesten Kritikern Gustaf Kossinnas gehörte, griffen ihn die Parteigänger der völkischen Fraktion der Vorgeschichtsforschung um Hans Reinerth nur indirekt an. Zeiss’ früheres politisches Engagement, sein Eintreten für den Rassegedan132 133 134 135

Z EISS, Probleme (wie Anm. 129) 242. Prähist. Zeitschr. 22, 1931, 242. ARGK, Fasz. 316, Bl. 39, Aubin/Zeiss, 3. 4. 1932. ARGK, Fasz. 316, Bl. 44–45, Zeiss/Aubin, 12. 4. 1932.

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ken sowie seine Kontakte zu politisch einflussreichen Kreisen dürften hier mit eine Rolle gespielt haben.136 „Tracht“ und „Sitte“: Hans Zeiss’ „Grabfunde aus dem spanischen Westgotenreich“ Noch vor wenigen Jahren wurde Hans Zeiss’ große Monographie über die Grabfunde aus dem spanischen Westgotenreich als „Wendepunkt in der europäischen völkerwanderungszeitlichen Archäologie“ bezeichnet. Erst durch dieses Werk habe diese „ihren festen Boden gewonnen“.137 Neben seinem unmittelbaren Wert als erste systematische Sammlung der frühmittelalterlichen Grabfunde auf der Iberischen Halbinsel übte dieses Buch, das als zweiter Band der Germanischen Denkmäler der Völkerwanderungszeit erschien, auch als methodisches Vorbild für spätere Arbeiten einen bedeutenden Einfluss aus. Abgesehen von der typologischen und chronologischen Analyse legte Zeiss hier die Grundlagen für einen eigenständigen Ansatz zur ethnischen Interpretation frühmittelalterlicher Funde, der bis heute nachwirkt. Nicht allein den germanischen Charakter des Fundstoffes bekräftigte Zeiss dabei, sondern er meinte auch dessen prozessuale Veränderung archäologisch nachvollziehen zu können. Die Ansätze, die Zeiss hier entwickelte, sollten gegen Ende der 1970er Jahre die Grundlage für die archäologischen Ansätze zur Akkulturationsforschung bilden.138 Grundlage für Zeiss’ Ausführungen zu den frühmittelalterlichen Grabfunden der Iberischen Halbinsel war seine Ansicht, die germanische Zugehörigkeit der sogenannten westgotischen Gräberfelder stehe zweifelsfrei fest. Zeiss hob dies eigens hervor, da er gleichzeitig zu bedenken gab, dass angesichts des zähen Festhaltens auch der einheimischen Landbevölkerung an der Sitte der Grabbeigaben die Frage nicht unberechtigt wäre, ob die frühmittelalterlichen Grabfelder der Halbinsel überhaupt mit Sicherheit einem germanischen Volke zuzuweisen sind.

Diese Möglichkeit schloss Zeiss jedoch aus, da spätrömische Stücke nur ausnahmsweise in westgotischen Gräberfeldern gefunden würden. Im Gegenzug seien die Beziehungen der westgotischen Gräber zu den germani-

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138

F EHR, Zeiss und Werner, 326 f. N. B OROFFKA /R. H ARHOIU , Würdigung für Hans Zeiß (1895–1944). Dacia NS 38/39, 1994/1995, 457–458, hier 457. Vgl. Kap. 15e.

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schen Friedhöfen in anderen Ländern zu ausgeprägt, so dass an ihrem germanischen Charakter kein Zweifel bestehen könne.139 In einem 1934 kurz nach Erscheinen des Werkes verfassten Brief an Aubin äußerte Zeiss, dass ihm in seinem Werk in sozialgeschichtlicher Hinsicht am wichtigsten gewesen sei, die allmähliche Veränderung bzw. die Romanisierung des Westgotenvolkes archäologisch erkennen zu können.140 Um diesen Prozess zu erfassen, stützte sich Zeiss vor allem auf zwei Konstruktionen. Beide waren nicht ganz neu in der Ur- und Frühgeschichte, wurden aber von Zeiss auf eine neuartige und stilbildende Weise betrachtet. Neben der Annahme der Existenz einer originär „germanischen“ Kunst stützte sich Zeiss vor allem auf den Begriff der „Tracht“. Bis in die Gegenwart kommt der „Tracht“ für die Verfahren der ethnischen Interpretation eine zentrale Rolle zu; erst in den letzten Jahren wird sie zunehmend in Frage gestellt.141 Da der Begriff seit den 1930er Jahren für die ethnischen Interpretationen der frühgeschichtlichen Archäologie eine zentrale Rolle spielte, ist es nötig bereits an dieser Stelle seine Entwicklung darzustellen. In seiner ethnisch aufgeladenen Spielart ist der Trachtbegriff ein Kind des Nationendiskurses am Ende des 18. Jahrhunderts. Zwar findet sich bereits in der antiken ethnographischen Literatur der Topos, die barbarischen Völker hätten sich anhand ihrer Kleider unterschieden; die Wurzeln des archäologischen Trachtbegriffs sind jedoch in anderer Richtung zu suchen. In den 1770er Jahren diskutierte man unter patriotischen und staatsökonomischen Vorzeichen an verschiedenen Stellen in Europa über die Einführung einer Nationaltracht. Um die französische „Mode“ zurückzudrängen, forderte 1779 ein deutscher Diplomat die Schöpfung einer „Nationaltracht“, da nur durch diese der deutsche „Nationalcharakter “ aufrechterhalten werden könne.142 Während diese Diskussion am Vorabend der Französischen Revolution rein akademisch blieb, wurde sie in Deutschland in der Zeit der napoleonischen Kriege erneut aufgegriffen. Vor allem die Vorreiter des deutschen Nationalismus begeisterten sich für diese Idee. Unmittelbares Produkt dieser Entwicklung war die Erfindung der sogenann-

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Z EISS, Westgotenreich, 2. ARGK, Fasz. 316, Bl. 59, Zeiss/Aubin, 11. 6. 1934. Kap. 18e. – Vgl. dazu jetzt auch S. B RATHER, Von der „Tracht“ zur „Kleidung“. Neue Fragestellungen und Konzepte in der Archäologie des Mittelalters. Zeitschr. Arch. Mittelalters 35, 2007, 185–206. S. M ÜLLER, Kleider machen Nationen: Das Beispiel der „altdeutschen Tracht“. Gesch. i. Wiss. u. Unterricht 52, 2001, 162–179, hier 164.

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ten „altdeutschen Tracht “, die sich nach 1815 in national gesinnten Kreisen einiger Beliebtheit erfreute. Die Verfechter dieser patriotischen Idee vertraten jedoch die Ansicht, eine deutsche Nationaltracht sei keine Neuerung, sondern stelle lediglich einen einstmals vorhandenen idealen Zustand wieder her. Ernst Moritz Arndt polemisierte in diesem Zusammenhang etwa gegen den Einfluss der französischen Mode: Die für die Tugend des deutschen Geschlechts zunächst wichtigsten Dinge wären für das Innerliche und das Aeußerliche […] e i n e d e u t s c h e K l e i d e r t r a c h t . […] wir hatten einmal eine eigene Tracht, seit zwei Jahrhunderten sind wir die Affen fremder Völker gewesen.143

Auch zu Friedrich Ludwig Jahns Programm zur Stärkung des „Deutschen Volkstums“144 gehörte eine „allgemeine Volkstracht “. Jahn argumentierte sogar, die Volkstracht besitze eine ganz besondere Rolle für den Erhalt des eigenen Volkstums. Auch Deutschland habe vor dem Dreißigjährigen Krieg eine solche besessen. Mit ihrem Verlust sei dann der Untergang des Deutschen Reiches besiegelt gewesen. Überhaupt sah Jahn im Tragen einer „Volkstracht“ geradezu die Gewähr für den Erhalt eines Volkstums in einer bedrängten Situation: Solange eine kleine eingedrängte Völkerschaft noch ihre volkstümliche Kleidung trägt, ist sie gegen Einschmelzung geharnischt: Legt sie aber diese Wehr ab; so wird sie von dem Augenblick an untergestreckt und lebt sich unter der größeren Menge aus.

Jahn forderte ferner, keinen Fremden, sondern lediglich den Inhabern des Bürgerrechts zuzugestehen, die Volkstracht tragen zu dürfen. Die neu zu schaffende Volkstracht solle überdies „mit echtem Volkssinn und hohem Volkstumsgeist “ erfunden werden.145 Während des 19. Jahrhunderts widmete sich vor allem die Volkskunde der Erforschung der Trachten. Besonders in der bäuerlichen Kleidung meinte man, eine von der Moderne unberührte Volksüberlieferung fassen zu können. Wolfgang Kaschuba spricht in diesem Zusammenhang von einem „Trachtenparadigma“146, von dem sich die volkskundliche Forschung erst seit den 1960er Jahre allmählich lösen konnte.147 Die Idee der Volkstracht wurde nicht nur von der volkskundlichen Forschung aufgegriffen. Mit dem Hinweis auf die entsprechenden Erwähnun143

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E. M ORITZ A RNDT , Ueber Sitte, Mode und Kleidertracht. Ein Wort aus der Zeit (1814). In: Ders., Ernst Moritz’s Schriften für und an seine lieben Deutschen. Bd. 2 (Leipzig 1845) 135–196, Zitat 168. Vgl. Kap. 7a. F. L. J AHN , Deutsches Volkstum (Berlin, Weimar 1991) 229. K ASCHUBA , Europäische Ethnologie, 227. Kap. 18e.

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gen in der Schriftüberlieferung und bestärkt durch die archäologische Forschung ging auch die Geschichtswissenschaft bis in jüngere Zeit davon aus, dass die Stämme des frühen Mittelalters über jeweils spezifische Volkstrachten verfügt hätten. Aufgrund einer kritischen Durchsicht der relevanten Quellen konnte Walter Pohl jedoch zeigen, dass diese Ansicht keinen Rückhalt in den Quellen findet.148 Obwohl der Ausdruck „Tracht“ bereits in den archäologischen Publikationen des 19. Jahrhunderts zu finden ist, wurde er, wie bereits angedeutet, erst ab den 1930er Jahren zu einem wichtigen Werkzeug für ethnische Interpretationen in der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie. In seinem Westgotenbuch übertrug Zeiss meines Erachtens erstmals in der Frühmittelalterarchäologie den Trachtbegriff konsequent auf die metallenen Kleidungsbestandteile. Am Anfang seiner Deutung stand die axiomatisierende Verengung des Trachtbegriffs auf die Bedeutung „National-“ bzw. „Stammestracht“. Ausgehend von der Vorstellung einer „allgemeinen Volkstracht“ lag dieser Interpretation auch eine bestimmte Lesart der Schriftquellen zugrunde. Den Ausgangspunkt bildete eine etwas eigenwillige Interpretation einer viel besprochenen Stelle aus der Gotengeschichte des Isidor von Sevilla. Isidor berichtete, König Leovigild (586–596) sei jener Herrscher der Westgoten gewesen, der „als erster mit königlichen Gewändern bekleidet auf dem Thron saß; denn zuvor hatten die Herrscher die gleiche Kleidung und den gleichen Sitz wie das übrige Volk“.149 Diese Stelle gilt heute als Beleg für den Versuch dieses Königs, das westgotische Königtum nach dem imperialen byzantinischen Vorbild umzugestalten. „Populus“ bezeichnet in diesem Zusammenhang nicht die Masse der germanischstämmigen „westgotischen Volksgenossen“, sondern die Führungsschicht des Westgotenreiches: Die Übernahme des byzantinischen Hofornats war Teil eines umfassenden Versuchs König Leovigilds, seine Stellung gegenüber dem Adel durch die Imitation des imperialen Habitus zu stärken.150 Zeiss deutete diese Stelle dagegen im Sinne des Volkstumsgedankens. Dabei baute er jedoch auf eine ältere historische Tradition auf. Auch in der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft wurde der westgotische populus 148 149

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P OHL , Difference, bes. 40–51. Übersetzung von D. Claude: I SODORI IUNIORIS EPISCOPI H ISPALIENSIS, Historia gothorum wandalorum sueborum, hrsg. von Theodor Mommsen, MGH AA, Bd. XI (Berlin 1894) 241–295 hier 288. „primusque inter suos regali veste opertus solio resedit: nam ante eum et habitus et consessus communis ut populo ita et regibus erat.“. D. C LAUDE , Geschichte der Westgoten (Stuttgart u. a. 1970) 69. – Vgl. jetzt auch M. K OCH , La imperialización del Reino visigodo bajo Leovigioldo. ¿Es la imitatio imperii de Leovigildo la manifestación de un momento de cambio en la pretensión de poder y la ideología visigoda? Pyrenae 39/2, 2008, 101–107.

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durchgehend mit den germanischstämmigen Goten unter Ausschluss des alteingesessenen Teils der Untertanen des Westgotenkönigs gleichgesetzt. Symptomatisch für diese den Quellen nicht zu entnehmende Gleichsetzung war etwa, dass in der gebräuchlichsten deutschsprachigen Übersetzung des frühen 20. Jahrhunderts der Ausdruck populus schlichtweg mit „Goten“ übersetzt wurde.151 Aufgrund dieses Geschichtsbilds meinte Zeiss der Stelle entnehmen zu können, dass die germanischstämmigen Westgoten allesamt die gleiche Kleidung trugen und sich dadurch von den romanischen Untertanen des Westgotenkönigs abgrenzten: König Leowigild, der sich als erster der Westgotenherrscher nicht mehr mit dem allen Volksgenossen gemeinsamen Gewand und Sitz begnügt, führt Thron und fremden (byzantinischen) Königsornat ein.152

Diese Konstruktion bildete die Grundlage für sämtliche weiteren Interpretationen der Kleidungsbestandteile aus den spanischen Grabfunden. Da er die Fibeln als Teil einer Nationaltracht ansah, konnte er die Übernahme der Fibelkleidung durch die einheimische Bevölkerung ausschließen. Mögliche alternative Interpretationen des Fundstoffes etwa im Hinblick auf eine soziale Differenzierung der Bevölkerung mussten so nicht mehr in Erwägung gezogen werden, obwohl in den „westgotischen“ Gräberfeldern nur ein kleiner Teil der Bestattungen mit „Trachtbestandteilen“ ausgestattet wurde, und diese hinsichtlich der Qualität beträchtlich differieren. Vor diesem Hintergrund schien nun die Aufgabe der Fibelsitte – zusammen mit dem im Folgenden besprochenen Verschwinden einer „arteigenen“ Kunst der Westgoten – einen gewichtigen kulturgeschichtlichen Prozess widerzuspiegeln, nämlich die „Romanisierung“ bzw. „Verwelschung“153 der Westgoten. Das Ende der Fibel- und Gürtelbeigaben „bezeugen aber eine tiefere Erschütterung des Herkommens und damit des westgotischen Volkstums“. Es erschien Zeiss nicht zu gewagt, „das Verschwinden der Schmucktypen west- und ostgotischer Herkunft mit dem Fortschreiten der Romanisierung in Beziehung zu setzen“.154 Ab den 1930er Jahren verdrängte der Trachtbegriff den Begriff der Kleidung fast vollständig in der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie und zwar zunehmend im Sinne der von Zeiss eingeführten Verengung auf die Bedeutung von „Nationaltracht“. So spricht auch Zeiss’ Nachfolger Joachim Werner in einer Arbeit aus den 1950er Jahren ganz selbstverständlich 151

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Isidors Geschichte der Goten, Vandalen, Sueven. Übersetzt von D. Coste. Geschichtsschreiber d. dt. Vorzeit 10 (3Leipzig 1909) 20 Z EISS, Westgotenreich, 138. Z EISS, Westgotenreich, 142. Z EISS, Westgotenreich, 138.

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von Fibeln und Schnallen als „Bestandteile eines nationalen gotischen Frauenkostüms“.155 Auf diese Weise begann der Trachtbegriff für die Methodik der ethnischen Deutung in der Frühmittelalterarchäologie – zusammen mit der Analyse der Bestattungsformen – eine zentrale Rolle zu spielen. So leitet Werner den erwähnten Gotenaufsatz mit den Worten ein: Beigabensitten und Trachteigentümlichkeiten geben heute der archäologischen Forschung die Möglichkeit, das Kunstgewerbe der gotischen Stämme […] mit einiger Sicherheit zu überblicken.156

Dieses Modell einer gotischen „Nationaltracht“ lebt bis in jüngste Zeit fort.157 Wie bereits angedeutet, bildeten die frühmittelalterlichen Kunststile den zweiten Angelpunkt für Hans Zeiss’ ethnische Interpretation der westgotischen Grabfunde. Auch hier argumentierte er ausgehend von der Prämisse eines tiefgreifenden germanisch-römischen Antagonismus. Zeiss kam in seiner Arbeit zum Ergebnis, dass es „rein“ germanische Formen im Fundmaterial der spanischen Westgoten nicht mehr gegeben habe. Die spanischen Fibeln, die von Formen aus früheren gotischen Siedlungsgebieten abzuleiten seien, wurden ihm zufolge von einheimischen „romanischen“ Handwerkern hergestellt, wie er anhand der Ornamentik zu erkennen glaubte.158 Die spanischen Blechfibeln des 6. Jahrhunderts seien „artverschieden“ von der „rein germanischen“ Kleinkunst Nord- und Mitteleuropas.159 Wie die Aufgabe der Fibeltracht brachte Zeiss auch die „Entartung“160 der Fibelformen mit der Romanisierung der Westgoten in Verbindung: Unzweifelhaft germanische Typen des frühen sechsten Jahrhunderts und rein ‚hispanisch‘ wirkende des ausgehenden siebten sind die Gegenpole, zwischen denen die Entwicklung verläuft.161

Der Sprachgebrauch signalisiert das der Konstruktion zugrunde liegende „völkisch-organische“ Denken. Völker wurden dabei als Organismen aufgefasst, die prinzipiell wesensverschieden sind. Jedes Volk hat die quasi

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J. W ERNER, Die archäologischen Zeugnisse der Goten in Südrussland, Ungarn, Italien und Spanien. In: I Goti in Occidente. Kongress Spoleto 1955 (Spoleto 1956) 127–130 hier 129. W ERNER, Goten (wie Anm. 155) 127. So z. B. M. N AWROTH , Der Fund von Domagnano, Republik San Marino. Einflüsse der byzantinischen Hoftracht auf Schmuck und Kleidung der Goten. Anz. Germ. Natmus. 2000, 89–101. – Vgl. auch Kap. 18e. Z EISS, Westgotenreich, 105, 126. Z EISS, Westgotenreich, 105. Z EISS, Westgotenreich, 106. Z EISS, Westgotenreich, 126.

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„sittliche“ Verpflichtung, die eigene „Wesenheit“ oder „Artung“ zu erhalten. Vermischung von Wesensäußerungen – worunter auch das Kunstschaffen fällt – waren demnach als „Entartung“ negativ zu bewerten.162 Der Begriff der „Entartung“ wird heute meist unwillkürlich mit der Ausstellung „Entartete Kunst“ und dadurch mit dem Nationalsozialismus assoziiert. Wahrscheinlich rezipierte Zeiss das diesem Begriff zugrunde liegende Denken aber von anderer Seite. Der Begriff hat eine bis ins 17. Jahrhundert zurückreichende Vorgeschichte.163 In Bezug auf die Kunst prägte ihn der Mediziner Max Nordau 1892 neu, der damit (moderne) Künstler und Schriftsteller auf eine Stufe mit Geisteskranken stellen wollte und ihre Kunst mit dem Vokabular der Psychiatrie am besten analysiert sah.164 Bereits kurz nach der Jahrhundertwende fand sich die „Entartung“ im Vokabular von Kunsthistorikern wie Heinrich Wölfflin,165 der in München zu Zeiss’ Lehrern gehört hatte.166 Für Wölfflin war die Suche nach der deutschen „Art“, nach dem „nationalen Kunstcharakter“ eine der wichtigsten Aufgaben der Kunstgeschichte.167 Gerade der Gegensatz zwischen „südlicher“ und „nordischer“ Kunst, der auch für Wölfflin rassisch bedingt war, gehörte zu den großen Themen des bekannten Kunsthistorikers.168 Anhand des Beispiels der Brüder Lindenschmit wurde bereits gezeigt,169 dass das Konzept der „Nationalstile“ bis in die Anfänge der wissenschaftlichen Frühmittelalterforschung zurückreicht.170 Etwa ab der Jahrhundertwende stellte die Kunstgeschichte die frühmittelalterliche Kunst an den Anfang einer eigenständigen „germanischen“ Kunstentwicklung.171 Die Lehre von der Wesensgegensätzlichkeit von Germanen und Romanen war auch unter deutschen Kunsthistorikern nach dem Ersten Weltkrieg 162

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U. W OLF , Litteris et patriae. Das Janusgesicht der Historie. Frankfurter hist. Abhandl. 37 (Stuttgart 1996) 131 ff. S CHMITZ -B ERNING , Vokabular, 178 ff. S CHMITZ -B ERNING , Vokabular, 185. – B. W YSS, Trauer der Vollendung. Von der Ästhetik des Deutschen Idealismus zur Kulturkritik an der Moderne (2München 1989) 240–258. H. B ELTING , Die Deutschen und ihre Kunst. Ein schwieriges Erbe (München 1992) 24. H. Z EISS, Lebenslauf. In: Ders., Reichsunmittelbarkeit und Schutzverhältnisse der Zisterzienserabtei Ebrach vom 12.–16. Jahrhundert (Bamberg 1926) 104. B ELTING , Kunst (wie Anm. 165) 26. N. M EIER, Heinrich Wölfflin (1864–1945). In: H. Dilly (Hrsg.), Altmeister moderner Kunstgeschichte (Berlin 1990) 63–80 hier 69ff bes. 75. Kap. 8b. Vgl. auch S. E HRINGHAUS, Germanenmythos und deutsche Identität. Die Frühmittelalterrezeption in Deutschland 1842–1933 (Weimar 1996) 27; 41. E HRINGHAUS, Germanenmythos (wie Anm. 170) 44 f.

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weit verbreitet. Die gemeinsame „Frontstellung gegen den Westen“ versuchte man mit der Propagierung der grundsätzlichen Verschiedenheit von deutschem und westlichem Denken zu untermauern.172 Den romanischen Geist lehnte man als der germanischen Natur zuwider, als „artfremd “ ab.173 Entsprechende Interpretationen lasen nun auch die Archäologen verstärkt in das frühmittelalterliche Kunstgewerbe hinein. In blumiger Kunsthistorikerprosa erläuterte etwa Herbert Kühn in seinem bereits erwähnten Aufsatz aus dem Jahr 1928174 ausführlich den vermeintlichen Wesensunterschied zwischen germanischer und romanischer Kunst: Wenn die Antike das Ausgeglichene erstrebt, das Geklärte, das Ruhevolle, dann die Völkerwanderungszeit das Ruhelose, das Verschlungene, Ungeklärte. […] Dem klassischen Gleichmaß der Bewegung tritt gegenüber das Unbändige, Maßlose, Aufgelöste. […] Das Kunstgewerbe der Antike schaffte ein Ornament, eine Schmückung des Gebrauchsstücks, die wesentlich in der Fläche liegt, die sich unterordnet dem Dreidimensionalen des Gegenstandes selbst und ihn attributär erläutert, erklärt und ausdeutet. Das Ornament der Völkerwanderungszeit wird selber dreidimensional, es verschlingt die Linien, verschränkt und durchdringt sie, schafft vielfache Flächen, die unter-, die übereinanderliegen und sich immer undeutlicher, immer unklarer und rätselhafter gestalten. […] Keine Ornamentik ist so eigen, so selbst, so sicher und fest im Stil wie die der späten Völkerwanderungszeit. Sie ist immer anders und doch wieder gleich; im Atem dasselbe, in der Grundlinie, die nie wechselt. Nur tiefster Unverstand konnte diese festgewachsene, in sich geschlossene Kunst einmal als römisch bezeichnen – alles Römische, alles Antike ist ihr polar entgegengesetzt.

Schließlich bemühte Kühn sogar Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“, um den Wesensunterschied zwischen germanischer Kunst des frühen Mittelalters und römischer Kunst zu erklären: So wie der Mäander der klarste Ausdruck des antiken Menschen ist, so ist die Tierornamentik der Ausdruck des nordischen Menschen mit seiner Problematik, seinem faustischem Drang, hinter die Dinge zu schauen, seiner Kantischen Sehnsucht, das Ding an sich zu fassen.175

In ähnlicher Weise führte auch Zeiss die Stile der frühmittelalterlichen Kunst auf zeitlose Wesensunterschiede zurück. Bei der Betrachtung zweier Filigranscheibenfibeln aus dem Moselgebiet ließ sich für ihn etwa der Gedanke nicht unterdrücken,

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W OLF , Litteris (wie Anm. 162) 123 ff. W OLF , Litteris (wie Anm. 162) 126. K ÜHN , Kunstgewerbe (wie Anm. 127). – Vgl. Kap. 3a. K ÜHN , Kunstgewerbe (wie Anm. 127) 70 f. – Zum Einfluss Spenglers auf das zeitgenössische Germanenbild vgl. K. VON S EE , Das Schlagwort vom ‚nordischen Menschen‘. In: Ders., Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen (Heidelberg 1994) 207–232 hier 223 f.

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daß in der fließenden Bewegung des einen Stückes […] und in der etwas starren Symmetrie des anderen sich dieselben Kräfte bekunden, die etwa in der Zeit der Gotik auf deutschem und französischem Boden so verschiedene Schöpfungen hervorgebracht haben: also ein mehr germanisches und ein mehr romanisches Kunstempfinden.176

Generell zeichnen sich die Arbeiten aus der Zeit der Weimarer Republik im Vergleich zu entsprechenden Ausführungen der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg dadurch aus, dass nun in extremer Weise Stellung gegen die antike Tradition und den Einfluss mediterraner Vorbilder bezogen wurde. Selbst in akademischen Kreisen wurden nun ausgeprägt antihumanistische Argumentationen vorgebracht, wie sie vor dem Ersten Weltkrieg nur im Milieu der völkischen Bewegung geäußert worden waren. Ein bezeichnendes Beispiel sind die einleitenden Worte, die Friedrich Behn, Kustos am RömischGermanischen Zentralmuseum, sowie Dozent und Titularprofessor an der Technischen Hochschule Darmstadt,177 seinem 1927 erschienenen Werk „Altgermanische Kunst“ voranstellte: Durch die Kulturbewegung der Renaissance und des Humanismus ist dem europäischen Kunstideal die Einheitsformel des Klassizismus aufgezwungen worden. Kunst aber ist immer eine Auswirkung der Kultur. Und da diese letzten Endes von der Rasse ihrer Träger abhängt, so sind Kulturen wie Kunststile in ihrer Gesamtheit wie in ihrer Verschiedenheit bedingt durch das Blut von Völkern und Rassen. Die Renaissance, in der das klassische Altertum in seiner ganzen sinnenverwirrenden Schönheit wiedererweckt wurde, und die mit der Allgewalt einer Sturmflut über die europäische Welt hereinbrach, hat alle Entwicklungen jäh zerrissen. Wie in den Augusttagen des Jahres 79 nach Christi Geburt die Aschefluten des Vesuv Pompeji begruben, so überdeckte die klassische Flut die Erinnerung an eine reiche, blühende, nordische Kunstentwicklung. Unserer Zeit mit der Selbstbesinnung auf die hohen Werte des eigenen Volkstums ist es vorbehalten, die lange verschütteten Quellen einer germanischen Kunst mit ausgesprochen völkischer Eigenart neu zum Fließen zu bringen.178

Mit dieser Position vertrat Behn gegen Ende der 1920er Jahre keine Außenseiterposition. Zeiss, der Behns Buch mehrfach als gute Einführung zum Thema anpries,179 vertrat eine ganz ähnliche Position. Auch Zeiss führte die Persistenz der Wesensunterschiede zwischen Germanen und Romanen nicht auf fortwirkende kulturelle Traditionen zurück, sondern sah sie als rassisch bedingt an. In einem Artikel für die Zeitschrift des „Nationalsozialistischen Lehrerbundes“ bemerkte Zeiss etwa, dass „für die Frage der rassi176

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H. Z EISS, Fränkischer Frauenschmuck aus Gräbern des Mosellandes. Trierer Zeitschr. 9, 1934, 63–68 hier 65. Zu Behn vgl. F ILIP, Handbuch, 98. F. B EHN , Altgermanische Kunst (München 1927) 5. H. Z EISS, Ein Führer zur altgermanischen Kunst. Volk u. Rasse 3, 1928, 229–235. – D ERS., Die geschichtliche Bedeutung der Völkerwanderungskunst. Vergangenheit u. Gegenwart 27, 1937, 369–382, hier 369.

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schen Eigenart [der Germanen, H. F.] der Stil des Kunstschaffens etwa der nordischen Bronzezeit“ von besonderer Bedeutung sei. Es ließe sich zeigen, dass „der Stil der älteren nordischen Bronzezeit unserem heutigen Empfinden gemäßer ist als viele Werke südlicher Artung […]“.180 Die Artefakte der nordischen Bronzezeit seien „ein Zeichen für die Fähigkeit des nordischen Menschen, Lehngut sich im besten Sinne zu eigen zu machen und auf ihm fußend Kulturwerte zu schaffen.“ Überhaupt sei der Zeitpunkt, zu dem gewisse Errungenschaften der Mittelmeerkultur von den einzelnen indogermanischen Teilvölkern übernommen worden sind […] von weit geringerer Bedeutung als die Erbanlage zur selbständigen Neugestaltung; denn dieser Zeitpunkt ist rein von Zufälligkeiten, wie früherer Südwanderung einzelner Stämme, abhängig gewesen, und es kann kein Verdienst darin erblickt werden, daß etwa die Römer die Schrift einige Jahrhunderte vor den Germanen übernommen haben.181

Zeiss lag es fern, im Stile Gustaf Kossinnas einfach die Richtung der Kultureinflüsse ins Entgegengesetzte zu verkehren oder gar den Einfluss der Mittelmeerwelt auf die germanische Kunst überhaupt zu leugnen. Mit Hilfe des Konstrukts der rassisch bedingten Fähigkeit des nordischen Menschen zur schöpferischen Umgestaltung fremder Einflüsse konnte er aber die Existenz von solchen Einflüssen ins Positive wenden und daran sogar die Vitalität der „einheimischen schöpferischen Triebe“ demonstrieren: „Ihre Auseinandersetzung mit den fremden Formen gibt der mittelalterlichen deutschen Kunstgeschichte ihre Eigenart.“182 Aber schon die karolingische Renaissance und das damit verbundene Einströmen mediterraner Einflüsse hätten eine eigenständig germanische Entwicklung unmöglich gemacht; das Verhältnis zwischen germanischer und romanischer Kunst trug für Zeiss die Züge eines Kampfes: Während im Norden die alten Götter und die alte Kunst […] weiter dauern, treten im deutschen Süden Christentum und ‚karolingische Renaissance‘ an ihre Stelle. Seitdem ringt die deutsche Kunst mit der südländischen; allenthalben in unserem Land stehen die steinernen Zeugen dieses Kampfes.183

In diesem Zusammenhang wird der Hintergrund der oben besprochenen Deutung der Entwicklung des westgotischen Kunstgewerbes durch Zeiss deutlich:

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H. Z EISS, Gedanken zum Vorgeschichtsunterricht. Deutsches Bildungswesen 3, 1935, 615–621 hier 619. Z EISS, Gedanken (wie Anm. 180) 618. Z EISS, Führer (wie Anm. 179) 230. Z EISS, Führer (wie Anm. 179) 231.

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Volkstum als Paradigma

Am selbständigsten war die Ausgestaltung im geschlossenen germanischen Siedlungsgebiet, wo aber eine verhältnismäßig schwache Germanenschicht über eine Mehrzahl romanischer Untertanen herrschte, konnte sich der Trieb zur Umbildung nicht völlig entfalten.184

Wie bereits angedeutet, beinhaltete das „völkisch-organische“ Denken die Überzeugung, es gehöre zur „sittlichen“ Pflicht jeden Volkes, die eigene „Wesenheit“ zu erhalten. Um das Daseinsrecht der einzelnen Völker zu sichern, sei es deshalb nötig die Unterschiede zwischen den verschiedenen Völkern zu achten, und so innerhalb des einzelnen Volkskörpers alle gesellschaftlich relevanten Bereiche „artgemäß“ zu gestalten.185 Entsprechend seien Akkulturationserscheinungen als negativ anzusehen, da sie unweigerlich dazu führen müssten, dass eine der beiden Parteien im „Volkstumskampf“ unterliegt. Dieses Denken findet sich bei Zeiss’ abschließender Bewertung der Geschichte der Westgoten in Spanien: Zwar hätten die Westgoten auf ihrer Wanderung nach Spanien Zuzug von verschiedenen „artverwandten“186 Gruppen erhalten, wodurch sich aber der „germanische Charakter des westgotischen Volkstums“ nicht verändert habe. Die „Beimischungen“ nichtgermanischer Gruppen, wie Alanen und Provinzialen, sei zwar nicht ganz auszuschließen, aber diese könnten keine besondere Einwirkung auf den „Volkskern“ gehabt haben.187 Der „Untergang des westgotischen Volkstums“ sei ein Prozess gewesen, der sich erst im spanischen Westgotenreich vollzogen habe: Die Romanisierung des Rechts bedeutete einen entscheidenden Schritt auf dem Wege zum Ausgleich zwischen den Goten und den Romanen und damit zur Zerstörung des angestammten Volkstums der Einwanderer. Ein sehr bedenkliches Anzeichen für die beginnende innere Wandlung der Westgoten war das Nachlassen ihrer kriegerischen Tüchtigkeit […].188 Der gotische Einschlag verliert sich zu der gleichen Zeit, zu der in Recht und Religion das romanische Volkstum über das westgotische siegt und mit der Rassenmischung die angestammte germanische Eigenart raschem Untergange entgegengeht. Für eine schöpferische Entfaltung germanischen Kunstschaffens fehlten seitdem bei den Westgoten die Vorbedingungen, während lebenskräftigere Stämme, wie Langobarden, Alamannen, Angelsachsen die Tierornamentik zu neuer Blüte brachten […] Es waren nur noch dem Namen nach Goten, dem Wesen nach Spanier […]. Die frühe Lösung von der nordischen Heimat, die weite Weltfahrt vom einen bis zum anderen Ende des Imperiums, die Einwirkung einer älteren, fremden Zivilisation, vor allem endlich die geringe Volkszahl hat den Untergang des westgotischen Volkstums herbeigeführt.189 184 185 186 187 188 189

Z EISS, Führer (wie Anm. 179) 233. W OLF , Litteris (wie Anm. 162) 131 f. Z EISS, Westgotenreich, 132. Z EISS, Westgotenreich, 133. Z EISS, Westgotenreich, 134. Z EISS, Westgotenreich, 142.

Hans Zeiss und die Methodik der Archäologie des frühen Mittelalters

351

Am Schluss seiner Interpretation der westgotischen Geschichte schlug Zeiss schließlich den Bogen zum „Volkstumskampf“ seiner Gegenwart. In seinem Fazit stilisierte er das Schicksal der Westgoten geradezu zum Menetekel für das allzeit vom völkischen Untergang bedrohte Grenz- und Auslandsdeutschtum: „Es ist eines der traurigen Bilder von Entwurzelung und Verwelschung, welche sich in der Geschichte der Germanen bis auf den heutigen Tag wiederholen […].“190

190

Z EISS, Westgotenreich, ebd.

352

Frühmittelalterarchäologie und Westforschung

12. Frühmittelalterarchäologie und Westforschung a) Die Ur- und Frühgeschichte und die Institutionen der Westforschung Auf die eine oder andere Weise hatten nahezu alle Prähistoriker Westdeutschlands vor 1945 Anteil an der Westforschung. Manche arbeiteten unmittelbar in den wissenschaftlichen Netzwerken der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft mit. Andere kooperierten wissenschaftlich mit den regionalen Trägerinstitutionen der Westforschung oder waren an archäologischen Institutionen tätig, die wissenschaftliche Fragestellungen im Rahmen der Westforschung bearbeiteten. Befördert wurde die Integration der deutschen Wissenschaft im politischen Sinne durch die internationale Isolierung, der sie wie alle deutschen Wissenschaftler nach 1918 zunächst ausgesetzt waren. Die deutschen und österreichischen Prähistoriker schloss man nach 1918 aus dem maßgeblichen internationalen Verband, dem Congrès international d’Anthropologie et d’Archeologie préhistoriques bzw. dessen französisch dominierter Nachfolgeorganisation, dem Institut International d’Anthropologie, aus. Erst 1930 integrierte man sie nach längeren Auseinandersetzungen wieder.1 Der Beitrag der Ur- und Frühgeschichte zur Westforschung erfolgte auf drei Ebenen: 1) Einerseits engagierten sich einzelne Archäologen in den übergeordneten wissenschaftlichen Netzwerken der Westforschung. Während der Zeit der Weimarer Republik war dies zunächst die Leipziger Stiftung für Deutsche Volks- und Kulturbodenforschung. Dieser folgten als Nachfolgeorganisation ab 1931 die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften bzw. deren für die Westforschung zuständige Abteilung, die Westdeutsche Forschungsgemeinschaft. 2) Ferner arbeiteten archäologische Institutionen im Rahmen von Projekten mit den regionalen Trägern der Westforschung zusammen. Große 1

J. N ENQUIN , A short history of the International Union of Prehistoric and Protohistoric Sciences, and its organsation. Boll. del XIII. Congresso U.I.S.P.P., Forlì, Italy 1996, Bd. 2 (Forlì 1996) 34–38, hier 34.

Die Ur- und Frühgeschichte und die Institutionen der Westforschung

353

Bedeutung besaßen in diesem Zusammenhang die landeskundlichen Forschungsinstitute, die im Laufe der 1930er Jahre in die Westdeutsche Forschungsgemeinschaft integriert wurden. Im hier behandelten Zusammenhang waren vor allem das erwähnte Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande in Bonn, das Wissenschaftliche Institut der Elsaß-Lothringer im Reich an der Universität Frankfurt, das Alemannische Institut in Freiburg, sowie das Provinzialinstitut für westfälische Landeskunde in Münster von Belang.2 3) Letztlich sind zur Westforschung auch alle politisch motivierten archäologischen Projekte zu zählen, die auf eine Revision des Versailler Vertrages hinarbeiteten oder die Legitimierung der deutschen Expansion in Westeuropa und insbesondere in Nordfrankreich und den Beneluxstaaten zum Ziel hatten. Dies gilt auch dann, wenn sie nicht unmittelbar von den Institutionen der Westforschung initiiert, sondern von archäologischen Institutionen eigenständig in Angriff genommen wurden. Im Bereich der Ur- und Frühgeschichte waren vor allem Arbeiten, die mit Hilfe archäologischer Quellen germanische bzw. „nordische“ Besiedlungswellen im Rheinland oder Nordgallien zu belegen suchten, von besonderem Interesse. Während die diesbezüglichen historischen und geographischen Forschungen mittlerweile verhältnismäßig gut bekannt sind, wurden die ur- und frühgeschichtlichen Aktivitäten, die in diesem Kontext unternommen wurden, bislang nur am Rande behandelt. Die Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig Aus der Sicht eines Beteiligten beschrieb der Heidelberger Prähistoriker Ernst Wahle Mitte der 1970er Jahre retrospektiv die Motivation für die Einrichtung der Institutionen der Westforschung nach dem Ende des Ersten Weltkriegs recht präzise: Die Ereignisse vom Herbst 1918 führen zu dem Kampf um die deutschen Grenzen, genauer gesagt: die Ansprüche der Nachbarn auf deutschen Boden in Ost und West, Nord und Süd, die in der vorausgegangenen Zeit durch den Hinweis auf ethnische Tatbestände und Hervorkehrungen von Gesichtspunkten historischer Art weitgehend vorbereitet worden sind, sehen jetzt die Möglichkeit ihrer Verwirklichung. Die deutsche Wissenschaft wird durch diese Form der politischen Beanspruchung überrascht und sieht sich veranlaßt, die von ihr für wahr erkannten Sachverhalte zur Geltung zu bringen. Aus dieser Notwendigkeit der Abwehr entspringt die deutsche 2

F AHLBUSCH , Forschungsgemeinschaften, 354.

354

Frühmittelalterarchäologie und Westforschung

„Volks- und Kulturbodenforschung“, die auch die Prähistorie zur Mitarbeit aufruft und ihr so die Möglichkeit gibt, die Aussagekraft ihres Stoffes betreffend Kultur- und Völkerbewegungen zu überprüfen. Bei den Friedensverhandlungen zeigt es sich sehr bald, daß die historischen Tatbestände kaum irgendwie in die Waagschale fallen. Es bleibt aber zu beachten, daß der Anspruch auf deutschen Kulturboden im wissenschaftlichen Bereich weiter verfochten wird, und zwar mit unvermindeter Heftigkeit eine ganze Reihen von Jahren hindurch.3

Die Institutionen der Volkstumsforschung entwickelten sich nach 1918 zunächst nur zögerlich. Die Kontakte zwischen der Ur- und Frühgeschichtsforschung und den Institutionen der Westforschung gingen dabei in erster Linie auf die Eigeninitiative der Beteiligten zurück, wie Wahle mit über 50 Jahren Abstand noch immer missbilligend festhielt: Die Abwehr derartiger Versuche wissenschaftlicher Unterbauung von Ansprüchen an den deutschen Boden ist gleichsam eine private Angelegenheit der deutschen Prähistoriker, und dasselbe gilt von ihrer Mitarbeit in der Organisation dieser Interessen, welche zwar den Namen „Stiftung“ für Volks- und Kulturbodenforschung annimmt, aber nur äußerst bescheidene Mittel zur Verfügung hat und somit weitgehend mit dem Idealismus der an ihr Interessierten rechnet.

Vor allem die Fachinstitutionen hätten sich nur zögerlich beteiligt: Von mancher Seite her ist damals erwartet worden, daß das DAI in einer die außenpolitische Seite respektierenden Form seine Mittel zur Unterstützung dieser Arbeit einsetze, die ja auf jeden Fall der Erkenntnis förderlich war.4

Dies sei jedoch leider nicht geschehen. Tatsächlich waren die Prähistoriker in der Leipziger Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung zwar in einiger Zahl vertreten, die Mehrzahl der Fachvertreter stammte jedoch aus Nord- und Ostdeutschland. Neben Wolfgang La Baume, der dem Beirat der Stiftung angehörte, zählten hier Robert Beltz, Martin Jahn, Bolko von Richthofen, Hubert Schmidt, Hans Seger, Gustav Schwantes, Alfred Tode und Peter Zylmann zu den Mitgliedern. Ferner beteiligte sich der Sudetendeutsche Helmut Preidel an der

3

4

E. W AHLE , Wege und Irrwege der deutschen Vorgeschichtsforschung 1900–1945 (Manuskript ca. 1975) 25 f. – Diese Manuskript war ursprünglich 1975 für die „Jahresschrift für Mitteldeutsche Vorgeschichte“ zur Publikation vorgesehen, musste aber aus politischen Gründen zurückgezogen werden. Zur Entstehungsgeschichte dieser Arbeit vgl. D. H AKELBERG , Deutsche Vorgeschichte als Geschichtswissenschaft – Der Heidelberger Extraordinarius Ernst Wahle im Kontext seiner Zeit. In: H. Steuer (Hrsg.), Eine hervorragend nationale Wissenschaft – Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995. Ergbde RGA 29 (Berlin, New York 2001) 199–310, hier 276 f. – Ich danke Herrn Dietrich Hakelberg dafür, mich auf dieses Manuskript aufmerksam gemacht zu haben. W AHLE , Wege (wie Anm. 3) 26.

Die Ur- und Frühgeschichte und die Institutionen der Westforschung

355

Leipziger Stiftung.5 Die Vertreter der süd- und westdeutschen Forschung blieben den Veranstaltungen der Stiftung dagegen weitgehend fern. Unter den westdeutschen Archäologen sind neben Wahle selbst lediglich Hans Reinerth6 und – trotz Wahles Vorwurf gegen das DAI – Friedrich Koepp zu nennen. Koepps Engagement fiel allerdings in eine Phase, als dieser bereits dabei war aus dem Amt des Direktors der RGK auszuscheiden. Von ur- und frühgeschichtlicher Seite beschäftigten sich die Beiträge zu den Tagungen der Stiftung ausnahmslos mit dem Nachweis germanischer Besiedlung in den verschiedensten Zeiten und Räumen.7 In den Diskussionen erörterten jedoch nicht allein die Fachvertreter den diesbezüglichen Wert der archäologischen Quellen. Entsprechend des bereits geschilderten Stellenwerts der archäologischen Quellen für die interdisziplinäre Volkstumsforschung bezogen auch manche Referenten aus anderen Disziplinen die archäologischen Quellen in ihre Ausführungen mit ein.8 Den Fragen der Westforschung widmeten sich fünf Tagungen der Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in den Jahren 1924, 1926 und 1928. Die Tagung in Witzenhausen im März 1924 behandelte den „westdeutschen Volksboden“. Dabei ging man vor allem auf die „politischen 5

6

7

8

Vgl. das Mitarbeiterverzeichnis: Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung Leipzig. Die Tagungen der Jahre 1923–1929 (Langensalza o. J. [1930]) IV–VI. – Zur Stiftung allgemein vgl. F AHLBUSCH , Stiftung. – O BERKROME , Volksgeschichte, 28–30. G. S CHÖBEL , Hans Reinerth. Forscher – NS-Funktionär – Museumsleiter. In: Leube/ Hegewisch, Prähistorie, 321–396. Vgl. R. B ELTZ , Slaven und Germanen in Mecklenburg. In: Stiftung 1930 (wie Anm. 5) 51–53. – M. J AHN , Die vorgeschichtliche germanische Besiedlung Schlesiens. Ebd., 505 f. – W. L A B AUME , Ostdeutschlands Bevölkerung in vorgeschichtlicher Zeit. Ebd, 142–144. – D ERS., Die vorgeschichtliche Bevölkerung Ostpreußens. Ebd., 365–370. – H. P REIDEL , Die Siedlungen der Germanen in Böhmen. Ebd., 56 f. – H. R EINERTH , Die rassenmäßigen Grundlagen und das ethnographische Bild der Bevölkerung der Alpen und des Vorlandes bis zur alemannischen Landnahme. Ebd., 177–179. – B. V. R ICHTHOFEN , Bericht über J. Kostrzewski: Vorgeschichte von Großpolen. Ebd., 53 f. – D ERS., Zur Vorgeschichte Oberschlesiens. Ebd., 243–245. – D ERS., Die polnische Archäologische Forschung. Ebd., 454–458. – D ERS., Die Slawen in Schlesien. Ebd., 506–508. – H. S CHMIDT , Die Lausitzer Kultur in der Bronzezeit. Ebd., 54–56. – H. S EGER, Die germanische Besiedlung Schlesiens in vor- und frühgeschichtlicher Zeit. Ebd., 49 f. – A. T ODE , Die älteste Besiedlung von Schleswig und Holstein (bis Otto I.). Ebd., 110 f. – E. W AHLE , Die vor- und frühgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Volkstums am Rhein. Ebd., 210–212. – P. Z YLMANN , Zur Vorgeschichte Ostfrieslands. Ebd., 295–297. z. B. R. G RADMANN , Siedlungsbild und Kulturlandschaft des Bodenseegebiets. In: Stiftung 1930 (wie Anm. 5) 175–177. – F. S TEINBACH , Die Entwicklung der Sprachgrenze, insbesondere in Belgien. Ebd. 412–416. – E. F ISCHER, Leibliches und seelisches Erbgut der Alemannen. Ebd., 209 f.

356

Frühmittelalterarchäologie und Westforschung

Thesen der Franzosen“ zur Rheingrenze ein, die sich auf das Argument der natürlichen Grenze und der keltischen Nationalität der Bewohner gestützt hätten. Demgegenüber müssten nun die verschiedenen Wissenschaften, vor allem die Geographie, die Altertumswissenschaft und die Volkskunde „objektiv Antwort geben auf die Frage der Zugehörigkeit von Boden und Mensch“.9 Friedrich Koepp referierte in diesem Zusammenhang über die „Bevölkerung des Rheingebiets im Altertum“. In seinem Beitrag argumentierte Koepp, die Übereinstimmung der Kunstdenkmäler der römischen Epoche auf beiden Seiten des Rheins lasse kein gemeinsames keltisches Substrat erkennen, sondern lediglich römisches Wesen. Das Vorkommen keltischer Ortsnamen in Süddeutschland sei auf eine temporäre keltische Expansion zurückzuführen, die in Germanien „Erobererreiche“ begründet hätten: Wie heute also nur ein Recht des Eroberers die Franzosen bis zum Rheine vordringen läßt, so auch damals. Als Erben der Kelten können daher die Franzosen ihrem Vordringen zum Rheine in keiner Weise rechtmäßigen Charakter verleihen.10

Ganz ähnlich war der Tenor von Koepps Beitrag für den von Wilhelm Volz, dem Leiter der Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung, herausgegebenen Band „Der westdeutsche Volksboden“, der auf Koepps Witzenhausener Vortrag zurückging. Auch hier vertrat Koepp die Meinung, der Rhein sei bereits in römischer Zeit ein „germanischer Strom“ gewesen.11 An der Tagung in Heppenheim im Oktober 1924 nahmen über 100 rheinische Gelehrte teil, wobei die Geographen und Historiker dominierten. Bei dieser Tagung wurden keine ur- und frühgeschichtlichen Referate gehalten. Verschiedentlich schnitten die Redner in ihren Beiträgen jedoch jene Fragen an, die in den folgenden zwei Jahrzehnten zunehmend zum Gegenstand der Frühmittelalterarchäologie werden sollten. So wurde in der Diskussion die Frage des germanischen Anteils am französischen Volk als „Zentralfrage“ bezeichnet.12 Auch Godefroid Kurths Thesen zur Entstehung der germanisch-romanischen Sprachgrenze13 sowie die historische Genese der Bevölkerung Belgiens thematisierten verschiedene Beiträge.14

9 10

11

12 13 14

Stiftung 1930 (wie Anm. 5) 18. F. K OEPP, Die Bevölkerung des Rheingebiets im Altertum. In: Stiftung 1930 (wie Anm. 5) 25 f., Zitat 26. F. K OEPP, Die Bevölkerung der Rheinlande im Altertum. In: W. Volz (Hrsg.), Der westdeutsche Volksboden. Aufsätze zu Fragen des Westens (Breslau 1925) 50–61, bes. 55. Diskussionsbeitrag Reincke-Bloch: In: Stiftung 1930 (wie Anm. 5) 82. Kap. 9. A. V LAMYNCK , Die Wallonen und Vlamen. In: Stiftung 1930 (wie Anm. 5) 83 f.

Die Ur- und Frühgeschichte und die Institutionen der Westforschung

357

Während die ersten beiden Tagungen dem gesamten Forschungsgebiet der Westforschung gewidmet waren, beschränkte man sich in Meersburg im April 1926 auf den alemannischen Raum. Auf die frühmittelalterlichen Reihengräber bezog sich bei dieser Gelegenheit bereits der Geograph Robert Gradmann. Seine Ausführungen zur Entstehung des Siedlungsbildes und der Kulturlandschaft des Bodenseegebiets stützte Gradmann mit dem Hinweis, die Reihengräber enthielten fast ausschließlich Menschen „rein nordischer Rasse“.15 Fragen der Rassengeschichte dominierten auch das Referat Hans Reinerths, das die Bevölkerungsgeschichte der Alpen und des Alpenvorlandes zum Gegenstand hatte. Reinerth postulierte verschiedene „nordisch-indogermanische“ Besiedlungswellen nach Süddeutschland, denen wiederholt fremde Einflüsse entgegengestanden hätten. Höhepunkt der „Entnordung“ sei die Latène- und Römerzeit gewesen, durch die Süddeutschland wieder zu einem „rein westischen Kulturgebiet “ geworden sei. Erst während der Völkerwanderungszeit sei das „alte nordische Kulturgebiet der Endsteinzeit und Bronzezeit durch die Alemannen, Bajuwaren, Burgunder und Franken in vollem Umfang zurückgewonnen worden“.16 Reinerth, dessen antirömische Affekte bereits in den 1920er Jahren ausgeprägt waren,17 betonte ferner den im Vergleich zum römischen ebenbürtigen, dabei aber grundverschiedenen Charakter der germanischen Besiedlung: „eine gleichartige, der römischen entgegen gesetzte, soziale Verfassung, ein einheitlicher germanischer Kunstwille herrschte in den wiedergewonnenen Gebieten“. Grundsätzlich ließe sich die ur- und frühgeschichtliche Bevölkerungsgeschichte Süddeutschlands wie folgt zusammenfassen: 1. Das heute alemannische und bajuvarische Gebiet war im Verlauf der erfaßbaren Zeiträume ausgesprochen nordischer Kulturboden, seine Eigenart ist durch Jahrtausende durch nordisch-indogermanische bezw. germanische Rassen- und Kulturelemente bedingt worden. 2. Im Gegensatz dazu hat es der westisch-mittelländische Kulturkreis (einschließlich der Römer) nicht vermocht, irgendwelche dauernde kulturelle oder rassische Einwirkung zu erzielen. 3. Zu allen Zeiten waren die Alpen so wenig wie der Rhein eine trennende Schranke.18

Die Tagung in Freyersbach im Oktober 1926 widmete sich im Vergleich zur Meersburger Tagung wieder allgemein den Problemen von „Volkstum und Geschichte am Rhein“.19 Hier beschrieb der Freiburger Anthropologe Eugen Fischer in seinem Beitrag über das „leibliche und seelische Erbgut

15 16 17 18 19

G RADMANN , Siedlungsbild (wie Anm. 8) 177. R EINERTH , Grundlagen (wie Anm. 7) 179. S TROBEL , Vorzeit, 93. R EINERTH , Grundlagen (wie Anm. 7) 179. Stiftung 1930 (wie Anm. 5) 206.

358

Frühmittelalterarchäologie und Westforschung

der Alemannen“ zunächst die Veränderung der Schädelformen Süddeutschlands vom frühen Mittelalter bis in die Gegenwart. Daran anschließend forderte Fischer die anthropologische, sprachwissenschaftliche, historische sowie die prähistorische Forschung auf, die Lösung dieses Phänomens gemeinsam in Angriff zu nehmen.20 Ernst Wahle hielt das ur- und frühgeschichtliche Referat in Freyersbach. Auch er ging in seinem Vortrag über die „vor- und frühgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Volkstums am Rhein“ bis zu den ersten Besiedlungswellen des Neolithikums zurück. Überdies betonte er die Bedeutung der „friedlichen germanischen Einwanderung“ in das rechtsrheinische Gebiet in spätrömischer Zeit. Diese germanische Bevölkerung sei die Voraussetzung dafür gewesen, dass sich nach der germanischen „Landnahme“ im 5. Jahrhundert die deutsche Sprache auf dem rechten Rheinufer habe durchsetzen können. Denn so stark auch nach Ausweis der Reihengräberfunde im Flußgebiet von Somme und Seine die Fränkische Welle dort war, – sie hat für sich allein nicht genügt, um die bodenständige Bevölkerung dieser Landschaften im Laufe der Zeit zu ersticken.21

Mit dieser Position unterschied sich Wahle nicht grundsätzlich von den historischen Referenten, unter denen Friedrich König die Entwicklung der frühgeschichtlichen „Volkstumsverhältnisse“ am Rhein prägnant zusammenfasste: Links des Rheins liegen die römischen Provinzen Germania superior und inferior. Die Reichsgermanen unterliegen der Verrömerung, wie später die Deutschen der Westlande der Französisierung. In der Völkerwanderung erfolgt die Entromanisierung des linken Rheinufers durch die Völkerschaften des freien Germanien in geschlossener Siedlung: Legionen und Gesellschaft ziehen ab, die bodenständigen Keltoromanen und Germanoromanen verschmelzen sich mit den Franken und Alemannen.22

Während der Tagung in Kleve im April 1928 stellte Franz Steinbach seine Thesen über die Entstehung der germanisch-romanischen Sprachgrenze23 vor. Obwohl sich bei dieser Gelegenheit keine frühgeschichtlichen Archäologen zu Wort meldeten, wurde dabei verschiedentlich die Bedeutung der Reihengräber angesprochen. Der Historiker Pieter Geyl, der bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein wichtiger Parteigänger der rheinischen

20 21 22

23

F ISCHER, Erbgut (wie Anm. 8) 210. W AHLE , Grundlagen (wie Anm. 7) 211. F. K ÖNIG , Volkstum und Geschichte in den deutschen Westlanden. In: Stiftung (wie Anm. 5) 213–215, hier 213. Vgl. Kap. 4e.

Die Ur- und Frühgeschichte und die Institutionen der Westforschung

359

Volkstumsforscher in den Niederlanden war,24 warf die Frage auf, ob die sich anhand der „Bodenfunde erweisende germanische Siedlung“ in Wallonien ebenso stark gewesen sei, wie im flämischen Sprachgebiet.25 Ein weiterer Redner referierte das Ergebnis von Kurths Vergleich des Verlaufs der Sprachgrenze mit der Verteilung der Reihengräber. Im Einklang mit Steinbachs Auffassung interpretierte er das Ergebnis jedoch grundsätzlich anders: Die fränkischen Gräber – von den französischen Darstellern als Barbarengräber bezeichnet – finden sich sämtliche südlich der heutigen Sprachgrenze. Um Ypern und Lille muß sogar Massensiedlung gewesen sein.

Erst später sei das germanische Volkstum bis zur Sprachgrenze zurückgedrängt worden.26 Die Westdeutsche Forschungsgemeinschaft Anfang der 1930er Jahre löste sich die Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung aufgrund interner Intrigen und Grabenkämpfe allmählich de facto auf.27 Als Nachfolgeorganisation gründete man 1931 die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften (VFG), deren Organisationsstruktur und Aktivitäten Michael Fahlbusch vor einigen Jahren eingehend untersucht hat. Neben einigen Stabsstellen gliederten sich die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften in fünf regionale Verbünde: die Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft, die Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft, die Alpenländische Forschungsgemeinschaft, die Überseedeutsche Forschungsgemeinschaft sowie die Westdeutsche Forschungsgemeinschaft (WFG), die für den hier behandelten Zusammenhang relevant ist. Den Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften gehörten rund 1000 Wissenschaftler der kulturwissenschaftlichen Disziplinen Geographie, Geschichte, Volkskunde, Soziologie, Kunstgeschichte sowie der Ur- und Frühgeschichte an. Die von den Forschungsgemeinschaften regelmäßig veranstalteten nichtöffentlichen Tagungen ließen ein enges Netzwerk der beteiligten Wissenschaftler entstehen. Dieses Netzwerk war insgesamt so dicht, dass sich – so Peter Schöttler – eine Gleichschaltung der Geschichtswissenschaft nach 1933 im Grunde erübrigte, weil sie sich zuvor schon selbst gleichgeschaltet

24 25 26 27

D ERKS, Westforschung, bes. 136–145. Diskussionsbeitrag Pieter Geyl. In: Stiftung 1930 (wie Anm. 5) 414. Diskussionsbeitrag Albert Vlamynck. In: Stiftung 1930 (wie Anm. 5) 415. F AHLBUSCH , Stiftung (wie Anm. 5) 92 ff.

DATUM

Juni 1931

27.–28. 7. 1932 31. 7.–2. 8. 1932 18.–19. 4. 1933 18.–19. 4. 1933 5.–6. 5. 1934

26.–28. 9. 1934 2.–3. 3. 1935 7.–8. 3. 1935 6.–10. 3. 1935 6.–7. 7. 1935

19.–20. 10. 1935

28.–30. 3. 1936

4.–6. 7. 1936

ORT

Bingen

Bonn Trier Gerolstein Badenweiler Kleve

Saarburg Gerolstein Frankfurt Bonn Bad Bentheim

Bad Dürkheim

St. Märgen

Leer

Jacob-Friesen, Stieren, Van Giffen,

Zeiss, weitere?

?

Steinhausen Keine ? Keine Van Giffen, Stieren

? ? Keine Keine Wahle

ANWESENDE PRÄHISTORIKER Keine

Zeiss, Problem der burgundischen Funde Stieren/van Giffen, Besiedlung im niederländisch-dt. Grenzgebiet

Keine Keine Keine Keine Stieren/van Giffen, Vorgeschichtsforschung im deutsch-niederländischen Grenzraum Keine

Keine Keine Keine Keine Keine

Keine

PRÄHISTORISCHE VORTRÄGE

Ostfriesland und Gelderland

Wissenschaftsverhältnis zum westl. Nachbarn Frankreich Burgundisch-alemannischer Raum

Gründungssitzung der Rheinischen Forschungsgemeinschaft Deutsch-luxemburgische Besprechung Saargebiet Eupen-Malmédy/belgische Historiographie Alemannische Tagung Niederländische Tagung/germ. Wissenschaftsaufgaben im Westen Volkskundliche Tagung/Mosel-Saarraum Nördliche Westeifel, Eupen-Malmédy Prinz-Eugen und der deutsche Westen Volkskundliche Tagung Deutsch-Niederländische Fragen

THEMA DER TAGUNG

Tagungen der Rheinischen bzw. Westdeutschen Forschungsgemeinschaft

360 Frühmittelalterarchäologie und Westforschung

Rest, Sprater, Werner, Zeiss

12.–14. 3. 1936

26. 9. 1937 2.–4. 10. 1937 16.–17. 10. 1937

26.–28. 2. 1938 19.–21. 3. 1938

9.–11. 3. 1939

Ende 1942 3. 7. 1943 7.–8. 7. 1944

Basel Aachen Coesfeld

Gerolstein Schönau

Bad Münster

Leer Frankfurt Schlettstadt

Zeiss, Germanisches und Romanisches im Kunsthandwerk des Frankenreichs Keine Keine Stieren, Vorgeschichte Westmünsterland, Gelderland Keine Laur-Belart, Alemannische Besiedlung der Schweiz; Werner, burgund. Kunstgewerbe Tackenberg, Fränkische Funde auf gallorömischen Gebiet (nicht gehalten) ? Keine Keine

Steinhausen, Siedlungsbild d. Trierer-Luxemburger Raums zur Merowingerzeit Keine Keine

Spezialtagung über niederländische Ostwanderung Französische Bevölkerungsfragen, Ethnien Ethnographische Grenzen im Patoisgebiet

Oberrheingebiet und Schweiz

Westeifel Oberrheingebiet und seine Nachbarlandschaften

Oberrheinische Fragen Niederrheinische Fragen Deutschniederländische Arbeitsgemeinschaft

Herausbildung des dt. und franz. Volkstums aus dem fränkischen Volkstum

Oberrheinisches Gebiet Elsässische Probleme

Luxemburgisch-deutsche wissenschaftl. Aufgaben

28

28 Nach den Protokollen der Tagungen der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft: BAB, R 153, Fasz. 1495 und 1509, ergänzt nach den Angaben von F AHLBUSCH , Forschungsgemeinschaften, 379–440; 691–727.28

Abb. 17: Tagungen der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft, 1931–194428

? ? ?

Dehn, Rest, Werner, Zeiss

? Laur-Belart, Werner, Zeiss, weitere?

Keine Steeger Stieren, weitere?

Rest Rest

17. 9. 1936 17.–19. 9. 1936

Oberkirch Bad Freyersbach Worms

Steinhausen

10.–12. 9. 1936

Bitburg

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362

Frühmittelalterarchäologie und Westforschung

hatte.29 Während des Zweiten Weltkrieges entwickelten sich die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften Fahlbusch zufolge schließlich zu einem wissenschaftlichen „Brain trust“, der der SS angegliedert wurde.30 Die ur- und frühgeschichtlichen Archäologen waren in den Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften in einiger Zahl vertreten. Die österreichischen Prähistoriker Eduard Beninger und Rudolf Egger gehörten dem Arbeitsausschuss der „Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft“,31 Carl Engel, Otto Kunkel, Wolfgang La Baume, Ernst Petersen und Wilhelm Unverzagt dem Beirat der „Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft“ an.32 Engel wurde 1944 neben Hermann Aubin zu deren zweiten stellvertretenden Vorsitzenden ernannt.33 Auch innerhalb der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft, die inhaltlich von den Mitgliedern der rheinischen Schule der Volkstumsforschung dominiert wurde, waren einige Prähistoriker vertreten. Vor allem in den Jahren 1935 bis 1939 nahmen Vertreter des Faches an den Tagungen der WFG teil und beteiligten sich mehrfach mit Vorträgen. In den ersten Jahren der WFG sowie an deren wenigen Aktivitäten während des Krieges hatten dagegen keine Prähistoriker Anteil. Da in der historischen und geographischen Volkstumsforschung im Allgemeinen erhebliche Erwartungen hinsichtlich der volkshistorischen Aussagekraft der ur- und frühgeschichtlichen Quellen gehegt wurden, konnten die Vertreter des Faches bei ihren Beiträgen mit Wohlwollen rechnen. Sofern die Fachvertreter grundsätzlich die volkstumsgeschichtliche Verwertbarkeit der archäologischen Quellen bestätigten, waren die Kollegen aus den Nachbardisziplinen sogar bereit, sich über eigene Fehler bei der Auswertung der archäologischen Quellen belehren zu lassen. Bereits bei der Tagung in Kleve im Mai 1934 informierte Ernst Wahle die anwesenden Mitglieder der WFG in einem Redebeitrag über die neuen Entwicklungen der Vorgeschichtsforschung. Diese ließen in Zukunft verstärkt Beiträge zur Volkstumsproblematik erwarten. Die Archäologie habe bereits seit längerem die rein typologische Klassifikation der Funde hinter sich gelassen, und die „Verbindung mit den Menschen und dem Boden“ in Deutschland gefunden. Die Beiträge Gustaf Kossinnas und besonders

29

30 31 32 33

P. S CHÖTTLER, Einleitende Bemerkungen. In: Ders. (Hrsg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945 (Frankfurt 1997) 7–30 hier 14 f. F AHLBUSCH , Forschungsgemeinschaften, 20. F AHLBUSCH , Forschungsgemeinschaften, 252. F AHLBUSCH , Forschungsgemeinschaften, 187. F AHLBUSCH , Forschungsgemeinschaften, 184.

Die Ur- und Frühgeschichte und die Institutionen der Westforschung

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Kurt Schumachers hätten danach gestrebt, „hinter den Funden die Völker und Völkergruppen und ihre Leistungen“ zu erkennen. Dass die Vorgeschichtsforschung bislang nur einen geringen Beitrag zur Erkenntnis der „Deutschen Vorzeit“ erbracht habe, sei darauf zurückzuführen, dass sich die „Volks- und Kulturbodenforschung in den Rheinlanden“ bisher stark auf die römische Epoche konzentriert habe. Allerdings sei nun die „Loslösung der deutschen Vorgeschichtsforschung aus der Abhängigkeit von bestimmten Anschauungen der klassischen Altertumswissenschaft “ erfolgt, weshalb die Vorgeschichte nun mehr Möglichkeiten habe der „Geschichte des eigenen Volkes zu dienen“.34 Bei den folgenden Tagungen wurden zumeist Prähistoriker aus den behandelten Regionen hinzugezogen, wie Karl Hermann Jacob-Friesen und August Stieren zur Tagung in Leer 1936 oder Wolfgang Dehn, Walter Rest, Joachim Werner und Hans Zeiss zu der Veranstaltung in Bad Münster 1939.35 Ferner nahmen Friedrich Sprater, Albert Steeger und Josef Steinhausen an den Tagungen teil. Da die Westdeutsche Forschungsgemeinschaft auch deutschfreundliche Wissenschaftler aus den Nachbarländern zu ihren Tagungen einlud, verwundert es nicht, dass mit Albert van Giffen und Rudolf Laur-Belart zwei ausländische Prähistoriker an den Tagungen der WFG teilnahmen. Vor allem Hans Zeiss besuchte ab Mitte 1930er Jahre regelmäßig diese Tagungen. Bei mindestens zwei Veranstaltungen, 1936 in St. Märgen sowie in Worms 1937, referierte er zu Themen der Frühmittelalterarchäologie.36 An den folgenden Tagungen in Schönau und Bad Münster nahm er ebenfalls nachweislich teil.37 Auch Joachim Werner trug zu einer Tagung, 1938 in Schönau, einen Vortrag bei.38 Die Bedeutung der Tagungen der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft für die Wissenschaftsgeschichte der Frühmittelalterarchäologie lag weniger darin, dass sie den Vertretern der aufstrebenden Ur- und Frühgeschichte ein Forum zur Präsentation ihrer Forschungsergebnisse boten. Vielmehr gab man den beteiligten Prähistorikern gezielt Themen vor, die auf volkstumsgeschichtliche Fragen abzielten. Die Veranstaltungen der

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38

BAB, R 153, Fasz. 1509, Bl. 77: Protokoll der Tagung der Rheinischen Forschungsgemeinschaft in Kleve, 5.–6. 5. 1934, S. 17. BAB, R 153, Fasz. 1509, Bl. 53–72: Protokoll der Tagung der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft in Leer, 4.–6. 7. 1936. – Ebd., Bl. 270–302, Protokoll der Tagung der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft in Bad Münster, 9.–11. 3. 1939. F AHLBUSCH , Forschungsgemeinschaften, 393; 397. UAM, O-N-14 (Zeiss), unpaginiert: Abmeldungen Zeiss an den Dekan der Philosophischen Fakultät. F AHLBUSCH , Forschungsgemeinschaften, 398. – ARGK, Fasz. 1333/Bl. 1060

364

Frühmittelalterarchäologie und Westforschung

Westdeutschen Forschungsgemeinschaft bildeten somit einen nicht zu unterschätzenden Stimulus für die Archäologie, ihre Forschungen in eine bestimmte Richtung zu lenken. Besonders deutlich erkennbar ist dies bei der Tagung in Worms 1937, die für die hier behandelte Fragestellung eine wichtige Etappe darstellt. Diese Tagung hatte die „Herausbildung des deutschen und französischen Volkstums“ zum Gegenstand. Hans Zeiss stellten die Veranstalter die Aufgabe, über „Germanisches und Romanisches im Kunsthandwerk des Frankenreichs“ zu referieren. Sein Referat war vorsichtig abwägend und enthielt deutliche, wenngleich nur indirekt formulierte Kritik an der Art und Weise, in der die Vertreter der historischen Volkstumsforschung von den archäologischen Quellen Gebrauch machten, was wohl vor allem auf die anwesenden Franz Petri und Adolf Helbok gemünzt war. Zeiss belehrte diese, dass sich die „Auseinandersetzung zwischen Germanisch und Romanisch“ zwar auch auf dem Gebiet des Kunsthandwerks vollzogen habe, die Entwicklung sei aber sehr verwickelt und bislang nur in groben Zügen bekannt. Er warnte deshalb davor, voreilige siedlungsgeschichtliche Schlüsse aus dem frühmittelalterlichen Material zu ziehen. Allerdings signalisierte er den versammelten Gelehrten, es bestünde kein Anlass, die archäologischen Quellen für volkstumskundliche Fragen abzuschreiben. Es sei durchaus möglich, die frühmittelalterlichen Grabfunde in „germanische“ und „romanische“ zu scheiden. Zeiss verwies in diesem Zusammenhang auf einen Ansatz, den er bereits in seinem Buch über die westgotischen Grabfunde entwickelt hatte: man könne „nicht die Funde (wohl aber die Sitte der Grabbeigaben) schlechthin als germanisch bezeichnen“. Für das Frankenreich müssten aber die bisher erkannten Ansätze noch deutlicher herausgearbeitet werden, was Zeiss als programmatische Aufgabe an das Ende seiner Ausführungen stellte: „Es wird weiterhin die Aufgabe der Altertumskunde sein, die heute schon erkannten Unterschiede als ihren Beitrag zum Problem Germanentum-Romanentum noch schärfer herauszuarbeiten“.39 Oben wurde gezeigt, dass Hans Zeiss noch Anfang der 1930er Jahre die Auffassung vertreten hatte, die Stärken der Frühmittelalterarchäologie lägen auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Spätestens mit der Wormser Tagung zeichnete sich eine Hinwendung zur Germanen-Romanen-Problematik ab. Nur wenige Jahre später hatte Hans Zeiss die Möglichkeit, diese Forderung mit seiner Untersuchung über die

39

BAB, R 153, Fasz. 1495, Bericht über die Tagung der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft in Worms, 12.–14. 3. 1937, Bl. 180–219, hier Bl. 198.

