Gerd Albers: Beiträge zum Städtebau in Wissenschaft und Praxis 9783534272341, 9783534272815, 9783534272822

Gerd Albers zählt zu den renommiertesten Autoren, Forschern und Lehrern in Fragen der Disziplin Städtebau. Trotz seinen

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Kurzbiographie
Gerd Albers im Profil
Geistesgeschichtliche Entwicklung des Städtebaus, Der Wandel der Wertmaßstäbe im 19. und 20. Jahrhundert
Modellvorstellungen zur Siedlungsstruktur in ihrer geschichtlichen Entwicklung
Erneuern, Bewahren, Verändern – Alternativen für die Umwelt?
1961–1978: Ein Sechsteljahrhundert Städtebau
Ziele, Aufgaben, Methoden, Probleme der Stadtplanung
Wandel und Kontinuität im deutschen Städtebau
Das Stadtplanungsrecht im 20. Jahrhundert als Niederschlag der Wandlungen im Planungsverständnis
Über den Rang des Historischen im Städtebau
Stadtgestaltung ohne Leitbild
Zur Lage: 25 Jahre Bundesbaugesetz
Tendenzen der Stadtentwicklung in Europa
Lehre für die Stadtplanung im Wandel
Über den Wandel der Wertmaßstäbe im Städtebau – Blick auf die letzten fünf Jahrzehnte
Back Cover
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Gerd Albers: Beiträge zum Städtebau in Wissenschaft und Praxis
 9783534272341, 9783534272815, 9783534272822

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Institut für Städtebau und Wohnungswesen (Hrsg.) Gerd Albers – Beiträge zum Städtebau in Wissenschaft und Praxis

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Institut für Städtebau und Wohnungswesen (Hrsg.)

Gerd Albers Beiträge zum Städtebau in Wissenschaft und Praxis

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Der Herausgeber hat die Urheber- und Nutzungsrechte der Texte und Bilddateien die in der vorliegenden Publikation abgedruckt sind nach bestem Wissen und Gewissen recherchiert und eingeholt. Sollte es Urheber- bzw. Nutzungsrechte geben die wir nicht erkannt haben oder nicht erkennen konnten, so bitten wir die Rechteinhaber um Nachsicht sowie zur Klärung um Kontaktaufnahme mit dem Institut für Städtebau und Wohnungswesen in München.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar

wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2020 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Satz und eBook: SatzWeise, Bad Wünnenberg Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27234-1 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-27281-5 eBook (epub): 978-3-534-27282-2

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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kurzbiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gerd Albers im Profil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Geistesgeschichtliche Entwicklung des Städtebaus, Der Wandel der Wertmaßstäbe im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . .

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Modellvorstellungen zur Siedlungsstruktur in ihrer geschichtlichen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erneuern, Bewahren, Verändern – Alternativen für die Umwelt? . .

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1961–1978: Ein Sechsteljahrhundert Städtebau . . . . . . . . . . . 113 Ziele, Aufgaben, Methoden, Ziele, Aufgaben, Methoden, Probleme der Stadtplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Wandel und Kontinuität im deutschen Städtebau . . . . . . . . . . 144 Das Stadtplanungsrecht im 20. Jahrhundert als Niederschlag der Wandlungen im Planungsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Über den Rang des Historischen im Städtebau . . . . . . . . . . . 186 Stadtgestaltung ohne Leitbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Zur Lage: 25 Jahre Bundesbaugesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Tendenzen der Stadtentwicklung in Europa . . . . . . . . . . . . . 221 Lehre für die Stadtplanung im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Über den Wandel der Wertmaßstäbe im Städtebau – Blick auf die letzten fünf Jahrzehnte . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

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Vorwort Wer bisher einen Aufsatz, einen Artikel oder zur wissenschaftlichen Bezugnahme vielleicht sogar zum Vergleich mehrere Texte von Gerd Albers, dem wohl renommiertesten, international anerkannten Autor, Forscher und Lehrer zu allen Fragen der Disziplin Städtebau lesen oder zitieren wollte, musste sich in der Regel auf eine aufwändige Suche nach unterschiedlichsten Veröffentlichungen begeben. Trotz seiner weiterhin wegweisenden Aussagen zu Themen und Fragestellungen städtebaulicher Planung, die bis heute hoch aktuell erscheinen, gab es keine der Fachöffentlichkeit zugängliche Sammlung seiner Schriften. Nun haben sich die Professoren Alexander Papageorgiou-Venetas und Thomas Sieverts, langjährige Freunde ihres Kollegen Gerd Albers und mit diesem zudem in gemeinsamer Mitgliedschaft der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung verbunden, der Mühe unterzogen, über ihr individuelles Interesse an einzelnen Texten hinaus, mit großer Sorgfalt etliche an unterschiedlichen Orten und von ebenso unterschiedlichen Institutionen publizierten Texte systematisch zusammen zu stellen. Das Institut für Städtebau und Wohnungswesen (ISW), das überdies 30 Jahre von 1962 bis 1991 durch Gerd Albers geleitet und in seinem republikweiten Renommee geprägt wurde, hat sich sehr über das Angebot der beiden Wissenschaftler gefreut, diese Sammlung als einen beispiellosen Fundus an Erkenntnissen und Empfehlungen für Fortbildung und Forschung in der vorliegenden Form zu veröffentlichen. Dass diese nun in gesammelter Form erneute Publikation der Erkenntnisse und Überzeugungen dieses außergewöhnlichen Wissenschaftlers zudem kurz nach dem Jahr erfolgt, in welchem sich sein Geburtstag zum hundertsten Mal gejährt hat, hat als weiterer, schöner Aspekt das Vorhaben bestärkt. Den beiden angesprochenen Kollegen, die ihre Forschung aus eigener Initiative, rein ehrenamtlich und noch bis kurz vor deren Abschluss ohne die Sicherheit einer angemessenen Verbreitung ihres Arbeitsergebnisses

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Vorwort

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betrieben haben, und die die Hauptlast der angesprochenen Suche wie der Aufbereitung und Interpretation der Texte trugen, ist herzlich zu danken! Ebenso gebührt Martin Albers, dem Sohn, selbst in Zürich erfolgreich als freischaffender Städtebauarchitekt tätig und Erbe des Nachlasses seines Vaters für seine Unterstützung ganz besonderer Dank. Darüber hinaus ist der Landesgruppe Bayern der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung e. V. und Thomas Sutor, Geschäftsführer von Oliv Architekten in München für die finanzielle Unterstützung dieser Veröffentlichung zu danken. Schließlich ist diversen Verlagen und weiteren Trägern jeweiliger Veröffentlichungsrechte für ihre freundliche Bereitschaft zu danken, diese zugunsten der Vollständigkeit der Sammlung an das ISW zu übertragen. Im Gegenzug möchten wir als von Bund und Freistaat Bayern gefördertes städtebauliches Institut auch mit der Publikation unserem allgemeinen Fortbildungsauftrag gerecht werden. Wir werden deshalb die Bibliotheken von Hochschulen, Akademien und Verbände, deren Tätigkeitsfeld auf Fragen zu Städtebau und Stadtplanung orientiert ist, mit Musterexemplaren ausstatten und erhoffen uns, dass die Texte verbreitet Gegenstand fachlicher Diskussionen und Lehrveranstaltungen sein werden. Leserinnen und Lesern wünschen wir eine für sie erkenntnisreiche und gleichermaßen spannende Lektüre. Prof. Julian Wékel Direktor Institut für Städtebau und Wohnungswesen

Sarah Dörr Wissenschaftliche Referentin Institut für Städtebau und Wohnungswesen

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© HCU Hamburg/Foto: T. Preising

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Kurzbiographie Gerd Albers wurde 1919 in Hamburg geboren. Nach einem fast zehnjährigen Kriegsdienst bei der Marine nahm Albers mit 27 Jahren sein Architekturstudium in Hannover auf, das ihn später auch an das Illinois Institute of Technology in die USA führte. Nach beruflichen Stationen in Ulm, Trier und Darmstadt sowie der Promotion an der RWTH Aachen, wurde Gerd Albers 1961 an die damalige Technische Hochschule München (heute Technische Universität München) berufen. Albers folgte dem Ruf und gestaltete die Lehre am Lehrstuhl für Städtebau, Orts- und Landesplanung in den folgenden knapp 27 Jahren. Darüber hinaus wirkte Albers als Dekan und Prodekan der Fakultät Architektur sowie von 1965–1968 als Rektor der Technischen Hochschule München. Über seine wissenschaftliche Lehrtätigkeit hinaus war Gerd Albers u. a. von 1962–1991 als Direktor des Instituts für Städtebau und Wohnungswesen, von 1985–1991 als Präsident der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung e. V. sowie als Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und der ISOCARP – Internationale Gesellschaft der Stadt- und Regionalplaner aktiv. Sein Bestreben zur Weiterentwicklung der Lehre führte 1967 zur Einrichtung eines städtebaulichen Aufbaustudiengangs an der Technischen Hochschule München. Darüber hinaus war Albers als Senator an der Gründung der Technischen Hochschulen in Dortmund und HamburgHarburg beteiligt. Gerd Albers engagierte sich Zeit seines Lebens für die Fachdisziplin und verfasste eine Vielzahl wissenschaftlicher Beiträge und Fachbücher zu den Fragen des Städtebaus und der Stadtentwicklungsplanung. 2010 wurde Albers mit dem ersten Ehrendoktortitel der HafenCity Universität für sein Lebenswerk ausgezeichnet.

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Gerd Albers im Profil Ein unvoreingenommener Geist, ein ruhig abwägender Zeitgenosse, ja ein ausgeglichener Humanist unserer Tage, war und ist zeitlebens Gerd Albers als Planer geblieben. Das für das Gemeinwohl Wünschenswerte, aber besonders auch das unter den obwaltenden Umständen Machbare, bedingten seine Zielsetzungen. In den langen Jahren seiner Lehrtätigkeit, seiner Vorträge und seiner vielfältigen Gremien- und Beratungstätigkeit seit seiner Doktorarbeit im Jahr 1957 hat er ohne Unterlass über Stadtplanung als Tätigkeit, als Beruf und als Wissenschaft nachgedacht und publiziert. Im Laufe dieser langen Zeit, aber auch darüber hinaus, ist er in Deutschland, eine allgemein anerkannte Autorität der Begriffsklärungen, der ordnenden Geschichtsdeutung, der sich vom Tagesgeschehen mit seinen modischen Wellenschlägen distanzierenden Reflektion – eine Autorität, die unter den Aufregungen des Tages die kontinuierlichen geistigen Grundströmungen zu erfassen und festzuhalten suchte. So ist er im Laufe seines langen Lebens zum großen Konsensstifter in der sich gerade heraus bildenden Disziplin geworden und gilt mit seinen Schriften und Vorträgen als eine Art von Klassiker. Als Hauptaufgabe der Stadtplanung sieht er die Suche nach Ordnung und Ausgewogenheit in Stadt und Gesellschaft. Räumliche Ordnung versteht er als Voraussetzung für die Vielfalt und den Reichtum städtischen Lebens; keineswegs sieht er in ihr eine Einschränkung der Freiheit. Ein Meister seines Faches, führt er einen permanenten Kampf für klare inhaltliche Festlegung von Aufgaben, Zielen, Methoden und Instrumenten der Planung. Mit scharfem Blick, fern von jedem selbstgefälligen Dünkel, erforscht Albers das Selbstverständnis der planenden Zunft. Das geschriebene und mehr noch das öffentlich vorgetragene Wort sind seine Waffen. Seine Sprache ist klar und jeglicher modischer Wortschöpfung abhold, seine Argumentation deduktiv: soziale Gegebenheiten in ihrem geschichtlichen Zusammenhang, vorherrschende Wertmaßstäbe in der Gesellschaft, politische Bedingtheiten werden aufgespürt, wobei sich vor

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diesem Hintergrund die jeweiligen Zielsetzungen der räumlichen Planung abzeichnen. Diese sind, den Notwendigkeiten folgend, in permanentem Wandel begriffen. So kann Stadtplanung, nach Albers, nicht auf ein abgeschlossenes Ergebnis – wie die Architektur – zielen. Stadtplanung, wie übrigens jegliche Planung, ist ein offener, sich stets durch Rückkoppelung selbst überprüfender und sich den Entwicklungen anpassender Steuerungsprozess. Dieser erbringt dabei nur bedingt bleibende Leistungen, da seine Aufgabe nicht darin bestehen kann, den Plan eines erwünschten Endzustandes zu erarbeiten; denn Stadtentwicklung kennt keinen Endzustand. So ist ein weiterer Wesenszug der Gedankenwelt von Gerd Albers die historische Relativierung: Fast nichts in der Stadt ist auf Dauer angelegt, alles ist in Bewegung. Das erkennt man ganz besonders im Zeitraffer der Geschichte. Stadtplanung ist ja gerade ein Instrument, die Stadt beweglich zu halten, freilich im Rahmen einer übergreifenden robusten Ordnung. Diese geschichtsgesättigte Erkenntnis sollte dem Praktiker helfen, den Widerspruch auszuhalten, vielleicht sogar produktiv zu machen: einerseits ein Werk in seiner Qualität auf Permanenz auszurichten, andererseits für zukünftige, zwangsläufige Veränderungen an diesem Werk offen zu bleiben. Im Stadtplaner – als dem räumlich geschulten Spezialisten und zugleich Koordinator einer multidisziplinären Arbeitsgruppe – sieht Albers einen bona fide gesellschaftlichen Agenten, einen „ehrlichen Makler“, der die vermittelnde Rolle zwischen legitimen jedoch oft kontroversen Interessen übernimmt. Seine Aufgabe ist nicht das Aufdrängen eines autoritativen räumlichen Konzepts, sondern die Ausarbeitung eines konstruktiven gesellschaftlichen Kompromisses zur jeweiligen Umweltgestaltung. Er kann diese Rolle nur positiv und kreativ ausfüllen, wenn er nicht den bequemen, jedoch faulen Kompromiss sucht, sondern bei aller Konsensfähigkeit eine Vorstellung von der „guten Stadt“ verfolgt, die ihren Fluchtpunkt in der Utopie einer guten Gesellschaft hat. Wer in der räumlichen Planung einen offenen Prozess und im Planer einen Vermittler sieht, ist wenig dazu geneigt, sich der Stadtbaugeschichte als kritischer Darstellung realisierter Stadtkonzepte zu widmen. So ist das Anliegen Albers nicht, was erdacht, geplant und erbaut wurde, zu erforschen, sondern vielmehr das Wie, d. h. nach welchen Prinzipien und

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Vorgängen geplant wurde. Er widmet sich so der deutschen und europäischen Planungsgeschichte. In diesem Kontext betreibt er eigentlich geistesgeschichtliche Untersuchungen im Felde der Stadtplanung und wird zum kompetentesten Exegeten in der diesbezüglichen Forschung – ein Mentor seiner Planer-Generation! Von unterschiedlichen Standpunkten aus untersucht Albers das Vorgehen der Stadtplanung. Er widmet sich besonders dem zeitbedingten Wechsel der Rangordnung der Werte. So erkennt er eine Verlagerung in historischer Folge, von anfangs technisch-hygienischen, dann zu gestalterisch-ästhetischen, später zu wirtschaftlich-funktionellen und zuletzt zu sozialen und sozialpsychologischen Aspekten und Prioritäten. Ein wichtiger Teil dieses Wandels ist die Relativierung der Werte, mit der sich Gerd Albers immer wieder beschäftigt hat. Seine Erkenntnisse zu diesem Wandel könnten auf den Praktiker ernüchternd wirken, weil die Dauer der Anerkennung solcher Werte, wie Gerd Albers zeigt, erstaunlich kurz sein kann, denken wir z. B. an die Werte der Postmoderne. Wir sollten aber den Praktiker ermutigen, die eigenen Werte auf ihren Gehalt und ihre geistige Verankerung daraufhin zu prüfen, ob sie mehr als eine oberflächliche Mode darstellen. Nach einer solchen Prüfung kann er mit seinem Werk selbstbewusst den Werten seiner Zeit verpflichtet sein, in der Hoffnung, dass sein Werk in naher und ferner Zukunft als wertvoller Zeitzeuge geachtet und geschützt wird. Als ideellen, aber auch tatsächlichen „Bauherrn“ der Planungsaufgabe sieht er die Gesellschaft, vertreten durch ihre lokalen und nationalen Repräsentanten, die jedoch oft, in den politischen Kontroversen verwickelt, ihre Führungsrolle einbüßen. Umso mehr hebt er deshalb die Rolle des Stadtplaners als potenziellen Gesellschaftsreformer hervor. Diesen, sowie die direkte Bürgerbeteiligung am Planungsprozess, betrachtet Albers als Vertreter und Verfechter der gesellschaftlichen Belange, als eine Art von „Bauherrenersatz“. Bevorzugtes Thema seiner Forschungen sind die unterschiedlichen Auffassungen zur Strukturordnung der Stadt, die er in graphisch-schematischer Form darstellt: Art der Flächennutzung, Anlage der Infrastrukturnetze sowie Dichteverhältnisse (in ihrer gegenseitigen Abstimmung zum Aufbau des Stadtgefüges) fasst er in drei wesentliche Strukturmodelle zusammen, nämlich der Punkt-, Band-, bzw. Flächenstadt, die ihrerseits eine beträchtliche Anzahl von Mischtypen erzeugen.

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Dabei lässt Albers alle erdachten Konzepte für eine ordnende Gliederung der Stadt nebeneinander gelten. Parteinahme für einzelne Modelle oder Ablehnung anderer werden gemieden. Sein Urteil folgt nicht dem eindimensionalen Denken des gestalterischen Wollens, sondern der pluralistischen Logik der alternativen Lösungsansätze. Seine Aufgabe sieht er weniger in der Konzeption raumplanerischer Entwürfe, sondern eher in deren Interpretation. Allen stadtplanerischen Bestrebungen billigt er eine legitime ideologische, ja sogar utopische Dimension zu: „Utopie“ verstanden als idealisiertes Zielbild einer künftigen Ordnung und „Ideologie“ als Vorstellung eines Wirkungszusammenhanges zwischen menschlichem Wohlbefinden, den dazu dienlichen Umweltbedingungen und den zu ihrer Herbeiführung geeigneten Mitteln. Ein weiteres Anliegen im Denken von Gerd Albers gilt den Leitvorstellungen in der Stadtplanung. So misstrauisch er den Leitbildern gegenübersteht, insbesondere, wenn sie sich zu vermeintlich anschaulichen, materiell konkretisierten Abbildern verfestigen, so offen ist er jenseits aller Ideologiekritik gegenüber der „Utopie“. Hier verlässt Gerd Albers seine relativierende Skepsis und macht Mut zu einem die Pragmatik transzendierenden Denken, so dass die Arbeit in Städtebau und Stadtplanung nicht Gefahr läuft, banal und geistlos zu werden. Reserviert, ja misstrauisch betrachtet Albers die periodisch auftretenden, unbegründeten Pendelschwünge des Interesses der Planer, das sich von stadtstrukturellen zu stadtgestalterischen Fragen bewegt. Dazu verweist er auf Goethes Überzeugung, dass man das, was man den Geist der Zeiten heißt, im Grunde der Herren eigner Geist ist, in dem sich die Zeiten bespiegeln. Als „Herren“ versteht er hier selbstverständlich die Stadtplaner. Den aufeinanderfolgenden vorherrschenden Wellen der „Planungseuphorie“ bzw. des „Planungselends“, begegnet er mit grundsätzlicher Skepsis. Dazu wiederholte er die aphoristische Bemerkung, dass sich mit dem Erreichen bestimmter Ziele überhöhte Erwartungen verknüpfen, deren Nichterfüllung dann Enttäuschung und Abkehr von früheren Zielen auslöst. Ein Wesenszug vieler Schriften ist, wie angedeutet, seine tiefe, gut begründete Skepsis gegenüber der Wirksamkeit von Stadtplanung. Diese Skepsis könnte mutlos machen. Aber das sollte sie nicht: die Skepsis schützt zwar vor zu großen naiven Erwartungen, aber sie sollte auch Kraft

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geben, eigene Ideen gut, auch ideengeschichtlich und wirtschaftlich, zu verwurzeln und ihnen Luft zu Veränderung und Anpassung zu lassen. Die Skepsis bewahrt vor zu leichtgewichtigen Ideen und ermutigt zu stichhaltigen Begründungen. Diese Form der Skepsis ist eine intellektuelle Herausforderung! Eng mit der Skepsis verknüpft ist die Ambivalenz. Gesättigt mit historischem Wissen schützt sie vor zu viel Geradlinigkeit in der geplanten Entwicklung. Sie schärft den Blick für die notwendige Offenheit von Konzepten gegenüber nicht voraussagbaren Einflüssen und Auffassungen. Eine solche Offenheit setzt allerdings Stabilität und eine haltbare Grundordnung voraus. Ambivalenz kann auch Freiheit bedeuten, Situationen unterschiedlich, ja sogar gegensätzlich zu deuten und zu verstehen. Große Vorbehalte entwickelt Albers besonders gegenüber der Gültigkeit von stadtgestalterischen Leitbildern. In gewisser Hinsicht vereinfachend sieht er im Wandel dieser Leitbilder eine Folge von „Modeerscheinungen“. In der oft wiederkehrenden Abwertung der Gestaltmerkmale der Stadt der jeweils unmittelbar vorangegangenen Zeit sieht er willkürliche „Dünungen“ eines weiter nicht definierten Zeitgeistes. Der Frage, welche Veränderungen im Alltagsleben, in den Verkehrsabläufen sowie in der Wahrnehmung des Stadtbildes den Wechsel der stadtgestalterischen Leitbilder entstehen lassen, widmet er sich nicht. Dafür erinnert er an Julius Poseners Bemerkung, dass die Gestaltung des öffentlichen Raumes sowie der ihn gliedernden Baukörper oft entweder der Darstellung oder der Verschleierung der politischen Macht dienen. Überhaupt zweifelt er an der Möglichkeit eines Konsenses über Gestaltungsgrundsätze. Lapidar betont er, dass Stadtplanung Leitzielen und nicht Leitbildern verpflichtet sei. Als unserer Zeit angemessenes Planungsziel schwebt ihm eine „studied irregularity“ (wohlüberlegte und ausgewogene Ungleichförmigkeit) der Stadtgestalt vor. Das Wesen der Stadt ist für Albers eine Art Palimpsest, eine Aufeinanderschichtung sukzessiver Planungs- und Bauphasen. Dies führt ihn zu Überlegungen über „den Rang des Historischen im Städtebau“. Kontinuität und Wandel sind einander ergänzende Wesenszüge der Stadt. Dementsprechend ist Stadtplanung hauptsächlich „auf Steuerung oder gar Herbeiführung von Veränderungen ausgerichtet“, aber auch um die Bewahrung des Bestandes bemüht, der die Unverwechselbarkeit der Stadtidentität sichert. Denn Veränderungen führen nicht immer zu Ver-

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besserungen. Dabei ist die Identität der Stadtgestalt nicht nur durch den Schutz erhaltenswerter Bauten zu sichern, sondern auch im Respekt des überlieferten Stadtgrundrisses, in der Einordnung des Stadtgefüges in die Landschaft sowie in der Stadtsilhouette zu finden. Am meisten aber wird – so Gerd Albers – der bauliche Maßstabsbruch einer neuen Zeit dem Bestehenden zum Verhängnis. Zusammenfassend erinnert Albers daran, dass die Stadtplanung in Westeuropa seit 1860 bis zum heutigen Tage durch verschiedene Phasen ihres Selbstverständnisses gegangen ist. In einer langen Anfangsphase bis etwa 1960 wird die Stadtwerdung als ein eigengesetzliches Phänomen betrachtet. Der Begriff der Stadtentwicklung wird neutral angewandt: Die Stadt entwickelt sich eigenmächtig. Dementsprechend schritt man von einer anfänglichen „Anpassungsplanung“ zu einer späteren „Auffangplanung“, wobei die wesentlichen Planungsinstrumente der Fluchtlinienplan und später die Staffelbauordnung waren. Ab 1960 verändern sich rapide die Auffassungen. Stadtplanung wird jetzt als „Entwicklungsplanung“, als bewusster Willensakt, verstanden. Man ist davon überzeugt, die „Zukunft im Griff“ zu haben. Die Bauleitplanung wird eingeführt. Es wird auf Simulationen und Planspiele gesetzt. Seit dem Europäischen Denkmalschutzjahr (1975) und nach den aufkommenden Zweifeln an ein grenzenloses Wachstum und dem Schwinden des Glaubens an die Zweckdienlichkeit einer „Gesamtplanung“ (comprehensive planning), erstarkt die Hinwendung zur Vergangenheit und dementsprechend zur „erhaltenden Stadterneuerung“. Das Instrument der Rahmenplanung wird vorgeschlagen. Später, unter den Gegebenheiten der demographischen Stagnation ist von „Rückbau“ überdimensionierter Bauten und Infrastruktureinrichtungen die Rede. Das Prinzip der Reservenschonung führt zum Leitgedanken der „Nachhaltigen Entwicklung“. Angebotsplanung, „publicprivate partnership“ und ortsbezogene Teilverbesserungen (disjointed incrementalism) scheinen in den letzten Jahren das Gebot der Zeit zu sein. Im Ganzen betrachtet, zeugen die Schriften von Gerd Albers nicht nur von sehr hoher fachlicher Kompetenz, sondern auch von umfassender enzyklopädischer Bildung und breitem geistigen Horizont. Die Unvoreingenommenheit und Ausgewogenheit seiner Argumentation wirken überzeugend. Die Klarheit der Formulierungen lässt keine Zweideutigkeiten entstehen. Allerdings bemüht sich Albers stets um eine Ausgeglichen-

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heit und Relativierung seiner Diktion und dies führt ihn oft zu ambivalenten Äußerungen und Vorbehalten sowie zum steten Wunsch, Polarisierungen abzubauen. So tauchen Wendungen wie „einerseits, andererseits“, „zunächst, dem gegenüber“, „wie bedingt“, „vielleicht … vielleicht aber auch“ u. s. w., immer wieder in seinen Texten auf. Dies mag ein Ärgernis für manchen engagierten und von seinen eigenen Überzeugungen geleiteten Planer sein, trägt jedoch dazu bei, die Parteilosigkeit und Sachlichkeit der Argumente zu sichern. Ein weiteres Instrument, dessen Albers sich mit Vorliebe bedient, ist die gelegentliche Zuflucht zu markanten Äußerungen in Form von Zitaten wichtiger Zeitgenossen, die dem Duktus seiner Argumentation Emphase und Gewicht verleihen sollen. Man kann die hier vorgelegte Auswahl an Schriften unter historischer Perspektive als einen wichtigen Beitrag zur Ideengeschichte von Stadtplanung lesen. Gerd Albers’ fakten- und literaturgesättigte Deutungen der Ideenströmungen, Regelungsbemühungen und Institutionenentwicklungen werden – im Sinne eines Klassikers – immer wichtig bleiben für das Verständnis der Entstehungsgeschichte dieser jungen Disziplin. Es wäre jedoch ratsam, beim aufmerksamen Lesen darüber hinauszugehen und zu versuchen, die Aussagen der Texte konkret anzuwenden und auf gegenwärtige Aufgaben und Situationen zu beziehen, jeweils hinsichtlich der spezifischen Interessen des Lesers sowie seiner Stellung in Beruf und Gesellschaft. So gelesen, können die Schriften von Gerd Albers auch dem Praktiker bei seiner Tagesarbeit grundlegende Orientierungen geben, die seine Arbeit im guten Sinne „solide“ machen, um ein Lieblingswort von Gerd Albers aufzugreifen. Die hier ausgewählten Texte sollen das breite Interessen- und Ideenspektrum ihres Autors widerspiegeln. Es ist das Anliegen des Herausgebers, das vielschichtige und facettenreiche Gedankengut eines der leitenden Vordenker der Stadtplanung in Deutschland auszugsweise vorzustellen und zur Verwendung in der heutigen Wissenschaft, Lehre und Planungspraxis zugänglich zu machen. So entstand die vorliegende Textsammlung als ein verdichtetes Kompendium seiner Veröffentlichungen. Der Band möchte auch als eine posthume Hommage an seinen forschenden Genius verstanden werden. Alexander Papageorgiou-Venetas

Thomas Sieverts

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Geistesgeschichtliche Entwicklung des Städtebaus, Der Wandel der Wertmaßstäbe im 19. und 20. Jahrhundert Erschienen in: Vogler P. und Kühn E. (Hrsg.) (1957): Medizin und Städtebau, Ein Handbuch für Gesundheitlichen Städtebau, Verlag Urban & Schwarzenberg, S. 180–197, Verlag Urban & Schwarzenberg, München, Berlin und Wien.

I. Einführung Ein geschichtlicher Überblick über das Gebiet des Städtebaues wird im Rahmen dieses Werkes nicht in erster Linie die gestalterische Entwicklung zum Gegenstand haben können. So aufschlußreich und bedeutungsvoll der formale Aspekt sein mag, so bedarf er doch der Ergänzung durch eine Betrachtungsweise, die den hinter den Formen wirkenden Kräften und Ideen, den ihnen zugrunde liegenden Wertungen und Geisteshaltungen gewidmet ist. So gesehen, wird die Geschichte des Städtebaues zu einem Beitrag zur Geschichte des menschlichen Selbstverständnisses. Es soll hier versucht werden, einen Ansatz zu einem solchen Beitrag zu liefern. Der Umfang des Problems und die Fülle des Stoffes verlangen dabei eine Beschränkung in räumlicher, zeitlicher und methodischer Hinsicht. Methodisch erscheint es notwendig, sich auf die städtebauliche Literatur zu beschränken, zumal die Ausschöpfung der literarischen Quellen für das Ziel dieser Untersuchung eindeutigere Ergebnisse verspricht als die Interpretation der ausgeführten Werke, bei denen die ursprünglichen Planungsabsichten vielfach durch besondere, zum Teil zufällige Einflüsse und Bindungen überlagert werden. Über die reine Fachliteratur hinaus sollen auch solche Schriften einbezogen werden, die sich von an-

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Geistesgeschichtliche Entwicklung des Städtebaus

deren Blickpunkten aus mit dem Städtebauer und seinem Arbeitsgebiet beschäftigen. Aus diesem Verfahren läßt sich zugleich der zeitliche Rahmen der Arbeit ableiten: die städtebauliche Problematik muß drängend und komplex genug geworden sein, um zur Entstehung einer eigenen Literatur zu führen, ehe die Untersuchung einsetzen kann. Dieser Zeitpunkt ist in Deutschland um 1870 erreicht, als die Konsequenzen der Industrialisierung mit aller Deutlichkeit sichtbar werden. Das außergewöhnliche Anwachsen der Städte, die zur Regel werdende Trennung von Wohn- und Arbeitsstätte, der Strukturwandel von der Bürger- zur Arbeiterstadt lassen überhaupt erst einen wesentlichen Teil der Aufgaben entstehen, die heute dem Städtebau gestellt sind. So ist es gerechtfertigt, diese Zäsur der industriellen Revolution als Ausgangspunkt zu wählen. Auch für die räumliche Beschränkung ergibt sich ein Anhalt aus dem vorher Gesagten. Es sind die Zentren der Industrialisierung, in denen eine bedeutende städtebauliche Literatur entsteht: die großen Länder Mittelund Westeuropas und die Vereinigten Staaten von Amerika. Eine Konzentration auf die deutsch-, englisch- und französischsprachige Literatur erscheint daher begründet, zumal mit ihr der Großteil aller städtebaulichen Theorie erfaßt ist. Wenn in dieser Untersuchung abstrahierend von „dem Menschen“ gesprochen wird, so ist auch dieser Begriff auf die erwähnten räumlichen und zeitlichen Grenzen bezogen. Innerhalb des so abgesteckten Rahmens geht es also nicht um die gestalterischen und technischen Ergebnisse, nicht um den „Fortschritt“ auf dem Gebiete des Städtebaues, sondern es geht um die Erforschung der geistigen Einstellung zu den städtebaulichen Aufgaben, um die Untersuchung der Wertsetzungen. Daß es sich in der Tat um Wertsetzungen handelt, ist erst allmählich klarer erkannt worden. Gurlitt fordert 1920 – wie mir scheint, erstmalig –, der Städtebauer müsse vor allem ein Mann sein, der „den Wert der Dinge zu schätzen und gegeneinander abzuwägen“ wisse. 1 Ähnlich verlangt in jüngster Zeit Bardet vom Städtebauer „unbestechliche Wissen, schöpferische Begeisterung und Wahl der Wertmaßstäbe“, 2 und Mumford definiert

1 2

Gurlitt, C., Hdb. des Städtebaus, Berlin 1920, S. 3. Bardet, G., Mission de l’urbanisme, Paris 1949, S. 23.

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Chronologischer Überblick

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Planung als einen Auswahlvorgang, der Wertung und Entscheidung fordere, und zwar auf der Grundlage einer „kritischen Vergegenwärtigung – und Revision – der gängigen Wertmaßstäbe“. 3 Vielfach jedoch nimmt der Städtebauer den Rahmen, innerhalb dessen er seine Arbeit leistet, als gegeben hin, ohne die Abhängigkeit der technischen Lösung von den „gängigen Wertmaßstäben“ zu erkennen, geschweige denn an deren Revision zu denken; in anderen Fällen geht er von einer eigenen, abweichenden Wertordnung aus – manchmal ohne sie klarzulegen oder zu begründen –, und häufiger, als man vielleicht erwarten sollte, entpuppt sich der Städtebauer als ein Gesellschaftsreformer, der nicht nur die Städte, sondern mit ihnen die Welt verändern will. Sobald man diese Zusammenhänge erkannt hat, liegt die Frage nahe, ob es dem Städtebauer allein überlassen bleiben sollte, die Wertmaßstäbe für seine Arbeit zu wählen: dieses Problem, das erst jetzt ins Bewußtsein der Öffentlichkeit zu dringen scheint, wird abschließend zu erörtern sein.

II. Chronologischer Überblick [Das 19. Jahrhundert] Untersucht man die Frage, wie sich der Städtebau des 19. Jahrhunderts mit dem Anwachsen der Städte auseinandersetzt, so ergibt sich, daß eine Gesamtschau fast vollständig fehlt. Städtebau ist ein technisches Beginnen, das bezeichnenderweise „Stadterweiterung“ heißt – ein partikulares Problem. Vereinzelt nur begegnet man einer umfassenderen Sicht der Dinge wie sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Owen und Fourier zu eigen ist; beide erkennen zumindest in Umrissen die Forderung des industriellen Zeitalters nach einer neuen Lebensform. Ihre Vorschläge, die auf die Neugründung zahlreicher landwirtschaftlichindustrieller Siedlungen mit bis zu 2000 Einwohnern und sozialistischer Gesellschaftsordnung hinauslaufen, bleiben jedoch, von unbedeutenden Ansätzen abgesehen, Theorie. Die Wirklichkeit sieht ander aus und zeichnet sich zuerst in England mit voller Klarheit ab. Von ihr schreibt Schinkel:

3

Mumford, L., The Culture of Cities, New York 1938, S. 377.

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Geistesgeschichtliche Entwicklung des Städtebaus

„Die ungeheuren Bau-Massen in Manchester, bloß von einem Werkmeister ohne alle Architektur und nur für das nackteste Bedürfnis allein aus rotem Backstein, machen einen höchst unheimlichen Eindruck.“ 4

Weist auch das Wort „unheimlich“ über das rein ästhetische Urteil hinaus, so scheint doch Schinkel so wenig wie die anderen Architekten seiner Zeit erkannt zu haben, welche Aufgaben die neue wirtschaftliche und soziale Entwicklung gerade den Architekten stellte. Kennzeichnend dafür ist die im Jahre 1841 ausgesprochene Ablehnung des Berliner Architekten-Vereins, einen Wettbewerb für Arbeiterwohnungen durchzuführen, weil eine solche Aufgabe zu wenig architektonisches Interesse biete 5. Aber auch dort, wo das architektonische Interesse ansprechbar ist, beschränkt es sich auf das Einzelbauwerk, seine Formensprache und seinen Bedeutungsinhalt. Die Gestaltung der Stadt in ihrer Gesamtheit wird als Problem kaum gesehen, geschweige denn bewältigt. Um die Jahrhundertmitte erhebt Riehl kritisch und mahnend seine Stimme gegen die Verstädterung; seine „Naturgeschichte des deutschen Volkes“ ist ein frühes Beispiel dessen, was Geddes ein halbes Jahrhundert später als Grundlage aller Planung fordert: eine eingehende Untersuchung der Landschaft, der Bevölkerung und ihrer Lebensformen. Zunächst allerdings kommt die gewichtigste Kritik an der städtebaulichen Entwicklung aus den Reihen der Wohnungsreformer. Der umstrittene Berliner Bebauungsplan 1861–63, der Berlin zur „größten Mietskasernenstadt der Welt“ 6 macht, wird später von seinem Schöpfer mit einem Hinweis auf die sozialen Vorzüge der Mietskaserne verteidigt: sie werde die Durchdringung der verschiedenen Klassen und damit die Milderung der sozialen Gegensätze fördern. 7 [1879] Indessen sind es gerade die Auswüchse dieser Wohnform, auf Grund derer die Gräfin Dohna vor allem anderen verlangt, die Stadtgemeinde in ihren verschiedenen Schichten solle menschlich wohnen, wobei sie den Begriff des Wohnens auf Grünflächen und Erholungsstätten ausgedehnt wissen möchte. 8 Vom Städtebauer fordert sie als Grundlage 4 5 6 7 8

Zit. bei Hegemann, W., Das steinerne Berlin, Berlin 1930. Ahlers-Hestermann, F., Stilwende, Berlin 1941. Hegemann, W., Das steinerne Berlin, Berlin 1930. Eberstadt, R., Hdb. des Wohnungswesens, Jena 1909, S. 219 f. Arminius, Die Großstädte in ihrer Wohnungsnot, Leipzig 1874, S. 8.

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seiner Arbeit eine „ungefärbte, redliche, humane Gesinnung auf christlichem Grunde“ und verlangt zugleich nach einer „gesunden Theorie über die Architektur der Großstädte sowie der Städte überhaupt“. 9 Zwei Jahre später veröffentlicht Baumeister ein Buch, das als erster Ansatz zu einer solchen Theorie gewertet werden kann; 10 es trägt zwar in erster Linie den Charakter eines technischen Lehrbuches, deutet jedoch zugleich eine Kritik am Stadtwachstum und eine Einbeziehung sozialer Fragestellungen an. Während die künstlerische Seite nur gestreift wird, da Schönheit „im vulgären Sinne“ Mehrkosten bedeute, erfahren die technisch-hygienischen Probleme eine ausführliche Würdigung. Ganz allgemein werden bis zum Ende der achtziger Jahre städtebauliche Fragen in erster Linie unter diesem Aspekt gesehen; Empfehlungen und Resolutionen zum Städtebau gehen bezeichnenderweise fast ausschließlich vom „Deutschen Verein für öffentliche Gesundheitspflege“ aus. Das ästhetische Problem der Großstadt, vom Techniker noch nicht erkannt, wird von Lotze in seiner „Geschichte der Ästhetik“ angeschnitten; er sieht in den Gebäuden der Stadt „Geschäftsraum oder … Herberge einer veränderlichen Bevölkerung, die hier nicht verlangen kann, ihre individuelle Eigenart in äußerlicher Erscheinung vollständig auszuleben.“ 11 In seiner Forderung, dem Massenleben entsprechend sollten auch die Bauwerke auf individuelle Selbständigkeit verzichten, kündigt sich eine Entwicklung an, die späteren Generationen Anlaß zu schwerer Sorge gibt: die Unterdrückung des Individuums, die Förderung des Massendaseins durch die bauliche Umgebung. [1889] Bevor jedoch diese Problematik erkannt wird, löst Sittes Buch über den „Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ eine allgemeine Hinwendung zu einem ästhetisch bestimmten Städtebau aus, dessen einseitige Betonung vielfach über Sittes Zielsetzung hinausgeht. Allerdings dringen diese ästhetischen Ambitionen nicht hinter die Fassade – weder die des Einzelbauwerks noch die der Stadt; als Arbeitsfeld für den Künstler fordert Sitte „nur wenige Hauptstraßen und Plätze, alles 9

a. a. O., S. 145 u. 10. Baumeister, R., Stadterweiterungen in technischer, baupolizeilicher und wirtschaftlicher Beziehung, Berlin 1876. 11 Lotze, H., Geschichte der Ästhetik in Deutschland, Stuttgart 1868, zit. bei Schumacher, F., Lesebuch für Baumeister, Berlin 1941, S. 104 f. 10

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übrige mag er gerne dem Verkehr und den täglichen materiellen Bedürfnissen preisgeben.“ 12 Die wachsende Bedeutung des Verkehrs erhellt daraus, daß in Stübbens städtebaulichem Handbuch bei der Bewertung der verschiedenen Anforderungen an den Stadtplan der Verkehr ausdrücklich die erste, die Rücksichten auf die Bebauung die zweite Stelle erhalten; nicht minder wichtig als diese seien die gesundheitlichen und schließlich die schönheitlichen Anforderungen. 13 Allgemein aber werden diese höher bewertet: Henrici geht es vor allem um die „praktische Ästhetik im Städtebau“, wenn auch bereits andere Bestrebungen sich andeuten. So äußert er, es sei Sache der Volkswirtschaft, im Städtebau „die Bedürfnisse klar zu legen und das Programm aufzustellen“, der Volkswirt habe „recht eigentlich in die Rolle der Bauherrschaft einzutreten“. 14 Sein Vorschlag, das Stadterweiterungsgebiet in Bezirke von einer gewissen Selbständigkeit einzuteilen, ist der erste Ansatz zur heute allgemein üblichen Gliederung der Stadt – wenn auch unter ästhetischem, nicht unter soziologischem Blickwinkel entwickelt. [1896] Einen ähnlichen Gedanken finden wir bei Fritsch, der aber mit seiner „Stadt der Zukunft“ weiter zielt: ihm geht es um die Reform der Gesellschaft. Die Großstadt ist für ihn ein wüster Häuserhaufen ohne innere Ordnung, der nur den Geist der Verwirrung und der Zuchtlosigkeit großziehen könne; durch ihre Reform will er „ordnend und richtend auf den Menschengeist zurückwirken.“ 15 Zugleich sieht Fritsch den Stadtplan nicht statisch, sondern entwirft ihn im Hinblick auf eine stufenweise Entwicklung, bei der die ältesten Stadtteile jeweils der Neubebauung weichen. Diese Einbeziehung des Zeitelementes steht im Gegensatz zu den üblichen Idealstadtplänen und kann als Symptom des Zurücktretens ästhetischer Gesichtspunkte gelten, unter denen ja das Unfertige, nicht in sich Geschlossene abzulehnen wäre. [1898] Im Grundsätzlichen verwandt ist Howards Konzeption der Gartenstädte, die nicht allein die Menschenballung Londons auflockern,

12 13 14 15

Sitte, C., Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Wien 1889, S. 98. Stübben, J., Der Städtebau, Darmstadt 1890, S. 48. Henrici, K., Beiträge zur praktischen Ästhetik im Städtebau, München o. J., S. 215. Fritsch, Th., Die Stadt der Zukunft, Leipzig 1896, S. 7.

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sondern den Rahmen für eine neue und bessere Gesellschaft darstellen sollen: „Stadt und Land müssen vermählt werden, und aus dieser freudigen Vereinigung wird neue Hoffnung, neues Leben, eine neue Kultur erwachsen.“ 16

Seine Gedanken, mit der Gründung von Letchworth und Welwyn Garden City in die Tat umgesetzt, wirken bis zu Englands heutigen New Towns fort; im übrigen wird zwar das ästhetische und wohnhygienische Element des aufgelockerten Wohnens im Grünen begierig aufgegriffen, das eigentliche Kriterium der Gartenstadt jedoch, die enge Beziehung von Arbeitsund Wohnstätte im Rahmen der räumlich begrenzten Stadt, nicht konsequent erstrebt, ja vielfach völlig mißverstanden. [Die Jahrhundertwende] Um die gleiche Zeit beginnt die Großstadt ins Blickfeld der Wissenschaft zu rücken: aus Anlaß der Städteausstellung in Dresden im Jahre 1903, die den Einrichtungen des großstädtischen Lebens gewidmet ist – einem „Bereich, der in dieser Zusammenfassung noch nicht zur Darstellung gebracht worden ist“, wie man mit Stolz hervorhebt –, erscheint ein Sammelband, der sich von verschiedenen Seiten her dem Phänomen der Großstadt nähert. Die Einzelbeiträge werten in ihrer Mehrzahl die Großstadt als ein zwar noch mit gewissen Schwächen behaftetes, aber in der Entwicklung zum Guten begriffenes Gebilde, als „Bahnbrecher auf dem Wege einer aufwärts strebenden, wahrhaft sozialen Kulturentwicklung“. 17 Simmel allerdings kennzeichnet in seinem Beitrag den Bewohner der durch Geldwirtschaft und Verstandesherrschaft geprägten Großstadt nüchtern und kritisch: bindungslos und blasiert, verfüge er über eine Freiheit, die ihn keineswegs glücklich mache. 18 Bleibt das Urteil des Soziologen Simmel wissenschaftlich-distanziert, so beweist sein Zeitgenosse Geddes – Soziologe und Biologe zugleich –, daß sich die wissenschaftliche Analyse des Bestehenden und die Aufstellung eines Programms für Planungsmaßnahmen sogar in der gleichen Person vereinen lassen. Er fordert die sorgfältige Erfassung aller Gegebenheiten, die sich auf Landschaft, Bevölkerung und Wirtschaft beziehen – „place, folk, and work“ –, und wendet sich gegen die Allzuvielen, die in 16 17 18

Howard, E., Garden Cities of To-Morrow, London 1946, S. 48 (Übers. Verf.). Die Großstadt, Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung, Dresden 1903, S. 31. Die Großstadt, a. a. O., S. 195 ff.

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der Planung nur verkehrliche und ästhetische Probleme sehen, anstatt sich „in den Geist der Stadt, ihr geschichtliches Wesen und ihre lebendige Entwicklung“ zu vertiefen. 19 Geddes gilt als Begründer sowohl des Planens im regionalen Zusammenhange als auch der Auffassung, daß dem sozialen Aspekt der Planung der Vorrang gebühre und daß er der wissenschaftlichen Erforschung bedürfe, anstatt – wie bisher – günstigstenfalls der gefühlsmäßigen Erfassung durch den Städtebauer überlassen zu bleiben. Geddes bleibt mit seiner engen Verknüpfung von Soziologie und Planung eine Ausnahmeerscheinung; eine mittelbare Beziehung wird durch Cooley angebahnt, der auf die Bedeutung der Primärgruppen (primary groups) für Charakterformung und Gemeinschaftsbildung hinweist. Er konstatiert das Schwinden der nachbarlichen Beziehungen in der großen Stadt des Industriezeitalters und fügt hinzu: „Wieweit dieser Wandel eine gesunde Entwicklung darstellt und wieweit eine Krankheit, ist vielleicht noch ungewiß.“ 20 In der Folgezeit entscheiden sich die Planer für die Deutung im Sinne der Krankheit und beginnen nach einer geeigneten Therapie zu suchen. [1909] Gleichzeitig verstärken sich die kritischen Stimmen aus dem Bereich der Sozialpolitik, die insbesondere gegen Wohnungselend, Bodenspekulation und Grundbesitzverhältnisse gerichtet sind; in Deutschland treten vor allem Eberstadt und Damaschke hervor. Hier steht nicht das wissenschaftliche Interesse an der Stadt, sondern das soziale Verantwortungsgefühl im Vordergrund, und wenn wir einen Blick auf die der Stadt gewidmete Dichtung werfen, so ist vielfach ein ähnlicher Impuls zu spüren: Von Julius Harts Gedicht „Auf der Fahrt nach Berlin“ zu Rilkes Worten über die großen Städte – „Verlorene und Aufgelöste“ – und weiter zum lyrischen Werk Georg Heyms, in dem immer wieder der Gegensatz zwischen der dunklen, stumpfen Materie und dem Rot von Feuer und Blut das Bild der Stadt beherrscht. Die kritische Note überwiegt, wenn auch zu gleicher Zeit Loblieder auf die Großstadt gesungen werden, wie in Carl Sandburgs Gedicht „Chicago“, das die Faszination der aufstrebenden Millionenstadt widerspiegelt. In den ungebändigten Kräften der Großstadt sieht der Amerikaner seine eigene Vitalität symbolisiert, wäh19

Geddes, P., Cities in Evolution, New York 1950, S. 30. Cooley, C. H., Social Organization, New York 1909, zit. bei Wilson, L. und Kolb, W., Sociological Analysis, New York 1949, S. 288 (Übers. Verf.).