Die Entstehung der „westlichen Volksgrenze“

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germanischen Grabfunde zwischen Seine und Loire selbst in die Tat umzusetzen.40

b) Die rheinische Volkstumsforschung und die Entstehung der „westlichen Volksgrenze“ Die Frage des Ausmaßes der fränkischen Landnahme und der Entstehung der germanisch-romanischen Sprachgrenze war die politisch brisanteste der Westforschung. Die Genese und der politische Kontext der Thesen Steinbachs und Petris wurden deshalb in den letzten Jahren bereits mehrfach behandelt.41 Die betreffenden Beiträge arbeiteten vor allem die politische Bedeutung der Forschungen zur „westlichen Volksgrenze“ heraus. Die fachliche Analyse ihrer Arbeiten steht dagegen nach wie vor aus.42 Der wissenschaftliche Stellenwert ihrer Thesen spielte bislang in diesem Zusammenhang lediglich insofern eine Rolle, als die Bewertung der politischen Rolle der Westforschung nicht von der Frage der Plausibilität bzw. letztlich der Legitimität der wissenschaftlichen Argumentation zu trennen ist. So berief sich etwa Karl Ditt bei der Bewertung der Rolle Petris innerhalb der Westforschung auf die Ur- und Frühgeschichte, welche grundsätzlich die Richtigkeit der Thesen Steinbachs und Petris bestätige.43 In den betreffenden Arbeiten wurde der archäologische Teil der Diskussion um die Entstehung der germanisch-romanischen Sprachgrenze nur am Rande berücksichtigt. Die entsprechenden Stellungnahmen von historischer und sprachwissenschaftlicher Seite zeugen dabei leider von einer unvollständigen Übersicht über den gegenwärtigen Forschungsstand in der 40 41

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Kap. 13d. D ITT , Petri. – S CHÖTTLER, Westforschung, 216 ff. – D ERS., Landesgeschichte, 93 ff. – F AHLBUSCH , Forschungsgemeinschaften, 355 ff. – D ERKS, Westforschung, 32 ff. – D IETZ /G ABEL /T IEDAU , passim. – K. D ITT , Franz Petri und die Geschichte der Niederlande. Vom germanischen Kulturraum zur Nation Europas. Tijdschrift voor Geschiedenis 118, 2005, 169–187 (=B. H ENKES /A. K NOTTER (Hrsg.), Themanummer: De Westforschung en Nederland). – H. D ERKS, German Westforschung 1918 to the present. The case of Franz Petri, 1903–1993. In: I. Haar/M. Fahlbusch (Hrsg.), German scholars and ethnic cleansing, 1920–1945 (New York 2005) 175–199. – U. T IEDAU , s.v. Franz Petri. In: I. Haar/M. Fahlbusch (Hrsg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen (München 2008) 467–474. B. D IETZ /H. G ABEL /U. T IEDAU , Die >Westforschung< zum europäischen Nordwesten als Gegenstand der Zeit- und Wissenschaftsgeschichte. In: Dies., Westforschung, IX–XXX, hier XXIX. D ITT , Petri, 93 mit Anm. 73.

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Frühmittelalterarchäologie und Westforschung

Archäologie. Ähnlich wie Ditt vertrat etwa die Sprachwissenschaftlerin Martina Pitz vor wenigen Jahren die Ansicht, die Archäologie sei tatsächlich in der Lage eine fränkische Besiedlung bis zur Seine nachzuweisen.44 Für die weit verbreitete Unkenntnis der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen archäologischer, sprachwissenschaftlicher und historischer Argumentation ist dabei symptomatisch, dass sich Pitz dagegen der völligen Unzulänglichkeit der sprachwissenschaftlichen Teile von Petris Modell bewusst ist. Diese Unkenntnis findet sich in gleicher Weise auf Seiten der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie, in der noch immer die Thesen Steinbachs und Petris zur Interpretation der frühmittelalterlichen Grabfunde herangezogen werden,45 obwohl die Sprachwissenschaft deren Unhaltbarkeit bereits seit längerer Zeit deutlich formuliert hat.46 Den Ausweg aus dieser verworrenen Situation kann, wie Martina Pitz zurecht feststellt, nur eine zusammenfassende inhaltliche und wissenschaftsgeschichtliche Analyse aufzeigen.47 Franz Steinbachs „Studien zur Westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte“ Die Grundlagen des Modells der Entstehung der germanisch-romanischen Sprachgrenze als „völkischer Ausgleichslinie“ legte Franz Steinbach 1926 in seinem bereits erwähnten Buch „Studien zur westdeutschen Stammesund Volksgeschichte“.48 Dabei übertrug Steinbach die Ideologie des „Volkstumskampfes“ des „Grenz- und Auslandsdeutschtums“ auf das Verhältnis von Germanen und Romanen im frühen Mittelalter. Im Widerspruch zu den Klassikern der Sprachgrenzforschung, wie Godefroid Kurth oder Hans Witte, vertrat er die These, nicht allein der Raum zwischen der ehemaligen römischen Reichsgrenze und der späteren Sprachgrenze sei im frühen Mittelalter von germanischsprachigen Migranten besiedelt worden. Die germanische Landnahme habe vielmehr die gesamte Francia erfasst, d. h. ganz Nordgallien bis zur Loire.

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M. P ITZ , s.v. Franz Petri. In: RGA2, Bd. 22 (Berlin, New York 2003) 631–635, hier 632. – D IES., Franz Petris Habilitationsschrift in inhaltlich-methodischer und forschungsgeschichtlicher Perspektive. In: Dietz/Gabel/Tiedau, Westforschung, 225–246, hier 231 f. So z. B. K OCH , Bügelfibeln, 569. – Vgl. Kap. 13a. Vgl. Kap. 4e. P ITZ , Petri (wie Anm. 44) 632. Kap. 4e.

Die Entstehung der „westlichen Volksgrenze“

367

Zwischen Germanen und Romanen habe sich daraufhin ein Kampf um „Sprachboden“49 entsponnen, denn die Beziehungen zwischen zwei Sprachengruppen seien im Allgemeinen nicht friedfertiger Natur, sondern „in den meisten Fällen ein Kampf um Leben und Tod.“50 Im Laufe dieses „Sprachkampfes“ drängten die südgallischen Romanen gemeinsam mit ihren in Nordgallien verbliebenen Genossen das germanische Sprachgebiet allmählich bis zur heutigen Sprachgrenze zurück. Als Träger des „Abwehrkampfes“ auf germanischer Seite betrachtete Steinbach vor allem die Landbevölkerung: „In der Abwehr ist die bäuerliche Bevölkerung im Sprachkampf überaus leistungsfähig, im Angriff wird sie sehr leicht überschätzt.“51 Im Gegenzug zur romanischen Expansion vermochten die Germanen ihrerseits die romanischen Sprachreste diesseits der Sprachgrenze zu assimilieren. Steinbach hatte nicht die Absicht seine Theorien detailliert zu untermauern. Vielmehr bezeichnete er seine „Studien“ ausdrücklich als „tastenden Versuch und ein Programm“.52 Dabei formulierte er jedoch deutlich, welche Wissenschaften seiner Ansicht nach in der Lage seien seine These zu verifizieren. Neben der Ortsnamenkunde setzte er seine Hoffnungen ausdrücklich auf die prähistorische Archäologie, obwohl er deren Interpretationen durchaus kritisch kommentierte. Seine Kritik an den Versuchen Walther Veecks, archäologisch zwischen Alemannen und Franken zu differenzieren, wurde bereits besprochen.53 Auch Kossinnas Axiom von der unbedingten Übereinstimmung archäologischer „Kulturprovinzen“ mit dem Siedlungsgebiet urgeschichtlicher Völker und Stämme kommentierte er skeptisch.54 Bei aller Kritik ist jedoch nicht zu übersehen, dass er das Erkenntnispotential der Archäologie hoch einschätzte und ihr eine entscheidende Rolle bei der zukünftigen Verifizierung seiner Thesen zudachte: „Gewißheit über die Zahl der die Eroberung begleitenden Siedler kann nur die archäologische Forschung bringen.“55 Offensichtlich hatte sich Steinbach aber nicht allzu intensiv mit den archäologischen Quellen beschäftigt. So stützte er sich als Beleg für das Vorkommen germanischer Funde jenseits der Sprachgrenze auf eine Karte der fränkischen Funde Belgiens, die Camille van Dessel 1877 publizierte hatte (Abb. 18).56

49 50 51 52 53 54 55 56

S TEINBACH , Studien, 154. S TEINBACH , Studien, 152. S TEINBACH , Studien, 155. S TEINBACH , Studien, 4. Kap. 11d. S TEINBACH , Studien, 17. S TEINBACH , Studien, 163. S TEINBACH , Studien, 163 mit Anm. 1.

368

Frühmittelalterarchäologie und Westforschung

Abb. 18: Verbreitung der fränkischen Funde in Belgien (nach Steinbach, Studien, Karte IX)

Für die Zukunft forderte Steinbach dringend die bisherigen Fundkartierungen zu ergänzen und zu überprüfen. Jedoch meinte er bereits erkennen zu können, dass die archäologischen Funde eine wesentlich dichtere germanische Besiedlung in Belgien und Nordfrankreich erkennen ließen – besonders in der Normandie, der Picardie und in Lothringen –, als die „neuere Richtung der französischen Historiker seit Fustel de Coulanges wahrhaben will “.57 In Anbetracht von Steinbachs offensichtlich nur rudimentärer Kenntnis der archäologischen Literatur ist vorläufig nicht zu entscheiden, ob er Kurths und Fustel de Coulanges Einwände gegen die Wertung der Reihengräberfelder als Nachweis germanischer Besiedlung nicht kannte oder ob er es vorzog, sie zu ignorieren. Statt dessen stützte sich Steinbach als Beleg für sein Modell ausgerechnet auf jene Erkenntnis, die Kurth seinerzeit dazu bewogen hatte, Einspruch gegen den germanischen Charakter der Reihengräberfunde zu erheben. Während Kurth die Tatsache, dass die frühmittelalterlichen Funde südlich der Sprachgrenze in Wallonien erheblich zahlreicher sind als nördlich davon, in Flandern, als Argument gegen die germanische Provenienz der Reihengräber erkannt hatte, setzte sich Steinbach über diese Interpretationsmöglichkeit stillschweigend hinweg. Im Gegenteil wertete er diesen Befund als Argument für seine These, Kurths Modell der Entstehung der germanisch-romanischen Sprachgrenze sei grundsätzlich falsch. Grundlage für diese Wertung war die nicht weiter begründete Überzeugung: 57

S TEINBACH , Studien, 164.

Die Entstehung der „westlichen Volksgrenze“

369

Der kulturelle Abstand der einbrechenden Germanen von der römischen Provinzialbevölkerung ist im Anfang nachweislich so bedeutend gewesen, daß in dieser Beziehung die Funde eine vertrauenswürdige historische Quelle darstellen werden. […] Anthropologische Funde und Grabfunde überhaupt sind die wichtigsten Zeugnisse, wenn sie in Friedhöfen auftreten, die nicht als militärische Massengräber gelten können, sondern durch Generationen von derselben Bevölkerung benutzt worden sind.58

Aufgrund des vermeintlich zweifelsfrei feststehenden ethnischen Erkenntniswertes der Reihengräber legte Steinbach der deutschen Ur- und Frühgeschichtsforschung dringend ans Herz, ihre Bemühungen um den Nachweis innergermanischer Stammesgrenzen einzustellen und statt dessen in Zukunft verstärkt die germanische Besiedlung Nordgalliens zu erforschen: Ihre Bearbeitung ist […] ein aussichtsreicheres Unterfangen als die Ermittlung germanischer Stammesgrenzen. […] Die deutsche archäologische Forschung würde sich ein großes Verdienst erwerben, wenn sie ihr Augenmerk mehr als bisher nach dieser Richtung lenken würde.59

Im April 1928 trug Steinbach seine Thesen bei einer Tagung der Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Kleve60 vor. Auch hier äußerte er sich bereits mit großer Bestimmtheit über das Ergebnis, das bei der Bearbeitung der frühmittelalterlichen Grabfunde zu erwarten sei. Die Sichtung der fränkischen Funde weise darauf hin, dass sich eine große Zahl von „siedelnden Eroberern“ westlich der Sprachgrenze niedergelassen habe.61 In seinen Studien hatte sich Steinbach vor allem auf den Nachweis einer umfassenden germanischen Landnahme in ganz Nordgallien konzentriert. Den zweiten Abschnitt seines Modells der Entstehung der germanisch-romanischen Sprachgrenze, die Vorgänge während der Merowinger- und Karolingerzeit, führte er dagegen zunächst nur andeutungsweise aus. Erst während der 1930er Jahre präzisierte er seine diesbezüglichen Vorstellungen. In einem 1934 erschienenen Artikel legte Steinbach seine Ansicht dar, das frühmittelalterliche Frankenreich sei aufgrund der zunächst gemischten germanisch-romanischen Besiedlung von starken „völkischen Gegensätzen“ geprägt gewesen. Diese seien schließlich sogar für das Zerbrechen des Karolingerreiches verantwortlich gewesen und damit letztlich für die Entstehung von Frankreich und Deutschland.62

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S TEINBACH , Studien, 163. – Vgl. auch Kap. 11d. S TEINBACH , Studien, 163 f. Kap. 12a. F. S TEINBACH , Die Entwicklung der Sprachgrenze, insbesondere in Belgien. In: Stiftung 1930 (wie Anm. 5) 412–414, hier 414. F. S TEINBACH , Die Entstehung der Volksgrenze und der Staatsgrenze zwischen Deutschland und Frankeich. Haben völkische Gegensätze das Auseinanderbrechen

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Frühmittelalterarchäologie und Westforschung

Um diese Auffassung vertreten zu können, war Steinbach genötigt, einen beachtlichen geistigen Spagat zu vollführen. Denn wie er selbst zu Bedenken gab, war der „völkische Nationalismus […] dem Mittelalter im Wesen fremd “. Die zeitgenössischen Schriftquellen enthielten deshalb nicht den geringsten Anhaltspunkt, daß die Volks- und Stammeszugehörigkeit irgendwelchen Einfluss auf den Verlauf und das Ergebnis der langwierigen und blutigen Auseinandersetzungen ausgeübt hätten, die dem Abschluß des Friedens- und Teilungsvertrag von 843 vorausgegangen waren.63

Trotz dieses Befundes, an dem bekanntlich bis in die Gegenwart nicht zu rütteln ist, sah Steinbach allenthalben im frühmittelalterlichen Frankenreich „völkische Spannungen“ am Werk. Das zunehmende Streben des fränkischen Adels nach Eigenständigkeit gegen Ende der Merowingerzeit interpretierte er als Beleg für eine „Erneuerung romanischen und germanischen Volkstums“, die mit einer „Auflehnung gegen die fränkische Mischkultur “ in ursächlichem Zusammenhang gestanden habe.64 Mit ihrer militaristischen Terminologie gleicht Steinbachs Beschreibung der Beziehung zwischen frühmittelalterlichen Germanen und Romanen moderner Kriegsberichterstattung. Als Reaktion auf das „tief in den romanischen Kulturraum Westeuropas vorgestoßene Germanentum“ sei es zu einem „romanischen Gegenangriff “ gegen die „germanische Art “ gekommen. Im Gebiet zwischen Seine und Loire habe der „romanische Kulturkampf “ schnellen und durchschlagenden Erfolg gehabt, während in Austrasien die „kulturelle Bereinigung“ langsamer und weniger radikal vonstatten gegangen sei. Der „romanische Gegenangriff “ sei am Nord- und Ostrand des mediterranen „Lebensraumes“ zum Erliegen gekommen und die Sprachgrenze habe sich als „völkische Kulturgrenze“ verfestigt.65 1940 erklärte Steinbach die vermeintlichen ethnischen Gegensätze im Merowingerreich zum eigentlichen Anstoß der „Ethnogenese“ bzw. „Volkwerdung“66 des deutschen Volkes. Die Opposition des austrasischen Adels gegen die Merowingerherrscher, die in deren Ablösung durch die austrasische Familie der Karolinger mündete, stilisierte Steinbach zum erfolgreichen „ germanischen Widerstand “ gegen die „politisch-institutionelle Romanisierung des Reiches“. In einem Akt „völkischer Selbstbesinnung“ habe es seine „völkische Eigenart “ gegenüber dem „romanisierten Westen“ erkannt, sich eine „austrische

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des karolingischen Staates verursacht oder beeinflusst? Rhein. Vierteljahrsbl. 4, 1934, 1–10. S TEINBACH , Volksgrenze (wie Anm. 62) 1. S TEINBACH , Volksgrenze (wie Anm. 62) 9. S TEINBACH , Volksgrenze (wie Anm. 62) 1 f. Vgl. Kap. 7b.

Die Entstehung der „westlichen Volksgrenze“

371

Widerstandsbewegung“ hinter die „austrischen Führer des Widerstandes“ geschart. So sei die „gemeinsame Auflehnung der germanischen Stämme des Frankenreiches gegen den romanischen Westen“ zum Beginn der deutschen „Volkwerdung“ geworden.67 Franz Petris „Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich“ Franz Petri spielte innerhalb der Troika der Rheinischen Volkstumsforschung neben Hermann Aubin und Franz Steinbach gewissermaßen die Rolle des „Juniorpartners“68. Petri hatte zunächst 1925 über ein kirchengeschichtliches Thema promoviert, bevor er sich in der Folge der Erforschung der germanisch-romanischen Sprachgrenze zuwandte. Ermöglicht wurden diese Forschungen finanziell von den Institutionen der Volkstumsforschung. Von 1926 bis 1928 war Petri als Assistent am Marburger Institut für Grenz- und Auslandsdeutschtum tätig, danach schloss er sich als Stipendiat zeitweilig dem Wissenschaftlichen Institut der Elsass-Lothringer im Reich an. Ein wohl auf den Vorschlag Steinbachs erteiltes Stipendium der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft von 1932 bis 1935 ermöglichte ihm schließlich die Fertigstellung seiner Habilitationsschrift „Die fränkische Siedlung in Frankreich und den Niederlanden und die Bildung der germanisch-französischen Sprachgrenze“.69 Die Anregung zur Beschäftigung mit diesem Thema ging anfangs von seinem Lehrer Dietrich Schäfer aus. Schäfer, der sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg von einer etatistischen Geschichtsauffassung abgewandt hatte, publizierte ebenfalls Arbeiten zu Sprachgrenzen und „Sprachkämpfen“.70 Mehr als den Anregungen Schäfers verdankte Petri jedoch den Kontakten zum Bonner Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande.71 In seiner Habilitationsschrift, die 1937 unter dem Titel „Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich“ erschien, setzte sich Petri zum Ziel, Steinbachs Modell der Entstehung der Sprachgrenze zu verifizieren. Zu diesem Zweck wollte Petri den Nachweis führen, dass die germani67

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F. S TEINBACH , Austrien und Neustrien. Die Anfänge der deutschen Volkwerdung und des deutsch-französischen Gegensatzes. Rhein. Vierteljahrsbl. 10, 1940, 217–228, hier 220; 224 f. D ITT , Petri (wie Anm. 43) hier 75. D ITT , Petri (wie Anm. 43) 78f: 83 mit Anm. 36. D. S CHÄFER, Die deutsch-französische Sprachgrenze. In: Ders., Aufsätze, Vorträge und Reden. Bd. 2 (Jena 1913) 382–402. – D ERS., Deutsche Sprachgrenzen und Sprachenkämpfe. Ebd., 403–425. P ETRI , Volkserbe, XI.

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Frühmittelalterarchäologie und Westforschung

sche Landnahme keineswegs an der „heutigen Volksgrenze“ zum Stehen gekommen sei, sondern zunächst „den gesamten fränkischen Staatsraum überflutet “ habe. Der spätere Verlauf der Sprachgrenze sei somit nicht durch die einstmalige Ausdehnung der germanischen Besiedlung bestimmt worden, sondern erst durch den „kulturellen Rückstoß des Romanentums“. Die politische Motivation seiner Arbeit verhehlte Petri in keiner Weise. Explizit verwies er auf die Absicht, mit seinen Forschungen einen Beitrag zur aktuellen Problematik des „westdeutschen Volksbodens“ leisten zu wollen. Gegenstand seiner Arbeit sei das Schicksal des „germanischen Volkstums“ jenseits der Sprachgrenze. Obwohl er über den „heutigen germanischen Volksraum“ hinausgreife, behandele er damit zentrale Vorgänge unserer Volksgeschichte. Denn in dem gewaltigen völkischen Ringen, das sich nach der Aufrichtung des Frankenreiches in Wallonien und Nordfrankreich abspielte, fiel die Entscheidung über die Ausdehnung und Gestalt unseres eigenen Volksbodens im Westen.72

Petri rekurrierte vor diesem Hintergrund auf die aktuelle politische Bedeutung seiner Forschungen: „‚Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen‘ – das gilt in der Volksgeschichte so gut wie im Leben.“73 Insgesamt meinte Petri, Steinbachs Thesen in vollem Umgang bestätigen zu können. Die fränkische Landnahme sei ein Prozess gewesen, der teils parallel zur fränkischen Eroberung, teils unabhängig vor ihr verlaufen sei. Sie habe das gesamte Gebiet der fränkischen Herrschaft erfasst, wodurch dessen ländliche Räume von „germanischem Volkstum“ überdeckt worden seien. In der frühen Merowingerzeit hätten Germanen im Gebiet bis zur Seine die Mehrheit gebildet, während sich die „unzweifelhaften Spuren germanischer Volkssiedlung“ bis zur Loire nachweisen ließen. Seit dem 6. Jahrhundert bewirkte jedoch die „völkische Assimilation“, die durch die Politik der Merowingerkönige begünstigt worden sei, im Verein mit der Fortdauer antiken Lebens in den Städten und in der Wirtschaft sowie dem Einfluss des Christentums, einen „immer intensiveren Rückstoß der romanischen Sprache und Kultur “.74 Die Sprachgrenze kam schließlich dort zu liegen, wo das „Germanentum“ sich gegen den „Rückstoß des Romanischen“ sprachlich-kulturell zu behaupten vermochte. Hier liege noch heute die Westgrenze des „deutschen Volksbodens“.75 Bei seinen Untersuchungen stützte sich Petri vor allem auf zwei Quellengattungen, die Orts- und Flurnamen sowie die Archäologie. Als Ergän72 73 74 75

P ETRI , Volkserbe, V. P ETRI , Volkserbe, 998. P ETRI , Volkserbe, 988. P ETRI , Volkserbe, 998.

Die Entstehung der „westlichen Volksgrenze“

373

Abb. 19: Verbreitung der frühmittelalterlichen Funde im westlichen Frankenreich (nach Petri, Volkserbe, Beilage)

zung zog er zudem die Rassenkunde heran. Eine große Rolle spielten die archäologischen Quellen. Bestimmte Teile seiner Argumentation stützte er sogar allein oder ganz vorwiegend auf sie. Der Prozess der „Verwelschung“ der germanischen Siedler jenseits der Sprachgrenze finde etwa in anderen Quellen keinen Niederschlag und lasse sich nur archäologisch nachweisen.76 Für den Kernbereich seines Themas, den Nachweis der germanischen Landnahme bis zur Loire, besaß die Archäologie zentrale Bedeutung. In Anlehnung an Steinbach behauptete Petri, dass die ältere Auffassung der 76

P ETRI , Volkserbe, 988.

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Frühmittelalterarchäologie und Westforschung

Entstehung der Sprachgrenze durch die archäologischen Befunde grundsätzlich widerlegt werde. Diese ältere Annahme stehe nicht nur mit der natürlichen Dynamik der Entwicklung, sondern auch mit dem Bilde der fränkischen Landnahme, das wir auf Grund der Ergebnisse einer anderen großen geschichtlichen Hilfswissenschaft, der fränkischen Archäologie, gewinnen, in einem unauflöslichen Widerspruch.77

Anders als Steinbach, der die Tatsache, dass eine Reihe westeuropäischer Historiker die ethnische Aussagekraft der frühmittelalterlichen Grabfunde grundsätzlich in Abrede stellte, schlichtweg übergangen hatte, nahm Petri die kritischen Stimmen durchaus zur Kenntnis. In zwei längeren Abschnitten versuchte er diese Einwände zu entkräften und stellte eine Reihe von Argumenten für den germanischen Charakter der frühmittelalterlichen Reihengräber zusammen.78 Aufgrund seiner Beschäftigung mit der Entstehung der Sprachgrenze setzte sich Petri mit dem Widerspruch Godefroid Kurths besonders intensiv auseinander. Bereits in einem Aufsatz aus den frühen 1930er Jahren, in dem er seine Methodologie und Zielsetzung dargelegte, hatte er Kurths Einwände gegen die ethnische Interpretierbarkeit der frühmittelalterlichen Grabfunde pauschal zurückgewiesen.79 In seinem „Germanischen Volkserbe“ ging er nun ausführlich auf sie ein. Er schilderte den Disput während des Kongresses von Charleroi und erkannte an, dass es den belgischen Archäologen damals nicht gelungen sei, Kurths Argumentation zu widerlegen.80 Dennoch hielt er an der ethnischen Aussagekraft der frühmittelalterlichen Grabfunde fest. Zu diesem Zweck schwang sich Petri zum Anwalt der frühmittelalterlichen Archäologie auf: Diese habe in der Vergangenheit zwar mit mancherlei methodischen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt und sei deswegen auch nicht ganz zu Unrecht kritisiert worden; mittlerweile stünde sie jedoch auf festem Boden. Deshalb sei es fahrlässig, ihre Ergebnisse außer acht zu lassen. Petri unterstellte Kurth, das Erkenntnispotential der Archäologie ungerechtfertigt beiseite geschoben zu haben, da ihre Ergebnisse nicht in das Bild passten, das er sich anhand der Ortsnamen vom Verlauf der Sprachgrenze gemacht habe. Durch seine „ganz unangebrachte Ausschließlichkeit und Starrheit in seinen Anschauungen“ habe Kurth einen mög-

77 78 79

80

P ETRI , Volkserbe, 27. P ETRI , Volkserbe, 29–46; 827–842. F. P ETRI , Zur Erforschung der deutsch-französischen Sprachgrenze. Zielbestimmung und Methode. Rhein. Vierteljahrsbl. 1, 1931, 2–25, bes. 9. Kap. 9a.

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lichen fruchtbaren Dialog zwischen Archäologie und Geschichte verhindert.81 Allerdings zeigte sich deutlich, dass es Petri fast vier Dekaden nach dem Kongress von Charleroi noch immer Schwierigkeiten bereitete, Argumente gegen die Einwände Kurths zu finden. Grundsätzlich verfolgte er die Strategie, die historische Dimension des Problems gänzlich auszublenden und das Problem der ethnischen Interpretation der Funde als eine Frage zu behandeln, die allein mit archäologischen Mitteln zu lösen sei. Rhetorisch stellte Petri zwar die Frage, ob Kurths These vielleicht doch zuträfe, d. h. dass die frühmittelalterlichen Grabfunde südlich und westlich der Sprachgrenze mehrheitlich nicht fränkischen Siedlern zuzuschreiben seien, sondern auf die einheimische Bevölkerung zurückgingen, die den fränkischen Bestattungsritus übernommen habe. Eine solche Übernahme hielt Petri aber für „völlig unmöglich“: Hätte sie stattgefunden, so müßte nämlich erwartet werden, daß die Funde in Frankreich jüngeren Ursprungs wären als im übrigen merowingischen Kulturgebiet. Das aber ist durchaus nicht der Fall.82

Aus diesem Grund bestand Petri auf dem exklusiv germanischen Charakter aller Reihengräberfunde auch jenseits der Sprachgrenze. Hier sei eine Kultur entstanden, „die ihrem Wesen“ nach genauso germanisch ist wie die der übrigen großen germanischen Kulturkreise, des südrussisch-donauländischen, des nordischen und des niedersächsisch-angelsächsischen. Deshalb bestehe kein Zweifel daran, dass „die maßgebenden Begründer und Verbreiter der merowingischen Reichskultur auch in Westfranzien nur Germanen gewesen sein können.“83 Angesichts der Tragweite der Problematik wirkte dieses Argument mehr als dürftig. Die chronologische Differenzierung des merowingischen Fundstoffes steckte zu diesem Zeitpunkt noch in ihren Anfängen. Auch Petri unternahm es in seiner Arbeit nicht, das von ihm behauptete sukzessive Vordringen landnehmender Germanen anhand einer regionalen chronologischen Differenzierung des Materials zu belegen. Zudem war seit der Arbeit Eduard Brenners aus dem Jahre 1912 bekannt, dass sich die merowingische Kultur keineswegs im Zuge einer fränkischen Landnahme nach Frankreich ausgebreitet hatte; Brenner hatte in seinem umfassenden Aufsatz vielmehr ausdrücklich betont, dass die Franken ihre Gräberkultur nicht vom Rhein nach Gallien mitgebracht hätten, sondern diese erst dort neu

81 82 83

P ETRI , Volkserbe, 31; 37. P ETRI , Volkserbe, 45. P ETRI , Volkserbe, 45 f.

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Frühmittelalterarchäologie und Westforschung

entstanden sei.84 Zudem beinhaltete Petris Argument die implizite Prämisse, die Übernahme des fränkischen Bestattungsritus durch die einheimische Bevölkerung könne sich nur als langwieriger, über Generationen andauernder Prozess vollzogen haben. Aus diesem Grund warf Petri Kurth auch vor, es sich bei seinen Einwänden leicht gemacht zu haben, da er nur die „Spätzeit“ in Betracht gezogen hätte.85 Dagegen überging Petri, der mehrere Passagen aus dem Kongressprotokoll von Charleroi wörtlich zitierte, den Kern von Kurths Argumentation stillschweigend, obwohl er mehr als deutlich formuliert und bei der Lektüre des Textes nicht zu übersehen ist. Wie bereits gezeigt, wies Kurth in Charleroi mit allem Nachdruck darauf hin, dass die Zuweisung der frühmittelalterlichen Gräberfelder an die Germanen auf der Prämisse beruhte, die Franken hätten gegenüber der einheimischen Bevölkerung das Vorrecht besessen, Waffen zu tragen, und sich zudem durch gänzlich andere Kleidung von diesen unterschieden. Beide Prämissen meinte Kurth anhand der Schriftquellen widerlegen zu können und Petri unternahm es nicht einmal, Belege für die gegenteilige Ansicht vorzubringen. Der Verdacht liegt nahe, dass Kurths Einwände von Petri gänzlich übergangen worden wären, hätten nicht weitere prominente Historiker dieselbe Ansicht vertreten. Diese schrieben nicht allein die Thesen Kurths fort, sondern wandten sich auch gegen neue Versuche, die frühmittelalterlichen Grabfunde als Quellen zur Erforschung der fränkischen Landnahme heranzuziehen. Vor allem das 1926 erschienene Werk des belgischen Historikers Guillaume Des Marez, der ähnlich wie Petri versucht hatte, die Ergebnisse der Archäologie mit denen weiterer Wissenschaften – Ortsnamenkunde, Geschichtswissenschaft, Geographie und Volkskunde – zu verbinden,86 war deshalb unter anderem von Henri Pirenne deutlich kritisiert worden.87 Auf die vergleichbare Position Fustel de Coulanges, dessen Werk man in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder auflegte, wurde bereits hingewiesen. Während der 1930er Jahre wandte sich vor allem Ferdinand Lot, den Petri als einen der besten französischen Kenner des frühen Mittel84

85 86

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E. B RENNER, Der Stand der Forschung über die Kultur der Merowingerzeit. Ber. RGK 7, 1912, 253–351, hier 289; 298. P ETRI , Volkserbe, 33. G. DES M AREZ , Le problème de la colonisation franque et du régime agraire en Belgique. Mem. Acad. Royale Belgique, Classe des Lettres, 2. Sér. 9, H. 4 (Brüssel 1926). H. P IRENNE , Histoire de Belgique. Bd. 1. Des origines au commencement du XIVe siècle (5Brüssel 1929) 16 mit Anm. 1. – Ebenso F. R OUSSEAU , La Meuse et le pays mosan en Belgique. Leur importance historique avant le XIIIe siècle (Namur 1930) 16 f. (=Ann. Soc. Arch. Namur 39, 1930)

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alters anerkannte, vehement gegen die Möglichkeit, die merowingerzeitlichen Grabfunde ethnisch zu differenzieren: Wolle man nicht annehmen, dass in dieser Zeit die Gallorömer einfach nicht gestorben seien, so müsse man wohl oder übel akzeptieren, dass die Gallorömer und die Franken denselben Grabriten gefolgt seien, denn nicht alle Friedhöfe der Merowingerzeit könne man den Barbaren zuweisen.88 Auch der belgische Historiker Félix Rousseau, Professor für Geschichte an der Universität Lüttich und einer der Gründerväter der wallonischen Historiographie,89 hatte sich Anfang der 1930er Jahre nachdrücklich gegen die ethnische Interpretierbarkeit der fränkische Funde ausgesprochen. Die meisten fränkischen Grabfunde gehörten nicht mehr der Völkerwanderungszeit an; während der Merowingerzeit hätten die Einheimischen bereits die germanische Bewaffnung übernommen und auch die sonstigen Grabbeigaben besäßen keine ethnische Aussagekraft. Aus diesem Grund sei es praktisch unmöglich, zwischen einem Grab eines wirklichen Germanen und dem eines Gallorömers zu unterscheiden. Rousseau zufolge enthielt die Mehrheit der merowingerzeitlichen Gräberfelder im romanischen Sprachgebiet aller Wahrscheinlichkeit nach die Reste der Nachkommen der alteingesessenen gallorömischen Bevölkerung. Die große Anzahl frühmittelalterlicher Gräberfelder südlich der Sprachgrenze belege deshalb lediglich, dass diese Gebiete im frühen Mittelalter dichter besiedelt gewesen seien als die nördlich angrenzenden Gegenden.90 Noch unwilliger stimmten Petri die Ausführungen des niederländischen Archäologen Jan Holwerda, des Direktors des Rijksmuseums van Oudheden in Leiden und somit Leiters der zu diesem Zeitpunkt maßgeblichen niederländischen Denkmalpflegeinstitution.91 Holwerda hatte sich Mitte der 1920er Jahre verschiedentlich zwar nicht generell gegen die germanische Herkunft der Toten in den frühmittelalterlichen Gräberfeldern aus-

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89 90 91

„A moins d’admettre que les Gallo-Romains ne mouraient pas, il faut se résigner à accepter que Francs et indigènes suivaient les mêmes rites de sépulture, car tous les cimetières qu’on peut assigner à l’ère mérovingienne sont ‚barbare‘“: F. L OT , De l’origine et de la signification historique et linguistique des noms de lieux en -ville et en -court. Romania 59, 1933, 199–246, hier 204. – Vgl. auch D ERS., Les invasions germaniques. La pénétration mutuelle du monde barbare et du monde romain (Paris 1935) 210. H. H ASQUIN , Historiographie et politique en Belgique (3Brüssel 1996) 17. R OUSSEAU , Meuse (wie Anm. 87) bes. 16–19, 18. F ILIP, Handbuch, 497. – W. J. H. W ILLEMS, Archäologie in den Niederlanden und der Rjksdienst voor het Oudheidkundig Bodemonderzoek (ROB). In: Spurensicherung. Archäologische Denkmalpflege in der Euregio Maas-Rhein (Mainz 1992) 295–315, hier 295 f.

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gesprochen, mit aller Deutlichkeit aber die Möglichkeit verneint, sie als Belege für eine fränkische Landnahme im 5. Jahrhundert heranziehen zu können. Die übliche Vorstellung der Entstehung des fränkischen Reiches aus der Eroberung des römischen Gallien durch einen Bund fränkischer Stämme, welche ursprünglich, jedenfalls teilweise, hier in unseren Gegenden [den Niederlanden: H. F.] gewohnt haben sollen, scheint mir vollkommen falsch zu sein. Die Entstehung des fränkischen Reiches in Süd-Belgien und Frankreich ist nicht die Folge einer „Aggressivpolitik“ von germanischen Völkern außerhalb jenes Gebietes, sondern ist im Lande selbst nur durch einen innerlichen Prozeß vor sich gegangen. Das beweist uns die fränkische Kultur selbst, welche sich aus der späten provinzialrömischen besonders unter gotischem Einfluß aus Süd-Rußland entwickelt hat, und also nur dort entstanden sein kann, wo tatsächlich die spätrömische Kultur geherrscht hat.92

Da sich die frühmittelalterliche fränkische Kultur nahtlos aus der spätrömischen Kultur heraus entwickelt habe, erkläre sich auch das weitgehende Fehlen typischer Reihengräberfunde in den Gebieten nördlich der Sprachgrenze. Hier fehlten nämlich schon ab dem 3. Jahrhundert die Belege für eine dichte römische Besiedlung, während die fränkischen Gräberfelder fast ausschließlich südlich der Sprachgrenze vorkämen. Bezüglich des 5. Jahrhunderts äußerte Holwerda eine Ansicht, die im Grunde recht präzise dem gegenwärtigen Forschungsstand entspricht. Grundsätzlich stellte er die Existenz einer großen germanischen Landnahme in dieser Periode in Abrede. Tatsächlich habe es sich lediglich um Germanen gehandelt, die seit langem in der römischen Provinz ansässig waren und bei den Römern selbst großes Ansehen und hohe Ämter erlangt hatten. Man hat die von den Schriftstellern erzählten lokalen Ereignisse, die privaten Streitigkeiten verschiedener Fürstchen unter sich, zu einem großen fränkischen Eroberungskrieg aufgeblasen.93

Mit seiner Ansicht der ungebrochenen Evolution der merowingischen Kultur aus der spätrömischen stimmte Holwerda weitgehend mit den Ansichten Alfons Dopschs über die Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter überein, wie Petri mit großer Missbilligung feststellte. Dieser habe auch nichts besseres zu tun gewusst, als sich die Ausführungen Holwerdas voll-

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93

J. H. H OLWERDA , Aus Holland. Ber. RGK 16, 1925/26, 119–169, hier 136. – Vgl. auch D ERS., De Franken in Nederland. Oudheidkde Mededel. NF 5, 1924, 1–52, bes. 6 ff.; 47 f. – D ERS., Nederland’s vroegste geschiedenis (2Amsterdam 1925) bes. 247–250. – D ERS., De prae-historie en de oude geschiedenis. In: Ders./R. R. Post, Geschiedenis van Nederland. Bd. 1 (Amsterdam 1935) 13–104, hier 83 f. H OLWERDA , Holland (wie Anm. 92) 137.

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inhaltlich zu Eigen zu machen.94 Petri mochte Holwerda und Dopsch in dieser „Minimalisierung der politischen Umwälzungen des 5. Jahrhunderts“ keinesfalls folgen: sie sei seines Erachtens nicht mit den Quellenzeugnissen vereinbar.95 Wie für viele Anhänger der völkischen Geschichtsbetrachtung waren die Theorien Dopschs auch für die Vertreter der rheinischen Volkstumsforschung ein rotes Tuch. In ihren Augen hatte sich Dopsch damit eines schweren Vergehens schuldig gemacht: des „Romanismus“, worunter man, wie Adolf Helbok formulierte, die „übertriebene Auffassung von der Bedeutung der römischen Kultur “ verstand.96 Durch die „Minimalisierung“ der germanischen Landnahme sah man die Germanen bzw. die Deutschen um eines der großartigsten Ereignisse ihrer Geschichte gebracht: die „große Revolution der germanischen Völkerwanderung“97, wie Hermann Aubin dieses Geschichtsbild einmal prägnant auf den Punkt brachte. Die Argumentation der Volkstumshistoriker gehorchte dabei einer schlichten Logik: Je größer die Kulturzäsur am Übergang von der Antike zum Mittelalter, umso bedeutender diese Revolution, umso germanischer das Mittelalter insgesamt und umso bedeutender schließlich der Anteil der Germanen an den Leistungen der mittelalterlichen Kultur. Während der nationalsozialistischen Diktatur wurde diese Geschichtsbetrachtung geradezu zur Doktrin erhoben. Auf den Tagungen der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft bemühte man sich, die deutschen Historiker und Altertumswissenschaftler auf eine gemeinsame Front einzuschwören, die gegen die Kontinuitätsthese ebenso Stellung bezog wie gegen die Geschichtsauffassung Pirennes und Fustel de Coulanges. Aber auch von anderer Seite wurde der „Romanismus“ nach 1933 offiziell zum Feindbild stilisiert. In seinem programmatischen Vorwort zum ersten Heft der Zeitschrift „Germanen-Erbe“ erklärte ihn Hans Reinerth nach dem Ende der marxistischen Geschichtsauffassung gar zum letzten verbliebenen Erbfeind der völkischen Vorgeschichtsforschung: Der große westanschauliche G e g n e r völkischer Vorgeschichte ist aber, wie vor hundert Jahren, so auch heute noch der Ro m a n i s m u s in allen seinen Erscheinungsformen.98

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A. D OPSCH , Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung. Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 11, 1932, 359–434, hier 377. P ETRI , Volkserbe, 42. H ELBOK , Grundlagen, IV. H. A UBIN , Zur Frage der historischen Kontinuität im Allgemeinen. Hist. Zeitschr. 168, 1943, 229–262, 238. H. R EINERTH , Unser Weg. Germanen-Erbe 1, 1936, 1.

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Daher war es sicher kein Zufall, dass sich Petri mit den Thesen Kurths über den ethnischen Charakter der Reihengräber so intensiv auseinander setzte. Denn die Frage der ethnischen Interpretierbarkeit der frühmittelalterlichen Reihengräber beschränkte sich nicht allein auf die rein akademische Frage nach den methodischen Grundlagen von Petris Arbeit. In dieser Hinsicht wäre es auch möglich gewesen, sich lediglich auf die gängigen Verfahren der Archäologie zu berufen. Bei Petris Stellungsnahme handelte es sich aber um einen symptomatischen Ausschnitt einer viel grundsätzlicheren Auseinandersetzung, bei der es galt, den wissenschaftlichen Gegner an möglichst vielen Fronten in Bedrängnis zu bringen. Letztlich stießen an diesem Punkt zwei völlig unvereinbare Geschichtsbetrachtungen aufeinander: Der vornehmlich politischen Betrachtung der frühmittelalterlichen Geschichte, die Kurth ebenso wie Fustel de Coulanges und Pirenne vertrat, stand hier die völkische Geschichtsbetrachtung der deutschen Volkstumsforschung gegenüber. Gemeinsam mit seinem Schüler Pirenne, der traditionellen „bête noire“99 der deutschen Westforschung, galt Kurth schon früh als Hauptvertreter der verhassten „belgizistischen“ Geschichtsschreibung. Bereits auf der Tagung der Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Heppenheim 1924100 polemisierte ein Redner gegen „Kurths-Pirenne’s Ethnologie Belgiens“, und warf „Kurth-Pirenne“ vor, um ihres „belgizistischen“ Geschichtsbildes Willen die anthropologische Seite der Frage nach der Herkunft von Flamen und Wallonen negiert zu haben. Der „Belgizismus“ wolle die Existenz Belgiens historisch rechtfertigen, strebe aber ein Verzicht der Flamen auf ihre Sprache und ihr „Volkstum“, d. h. deren „Französisierung“ an.101 Die belgizistische Geschichtsbetrachtung, wie sie am reinsten von Henri Pirenne vertreten wurde, implizierte eine zwar ausgesprochen nationale, gleichzeitig aber betont antiethnische und antirassistische Geschichtsauffassung.102 Den Unmut der Volkstumsforschung zog sich Pirenne nicht allein aufgrund seiner bahnbrechenden These vom Untergang der Antike im 7. Jahrhundert durch die Expansion des Islams zu, die hinsichtlich der Völkerwanderungszeit zum selben Ergebnis wie Dopschs Kontinuitätsthese führte. Stein des Anstoßes war seine Ansicht über die belgische Geschichte. Vor allem in seiner siebenbändigen „Geschichte Belgiens“ unternahm es Pirenne, die belgische Nationalgeschichte möglichst tief in der Vergangenheit 99 100 101

102

D ERKS, Westforschung, 44. Kap. 12a. A. V LAMYCK , Die Wallonen und Flamen. In: Stiftung (wie Anm. 55) 83–85, hier 84 f. H ASQUIN , Belgique (wie Anm. 89) 61–87, hier 62.

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zu verankern und griff in seiner Darstellung bis in das Altertum zurück. Anders als Deutschland, Frankreich oder Großbritannien leite sich die belgische Nation weder von einer einheitlichen Rasse, noch einer gemeinsamen politischen Vergangenheit noch von einer geographischen Einheit her, sondern von der „Einheitlichkeit des sozialen Lebens“ ab.103 Pirenne imaginierte Belgien als ideale Synthese der besten Eigenschaften seiner beiden großen Nachbarn Deutschland und Frankreich, als eine charakteristische und einzigartige „Mischung von Germanismus und Romanismus“.104 In diesem Sinne interpretierte Pirenne auch die Ereignisse während der Spätantike und des frühen Mittelalters. Bereits ab dem 3. Jahrhundert sei das Gebiet Belgiens germanisiert worden; aus den Einheimischen und den Neuankömmlingen habe sich eine neue Bevölkerung gebildet, die zwar dem Blut nach vermischt gewesen sei, jedoch eine gemeinsame Kultur besessen habe.105 Im 5. Jahrhundert hätten sich schließlich die salischen Franken in Flandern und Brabant niedergelassen. Anders als die Anhänger der Katastrophentheorie betonte Pirenne, dass dieser Prozess weitgehend unmerklich und friedlich vor sich gegangen sei. Ihm habe kein einheitlicher Eroberungsplan zugrunde gelegen:106 „Nichts unterscheidet sich mehr von einem Krieg der Rassen als die fränkische Kolonisation.“107 Vor diesem Hintergrund erklärt sich Pirennes Lesart der frühmittelalterlichen Reihengräber. Diese illustrierten, wie die germanischen Einflüsse auf die romanischen Wallonen einwirkten, während sie gleichermaßen deutlich machten, wie deren germanische Landsleute von römischen Einflüssen geprägt worden seien: Die archäologischen Funde zeigen dies auf unzweifelhafte Weise. Nördlich wie südlich der Sprachgrenze sind die Gräber ausgestattet mit denselben Waffen und denselben Kleidungsbestandteilen und Schmuckstücken. Gemeinsam mit den verkümmerten Produkten des belgorömischen Handwerks findet man den fränkischen Scramasax und die Framae, ebenso wie jene Fibeln östlichen Ursprungs, die bei den Germanen seit der Zeit vor der Einwanderung verbreitet waren.108 103 104 105 106 107

108

P IRENNE , Historie de Belgique (wie Anm. 87) XII: „[…] de l’unité de la vie sociale“. P IRENNE , Histoire (wie Anm. 87) XV. P IRENNE , Histoire (wie Anm. 87) 12. P IRENNE , Histoire (wie Anm. 87) 16. P IRENNE , Histoire (wie Anm. 87) 18: „[…] rien n’est plus différent d’une guerre de races que la colonisation franque.“ P IRENNE , Histoire (wie Anm. 87) 30: „Les découvertes archéologiques l’attestent de façon incontestable. Au nord comme au sud de la frontière linguistique, les tombes fournissent les mêmes armes et les mêmes objets de vêtement ou de parure. A côté de produits dégénérés de l’industrie belgo-romaine, on y rencontre le scramasax et la framée franque, ainsi que ces fibules d’origine orientale dont l’usage s’était propagé chez les Germains dès avant l’époque des invasions.“

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Für die Tatsache, dass sich die historischen Ansichten von Numa Fustel de Coulanges, Godefroid Kurth, Henri Pirenne, sowie – im gewissem Maße – auch Alfons Dopsch in den Augen der deutschen Volkstumsforschung zu einem veritablen Feindbild verdichteten, sind mehrere Gründe verantwortlich. Stellvertretend für die rheinische Volkstumsforschung warf Petri seinen westeuropäischen Kollegen vor, aus ideologischen Gründen pauschal ihre „germanischen Wurzeln“ abzulehnen und deshalb „Hemmungen bei der Sammlung und Wertung des fränkischen Erbes“ zu haben. Angesichts dieser vermeintlichen psychologischen Blockade bot Petri großzügig Hilfe an: „Deshalb hat die deutsche Wissenschaft hier in die Bresche zu springen. Eben das ist auch das Ziel der hier vorgelegten Untersuchung.“ Andererseits bereitete es Petri keine Schwierigkeiten, ein paar Sätze weiter zu betonen, dass die deutsche Wissenschaft keinesfalls darauf verzichten könne, „diese Zeit mit deutschen Augen zu sehen“.109 Seinem wissenschaftlichen Gegner Henri Pirenne schickte Petri in einem Nachruf den bezeichnenden Vorwurf hinterher, dass dieser niemals „das innerste Wesen des Deutschen und einer um Volksverbundenheit ringenden Wissenschaft begriffen“ habe.110 Für sich selbst nahm Petri dagegen „vorurteilslose Beobachtung“ in Anspruch.111 Sowohl Fustel de Coulanges als auch Kurth und besonders Pirenne hatten zumindest in einem Teil ihres Lebens keinen Hehl aus ihrer Kritik an Deutschland und ihren deutschen Kollegen gemacht. Fustel de Coulanges’ kritische Haltung gegenüber Deutschland rührte vom „Krieg der Professoren“ während des deutsch-französischen Kriegs 1870/71 her.112 Nach seinem Tod wurde er zudem von Teilen der äußersten Rechten in Frankreich zu einem nationalen Heros stilisiert.113 Kurth, der als erster Gelehrter in Belgien ein nach deutschem Vorbild konzipiertes historisches Seminar geleitet hatte, wandte sich erst kurz vor seinem Tod 1916 durch die Ereignisse während der deutschen Besetzung von Deutschland ab.114 Gleiches galt für Pirenne, der während der 1880er Jahre in Deutschland studiert hatte, aber aufgrund des Ersten Weltkriegs und seiner Internierung nach 1918 ein sehr kritisches Verhältnis zu seinen deutschen Kollegen pflegte.

109 110

111 112 113 114

P ETRI , Volkserbe, IXf. F. P ETRI , Nachruf Henri Pirenne. In: Ders., Zur Geschichte und Landeskunde der Rheinlande, Westfalens und ihrer westeuropäischen Nachbarländern. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten (Bonn 1973) 965–967, hier 967. (Erstdruck 1935). P ETRI , Erforschung (wie Anm. 79) 3. Kap. 4c. B RÜHL , Geburt, 16. H ASQUIN , Belgique (wie Anm. 89) 59 f.

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Im Gegensatz zur letzlich politischen Geschichtsauffassung der westeuropäischen Historiker vertrat Petri einen dezidiert biologischen Standpunkt: Die völkische Massensiedlung lieferte den biologischen Rohstoff für den Aufbau des Volkes und ist insofern für die Volksgeschichte absolut grundlegend.115

Fustel de Coulanges Diktum, nicht das fränkische Volk, sondern ein fränkischer König habe Gallien erobert,116 setzte Petri trotzig entgegen: Es ist nicht wahr, daß die fränkische Reichsgründung eine wesentlich dynastische Angelegenheit gewesen ist, an der sich die germanische Volksgeschichte ruhig desinteressieren könne.117

Die belgizistische Geschichtsauffassung musste den rheinischen Volkstumsforschern schließlich ein ganz besonderer Dorn im Auge sein. In einem Geschichtskonzept, das letztlich die gesamte mittel- und westeuropäische Geschichte zum ewigen Kampf zwischen Germanen und deren westlichen und südlichen Anrainervölkern stilisierte, war für eine eigenständige belgische Tradition zwischen Germanen und Romanen kein Platz. Im Einklang mit den alldeutschen Annexionsplänen vor und während des Ersten Weltkriegs wurden Niederländer und Flamen stillschweigend dem deutschen „Volkskörper“ einverleibt, während die Wallonen wahlweise als französisierte Keltoromanen oder „verwelschte“ Germanen galten. Während diese Frage vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vor allem für die Anhänger der Volkstumsideologie von einigem Interesse war, gewann sie nach der Besetzung Belgiens politische Brisanz, da sie im Rahmen der Volkstumspolitik der deutschen Besatzungsbehörden praktische Bedeutung erlangte.118 Da Petri meinte, aus den geschilderten Gründen die Einwände Kurths, Fustel de Coulanges und Holwerdas zurückweisen zu dürfen, legte er seiner Auswertung die These zugrunde, dass die frühmittelalterlichen Reihengräber tatsächlich als Zeugnisse einer germanischen Landnahme zu werten seien. In seiner Einleitung zum auswertenden Teil der Grabfunde listete Petri seine Argumente für dieses Vorgehen noch einmal ausführlich auf. Zum einen spräche die Übereinstimmung der nordgallischen Friedhöfe mit jenen Gebieten des Römischen Reiches, die während der Völkerwande115 116

117 118

P ETRI , Volkserbe, 998. N. D. F USTEL DE C OULANGES, Histoire des institutions politiques de l’ancienne France. L’invasion germanique et le fin de l’empire (6Paris 1930) 499. P ETRI , Volkserbe, 987. Kap. 13e.

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rungszeit von Germanen besiedelt wurden, eindeutig für eine germanische Zugehörigkeit der Friedhöfe.119 Die Tatsache, dass diese Grabform in den vermeintlichen Herkunftsgebieten der Franken in Norddeutschland weitgehend unbekannt ist, überging Petri dagegen geflissentlich. Ferner führte Petri an, dass sich die Lage der frühmittelalterlichen Gräberfelder in Gallien von den römerzeitlichen unterscheide, mit jenen in Württemberg aber übereinstimme.120 Als wichtig erachtete Petri ferner die Orientierung der Gräber. Während die römerzeitlichen Gräber nord-süd-orientiert gewesen seien, wie Petri fälschlicherweise anführte,121 herrsche bei den Reihengräbern durchgehend die West-Ost-Ausrichtung vor. Hinter diesem Unterschied verberge sich ein „Gegensatz der religiösen Vorstellungen bei Gallo-Römern und Germanen“.122 Darüber hinaus stimmten die Gräber hinsichtlich ihres Ritus und der Beigabenkategorien weitgehend überein. Eine so unbedingte Gleichförmigkeit der Bestattungssitten im germanischen und romanischen Gebiet ist mit der Annahme einer massiven Entlehnung der germanischen Bräuche durch die Romanen schwer verträglich. Wo Entlehnung erfolgt, kommt es mit Notwendigkeit zum Entstehen von Übergangs- und Mischformen.123

Petri machte sich jedoch nicht die Mühe, nach solchen Übergangs- und Mischformen zu suchen. Er setzte wiederum implizit voraus, eine solche Übernahme müsse als langandauernder, zögerlicher Prozess verlaufen, wohl im Stile der zeitgenössischen Theorien zur „Umvolkung“124. Aus der Sicht des völkischen Weltbildes lag die Vorstellung in der Tat sehr fern, eine Bevölkerung könne ein so prägnantes kulturelles Merkmal wie die Reihengräberfelder schnell und bereitwillig übernehmen, ohne um den Erhalt des eigenen „Volkstums“ zu kämpfen und ohne die vermeintlichen schmerzhaften Begleiterscheinungen eines „Umvolkungsprozesses“ zu erleiden. Ferner überging Petri sämtliche Hinweise in der zeitgenössischen und älteren archäologischen Literatur auf den Zusammenhang zwischen spätantiker und frühmittelalterlicher Sachkultur und behauptete statt dessen, die Fundinventare böten genügend Hinweise darauf, dass die „Reihengräberkultur in der romanischen Reichshälfte so gut wie in der germanischen auf die germanische Bevölkerung zurückgeht “.125 119 120 121 122 123 124 125

P ETRI , Volkserbe, 827. P ETRI , Volkserbe, 828 f. Kap. 18c. P ETRI , Volkserbe, 829. P ETRI , Volkserbe, 830. Kap. 7b. P ETRI , Volkserbe, 835.

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Zudem schloss Petri die ethnischen Interpretationen der frühmittelalterlichen Kunststile mit ein. Unter anderem wertete er die tierstilverzierten Funde als Beleg für die Anwesenheit der Germanen, da diese ja, wie Kühn und Zeiss gezeigt hätten, Ausdruck der germanischen Lebenshaltung und darum auch nicht übertragbar seien.126 Da Petri offenbar all diesen Argumenten noch keine vollständige Überzeugungskraft zutraute, führte er zuletzt die Ergebnisse der Rassenkunde als finalen Beweis an: Ein letztes und entscheidendes Argument gegen die Zurückführung der westfränkischen Reihengräberfunde auf die gallorömische Bevölkerung sind die bei ihren Trägern festgestellten Rassenmerkmale.127

Dabei war, wie Petri selbst zu bedenken gab, das Material aus den belgischen und nordfranzösischen Reihengräbern noch recht beschränkt. Vorwiegend anhand von Publikationen zu Schädelindices des 19. Jahrhunderts zog Petri den Schluss, dass die Bevölkerung aus den wallonischen und nordfranzösischen Reihengräbern „ganz dieselben Rassenmerkmale besitzt wie die der deutschen Reihengräber “.128 Schließlich berief sich Petri auf Rasseuntersuchungen der rezenten Bevölkerung. Hier zog er eine Karte Egon von Eickstedts zur Verbreitung der nordischen Rasse in Westeuropa heran. Petri konstatierte eine Übereinstimmung des von ihm ermittelten fränkischen Landnahmegebiets mit der rezenten Verbreitung der „nordischen Rasse“. Von Reliktgebieten in den Ardennen abgesehen, erscheine das „ganze Frankenreich Chlodwigs auch rassisch als Einheit. Untere Seine und Loire bei Orléans erscheinen als nordische Rassegrenze.“129 Aufgrund seiner Ausführungen hielt Petri die kritischen Einwände gegen die germanische Zugehörigkeit der westfränkischen Reihengräber für endgültig widerlegt. Keinesfalls könnten nun, wie noch zu Zeiten Kurths, die frühmittelalterlichen Funde „mit einer Handbewegung beiseite geschoben“ werden: Sie sind eine Hinterlassenschaft des Frankentums, sind als solche ihrem Wesen nach germanisch und treten nur dort auf, wo die durch die Funde repräsentierte fränkische Gesellschaftsschicht ansässig gewesen ist und an der germanischen Völkerwanderungskultur lebendigen Anteil genommen hat.130

126 127 128 129 130

P ETRI , Volkserbe, 835 f. P ETRI , Volkserbe, 836. P ETRI , Volkserbe, 840. P ETRI , Volkserbe, 856. P ETRI , Volkserbe, 841 f.

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Frühmittelalterarchäologie und Westforschung

Abb. 20: „Die Verbreitung der nordische Rasse über Mittel- und Westeuropa“ (nach P ETRI , Volkserbe, 855).

c) Die Rezeption in der Sprach- und der Geschichtswissenschaft Die Rezeption von Petris „Volkserbe“ in der Wissenschaft war sehr geteilt. Wie nicht anders zu erwarten, fand er im Kreise der rheinischen Volkstumsforschung und vor allem bei seinem Mentor Steinbach umfassende Zustimmung. In einer Rezension spitzte Steinbach Petris Ergebnis weiter zu. Dieser habe den Beweis erbracht, dass Frankreich bis nahe an die Loire um 500 n. Chr. ein „Land mit überwiegend germanisch sprechender Bevölkerung“ gewesen sei. Die Ortsnamen und archäologischen Karten zeigten nämlich „unabweisbar“, dass Nordfrankreich von einer fränkischen Volkssiedlung nicht

Die Rezeption in der Sprach- und der Geschichtswissenschaft

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bloß miterfasst worden sei, sondern den „Hauptstrom“ der fränkischen Wanderungsbewegung aufgenommen habe.131 In seinem wenig später erschienenen Beitrag zum „Handbuch der deutschen Geschichte“ deklarierte Steinbach Petris Ausführungen als gesichertes Grundwissen. Auch hier versicherte er, die archäologischen Funde, über deren ethnische Zugehörigkeit im 5. und 6. Jahrhundert kein Zweifel bestünde, böten den verlässlichsten Beleg für die fränkische Landnahme.132 Allerdings mochten sich nicht alle Historiker der Zustimmung Steinbachs anschließen. Der nationalkonservative baltendeutsche Gelehrte Johannes Haller etwa wies sie rundweg zurück, und meinte, Petris Thesen seien nicht nur unbewiesen, „sondern durch die Tatsachen widerlegt “.133 Auch der Schweizer Historiker Marcel Beck übte gravierende Kritik an der Arbeitsweise Petris, obwohl er der Volkstumsforschung nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberstand. Er hatte an mindestens einer Tagung der WFG134 teilgenommen, war Gegner von Dopschs Kontinuitätstheorie und hatte überdies die frühmittelalterlichen Gräberfelder in seinen kurz zuvor erschienenen Studien über die Besiedlungsgeschichte der Schweiz selbst mit einbezogen.135 Dennoch bezweifelte Beck die Aussagekraft von Petris Karten. Diese vermittelten einen „ganz falschen Eindruck“, da Petri allein die germanischen Ortsnamen und Gräberfelder eingetragen habe. Stattdessen hätte Petri richtiger versuchen sollen, den ursprünglichen Ortsnamenbestand zu rekonstruieren und mit dem germanischen zu vergleichen. Allerdings zeigte sich Beck skeptisch, ob dies überhaupt gelingen könne. Gleiches forderte Beck für Petris Auswertung der Reihengräber. Richtig wäre gewesen, den Versuch einer „Rekonstruktion der romanischen Nekropolen“ zu unternehmen, denn nur so werde die „eigentliche Bedeutung der Reihengräberfelder innerhalb der gesamten Bestattungen der Völkerwanderungszeit “ erkennbar. Auch von Petris Versuch, die Einwände gegen die ethnische Interpretierbarkeit der Reihengräber zurückzuweisen, zeigte sich Beck wenig beeindruckt. Zu schnell habe sich Petri über sie hinweggesetzt: „Petri scheint 131

132

133 134 135

F. S TEINBACH , Die westdeutsche Volksgrenze als Frage und Forschungsaufgabe der politischen Geschichte. Dt. Archiv f. Landes- u. Volksforsch. 1, 1937, 25–36, hier 29. F. S TEINBACH , Das Frankenreich. In: A. Meyer (Hrsg.), Handbuch der Deutschen Geschichte. Bd. 1, Deutsche Geschichte bis zum Ausgang des Mittelalters (Potsdam 1935) 107–146, hier 109 f. J. H ALLER, Der Eintritt der Germanen in die Geschichte (2Berlin 1944) 67. F AHLBUSCH , Forschungsgemeinschaften, 392. M. B ECK , Die Schweiz im politischen Kräftespiel des merowingischen, karolingischen und ottonischen Reiches. Zeitschr. Gesch. Oberrhein 89, 1936/37, 249–300, bes. 260 und 262 Anm. 5.

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Frühmittelalterarchäologie und Westforschung

uns, trotz der Kenntnis um ihre [der Reihengräberfelder – H.F.] Problematik, von ihnen zu weitgehenden Gebrauch gemacht zu haben.“136 Noch deutlicher waren die Reaktionen in der Sprachwissenschaft, vor allem von Seiten der Romanistik. Hier hatten sich seit dem Ersten Weltkrieg Walter von Wartburg und vor allem der Berliner Ordinarius Ernst Gamillscheg darum bemüht, die germanische Landnahme mit Hilfe der Ortsnamen zu erforschen. Mit seinem Buch „Romania Germanica“137, das kurz vor Petris „Volkserbe“ erschienen war, verfolgte Gamillscheg ebenfalls ein politisches Ziel. Der Nachweis der germanischen Landnahme sollte ähnlich wie Dopschs Werk einen Beitrag zur Entbarbarisierung des Germanenbildes leisten. Auch in der deutschsprachigen Romanistik verstärkte man im Laufe der 1930er Jahre die Bemühungen, anhand des eigenen Quellenmaterials den Beweis zu führen, dass die Germanen keine Barbaren waren, sondern einen bedeutenden Beitrag zur Entfaltung der mittelalterlichen Welt und insbesondere zur Entstehung der romanischen Völker geleistet hätten.138 Anders als Petri kam Gamillscheg jedoch zum Ergebnis, dass die germanischen Ortsnamen in Frankreich zwar eine zusammenhängende Namensschicht bildete. Nur im Pas-de-Calais sei es jedoch zu einer kompakten Germanisierung gekommen, während in den restlichen Teilen Nordfrankreichs lediglich ein gewisser germanischsprachiger Bevölkerungsanteil vorhanden gewesen sei. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Gamillscheg die sprachwissenschaftlichen Ausführungen Petris einer ausführlichen und vernichtenden Kritik unterzog, die von der heutigen Forschung im Grunde vollinhaltlich bestätig wird.139 Petri verfügte auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft ebenso wenig wie auf dem der Ur- und Frühgeschichte über eine fachgerechte Ausbildung. Entsprechend waren seine Ansprachen germanischer Ortsnamen in großem Ausmaß von irrigen Bestimmungen geprägt. In einer harschen Kritik wies Gamillscheg etwa darauf hin, dass unter den angeblich 17 germanischen Ortsnamen in der Gegend von Lüttich kein einziger germanischer Herkunft sei.140 Insgesamt, so Gamillschegs Fazit, 136

137

138

139 140

M. B ECK , Zur Landnahme der Franken. Dt. Archiv f. Gesch. d. Mittelalters 2, 1938, 498–508, hier 505. E. G AMILLSCHEG , Romania Germanica. Sprach- und Siedlungsgeschichte der Germanen auf dem Boden des alten Römerreichs. Grundriss der germanischen Philologie 11. 3 Bde. (Berlin 1934–36). Vgl. dazu F.-R. H AUSMANN , „Vom Strudel der Ereignisse verschlungen“. Deutsche Romanistik im „Dritten Reich“. Analecta Romanica 61 (Frankfurt 2000) bes. 520–537. Kap. 4e. E. G AMILLSCHEG , Rez. Franz Petri, Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich. Dt. Literaturzeitung 59/1, 1938, 370–377.

Die Rezeption in der Sprach- und der Geschichtswissenschaft

389

sei Petri zwar für die Bereitstellung des Materials zu danken, die eigentliche wissenschaftliche Auswertung müsse jedoch noch einmal gemacht werden.141 Auch der Romanist Walther von Wartburg, der grundsätzlich gute Beziehungen zu Steinbach und Petri unterhielt, mochte sich deren Landnahmethesen nicht anschließen. In seinem 1939 erschienenen Werk über die Entstehung der romanischen Völker hielt er ungeachtet einer Würdigung der Verdienste Steinbachs und Petris fest, dass trotz des Vorhandenseins germanischer Bevölkerungsteile zweifellos die Romanen zu jeder Zeit überwiegten.142 Auch der einzige noch lebende Pionier der Sprachgrenzenforschung, Hans Witte, mochte sich vorwerfen lassen, er habe jahrzehntelang das tatsächliche Ausmaß der germanischen Landnahme falsch eingeschätzt. Wie andere Kritiker wandte sich Witte gegen den methodischen Kunstgriff, den sogenannten „Ortsnamensausgleich“, mit dem Steinbach und Petri die Anzahl der Ortsnamenbelege jenseits der Sprachgrenze zu erhöhen suchten. Gegen dieses Verfahren hatte er bereits bei der Tagung der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft 1935 in Bad Dürkheim Einspruch erhoben.143 Die Theorie des „Ortsnamensausgleichs“ beruhte auf der Annahme eines „Sprachkampfes“ zwischen Germanen und Romanen. Vor diesem Hintergrund sei es nur natürlich, dass die siegreiche Bevölkerung die Mehrzahl der einstmals vorhandenen germanischen Ortsnamen nicht übernommen habe. Der überlieferte Bestand an germanischen Ortsnamen sei deshalb nur ein kleiner Teil des einstmals vorhandenen.144 Aufgrund dieser Theorie sahen sich Steinbach und Petri berechtigt, bereits aus wenigen Belegen auf eine umfangreiche germanischsprachige Bevölkerung schließen zu können. Durchgängig interpolierten sie aus den schütteren, vermeintlichen oder tatsächlichen germanischen Ortsnamen eine beträchtliche germanische Besiedlung. Witte verwarf dieses Verfahren, demzufolge jeder einen Ausgleich annehmen könne, wo „es ihm in den Kram passe“, mit aller Deutlichkeit:

141

142 143 144

G AMILLSCHEG , Rez. Franz Petri (wie Anm. 140) 377. – Vgl. auch D ERS., Germanische Siedlung in Belgien und Nordfrankreich. 1. Die fränkische Einwanderung und junggermanische Zuwanderung. Abhandl. Preuss. Akad. Wiss., phil. hist. Kl. 1937, Heft 12 (Berlin 1938). – D ERS., Zur Frage der fränkischen Siedlung in Belgien und Nordfrankreich. Welt als Gesch. 4, 1938, 79–94. W. V. W ARTBURG , Die Entstehung der romanischen Völker (Halle 1939) 118. F AHLBUSCH , Forschungsgemeinschaften, 383 Anm. 828. S TEINBACH , Studien, 176 f.