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rend dem Europäer die Sorge zu schaffen macht, die Großstädte könnten aufhören, Heimat zu sein. Steht daher die Kritik vielfach – wie bei Ruskin – im Zeichen einer rückwärts gerichteten Betrachtungsweise, so lassen zugleich die Utopien der zukünftigen Stadt erkennen, was an der gegenwärtigen unbefriedigend scheint: Bellamy, Morris und Wells vermitteln hier manchen aufschlußreichen Einblick. Der kulturkritische Unterton, der in den Zeugnissen der Wissenschaft, der Sozialpolitik und der Dichtung mitschwingt, ist seit Fritsch und Howard auch in der städtebaulichen Fachliteratur vernehmbar. Schultze-Naumburgs städtebauliche Darlegungen in seinen „Kulturarbeiten“ sind zwar weitgehend von der ästhetischen Sicht Sittes bestimmt, doch verurteilt er die Stadt seiner Zeit auch vom moralischen Standpunkt aus: ein neues Ideal müsse aufgestellt werden, denn das, was uns beim Anblick unserer Städte quäle, sei nichts als der in Stein und Holz und Eisen sich offenbarende Mangel an Idealen. 21 [1911] Im Zusammenhang damit findet der soziale Aspekt der städtebaulichen Arbeit zunehmende Beachtung; Marshs Formulierung, die Hinterhöfe einer Stadt und nicht die Schmuckplätze seien der wahre Maßstab ihres Wertes und ihrer Kraft 22 ist dafür ebenso kennzeichnend wie Hegemanns Werk über die Berliner Städteausstellung mit seiner Betonung der sozialen Aufgabe. 23 Der revolutionäre Neubeginn in Deutschland führt nach dem ersten Weltkriege zu einer Verflechtung ästhetischer Ziele und sozialer Idealvorstellungen; ihr entspringt gelegentlich – so bei Wolf – ein Streben nach Monumentalität, das jedoch bald als Mißverständnis gegenüber der sozialen Aufgabe erkannt wird. [1921] Gleichzeitig verlagert sich das Schwergewicht der städtebaulichen Erörterungen vom ästhetischen auf das funktionelle und wirtschaftliche Gebiet; hatten volkswirtschaftliche Aspekte schon seit Henrici eine gewisse Rolle gespielt, so definiert nun Heiligenthal den Städtebau als „eine vorausschauende wirtschaftliche Tätigkeit, deren vornehmstes

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Schultze-Naumburg, P., Kulturarbeiten, Bd. 6, München 1909, S. 481. Zit. bei Wolf, P., Städtebau, Leipzig 1919, S. 56. 23 Hegemann, W., Der Städtebau nach den Ergebnissen der allgemeinen Städtebauausstellung in Berlin, Berlin 1911. 22

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Werkzeug die Technik im weitesten Sinne ist“. 24 Seine Konzentration auf die wirtschaftliche Seite des Städtebaues läßt ihn in seinem städtebaulichen Handbuch Sittes Hauptanliegen – die künstlerische Anordnung der öffentlichen Gebäude – mit keinem Wort erwähnen. Die gleiche Tendenz führt dazu, daß wirtschaftliche Vorteile im Konkurrenzkampf der Nationen zu einem Ziel städtebaulicher Arbeit werden: Hegemann und Le Corbusier, Heiligenthal und Hoepfner betonen diesen Gesichtspunkt ebenso wie Sierks, dem es daneben um die klare wissenschaftliche Fundierung des Städtebaues unter dem Blickwinkel des Ingenieurs geht. Eine ganz ähnliche Entwicklung vollzieht sich in den Vereinigten Staaten, wie die folgenden Sätze aus der Einleitung eines umfangreichen Planwerks zeigen: „Während der Plan früher lediglich ein formvollendeter Entwurf sein wollte, strebt der moderne Plan danach, sich als produktiver Bestandteil der Wirtschaftsmaschinerie zu bewähren … Der Planer … erwartet … vom Volkswirtschaftler, daß er die Stadt selbst erkläre, ihre Existenz, ihren Charakter und ihre Funktion. Er ist überzeugt, daß man, um vernünftig zu planen, die Stadt als volkswirtschaftliches Phänomen klar erkennen müsse, und er brennt darauf, dieses Phänomen zu verstehen.“ 25

[1927] Gerade dort sind aber auch noch andere Kräfte am Werk, „die Stadt, ihre Existenz, ihren Charakter und ihre Funktion“ zu erklären: in den zwanziger Jahren prägt sich das Gebiet der „urban sociology“ aus. Zu seinen bedeutendsten Vertretern gehört Park, der in der Stadt das geeignete Laboratorium zur Erforschung der menschlichen Natur und der gesellschaftlichen Vorgänge sieht; 26 er führt Cooleys Gedanken weiter, verbindet aber mit der Beobachtung eine Tendenz zur sozialen Reform, wie sie der amerikanischen Soziologie allgemein in höherem Maße eigen ist als der deutschen. Auch die Stadt in ihrer Gesamtheit steht für die deutsche Soziologie noch nicht im Brennpunkt des Interesses; Brunner kann 1925 schreiben, daß „die Einordnung der dem gesamten Bauwesen eigentümlichen sozia24

Heiligenthal, R., Deutscher Städtebau, Heidelberg 1921, S. 79. Regional Survey for New York and Its Environs, Bd. 1., New York 1927 (Übers. Verf.). 26 Park, R. E.; Burgess, E. W. und McKenzie, R. D., The City, Chicago 1925, S. 46. 25

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len und wirtschaftlichen Gehalte in das System der Sozialwissenschaften noch aussteht.“ 27 Ganz im Sinne dieser Feststellung liegt die Forderung, die drei Jahre später auf dem Gründungskongreß der „Internationalen Kongresse für neues Bauen“ (CIAM) gestellt wird: die Architektur müsse wieder auf ihre eigentliche Ebene, die wirtschaftliche und soziologische, erhoben werden. 28 Die Annäherung der Städtebauer an den Blickpunkt der Soziologen ist offenkundig: Die Arbeiten Lavedans und vor allem Poëtes in Frankreich lassen sie ebenso erkennen wie die Bemühungen Perrys um die Nachbarschaftseinheit in Amerika, wie Schumachers Schriften oder wie Hoepfners Ruf nach einem „Siedlungsingenieur“, der sich tief hineindenken müsse in menschliche Eigenart und Lebensweise: an die Stelle der Berechnung müßten Beobachtung, Denken und Abwägen treten. 29 Die allmähliche Verschiebung der Wertmaßstäbe wird in einer Schrift der CIAM mit dem bezeichnenden Titel „Rationelle Bebauungsweisen“ deutlich: während Boehm und Kaufmann nur die technisch-finanzielle Seite behandeln, betont Gropius, daß für ihn der Begriff „rationell“ gleich „vernunftgemäß“ mehr umfasse als den rein rechnerischen Aspekt. [1933] Zwei Jahre später entsteht die Charta von Athen als städtebauliches Manifest der CIAM und demonstriert die Überwindung des einseitig wirtschaftsbezogenen Denkens. Sie stellt fest, daß die Lebensbedingungen der Stadt den elementarsten biologischen und psychologischen Bedürfnissen der großen Masse ihrer Bewohner nicht entsprächen. Zugleich fordert sie vom Städtebauer, er solle menschliche Bedürfnisse und menschliche Wertmaßstäbe zum Angelpunkt aller baulichen Maßnahmen machen; die Stadt solle sich organisch und ausgewogen entwikkeln und auf der materiellen wie auf der geistigen Ebene die Freiheit des Individuums und die Vorteile kollektiven Handelns sichern. So rückt neben der Sorge für den Einzelmenschen nun auch das Bemühen um die menschliche Gemeinschaft in den Vordergrund der städtebaulichen Arbeit. Das Prinzip der Nachbarschaftseinheit wird in die Charta von Athen aufgenommen und gehört nach dem zweiten Weltkriege so sehr zum planerischen Rüstzeug, daß der Begriff gelegentlich 27 28 29

Brunner, K., Baupolitik als Wissenschaft, Wien 1925, S. 12. Sert, J. L., Can Our Cities Survive?, Cambridge 1942, S. 242. Hoepfner, K. A., Grundbegriffe des Städtebaues, Bd. 2., Berlin 1928, S. 46.

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zum Schlagwort wird. Auch wo die Nachbarschaft kritisiert wird – vor allem weil man den Verlust spezifisch städtischer Werte befürchtet –, beherrschen soziologische und sozialpsychologische Argumente die Diskussion. Diese Entwicklung ist allenthalben nachzuweisen: in der deutschen Nachkriegsliteratur wird die Nachbarschaft durchweg um ihrer gemeinschaftsbildenden Funktion willen befürwortet; Stöckli sieht in ihr geradezu ein Allheilmittel für alle städtebaulichen Probleme. In Frankreich legt Bardet besonderes Gewicht auf die Berücksichtigung der zahlreichen einander durchdringenden menschlichen Gruppen und Gemeinschaften; in der englischsprachigen Literatur endlich nimmt der Begriff „Community“ – im doppelten Sinne von Gemeinschaft und Gemeinde – eine beherrschende Stellung ein. [1948] Mit der menschlichen Gemeinschaft steht kein abstrakter Begriff, sondern etwas lebendig sich Wandelndes im Mittelpunkt des städtebaulichen Denkens; die alten städtebaulichen Konzeptionen waren statisch, auf das fertige Gesamtkunstwerk der Stadt gerichtet, während nun das Zeitelement besondere Beachtung findet. Reichow sieht in der Stadtbaukunst eine „vierdimensionale Kunst raumzeitlicher Regie und Gestaltung“, 30 Umlauf fordert, die Zeit wieder zum Verbündeten der Planung zu machen, 31 und Schwarz schreibt: „Der gute Plan muß die Dynamik der Geschichte mit einbauen, die ihn einmal überwindet.“ 32 Die gleiche Entwicklungstendenz wird an der zunehmenden Verwendung des Begriffes „organisch“ in der städtebaulichen Literatur deutlich: auch wenn über seinen Inhalt keine Übereinstimmung besteht, so ist seine Beliebtheit symptomatisch dafür, daß die bisherige Behandlung städtebaulicher Aufgaben als zu sehr den mechanisch-technischen Aspekten zugewandt empfunden wird und durch eine Betrachtungsweise ersetzt werden soll, die auch den rechnerisch nicht erfaßbaren Qualitäten des Lebens gerecht wird. So legt Reichow entscheidenden Wert auf die Forderung, die Planung müsse ihren Dispositionen das instinktive Verhalten der Menschen zugrunde legen, anstatt an den Intellekt zu appellieren, während für Neutra die physiologischen Kenntnisse und Erfahrungen im Vordergrunde stehen. Nur unter Führung der Biologie scheint ihm eine 30 31 32

Reichow, H. B., Organische Stadtbaukunst, Braunschweig 1948, S. 1. Umlauf, J., Vom Wesen der Stadt und der Stadtplanung, Düsseldorf 1951, S. 20. Schwarz, R., Von der Bebauung der Erde, Heidelberg 1949, S. 228.

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Planung denkbar, die das Weiterleben des Menschen ermöglicht; in der Sicherung dieses Zieles liegt der einzige Wertmaßstab, den er gelten läßt. 33 Sucht man das Ergebnis dieses gedrängten Überblickes über ein weites und differenziertes Feld zusammenzufassen. so läßt sich mit einer gewissen Vergröberung und Verallgemeinerung wohl sagen, daß innerhalb des betrachteten Zeitraumes zunächst technisch-hygienische, dann – um die Jahrhundertwende – ästhetische, später wirtschaftlich-funktionelle und schließlich soziale und sozialpsychologische Zielsetzungen in der Rangordnung der Werte an erster Stelle standen. Eliel Saarinen hat einmal gesagt, ihm sei der Städtebau zunächst als ein künstlerisches, dann als ein wirtschaftliches, später als ein soziales Problem erschienen, Endlich habe er erkannt, daß es sich um ein Problem der menschlichen Seele handele. In diesem persönlichen Bekenntnis spiegelt sich die Verlagerung des Schwerpunkts, die sich im städtebaulichen Denken der letzten fünfzig Jahre vollzogen hat. Welchem Wandel dabei die einzelnen Aspekte der städtebaulichen Arbeit unterworfen waren, soll in den folgenden Abschnitten untersucht werden.

III. Der Gegenstand der Planung [Das Unbehagen an der Stadt] Die große Wanderung vom Lande in die Stadt, die in vielen Ländern Mittel- und Westeuropas im frühen 19. Jahrhundert einsetzt, löst schon bald besorgte und warnende Stimmen aus. Liegt in Riehls Worten, Europa werde krank an der Größe seiner großen Städte, eine Skepsis gegenüber der gesamten Entwicklung, so richtet sich die Kritik anderer zunächst gegen Teilaspekte: anfangs gilt der Kampf dem Wohnungselend, das im Gefolge des Stadtwachstums heraufzieht, dann wird die Forderung laut, Freiflächen als Gegengewicht gegen die zunehmende Versteinerung der Städte zu erhalten, endlich werden die Häßlichkeit und die Unordnung der Städte gebrandmarkt. Kurz vor dem ersten Weltkriege beginnt sich die Kritik auf das funktionelle Gebiet zu verlagern, das in den zwanziger Jahren in den Vordergrund des Interesses rückt: Die Stadt sei ein Arbeitswerkzeug, das seinen Dienst nicht mehr tue. 34 33 34

Neutra, R., Survival Through Design, New York 1954, S. 21. Le Corbusier, Städtebau, Stuttgart 1929, S. 7.

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Daneben aber wird immer wieder ein Unbehagen an der Stadt spürbar, dessen Wurzeln tiefer reichen. Während in den Vereinigten Staaten die Stadt schon seit Jefferson als suspekt gilt, beginnt man im Laufe des 19. Jahrhunderts auch in Europa die unübersehbaren Menschenhäufungen der Städte mit den ihnen innewohnenden sozialen Gegensätzen als unheimlich, als unheilschwanger zu empfinden. Schinkels Brief aus England zeigt dies ebenso wie die erwähnten dichterischen Aussagen, denen sich viele weitere bis in unsere Zeit hinein anfügen ließen. Vielfach wird dem Dichter das Bild der Stadt zu einer Metapher für die ungelöste soziale Problematik, die sich darin ausspricht. Auch die Städtebauer setzen sich mit dieser Erscheinung auseinander: So schreibt Schwarz von den Städten, „frühzeitig verworfen von den Dichtern des Volks, waren sie geistig schon lange überwunden …“ 35, während Hudnut sie vor der „Verschwörung der Dichter gegen die Stadt“ in Schutz nimmt, die die Weltliteratur beherrsche. 36 Aber wenn es eine Verschwörung gibt, so reicht sie weit hinein in die Reihen der Fachleute. Auch von ihrer Seite wird um die Jahrhundertwende der Ruf laut nach einem neuen Ideal; die Gartenstadtbewegung ist ebenso eine Antwort darauf wie Tessenows Bekenntnis zu „Handwerk und Kleinstadt“. 37 Die Großstadt als dem Menschen angemessene Umwelt wird in Frage gestellt; sie soll nicht durch Behebung einzelner Mängel erträglicher gemacht, sondern überwunden werden. Die Diskussion um dieses Problem bestimmt seither – wenn auch mit gelegentlichem Wechsel des Schwerpunktes – die städtebauliche Situation. Biologische und medizinische, psychologische, soziale und politische Argumente vom Volkstod bis zur Vermassung macht man gegen die Großstadt geltend; zu ihrer Verteidigung werden ihre wirtschaftlichen und kulturellen Vorzüge ins Feld geführt, aber auch ihre reale Anziehungskraft, wie sie das Zurückfluten der Bevölkerung in die zerstörten deutschen Städte der Nachkriegszeit erweist. So scheint die Entwicklung nicht auf die radikale Lösung, die Abschaffung der Großstadt hinzudeuten, die immer wieder zum Gegenstand von Programmen und Visionen wird, sondern auf ihre

35 36 37

Schwarz, R., Von der Bebauung der Erde, Heidelberg 1949, S. 205. Hudnut, J., Architecture and the Spirit of Man, Cambridge 1949, S. 158. Tessenow, H., Handwerk und Kleinstadt, Berlin 1919.

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evolutionäre Umwandlung durch Größenbegrenzung, Gliederung und Auflockerung – durch „Humanisierung“. [Die Umformung der Stadt] Die Lenkung der Bevölkerungsentwicklung mit dem Ziel einer Größenbegrenzung der Stadt wird schon im 19. Jahrhundert gelegentlich als erwünscht bezeichnet, doch sind im Zeitalter des Laissez-faire weder die Mittel noch die innere Rechtfertigung zu solcher Einflußnahme gegeben. Auch in der Folgezeit bleiben die rechtlichen Möglichkeiten für eine derartige Lenkung wegen ihrer unausbleiblichen Kollision mit dem demokratischen Freiheitsbegriff beschränkt. Diesem Streben nach einer Begrenzung der Stadtentwicklung verwandt ist das Bemühen, durch Gliederung des Stadtkörpers zu kleineren, überschaubaren Elementen zu gelangen, die gleichsam die Bausteine des Ganzen darstellen, ohne daß ihre Anzahl begrenzt sein müßte. Henrici bereitet dieser Tendenz mit ästhetischen Argumenten den Weg, später treten funktionelle und sozialpolitische hinzu. Um die Jahrhundertwende taucht der Begriff der Dezentralisation auf, der nicht immer ganz eindeutig gegen den der Gliederung abzugrenzen ist; die Vorschläge für die Formen, in denen eine solche Neuordnung sich vollziehen kann, reichen von einer hierarchischen Ordnung verschiedenartiger Zellen bis zu einer lokkeren Gruppierung einzelner gleichberechtigter Siedlungselemente, von der Schaffung neuer Agglomerationskerne zur Entlastung der alten bis zur vollständigen Auflösung der Stadt in eine „bebaute Landschaft“. Mit dem Streben nach Auflockerung verbindet sich häufig ein bestimmtes Ideal der Lebensform in dieser neugeordneten Stadt mit ihrer geringeren Wohndichte, ihren kürzeren Arbeitswegen und ihrer Naturverbundenheit. Hier soll auch der Arbeiter sein Haus und seinen Garten haben, und aus dieser engen Verbindung des Städters mit dem Boden sollen die Freude an seiner Umwelt, eine gesündere Lebensweise, eine Verringerung der Krisenanfälligkeit, eine Stärkung des Willens zur Familie, eine Förderung der inneren Unabhängigkeit erwachsen – ästhetischer, hygienischer, wirtschaftlicher, bevölkerungspolitischer und psychischer Gewinn. Je nach dem Blickpunkt des Befürworters wechseln Gruppierung und Rangordnung dieser Aspekte; vielfach tritt – mehr oder minder klar ausgesprochen – der rein politische hinzu: wer so wohnt, wird weniger zu politischer Labilität und zu Radikalismus neigen als der Mietskaserneninsasse.

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Parallel damit vollzieht sich eine Hinwendung zur Natur: gelingen im 19. Jahrhundert zunächst nur begrenzte Einbrüche in die Konzeption der kompakten steinernen Stadt, so wird um die Jahrhundertwende die Schaffung eines die Stadt durchziehenden Parksystems, später die Hereinführung der Natur in die Stadt, endlich das Aufgehen der Stadt in der Landschaft, ihre Einbettung in die Natur gefordert. 38 [Die Weitung des Blickfeldes] Im Zuge dieser Entwicklung muß folgerichtig auch das Verhältnis von Stadt und Land neu durchdacht werden. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ist eine Tendenz zu verfolgen, die auf eine Durchdringung von Stadt und Land bis zum Extrem der vollständigen Aufhebung dieser jahrtausendealten Polarität zielt – eine Tendenz, die in den Utopien von Morris und Wells ebenso zum Ausdruck kommt wie in einer Reihe städtebaulicher Fachschriften. Howard will „Stadt und Land in einer neuen Lebensform vermählen“, Martin Wagner prägt den Begriff der „Stadt-Land-Stadt“ und Wrights „Broadacre City“ nutzt zwar die Mittel und Möglichkeiten moderner Technik, fußt aber auf der alten amerikanisch-puritanischen Auffassung, daß die Mannestugenden nur auf dem Lande gedeihen könnten. Andererseits werden ästhetische und psychologische Argumente für die Erhaltung des Unterschiedes von Stadt und Land geltend gemacht: die Stadt als Menschenwerk soll klar von der Natur abgegrenzt, die Spannung zwischen beiden Umweltformen bewahrt werden zum Wohle ihrer Bewohner, die gelegentlich des ausgleichenden Einflusses der fremden Umgebung bedürften. Darüber hinaus befürchten manche von der zu weitgehenden Auflösung der Stadt den Verlust der spezifisch urbanen Werte, die dem sozialen Leben der Stadt – im Gegensatz zu dem des Dorfes oder der Vorstadt – eigentümlich sind. Diese Fragen leiten über zur Landesplanung, insbesondere zur Regionalplanung mit ihrem Blick auf begrenzte Landschaftsräume, die in sich soziologisch und wirtschaftlich zusammengehören. Die Planung ist dabei, genau genommen, nur ein Aspekt des Denkens in solchen Landschaftsräumen, das in den angelsächsischen Ländern „regionalism“ heißt und für das es ein adäquates und gebräuchliches Wort im Deutschen noch 38

Das Wort Stadtlandschaft, gegen 1930 von Passarge als wertneutraler geographischer Begriff geprägt, wird später von den Planern zur Kennzeichnung der auf die Landschaft bezogenen, sich ihr einfügenden Stadt verwandt (Reichow, Rimpl).

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nicht gibt. Wenn die Franzosen auch die Prägung dieses Begriffes für sich in Anspruch nehmen 39, so hat doch wohl der Schotte Geddes den Hauptanteil an der Entwicklung des Planens im regionalen Zusammenhange. Was auf diesem Gebiete verwirklicht wird, entsteht allerdings zunächst meist unter dem Druck administrativer und wirtschaftlicher Unzuträglichkeiten bei der beziehungslosen Planung benachbarter Räume, während die Zielsetzung bei den überzeugten Verfechtern der Regionalplanung weit über die Behebung solcher Mängel hinausgeht. Sie erwarten von der konsequenten Verfolgung des „Regionalismus“ schließlich auch in politischer Hinsicht einen Gewinn: die überholte Nationalitätenzwietracht soll einem friedlichen Nebeneinanderleben der Regionen weichen 40. In alledem zeigt sich eine fortschreitende Erweiterung des Blickfeldes, bis die gesamte Umwelt zum Arbeitsfeld des Planers wird. Der Bereich bewußten menschlichen Planens, früher gleichsam eine Lichtung im Urwald des Gewachsenen, beschränkt sich im 19. Jahrhundert auf die Stadterweiterung, auf die unmittelbar vor Augen liegende Aufgabe, „neue Wohnungen zu schaffen und den Verkehr zu erleichtern“. 41 Erst um die Jahrhundertwende werden die Auswirkungen solcher Erweiterung auf die Stadt als Ganzes erkannt und damit der Ausgangspunkt jener Entwicklung erreicht, die Schumacher unter dem Titel „Vom Städtebau zur Landesplanung“ analysiert. Heute jedoch wird die Aufgabe so umfassend gesehen, daß auch der Begriff der Landesplanung ihr nicht mehr ganz gerecht zu werden scheint; treffend kennzeichnet Schuster sie mit den Worten, es handele sich um die sinnvolle, menschenwürdige Ordnung, Um- und Neugestaltung unserer Lebensräume überhaupt in Stadt und Land. 42

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Nach Bardet (Mission de l’urbanisme, Paris 1949, S. 296) ist die Bewegung des „regionalisme“ kurz vor der Jahrhundertwende als Reaktion gegen die in Frankreich auf politischem und kulturellem Gebiet herrschende „mörderische Zentralisation“ entstanden. 40 Mumford, L., The Culture of Cities, New York 1938, S. 358 ff.; Bardet, a. a. O., S. 297. Vgl. die von E. Jünger in seiner Schrift Der Friede entwickelten Gedankengänge. 41 Baumeister, R., Stadterweiterungen, Berlin 1876, S. 1. 42 Mensch und Raum (Darmstädter Gespräch), Darmstadt 1952, S. 121 f.

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IV. Die Zielsetzung der Planung [Das ästhetische Ziel] Die städtebauliche Situation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist zunächst dadurch gekennzeichnet, daß man dem überwältigenden Anwachsen der Städte das Bemühen entgegensetzt, die schädlichsten Auswirkungen dieser Entwicklung auf technischem und hygienischem Gebiet zu beheben. Die „Schönheit“ gilt als verteuernde und deshalb überflüssige Zutat. Der Widerhall, den Sitte mit seiner Betonung der künstlerischen Grundsätze findet, deutet jedoch auf eine ausgeprägte Empfänglichkeit seiner Zeit für ästhetische Fragen, wie sie sich auch in der besonderen gesellschaftlichen Schätzung der Kunst und des Künstlers um die Jahrhundertwende ausspricht. Das neue Bemühen um einen auf künstlerischen Ziele gerichteten Städtebau – das sich in Amerika im sogenannten „City-Beautiful-Movement“ niederschlägt– leitet seine Rechtfertigung aus der Vergangenheit ab; immer wieder ist von einer Wiedererweckung der Stadtbaukunst, von einer Rückbesinnung auf die Leistungen der Vorfahren die Rede. Wohl sind der Eklektizismus in der Architektur, die romantischen Impulse auf anderen Lebensgebieten Parallelerscheinungen, doch mutet es heute eigenartig an, daß auf einem so stark von neuen Gegebenheiten bestimmten Gebiete wie dem des Städtebaues das künstlerische Streben sich durch die Beschwörung der Vergangenheit eine Art Legitimität verschaffen zu müssen meint. Eine Erklärung hierfür mag darin liegen, daß die Kunst den Gegnern wie den Verfechtern künstlerischen Städtebaues nur als Zutat, als Fassadendekoration gilt. Noch 1903 hält Abendroth eine ästhetisch durchdachte städtebauliche Gestaltung in Arbeitervierteln für verfehlt, weil hier selten oder nie ein fremdes Auge Umschau halte 43: Der falschen Fassade des Städtebaues entspricht die der Gesellschaft. Mit Otto Wagners Leitwort „Artis sola domina necessitas“ kündigt sich jedoch gleichzeitig ein tiefgreifender Wandel der städtebaulichen Wertmaßstäbe an. Es gilt den Gegensatz von Kunst und Zweckmäßigkeit aufzuheben: Die Kunst besteht darin, das, was gemacht werden muß,

43

Abendroth, A., Die Aufstellung und Durchführung von amtlichen Bebauungsplänen, Berlin 1903, besprochen in: Der Städtebau 1 (1904), S. 45.

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schön zu machen. 44 Allerdings kann das Bedürfnis allein die Gestalt schwerlich bestimmen: stets bleibt ein Spielraum für den Formwillen offen. Auch in den städtebaulichen Leistungen der zwanziger Jahre wird ein ausgeprägter Wille zur Form erkennbar, selbst wenn man sich in der Regel laut zur Sachlichkeit und Funktionserfüllung bekennt und der Ästhetik absagt. Zwar gibt es Ausnahmeerscheinungen wie Wolfs Streben nach der monumentalen Stadt, doch tritt im allgemeinen die Beschäftigung mit der gestalterischen Seite des Städtebaues gegenüber anderen Aspekten zurück. Schumacher kennzeichnet rückschauend den sich vollziehenden Wandel mit den Worten: „Ehe es sich um Kunst handeln konnte, handelte es sich um Anstand.“ 45 Anstand – das ist das, was dem Menschen ansteht, das ihm Angemessene. Und in der Tat wird die Geschichte des Städtebaues in den letzten Jahrzehnten bestimmt durch die Vorstellung von dem, was dem Menschen angemessen sei – durch die Enge oder die Weite des Menschenbildes, das dem Handeln zugrunde gelegt wird. [Das wirtschaftlich-technische Ziel] Um die Jahrhundertwende beginnt man die bisherige wirtschaftliche und technische Durchdringung der städtebaulichen Fragen als unzureichend zu empfinden; mit Henricis Forderung, die Volkswirtschaft solle in die Rolle des Bauherrn eintreten, kündigt sich eine Entwicklung an, die nach dem ersten Weltkrieg ihren Höhepunkt erreicht. Heiligenthals städtebauliches Handbuch steht ganz im Zeichen des Vorrangs wirtschaftlicher Erwägungen; auch die gleichzeitigen planerischen Vorstöße in Amerika werden in erster Linie mit wirtschaftlichen Argumenten begründet. Der hierin zum Ausdruck kommenden Tendenz zur Rationalisierung des städtebaulichen Denkens tritt das Bestreben zur Seite, das ganze Fachgebiet wissenschaftlich zu durchdringen. Ihm liegt die Erkenntnis zugrunde, daß mit dem unwiderruflich vollzogenen Eintritt in eine neue Zeit die alten Maßstäbe ihre Gültigkeit verloren haben, daß ganz neue Werkzeuge geschaffen werden müssen, um die veränderten städtebaulichen Aufgaben zu meistern. Vorerst bleiben solche Bemühungen jedoch im wesentlichen im Bereich des rechnerisch Faßbaren: Untersuchungen über die Wirtschaftlichkeit von Bebauungsplänen treten in den Vordergrund; die Fragen der 44 45

Unwin, R., Grundlagen des Städtebaues, Berlin 1922, S. 4. Schumacher, F., Vom Städtebau zur Landesplanung, Tübingen 1950, S. 10.

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Belichtung und Besonnung werden aus der Sphäre gefühlsmäßiger Beurteilung herausgenommen und methodisch geprüft; die Analyse von Verkehrsproblemen und das Bemühen um Wirtschaftlichkeit auch auf diesem Gebiet führen zu Verkehrssystemen und Idealstadtkonzeptionen, denen das technische Denken seinen Stempel aufprägt. Wenn diese Erscheinungen in den dreißiger Jahren wieder zurückzutreten beginnen, so nicht deswegen, weil Wirtschaftlichkeit und Funktionserfüllung überflüssig geworden wären. Sie sind lediglich zu eng geworden, um ein überzeugendes städtebauliches Ziel darzustellen: der homo oeconomicus ist nicht der ganze Mensch. Daß diese Erkenntnis sich gerade in dieser Zeit durchsetzt, ist sicher kein Zufall. Auch die politische Entwicklung zeigt, daß nüchterne Rationalität allein offenbar nicht ausreicht, um den menschlichen Bedürfnissen gerecht zu werden. Das politische Streben nach vollständiger „Erfassung“ des Menschen findet seine Entsprechung in dem Bemühen der Planer, zu einem umfassenderen und tieferen Verständnis des Menschen zu gelangen. [Das soziale Ziel: Planung für das Individuum] Daß beim Städtebau neben seinen technischen Problemen auch eine soziale Aufgabe zu lösen sei, hat man schon früh erkannt; für einzelne steht diese Aufgabe bereits im 19. Jahrhundert an erster Stelle. Dies ist jedoch nicht die Regel, und selbst wenn Baumeister in einer „richtigen Stadterweiterung einen sehr wichtigen Bestandteil aller sozialen Reformen“ 46 sieht oder wenn Stübben bemerkt, daß die Sorge für Arbeiterwohnungen bei der Erweiterung der Städte „die schwierigste und vielleicht auch die bedeutsamste“ sei, 47 so wird der Schwerpunkt städtebaulichen Wirkens doch an anderer Stelle gesehen. Die geistige und politische Entwicklung bereitet indessen einen Wandel vor, der durch die ersten wissenschaftlichen Veröffentlichungen über die Städte in ähnlicher Weise gefördert wird, wie durch die Reformbestrebungen auf den Gebieten des Wohnungswesens und der Bodenordnung. So ist es verständlich, daß Goecke 1905 äußert, die soziale Bedeutung des Bebauungsplanes sei erst in den letzten Jahren erkannt worden. 48 Eine 46

Baumeister, R., Stadterweiterungen, Berlin 1876, S. 14. Stübben, J., Der Städtebau, Darmstadt 1890, S. 25. 48 Goecke, Th., Der Magistratsentwurf einer neuen Bauordnung für Wien, in: Der Städtebau 2 (1905), S. 82. 47

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ähnliche Entwicklung vollzieht sich im Auslande; Marshs Absage an den ästhetisch bestimmten Städtebau zugunsten einer Planung unter sozialen Gesichtspunkten zeigt dies ebenso wie die Parole, unter der in Amerika die Anlage von Volksparks gefordert wird: „Der Knabe ohne Spielplatz ist der Vater des Mannes ohne Arbeit.“ 49 Der Bericht Hegemanns über die Berliner Städtebauausstellung von 1911 arbeitet vor allem die soziale Aufgabe heraus und hat zweifellos Anteil daran, daß nach dem ersten Weltkriege die soziale Verantwortung neben Wirtschaftlichkeit und Funktionserfüllung zu einem wesentlichen Antrieb des städtebaulichen Denkens wird. Das Streben nach einer sozialen Neuordnung ist charakteristisch für diese Zeit, und in vielen Zeugnissen kommt zum Ausdruck, daß auch der Städtebauer zu seinem Teil an dieser großen Aufgabe mitwirken will. So sieht Schumacher im Ineinandergreifen des sozialen und des ästhetischen Elementes das Wesen der städtebaulichen Problematik; 50 seine Definition des Planungszieles – möglichst menschenwürdige Lebensbedingungen zu sichern – gewinnt dabei im Grunde erst ihren Sinn aus dem Wandel in der Auffassung von Menschenwürde, der sich seit der Gründerzeit vollzogen hat. Er findet seinen Niederschlag in zahlreichen gleichgerichteten Aussagen, die von Sierks’ sozialem Pathos bis zu Blums nüchterner Bemerkung reichen, mit der er den Gegensatz zum repräsentativen Städtebau der Jahrhundertwende charakterisiert: „Wir arbeiten in erster Linie für ‚arme Leute‘.“ 51 [Das soziale Ziel: Planung für die Gemeinschaft] Hatte man zu Beginn des 20. Jahrhunderts die soziale Aufgabe im wesentlichen in der Sorge für den einzelnen gesehen, so tritt in den dreißiger Jahren eine Verlagerung des Interesses ein: der Mensch als Gemeinschaftswesen rückt – erstmalig seit den Tagen Owens und Fouriers – in den Mittelpunkt der städtebaulichen Bemühungen. Howard und Fritsch dürfen wohl als Vorläufer dieser Entwicklung gelten; ihre städtebaulichen Vorschläge sind schon vor der Jahrhundertwende letzten Endes auf eine Reform der Gesellschaft gerichtet. Mit weniger weit gesteckten Zielen fordert Unwin 1909, die Stadt, bisher eine bloße Ansammlung von Menschen, müsse

49 50 51

Hegemann, W., Der Städtebau, II. Teil, Berlin 1913, S. 383. Schumacher, F., Kulturpolitik, Jena 1920, S. 3. Blum, O., Städtebau, Berlin 1937, S. 4.

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der menschlichen Gemeinschaft dienstbar gemacht werden. 52 Im gleichen Jahre erscheint Cooleys „Social Organization“, der Anknüpfungspunkt für eine Entwicklung, die schließlich in Amerika zur Formulierung des Nachbarschaftsgedankens führt. An ihr hat die Soziologie beträchtlichen Anteil; entscheidend ist indessen der Entschluß der Planer, die Gedanken und Beobachtungen der Wissenschaftler zur Grundlage eines Aktionsprogramms zu machen. Auch der Einfluß der amerikanischen Tradition und der des New Deal mit seiner Hinwendung zu sozialen Problemen schwingen in der Formulierung Aschers mit, die die Ansprüche an die Nachbarschaft charakterisiert: sie solle so bemessen und so geartet sein, daß sie ihre Bewohner nicht zu zwergenhafter Anonymität verurteile, sondern ihnen einen maßstäblich angemessenen Rahmen schaffe, den sie ausfüllen und innerhalb dessen sie ihre Rolle mit innerer Befriedigung spielen könnten. 53 Während die Entwicklung in England gewisse Parallelen zur amerikanischen aufweist, bleibt auf dem Kontinent das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft zunächst weitgehend außerhalb der planerischen Überlegungen, wenn es auch gelegentlich gestreift wird. So meint Otto Wagner beim Großstädter ein Streben nach Anonymität zu erkennen, dem er entgegenkommen will; 54 Tessenow dagegen setzt sich gerade aus diesem Grunde für die Kleinstadt ein und schwimmt damit bewußt gegen den Strom. Über Gropius’ Wirken am Bauhaus schreibt einer seiner früheren Schüler: „Er öffnete uns die Augen für die vergessenen Werte, die im gemeinschaftlichen Leben liegen.“ 55 Nach dem zweiten Weltkriege wird dieser Themenkreis zu einem der Schwerpunkte in der städtebaulichen Theorie und Praxis. Paulsson sieht die erste Aufgabe des Städtebauers in einer Analyse des sozialen Lebens und seiner Mängel, 56 Martin Wagner bezeichnet das Bauen als „Vorstufe der Gemeinschaftsformation,“ 57 und die von Schwagenscheidt vorgeschlagenen Hausgruppen mit ihren Gemeinschaftshöfen finden ihre Entsprechung in dem eng-

52

Unwin, R., Grundlagen des Städtebaues, Berlin 1922, S. 7. Ascher, C. S., Better Cities, Washington 1942, zit. bei Dahir, J., The Neighborhood Unit Plan, New York 1947, S. 48. 54 Wagner, O., Die Großstadt, Wien 1912, S. 21 f. 55 Giedion, S., Walter Gropius – Mensch und Werk, Stuttgart 1954, S. 15. 56 CIAM, The Heart of the City, London 1952, S. 28. 57 Wagner, M., Wirtschaftlicher Städtebau, Stuttgart 1951, S. 168. 53

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lischen Bemühen, die neuen Städte aus Gruppen einander zugewandter Häuser zusammenzufügen. In dieser Entwicklung spiegelt sich das Suchen nach einer neuen Art gemeinschaftlicher Bindung, das in den letzten Jahrzehnten in den verschiedensten Formen und auf vielen Lebensgebieten erkennbar wird. Letzten Endes handelt es sich dabei um eine der Grundfragen der Gegenwart: um die Auseinandersetzung zwischem dem einzelnen und dem Kollektiv. 58 Die Einbeziehung des Städtebaues in diese Fragestellung entspricht ihrem umfassenden, über den rein politischen Aspekt hinausgehenden Charakter und macht zugleich das Eindringen politischer Gesichtspunkte in die städtebauliche Thematik verständlich. Geht es allgemein um die Wiederaufrichtung einer in gestuften Größenordnungen sich aufbauenden menschlichen Gemeinschaft, deren zunehmende Auflösung, „disintegration“, als Verfall gesehen wird, so liegt das konkrete politische Ziel in der Bewahrung der demokratischen Lebensform, in der Bekämpfung von Anonymität und Vermassung, die den Menschen anfällig machen für totalitäre Einflüsse und Versuchungen. Daraus erklärt sich, daß die Internationalen Kongresse für neues Bauen ihr Jahrestreffen 1952 der Beschäftigung mit dem „core“, dem Herzen der Stadt widmen, das Mittelpunkt des öffentlichen Lebens, der Muße und der Feste der Bürger sein soll. Eine Stätte der Begegnung und der freien Diskussion wird gefordert, die das Informationsmonopol der unpersönlichen Institutionen wie Presse, Rundfunk und Fernsehen zu brechen bestimmt ist. 59 Ein solcher Platz im Herzen der Stadt hat also eine politische Aufgabe: er soll den Umsturz verhüten helfen und wird damit gleichsam zu einer Alternativlösung gegenüber Haussmanns Boulevards im Paris des 19. Jahrhunderts. Während Haussmann die Überwachung und Unterdrückung der revolutionären Massen durch militärische Operationen im Auge hatte, stehen die Erwägungen der CIAM im Zeichen der vorbeugenden Behandlung – ein Unterschied, hinter dem zugleich die veränderte Form des politischen Umsturzes sichtbar wird. Aber auch in der Gegenwart hat dieser Platz des freien Gemein58

Vgl. Kassner, R., Das 19. Jahrhundert, Zürich 1947, S. 56. K. sieht im „Problem der Herrschaft zwischen dem einzelnen und dem Kollektiv“ das Kernproblem des 20. Jahrhunderts. 59 CIAM, The Heart of the City, London 1952.

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schaftslebens und der persönlichen Begegnung einen Gegenpol im Aufmarschplatz des totalitären Staates – ein beredtes Beispiel für das Hineinwirken politischer Zielsetzungen in den Städtebau. [Kulturelle und politische Problematik] Während im 19. Jahrhundert, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die städtebauliche Literatur kaum Ansätze zu einer Analyse der Situation in ihrem ganzen Umfange zeigt, beginnen sich die kritischen Stimmen im 20. Jahrhundert zu mehren. Mit dem Schwinden des Fortschrittsglaubens weitet sich der Raum für das bewußte Planen. Hatten Sitte und Unwin schon darauf hingewiesen, daß den – wie sie meinten, unbewußten – künstlerischen Leistungen der Vergangenheit Gleichwertiges nur auf dem Wege über die verstandesmässige Durchdringung des gestalterischen Tuns an die Seite zu stellen sei, so dehnt sich der Bereich der Ratio nun von der beschränkten Einzelaufgabe auf die Beeinflussung der Gesamtentwicklung aus. Jaspers schreibt 1933: „… alles (ist) Plan, aber kein Plan des Ganzen“, 60 während Jünger gleichzeitig Entwicklungen aufzeigt, die auf eben diesen Plan des Ganzen gerichtet sind. 61 Mannheims Werk ist weitgehend einer Untersuchung der Frage gewidmet, wieweit ein solcher Plan mit den Prinzipien von Freiheit und Demokratie vereinbar sei, 62 und Guardini setzt sich eingehend mit der Idee der universellen Planung auseinander, „deren Tragweite gar nicht groß genug gesehen werden kann“. 63 Lange bevor die politische Problematik hinter dieser Entwicklung sichtbar wird, beschäftigt sich Morris mit einem anderen, kaum minder wichtigen Aspekt: mit dem inneren Verhältnis des Menschen zu seiner Arbeit. Es geht ihm – in der Nachfolge Fouriers – um die Freude an der Arbeit; verwandtem Geiste entspringt später Tessenows „Handwerk und Kleinstadt“ als kulturpolitisches Bekenntnis eines Architekten. In der eigentlichen städtebaulichen Fachliteratur allerdings deutet sich dieses Thema nur vereinzelt an – so bei Hercher, wenn er die Auflockerung der Stadt nach englischem Muster deshalb ablehnt, weil „das deutsche Wesen eine viel innigere Verbindung der Berufstätigkeit mit dem täglichen Le60

Jaspers, K., Die geistige Situation der Zeit, Berlin 1933, S. 27. Jünger, E., Der Arbeiter, Hamburg 1932. 62 Mannheim, K., Freedom, Power, and Democratic Planning, New York 1950 und Diagnose unserer Zeit, Zürich 1951. 63 Guardini, R., Die Macht, Würzburg 1952, S. 72. 61

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ben“ verlange. 64 Im allgemeinen wird es als gegeben hingenommen, daß mit der räumlichen Trennung von Wohn- und Arbeitsstätte auch innerhalb des Menschen die Trennung zwischen dem Geldverdiener und dem Privatmann vor sich geht. Dem entspricht es, wenn Frank Lloyd Wright die Stadt nur mehr als eine Anhäufung von Bürogebäuden gelten lassen will, die an drei Tagen der Woche morgens „besetzt“ und nachmittags „geräumt“ wird.65 Allerdings will er mit der Arbeit am eigenen Grund und Boden ein Gegengewicht schaffen zu der unpersönlichen Tätigkeit im Räderwerk der Arbeitsteilung; auch Hilberseimers Vorschlägen liegen ähnliche Überlegungen zugrunde. 66 Die hier angedeuteten Fragen werden nicht auf der Ebene des Städtebaues lösbar sein, doch gehen sie auch den Planer an und werden den Stadtplan mit bestimmen. Die Beziehung zwischen politischer Ordnung und Städtebau tritt im 19. Jahrhundert kaum hervor; die gelegentlich anklingenden nationalistischen Untertöne haben andere Ursprünge. Wenn Hegemann 1913 die enge Verbindung zwischen freiheitlicher Selbstverwaltung und „menschenwürdiger, gesunder, dezentralisierter“ Stadtplanung herausstellt 67, so deutet dies auf das zunehmende Bewußtwerden eines Zusammenhanges zwischen Städtebau und politischer, wirtschaftlicher und sozialer Ordnung hin, wie es nach dem ersten Weltkriege klarer hervortritt. Le Corbusier allerdings verwahrt sich ausdrücklich dagegen, Erklärungen über den Weg abgeben zu sollen, den die Gesamtheit zu gehen habe: sein Plan sei ein technisches Werk. 68 Die Beziehungen zwischen technischer Lösung und außertechnischen Wertmaßstäben scheint er nicht zu sehen – im Gegensatz zu Gropius, der 1931 bemerkt, die Entscheidung über Hochbau und Flachbau im Wohnungswesen werde letzten Endes von der politischen und weltanschaulichen Entwicklung abhängen. 69 Der sich verschärfende Gegensatz zwischen totalitärer und demokratischer Le64

Hercher, L., Großstadterweiterungen, Göttingen 1904, S. 14. Wright, F. L., The Future of Architecture, New York 1953, S. 175. 66 Hilberseimer, L., The New Regional Pattern, Chicago 1949. Hier ist ebenso wie in Wrights Werk der Einfluß Kropotkins (Landwirtschaft, Industrie u. Handwerk, Berlin 1904) spürbar. 67 Hegemann, W., Der Städtebau 2, Berlin 1913, S. 276 f. 68 Le Corbusier, Städtebau, Stuttgart 1929, S. 253. 69 Internat. Kongr. f. neues Bauen, Rationelle Bebauungsweisen, Stuttgart 1931, S. 47. 65

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bensform führt zu einer stärkeren Betonung des politischen Aspektes auch in städtebaulichen Fragen. So wird in Amerika nicht nur die Notwendigkeit der Planung selbst, nicht nur die Förderung des Gemeinschaftsgefühls mit der politischen Abwehrstellung der Demokratie begründet, sondern Wright führt sogar für die von ihm vorgeschlagene Wohndichte von zweieinhalb Einwohnern je Hektar politische Gründe ins Feld: jede höhere Dichte könne zu nichts anderem als Faschismus, Kommunismus oder Staatssozialismus taugen. 70 In unmittelbarem Zusammenhang mit den politischen Aspekten der Planung steht ihre Beziehung zur Bevölkerungspolitik. Bedenken gegen den Moloch Stadt klingen zwar schon im 19. Jahrhundert gelegentlich an; ernsthafte Sorgen um den Bestand der Gesamtbevölkerung tauchen jedoch erst im 20. Jahrhundert auf und lösen die Forderung aus, den Städtebau für die zahlenmäßige Sicherung der Volkssubstanz einzusetzen. Dieser Gesichtspunkt wird in der deutschen Literatur nach dem ersten Weltkrieg, mit besonderem Nachdruck unter nationalsozialistischer Herrschaft vertreten; auch im Ausland spielt er, vor allem in jüngster Zeit, eine wichtige Rolle. Alle politischen Probleme, die das Gebiet der Planung berühren, münden schließlich aus in die Antithese von Planung und Freiheit, die den Westen immer wieder beschäftigt. Gegen die Befürchtung, daß Raumplanung den ersten Schritt auf dem „Wege zur Knechtschaft“ darstelle, steht die Auffassung, Planung brauche nicht nur keine Gefahr für die Freiheit darzustellen, sondern sei im Gegenteil ein unentbehrliches Mittel, dem einzelnen ein Höchstmaß an Freiheit auf unserem schrumpfenden Planeten zu sichern. Die Berechtigung dieser beiden entgegengesetzten Standpunkte läßt sich nicht ohne eine Auseinandersetzung mit dem Inhalt der Planung klären: von ihm nämlich hängt es ab, ob die gebotene Ordnung zu einem willkürlichen Eingriff in die Freiheit des einzelnen wird. Mit aller Klarheit hat man die daraus sich ergebenden Forderung an die Planung in Amerika formuliert: „Am besten ist der Plan, der in sich eine Beschränkung seiner Macht enthält, das Leben der Menschen zu bestimmen.“ 71 70

Wright, F. L., When Democracy Builds, Chicago 1945, S. 47. Goodman, Paul und Goodman, Percival, Communitas, Chicago 1947, S. 4. (Übers. Verf.)