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Frühmittelalterarchäologie und Westforschung

Mit Ortsnamen, die man in den kritischen Landschaften haben möchte, die aber tatsächlich tückischerweise nun einmal n i c h t d a s i n d , kommt man nicht weiter.145

Ferner verwies Witte darauf, dass sich die germanischen Ortsnamen im Gebiet des Westgoten- sowie des Burgundenreichs im Vergleich zur nordgallischen Romania verhältnismäßig zahlreich erhalten hätten. Da die Franken unzweifelhaft ein zahlenmäßig wesentlich größeres Volk als die Westgoten oder die Burgunden gewesen seien, müsse sogar zusätzlich angenommen werden, dass ihre Ortsnamen in ungleich stärkerem Maße dem Ortsnamensausgleich zum Opfer gefallen seien, als die der Westgoten oder Burgunden. Dies sei allerdings in keiner Weise wahrscheinlich zu machen.146 Den archäologischen Teil von Petris Arbeit wagten die Kritiker aus den Sprachwissenschaften nicht grundsätzlich in Frage zu stellen. Ein gewisses Misstrauen ist allerdings auch hier nicht zu übersehen. Ernst Gamillscheg gab zu bedenken, dass er nicht zu beurteilen wisse, ob Petris Behandlung der archäologischen Quellen tatsächlich vertrauenswürdig sei.147 Hans Witte forderte dagegen, die archäologische Forschung, sollte sie in diese Richtung weiter betrieben werden, dürfe sich in Zukunft nicht allein auf die Franken konzentrieren, sondern müsse mit gleichem Nachdruck die Spuren der romanischen Bevölkerung suchen: „Denn nur so können wir Klarheit über die völkischen Mischungsverhältnisse erhoffen, mit denen hier weitgehend gerechnet werden muss.“148 Witte hieb somit in die gleiche Kerbe wie Marcel Beck, der, wie oben erwähnt, ebenfalls gefordert hatte, die romanischen Nekropolen mit einzubeziehen. Die identische Forderung erhob auch der zuständige Gutachter der Forschungsstelle für mittlere und neuere Geschichte des SS„Ahnenerbes“, Hermann Löffler.149 In einem internen Schreiben an den Leiter des „Ahnenerbes“ erhob er schwere Bedenken gegen die wissenschaftliche Auswertung der frühmittelalterlichen Grabfunde. Sowohl Steinbach als auch Petri hätten es in ihren Arbeiten versäumt, die romanischen Grabfunde mit zu kartieren.150 Die von verschiedenen Seiten geäußerte, vernichtende Kritik der sprachwissenschaftlichen Fachleute wirft die Frage auf, weshalb die Thesen 145

146 147 148 149

150

H. W ITTE , Die deutsch-französische Sprachgrenze in Steinbachs Auffassung. Petermanns Geograph. Mitt. 85, 1939, 300–308, hier 308. W ITTE , Sprachgrenze (wie Anm. 145) 306 f. G AMILLSCHEG , Rez. Petri (wie Anm. 140) 377. W ITTE , Sprachgrenze (wie Anm. 145) 308. Zu Löffler vgl. J. L ERCHENMÜLLER, Die Geschichtswissenschaft in den Planungen des Sicherheitsdienstes der SS. Der SD-Historiker Hermann Löffler und seine Denkschrift „Entwicklung und Aufgaben der Geschichtswissenschaft in Deutschland“. Archiv f. Sozialgesch., Beih. 21 (Bonn 2001). F AHLBUSCH , Forschungsgemeinschaften, 357.

Die Rezeption in der Sprach- und der Geschichtswissenschaft

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Steinbachs und Petris trotzdem eine verhältnismäßig weite Verbreitung erlangen konnten. Ideologische Differenzen bzw. Präferenzen scheiden hierbei weitgehend aus. Witte (Nord- und Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft) und Gamillscheg (Westdeutsche Forschungsgemeinschaft) waren beide Mitglieder der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften.151 Gamillschegs Arbeit war kaum weniger volkstumszentriert als die der Rheinischen Volkstumsforscher. Auch scheute er sich mitunter nicht, seine Forschungen in den Dienst der nationalsozialistischen Wissenschaftspropaganda zu stellen.152 Weshalb sowohl Witte als auch Gamillscheg mit ihrer zuvor bereits intern vorgetragenen Kritik an den Forschungen Steinbachs und Petris kurz nacheinander an die Öffentlichkeit traten, ist bislang nicht geklärt. Fahlbusch führt diesen Sachverhalt auf nicht näher zu erkennende, interne Auseinandersetzungen zurück, gibt aber auch die Möglichkeit zu bedenken, dass ein außenpolitisches Manöver der deutschen Regierung mitverantwortlich gewesen sein könnte. Möglichweise spielte auch der Leitungswechsel innerhalb der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft 1938 von Steinbach zu Theodor Mayer eine Rolle.153 Steinbach und Petri fühlten sich durch die Kritik hart getroffen und unternahmen verschiedene Schritte, um ihr zu begegnen. Steinbach etwa bat seinen Nachfolger Mayer um Solidarität, der daraufhin die Unterstützung der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft zusagte.154 Da sie nicht in der Lage waren, die sprachwissenschaftlichen Einwände zurückzuweisen, kam dem archäologischen Teil der Argumentation noch größeres Gewicht zu. Wiederholt spielte Petri den angeblich über alle Zweifel erhabenen archäologischen Befund gegen die sprachwissenschaftliche Kritik aus.155 Petri verwies auf die „ausnahmslos positive Einstellung der fränkischen Archäologen“ zu seinen Thesen und führte eine Rezension des Bonner Lehrstuhlinhabers Kurt Tackenberg an, auf die ich weiter unten eingehen werde.156 Dieser war allerdings kein Spezialist für die Archäologie der Merowingerzeit. In die Defensive gedrängt, spielte Petri beharrlich die Rolle eines Anwalts der vermeintlich zu Unrecht verkannten archäologischen Forschung. Auf Zweifel aus anderen Wissenschaften an der ethnischen Aussagekraft 151 152

153 154 155 156

F AHLBUSCH , Forschungsgemeinschaften, 356. Vgl. etwa E. G AMILLSCHEG , Germanenspuren in Frankreich. Germanen-Erbe 1937, 16–19. F AHLBUSCH , Forschungsgemeinschaften, 357. D ITT , Petri, 92. Vgl. dazu auch H AUSMANN , Romanistik (wie Anm. 138) 525. F. P ETRI , Maß und Bedeutung des germanischen Volkserbes in Wallonien und Nordfrankreich. Volksforschung 3, 1939, 73–78, hier 76.

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der frühmittelalterlichen Funde reagierte Petri empfindlich und wertete sie gar als „Zumutung“: Vielleicht noch offensichtlicher war die Erschütterung, die die Anschauung vom Abbruch der fränkischen Volkssiedlung an der Sprachgrenze von jenem anderen Forschungszweig her erhielt, der lange um seine Anerkennung als gleichberechtigte siedlungsgeschichtliche Hilfswissenschaft hat ringen müssen, sich heute aber endgültig durchgesetzt hat: von Seiten der fränkischen Archäologie. Sie hat unter der Wucht ihres in Wallonien und Frankreich massierten Fundmaterials von jeher eine starke germanische Besiedlung der westfränkischen Gebiete angenommen. Ihre ganze Arbeit wäre sinnlos geworden, wenn sie sich der von der früheren Namenforschung aufgestellten These hätte beugen wollen. Auf die noch heute zuweilen laut werdende Zumutung, ihre jenseits der Sprachgrenze auftretenden Tausende von Grabfunden sämtlich als Zeugnisse von Keltoromanen zu betrachten, die sich die germanischen Bräuche und Kulturformen zu eigen gemacht oder gar erst den Germanen ihre Kultur übermittelt hätten, konnte sie niemals eingehen.157

d) Die Rezeption in der Ur- und Frühgeschichte Angesichts der massiven Kritik seitens der Sprachwissenschaft kam der Rezeption von Petris Thesen in der Ur- und Frühgeschichte umso größere Bedeutung zu. Hätten sich die Vertreter des Fachs ähnlich negativ geäußert wie die Vertreter der Sprachwissenschaften, wären die Thesen Steinbachs und Petris wohl kaum so breit rezipiert worden wie dies der Fall war, sondern möglicherweise ihrer politischen Relevanz zum Trotz zu den Akten gelegt worden. Umso bedeutsamer war, dass sich die Ur- und Frühgeschichte mit ihrer Kritik in bemerkenswerter Weise zurückhielt, obwohl die maßgeblichen Vertreter der Frühmittelalterarchäologie Petris archäologische Ausführungen intern kaum weniger kritisch beurteilten als die Linguisten seine sprachwissenschaftlichen. Die Rezeption der Thesen Steinbachs und Petris setzte in der Ur- und Frühgeschichte bereits vor dem Erscheinen von Petris „Volkserbe“ ein. Durch die verschiedenen Publikationen Steinbachs und Petris, zahlreiche Vorträge sowie die gemeinsamen Tagungen war die ur- und frühgeschichtliche Forschung auf das Erscheinen des „Germanischen Volkserbes“ gut vorbereitet. Mit „ungewöhnlicher Spannung“158 erwartete man seine Veröffent-

157

158

F. P ETRI , Um die Volksgrundlagen des Frankenreiches. In: Ders./F. Steinbach, Zur Grundlegung der europäischen Einheit durch die Franken. Dt. Schr. z. Landes- u. Volksforsch. 1 (Leipzig 1939) 17–64, hier 20. So J. S TEINHAUSEN , Rez. Franz Petri, Germanisches Volkserbe. Trierer Zeitschr. 12, 1937, 103–116.

Die Rezeption in der Ur- und Frühgeschichte

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lichung. Josef Steinhausen,159 der schon bei der Tagung der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft in Bitburg 1936 seine Zustimmung zu Petris Thesen signalisiert hatte,160 stützte sich in seiner im gleichen Jahr erschienenen „Archäologischen Siedlungskunde des Trierer Landes“ in den entsprechenden Passagen bereits weitgehend auf die noch unpublizierte Arbeit Petris.161 Anders als in der Sprachwissenschaft wurde in der Ur- und Frühgeschichte nach dem Erscheinen des „Germanischen Volkserbes“ keine grundsätzliche Kritik laut. Der Tenor der Rezensionen aus ur- und frühgeschichtlicher Sicht schwankte zwischen begeisterter Zustimmung und wohlwollender Akzeptanz, gepaart mit moderater Kritik. Dies ist insofern beachtenswert, als die Fachvertreter bei näherer Betrachtung keineswegs von der Qualität der Arbeit überzeugt waren. Verschiedentlich hob man als Petris Verdienst hervor, dass seine entsprechenden Ausführungen nun endgültig bewiesen hätten, dass es sich bei den Reihengräberfeldern um eine exklusive Hinterlassenschaft der frühmittelalterlichen Germanen handele. In seiner sehr ausführlichen Besprechung begrüßte Steinhausen Petris Zusammenstellung der anthropologischen Beobachtungen besonders. Darüber hinaus bekräftigte er dessen Behauptung, dass die Reihengräber nun als Beleg für die Rekonstruktion der germanischen Landnahme herangezogen werden könnten.162 Kurt Tackenberg eilte den Bonner Kollegen gar gegen die Kritik Gamillschegs zu Hilfe, durch die er völlig überrascht worden sei. Tackenberg bestätigte Petri dagegen, die archäologischen Funde in einer Weise herangezogen zu haben, wie kein Fachvertreter es hätte besser machen können. Zwar enthalte sein Buch einige Ungenauigkeiten, die aber in der Fülle des behandelten Stoffes begründet lägen. Mit Genugtuung hob Tackenberg besonders hervor, dass Petri die Zweifel an der germanischen Zugehörigkeit der Reihengräber endgültig widerlegt habe. Überhaupt sei für die Ur- und Frühgeschichte „von vornherein sicher “ gewesen, dass die „ fränkische Volkssiedlung bis zur Loire und an manchen Stellen darüber hinaus bestanden habe.“163 Schließlich verwies Tackenberg alle zukünftigen Zweifler an der ethnischen Signifikanz der Reihengräberfelder in das Reich der Dilettanten: 159

160 161

162 163

Zu Steinhausen vgl. J. M ERTEN , Josef Steinhausen und seine Schüler in der Altertumsforschung. Trierer Zeitschr. 62, 1999, 315–332. Kap. 12a. J. S TEINHAUSEN , Archäologische Siedlungskunde des Trierer Landes (Trier 1936) 555 ff. S TEINHAUSEN , Rez. Petri (wie Anm. 158) 110. K. T ACKENBERG , Bemerkungen zu F. Petri: Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich. In: H. v. Petrikovits/A. Steeger (Hrsg.), Festschrift für August Oxé zum 75. Geburtstag 23. Juli 1938 (Darmstadt 1938) 265–272.

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Frühmittelalterarchäologie und Westforschung

In früheren Jahren sind hie und da Zweifel geäußert worden, ob die Zuweisung zu Recht besteht. Sollte Ähnliches noch einmal laut werden, – es könnte höchstens von Außenseitern geschehen – genügt es, auf Petris Ausführungen zu verweisen.164

Von besonderem Interesse sind hier die Reaktionen der ausgewiesenen Spezialisten für frühmittelalterliche Archäologie. Aufschlussreich sind vor allem die Reaktionen von Hans Zeiss und Joachim Werner, jenen Frühmittelalterarchäologen also, deren Stellungnahmen den archäologischen Teil der Diskussion um die Entstehung der germanisch-romanischen Sprachgrenze in den folgenden Jahrzehnten prägen sollten. Zeiss hatte schon während der Entstehung des „Volkserbes“ in Kontakt zu Petri gestanden und mit ihm die Frage der Methodik der archäologischen Separierung von Franken und Romanen diskutiert.165 Nachdem das „langerwartete Werk“ Petris eingetroffen war, kam es zu einem aufschlussreichen Briefwechsel zwischen Zeiss und Werner. Zunächst äußerte Werner aufgrund einer ersten Durchsicht noch die Meinung, dass es sich um ein „Werk von außerordentlicher Bedeutung“ handele, auch wenn die wesentlichen Gesichtspunkte bereits zehn Jahre zuvor von Steinbach geäußert worden seien.166 Nach gründlicher Lektüre kam Zeiss jedoch zu einem gegenteiligen Urteil. Archäologische Einwände, so bemerkte Zeiss gegenüber Werner, hätte er in diesem Zusammenhang genug. Allerdings sei Petris siedlungsgeschichtlicher Schluss aus den Reihengräbern in Nordfrankreich bis auf weiteres vertretbar, „auch wenn Herr Petri die archäologischen Denkmäler nicht richtig beurteilen kann“. Im Übrigen gab Zeiss zu erkennen, dass er seit Jahren die Neigung hege, selbst eine Art Zusammenfassung des französischen Materials zu geben. Dies erfordere aber ein gewisses Maß von Arbeitszeit und eine gründliche Bereisung der französischen Museen. „Vielleicht wird es doch noch einmal etwas“.167 Diesem negativen Urteil schloss sich nun auch Werner an. Es sei bedauerlich, dass die Behandlung des archäologischen Materials durch Petri so unzureichend ausgefallen sei. Sicher wäre das Ergebnis besser geworden, hätte Petri Archäologen zur Mitarbeit herangezogen. Begrüßenswert sei immerhin, dass den Historikern durch die Lektüre von Petris Buch die Heranziehung archäologischer Quellen schmackhaft gemacht würde.168 Dieser Meinung pflichtete Zeiss bei. Das Wesentliche an der Berücksichtigung der Bodenfunde durch Petri sei, dass seit Kurth und Fustel de Coulanges im 164 165 166 167 168

T ACKENBERG , Bemerkungen (wie Anm. 163) 268. P ETRI , Volkserbe, 842 mit Anm. 1. ARGK, Faz. 1333/Bl. 771, Werner/Zeiss, 21. 1. 1937. ARGK, Faz. 1333/Bl. 772, Zeiss/Werner, 22. 1. 1937. ARGK, Faz. 1333/Bl. 774, Werner/Zeiss, 26. 1. 1937.

Die Rezeption in der Ur- und Frühgeschichte

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Grunde kein Historiker das Problem mehr ernsthaft angegangen habe. „Insofern hat Herr Petri ein Verdienst “.169 Obwohl die maßgeblichen Fachvertreter die grundlegenden Mängel in der archäologischen Argumentation klar erkannten, herrschte auch in Zeiss’ Rezension von Petris „Volkserbe“ in der Historischen Zeitschrift ein positiver Tenor vor. Grundsätzlich betonte Zeiss, dass Petri für eines der „bedeutendsten Probleme unserer Volksgeschichte“ eine Lösung erarbeitet habe, „die in den Hauptzügen Bestand zu haben verspricht “.170 Zeiss bemängelte zwar einzelne Punkte an Petris Ausführungen, z. B. zur merowingischen Kunst; diese Fehler berührten das „siedlungsgeschichtliche Hauptergebnis“ aber nicht.171 In den entscheidenden Punkten stimmte Zeiss mit Petri überein. Er akzeptierte vor allem den Ortsnamensausgleich, der für den sprachwissenschaftlichen Teil grundlegend war. Ferner stimmte Zeiss Petri ausdrücklich bei dessen ethnischer Interpretation der Reihengräberfelder zu, die jenseits der Sprachgrenze liegen. Allerdings gab dabei auch Zeiss die Position Kurths und Fustel de Coulanges verzerrt wieder, indem er behauptete, diese hätten die Reihengräberfelder südlich und westlich der Sprachgrenze nicht nur in der Mehrheit, sondern ausschließlich der ehemals römischen Bevölkerung zuschreiben wollen: Im Gegensatz zu Versuchen, die Reihengräber südlich der Sprachgrenze schlechthin einer romanischen Bevölkerung zuzuschreiben (N. D. Fustel de Coulanges, F. [sic] Kurth) erblickt Verf. mit Recht in diesen Friedhöfen ein wichtiges Zeugnis für germanische Landnahme auch in Gebieten, in denen infolge des Ortsnamensausgleiches die germanischen Ortsnamen heute zurücktreten.172

Wie Beck, Witte und Löffler mahnte auch Zeiss an, dass künftige archäologische Untersuchungen die „nichtfränkischen“ Elemente im Reihengräbermaterial mit einzubeziehen hätten. Besonders im Gebiet zwischen Seine und Loire sei der fränkische Einschlag schwierig zu beurteilen. Für die Tatsache, dass Zeiss die Thesen Steinbachs und Petris grundsätzlich akzeptierte, waren wohl mehrere Gründe verantwortlich. Zunächst vertrat auch er die Überzeugung, dass es sich bei den frühmittelalterlichen Reihengräbern um eine germanische Erscheinung handele. Wie bereits gezeigt, war diese Position die Grundlage für den allmählichen Aufschwung der frühmittelalterlichen Gräberarchäologie nach 1918 gewesen. In den 1930er Jahre wurde sie indes nicht allein von der deutschsprachigen Ur169 170

171 172

ARGK, Faz. 1333/Bl. 772, Zeiss/Werner, 26. 1. 1937. H. Z EISS, Rez. F. Petri, Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich. Hist. Zeitschr. 156, 1937, 128–132 hier 132. Z EISS, Rez. Petri (wie Anm. 170) 130. Z EISS, Rez. Petri (wie Anm. 170) 130.

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Frühmittelalterarchäologie und Westforschung

und Frühgeschichtsforschung, sondern auch von einem großen Teil der Archäologen Westeuropas geteilt. Die oben zitierte, gegenteilige Meinung Jan Holwerdas war zu diesem Zeitpunkt keinesfalls repräsentativ für die Mehrheit der westeuropäischen Prähistoriker. Wenige Monate vor dem Erscheinen von Petris „Volkserbe“ hatte Zeiss seine Ansichten über die Herleitung der Reihengräber in einem kurzen Aufsatz mit dem Titel „Fürstengrab und Reihengräbersitte“ dargelegt, der in den folgenden Jahrzehnten wiederholt als richtungsweisend für die weitere archäologische Diskussion bezeichnet wurde. Die Frage, weshalb sich der Reihengräberfriedhof im Laufe des 6. Jahrhunderts allmählich als einzige Bestattungsform durchsetzte, beantwortete Zeiss in dieser Arbeit mit einer Theorie, in der Anklänge an die zeitgenössische Führerideologie nicht zu übersehen sind. Zeiss erklärte das Childerichgrab zum Ausgangspunkt für die Durchsetzung der Reihengräber. Dabei setzte er voraus, dass „das Beispiel von oben zu allen Zeiten seine Wirkung getan hat und tut “. Es sei anzunehmen, dass auch im frühmittelalterlichen Frankenreich die „Gefolgsmannen selbst wie im Leben, so bei der letzten Ehrung von ihresgleichen dem Beispiel nachtrachteten, das der Fürst gab“. Deshalb hätten die Großen des Reiches und schließlich die Angehörigen aller Stämme dem Vorbild des Königsgrabes nachgeeifert. Vor diesem Hintergrund wertete Zeiss die Ausbreitung der Reihengräber als Beleg für eine angebliche Einigungsbewegung der „Deutschen“ während der Merowingerzeit: Wenn aber seit der Gründung des Frankenreichs die Totenehrung über weitere Gebiete als je vorher das Herrschen gleicher Anschauungen bekundet, so liegt es nahe, dies als eine Begleiterscheinung der ersten Zusammenfassung der deutschen Stämme aufzufassen. Die Einheit der Reihengräbersitte wird damit ein Vorzeichen der beginnenden Einigung der Deutschen.173

Zeiss’ positive Reaktion auf Petris Volkserbe hing ferner wohl maßgeblich damit zusammen, dass er mit den Zielen volksgeschichtlicher Forschung grundsätzlich übereinstimmte. In seiner Rezension reihte sich Zeiss in die wissenschaftliche Frontstellung der deutschen Westforschung ein und erkannte Petri bezeichnenderweise zu auch in Auseinandersetzung mit den Meinungen bedeutender Forscher (wie Fustel de Coulanges, Dopsch, Pirenne) die Bedeutung des Frankentums für die Kulturentwicklung umfassender zu würdigen.174

173

174

H. Z EISS, Fürstengrab und Reihengräbersitte. In: Petri, Siedlung, 281–284, hier 283 f. (Erstdruck: Forschungen und Fortschritte 12, 1936, 302 f.) Z EISS, Rez. Petri (wie Anm. 170) 131.

„Die Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung des germanischen Erbes“

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e) Die „Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung des germanischen Erbes in den an das Rheinland angrenzenden Gebieten“ Die Rezeption der Thesen Steinbachs und Petris beschränkte sich nicht auf die Zustimmung einzelner Fachvertreter, sondern beschäftigte auch die Institutionen der Westforschung. Nicht allein auf den Tagungen der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft wurden die Landnahmetheorien diskutiert, im Rheinland konstituierte sich sogar ein interdisziplinärer Arbeitskreis, der sich der Erforschung des „Germanischen Erbes“ in den westlichen Nachbarländern widmen wollte. Seine erste Tagung hielt man im Dezember 1937 in Bonn ab. Unter der Leitung des Bonner Kunsthistorikers Alfred Stange trafen sich provinzialrömische Archäologen, Prähistoriker, Historiker und Kunsthistoriker um jeweils anhand ihres Fachgebietes die Bedeutung des germanischen Einflusses auf die westlichen Nachbarregionen des Rheinlandes näher zu untersuchen.175 Der 1935 nach Bonn berufene Stange war ein kompromissloser Parteigänger des Nationalsozialismus innerhalb der Kunstgeschichte.176 Er verfügte über einigen Einfluss in der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft177 und bemühte sich durch die Arbeit seines Instituts erklärtermaßen, gegenüber der anmaßenden französischen Kulturpropaganda den starken Anteil der germanischen und deutschen Kultur an der nordwestfranzösischen und insbesondere burgundischen Kunst nachzuweisen.178

Bei der Bonner Tagung waren die Archäologen mit zwei Referaten vertreten. Der Trierer Ludwig Hussong referierte ausgehend von Petris Werk über die Möglichkeiten der Frühmittelalterarchäologie, der Kunstgeschichte bei der Erforschung des „Germanischen Erbes“ zuzuarbeiten.179 175

176

177 178 179

Bericht über die erste Arbeitstagung der Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung des germanischen Erbes in den an das Rheinland angrenzenden Gebieten. Rhein. Vierteljahrsbl. 8, 1938, 182–192. – Vgl. dazu auch N. D OLL , Politisierung des Geistes. Der Kunsthistoriker Alfred Stange und die Bonner Kunstgeschichte im Kontext nationalsozialistischer Expansionspolitik. In: Dietz/Gabel/Tiedau, Westforschung, 979–1015, bes. 998–1002. H.-P. H ÖPFNER, Die Universität Bonn im Dritten Reich. Akademische Biographien unter nationalsozialistischer Herrschaft (Bonn 1999) 396–400. – D OLL , Politisierung (wie Anm. 175). F AHLBUSCH , Forschungsgemeinschaften, 48. H ÖPFNER, Bonn (wie Anm. 176) 399. L. H USSONG , Über die Möglichkeiten, die die frühgeschichtliche Bodenforschung der mittelalterlichen Kunstgeschichte bietet bei der Herausstellung des germanischen Erbes in den westlichen Nachbarländern. Rhein. Vierteljahrs. 8, 1938, 182–185.

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Frühmittelalterarchäologie und Westforschung

Harald Koethe widmete sich bei dieser wie auch bei der folgenden Tagung der Arbeitsgemeinschaft dem „Trevererproblem“. Dabei kam Koethe zu dem Ergebnis, dass die Treverer im Kern Kelten gewesen seien. Neben germanischen Einflüssen sei aber auch ein älteres „völkische Substrat “ unter den Treverern auszumachen, das auf „Illyro-Belgen“ zurückzuführen sei.180 Die folgende Tagung der Arbeitsgemeinschaft im November 1938 widmete sich dem Problem des „trierisch-lothringischen Raumes“. Zunächst referierte Franz Steinbach über „Raum und Geschichte an der deutschen Westgrenze“. Die Ur- und Frühgeschichte war wiederum mit mehreren Beiträgen vertreten. Neben Harald Koethe, der sein Referat vom Vorjahr fortführte, sprach Wilhelm von Massow anhand der römerzeitlichen Grabplastik über die Treverer. Josef Steinhausen ging anhand der frühmittelalterlichen Glashütten des Trierer Landes der Kontinuitätsproblematik nach. Schließlich sprach Wolfgang Dehn über die „Bevölkerungsgeschichte der Rheinlande in vorgeschichtlicher Zeit“. Dehn führte aus, das „völkische Gesicht “ des Rheinlandes sei im letzten vorchristlichen Jahrtausend von drei Bevölkerungsschichten geprägt worden: einerseits die um 1200 v. Chr. aus Südosten einwandernde, möglicherweise „urillyrische“ Urnenfelderkultur; zweitens die ab 500 v. Chr. anwesenden keltischen Gruppen, sowie schließlich das germanische Element, dessen Vordringen von Norden ab dem 9. Jahrhundert v. Chr. anhand der Verbreitung der ‚Harpstedter Rauhtöpfe‘ nachgewiesen werden könne.181 Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs setzte den Aktivitäten der Arbeitsgemeinschaft ein vorläufiges Ende. Für verschiedene Fachvertreter bot sich jedoch während des Krieges die Möglichkeit, die hier behandelten Fragen des „Germanischen Erbes“ in den westlichen Nachbarländern weiter zu verfolgen.

180

181

H. K OETHE , Das Trevererproblem im Lichte der Archäologie. Rhein. Vierteljahrsbl. 9, 1939, 1–22. Bericht über die zweite Arbeitstagung der Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung des germanischen Erbes in den an das Rheinland angrenzenden Gebieten. Rhein. Vierteljahrsbl. 9, 1939, 185–191.

Eine Alternative: Herbert Kühn und die Bügelfibeln

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f) Eine Alternative: Herbert Kühn und die Bügelfibeln der Rheinprovinz Nur wenige Jahre nach Petris „Volkserbe“ und in politischer Hinsicht nahezu unbeachtet, publizierte der Kölner Prähistoriker Herbert Kühn seine These zum Umfang der fränkischen Siedlung in Nordgallien. Kühn widmete in seiner Zeitschrift „Ipek“ Petris „Volkserbe“ zunächst eine durchaus positive Besprechung.182 In seinem 1940 erschienenen Werk über die „germanischen Bügelfibeln der Völkerwanderungszeit in der Rheinprovinz“ formulierte Kühn dagegen gravierende Einwände gegen Petris Modell der Entstehung des Reihengräberhorizontes. Dabei zeigte sich, dass er Petris Auswertung der archäologischen Quellen wenig überzeugend und sachkundig fand. Stattdessen erhob Kühn den Anspruch, erst mit seinem eigenen Werk den tatsächlichen Nachweis über die Ausdehnung des fränkischen Siedlungsgebiets in Nordgallien erbracht zu haben. Die Karten Barrière-Flavys und Petris, die an sich recht verdienstvoll seien, könnten dies dagegen nicht überzeugend darstellen. Auf ihren Karten hätten beide nämlich unterschiedslos sämtliche Gräberfelder der Völkerwanderungszeit und des frühen Mittelalters kartiert. Um ein aussagekräftiges Bild zu erhalten, sei es jedoch nötig die Funde zeitlich aufzuschlüsseln. Da Kühn mit den von ihm gesammelten Fibeln bereits über eine statistisch ausreichende Datenbasis verfügte, kam er bereits zu einem Ergebnis, das in den letzten Jahren erneut von Hermann Ament und Alexander Koch vertreten wird:183 Die frühmittelalterliche germanische Besiedlung habe nicht bis zur Loire gereicht, sondern im Wesentlichen lediglich bis zur Seine. Kühn kartierte in seinem Werk nicht allein alle Bügelfibeln der Rheinprovinz, sondern bezog sämtliche Parallelen aus ganz Europa mit ein. Er war daher in der Lage, verhältnismäßig detaillierte Aussagen über deren Vorkommen in Belgien und Nordfrankreich zu machen. Da Kühn ferner ein Verfechter ethnischer Interpretationen war, wie sein bereits erwähnter Aufsatz über das germanische Kunstgewerbe der Völkerwanderungszeit zeigte,184 stellten die Funde von Bügelfibeln auch für ihn einen sicheren Nachweis für die Ausdehnung der germanischen Besiedlung in Nordfrankreich dar. Die frühen fränkischen Bügelfibeln kämen zunächst nur bis zur Somme vor. Erst nach 500 dehne sich ihr Verbreitungsgebiet bis zur Seine aus und 182 183 184

H. K ÜHN , Rez. Franz Petri, Germanisches Volkserbe. Ipek 1936/37, 157. K OCH , Bügelfibeln, 571 ff. – Kap. 16a. Kap. 11d.

400

Frühmittelalterarchäologie und Westforschung

damit auch das Siedlungsgebiet der Franken. Zwischen Seine und Loire kämen hingegen so gut wie keine fränkischen Fibeln vor. Das Gebiet jenseits der Seine habe deshalb lediglich unter fränkischer Herrschaft gestanden, nicht aber zum eigentlichen Siedlungsraum der Franken gehört. Dieses Ergebnis stehe überdies in Einklang mit dem Ortsnamenbefund Petris, da dieser für das Gebiet jenseits der Seine nur spärliche Belege kenne.185 Obwohl Kühn seine Argumentation gut belegt und nachvollziehbar vorlegte, wurde sie in der Folge nicht rezipiert. Die Gründe für diesen Sachverhalt sind wohl in der Person des Autors bzw. seiner Stellung im Wissenschaftsgefüge zu suchen.186 Sowohl hinsichtlich Ausbildung, internationaler Kontakte, Forschungsinteressen als auch des Werdegangs war Herbert Kühn ein Sonderfall, wenn nicht gar ein Fremdkörper innerhalb der deutschsprachigen Frühmittelalterarchäologie seiner Zeit. Kühn hatte 1918 in Jena beim Philosophen und Literaturnobelpreisträger Rudolf Eucken über die „Grundlagen des Stilwandels in der modernen Kunst“ promoviert. Anschließend war er zeitweilig als politischer Redakteur und Kunsthistoriker tätig. 1925 habilitierte sich Kühn, 1929 wurde er zum außerordentlichen Professor für Vorgeschichte an der Universität Köln ernannt. Ab 1933 war Kühn zunehmend politischen Repressalien ausgesetzt. Hans Reinerth polemisierte gegen Kühn, ausgerechnet an der „Grenzland-Universität Köln“ französische Kulturpropaganda getrieben zu haben.187 1935 wurde er aufgrund des jüdischen Glaubens seiner Frau aus dem Hochschuldienst entlassen. In einer Rezension seines Werkes über die prähistorische Kunst Deutschlands warf ihm 1936 ein Rezensent der „Nationalsozialistischen Monatshefte“ vor, in seinen früheren Schriften „marxistische Lehren“ zu propagieren. Zudem vertrete er aufgrund seiner „nichtarischen Versippung“ wissenschaftliche Anschauungen, die nicht in Einklang mit der nationalsozialistischen Geschichtsdoktrin stünden.188 In der folgenden Zeit war Kühn als Privatgelehrter in Berlin sowie zeitweilig als Gastdozent an einer Universität in den USA tätig. Immerhin konnte er die Ergebnisse seiner Forschungen weiter publizieren und die von ihm 185

186

187 188

H. K ÜHN , Die germanischen Bügelfibeln der Völkerwanderungszeit in der Rheinprovinz. Rhein. Forsch. z. Vorgesch. 4 (Bonn 1940) 64 f. Zu Kühn vgl. K. F UCHS, Herbert Kühn. In: F. W. Bautz (Hrsg.), Biograph.-Bibliograph. Kirchenlexikon, Bd. 16 (Hamm 1999) 882–885. – D ERS., Herbert Kühn. In: Neue Deutsche Biographie 13 (Berlin 1982) 195 f. – H. K ÜHN , Geschichte der Vorgeschichtsforschung (Berlin, New York 1976) 603–605. B OLLMUS, Amt Rosenberg, 155. H. M AIER, Rez. Herbert Kühn, Die vorgeschichtliche Kunst Deutschlands. Nationalsozialistische Monatsh. 7, H. 80, 1936, 1057 f.

Eine Alternative: Herbert Kühn und die Bügelfibeln

401

gegründete Zeitschrift „Ipek“ herausgeben. 1946 wurde er ordentlicher Professor an der Universität Mainz.189 Beide Forschungsschwerpunkte Kühns – neben den frühmittelalterlichen Bügelfibeln beschäftigte er sich vor allem mit den Problemen der altsteinzeitlichen Kunst – sind von seinem kunstgeschichtlichen Zugang sowie philosophischen Problemen und nicht zuletzt dem Nachwirken von Euckens Lebensphilosophie geprägt. Bereits 1923 hatte er damit begonnen, sämtliche Bügelfibeln aus ganz Europa zusammenzutragen. Auch für Kühn stand zweifelsfrei fest, dass es sich bei den Bügelfibeln des Frühmittelalters um einen genuinen Ausdruck des germanischen Geistes gehandelte habe, der grundverschieden von dem der Antike war. Obwohl Kühn in seinen Texten durchaus vereinzelt Elemente der Sprache der völkischen Ideologie verwendete, sind seine Arbeiten in keiner Weise dieser Ideologie verhaftet. Kühn entwickelte eine eigenwillige Kosmologie der Bügelfibel, in der er ein Sinnbild für den „mythisch-mystischen Sinn des Daseins, die Stellung des Menschen im Kosmos, die Einordnung des menschlichen Lebens in das Gesamtgefüge der Welt und der Überwelt“ sah, das unter asiatischem Einfluss entstanden sei.190 Weniger als diese Deutung, mit der Kühn erst nach dem Kriege an die Öffentlichkeit trat, als vielmehr wohl sein wissenschaftlicher Außenseiterstatus war dafür verantwortlich, dass seine Ausführungen zur fränkischen Landnahme nicht rezipiert wurden. Ferner stieß der historische Kontext, in den Kühn seine siedlungsgeschichtliche Interpretation bettete, nicht auf Zustimmung. Kühn ging davon aus, dass Nordgallien bereits in der Spätantike weitgehend germanisch besiedelt gewesen sei. Nach dem Abzug der Römer hätten im Gebiet nördlich der Seine lediglich romanisierte Kelten gelebt. Der Raum zwischen Rhein und Seine sei bereits zu diesem Zeitpunkt „germanischer Boden und nicht römischer “ gewesen.191 Während in den germanischen Staaten des Mittelmeergebiets das fremde Volkstum allmählich das der Germanen überdeckt und erstickt habe, sei im Bereich der Franken das germanische die stärkere Ingredienz gewesen. Grundsätzlich war Kühn ein Anhänger der Kontinuitätstheorie. Ausdrücklich stützte er sich auf Dopsch, sowie Lot, Ganshof und Pirenne. Er verneinte sowohl die Existenz einer tiefgreifenden Feindschaft zwischen Germanen und Romanen, als auch die einer großen germanischen Land189 190

191

F ILIP, Handbuch, 655 f. H. K ÜHN , Über Sinn und Bedeutung der Bügelfibel in der Völkerwanderungszeit. Ipek 19, 1954–1959, 49–67, hier 49. K ÜHN , Bügelfibeln (wie Anm. 185) 66.

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Frühmittelalterarchäologie und Westforschung

nahme im 5. Jahrhundert sowie ferner die einer tiefgreifenden Zäsur zwischen Antike und Mittelalter: Es gäbe keinen Bruch zwischen der römischen Lebensform, jener der bereits in der Spätantike in Nordgallien ansässigen Germanen und der frühmittelalterlichen Bevölkerung. Auch ein Gegensatz zwischen Romanen und Germanen unter der Bevölkerung im Raum zwischen Rhein und Seine habe nicht bestanden. Eine Enteignung der unterworfenen Romanen habe allenfalls in den früh eroberten Gebieten bis zur Somme stattgefunden. Die Kriege des Chlodwig seien dagegen keine „Landnahmekriege“ gewesen, weshalb auch später die Franken nicht im Gegensatz zu den Römern gestanden hätten. Die Franken hätten sehr viel von der antiken Kultur übernommen, „die Städte, das Geldwesen, die Straßen, das Kunstgewerbe, das Gebrauchsgerät, die Verwaltung, den Kalender, den Gartenbau, die Religion“. Überhaupt hätten die Franken das vorgefundene römische Kulturerbe gepflegt und in ihrem Sinne weiter entwickelt. „Geblieben ist der germanische Mensch bereichert und gestärkt durch eine Anzahl römischer Elemente, die ihm damals nützten und die er brauchte.“192 Obwohl Kühns Ausführungen angesichts der oben skizzierten Diskussion einigen Sprengstoff bargen, wurde sein Werk insgesamt wohlwollend aufgenommen, soweit man es zur Kenntnis nahm. Selbst die Parteigänger des Reichsbunds für Deutsche Vorgeschichte sahen keinen Anlass, die Angriffe zu wiederholen, die Hans Reinerth in der ersten Hälfte der 1930er Jahre gegen Kühn lanciert hatte. Der anonyme Rezensent des „Germanen-Erbes“ korrigierte in seiner Rezension zwar sämtliche politisch heiklen Aussagen Kühns, bescheinigte diesem aber, durchaus eine wertvolle Arbeit geliefert zu haben. So handele es sich bei dem von Kühn beschriebenen fränkischen Gebiet zwischen Rhein und Seine nicht um das gesamte fränkische Gebiet, sondern lediglich um das der „Mittelfranken“, während das tatsächliche fränkische Gebiet wesentlich umfassender gewesen sei. Auch seien die Franken im Gegensatz zu Kühn nicht immer als „Freunde der Römer “, sondern vielmehr als deren „erbitterte Feinde“ aufgetreten. Anders als von Kühn behauptet, hätten die Franken auch wie die anderen germanischen Stämme gegenüber den Römern ihre „Eigenart“ gewahrt. Eigens positiv hervorgehoben wurde dagegen Kühns gegen Zeiss gerichtete Aussage, dass es das Bügelfibelmaterial bei sorgfältiger Auswertung sehr wohl erlaube zwischen den verschiedenen germanischen Stämmen zu differenzieren.193 192 193

K ÜHN , Bügelfibeln (wie Anm. 185) 67–70. A NONYM , Rez. Herbert Kühn, Germanische Bügelfibeln der Völkerwanderungszeit in der Rheinprovinz. Germanen-Erbe 6, 1941, 159 f.

Eine Alternative: Herbert Kühn und die Bügelfibeln

403

Ganz ähnlich war der Tenor der Rezension Rudolf Stampfuß’. Auch dieser bemängelte, dass Kühn den „Anteil des Provinzialrömischen“ zu stark herausgestellt habe. Überdies habe Kühn den Zusammenhang zwischen spätantiker und frühmittelalterlicher Kultur nicht richtig beurteilt: „Es gibt in der ganzen Frühgeschichte kaum einen stärkeren Bruch als zwischen „Römischem“ und „Fränkischem“.194

194

R. S TAMPFU ß, Rez. Herbert Kühn, Germanische Bügelfibeln der Völkerwanderungszeit in der Rheinprovinz. Mannus 34, 1942, 220–222, Zitat 221.

404

Ur- und Frühgeschichte im Kriege

13. Ur- und Frühgeschichte im Kriege: Archäologische Forschungen zu Germanen und Romanen 1939 bis 1945 Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs erreichte die interdisziplinäre Diskussion um die Ausdehnung und das Ausmaß der germanischen Landnahme in Nordgallien einen ersten Höhepunkt. Nicht zuletzt durch den Einfluss der wissenschaftlichen Netzwerke der Westforschung bildete sich unter den Forschern des deutschsprachigen Raumes ein Konsens heraus, der weit über den engeren Kreis der Spezialisten für Frühmittelalterarchäologie hinausreichte, und dem zufolge die archäologischen Quellen grundsätzlich geeignet seien, hier in Zukunft entscheidende Erkenntnisse zu liefern. Wie die Reaktionen auf die Publikation des Germanischen Volkserbes zeigten, waren sich die betreffenden Fachleute durchaus im Klaren, dass Petris Behandlung der archäologischen Quellen völlig ungenügend war. Vor allem zwei Maßnahmen erachteten sie als nötig, um den archäologischen Teil der Steinbach/Petri-These wissenschaftlich neu zu fundamentieren. Einerseits galt es, die zu Grunde gelegte Datenbasis zu verbessern. Hans Zeiss hatte auf die Notwendigkeit hingewiesen, das frühmittelalterliche Fundmaterial in Nordfrankreich und den Beneluxstaaten systematisch neu zu katalogisieren und möglichst einer erneuten Untersuchung vor Ort zu unterziehen. Andererseits forderten Zeiss, Beck, Löffler und Witte übereinstimmend, nicht allein die germanischen Grabfunde zu kartieren, sondern ebenfalls die romanischen Bestattungen mit einzubeziehen. Nur auf diese Weise lasse sich das tatsächliche demographische Verhältnis von Germanen und Romanen im frühen Mittelalter abschätzen. Implizit war dies auch die Forderung, archäologische Kriterien zur eindeutigen Unterscheidung von germanischen und romanischen Bestattungen zu entwickeln. Bereits bei der Tagung der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft in Worms im März 1937 erklärte es Hans Zeiss deshalb zur besonderen Aufgabe der Frühmittelalterarchäologie, „die schon heute erkannten Unterschiede als ihren Beitrag zum Problem Germanentum-Romanentum noch schärfer herauszuarbeiten“.1 1

BAB, R 153, Fasz. 1495, Bl. 180–219: Bericht über die Tagung der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft in Worms, 12.–14. 3. 1937, hier S. 19. – Vgl. auch Kap. 12d.

Ur- und Frühgeschichte im Kriege

405

Die Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs wirkten auf diese Situation katalysierend. War das politische Interesse an den Fragen der germanischen Landnahme in Westeuropa bereits während der 1930er Jahre beträchtlich gewesen, so steigerte es sich nach der Besetzung Frankreichs und der Beneluxstaaten im Frühsommer 1940 um ein Vielfaches. Von Interesse war die frühmittelalterliche germanische Landnahme dabei einerseits als Argument innerhalb der historischen Propaganda der deutschen Besatzungsbehörden. Vor allem in Belgien und den Niederlanden war die deutsche Kulturpropaganda bemüht, die vermeintlichen gemeinsamen germanischen Wurzeln politisch dienstbar zu machen. Andererseits gerieten die Thesen Steinbachs und Petris in das Blickfeld der großen Politik, da sie geeignet waren, die Pläne zur gewaltsamen Expansion des Deutschen Reiches zu legitimieren. Am bekanntesten ist in diesem Zusammenhang das Diktum Hitlers, der nach der Lektüre des „Germanischen Volkserbes“ im Mai 1942 seiner Tischgesellschaft im Führerhauptquartier verkündete, er habe diesem Buch „mit Interesse entnommen, dass es sich nach den Ortsnamen und so weiter bei diesen Gebieten um altes deutsches Land handele, das uns geraubt worden sei, und dessen Rückgabe wir mit vollem Recht verlangen können.“2 Erste Pläne zur „Neuordnung Europas“, wie man das Hegemoniestreben des nationalsozialistischen Deutschlands euphemistisch umschrieb,3 wurden parallel zu den Kriegshandlungen ausgearbeitet. Auch in diesem Zusammenhang bezog man sich unter anderem auf die Theorien zur fränkischen Landnahme. Im Juni 1940 verfasste Wilhelm Stuckart, Staatssekretär im Reichsinnenministerium und SS-Brigadeführer, auf Geheiß Hitlers eine Denkschrift über eine mögliche neue Westgrenze des Deutschen Reiches. In diesem Zusammenhang berief sich Stuckart nicht nur auf Friedrich Metz’ Werk „Die Oberrheinlande“ sowie auf die Arbeiten Steinbachs und Petris, sondern verwies ausdrücklich auch auf die archäologischen Quellen. In der entscheidenden Passage nannte er das vermeintliche Zeugnis der frühmittelalterlichen Grabfunde sogar noch vor den Orts- und Flurnamen: In Wirklichkeit also reichte das germanisch-deutsche Volkstum im frühen Mittelalter weit über die heutige Sprachgrenze nach Nord- und Ostfrankreich hinein bis an die Seine, was durch zahllose Reihengräberfelder und nicht minder zahlreiche germanische Orts- und Flurnamen bezeugt wird.4

2 3 4

H. P ICKER, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier (3Stuttgart 1976) 263. S CHMITZ -B ERNING , Vokabular, 426 f. P. S CHÖTTLER, Eine Art >Generalplan WestGrenzen< ohne Fächergrenzen. Interdisziplinäre Annäherungen (St. Ingbert 2007) 403–438.

Bemerkungen zu den Forschungen seit Anfang der 1980er Jahre

665

lasse.34 Auch Paul van Ossel betonte die Schwierigkeiten, die Anwesenheit von Germanen anhand spätantiker Siedlungen nachzuweisen.35 Dagegen unterstrichen Horst Wolfgang Böhme, Volker Bierbrauer und Ursula Koch die Bedeutung der spätantiken und frühmittelalterlichen Grabfunde als Indikatoren germanischer und romanischer Identitäten. Ungeachtet der Tatsache, dass beispielsweise Guy Halsall einige Jahre zuvor noch einmal alle Bedenken gegen die „germanische“ Interpretation der sogenannten Föderatengräber aufgelistet und sogar an seine Kollegen appelliert hatte, die interpretative „Zwangsjacke“ eines vermeintlichen germanisch-romanischen Antagonismuses hinter sich zu lassen,36 versicherte Horst Wolfgang Böhme, die Zuweisung der fraglichen Gräber zu den „ germanischen Soldaten im römischen Heer “ werde heute „von den Archäologen Frankreichs, Englands, Belgiens und Deutschlands weitgehend anerkannt und akzeptiert.“37 Unter dem Titel „Bestattungssitten der Franken“ listete Ursula Koch in gewohnter Manier die traditionellen Kriterien „germanischer“ und „romanischer Bestattungssitten“ auf, ohne auf alternative Vorschläge der Interpretation der betreffenden Bestattungsweisen einzugehen: Der „germanischen“ Beigabensitte stünde die Beigabenlosigkeit der Romanen entgegen; der „typisch germanischen Fibeltracht “ entspräche das „fibellose römische Gewand “, der „germanischen“ Waffenbeigabe die Gewissheit „Nie nahmen Romanen Waffen ins Grab“.38 Volker Bierbrauer beschrieb unter der Überschrift „Romanen im fränkischen Siedelgebiet“ anhand der Grabfunde zwei idealtypische, „unverfälschte“ „Kulturmodelle“: Das „fränkische Kulturmodell “ wies er den „einwandernden Germanen-Franken“ zu, wohingegen das „romanische Kulturmodell “ das „romanische Volkstum“ der ansässigen Bevölkerung widerspiegele. Bierbrauer zufolge konkurrierten diese Modelle miteinander. Durch die „Romanisierung der Franken“ und die „Frankisierung der unterlegenen Romanen“ glichen sich beide postulierten Ethnien einander an. Diese Annäherung habe zugleich die Voraussetzungen für die Entstehung der germanisch-romanischen Sprachgrenze geschaffen. Als Kennzeichen der „Kulturmodelle“ führte Bierbrauer die üblichen Merkmale an (Mehrfibeltracht, Waffenbeigabe etc. bzw. das Fehlen der ent34

35

36

37 38

P. P ÉRIN , Die archäologischen Zeugnisse der fränkischen Expansion in Gallien. In: Die Franken, Bd. 1, 227–236. P. VAN O SSEL , Die Gallo-Romanen als Nachfahren der römischen Provinzialbevölkerung. In: Die Franken, 102–109, bes. 109. H ALSALL , Reihengräberzivilisation, bes. 207. – D ERS., Cemeteries (wie Anm. 7) 56–61. B ÖHME , Söldner, 93. K OCH , Totenruhe, 723 f.

666

Kontinuität wider besseres Wissen?

sprechenden Fundkategorien).39 Somit handelte es sich bei Bierbrauers „Kulturmodellen“ ebenso wenig wie bei Frauke Steins „Totenritualen“ um ein neues Interpretationsmodell. Sie erscheinen vielmehr als ein Versuch, die ethnische Differenzierung der Reihengräber in der Tradition von Hans Zeiss durch die Verwendung eines progressiverklingenden Vokabulars zu modernisieren – in diesem Fall durch Anleihen an den semiotischen Kulturbegriff40, – ohne wesentliche inhaltliche Änderungen vornehmen zu müssen. Die Bügelfibeln im westlichen Merowingerreich Ein besonders eindrücklicher Beleg für die ungebrochene Vitalität der „volkstumsorientierten“ Reihengräberforschung sind die Ausführungen zur „Problematik der sogenannten fränkischen Landnahme“, die Alexander Koch in seinem 1998 erschienenen Werk über die „Bügelfibeln der Merowingerzeit im westlichen Frankenreich“ vorlegte.41 Auf geradezu extreme Weise ist seine Argumentation symptomatisch dafür, wie weitgehend spurlos die in den Jahrzehnten zuvor geübte Kritik an dieser Traditionslinie abgeprallt ist. Ziel der entsprechenden Ausführungen Kochs war es, die „Volkstumsverhältnisse“ im nachantiken Gallien aufzuklären.42 Die im Gefolge des Zweiten Weltkriegs aufgekommene Scheu, ethnographische Fragen im westlichen, ehemals römischen Teil des Frankenreichs zu verfolgen, erklärte Koch für überwunden.43 Seinen Ausführungen legte Koch die Ansicht zugrunde, Hermann Ament sei es 1978 gelungen, „Germanen (Franken)“ und „Romanen“ zweifelsfrei voneinander zu trennen.44 Wie bereits gezeigt, hatte Ament lediglich gemeint, die Richtigkeit der von Hans Zeiss 1941 aufgestellten Kriterien bestätigen zu können.45 Den Einwänden Patrick Périns hielt Koch entgegen – ohne dies in irgendeiner Weise näher zu begründen –, dass „fast über das gesamte 6. Jh. hinweg sich fränkisch oder allgemeiner germanisch geprägte von romanischen Friedhöfen unterscheiden lassen und dieser Sachverhalt sicherlich nicht auf einem Zufall beruht oder gar eine Laune der Überlieferung darstellt.“46 Be39 40

41 42 43 44 45 46

B IERBRAUER, Siedelgebiet, 110–120, bes. 110–113. S. B RATHER, s.v. Kulturgruppe und Kulturkreis. In: RGA2, Bd. 17 (Berlin, New York 2001) 442–452, hier 451. K OCH , Bügelfibeln, 565–579. K OCH , Bügelfibeln, 565. K OCH , Bügelfibeln, 568. K OCH , Bügelfibeln, 568. Vgl. Kap. 15c. K OCH , Bügelfibeln, 569.

Bemerkungen zu den Forschungen seit Anfang der 1980er Jahre

667

sonders problematisch an Périns Einwänden erschien Koch, dass dieser nicht allein die ethnische Zuweisung der merowingerzeitlichen Grabfunde bestreite, sondern gleichfalls die ihrer germanischen Vorläufer in der Spätantike. Périns Ansicht, im westlichen Teil des Frankenreichs hätten sich nur wenige fränkisch-germanische Einwanderer aufgehalten, hielt er entgegen, die Entstehung der romanisch-germanischen Sprachgrenze sei zwar umstritten: Indes lassen sich viele Argumente für die von F. Petri und F. Steinbach zuerst ausführlich vorgetragene Theorie anführen, nach der die Sprachgrenze nicht als die Konsequenz eines momentanen Siedlungsvorgangs in frühmerowingischer Zeit, sondern als das Ergebnis eines längeren Ausgleichsprozesses verstanden werden müsse, in dessen Verlauf germanisch sprechende Bevölkerungsgruppen jenseits und romanisch sprechende Gruppen diesseits der späteren Sprachgrenze assimiliert wurden, bis sich schließlich die Sprachgrenze als Ausgleichsgrenze bzw. Grenze germanischen Rückzugs herausgebildet habe.47

Bemerkenswert an dieser Passage ist, dass Koch nicht allein sämtliche Hinweise übergeht, denen zufolge die Steinbach-Petri-These aus sprachwissenschaftlicher Sicht endgültig als widerlegt gilt,48 sondern auch, dass Koch in diesem Zusammenhang weder mitteilte, welche Argumente denn für die Richtigkeit dieser These sprächen, noch auf irgendwelche Belege verweist. Dem Gegenstand seiner Arbeit entsprechend stützte sich Koch bei seiner Untersuchung der „Volkstumsverhältnisse“ im westlichen Teil des frühmittelalterlichen Frankenreichs vor allem auf die Bügelfibeln. In der frühmittelalterlichen Archäologie käme diesen eine besondere Bedeutung zu, da sich eine „bestimmte ethnische Identität “ praktisch nur durch eine spezifische „Tracht“ nach außen artikuliere. Bügelfibeln seien als „ genuin germanisches Trachtelement eng an das germanische Volkstum gebunden“. Sie lieferten somit einen Schlüssel für ein differenziertes Verständnis der ethnischen Verhältnisse im nachantiken Gallien,49 und spiegelten die „Volkstumsverhältnisse dieser Zeit im europäischen Raum“ wider.50 Im Gegensatz zu älteren Forschergenerationen ging Koch sogar von einer – wiederum nicht weiter begründeten – „festen Überzeugung“51 aus, die Bügelfibeln markierten unverrückbar nicht allein die Differenz zwischen Germaninnen und Romaninnen, sondern erlaubten ebenfalls die zweifelsfreie Unterscheidung der Angehörigen verschiedener germanischer Stämme:

47 48 49 50 51

K OCH , Bügelfibeln, 569. So z. B. H AUBRICHS, Germania submersa, 640 f. K OCH , Bügelfibeln, 565. K OCH , Bügelfibeln, 539. K OCH , Bügelfibeln, 536.

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Kontinuität wider besseres Wissen?

Wenn sich eine fränkische Germanin Bügelfibeln leisten konnte, so trug sie fränkische Bügelfibeln! Keine Fränkin wird ostgotische, thüringische oder langobardische Bügelfibeln getragen haben, solange sie nicht durch besondere Umstände dazu gezwungen wurde.52

Wiederum ohne dafür irgendwelche Argumente geltend zu machen, versichert Koch weiter, es könne „keine Rede sein“ davon, dass Bügelfibelformen durch „Moden“ über Stammesgrenzen hinweg ausgebreitet wurden;53 diese Vorstellung sei „ grundsätzlich zu verwerfen“, „völlig abwegig“54, und werde „irrtümlich bis heute von einigen französischen Wissenschaftlern“ vertreten55. Überhaupt habe die französische Forschung „die Modeströmung als Erklärungsmöglichkeit für archäologische Phänomene in den letzten Jahren arg überstrapaziert “56 und zudem sei es „absurd, das Phänomen Bügelfibeln als solches als bloße Modeerscheinung abzutun“.57 Obwohl er selbst zuvor Périns Kritik ausführlich referiert hatte, versicherte Koch schließlich: „Heute zweifelt keiner mehr daran, dass im nördlichen Teil Galliens eine nicht unwesentliche Zahl germanischer Bevölkerungsgruppen in spätrömischer Zeit siedelte […].“58 Durch die Analyse der Verbreitung der Bügelfibeln im westlichen Frankenreich sei es möglich, „die Frage des genauen Ausmaßes und der Grenzen fränkischer und – allgemeiner – germanischer Einwanderung in Nordgallien“ zu untersuchen. Ausgehend von der Feststellung, dass Bügelfibeln etwa bis zur Seine in Gräbern vorkämen – was im übrigen kein Erkenntnisgewinn darstellte, da diese Tatsache bereits von Herbert Kühn 1940 erkannt worden war59 – folgerte Koch, bis zur Linie „Seine-Marne“, möglicherweise sogar bis zur Linie „Seine-Yonne“ sei es zu einem „massiven Vordringen[ ] germanischer Siedler “ gekommen.60 Aus dieser Feststellung entwickelte Koch ein historisches Szenario, dass sich nur wenig von den originalen Vorstellungen Steinbachs und Petris unterschied: Bereits die „mit Waffen und Trachtschmuck wie Fibeln und Nadeln ausgestatteten Gräber des 4. und 5. Jhs. zeugen von dort siedelnden germanischen Bevölkerungsteilen seit spätantiker Zeit “.61 52 53 54 55 56 57 58 59

60 61

K OCH , Bügelfibeln, 537. K OCH , Bügelfibeln, 537. K OCH , Bügelfibeln, 538. K OCH , Bügelfibeln, 538. K OCH , Bügelfibeln, 568 Anm. 14. K OCH , Bügelfibeln, 570 Anm. 26. K OCH , Bügelfibeln, 571. H. K ÜHN , Die germanischen Bügelfibeln der Völkerwanderungszeit in der Rheinprovinz. Rhein. Forsch. z. Vorgesch. 4 (Bonn 1940) 66 ff. – Vgl. dazu Kap. 12 f. K OCH , Bügelfibeln, 573; 576; 577. K OCH , Bügelfibeln, 572.

Entwicklung des Germanen-Romanen-Diskurses

669

Noch nach der Mitte des 5. Jhs. erhielt der nördliche Teil Galliens einen nicht enden wollenden Zuzug von Ost nach West strömender germanischer Bevölkerungsgruppen, der das Bild der Volkstumsverhältnisse im nachantiken Gallien in hohem Maße prägte.62 Unter der Herrschaft der Söhne Chlodwigs wurde […] die unter ihrem Vater begonnene Ansiedlung germanischer, vornehmlich fränkischer Bevölkerungsgruppen im nördlichen Drittel Galliens weiter vorangetrieben und ausgebaut.63 Das allmähliche Zurückweichen dieser barbarischen (germanischen) Trachtsitte und anderer Eigentümlichkeiten seit der zweiten Hälfte des 6. Jhs. spiegelt eindrücklich den zivilisatorischen Druck, der von der einheimischen Bevölkerung des westlichen Frankenreichs ausging.64 Die in der Frühmittelalterforschung kontrovers diskutierte Problematik um die Volkstumsverhältnisse im nachantiken Gallien ist vor diesem Hintergrund zugunsten einer beträchtlichen, aber in ihrem tatsächlichen Ausmaß heute nur noch schwer zu fassenden germanischen (fränkischen) Ansiedlung in Nordgallien zu entscheiden.65

b) Zusammenfassende Bemerkungen zur Entwicklung des Germanen-Romanen-Diskurses in der Frühmittelalterarchäologie Ob durch die Ausführungen Alexander Kochs, wie er meint, die „Problematik der Volkstumsverhältnisse im nachantiken Gallien“ endgültig zugunsten einer „beträchtlichen germanisch-fränkischen Ansiedlung“ entschieden wurde, darf getrost bezweifelt werden. Verschiedene Faktoren deuten eher auf das Gegenteil hin. Die streckenweise etwas schrille Tonlage, in der Koch in den entsprechenden Passagen durch stete Wiederholung seiner Annahmen jegliche Kritik im Keim zu ersticken sucht, könnte vielmehr auf eine gewisse Unsicherheit beim Festhalten an einem überkommenen Paradigma hindeuten. Die Publikationen der letzten Jahre legen vielmehr nahe, dass außerhalb einer bestimmten Traditionslinie der mitteleuropäischen Reihengräberforschung die Bereitschaft rapide abnimmt, der traditionellen „germanistischen“ Interpretation der beigabenführenden Grabfunde des frühen Mittelalters zu folgen. Durch verstärkte methodische Reflexion wurden in den letzten Jahren zunehmend die Grenzen und inneren Widersprüche traditioneller ethnischer Interpretationen in der Archäologie offengelegt. Die Kennzeichnung solcher Interpretationen als „Konstrukte der frühgeschichtlichen Archäologie“66 deutete auf eine endgültige Abkehr vom Paradigma „Ethnizität“ 62 63 64 65 66

K OCH , Bügelfibeln, 573. K OCH , Bügelfibeln, 577. K OCH , Bügelfibeln, 580. K OCH , Bügelfibeln, 579. B RATHER, Identitäten.

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Kontinuität wider besseres Wissen?

bzw. „Volkstum“ hin. Guy Halsall konstatierte in diesem Zusammenhang eine wachsende Unzufriedenheit mit traditionellen Interpretationen und meinte gar eine „revolutionäre“ Stimmung auszumachen.67 Selbst Gelehrte, die an der Möglichkeit, frühmittelalterliche Gräberfelder ethnisch deuten zu können, grundsätzlich festhalten, räumen, wie etwa Max Martin, mittlerweile Mängel bei den bisherigen Interpretationen ein. Ob es sich allerdings, wie Martin meint, bei der zugrunde liegenden Problematik um eine Frage handelt, die in Zukunft vorwiegend empirisch, d. h. durch eine detaillierte Analyse des Fundstoffes zu lösen ist,68 erscheint zweifelhaft. Eine Auseinandersetzung mit dem heuristischen Potential der Begriffe, die traditionell verwendet werden, um die an sich stummen archäologischen Quellen zum Sprechen zu bringen, kann die Empirie nicht ersetzen. Auch in den Nachbarwissenschaften wurden in den letzten Jahren verstärkt Zweifel an den traditionellen ethnischen Interpretationen der Reihengräberforschung geäußert. Bei unvermindert großem Interesse an den entsprechenden Ergebnissen wies der Historiker Hagen Keller darauf hin, dass der Ansatz von Hans Zeiss und Joachim Werner, der zu seiner Zeit sicher seine Verdienste gehabt habe, heute nicht mehr fortgesetzt werden könne. Es genüge nicht, wenn die Archäologie lediglich versuche, anhand der verbesserten Quellenbasis und verfeinerten Analysemethoden, ihre traditionellen Fragestellungen weiter zu verfolgen. Die historische Forschung habe ihrerseits „ältere Volkstums- und Landnahmekonzepte“ mittlerweile weitgehend relativiert und verfolge neue Fragestellungen. Dazu sei sie nicht ausgehend von veränderten Interessen gelangt, sondern aufgrund „neuer Erkenntnisse, die ihr andersartige und wohl angemessenere Zugänge zu den Problemen der Epoche“ eröffneten. Zu diesem Zweck, solle sich die Frühmittelalterarchäologie einmal systematisch und kritisch Rechenschaft darüber ablegen, was und wieviel von den archäologischen Befunden bei der Suche nach Germanen oder Romanen, nach Franken, Alamannen usw. übersehen wurde.69

Solche Einwände und Aufforderungen, nach alternativen Interpretationen des Materials zu suchen, sind, wie in dieser Arbeit gezeigt wurde, keine Erscheinung, die erst im letzten Jahrzehnt aufkam. Die Analyse des archäologischen Diskurses um „Germanen“ und „Romanen“ im Merowingerreich verdeutlicht vielmehr, dass seit dem Ende des 19. Jahrhunderts von ver67 68

69

H ALSALL , Föderatengräber, 170. M. M ARTIN , Zum archäologischen Aussagewert frühmittelalterlicher Gräber und Gräberfelder. Zeitschr. Schweizer. Arch. u Kunstgesch. 59, 2002, 291–306, hier 302. K ELLER, Strukturveränderungen, 588.

Entwicklung des Germanen-Romanen-Diskurses

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schiedenen Seiten immer wieder Einwände vorgebracht wurden, die von den Anhängern solcher Interpretationen letztlich nicht auszuräumen waren. Heiko Steuer formulierte deshalb in diesem Zusammenhang bereits vor einigen Jahren, das ethnische Paradigma lebe in der frühgeschichtlichen Archäologie seit dem 19. Jahrhundert „fast wider besseres Wissen bis heute weiter “.70 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie sich trotz der bereits frühzeitig erkennbaren methodologischen Schwächen eine derart weit verbreitete und dauerhafte Interpretationstradition entwickeln und Bestand haben konnte. Die Geschichte des archäologischen Germanen-Romanen-Diskurses zerfällt, wie in dieser Arbeit gezeigt wurde, in zwei deutlich erkennbare Phasen. Im 19. Jahrhundert prägte der Nationalstaatsgedanke die Anfänge der wissenschaftlichen Erforschung der frühmittelalterlichen Grabfunde. Ungeachtet der vielfältigen Schattierungen und nationalen Spielarten dieses Diskurses war es das gemeinsame Anliegen der Pioniere der Frühmittelalterarchäologie, das Wissen um die Völker des frühen Mittelalters, denen vielfach eine wichtige Rolle in den jeweiligen nationalen Geschichtsmythen zugeschrieben wurden, mittels archäologischer Quellen zu bereichern. Die zunehmende Verwissenschaftlichung der Geschichtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte letztlich dazu, dass auf dem Kongress in Charleroi 1888 erstmals gravierende Einwände gegen die Zuweisung der frühmittelalterlichen Gräber mit Waffen und Fibeln an die Germanen formuliert wurden. Obwohl weitere Historiker ganz ähnliche Einwände vorbrachten, blieben die Vertreter der Frühmittelalterarchäologie bei ihren Interpretationen. Die Gründe für dieses Verhalten habe ich an anderer Stelle bereits erörtert, sie müssen hier nicht wiederholt werden.71 Der Aufstieg der historischen Volkstumsforschung in Deutschland nach 1918 läutete die zweite Phase des archäologischen Germanen-RomanenDiskurses ein. Durch den volksgeschichtlichen Ansatz wurde das „Volkstum“ nicht nur zum paradigmatischen Leitbegriff in der deutschen Geschichtswissenschaft, sondern durch eine konvergierende Entwicklung auch in der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie. Mehr noch als jeder andere Zweig des Faches stand die frühmittelalterliche Gräberarchäologie, die sich in der Tradition von Hans Zeiss allmählich zu einer eigenständigen archäo70

71

H. S TEUER, Archäologie und germanische Sozialgeschichte. Forschungstendenzen in den 1990er Jahren. In: K. Düwel (Hrsg.), Runische Schriftkultur in kontinental-skandinavischer und -angelsächsischer Wechselbeziehung. Ergbd. RGA 10 (Berlin, New York 1994) 10–55, hier 12. Vgl. Kap. 9a.

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Kontinuität wider besseres Wissen?

logischen Subdisziplin entwickelte, in engem Kontakt zur historischen Volkstumsforschung. Dieser Einfluss prägte sie nachhaltig. Den zentralen Fragenkomplex der historischen Westforschung – das Ausmaß germanischer Besiedlung in Westeuropa und die Entstehung der germanisch-romanischen Sprachgrenze – verfolgten die Vertreter der Frühmittelalterarchäologie in der Nachkriegszeit innerhalb jenes wissenschaftlichen Netzwerkes weiter, das auf die Westforschung vor 1945 zurückging. Auch die Desintegration dieses Netzwerkes, nachdem im Laufe der 1970er Jahre die ursprünglichen Protagonisten aus dem aktiven akademischen Leben ausschieden, erschütterte diese Forschungs- und Interpretationstradition innerhalb der Frühmittelalterarchäologie nicht. Ungeachtet einer sukzessive vollzogenen Kehrtwende bei der Stoßrichtung der Interpretationen – vom monolithischen „germanischen Volkstum“ des Reihengräberhorizontes zum positiv aufgefassten „multikulturellen“ Frankenreich – lebte der paradigmatische Kern dieser Interpretationstradition im Grunde unverändert fort. Der erstaunlichste Aspekt dieser Kontinuität ist sicherlich die in dieser Arbeit ausführlich demonstrierte Tatsache, dass der Kern des Paradigmas – die Auffassung, dass die „Reihengräbersitte“ eine essentiell germanische Erscheinung sei, und deshalb die Möglichkeit besteht, anhand der Reihengräberfelder „germanische Siedlungs-“ bzw. „Volksgeschichte“ zu schreiben – niemals unumstritten war, und die Anhänger dieser Forschungstradition entweder nicht Willens oder wohl eher nicht in der Lage waren, entsprechende Zweifel auszuräumen. Solche grundsätzlichen Einwände standen bereits im Raum, als Franz Petri in den 1930er Jahren damit begann, mit seinem „Germanischen Volkserbe“ das Opus magnum der historischen Westforschung zu schreiben. In den Publikationen belgischer Archäologen und Historiker während der späten 1940er und 1950er Jahre wurde diese Kritik vertieft, ebenso wie durch weitere Beiträge der westeuropäischen Forschung in den späten 1970er und 1980er Jahren. Auch danach riss die Kritik nicht ab. Symptomatisch für den Umgang mit solchen Einwänden ist die vor wenigen Jahren veröffentlichte Klage des britischen Gelehrten Guy Halsall, der sich, wie bereits erwähnt, 1992 massiv gegen die „germanische“ Interpretation der sogenannten Föderatengräber der Spätantike ausgesprochen hatte: Ungeachtet seines ursprünglichen Optimismuses habe auf seine Argumente schlichtweg niemand reagiert.72 Dieses Verhalten ähnelt frappierend der im Bereich der Mediävistik lange Zeit hegemonialen „Verfassungsgeschichte des Mittelalters“. In An-

72

H ALSALL , Föderatengräber, 170 mit Anm. 23.