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V. Auftrag und Bauherr der Planung [Die Problemstellung] In den bisherigen Ausführungen ist mehrfach eine Frage gestreift worden, die einer eingehenderen Untersuchung bedarf: die Frage nach dem Bauherrn, nach dem Auftrag der Planung. Im Zusammenhang damit müßten Herkunft und Gültigkeit der Maßstäbe geklärt werden, mit denen das städtebauliche Ziel bezeichnet und die Leistung bewertet werden kann. Je umfassender die Aufgaben des Städtebaues gesehen werden, um so schwieriger scheint die Antwort auf diese Fragen zu werden. Mag man die Auffassung, Städtebau sei Lebensbau, anerkennen, mag man in ihm den „schöpferischen Weg zur guten Gemeinschaft“ 72 sehen oder nicht, mag man also das städtebauliche Wirken als führend oder dienend ansehen: seine soziale Bedeutung ist unbestritten. Darum wird der Städtebauer ein Leitbild, eine Vorstellung des Lebens und der Gemeinschaft sein eigen nennen müssen, um sein Handeln mit Sinn erfüllen zu können. Es müßte also zunächst geklärt werden, wie die dem Menschen angemessene Umgebung aussieht, die zu schaffen der Planer bestrebt sein soll. Der Arzt und Biologe Carrel sagt dazu: „Wir wissen noch nicht einmal, welche Umwelt für die Höchstentwicklung des Kulturmenschen am günstigsten ist.“ 73 Und nicht genug damit; die Frage müßte noch weiter gefaßt werden: Wie sieht das Bild der Gesellschaft aus, für die unsere Planung den Rahmen setzen soll? Wer entwirft es, wer entscheidet, was gut und schlecht – mehr noch, was gut und böse ist? Man sollte meinen, daß dieser Problemkomplex in einer Zeit, in der die technischen Mittel für die Formung der menschlichen Umgebung aufs höchste entwickelt sind, die Diskussion über Planungsfragen beherrscht. Das Gegenteil ist der Fall: er tritt völlig zurück hinter Auseinandersetzungen um technische Einzelheiten, deren Zusammenhang mit tieferen Strömungen nur selten erkennbar wird. Um so wichtiger ist es, diese Strömungen und die aus ihnen sich ergebenden Wertmaßstäbe bewußt und faßbar zu machen. Ansätze dazu finden sich jedoch auch in der Fachliteratur nur vereinzelt, und nicht umsonst stellt Max Frisch in den

72 73

Eckbo, G., Landscape for Living, New York 1950, S. 231. Carrel, A., Der Mensch – das unbekannte Wesen, Stuttgart-Berlin o. J., S. 19.

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Mittelpunkt seines Hörspiels „Der Laie und die Architektur“ die Frage an den Planer: „Nach welchen Gesichtspunkten planen Sie?“ 74 Wie würde die Antwort lauten, wenn diese Frage an die Männer gerichtet würde, die heute in Architektur und Städtebau von sich reden machen? Sicher besitzen sie ein Leitbild des Menschen und der Gesellschaft als Grundlage ihrer Arbeit – aber kann es Anspruch auf Verbindlichkeit erheben? Betrachten wir im Hinblick auf diese Frage Frank Lloyd Wrights „Broadacre City“. Diese „Stadt die ein Land ist“, bedeutet die Auflösung dessen, was man bisher Stadt nannte, bedeutet die Rückkehr des Menschen „zu seinem Geburtsrecht, der guten Erde“. 75 Aber wollen die Menschen wirklich so leben: weit verstreut über die Landschaft, jede Familie mit einem bis zwei Hektar Acker- und Gartenland um sich her? Das scheint für Wright nicht entscheidend zu sein; er urteilt als Moralist: sie sollen so leben, denn es ist gut für sie. Le Corbusiers städtebauliche Konzeption sieht anders aus: Erhöhung der Wohndichte, Massierung der Bevölkerung in Hochhäusern, dadurch Gewinn großer Freiflächen als Parks. Ist es gut für die Menschen, so zu leben? Sicherlich ist Le Corbusier davon überzeugt – aber wenn wir lesen, wie er seine rauschhafte Begeisterung über das wimmelnde Leben der Stadt, die Urgewalt des technisierten Verkehrs ausdrückt, oder wenn er eines der Kapitel seines Buches unter das Motto stellt „Die Stadt der Geschwindigkeit ist die Stadt des Erfolges“, 76 so drängen sich doch einige Zweifel an der Gültigkeit seiner Maßstäbe auf. [Anforderungen an den Planer] Aus dem Vorangegangenen ergibt sich die Frage: Ist der Architekt, der Städtebauer berechtigt und in der Lage, die Maßstäbe zu setzen, nach denen er die Umgebung für den Menschen, den Rahmen für die Gesellschaft von morgen formt? Prüft man unter diesem Gesichtspunkt die Anforderungen, die im Laufe der letzten hundert Jahre an den Städtebauer gestellt worden sind, so findet man zunächst eine Fülle von Zeugnissen, die sich mit der Vereinigung technischer, wissenschaftlicher und künstlerischer Befähigung befassen, wobei der Schwerpunkt je nach dem Blickwinkel des Beurtei74 75 76

Frisch, M., Der Laie und die Architektur, Merkur 9 (1955), S. 264. Wright, F. L., When Democracy Builds, Chicago 1945, S. 7. Le Corbusier, Städtebau, Stuttgart 1929, S. 145.

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lenden wechselt. Dagegen sieht die Gräfin Dohna 1874 die entscheidende Voraussetzung für die Aufstellung eines guten Planes in der Gesinnung seines Urhebers; Gurlitts Äußerung, der Städtebauer müsse vor allem den Wert der Dinge zu wägen wissen, findet eine Ergänzung in Schumachers Forderung, er müsse einen angeborenen Blick für menschliche Lebenszusammenhänge haben. 77 Diese und ähnliche Aussagen deuten an, daß der Planer sich nicht in der Rolle eines Technikers ohne eigene Initiative sieht, sondern daß er seinen Auftrag selbst zu interpretieren gedenkt. Ganz klar drückt sich dieser Anspruch in Fischers Worten aus, dem Architekten vor allem stehe die Aufgabe zu, die auseinanderfallende Kultur zusammenzufassen, 78 und noch weiter geht Wright, wenn er die Frage nach dem Wesen des Architekten dahingehend beantwortet: „Man erwarte von ihm ein philosophisches und ethisches System, das eine Synthese von Gesellschaft und Kultur darstellt.“ 79

Für Wright ist der schöpferische Künstler „in seiner Person mehr Gesellschaft als die Gesellschaft selbst … Er … ist der geborene Interpret in jeglicher gesellschaftlichen Ordnung, die sich die Menschen wählen.“ 80

Zwar sprechen hier Architekten und Städtebauer in eigener Sache, aber auch der Kunsthistoriker Giedion fordert vom Architekten und Planer „soziale Imagination“ und weist ihm die Pflicht zu, „das heutige Leben – the way of life –“ mitformen zu helfen und „die unbewußt im heutigen Menschen schlummernden Wünsche bewußt zu machen, bis sie ihm zum Bedürfnis werden“. 81 Hier soll nicht die Berechtigung dieses Standpunktes untersucht, sondern der Stand der Diskussion geklärt werden. Wird dem Städtebauer das Recht streitig gemacht, das Bild der optimalen menschlichen Umwelt selbst zu entwerfen, so muß eine Alternativlösung geboten, eine Instanz gezeigt werden, an die er sich zu halten hat. Es müßte einen Bauherrn geben, der die Richtlinien festlegt. 77 78 79 80 81

Schumacher, F., Vom Städtebau zur Landesplanung, Tübingen 1951, S. 30. Fischer, T., Sechs Vorträge über Stadtbaukunst, München und Berlin 1922, S. 28. Wright, F. L., Genius and the Mobocracy, New York 1949, S. 3 (Übers. Verf.). Wright, F. L., Usonien, Berlin 1950, S. 102. Giedion, S., Architektur und Gemeinschaft, Hamburg 1956, S. 84 f., S. 87.

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[Planung und Öffentlichkeit] Im Rahmen einer demokratischen Gesellschaftsordnung bietet sich die Antwort auf die Frage nach dem Bauherrn ganz selbstverständlich an: die Gesellschaft selbst ist der Bauherr. Voraussetzung für ein fruchtbares Verhältnis zwischen dem Bauherrn und seinem Planer wäre allerdings, daß die Beziehungen zwischen Planung und Öffentlichkeit feste Formen annehmen. Am meisten Arbeit in dieser Hinsicht ist in den Vereinigten Staaten geleistet worden, wo sich schon die City-Beautiful-Bewegung um die Jahrhundertwende stark auf den Appell an die Öffentlichkeit stützte. Burnhams Plan für Chicago hat nur noch historischen Wert, aber seine Parole ist lebendig geblieben: „Macht keine kleinen Pläne; ihnen fehlt der Zauber, der das Blut der Menschen in Wallung bringt …“ 82 In Europa kann in erster Linie England auf ähnliche Bemühungen hinweisen; die Früchte dieser beständigen Arbeit über Jahrzehnte hinweg sind die Städtebaugesetze der vierziger Jahre. In der deutschen Fachliteratur dagegen wird man nur ganz vereinzelt Hinweise auf die Beziehung zur Öffentlichkeit finden; Heiligenthal macht zwar einige Vorschläge in dieser Richtung, aber erst in den letzten Jahren wird dem ganzen Fragenkomplex stärkere Beachtung geschenkt. Bei alledem handelt es sich im Grunde um eine einseitige Beziehung vom Planer zur Öffentlichkeit, um Unterrichtung mit dem Ziel, Verständnis für die Bemühungen der Fachleute zu wecken. Die Öffentlichkeit wird belehrt; die Möglichkeit, sie darüber hinaus als Autorität anzurufen, wird kaum gesehen, geschweige denn verwirklicht. Zweifellos liegen hier erhebliche Schwierigkeiten, die selbst in den Vereinigten Staaten mit ihrer langen demokratischen Tradition nicht restlos gemeistert sind: Während Saarinen die Planung dem Einfluß von „Spekulanten, Politikern und Drahtziehern aller Art“ 83 entziehen will, fordert Hudnut geradezu die Einbeziehung von Planungsfragen in die erhitzte Atmosphäre des Wahlkampfes. Der lebendigen Anteilnahme der Öffentlichkeit opfert er gern die Kontinuität der Planung –

82 83

Zit. bei Justement, L., New Cities for Old, New York 1946, S. 6 (Übers. Verf.). Saarinen, E., The City, New York 1943, S. 323.

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„und sollte es einmal geschehen, daß das Volk der guten Planung eine schlechte vorzieht, dann soll es sie in Gottes Namen haben.“ 84

[Die Rolle der Wissenschaft] Vielleicht sind es die Bedenken dagegen, die Planung ganz unter die Herrschaft einer von Tageseinflüssen allzu abhängigen politischen Meinungsbildung zu stellen, die eine Schweizer Studiengruppe zur Wahl einer anderen Instanz bestimmt haben: sie befragte vier lebenserfahrene Männer – je einen katholischen und protestantischen Theologen, einen Staatsrechtler und einen Hygieniker – nach ihrer Auffassung von der optimalen menschlichen Umwelt, um daraus die Richtlinien für die Planung abzuleiten. 85 Mag diese Auswahl auch willkürlich erscheinen, so deutet sie doch eine Richtung an, deren Verfolgung naheliegt und aussichtsreich erscheint: die Richtung auf eine wissenschaftliche Durchdringung der Fragestellung von verschiedenen Blickpunkten aus. Bei der Schaffung der Planungsgrundlagen und bei der Aufstellung und Durchführung der Planung selbst haben Wissenschaft und Gemeinschaftsarbeit seit langem eine wichtige Rolle gespielt: können sie auch bei der dazwischenliegenden Stufe helfen, bei der Formung eines Leitbildes, das den Maßstab liefert für die Bewertung des Gegebenen und für die Zielsetzung? Damit stellt sich die Frage nach einer Wissenschaft vom Menschen, die über das heutige planerische Fachwissen weit hinausgreift, einer Anthropologie, die – in den Worten Carrels – „über Analyse und Synthese zugleich zu einer Auffassung vom einzelnen Menschen gelangen (muß), die vollständig und dabei einfach genug ist, daß sie unserem praktischen Handeln als Grundlage dienen kann.“ 86

Der Arzt und Biologe fordert hier das gleiche, was auch der Städtebauer erstreben muß, wenn ihm an einer klaren und zuverlässigen Richtschnur für sein Handeln gelegen ist. Die Bemühungen des Planers um eine Annäherung an dieses Ziel, sein Streben nach einer umfassenden Schau des Menschen und der Gesellschaft, sind unverkennbar. So versagt Sert – selbst Architekt und Städtebauer – dem Planer das Recht, die Bedürfnisse 84

Hudnut, J., Architecture and the Spirit of Man, Cambridge 1949, S. 194 (Übers. Verf.). 85 Carol, H., und Werner, M., Städte – wie wir sie wünschen, Zürich o. J. 86 Carrel, A., Der Mensch – das unbekannte Wesen, Stuttgart und Berlin o. J., S. 53.

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des Menschen und die ihm angemessene Umwelt zu bestimmen, und fordert von ihm Zusammenarbeit mit Soziologen, Hygienikern, Ärzten, Pädagogen und anderen mit dem Ziel, ein dem Menschen gemäßes städtebauliches Programm zu formulieren; 87 Neutras Ruf nach einem Planungsbeirat unter Vorsitz eines Biologen entspringt ähnlichen Überlegungen. 88 Seit der Mensch als Gemeinschaftswesen in den Mittelpunkt des städtebaulichen Interesses gerückt ist, bahnen sich – vor allem in den angelsächsischen Ländern – engere Verbindungen zwischen Soziologie und Planung an. Auch in der deutschen Literatur finden sich schon frühzeitig einzelne Hinweise auf diese Beziehung, doch steckt die Zusammenarbeit erst in den Anfängen. Stöckli charakterisiert eher die Entwicklungstendenz als den tatsächlichen Stand der Dinge, wenn er 1954 schreibt: „Die Soziologie verdrängt das technische Fachwissen vom Städtebau, dem man im letzten Jahrhundert, allen Einwendungen der Sozialreformer zum Trotz, den Vorrang bei den städtebaulichen Überlegungen zuerkannte. Die Stadt ist jetzt für uns Moderne nicht mehr in erster Linie ein technisches, sondern ein soziologisches und geistiges Problem.“ 89

Allerdings werden hier die Soziologie und die Sozialreformer im gleichen Atemzuge genannt und damit Schwierigkeiten verdeckt, die sich aus der Natur der Soziologie als beschreibender Wissenschaft ergeben. Sie beschäftigt sich mit dem, was ist, nicht mit dem, was sein soll, und weist daher, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, kaum sozialreformerische Züge auf. Die Annäherung von Soziologie und Planung vollzieht sich also nicht auf der Grundlage eines gemeinsamen Reformstrebens; vielmehr wird sogar in Amerika der soziologiebeflissene Planer vom Soziologen mit Mißtrauen beobachtet und muß den Vorwurf des Hantierens mit pseudo-soziologischen Begriffen hinnehmen. 90 Nicht einmal die Möglichkeit eines Beitrages der Soziologie zur Planung erscheint völlig unbestritten. Auch dort, wo den planerischen Bemühungen Sympathie entgegengebracht wird, findet sich nur vereinzelt eine Weisung von soziologischer Seite, die der Planung als Richtschnur dienen könnte. Aber 87 88 89 90

Sert, J. L., Can Our Cities Survive?, Cambridge 1942, S. 234. Neutra, R., Survival Through Design, New York 1954, S. 337. Stöckli, A., Die Stadt, Köln-Deutz 1954, S. 155. So bei Banfield, E. C., American Journal of Sociology 59, 1954, S. 510.

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selbst wenn die Soziologie dem Planer nur Tatsachen vermittelt und es ihm überläßt, danach sein Handeln einzurichten, liegt darin noch eine Fülle von Möglichkeiten beschlossen, und verständlicherweise sieht darum v. Wiese 1933 gerade in dem Gebiet, das Siedlungskunde und Soziologie verknüpft, hoffnungsvolles Zukunftsland. 91 Wollte die Soziologie vollständig in die Rolle des Bauherrn für die Planung eintreten, so würde das ihre Ausweitung zu einer normensetzenden Wissenschaft bedeuten. Daß eine solche Konsequenz in der Tat gesehen wird, zeigt die Forderung von Evans-Pritchard: „Der Soziologe müßte auch Moralphilosoph sein und als solcher eine Anzahl ganz bestimmter Überzeugungen und Wertmaßstäbe haben, nach denen er die Tatsachen bewertet, die er als Soziologe erforscht.“ 92

Noch einen Schritt weiter geht E. M. Adams in einer Untersuchung über die „Logik der Planung“, in der er eine neue objektive Disziplin, die der Sozialplanung, fordert; in ihr soll „ethische Wahrheit“ das Hauptinteresse des Sozialplaners sein. 93 Eine letzte Frage sei angedeutet: ob eine solche Entwicklung nicht auch ihre Gefahren in sich berge – daß etwa die Soziologie mit dem Ruf nach einer verbindlichen Weisung überfordert würde, daß ihre Normen zu einer Erstarrung führen könnten, die der lebendigen und freiheitlichen Entwicklung Fesseln anlege. Man braucht nicht gleich an die düsteren Utopien unserer Zeit zu denken, um hier Sorge vor einer Tendenz zu empfinden, die den Menschen zum Gegenstand der Planung machen könnte.

VI. Zusammenfassung Mit den gewaltigen soziologischen und wirtschaftlichen Veränderungen, die das 19. Jahrhundert als Folge der industriellen Revolution heraufführt, zerfällt die Rangordnung der Werte, die jahrhundertelang die Gesellschaft und ihre Ausdrucksformen beherrscht hat. Mit ihr geht eine 91

v. Wiese, L., System der allgemeinen Soziologie, München und Leipzig 1933, S. 623. 92 Zit. bei Eliot, T. S., Beiträge zum Begriff der Kultur, Berlin 1949, S. 90. 93 Adams, E. M., The Logic of Planning, Social Forces 28, 1950, S. 419.

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Form des Städtebaues zu Ende, die von der Repräsentation her bestimmt war und in ästhetischer Hinsicht bleibende Leistungen geschaffen hat. Der Wandel, dem die Gesellschaft unterworfen ist, schlägt sich auch in der Form der Stadt nieder. Wohl wird der Städtebau als technische Aufgabe im wesentlichen bewältigt, aber als kulturelle Aufgabe – im Sinne von Schumachers Definition der Kultur als Ineinandergreifen von Sozialem und Ästhetischem – wird er nicht gemeistert. Auch als dieses Versagen dem Städtebauer bewußt wird, findet er zunächst noch nicht den Entschluß zum vollständigen Neubeginn sondern sucht den Ausweg in einer Ästhetik, die an der Vergangenheit orientiert ist und von ihr Vorbild und Legitimation zu entlehnen sucht. Der Städtebauer sieht seine Aufgabe darin, die Manifestationen einer stürmischen technischen und sozialen Entwicklung – deren positive Richtung noch nicht entscheidend in Frage gestellt ist – mit Künstlerhand zu umkleiden, so wie sein Kollege, der Architekt, das Eisenwerk der Brücken durch steinerne, mit den Stilelementen der Vergangenheit geschmückte Torbauten zu verschönern strebt. Erst nach der Jahrhundertwende bricht sich mit den Zweifeln an der Zwangsläufigkeit dieser Entwicklung die Erkenntnis Bahn, daß es gilt, sich mit neuen Mitteln in einer neuen Welt einzurichten, und daß die alten Maßstäbe dazu nicht mehr taugen. Zugleich ergibt sich eine neue Konsequenz: wenn der Lauf dieser Welt nicht vorgezeichnet ist, so kann – so muß sie vom Menschen gelenkt werden. Damit tritt nun eine Fülle von Problemen auf, die sich nicht mit ästhetischen Mitteln meistern lassen, sondern die zunächst die nüchterne Erforschung der Zusammenhänge und die Klärung der Bedürfnisse verlangen. Wie die Architektur, so vollzieht auch der Städtebau eine Wendung zur Funktion – zu einer Funktion indessen, die nicht mehr begriffen wird als eine Erfüllung technischer und hygienischer Aufgaben, wie sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Rolle spielte. Damals handelte es sich um die Bewältigung einer als gegeben hingenommenen Aufgabe, deren Sinn außer Frage stand; nun aber erwartet man von der Durchdringung und Erfüllung der Funktion gleichsam die Sinngebung selbst. Diese Funktion wird zunächst vorwiegend vom Wirtschaftlichen und Technischen her gesehen, und erst schrittweise setzt sich eine umfassendere Schau durch. Je eingehender sich aber der Städtebauer mit dieser Problematik auseinandersetzt, um so klarer erkennt er, daß sein Auf-

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gabengebiet nicht isoliert besteht, sondern verflochten ist mit vielen anderen Lebenserscheinungen – daß die Reform der Gesellschaft und die Reform ihrer Umwelt ineinandergreifen müssen. Im Grunde spiegelt die Entwicklung der städtebaulichen Leitgedanken im 20. Jahrhundert nichts anderes als das Suchen der Planer nach einem Bild des Menschen, das sie ihren Überlegungen zugrunde legen könnten. Ihr Vorgehen ist nicht immer frei von Einseitigkeit, Oberflächlichkeit und Willkür, doch läßt sich verallgemeinernd feststellen, daß der Mensch und seine Bedürfnisse immer umfassender und differenzierter gesehen werden. In zunehmendem Maße sucht der Städtebauer die Ergänzung seines Blickwinkels durch die Erfahrungen und Urteile anderer, die über den Menschen etwas auszusagen vermögen. Je umfassender der Mensch erscheint, um so stärker fallen diejenigen seiner Qualitäten ins Gewicht, die nicht mit dem Rechenstift festzuhalten sind; Rüstows Vorschlag, Sozialpolitik durch „Vitalpolitik“ zu ersetzen, zeigt dies ebenso wie die wiederholt von Planern erhobene Forderung, der geistigen und kulturellen Entfaltung des Menschen den ersten Platz bei allen planerischen Überlegungen einzuräumen. Zugleich wird auch die Zielvorstellung, das Bild der Stadt, die allen diesen menschlichen Qualitäten Rechnung tragen soll, komplexer – so komplex, daß die zeichnerische Darstellung dieses Idealbildes schwierig und daher selten geworden ist. Bediente sich der ästhetische Städtebau des perspektivischen Schaubildes, der funktionelle zumindest der schematischen Darstellung, so zeigt sich heute eine Tendenz zu Diagrammen und Zeichen symbolhaften Charakters. Auch das entspricht durchaus der aufgezeigten Entwicklungslinie: wenn die Stadt für uns in erster Linie ein soziologisches und geistiges Problem ist, so liegt auch dessen Lösung auf der geistigen Ebene und ist der bildlichen Darstellung nur bedingt zugänglich. In dem Maße, in dem die Vielschichtigkeit der städtebaulichen Aufgabenstellung erkannt wird, verschärft sich die Problematik, die im Fehlen eines bauherrlichen Willens liegt. Wo die Möglichkeit einer Wechselwirkung zwischen dem Planenden und seinem Bauherrn nicht gegeben ist, besteht die Gefahr, daß die Ziele und Maßstäbe der Planung allzu subjektiv gewertet werden. Der einzige überzeugende Ausweg scheint darin zu liegen, die Voraussetzungen zur Formung eines solchen bauherrlichen Willens zu schaffen. Welche Schwierigkeiten diesem Ziel entgegenstehen, ist angedeutet worden; selbst wenn sie zu überwinden sind, wird

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der Planer nicht mit einer lückenlosen Weisung rechnen dürfen. So wird seine Rolle stets eine doppelte sein: muß einerseits von ihm gefordert werden, daß er im Bewußtsein seiner Grenzen um äußerste Objektivität bemüht sei, so gehört es andererseits untrennbar zu seiner Arbeit, in den Auseinandersetzungen unserer Zeit Stellung zu nehmen und in eigener Verantwortung seinen Beitrag zu dem zu leisten, was ihm als eine bessere Zukunft erscheint.

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Modellvorstellungen zur Siedlungsstruktur in ihrer geschichtlichen Entwicklung Erschienen in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.) (1974): Zur Ordnung der Siedlungsstruktur, Forschungs- und Sitzungsberichte, Bd. 85, Stadtplanung 1, S. 1–34, Gebrüder Jänecke Verlag, Hannover. ISBN 3-779-250-748

I. Vorbemerkung 1 Im Rahmen des vorliegenden Sammelbandes, der in erster Linie auf die Erhellung der gegenwärtigen Situation und der aktuellen Probleme gerichtet ist, hat diese Studie nur eine begrenzte Aufgabe. So unerläßlich für das Verständnis der heutigen Lage eine Beschäftigung mit der Entwicklung ist, die zu ihr geführt hat, so wenig kann es hier um eine im

1

Die Literatur über die historische Entwicklung städtebaulicher Strukturmodelle ist nicht umfangreich. Hervorzuheben ist die Schrift von T. Reiner, The Place of the Ideal Community in Urban Planning, Philadelphia 1963, die einen systematischen Vergleich solcher Vorschläge enthält. Ergänzendes Material, wenn auch weniger systematisch verarbeitet, findet sich bei H. Schoof, Idealstädte und Stadtmodelle als theoretische Planungskonzepte, Karlsruhe 1965. Einen guten Überblick über die wichtigsten Vorschläge zwischen 1880 und etwa 1930 vermittelt W. Ostrowski, L’urbanisme contemporain, Paris 1968. Auch R. Wurzer, (Über die funktionelle Gliederung des Stadtkörpers, in: Raumplanungsseminare 1962, 1963, 1964, Schriftenreihe des Instituts für Städtebau, Raumplanung u. Raumordnung an der Technischen Hochschule Wien, Bd. 4, Wien 1967) faßt die Entwicklungsgeschichte knapp und übersichtlich zusammen. Eine sehr lesenswerte, umfassend angelegte kritische Diskussion städtebaulicher Strukturvorstellungen und ihrer Beziehung zur Gesellschaftsordnung enthält das Buch von Paul und Percival Goodman, Communitas, Chicago 1947.

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enzyklopädischen Sinne vollständige Darstellung gehen. Es ist also nicht Aufgabe der vorliegenden Untersuchung, Stadt- und Siedlungsmodelle der Vergangenheit für alle in Betracht kommenden Zeitabschnitte mit gleicher Intensität zu durchleuchten. Das Ziel ist vielmehr bescheidener: es soll den geschichtlichen Wurzeln jener Planungskonzepte nachgespürt werden, die im Städtebau des 20. Jahrhunderts eine Rolle gespielt haben oder noch spielen. Was zu dieser Zeit bereits von den gesellschaftlichen und den technischen Realitäten überholt war, wird demgegenüber nur gestreift werden können. Die entscheidende Zäsur bildet hier – wie bei so vielen anderen Aspekten unserer Entwicklung – die industrielle Revolution. Erst mit ihr sind diejenigen Nutzungskategorien des städtischen Gefüges aufgetaucht, die heute die Grundelemente städtebaulicher Strukturmodelle darzustellen pflegen: Wohnstätten, Arbeitsstätten, zentrale Einrichtungen, Freiflächen. Warum daraus erst viel später – um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – Planungskategorien von rechtlicher und sachlicher Bedeutung wurden, wird noch zu erörtern sein. Die Bauwerke der vorindustriellen Gesellschaft – von öffentlichen Gebäuden abgesehen – vereinten in aller Regel noch Wohn- und Arbeitsstätten unter einem Dach oder doch in unmittelbarer räumlicher Nachbarschaft. Das gilt sowohl für den ländlichen Raum als auch für die Stadt, deren bauliches Gefüge darum weit homogener war als das der heutigen Stadt. Gleichwohl war es nicht undifferenziert: Soziale Schichtungen zeichneten sich ebenso wie die Standorte verschiedener Berufsgruppen im Stadtgefüge ab; das Grundprinzip der Arbeitsteiligkeit, Daseinsgrundlage der Industriegesellschaft, schlug sich bereits in der Struktur der vorindustriellen Stadt nieder. Wieweit solchen Strukturen ein umfassender Ordnungsgedanke zugrundelag, hat die stadtbaugeschichtliche Literatur in ähnlicher Weise beschäftigt wie die Frage nach der bewußten Komposition von Straßenund Platzräumen mittelalterlicher Städte. Die Unterscheidung zwischen „gegründeten“ und „gewachsenen“ Städten geht auf solche Untersuchungen zurück; diese Differenzierung stützt sich im wesentlichen auf die ablesbare Rationalität des Stadtgrundrisses. So tragen Rottweil, Freudenstadt, Mannheim, Karlsruhe eindeutig das Signum der gegründeten Stadt. Gleichwohl ist diese Antithese etwas künstlich, wenn sie als Zweiteilung gemeint ist. Es gibt eine Fülle von Mischformen, und fast alle

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Vorbemerkung

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„gewachsenen“ Städte in Europa enthalten Elemente der „Gründung“ und „Planung“, wenn auch meist in vielfacher Überlagerung. Soweit sich in der vorindustriellen Zeit Ordnungsgedanken für das Stadtgefüge verfolgen lassen, die sich bis zu Modellvorstellungen konkretisieren – der hippodamische Straßenraster, die Idealstädte der Renaissance, die geometrischen Ordnungen des landesfürstlichen Städtebaues –, beschränken sie sich im wesentlichen auf Straßensysteme, also auf einen Infrastrukturrahmen, der mit relativ homogenen Elementen gefüllt wird. Das gilt natürlich nicht uneingeschränkt; einzelne qualitativ ausgezeichnete Elemente – wie Kirche, Schloß oder Rathaus – sind häufig auch durch ihren Standort innerhalb eines solchen Rahmens deutlich hervorgehoben. Teilweise ist das Straßennetz sogar unmittelbar auf sie bezogen, wie bei Dürers Idealstadt oder in Karlsruhe – weniger zwingend in Mannheim – auf das Schloß. In anderen Fällen sind, wie Gebhard in seiner Untersuchung über die Stadtgrundrisse von Dinkelsbühl, Nördlingen, Rothenburg und Donauwörth 2 nachgewiesen hat, solche besonderen Elemente – das Rathaus etwa oder das Kornhaus – in subtiler Weise spezifischen Punkten des Straßennetzes zugeordnet. Ob man auch bei solchen „informellen“, also nicht geometrisch bestimmten Anordnungen das Wirken genereller, gleichsam allgemeinverbindlicher Ordnungsvorstellungen voraussetzen kann oder ob es sich jeweils um aus der örtlichen Situation entwickelte Einzellösungen handelt, mag hier dahingestellt bleiben. Mit der Renaissance indessen mehren sich eindeutige Zeugnisse für einen ausgeprägten Ordnungswillen, wie zahlreiche landesfürstliche Gründungen – Karlshafen an der Weser oder Friedrichstadt in Schleswig-Holstein – belegen. Aus diesem Geiste ist auch eines der wenigen schriftlichen Dokumente des Städtebaues im 18. Jahrhundert erwachsen, das Buch des im damals dänischen Altona wirkenden Joh. Peter Willebrand mit dem eindrucksvollen Titel: „Grundriß einer schönen Stadt, in Absicht ihrer Anlage und Einrichtung zur Bequemlichkeit, zum Vergnügen, zum Anwachs und zur Erhaltung ihrer Einwohner nach bekannten Mustern entworfen“ 3.

2

Gebhard, H., System, Element und Struktur in Kerngebieten alter Städte, Stuttgart 1969. 3 Willebrand, J. P., Grundriß einer schönen Stadt …, Hamburg 1775.

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Allerdings täuscht der Begriff „Grundriß“ im Titel insofern, als über den physischen Stadtgrundriß kaum mehr ausgesagt wird, als „daß ihrer Natur nach eine Stadt, welche in der Ründe liegt, allem Ansehen nach für die Bewohner bequemer sein muß, als eine ins Gevierte oder in der Länge erbaute Stadt“; außerdem erwähnt der Verfasser die „Regel, daß die Gassen einer Stadt einem durchgehauenen Thiergarten ähnlich sehen müssen, dessen Hauptwege alle auf einen großen regelmäßigen Mittelplatz zu führen pflegen“ 4. Ausführlich beschäftigt sich Willebrand mit den Straßen und Wegen zur Stadt und in den Vorstädten, wobei er so fortschrittliche Vorschläge macht wie die Einrichtung von Einbahnstraßen oder von getrennten Fußwegen, gesichert „gegen Eintritt des Viehes und der Reuter“. Das Schwergewicht der Ausführungen liegt bei den Einrichtungen von öffentlicher Bedeutung, angefangen von den „Hauptgebäuden“ wie Rathaus, Kirchen und Schulen über die „öffentlichen Ergötzlichkeiten“ wie Schauspiel, Konzert und Billard-Häuser bis zu den „Bequemlichkeits-Anstalten“, unter die der Verfasser beispielsweise Post- und Fuhranstalten und Garküchen rechnet. Auch die ausführliche Auseinandersetzung mit den Maßnahmen, die zur Förderung der Industrieansiedlung in Betracht kommen, zeigt, daß das Interesse des Verfassers vor allem dem gilt, was man heute als administrative Maßnahmen zur Stärkung der Wirtschaftskraft und der Attraktivität bezeichnen würde.

II. Die frühindustrielle Siedlungsstruktur Die industrielle Revolution setzt der Vorherrschaft des homogenen Grundelementes der vorindustriellen Stadt – des Bürgerhauses, in dem sich Wohn- und Arbeitsstätte unter einem Dach vereinen – ein Ende. Die neuen Arbeitsstätten sprengten den Maßstab, ihre Trennung von den Wohnstätten ergab sich zwangsläufig. Man mag darüber spekulieren, wieweit der Hochkapitalismus diese Tendenz verstärkt hat und wieweit in ihr ein Symptom der „Entfremdung“ zu sehen ist. Jedenfalls zeigt ein Blick auf die Siedlungskonzepte der utopischen Sozialisten, auf Robert Owens Siedlungselemente mit ihrer Mischung von landwirtschaftlicher 4

A. a. O., S. 127.

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und industrieller Tätigkeit, auf Fouriers „Phalanstère“ wie auf Godins „Familistère“, daß hier ein andersartiger Versuch gemacht wird – gleichsam eine Extrapolation des traditionellen, Wohn- und Arbeitsstätte in sich vereinenden Hauses in einen erheblich größeren Maßstab hinein. Indessen bleibt diese Vorstellung praktisch ohne Einfluß auf die Siedlungsenwicklung des 19. Jahrhunderts. Die Stadt der Jahrhundertmitte braucht zur Funktionsfähigkeit Straßenbau und Abwasserbeseitigung, und so sind auch noch die umfangreichen Bebauungspläne der zweiten Hälfte des Jahrhunderts – wie Hobrechts Plan für Berlin – durchweg Straßenpläne, allenfalls angereichert mit einigen Platzelementen, die meist dem großen Vorbild der Zeit, dem Paris Haussmanns, entlehnt sind. Nutzungsart und Nutzungsmaß spielen keine Rolle, und auch die Hervorhebung von Standorten öffentlicher Gebäude im Straßenplan hat keinen strukturell-funktionellen Bezug, sondern soll Blickpunkte für Straßenperspektiven liefern. Die Fachdiskussion wird beherrscht von der Erörterung der relativen Vor- und Nachteile verschiedener Straßensysteme; die Nutzung der Flächen hinter den Straßenfluchtlinien wird dem freien Spiel der Kräfte überlassen. Man erwartet, daß auch hier der Boden zum besten Wirt geht und daß damit der Rationälitat der Stadtstruktur der beste Dienst erwiesen wird. So ist es kennzeichnend, daß noch in den Diagrammen, mit denen Möhring, Eberstadt und Petersen im Jahre 1910 ihren Wettbewerbsentwurf für Berlin erläuterten 5, die Stadtfläche zwar nicht ganz homogen dargestellt ist, aber in ihren Schraffurstufen offenkundig nur eine generelle Aussage über die nach außen abnehmende Dichte enthalten soll. Damit ist in der Tat eine Wachstums- und Strukturgesetzlichkeit der konzentrischen Stadt angedeutet, die mit ihrer nach außen abnehmenden Nutzungsintensität eine deutliche Analogie zu den Thünenschen Ringen aufweist 6. Vielleicht ist es der stärkeren Überlagerung dieser Gesetzlichkeiten durch die historisch gewachsene Substanz der alten Städte, vielleicht aber auch nur dem unterschiedlichen Blickwinkel der Wissenschaft zuzuschreiben, daß die ersten Versuche zur theoretischen Durchdringung des Stadtwachstums und der Stadtstruktur nicht 5

Eberstadt, R.; Möhring, B. und Petersen, R., Groß-Berlin. Ein Programm für die Planung der neuzeitlichen Großstadt, Berlin 1910. 6 Thünen, J. H. v., Der isolierte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie, Jena 1930.

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in Europa, sondern in den Vereinigten Staaten unternommen wurden – allerdings erst in unserem Jahrhundert. So sieht Burgess die Stadtstruktur als ein Gefüge konzentrischer Ringe, deren unterschiedliche Nutzung durch die nach außen abfallende Standortgunst bedingt ist. Dies Modell ist jedoch nicht statisch konzipiert; es trägt vielmehr dem Stadtwachstum Rechnung, indem es den Verdrängungsprozeß wirtschaftlich schwächerer Nutzungen durch wirtschaftlich stärkere vom Zentrum her erläutert. Burgess liefert damit zugleich eine Theorie der Slumbildung: die „Übergangszone“ zwischen zentralen Nutzungen und umgebenden Wohnnutzungen leitet ihre Ertragserwartungen bereits aus der künftigen City-Nutzung ab, für die es ganz unerheblich ist, ob die alte Wohnsubstanz pfleglich behandelt wird oder nicht; darin liegt der Anreiz zur Verwahrlosung unter gleichzeitiger wirtschaftlicher Ausbeutung 7. Hoyt geht dagegen von einem ganz anderen Ansatz aus: nach seiner Theorie führt das Stadtwachstum zu einer sektoralen Differenzierung in dem Sinne, daß die verschiedenen Nutzungen sich im Regelfalle stadtauswärts ausdehnen, so daß sich etwa in eine Richtung die Gewerbegebiete, in eine andere die bevorzugten Wohngebiete und wieder in andere Richtungen die Wohngebiete anderer Bevölkerungsgruppen erstrecken 8. Die Wirklichkeit der amerikanischen Städte läßt erkennen, daß in jeder konkreten Situation diese beiden theoretisch isolierten Tendenzen am Werke sind, wenn auch jeweils in unterschiedlicher Kombination. Dabei dürfte in der Regel die Ausprägung der konzentrischen Ringe überwiegen. Diesen empirisch abgeleiteten Modellen steht in Deutschland eine Anzahl normativer Ansätze zur Darstellung der Stadtstruktur gegenüber, die offenbar erstmalig um die Jahrhundertwende zu modellartigen Konzepten zusammengeschlossen werden. Vorher bleibt es in der Regel bei partiellen Aussagen – so etwa bei Lotze in seiner „Geschichte der Ästhetik in Deutschland“, bei Bruch in seiner Kritik des Berliner Bebauungsplans und bei der Gräfin Dohna („Arminius“) in ihrem Buch über die Wohnungsnot in den Großstädten, in dem sich allerdings zugleich die Forde7

Burgess, E. W., The Growth of the City. In: Park, R. E.; Burgess, E. W. und McKenzie, R. D., The City, Chicago 1925. 8 Hoyt, H., The Structure and Growth of Residential Neighborhoods in American Cities, 1939.

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rung nach einer „gesunden Theorie über die Architektur der Großstädte sowie der Städte überhaupt“ findet 9. Lotze sieht die Bauten der Großstadt vorwiegend als „Geschäftsraum oder als Herberge einer veränderlichen Bevölkerung, die nicht hier verlangen kann, ihre individuelle Eigenart in äußerlicher Erscheinung vollständig auszuleben“. Dementsprechend sollten „auch die Bauwerke auf individuelle Selbständigkeit verzichten und Schönheit nur durch die malerischen und imposanten Massenwirkungen suchen, welche die künstlerisch erfundene Anordnung der im einzelnen gleichartigen hervorbringen kann … An einzelnen wohlverteilten Brennpunkten müßten die monumentalen Bauwerke stehen … ; diese Plätze würden zu verbinden sein durch Gebäudereihen und Straßen, die … in ihrer uniformen Erscheinung die massenhaft zusammengefaßte Lebenskraft und Regsamkeit der Bevölkerung versinnlichten …“ 10. Gegenüber diesem ästhetischen Ansatz entwickelt Bruch eine Reihe funktioneller und struktureller Vorschläge, die seinen klaren Blick für die Probleme des Großstadtwachstums belegen und erst Jahrzehnte später ihren festen Platz in der städtebaulichen Diskussion fanden. So wendet er sich gegen das, was ihm als übermäßige Zentralisierung Berlins erscheint; statt dessen möchte er die einzelnen Gemeinden im Sinne von „Trabanten“ – dies ist vermutlich die erste Verwendung dieses Begriffs im städtebaulichen Zusammenhang – entwickelt sehen. Zugleich wendet er sich gegen die im Bebauungsplan vorgesehenen großen Plätze – frei gelassene Blockgevierte – und fordert statt dessen einerseits viele kleine Stadtplätze und andererseits größere Grünzüge gleichsam als Teile der freien Landschaft: „Wiesen mit Baum- und Buschgruppen“ 11. Auch in dem umfassender angelegten, in erster Linie sozialpolitisch motivierten Buch der Gräfin Dohna bezieht sich der wichtigste Beitrag zur Stadtstruktur auf die Grünflächenpolitik. Hier taucht – lange vor Howard – die Forderung nach einem dauernd zu sichernden Grüngürtel auf, der in einer Breite von einer halben preußischen Meile, also fast vier 9

Arminius, Die Großstädte in ihrer Wohnungsnot und die Grundlagen einer durchgreifenden Abhilfe, Leipzig 1874, S. 10. 10 Lotze, H., Geschichte der Ästhetik in Deutschland, Stuttgart 1868, S. 548 f. 11 Bruch, E., Die Zukunft Berlins und der Bebauungsplan, in: Deutsche Bauzeitung 4 (1870).

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Kilometern, die kompakte Stadt umfassen sollte. Nur zu einem Fünftel für bestimmte Zwecke – in erster Linie öffentliche Einrichtungen und Arbeitnehmerwohnungen – bebaubar, sollte dieser Ring vor allem der Erholung dienen 12.

III. Erste Ansätze zu struktureller Ordnung In der städtebaulichen Wirklichkeit finden die Vorschläge von Bruch und Arminius zunächst keinen Niederschlag. Auch die ersten Fachbücher über städtebauliche Fragen – von Baumeister, Sitte und Stübben 13 – enthalten noch keine Auseinandersetzung mit der Stadtstruktur in ihrer Gesamtheit; offenbar erscheint es noch als ein zu weitgehender – und von daher ohnehin zum Scheitern verurteilter – Eingriff in die Kräfte der Entwicklung, für sie einen Gesamtrahmen festzulegen. Der fachliche Konsensus der Zeit läßt sich mit einiger Klarheit aus einigen Beschlüssen und Resolutionen ablesen, die von städtebaulich interessierten Vereinigungen verabschiedet werden. So heißt es in den 1874 auf der Versammlung des „Verbandes Deutscher Architekten- und Ingenieur-Vereine“ beschlossenen „Grundzügen für Stadterweiterungen nach technischen, wirtschaftlichen und polizeilichen Beziehungen“ zu dem hier behandelten Thema 14: 1. Die Projektierung von Stadterweiterungen besteht wesentlich in der Feststellung der Grundzüge aller Verkehrsmittel: Straßen, Pferdebahnen, Dampfbahnen, Kanäle, die systematisch und deshalb in einer beträchtlichen Ausdehnung zu behandeln sind. 2. Das Straßennetz soll zunächst nur die Hauptlinien enthalten … Die untergeordnete Teilung ist jeweils nach dem Bedürfnis der näheren Zukunft vorzunehmen oder der Privattätigkeit zu überlassen. 3. Die Gruppierung verschiedenartiger Stadtteile soll durch geeignete Wahl der Situation und sonstiger charakteristischer Merkmale her12

A. a. O. Baumeister, R., Stadterweiterungen in technischer, baupolizeilicher und wirtschaftlicher Beziehung, Berlin 1876. – Sitte, C., Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Wien 1889. – Stübben, J., Der Städtebau, Darmstadt 1890. 14 Zitiert bei Stübben, a. a. O., 3. Auflage 1924, S. 699 f. 13

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beigeführt werden, zwangsweise nur durch sanitarische Vorschriften über Gewerbe. Dieser dritte Grundsatz allerdings wird in der Folgezeit in zunehmendem Maße durch die spürbaren Unzuträglichkeiten in Frage gestellt, die sich aus der engen räumlichen Nachbarschaft verschiedenster Nutzungen ergeben. Man erkennt, daß es allein mit der räumlichen Absonderung gefährlicher Betriebe, wie sie die Reichsgewerbeordnung vorschrieb, nicht getan ist und daß weitergehende Lenkungsmittel erforderlich sind. Die Antwort auf diese Problematik wird in der Staffelbauordnung gesehen, einer Vorschrift, die verschiedene Baugebietskategorien auszuweisen erlaubt, welche sich durch Differenzierung nach Art und Maß der Nutzung voneinander abheben. Es handelt sich dabei um Ortssatzungen, die neben den Fluchtliniengesetzen gelten; die gemeinsame Anwendung beider Vorschriften ergibt das, was man heute einen qualifizierten Bebauungsplan nennen würde. Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts beginnen sich solche Staffelbauordnungen durchzusetzen; in den 1895 beschlossenen „Leitsätzen des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege über Maßnahmen zur Herbeiführung eines gesundheitlich zweckmäßigen Ausbaues der Städte“ wird nach einer Erörterung der Bodenspekulation und der Grundstücksausschlachtung mit ihren für das Wohnen nachteiligen sozialen und gesundheitlichen Folgen dazu festgestellt: „Zu den Maßregeln, welche geeignet sind, diesen Mißständen in Zukunft entgegenzutreten, gehört die baupolizeiliche Anordnung, daß in den äußeren Teilen der Stadt weniger hoch und weniger dicht gebaut werde als in der Innenstadt … Bei der Abstufung der Bauordnung sind nach Maßgabe des voraussichtlichen Bedarfs und der örtlichen Verhältnisse auch solche Bezirke abzusondern, in welchen a. nur die offene Bauweise gestattet wird, b. der Bau und Betrieb von Fabriken und anderen lästigen gewerblichen Anstalten untersagt ist, c. der Bau und Betrieb von Fabriken begünstigt wird“15.