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lehnung an Frantiˇsek Graus attestierte der Historiker Bernhard Jussen dieser eine sehr ähnliche Mixtur von „unausgesprochenen Grundannahmen, zeitbedingten Fokussierungen und systematischen Ausblendungen“.73 Reaktionen riefen zumeist lediglich massive Einwände hervor, die auf den ideologischen Kontext der Entstehung der Forschungstraditionen verwiesen. Zu Korrekturen der eigenen Positionen kam es jedoch allenfalls bei Teilaspekten. Einwände gegen den paradigmatischen Kern wurden in der Regel abgeblockt oder als „abweichende Meinungen“ in den Anmerkungen begraben. In keinem Fall wurde dagegen der Versuch unternommen, auf diese Einwände tatsächlich einzugehen, oder gar zum Ausgangspunkt eigener Überlegungen zu machen. Der grundsätzlich germanische Charakter der Reihengräber, sowie die Möglichkeit, daraus entsprechende siedlungsgeschichtliche Schlüsse abzuleiten, standen scheinbar unverrückbar fest. Angriffe auf diese Grundüberzeugungen galt es abzuwehren. Die Gründe für dieses Verhaltensmuster sind vielschichtig. Zweifellos wäre es verfehlt – dies möchte ich ausdrücklich betonen – hier vor allem eine ideologische Kontinuität am Werk sehen zu wollen. Wie in dieser Arbeit ausführlich dargelegt wurde, ist zwar gewiss, dass die „volksgeschichtliche“ Richtung der frühmittelalterlichen Gräberarchäologie wohl niemals ohne den Kontext der mentalen Konjunktur der Volkstumsideologie sowie der politischen Konjunktur der interdisziplinären Volkstumsforschung zwischen 1918 und 1945 entstanden wäre. Es wäre jedoch absurd, den Protagonisten dieser Forschungstradition eine einheitliche ideologische Ausrichtung unterstellen zu wollen. Bereits die erste Generation der volksgeschichtlichen Frühmittelalterforschung lässt sich in dieser Hinsicht nicht über einen Kamm scheren. Zweifellos gab es manche, wie etwa Adolf Helbok, deren Weltanschauung das Jahr 1945 relativ unbeschadet überstand.74 Franz Petri hielt, ungeachtet einer gewissen Abkehr vom Nationalsozialismus im politischen Sinne, Zeit seines Lebens an seinen „konservativ-völkischen Grundsätzen“ fest.75 Auch die Pioniere der Frühmittelalterarchäologie unterschieden sich in dieser Hinsicht beträchtlich. Im Gegensatz zu Hans Zeiss sind etwa die Schriften von Joachim Werner auch vor 1945 im Grund frei von völkischrassistischem Gedankengut.76 Will man die Kontinuität dieser Forschungstradition in der Nachkriegszeit erklären, so versagt im Hinblick auf die wis73 74

75 76

J USSEN , Bischofsherrschaften, 713. Vgl. A. H ELBOK , Erinnerungen. Ein lebenslanges Ringen um volksnahe Geschichtsforschung (Innsbruck 1963). D ITT , Petri, 160. F EHR, Zeiss und Werner.

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Kontinuität wider besseres Wissen?

senschaftliche Schüler- oder Enkelgeneration sowie die Wissenschaftslandschaft der Bundesrepublik Deutschland ein Erklärungsansatz, der von der Ideologiekritik ausgeht, vollends.

c) Reihengräberforschung als „germanische Volkstumskunde“ – Ein Forschungsprogramm? Ein meines Erachtens aufschlussreiches Erklärungsmodell liefern dagegen die Überlegungen zur „Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme“ des Wissenschaftstheoretikers und -philosophen Imre Lakatos.77 Ausgehend von wissenschaftsgeschichtlichen und epistemologischen Beobachtungen verwirft Lakatos den auf Karl Popper zurückgehenden „Falsifikationismus“. Dieser geht – stark verkürzt ausgedrückt – von der Ansicht aus, wissenschaftlicher Fortschritt entstehe dadurch, dass Grundprämissen („Basissätze“), die wissenschaftlichen Forschungsprogrammen zugrunde liegen, fallweise durch neue empirische Beobachtungen widerlegt werden können. Dies führe dazu, dass Forschungsprogramme verworfen und eingestellt werden. An ihre Stelle träte ein neues Forschungsprogramm, das die neuen Erkenntnisse zu integrieren vermag.78 Ausgehend von wissenschaftsgeschichtlichen Beobachtungen in den Naturwissenschaften stellte Lakatos fest, dass vielfach zu belegen ist, wie wissenschaftliche Forschungsprogramme ungeachtet der Tatsache, dass ihre Grundprämissen falsifiziert wurden, trotzdem lange Zeit weiter verfolgt wurden. Obwohl in den Geisteswissenschaften die Falsifikation meist erheblich schwerer fällt, als in den empirischen Wissenschaften, könnte auch die Ur- und Frühgeschichtsforschung wohl zahlreiche weitere Beispiele für diese Beobachtung liefern. Lakatos entwickelte ein deskriptives Modell, mit dessen Hilfe plausibel erklärt werden kann, weshalb wissenschaftliche Forschungsprogramme, die über einen längeren Zeitraum verfolgt werden, entweder bestehen bleiben oder eingestellt werden müssen. Ihm zufolge bestehen „wissenschaftliche Forschungsprogramme“79 aus zwei Arten methodologischer Regeln. Die „negative Heuristik“ beschreibt Forschungswege, die unbedingt zu vermei-

77 78

79

Zu Lakatos vgl. B. L ARVOR, Lakatos: an introduction (London 1998). I. L AKATOS, Die Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme. Philosophische Schr. 1 (Braunschweig/Wiesbaden 1982) 113–116. Zur Definition des Begriffs „Forschungsprogramme“ vgl. L AKATOS, Forschungsprogramme (wie Anm. 78) 46 f.

Reihengräberforschung als „germanische Volkstumskunde“

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den sind, wohingegen die „positive Heuristik“ angibt, welche Fragen verfolgt werden sollen. Im Zentrum der „negativen Heuristik“ steht der „harte Kern“ des Forschungsprogramms, der durch die Grundprämissen des Programms gebildet wird. Die „negative Heuristik“ des Forschungsprogramms verbietet nun den Versuch, die Grundprämisse des Forschungsprogramms empirisch falsifizieren zu wollen. Die Anhänger des Forschungsprogramms müssen vielmehr ihren ganzen Scharfsinn einsetzen, um „Hilfshypothesen“ zu artikulieren bzw. zu erfinden. Diese bilden gleichsam einen „Schutzgürtel“ um den „Kern“ des Programms. Gegenbeispiele und Anomalien werden entkräftet, indem sie widerlegt oder durch neue Hilfshypothesen in den „Schutzgürtel“ des Forschungsprogramms integriert werden. Angriffe gegen den Kern des Programms werden somit auf diesen „Schutzgürtel“ abgelenkt. Es ist dieser Schutzgürtel von Hilfshypothesen, der dem Stoß der Überprüfung standhalten, der geordnet und wiedergeordnet, ja sogar völlig ersetzt werden muß, um den so gehärteten Kern zu verteidigen.

So lange diese Strategie zu einer „progressiven Problemverschiebung“ führe, d. h. so lange es gelingt, neue Hilfshypothesen zu bilden und in den Schutzgürtel zu integrieren und somit dessen empirischen Gehalt zu bereichern, so lange ist das Forschungsprogramm erfolgreich.80 Die „positive Heuristik“ des Forschungsprogramms gibt dagegen an, welche Strategien bei der Integration weiterer Informationen in das Forschungsprogramm verfolgt werden sollen. Diese zielen nicht darauf ab, Widersprüchen, die im Verlauf der Forschung offenkundig werden, auf den Grund zu gehen. Ziel ist es vielmehr, solches Datenmaterial zu gewinnen, das die Richtigkeit des Forschungsprogramms bestätigt. Solche „Verifikationen“ existieren im epistemologischen Sinne natürlich nicht, sondern demonstrieren lediglich das heuristische Potential eines Forschungsprogramms und halten es am Laufen. Erst wenn ein Forschungsprogramm in seine „degenerierende Phase“ eintritt, d. h. es keine befriedigende „positive Heuristik“ mehr ermöglicht, richten die beteiligten Wissenschaftler mitunter ihr Instrumentarium auch gegen den „harten Kern“ des Programms, wodurch es schließlich zum Erliegen kommt.81 In der von mir oben beschriebenen zweiten Phase des archäologischen Germanen-Romanen-Diskurses ist meines Erachtens ein solches Forschungsprogramm zu sehen. Der „harte Kern“ dieses Programms, das man 80 81

L AKATOS, Forschungsprogramme (wie Anm. 77) 47–49. L AKATOS, Forschungsprogramme (wie Anm. 77) 49–52.

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Kontinuität wider besseres Wissen?

als „Reihengräberforschung als germanische Volkstumskunde“ bezeichnen könnte, wird von folgenden Grundprämissen gebildet: 1) Die typischen beigabenführenden Reihengräberfelder sind eine essentiell „germanische“ Erscheinung 2) Es ist deshalb möglich, anhand dieses Materials germanische „Volksgeschichte“ zu schreiben. Diese „germanische Volkstumsgeschichte“ hat nicht allein die Besiedlungsgeschichte, die in dieser Arbeit analysiert wurde, zum Gegenstand, sondern auch die Sozialgeschichte. Die interdisziplinären Ansätze zur Erforschung der Sozialstruktur, bzw. der „ germanischen Volksordnung “, harren noch der Aufarbeitung in einer detaillierten Wissenschaftsgeschichte.82 Zu den schützenden Hilfshypothesen des „harten Kerns“ dieses Programms zählen vor allem die Argumente, dass die Reihengräberfelder deshalb insgesamt „germanisch“ seien, weil sie durch besondere „Beigabensitten“, insbesondere die Waffenbeigabe und die „Trachtbeigabe“, als germanisch ausgewiesen würden. Die Begründung für den germanischen Charakter der Trachtbeigabe blieb mit dem Verweis auf die angeblichen parallelen Belege in den Schriftquellen durchgehend verhältnismäßig statisch – Bestattungen mit Bügelfibeln wurden ungeachtet jeder Kritik als typisch germanische „Tracht“ angesehen, die niemals von Frauen romanischer Herkunft übernommen wurde. Anhand der Begründungen für den vermeintlich germanischen Charakter der Waffenbeigabe lässt sich dagegen die nach Lakatos typische Konstruktion immer neuer Hilfshypothesen gut beobachten: Nacheinander vorgebracht wurden etwa der Verweis auf das germanische Herrenrecht (Waffenbeigabe als Kennzeichen der „germanischen Herrenschicht“ gegenüber den „romanischen Untertanen“)83, die Auswirkungen einer angeblichen rechtlichen Privilegierung der Germanen durch die römischen Kaiser,84 rechtsgeschichtliche Begründungen (Waffenbeigabe als Teil des germanischen „Heergewätes“)85, ethnopsychologische Erwägungen (Waffenbeigabe als Reaktion auf eine fremde kulturelle Umwelt)86, kulturtheoretische Überlegungen (Waffenbeigabe als Teil eines germanischen 82

83 84 85

86

Eine grundlegende Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Konzepten der Ur- und Frühgeschichte zur Rekonstruktion von Sozialstrukturen legte Heiko Steuer bereits 1982 vor: S TEUER, Sozialstrukturen. Z EISS, Grabfunde. – Kap. 13d. W ERNER, Reihengräberzivilisation. – Kap. 14b. Z. B. J. W ERNER, Bewaffnung und Waffenbeigabe in der Merowingerzeit. In: Petri, Siedlung, 326–338, hier 327. H. W. B ÖHME , Germanische Grabfunde des 4. bis 5. Jahrhunderts zwischen unterer Elbe und Loire. Münchner Beitr. Vor- u. Frühgesch. 19 (München 1974) 190. – Kap. 15d.

Reihengräberforschung als „germanische Volkstumskunde“

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„Totenrituals“)87 oder eine „trachtgeschichtliche“ Herleitung (Waffenbeigabe als Teil der germanischen „Tracht“)88. Während in diesem „Schutzgürtel“ von Hilfshypothesen tatsächlich erheblicher Diskussionsspielraum bestand, wurden durch die „negative Heuristik“ alle die Indizien ausgeblendet, die auf eine gleichberechtigte Wurzel der Reihengräberfelder im römischen Kulturraum hindeuteten sowie vor allem auf eine mögliche römische Abstammung eines substantiellen Teils der Toten, die in den beigabenführenden Gräberfeldern bestattet wurden. Begünstigt wurde dieses Verhalten wohl dadurch, dass benachbarte Forschungsprogramme in der Nachkriegszeit, etwa die Erforschung der „Ethnogenesen“ der germanischen Völker in der Tradition Reinhard Wenskus, lange Zeit einen recht ähnlichen „harten Kern“ schützten. Zu den Grundfehlern des Wenskus’schen Ethnogenesekonzeptes zählte Walter Pohl zufolge unter anderem das Festhalten an einer schematischen Dichotomie von „Germanisch“ und „Romanisch“ sowie der Versuch, die Geschichte der „germanischen“ Stammesbildungen aus exklusiv „germanischer“ Perspektive schreiben zu wollen.89 Für „positive Heuristik“ eröffnete die frühmittelalterliche Gräberarchäologie dagegen in der Tat reiche Betätigungsfelder. Die Erforschung der frühmittelalterlichen Grabfunde Mitteleuropas steckte 1918 noch in ihren Anfängen. Völlig realistisch schätzten es die Gründerväter der „Germanischen Denkmäler der Völkerwanderungszeit“ als langfristiges Unterfangen ein, die Quellenbasis für weiterführende Untersuchungen zu verbessern. Die Ausgrabungen und Editionen frühmittelalterlicher Gräberfelder sowie die typologische und chronologische Ordnung des Materials beschäftigte über mehrere Jahrzehnte hinweg einen nicht unbeträchtlichen Personenkreis, und band erhebliche Ressourcen der mitteleuropäischen Frühgeschichtsforschung. Ungeachtet des weiteren Schicksals des beschriebenen „harten Kerns“ des Forschungsprogramms wird diese enorme Leistung im Bereich der archäologischen Grundlagenforschung auch in Zukunft nicht an Wert verlieren.

87 88 89

S TEIN , Bevölkerung (wie Anm. 7). B IERBRAUER, Siedelgebiet, 112. W. P OHL , Ethnicity, theory, and tradition: A response. In: A. Gillet (Hrsg.), On Barbarian identity. Critical approaches to ethnicity in the Early Middle ages (Turnhout 2002) 221–239, hier 225.

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Kontinuität wider besseres Wissen?

III. Germanische Einwanderung oder kulturelle Neuorientierung? Die Anfänge des Reihengräberhorizontes

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17. Die Anfänge des Reihengräberhorizontes: Der historische Kontext Während in den ersten beiden Teilen dieser Arbeit die archäologische Diskussion um den Nachweis von Germanen und Romanen anhand merowingerzeitlicher Grabfunde im Vordergrund stand, wende ich mich abschließend jenem archäologischen Phänomen zu, das untrennbar mit der archäologischen Diskussion um Germanen und Romanen verbunden ist: Der Frage nach den Hintergründen der Herausbildung des Reihengräberhorizontes. Selbstverständlich kann es dabei weder das Ziel sein, die damit zusammenhängenden archäologischen Fragestellungen umfassend zu diskutieren, noch ein elaboriertes neues Modell der Entstehung des Reihengräberhorizontes vorzulegen. Ein solcher Versuch erfordert eine eigene Arbeit, die eine detaillierte Analyse der betreffenden Schlüsselbefunde umfassen muss. Im Rahmen dieser Dissertation kann ein derart aufwändiges Unterfangen nicht geleistet werden. Um jedoch nicht mit einem eher negativen Fazit des Germanen-Romanen-Diskurses schließen zu müssen, möchte ich einige Ansätze erläutern, die versuchen, die traditionelle germanozentrische Interpretationstradition hinter sich zu lassen, und neue Gesichtspunkte zur Lösung dieser bedeutenden Frage der Archäologie des frühen Mittelalters aufzeigen. In den letzten Jahrzehnten wurden in den Nachbarwissenschaften der Ur- und Frühgeschichte zahlreiche Erkenntnisse gewonnen, die die Rahmenbedingungen der Herausbildung des Reihengräberhorizontes in verändertem Licht erscheinen lassen. Teilweise wurden diese bereits in den ersten beiden Teilen dieser Arbeit besprochen, weshalb sie an dieser Stelle nicht noch einmal ausführlich erläutert werden. Endgültig Abschied nahm die Forschung etwa von der klassischen Theorie einer germanischen Eroberung Galliens.1 Die politischen Ereignisse beim Übergang von der römischen zur merowingischen Herrschaft bewertete man ebenso neu wie die Frage nach der Struktur und Bedeutung der frühmittelalterlichen ethnischen Gruppen.2 Ferner hat sich die Forschung einhellig vom Modell eines 1 2

W ERNER, Conquête. – B ÖHME , Söldner, 101. Vgl. Kap. 7c und 7d.

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes: Der historische Kontext

tiefgreifenden Bruchs zwischen Antike und Mittelalter entfernt. Daraus resultierend befreite sich die Forschung von der Debatte um „Kontinuität“ bzw. „Diskontinuität“ zugunsten einer prozesshaften Betrachtung der Umstrukturierung des sozialen, kulturellen und politischen Gefüges der Gesellschaft auf dem Boden des ehemaligen Römischen Reiches. Bedeutendstes Unternehmen in diesem Zusammenhang ist das von der „European Science Foundation“ finanzierte interdisziplinäre Projekt „The transformation of the Roman world“, das eine Vielzahl von Ergebnissen erbracht hatte.3 Im Gegensatz zu den vorangegangenen Abschnitten der Wissenschaftsgeschichte zeichnet sich die Forschung im letzten Jahrzehnt zudem dadurch aus, dass Kritiker traditioneller ethnischer Interpretationsmuster zunehmend nicht mehr allein die Tragfähigkeit solcher Deutungen in Frage stellen, sondern häufiger als zuvor auch mehr oder minder ausgefeilte Alternativmodelle vortragen. Zur Formulierung eines umfassenden neuen Modells zur Entstehung des Reihengräberhorizontes kam es bislang aber nicht. Trotzdem lässt sich eine gewisse Grundtendenz erkennen: Neuere Ansätze betonen verstärkt die Wurzeln des Reihengräberhorizontes im spätrömischen Milieu, ohne damit einen bedeutenden „barbarischen“ Anteil in Abrede zu stellen. Selbst jene Forscher, die am germanischen Charakter der Reihengräberfelder insgesamt festhalten, heben deren römischen Wurzeln mittlerweile deutlich hervor: „Ausschlaggebend für die Ausbildung von germanischen Reihengräberfeldern war das Vorbild der romanischen Körpergräberfelder “.4 Zudem gewinnt die sozialgeschichtliche Interpretation der Anfänge der Reihengräberfelder gegenüber der ethnischen Interpretation an Boden. Im Gegensatz zum bis vor wenigen Jahren vorherrschenden migrationistischen Ansatz,5 wird das Aufkommen der Reihengräberfelder zunehmend als Ergebnis einer kulturellen Transformation der Bevölkerung an der Peripherie des sich auflösenden Römischen Reiches interpretiert. Diese Bevölkerung bestand zwar zweifellos 3

4

5

In der Reihe „The transformation of the Roman World“ erschienen bislang 14 Bände (1997–2004). – Zum Projekt vgl. I. W OOD , s. v. Transformation of the Roman World. In: RGA2, Bd. 31 (Berlin, New York 2006) 132–134. J. L EICHT , Die spätkaiserzeitlichen Kammergräber. In: A. Burzler u. a. (Hrsg.), Das frühmittelalterliche Gräberfeld von Schleitheim – Siedlung, Gräberfelder und Kirche. Schaffhauser Arch. 5 (Schaffhausen 2002) 79–121, hier 119. Vgl. etwa D. Q UAST , Vom Einzelgrab zum Friedhof. Beginn der Reihengräberfelder im 5. Jahrhundert. In: Die Alamannen (Stuttgart 1997) 171–190, bes. 171: „Ein derartiger Wandel kann theoretisch von innen heraus erfolgen. Oft wird er aber von außen beeinflusst oder ist sogar das Resultat der Zuwanderung fremder Gruppen.“

683 zum Teil aus barbarischen Migranten; jedoch waren die Neuankömmlinge weder die eigentlichen Auslöser noch die alleinigen Träger des Phänomens. In den folgenden Abschnitten werde ich einige Gesichtspunkte in einem Überblick systematisieren und um einige Überlegungen ergänzen, die m. E. zu einem besseren Verständnis der Anfänge der frühmittelalterlichen Reihengräberfelder insgesamt oder einzelner ihrer Elemente beitragen können. Die diesbezüglichen Bemerkungen gliedern sich in zwei Teile: Gegenstand des Kapitels 17. sind zunächst jene Ansätze, die zu einem veränderten Verständnis des historischen Kontextes der Ausbildung des Reihengräberhorizontes beigetragen haben. Es handelt sich zunächst um Überlegungen zu den terminologischen und methodischen Voraussetzungen, die um die Begriffe „Sitte“, „Brauch“ und „Ritual“ kreisen.6 Im Anschluss bespreche ich einige neuere historische Ansätze, in denen herausgearbeitet wurde, in welchem Maße die einheimische Bevölkerung während des 5. Jahrhunderts eine soziale Transformation durchlief. Die Kreation neuer Institutionen und Rituale, die in diesem Zusammenhang erfolgte, verlief wohl nicht nur zufällig parallel zur Ausbildung einer neuen Bestattungsweise.7 Ferner werde ich in diesem Zusammenhang das von Charles Richard Whittaker entwickelte Konzept einer „Grenzkultur“ besprechen, die in der Spätantike entlang der römischen Grenzzone entstanden ist. Dieses Modell beschreibt zwischen der Provinzialkultur des römischen Hinterlandes und dem Barbaricum im Innern der Germania ein drittes kulturelles Milieu, das die Ausbildung des Reihengräberhorizontes beeinflusst hat.8 In Kapitel 18 wird schließlich der gegenwärtige Forschungsstand zur Herleitung der einzelnen Elemente des Idealtypusses „Reihengräberfeld“ diskutiert.9 Entsprechend behandele ich in diesem Zusammenhang vor allem die Frage des Aufkommens der Körperbestattung, der Orientierung der Gräberfelder, der Waffenbeigabe und der Bestattung in Kleidung mit reichem Fibelschmuck.10

6 7 8 9 10

Vgl. Kap. 17a. Vgl. Kap. 17b. Vgl. Kap. 17c. Vgl. Kap. 18a. Vgl. Kap. 18b–e.

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes: Der historische Kontext

a) „Sitte und Brauch“ oder „Ritual“? Sterben und Tod eines Menschen stellen in allen Kulturen einen Einschnitt für die Hinterbliebenen dar. Die Beziehung der Menschen zum Tod und den Toten, die vielfältigen rites de passage, mit denen menschliche Gemeinschaften diesen Einschnitt regulieren, sind ein bedeutendes Forschungsfeld für historische und sozialwissenschaftliche Disziplinen.11 Obwohl anhand von Gräbern lediglich der chronologisch letzte Akt im Umgang mit dem toten Körper zu erfassen ist, d. h. große Teile des Bestattungsrituals nicht mehr zu rekonstruieren sind, bilden die ur- und frühgeschichtlichen Grabfunde eine wichtige Quellenkategorie für die „Geschichte des Todes“. Für die Interpretation des Aufkommens einer neuen Bestattungsweise spielen jene Begriffe eine zentrale Rolle, mit denen die Forschung die handlungsleitenden Mechanismen bei der Bestattung bezeichnet. In der mitteleuropäischen Ur- und Frühgeschichte werden anhand von Grabfunden erkennbare, regelhaft wiederkehrende Bestattungsgewohnheiten seit vielen Jahrzehnten begrifflich zu „Grabsitten“, „Grabbräuchen“ oder „Totenbrauchtum“ überhöht. In der internationalen Diskussion rückt dagegen in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend der Begriff des „Rituals“ in den Vordergrund. Lediglich auf den ersten Blick handelt es sich hierbei um einen geringfügigen terminologischen Unterschied; tatsächlich verbergen sich hinter diesen Begriffen deutlich unterschiedliche Erklärungsansätze für menschliches Verhalten. Aus der Perspektive von „Sitte und Brauch“ erscheint das Verhalten der Bestattungsgemeinschaft beim Bestattungsakt vor allem von Traditionen geleitet. Der Ritualbegriff lässt dagegen Raum für eine aktive Gestaltung der entsprechenden Handlungen und lenkt den Blick auf deren Motivation und Funktion. In der Archäologie des frühen Mittelalters finden die Begriffe „Grabbrauch“ und „Grabsitte“ ihre Entsprechungen in den seit langem üblichen Bezeichnungen „Reihengräbersitte“ und „Reihengräberbrauch“.12 Verwandte Konzepte wie Zeremoniell, Gewohnheit, Kult oder Habitus sind dagegen noch wenig geläufig, und finden allenfalls als sprachliche Alternativen zu „Sitte und Brauch“ Verwendung. Das Begriffspaar „Sitte und Brauch“ verweist auf ältere Traditionen der mitteleuropäischen Volkskunde, mit der die Mittelalterforschung seit ihren

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12

T. M ACHO, Tod. In: Chr. Wulf (Hrsg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie (Weinheim, Basel 1997) 939–954. Vgl. z. B. Z EISS, Fürstengrab.

„Sitte und Brauch“ oder „Ritual“?

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Anfängen eng verwoben war13 und deren Terminologie und Konzepte die gegenwärtige Ur- und Frühgeschichte in manchen Bereichen auf eigenartige Weise bewahrt hat. Dabei muss nachdenklich stimmen, dass die aktuelle volkskundliche Forschung diese Konzepte überaus kritisch betrachtet. Obwohl sie seit dem 19. Jahrhundert zum Kernbestand volkskundlichen Denkens gehörten, hat die Volkskunde die Konzepte „Sitte und Brauch“ bereits seit einiger Zeit weitgehend aus ihrem methodischen Instrumentarium entfernt. Unter dem Eindruck des schnellen und als beängstigend empfundenen gesellschaftlichen Wandels im 19. Jahrhundert konstruierten die Gründerväter der Volkskunde die Vergangenheit als positives Gegenbild ihrer Gegenwart. Den Begriff der „Kontinuität“ bewerteten sie uneingeschränkt positiv, wohingegen sie gesellschaftliche Veränderungen mehr oder minder unterschwellig als Bedrohung der historischen Fundamente der Sozialordnung ansahen.14 Vormoderne Gesellschaften stilisierte man zu stabilen, statischen Systemen, in denen Tugenden wie Tradition, Kontinuität und Prinzipientreue das soziale Handeln steuerten. „Sitte und Brauch“ überlieferten der Gemeinschaft dabei gewissermaßen die kulturellen Regeln und Normen. „Sitte“ bezeichnet eine Art moralischer Ordnung, während „Bräuche“ die Zeremonien und Verhaltensweisen regelten, mit denen die soziale Ordnung zum Ausdruck gebracht wurde.15 Ähnlich wie in der gegenwärtigen Ur- und Frühgeschichtsforschung verwendete auch die volkskundliche Forschung „Brauch“ und „Sitte“ vielfach austauschbar. Dabei hat es an nicht Versuchen gemangelt, sie konzeptionell voneinander abzusetzen. Meist wurde „Sitte“ als übergreifende Größe definiert, als „das über den konkreten Handlungen stehende Wert- und Normsystem“, wohingegen die traditionsgeleiteten Handlungen als „Bräuche“ bezeichnet wurden. Durch die semantische Nähe zur „Sittlichkeit“ enthielt „Sitte“ eine gewisse moralische Komponente: Da Sitte etwas nicht Greifbares, nicht Handlung selbst ist, wie der Brauch, nicht geschrieben ist, wie das Gesetz, wurde auf eine außerhalb des Menschen wirkende Kraft geschlossen und somit Sitte als nicht änderbar und damit statisch vorgegeben verstanden.16 13

14 15 16

W. S EIDENSPINNER, Mittelalterarchäologie und Volkskunde. Ein Beitrag zur Öffnung und Theoriebildung archäologischer Mittelalterforschung. Zeitschr. Arch. Mittelalter 14/15, 1986/87, 9–48, hier 9–13. K ASCHUBA , Europäische Ethnologie, 169. K ASCHUBA , Europäische Ethnologie, 167 f. A. C. B IMMER, Brauchforschung. In: R. W. Brednich (Hrsg.), Grundriss der Volkskunde. Eine Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie (3Berlin 2001) 445–468, hier 445–447.

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes: Der historische Kontext

Vor diesem Hintergrund erscheint es terminologisch wenig präzise von „Grabsitten“ und „Grabbräuchen“ zu sprechen. Anhand archäologischer Quellen allein lässt sich nicht unmittelbar auf ein übergeordnetes Werteund Normensystem schließen; auch die Handlungen entziehen sich unserer Kenntnis, sofern sie keine materiellen Spuren hinterlassen haben, die im Grabbefund erkennbar sind. Gleiches gilt für die Praxis, regelhaft wiederkehrende Ausstattungsmuster und Grabformen als „Totenrituale“17 zu bezeichnen. Auch hier dokumentieren die archäologischen Quellen lediglich den materiellen Niederschlag eines Teils meist wohl sehr viel umfangreicherer ritueller Praktiken. Wie bereits erwähnt, werden in der Volkskunde bereits seit einigen Jahrzehnten zunehmend Bedenken gegenüber den althergebrachten Kategorien „Sitte und Brauch“ geäußert, die auch ein Überdenken des archäologischen Sprachgebrauchs nahe legen.18 Im Zuge der Neuorientierung der Volkskunde nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie zunehmend ungebräuchlich.19 Im letzten Jahrzehnt betrachteten manche Vertreter der Volkskunde sie bereits als weitgehend obsolet.20 Diese Skepsis gegenüber den traditionellen Ansätzen auf dem Forschungsfeld „Sitte und Brauch“ beruht auf mehreren Überlegungen: Seit Beginn der Volksforschung standen die Konzepte „Brauch und Sitte“ in Zusammenhang mit der Suche nach Traditionen und Kontinuitäten, die möglichst weit in die Frühzeit der Völker zurückreichen sollten. Besonders die einseitige Suche nach vermeintlich ursprünglichen „Volksbräuchen“, deren Spuren in manchen Fällen auch anhand archäologischer Quellen bis in germanische Urzeit zurückverfolgt wurden,21 erbrachte nicht selten völlig abstruse Ergebnisse.22 Problematisch am Begriff des „Volksbrauches“ war zudem die implizite Verknüpfung von Bräuchen mit einer Volksüberlieferung, die angeblich weit über die tatsächliche Trägergruppe hinausreichte und tief in der Vergangenheit verwurzelt war. „Sitte“ und „Brauch“, aber auch „Brauchtum“ waren auf diese Weise inhaltlich eng mit dem „Volkstum“ verbunden.23 Gerade die 17 18

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21 22

23

S TEIN , Bevölkerung, 152 ff. – Vgl. Kap. 16a. H. B AUSINGER, Volkskunde. Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse (Berlin, Darmstadt 1972) 124 ff. A. C. B IMMER, Vom „-tum“ in der Volkskunde. Österr. Zeitschr. Volkskunde 93, 1990, 150–173, hier 165 f. M. S CHARFE , Einleitung. In: Ders. (Hrsg.), Brauchforschung. Wege d. Forsch. 627 (Darmstadt 1991) 10 f. S EIDENSPINNER, Mittelalterarchäologie (wie Anm. 13) 30–32. G. S CHILLER, s.v. Grab und Grabbrauch, Volkskundliches. In: RGA2, Bd. 12 (Berlin, New York 1998) 509–515, hier 510. B IMMER, „-tum“ (wie Anm. 19) 161; 164; 168.

„Sitte und Brauch“ oder „Ritual“?

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inhaltliche Verknüpfung von „Brauchtum“ und „Volkstum“ führte dazu, dass der Begriff des „Brauches“ von der gegenwärtigen volkskundlichen Forschung als überaus problematisch empfunden wird. In ihrer ethnisch aufgeladenen Bedeutung gehörten „Brauch“ und „Brauchtum“ zu dem ideologisch befrachteten Ballast, dessen sich die Volkskunde im Zuge der Abkehr vom Volkstumsgedanken entledigen musste. Bereits vor längerer Zeit wurde festgestellt, dass es sich beim „Brauchtum“ um einen „Terminus voller ideologischer Implikationen“ handelt, der von der ahistorischen Prämisse eines „uralten System- und Traditionskontinuums“ ausgehe. Schon vor einem Jahrzehnt war es Handbuchwissen, dass „Brauchtum“ in der Volkskunde im Grunde kein wissenschaftlicher Begriff mehr sein kann.24 In der gegenwärtigen Frühmittelalterforschung hat diese Wende bislang nur wenige Spuren hinterlassen. Die Betrachtung von „Bestattungssitten“ steht nach wie vor vielfach in engem Zusammenhang mit der Suche nach ethnischen Identitäten. Für die traditionelle mitteleuropäische Reihengräberforschung bildet die Analyse von „Beigabensitten“, neben der Zuschreibung von Artefakttypen an bestimmte Ethnien, seit langem ein wichtiges Element bei der ethnischen Interpretation ihres Materials. In dem Maße, wie die Anzahl gut dokumentierter Grabfunde des frühen Mittelalters anstieg, gewann dieser Ansatz nochmals an Bedeutung. Zwar wird mitunter noch betont, die Form und Verzierung etwa der Bügelfibeln sei in ethnischer Hinsicht aussagekräftiger als ihre Trageweise innerhalb der Kleidung bzw. die Deponierungsweise im Grab.25 Andere Autoren gewichten dagegen die „Beigabensitten“ höher, und sprechen ihnen eine Schlüsselrolle für die Lösung der ethnischen Problematik in der Frühmittelalterarchäologie zu: Inzwischen gewinne – so formulierte etwa Jakob Leicht in diesem Zusammenhang – „langsam aber sicher, diejenige Vorgehensweise an Boden, bei der die Beurteilung der Beigabensitte im Vordergrund steht.“26 Ob durch die Analyse von „Beigabensitten“ und „Bestattungsbräuchen“ tatsächlich Aufschluss über die ethnische Zugehörigkeit von Gräbern des frühen Mittelalters gewonnen werden kann, erscheint jedoch zweifelhaft. In aller Regel versuchen die Autoren noch nicht einmal plausibel zu machen, weshalb von den von ihnen konstatierten „Bestattungsbräuche“ unmittelbar auf die ethnische Zugehörigkeit der Toten geschlossen werden kann. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass im Stile der traditionellen Volkskunde schlichtweg vorausgesetzt wird, „Sitten und Bräu24 25

26

B IMMER, „-tum“ (wie Anm. 19) 167. M. M ARTIN , s. v. Fibel und Fibeltracht, § Späte Kaiserzeit und Merowingerzeit auf dem Kontinent. In: RGA2, Bd. 8 (Berlin, New York 1994) 541–582, hier 577. L EICHT , Schleitheim (wie Anm. 4) 105.

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes: Der historische Kontext

che“ seien vorrangig ethnisch spezifisch und vom „Volkstum“ der Toten und ihrer Hinterbliebenen geprägt. Neben der ethnischen Konnotation des Begriffspaars „Sitte und Brauch“ erscheint auch die enge Bindung an die Konzepte „Kontinuität“ und „Tradition“ problematisch. „Brauch“ und „Sitte“ betonen, dass vor allem alte (Volks-)Traditionen die Gestaltung des Bestattungsaktes gesteuert hätten: „Sitte ist das Signum einer vergangenen Zeit “ formulierte Hermann Bausinger diesen Sachverhalt.27 Tatsächlich lässt sich in der Ur- und Frühgeschichte immer wieder beobachten, dass Bestattungsweisen über lange Zeiträume hinweg nur wenig verändert beibehalten werden; dabei ist jedoch zu bedenken, dass eine Kontinuität der Form noch keine Kontinuität der Vorstellungen, die mit dem Ritual verbunden wurden, belegen muss. Die Reihengräberfelder, die nicht selten mehr als zwei Jahrhunderte lang stetig genutzt wurden, sind ein gutes Beispiel für eine solche formale Kontinuität. Andererseits lässt sich gerade anhand ur- und frühgeschichtlicher Quellen ein ständiger und mitunter sehr rascher Wandel der Bestattungsgewohnheiten beobachten. Besonders das 5. Jahrhundert n. Chr. ist von einer beständigen Folge von Veränderungen und Neuerungen auf diesem Gebiet geprägt.28 Ungeachtet dieses kontinuierlichen Wandels wird in der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie dennoch häufig die fundamentale Dauerhaftigkeit und Traditionsgebundenheit vor- und frühgeschichtlicher Bestattungsweisen betont. Immer wieder findet sich die Ansicht, gerade das „Totenbrauchtum“ erweise sich in allen Kulturen als „besonders zählebiges Element “, weshalb in diesem Bereich mit einer „Langlebigkeit traditioneller Bräuche“ zu rechnen sei.29 Auch bei der Herleitung jener Elemente, die als entscheidende Indizien für den germanischen Charakter der Reihengräberfelder gelten, wird vielfach bis in die Gegenwart dieses Postulat ins Feld geführt: So wird auch in der jüngeren Forschung etwa die Waffenbeigabe auf germanische „Altvätersitte“30 oder das „althergebrachte Bestattungsbrauchtum“31 der Germanen zurückgeführt. Diese Position spiegelt jedoch weniger das Ergebnis als vielmehr den Ausgangspunkt von archäologischen Untersuchungen zu Bestattungsfor-

27 28 29

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B AUSINGER, Volkskunde (wie Anm. 18) 126. Vgl. Kap. 18b–e. W. S CHMIDT , Spätantike Gräberfelder in den Nordprovinzen des Römischen Reiches und das Aufkommen christlichen Bestattungsbrauchtums. Tricciana (Ságvár) in der Provinz Valeria. Saalburg-Jahrb. 50, 2000, 213–441, hier 321. Vgl. L EICHT , Schleitheim (wie Anm. 4) 105 und 114. S CHULZE -D ÖRRLAMM , Kriegergräber, 510.

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men wieder. Die Prämisse der grundsätzlich starken Traditionsgebundenheit von Bestattungsgewohnheiten übersieht jedoch, dass neben Traditionen auch Modifikationen und Innovationen die Entwicklung der Bestattungsformen prägen; unter bestimmten historischen Bedingungen werden Grabformen auch neu erfunden. Die Prämisse der generellen Traditionsgebundenheit von Bestattungsformen erklärt jedoch, weshalb die Frage nach den Ursachen für die Herausbildung des Reihengräberhorizontes über lange Zeit hinweg identisch war mit der Suche nach ihren Vorformen. Mitunter entsteht der Eindruck, die traditionelle Reihengräberforschung sei der Auffassung gewesen, mit der Beantwortung der Frage, wo die Wurzeln des Reihengräberhorizontes zu suchen seien, sei automatisch auch das Problem seiner Entstehung gelöst. Völlig in den Hintergrund geriet dabei die Frage, welche spezifische historische Konstellation die Entstehung der – ungeachtet möglicher Vorformen – letztlich neuen Bestattungsweise bedingt hat. Mit Hilfe des Ritualbegriffs ist es möglich, dieser Fragestellung eher gerecht zu werden. Dieser Sachverhalt bildet wohl den Hintergrund dafür, dass der Begriff des „Rituals“ in allen Kulturwissenschaften in jüngerer Zeit eine erstaunliche Konjunktur erlebt.32 In der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie wandten sich manche Fachvertreter seit den 1980er Jahren explizit den „Ritualen“ zu,33 wobei die Beschäftigung mit den betreffenden archäologischen Phänomenen – neben Bestattungsweisen etwa Deponierungen, Bauopfer oder Sakralobjekte – selbstverständlich jeweils bis in die Anfänge der archäologischen Forschung zurückreicht. In der mittelalterlichen Geschichte wurden Rituale seit den 1970er Jahren im Gefolge von anthropologischen und funktionalistischen Ansätzen verstärkt Gegenstand wissenschaftlicher Analysen.34 Mittlerweile nimmt die Erforschung von Ritualen in der frühmittelalterlichen Geschichtsforschung einen so breiten Raum ein, zum Beispiel im Bereich der symbolischen Kommunikation,35 dass vereinzelt bereits vor den Gefahren des Ritualbegriffs gewarnt wird.36 32 33

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B IMMER, Brauchforschung (wie Anm. 16) 463. Vgl. z. B. R. M ERRIFIELD , The archaeology of ritual and magic (London 1987). – P. G ARFORD U. A . (Hrsg.), Sacred and profane. Proceedings of a conference on archaeology, ritual und religion, Oxford 1989 (Oxford 1991). P H . B UC, Political ritual. Medieval and modern interpretations. In: H. W. Goetz (Hrsg.), Die Aktualität des Mittelalters (Bochum 2000) 255–272, hier 257. G. A LTHOFF , Rituale – symbolische Kommunikation. Zu einem neuen Feld der historischen Mittelalterforschung. Gesch. Wiss. Unterricht 50, 1999, 140–154. P H . B UC, The dangers of ritual. Between early medieval texts and social scientific theory (Princeton u. a. 2001)

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes: Der historische Kontext

In neuerer archäologischer Methodenliteratur werden die Begriffe „Totenritual“ und „Bestattungsbrauchtum“ mitunter synonym verwendet.37 Dennoch sind sie trotz erheblicher inhaltlicher Überschneidungen nicht austauschbar. Selbstverständlich verweisen auch Rituale auf Traditionen. Rituale oder ritualisiertes Handeln zu modifizieren oder außer Kraft zu setzen, ist für Individuen mitunter unmöglich oder bedarf großer Anstrengungen.38 Gerd Althoff wies jedoch darauf hin, dass besonders jene Ansätze zur Erklärung von Ritualen, die von Beispielen aus dem religiös-kultischen Bereich ausgehen oder diese aus der Ethnologie ableiten, ihre Veränderbarkeit in vormodernen Gesellschaften häufig unterschätzen. Oft würde von archaischen Gesellschaften ein falsches Bild gezeichnet, in denen die Menschen zwanghaft an die genaue Erfüllung von Ritualen gebunden und ihnen geradezu ausgeliefert seien. Diese Vorstellung treffe jedoch allenfalls für Rituale im Bereich der Religionsausübung zu, sei aber für die Rituale der öffentlichen Kommunikation unangemessen. Gerade die Rituale dieses Feldes – zu dem zumindest teilweise auch die Grabrituale zu zählen sind – erweisen sich im Mittelalter als durchaus wandelbar. Der gesamte Kommunikationsstil des Mittelalters sei ein demonstrativ-ritueller gewesen; falls für eine bestimmte Aussage kein geeignetes rituelles Ausdrucksmittel zur Verfügung stand, habe man neue Rituale erfunden.39 Wie im nächsten Kapitel gezeigt wird, lässt sich dieses Verhalten für den sozialen Kontext der Herausbildung des Reihengräberhorizontes, die Bevölkerung Galliens im 5. Jahrhundert, deutlich belegen. Während aus der Perspektive von „Sitte und Brauch“ Bestattungsgewohnheiten vorrangig als passive Widerspiegelungen von Traditionen erscheinen, wird bei Ritualen somit stärker deren „konstruktives soziales Potential“ hervorgehoben. Mit Ritualen werden soziale Zustände erhalten und interpretiert, aber auch erzeugt, manipuliert oder verändert. Sie sind symbolische Aufführungen, die von den am Ritual beteiligten Personen selbst durchgeführt werden, und die sich – von Ausnahmen abgesehen – auch an die Aufführenden selbst richten.40 In diesem Sinne interpretierte Guy Halsall etwa die sogenannten Föderatengräber: Diese spiegelten nicht passiv einen vorgegebenen rechtlichen 37

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M. K. H. E GGERT , Prähistorische Archäologie. Methoden und Konzepte (Tübingen/ Basel 2001) 57 f. C HR . W ULF , Ritual. In: Ders. (Hrsg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie (Weinheim 1997) 1029–1037, hier 1031. G. A LTHOFF , Die Veränderbarkeit von Ritualen im Mittelalter. In: Ders. (Hrsg.), Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter. Vortr. u. Forsch. 51 (Sigmaringen 2001) 157–176, hier 159. W ULF , Ritual (wie Anm. 38) 1029 f.

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oder sozialen Status oder einen tatsächlichen Wohlstand wieder. Vielmehr handele es sich bei jedem Bestattungsakt um eine „aktive Stellungnahme“, mit der auf eine bestimmte Situation reagiert wird.41 Auch Frans Theuws und Monica Alkemade legten in ihrer Studie zur Bedeutung der Waffenbeigabe im spätantiken Gallien eine aktive Rolle des Bestattungsvorgangs zugrunde: Anders als die archäologische Forschung auf dem europäischen Kontinent allgemein voraussetze, seien Grabrituale keine passiven Wiederspiegelungen gesellschaftlicher Zustände, sozialer Strukturen oder Hierarchien.42 Sie stellten vielmehr gleichzeitig eine gesellschaftliche Stellungnahme und eine Handlung dar, die die Gesellschaft betreffe.43 In der kulturanthropologischen Ritualforschung haben sich drei Schwerpunkte herauskristallisiert, die bei der Interpretation der Reihengräberfelder implizit seit langem präsent sind:44 Der Zusammenhang von Ritualen mit Religion bzw. Kultus findet seine Entsprechung in der Diskussion um den Nachweis christlicher oder paganer Elemente in den frühmittelalterlichen Reihengräbern.45 Der Funktionszusammenhang zwischen Ritual und Gesellschaftsstruktur spielt bei der Diskussion um die archäologische Nachweisbarkeit von Sozialstrukturen eine bedeutende Rolle.46 Das Grabritual als Mittel kultureller Symbolisierung und sozialer Kommunikation ist dagegen erst in jüngerer Zeit zum Gegenstand wissenschaftlichen Interesses geworden. Gegenwärtig wird dieser Ansatz vor allem bei der Interpretation der Waffenbeigabe aufgegriffen. Auf diese Diskussion werde ich an anderer Stelle näher eingehen.47

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H ALSALL , Föderatengräber, 178: „[…] these grave do not passively reflect a given social or legal status, or actual wealth. They are active statements made in response to particular circumstances“. – Vgl. auch D ERS., Childeric’s grave, Clovis’ succession, and the Origins of the Merovingian Kingdom. In: R. W. Mathisen/D. Shanzer (Hrsg.), Society and culture in Late Antique Gaul (Aldershot u. a. 2001) 116–133, hier 121 f. Ähnlich bereits S TEUER, Sozialstrukturen, 74–94. T HEUWS /A LKEMADE , Sword depositions, 414: „Thus, contrary to what continental archaeological tradition seem to postulate, the burial ritual is not just a passive reflection of social praxis or of a static societal structure or hierarchy, it is simultaneously a statement (an expression of ideas) and an act which affects society itself.“ W ULF , Ritual (wie Anm. 38) 1030. Vgl. dazu A. S CHÜLKE , Die Christianisierung als Forschungsproblem der südwestdeutschen Gräberarchäologie. Zeitschr. Arch. Mittelalter 27/28, 1999/2000, 85–117. – D IES., On Christianisation and grave-findings. Journal European Arch. 2/1, 1999, 77–106. S TEUER, Sozialstrukturen, bes. 74ff; 435 ff. – R. S AMSON , Social structures from Reihengräber: mirror or mirage? Scottish Arch. Review 4/2, 1987, 116–126. Vgl. Kap. 18d.

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes: Der historische Kontext

Ein letzter wichtiger Aspekt des Ritualbegriffs bezieht sich auf die Frage, in wie weit Rituale überhaupt kausal gedeutet oder interpretiert werden können. Vom Standpunkt der historischen Anthropologie betrachtet, ist das Wissen, das bei Ritualhandlungen zur Anwendung kommt, kein regelgeleitetes oder analytisches Wissen; vielmehr handelt es sich im Sinne Pierre Bourdieus um „praktisches Wissen“48. Dieses zeichnet sich dadurch aus, dass es logisch und begrifflich nur unzureichend zu erfassen ist: Jede Deutung und Interpretation [eines Rituals – H. F.] schreibt ihm eine Eindeutigkeit und Logik zu, die es im Augenblick des Handelns nicht hat, und derer es zu diesem Zeitpunkt auch nicht bedarf.49

Vor diesem Hintergrund erklären sich die Schwierigkeiten, die sich regelhaft ergeben, wenn es gilt, den letztendlichen „Sinn“ bestimmter Bestattungsweisen zu erfassen. Selbst in Fällen, in denen prinzipiell alle gewünschten Daten erhoben werden können, entziehen sich Bestattungsformen mitunter einer Deutung. Aufschlussreich ist das Beispiel des Verhältnisses von Feuerbestattung und Körperbestattung im modernen Europa, auf das Ian Morris in diesem Zusammenhang verwies.50 Der Anteil von Feuerbestattungen und Körperbestattungen schwankte nicht nur im letzten Jahrhundert beträchtlich, sondern unterscheidet sich noch heute in Europa von Staat zu Staat gravierend. Grundsätzlich können einige Faktoren bestimmt werden, welche die Bevorzugung der einen oder anderen Bestattungsweise beeinflussen. So neigen etwa katholisch geprägte Gesellschaften dazu, überwiegend an der Körperbestattung festzuhalten. In den protestantischen Ländern Nordeuropas liegt dagegen der Anteil der Feuerbestattungen erheblich höher. In bestimmten sozialen Milieus, z. B. der Arbeiterbewegung oder für liberale Freidenker, besaß die Feuerbestattung zudem eine große symbolische Bedeutung. Der Grund, weshalb in den Vereinigten Staaten heute die Körperbestattung dominiert, wohingegen im britischen Mutterland gegenwärtig die Feuerbestattung vorherrscht, lässt sich nicht auf einen oder wenige Faktoren zurückführen, und entzieht sich letztlich einer kausalen Erklärung. Überträgt man diese Beobachtung auf die frühmittelalterlichen Reihengräberfelder, so ergibt sich eine deutliche Einschränkung des Erwartungshorizonts bei der Frage nach den Gründen für die Herausbildung der früh48

49 50

P. B OURDIEU , Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft (Frankfurt am Main 1976). W ULF , Ritual (wie Anm. 38) 1036. I. M ORRIS, Death ritual und social structure in classical antiquity (Cambridge 1992) 34–42.

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mittelalterlichen Reihengräber: Es ist nicht nur äußerst unwahrscheinlich, dass die Bestattungsweise in den Reihengräberfeldern von einer einzigen Konstante, nämlich der Ethnizität der Toten und der Bestattungsgemeinschaft, determiniert wurde; darüber hinaus ist kaum zu erwarten, dass es der archäologischen Forschung jemals gelingen wird, den „Sinn“ dieser Bestattungsweise eindeutig zu klären. Allenfalls wird es möglich sein, bestimmte soziale Rahmenbindungen zu beschreiben, die ihre Entstehung begünstigt haben; möglicherweise lassen sich auch gesellschaftliche Funktionen namhaft machen, die diese Bestattungsweise für die frühmittelalterliche Gesellschaft erfüllte. Diese Einschränkungen sollten jedoch nicht pessimistisch stimmen. Falls es gelingt, hier plausible Interpretationen zu entwickeln, wäre im Gegenteil viel erreicht.

b) Identitätskrise und Neuorientierung: Die Transformation der gallorömischen Gesellschaft Durch die Betrachtung des Übergangs von der Antike zum Mittelalter als Prozess rückte die Forschung im letzten Jahrzehnt verstärkt einen Aspekt in den Vordergrund: Das Verhalten der einheimischen gallorömischen Eliten während der Desintegration des Römischen Reiches. Traditionellen Stereotypen über „Romanen“ zufolge, war die Kultur der Bevölkerung der römischen Provinzen „erschöpft“ und „abstrebend“, bisweilen auch „degeneriert“ und „entartet“. Häufig galten die Gallorömer als passiver und leidender Teil der frühmittelalterlichen Gesellschaft, deren Interesse allenfalls darin bestand, die Reste ihrer Kultur zu bewahren, während Anstöße zu sozialen und kulturellen Innovationen allein den „jugendfrischen“ germanischen Völkern zugeschrieben wurden.51 Lange Zeit setzte die Forschung selbstverständlich voraus, dass die Gallorömer ein unbedingtes Interesse daran hatten, die Einheit des Römischen Reiches zu erhalten und ihre traditionellen Lebensformen und Gesellschaftsstrukturen zu bewahren. Angesichts der über weite Strecken der mitteleuropäischen Wissenschaftsgeschichte dominierenden germanozentrischen Sichtweise verhallten gegenteilige Positionen in der Vergangenheit meist ergebnislos. So hatte Alois Riegl bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts davor gewarnt, den „positiven Anteil “ der Romanen bei der „Überwindung der Antike“ zu übersehen, und darauf hingewiesen, dass die Desintegration des Reiches

51

Vgl. Kap. 3.

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes: Der historische Kontext

durchaus den Interessen der Bevölkerung in den Provinzen entsprochen haben könnte.52 Die Frage, welche Sichtweise die größere Berechtigung besitzt, ist eng verbunden mit der nach wie vor kontrovers diskutierten Frage, ob die Desintegration des Römischen Reiches im Westen auf innere Faktoren zurückzuführen ist. Muss diese etwa als Sieg der bereits in den Jahrhunderten zuvor erkennbaren zentrifugalen Kräfte in den Provinzen gewertet werden, oder gaben externe Faktoren den letztendlichen Ausschlag, d. h. das militärische Potential der barbarischen gentes ?.53 Bei näherer Betrachtung erweisen sich die gallorömischen Eliten jedenfalls keineswegs als erstarrt, innovationsfeindlich und passiv. In jüngerer Zeit arbeitete vor allem Bernhard Jussen heraus, welch bedeutenden Anteil diese an der Desintegration Galliens aus dem Römischen Reich besaßen.54 Jussen zufolge begannen die einheimischen Eliten bereits einige Dekaden vor der Etablierung der „barbarischen“ Nachfolgestaaten damit, sich vom Mittelmeerraum und dem auf den kaiserlichen Hof in Italien ausgerichteten Staatssystem abzuwenden. Mit einiger Berechtigung könne man deshalb formulieren, dass es weniger die Barbaren als vielmehr die Gallorömer waren, die das Römische Reich beendeten.55 In den Jahrzehnten nach 400 begann der Einfluss der Reichsregierung auf die Vorgänge in Gallien zu schwinden und erst durch die Expansion des Merowingerreiches gegen Ende des 5. Jahrhundert etablierten sich erneut halbwegs stabile politische Strukturen. In keiner anderen Region des Römischen Reiches hatten die Eliten so lange Zeit, sich parallel zum allmählichen Erlöschen der kaiserlichen Herrschaft neu zu orientieren und zu organisieren. Bemerkenswert ist nun, dass die Oberschicht in diesem Zusammenhang verschiedenste neue Institutionen und Verhaltensweisen kreierte, um 52

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A. R IEGL , Die spätrömische Kunstindustrie. II. Teil: Kunstgewerbe des frühen Mittelalters auf Grundlage des nachgelassenen Materials Alois Riegls bearbeitet von E. Heinrich Zimmermann (Wien 1923) 4. Für eine Übersicht über neuere Positionen in dieser Frage vgl. etwa: G. H ALSALL , The movers and the shakers: the barbarians and the Fall of Rome. Early Medieval Europe 8, 1999, 131–145. J USSEN , Bischofsherrschaften. – D ERS., Zwischen Römischem Reich und Merowingern. Herrschaft legitimieren ohne Kaiser und König. In: P. Segl (Hrsg.), Mittelalter und Moderne. Kongressakten des 6. Symposiums des Mediävistenverbandes in Bayreuth 1995 (Sigmaringen 1997) 15–29, hier 24. – D ERS., Liturgie und Legitimation, oder: Wie die Gallo-Romanen das römische Reich beendeten. In: Ders./B. Blänkner (Hrsg.), Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens. Veröffentl. Max-Planck-Inst. Gesch. 138 (Göttingen 1998) 75–136. Vgl. den Titel des Aufsatzes: J USSEN , Liturgie (wie Anm. 54).

Die Transformation der gallorömischen Gesellschaft

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in einer Zeit des Umbruchs ihre soziale und wirtschaftliche Position abzusichern, zu festigen oder gar auszubauen. Mit der bischöflichen Stadtherrschaft, einer spezifisch gallischen Erscheinung, schuf sich der in der Spätantike neu formierte senatorische Adel56 binnen weniger Jahrzehnte eine Institution, mit deren Hilfe er seine politische Vorrangstellung erfolgreich konservieren konnte. Während sich zu Beginn des 5. Jahrhunderts kaum ein Angehöriger der Reichsaristokratie für ein Bischofsamt interessiert hatte, monopolisierten die senatorischen Adeligen in den folgenden Jahrzehnten dieses Amt erfolgreich für sich; seit der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts fungierten die Bischöfe zunehmend als alleinige politische Vertreter der Städte nach außen.57 War bis dahin der kaiserliche Hof der maßgebliche Ort gewesen, an dem die Reichsaristokratie um politischen Einfluss, Macht und Prestige konkurrierte, verlagerte sich der Konkurrenzkampf nun auf die lokale und regionale Ebene, wo die Angehörigen der Elite um die Besetzung der Bischofsämter rivalisierten.58 Gewissermaßen – so Jussen – löste somit die ecclesia das imperium als Referenzrahmen ab.59 Dieser Prozess verlief alles andere als unproblematisch. Mit der Abwendung der Eliten vom kaiserlichen Hof verloren auch die Hierarchien, die auf diesen bezogen waren, samt den dazugehörenden traditionellen sozialen Distinktionstechniken ihren Kontext – und damit ihre Bedeutung.60 Im Bereich der Konstituierung kollektiver und individueller Selbstzuordnungen zog dies schwerwiegende Verwerfungen nach sich. Die Autoren eines von John Drinkwater und Hugh Elton herausgegebenen Sammelbandes konstatieren für das Gallien des 5. Jahrhunderts deshalb eine tiefgreifende „Identitätskrise“.61 Diese Identitätskrise erfasste nicht allein die senatorischen Adeligen, sondern betraf weite Bevölkerungskreise. Die Schilderungen der zeitgenössischen Autoren lassen diese Orientierungslosigkeit bei Fragen der sozialen Kategorisierung verschiedentlich erkennen.62 Für die hier behandelte Fragestellung sind nun jene Mechanismen von besonderem Interesse, mit denen die Betroffenen auf das Verblassen ihrer traditionellen gesellschaftlichen Koordinaten reagierten. Die Transforma56

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D. S CHLINKERT , Ordo senatorius und nobilitas. Die Konstitution des Senatsadels in der Spätantike. Hermes Einzelschr. 72 (Stuttgart 1996). J USSEN , Bischofsherrschaften, 675. J USSEN , Bischofsherrschaften, 680. J USSEN , Liturgie (wie Anm. 54) 84. J USSEN , Liturgie (wie Anm. 54) 79. J. D RINKWATER /H. E LTON , Fifth-century Gaul: a crisis of identity? (Cambridge 1992). J USSEN , Liturgie (wie Anm. 54) 117.

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes: Der historische Kontext

tion der Gesellschaft betraf nicht allein die konkreten politischen Herrschaftsformen, sondern gleichermaßen die Legitimations- und Repräsentationsformen, mit denen Herrschaft manifestiert und stabilisiert wurde. Jussen bringt diese Entwicklung auf die Formel einer vollständigen „Umformung der gesamten politisch-sozialen Semantik“.63 Begegnet wurde dem Wandel der gesellschaftlichen Ordnung durch die Kreation neuer Medien zur „Produktion kulturellen Sinns“.64 Die dem senatorischen Adel entstammenden Bischöfe entwickelten neue „Konsensrituale“ zur Stabilisierung der prekären gesellschaftlichen Ordnung, wie Prozessionen im Rahmen einer neuen, fein ausdifferenzierten Liturgie. Ferner erzwangen sie das Tragen prächtiger Kleidung für Bischöfe, um auf diese Weise neu formierte soziale Hierarchien zum Ausdruck zu bringen.65 Spätestens seit Hans Zeiss’ 1936 erschienenem Aufsatz „Fürstengrab und Reihengräbersitte“ galten die Prunkbestattungen des 5. Jahrhunderts als mögliche Vorbilder der eigentlichen Reihengräberfelder.66 Indem allmählich breitere Bevölkerungsschichten – und schließlich im fortgeschrittenen 6. Jahrhundert in manchen Regionen des Merowingerreiches wohl ein Großteil der Bevölkerung – dem Beispiel der Eliten folgte, habe sich die typische Bestattungsweise in Form der Reihengräberfelder in großen Teilen des Merowingerreiches allgemein durchgesetzt. So einleuchtend dieses Modell auf den ersten Blick erscheinen mag, so schwierig ist es, das tatsächliche Verhältnis zwischen den verschiedenen Typen und Horizonten der Prunkgräber des 5. Jahrhundert und dem Aufkommen der Reihengräberfelder insgesamt abzuschätzen. Vor allem handelt es sich bei ihnen um ein denkbar uneinheitliches Phänomen. Es lassen sich mehrere zeitlich aufeinander folgende Horizonte erkennen, die jedoch vielfach ineinander übergehen. In das frühe 5. Jahrhundert gehören in Gallien noch die letzten reichen Bestattungen des Föderatenhorizontes. In die Mitte des 5. Jahrhunderts datieren die attilazeitlichen Prunkgräber, die oftmals sehr weiträumig verbreitete („donauländische“) Komponenten aufweisen. Vor allem in der Zeit des Childerich fallen die Prunkgräber mit Goldgriffspathen. Aus der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts sind zahlreiche weitere Prunkbestattungen bekannt.67 Da gegenwärtig die Anfänge mancher Reihengräber zum Teil bereits vor die Mitte des 5. Jahrhunderts datiert 63 64 65 66 67

J USSEN , Liturgie (wie Anm. 54) 78. J USSEN , Liturgie (wie Anm. 54) 105. J USSEN , Liturgie (wie Anm. 54) 86ff und 105 ff. Z EISS, Fürstengrab, 281–284. H. S TEUER, s. v. Fürstengräber. In: RGA2, Bd. 10 (Berlin, New York 1998) 168–232, hier 196–198. – D ERS., Sozialstrukturen, 301–303.

Die Transformation der gallorömischen Gesellschaft

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werden,68 sind die meisten Prunkgräber des 5. Jahrhunderts zeitlich parallel zu den frühen Reihengräberfeldern einzustufen. Dies deutet eher auf Wechselwirkungen zwischen den Prunkgräbern und den frühen Reihengräberfeldern hin, als auf einen Vorrang bzw. einen alleinigen Vorbildcharakter der Prunkgräber. Zudem vermag dieses Erklärungsmodell allein die letztlich erstaunlich große Homogenität der Reihengräberfelder und den verschwenderischen Aufwand dieser Bestattungsweise insgesamt kaum zu erklären. Ungeachtet dieser Einschränkungen besteht m. E. dennoch eine gewisse Berechtigung, in den Prunkbestattungen des 5. Jahrhunderts eine der Wurzeln der Reihengräberfelder insgesamt sehen zu wollen. Auch wenn das Verhältnis dieser beiden Erscheinungen in chronologischer Hinsicht noch einer detaillierten Untersuchung bedarf, liegt es zumindest nahe, dass beide Phänomene auf ähnliche Ursachen zurückzuführen sind. Über die Tatsache, dass es sich bei den Prunkbestattungen dieses Zeitabschnitts um eine neue Form der Artikulation sozialen Prestiges handelt, besteht seit Langem und sicherlich zu Recht große Einigkeit.69 Der große Aufwand, der für die Reihengräberfelder insgesamt getrieben wurde, deutet auf eine vergleichbare Funktion hin. Die traditionelle mitteleuropäische Forschung möchte das Aufkommen aufwändiger Bestattungen in Nordgallien – abgesehen von den „donauländisch“ geprägten Bestattungen des sogenannten Attila-Horizontes in der Mitte des 5. Jahrhunderts70 – vor allem germanischen Migranten bzw. deren Nachfahren zusprechen. Die Überlegungen Jussens zur Kreation neuer Repräsentationsformen und Distinktionsmechanismen während des 5. Jahrhunderts legen jedoch eindrücklich nahe, dass auch die einheimischen Eliten in Betracht gezogen werden müssen, wenn es gilt, die Urheber dieser neuen aufwändigen Bestattungsweise zu identifizieren. Bernhard Jussen selbst plädierte ausdrücklich für diese Deutung.71 Eine solche Deutung schließt selbstverständlich nicht aus, dass auch Angehörige der Eliten Nordgalliens, die germanischer Abstammung wa68 69

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Vgl. Kap. 18. H ALSALL , Föderatengräber, bes. 177–179. – S TEUER, Sozialstrukturen, bes. 342 ff. – Zu Phänomen Prunkgräber allgemein: G. K OSSACK , Prunkgräber. Bemerkungen zu Eigenschaften und Aussagewert. In: Ders./G. Ulbert (Hrsg.), Studien zur vor- und frühgeschichtlichen Archäologie. Festschrift für Joachim Werner zum 65. Geburtstag. Teil 1 (München 1974) 3–33. S TEUER, Sozialstrukturen, 302. – Zu „donauländisch“ geprägtem Fundmaterial des 5. Jahrhunderts in Gallien vgl. M. K AZANSKI /P. P ÉRIN , Les Barbares „orientaux“ dans l’armée en Gaule. Ant. Nat. 29, 1997, 201–217. J USSEN , Bischofsherrschaften, 698 f.

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes: Der historische Kontext

ren, oder Angehörige der römischen Militäraristokratie Anteil an dieser Entwicklung hatten. Grundsätzlich ist es möglich, diese Deutung unabhängig von der Frage aufrecht zu erhalten, ob die Wurzeln der einzelnen Elemente der neuen Bestattungsweise tatsächlich im „germanischen“ bzw. „barbarischen“ Milieu zu suchen sind. Auch wenn man an der traditionellen germanischen Herleitung der Waffenbeigabe und der Fibelkleidung festhält, was Guy Halsall vor einigen Jahren noch einmal nachdrücklich bestritt,72 könnten diese Elemente dennoch von einem Teil der einheimischen Eliten übernommen worden sein. Dem steht lediglich die Ansicht entgegen, dass zwar Germanen im Zuge einer Akkulturation römische Kleidungsstile und Bestattungsgewohnheiten übernehmen konnten, niemals aber „Romanen“ germanische Vorbilder. Im Laufe der Forschungsgeschichte wurde jedoch wiederholt darauf hingewiesen, dass diese Prämisse sachlich nicht zu begründen ist. In diesem Sinne argumentierte auch Guy Halsall, dass für Germanen und Gallorömer in diesem Zusammenhang ohne weitere Begründung mit zweierlei Maß gemessen wird.73 Gegen diese Praxis spricht nicht allein, dass ihre Anhänger bislang keine überzeugenden Argumente für ihre Richtigkeit vorbringen konnten, sondern auch die Beobachtung, dass in anderen Lebensbereichen „barbarische“ Kulturelemente durchaus von der einheimischen Bevölkerung übernommen wurden. Will man die Wurzeln des Reihengräberhorizontes kulturell verorten, so sieht man sich mit zwei Problemen konfrontiert: Erstens der gerade besprochenen Frage, ob möglicherweise originär „germanische“ Verhaltensweisen und Erscheinungsformen tatsächlich dauerhaft allein Germanen vorbehalten blieben. Eng damit zusammen hängt die zweite Frage, welche Bedeutung die Attribute „barbarisch“ und „römisch“ im 5. Jahrhundert überhaupt besaßen. Die gravierendste Auswirkung der Umstrukturierung der kollektiven Identität der Provinzialbevölkerung im 5. Jahrhundert wurden bereits im ersten Teil dieser Arbeit angesprochen:74 Die traditionelle politisch-ideologische Dichotomie „römisch“ versus „barbarisch“ wurde zunehmend von der neuen religiösen Dichotomie „rechtgläubig“ versus „häretisch/ heidnisch“ verdrängt.75 Parallel zu dieser Umstrukturierung gewannen zudem barbarische Lebensformen – oder was man dafür hielt – an Attraktivität. 72 73 74 75

H ALSALL , Föderatengräber, bes. 171–175. – Vgl. Kap. 18d, e. H ALSALL , Föderatengräber, 173. Vgl. Kap. 2. J USSEN , Herrschaft (wie Anm. 54) 26 f.

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Selbst manche Teile der stadtrömischen Bevölkerung trugen gegen Ende des 4. und zu Beginn des 5. Jahrhunderts „barbarische“ Kleidung, was bei Hütern der traditionellen Ordnung offenbar zunehmend Anstoß erregte. Die Regierung des Westreichs versuchte in den Jahren um 400, dieser Entwicklung per Gesetz einen Riegel vorzuschieben. Für die Stadt Rom verbot man das Tragen von langen Haaren, Schuhen barbarischen Stils („tzangae“) sowie Hosen („bracae“).76 Dass von dieser Entwicklung offenbar alle gesellschaftlichen Schichten erfasst wurden, zeigt sich darin, dass die Kleidungsvorschriften auch für Sklaven galten. In diesen Kontext gehört ebenfalls die Nachricht, dass ein Priester einen Skandal provozierte, als er mit Arm- und Halsringen gotischen Stils vor ein römisches Heer trat.77 Insgesamt ist die Interpretation dieser Kleidungsvorschriften jedoch nicht unproblematisch. Das Verbot des Hosentragens ist etwa insofern bemerkenswert, als die Hose bereits seit der Kaiserzeit als Jagdkleidung Eingang in die Kultur der Oberschichten des gesamten Römischen Reichs gefunden hatte. Trotzdem hatte sie offenbar niemals aufgehört, gleichzeitig auch als typisch „barbarisches“ Kleidungsstück zu gelten.78 Vor diesem Hintergrund ist nicht eindeutig zu entscheiden, ob in der Spätantike das Tragen tatsächlicher oder vermeintlicher „barbarischer“ Kleidung wirklich stark zunahm. Denkbar wäre auch, dass bestimmte, bereits seit längerem im Reichsgebiet verbreitete Kleidungsgewohnheiten, die eine gewisse barbarische Konnotation besaßen, von verunsicherten Hütern traditioneller Werte auf einmal als problematisch empfunden wurden. An Jussens Fazit bezüglich der Gesamtentwicklung änderte dies jedoch nichts: In der Übergangsphase während des 5. Jahrhunderts, als die „Matrix römischer Ordnung“ zunehmend verschwand, verlief die Grenze zwischen „Römischem“ und „Barbarischem“ mitten durch die römische Gesellschaft.79 Diese Entwicklung betraf nicht allein Kleidungsstile, sondern lässt sich gleichermaßen auf dem Gebiet der Sprache beobachten: Sidonius Apollinaris, ein besonders konservativer Verfechter jener altrömischen Tradition, welche die Barbaren zur maßgeblichen Alterität der Römer stilisierte, rea76

77 78 79

Cod. Th. 14, 10, 2–3. „Usum tzangarum adque bracarum intra urbem venerabilem nemini liceat usurpare.“ J USSEN , Bischofsherrschaften, 711, nimmt an, dass sich die betreffenden Vorschriften auf alle Städte des Reiches bezogen. Mit der „urbs“ ist in diesem Zusammenhang jedoch allein die Stadt Rom gemeint. Vgl. dazu P H . V. R UMMEL , Habitus barbarus. Kleidung und Repräsentation spätantiker Eliten im 4. und 5. Jahrhundert. Ergbde. RGA 55 (Berlin, New York 2007) 156–166. J USSEN , Bischofsherrschaften, 710 f. V. R UMMEL , Habitus (wie Anm. 76) 234–236. J USSEN , Bischofsherrschaften, 712.