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Zitiert bei Stübben, a. a. O., S. 704 f.

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Hier wie bei den meisten anderen zeitgenössischen Aussagen liegt einer solchen Differenzierung noch keine andere Modellvorstellung zugrunde als die eines konzentrischen und kompakten, in seiner Dichte nach außen abnehmenden Stadtkörpers, wie ihn die tatsächliche Entwicklung nahezulegen schien. Gewiß hatte diese Stadt schon damals den Maßstab des Fußgängers überschritten, aber man hatte sich daran gewöhnt, die Verkehrslinien dem Stadtwachstum folgen zu lassen. Nur vereinzelt wurde der gegenteilige Weg propagiert: die Stadtform den Verkehrsmitteln anzupassen. Chambless’ „Roadtown“ 16 – die Stadt als Bündel von Reihenhausschlangen, durch deren Keller die Schnellbahn fährt – ist ein etwas skurriler, Soria y Matas weitaus früher konzipierte „Ciudad lineal“ ein viel realistischerer Ansatz zu solcher Strukturveränderung. Aus dem Blickwinkel der Gegenwart mag es allerdings verwunderlich scheinen, daß Soria y Mata seine auf die Straßenbahn orientierte Bandstadt nicht radial vom Stadtkern her, sondern im Sinne eines weiten Kreisbogens um die vorhandene Stadt herum entwickelt hat; vermutlich schlug sich darin eben jene Vorstellung des Grüngürtels nieder, die um die Jahrhundertwende zunehmend Anhänger gewann. Wenn Soria y Matas Gedanken auch nur zu einem kleinen Teil im Vorfeld Madrids verwirklicht wurden und im übrigen ohne unmittelbare Nachfolge blieben, so gebührt ihm doch das Verdienst, einen neuen Gedanken entwickelt zu haben, der erst Jahrzehnte später wieder aufgegriffen und vervollkommnet wurde 17. In einem anderen Sinne weicht Theodor Fritsch mit seiner Schrift „Die Stadt der Zukunft“ von den gängigen Vorstellungen ab: er entwickelt ein Modell einerseits für die Verteilung differenzierter Nutzungen im Stadtgefüge, andererseits für die Steuerung des Stadtwachstums, das, wie schon erwähnt, gerade für die konzentrisch angelegte Stadt besondere Probleme schuf 18. Fritsch bleibt im Grunde der konzentrischen Anordnung treu, nur will er sie sektoral entwickeln und dem Wachstum durch ständige Vergrößerung des Sektors bis hin zum vollen Kreis Rechnung tragen. Aufschlußreich ist die Reihenfolge seiner Zonen: Das Zentrum nehmen 16

Chambless, E., Roadtown, New York 1910. Soria, A. und M., Madrid Remendado y Madrid Nuevo, in: El Progresso, 6. März 1882. 18 Fritsch, Th, Die Stadt der Zukunft, Leipzig 1896. 17

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repräsentative öffentliche Gebäude, in Grün gebettet, ein; ihm folgt das Villenviertel für die reichen Bürger, dann die Zone mittleren bürgerlichen Wohlstandes, weiter die Arbeiterviertel und die Bereiche des Handwerks und der industriellen Betriebe, in denen auch der Bahnhof liegen soll. Das Zentrum ist also nicht funktionell, sondern allein repräsentativ verstanden; man fühlt sich an Lotzes Formulierung von den „monumentalen Bauwerken“ erinnert, die „die ewigen idealen Aufgaben der Kultur verherrlichen“. Erwähnenswert ist die Tatsache, daß Fritsch sein Grundmodell in einer Reihe von Skizzen abwandelt, deren eine das Prinzip keilförmig von außen in die Stadt eindringender Freiflächen darstellt – mehr als ein Jahrzehnt, ehe sich dieser Gedanke beim Wettbewerb für GroßBerlin Bahn bricht. Appelliert Fritsch vor allem an das Bedürfnis nach Ordnung innerhalb des städtischen Gefüges, ohne sich ausführlicher mit Fragen der Stadtgröße auseinanderzusetzen, so geht es Howard in seiner einflußreichen Schrift „To-Morrow – a Peaceful Path to Real Reform“ in erster Linie um die Stadtgröße, um die „Vereinigung der Vorzüge von Stadt und Land“ durch eine Lenkung der Verstädterungskräfte in Stadtneugründungen begrenzter Große 19. In diesem Gedanken – und nicht in der angedeuteten diagrammatischen Stadtstruktur, die ja auch bei den beiden Gründungen Letchworth und Welwyn verlassen wurde – liegt wohl die Wirkung des Vorschlags begründet; die Etikettierung als „Gartenstadt“ – zu ihrer Zeit zweifellos werbewirksam – hat allerdings bald zu Mißverständnissen geführt, die der weiteren Entwicklung im Wege standen. Immerhin sind die „New Towns“ um London direkte Nachfahren des von Howard propagierten regionalen Strukturkonzepts, das eine Anzahl von Trabantenstädten von je 30 000 Einwohnern im Umkreis einer (wenn auch nur knapp doppelt so großen) Kernstadt zeigte. Das Strukturmodell der „Gartenstadt“ selbst weist zwar die geschlossene konzentrische Form auf, die charakteristisch für die abstrahierende Darstellung der Stadt in jener Zeit ist, weicht aber in einem wesentlichen Punkte von der üblichen Abstufung von innen nach außen ab: in der Konzeption einer ringförmigen Zone zentraler Einrichtungen, an die nach innen wie nach außen Wohngebiete angrenzen. Fast könnte man von einer in sich ringförmig geschlossenen „Bandstadt“ sprechen, an de19

Howard, E., To-Morrow, London 1898.

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ren Wohnzonen sich nach innen das Stadtzentrum in einem Park – wie bei Fritsch mit repräsentativem Anspruch –, nach außen die Arbeitsstätten anschließen, während in der Mitte des Bandes die zentralen Einrichtungen der unteren Stufe liegen. Howard nimmt mit seinen sechs zwischen den Radialstraßen gelegenen und damit von Durchgangsverkehr freien „wards“ das in den zwanziger Jahren entwickelte Prinzip der Nachbarschaftseinheit in gewissem Sinne vorweg. Aus seinen Angaben über die Grundstücksgrößen läßt sich ein Durchschnittswert für die Nettowohndichte von 227 Einwohnern je ha ermitteln, die in den dichtesten Bereichen auf knapp 300 E/ha ansteigen kann. In zwei wesentlichen Punkten geht Howard von Annahmen aus, die durchaus den Gepflogenheiten und dem Geist der Zeit zuwiderlaufen: einmal soll der gesamte Grund und Boden im kommunalen Eigentum verbleiben, und zum anderen soll dem Wachstumsbedürfnis einer solchen Stadt über die vorgeplante Begrenzung hinaus kein Raum gegeben, sondern statt dessen eine weitere Trabantenstadt gegründet werden. Dieses Wachstum in „Quantensprüngen“ ist Bestandteil der meisten späteren Modellvorstellungen; es vermittelt zwischen dem Streben nach einem geordneten Zustand einerseits und der Realität des prozessualen Ablaufs andererseits.

IV. Modellvorstellungen des frühen 20. Jahrhunderts Die kompakte Großstadt des 19. Jahrhunderts findet zunächst nur noch wenige Nachfolger im Strukturmodell. Zu den bemerkenswertesten Beispielen gehört Le Corbusiers „Ville contemporaine“ aus dem Jahre 1922 mit einem stark verdichteten Hochhauskern. Als Strukturkonzept ist das von ihm vorgeschlagene Modell mit seinem geometrisch-formalistisch entwickelten Straßennetz („In Freiheit neigt der Mensch zur reinen Geometrie“) 20 und seinem räumlich weit abgesetzten Industriegebiet wenig ergiebig, zumal auch über die Standorte zentraler Einrichtungen kaum Aussagen gemacht werden. Eine gewisse Parallele dazu läßt sich noch in Hilberseimers Großstadtmodell aus dem Jahre 1927 erkennen, das allerdings sein Verfasser 20

Le Corbusier: Städtebau. Stuttgart 1919, S. 22.

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selbst später als Irrweg bezeichnet hat 21. Weit überwiegend hat sich um diese Zeit jedoch bereits die Vorstellung eines durch Grünflächen gegliederten Stadtgrundrisses durchgesetzt, seit dieses Prinzip im Wettbewerb für Groß-Berlin besondere Anerkennung gefunden hatte 22. Ein typisches Beispiel für ein solches konzentrisches Modell mit nach außen abnehmender Nutzungsintensität stammt von Paul Wolf aus dem Jahre 1919 23; ähnlich ist Heiligenthals Konzept einer Stadt mit dicht bebauter, ringförmig begrenzter Kernzone, über die hinaus dann nach Art von Speichen eines Rades mehrere Baubereiche geringerer Dichte hinausreichen, jeweils auf eine mittig liegende Straßenbahnlinie bezogen – eine Überlagerung des konzentrischen Modells mit dem Bandstadtgedanken. Einer dieser Arme ist als Industriegebiet vorgesehen; das Ganze ist ringförmig von den Rieselfeldern der Stadt eingeschlossen 24. Der strenge Bandstadtgedanke hat nach Soria y Mata in dem Russen Miljutin einen Protagonisten gefunden; sein Planungskonzept für Stalingrad ist gleichsam ein „klassisches“ Modell des Städtebaues. Vom Flußufer ausgehend, gliedert sich die Stadt in parallele bandförmige Zonen: Park, Wohnzone, Trenngrün mit Hauptverkehrsstraße, Arbeitsstätten, Eisenbahn, freie Landschaft. Kurze Wege zur Arbeitsstätte und zum Uferpark sind die positiven Seiten für den Bewohner; allerdings fehlt jeder hervorgehobene Standort für zentrale Einrichtungen. Man wird auch daran zweifeln können, ob eine am Großschiffahrtsweg gelegene Stadt wirklich auf Arbeitsstätten am Wasser verzichten kann – aber das ist eine Einzelheit, die dem Grundgedanken der Bandstadt keinen Abbruch tun könnte. Eine radikalere Tendenz dieser Zeit – nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland vor allem von Bruno Taut propagiert 25 – betrachtet die Auflösung der Städte als sinnvolles Planungsziel; dieser Gedanke mit seinem utopischen Unterton läßt sich schon vorher mehrfach außerhalb der Fachliteratur – so bei Peter Kropotkin und bei Herbert George Wells – 21

Hilberseimer, L., Entfaltung einer Planungsidee, Frankfurt/M. und Berlin 1963, S. 22. 22 Eberstadt, R., Möhring, B. und Petersen, R., a. a. O. 23 Wolf, P., Städtebau, Leipzig 1919. 24 Heiligenthal, R., Deutscher Städtebau, Heidelberg 1921. 25 Taut, B., Alpine Architektur, Hagen i. W. 1919.

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nachweisen 26. Auch wer solchen radikalen Vorstellungen der „Disurbanisten“ nicht folgt, sieht offenbar in der Größenbegrenzung und Gliederung der Großstadt einen Weg, ihren Übeln wirksam zu begegnen. Ein frühes, in vieler Hinsicht sehr subjektives Beispiel dafür ist Gloedens Vorschlag der Aufgliederung der Großstadt in eine Reihe von Teilstädten, die er jeweils verschiedenen Berufsgruppen vorbehalten sehen möchte 27. Sieht man von dieser reichlich eigenartigen Vorstellung ab – sie verrät wenig Einsicht in das Wesen der arbeitsteiligen Gesellschaft –, so könnte eine Gliederung der Großstadt in Einheiten von jeweils etwa 100 000 Einwohnern durchaus diskutabel sein; ähnliche Vorstellungen gewinnen in den zwanziger Jahren zunehmend an Boden.

V. Modellvorstellungen des mittleren 20. Jahrhunderts Vielleicht das kennzeichnendste Element, das die späten zwanziger Jahre bis hin zu den fünfzigern weitgehend beherrscht, ist das Modell der Nachbarschaftseinheit als Gliederungselement der großen Stadt. Seiner Entwicklungsgeschichte kann hier nicht im einzelnen nachgegangen werden; seine Wurzeln liegen sowohl in Europa (in Deutschland reichen sie bis zu Henrici und Hercher zurück 28 als auch in den Vereinigten Staaten, wo er durch soziologische Forschungen gefördert und durch das Planungselement des „Superblocks“, des vom Durchgangsverkehr befreiten Wohn-

26

Kropotkin, P., Landwirtschaft, Industrie und Handwerk, Berlin 1904. – Wells, H. G., Anticipations, London 1901. 27 Gloeden, E. Die Inflation der Großstädte und ihre Heilungsmöglichkeit. Berlin 1923. 28 Henrici, K., Beiträge zur praktischen Ästhetik im Städtebau, München o. J., S. 77. – Hercher, L., Großstadterweiterungen, Göttingen 1904, S. 32 ff. – In diesen Zusammenhang gehört der Hinweis, daß seitdem das Streben nach Aufgliederung der Großstadt in kleinere Einheiten, von einer großen Anzahl von Fachleuten aufgegriffen, zum festen Bestandteil der städtebaulichen Grundsätze wird. Hervorzuheben sind als Beiträge dazu: Fassbender, E., Städtebaukunde, Leipzig und Wien 1912. – Schumacher, F., Kulturpolitik, Jena 1920. – Hoepfner, K. A., Grundbegriffe des Städtebaues, Berlin 1921. – Fischer, Th., Die Stadt, in: Wissenschaftliche Vortragsreihe, TH München 1928.

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bereichs, ergänzt wurde 29. Dabei überlagerten sich sozialpolitische Motivationen – Schaffung kleinerer Gemeinschaften innerhalb der Anonymität der Großstadt – mit den funktionellen Erwägungen der Abstimmung auf Schuleinzugsbereiche und auf Ladenversorgung in Fußwegentfernung. Man könnte die Nachbarschaftseinheit als ersten Niederschlag einer Beschäftigung mit den zentralen Einrichtungen im Städtebau interpretieren, nachdem zuvor anfangs lediglich der Bezug von Bauflächen und Freiflächen, später auch der von Wohnflächen und Arbeitsflächen im Mittelpunkt des städtebaulichen Interesses gestanden hatte. Die Kombination dieses Gliederungsgedankens mit dem Grundkonzept der Bandstadt ist das Thema der späteren Arbeiten Hilberseimers. Durch die Auflösung des homogenen Wohnbandes in Nachbarschaftseinheiten und Zuordnung entsprechender Gemeinschaftseinrichtungen gelangte er zu einem strengen Schema, das außer den kurzen Wegen zu Arbeitsstätten und Freiflächen auch die Erreichbarkeit der Schulen ohne Straßenüberquerung sicherte. In einer Fülle verschiedenartigster Kombinationen der gleichen Grundelemente hat Hilberseimer die umfassende Anwendbarkeit seines Prinzips zu verdeutlichen versucht 30. Allerdings bot sein Konzept keinen Ansatzpunkt zur Anordnung von zentralen Einrichtungen einer über die Nachbarschaftseinheit hinausreichenden Größenordnung. Gerade die Auseinandersetzung mit den Erfordernissen zentraler Einrichtungen auf unterschiedlichen Maßstabsebenen führt indessen zu einem neuen Grundmodell, das in verschiedenen Abwandlungen ausgearbeitet wird – dem Modell einer gegliederten und in ihren Einzelelementen auf ein hierarchisches Zentrensystem bezogenen Stadt. Gaston Bardet hat dazu Beiträge geleistet 31; die britischen „Neuen Städte“ der ersten Welle, wie etwa Crawley und Harlow, sind typische Beispiele dafür, und das bei Göderitz, Rainer und Hoffmann veröffentlichte Stadtschema

29

Perry, C., The Neighborhood Unit, in: Regional Survey of New York, Bd. 7, New York 1929. 30 Hilberseimer, L., a. a. O. 31 Bardet, G., Mission de l’urbanisme, Paris 1949.

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entspricht dem gleichen Grundgedanken 32. Schon vorher hatte Culemann ein auf dem gleichen System aufgebautes Modell vorgeschlagen, dessen formale Ausprägung – mit den asymmetrisch verschobenen Achsen – indessen willkürlich wirkt 33. Dieser Gedanke der hierarchischen Stufung zentraler Einrichtungen unter Zugrundelegung derjenigen Bevölkerungszahlen, die eine zweckmäßige Nutzung und Auslastung der jeweiligen Einrichtung sichert, kann einerseits als Fortführung des funktionellen Ansatzes der Nachbarschaftseinheit gelten; andererseits weist er unmittelbare Beziehungen zu dem Grundprinzip der zentralörtlichen Gliederung im größeren Raum auf, wie sie erstmalig 1933 von Christaller untersucht wurde 34. Daß die jeweiligen Einzugsbereiche dabei auch räumlich durch deutliche Zäsuren in der Bebauung getrennt werden, ist logisch kein zwingendes Erfordernis, sondern Niederschlag des Strebens nach Überschaubarkeit und Aufgliederung der Großstadt, das die erste Jahrhunderthälfte beherrschte. Auch das Trabantenstadtmodell – seit Howard mehrfach, teils mit leichten Abwandlungen, neu vorgetragen 35 – ist letzten Endes nur eine Spielart solcher Zentrenstufung, bei der die Trennzonen zwischen den „Stadtteilen“ besonders groß geworden sind. In deutlichem Gegensatz zu diesem Typus der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“ stehen die Grundkonzeptionen für die beiden britischen neuen Städte Cumbernauld und Hook – die letztere nicht ausgeführt –, die auf eine weitgehende Zusammenfassung der zentralen Einrichtungen und auf eine entsprechend kompakte Stadtstruktur hin angelegt wurden. Es liegt auf der Hand, daß der Anwendung dieses Prinzips Grenzen aus der Größenordnung der Stadt erwachsen; die für Hook vorgesehene Zahl von 100 000 Einwohnern dürfte für ein kompaktes Stadtkonzept kaum ohne Schaden nennenswert überschritten werden können 36.

32

Göderitz, J.; Hoffmann, H. und Rainer, R., Die gegliederte und aufgelockerte Stadt, Tübingen 1957. 33 Culemann, C., Funktion und Form in der Stadtgestaltung, Bremen 1956. 34 Christaller, W., Die zentralen Orte in Süddeutschland, Jena 1933. 35 Unwin, R., Town Planning in Practice, London 1909. – Purdom, C. B., The Building of Satellite Towns, London 1926. – Saarinen, E., The City, New York 1943. 36 LONDON COUNTY COUNCIL, The Planning of a New Town, London 1961.

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Zu den verbreitetsten Modellvorstellungen für den größeren Agglomerationsraum gehört die Verknüpfung verschiedener – u. U. auch funktionell differenzierter – Bandstadtelemente untereinander durch ein Zentrum oder zumindest durch eine zentrale Zone. Wir sahen, daß man schon Heiligenthals Modell in diese Kategorien einrechnen könnte; zu den späteren Ausprägungen dieses Gedankens gehört der MARS-Plan für London ebenso dazu wie das Stadtdiagramm Reichows 37. Die beiden wesentlichen Grundformen solcher Anordnungen sind einmal die radiale – man könnte vom Stern- oder Speichensystem sprechen – und zum anderen die auf eine Querachse bezogene Parallelanordnung, als „Kammsystem“ oder „Doppelkammsystem“ bezeichnet. Für die letztgenannte Kategorie stellt das Modell von J. L. Sert ein besonders prägnantes Beispiel dar 38. Während sich für dieses System allerdings kaum Beispiele in der Realität finden lassen, hat das Sternsystem die Entwicklungskonzepte mehrerer großer Städte geprägt oder doch zumindest zeitweilig maßgeblich beeinflußt. Erinnert sei an den „Fingerplan“ für Kopenhagen, an die Hamburger „Aufbauachsen“ und an das aus verschiedenen Alternativen ausgewählte Konzept für die amerikanische Bundeshauptstadt Washington. Auch das Regionalstadtmodell von Hillebrecht 39 gehört letztlich in diese Grundkategorie. Den ausgeprägten Sternmodellen haftet das Problem der Verkehrsverdichtung im Zentrum an, das um so brennender wird, je mehr auf Querverbindungen außerhalb des Zentrums verzichtet und – wie bei Reichow – ein Verästelungssystem bevorzugt wird. Das andere Extrem liegt in einem gleichmäßigen Straßenraster, der allerdings – ähnlich wie die Bandstadt – keinen unmittelbaren Ansatz für einen zentralen Standort bietet; das Kamm- und das Doppelkammsystem können insofern als Übergänge zwischen Stern und Raster angesehen werden. Als einprägsamstes Beispiel für eine solche Rasterstruktur kann Le Corbusiers Ent-

37

Fry, M., Fine Building, London 1936. – Reichow, H. B., Organische Stadtbaukunst, Braunschweig 1948. 38 Sert, J. L., Human Scale in City Planning, in: Zucker, P. (Hrsg.): New Architecture and City Planning, New York 1944. 39 Hillebrecht, R., Städtebau und Stadtentwicklung, in: Archiv für Kommunalwissenschaften, 1/1962.

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wurf für die Hauptstadt des Pandschab, Chandigarh, gelten 40. Eine Überlagerung schließlich dieses Rastersystems mit der Bandstruktur stellt das in den letzten Jahren von Buchanan vorgeschlagene System des „gerichteten Rasters“ dar, das allerdings seine Hauptstraßen sowohl nach der Bedeutung als auch nach der Funktion – Bedienung von Industrie und Zentren einerseits, von öffentlichen Einrichtungen andererseits – differenziert 41. Endlich bleibt noch ein Vorschlag zu erwähnen, der nicht mehr eigentlich unter die Stadtmodelle gerechnet werden kann, weil er die Auflösung der Stadt in das Land hinein voraussetzt: die „Broadacre City“ von Frank Lloyd Wright, die auf eine Dichte von zweieinhalb Personen je ha angelegt ist. Dieser Vorschlag muß wohl einerseits unter dem Vorzeichen der traditionellen amerikanischen Stadtfeindlichkeit, andererseits unter dem der Weiträumigkeit Amerikas gesehen werden; auf die europäische Diskussion blieb er ohne ernsthaften Einfluß 42.