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gierte betroffen, als der Sprössling einer vornehmen römischen Familie die germanische Sprache erlernte: Es bestürzt mich zu sehen, mit welcher Leichtigkeit du dir die Kenntnis der germanischen Sprache angeeignet hast […], du, der du doch Enkel eines Konsuls bist, und das in männlicher Linie, der du also dem Samen eines Poeten entspringst“ […] „Ich will, dass Du mir sagt, weshalb in deiner Brust auf einmal eine neue Sprache wohnt.80

Allerdings hielt nicht einmal Sidonius seine Ablehnung des Barbarischen konsequent aufrecht. In anderem Zusammenhang bereitete es ihm keine Schwierigkeiten, Menschen barbarischer Abstammungen als Beispiel der von ihm glorifizierten Latinität anzuerkennen,81 wie etwa den Westgotenkönig Theoderich II.82 Dem in Trier residierenden comes Arbogast bescheinigte er sogar, das wahre „Latein des Tibers“ zu sprechen.83 Es wäre wohl verfehlt, die Gründe für eine mögliche Anziehungskraft „barbarischer“ Lebensformen für die Gallorömer ausschließlich auf ideeller Ebene suchen zu wollen. Hintergrund war sicherlich ebenfalls die tiefgreifende soziale und wirtschaftliche Erschütterung Galliens, wie sie Salvianus von Marseille in der Mitte des 5. Jahrhunderts schilderte. Auch wenn seine Darstellung aufgrund der gattungsspezifischen Topik hinsichtlich Gründen und Ausmaß der herrschenden Missstände mit Vorsicht betrachtet werden muss,84 so ist seine Nachricht durchaus bemerkenswert, dass zahlreiche Gallorömer aus verschiedensten sozialen Schichten zu den „Barbaren“ überliefen: In einer vielbesprochenen Passage führte Salvianus aus, dass viele, aus dem vornehmsten Geschlechte und edel erzogen, sich zu den Feinden flüchteten, um nicht unter dem Drucke der öffentlichen Verfolgung ihr Leben zu lassen. […] In den Gebräuchen weichen sie von denen ab, zu welchen sie fliehen, ihre Sprache ist eine andere, in Körper und Kleidung haben sie von barbarischer Widerwärtigkeit nichts an sich; doch lieber erdulden sie bei den Barbaren ungewohnte Lebensweise, als bei den Römern schreiende Ungerechtigkeit. Deshalb ziehen sie bald zu den Goten, bald zu den Bagauden oder zu anderen Barbaren, wo sie gerade herr80

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83 84

Sidonius Apollinaris, Ep. 5,5,1. – Übersetzung nach J USSEN , Liturgie (wie Anm. 54) 82. J. H ARRIES, Sidonius Apollinaris and the frontiers of Romanitas. In: R. W. Mathisen/H. S. Sivan (Hrsg.), Shifting frontiers in late antiquity. Papers from the First Interdisciplinary Conference on Late Antiquity, University of Kansas, March 1995 (Aldershot 1996) 126–135, hier 35. Sidonius Apollinaris, Ep, 1,2,1 ff. – F.-M. K AUFMANN , Studien zu Sidonius Apollinaris. Europäische Hochschulschr. III, 681 (Frankfurt a.M. u.a. 1995) 115 ff. Sidonius Apollinaris, Ep, 4,17,1. J. B LÄNSDORF , Salvian über Gallien und Karthago. Zu Realismus und Rhetorik in der spätantiken Literatur. In: H. Drobner/Chr. Klock (Hrsg.), Studien zu Gregor von Nyssa und der christlichen Spätantike (Leiden u. a. 1990) 311–332.

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schen, und nie bereuen sie ihre Auswanderung […] Einst wurde der Name eines römischen Bürgers hoch geschätzt, ja um großen Preis erkauft, jetzt weist man ihn zurück und flieht denselben […] Was kann für römische Ungerechtigkeit ein besseres Zeugnis ablegen als die Tatsache, dass sehr viele, sogar Angesehene und Vornehme, denen das römische Bürgerrecht zur höchsten Auszeichnung und Ehre gereichen musste, durch diese grausame römische Ungerechtigkeit so weit getrieben wurden, dass sie keine Römer mehr sein wollten? Ja solche werden, wenn sie auch nicht zu den Barbaren fliehen, dennoch gezwungen, Barbaren zu werden, wie ein großer Teil der Spanier und nicht der geringste Teil der Gallier, kurz alle, welchen in dem Römischen Reiche die römische Ungerechtigkeit es unmöglich macht, römische Bürger zu sein.85

Aus dieser Quelle ein einfaches Überwechseln von Angehörigen der Provinzialbevölkerung in die Lebenswelt der „Barbaren“ herauslesen zu wollen, ginge sicher zu weit. „Barbaren“ kann hier nicht einfach mit „Menschen barbarischer Abstammung und Lebensweise“ übersetzen werden. Salvianus verwendet die Begriffe „Barbaren“, „Bagauden“ und „Feinde“ nicht zufällig weitgehend austauschbar,86 da sich die Begriffe im zeitgenössischen Sprachgebrauch einander angenähert haben. In den spätantiken Gesetzen etwa bedeutetet „barbarisch“ durchgehend „feindlich“: „barbari “ und „hostes“ waren weitgehend synonym. In der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts nähert sich der Barbarenbegriff immer mehr dem der „Usurpatoren“ an.87 Dagegen werden andere Menschengruppen, die mit einiger Wahrscheinlichkeit überwiegend barbarischer Abstammung waren, nämlich die coloni, laeti, dedictici oder foederati in den Gesetzestexten niemals als Barbaren bezeichnet.88 Diese Auffassung fand ihren Widerhall im Sprachgebrauch der Zeitgenossen. Auch Sidonius Apollinaris handhabte den Barbarenbegriff so, dass allein durch einen Rechtsakt, den Abschluss eines foedus, ein Barbar zum Nicht-Barbaren wurde.89 Ebenso wie der Barbarenbegriff zunehmend zur Bezeichnung von Menschengruppen herangezogen wurde, die ohne vertragliche Legitimation durch die Reichsregierung auf dem Gebiet des Römischen Reiches operierten, könnte dies auch für die Bagauden zutreffen. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass Salvianus selbst die Hauptquelle für die Geschichte der Bagauden des 5. Jahrhunderts ist. Die Bagaudenbewegung hatte im 5. Jahr85

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Salvianus von Marseille, De gubernatione dei, 5, 5. – Übersetzung nach A. H ERF , Des Salvianus, Priester von Marseille acht Bücher über die göttliche Regierung. Bibliothek d. Kirchenväter 44 (Kempten 1877) 134. J. F. D RINKWATER, The Bacaudae in fifth-century Gaul. In: Ders./Elton, Crisis (wie Anm. 61) 208–217, hier 210. S. R UGULLIS, Die Barbaren in den spätrömischen Gesetzen. Eine Untersuchung des Terminus „barbarus“ (Frankfurt u. a. 1992) 41 f. R UGULLIS, Barbaren (wie Anm. 87) 49. H ARRIES, Sidonius (wie Anm. 81) 40.

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hundert vor allem in Gallien und Spanien ihren Schwerpunkt. Anders als ältere Forschergenerationen, die die Bagauden zu spätantiken Klassenkämpfern stilisierte, sieht Drinkwater in den „Bagauden“ im 5. Jahrhundert eine Art Sammelbegriff für jede Form illegaler und gewalttätiger Aktivitäten in Gallien.90 Aufgrund der politischen Nebenbedeutungen verlor der Barbarenbegriff auch für Gallorömer, die an eine grundlegende kulturelle Differenz zwischen Römern und Barbaren glaubten, zunehmend an inhaltlicher Schärfe. Angesichts der immer stärkeren politischen Fragmentierung Galliens stellt sich im Gegenzug zudem die Frage, was in dieser Epoche überhaupt noch als „römisch“ zu bezeichnen ist. Als „römisch“ können etwa Gebiete gelten, die römischer Jurisdiktion unterstanden oder Steuern an den römischen Fiskus abführten.91 Praktisch lassen sich die verschiedenen Herrschaftsgebiete Galliens in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts kaum noch säuberlich in „römisch“ und „barbarisch“ unterteilen. Die politische Entwicklung Galliens im 5. Jahrhundert ist gekennzeichnet durch eine Aufspaltung in wenig stabile politische Einflussgebiete mit schwankenden Grenzen. Neue politische Binnengrenzen trennten diese Herrschaftsbereiche voneinander, es handelte sich nun um barbarische regna oder um Gebiete, die Rom zwar noch nominell unterstanden, tatsächlich aber bereits weitgehend vom Hof isoliert waren; auch Regionen, in denen sich ein Potentat römischer Herkunft dem Einfluss der Reichsregierung widersetzte, wie im Herrschaftsgebiet des Syagrius, unterschieden sich in dieser Hinsicht nicht grundsätzlich. Insgesamt – so Jill Harries – war es nicht einmal vom Standpunkt des römischen Traditionalisten Sidonius Apollinaris aus eindeutig möglich, die Frage zu beantworten, was zu seiner Zeit als „römisch“ und was als „barbarisch“ zu bezeichnen war.92 Während die von historischer Seite beschriebene „Identitätskrise“ sowie die Kreation neuer Rituale und Repräsentationsformen, die zur Stabilisierung bedrohter oder neu etablierter sozialer Positionen erfolgte, für ganz Gallien zu konstatieren sind, beschränkte sich die Ausbildung einer neuen, aufwändigen Bestattungsweise auf das nördliche Gallien. Ausgehend von diesem Befund stellt sich nicht allein die Frage, welche Gruppen in diesem Raum die neue Bestattungsweise erfunden haben, sondern auch, welche besonderen Bedingungen diese Entwicklung hier auslösten. Voraussetzung für derartige Überlegungen ist eine möglichst genaue Kenntnis der Chronologie, die jedoch sowohl hinsichtlich der Entwick90 91 92

D RINKWATER, Bacaudae (wie Anm. 86) 208. H ARRIES, Sidonius (wie Anm. 81) 32. H ARRIES, Sidonius (wie Anm. 81) 44.

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lung der politischen Geographie als auch des betreffenden Fundmaterials nach wie vor erhebliche Unsicherheiten aufweist. In einer wichtigen Studie behandelte Françoise Vallet vor einigen Jahren noch einmal die Chronologie des Fundmaterials des frühesten Reihengräberhorizontes.93 Während in älteren Untersuchungen das Jahr 486, d. h. der Sieg Chlodwigs über Syagrius und die Ausdehnung des fränkischen Machtbereichs über große Teile Nordfrankreichs, als terminus post quem für die frühesten betreffenden Funde südlich der Somme angesehen wurde, löste sich die Forschung im letzten Jahrzehnt zunehmend von dieser Annahme.94 Mittlerweile wurde auch in diesem Gebiet ein „protomerowingischer“ Fundhorizont (Phase A/B/C 1) deutlich, der bereits vor der Eingliederung dieser Gebiete in das Frankenreich einsetzte.95 Da somit kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Expansion des Frankenreiches und dem Aufkommen der frühesten Reihengräberfelder im Raum zwischen Somme und Seine wahrscheinlich gemacht werden kann, könne man Vallet zufolge, das Aufkommen der frühesten Gräber mit Bügelfibeln in Nordgallien nicht als „fränkische Mode“ bezeichnen.96 Über die Träger dieses Phänomens in Nordfrankreich äußerste sich Vallet in diesem Zusammenhang nicht eindeutig. Das Aufkommen der frühesten Gräberfelder in der Picardie und dem Pariser Raum hänge jedenfalls nicht mit der Machtübernahme der Franken zusammen; deshalb seien andere Gruppen, die im Rahmen der römischen Armee bereits in den Jahrzehnten zuvor hier angesiedelt wurden, in Betracht zu ziehen. Unter diesen bildeten die Franken allenfalls einen Teil.97 Vallet zog somit vor allem die germanischen Teile des spätrömischen Militärs und deren Angehörige als Träger der frühesten Reihengräberfelder in Gallien westlich der Somme in Betracht. Gleichzeitig zeigte sie sich aber skeptisch, aus der Verbreitung etwa der Fibeln auf ethnische Identitäten schließen zu können.98 93

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96 97 98

F. V ALLET , Regards critiques sur les témoins archéologiques des Francs en Gaule du Nord à l’époque de Childerich et de Clovis. Ant. Nat. 29, 1997, 219–244. V ALLET , Regards critiques (wie Anm. 93) 219. – P. P ÉRIN , La progression des Francs en Gaule du Nord au Ve siècle. Cahiers Arch. 46, 1998, 5–16, hier 14. (= Geuenich, Franken und Alemannen, 59–82, hier 79). R. L EGOUX , Le cadre chronologique de Picardie. Son application aux autres régions en vue d’une chronologie unifiée et son extension vers le romain tardif. In: X. Delestre/P. Périn (Hrsg.), La datation des structures et de des objets du haut Moyen Âge. Méthodes et résultats. Actes des XVe journées internationales d’Archéologie mérovingienne, Rouen, 4.–6. février 1994 (Saint-Germaine-en-Laye 1998) 137–188, bes. 138; 151, Fig. 2. V ALLET , Regards critiques (wie Anm. 93) 234. V ALLET , Regards critiques (wie Anm. 93) 236. V ALLET , Regards critiques (wie Anm. 93) 239 Anm. 49.

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Vom historischen Standpunkt aus, so betonte Guy Halsall in Anlehnung an Walter Pohl, kämen zahlreiche weitere Gruppen in Frage, die möglicherweise die neue Bestattungsweise kreiert haben könnten,99 etwa einheimische Großgrundbesitzer, militärische Befehlshaber römischer Abstammung oder Bagauden. Keineswegs müsse es sich jedoch um eine einzelne, fest umrissene Gruppe gehandelt haben, etwa im Sinne von Halsalls mittlerweile wieder zurückgezogener Bagaudentheorie von 1992100; ebenso denkbar wäre ein aus mehreren Gruppen zusammengesetztes, diffuses soziales Milieu hochrangiger Personen. Möglicherweise beförderte die in Nordgallien während des 5. Jahrhunderts besonders unübersichtliche politische Lage entsprechende Entwicklungen. Im Laufe des 5. Jahrhunderts vertiefte sich die in spätrömische Zeit zurückreichende politische Zweiteilung Galliens in einen Nord- und einen Südteil, wofür vor allem das Fortleben spätantiker Verwaltungsstrukturen verantwortlich war.101 Im Gallien südlich der Loire erhielten sich nicht allein die spätantiken Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen in stärkerem Maße als in den nördlich angrenzenden Regionen; mit dem sich ab 418 in Südwestgallien allmählich konsolidierenden Westgotenreich, sowie dem Burgundenreich, das nach der von Aetius veranlassten Umsiedlung in die Sapaudia sukzessive große Teile Südostgalliens unter seine Kontrolle brachte, etablierte sich in der südlichen Hälfte Galliens bereits um einige Jahrzehnte früher als im nördlichen Teil eine verhältnismäßig stabile politische Ordnung. Im Vergleich zum südlichen Gallien unterstand dessen nördlicher Teil de jure wesentlich länger der unmittelbaren Herrschaft der römischen Zentralregierung. De facto gewannen die Befehlshaber dieser Regionen – seien sie nun wie Syagrius römischer Herkunft, oder wie Childerich barbarischer – immer größere Unabhängigkeit. Möglich wurde diese Entwicklung nicht zuletzt durch die Tatsache, dass der nördliche Teil Galliens durch die Konsolidierung der Nachfolgestaaten im Süden Galliens geographisch immer mehr vom Mittelmeerraum abgeschnitten wurde. In Nordgallien dauerte somit jene die Kreativität fördernde Periode, in der die führenden Familien ohne „Referenzpunkt für die Legitimität ihrer Macht dastanden“102, deutlich länger an als im Süden Galliens. 99 100 101

102

H ALSALL , Föderatengräber, 178. H ALSALL , Reihengräberzivilisation, 205–207. – D ERS., Föderatengräber, 179. U. N ONN , Zur Verwaltungsorganisation in der nördlichen Galloromania. In: Geuenich, Franken und Alemannen, 82–94, bes. 89. – H. F EHR, s. v. Loire. In: RGA2, Bd. 18 (Berlin, New York 2001) 571–575, hier 573 f. J USSEN , Liturgie (wie Anm. 54) 79.

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Wie Bernhard Jussen anhand einer Reihe von Beispielen eindrucksvoll demonstrierte, griffen die betroffenen Eliten Galliens im 5. Jahrhundert zu einer „Vielzahl von Akten lokaler Selbsthilfe“,103 um ihre soziale Position zu stabilisieren. Grundsätzlich ist es sehr plausibel, wenn im Rahmen der Umformung der „kulturellen Semantik“, die in diesem Zeitraum zu konstatieren ist, als Teil der „Produktion kulturellen Sinns“ auch eine neue Bestattungsweise geschaffen oder aufgegriffen wurde. Die Prunkbestattungen des 5. Jahrhunderts wirkten sicher sozial distinktiv. Möglicherweise wurde ausgehend von diesem Vorbild eine Bestattungsweise geschaffen, die für größere Bevölkerungsteile zu einem festen Bestandteil der kulturellen Semantik wurde. In diesem Sinne wäre der Reihengräberhorizont Teil und Ausdruck einer kulturellen Neuorientierung, die an der Peripherie des auseinanderbrechenden Römischen Reiches vollzogen wurde, und zwar von einer Bevölkerung, die sich sowohl aus Menschen barbarischer wie nichtbarbarischer Herkunft zusammensetzte. Angesichts des großen Aufwands, den anfangs die Prunkbestattungen, später die Reihengräberfelder insgesamt erforderten, ist es m. E. durchaus naheliegend, in dieser neuen Bestattungsweise mit Jussen ein neu geschaffenes „Konsensritual“ zu sehen.104 Für einen bedeutenden Anteil römischer Wurzeln in diesem Ritual spricht, dass es sich bei dieser Bestattungsweise zwar insgesamt um eine Neuschöpfung des 5. Jahrhunderts handelte, sein „Vokabular“105 jedoch zum großen Teil römischen Traditionen entlehnt wurde.106

c) Die Grenzen des Reiches und die Herausbildung einer „Grenzkultur“ in der Spätantike Ein Phänomen des ehemals römischen Gebiets und seiner Peripherie? Zu den Paradoxa der „germanischen“ Interpretation des Reihengräberhorizontes zählt seit jeher die altbekannte Tatsache, dass die typischen Reihengräberfelder vor allem auf ehemals römischem Boden verbreitet sind, während sie im eigentlichen germanischen Kerngebiet, der Germania, weitgehend fehlen. Bereits Anfang der 1920er Jahre wies Peter Goeßler auf diesen Sachverhalt hin, indem er formulierte, dass „Reihengräber nur innerhalb des 103 104 105 106

J USSEN , Liturgie (wie Anm. 54) 79. Wie Anm. 71. H ALSALL , Föderatengräber, 178. Vgl. Kap. 18b–e.

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einstigen Römischen Reiches und eines schmalen daran angrenzenden Streifens gefunden werden“.107 Durch die Forschung der letzten Jahrzehnte hat sich an diesem Befund grundsätzlich nichts geändert, obwohl sich in einigen Regionen, etwa im westfälischen Raum,108 das Fundbild verdichtet hat. Joachim Werners Verbreitungskarte der Reihengräberfelder des 7. Jahrhunderts, die er aus mehreren älteren Kartierungen zusammenstellte,109 spiegelt diese Tatsache noch immer eindrucksvoll wider, auch wenn im Einzelnen zu diskutieren wäre, welche Gräberfelder hier als „Reihengräberfelder“ kartiert wurden.110 Die Reihengräberfelder, die nicht auf ehemals römischem Boden angelegt wurden, streuen nicht gleichmäßig jenseits der einstmaligen Grenze, sondern konzentrieren sich in bestimmten Regionen. Grundsätzlich stellt sich somit die Frage, weshalb die Bewohner dieser Gebiete im frühen Mittelalter nahezu identische Bestattungsgewohnheiten wie die Bevölkerung Nordgalliens pflegten, wogegen der überwiegende Teil der eigentlichen „Germanen“, d. h. der Bewohner der Germania, andere Formen der Grablegung bevorzugten. Die charakteristische Verbreitung der Reihengräberfelder zeichnet sich bereits in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts ab,111 also bevor dieses Gebiet im Merowingerreich politisch zusammengefasst wurde. Die strukturellen Voraussetzungen für dieses Phänomen müssen deshalb in der davor liegenden Epoche gesucht werden. Eine Schlüsselrolle kommt dabei der Frage zu, welche besonderen Beziehungen die Bewohner dieser Gebiete bereits während der späten Kaiserzeit bzw. in der Spätantike zum Römischen Reich unterhielten, und inwiefern sie sich dadurch von den übrigen Teilen der Germania unterschieden. Lediglich in Thüringen zeigt sich ein Verbreitungsschwerpunkt der Reihengräberfelder, der deutlich vom ehemaligen Reichsgebiet entfernt liegt. Dies ist bemerkenswert, da Thüringen aus archäologischer Sicht bereits seit der jüngeren Kaiserzeit einige besonders deutliche Bezüge zum Römischen 107

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P. G OESSLER, An der Schwelle vom germanischen Altertum zum Mittelalter. Württ. Vierteljahrsh. Landesgesch. 30, 1921, 1–24, hier 22. Vgl. etwa C HR . G RÜNEWALD , Frühmittelalterliche Gräberfelder im Münsterland. In: Ch. Stiegemann/M. Wemhoff (Hrsg.), 799 – Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Beiträge zum Katalog der Ausstellung Paderborn 1999 (Mainz 1999) 246–255. – F. S IEGMUND , Frühmittelalterliche Gräberfelder in Ostwestfalen. Ebd., 256–262. J. W ERNER, Verbreitung der Reihengräberfelder im 7. Jh. In: E. W. Zeeden (Hrsg.), Großer Historischer Weltatlas, Zweiter Teil, Mittelalter. Erläuterungen (München 1983) 48 f. J. W ERNER, Verbreitung der Reihengräberfelder im 7. Jh. In: J. Engel (Hrsg.), Großer Historischer Weltatlas. II. Teil: Mittelalter (München 1970) 64. Vgl. Kap. 18.

Abb. 35: Verbreitung der Reihengräberfelder im 7. Jh. (nach W ERNER, Verbreitung [wie Anm. 110]).

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Reich aufweist. Erinnert sei beispielsweise an die Töpferei von Haarhausen, in der während der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts in römischer Produktionsweise und Formgebung Keramik produziert wurde.112 Auch die jüngerkaiserzeitlichen „Fürstengräber“ des Typs Hassleben-Leuna, die in Thüringen einen Verbreitungsschwerpunkt besitzen, deuten in ihren Inventaren, wie bereits seit langem bekannt ist, auf enge kulturelle Verbindungen der dortigen Eliten zum Römischen Reich hin.113 In der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts sowie im frühen 6. Jahrhundert zeichnet sich zudem eine politische Sonderrolle des thüringischen Raumes ab. Parallel zum Aufkommen der ersten Reihengräberfelder in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts entstand hier das Kerngebiet des Thüringerreichs.114 In den Jahrzehnten um 500 spielte die thüringische Königsfamilie eine nicht unbedeutende Rolle in der internationalen Politik. In dieser Hinsicht unterschied sich Thüringen somit nicht nur von benachbarten Herrschaftsbildungen im Barbaricum, sondern ebenfalls von den Kleinkönigen der Alamannia. Im fraglichen Zeitraum lässt sich ein beachtlicher militärischer Aktionsradius des Thüringerreiches feststellen, der weit nach Süden bis in die ehemals römischen Gebiete Bayerns ausgriff. Über Heiratsbeziehungen knüpften die Thüringer zudem enge Kontakte zu den Nachfolgestaaten auf weströmischem Boden. Das überregionale Ansehen sowie die weitreichenden Verbindungen des Thüringerreiches lassen sich sogar noch nach der Zerschlagung der thüringischen Herrschaft durch die Franken nachweisen: Amalafred, der Sohn des letzten Thüringerkönigs Hermenefred, konnte immerhin als hoher Offizier in oströmische Dienste treten.115 112 113

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S. D USˇ EK , s. v. Haarhausen. RGA2, Bd. 13 (Berlin, New York 1999) 244–246. J. W ERNER, Bemerkungen zur mitteldeutschen Skelettgräbergruppe HasslebenLeuna. Zur Herkunft der ingentia auxilia Germanorum des gallischen Sonderreichs in den Jahren 259–274 n. Chr. In: H. Beumann (Hrsg.), Historische Forschungen für Walter Schlesinger (Köln, Wien 1974) 1–30. – S TEUER, Sozialstrukturen, 220–229. – Zum kulturellen Charakter der kaiserzeitlichen Fürstengräber in der Germania allgemein: D ERS., Fürstengräber der Römischen Kaiserzeit in Germanien – Bestattungen von Grenzgängern. In: M. Fludernik/H.-J. Gehrke (Hrsg.), Grenzgänger zwischen Kulturen. Identitäten und Alteritäten 1 (Würzburg 1999) 379–392. Zum völkerwanderungszeitlichen Thüringerreich vgl. etwa B. S CHMIDT , Die Thüringer. In: B. Krüger (Hrsg.), Die Germanen. Geschichte und Kultur der germanischen Stämme in Mitteleuropa. Bd. II (Berlin 1983) 502–548. – D ERS., Die späte Völkerwanderungszeit in Mitteldeutschland. 3 Bde. (Halle, Berlin 1961–75). – G. B EHM B LANCKE , Gesellschaft und Kunst der Germanen. Die Thüringer und ihre Welt (Dresden 1973). – H. C ASTRITIUS /D. G EUENICH / M. W ERNER (Hrsg.), Die Frühzeit der Thüringer. Archäologie, Sprache, Geschichte. Ergbde RGA 63 (Berlin, New York 2009). S CHMIDT , Thüringer (wie Anm. 114) 504. – Prokop, Bell. Goth. VIII, 25.

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Ein Sonderfall ist neben dem thüringischen Gebiet auch das ehemalige Limeshinterland in Südwestdeutschland, das in den Jahren um 260 von der römischen Administration geräumt wurde. Auf Werners Kartierung zeichnete sich bemerkenswerterweise der rätische Teil des Obergermanischen und Rätischen Limes als nördliche Verbreitungsgrenze der Reihengräberfelder ab. An diesem Befund haben auch neuere Forschungen wenig geändert.116 Noch im frühen Mittelalter spiegelt der Verlauf des ehemaligen Limes zumindest abschnittsweise eine spürbare Schwelle wider, die die Kernzone des Reihengräbergebietes von jenen peripheren Gebieten scheidet, in denen die Gräberfelder dieses Typs lediglich schütter verbreitet sind. Möglicherweise ist in der Tatsache, dass das von den Römern nach 260 aufgegebene Limeshinterland – im Gegensatz zu den übrigen Teilen der Germania – von Anfang an einen integralen Bestandteil des Kerngebietes des Reihengräberhorizontes bildete,117 ein indirekter Hinweis dafür zu sehen, dass dieses Gebiet bereits in der Spätantike besonders intensiv mit dem römischen Bereich verbunden war. In diesem Sinne wies Horst Wolfgang Böhme auf die besondere Bedeutung des spätantiken Südwestdeutschlands als wichtige Kontaktzone zwischen dem Römischen Reich und den grenzferneren Teilen der Germania hin. Die archäologischen Quellen in diesem Gebiet legen besonders enge kulturelle Kontakte mit dem römischen Bereich nahe, die den weiter entfernt lebenden Germanen versagt geblieben seien.118 Wie bereits ausführlich gezeigt, betrachteten die Gründerväter der Reihengräberforschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Rückzug Roms aus dem heutigen Südwestdeutschland als einen Sieg der Germanen, die den Römern somit ein Stück neuen „Lebensraums“ abgetrotzt hätten. Gegen die Vorstellung einer engen kulturellen Bindung dieses Gebiets an das Römische Reich nach dem Ende der unmittelbaren römischen Herrschaft sprachen ferner das Konzept der germanischen „Landnahme“ sowie die – ideologisch motivierte – Stellungnahme gegen fast jede Form kultureller und personeller Kontinuität von der römischen in die nachrömische Zeit. Diese Interpretationstradition setzte sich in der Nachkriegszeit weitgehend ungebrochen fort; erst in den letzten beiden Jahrzehnten belebte sich die Diskussion in dieser Frage erneut.119 116 117 118

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W. M ENGHIN , Frühgeschichte Bayerns (Stuttgart 1990) 80 Abb. 65. Vgl. dazu Q UAST , Reihengräberfelder (wie Anm. 5) 171–190. H. W. B ÖHME , Germanen im Römischen Reich. Die Spätantike als Epoche des Übergangs. In: W. Menghin/D. Planck (Hrsg.), Menschen, Zeiten, Räume – Archäologie in Deutschland (Stuttgart 2002) 295–305, hier 296; 300. C. T HEUNE , Forschungen zur Ethnizität der Alamannen im 19. und 20. Jahrhundert. Ethnogr.-Arch. Zeitschr. 42, 2001, 393–415, bes. 407–411. – Ausführlich dazu jetzt: C. T HEUNE , Germanen und Romanen in der Alamannia. Strukturveränderungen auf-

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Durch die historische und archäologische Forschung der beiden letzten Jahrzehnte hat sich die Einschätzung der Ereignisse um das Jahr 260 grundlegend gewandelt. Das Ende des Obergermanischen und Rätischen Limes wird nicht mehr als militärischer Erfolg der Germanen gewertet, sondern als Ergebnis eines mehrstufigen Prozesses, bei dem verschiedene Entscheidungen der römischen Administration den Ausschlag gaben. Zudem deutet sich an, dass es einen einheitlichen „Limesfall“ wohl nicht gegeben hat und die Entwicklung im raetischen Abschnitt des Limes anders verlief als in Obergermanien.120 Eine wichtige Etappe dieses Prozesses war der Abzug römischer Truppen vom Limes unter Kaiser Valerian im Jahre 256, der in Zusammenhang mit der militärischen Bedrohung des Reiches im Osten durch die Perser stand. Weiter geschwächt wurde die römische Militärpräsenz durch die Auseinandersetzungen zwischen dem gallischen Sonderreich und der römischen Zentralregierung seit 260. Möglicherweise ermutigt durch eine der Bürgerkriegsparteien, aber auch durch eigenständige Plünderungszüge, spielten Germanen bei dieser Entwicklung eine gewisse Rolle.121 Nach dem Ende des Limes ließen sich – zum Gutteil wohl mit Billigung der römischen Behörden122 – Neuansiedler aus der Germania in diesem Gebiet nieder. Dennoch deuten verschiedene Indizien auch auf ein Fortleben bestimmter Teile der einheimischen Bevölkerung hin. Obwohl sich der archäologische Nachweis einer Kontinuität noch immer schwierig gestaltet, wird eine solche mittlerweile allgemein vorausgesetzt.123 Nach wie vor behindert die schlechte Quellenlage in der Zeit zwischen 260 und der Mitte des 5. Jahrhunderts eine adäquate Beurteilung dieser Frage.124 Schwierigkei-

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grund der archäologischen Quellen vom 3. bis zum 7. Jahrhundert. Ergbde. RGA 45 (Berlin, New York 2004). M. R EUTER, Das Ende des raetischen Limes im Jahr 254 n. Chr. Bayer. Vorgeschbl. 72, 2007, 77–149. L. O KAMURA , Alamannia devicta. Roman-german conflicts from Caracalla to the first tetrarchy (A.D. 213–305). Diss. Masch. (Ann Arbor 1984). – H. U. N UBER, Das Ende des Obergermanisch-Rätischen Limes – eine Forschungsaufgabe. In: Ders. u. a. (Hrsg.), Archäologie und Geschichte des ersten Jahrtausends in Südwestdeutschland. Arch. u. Gesch., Freib. Forsch. z. Ersten Jahrtausend 1 (Sigmaringen 1990) 51 ff. H. U. N UBER, Zur Entstehung des Stammes der Alamanni aus römischer Sicht. In: Geuenich, Franken und Alemannen, 367–383. bes. 376–379. – D ERS., Zeitenwende rechts des Rheins. Rom und die Alamannen. In: Die Alamannen (wie Anm. 5) 59–68, bes. 67 f. – Ich danke Herrn Dr. Marcus G. Meyer, Esslingen für weitere Hinweise in dieser Frage. B ÖHME , Spätantike (wie Anm. 118) 299 f. G. F INGERLIN , Siedlungen und Siedlungstypen. Südwestdeutschland in frühalamannischer Zeit. In: Die Alemannen (wie Anm. 5) 125–134.

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ten bereitet zudem die Tatsache, dass sowohl die provinzialrömische Forschung als auch die Archäologie der Völkerwanderungszeit meist noch immer mit einem strengen römisch-germanischen Dualismus in der Sachkultur rechnet. Ein deutliches Indiz für das Fortleben einheimischer Bevölkerung in gewissen Ausmaß ist die regional festzustellende Kontinuität des regulären römischen Münzumlaufs.125 Zwar ist es zutreffend, dass Münzfunde nach 260 nicht zwangsläufig einer fortlebenden Provinzialbevölkerung zuzuschreiben sind;126 allerdings deutet gerade die Weiterverwendung inflationären Kleinstgeldes in der Zeit nach dem „Limesfall“ eher auf fortlebende römische Verhaltensweisen hin, als auf die Übernahme der antiken Geldwirtschaft durch germanische Migranten aus dem Inneren der Germania.127 Bemerkenswert ist ferner die Tatsache, dass dieses Kleinstgeld nicht allein in „frühalemannischem“ Kontext verwendet wurde; die Bewohner der Siedlung von Bietigheim „Weileren“ versuchten sogar dem Mangel an Kleingeld Abhilfe zu schaffen, indem sie entsprechende Kleinnominale selbst herstellten, wie der Fund entsprechender Schrötlinge zeigt.128 In einer wichtigen siedlungskundlichen Untersuchung über die Wetterau konstatierte Bernd Steidl eine gewisse, allerdings „germanische“ Kontinuität der Bevölkerung vom 3. bis zum 5. Jahrhundert. Steidl zufolge deuteten hier bereits im späten 2. und 3. Jahrhundert Funde typisch „germanischer“ Fibelformen sowie handgemachter Keramik auf die Anwesenheit von Germanen hin. Diese Elemente lebten ohne Bruch von der Limeszeit in die Nachlimeszeit fort. Anhand dieser Beobachtung stellte Steidl folgendes Modell zur Diskussion: Mit dem Ende der römischen Herrschaft habe nicht allein die römische Oberschicht das Limesgebiet verlassen, sondern die gesamte gallorömische Bevölkerung; lediglich die bereits ansässige, teilweise romanisierte germanische Bevölkerung sei vor Ort verblieben und durch Neuankömmlinge aus der Germania ergänzt worden.129 125

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K. S TRIBNY, Römer rechts des Rheins nach 260 n. Chr. Kartierung, Strukturanalyse und Synopse spätrömischer Münzreihen zwischen Koblenz und Regensburg. Ber. RGK 70, 1989, 351–505. N UBER, Entstehung (wie Anm. 122) 374 f. B. S TEIDL , Die Wetterau vom 3. bis 5. Jahrhundert n. Chr. Materialh. z. Vor- u. Frühgesch. Hessen 22 (Wiesbaden 2000) 122. G. B ALLE , Germanische Gefäßkeramik aus der frühalamannischen Siedlung von Bietigheim „Weileren“. In: S. Biegert u. a. (Hrsg.), Beiträge zur germanischen Keramik zwischen Donau und Teutoburger Wald (Bonn 2000) 183–193, hier 183 f. S TEIDL , Wetterau (wie Anm. 127) 126.

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Grundlage für diese Interpretation ist jedoch, dass die traditionellen archäologischen Indikatoren für germanische Präsenz tatsächlich tragfähig sind; löst man sich von dieser Vorstellung, wäre auch denkbar, dass hier weniger der Abzug einer ethnisch definierten gallorömischen Bevölkerung als vielmehr ein Exodus bestimmter sozialer Schichten, vor allem der provinzialen Ober- und Mittelschichten, zu konstatieren ist; die von Steidl herausgearbeitete Kontinuität der Bevölkerung beträfe somit weniger allein die „germanischen“ Bevölkerungsteile als vielmehr auch solche Gruppen, die auf die Fortführung traditionell römischer Lebens- und Siedlungsformen keinen Wert legten. Für das Fortleben typischer Verhaltensweisen der regionalen römischen Eliten fehlen im Limesgebiet dagegen sichere Hinweise. Dieser Befund steht somit im Gegensatz zu Dakien, das zur selben Zeit von der römischen Administration aufgegeben wurde, und wo entsprechende Indizien vorliegen.130 An Elementen römischen Lebensstils lassen sich in der völkerwanderungszeitlichen Alamannia sowohl die Verwendung bzw. Nachahmung römischer Insignien, wie Militärgürteln und Zwiebelknopffibeln, als auch – anhand von Reibschalen – römische Speisegewohnheiten nachweisen.131 Auffällig ist zudem, dass eine ganze Reihe der frühesten nachlimeszeitlichen Siedlungsplätze, wie Wurmlingen, Bietigheim-Weileren, Heidenheim oder Aalen, in oder in unmittelbarer Nähe bedeutender römischer Siedlungsplätze angelegt wurden.132 Die Beobachtung einer gleichläufigen Entwicklung des Siedlungswesens in Nordgallien, die weitgehend unabhängig von germanischem Zuzug ablief,133 muss in diesem Zusammenhang davor warnen, das Vorkommen von handgemachter Keramik, Grubenhäusern oder gar einzelner Pfostenstellungen allzu mechanisch als Beleg für die An-

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A. D IACONESCU , Ornamenta dignitatis. Gradabzeichen und Symbole des sozialen Status bei den lokalen Eliten von Dakien nach dem Aurelianischen Rückzug. Acta Mus. Napocensis 36, 1999, 203–243. C HR . B ÜCKER, Reibschalen, Gläser und Militärgürtel. Römischer Lebensstil im freien Germanien. In: Die Alamannen (wie Anm. 5) 135–141. F INGERLIN , Siedlungen (wie Anm. 124) bes. 130. – M. R EUTER, Germanische Siedler des 3. und 4. Jahrhunderts in römischen Ruinen. Arch. Ausgr. Baden-Württemberg 1995, 204–208. – R. K RAUSE , Alamannen am Sauerbach, neue Siedler nach Abzug des römischen Militärs in Aalen, Ostalbkreis. Arch. Ausgr. Baden-Württemberg 1997, 135–139. – M. S CHOLZ , Römische Kavalleriekasernen und frühalamannisches Gehöft – Vorbericht der Ausgrabungen im Reiterkastell Heidenheim 2000/01. Jahrb. Heimat- u. Altver. Heidenheim 2001/2002, 89–126, hier 98 f. P. V AN O SSEL , La part du Bas-Empire dans la formation de l’habitat rural du VIe siècle. In: N. Gauthier/H. Galinié (Hrsg.), Grégoire de Tours et l’espace gaulois. Actes du congrès international Tours, 3.–5. novembre 1994 (Tours 1997) 81–91.

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wesenheit germanischer Neusiedler zu werten.134 Zudem waren manche dieser Merkmale, wie Steidl zeigen konnte, bereits vor 260 im Limesgebiet geläufig. Für die grenznahen Bereiche werden zudem noch unmittelbarere Formen römischer Präsenz angenommen. In Ladenburg konnte ein spätrömischer Burgus mit Schiffslände dokumentiert werden, der belegt, dass der Neckar auch in der Spätantike für Patroulliefahrten und Transporte genutzt wurde.135 Hans Ulrich Nuber zufolge zählte das Gebiet rechts des Rheins zwar nicht mehr zum unmittelbar römisch verwalteten Bereich, allerdings auch nicht zur eigentlichen Alamannia, deren Kerngebiet sich jenseits des Schwarzwaldes erstreckte.136 Somit ordnet Nuber letztlich auch die Höhensiedlungen137 am rechtsrheinischen Oberrhein in einen römischen Kontext ein, ohne jedoch näher zu präzisieren, in welcher Form dies geschah. Die mit gewaltigem Aufwand errichtete Höhensiedlung auf dem Zähringer Burgberg138 erfüllte ihm zufolge eine Funktion innerhalb der römischen Militärkonzeption am Oberrhein.139 Die Architektur der Höhensiedlung auf dem Zähringer Burgberg, aber auch der Befestigung in der Mainschleife bei Urphar in Unterfranken,140 deuten Böhme zufolge ebenfalls auf eine enge Anbindung an den römischen Bereich hin. In diesen Anlagen sieht Böhme nicht nur Imitationen der spät134

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Ein extremes Beispiel dieser Argumentationsweise bietet jetzt: K. H. L ENZ , Germanische Siedlungen des 3. bis 5. Jahrhunderts in Gallien. Schriftliche Überlieferung und archäologischer Befund. Ber. RGK 86, 2005, 349–444, bes. 386 ff. B. H EUKEMES, Der spätrömische Burgus von Lopodunum – Ladenburg am Neckar. Fundber. Baden-Württemberg 6, 1981, 433–473. – C. S. S OMMER, Vom Kastell zur Stadt. Lopodunum und die Civitas Ulpia Sueborum Nicrensium. In: H. Probst (Hrsg.), Ladenburg (Ubstadt-Weiher 1998) 81–201, hier 180–184. H. U. N UBER, Die Römer am Oberrhein. In: M. Filgis u. a., Das römische Badenweiler. Führer z. arch. Denkm. Baden-Württemberg 22 (Stuttgart 2002) 9–20, hier 17–19. M. H OEPER /H. S TEUER, Eine völkerwanderungszeitliche Höhenstation am Oberrhein – der Geißkopf bei Berghaupten, Ortenaukreis. Höhensiedlung, Kultplatz oder Militärlager? Germania 77, 1999, 185–246. – M. H OEPER, Die Höhensiedlungen der Alemannen und ihre Deutungsmöglichkeiten zwischen Fürstensitz, Heerlager, Rückzugsraum und Kultplatz. In: Geuenich, Franken und Alemannen, 325–348. – D ERS., Völkerwanderungszeitliche Höhenstationen am Oberrhein. Geißkopf bei Berghaupten und Kügeleskopf bei Ortenberg. Freiburger Beitr. z. Arch. u. Gesch. d. Ersten Jahrtausends, Bd. 12 (Ostfildern 2003). H OEPER /S TEUER, Höhenstation (wie Anm. 137) hier 189–197. H. U. N UBER /M. R EDDÉ , Le site militaire romain d’Oedenburg (Biesheim-Kunheim, Haut-Rhin, France). Germania 80, 2002, 169–242, bes. 234 Anm. 121. L. W AMSER, Eine völkerwanderungszeitliche Befestigung im Freien Germanien: Die Mainschleife bei Urphar, Markt Kreuzwertheim, Landkreis Main-Spessart, Unterfranken. Arch. Jahr Bayern 1981, 156 f.

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römischen Höhensiedlungen auf der linken Rheinseite,141 sondern deutet sogar die Mitarbeit römischer Bauleute an.142 Insgesamt scheint die Diskussion um das Verhältnis zwischen der Alamannia und dem Römischen Reich einerseits sowie hinsichtlich der Frage der Kontinuität zwischen römischer und völkerwanderungszeitlicher Besiedlung in Südwestdeutschland andererseits in Bewegung gekommen zu sein. Die diesbezügliche Diskussion steht jedoch in vielen Punkten noch am Anfang. Die gewisse Unsicherheit, die in diesem Zusammenhang bei der Frage nach der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung römischer Herrschaft und ihrem Verhältnis zu den benachbarten Germanen zu erkennen ist, entspricht dabei weitgehend einer differenzierteren und komplexeren Sichtweise römischer Grenzen insgesamt, die sich im letzten Jahrzehnt durchgesetzt hat. Grenze, Grenzkultur und Grenzstil Seit ihren Anfängen bewegte sich die Diskussion um die ethnische Interpretation der frühmittelalterlichen Reihengräber innerhalb eines strengen germanisch-römischen Dualismus’. Wie im letzten Kapitel anhand des Beispiels des spätantiken Südwestdeutschlands gezeigt wurde, bereitet es der Forschung jedoch zunehmend Schwierigkeiten, im archäologischen Material diese beiden kulturellen Sphären empirisch voneinander abzugrenzen. Zahlreiche archäologische Phänomene entziehen sich einer klaren Zuordnung. Manche archäologischen Merkmale, die auch bei den Anfängen des Reihengräberhorizontes eine Rolle spielen, weisen in die ehemaligen Grenzregionen des Römischen Reiches, ohne hier klar der einen oder anderen Seite zugewiesen werden zu können. Ein theoretisches Modell, das eine einleuchtende Erklärung für diese empirische Beobachtung bietet, ist das Konzept einer „Grenzkultur“ entlang der Römischen Reichsgrenze, das auf Charles Richard Whittaker zurückgeht. Legt man dieses Konzept bei der Interpretation des frühen Reihengräberhorizontes zugrunde, so kommen nicht mehr nur zwei kulturelle Sphären dafür in Frage, an der Ausbildung der Reihengräberfelder beteiligt gewesen zu sein, sondern drei:

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Vgl. dazu K.-J. G ILLES, Spätrömische Höhensiedlungen in Eifel und Hunsrück. Trierer Zeitschr., Beih. 7 (Trier 1985). B ÖHME , Spätantike (wie Anm. 118) 297; 299. – In Bezug auf den Zähringer Burgberg ähnlich auch N UBER, Oedenburg (wie Anm. 139) 234 Anm. 121.

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1) die eher zivil geprägte Kultur des provinzialen Hinterlandes 2) die Grenzregion zu beiden Seiten der römischen Reichsgrenze mit einer weitgehend eigenständigen „Grenzkultur“, in der römische, barbarische und militärische Kulturkomponenten unauflösbar miteinander verschmolzen 3) das kulturelle Milieu der Germania jenseits der Grenzzone zum Römischen Reich. Für die Plausibilität des Modells einer solchen Grenzkultur spricht auch, dass die empirische Forschung in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem verblüffend ähnlichen Ergebnis gelangte. In Hinblick auf die betreffenden archäologischen Forschungen zog Horst Wolfgang Böhme das Fazit, während der Spätantike habe eine kulturelle „Angleichung der Gebiete östlich und westlich der Rheingrenze“ stattgefunden: Gerade in dieser Zone beiderseits der alten Grenze scheint es seit dem frühen 4. Jahrhundert zu einer engen Symbiose zwischen Germanen und Römern gekommen zu sein.143

Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Feststellung für die Anfänge des Reihengräberhorizontes? Wie gezeigt, führte man als Indiz für den germanischen Charakter der Reihengräberfelder insgesamt immer wieder das Argument an, die Reihengräberfelder auf ehemals römischem Reichsboden entsprächen weitgehend jenen im germanischen Bereich jenseits der römischen Grenzen. Voraussetzung für diese Ansicht war die Prämisse, die römische Reichsgrenze habe eine scharfe kulturelle Scheidelinie gebildet, die weitgehend undurchlässig für kulturelle Einflüsse war. Lediglich die Germanen hätten sie überwinden können, indem sie in römische Dienste traten oder sich auf dem Gebiet des Römischen Reiches niederließen. Eine solche Betrachtungsweise wird von der interdisziplinären Forschung, die sich sowohl aus historischer als auch aus grundsätzlicher Perspektive im letzten Jahrzehnt verstärkt mit dem Problem der „Grenzen“ beschäftigt hat,144 zunehmend verneint. Zahlreiche Faktoren deuten vielmehr darauf hin, dass weniger ein vorwiegend germanisches Milieu als vielmehr eine konvergierende kulturelle Zone zu beiden Seiten der römischen Militärgrenze einen bedeutenden Anteil an der Ausbildung des Reihengräberhorizontes hatte. Abgesehen von 143 144

B ÖHME , Spätantike (wie Anm. 118) 296; 300. Vgl. etwa D. A BULAFIA /N. B EREND (Hrsg.), Medieval Frontiers: Concepts and practices (Aldershot, Burlington 2002). – W. P OHL /I. W OOD /H. R EIMITZ (Hrsg.), The transformation of frontiers. From Late Antiquity to the Carolingians. Transformation of the Roman World 10 (Leiden, Boston, Köln 2001). – F LUDERNIK / G EHRKE , Grenzgänger (wie Anm. 113).

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der Frage, inwieweit sich diese kulturellen Sphären noch säuberlich in „germanisch“ und „römisch“ trennen lassen, stehen diese Überlegungen mit dem oben genannten Fazit Böhmes durchaus im Einklang. Anhand der von Whittaker entwickelten Konzepte einer „Grenzkultur“ und eines „Grenzstils“ ist es jedoch möglich, die These einer kulturellen Zone beiderseits der Reichsgrenzen noch einmal entscheidend zu vertiefen. In den letzten zwei Jahrzehnten gelangte die Forschung verschiedentlich zur Auffassung, dass die traditionelle ethnische Dichotomie von „germanisch“ versus „römisch“ nicht allein versagt, wenn es gilt, mentale und politische Binnengrenzen innerhalb Galliens im 5. Jahrhundert zu beschreiben, sondern ebenfalls bei der Analyse jener kulturellen Prozesse, die seit der Spätantike an der Grenze an Rhein und Donau zu beobachten sind. Während die ältere Forschung – letztlich in Fortschreibung der antiken ethnographischen Tradition – davon ausging, dass die militärische Grenze des Reiches gleichzeitig eine scharfe kulturelle, ethnische, mitunter sogar ethische145 Scheidelinie bildete, setzt sich zunehmend die Auffassung durch, dass solche Vorstellungen verfehlt sind. Entgegen der älteren linearen Auffassung von Grenzen stieß seit den 1980er Jahren auch in den Altertumswissenschaften das Konzept der Grenze als einer „Zone“ allmählich auf breite Zustimmung.146 Die traditionelle Vorstellung der Grenze als einer scharfen Scheidelinie zwischen Völkern und Staaten wird häufig auf die Theorie der Grenze zurückgeführt, die der Geograph und Vordenker der Geopolitik Friedrich Ratzel am Ende des 19. Jahrhunderts im Rahmen seiner „Politischen Geographie“ entwickelte.147 Vergleichbare Denkmuster reichen bis in die Antike zurück.148 Ratzel betrachtete Staaten als Organismen, die an ein bestimmtes Territorium gebunden sind149 und mit anderen Staaten um „Lebensraum“ konkurrieren. Ratzels Modell zufolge verschieben sich Grenzen lediglich 145

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Vgl. A. A LFÖLDI , Die ethische Grenzscheide am römischen Limes. Schweizer Beitr. allg. Gesch. 8, 1950, 37–50. P. K EHNE , s.v. Grenze, Historisches. In: RGA2, Bd. 13 (Berlin, New York 1999) 10–15, hier 12. B. I SSAC, An open frontier. In: P. Brun/S. van der Leeuw/Ch. R. Whittaker (Hrsg.), Frontières d’empire. Nature et signification des frontières romaines. Actes de la table ronde internationale de Nemours, 21–22–23 mai 1992. Mém. Mus. Préhist. d’Ile de France 5 (Nemours 1993) 105–114, hier 105 f. – W HITTAKER, Frontiers, 5 ff. H.-J. G EHRKE , Artifizielle und natürliche Grenzen in der Perspektive der Geschichtswissenschaft. In: Fludernik/Gehrke, Grenzgänger (wie Anm. 113) 27–33, hier 28 f. F. R ATZEL , Politische Geographie (3München, Berlin 1923) 1–16. – Zu Bedeutung Ratzels vgl. auch G. ÓT UATHAIL , Geopolitik – zur Entstehungsgeschichte einer Disziplin. In: Geopolitik. Zur Ideologiekritik politischer Raumkonzepte. Kritische Geographie 14 (Wien 2001) 9–28, hier 16 ff.

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im Zuge von Kriegen und Völkerbewegungen, grundsätzlich prallen an ihnen verschieden geartete Staats-Organismen aufeinander. Aus dieser Sicht sind Grenzen viel mehr als Linien, die unterschiedliche politische Einflusssphären voneinander trennen: In den Schranken seines Staates entwickelt ein Volk sich wirtschaftlich wie geistig eigenartig und so wird seine politische Grenze mit der Zeit zugleich die Scheide kulturlicher Eigenart.150

In ähnlicher Weise betrachteten zahlreiche Gelehrte bis weit in das 20. Jahrhundert hinein die Außengrenze des Römischen Reiches als Linie, an der sich zwei grundverschiedene kulturelle Sphären gegenüber standen. Vor allem in der Zeit des Kalten Kriegs dürfte die Existenz des Eisernen Vorhangs das Fortschreiben entsprechender Interpretationen gefördert haben. Andreas Alföldi zufolge war der römische Limes an Rhein und Donau zugleich auch die Scheidewand zweier wesensfremder geistiger Welten, bei denen auch die Moral am anderen Ufer nicht mehr galt, die ethischen Bindungen für die Menschen jenseits des Stromes nicht verpflichteten.151

Gegen diese Betrachtungsweise der Grenze in der Tradition Friedrich Ratzels erhob Lucien Febvre bereits in den 1920er Jahren entschiedenen Einspruch. Febvre zufolge sind Grenzen niemals linear, sondern vielmehr Zonen.152 Ferner wies er nach, dass es sich bei der linearen Konzeption der „Grenze“ um eine verhältnismäßig junge Erscheinung handelt, die auf die Entwicklung der neuzeitlichen Staaten zurückzuführen ist.153 Erst durch den Nationalstaatsgedanken entstanden auch nationale Grenzen. In vormoderner Zeit stand dagegen in verschiedenen Sprachen ein differenzierteres Vokabular zur Verfügung, das es erlaubte, verschiedene Phänomene zu beschreiben, die mit Hilfe des modernen Grenzbegriffs nicht mehr ausgedrückt werden können. Das deutsche Wort „Grenze“ etwa wurde erst im 150 151

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R ATZEL , Geographie (wie Anm. 149) 438. A LFÖLDI , Limes (wie Anm. 145) 37. – Bemerkenswerterweise fehlt ausgerechnet der für die politische Stoßrichtung entscheidende Schlusssatz Alföldis in der englischen Version (Vgl. A. A LFÖLDI , The moral barrier on Rhine and Danube. In: E. Birley (Hrsg.), The congress of roman frontier studies 1949 (Durham 1952) 1–16.). In der deutschen Version hatte Alföldi argumentiert, dass die Verweigerung ethischen Verhaltens gegenüber den Bewohnern des Gebietes auf der anderen Seite der Grenze ein Zeichen der Rückständigkeit sei. In der Gegenwart könne dagegen mit dieser Begründung kein Staatsmann mehr von der „Anklage der ethischen Weltspaltung“ frei gesprochen werden. L. F EBVRE , A geographical introduction to history (2London, New York 1996) 301–306, bes. 304. (Die Französische Erstauflage erschien 1922). L. F EBVRE , „Frontière“ – Wort und Bedeutung. In: Ders., Das Gewissen des Historikers (Berlin 1988) 27–37, hier 32 f. (Erstdruck 1928).

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13. Jahrhundert aus den slawischen Sprachen übernommen und bezeichnet erst seit dem 19. Jahrhundert lineare Grenzlinien, wohingegen das alte germanische Wort „Mark“ eher ein Gebiet als eine Demarkationslinie meinte, ganz im Sinne des nun wieder bewusst gewordenen Konzepts der Grenze als „Zone“.154 In ähnlicher Weise wird noch heute im Englischen zwischen „frontier“ (Grenzzone) und „border“ (linearer Grenze) unterschieden.155 Auch im Lateinischen verwendete man eine ganze Reihe von Begriffen zur Beschreibung von „Grenzen“ (finis, terminus, limes, ripa); die Vorstellung, dass die befestigte Militärgrenze gleichzeitig die politische und kulturelle Außengrenze des Reiches darstelle, war sowohl der römischen Ideologie als auch der römischen Politik fremd.156 Römischem Verständnis nach reichte das Imperium Romanum so weit, wie sich der römische Machtbereich erstreckte. Befestigte Militärgrenzen bestanden nicht allein aus einer linearen militärischen Abwehrstellung; es handelte sich vielmehr um ein auch nach außen gestaffeltes Kontrollsystem. Nach innen diente es zur Überwachung und Administration der Grenzgebiete, nach außen als Sperre gegen räuberische Überfälle, zur Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs und zum Erheben der Zölle.157 Der politische und militärische Aktionsradius des Reiches erstreckte sich jedoch weit über die Grenzen hinweg. Ferner war das Vorfeld der Militärgrenzen auch wirtschaftlich in das Grenzgebiet integriert.158 Mitunter verbreiteten sich sogar typisch provinzialrömische Siedlungsformen jenseits der Militärgrenzen Roms, wie etwa kaiserzeitliche Befunde aus Mähren und der Slowakei (Muˇsov, Oberleis, Stupava, Milanovce) zeigen.159 Insgesamt besteht hinsichtlich der Kontrollfunktion der römischen limites ebenso ein Konsens, wie bei der Einschätzung, dass der Alltag der Nachbarn an den römischen Reichsgrenzen weniger von Konfrontation als vom gedeihlichen Miteinander geprägt war. Die römischen limites besaßen eine große Bedeutung für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung des Grenzgebiets, und übten einen bedeutenden Einfluss auf die dort lebende Bevölkerung aus, war sie nun römischer oder nichtrömischer Abstammung. Sie wirkten stabilisierend auf die politischen Verhältnisse in der Vorlimes154 155

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F EBVRE , Frontière (wie Anm. 153) 36. H. E LTON , Defining Romans, Barbarians and the Roman frontier. In: Mathisen/Sivan, Frontiers (wie Anm. 81) 126–135, hier 127. P. T ROUSSET , La frontière romaine. Concepts et représentations. In: Brun/Van der Leeuw/Whittaker, Frontières (wie Anm. 147) 115–120. K EHNE , Grenze (wie Anm. 146) 11 f. W HITTAKER, Frontiers, 113 ff. W HITTAKER, Frontiers, 115 ff. – K. G ENSER, Der Donaulimes in Österreich. Schr. Limesmus. Aalen 44 (Stuttgart 1990) 18 mit Abb. 23.

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zone und waren in der Lage, „die Verhältnisse an den Enden des Reiches friedlich und in einem sozioökonomischen Sinne ausgleichend und sogar prosperierend (für beide Seiten) gestalten zu können.“160 Besondere Bedeutung für die hier behandelte Fragestellung besitzt das Konzept der „Grenzgesellschaft“ (Frontier society), das Charles Richard Whittaker zur Beschreibung der kulturellen Entwicklung in den römischen Grenzzonen während der Spätantike entwickelte. Obwohl besonders die archäologischen Teile dieses Modells noch der intensiven Diskussion bedürfen,161 bietet es m. E. ein außerordentliches Potential für das Verständnis der Wurzeln des Reihengräberhorizontes und allgemeiner der Transformation der Gesellschaft am Rhein und Donau in der Spätantike und dem frühen Mittelalter. Nach Whittaker zeichnen sich die Grenzzonen des Römischen Reiches durch eine besondere wirtschaftliche Bedeutung aus. Die dort stationierten Truppen erzeugten einen großen Bedarf an Waren aller Art. Dieser wurde teils durch Fernhandel, teils aus dem Nahbereich gedeckt.162 Der Nahhandel erfasste beide Seiten der Grenze. Güter wechselten in beide Richtungen über den Limes hinweg.163 Jenseits der befestigten Grenzlinie bildete sich eine Vorzone heraus, ein „Vorlimes“. In Anlehnung an Untersuchungen Lotte Hedeagers,164 postulierte Whittaker, dass diese Zone regelmäßig römische Waren des Alltagsbedarfs (Keramik, Wein, vielleicht Getreide) erreichten.165 Im Gegensatz zu den eher statischen Vorstellungen Hedeagers 160

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E. S CHALLMAYER, Limites. In: Th. Fischer (Hrsg,), Die römischen Provinzen. Eine Einführung in ihre Archäologie (Darmstadt 2001) 124. Vgl. dazu z. B.: P. K EHNE , Die Eroberung Galliens, die zeitweilige Unterwerfung Germaniens, die Grenzen des Imperium Romanum und seine Beziehungen zu germanischen gentes im letzten Jahrzehnt der Forschung. Germania 75/1, 1997, 265–284, hier 281 ff. – D. H. M ILLER, Frontier societies and the transition between Late Antiquity and the Early Middle Ages. In: Mathisen/Sivan, Frontiers (wie Anm. 81) 158–171. W HITTAKER, Frontiers, 130 f. W HITTAKER, Frontiers, 127. L. H EDEAGER, A quantitative analysis of Roman imports in Europe north of the Limes (0–400 A.D.), and the question of Roman-Germanic exchange. In: K. Kristiansen/C. Paludan-Müller (Hrsg.), New directions in Scandinavian Archaeology. Stud. scandinavian prehist. early hist. 1 (Kopenhagen 1978) 191–216. – D IES., Empire, frontier and the barbarian hinterland: Rome and northern Europe from AD 1–400. In: M. Rowlands/M. Larsen/K. Kristiansen (Hrsg.), Centre and periphery in the ancient world (Cambridge 1987) 125–140. Dieselbe Ansicht hatten zuvor bereits Rafael von Uslar und Hans-Jürgen Eggers vertreten. Vgl. R. V. U SLAR, Westgermanische Bodenfunde des ersten bis dritten Jahrhunderts nach Christus aus Mittel- und Westdeutschland. Germ. Denkmäler Frühzeit 3 (Berlin 1938) 170. – H.-J. E GGERS, Der römische Import im freien Germanien. Atlas Urgesch. 1 (Hamburg 1951)

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deutet sich mittlerweile jedoch an, dass die Breite dieser Vorzone stark variierte. Im Gegensatz zum oben erwähnten Beispiel des mittelkaiserzeitlichen Mährens und der Slowakei zeichnet sich etwa in den Niederlanden archäologisch nur ein schmaler Grenzstreifen bis westlich der Ijssel ab.166 Mögliche Gründe hierfür sind neben dem jeweiligen Charakter der politischen Beziehungen zu den Anwohnern sicher auch der wirtschaftliche Entwicklungsstand des angrenzenden Gebietes sowie seine verkehrsgeographische Anbindung. Die Gebiete jenseits des Vorlimes wurden dagegen vor allem durch den Austausch von Prestigegütern römischer Herkunft erfasst.167 Wie neuere Arbeiten gezeigt haben, ist hier wohl nicht mit einem kontinuierlichen, sondern mit einem schubweisen Zustrom von Waren zu rechnen.168 Neben der wirtschaftlichen Bedeutung besaß die römische Grenzzone auch eine kulturelle Dimension. Die Grenzzonen gehörten häufig zu den am intensivsten romanisierten Gebieten des Reiches. Dies hob sie nicht allein gegen das Barbaricum jenseits der Militärgrenze ab, sondern mitunter gleichermaßen von den weniger stark romanisierten Gebieten im römischen Hinterland.169 In gewissem Umfang wurden die Bewohner des Vorlimesbereichs durch den wirtschaftlichen Austausch mit dem Reich auch kulturell beeinflusst. Whittaker nimmt jedoch an, dass dieser Einfluss während der Kaiserzeit noch relativ beschränkt war. Er erfasste wohl nur einen kleinen Teil der Bevölkerung des Grenzgebiets, auf barbarischer Seite vor allem die lokalen Potentaten und auf römischer Seite die Händler und Militärs in den Grenzstädten und Lagern. Die Bewohner ländlicher Siedlungen kamen dagegen wohl kaum in Kontakt mit den Barbaren. Barbarische Hilfstruppen trennte man sorgsam von den einheimischen Eliten und setzte sie weit entfernt von ihrem Rekrutierungsgebiet ein.170 In der Spätantike verwischten sich Whittaker zufolge die Unterschiede zwischen den Bevölkerungen auf beiden Seiten der Grenze an Rhein und Donau allmählich. Rekruten aus dem Barbaricum stationierte man zunehmend grenznah und in der Nähe ihrer Herkunftsgebiete. Durch Umsiedlungen und Migrationen barbarischer Gruppen in die Grenzzone verstärkte 166

167 168

169 170

M. E RDRICH , Rom und die Barbaren. Das Verhältnis zwischen dem Imperium Romanum und den germanischen Stämmen vor seiner Nordwestgrenze von der späten Republik bis zum Gallischen Sonderreich. Röm.-Germ. Forsch. 58 (Mainz 2001) 111. W HITTAKER, Frontiers, 122. E RDRICH , Rom (wie Anm. 166) 136 ff. – Zur Kritik von Erdrichs Modell zum römischen Import vgl. auch: C. V. C ARNAP -B ORNHEIM , Rom zwischen Weser und Ems. In: Über allen Fronten. Nordwestdeutschland zwischen Augustus und Karl dem Großen. Ausstellungskatalog (Oldenburg 1999) 19–32, bes. 29–31. W HITTAKER, Frontiers, 129. W HITTAKER, Frontiers, 125; 223.

Die Grenzen des Reiches

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sich das barbarische Element in der Bevölkerung, während die wirtschaftlichen Beziehungen über die Grenze hinweg fortbestanden. Aufgrund dieses Prozesses entwickelte sich in der Grenzzone eine „Grenzgesellschaft“, die sich sowohl von der Bevölkerung des römischen wie des barbarischen Hinterlandes zunehmend abhob.171 Die römische Administration hatte die Praxis, barbarische Einheiten möglichst weit entfernt von ihrem Rekrutierungsgebiet einzusetzen, prinzipiell nicht aufgegeben. Whittaker nennt jedoch zwei Umstände, die bewirkten, dass besonders in Gallien dieses Prinzip zunehmend durchbrochen wurde. Zum einen wurden im Zuge der Usurpation des Postumus im Jahre 260, und besonders der des Magnentius 350, zahlreiche Einheiten im Barbaricum jenseits von Rhein und Donau rekrutiert und auch vor Ort eingesetzt. Die zweite Entwicklung hängt mit der Trennung des römischen Heeres in Grenztruppen (limitanei ) und Feldheer (comitatenses) zusammen.172 Bereits Konstantin hatte zahlreiche Truppen am Rhein rekrutiert. Nachdem das Feldheer unter den Söhnen Konstantins in verschiedene regionale Kommandos eingeteilt worden war, bildeten diese den Kern des gallischen Feldheeres, des exercitus galliarum.173 Auch Valentinian rekrutierte in Gallien eine große Armee „sowohl unter den am Rhein beheimateten Germanen als auch unter den Bauern der romuntertänigen Provinzen […]“ und „verteilte sie auf die Heereseinheiten“.174 Regelmäßig wurden auf diese Weise barbarische Truppen aus den assimilierten Grenzregionen zusammen mit gallischen Einheiten aufgestellt. Ob sich beide Gruppen nach einer Zeit kulturell noch deutlich voneinander unterschieden, darf Whittaker zufolge bezweifelt werden; er ordnet beide einer ausgedehnten „Kultur der Grenzzone“ zu.175 Auf diese Weise erklärt sich auch, dass zahlreiche Mitglieder der Truppen die Verhältnisse jenseits der Grenzen gut kannten. Offenbar unterhielt man enge, keineswegs nur unfreundliche Beziehungen zu den Potentaten in der Vorlimeszone. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Begebenheit anlässlich der Verhaftung Vadomars, eines Königs der alemannischen Brisigavi in der Mitte des 4. Jahrhunderts, die zeigt, auf wie vertrautem Fuß man mitunter stand. Julian, der einer Verschwörung verdächtigte, befahl einfach, diesen festzunehmen, wenn er das nächste Mal vorbeikäme. 171 172

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175

W HITTAKER, Frontiers, 223. A. D EMANDT , Geschichte der Spätantike. Das Römische Reich von Diocletian bis Justinian 284–565 n. Chr. (München 1998) 225f W HITTAKER, Frontiers, 225 f. – D. H OFFMANN , Das spätrömische Bewegungsheer und die Notitia Dignitatum. Epigraph. Stud. 1. Bd. 1 (Düsseldorf 1969) 131 f. Zosimos, Neue Geschichte, übersetzt und eingeleitet von Otto Veh. Bibl. d. griech. Lit. 31 (Stuttgart 1990) IV, 12 (S. 163). W HITTAKER, Frontiers, 226 f.

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes: Der historische Kontext

Als Vadomar „wie im tiefsten Frieden“ den Befehlshaber der örtlichen Truppen besuchte, führte er mit diesem „wie üblich“ ein kurzes Gespräch. Außerdem versprach er, zu einem Gastmahl zu kommen, zu dem er eingeladen wurde, angeblich um keinen Verdacht zu erregen, was zeigt, dass auch dies dem üblichen Verhalten entsprach. Bei diesem Gastmahl wurde er schließlich kurzerhand verhaftet.176 Hugh Elton wies darauf hin, dass diese Begebenheit keine grundlegende kulturelle Differenz zwischen Vadomar und den Soldaten der Grenztruppen erkennen lässt. Sein Gespräch mit dem römischen Befehlshaber der Grenztruppen führte er wohl eher auf Latein denn in einem germanischen Dialekt. Ebenso verfasste er seine Briefe an die Kaiser Constantius II und Julian aller Wahrscheinlichkeit nach in lateinischer Sprache. Nach seiner Gefangennahme konnte Vadomar offenbar problemlos in das römische Heer integriert werden, wo er es schließlich im Osten des Reiches bis zum dux Phoeniciae brachte.177 Auf die Karrieren anderer Heerführer barbarischer, insbesondere fränkischer Abstammung im westlichen Heer habe ich bereits an anderer Stelle hingewiesen.178 Auch diese sind in ihrer kulturellen Prägung weniger typische „Germanen“, als vielmehr typische Bewohner der Grenzzone am Rhein. Whittaker zufolge brachte die stark militärisch geprägte Mischkultur der Grenzzone einen eigenen Stil („frontier style“) hervor, für den er einige traditionell den Germanen zugerechnete Artefaktgruppen in Anspruch nimmt, darunter die mit kerbschnittverzierten Bronzebeschlägen versehenen Militärgürtel, die Tutulusfibeln und die Stützarmfibeln. Die typischen Artefakte des Laeten-Föderaten-Horizontes fänden sich zu beiden Seiten der Grenze. In ihrem Habitus wiesen sie sowohl barbarische als auch römische sowie vor allem eine militärische Komponente auf. Die betreffenden Gräber könnten nicht mit Sicherheit Germanen zugewiesen werden; viel eher seien sie das Produkt einer kulturellen Entwicklung, die sich über einen längeren Zeitraum hinweg an der Grenze vollzogen habe:179 besonders in diesen Gräbern erfasse man die Herausbildung einer Grenzkultur, die sich kaum noch kulturell in „germanisch“ und „römisch“ separieren lasse.180 Die Herausbildung der „Grenzkultur“ und des „Grenzstils“ datiert Whittaker in die Spätantike. Bemerkenswert sind ferner seine Ausführun176 177 178 179 180

Ammianus Marcellinus, Rerum Gest. 21, 4, 3–5. E LTON , Defining Romans (wie Anm. 155) 128. Vgl. Kap. 2c. W HITTAKER, Frontiers, 216 f. W HITTAKER, Frontiers, 235.

Die Grenzen des Reiches

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gen über die kulturelle Wirkung der Grenzkultur auf die restlichen Gebiete Nordgalliens während des 5. Jahrhunderts. Für diese Epoche konstatiert Whittaker eine allmähliche Konvergenz des Habitus der militärischen Machthaber und der nichtmilitärischen Oberschicht Galliens. Diese Annäherung war das Ergebnis eines doppelten Prozesses: Einerseits glich sich der Lebensstil der Heerführer an jenen der adeligen Großgrundbesitzer an, indem sie versuchten, über ihre militärische Funktion hinaus Besitz und Güter zu akkumulieren. Die ansässigen landbesitzenden Eliten vergrößerten im Gegenzug ihre Klientel immer weiter und gestalteten diese mitunter zu regelrechten Privatarmeen um. Bereits Heerführer des 4. Jahrhunderts wie Arbogast oder Merobaudes besaßen große Landgüter, und auch niedrigrangigere Soldaten nutzten ihren Sold, um Land zu kaufen.181 Durch die zunehmende politische Fragmentierung Galliens in unterschiedliche Machtbereiche wurden die verschiedenen Heerführer sukzessive zu autonom handelnden Kriegsherren (warlords), handelte es sich nun um föderierte Fürsten, Anführer einfallender Barbarengruppen oder Befehlshaber von Abteilungen des römischen Feldheeres.182 Im Gegenzug wurde nach der Ermordung Valentinians III. 455 die Grenzverteidigung am Rhein endgültig aufgegeben, wodurch sich die „Grenzkultur“ immer mehr von dem Milieu löste, in dem sie ursprünglich entstanden war. Nordgallien verwandelte sich in einen Flickenteppich aus Machtbereichen rivalisierender Generäle, die behaupteten, die römische, fränkische oder gar beide Herrschaften zu repräsentieren. Erst mit dem Sieg Chlodwigs über seine Rivalen endete in Nordgallien dieser Machtkampf der verschiedenen Kriegsherren. Gegenläufig zu dieser Entwicklung militarisierte sich die Machtposition der adeligen Großgrundbesitzer (landlords) zunehmend bereits während des 4. Jahrhunderts. Grundsätzlich wird angenommen, dass sich in Gallien in der Spätantike bereits zuvor bestehende soziale Differenzen stark vertieften. Unter- und Mittelschichten gerieten zunehmend in Abhängigkeit der Großgrundbesitzer,183 deren Klientelverbände sich entsprechend vergrößerten. Aus diesen konnten die senatorischen Landbesitzer fallweise größere militärische Verbände rekrutieren. Den Quellen zufolge wurden sie in Akten lokaler Selbsthilfe vor allem gegen Räuber und Banditen eingesetzt. Bereits in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts mussten Gesetze erlassen werden, die es Landeigentümern verboten, Deserteure bei sich aufzunehmen.184 181 182 183 184

W HITTAKER, Frontiers, 258 ff. W HITTAKER, Frontiers, 251. W HITTAKER, Frontiers, 257. W HITTAKER, Frontiers, 262–269.

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes: Der historische Kontext

Insgesamt sind in der politischen Entwicklung Galliens gegen Ende der römischen Herrschaft zwei Stränge zu erkennen, die als Kontext für die Entstehung der Friedhöfe vom Reihengräbertypus große Bedeutung besitzen. Erstens ist eine allgemeine Militarisierung der Gesellschaft zu konstatieren: Truppen lagen nicht mehr nur an den Grenzen, sondern wurden auch in den Städten im Hinterland stationiert. Gleichzeitig militarisierte sich die gallorömische Gesellschaft. Andererseits fanden zunehmend barbarische Kulturelemente Eingang in die sich transformierende römische Gesellschaft. Dabei handelt es sich weniger um genuin „germanische“ oder „barbarische“ Errungenschaften, die im Inneren der Germania – oder allgemeiner des Barbaricums – geläufig gewesen wären, sondern um Elemente einer „Grenzkultur“, in der bereits barbarische und römische Elemente untrennbar miteinander verschmolzen waren.

Das Reihengräberfeld als Idealtypus

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18. Die Anfänge des Reihengräberhorizontes: Archäologische Aspekte a) Das Reihengräberfeld als Idealtypus Obwohl der Begriff des „Reihengräberfeldes“ zu den geläufigsten Vokabeln der frühgeschichtlichen Archäologie zählt, wird er nur selten definiert. Offensichtlich handelt es sich um eine wissenschaftliche Kategorie, deren Inhalt allgemein bekannt ist, und die sich im Forschungsalltag unproblematisch handhaben lässt. Dennoch ist das Konzept des „Reihengräberfelds“ nochmals einer näheren Betrachtung wert. Der Begriff des „Reihengräberfeldes“ bezeichnet – was allzu oft übersehen wird – einen Idealtypus,1 und nicht etwa ein empirisch scharf abgrenzbares archäologisches Phänomen. Dieser Typus wird anhand einer Reihe von Merkmalen definiert, über deren Zusammensetzung weitgehend Einvernehmen herrscht.2 Er eignet sich sehr gut dazu, eine große Anzahl frühmittelalterlicher Friedhöfe in Mittel- und Westeuropa zu beschreiben, obwohl ihm streng genommen kaum ein Gräberfeld vollkommen entspricht. Ungeachtet der wie immer vorhandenen Übergangsformen ist in den meisten Fällen sowohl die zeitliche als auch die räumliche Abgrenzung der Gräberfelder dieses Typus’ von anderen Friedhofstypen vergleichsweise unproblematisch. Zweifellos ist dies der Grund für die große Akzeptanz dieses Typs in der archäologischen Forschung. Die Reihengräberfelder unterscheiden sich meist klar von den Gräberfeldtypen, die östlich und nördlich ihres Verbreitungsgebiets vorherrschten, wie den Brandgräberfeldern oder Gräberfeldern mit gemischtem Grabritus im sächsischen Gebiet.3 In den östlichen Teilen des Merowingerreichs kommen seit der Antike konti1

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Im Sinne Max Webers: Vgl. M. W EBER, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Ders., Schriften zur Wissenschaftslehre, herausgegeben von Michael Sukale (Stuttgart 1991) bes. 72 ff. Vgl. H. A MENT , s. v. Reihengräberfriedhöfe. In: RGA2, Bd. 24 (Berlin, New York 2003) 362–365. – Siehe unten Kap. 18a. H. W. B ÖHME , Franken oder Sachsen? Beiträge zur Siedlungs- und Bevölkerungsgeschichte in Westfalen vom 4.–7. Jahrhundert. Stud. z. Sachsenforsch. 12, 1999, 43–74, bes. 70 ff.

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes

nuierlich belegte Gräberfelder nur als Ausnahmen vor, ebenso wie solche, die über das Ende der Merowingerzeit hinaus genutzt wurden. Die zeitliche Abgrenzung gegenüber spätantiken und karolingerzeitlichen Friedhöfen bereitet deshalb keine Schwierigkeiten. Problematischer gestaltet sich die Definition des Beginns der eigentlichen Reihengräberfelder während des 5. Jahrhunderts. Bereits seit mehreren Jahrzehnten ist bekannt, dass ihre Anfänge im Gebiet des späteren Merowingerreiches zeitlich vor die fränkische Expansion unter Chlodwig zurückreichen.4 Der Beginn der frühesten Reihengräberfelder wird gegenwärtig überwiegend in die Mitte des 5. Jahrhunderts datiert, tendenziell sogar vor die Mitte des 5. Jahrhunderts.5 Gegen die Bezeichnung dieses frühesten Abschnitts als „frühmerowingisch“ erhob Hermann Ament zu Recht Einspruch, indem er darauf hinwies, dass diese Phase zeitlich vor das Auftreten des ersten Merowingerkönigs Childerich zurückreiche. Stattdessen schlug Ament die Bezeichnung „protomerowingisch“ vor,6 was sich zunehmend durchsetzt. Zu diesem protomerowingischen Horizont gehört eine Reihe von Gräberfeldern mit ost-west-ausgerichteten, beigabenführenden Körpergräbern. Diese Gräberfelder, wie das Gräberfeld von Eschborn, haben ihren Anfang bereits in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts, brechen aber in der Zeit um 500 ab.7 Sie kommen vor allem in Südwestdeutschland vor, finden sich vereinzelt aber auch in anderen Teilen des Reihengräbergebiets.8 Ob diese Gräberfelder zum Reihengräbertypus zu zählen sind, ist letztlich eine Frage wissenschaftlicher Konvention. Sie hängt von der Gewichtung der Merkmale des Idealtypus „Reihengräberfeld“ ab: Hinsichtlich Orientierung, Körperbestattung und Beigaben entsprechen diese Gräberfelder bereits den Reihengräberfeldern des 6./7. Jahrhunderts; nimmt man jedoch das Kriterium einer lange andauernden Belegung hinzu, so wären sie auszuschließen. Äußerst fließend sind ferner die Übergänge zu den frühmittelalterlichen Friedhöfen Westeuropas, die stärker von antiken Traditionen geprägt sind. 4

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Vgl. etwa W. S AGE , Das Reihengräberfeld von Altenerding. In: Ausgrabungen in Deutschland. Gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1950–1975. Teil 2 (Mainz 1975) 254–277, bes. 266–271. – H. F. M ÜLLER, Das alamannische Gräberfeld von Hemmingen (Kr. Ludwigsburg). Forsch. u. Ber. Vor. u. Frühgesch. Baden-Württemberg 7 (Stuttgart 1976) 149 f. J. L EICHT , Die spätkaiserzeitlichen Kammergräber. In: A. Burzler u. a. (Hrsg.), Das frühmittelalterliche Gräberfeld von Schleitheim – Siedlung, Gräberfelder und Kirche. Schaffhauser Arch. 5 (Schaffhausen 2002) 79–121, hier 118 mit Anm. 607. H. A MENT , Das alamannische Gräberfeld von Eschborn (Main-Taunus-Kreis). Materialien z. Vor- u. Frühgesch. Hessens 14 (Wiesbaden 1992) 41 mit Anm. 292. Eine Zusammenstellung bei A MENT , Eschborn (wie Anm. 6) 42–46. A MENT , Eschborn (wie Anm. 6) 49.

Das Reihengräberfeld als Idealtypus

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Körpergräber und Ost-West-Orientierung sind in den Nordwestprovinzen des Römischen Reiches seit der Spätantike geläufig,9 wohingegen z.B. Sarkophage10, Grabsteine und Grabinschriften11 durchaus auch in den Kernzonen des Reihengräbergebietes vorkommen. Zudem schwankt die Beigabenintensität regional und zeitlich erheblich. In diesem Bereich stößt der Idealtypus „Reihengräberfeld“ an seine Grenzen. Hier eine scharfe Trennlinie zwischen eigentlichen „Reihengräberfeldern“ und anderen Gräberfeldformen ziehen zu wollen, hieße das heuristische Potential des Idealtypus falsch einzuschätzen, und käme einer Überforderung der archäologischen Überlieferung gleich. Wie bereits gezeigt, fließen in die Definition des idealtypischen Reihengräberfelds auch geographische und chronologische Überlegungen mit ein. Als klassische Reihengräberfelder gelten jene im Bereich des Merowingerreichs, die in die Zeit von der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts bis in die Mitte des 8. Jahrhunderts datiert werden. Mitunter wird dieser Zeitabschnitt deshalb auch als „Reihengräberzeit“ bezeichnet. Neben den Friedhöfen dieses Kerngebiets des Reihengräberhorizontes im engeren Sinne werden verschiedentlich auch Gräberfelder außerhalb dieses zeitlichen und geographischen Rahmens als „Reihengräberfelder“ bezeichnet. Grundsätzlich ist es möglich, diesen Idealtypus auf Gräberfelder anderer Epochen zu übertragen.12 Aber auch innerhalb des gleichen Zeithorizontes spricht die Forschung gelegentlich von Reihengräberfeldern. So bezog etwa Joachim Werner die Gräberfelder in Böhmen, dem mittleren Donauraum und Siebenbürgen in seinen „östlich-merowingischen Reihengräberkreis“ mit ein.13 Manche Gräberfelder im langobardenzeitlichen Italien, dem westgotenzeitlichen Spanien, dem frühmittelalterlichen England oder dem awarenzeitlichen Karpatenbecken könnten mit einer gewissen Berechtigung ebenfalls als „Reihengräberfelder“ bezeichnet werden. Außerhalb dieses zeit-

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W. S CHMIDT , Spätantike Gräberfelder in den Nordprovinzen des Römischen Reiches und das Aufkommen christlichen Bestattungsbrauchtums. Tricciana (Ságvár) in der Provinz Valeria. Saalburg-Jahrb. 50, 2000, 213–441, hier 321 ff. S. R ISTOW, Trapezförmige Sarkophage des Frühen Mittelalters in Köln. Kölner Jb. 32, 1999, 305–341. Grabinschriften und Grabsteine. In: J. E NGEMANN /C HR . B. R ÜGER, Spätantike und frühes Mittelalter. Ausgewählte Denkmäler im Rheinischen Landesmuseum Bonn (Köln, Bonn 1991) 7–169. G. W ILKE , s.v. Reihengrab. In: M. Ebert (Hrsg.), Reallexikon der Vorgeschichte, Bd. 11 (Berlin 1927/28) 79 f. – s.v. Reihengräber. In: Filip, Handbuch, 1132. J. W ERNER, Die Herkunft der Bajuwaren und der „östlich-merowingische“ Reihengräberkreis. In: Ders. (Hrsg.), Aus Bayerns Frühzeit. Friedrich Wagner zum 75. Geburtstag (München 1962) 229–250, bes. 231 ff.

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes

lichen Rahmens werden ferner etwa die Körpergräberfelder des 8./9. Jahrhunderts im nördlichen Bayern14 oder des 10. Jahrhunderts in Thüringen gelegentlich als „Reihengräberfelder“ bezeichnet.15 Inwieweit es sich bei diesen frühmittelalterlichen „Reihengräberfeldern“ außerhalb des Frankenreichs um homologe oder analoge Phänomene zu den Reihengräberfeldern des merowingischen Gebiets handelt, ist im Einzelnen nicht immer geklärt. Für die Definition der Reihengräberfelder werden ausschließlich Merkmale der Grabformen herangezogen; die Artekfakttypen, die in den Gräbern gefunden werden, finden dagegen zu Recht keine Berücksichtigung. Da sie vielfach fast ausschließlich in Gräbern überliefert werden, ist ihre Verbreitung „im Leben“ meist nicht sicher zu erschließen. Besonders der ehemalige Bestand an Metallobjekten des frühmittelalterlichen Mittelmeerraumes ist noch immer nur unvollständig bekannt; vieles hat sich allein in den beigabenführenden Gräbern erhalten, die sich wie ein Gürtel an der Peripherie um die Kernzone der mediterranen Welt ausbreiten, von Südrussland bis nach Gallien und Britannien im Westen. In den letzten Jahren hat sich die Kenntnis um die Kleinfunde aus dem mediterranen Raum immerhin verbessert. Vieles, was lange Zeit als typisch barbarisch galt, erwies sich dabei als Element der Sachkultur eines viel größeren Raums. Die Herleitung von Befundtypen gestaltet sich in der Regel noch schwieriger als die von Artefakttypen. Verschiedene Merkmale der Reihengräberfelder sind im Grund recht unspezifisch. Sie finden sich auch in anderen zeitlichen und kulturellen Zusammenhängen, in denen eine genetische Verbindung ausgeschlossen werden kann. So ist bereits seit langem bekannt, dass die namengebende Anordnung von Körperbestattungen in Reihen – die im übrigen nach übereinstimmender Ansicht der meisten Autoren nicht zu den entscheidenden Merkmalen eines „Reihengräberfeldes“ gehört – sich auch bei manchen neolithischen Friedhöfen findet.16 Die Beigabe von Hiebwaffen war in zahlreichen anderen zeitlichen Kontexten ebenfalls geläufig, wie der Latènezeit. Und vor die Alternative von Brandoder Körperbestattung sahen sich im Grunde alle ur- und frühgeschichtlichen Kulturen gestellt. Um die Frage nach den Hintergründen der Entstehung des Reihengräberhorizontes zu klären, genügt es deshalb nicht, allein nach möglichen Vorformen zu suchen. Aufgrund des unspezifischen Charakters ist damit

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Vgl. etwa W. M ENGHIN , Frühgeschichte Bayerns (Stuttgart 1990) 80. S. B RATHER, Archäologie der westlichen Slawen. Ergde. RGA 30 (Berlin, New York 2001) 262. WILKE , Reihengrab (wie Anm. 12) 79 f.

Das Reihengräberfeld als Idealtypus

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zu rechnen, dass bestimmte Merkmale auch unabhängig von möglichen Vorbildern neu entwickelt wurden. Als konstitutive Elemente des Idealtypus „Reihengräberfeld“ gelten allgemein folgende drei Merkmale:17 1) Körperbestattung 2) die Orientierung („Ostung“) der Gräberfelder 3) „Beigaben“, d. h. bei Frauen die Beisetzung in Kleidung mit Zubehör aus Metall (Fibeln, Schmuck etc.), bei Männern mit Waffen, sowie die Beigabe von Speisen und Getränken bei beiden Geschlechtern Manche Autoren führen darüber hinaus weitere Merkmale an. Hermann Ament betonte etwa die Organisation der Gräberfelder in sich sukzessive vergrößernde Friedhöfe, die dadurch teilweise beträchtliche Größe erreichten.18 Ursula Koch gewichtete im Gegensatz dazu die Orientierung der Gräber stärker. Ihr zufolge wird etwa das Gräberfeld von Köln-Müngersdorf erst in seiner dritten Belegungsphase zu einem „klassischen Reihengräberfeld“, da erst dann eine regelmäßige Ost-West-Ausrichtung zu erkennen ist.19 Wie bereits erwähnt, wird die Anordnung in Reihen nicht zu den konstitutiven Merkmalen der Reihengräberfelder gezählt. Bereits Fritz Fremersdorf wies darauf hin, dass bei zahlreichen Gräberfeldern die Bestattungen keineswegs in der eponymen Reihung angelegt wurden, sondern in Gruppen erfolgten, die über das spätere Gräberfeld verstreut waren.20 Aus diesem Grund lehnte Bailey Young den Reihengräberbegriff insgesamt ab und hob die Bedeutung der charakteristischen Grabbeigaben hervor. Statt „Reihengräberfeldern“ schlug er die Bezeichnung „furnished burials“ vor,21 den die englischsprachige Forschung auch teilweise annahm. Da der Begriff des Reihengräberfeldes zumindest in den östlichen Teilen des Frankenreichs einen unproblematischen terminus technicus darstellt, besteht jedoch m. E. keine Notwendigkeit, sich dieses Begriffs zu entledigen.

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Vgl. z. B. K. B ÖHNER, Archäologische Beiträge zur Erforschung der Frankenzeit am Niederrhein. Rhein. Vierteljahrsbl. 15/16, 1950/51, 19–38, hier 23. – A MENT , Reihengräberfriedhöfe (wie Anm. 2) 362. A MENT , Franken, 393 f. K OCH , Totenruhe, 727. F. F REMERSDORF , Das fränkische Reihengräberfeld von Köln-Müngersdorf. Germ. Denkmäler Völkerwanderungszeit 6 (Berlin 1955) 14 ff. B. K. Y OUNG , Merovingian funeral rites and the evolution of Christianity. A study in the historical interpretation of archaeological material (Diss. Masch. University of Pennsylvania 1975) 8.

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes

Gegenstand der folgenden Kapitel sind die wichtigsten Elemente des Idealtypus’ „Reihengräberfeld“: Die Körperbestattung, die Orientierung, sowie die Bestattung mit Waffen und in fibelgeschmückter Kleidung. Im Vordergrund stehen dabei die Frage ihrer Herleitung, die Hintergründe ihres Aufkommens sowie die Problematik, inwieweit sie tatsächlich einen germanischen Charakter der Reihengräberfelder insgesamt nahe legen.22

b) Körperbestattung Das Element der Körperbestattung innerhalb der Reihengräberfelder wird mittlerweile überwiegend als spätrömisches Erbe angesehen. Allerdings plädieren in jüngerer Zeit einige Autoren für eine weitere Wurzel im germanischen Milieu. Alain Dierkens und Patrick Périn vertraten beispielsweise die Ansicht, der Übergang zur Körperbestattung sei in den Westprovinzen auch auf Einflüsse aus der Germania zurückzuführen. Sie verwiesen in diesem Zusammenhang auf die sogenannten Laeten- oder Föderatengräber, in denen die Körperbestattung praktiziert wurde.23 Allerdings stehen bereits diese Körperbestattungen im dringenden Verdacht ein Produkt römischen Einflusses zu sein: Die Föderatengräber kamen erst in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts auf.24 In dieser Zeit bestattete der überwiegende Teil der provinzialrömischen Bevölkerung bereits seit mehreren Jahrzehnten seine Toten unverbrannt. Im Hauptherkunftsgebiet der barbarischen Migranten im Frankenreich, dem Westteil der Germania, fehlen jedoch unmittelbare Vorbilder. In den westlichen Teilen der Germania herrschte weiter die Brandbestattung vor, auch nachdem die Bevölkerung des Westteils des Römischen Reichs bereits zur Körperbestattung übergegangen war. Lediglich im Elbe-Weser-Raum kommen auf gemischt belegten Gräberfeldern auch Körperbestattungen vor. Schon früh wurden diese Körperbestattungen mit Einflüssen aus dem römischen Gebiet in Verbindung ge-

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Vgl. zu diesem Thema jetzt auch H. F EHR, Germanische Einwanderung oder kulturelle Neuorientierung? Zu den Anfängen des Reihengräberhorizontes. In: S. Brather (Hrsg.), Zwischen Spätantike und Frühmittelalter. Archäologie des 4. bis 7. Jahrhunderts im Westen. Ergbde RGA, 57 (Berlin, New York 2008) 67–102. A. D IERKENS /P. P ÉRIN , Death and burial in Gaul and Germania, 4th to 8th century. In: L. Webster/M. Brown (Hrsg.), The transformation of the Roman world, AD 400–900 (London 1997) 79–95, hier 81. H. W. B ÖHME , s. v. Laeten und Laetengräber, Archäologisches. In: RGA2, Bd. 17 (Berlin, New York 2001) 584–588, hier 584.

Körperbestattung

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bracht.25 Während der 1930er Jahre konnte sich diese Auffassung jedoch nicht durchsetzen: Die einheimische Forschung mochte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass die „Sachsen die mit der Glaubensvorstellung so eng verknüpfte Bestattungssitte von den Römern übernommen hätten.“26 Gegenwärtig hat sich jedoch wieder die Position durchgesetzt, dass es sich bei der Körperbestattung in diesem Raum um eine Adaption römischer Bestattungsgewohnheiten handelt.27 Unter den seltenen Körpergräbern im fraglichen Gebiet sind zudem die Prunkgräber der jüngeren Kaiserzeit zu nennen, die Joachim Werner als Vorbilder der Laetengräber ansah.28 Die Gräber der Gruppe HaßlebenLeuna sind jedoch in ihrem Habitus so stark von römischen Einflüssen geprägt, dass sie die ältere ur- und frühgeschichtliche Forschung mitunter römischen Migranten oder Händlern zugewiesen hat.29 In der neueren Forschung wird das Aufkommen der Körpergräber am Übergang der chronologischen Stufe C1 zu C2 im thüringischen Raum auf römischen Einfluss zurückgeführt.30 Denkbar wäre jedoch auch, dass es sich im Falle der Körperbestattung in den Haßleben-Leuna-Gräbern um eine Innovation handelte, mit deren Hilfe die Fürstengräber aus dem allgemein üblichen Grabritus hervorgehoben werden sollten.31 Nicht auszuschließen ist schließlich eine Herleitung der Körperbestattung von den älterkaiserzeitlichen Fürstengräbern der Lübsowgruppe oder von den Körperbestattungen im Bereich der sogenannten Wielbark-Kultur. Im Vergleich zur völlig unproblematischen Herleitung aus dem römischen Milieu ist eine solche Kette aufeinander aufbauender Hypothesen aber wenig wahrscheinlich. 25

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F. R OEDER, Neue Funde von kontinental-sächsischen Friedhöfen der Völkerwanderungszeit. Anglia 57, 1933, 1–40, hier 17 ff. A. G ENRICH , Zur Herkunft der Körpergräber auf sächsischen Friedhöfen. In: G. Schwantes (Hrsg.), Urgeschichtsstudien beiderseits der Niederelbe, K. H. JacobFriesen gewidmet (Hildesheim 1939) 332–340, hier 340. J. K LEEMANN , Zum Aufkommen der Körperbestattung in Niedersachsen. Stud. z. Sachsenforsch. 13, 1999, 253–262, hier 259. W ERNER, Reihengräberzivilisation, 312. – Vgl. Kap. 14b. H. S TEUER, Fürstengräber der Römischen Kaiserzeit in Germanien – Bestattungen von Grenzgängern. In: M. Fludernik/H.-J. Gehrke (Hrsg.), Grenzgänger zwischen Kulturen. Identitäten und Alteritäten 1 (Würzburg 1999) 379–392, hier 382. J. B EMMANN /H.-U. V OSS, Anmerkungen zur Körpergrabsitte in den Regionen zwischen Rhein und Oder vom 1. bis zur Mitte des 5. Jahrhunderts n. Chr. In: A. Faber u. a. (Hrsg.), Körpergräber des 1.–3. Jahrhunderts in der römischen Welt. Schriften des archäologischen Museums Frankfurt/M. 21 (Frankfurt/M. 2007)153–183, hier 159–162. S TEUER, Fürstengräber (wie Anm. 29) 386.

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes

Insgesamt sind für eine Herkunft der frühmittelalterlichen Körperbestattung aus dem Gebiet der Germania kaum tragfähige Indizien zu beschaffen, während einer Herkunft von provinzialrömischen Traditionen nichts widerspricht.32 Zu Zeiten des Tacitus hatte es noch als mos romanus gegolten, die Toten zu verbrennen.33 In Griechenland, Kleinasien und dem Vorderen Orient waren dagegen Körpergräber allgemein üblich. Im ersten Jahrhundert galten sie als „griechische Gewohnheit“.34 Seit dem zweiten Jahrhundert breitete sich die Körperbestattung auch im westmediterranen Raum aus. Etwa zwischen 140 und 180 ging die Oberschicht in Rom zur Körperbestattung über.35 In Gallien finden sich die ersten Körperbestattungen im ländlichen Raum in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts.36 Bis gegen Ende des Jahrhunderts setzte sie sich allgemein durch. Insgesamt dürften am Rhein nach 300 kaum noch Brandbestattungen vorgekommen sein. Diese Änderung der Bestattungsgewohnheiten der Provinzialbevölkerung wurde in der Vergangenheit häufig mit der Ausbreitung des Christentums in Verbindung gebracht. Ein solcher Zusammenhang ist jedoch nicht nachzuweisen. Letztlich entzieht sich auch die Ausbreitung der Körperbestattung einer kausalen Deutung. In einem grundlegenden Artikel stellte Arthur Nock bereits vor Jahrzehnten fest, dass es sich um einen jener Fälle handelt, bei denen ein Wandel der Bestattungsweise nicht schlüssig mit einem ideellen Wandel verbunden werden kann.37 Über die Feststellung, es habe sich um eine Mode gehandelt, bei der das Bedürfnis der Eliten nach repräsentativen Bestattungsformen eine Schrittmacherrolle spielte, sei in diesem Punkt kaum hinauszukommen.38 Ian Morris interpretierte die Ausbreitung der Körperbestattung als Teil eines viel umfassenderen Phänomens: Die Ausbreitung der Körperbestattung sei am ehesten im Kontext einer allgemeinen Homogenisierung des Grabrituals zu sehen, die während des 3. Jahrhunderts im gesamten Römischen Reich zu beobachten ist. Die Verbreitung der Körperbestattung war 32

33 34

35 36

37

38

A. VAN D OORSELAER, Les nécropoles d’époque romaine en Gaule septentrionale. Diss. Arch. Gandenses 10 (Brügge 1967) 59 ff. Tacitus, Annales, 16,6. I. M ORRIS, Death ritual and social structure in Classical Antiquity (Cambridge 1992) 53. M ORRIS, Death ritual (wie Anm. 34) 54. M ORRIS, Death ritual (wie Anm. 34) 62. – D OORSELAER, Nécropoles (wie Anm. 32) 50 ff. A. D. N OCK , Cremation and burial in the Roman Empire. Harvard Theological Review 25, 1932, 321–359, hier 331. N OCK , Cremation (wie Anm. 37) 357 f.

Orientierung

733

dabei ein wichtiger Bestandteil eines Prozesses, durch den zahlreiche regionale und lokale Sondertraditionen im Bestattungswesen nivelliert wurden. Überregional betrachtet, erschienen die Bestattungsweisen in spätantiker Zeit wesentlich einheitlicher als während der Kaiserzeit. Mit aller Vorsicht und ohne damit „den“ letztlichen Grund für die allgemeine Akzeptanz der Körperbestattung angeben zu wollen, vermutet Morris einen Zusammenhang zwischen der Homogenisierung der Grabkultur und der Reichskrise des 3. Jahrhunderts.39 Diese Vereinheitlichung sei möglicherweise als Reaktion auf jene zentrifugalen Kräfte zu sehen, die die Reichskrise auslösten, und durch die die Selbstgewissheit der römischen Provinzialbevölkerung tiefgreifend erschüttert worden war.40

c) Orientierung Ein wichtiges definierendes Merkmal der Gräberfelder vom Reihengräbertypus ist die Orientierung (Ostung) der Toten. Idealerweise kommt der Kopf des Toten im Westen zu liegen. Diese West-Ost-Ausrichtung ist kein spezifisches Merkmal der frühmittelalterlichen Reihengräberfelder, sondern nach derzeit vorherrschender Auffassung ein Erbteil aus dem spätrömischen Milieu.41 Für eine Herleitung der Orientierung aus der Germania spricht beim heutigen Kenntnisstand nichts. Gräberfelder mit W-O-ausgerichteten Körpergräbern sind in der Spätantike im gesamten Westteil des Römischen Reiches bekannt. Sie sind hier jedoch nicht die allein vorherrschende Orientierung. Auch N-S-ausgerichtete Gräber sind sehr geläufig. Neben Gräberfeldern, die durchgehend einheitlich orientiert sind, kommen zudem solche vor, die keine regelhafte Orientierung erkennen lassen. Mitunter variiert die Orientierung sogar zwischen verschiedenen spätrömischen Gräberfeldern an einem Ort. Wolfgang Schmidt wies in diesem Zusammenhang auf das Beispiel Lauriacum hin: Während auf dem Friedhof Lauriacum-Ziegelfeld vorwiegend WestOst-ausgerichtete Bestattungen angelegt wurden, folgten die etwa zeitgleichen Gräber von Lauriacum-Espelmayerfeld keiner festen Regel.42 Insgesamt erscheint die Orientierung für die Frage des Aufkommens der Reihengräberfelder bedeutsamer als die Körperbestattung: In Gallien wurden mittlerweile mehrere kontinuierlich belegte Gräberfelder bekannt, 39 40 41 42

M ORRIS, Death ritual (wie Anm. 34) 33. M ORRIS, Death ritual (wie Anm. 34) 68. L EICHT , Schleitheim (wie Anm. 5) 117 mit Anm. 612. S CHMIDT , Spätantike Gräberfelder (wie Anm. 9) 321.

734

Die Anfänge des Reihengräberhorizontes

bei denen gleichzeitig mit einem Wechsel der Graborientierung auch ein neues Areal in unmittelbarer Nähe des bisherigen Friedhofs aufgesucht wurde.43 In diesen Fällen legt der Befund eine besonders enge Beziehung zwischen dem Wechsel der Orientierung und dem Aufkommen der neuen Bestattungsweise nahe. Mit einiger Berechtigung kann man in diesen Gräberfeldern deshalb Schlüsselbefunde für die Anfänge des Reihengräberhorizontes sehen. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang zudem jene Friedhöfe, bei denen bald nach Beginn der Belegung das Aufkommen einer einheitlichen Orientierung zu beobachten ist. Die Gräberfelder dieser beiden Typen wurden bislang nicht zusammenfassend untersucht.44 Da nur für einen Teil dieser Friedhöfe detaillierte chronologische Studien besonders zur Übergangsphase vorliegen, und eine solche Untersuchung im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden kann, beschränken sich die folgenden Bemerkungen auf einen Überblick. Gräberfelder mit Wechsel der Orientierung Durch die systematischen Ausgrabungen der letzten Jahrzehnte wurden zunehmend Gräberfelder bekannt, die durchgehend von der Antike bis zum Mittelalter belegt wurden. In diesen Fällen lässt sich die Evolution von spätantiken Friedhöfen zu frühmittelalterlichen Reihengräberfeldern detailliert studieren. Bei aller Faszination, die von diesen Befunden ausgeht, sollte jedoch nicht vergessen werden, dass es sich bei diesen Fällen nicht um die Regel handelt: Die große Mehrzahl der frühmittelalterlichen Reihengräberfelder waren Neugründungen, von denen keine unmittelbaren Vorläufer in der Spätantike bekannt sind. Bereits im 19. Jahrhundert entdeckte man verschiedentlich Friedhöfe, die durchgehend von der Antike bis zum Mittelalter belegt wurden; Ursula Koch nennt in diesem Zusammenhang etwa die Gräberfelder von Eprave und Pry.45 Die zumeist unzureichende Dokumentation dieser Grabungen verhinderte jedoch, dass sie in ihrer tatsächlichen wissenschaftlichen Be43 44 45

Siehe unten Kap. 18c. Zuletzt dazu L EICHT , Schleitheim (wie Anm. 5) 117–119. K OCH , Totenruhe, 726. – A. D ASNOY, Quelques tombes du cimetière de Pry (IVe-VIe) (Belgique, Province de Namur). In: M. Fleury/P. Périn (Hrsg.), Problèmes de chronologie relative et absolue concernant les cimetières mérovingiens d’entre Loire et Rhin. Actes du IIe colloque archéologique de la IVe section de l’Ecole pratique des Hautes Etudes, Paris 1973 (Paris 1978) 69–79. – D ERS., Les cimetières d’Eprave et Hans-sur-Lesse: la „Croix-Rouge“ et „Sur-le-Mont“. Ann. Soc. Arch. Namur 71, 1997, 3–82.

Orientierung

735

deutung erkannt wurden. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden entsprechende Befunde wissenschaftlich gebührend rezipiert. Am Anfang standen die großen Kastellfriedhöfe am Rhein. Vor allem anhand der Nekropolen von Kaiseraugst und Krefeld-Gellep wird deutlich, wie sich bereits in der Spätantike die W-O-Orientierung durchsetzte. Der Beginn der Nekropole von Kaiseraugst lag in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts. Von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, wurde hier von Anfang an in W-O-Richtung bestattet. Der Beginn des Reihengräberhorizontes stellte somit in Kaiseraugst hinsichtlich der Orientierung keinerlei Einschnitt dar.46 In Krefeld-Gellep richtete man dagegen die Gräber in spätrömischer Zeit überwiegend N-S-aus. In der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts änderte die Bestattungsgemeinschaft ihr Verhalten. Die Gräber wurden nun allgemein orientiert.47 In Krefeld-Gellep fällt der Übergang zur Orientierung nicht mit der Erschließung eines neuen Bestattungsareals zusammen. Spätestens in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts wurde jedoch, wohl in einigem Abstand von den bisherigen Bestattungsbezirken, die sogenannte „Ostnekropole“ angelegt, in der nach dem Vorbild der Reihengräberfelder bestattet wurde. Falls das Prunkgrab 1782 von Krefeld-Gellep tatsächlich den Anfang der Belegung der Ostnekropole markiert, datiert die Anlage eines typischen Reihengräberfelds in Krefeld-Gellep an den Beginn des zweiten Drittels des 6. Jahrhunderts.48 Denkbar wäre jedoch auch, dass sich die Ostnekropole aus den zahlreichen beigabenlosen Gräbern entwickelte, die unmittelbar westlich davon gefunden wurden.49 Unter den spätantiken Bestattungen des Gräberfelds von St. Martin-deFontenay (Dép. Calvados) überwiegen die N-S-ausgerichteten Gräber deutlich. Neben 28 genordeten Bestattungen sind allerdings 6 orientierte bekannt. Das älteste datiert in die zweite Hälfte des 4. Jahrhunderts.50 Seit 46

47

48

49 50

M. M ARTIN , Das spätrömisch-frühmittelalterliche Gräberfeld von Kaiseraugst, Kt. Aargau, Bd. A. Basler Beitr. Ur- und Frühgesch. 5 (Derendingen, Solothurn 1991) 228. P IRLING , Gelduba, 641. – D IES., Römische Gräber mit barbarischem Einschlag. In: F. Vallet/M. Kazanski (Hrsg.), L’armée romanie et les barbares du IIIe au VIIe siècle (Condé-sur-Noireau 1993) 109–123, hier 111. – D IES, Das römisch-fränkische Gräberfeld von Krefeld-Gellep 1964–1965. Germ. Denkmäler Völkerwanderzeit, Ser. B, 10 (Berlin 1979) 158; 178. F. S IEGMUND , Zum Belegungsablauf auf dem fränkischen Gräberfeld von KrefeldGellep. Jahrb. RGZM 29, 1982, 249–270, hier 264 ff. P IRLING , Krefeld-Gellep 1979 (wie Anm. 47) 181. C HR . P ILET (Hrsg.), La nécropole de Saint-Martin-de-Fontenay (Calvados). Recherches sur le peuplement de la plaine de Caen du Ve siècle avant J.-C. au VIIe siècle après J.-C. Gallia suppl. 54 (Paris 1994) 82.

736

Die Anfänge des Reihengräberhorizontes

dem Anfang des 5. Jahrhunderts legte man dagegen nur noch orientierte Gräber an.51 Der Wechsel der Orientierung wurde somit vollzogen, noch bevor in den Inventaren von St. Martin-de-Fontenay ein Einfluss donauländischer Elemente spürbar wird. Das Gräberfeld von Bulles (Dép. Oise) wurde in der Mitte des 5. Jahrhunderts neu angelegt. Die erste Phase des Gräberfelds datiert nach René Legoux in Phase ABC 1 des regionalen Chronologiesystems für die Picardie, welche etwa dem Zeitraum 450–475 entspricht. In dieser Phase kommen N-S-orientierte Gräber ungefähr ebenso häufig vor, wie W-O-ausgerichtete, sowie einige Brandgräber. In der folgenden Phase ADC 2 (ca. 475–500) finden sich dagegen nur noch W-O-ausgerichtete Bestattungen.52 Die W-O-Orientierung wird in diesem Fall somit deutlich vor 500 allgemein verbindlich. Einen ähnlichen Befund zeigte jüngst die Analyse des Gräberfelds von Saint-Sauveur (Dép. Somme): Hier finden sich in den zwei frühesten Phasen des späten 5. und frühen 6. Jahrhunderts parallel zueinander Nord-Süd bzw. Süd-Nord und West-Ost-ausgerichtete Gräber. Erst ab der dritten Phase MA 2 (mittleres Drittel des 6. Jahrhunderts) kommen ausschließlich West-Ost-ausgestattete Gräber vor.53 Das Phänomen, dass Gräberfelder in ihrer ersten Phase noch uneinheitlich ausgerichtet waren, bald danach aber einheitlich W-O-orientiert wurden, findet sich nicht alleine in Nordgallien. Das Gräberfeld von Sézegnin (Kt. Genf) besteht in seiner frühesten Phase aus zwei Belegungsgruppen, von denen eine aus N-S-ausgerichteten Bestattungen gebildet wird, wogegen die zweite Gruppe W-O-ausgerichtet ist. Die Bestattungen der folgen-

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P ILET , St. Martin-de-Fontenay (wie Anm. 50) 47. R. L EGOUX , Le cadre chronologique de Picardie. Son application aux autres régions en vue d’une chronologie unifiée et son extension vers le romain tardif. In: X. Delestre/P. Périn (Hrsg.), La datation des structures et des objets du haut Moyen Âge. Méthodes et résultats. Actes des XVe journées internationales d’Archéologie mérovingienne, Rouen, 4.–6. février 1994 (Saint-Germaine-en-Laye 1998) 137–188, hier 187 Abb. 39. – Zur absolutchronolgischen Datierung des Pikardischen und Nordostfranzösischen Chronologiesystems vgl. auch: P. P ÉRIN , La question des „tombes références“ pour la datation absolue du mobilier funéraire mérovingienne. Ebd. 189–206, hier 198 f. – Zum Gräberfeld von Bulles vgl.: R. L EGOUX , La nécropole mérovingienne de Bulles (Oise): caractères généraux et particularismes. Rev. Arch. Picardie 1988, 81–88. – D ERS, Analyse chronologique relative d’une vaste nécropole: l’exemple du site de Bulles. In: Périn, Datation, 284–307 bes. Abb. 157. T. B EN R EDJEB, La nécropole mérovingienne de Sainte-Sauveur (Somme). Rev. Arch. Picardie 2007/1–2, 31–297, hier 55–64.

Orientierung

737

Abb. 36: Das Gräberfeld von St. Martin-de-Fontenay (Dép. Calvados), Gräber des 5. Jahrhunderts (P ILET , St. Martin-de-Fontenay [wie Anm. 50] 98).

den Phasen sind dagegen alle orientiert. Der Wechsel der Orientierung wird an den Beginn des 5. Jahrhunderts datiert.54

54

B. P RIVATI , La nécropole de Sézegnin. Mém. Doc. Soc. Hist. Arch. Genève 2 (Genf, Paris 1983) hier 68.

738

Die Anfänge des Reihengräberhorizontes

Abb. 37: Das Gräberfeld von Bulles (Dép. Oise), Gräber des 5. Jahrhunderts (nach Legoux, Picardie [wie Anm. 52] 187).

Ein ähnliches Bild zeigt sich beim Gräberfeld von Monnet-la-Ville (Kt. Jura). Hier datiert der Wechsel der Orientierung etwa in die Mitte des 5. Jahrhunderts.55 Ein Befund dieser Kategorie liegt schließlich auch im Falle des Gräberfelds von Köln-Müngersdorf vor. Eine älteste Belegungsphase besteht aus zwei N-S-ausgerichteten Gräbern, darauf folgt eine weitere Phase, in der die Bestattungsgemeinschaft ihre Toten mit dem Kopf in Richtung WestSüd-West niederlegte. Erst ab der dritten Belegungsphase – nach Ursula Koch etwa in den 530er Jahren – wurden die Gräber entsprechend der dann kanonischen W-O-Orientierung angelegt.56 Von den bereits erwähnten Gräberfeldern, bei denen gleichzeitig mit dem Wechsel der Orientierung auch ein neues Areal in unmittelbarer Nähe zum bisherigen Friedhof aufgesucht wurde, liegen mittlerweile mehrere Beispiele vor. Zu nennen sind vor allem die Gräberfelder von Frénouville 55

56

C. M ERCIER /M. M ERCIER -R OLLAND , Le cimetière burgonde de Monnet-la-Ville. Ann. Litt. Univ. Besançon, Arch. 25 (Paris 1974) 27 f. F REMERSDORF , Köln-Müngersdorf (wie Anm. 20) Tafel 140. – K OCH , Totenruhe, 727.

Orientierung

739

(Dép. Calvados), Rhenen (Prov. Utrecht), Vron (Dép. Somme) sowie Goudelancourt (Dép. Aisne). Jeremy Knight fasste diese Doppelgräberfelder mit unterschiedlicher Orientierung als Typ Vron-Rhenen zusammen.57 Das Gräberfeld von Frénouville besteht aus zwei Sektoren. Im älteren, südlichen Teil des Gräberfelds wurden seit dem Ende des 3. Jahrhunderts einheitlich N-S-ausgerichtete Gräber angelegt. Nach der Mitte des 5. Jahrhunderts erschloss man nördlich des bisherigen Bestattungsareals ein neues Gelände. In etwa 30 Metern Entfernung vom bisherigen Friedhof wurden die ersten orientierten Gräber angelegt. Erst im Laufe der weiteren Belegung schloss sich die Lücke zwischen den beiden verschieden orientierten Gräberfeldbezirken.58 Wie bereits erwähnt, spielte der Befund des Gräberfelds von Frénouville in der Debatte um den ethnischen Charakter der französischen Reihengräberfelder Anfang der 1980er Jahre eine bedeutende Rolle.59 Unter Verweis auf die Untersuchungen des Anthropologen Luc Buchet beriefen sich Patrick Périn, aber auch der Ausgräber Christian Pilet darauf, die in Frénouville bestattete Bevölkerung entspräche einem mediterranen Typus, der in der Gegend seit dem Neolithikum weitgehend unverändert vorherrsche.60 Lediglich in der Frühphase des Gräberfelds, Ende des 3. und Anfang des 4. Jahrhunderts, meinte Buchet die Ankunft „fremder“ Personen feststellen zu können. Im Gegensatz zu früheren Arbeiten drückt sich Buchet mittlerweile hinsichtlich der möglichen Herkunft dieser Siedlergruppen vorsichtiger aus.61 Ungeachtet der Problematik, welche Aussagekraft die Anthropologie hinsichtlich der Identifikation „fremder“ Personen tatsächlich besitzt, liegen im Falle von Frénouville gegenwärtig keine Hinweise dafür vor, dass der Wechsel der Orientierung in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts durch einen Wechsel der Bevölkerung ausgelöst wurde. In Rhenen stand eine kleine Grablege mit mehr oder minder streng in Nord-Süd-Richtung orientierten Gräbern am Anfang der Nekropole. In der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts wurde nur wenig westlich davon ein neues Areal aufgesucht, auf dem nun die Toten überwiegend in W-O-Rich57

58

59 60 61

J. K NIGHT , The end of Antiquity. Archaeology, society and religion AD 235–700 (Stroud, Charleston 1999) 128 ff. C HR . P ILET , La nécropole de Frénouville. Étude d’une population de la fin du IIIe à la fin du VIIe siècle. Bd. 1. BAR Int. Ser. 83 (Oxford 1980) 154ff, bes. 156. – Zur Chronologie dieses Umbruchs vergleiche auch L EGOUX , Picardie (wie Anm. 52) 144 und 183 Abb. 183. Vgl. Kap. 15h. P ILET , Frénouville (wie Anm. 58) 154. – P ÉRIN , Publications, 545. L. B UCHET , Die Landnahme der Franken in Gallien aus der Sicht der Anthropologen. In: Die Franken, 662–667, hier 664 f.

Abb. 38: Plan des Gräberfelds von Frénouville (nach P ILET , Frénouville [wie Anm. 58] 169).

740 Die Anfänge des Reihengräberhorizontes

Orientierung

741

tung bestattet wurden.62 Zu Rhenen liegen bislang lediglich Vorberichte vor, so dass eine genaue chronologische Einordnung des Übergangshorizontes noch aussteht.63 Besondere Beachtung verdient der Befund von Vron. Um 370 wurde das Gräberfeld angelegt, das deutlich in drei unterschiedliche Gruppen gegliedert ist. Um die Mitte des 5. Jahrhunderts begann die Bestattungsgemeinschaft ihre Toten unmittelbar östlich des bisherigen Friedhofes zu beerdigen. Auch dieser Teil des Gräberfeldes ist gruppenweise organisiert: Wie im spätantiken Bestattungsareal sind im frühmittelalterlichen Teil des Gräberfelds drei Grablegungsbezirke zu erkennen; im Gegensatz zum spätantiken Areal sind die Bestattungen nun jedoch orientiert.64 Der Gesamtbefund von Vron spricht deutlich dagegen, dass die Erschließung des neuen Bestattungsareals und die Umorientierung der Gräber in Zusammenhang mit einer veränderten Zusammensetzung der Bestattungsgemeinschaft standen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit lässt sich in Vron vielmehr im Gegenteil erkennen, dass hier eine kontinuierlich bestehende Bestattungsgemeinschaft relativ plötzlich ihre Bestattungsgewohnheiten in zwei Punkten änderte. Aufgrund der anthropologischen Analyse gilt Vron zumeist als „germanisches“ Gräberfeld. Die hier bestattete Gemeinschaft „hochgewachsener, dolichokephaler Individuen“ stünde im Gegensatz zum regional vorherrschenden „mediterranen Typus“.65 Anderen Forschern zufolge gilt es dagegen aufgrund der Mitgabe von „Tracht und Bewaffnung“ als germanisch.66 Da die Ankunft germanischer Siedler jedoch bereits für die Spätantike angenommen wird, kann auch in diesem Fall kein Zusammenhang zwischen dem Wirken germanischer Traditionen und dem Aufkommen der Orientierung hergestellt werden. 62

63

64

65 66

J. Y PEY, Das fränkische Gräberfeld zu Rhenen, Prov. Utrecht. Berichten ROB 23, 1973, 289–312, hier 297 und 307 Abb. 15. – D ERS., La chronologie du cimetière franc de Rhenen (Pays-Bas, Province d’Utrecht). In: F LEURY /P ÉRIN , Problèmes (wie Anm. 45) 51–57. Vgl. dazu zuletzt W. A. V AN E S /A. W AGNER, Vijfde eeuw op de Donderberg. Begraven in Rhenen tussen Romeinen en Franken. In: D. Kicken/A. M. Koldeweij/J. R. ter Molen (Hrsg.), Gevonden voorwerpen. Opstellen over middeleeuwse archaeologie voor H.J.E. Van Beuningen. Rotterdam Papers, Bd. 11 (Rotterdam 2000) 116–141. C. S EILLIER, Les tombes de transition du cimetière germanique de Vron (Somme). Jahrb. RGZM 36/2, 1989, 599–634, hier 601. – D ERS., La présence germanique en Gaule du Nord au Bas-Empire. Rev. Nord-Arch. 77, 1995, 71–78. – J. B LONDIAUX , La présence germanique en Gaule du nord: La preuve anthropologique? Stud. z. Sachsenforsch. 8, 1993, 13–20, bes. 13 f. S EILLIER, Vron (wie Anm. 64) 601. So z. B. L EICHT , Schleitheim (wie Anm. 5) 118.

Abb. 39: Phasenplan des Gräberfelds von Rhenen (nach Y PEY, Rhenen [wie Anm. 62] 307)

742 Die Anfänge des Reihengräberhorizontes

Orientierung

743

Abb. 40: Plan des Gräberfelds von Vron (nach S EILLIER, Vron [wie Anm. 64] 600).

744

Die Anfänge des Reihengräberhorizontes

Während die Beispiele Frénouville, Rhenen und Vron belegen, dass das Vorbild der neuen Bestattungsweise „Reihengräberfeld“ bei bereits bestehenden Gräberfeldern einen deutlichen Einschnitt darstellen konnte, verdeutlicht der Fall des Gräberfelds von Goudelancourt, dass entsprechende Phänomene auch später noch zu beobachten sind. Die Nekropole von Goudelancourt wurde erst um 530 neu angelegt. Sie bestand aus NNO-SSW ausgerichteten Körpergräbern. Zu Beginn des letzten Drittels des 6. Jahrhunderts wurde ein zweites, recht genau Ost-West-orientiertes Gräberfeld angelegt, das durch ein gräberfreies Areal vom ersten Friedhof getrennt war. Im Gegensatz zu den anderen bereits genannten Beispielen wurde jedoch auf dem ursprünglichen Grabareal weiter bestattet.67 Insgesamt erscheint das Aufkommen der Orientierung als ein Prozess, der großräumig und allmählich verlief. Seine Anfänge sind unzweifelhaft bereits im 4. Jahrhundert zu suchen, als manche Gräberfelder vollständig orientiert wurden. Um die Mitte des 5. Jahrhunderts setzte sich die Ostung der Gräberfelder weitgehend durch, ohne in allen Fällen verbindlich zu werden. Vor allem an der Peripherie des Reihengräbergebiets in Holland und Belgien finden sich auch später noch Gräberfelder, die weiterhin N-S-ausgerichtet sind. Auf dem Gräberfeld von Haillot, das bereits in anderem Zusammenhang erwähnt wurde,68 bestattete man die Toten bis zum Schluss der Belegung am Ende des 5. Jahrhunderts ausschließlich in N-S-Richtung. Das Gräberfeld von Vieuxville (Prov. Lüttich) wurde seit dem Beginn des 5. Jahrhunderts belegt. Erst in der jüngsten Phase des Gräberfelds, gegen Ende des 6. Jh. nähert sich die Ausrichtung der Bestattungen der O-W-Achse an.69 Im Falle des Gräberfelds von Wageningen (Prov. Gelderland) wurden die Gräber schließlich während der gesamten Merowingerzeit in N-S-Richtung angelegt. Erst im 9. Jahrhundert erschloss man ein neues Bestattungsareal, auf dem sich lediglich W-O-ausgerichtete Bestattungen fanden.70

67

68 69

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A. N ICE , La nécropole mérovingienne de Goudelancourt-les-Pierrepont (Aisne). Presentation generale. Rev. Arch. Picardie 1994, 3–7, bes. 7. – Zur Chronologie von Goudelancourt vgl. auch L EGOUX , Picardie (wie Anm. 52) 143; 177 Abb 29. – Die jüngst vorgelegte umfassende Monographie war mir bislang nicht zugänglich: A. N ICE / M.-P. F LECHE , La nécropole mérovingienne de Goudelancourt-lés-Pierrepont, Aisne. Rev. Arch. Picardie, Num. special 25 (Amiens 2008). Vgl. Kap. 14d. J. A LÉNUS -L ECERF , Le cimetière de Vieuxville. Bilan de fouilles 1980–1984. Arch. Belgica N.F. 1, 1985, 121–139, bes, 122–124. – L EICHT , Schleitheim (wie Anm. 5) 118. W. A. V AN E S, Het rijengrafveld van Wageningen. Palaeohistoria 10, 1964, 185–317.

745

Orientierung

Ausrichtung ausgewählter Gräberfelder F UNDORT

B ELEGUNGSDAUER

Z EITPUNKT DER O RIENTIERUNG

Z EITPUNKT DES A REALWECHSELS

Kaiseraugst

2. Hälfte 4. Jh. – 7. Jh.

Seit Beginn orientiert

Kein Wechsel

Krefeld-Gellep

1. – 8. Jh.

2. Hälfte 4. Jhd.

Um 530?

St. Martin-deFontenay

Vorrömisch – 7. Jh.

Anfang 5. Jh.

Kein Wechsel

Sézegnin

Ende 4. Jh. – 8. Jh.

Anfang 5. Jh.

Kein Wechsel

Monnet-la-Ville

5. Jh. – 8. Jh.

Mitte 5. Jh.

Kein Wechsel

Vron

ca. 370 – 7. Jh.

Mitte 5. Jh.

Mitte 5. Jh.

Bulles

Mitte 5. Jh. – Mitte 7. Jh.

Um 470

Kein Wechsel

Frénouville

Ende 3. Jh. – Ende 7. Jh.

2. Hälfte 5. Jh.

2. Hälfte 5. Jh.

Köln-Müngersdorf

Letztes Drittel 5. Jh. – 2. Hälfte 7. Jh.

Anfang 6. Jh.?

Kein Wechsel

Goudelancourt

1. Drittel 6. Jh. – 8. Jh

Nicht orientiert

2. Hälfte 6. Jh

Vieuxville

5. Jh – 7. Jh.

Zweite Hälfte 6. Jh.

Kein Wechsel

Wageningen

4. – 9. Jh.

9. Jh.

9. Jh.

In der Mitte des 5. Jahrhunderts erfasste die Orientierung sowohl jene Gräberfelder, die traditionell als „römisch“ gelten, als auch jene, die die Reihengräberforschung üblicherweise den Germanen zugewiesen hat, sei es aufgrund anthropologischer Untersuchungen oder anhand der „Trachtund Waffenbeigabe“. Da jedoch Vorformen für die Orientierung in der Germania fehlen, während sie zwanglos aus dem römischen Milieu hergeleitet werden kann, ist die Problematik, ob diese Zuweisungen wirklich tragfähig sind, hier von untergeordneter Bedeutung: Selbst wenn man am germanischen Charakter dieser Gräberfelder festhält, so hätten in diesem Fall die Germanen eine ursprünglich römische Bestattungsweise „nicht nur übernommen, sondern vollumfänglich kopiert.“71 Durch Befunde wie Frénouville, Rhenen, Vron und Goudelancourt wird zudem ein zumindest partieller Zusammenhang zwischen dem Auf71

L EICHT , Schleitheim (wie Anm. 5) 118.

746

Die Anfänge des Reihengräberhorizontes

kommen der Orientierung und dem Aufsuchen neuer Bestattungsareale belegt. Ob hier ein ideeller Zusammenhang bestand oder lediglich an manchen Orten beide Impulse gleichzeitig aufgegriffen wurden, ist bislang nicht zu entscheiden. Bemerkenswert bleibt jedoch, dass der Übergang von der Brand- zur Körperbestattung in der Spätantike im Gegensatz dazu häufig nicht mit der Anlage neuer Friedhöfe einherging. Orientierung, Heidentum und Christentum Schwieriger als die Herkunft der Orientierung der Gräberfelder sind ihre geistesgeschichtlichen Hintergründe zu erhellen. Zumeist führte man in diesem Zusammenhang religionsgeschichtliche Argumente an. Allerdings wurden in der Vergangenheit auch ethnische Interpretationen vorgeschlagen, vor allem in Bezug auf die Nord-Süd-Ausrichtung von Gräberfeldern in der Spätantike und der Völkerwanderungszeit. Kurt Böhner etwa äußerte 1950 die These, die N-S-Ausrichtung der sogenannten Föderatengräber sei auf germanische Glaubensvorstellungen zurückzuführen. Zur Untermauerung dieser These berief er sich auf hochmittelalterliche skandinavische Rechtsquellen, in denen das nach Norden gerichtete Gebet als heidnisch, das geostete Gebet dagegen als christlich bezeichnet wurde.72 Diese Interpretation fand in der Folge jedoch keine weite Verbreitung. Vom heutigen Standpunkt aus wäre sie zudem deshalb abzulehnen, weil eine Rückprojektion von Jahrhunderte jüngeren Rechtszuständen in das frühe Mittelalter als methodisch unzulässig angesehen wird. Die Nord-Süd-Ausrichtung von Gräbern war im zeitgenössischen provinzialrömischen Milieu allgemein so geläufig, dass eine Herleitung von den Bestattungen aus dem Bereich der Wielbark-Kultur, wo die N-S-Ausrichtung vorherrschte, wenig plausibel erscheint. Im Anschluss an die Kontroverse mit De Laet, Dhondt und Nenquin beschäftigte sich auch Joachim Werner mit der ethnischen Interpretation der N-S-Ausrichtung.73 Er differenzierte in diesem Zusammenhang zwischen N-S-ausgerichteten Gräbern und solchen, die S-N-angelegt wurden. Die N-S-Ausrichtung führte er auf germanische Tradition zurück, da sie

72

73

Vgl. Kap. 14e. – B ÖHNER, Beiträge (wie Anm. 17) 24. – R. M EISSNER, Die norwegische Volkskirche nach den vier alten Christenrechten. Germanenrechte NF, Deutschrechtliches Archiv 2 (Weimar 1941) 5 f. Kap. 14d.

Orientierung

747

vor allem bei den von ihm als germanisch betrachteten Laetengräbern vorkäme. Die S-N-ausgerichteten Gräber schrieb er dagegen der provinzialrömischen Bevölkerung zu.74 Allerdings erwies sich auch diese Differenzierung als wenig tragfähig. André van Doorselaer konnte belegen, dass beide Ausrichtungen entlang der Nord-Süd-Achse unterschiedslos auf ein und demselben spätrömischen Friedhof anzutreffen sind. Eine ethnische Differenzierung dieses Phänomens sei deshalb nicht möglich.75 Weiter verbreitet als die ethnische Interpretation der Orientierung der Gräber ist dagegen seit langem ihre Rückführung auf religiöse Vorstellungen, besonders den Einfluss des Christentums.76 Einzig Jules Pilloy äußerte Ende des 19. Jahrhunderts die Ansicht, die Ostung der frühmittelalterlichen Gräber sei kein christliches Phänomen, sondern vielmehr darauf zurückzuführen, dass die Vorfahren der Franken, die Arier, die aufgehende Sonne angebetet hätten.77 Im Gegensatz dazu ist die christliche Interpretation der Orientierung bis heute weit verbreitet.78 Allerdings wurden vielfach bereits für die Spätantike gravierende Einwände gegen einen kausalen Zusammenhang zwischen Christentum und Gräberorientierung geltend gemacht. Mittlerweile scheint sich diese skeptische Position durchzusetzen. Wolfgang Schmidt zufolge herrscht gegenwärtig die Auffassung vor, bei O-W-ausgerichteten spätantiken Körpergräbern müsse es sich nicht zwangsläufig um christliche Bestattungen gehandelt haben. So fänden sich auch in anders ausgerichteten Bestattungen durchaus Gegenstände christlichen Gepräges.79 Angesichts der großen Bedeutung, die der Orientierung seit frühchristlicher Zeit in verschiedenen Bereichen der christlichen Liturgie zukommt, ist die Vermutung eines Zusammenhangs zwischen Gräberorientierung und Christentum durchaus naheliegend. Letztlich symbolisiert die Orientierung auch im Christentum eine Hinwendung zur aufgehenden Sonne, die mit verschiedenen Elementen der christlichen Heilslehre metaphorisch gleichgesetzt wurde.

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J. W ERNER, Les tombes de Haillot et leur axe Nord-Sud. In: J. Breuer/H. Roosens, Le cimetière franc de Haillot. Arch. Belgica 34 (Brüssel 1957) 299–306. V AN D OORSELAER, Nécropoles (wie Anm. 32) 135. Y OUNG , Funeral rites (wie Anm. 21) 132 ff. J. P ILLOY, La question franque au Congrès de Charleroy (Belgique). Bull. Arch. 1891, 3–31, hier 15. Vgl. z. B. K NIGHT , End of antiquity (wie Anm. 57) 132. – R. P IRLING , Römer und Franken am Niederrhein (Mainz 1986) 123. – T H . F ISCHER, Spätzeit und Ende. In: W. Czysz u. a., Die Römer in Bayern (Stuttgart 1995) 358–404, hier 383. S CHMIDT , Spätantike Gräberfelder (wie Anm. 9) 321 mit Anm. 661.

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes

Martin Wallraff zufolge prägte die Orientierung die gesamte christliche Liturgie nachhaltig.80 Sowohl beim Gebet, als auch beim Taufritual und im Kirchenbau kam der Orientierung eine wichtige Rolle zu. Die Hinwendung nach Osten beim Individualgebet ist bereits für die Spätantike belegt. Diese Ausrichtung der betenden Gemeinde beim Gottesdienst reicht sicher bis in vorkonstantinische Zeit zurück. Im Taufritus vollzog der Priester dagegen das Ritual der conversio: Durch eine rituelle Bewegung vollzog der Täufling dabei symbolisch eine Wendung von Westen nach Osten, was einer Hinwendung zu Christus gleichkommen sollte. In diesem Ritual galt der Westen als Region der Finsternis und Gottesferne, während der Osten die Region des Lichtes verkörperte. Der Osten wurde somit mit Christus als Opponent des Satans gleichgesetzt. Die Belege für diese Rituale stammen allerdings hauptsächlich aus dem ostmediterranen Raum und fehlen für die vorkonstantinische Zeit im Westen. Die Ostung findet sich ferner bei der Mehrzahl der spätantiken Kirchenbauten. Es sind jedoch auch Kirchengebäude belegt, bei denen nicht die Apsis, sondern der Eingang nach Osten zeigt. Wallraff warnt in diesem Zusammenhang aber davor, diese Fälle als Abkehr von der Orientierung zu betrachten. Auch in diesen Kirchen sei wohl nach Osten gebetet worden. Diese Fälle seien deshalb besser als „Eingangsostung“, denn als „Westung“ des Kirchenbaues zu bezeichnen.81 Ähnliches ist möglicherweise bei der Interpretation von „gewesteten“ Bestattungen in Betracht zu ziehen. Denkbar wäre, dass neben der Bestattung mit Blickrichtung des Toten nach Osten, auch die Niederlegung des Kopfes in diese Richtung eine Hinwendung der Bestatteten zur aufgehenden Sonne ausdrücken konnte. Die „Westung“ bzw. „Kopfostung“ der Toten ist in der Spätantike durchaus geläufig. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür bietet das Gräberfeld von Neuburg an der Donau. Anhand der Ausrichtung lässt es sich in zwei unterschiedliche Bereiche unterteilen: Während im östlichen, älteren Teil des Gräberfelds geostete Bestattungen deutlich überwiegen, kommen im jüngeren, westlichen Abschnitt des Gräberfelds nur noch gewestete Gräber vor.82 Auch auf merowingerzeitlichen Gräberfeldern sind vereinzelt O-W-gerichtete Gräber belegt.83 Neben der genannten „Kopfostung“ könnten 80

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83

M. W ALLRAFF , Christus verus sol. Sonnenverehrung und Christentum in der Spätantike. Jahrb. f. Antike u. Christentum, Ergänzungsbd. 32 (Münster 2001) 60–89. W ALLRAFF , Christus (wie Anm. 80) 81. E. K ELLER, Das spätrömische Gräberfeld von Neuburg an der Donau. Materialh. Bayer. Vorgesch., Reihe A, Bd. 40 (Kallmünz/Opf. 1979) 17 und Taf. 16. Y OUNG , Funeral rites (wie Anm. 21) 134.

Orientierung

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diese Fälle auch darauf zurückzuführen sein, dass bestimmte Personengruppen aus der Gemeinschaft der Gläubigen hervorgehoben werden sollten. Peter Ucko führt etwa das Beispiel an, dass katholische Priester und Bischöfe „gewestet“ bestattet wurden, damit sie wie im Leben beim Gebet ihrer Gemeinde das Gesicht zuwandten.84 Insgesamt war die Orientierung von Gräbern im frühen Christentum zwar durchaus geläufig, stellte aber niemals ein essentielles Charakteristikum dar. Martin Wallraff zufolge lässt sich in diesem Zusammenhang lediglich festhalten, dass die Orientierung der christlichen Bestattungen in gewissen Kreisen willkommen war und gern gesehen wurde. Eine conditio sine qua non sei die Ostung bei christlichen Bestattungen jedoch zu keiner Zeit gewesen.85 Problematisch an der ausschließlich christlichen Herleitung der Begräbnisorientierung ist zudem, dass die kultische Bedeutung der Ostung in der Spätantike keineswegs ein spezifisch christliches Merkmal war. Wie bereits seit langem bekannt, findet sie sich bereits bei altorientalischen Sonnenkulten, und war im griechischen ebenso wie im römischen Kulturkreis bekannt.86 Auch im spätantiken Judentum ist die Ausrichtung des Gebets nach Osten belegt, bevor sich zu einem späteren Zeitpunkt der jüdische Ritus wandelte und das Gebet in Richtung Jerusalem verbindlich wurde.87 Vitruv überlieferte überdies die architektonische Regel, dass Tempel geostet, d. h. mit der Fassade nach Westen ausgerichtet, erbaut werden sollten.88 Im Gegensatz zu dieser Regel sind die griechischen Tempel jedoch meist gewestet. Auch für die griechisch-römische Antike lässt sich deshalb festhalten, dass die Gebetsostung zwar durchaus bekannt, nicht aber allgemein verbindlich war.89 Franz Joseph Dölger zeigte darüber hinaus bereits vor mehreren Jahrzehnten, dass die Verehrung der aufgehenden Sonne auch in christlicher Zeit fortlebte. Papst Leo der Große wandte sich Mitte des 5. Jahrhunderts sowohl gegen Heiden, die die aufgehende Sonne anbeteten, als auch gegen Christen, die vor dem Betreten der Peterskirche in Rom nach einem heidnischen Ritual die aufgehende Sonne verehrten. Fer84

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87

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P. J. U CKO, Ethnography and archaeological interpretation of funerary remains. World Arch. 1/2, 1969, 262–280, hier 272. W ALLRAFF , Christus (wie Anm. 80) 78 f. F. J. D ÖLGER, Sol Salutis. Gebet und Gesang im christlichen Altertum. Mit besonderer Rücksicht auf die Ostung in Gebet und Liturgie. Liturgiegesch. Forsch. 4/5 (2Münster 1925). M. W ALLRAFF , Die Ursprünge der christlichen Gebetsostung. Zeitschr. f. Kirchengesch. 111, 2000, 169–184, hier 176 f. Vitruv, arch. 4,5,1. W ALLRAFF , Gebetsostung (wie Anm. 87) 182; 184.

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes

ner integrierte das frühe Christentum bestimmte Elemente des römischen Sonnenkultes in seine Liturgie; wichtigstes Beispiel hierfür ist die Übernahme des Fests des Sol invictus, des unbesiegten Sonnengottes, als Weihnachtsfest in die christliche Lehre.90 Insgesamt lässt sich vor diesem Hintergrund festhalten, dass der Einfluss des Christentums durchaus den Hintergrund für die Orientierung der frühmittelalterlichen Reihengräber gebildet haben kann. Zwingend ist diese Herleitung jedoch nicht. Martin Wallraff vermutet plausibel, die Gebetsostung habe sich im Zuge der christlichen Mission im Mittelmeerraum allgemein durchsetzen können, weil sie dort bereits bekannt und deshalb ohne Schwierigkeiten vermittelbar war.91 So könnte ebenso diese allgemeine antike Tradition den Anstoß zur Orientierung der Gräber in der Spätantike gebildet haben, weniger in Konkurrenz als gemeinsam oder verstärkt durch den Einfluss des Christentums. Denkbar wäre zudem, in der Orientierung der Gräberfelder eine Begleiterscheinung der allgemeinen Homogenisierung der Grabformen im gesamten Römischen Reich während der Spätantike zu sehen. Wie im letzten Kapitel erwähnt, interpretierte Ian Morris bereits das Aufkommen der Körpergräber in diesem Sinne. Möglicherweise handelte es sich beim Aufkommen der Orientierung um eine analoge Entwicklung, die jedoch etwas später einsetzte. Die Orientierung beschränkte sich in der Spätantike jedenfalls nicht auf die Regionen an Rhein und Donau, wie etwa die Nekropole von Tipasa im heutigen Algerien eindrucksvoll belegt.92

d) Waffenbeigabe Die Interpretation der Waffenbeigabe spielte, wie im zweiten Teil dieser Arbeit gezeigt wurde, in der Vergangenheit eine besondere Rolle in der Diskussion um den Nachweis von Germanen und Romanen in der Spätantike und im frühen Mittelalter. Allen Einwänden zum Trotz, betrachtet besonders die mitteleuropäische Wissenschaftstradition die Beigabe von Waffen nach wie vor als Hauptstütze für die Zuweisung der frühmittelalterlichen Reihengräber an die Germanen. Die Beziehung zwischen dem „germanischen“ Charakter der Waffenbeigabe und dem ebenso „germanischen“ Wesen der beigabenführenden Reihengräberfelder beruht jedoch letztlich auf einem Zirkelschluss: Die 90 91 92

D ÖLGER, Sol salutis (wie Anm. 86) 3–5. W ALLRAFF , Gebetsostung (wie Anm. 87) 184. S CHMIDT , Spätantike Gräberfelder (wie Anm. 9) 311–316.

Waffenbeigabe

751

Waffenbeigabe galten deshalb als germanisch, weil Waffen nur in germanischen Gräbern gefunden wurden. Im Gegenzug waren diese Gräber aber vor allem deshalb germanisch, weil die Waffenbeigabe ihren germanischen Charakter belegte. Der germanische Charakter der Waffenbeigabe wäre in der Vergangenheit wohl nicht immer wieder in Abrede gestellt worden, wenn es gelungen wäre, sie schlüssig aus der Germania herzuleiten. Im mutmaßlichen Herkunftsgebiet der Franken in Nordwestdeutschland fehlen entsprechende Gräber mit Waffenbeigabe jedoch nach wie vor,93 so dass eine Herkunft der Waffenbeigabe aus diesem Bereich wenig plausibel erscheint.94 Die Waffengräber etwa im Elbe-Weser-Gebiet werden im Gegenteil auf Vorbilder im nordgallischen Raum zurückgeführt.95 Eine „ostgermanische“ Herkunft der Waffenbeigabe? Den letzten umfassenden Versuch, die Waffenbeigabe aus dem germanischen Raum abzuleiten, legte Mechthild Schulze-Dörrlamm 1985 vor.96 Schulze-Dörrlamm vertrat in diesem Zusammenhang die These, die Waffenbeigabe im Reihengräbergebiet ginge auf „Ostgermanen“ zurück, die in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts im Rahmen des römischen Heeres in Gallien sowie am Rhein stationiert waren. Die mitteleuropäische Forschung griff diese nun angeblich „zweifellos“ feststehende Herleitung der Waffenbeigabe von „ostgermanischen Söldnern“ teilweise auf.97 Ausgangspunkt für die Interpretation von Schulze-Dörrlamm war eine Zusammenstellung der Männergräber mit Schwertbeigabe des späten 3. und der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts, die sie von vornherein als „germanisch“ bezeichnete. Bei den insgesamt sieben Gräbern in Gallien bzw. am 93

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96 97

E. S CHULTZE , Zur Waffenbeigabe bei den germanischen Stämmen in der späten Kaiserzeit und der frühen Völkerwanderungszeit. Jahrb. Bodendenkmalpfl. Mecklenburg 37, 1989, 19–36, 20 Abb. 1. S CHULTZE , Waffenbeigabe (wie Anm. 93) 21. – Vgl. auch J. K LEEMANN , Waffengräber der jüngeren Kaiserzeit und frühen Merowingerzeit in Nord- und Ostdeutschland, phil. Habil. (Berlin 2001). H. W. B ÖHME , Germanische Grabfunde des 4. bis. 5. Jahrhunderts zwischen unterer Elbe und Loire. Münchner Beitr. Vor- und Frühgesch. 19 (München 1974) 165. – K LEEMANN , Körperbestattung (wie Anm. 27) 259–262. – D ERS., Bemerkungen zur Waffenbeigabe in Föderatengräbern Niedersachsens. In: C. Bridger/C. v. CarnapBornheim (Hrsg.), Römer und Germanen – Nachbarn über Jahrhunderte. BAR Inter. Ser. 678 (Oxford 1997) 43–48, hier 47. S CHULZE -D ÖRRLAMM , Kriegergräber. K OCH , Totenruhe, 724. – L EICHT , Schleitheim (wie Anm. 5) 106 f.

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes

mittleren Rhein handelt es sich nicht um Neufunde. Auf die waffenführenden Bestattungen des Rhein-Main-Gebiets, die für eine Argumentation Schulze-Dörrlamms die entscheidende Rolle spielen, hatte sich Kurt Böhner in der Diskussion um die Herleitung der Waffenbeigabe bereits Anfang der 1960er Jahre gestützt.98 Bei den sieben Gräbern (Abb. 41) im westlichen Teil des Verbreitungsgebiets der Schwertgräber handelt es sich um das Körpergrab 2 von Monceau-le-Neuf (Dép. Aisne) (Nr. 1), ein Grab in Köln am Severinstor (Nr. 3), sowie 5 Gräber im Rhein-Main Gebiet: Alzey (Nr. 2), Mainz-Bretzenheim, (Nr. 5) und die Körpergräber 1 und 2 von Stockstadt (Nr. 6). Der Fund von Lampertheim (Nr. 4) ist mit Vorsicht zu betrachten, da er lediglich anhand der Breite der Spathaklinge in die erste Hälfte des 4. Jahrhunderts datiert wird.99 Beim Fund von Köln-Severinstor ist zudem zu berücksichtigen, dass es sich um einen Altfund handelt, der von einem Sammler angekauft wurde; seine Geschlossenheit steht nicht zweifelsfrei fest.100 Ausgangspunkt für Schulze-Dörrlamms Zuweisung der fraglichen Gräber an Germanen ist die nicht weiter begründete Auffassung, dass die „Menge und Auswahl der beigegebenen Waffen ebenso an das Brauchtum einer bestimmten Kulturgruppe gebunden waren wie der völlige Verzicht auf die Waffenbeigabe überhaupt.“101 Ausgehend von diesem Axiom wies sie zunächst noch einmal die These Schönbergers und van Doorselaers zurück,102 die Waffenbeigabe sei auf Vorbilder im provinzialrömischen Milieu zurückzuführen. Auch die These Kurt Böhners, die Waffenbeigabe im Rhein-Main-Gebiet sei bei den Alemannen aufgekommen,103 lehnte Schulze-Dörrlamm ab: Da in deren „elbgermanischer“ Heimat die „Sitte der Waffenbeigabe“ unbekannt war, sei es „sehr unwahrscheinlich“, dass die Alemannen in ihrem neuen Siedlungsgebiet „aus eigenem Antrieb ein so neuartiges Bestattungsbrauchtum entwickelt haben sollten“. Zudem fänden sich Gräber mit Waffenbeigabe nur im nördlichen Teil des alemannischen Gebiets.104 Ohne dies näher auszuführen, setzte Schulze-Dörrlamm offenbar voraus, dass die Entstehung der Waffenbeigabe bei den Alemannen nur dann wahrscheinlich wäre, wenn nicht nur ein Teil, sondern alle Alemannen dieses Element in ihr 98 99 100

101 102 103 104

Vgl. Kap. 14e. S CHULZE -D ÖRRLAMM , Kriegergräber, 545. S T. M ARTIN -K ILCHER, A propos de la tombe d’un officier de Cologne (Severinstor) et de quelques tombes à armes vers 300. In: Vallet/Kazanski, L’armée romaine (wie Anm. 47) 299–312, hier 299. S CHULZE -D ÖRRLAMM , Kriegergräber, 561. Vgl. Kap. 14c. Vgl. Kap. 14e. S CHULZE -D ÖRRLAMM , Kriegergräber, 549.

Abb. 41: Verbreitung der Brand- und Körperbestattung mit Schwertbeigabe in Mitteleuropa des späten 3. bis zur Mitte des 4. Jahrhunderts (nach S CHULZE -D ÖRRLAMM , Kriegergräber 550)

Waffenbeigabe

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes

„Bestattungsbrauchtum“ übernommen hätten. Mit derselben impliziten Prämisse lehnte Schulze-Dörrlamm auch Horst Wolfgang Böhmes Modell der Entstehung der Waffenbeigabe in Gallien ab: Dieser hatte die Waffenbeigabe, wie bereits gezeigt, auf eine psychologische Reaktion germanischer Neuankömmlinge in Gallien zurückgeführt, die „erstmals mit den Römern in engeren Kontakt kamen und sich ihres Kriegertums und ihrer gehobenen Stellung“ bewusst wurden.105 Falls diese Vermutung zuträfe, sei jedoch damit zu rechnen, dass solche Gräber von Anfang an an mehreren verschiedenen Orten in Nordgallien gleichzeitig auftreten müssten.106 Auch in diesem Fall ging Schulze-Dörrlamm offensichtlich stillschweigend davon aus, es sei grundsätzlich auszuschließen, dass lediglich eine oder wenige Gruppen von Immigranten die Waffenbeigabe kreiert und anfangs praktiziert hätten. Nachdem Schulze-Dörrlamm auf diese Weise die bis dahin vorherrschenden Deutungen zurückgewiesen hatte, unternahm sie es, die vermeintlich einzig verbliebene Möglichkeit wahrscheinlich zu machen: Die Herleitung der Waffenbeigabe aus dem ostgermanischen Gebiet. Dabei stützte sie sich allein auf die „Beigabensitten“. In den Inventaren der sieben fraglichen Gräber im Westen findet sich kein Hinweis auf einen Zusammenhang mit den Brandgräbern mit Schwertbeigabe im Gebiet der Lebus-Lausitzer Gruppe bzw. der Przeworsk-Kultur. Die fraglichen Gräber sind vielmehr zum Teil mit Beigaben römischer Provenienz versehen. Vor allem die Gräber von Monceau-le-Neuf und Köln-Severinstor enthielten eine reiche Ausstattung an Keramik- und Glasgefäßen. In Köln-Severinstor spricht eine Zwiebelknopffibel, in Alzey ein Teil einer Gürtelgarnitur für einen militärischen Hintergrund des Bestatteten. Bei den Schwertern aus den Gräbern von Köln-Severinstor und Alzey handelt es sich zudem um römische Fabrikate.107 Während in den übrigen Gräbern keine Beigaben vorhanden sind, deren Verbreitung an der römischen Rheingrenze einer Erklärung bedürften, weisen zwei Elemente des Inventars von Monceau-le-Neuf in den Donauraum. Der Beschlag der Gürtelschnalle stammt wohl aus dem mittleren Donauraum, und auch der Schildbuckel ist Schulze-Dörrlamm zufolge „östlicher Herkunft“. Der Deutung Schulze-Dörrlamms, der Tote von Monceau-leNeuf habe möglicherweise vor seiner Stationierung in Nordgallien in einem römischen Truppenverband an der mittleren Donau gedient, wird man fol-

105 106 107

B ÖHME , Grabfunde (wie Anm. 95) 190; 165. – Vgl. Kap. 15d. S CHULZE -D ÖRRLAMM , Kriegergräber, 555. S CHULZE -D ÖRRLAMM , Kriegergräber, 510–519.

Waffenbeigabe

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Abb. 42: Entwurf einer Verbreitungskarte von Waffenkombinationen in Männergräbern des späten 3. und der ersten Hälfte des 4. Jh. (nach S CHULZE -D ÖRRLAMM , Kriegergräber 551).

gen können;108 eine Verlegung römischer Soldaten von der Donau nach Gallien dürfte am Ende des 3. bzw. in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts ein häufig vorkommender Vorgang gewesen sein. Schwieriger nachzuvollziehen ist dagegen, weshalb der Mann von Monceau-le-Neuf ursprünglich aus dem „Raum zwischen Oder und Weichsel“ stammen soll, wie SchulzeDörrlamm annimmt.109 Wie bereits erwähnt, bildet das Axiom, die Auswahl der beigegebenen Waffen sei an das „Brauchtum einer bestimmten Kulturgruppe“ gebunden, die Grundlage für Schulze-Dörrlamms Argumentation. Gräber mit Waffenbeigabe kommen im späten 3. bis zur Mitte des 4. Jh. n. Chr. in verschiedenen Teilen des Barbaricums vor. Neben dem ostgermanischen Raum finden sich solche Gräber auch in Skandinavien, im Theissgebiet, an der unteren 108 109

S CHULZE -D ÖRRLAMM , Kriegergräber, 554. S CHULZE -D ÖRRLAMM , Kriegergräber, 554.

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes

Donau, sowie der mittleren Wolga. Im Vergleich zu diesen regionalen Gruppen konstatierte Schulze-Dörrlamm für die betreffenden Gräber des Rhein-Main-Gebiets, dass „die Kombination der Spatha mit einer Axt, mit Pfeil und Bogen oder einer Lanze charakteristisch“ sei.110 Waffenkombinationen der Gräber mit Spathabeigabe des späten 3. und der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts in Gallien und am Rhein Fundort

Schild

Lanze

Axt

Pfeil und Bogen

(1) Monceau-le-Neuf

X



X



(2) Alzey









(3) Köln-Severinstor

X







(4) Lampertheim







X

(5) Mainz-Bretzenheim



X





(6) Stockstadt, Grab 1





X



(7) Stockstadt, Grab 2





X

X

Selbst wenn man das Grab von Monceau-le-Neuf in Gallien mit einer Axt hinzunimmt, so besteht die statistische Basis für dieses „charakteristische“ Ausstattungsmuster aus lediglich fünf Gräbern. Sowohl im Falle von Köln-Severinstor als auch in Alzey ist die Spatha die einzige Waffe im Grab. Immerhin enthielten Köln-Severinstor und Monceau-le-Neuf noch einen Schild. Die verbliebenen vier Gräber im Rhein-Main-Gebiet sind in ihren Waffenkombinationen zudem sehr uneinheitlich: In den Gräbern von Lampertheim fanden sich Pfeile, in Mainz-Bretzenheim dagegen eine Lanze, wohingegen Stockstadt, Grab 1, lediglich eine Axt, Stockstadt Grab 2 aber eine Axt und Pfeile lieferten. Die sieben Waffengräber mit Spathabeigabe des fraglichen Zeitraums der Westgruppe enthielten somit sieben verschiedene Waffenkombinationen. Dieser denkbar uneinheitliche Befund legt die Konstruktion einer Kulturgruppe mit gleichem „Bestattungsbrauchtum“ anhand der Waffenkombinationen nicht unbedingt nahe. Mechthild Schulze-Dörrlamm erklärte diese Not jedoch zur Tugend und argumentierte, dass „eine ähnliche Vielfalt der Angriffswaffen […] zur gleichen Zeit ausschließlich im Ostbereich der Lebus-Lau-

110

S CHULZE -D ÖRRLAMM , Kriegergräber, 552.

Waffenbeigabe

757

sitzer Kultur “ zu finden sei.111 Die Gräber im Westteil dieser Gruppe sowie jene im Bereich der Przeworsk-Kultur kämen als Vorbilder dagegen nicht in Frage, da hier die Angriffswaffen stets in Verbindung mit einem Schild gefunden würden.112 Die statistische Basis für die vermeintlich charakteristische Waffenkombination des Ostbereichs der Lebus-Lausitzer-Gruppe ist somit jedoch denkbar klein. Lediglich zwei Gräber in diesem Bereich entsprechen diesem Muster: das Brandschüttunggrab 1 von Buchhain (Kr. Finsterwalde) (Nr. 7) enthielt neben einer Spatha eine Axt, wohingegen das Brandschüttungsgrab 1 von Jessern (Kr. Lübben) (Nr. 9) außer der Spatha auch mit einer Axt und einer Lanze ausgestattet wurde.113 Ungeachtet dieser sowohl am Rhein als auch in der Lausitz äußerst schmalen Basis, argumentierte Schulze-Dörrlamm, die charakteristische Kombination der Spatha mit einer Axt und/oder mit Pfeil und Bogen ist das wichtigste Indiz dafür, dass es sich bei den im Rhein-Main-Gebiet beerdigten Kriegern um Ostgermanen aus dem Gebiet der Lebus-Lausitzer-Kultur, also um Burgunden handelt.114

Somit meinte Schulze-Dörrlamm als Ergebnis ihrer Untersuchung festhalten zu können, dass die Sitte der Waffen- bzw. der Schwertbeigabe während der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts von Ostgermanen, die z. T. als Söldner im römischen Heer gedient hatten, in den Westen übertragen worden ist.115

Die Tatsache, dass zeitgleich zu den frühesten Waffengräbern in Gallien bzw. am Rhein vor allem in der östlichen Germania die Bestattung mit Waffen üblich war, war bereits Joachim Werner 1950 aufgefallen. Werner hatte sich jedoch gegen eine Ableitung der Waffenbeigabe aus dem Osten ausgesprochen, da diese Gräber in ihrer Form gravierend voneinander abwichen: Während es sich bei den Gräbern im Westen um Körperbestattungen handelt, waren die entsprechenden Gräber im Osten fast ausschließlich Brandbestattungen,116 wie auch Schulze-Dörrlamms Verbreitungskarte (Abb. 41) bestätigt. Schulze-Dörrlamm vertrat jedoch die Meinung, dass dieses Gegenargument nicht allzu schwer wiege, da es sich bei den Brandgräbern im östlichen Mitteleuropa wohl lediglich um einen „ Ausdruck von Retardierungserscheinungen bei Stämmen im Innern der Germania libera“ handele, während die

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S CHULZE -D ÖRRLAMM , Kriegergräber, 552. S CHULZE -D ÖRRLAMM , Kriegergräber, 552. S CHULZE -D ÖRRLAMM , Kriegergräber, 519; 521. S CHULZE -D ÖRRLAMM , Kriegergräber, 556. S CHULZE -D ÖRRLAMM , Kriegergräber, 561. W ERNER, Reihengräberzivilisation, 297.

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Germanen am Rhein bereits frühzeitig die Körperbestattung übernommen hätten.117 Problematisch ist zudem, dass Schulze-Dörrlamm die Waffenbeigabe im ostgermanischen Gebiet, etwa bei den „Wandalen“ im Gebiet der Przeworsk-Kultur, als typischen Bestandteil der Bestattungsgewohnheiten ansieht. Auf den ersten Blick scheinen die im Vergleich zu anderen Teilen der Germania vergleichsweise dichten Belege von Waffengräbern einen solchen Schluss auch nahe zu legen. Betrachtet man jedoch die Gesamtmenge der Grabfunde aus diesem Raum, so sind die Waffengräber vergleichsweise selten. Auch hier ist die Waffenbeigabe im fraglichen Zeitraum eine Besonderheit, die einer Erklärung bedarf, und nicht das vorherrschende „Brauchtum“. Die übliche Bestattungsweise war vielmehr wie im römischen Gebiet die waffenlose Bestattung.118 Angesichts der zahlreichen, kaum plausibel zu machenden Prämissen und der geringen statistischen Basis erscheint Schulze-Dörrlamms Herleitung der Waffenbeigabe aus dem „ostgermanischen“ Raum wenig überzeugend. Selbst wenn man akzeptierte, dass der ursprüngliche Impuls aus dem ostgermanischen Raum herrührte, ist zudem noch keineswegs wahrscheinlich gemacht, weshalb in Gallien allein Personen germanischer Herkunft die Waffenbeigabe übernommen haben sollen, nicht aber etwa auch Militärangehörige römischer Herkunft. Zudem ist zu berücksichtigen, dass Schulze-Dörrlamm mit den Gräbern mit Spathabeigabe nur einen kleinen, und letztlich willkürlichen Ausschnitt des gesamten Spektrums der Waffenbeigaben in der Spätantike untersuchte: Lediglich etwa 20 % der Waffengräber im spätantiken Nordgallien enthielten Spathen, wogegen 45 % allein mit einer Axt ausgestatten waren.119 Problematisch ist zudem, dass Schulze-Dörrlamm eine weitere Erklärung von vornherein nicht in Erwägung zieht: Dass es sich bei der Waffenbeigabe in den betreffenden Gräbern im Westen schlichtweg um eine Innovation handelte. In den Inventaren der fraglichen Gräber findet sich kein Indiz, das der These einer Neuerung im Milieu des spätrömischen Militärs entgegenstünde. Will man nicht in den Zirkelschluss verfallen und voraussetzen, dass Gräber mit Waffen im fraglichen Zeitraum per se „germanisch“ bzw. „barbarisch“ sind, so besteht kein Grund, einen Anteil nichtbarbarischer Personen an dieser Entwicklung von vornherein auszuschließen.

117 118

119

S CHULZE -D ÖRRLAMM , Kriegergräber, 551. H. S TEUER, s. v. Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde, § Archäologie. In: Beck u. a., Germanen, 129–176, hier 162. B ÖHME , Grabfunde (wie Anm. 95) 164.

Waffenbeigabe

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Beschränkung der Waffenbeigabe auf Germanen? Da eine Herleitung der Waffenbeigabe im Gebiet des späteren Merowingerreichs aus der Germania nicht wahrscheinlich zu machen ist, erscheint die These plausibler, dass es sich dabei um eine Innovation handelte, die in diesem Raum selbst erfolgte. Grundsätzlich ist nicht auszuschließen, dass tatsächlich Migranten aus der Germania diese Eigenheit entwickelten. Eine Verbindung zwischen dem Aufkommen der Waffenbeigabe und einer möglichen psychologischen Reaktion dieser Personengruppe auf ihre römische Umwelt im Sinne Böhmes ist zwar durchaus denkbar, bleibt aber letztlich spekulativ. Historische Quellen, die Aufschluss über die mentale Verfassung von Soldaten germanischer Herkunft im römischen Heer geben könnten, liegen nicht vor. Die Tatsache, dass die Germanen jenseits der Reichsgrenze bereits über Jahrhunderte hinweg einem mehr oder minder intensiven Einfluss der römischen Kultur ausgesetzt waren,120 dürfte zudem den kulturellen Schock bei der Ankunft im römischen Gebiet beträchtlich gemildert haben. Während einerseits keine zwingenden Argumente dafür vorliegen, dass die Waffenbeigabe in der Spätantike allein von Germanen ausgeübt wurde, legen einige Indizien einen bedeutenden Anteil der einheimischen Bevölkerung an dieser Entwicklung nahe. Guy Halsall führt in diesem Zusammenhang folgende Argumente an: 1) Bei den betreffenden Waffenfunden handelt es sich ganz überwiegenden um römische Produkte. Selbst jene Waffenform, die in spätrömischen Gräbern am häufigsten vorkommt, die Axt, war den Schriftquellen zufolge im spätrömischen Heer durchaus geläufig.121 Zudem gehen manche Axtformen in den waffenführenden Gräbern des Barbaricums auf römische Formen zurück.122 2) Es bestand keine wirksame rechtliche Schranke, die der römischen Zivilbevölkerung das Tragen von Waffen verwehrt hätte.123 Waffen finden sich bereits während der Kaiserzeit im römischen Hinterland, zwar nicht in Gräbern, aber doch als Funde in zivilen Siedlungen. In einer Studie über die Waffenfunde des süddeutschen Raums konstatierten Marcus Reuter und Stefan Pfahl bereits für das 3. Jahrhundert ein Ansteigen der

120 121 122 123

Kap. 17c. H ALSALL , Föderatengräber, 174 mit Anm. 51. B ÖHME , Grabfunde (wie Anm. 95) 165. H ALSALL , Föderatengräber, 174.

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Schwertfunde. Diesen Anstieg bringen sie in Zusammenhang mit einer „Selbstbewaffnung der Zivilbevölkerung“ während der Unruhen des 3. Jahrhunderts.124 Zudem mehren sich im dritten Jahrhundert die Hinweise darauf, dass neben regulären Militäreinheiten lokale Milizen gebildet wurden;125 das prominenteste Beispiel einer solchen Miliz ist das Kontingent, das im Jahre 260 bei Augsburg eine Gruppe plündernder Juthungen schlug.126 3) Die rituelle Deponierung von Waffen war im römischen Kontext durchaus bekannt: Während der Kaiserzeit finden sich Waffen zwar kaum in Grabzusammenhängen, aber durchaus als Flussfunde.127 4) Die Vergesellschaftung von Waffen und Ausrüstungsgegenständen (Cingulae, Zwiebelknopffibeln) des römischen Heeres deutet darauf hin, dass Angehörige der römischen Armee Träger der Waffenbeigabe waren. Nimmt man nicht den größten Teil des spätrömischen Heeres für die „Barbaren“ in Anspruch, so gibt es keinen Grund anzunehmen, dass lediglich römische Soldaten germanischer Herkunft die Waffenbeigabe ausgeübt hätten.128 Zwar finden sich bereits in spätrömischen Schriftquellen topische Bemerkungen zur allgemeinen „Barbarisierung“ des römischen Heeres,129 tatsächlich bestand aber auch in der Spätantike der überwiegende Teil des römischen Heeres aus Personen nichtbarbarischer Herkunft. In einer statistischen Untersuchung der Angaben über die Herkunft von insgesamt 644 römischen Offizieren in der Zeit zwischen 350 und 476 konnte Hugh Elton zeigen, dass der Anteil von Offizieren barbarischer Herkunft in diesem Zeitraum nicht anstieg, sondern weitgehend konstant blieb. Der Stichprobe von Elton zufolge waren rund 80 % der Offiziere im fraglichen Zeitraum römischer Herkunft.130 Auch aufgeschlüsselt nach Dienstgraden und Zeitstufen bleibt dieses Verhältnis relativ konstant (Abb. 43).

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M. R EUTER /S T. P FAHL , Waffen aus römischen Einzelsiedlungen rechts des Rheins. Germania 74/1, 1996, 119–167, bes. 138–140. R EUTER /P FAHL , Waffen (wie Anm. 124) 139 mit Anm. 86. L. B AKKER, Raetien unter Postumus – Das Siegesdenkmal einer Juthungenschlacht im Jahre 260 n. Chr. aus Augsburg. Germania 71, 1993, 369–386. H ALSALL , Föderatengräber, 175. – I. H AYNES, Religion in the Roman army. In: H. Cancik/J. Rüpke (Hrsg.), Römische Reichsreligion und Provinzialreligion (Tübingen 1997) 113–126, bes. 116–120. H ALSALL , Föderatengräber, 175. H. E LTON , Warfare in Roman Europe, AD 350–425 (Oxford 1996) 135; 137 ff. E LTON , Warfare (wie Anm. 129) 145–152, bes. 148.

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Abb. 43: Römische Offiziere (350–476) nach Herkunft aufgeschlüsselt (nach E LTON , Warfare [wie Anm. 129] 148).

Selbst wenn man voraussetzt, dass die Waffenbeigabe in der Spätantike tatsächlich lediglich von Germanen ausgeübt worden sei, so folgert daraus keineswegs zwangsläufig, dass sie auch in der Merowingerzeit Germanen vorbehalten blieb. Die Waffenbeigaben in spätrömischer Zeit weichen nicht unwesentlich von den Ausstattungsmustern der Merowingerzeit

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes

ab:131 Die in der Merowingerzeit charakteristische „schwere Waffenbeigabe“ mit Spatha, Lanze und Schild findet sich nur in einem Teil der spätantiken Waffengräber, in denen vielmehr Beilwaffen vorherrschen.132 Wie bereits vielfach erwähnt, war die ehemals römische Bevölkerung in der Merowingerzeit keineswegs vom Militärdienst ausgeschlossen. Diese Tatsache war nicht das Ergebnis eines Emanzipationsprozesses der Gallorömer, sondern eine Konsequenz aus der Modalität der Entstehung des Frankenreiches: Die Auseinandersetzungen der „Warlords“ in Nordgallien endeten 486, als der rex Chlodwig den rex romanorum Syagrius besiegte. Nach der Niederlage wurde – Karl Ferdinand Werner zufolge – das Heer des Verlierers, der exercitus Gallicanus, in den bereits seit langem von Rom anerkannten exercitus Francorum eingegliedert.133 Spätestens seit diesem Zeitpunkt bestand das fränkische Heer zum Teil aus Personen einheimischer Herkunft, die somit zu „Franken“ wurden. Ferner stellt sich die Frage, ob der exercitus Francorum bereits vor diesem Ereignis allein aus Soldaten fränkischer Herkunft bestand. Ausgehend von einer entsprechenden Überlieferung Gregor von Tours’ entwickelte Jörg Jarnut die These, der römische Feldherr Aegidius habe Anfang der 460er Jahre, nachdem König Childerich ins Exil vertrieben worden war, tatsächlich für mehrere Jahre den Titel eines „Königs der Franken“ angenommen.134 Falls die These Jarnuts zutrifft, hätte dieser Schritt erhebliche Konsequenzen für die Entwicklung des Frankenbegriffs nach sich gezogen, wie Guy Halsall aufzeigte: Indem Aegidius den Titel rex annahm, wäre auch der von ihm befehligte Teil des nordgallischen Feldheeres zum exercitus francorum geworden. In Aegidius Heer befanden sich wohl bereits zuvor auch Soldaten rechtsrheinischer Herkunft; insgesamt hätte dieser neue exercitus francorum jedoch nur zu einem Teil aus barbarischen Kriegern bestanden. Nachdem Childerich als Befehlshaber wieder eingesetzt wurde, hätte er somit kein rein „fränkisches“ Heer mehr übernommen. Die Angehörigen nichtbarbarischer Abstammung in diesem Heer nahmen vielmehr in der Folge die „fränkische“ Identität an.135

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135

S TEUER, Sozialstrukturen, 303 f. – H ALSALL , Föderatengräber, 177 Anm. 73. B ÖHME , Grabfunde (wie Anm. 95) 164. Vgl. Kap. 7d. – WERNER, Ursprünge, 314. J. J ARNUT , Gregor von Tours, Frankengeschichte II, 12: Franci Egidium sibi regem adsciscunt. In: K. Brunner/B. Merta (Hrsg.), Ethnogenese und Überlieferung. Veröffentl. Inst. Österreich. Geschichtsforsch. 31 (Wien, München 1994) 129–134. G. H ALSALL , Childeric’s grave, Clovis’ succession, and the origins of the Merovingian kingdom. In: R. Mathisen/D. Shanzer (Hrsg.), Society and Culture in Late Antique Gaul (Aldershot u. a. 2001) 116–133, hier 126.

Waffenbeigabe

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Militarisierung der Gesellschaft oder elitärer Lebensstil? Wie bereits angedeutet, wird gegenwärtig statt der Interpretation der Waffenbeigabe vor dem Hintergrund einer ethnischen Dichotomie „germanisch“ versus „römisch“ vermehrt ein sozialgeschichtlicher Erklärungsansatz diskutiert. In der Debatte kristallisieren sich allmählich zwei teils voneinander abweichende Richtungen heraus: Während die eine Position die Wurzeln der Waffenbeigabe vor allem im militärischen Milieu lokalisiert, legten Frans Theuws und Monica Alkemade eine umfassende Studie vor, in der sie die spätantike und frühmittelalterliche Schwertbeigabe als Element eines „elitären Lebensstils“ (elite lifestyle) interpretierten.136 Der militärische Hintergrund der Waffenbeigabe in der Spätantike wird in der Forschung seit langem betont, etwa durch die Bezeichnung der Toten mit reichen Waffenbeigaben als „chefs militaires“. Im Rahmen seines Konzepts der „Grenzgesellschaft“137 brachte auch Whittaker die reichen Gräber mit Waffenbeigaben mit militärischen Funktionsträgern in Verbindung. Die Prunkgräber des Horizontes Flonheim-Gültlingen bezeichnete er beispielsweise als „warlords graves“.138 In diesem Sinne wäre die Waffenbeigabe in der Merowingerzeit als ein Element anzusehen, das innerhalb der militarisierten „Frontier society“ an der spätantiken Reichsgrenze entstand. Indem größere Teile der nordgallischen Bevölkerung Elemente dieser Grenzkultur übernahmen, habe sich auch die Waffenbeigabe zunehmend verbreitet. Obwohl die Überlegungen von Halsall und Whittaker den Ausgangspunkt des Modells von Theuws und Alkemade bilden,139 lehnen diese eine solch enge Bindung der Waffenbeigabe an den militärischen Bereich ab. Bei der Schwertbeigabe handele es sich vielmehr um ein Element einer neuen Ausdrucksweise, durch die eine heterogen zusammengesetzte Gruppe von Aristokraten eine neue Form eines elitären Lebensstils zum Ausdruck brachte. Die Waffenbeigabe spiegelte demnach keine tatsächliche militärische Funktion wider, sondern sei eine Ausdrucksform zur Darstellung von Macht.140 136 137 138 139 140

T HEUWS /A LKEMADE , Sword depositions. Vgl. Kap. 17c. W HITTAKER, Frontiers, 271. T HEUWS /A LKEMADE , Sword depositions, 452 f. T HEUWS /A LKEMADE , Sword depositions, 454: „It is our suggestion that the sword graves relate to the development of a new discourse on the exercise of power: in other words, they relate to the development of new ideas concerning the elite lifestyle of a heterogeneous group of aristocrats such as characterised northern Gaul in Late Antiquity.“

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes

Ausgangspunkt für Theuws und Alkemade ist eine radikale Abkehr von älteren Deutungsmustern. An Stelle des traditionellen germanisch-romanischen Antagonismus müsse der rituelle Kontext, der in den Gräbern deutlich werde, den Ausgangspunkt für die Interpretation der Schwertbeigabe bilden.141 Die Form des Totenrituals reflektiert nicht passiv gesellschaftliche Zustände oder soziale Hierarchien, sondern bilde ein Mittel zum Ausdruck von Ideen und beeinflusse auf diese Weise die gesellschaftliche Realität.142 Vor allem drei Elemente eines neuen elitären Lebensstils meinen Theuws und Alkemade erkennen zu können: Kriegerische Werte, festliche Gastmähler, sowie die Zurschaustellung des Körpers. Die Waffen rekurrierten auf kriegerische Werte. Die Beigabe von Gefäßen und Nahrung in den Gräbern symbolisiere die Gastmähler, während kostbare Kleidung und Kleidungsbestandteile in den Gräbern auf eine prunkvolle Zurschaustellung des Körpers (body display) verweisen. Dabei handele es sich nicht um „barbarische Prunksucht“, sondern vielmehr um eine neue Art, sozialen Status zum Ausdruck zu bringen.143 Anhand einer Kartierung der Schwertfunde aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts und dem beginnenden 6. Jahrhundert grenzten Theuws und Alkemade das Milieu der Träger des Phänomens der Schwertbeigabe in der frühen Merowingerzeit näher ein. Ähnlich wie Halsall, Whittaker und Jussen sehen auch Theuws und Alkemade das Aufkommen der Waffenbeigabe im Kontext des Schwindens traditioneller Herrschaftsformen während der Spätantike: Das Aufkommen der Waffenbeigabe stünde in Zusammenhang mit dem Verblassen der römischen Herrschaftsordnung und der daraus resultierenden Bedrohung des Status’ lokaler und regionaler Eliten.144 Bestimmte Gebiete blieben weitgehend frei von Waffengräbern. Bemerkenswerterweise handele es sich dabei um jene Regionen, in denen anhand der Schriftquellen eine Konzentration politischer Macht festzustellen sei: Die Picardie und das westliche Belgien haben das Kerngebiet des regnum der frühen Merowingerkönige gebildet. Im Moselraum um die ehemalige Kaiserresidenz Trier sei dagegen mit dem Fortleben römischer Machtstrukturen zu rechnen; ebenso frei von Schwertfunden blieben zudem der burgundi-

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T HEUWS /A LKEMADE , Sword depositions, 410 f. – Vgl. dazu jetzt auch F. T HEUWS, Grave goods, ethnicity, and the rhetoric of burial rites in Late Antique Northern Gaul. In: T. Derks/N. Roymans (Hrsg.), Ethnic constructs in Antiquity. The role of power and tradition (Amsterdam 2009) 283–319, bes. 290–293 und passim. T HEUWS /A LKEMADE , Sword depositions, 414. T HEUWS /A LKEMADE , Sword depositions, 412. T HEUWS /A LKEMADE , Sword depositions, 453.

Waffenbeigabe

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Abb. 44: Verbreitung der Schwertfunde der zweiten Hälfte des 5. und dem frühen 6. Jahrhundert (nach T HEUWS /A LKEMADE , Sword depositions, 462).

sche und westgotische Raum (Abb. 44).145 Grabfunde mit Schwertbeigabe fänden sich somit in diesem Zeithorizont vor allem in peripheren Regionen. Hier seien die Machtstrukturen besonders zersplittert gewesen. Die soziale und politische Position der örtlichen Eliten war deshalb besonders fragil, und musste ständig neu definiert und bekräftigt werden.146 Während Theuws und Alkemade somit die Eliten der peripheren Regionen Galliens als Urheber der frühen Gräber mit Schwertbeigabe identifizieren, interpretierten sie die Funktion der Waffenbeigabe innerhalb des 145 146

T HEUWS /A LKEMADE , Sword depositions, 463 f. T HEUWS /A LKEMADE , Sword depositions, 464 f.

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes

Grabrituals ausgehend von den sogenannten „Gründergräbern“: Durch die Bestattung sei ein Toter in einen Ahnen transformiert worden.147 In zahlreichen Fällen sei nun ein reich ausgestattetes Waffengrab in der frühesten Phase eines Reihengräberfelds zu beobachten.148 In Anlehnung an diesen Befund schlagen Theuws und Alkemade ein aus vier Ebenen bestehendes Modell der symbolischen Bedeutung der Schwertbeigabe vor:149 1) Die Bestattungsgemeinschaft suchte Schutz bei einem „Gründerahnen“. 2) Sie definierte aristokratische Werte, die sie in diesem Kontext für wichtig erachtete. 3) Das Ritual verdeutlichte die Fähigkeit der Bestattungsgemeinschaft, selbst Schutz zu gewähren. 4) Die Deponierung des Schwerts im Grab brachte zum Ausdruck, dass die Bestattungsgemeinschaft unter dem Schutz einer übergeordneten Instanz, dem Königshaus, stünde. Während der gesamten Merowingerzeit sei dieses Ritual auf unterschiedlichen sozialen Ebenen immer wieder vollzogen worden: Die Schwertbeigabe diente somit der rituellen Kreation von „schutzgewährenden Ahnen“ und der Bekräftigung der damit verbundenen Werte.150 In manchen Teilen wird man der Deutung der Schwertbeigabe durch Theuws und Alkemade durchaus folgen können. Besonders die Beobachtung, dass die frühen Gräber mit Schwertbeigaben eher an der Peripherie der regionalen Machtzentren vorkommen, entwickelt das Modell der Entstehung der Waffenbeigabe als Reaktion auf die Desintegration der römischen Herrschaftsstrukturen auf plausible Weise weiter. Das Vorkommen von frühen Schwertgräbern im Gebiet von Seine, Marne und Oise jedoch als Indiz für die Richtigkeit der These Edward James werten zu wollen,151 ein überregional bedeutendes Reich des Syagrius habe es nie gegeben,152 läuft auf einen Zirkelschluss hinaus. Schwieriger als die Identifikation des sozialen und regionalen Milieus, das für die Ausbildung der Schwertbeigabe verantwortlich zeichnete, bleibt m. E. dagegen die Frage nach der rituellen Bedeutung der Waffenbeigabe. Letztlich zeigt auch die Interpretation von Theuws und Alkemade, dass 147 148 149 150 151 152

T HEUWS /A LKEMADE , Sword depositions, 417. T HEUWS /A LKEMADE , Sword depositions, 448. T HEUWS /A LKEMADE , Sword depositions, 466 f. T HEUWS /A LKEMADE , Sword depositions, 467. T HEUWS /A LKEMADE , Sword depositions, 465. E. J AMES, The Franks (Oxford 1988) 67–71.

Waffenbeigabe

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dem erklärten Ziel, das Ritual aus der „Sicht der Teilnehmer“ (actor’s view) zu rekonstruieren, Grenzen gesetzt sind. Besonders problematisch ist der Versuch, die Waffenbeigabe vor dem Hintergrund eines betont „aristokratischen“ Lebensstils erklären zu wollen. Theuws und Alkemade stützen sich in diesem Zusammenhang auf die Voraussetzung, dass Schwerter grundsätzlich eine wichtige Funktion innerhalb der sozialen Austauschsysteme der frühmittelalterlichen Aristokratie erfüllten. Für bestimmte, besonders kostbare Schwerttypen der frühen Merowingerzeit liegen tatsächlich Befunde vor, die eine solche Funktion wahrscheinlich machen.153 Angesichts der Gesamtzahl der merowingerzeitlichen Schwertfunde handelt es sich dabei jedoch nur um einen Bruchteil. Im Untersuchungsgebiet von Theuws und Alkemade in Norddeutschland, Belgien und den Niederlanden sind Spathas tatsächlich vergleichsweise selten.154 In anderen Teilen des Reihengräbergebietes ist die Frequenz der Schwertbeigabe wesentlich höher. Der quantitativen Erhebung Frank Siegmunds zufolge finden sich während des 6. Jahrhunderts zwar in lediglich 12 % der Gräber des „fränkischen“ Gebiets eine Spatha, im alemannischen Raum sind dagegen bereits 37 % mit dieser Waffe ausgestattet.155 Bei diesen Zahlen handelt es sich zudem um Durchschnittswerte, so dass regional der Anteil der Spathagräber noch höher ist. Will man nicht eine geradezu inflationäre Anzahl von Adeligen in manchen Teilen des merowingerzeitlichen Süddeutschlands annehmen, so legt der archäologische Befund hier keine Bindung der Schwertbeigaben an ein aristokratisches Milieu nahe. Theuws und Alkemade stützten sich ferner auf entsprechende Hinweise in den Schriftquellen und besonders auf ein Modell, das Jos Bazelmans anhand des Beowulf-Epos entwickelte.156 Zur Rekonstruktion der von ihnen konstatierten „Ideologie des Schwertes“157 stützten sie sich außerdem auf eine Untersuchung Olivier Bouzys zur symbolischen Bedeutung der

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157

H. S TEUER, Helm und Ringschwert. Prunkbewaffnung und Rangabzeichen germanischer Krieger. Stud. z. Sachsenforsch. 6, 1987, 189–236. T HEUWS /A LKEMADE , Sword depositions, 426 f. F. S IEGMUND , Kleidung und Bewaffnung der Männer im östlichen Frankenreich. In: Die Franken, 691–706, hier 705 Abb. 577. J. B AZELMANS, Beyond power and ceremonial exchanges in Beowulf. In: F. Theuws/ J. L. Nelson (Hrsg.), Rituals of power. From Late Antiquity to the Early Middle Ages. Transformation of the Roman World 8 (Leiden, Boston, Köln 2000) 311–375. – D ERS., By weapons made worthy. Lords, retainers and their relationship in Beowulf (Amsterdam 1999). T HEUWS /A LKEMADE , Sword depositions, 419–423.

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes

Reichsinsignien von der Karolingerzeit bis zur Stauferzeit,158 sowie auf hochmittelalterliche nordische Sagas.159 Ob es, wie die Autoren versichern, anhand dieser Quellen tatsächlich möglich ist, eine einheitliche Bedeutung des Schwertes zu rekonstruieren,160 die in allen frühmittelalterlichen Königreichen Nordwesteuropas verbreitet war, ist sicherlich noch zu diskutieren. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob ein solches Modell bedenkenlos in das Milieu des spätantiken Galliens bzw. des frühmittelalterlichen Merowingerreiches zu übertragen ist. Immerhin sind die Schriftquellen, die zur Rekonstruktion der „Schwertideologie“ herangezogen wurden, nicht nur zum Teil erheblich jünger; sie stammen zudem aus dem etwas anders gelagerten kulturellen Milieu außerhalb des ehemaligen römischen Reiches. Die Untersuchung der Entwicklung des Adels ausgehend von der spätantiken Nobilitas zeigt dagegen, wie sehr der frühmittelalterliche Adel in seiner Funktion und seinen Repräsentationsformen dem römischen Erbe verhaftet war.161

e) Bestattung in fibelgeschmückter Kleidung Wie kaum eine andere archäologische Quellengattung besitzen Funde von Kleidung und Kleidungsbestandteilen ein großes Potential für die Erkenntnis von Identitäten. Aufgrund dieses Potentials beschäftigen sich zahlreiche Kulturwissenschaften mit dem Phänomen „Kleidung“.162 Unter den unmittelbaren Nachbarwissenschaften der Frühmittelalterarchäologie stützt sich die Kunstgeschichte dabei vor allem auf bildliche Quellen, wohingegen die Geschichtswissenschaft entsprechende Schriftquellen beisteuert. Werden im Idealfall die verschiedenen Quellen miteinander kombiniert, so gelingt es, ein recht vollständiges Bild vom Aussehen und der sozialen Differenzierung der Kleidung zu gewinnen.163 Die textilen Teile der frühmittelalterlichen Kleidung haben sich nur in Ausnahmefällen erhalten. Der Archäologie stehen jedoch in großer Zahl Funde von Kleidungszubehör zur Verfügung, unter denen die Fibeln sowie 158

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163

O. B OUZY, Les armes symboles d’un pouvoir politique: l’epée du sacre, la sainte lance, l’oriflamme aux VIIIe-XIIe siècles. Francia 22, 1995, 45–57. T HEUWS /A LKEMADE , Sword depositions, 421. T HEUWS /A LKEMADE , Sword depositions, 403; 419. W ERNER, Naissance, bes. 145–250. S. B OVENSCHEN , Kleidung. In: Chr. Wulf (Hrsg.), Vom Menschen. Handbuch historische Anthropologie (Weinheim, Basel 1997) 231–242. Vgl. etwa die Untersuchung: M. M ÜLLER, Die Kleidung nach Quellen des frühen Mittelalters. Textilien und Mode von Karl dem Großen bis Heinrich III. Ergbde. RGA 33 (Berlin, New York 2003).

Bestattung in fibelgeschmückter Kleidung

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die metallenen Gürtelteile den Löwenanteil ausmachen. Dieser durch Überlieferungsbedingungen determinierte Ausschnitt der ehemaligen Kleidung erlaubt es durchaus, Aufschlüsse über soziale Zustände und Veränderungen zu gewinnen: In dem Maße, in dem es anhand entsprechender Funde gelingt, bestimmte Zeitstile, regionale Verbreitungen oder Qualitäten, aber auch alters- oder geschlechtsspezifische Ausprägungen herauszuarbeiten, ist es beispielsweise möglich, Erkenntnisse über Modeempfinden, regionale und soziale Identitäten oder die Organisation von Altersgruppen oder Geschlechterrollen zu erzielen.164 Gerade die reichen Funde metallener Kleidungsbestandteile aus den merowingerzeitlichen Reihengräberfeldern bieten hier besonders günstige Voraussetzungen für quantitative Erhebungen. Wenn diese Erkenntnismöglichkeiten bislang nur zum Teil ausgeschöpft wurden, so ist dies wohl darauf zurückzuführen, dass die Interpretation der entsprechenden Funde in der Vergangenheit der Archäologie des frühen Mittelalters vielfach unter dem dominierenden Einfluss des „Trachtenparadigmas“165 standen. Ohne den Hintergrund des Trachtbegriffs ist sowohl eine Beurteilung der traditionellen Interpretationen als auch das Verständnis des gegenwärtigen Forschungsstandes in der Frühmittelalterarchäologie nicht möglich. „Tracht“ und „Trachtenparadigma“ oder Kleidungsforschung? Im zweiten Teil dieser Arbeit wurde ausführlich gezeigt, dass die Praxis, Funde von metallenen Kleidungsbestandteilen in Gräbern als Niederschlag ethnisch spezifischer „Trachten“ zu interpretieren, seit den 1930er Jahren eine zentrale Rolle bei der ethnischen Interpretation frühmittelalterlicher Grabfunde spielte. Wie ebenfalls bereits angesprochen, handelt es sich bei dieser Interpretationsrichtung um keine Schöpfung der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie, sondern um die Übernahme einer älteren Tradition der mitteleuropäischen Volkskunde.166 Die in der Volkskunde des 19. Jahrhunderts geläufige Vorstellung, vormoderne Gesellschaften seien weitgehend statisch und stabil, spiegelt sich nicht allein in den Konzepten „Sitte“ und „Brauch“ wieder;167 innerhalb der 164

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S. S PIONG , Fibeln und Gewandnadeln des 8. bis 12. Jahrhunderts in Zentraleuropa. Eine archäologische Betrachtung ausgewählter Kleidungsbestandteile als Indikatoren menschlicher Identität. Zeitschr. Arch. Mittelalter, Beih. 12 (Bonn 2000) bes. 12–20. K ASCHUBA , Europäische Ethnologie, 227. Vgl. Kap. 11d. Vgl. Kap. 17a.

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes

Sachkultur sah man besonders in den „Trachten“ den statischen Charakter traditioneller Kulturen manifestiert. Das negative Pendant der Tracht bildete die „Mode“, die im Diskurs des 19. Jahrhunderts zur Ausgeburt der traditionszerstörenden Moderne stilisiert wurde:168 „Mode ist nivellierend, Völker wie Individuen eingleichend “, erklärte der Modekritiker Friedrich Theodor Vischer 1879 in Hinblick auf das „bedrohliche“ Potential der Mode.169 Ungeachtet der Tatsache, dass gerade die Formen des Kleidungszubehörs aus Metall in der Regel einem verhältnismäßig raschen Wandel unterworfen ist, und deshalb auch das Rückgrat fast jedes frühgeschichtlichen Chronologiesystems bildet, schrieb auch die Archäologie des frühen Mittelalters ihren betreffenden Funden paradigmatisch eine besondere Traditionsgebundenheit zu. Hayo Vierck brachte diesen Sachverhalt auf die Formel: Im Gegensatz zu unseren rasch wechselnden Kleidermoden bezeichnet Tr a c h t die Kleidung vorindustrieller Gesellschaften mit ihren Leitwerten Kontinuität und Dauer.170

Neben der Vorstellung von Kontinuität und Tradition war der Begriff der „Tracht“ von Anfang an eng mit dem „Volkstum“ verknüpft. Wie bereits erwähnt begründete Friedrich Ludwig Jahn in seinem Werk „Deutsches Volkstum“ die Forderung nach der Schaffung einer „Allgemeinen Volkstracht“ mit der Ansicht, dass diese in alter Zeit bereits vorhanden gewesen sei, und erst unter dem verderblichen Einfluss Frankreichs aufgegeben wurde. Diese Volkstracht hätte nicht nur von „echtem Volkssinn“ und „hohem Volkstumsgeist“ gezeugt, sondern geradezu Gewähr getragen für den Fortbestand eines Volkes und es vor dem Verlust seiner ethnischen Identität geschützt.171 Wie bereits gezeigt, herrscht in der Frühmittelalterarchäologie bis in die Gegenwart die Auffassung vor, die Kleidung mit Fibeln spiegele in der Merowingerzeit vor allem die ethnische Identität ihrer Trägerinnen wieder.172 Die These von der durch „ihr Volkstum geprägten Schmucktracht“173 der Frauen wird, ungeachtet aller Vorbehalte gegen die germanische Interpretation der Reihengräber insgesamt, auch von zahlreichen Gelehrten außerhalb der mitteleuropäischen Forschungstradition geteilt; Michel Kazanski 168 169

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B OVENSCHEN , Kleidung (wie Anm. 162) 236. F. T H . V ISCHER, Mode und Zynismus. Beiträge zur Kenntniss unserer Culturformen und Sittenbegriffe (Stuttgart 1879) 30. H. V IERCK , Trachtenkunde und Trachtgeschichte in der Sachsen-Forschung, ihre Quellen, Ziele und Methoden. In: C. Ahrens (Hrsg.), Sachsen und Angelsachsen. Ausstellung des Helms-Museums Hamburg 18. Nov. 1978–28. 2. 1979 (Hamburg 1978) 231–243, hier 232. F. L. J AHN , Deutsches Volkstum (Berlin 1991) 226–230. Vgl. Kap. 16a. A MENT , Franken, 391.

Bestattung in fibelgeschmückter Kleidung

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und Patrick Périn legten etwa bei ihrer Studie zu den „östlichen Barbaren“ im spätrömischen Heer ebenfalls die Prämisse zugrunde, die Frauenkleidung sei in „archaischen“ Gesellschaften strengen Regeln unterworfen und jeweils für eine bestimmte Ethnie charakteristisch gewesen.174 Ungeachtet der Bestimmtheit, mit der diese Ansicht vorgetragen wird, muss die Entwicklung in der volkskundlichen Kleidungsforschung seit Mitte der 1970er Jahre nachdenklich stimmen: Wie beim Begriffspaar „Brauch und Sitte“ hat sich auch im Falle der „Tracht“ die Einschätzung dieses Konzepts gerade in jenem Fach grundlegend gewandelt, aus dem es ursprünglich entlehnt wurde. Durch seine vermeintlich enge Bindung an das „Volkstum“ schien der älteren Volkskunde – so Wolfgang Kaschuba – die Tracht in besonderem Maße dazu geeignet, Aufschluss über „die ‚Gliederung des Volkskörpers‘ in regionale Typen und soziale Gruppen“ zu gewähren. Ähnlich wie manche Spezialisten für frühmittelalterliche Fibeln noch heute, sahen sich mehrere Generationen volkskundlicher Kleidungsforscher unter dem Eindruck des Trachtenparadigmas dazu in der Lage, „ fast mit geschlossenen Augen jedem Textilstück seinen landsmannschaftlichen Platz […] zuzuweisen“.175 Mittlerweile hat sich die Volkskunde vom „Trachtenparadigma“ gelöst; mit der traditionellen „Trachtenforschung“ hat die moderne volkskundliche „Kleidungsforschung“176 nur noch wenig gemein. Aufgrund des besonderen Zeichencharakters betrachtet auch die Volkskunde Kleidung zwar nach wie vor als äußert aufschlussreich für das Studium der sozialen Binnengliederung von Gesellschaften, nicht aber für die Erkenntnis „volkstümlicher“ Eigenheiten. Kaschuba zufolge erwies sich dieser metahistorische Überbau des Trachtbegriffs im Rahmen einer ideologisch weniger befangenen Forschung als Ausdruck des Wunsches nach einer heilen und geordneten vergangenen Volkswelt. Die Tracht gleichsam als Regionaluniform existierte wohl nirgendwo und nie, weil auch regionale Materialien und Schnitte immer den wirtschaftlichen wie ästhetischen Einflüssen unterlagen, die aus dem Handel, der handwerklichen Produktion und der überregionalen Mobilität erwuchsen.177

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177

M. K AZANSKI /P. P ÉRIN , Les Barbares „orientaux“ dans l’armée romaine en Gaule. Ant. Nat. 29, 1997, 201–217, hier 201: „Dans les sociétés archaïques le costume féminin est sacralisé et représente une particularité ethnographique.“ – Ähnlich jetzt auch D IES, Identité ethnique en Gaule à l’époque des Grandes Migrations et des Royaumes barbares: étude de cas archéologiques. Ant. Nat. 39, 2008, 181–216, hier 196. K ASCHUBA , Europäische Ethnologie, 227. G. B ÖTH , Kleidungsforschung. In: R. W. Brednich (Hrsg.), Grundriss der Volkskunde (2Berlin 1995) 211–228. K ASCHUBA , Europäische Ethnologie, 227.

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Die Anfänge des Reihengräberhorizontes

Angesichts dieser Entwicklung in der Volkskunde stellt sich die Frage, ob sich das „Trachtenparadigma“ in der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie weiter aufrecht erhalten lässt; der Verdacht liegt nahe, dass es sich bei den ethnisch spezifischen Trachten der frühgeschichtlichen Archäologie ebenso um wissenschaftliche Trugbilder handelt, wie sich die „Volkstrachten“ der Volkskunde als „museale Illusionen“ erwiesen haben.178 Die Befunde der Schriftquellen stützen die These, im frühen Mittelalter habe es ethnisch spezifische „Trachten“ gegeben, in keiner Weise, wie Walter Pohl in seiner grundlegenden Studie zu den Zeichen ethnischer Identität feststellte.179 Zwar war die Vorstellung, die barbarischen gentes ließen sich anhand ihrer Kleidung voneinander unterscheiden, in der antiken ethnographischen Literatur durchaus geläufig;180 allerdings prägen zahlreiche Widersprüche die entsprechenden Ausführungen. Archäologisch feststellbare fundamentale Änderungen der Kleidungsstile hinterließen dagegen keinen Niederschlag in den Schriftquellen.181 Während der traditionelle Trachtbegriff von einer statischen Betrachtungsweise vormoderner Kleidungsgewohnheiten ausging, wurde durch den Abschied vom „Trachtenparadigma“ der Weg frei für das Studium jener Vorgänge, die hinter der Veränderung von Kleidungsgewohnheiten stehen. „Kleidung als Indikator kultureller Prozesse“ lautete der Titel des richtungsweisenden Aufsatzes, mit dem diese neue Etappe der volkskundlichen Betrachtungsweise von Kleidung eingeleitet wurde.182 Unter dem Einfluss analoger Entwicklungen in der internationalen ethnologischen bzw. anthropologischen Diskussion wird ein solcher Ansatz mittlerweile auch in der Mittelalterforschung fruchtbar gemacht. Während also aus historischer Sicht zweifelhaft erscheinen muss, dass Kleidung vor allem die ethnische Identität von Toten widerspiegelte, so legen die Schriftquellen im Gegenzug nachdrücklich nahe, dass diese beim Bestattungsakt ebenso wie im Leben eine große symbolische Bedeutung besaß, wie Bonnie Effros kürzlich noch einmal herausarbeitete.183 Sowohl historische als auch archäologische Quellen lassen erkennen, dass mittels Kleidung und Kleidungsbestandteilen verschiedene Ebenen personaler Identitäten zum Ausdruck gebracht werden konnten, etwa Ge178 179 180 181 182

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B ÖTH , Kleidungsforschung (wie Anm. 176) 220. P OHL , Difference, 40–51. – D ERS., Völkerwanderung, 21. Vgl. Kap. 2a. P OHL , Difference, 48 f. H. G ERNDT , Kleidung als Indikator kultureller Prozesse. Eine Problemskizze. Zeitschr. f. Volkskde 70, 1974, 81–92. B. E FFROS, Caring for body and soul. Burial and the afterlife in the Merovingian world (University Park, PA 2002) 13–39.

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schlecht, soziale Position, religiöses Bekenntnis, Altersklasse aber auch persönliche Überzeugungen oder Vorlieben. Besonders im frühen Mittelalter bildete Kleidung ein Zeichensystem, mit Hilfe dessen es möglich war, Botschaften in symbolischer Form zum Ausdruck zu bringen. Die Kleidung war dabei weniger ein passiver Ausdruck althergebrachter Traditionen, als vielmehr ein sich ständig ändernder semantischer Code, mit dessen Hilfe die Teilnehmer ihre eigene Position innerhalb der Gesellschaft zum Ausdruck bringen, aber auch herausfordern und verändern konnten. Kleidung besitzt eine ideologische Dimension, mit deren Hilfe bestehende soziale Hierarchien legitimiert, verändert oder vertieft werden können.184 Diese Hierarchien werden ständig neu konstruiert; das Abbild der Gesellschaft, das mittels Kleidung zum Ausdruck gebracht wird, spiegelt weniger die gesellschaftliche Realität als ein gesellschaftliches Ideal wider, das zumindest teilweise fiktiv ist.185 Problematisch beim Studium dieses Zeichencodes ist jedoch, dass diese symbolische Sprache allenfalls fragmentarisch zu erschließen ist; lediglich schriftliche, mitunter auch bildliche Quellen können Aufschluss über die symbolische Dimension eines Kleidungsstücks gewähren. Archäologische „funktionale Daten“ können dagegen die Bindung an eine bestimmte Alters- oder Geschlechtsgruppe oder einen bestimmen sozialen Status wahrscheinlich machen. Angesichts des fragmentarischen Bestands historischer und bildlicher Quellen wird ein vollständiges Verständnis frühmittelalterlicher Kleidungscodes wohl niemals zu erreichen sein.186 Schriftliche Quellen legen zudem nahe, dass die textilen Teile nicht allein den optischen Eindruck der Kleidung bestimmten, sondern ebenfalls einen bedeutenden Wert darstellten; aus archäologischer Perspektive besteht deshalb die Gefahr, das Zeichenpotential der metallenen Kleidungsbestandteile allein deshalb zu überschätzen, weil sie aufgrund der ungleich besseren Erhaltungsbedingungen in großer Zahl überliefert sind.187 Ähnlich wie bei der Waffenbeigabe kann auch in diesem Falle keineswegs vorausgesetzt werden, dass Kleidung und Kleidungsbestandteile im Kontext einer Bestattung die gleiche Bedeutung hatten, wie zu Lebzeiten der Verstorbenen. Besonders die Beigabe von kostbaren Gegenständen bietet einen großen „semiotischen Spielraum“ und ein beträchtliches ideologisches Potential. Für die Entscheidung, einem Toten ein besonders kost184 185

186 187

E FFROS, Burial (wie Anm. 183) 13–15. E FFROS, Burial (wie Anm. 183) 17. – Ähnlich bereits S TEUER, Sozialstrukturen, 74–94. E FFROS, Burial (wie Anm. 183) 17. E FFROS, Burial (wie Anm. 183) 19–25.

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bares Objekt mit ins Grab zu legen, können verschiedene Faktoren den Ausschlag gegeben haben, etwa eine besondere Beziehung des Toten zu diesem Objekt, aber auch das Bedürfnis der Hinterbliebenen nach einer besonders aufwändigen Bestattung.188 Wie bereits in römischer Zeit war auch in der Merowingerzeit die Bestattung eine private und lokale Angelegenheit, die von den Angehörigen der Toten geregelt wurde. Gesetzliche Regelungen betrafen allein den Schutz der Grabstätten vor dem – allerdings weit verbreiteten – Grabraub. Während der Merowingerzeit respektierten auch kirchliche Institutionen diesen Bereich. Der Bestattungsakt lag weitgehend außerhalb der Zuständigkeit des Klerus. Soweit schriftliche Quellen zu erkennen geben, tolerierte dieser auch die Praxis der Grabbeigaben; als Bedrohung für das Christentum wurden diese offensichtlich nicht gesehen. Erst im Laufe des 7./8. Jahrhunderts dehnten die Priester ihre Zuständigkeit als Mittler zwischen Gott und den Menschen auch auf den Bestattungsakt aus.189 In der Karolingerzeit wurden erstmals Gesetze erlassen, die eine größere Einheitlichkeit der Bestattungsweisen erzwingen sollten.190 Während einerseits offensichtlich ist, dass die Beigabe besonders wertvoller Kleidungsbestandteile ein wichtiges Mittel zur Demonstration von sozialem Status war, macht keine frühmittelalterliche merowingerzeitliche Schriftquelle wahrscheinlich, dass einer bestimmten sozialen oder rechtlichen Gruppe von vornherein die Möglichkeit verwehrt wurde, auf diesem Wege soziales Prestige zu erwerben oder zum Ausdruck zu bringen.191 In ähnlicher Weise betonen auch Frans Theuws und Monica Alkemade die Bedeutung der Zurschaustellung des prunkvoll geschmückten Körpers (Body display) als Mittel sozialer Distinktion.192 Vor diesem Hintergrund erscheint es wenig wahrscheinlich, dass etwa Frauen einheimischer Herkunft in ihrer Kleidung bzw. die hinterbliebene Bestattungsgemeinschaft bei der Grablegung von vornherein etwa auf kostbare Fibeln als Mittel sozialer Kommunikation und des Erwerbs sozialen Prestiges verzichtet haben sollen.

188 189 190 191 192

E FFROS, Burial (wie Anm. 183) 18. E FFROS, Burial (wie Anm. 183) 139. E FFROS, Burial (wie Anm. 183) 143. E FFROS, Burial (wie Anm. 183) 55. T HEUWS /A LKEMADE , Sword depositions, 412.

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Die Entstehung der frühmerowingerzeitlichen Frauenkleidung Wie bereits gezeigt, ist die Vorstellung, die fibelgeschmückte Frauenkleidung sei eng an das „germanische Volkstum“ gebunden und stelle eine genuin „germanische Frauentracht“ dar, bis in jüngste Zeit in der Frühmittelalterarchäologie geläufig.193 In der Regel bildet diese Feststellung jedoch nicht das Ergebnis archäologischer Untersuchungen, sondern vielmehr deren Ausgangspunkt. Da die „germanischen Trachtbestandteile“, wie im zweiten Teil dieser Arbeit ausführlich gezeigt wurde, seit vielen Jahrzehnten einen Hauptpfeiler für die germanische Interpretation der beigabenführenden Reihengräberfelder insgesamt darstellen, verwundert es nicht, dass an ihrem germanischen Charakter besonders zäh festgehalten wird, obwohl sich die Indizien mehren, die auf bedeutende Wurzeln der frühmerowingerzeitlichen Kleidung im spätrömischen Milieu hindeuten. Vor dem gegenwärtigen archäologischen Kenntnisstand ist es kaum möglich, plausibel zu begründen, weshalb die betreffenden Kleidungsstile und Kleidungsbestandteile „germanisch“ sein sollen. Gerade die Forschung der letzten zwei Jahrzehnte hat immer deutlichere Hinweise erbracht, wie eng die „römische“ und die „germanische“ Kleidung bereits in der Kaiserzeit und in der Spätantike miteinander verbunden waren.194 Die für den frühen Reihengräberhorizont typische „westgermanische Frauentracht“ bzw. „Vierfibeltracht“ unterscheidet sich einerseits grundlegend von der Frauenkleidung in der kaiserzeitlichen und spätantiken Germania. Andererseits deuten sowohl die Herkunft der Kleidungstücke als auch die Form und Funktion der Fibeln in das provinzialrömische Milieu. Um diesem Befund Rechnung zu tragen, operiert die traditionelle Reihengräberforschung mit einer eigentümlich eingleisigen Entlehnungstheorie: Ursprünglich römische Formen werden demnach von Germanen aufgenommen, und zu typisch germanischen „Trachten“ transformiert. Obwohl diese Kleidung zwangsläufig noch große Ähnlichkeit mit der originalen römischen Kleidung aufweist, sei sie trotzdem niemals von einheimischen Frauen übernommen worden, sondern dauerhaft allein Frauen germanischer Herkunft vorbehalten geblieben. Vor allem für die merowingerzeitlichen Bügelfibeln wird dies mit besonderem Nachdruck vertreten. Lediglich für die „genuin germanischen“ Armbrust- und Bügelknopffi193 194

Vgl. Kap. 16a. Vgl. dazu ausführlich unter Einbeziehung der relevanten schriftlichen, bildlichen und archäologischen Quellen: P HILIPP V. R UMMEL , Habitus barbarus. Kleidung und Repräsentation spätantiker Eliten im 4. und 5. Jahrhundert. Ergbde. RGA 55 (Berlin, New York 2007).

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beln wird mitunter eine Übernahme in die römische Frauenkleidung angenommen.195 Entsprechende Interpretationen beruhen auf der Prämisse eines strengen Antagonismus’ römischer und germanischer „Trachten“ und eines ebenso rigiden Dualismus’ in den Handwerkstraditionen. Selbst wenn man einen solchen Antagonismus voraussetzt, wäre die aus der Abhängigkeit von römischen Entwicklungen resultierende Ähnlichkeit von römischer und germanischer Kleidung ein weiteres Indiz dagegen, dass ein anfangs möglicherweise „germanischer“ Kleidungsstil während der gesamten Merowingerzeit allein „germanischen“ Frauen vorbehalten geblieben sei: Da offensichtlich sowohl der Schnitt der Kleidungsstücke als auch die verschiedenen Kleidungsbestandteile im „romanischen“ Milieu im Prinzip bekannt waren, erscheint es besonders unwahrscheinlich, dass einheimische Frauen eine Kleidung, die allenfalls einige „germanische“ Eigenheiten aufwies, nicht übernommen haben sollen, falls sie dies wünschten. Durch die systematische Analyse gut dokumentierter Grabbefunde mit Kleidungsbestandteilen arbeitete besonders Max Martin in den letzten beiden Jahrzehnten den Einfluss römischer Kleidungsstile auf die „germanische“ Bekleidung heraus.196 Bedeutsam für die Anfänge des Reihengräberhorizontes ist vor allem der deutliche Bruch, den er zwischen den älteren Kleidungsgewohnheiten in der Germania und der „Westgermanischen Frauentracht“ nachwies, die für den frühen Reihengräberhorizont typisch ist. In der kaiserzeitlichen Germania trugen die Frauen die sogenannte Peploskleidung, ein Kleidungsstück, das von zwei Nadeln oder Fibeln auf den Schultern zusammengehalten wurde. Der Peplos war bereits im Klassischen Griechenland geläufig. Auch in den römischen Provinzen wurde er getragen, häufig wohl durch die Fortführung älterer, vorrömischer Kleidungsstile. Das prominenteste Beispiel in diesem Zusammenhang ist die sogenannte „norisch-pannonische Tracht“ (Abb. 45).197 Soweit sich anhand der Metallteile erkennen lässt, unterschied sich im 1. und 2. Jahrhundert der Peplos der provinzialrömischen Frauen nicht von der Kleidung der Germaninnen.198 195

196

197

198

M. M ARTIN , Späte Völkerwanderungszeit und Merowingerzeit auf dem Kontinent. In: R. Müller/H. Steuer (Hrsg.), Fibel und Fibeltracht. RGA Studienausgabe (Berlin, New York 2000) 541–579, hier 578. M. M ARTIN , Tradition und Wandel in der fibelgeschmückten frühmittelalterlichen Frauenkleidung. Jahrb. RGZM 38, 1991 [1995], 629–680. A. B ÖHME -S CHÖNBERGER, Kleidung und Schmuck in Rom und den Provinzen. Schr. Limesmus. Aalen 50 (Stuttgart 1997) 36 f. A. B ÖHME -S CHÖNBERGER, Germanisch-römische Trachtbeziehungen im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. In: C. Bridger/C. v. Carnap-Bornheim (Hrsg.), Römer und

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Während die Frauen des „nord-“ und „ostgermanischen“ Gebiets auch in der Völkerwanderungszeit an dieser Kleidung festhielten, änderte sie sich im „westgermanischen“ Gebiet während des 5. Jahrhunderts grundlegend. Martin zufolge handelte es sich bei dieser Epoche im Bereich der Kleidung um eine „experimentierfreudige Übergangszeit “. Die Entwicklung der Kleidung entspricht somit einem Zustand, der in zahlreichen weiteren kulturellen Bereichen zu erkennen ist.199 Vor allem anhand der Frauenkleidung ist Martin zufolge ein „Abbruch und Neubeginn“ am Übergang von der späten Kaiserzeit bzw. der Völkerwanderungszeit zur Merowingerzeit festzustellen.200 An Stelle des Peplos tritt „unter dem Einfluss der provinzialrömischen Mode“ ein neuer Kleidungsstil. Die typische Frauenkleidung des frühen Reihengräberhorizontes besteht nach Martin aus drei Elementen: Einem Mantel oder Umhang, der mit Hilfe eines Kleinfibelpaares am Hals bzw. auf der Brust verschlossen wurde.201 Dieses Kleidungsstück kam in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts auf. In den Jahrzehnten um 600 wurde das Kleinfibelpaar von einer Einzelfibel abgelöst;202 dieser Umschwung zur „Einfibeltracht“ wird gegenwärtig nahezu einhellig auf den Einfluss einer mediterranen Mode zurückgeführt.203 Die Wurzeln dieses Mantels identifizierte Martin im römischen Milieu des 5. Jahrhunderts. Besonders die ältesten, stark römisch geprägten und vermutlich von römischen Handwerkern hergestellten Kleinfibeln belegen, dass das so verschlossene Kleidungsstück im 5. Jahrhundert in den romanischen Teilen Galliens geläufig war. In der frühmerowingischen Zeit hätten wohlhabende Damen germanischer Abstammung dieses Kleidungsstück in die „fränkische“ und „frühburgundische“ Tracht übernommen.204 Als Gründe für das Aufkommen der Praxis, den bereits seit langem bekannten Mantel nun mit Fibeln zu verschließen, deutet Martin zwei Möglichkeiten an: Entweder sei darin ein Zeichen der „Germanisierung“ zu sehen. Ebenso möglich sei jedoch, dass die Damen des 5. Jahrhunderts mit den Fibeln ein Element der zeitgenössischen Männerkleidung übernahmen, wie dies wohl auch bei den Gürteln der Fall war.205

199 200 201 202 203 204 205

Germanen – Nachbar über Jahrhunderte. BAR Int. Ser. 678 (Oxford 1997) 7–11, hier 9. Kap. 17b. M ARTIN , Tradition (wie Anm. 196) 674. M ARTIN , Tradition (wie Anm. 196) 643. M ARTIN , Tradition (wie Anm. 196) 646. M ARTIN , Tradition (wie Anm. 196) 631. M ARTIN , Tradition (wie Anm. 196) 649. M ARTIN , Tradition (wie Anm. 196) 649.

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Abb. 45: Relief eines Mädchens in norisch-pannoischer Kleidung auf einem Grabstein aus Klagenfurt (nach B ÖHME -S CHÖNBERGER, Kleidung [wie Anm. 197] 37).

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Auch das zweite Element der frühmittelalterlichen Frauenkleidung verweist in das römische Milieu: An Stelle des Peplos trat die mediterrane Tunika. Diese bestand aus einem Stück und benötigte keine Fibeln auf den Schultern. Dieser Wandel bahnte sich offenbar bereits während der späten Kaiserzeit an. Nach 400 finden sich im zentralen Mitteleuropa im Grunde keine Funde von Fibeln in Schulterlage mehr.206 Auch das dritte Element der frühmerowingerzeitlichen Frauenkleidung ist stark von römischen Traditionen geprägt. Statt auf den Schultern werden in frühmerowingerzeitlichen Frauengräbern die Bügelfibeln in der Regel im Beckenbereich gefunden. Detailliert dokumentierte Befunde lassen erkennen, dass die Fibeln vielfach horizontal getragen wurden. Martin zufolge verloren sie somit vollkommen ihre funktionale Bedeutung innerhalb der Kleidung: Statt an den Schultern die Kleidung zu verschließen, wurden sie als reine Zierobjekte an einem breiten Gürtel getragen bzw. auf eine Schärpe gesteckt. Anfangs trugen die Damen diesen Gürtel noch relativ hoch, später etwas tiefer. In der Mitte des 6. Jahrhunderts wurden die Fibeln schließlich häufig an einem Band festgemacht, das vom Gürtel herabhing (Abb. 46). Als Vorbild dieser Schärpe bzw. dieses Gürtels identifiziert Martin ein Kleidungsstück, das wie kaum ein anderes eine besondere symbolische Bedeutung in der römischen Welt besaß: Das cingulum, der „Amts-“ bzw. „Dienstgürtel“ der römischen Beamten und Militärs, der wie die Zwiebelknopffibel als zentrales Element eines Zeichenkodes zum Ausdruck der Hierarchie diente. Wie der Befund des Frauengrabs 363 von SchleitheimHebsack zeigt,207 übernahmen bereits in der Spätantike auch Frauen den typischen kerbschnittverzierten Militärgürtel in ihre Kleidung. Falls der Bezug des fibelgeschmückten cingulums der Frauenkleidung zum hohen symbolischen Gehalt des cingulums der Männer auch in der Merowingerzeit nicht in Vergessenheit geriet, so verkörpert dieses Kleidungsstück in ganz besonderem Maße die Kontinuität eines wichtigen Teils der kulturellen Semantik der römischen Kultur: Nicht allein im byzantinischen Bereich, sondern ebenfalls im Merowingerreich lebte das cingulum als wichtigtes vestimentäres Symbol des Staatsdienstes weiter.208 Vor dem Hintergrund des originär römischen Symbolgehalts des cingulums erscheint es besonders unwahrscheinlich, dass in der Merowingerzeit lediglich Frauen germanischer Herkunft ein solches fibelgeschmücktes cingulum getragen haben sollen. 206 207 208

M ARTIN , Tradition (wie Anm. 196) 673. L EICHT , Schleitheim (wie Anm. 5) 83–95, bes. 90 f. W ERNER, Naissance, 215 ff.

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Abb. 46: Rekonstruktionsversuch der mit einem Cingulum bzw. einer Schärpe versehenen ältermerowingischen Frauenkleidung: 1) Vor 450 2) Zweite Hälfte 5. Jahrhundert 3) Mitte 6. Jahrhundert 4) Sarah, die Frau Abrahams, mit Cingulum („mappula“), auf einem Mosaik im Presbyterium von San Vitale, Ravenna (nach M ARTIN , Fibeltracht [wie Anm. 195] 554).

Möglicherweise beschränkt sich diese semantische Kontinuität nicht allein auf die Frauenkleidung. Auch die typischen Prunkgürtel der Männerkleidung der jüngeren Merowingerzeit sind möglicherweise noch als Rangabzeichen vor dem Hintergrund des römischen cingulums zu interpretieren.209 Als letztes Element der frühmerowingerzeitlichen Frauenkleidung ist schließlich auf die Herkunft der Bügelfibeln einzugehen. Obwohl diese als besonders charakteristisches Element der „germanischen“ Kleidung des frühen Mittelalters angesehen werden, ist ihre Herleitung aus dem germanischen Milieu keineswegs offensichtlich, da entsprechende Vorformen in der Germania nicht sicher zu identifizieren sind. Zuletzt beschäftigte sich Mechthild Schulze-Dörrlamm mit der Entstehung der „protomerowingischen Bügelfibeln“, die bei der Frage nach den 209

H. F EHR, Zur Deutung der Prunkgürtelsitte der jüngeren Merowingerzeit. In: S. Brather/Chr. Bücker/M. Hoeper (Hrsg.), Archäologie als Sozialgeschichte. Festschrift für Heiko Steuer zum 60. Geburtstag (Rahden/Westf. 1999) 105–111, hier 110 f.

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Anfängen des Reihengräberhorizontes von besonderer Bedeutung sind.210 Schulze-Dörrlamm diskutierte in diesem Zusammenhang mehrere Möglichkeiten. Die „germanischen“ Spiralplattenfibeln Typ Peukendorf, die letztlich auf Sonderformen der spätrömischen Zwiebelknopffibeln zurückgehen, meinte Schulze-Dörrlamm ausschließen zu können. Diese waren gegen Ende des 4. bzw. Anfang des 5. Jahrhunderts nicht mehr gebräuchlich und scheiden somit als Vorbilder der Bügelfibeln der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts aus.211 Auch die etwas jüngeren Spiralplattenfibeln des Typs „Soest-Ardey“ meinte sie ausschließen zu können. Die Fibeln dieses Typus wurden als billige Ausführungen in Bronzeguss hergestellt. Sie kommen somit kaum als Vorbilder für die kostbaren merowingischen Bügelfibeln aus vergoldetem Silber in Frage.212 Als letzte verbliebene Möglichkeit plädierte Schulze-Dörrlamm für Vorbilder im römischen Milieu, nämlich die „romanischen Bügelfibeln“: Aufgrund der ungünstigen Überlieferungsbedingungen sei es zwar schwierig, „romanische“ Bügelfibeln sicher zu identifizieren. Auch fehlten oft entsprechende Kriterien, um die Produkte römischer Werkstätten sicher herauszuarbeiten. „Romanische“ Bügelfibeln habe es jedoch zweifellos gegeben: In diesem Zusammenhang verwies Schulze-Dörrlamm auf die cloissonierte, vergoldete Bügelfibel von Pistoia (Prov. Florenz). Aufgrund ihrer Verzierung mit Weinrankendekor sowie durch ein technisches Detail, das komplizierte Schraubengewinde der Nadel, sei diese sicher ein Produkt einer römischen Werkstätte (Abb. 47).213 Zusammenfassend hielt Schulze-Dörrlamm fest, die Vorbilder der typischen Bügelfibeln seien am ehesten unter den „romanischen Bügelfibeln zu suchen, die zu Beginn des „protomerowingischen Horizonts“ in provinzialrömischen Werkstätten hergestellt wurden.“214 Wie bereits erwähnt, wird die fibelgeschmückte Frauenkleidung gegenwärtig immer noch als „westgermanische Tracht“ bezeichnet und vielfach allein den „germanischen“ Frauen im Merowingerreich zugeschrieben. Insgesamt fällt es jedoch schwer, Argumente für die Richtigkeit der traditionellen ethnischen Zuweisung dieses Kleidungsstils zu finden, will man nicht in jenen Zirkelschluss verfallen, der bereits in Zusammenhang mit der Waffenbeigabe besprochen wurde: Diese Kleidung sei deshalb germa-

210

211 212 213 214

M. S CHULZE -D ÖRRLAMM , Germanische Spiralplattenfibeln oder romanische Bügelfibeln? Zu den Vorbildern elbgermanisch-fränkischer Bügelfibeln der protomerowingischen Zeit. Arch. Korrbl. 30, 2000, 599–613. S CHULZE -D ÖRRLAMM , Spiralplattenfibeln (wie Anm. 210) 601. S CHULZE -D ÖRRLAMM , Spiralplattenfibeln (wie Anm. 210) 604. S CHULZE -D ÖRRLAMM , Spiralplattenfibeln (wie Anm. 210) 605. S CHULZE -D ÖRRLAMM , Spiralplattenfibeln (wie Anm. 210) 608.

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Abb. 47: Pistoia (Prov. Florenz): Goldene Bügelfibel mit Zellwerk und Schraubnadel (nach R. K RAUSE , Das Gewinde in der Antike. In: B. Deppert-Lippitz u. a., Die Schraube zwischen Macht und Pracht [Sigmaringen 1995] 23–54, hier 37).

nisch, weil sie nur in germanischen Gräbern gefunden wird; im Gegenzug sind die beigabenführenden Gräber insgesamt vor allem deshalb germanisch, weil in ihnen unzweifelhaft „germanische Trachtbestandteile“ gefunden werden. Besonders in Anbetracht des von Max Martin herausgearbeiteten Bruchs mit älteren Kleidungsgewohnheiten in der Germania einerseits, sowie den starken Wurzeln im römischen Milieu andererseits, ist es wohl nur vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen, fast übermächtigen Forschungstradition zu verstehen, weshalb die ausschließlich germanische Zuweisung dieser Kleidung weiter aufrecht erhalten wird. Löst man sich von der Prämisse einer germanischen Traditionslinie in der Kleidung von der kaiserzeitlichen Germania zur merowingischen Frauenkleidung, und berücksichtigt vielmehr die Evolution dieses Kleidungs-

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stils aus provinzialrömischen Vorbildern, so erscheint dieser Bruch wesentlich weniger abrupt. Bei der frühmerowingischen „Vierfibeltracht“ handelt es sich aus dieser Perspektive um eine weitere Innovation der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts. Sie wurde von einer Gesellschaft im Umbruch hervorgebracht, in der die Kategorien „römisch“ und „germanisch“ keine grundlegende kulturelle Differenz mehr bezeichneten.

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Zusammenfassung

19. Zusammenfassung Die vorliegende Arbeit behandelt ein altbekanntes Problem der europäischen Frühmittelalterarchäologie: die ethnische Interpretation der frühmittelalterlichen Reihengräberfelder vor dem Hintergrund eines angenommenen germanisch-romanischen Dualismus’. Die archäologische Forschung des deutschsprachigen Raumes interpretiert diese Gräberfelder traditionell als Hinterlassenschaften jener Germanengruppen, die sich während der Völkerwanderungszeit auf dem ehemaligen Gebiet des Römischen Reiches niederließen. „Germanische“ Gräberfelder zeichneten sich demnach im Wesentlichen durch die Beigabe von Waffen und Kleidungszubehör, besonders Fibeln, aus. Von ihnen seien die Bestattungsplätze der Nachfahren der provinzialrömischen Bevölkerung („Romanen“) zu unterscheiden, die seit dem Ende des 4. Jahrhunderts grundsätzlich ohne Beigaben bestattet hätten. Im Gegensatz zu dieser Sichtweise wurden in den vergangenen eineinhalb Jahrhunderten unter westeuropäischen Archäologen – besonders in Frankreich, Belgien und in jüngerer Zeit auch in Großbritannien – immer wieder Stimmen laut, die diese Unterscheidung zwischen „germanischen“ und „romanischen“ Gräberfeldern grundsätzlich in Frage stellten. Anders als die mitteleuropäische Forschung axiomatisch angenommen habe, müssten die mit Beigaben ausgestatteten Reihengräberfelder gleichermaßen Einheimischen wie Neuankömmlingen zugeschrieben werden. Sie könnten deshalb auch nicht als Quellen zur Rekonstruktion germanischer Besiedelung auf ehemals römischem Boden herangezogen werden. Beide Positionen stehen sich seit vielen Jahrzehnten weitgehend undiskutiert gegenüber. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass besonders die Frage der Ausdehnung germanischer Besiedlung in Westeuropa viele Jahrzehnte lang eine nicht zu unterschätzende politische Dimension besaß. Die vorliegende Arbeit analysiert diesen Dissens synchron aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln: Zum einen aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive, indem sie fragt, welche historischen Faktoren die Entwicklung der konträren Positionen bedingt haben. Zum andern versucht sie den wissenschaftlichen Dissens aufzulösen. Sie hinterfragt den vermeintlich grundsätzlichen Antagonismus „Germanen“ versus „Romanen“ in der Me-

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rowingerzeit, welcher der Gruppierung des archäologischen Materials in „germanische“ und „romanische“ Funde zugrunde liegt. Darüber hinaus lenkt sie den Blick zurück auf die eigentliche archäologische Problematik: die Frage nach den Wurzeln des Reihengräberhorizontes im Merowingerreich. Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil behandelt die Frage eines grundsätzlichen Gegensatzes zwischen „Germanen“ und „Romanen“. Die Analyse des gegenwärtigen Forschungsstandes in den Nachbarwissenschaften zeigt, dass sich hinter diesen Begriffen keineswegs sich selbst bewusste, kulturelle Großgruppen verbergen, von denen erwartet werden kann, dass sie sich auch in der Sachkultur manifestieren. Vielmehr handelt es dabei sich um wissenschaftliche Konstruktionen vor allem des 19. Jahrhunderts, die letztlich auf der zeitgenössischen Überzeugung beruhen, dass Sprachgruppen mit Volksgruppen identisch seien. Nach heutigem Kenntnisstand kann jedoch weder von Seiten der Geschichtswissenschaft noch durch die Sprachwissenschaft oder die Anthropologie wahrscheinlich gemacht werden, dass in der Merowingerzeit ein tiefgreifender kultureller Antagonismus zwischen „Germanen“ und „Romanen“ bestand, der bei der Interpretation des archäologischen Materials sinnvoll zugrunde gelegt werden könnte. Der zweite Teil behandelt ausführlich die Entwicklung der archäologischen Diskussion um die ethnische Interpretation des Reihengräberhorizontes von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Grundlage hierfür ist die detaillierte Analyse der relevanten archäologischen Schriften. Für den besonders wichtigen Abschnitt zwischen 1918 und 1950 wurden zudem zahlreiche Archivalien heranzogen, die aus Archiven archäologischer Fachinstitutionen sowie öffentlichen Archiven stammen. Grundsätzlich sind drei Phasen der Debatte zu erkennen: In einer ersten Phase in der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich parallel zu der Erkenntnis über die Verbreitung und die Zeitstellung der Reihengräberfelder die Überzeugung durch, dass diese Gräber frühmittelalterlichen Germanenstämmen zuzuschreiben seien. Obwohl den Germanen jeweils höchst unterschiedliche Rollen in der eigenen Nationalgeschichte zugeschrieben wurden, stimmten die Gelehrten in Frankreich, Belgien, Deutschland, der Schweiz und Großbritannien darin überein, dass die Reihengräberfelder vor allem mit den Franken, Alemannen und Bajuwaren zu verbinden seien. In einer zweiten Phase wurden die grundlegenden Einwände gegen die ausnahmslose Zuweisung der Reihengräberfelder an Germanen erstmals ausführlich formuliert. Vor dem Hintergrund des aufbrechenden politischen Gegensatzes zwischen Flamen und Wallonen im jungen belgischen Staat wies der belgische Historiker und Sprachwissenschaftler Godefroid

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Kurth 1888 in aller Deutlichkeit darauf hin, dass angesichts der offensichtlichen Gleichberechtigung von Franken und Römern in den Schriftquellen der Merowingerzeit nicht zu rechtfertigen sei, weshalb Gräber mit Waffen allein Germanen zugeschrieben werden sollten. Obwohl Kurths Einwände am Ende des 19. Jahrhunderts ebenso wenig zu widerlegen waren wie in den folgenden Jahrzehnten, hielt die Mehrheit der Archäologen an der germanischen Zuweisung der Gräberfelder fest. Daneben entwickelte sich allmählich ein weiterer Traditionsstrang in der Frühmittelalterforschung, der die ethnische Aussagekraft der Reihengräberfelder äußerst kritisch beurteilte. Die dritte, folgenschwerste Phase begann mit dem Aufschwung der Frühmittelalterarchäologie in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Dieser Aufschwung war auf das Engste mit der Erwartung verbunden, dass die Reihengräberforschung in der Lage sei, überzeugende Belege für eine germanische Besiedlung Westdeutschlands und der angrenzenden Gebiete im Frühmittelalter zu liefern – und an solchen Informationen bestand infolge der Gebietsabtretungen, die im Versailler Vertrag bestimmt worden waren, nach 1918 großes politisches Interesse. Die Entwicklung der frühmittelalterlichen Gräberarchäologie zu einer bedeutenden Subdisziplin der Ur- und Frühgeschichte beruhte somit maßgeblich auf der Prämisse des grundsätzlich germanischen Charakters der Reihengräberfelder. Deshalb verwundert es nicht, dass die Vertreter dieser erneuerten mitteleuropäischen Tradition der Frühmittelalterarchäologie wenig Neigung verspürten, grundlegende Einwände gegen diese Prämisse in Betracht zu ziehen. Während das politische Interesse an der Reihengräberforschung zur Zeit der Weimarer Republik eher defensiv ausgerichtet war – d. h. sich vor allem auf das besetzte Rheinland sowie Elsass-Lothringen bezog – wurde die Frühmittelalterforschung während des Dritten Reichs zunehmend offensiv als vermeintlich wissenschaftliche Legitimation für politisch expansive Ziele herangezogen. Höhepunkt dieser Entwicklung war der Zweite Weltkrieg, während dem die verschiedenen archäologischen Institutionen, die um die Vorherrschaft in der Ur- und Frühgeschichtsforschung rivalisierten, konkurrierende Forschungsprojekte zu den Reihengräberfeldern in den besetzten Gebieten Westeuropas initiierten. Die wichtigsten Unternehmen in diesem Zusammenhang führten zwei der prägenden Forscher der neueren Frühmittelalterarchäologie durch: Zum einen Hans Zeiss, der Inhaber des Lehrstuhls für Vor- und Frühgeschichte an der Universität München, sowie zum anderen Joachim Werner, seit 1942 Professor an der Reichsuniversität Straßburg. Zielsetzung des Projektes von Zeiss war es, die Ausdehnung der germanischen „Landnahme“ im Frankenreich möglichst genau zu erfassen. Aus diesem Grund

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war er gezwungen, erstmals scharfe Kriterien zur Unterscheidung von germanischen und romanischen Bestattungen zu formulieren. Diese Kriterien, die auf zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend widerlegten historischen Prämissen beruhten, bilden bis heute die Grundlage für die in der mitteleuropäischen Forschung geläufige Praxis der ethnischen Interpretationen. Das Projekt Joachim Werners hatte dagegen die Frage der Wurzeln des Reihengräberhorizontes in der Spätantike zum Gegenstand. In seinem Aufsatz „Zur Entstehung der Reihengräberzivilisation“, in dem er seine Forschungen während des Krieges zusammenfasste, beantwortete auch Werner diese Frage entsprechend der ursprünglichen Zielsetzung seines Projektes zugunsten einer germanischen Zuweisung. Mit den genannten Arbeiten von Zeiss und Werner war ein Rahmen vorgegeben, in dem sich große Teile der mitteleuropäischen Frühmittelalterarchäologie bis heute bewegen. Obwohl der politische Kontext, dem dieser Ansatz ursprünglich verpflichtet war, in der Nachkriegszeit bald verblasste, setzte keine systematische Reflexion über die Grundlagen und die Herkunft der eigenen Interpretationstraditionen ein. Über die Einwände und Kritik von Kollegen aus Westeuropa, die vor allem Anfang der 1950er, Ende der 1970er und erneut seit Anfang der 1990er Jahre vorgebracht wurden, ging man weitgehend kommentarlos hinweg. Die westeuropäische Forschung versäumte es dagegen ihrerseits, ihre Position ausführlich zu begründen und daraus ein alternatives Modell zur Erklärung des Aufkommens der Reihengräberfelder zu entwickeln. Ausgehend von der Feststellung, dass die gängigen Kriterien zur Unterscheidung von „germanischen“ und „romanischen“ Bestattungen im frühmittelalterlichen Frankenreich nicht stichhaltig sind, wendet sich die Arbeit im dritten Teil schließlich der Frage der Wurzeln des Reihengräberhorizontes zu. Zunächst wird gezeigt, dass die wesentlichen Merkmale der Gräberfelder vom Reihengräbertypus letztlich nicht als „germanisch“ bezeichnet werden können, da sie nicht von Bestattungspraktiken in der Germania herzuleiten sind. Vielmehr können sowohl die Körperbestattung als auch die Orientierung zwanglos aus dem spätrömischen Bestattungswesen abgeleitet werden. Auch die Wurzeln der sogenannten Vierfibeltracht der frühen Merowingerzeit weisen eher in das römisch-mediterrane Milieu bzw. die kulturell heterogenen Grenzzonen des Römischen Reichs. Bei der Waffenbeigabe handelt es sich schließlich am ehesten um eine Innovation, die weder im römischen noch im (west-)germanischen Milieu überzeugende Vorläufer hat. Anstatt der traditionellen migrationistischen Erklärung für das Aufkommen der frühmittelalterlichen Reihengräberfelder wird ein funktiona-

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ler Ansatz vorgeschlagen. Die Reihengräberfelder sind demnach als Ausdruck einer kulturellen Neuorientierung der Bevölkerung an der Peripherie des Römischen Reiches aufzufassen. Vor allem zwei kulturelle Milieus scheinen daran beteiligt gewesen zu sein: einerseits die stark militarisierte und barbarisierte Bevölkerung der Grenzzone beiderseits der spätantiken Reichsgrenze sowie andererseits die Bewohner des ebenfalls zunehmend militarisierten provinzialen Hinterlandes in Gallien bzw. südlich der Donau. Beide Gruppen hatten angesichts des allmählichen Zusammenbruchs der römischen Gesellschaftsordnung im Laufe des 5. Jahrhunderts Bedarf nach neuen sozialen Distinktionsformen, zu denen auch eine neue aufwändige Bestattungsweise gehörte. Ein bedeutender Anteil der Bewohner der eigentlichen Germania jenseits der Grenzzone an der Herausbildung der Gräberfelder vom Reihengräbertypus ist dagegen nicht erkennbar.

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

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Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur Adam u. a., Alsace et Moselle

A.-M. Adam u. a., L’archéologie en Alsace et en Moselle au temps de l’annexion (1940–1944) (Straßburg 2001).

Ament, Franken

H. Ament, Franken: Archäologisches. In: RGA2, Bd. 9 (Berlin, New York 1995) 387–414.

Beck u. a., Germanen

H. Beck/H. Steuer/D. Timpe (Hrsg.), Die Germanen. RGA-Studienausgabe (Berlin, New York 1998).

Bierbrauer, Siedelgebiet

V. Bierbrauer, Romanen im fränkischen Siedelgebiet. In: Die Franken (Mainz 1996) 110–120.

Bierbrauer, Romanen

V. Bierbrauer, s.v. Romanen. In: RGA2, Bd. 25 (Berlin, New York 2004) 210–242.

Böhme, Söldner

H. W. Böhme, Söldner und Siedler im spätantiken Nordgallien. In: Die Franken (Mainz 1996) 91–101.

Bollmus, Amt Rosenberg

R. Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem (Stuttgart 1970).

Brather, Identitäten

S. Brather, Ethnische Identitäten als Konstrukte der frühgeschichtlichen Archäologie. Germania 78/1, 2000, 139–177.

Brather, Interpretationen

S. Brather, Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen, Alternativen. Ergbde RGA 42 (Berlin, New York 2004).

Brühl, Geburt

C. Brühl, Die Geburt zweier Völker. Deutsche und Franzosen (9.–11. Jahrhundert) (Köln, Weimar, Wien 2001).

Demandt, Fall Roms

A. Demandt, Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt (München 1984).

Derks, Westforschung

H. Derks, Deutsche Westforschung. Ideologie und Praxis im 20. Jahrhundert. Geschichtswiss. u. Geschichtskultur im 20. Jhs. 4 (Leipzig 2001).

Die Franken

Die Franken – Wegbereiter Europas. Katalog-Handbuch zur Ausstellung in Mannheim 8. Sept. 1996–6. Jan. 1997 (Mainz 1996).

790

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

Dietz/Gabel/Tiedau, Westforschung

B. Dietz/H. Gabel/U. Tiedau, Griff nach dem Westen. Die „Westforschung“ der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum. (1919– 1960). 2 Bde (Münster 2003).

Ditt, Petri

K. Ditt, Die Kulturraumforschung zwischen Wissenschaft und Politik. Das Beispiel Franz Petri. Westfälische Forschungen 46, 1996, 73–176.

Effros, Mortuary archaeology

B. Effros, Merovingian mortuary archaeology and the making of the Early Middle ages. The transformation of the Classical heritage, Bd. 35 (Berkeley, Los Angeles, London 2003).

Ewig, Volkstum

E. Ewig, Volkstum und Volksbewußtsein im Frankenreich des 7. Jahrhunderts. In: Ders., Spätantikes und fränkisches Gallien. Bd. 1. Beih. Francia 3/1 (München 1976) 231–273. [Erstdruck 1958].

Ewig, Merowinger

E. Ewig, Die Merowinger und das Frankenreich. Urban-Taschenbücher 392 (2Stuttgart, Berlin, Köln 1993).

Fahlbusch, Stiftung

M. Fahlbusch, „Wo der deutsche … ist, ist Deutschland!“. Die Stiftung für deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig 1920–1933. Abhandl. z. Gesch. d. Geowiss. u. Religion-Umwelt-Forsch. Beih. 6 (Bochum 1994).

Fahlbusch, Forschungsgemeinschaften

M. Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ 1931–1945 (Baden-Baden 1999).

Fehr, Zeiss und Werner

H. Fehr, Hans Zeiss, Joachim Werner und die archäologischen Forschungen zur Merowingerzeit. In: Steuer, Wissenschaft, 311–415.

Filip, Handbuch

J. Filip (Hrsg.), Enzyklopädischen Handbuch zur Urund Frühgeschichte Europas. 2 Bde (Prag 1966 und 1969).

Goffart, Barbarian invasions

W. Goffart, The theme of „the Barbarian invasions“ in Late Antique and Modern historiography. In: E. K. Chrysos/A. Schwarcz (Hrsg.), Das Reich und die Barbaren. Veröff. Inst. Österr. Geschichtsforsch. 29 (Wien 1989) 87–107.

Geuenich, Alemannen

D. Geuenich, Geschichte der Alemannen (Stuttgart 1997).

Geuenich, Franken und Alemannen

D. Geuenich (Hrsg.), Die Franken und die Alemannen bis zur „Schlacht bei Zülpich“. Ergbde RGA 19 (Berlin, New York 1998).

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

791

Gran-Aymerich, Dictionnaire

È. Gran-Aymerich, Dictionaire biographique d’archéologie 1798–1945 (Paris 2001).

Gschnitzer u. a., Volk

F. Gschnitzer/R. Koselleck/B. Schönemann/K. F. Werner, s.v. Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7 (Stuttgart 1992) 141–431.

Haar, Historiker

I. Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten. Kritische Stud. z. Geschichtswiss. 143 (Göttingen 2000).

Hakelberg, Wahle

D. Hakelberg, Deutsche Vorgeschichte als Geschichtswissenschaft – Der Heidelberger Extraordinarius Ernst Wahle im Kontext seiner Zeit. In: Steuer, Wissenschaft, 199–301.

Halle, Westforschung

U. Halle, Archäologie und Westforschung. In: Dietz/ Gabel/ Mölich, Westforschung, 383–406.

Halsall, Reihengräberzivilisation

G. Halsall, The origins of the Reihengräberzivilisation: forty years on. In: J. Drinkwater/H. Elton (Hrsg.), Fifth-century Gaul. A crisis of identity? (Cambridge 1992) 196–207.

Halsall, Föderatengräber

G. Halsall, Archaeology and the Late Roman Frontier in Northern Gaul: The so-called „Föderatengräber“ reconsidered. In: W. Pohl/H. Reimitz (Hrsg.), Grenze und Differenz im frühen Mittelalter. Österr. Akad. Wiss., phil.-hist. Kl. Denkschr. 287 (Wien 2000) 167–180.

Haubrichs, Germania submersa W. Haubrichs, Germania submersa. Zu Fragen der Quantität und Dauer germanischer Sprachinseln im romanischen Lothringen und Südbelgien. In: H. Burger/A. Haas/P. v. Matt (Hrsg.), Verborum amor. Festschrift für Stefan Sonderegger zum 65. Geburtstag (Berlin, New York 1992) 633–666. Haubrichs, Romanen

W. Haubrichs, Romanen an Rhein und Mosel. In: P. Ernst/F. Patocka (Hrsg.), Deutsche Sprache in Raum und Zeit. Festschrift für Peter Wiesinger zum 60. Geburtstag (Wien 1998) 379–413.

Hausmann, Ritterbusch

F.-R. Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“ (1940– 1945). Schr. Wissenschafts- u. Universitätsgesch. 1 (Dresden 1998).

Helbok, Grundlagen

A. Helbok, Grundlagen der Volksgeschichte Deutschlands und Frankreichs. Vergleichende Studien zur deutschen Rassen-, Kultur- und Staatgeschichte (Berlin, Leipzig 1937).

792

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

Heiber, Universität

H. Heiber, Universität unterm Hakenkreuz. 2 Bde. in 3 Vol. (München 1991–94).

Hübinger, Kulturbruch

P. E. Hübinger (Hrsg.), Kulturbruch oder Kulturkontinuität im Übergang von der Antike zum Mittelalter. Wege d. Forsch. 201 (Darmstadt 1968).

Hübinger, Periodengrenze

P. E. Hübinger (Hrsg.), Zur Frage der Periodengrenze zwischen Altertum und Mittelalter. Wege d. Forsch. 51 (Darmstadt 1969).

Jarnut, Plädoyer

J. Jarnut, Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffs der Frühmittelalterforschung. In: W. Pohl (Hrsg.), Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters. Forsch. z. Gesch. d. Mittelalters, Bd. 8 (Wien 2004) 107–116.

Jentgens, Alamannen

G. Jentgens, Die Alamannen. Methoden und Begriffe der ethnischen Deutung archäologischer Funde und Befunde. Freiburger Beitr. Arch. Gesch. d. Ersten Jahrtausends 4 (Rahden/Westf. 2001).

Jones, Ethnicity

S. Jones, The archaeology of ethnicity. Constructing identities in the past and present (London, New York 1997).

Junker, Institut

K. Junker, Das Archäologische Institut des Deutschen Reiches zwischen Forschung und Politik. Die Jahre 1929 bis 1945 (Mainz 1997).

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B. Jussen, Über ‚Bischofsherrschaften‘ und die Prozeduren politisch-sozialer Umordnung in Gallien zwischen ‚Antike‘ und ‚Mittelalter‘. Hist. Zeitschr. 260, 1995, 673–718.

Kaschuba, Europäische Ethnologie

W. Kaschuba, Einführung in die Europäische Ethnologie (München 1999).

Kater, Ahnenerbe

M. Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches (Stuttgart 1974).

Keller, Strukturveränderungenen

H. Keller, Strukturveränderungen in der westgermanischen Welt am Vorabend der fränkischen Großreichsbildung. Fragen, Suchbilder, Hypothesen. In: Geuenich, Franken und Alemannen, 581–607.

Koch, Bügelfibeln

A. Koch, Bügelfibeln der Merowingerzeit im westlichen Frankreich. RGZM Monogr. 41. 2 Bde (Mainz 1998).

Koch, Totenruhe

U. Koch, Stätten der Totenruhe – Grabformen und Bestattungssitten der Franken. In: Die Franken, 723– 737.

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

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Kossack, Prähistorische Archäologie

G. Kossack, Prähistorische Archäologie in Deutschland im Wandel der geistigen und politischen Situation. Sitzber. Bayer. Akad. Wiss., phil.-hist. Kl. 1999, H. 4 (München 1999).

Legendre/Olivier/Schnitzler, Archéologie

J.-P. Legendre/L. Olivier/B. Schnitzler (Hrsg.), L’archéologie nationalésocialiste dans les pays occupe- à l’ouest du Reich. Actes de la table ronde internationale „Blut und Boden“ tenue à Lyon (Rhône) dans le cadre du Xe congrès de la European Accociation of Archaeologist (EAA), les 8 et 9 septembre 2004 (Gollion 2007).

Leube/Hegewisch, Prähistorie

A. Leube/M. Hegewisch (Hrsg.), Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Urund Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933– 1945. Stud. z. Wissenschafts- u. Universitätsgesch. 2 (Heidelberg 2002).

Marchand, Olympus

S. Marchand, Down from Olympus. Archaeology and philhellenism in Germany, 1750–1970 (Princeton 1996).

Neumayer, Frankreich

H. N EUMAYER, Die merowingerzeitlichen Funde aus Frankreich. Bestandskataloge des Museums für Vorund Frühgeschichte, Staatliche Museen zu Berlin 8 (Berlin 2002).

Nicolet, Fabrique

C. Nicolet, La fabrique d’une nation. La France entre Rome et les Germains (Paris 2003).

Oberkrome, Volksgeschichte

W. Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft. Kritische Stud. Geschichtswiss. 101 (Göttingen 1993).

Périn, Publications

P. Périn, À propos des publications étrangères récentes concernant le peuplement en Gaule à l’époque mérovingienne: La „question franque“. Francia 8, 1980, 537–552.

Périn, Datation

P. Périn, La datation des tombes mérovingiennes. Historique – méthodes – applications (Genf 1980).

Petri, Volkserbe

F. Petri, Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich. Die fränkische Landnahme und die Bildung der westlichen Sprachgrenze (Bonn 1937).

Petri, Landnahme

F. Petri, Die fränkische Landnahme und die Entstehung der germanisch-romanischen Sprachgrenze in der interdisziplinären Diskussion. Erträge d. Forsch. 70 (Darmstadt 1977).

794

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

Petri, Siedlung

F. Petri (Hrsg.), Siedlung, Sprache und Bevölkerungsstruktur im Frankenreich. Wege d. Forsch. 49 (Darmstadt 1973).

Pirling, Gelduba

R. Pirling, s.v. Gelduba. In: RGA2, Bd. 10 (Berlin, New York 1998) 636–646.

Pohl, Ethnogenese

W. Pohl, Tradition, Ethnogenese und literarische Gestaltung: eine Zwischenbilanz. In: K. Brunner/ B. Merta (Hrsg.), Ethnogenese und Überlieferung. Veröffentl. Inst. Österr. Geschichtsforsch. 31 (Wien, München 1994) 9–26.

Pohl, Difference

W. Pohl, Telling the difference. Signs of ethnic identity. In: Ders./H. Reimitz (Hrsg.), Strategies of distinction. The construction of ethnic communities, 300–800 (Leiden, Boston, Köln 1998) 17–69.

Pohl, Germanen

W. Pohl, Die Germanen. Enzyklopädie Dt. Gesch. 57 (2München 2004).

Pohl, Völkerwanderung

W. Pohl, Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration (Stuttgart, Berlin, Köln 2002).

Pohl, Germanenbegriff

W. Pohl, Der Germanenbegriff vom 3. bis zum 8. Jahrhundert – Identifikationen und Abgrenzungen. In: H. Beck u. a. (Hrsg.), Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen. Ergbde RGA 34 (Berlin, New York 2004) 163–183.

Poliakov, Mythos

L. Poliakov, Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus (Hamburg 1993).

Puschner, Bewegung

U. Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache, Rasse, Religion (Darmstadt 2001).

Schmitz-Berning, Vokabular

C. Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus (Berlin, New York 2000).

Schnitzler, Alsace

B. Schnitzler, La passion de l’antiquité. Six siècles de recherches archéologiques en Alsace (Straßburg 1998).

v. Schnurbein, Entwicklung RGK

S. v. Schnurbein, Abriss der Entwicklung der Römisch-Germanischen Kommission unter den einzelnen Direktoren von 1911 bis 2002. Ber. RGK 82, 2001, 139–289.

Schöttler, Westforschung

P. Schöttler, Die historische „Westforschung“ zwischen „Abwehrkampf“ und territorialer Offensive. In: Ders. (Hrsg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945 (2Frankfurt 1999) 204– 261.

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

795

Schöttler, Landesgeschichte

P. Schöttler, Von der rheinischen Landesgeschichte zur nazistischen Volksgeschichte oder „Die unhörbare Stimme des Blutes“. In: Schulze/Oexle, Historiker, 89–113.

Schulze/Oexle, Historiker

W. Schulze/Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus (Frankfurt 1999).

Schulze-Dörrlamm, Kriegergräber

M. Schulze-Dörrlamm, Germanische Kriegergräber mit Schwertbeigabe in Mitteleuropa aus dem späten 3. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts n. Chr. Jahrb. RGZM 32, 1985, 509–569.

Siegmund, Alemannen

F. Siegmund, Alemannen und Franken. Ergbde RGA 23 (Berlin, New York 2000).

Simmer, Frontière linguistique

A. Simmer, L’origine de la frontière linguistique en Lorraine: La fin des mythes? (2Knutange 1998).

Springer, Geschichtsbilder

M. Springer, Geschichtsbilder, Urteile, Vorurteile. Franken und Sachsen in den Vorstellungen unserer Zeit und in der Vergangenheit. In: Chr. Stiegemann/ M. Wemhoff (Hrsg.), 799. Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Bd. 3 (Mainz 1999) 224–232.

Stein, Bevölkerung

F. Stein, Die Bevölkerung des Saar-Mosel-Raumes am Übergang von der Antike zum Mittelalter. Arch. Mosellana 1, 1989, 89–195.

Stein, Bevölkerungsverhältnisse F. Stein, Frühmittelalterliche Bevölkerungsverhältnisse im Saar-Mosel-Raum. Voraussetzungen der Ausbildung der deutsch-französischen Sprachgrenze? In: W. Haubrichs/R. Schneider (Hrsg.), Grenzen und Grenzregionen. Veröffentl. Komm. Saarländische Landesgesch. u. Volksforsch. 22 (Saarbrücken 1993) 69–98. Steinbach, Studien

F. Steinbach, Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte. Schr. Inst. Grenz- und Auslandsdeutschtum Univ. Marburg 5 (Jena 1926).

Steuer, Sozialstrukturen

H. Steuer, Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa. Eine Analyse der Auswertungsmethoden des archäologischen Quellenmaterials. Abhandl. Akad. Wiss. Göttingen., phil-hist. Kl. 3 F, 128 (Göttingen 1982).

Steuer, Wissenschaft

H. Steuer (Hrsg.), Eine hervorragend nationale Wissenschaft – Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995. Ergbde RGA 29 (Berlin, New York 2001).

Strobel, Vorzeit

M. Strobel, Lebendige und völkische Vorzeit – Ein Beitrag zur Geschichte der prähistorischen Archäologie in Württemberg zwischen 1918 und 1945. In: Chr. Kümmel/N. Müller-Scheeßel/A. Schülke (Hrsg.), Archäologie als Kunst (Tübingen 1999) 65–117.

796

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

Theuws/Alkemade, Sword depositions

F. Theuws/M. Alkemade, A kind of mirror for men. Sword depositions in Late Antique northern Gaul. In: F. Theuws/J. L. Nelson (Hrsg.), Rituals of power. From Late Antiquity to the Early Middle Ages. Transformation of the Roman world 8 (Leiden, Boston, Köln 2000) 401–476.

Trigger, History

B. Trigger, A history of archaeological thought (Cambridge 1989).

Wehler, Nationalismus

H.-U. Wehler, Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen (München 2001).

Werner, Reihengräberzivilisation

J. Werner, Zur Entstehung der Reihengräberzivilisation. Ein Beitrag zur Methode der frühgeschichtlichen Archäologie. In: Petri, Siedlung, 285–325. [Erstdruck: Archaeologia Geographica 1, 1950, 23–32].

Werner, Langobardenfrage

J. Werner, Stand und Aufgaben der frühmittelalterlichen Archäologie in der Langobardenfrage. In: Atti del 6° congresso internazionale di studi sull’alto medioevo. Bd. 1 (Spoleto 1980) 27–46.

Werner/Ewig, Spätantike

J. Werner/E. Ewig (Hrsg.), Von der Spätantike zum frühen Mittelalter. Aktuelle Probleme in historischer und archäologischer Sicht. Vortr. u. Forsch. 25 (Sigmaringen 1979).

Werner, Ursprünge

K. F. Werner, Die Ursprünge Frankreichs bis zum Jahr 1000. Geschichte Frankreichs, Bd. 1 (Stuttgart 1989).

Werner, Volk

K. F. Werner, s.v. Volk, Nation. § III–V. In: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7 (Stuttgart 1992) 171–281.

Werner, Conquête franque

K. F. Werner, La „conquête franque“ de la Gaule. Itinéraires historiographiques d’une erreur. Bibl. de l’École des Chartes 154, 1996, 7–45.

Werner, Naissance

K. F. Werner, Naissance de la noblesse. L’essor des élites politiques en Europe (Paris 1998).

Whittaker, Frontiers

Ch. R. Whittaker, Frontiers of the Roman Empire. A social and economic study (2Baltimore, London 1997).

Zeiss, Westgotenreich

H. Zeiss, Die Grabfunde aus dem spanischen Westgotenreich. Germ. Denkmäler d. Völkerwanderungszeit 2 (Berlin, New York 1934).

Zeiss, Fürstengrab

H. Zeiss, Fürstengrab und Reihengräbersitte. In: Petri, Siedlung, 281–284. (Erstdruck: Forsch. u. Fortschritte 12, 1936, 302 f.).

Zeiss, Grabfunde

H. Zeiss, Die germanischen Grabfunde zwischen mittlerer Seine und Loiremündung. Ber. RGK 31/1, 1941, 5–173.

Abkürzungsverzeichnis

797

Abkürzungsverzeichnis ADAI

Archiv des Deutschen Archäologischen Instituts, Zentrale Berlin

AWLV

Arbeitsgemeinschaft für westdeutsche Landes- und Volksforschung

ARGK

Archiv der Römisch-Germanischen Kommission, Frankfurt a. M.

AVSM

Archiv des Vorgeschichtlichen Seminars der Philipps-Universität Marburg

BAB

Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde

BA MA

Bundesarchiv Militärarchiv, Freiburg i. Br.

CARAN

Centre d’accueil et de recherche des Archives nationales, Paris

DAI

Deutsches Archäologisches Institut

Gestapo

Geheime Staatspolizei

LDAF

Landesdenkmalamt Baden-Württemberg, Archäologische Denkmalpflege, Außenstelle Freiburg

OKH

Oberkommando des Heeres

RGK

Römisch-Germanische Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts

RGZM

Römisch-Germanisches Zentralmuseum Mainz

REM

Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung

RSHA

Reichssicherheitshauptamt

RMI

Reichsministerium des Innern

SS

Schutzstaffel

VFG

Volksdeutsche Forschungsgemeinschaften

UAH

Universitätsarchiv Heidelberg

UAM

Universitätsarchiv München

WFG

Westdeutsche Forschungsgemeinschaft

Personenregister

799

Personenregister Abetz, Otto 425 f. Adamy, Rudolf 278 Adenauer, Konrad 516 Aegidius 168, 762 Aeneas 165 Aetius 704 Agathias 30 Akerman, John Yonge 210, 212 f. Alföldi, Andreas 717 Alkemade, Monica 691, 763–767, 774 Althoff, Gerd 690 Amador de los Rios, José 276 Amalafred 708 Ament, Hermann 399, 603, 610–617, 632, 641–645, 647, 653, 656, 659–661, 666, 726, 729 Amman, Hektor 554, 582, 588, 592 Ammianus Marcellinus 25 Ammon, Otto 115 Amory, Patrick 162 Anderson, Benedict 141, 148 Angenendt, Arnold 140, 563 Anrich, Ernst 496, 599 Apffelstaedt, Hanns Joachim 414 Arbogast 167, 700, 723 Ariovist 94 Arminius 207 f., 261 f. Arndt, Ernst Moritz 81, 185, 283, 342 Aubin, Hermann 44, 58, 318, 322, 325–329, 338 f., 341, 362, 371, 379, 477, 516, 549, 554, 559 f., 587, 637 Augustin, Alarich 513 Augustus 207, 262 Babelon, Ernest 274 f., 284 f., 287–289, 291 f., 296 f., 529 Barrès, Maurice 292 Barrière-Flavy, Casimir 258, 399, 467, 471 Barth, Fredrik 149 Barthel, Walther 304 Bausinger, Hermann 145, 688

Bauto 167 Baye, Joseph de 241, 249, 258, 279 Bazelmans, Jos 767 Beck, Hans 555 Beck, Marcel 387, 390, 395, 404 Becker, Nikolaus 283 Behagel, Heinz 452 Behn, Friedrich 348 Behrens, Gustav 313 Beltz, Robert 354 Beninger, Eduard 362 Bequet, Alfred 234, 239 f., 248, 520 f. Bernhardi, Karl 92 Bersu, Gerhard 264–267, 491, 545–548 Best, Werner 445, 451–458, 460 f., 463 f., 474 Bethmann-Hollweg, Theobald v. 265 Beumann, Helmut 640, 642 f. Beyen, Marnix 236 Beyerle, Konrad 598 Bieder, Theobald 259 Bierbrauer, Volker 90, 126, 623–627, 629 f., 633 f., 644, 665 f. Bissing, Moritz von 264 f. Bloch, Marc 55, 541 Blumenbach, Johann Friedrich 108, 200 Boas, Franz 114 f. Böckh, Richard 81 f. Bode, Wilhelm v. 266 Boehm, Max Hildebert 457 Bogaers, Jules E. 556, 570 Böhme, Horst Wolfgang 618–623, 648, 650 f., 665, 709, 713, 715 f., 754, 759 Böhner, Kurt 195, 414, 460 f., 551, 555–557, 559–569, 582–584, 589–591, 597 f., 600, 603, 641 f., 647 f., 746, 752 Bollmus, Reinhard 14 Boone, Willem J. de 556, 570 f. Bory de Saint-Vincent, Jean-Baptiste 110 Bosl, Karl 639 Bott, Hans 557, 591

800

Personenregister

Böttger, Hermann 555 Boulainvilliers, Henri de 54, 216 f. Boulanger, Clodomir 258 Bourdieu, Pierre 692 Bouzy, Olivier 767 Braat, Wouter Cornelis 556, 570 Brace, Charles Loring 102 Brackmann, Albert 322 Brenner, Eduard 258, 375, 521, 524 f., 527, 535, 574 Breuer, Jacques 233, 489–493, 510, 546 f., 571 f., 575, 578 f. Briand, Aristide 284 Brisson, André 505 Broc, Pierre Paul 110 Broca, Paul 111 f. Brown, George Baldwin 215 Brühl, Carlrichard 252 f. Brunner, Heinrich 171, 476, 594 Brunner, Otto 592 Bry, Maurice 436 Buchet, Luc 659 f., 739 Buchner, Rudolf 57, 597 f. Bullinger, Hermann 621 Burger, Eva 122 f. Busse, Wilhelm 129 Caesar 25, 28, 92, 230, 282, 288, 462 Callmer, Johan 14 Camper, Pieter 104, 231 Caracalla 34 Caumont, Arcisse de 221 Chateaubriand, François René de 224 Chenet, Georges 422 Chiflet, Jean-Jacques 256 Childerich 168, 220, 226 f., 229, 271, 273 f., 506, 696, 726, 762 Chlodwig 68, 163, 165, 167–169, 172, 204, 216, 229, 287 f., 385, 402, 585, 593, 613, 649, 651, 656, 659, 669, 703, 723, 726, 762 Clemen, Paul 263 f. Cochet, Jean Benoît Désiré 179, 209–211, 219–230, 275, 647 Colin, Jean 297 Columban 187 Constantius II. 722 Conze, Werner 322 Cornelius, Peter v. 202, 204, 208

Courajod, Louis 269, 279 Cramer, Franz 260 f. Cüppers, Heinz 556 Cuvier, Georges 108 Dannenbauer, Heinrich 593–598 Dasnoy, André 578 Davies, Joseph Barnard 230 Dawson, Christopher 624 Dehio, Georg 276 Dehn, Wolfgang 361, 363, 398, 452, 555 Dehnke, Rudolf 414 Demandt, Alexander 56 Demougeot, Émilienne 619 Deniker, Joseph 113–116 Derks, Hans 9, 479, 502, 569 Des Marez, Guillaume 376 Desmoulins, Antoine 110 Dhondt, Jan 532–537, 539, 543 f., 546, 549 f., 552 f., 565, 568, 572, 575, 583, 600, 619 f., 629, 648, 746 Dierkens, Alain 730 Dieterich, Karl 39 f. Diez, Friedrich 73 Ditt, Karl 365 f., 479 Dölger, Franz Joseph 749 Dopsch, Alfons 52–59, 62, 300, 327, 378 f., 382, 387, 396, 401, 476, 637, 639, 663 Dörpfeld, Wilhelm 263 Dragendorff, Hans 421 f., 429 Drinkwater, John 695, 702 Dubos, Jean Baptiste 54 Duhn, Friedrich v. 263 Dunning, Gerald Clough 579 Durliat, Jean 171 Ecker, Alexander 112 Effros, Bonnie 12, 15, 772 Egger, Rudolf 362 Eickhoff, Martijn 16, 412 Eickstedt, Egon v. 117–120, 200, 385 Eiden, Hans 555 Elton, Hugh 695, 722, 760 Engel, Carl 362 Espérandieu, Émile 284, 294 f., Eucken, Rudolf 400 f., Ewig, Eugen 33, 162, 172, 582, 584, 597, 637, 663

Personenregister Fahlbusch, Michael 14, 359, 362, 391 Fausset, Bryan 210 Febvre, Lucien 717 Feffer, Laure-Charlotte 87 Fichte, Johann Gottlieb 73 f.,185 Ficker, Julius 160 Fiedler, Uwe 617 Fischer, Eugen 118, 121, 357 f. Fischer, Johann Baptist 110 Fleury, Michel 557,583 Forster, Johann Reinhold 108 Fremersdorf, Fritz 729 Frey, Hermann Walther 424, 427, 451 Freyer, Hans 155 f. Fried, Johannes 588 Frings, Theodor 325 f. Fustel de Coulanges, Numa Denis 55, 62, 82 f., 168, 251–254, 368, 376, 379 f., 382 f., 394 f., 396, 475 f., 596, 598 Gall, Franz Joseph 231 Gallus 187 Gamillscheg, Ernst 79 f., 388, 390 f., 393, 612 Ganshof, François 401 Gellner, Ernest 148 Gérard, Pierre 237 f., 606 Gerkan, Armin v. 427 Geyl, Pieter 358 Glazema, Pieter 570 Goebbels, Joseph 154, 446 Goeßler, Peter 317, 329, 339, 705 Goffart, Walter 66 Gollub, Siegfried 557 Göring, Hermann 456 Gotter, Ulrich 127 f., 629 f. Götze, Alfred 272f, 317, 339 Gradmann, Robert 357 Graus, Frantiˇsek 135, 640, 673 Grautoff, Otto 272 Gregor von Tours 162, 562, 762 Grenier, Albert 297 Grimm, Jacob 72, 129 f., 130, 135, 191, 210 Grimm, Wilhelm 72, 206 f., 213 Guillaume, Jacques 615, 617 Guizot, François 218 f., Gumplowicz, Ludwig 109

801

Günther, Hans F. K. 115–117 Günther-Hornig, Margot 407 Habermas, Jürgen 129 Hahl, Lothar 441 Hakelberg, Dietrich 15, 191 Halbertsma, Herrius 556, 570 Halle, Uta 265 f., 407 Haller, Johannes 387 Halsall, Guy 665, 670, 672, 690, 698, 704, 759, 762–764 Hamann, Richard 435 Harries, Jill 702 Haßler, Konrad Dietrich 257 Haubrichs, Wolfgang 78–80, 83–85, 91, 169 Hauck, Gerhard 157 Haupt, Albrecht 272, 278 Hawkes, Sonia Chadwick 579 Hedeager, Lotte 719 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 49f Heine, Heinrich 207 f., Helbok, Adolf 55, 318, 364, 379, 592, 673 Herbert, Ulrich 452 Herder, Johann Gottfried 43, 48 f.,71, 128, 143, 202 f., 587 Hermenefred 708 Herrnbrodt, Hans 555 Heuss, Anja 407 Heydrich, Richard 452 f. Hiecke, Robert 424 Hiller v. Gaertringen, Julia 407 Himmler, Heinrich 412, 415, 443, 457 Hitler, Adolf 405, 444 f., 478, 505 Hobsbawn, Eric 148 Hoffmann von Fallersleben, Heinrich 206 Höfler, Otto 150 Hofmeister, Hermann 313 Holste, Friedrich 413 Holwerda, Jan Hendrik 377–379, 383, 396 Hombert, Pierre 535 f., 550 Houben, Philipp 226 Huber, Neil M. 122 Hübinger, Paul Egon 587 Hülle, Werner 409 f., 412 f., 419, 422 Hundt, Hans-Jürgen 437 f., 440 Hussong, Ludwig 397

802

Personenregister

Isidor v. Sevilla 343 Ivanovskij, Alexis Arseniewitsch 115 Jacob-Friesen, Karl Hermann 331, 333, 360, 363 Jacobi, Heinrich 298 Jacques, Victor 244 Jäger, Ludwig 501 Jahn, Friedrich Ludwig 142–146, 185, 342, 770 Jahn, Martin 354 James, Edward 87, 611, 646–651, 656, 766 Jankuhn, Herbert 14, 411–413, 416, 422, 443, 482, 512, 590 Janssen, Walter 557 Jarnut, Jörg 3, 21, 762 Jentgens, Gerard 606 Julian 166f, 524, 721f Jullian, Camille 284 f., 289–292 Jungandreas, Wolfgang 568 Junker, Klaus 422 Jussen, Bernhard 69, 137 f., 673, 694–697,699, 705, 764 Kaeser, Marc-Antoine 179 Kant, Immanuel 108 Karl d. Große 216, 288, 423 Kaschuba, Wolfgang 178, 342, 771 Kater, Michael 14 Kautzsch, Rudolf 274 Kazanski, Michel 627, 770 Keller, Hagen 670 Kerber, Franz 462 Kersten, Walter 412 Kimmig, Wolfgang 407 f.,414, 420, 428, 434, 437, 440–442, 446, 451, 493, 555, 567 Klejn, Leo 638 Knight, Jeremy 739 Knußmann, Rainer 99, 117, 120 Koch, Alexander 90, 150, 338, 399, 666–669 Koch, Ursula 606, 665, 729, 734, 738 Koepp, Friedrich 260 f., 267, 294, 302–304, 306–313, 326, 329, 355 f. Koethe, Harald 398, 436, 441, 497 König, Friedrich 358 Konstantin d. Große 721

Kossinna, Gustaf 7 f., 258 f., 272, 278, 312, 330, 333, 337, 339, 349, 362, 367, 523, 638 Kötzschke, Rudolf 318, 323 f. Kraft, Georg 428, 437, 440 f. Krischen, Fritz 441 Kroeschell, Karl 134, 588 Kühn, Herbert 52, 337 f., 347, 385, 399–403, 668 Kunkel, Otto 362 Kurth, Godefroid 87, 234, 240–246, 248–251, 254, 292, 356, 359, 366, 368, 374–376, 380, 382 f., 385, 394 f., 475 f., 521, 543, 551, 596, 598, 786 Kutsch, Ferdinand 415 f. La Baume, Wolfgang 354, 362 Labarte, Jules 228, 275 Laet, Sigfried J. de 532–537, 539–541, 543, 546–550, 557, 564 f., 572, 575 f., 578, 582–585, 600 f., 611, 619 f., 629, 648, 746 Lakatos, Imre 674, 676 Lamprecht, Karl 318 Langewische, Dieter 184 Langsdorff, Alexander 454 Larsson, Lars Olof 277 Lasteyrie, Ferdinand de 275 Laugel, Anselme 295 Laur-Belart, Rudolf 361, 363 Lazius, Wolfgang 63 Le Goff, Jacques 47 Legoux, René 736 Lehner, Hans 267, 302 Leicht, Jakob 687 Lejeune, Carlo 407 Lenz, Fritz 118 f. Lenzen, Heinrich 442 Leo d. Große 749 Leovigild 343 Levy, Ernst 134 Libanios 166 Lindenschmit, Ludwig 177 f., 181, 186, 191, 193–195, 200–202, 204–206, 208, 210–212, 226, 230, 256, 258, 346, 647 Lindenschmit, Wilhelm 177–179, 181, 186, 191 f., 194–202, 204–208, 211, 222, 226, 230, 256 f., 346 Linné, Karl v. 108

Personenregister Livingston, Frank 102 Locher, Hubert 276 Loebell, Johann Wilhelm 171, 476 Lot, Ferdinand 254, 376, 401, 475, 477, 528, 573, 596–598 Lüddecke, Andreas 120 MacPherson, James 184 MacPherson, Duncan 227 Maeyer, Robert De 513 f. Mâle, Émile 268 f., 270–274, 277–279 Mallet, Paul-Henri 203 Malte-Brun, Conrad 110 Mann, Thomas 132, 263 Marchand, Suzanne 2, 263 Martin, Max 606, 627, 631, 641, 645, 670, 776 f., 779 f., 782 Martinez St. Ollala, Julio 625, 628 Maßmann, Hans Ferdinand 206–208, 213, 317 Massow, Wilhelm v. 398, 428 Maurer, Friedrich 582 Mayer, Theodor 391, 463 f., 554, 582, 587–590, 598 Menghin, Wilfried 124 Merhart v. Bernegg, Gero 483, 491, 506, 517 f. Merobaudes 167, 723 Mertens, Joseph 491 Metz, Friedrich 405, 457, 554, 582 Michiels, Alfred 83 Mildenberger, Gerhard 557 Milojˇci´c, Vladimir 645 Mitscha-Märheim, Herbert 557 Möbius, Hans 419–421, 429, 431, 433, 441, 451, 453, 504 f. Mommsen, Theodor 82, 624 Mönch, Werner 498, 507 Montagu, Ashley 102 Montlosier, François de 218 Moosbrugger-Leu, Rudolf 557 Morris, Ian 692, 732 f., 750 Morton, Samuel George 111 Möser, Justus 318 Mosse, George L. 104 Mühlmann, Wilhelm Emil 24, 149–159 Müller, Hermann 192, 196 Müller, Hermann Friedrich 606 Müller, Philipp Ludwig Statius 108

803

Murray, Alexander C. 150 Musset, Lucien 618 Napoleon Bonaparte 190, 194, 217, 257, 293 Napoleon III. 194, 216, 257 Nenquin, Jacques 533, 536 f., 539, 543, 546, 550, 565, 572, 575, 583, 600, 619 f., 629, 648, 746 Nerlich, Michael 74 Neuffer, Eduard 408, 428, 430 f., 441, 488, 492 Neumann, Günter 94 f. Neumayer, Heino 12, 15 Nierhaus, Rolf 442, 591 Nock, Arthur 732 Nordau, Max 346 Norden, Eduard 26 Nuber, Hans Ulrich 713 Oberkrome, Willi 14, 156, 317 Oberländer, Theodor 516 Oelmann, Franz 327, 331, 424, 427, 460 Oexle, Otto Gerhard 16 Olivier, Laurent 408, 441, 444 Oxenstierna, Eric Graf 512 Paudler, Fritz 116 Penck, Albrecht 320, 323 Périn, Patrick 87, 610 f., 616 f., 652–657, 659, 661 f., 664, 666–668, 730, 739, 771 Petersen, Ernst 362 Petraca, Francesco 46 Petri, Franz 78–80, 85, 90 f., 124, 364–366, 371–397, 399 f., 404 f., 448, 455 f., 458, 466 f., 471, 474, 476 f., 479–481, 485, 488, 491, 493 f., 496, 502, 511, 521, 525, 527, 532–536, 542, 544, 549–554, 559, 567–569, 572–577, 581 f., 586, 588 f., 592 f., 597–599, 607, 609, 611 f., 637 f., 644, 652, 667 f., 672 f. Petrikovits, Harald v. 557, 584, 591 Pfahl, Stefan 759 Pfister, Christian 285, 292 Piganiol, André 62 Pilet, Christian 739 Pilloy, Jules 248, 250, 258, 521, 747 Pippin 163

804

Personenregister

Pirenne, Henri 47, 53, 55–58, 62, 248, 376, 379–382, 396, 401, 476, 532, 541, 554 Pirling, Renate 557, 583 Pitz, Martina 10 f., 366 Platzhoff, Walter 463 f. Pohl, Walter 3, 21, 32, 343, 677, 704, 772 Popper, Karl 674 Poseidonios 26 Postumus 721 Pouchet, Archimedes 231 Preidel, Helmut 337, 354 Prinz, Friedrich 639 Prokop 30 Prou, Maurice 253 f. Quatrefages, Armand de 112 Ranke, Leopold v. 49 Ratzel, Friedrich 318, 716 f. Redlich, Clara 509 f. Reeder, Eggert 479 Reese, Werner 479 f. Regino v. Prüm 169 f. Reinecke, Paul 332 Reinerth, Hans 14, 339, 355, 357, 379, 400, 402, 411 f., 424, 519 Renan, Ernest 82 f., 292 Renaud, Jaap 570 Rest, Walter 361, 363 Retzius, Anders 111 f., 200 Reuter, Marcus 759 Richomer 166 Richthofen, Bolko v. 354 Ricken, Heinrich 441 Riegl, Alois 272, 277, 279–281, 628, 693 Riehl, Wilhelm Heinrich 318 Rigollot, Marcel Jerome 228 Ripley, William 114–116 Robert, Karl 263 Rodenwaldt, Gerhart 313–315, 326 Röhrer-Ertl, Olav 107 Roller, Otto 556 Roosens, Heli 491, 510, 546 f., 556 f., 569, 571–579, 581, 584, 600 Rösing, Friedrich 107, 124 f. Rousseau, Félix 377 Rust, Bernhard 426 f., 439, 443

Sadée, Emil 262 Saintenoy, Paul 296 Salin, Bernhard 276 Salin, Édouard 505, 528–531, 562, 600, 653 Salvianus v. Marseille 700 f. Sasse, Barbara 628 f. Schaeffer, Claude F.-A. 315 Schäfer, Dietrich 371 Schede, Martin 420, 422–430; 434–436, 438, 441, 447 f., 485, 496, 502, 504 Scheibelreiter, Georg 136 Schieder, Theodor 322 Schlegel, August Wilhelm 203 Schlegel, Friedrich 203 Schleiermacher, Wilhelm 408, 424–426, 428, 430, 435, 438, 440 f., 451 f., 460 f., 497, 513 Schlesinger, Walter 637 Schlunk, Helmut 625 Schmarsow, August 272 Schmidt, Hubert 354 Schmidt, Karl 495 Schmidt, Wolfgang 733, 747 Schnapp, Alain 216, 221, 225 Schneckenburger, Max 283 Schneider, Hans (=Hans Schwerte) 498–502, 507 f., 511 Schneider, Hermann 132 Schnurbein, Siegmar v. 315, 408 Schoenebeck, Hanns-Ulrich v. 424, 426, 428 Schönberger, Hans 540 f., 752 Schoppa, Helmut 555 Schöttler, Peter 14, 359, 549 Schreiber, Heinrich 186–191 Schulze-Dörrlamm, Mechthild 751–758, 780 f. Schumacher, Karl 303 f., 307, 363 Schwantes, Gustav 354 Schwarz, Ernst 592 Schwidetzky, Ilse 118–120, 124 Seger, Hans 354 Serres, Etienne 230 Seyß-Inquart, Arthur 478, 500 Sidonius Apollinaris 699–702 Siegmund, Frank 148, 634, 767 Sievers, Wolfram 412 f., 416, 426, 438, 503, 505, 509–511, 513, 520, 572 f.

Personenregister Sieyès, Emmanuel Joseph 217 Silvanus 651 Simmer, Alain 92 Simonde de Sismondi, Jean Charles Léonard 219 Smets, Josef 282 Spengler, Oswald 50 f., 347 Sprater, Friedrich 361, 363, 555 Springer, Matthias 63, 161, 166 f., 170 Sprockhoff, Ernst 422, 424, 426, 428–430, 435–438, 440, 448, 451 f., 461, 494 Staab, Franz 143 Staël-Holstein, Anne Louise Germaine de 109, 225 Stampfuß, Rudolf 403, 409–411, 482, 486 Stange, Alfred 397, 435 Steeger, Albert 361, 363, 555 f., 570, 580 f., 583 Steidl, Bernd 711–713 Stein, Frauke 557, 583, 607–611, 614, 616, 647, 653, 656, 661–664, 666 Stein, Karl Freiherr vom 310 Stein, Simon 171 f., 476 Steinbach, Franz 78, 85, 90, 124, 326, 329, 332, 338, 358 f., 365–374, 386 f., 389–392, 394 f., 397 f., 404 f., 455, 477, 516, 532, 553, 554, 569, 588 f., 592, 599, 614, 667 f. Steinhausen, Josef 326, 360 f., 363, 393, 398, 555, 567 Stengers, Jean 86, 543 f., 600, 602 Steuer, Heiko 585, 671 Stieren, August 360 f., 363 Stokar, Walter v. 412, 482, 500–502, 509, 511, 517 Stoll, Hermann 559 Straub, Roderich 121 f. Strauß, David Friedrich 82 Stroh, Armin 437 f., 440 Stroheker, Karl Friedrich 551, 623–625 Strzygowski, Josef 272 Stuckart, Wilhelm 405 f., 444, 454 Stülpnagel, Carl-Heinrich v. 431 Stutz, Ulrich 55, 476 Sundwall, Johannes 62 Supka, Géza 272 f. Syagrius 168 f., 702–704, 762, 766

805

Tacitus 26, 28, 92, 128, 732 Tackenberg, Kurt 361, 391, 393, 413–416, 424 f., 427, 435 f., 447, 467, 481 f., 486 f., 497 f., 502–513, 533 Templeton, Alan 106 Teutomer 166 Thedieck, Franz 554 Theoderich d. Große 162 Theoderich II. 700 Theune, Claudia 634 Theuws, Frans 691, 763–767, 774 Thierry, Augustin 109, 218 f. Thomasset, Johannès 457 Thurnwald, Richard 151 Tiberius 262 Tirard, Paul 295–297 Tischler, Fritz 556, 570 Tode, Alfred 354 Török, Aurel v. 112 Treitschke, Heinrich v. 82–84 Trimpe Burger, Jan A. 556, 570 Troyon, Frédéric 180 f., 210, 225 Trüdinger, Karl 26 Ucko, Peter 749 Unruh, Frank 408 Unverzagt, Wilhelm 264 f., 362 Uslar, Rafael v. 313, 414, 556, 570, 577, 592 Vadomar 721 f. Valentinian 721 Valentinian III. 723 Valerian 710 Vallet, Françoise 703 Van Bastelaer, Désiré-Alexandre 234, 236–240, 244 f., 248–251 Van Dessel, Camille 367 Van Doorselaer, André 541, 623, 747, 752 Van Giffen, Albert E. 360, 363, 569 f. Van Ossel, Paul 665 Veeck, Walther 313, 315 f., 329–332, 367 Verlinden, Charles 541–544, 572, 577, 582, 600 Verschuer, Otmar v. 118 Vierck, Hayo 770 Viollier, David 315 Virchow, Rudolf 113 Virey, Julien Joseph 110

806

Personenregister

Vischer, Friedrich Theodor 770 Vitruv 749 Volz, Wilhelm 321, 356 Waas, Adolf 55 Wahle, Ernst 309 f., 333, 353–355, 358, 360, 362 Wallraff, Martin 748–750 Wagner, Robert 487 Ward-Perkins, Bryan 62 Wartburg, Walther v. 388 f. Wauters, Adolphe 240, 249 Weber, Wilhelm 192 f., 422 Weerd, Hubert van de 489 f., 510 Wehler, Hans-Ulrich 147, 183 Wehner, Herbert 586 Weise, Georg 268 Wenskus, Reinhard 150 f., 156, 158, 161, 165, 582, 584, 638, 643 f., 677 Werner, Joachim 344 f., 361, 363, 394, 410, 420, 424, 428, 434, 437, 441 f., 460, 482–497, 502–511, 517–527, 530, 536–540; 543, 545–550, 560, 564–566, 571–580, 584 f., 589–607, 617–620, 625, 637–646, 648 f., 670, 673, 706 f., 709, 727, 731, 746, 757, 786 f. Werner, Karl Ferdinand 47, 168–170, 172, 762 Werner, Matthias 319 Wesel, Uwe 133 Whittaker, Charles Richard 683, 714, 716, 719–723, 763 f. Wiegand, Theodor 263 Wieruszowski, Helene 476

Wilhelm II. 301 Wilhelmi, Karl 180 f., 186, 190 f., 204, 256 Wilke, Heinz 509, 511 Winckelmann, Johann Joachim 202, 262 Wirth, Herman 483 Witte, Hans 87, 366, 389–391, 395, 404 Wolff Metternich, Franz Graf 417 f., 420, 425 f., 428, 434 f., 485 Wolff, Georg 261, 326 Wolff, Karl Felix 114 Wölfflin, Heinrich 346 Wolfram, Herwig 165 f. Woltmann, Ludwig 259 Wopfner, Hermann 318 Wright, Thomas 210 Wüst, Walter 416 Wylie, William Michael 210 f., 214 Young, Bailey K. 611, 650 f., 656, 729 Ypey, Jaap 556, 570, 742 Zeiss, Hans 8, 51, 300, 315, 332–351, 360–364, 385, 394–396, 402, 404, 411, 414, 427, 434, 436, 442, 447–477, 483, 485, 492 f., 495, 497, 504, 522–524, 526 f., 530, 542, 550 f., 559, 561, 564, 566, 571–573, 580 f., 590 f., 593, 600, 602, 604, 607–614, 619 f., 625–631, 637, 639, 653, 663 f., 666, 670, 673, 696, 786 f. Ziegelmayer, Gerfried 123 Zöllner, Erich 159 f., 601f, 612 Zylmann, Peter 354