VI. Zur systematischen Ordnung der Modellvorstellungen Sucht man die dargestellten Vorschläge in einen systematischen Zusammenhang zu bringen, so könnte man alle Modelle in einige große Gruppen einordnen, die sich letzten Endes auf die Grundelemente von Punkt, Band und Fläche reduzieren lassen. Diese Elemente – am deutlichsten ausgeprägt in den Prototypen der massierten konzentrischen Stadt, der reinen Bandstadt und der homogenen Flächensiedlung, die allerdings kaum noch die Bezeichnung Stadt verdient – können nun wiederum auf verschiedene Weise in sich differenziert und miteinander kombiniert werden. Das beigefügte Diagramm soll die Einordnung der einzelnen Modelltypen erleichtern und ihre Herkunft verdeutlichen; es erhebt keinen Anspruch auf systematische Abgeschlossenheit. Es zeigt, daß sich aus 40

Le Corbusier: Œuvre complète 1952–57, Zürich 1957, S. 50 ff. Buchanan, C. and Partners: South Hampshire Study, London 1966 (Zusammenfassung in: Stadtbauwelt 1969, S. 35 ff.). 42 Wright, F. L., When Democracy Builds, Chicago 1945 (deutsch: „Usonien“, Berlin 1950). 41

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dem konzentrischen System neben der punktförmigen Ballung das Trabantensystem und die Agglomeration gestufter Zentren ableiten lassen. Im Übergangsbereich zum Bandsystem finden wir die kompakte Stadt mit bandförmiger Zentralzone – entsprechend dem Entwurf für Hook, sowie die auf einen zentralen Punkt oder eine zentrale Zone ausgerichteten Bänder nach Art des Stern- oder Kammsystems. Dem abstrakten Modell der reinen, zentrumslosen Bandstadt, dem wir in der Wirklichkeit nicht begegnen, kommt der Vorschlag für Brasilia wohl noch am nächsten: ein Band mit einem mittig angeordneten Zentralbereich. Mit der Anordnung paralleler Bänder auf eine Zentralzone hin – also dem Kammsystem – nähert sich die Bandstadt bereits dem Konzept des flächendeckenden Rasters; auch der „gerichtete Raster“ liegt noch im Übergangsbereich zwischen beiden Grundmodellen. Auch zwischen Fläche und Punkt gibt es einen Übergangsbereich, der beispielsweise durch das Modell von Gloeden mit seiner flächenhaften Anhäufung von einzelnen Siedlungselementen markiert wird. Aber es wäre sicher unzureichend, wollte man hinter den drei Grundansätzen von Punkt, Band und Fläche nichts anderes sehen als die Anwendung unterschiedlicher geometrischer Elemente. Die konzentrische Siedlungsstruktur, erwachsen aus dem traditionellen Stadtkonzept, verdankt ihre Abwandlungen in Richtung auf das Satellitensystem und die Hierarchie gegliederter Zentren der Sorge vor übermäßiger Ballung, die nicht nur den Verlust des menschlichen Maßstabes, sondern auch eine Einbuße an leicht zugänglichen öffentlichen Einrichtungen im Gefolge haben mußte. Auf die Parallele zur Struktur der zentralen Orte im ländlichen Raum wurde bereits hingewiesen. Die Anziehungskraft des Bandstadtkonzeptes beruht einerseits auf der Möglichkeit, den Siedlungsraum fast beliebig auszudehnen, ohne den gleichen Problemen ausgesetzt zu sein wie bei einer ringförmigen Erweiterung der Stadt. Dem entspricht die Tatsache, daß die technische Infrastruktur in ihren wesentlichen Elementen bandförmig ist und deshalb durch eine bandförmige Siedlungsstruktur optimal ausgenutzt zu werden verspricht. Hinzu kommt weiterhin der einfach scheinende Bezug von Wohnstätte zur Arbeitsstätte einerseits, zum Freiraum andererseits. Das Konzept der flächenhaften Besiedlung schließlich geht in seiner extremen Ausprägung von der utopischen Vorstellung ubiquitärer Verfügbarkeit von Infrastruktur und Produktionsmöglichkeiten aus. In sei-

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nen differenzierteren Formen – dem Raster – entspricht es dem Streben nach einer flexibleren, weniger determinierten Nutzung der einzelnen Flächenelemente; wieweit dies Streben erfüllbar ist, muß vorerst dahingestellt bleiben. Sucht man zusammenfassend den Absichten und Motivationen nachzugehen, die bei der Konstruktion der dargelegten Modelle Pate gestanden haben, so lassen sich vereinfachend einige große Kategorien herausschälen. Das ist einmal der Infrastrukturbezug – der Grundgedanke, Straßen, Versorgungsleitungen und öffentliche Einrichtungen in einer Weise zu disponieren, daß ein möglichst günstiges Verhältnis von Aufwand zu Erfolg herbeigeführt wird. Diese Vorstellung läßt sich sowohl bei der Suche nach der geeigneten physischen Form der Stadt wie auch bei der Wahl ihrer Größenordnung – oder der Größe ihrer Gliederungselemente – nachweisen. Im Zusammenhang damit steht der Zuordnungsbezug – das Bemühen, den Wohnungen einerseits die zur Erholung notwendigen Freiflächen, andererseits die erforderlichen Arbeitsstätten und schließlich die Standorte zentraler Nutzungen in möglichst günstiger Entfernung zuzuordnen. Weiter könnte man von einem Wachstumsbezug sprechen, also von dem Versuch, die Modelle so anzuordnen, daß sie nicht allein statisch funktionsfähig, sondern auch erweiterbar und veränderbar sind. Dieser Bezug kommt auf verschiedene Weise zum Ausdruck: bei der Gartenstadt gerade durch die abschließende Fixierung des Trabanten, dessen Wachstumstendenzen dann an anderer Stelle aufzufangen sind; bei der Bandstadt dagegen durch die nahezu beliebige Addierbarkeit. Dieser Wachstumsbezug – der in einer gewissen Relation zur Infrastrukturausstattung steht – ist allerdings nicht in allen Modellen nachweisbar. Schließlich könnte man von einem sozialen Motivationsbereich sprechen, der verschiedene, zum Teil sogar gegenläufige Komponenten erkennen läßt. So verband sich mit dem Konzept der Nachbarschaftseinheit als Gliederungselement weithin die Vorstellung, mit der Förderung der Gemeinschaftsbildung auf dieser Ebene einem menschlichen Grundbedürfnis entgegenzukommen, ja sogar eine neue, bürgernahe Basis für die politische Willensbildung gewinnen zu können. Auf der anderen Seite steht der Gedanke, das vielfältige Angebot der Stadt zur Erweiterung der Wahl-

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freiheit für jeden Stadtbewohner nutzbar zu machen, also auf strenge Zuordnung verschiedener Nutzungen innerhalb eng begrenzter Bereiche zu verzichten. Diesen Fragen wird an anderer Stelle noch nachzugehen sein. Sie machen deutlich, wie eng städtebauliche Strukturvorstellungen mit der jeweils vorherrschenden Sicht der menschlichen Bedürfnisse und der für sie gültigen Prioritäten verknüpft sind.

VII. Beispiele von Strukturplänen Nachstehend sind einige entwicklungsgeschichtlich wichtige Strukturpläne – teils auf Stadtneugründungen, teils auf abstrakte Modellvorstellungen bezogen – zusammengestellt. Sie wurden im Interesse besserer Vergleichbarkeit auf einheitliche Signaturen umgezeichnet und dabei z. T. vereinfacht. Wegen der sehr unterschiedlichen Größenordnungen wurde auf eine Vereinheitlichung des Maßstabs verzichtet; er ergibt sich jeweils aus der dargestellten Meßstrecke. Der Begleittext nimmt in knapper Form auf die strukturellen Grundgedanken, die Nutzungsverteilung, das Verkehrssystem und die wichtigsten Aussagen über Größenordnung und Dichte Bezug. Die Reihenfolge ist nicht chronologisch, sondern – im Sinne des Diagramms zur Systematisierung verschiedenartiger Strukturmodelle – an den verschiedenen Grundtypen orientiert: Konzentrisches System, Bandstruktur und Flächenraster.

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Legende: WOHNGEBIETE

ARBEITSSTÄTTEN (GEWERBE UND INDUSTRIE)

ZENTRALE EINRICHTUNGEN

FREIFLÄCHEN HAUPTSTRASSEN BAHNEN

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Zu Abb. 1 bis 19: Typologie der Strukturmodelle

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Abbildung 1: Th. Fritsch: „Die Stadt der Zukunft“, Leipzig 1896 Grundgedanke: Konzentrisches Ordnungssystem, das sektoral fortschreitend ausgefüllt werden soll. Auf diesem Grundgedanken basieren verschiedene Planvarianten, unter denen der Verfasser der hier dargestellten (mit Freiflächensektoren) den Vorzug gibt. Nutzungsverteilung: Konzentrische Anordnung ringförmiger Nutzungszonen; in der Mitte öffentliche Gebäude, dann Wohnzonen mit abnehmender „Vornehmheit“ und zunehmender Dichte bis zu „Arbeiterwohngebieten“; außen Bahnhöfe und Fabriken. Kein eigentliches Geschäftszentrum. Keilförmige Freiflächen ins Radialsystem eingeordnet. Verkehrssystem: Radialschema der Hauptstraßen, verknüpft durch ringartige Straßenzüge. In den Maschen meist rechtwinklige Blocksysteme. Größenordnung und Dichte: Keine Angaben.

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Abbildung 2: Le Corbusier: „Urbanisme“, Paris 1924 Grundgedanke: Kompakte Stadtanlage mit geometrischer Grundstruktur und betonter Verdichtung. Nutzungsverteilung: Zentralzone hoher Dichte mit teils geschäftlich, teils zum Wohnen genutzten Hochhäusern; umgebende Wohngebiete im Mittelhochbau. Fläche für öffentliche Gebäude im Anschluß an die Zentralzone, Industriegebiet räumlich abgesetzt. Verkehrssystem: Geometrisch-formalistisches Straßensystem mit rechtwinkligem und Diagonalraster. Trennung der Verkehrsarten in verschiedene Ebenen. Größenordnung und Dichte: Einwohnerzahl 3 000 000; Nettowohndichte im Kern bis 3 000 Einwohner/ha, in den umliegenden Wohngebieten um 300.

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Abbildung 3: Ebenezer Howard: „To-Morrow“, London 1898 (später „Garden Cities of To-Morrow“) Grundgedanke: Aus dem Ziel, dem ungeordneten Stadtwachstum zu begegnen, erwächst einerseits das regionalplanerische Prinzip der Gründung neuer „Trabanten“-Städte, räumlich getrennt von der Kernstadt, andererseits der Grundsatz, die Größe der einzelnen neuen Stadt streng zu begrenzen. Nutzungsverteilung: Konzentrische Stadtanlage mit Park und öffentlichen Gebäuden in der Mitte, die durch eine Ringbahn erschlossenen Arbeitsstätten an der Peripherie. Dazwischen ein Ring von Wohngebieten, in

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„Wards“ gegliedert und in einer mittleren Zone mit Läden und Schulen ausgestattet. Außerhalb der Stadt ein auf die Dauer rechtlich gesicherter Grüngürtel, der neben landwirtschaftlichen auch stadtbezogene Nutzungen enthält. Verkehrssystem: Radial- und Ringstraßenschema mit einigen besonders herausgehobenen Straßenzügen. Bahnverbindung mit der Zentralstadt und mit anderen Trabanten. Größenordnung und Dichte: 30 000 Einwohner in der Stadt, 2 000 im zugeordneten Grüngürtel. 75 E/ha Bruttosiedlungsfläche ohne Grüngürtel, 225 E/ha Nettowohnbauland.

Abbildung 4: Erich Gloeden: „Die Inflation der Großstädte und ihre Heilungsmöglichkeit“, Berlin 1923 Grundgedanke: Aufgliederung der Großstadt in eine große Anzahl von Stadtzellen, die jeweils unterschiedlichen Funktionen dienen und einander ergänzen.

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Nutzungsverteilung: Im Zentrum jeder Zelle befinden sich Arbeitsstätten oder zentrale Einrichtungen; die umgebende Wohnzone nimmt die zugehörigen Wohnungen auf. Nutzungsschwerpunkte der Zellen folgen in räumlicher Verteilung keinem erkennbaren Prinzip. Verkehrssystem: Straßenzüge, von denen einzelne stärker herausgehoben sind, verbinden die Kernbereiche der Zellen untereinander. Gößenordnung und Dichte: 100 000 Einwohner je Stadtzelle; danach errechnete Bruttowohndichte um 300 E/ha.

Abbildung 5: Harlow: Neue Stadt in England (Flächennutzungsplan von Frederick Gibberd 1947) Grundgedanke: Aus hierarchisch gestuften Teilen aufgebautes, räumlich klar geliedertes Stadtgefüge mit großzügiger Flächenbemessung. Nutzungsverteilung: Nachbarschaftseinheiten auf Schuleinzugsbereiche bezogen, gruppieren sich jeweils zu Stadtteilen mit Ladenzentren und Hö-

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heren Schulen. Das Hauptzentrum liegt räumlich streng getrennt in der Mitte, sonstige Arbeitsstätten in eigenen Bereichen am Rand. Großzügige Freiflächen trennen die Baugebiete. Verkehrssystem: Weitmaschiges Netz von anbaufrei in Grünflächen zwischen den Stadtteilen geführten Hauptverkehrsstraßen, in die Haupterschließungsstraßen der Stadtteile – zwischen Nachbarschaftseinheiten geführt – eingehängt sind. Erschließungssystem in Nachbarschaften verhindert Durchgangsverkehr. Größenordnung und Dichte: Zunächst auf 80 000 Einwohner bemessen (Zielzahl später erhöht); Nachbarschaftseinheiten mit 5 000 und 10 000 Einwohnern. Bruttosiedlungsdichte rd. 33 E/ha, Nettowohndichte 125 E/ha.

Abbildung 6: J. Göderitz, R. Rainer, H. Hoffmann: „Die geliederte und aufgelockerte Stadt“, Tübingen 1957 Grundgedanke: Aus hierarchisch gestuften Teilen aufgebautes, räumlich klar gegliedertes Stadtgefüge. Die Darstellung bezieht sich zwar nur auf eine „Stadtzelle“, doch sind auch höhere Gliederungsstufen ins Auge gefaßt (s. u.).

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Modellvorstellungen zur Siedlungsstruktur

Nutzungsverteilung: Die um das Zentrum der Stadtzelle gruppierten Nachbarschaften gliedern sich ihrerseits in traubenförmig um das Nachbarschaftszentrum angeordnete Wohnbereiche. Arbeitsstätten im wesentlichen räumlich zusamengefaßt am Rand der Stadt. Trennung durch großzügige Freiflächen. Verkehrssystem: Reduzierung auf das Schema eines anbaufreien Straßenkreuzes, an das Nachbarschaften über Straßenschleifen angeschlossen sind. Größenordnung und Dichte: Ausgehend von 4 E/Whg. werden vorgeschlagen für den Wohnbereich 1 000 E, die Nachbarschaft 4–6 000 E, die Stadtzelle rund 16 000 E und den Stadtbezirk rund 48 000 E. Empfohlene Dichte 40–60 Whg/ha Nettowohnbauland, also rund 200 E/ha. Bruttofläche einer Nachbarschaft von 4 000 E auf dieser Grundlage rund 30 ha.

Abbildung 7: Cumbernauld: Neue Stadt in Schottland (Chefplaner Hugh Wilson; Planung um 1960) Grundgedanke: Kompakte Stadtanlage, deren Grundform zwar durch die Topographie mitbedingt ist, aber im wesentlichen auf das Streben nach enger räumlicher Beziehung von Zentrum und Wohnbereichen zurückgeht. Nutzungsverteilung: Bandförmige Zentralzone, allseits dicht von Wohnbebauung umgeben, die in sich nicht ablesbar untergliedert ist. Arbeitsstätten in zwei Industriegebieten außerhalb der Kernstadt, ebenso die Spiel- und Sportflächen.

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Verkehrssystem: Weitmaschiges Netz, anbaufrei und kreuzungsfrei, für Fernverkehr und Verbindung Zentrum – Industriegebiete. Ringförmige Haupterschließung für Wohngebiete. Größenordnung und Dichte: Angestrebte Gesamtbevölkerung 70 000 E, davon 50 000 in der Kernstadt. Nettowohndichte (einschließlich Straßenlandanteil gem. britischer Statistik) 200 E/ha. Bruttosiedlungsdichte 68 E/ha (147 qm/E).

Abbildung 8: Hook: Unausgeführte Neuplanung in England (London County Council; Planung um 1960) Grundgedanke: Konsequente Durchbildung einer auf eine bandförmige Zone zentraler Nutzungen (ein „lineares Zentrum“) bezogenen Stadtanlage. Nutzungsverteilung: Bandförmige Zentralzone, allseits dicht von Wohnbebauung umgeben, die in sich nicht ablesbar untergliedert ist. Außerhalb dieses Bereichs einzelne Wohngebiete geringerer Dichte mit eigenen Nebenzentren. Drei größere Industriegebiete am Stadtrand, kleinere Ar-

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Modellvorstellungen zur Siedlungsstruktur

beitsstättenbereiche in unmittelbarer Nähe der Wohngebiete. Freiflächen überwiegend am Rand des Stadtgebietes. Verkehrssystem: Ringförmige anbaufreie Hauptverkehrsstraße mit Erschließungsschleifen für die Wohngebiete. Durchmesserstraße zur Zentrumserschließung. Buslinien auf Hauptverkehrsstraßen über Zentrum. Größenordnung und Dichte: Vorgesehene Gesamtbevölkerung 100 000 E. Nettowohndichte (einschließlich Straßenlandanteil gem. britischer Statistik) von 250 E/ha (18 % der Bevölkerung) über 175 E/ha (45 %) bis 100 E/ha (37 %). Bruttosiedlungsdichte 38 E/ha (260 qm/E).

Abbildung 9: Roman Heiligenthal: „Deutscher Städtebau“, Heidelberg 1921 Grundgedanke: Stadtanlage mit ausgeprägtem Kern und sternförmig angeordneten äußeren Baugebieten, die in sich bandartig ausgebildet sind. Nutzungsverteilung: Kompaktes Zentrum, von einem dichten Wohngebietsring (Hochbauzone) umgeben. Die äußeren Baugebiete überwiegend als Wohngebiete (Flachbauzonen) ausgewiesen; ein (etwa 20 qkm großes)

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Beispiele von Strukturplänen

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Industriegebiet. Dazwischen keilförmige Freiflächen. Der umschließende Dreiviertelring stellt Rieselfelder dar. Verkehrssystem: Fernbahnen und Fluß erschließen den Stadtkern tangential. Radiale Schienenverkehrsmittel – im Kern z. T. tangential geführt – erschließen die äußeren Baugebiete. Größenordnung und Dichte: Keine Angaben.

Abbildung 10: S. E. Sanders, A. I. Rabuck: „New City Patterns“, New York 1946 Grundgedanke: Konzentrische Anlage, durch große Grünkeile zu einem Sternsystem mit je einem Nebenzentrum in den „Strahlen“ umgebildet. Nutzungsverteilung: Hauptzentrum im Mittelpunkt des Systems, umgeben von Wohnbebauung zunächst in kontinuierlichem Ring, dann in sechs durch radiale Grünflächen voneinander getrennte Stadtteile gegliedert, in deren Mitte je ein Nebenzentrum liegt. Gewerbe und Industrie teils am äußeren Rand dieser Stadtteile, teils in den Grünkeilen dazwischen.

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Modellvorstellungen zur Siedlungsstruktur

Verkehrssystem: Schematisches System aus Radial- und Ringstraßen, innerhalb der Stadtteile an ein Rastersystem angenähert. Ringbahn und Stichstrecken ins Stadtinnere. Größenordnung und Dichte: Abnehmende Dichte von den Zentren zur Peripherie. Stadtteile in Nachbarschaften unterteilt. Gesamteinwohnerzahl: 3 000 000.

Abbildung 11: H. B. Reichow: „Organsiche Stadtbaukunst“, Braunschweig 1948 Grundgedanke: Sternförmige Stadtanlage aus um ein Zentrum gruppierten bandartigen Siedlungsstreifen, innerhalb derer Wohn- und Arbeitsflächen einander zugeordnet sind.

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Beispiele von Strukturplänen

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Nutzungsverteilung: Zentrale Nutzungen im Kern; sonstige Arbeitsstätten in den Siedlungsbändern, teils mit Wohngebieten verzahnt, teils weiter abgesetzt (nach Störungsgrad). Siedlungsbezogene Freiflächen meist innerhalb der Bänder. Verkehrssystem: Rein radiales Verkehrssystem nach dem Verästelungsprinzip; nur die beiden Hauptstraßen jedes Siedlungsverbandes, die jeweils Arbeits- und Wohnstätten getrennt erschließen, sind doppelt miteinander verknüpft. Größenordnung und Dichte: Keine Angaben über Gesamtgröße und Dichte. Drei Gliederungsstufen: Siedlungszelle (1 000 bis 1 500 E), Nachbarschaft und Stadtbezirk.

Abbildung 12: Hillebrecht. „Städtebau und Stadtenwticklung“, Archiv für Kommunalwissenschaften 1962 Grundgedanke: Konzentrische Anlage, außerhalb des mehr flächenhaften inneren Bereiches in Sternform übergehend; Nebenzentren am Endpunkt der Strahlen.

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Modellvorstellungen zur Siedlungsstruktur

Nutzungsverteilung: Zentrum der Stadtregion umgeben von Wohngebieten hoher Dichte; in den Sternstrahlen Wohngebiete mittlerer Dichte am Schienenweg aufgereiht, z. T. in enger Zuordnung zu Gewerbe- und Industriegebieten. In den Nebenzentren wiederum kleine Kerngebiete, umgeben von stärker verdichteten Wohngebieten. Weiter außen (in etwa 40 km Entfernung) selbständige zentrale Orte. Zwischen den Baugebieten Freiflächen für öffentliche Zwecke; zwischen den Sternstrahlen landund forstwirtschaftlich genutzte Flächen. Verkehrssystem: Radiales Schnellbahnsystem mit Verästelungen, im Stadtkern unterirdisch. Hauptverkehrsstraßen anbaufrei, in kernnahen Bereichen als Tangenten zwischen den Stadtteilen, außen als Radialen nahe den Sternstrahlen. Größenordnung und Dichte: 1–2 Millionen Einwohner. Grundelement der Gliederung: Stadtbezirk mit 30 000 E. Drei Dichtestufen der Wohnflächen: 450 E/ha netto, 350 E/ha netto, 250 E/ha netto.

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Abbildung 13: N. A. Miljutin: Diagramm für Stalingrad, 1930 Grundgedanke: Bandförmige Siedlungszone entlang eines Verkehrsbandes mit direkter Zuordnung von Arbeitsstätten einerseits, freier Landschaft andererseits zu den Wohngebieten. Nutzungsverteilung: Eine Hauptverkehrsstraße, von einer abschirmenden Grünzone begleitet, trennt das Band der Wohnstätten von dem der Arbeitsstätten, das von der Eisenbahnstrecke begrenzt wird. Jenseits der Wohngebiete Freiflächen. Verkehrssystem: Parallele Verkehrsbänder von Schnellstraße und Eisenbahn. Größenordnung und Dichte: Keine Aussage.

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Modellvorstellungen zur Siedlungsstruktur

Abbildung 14: L. Hilberseimer: „The Ney City“, Chicago 1944 Grundgedanke: Bandförmige Siedlungszone entlang einer Verkehrsstraße, in Nachbarschaften gegliedert. Nur bei störenden Betrieben isolierte Wohngebiete in Luv der Hauptwindrichtung. Nutzungsverteilung: Am Verkehrsband auf der einen Seite die Arbeitsstätten, auf der anderen zunächst zentrale Einrichtungen geschäftlichen und administrativen Charakters für die Nachbarschaft, dahinter das Wohngebiet, dahinter freie Landschaft; öffentliche Freiflächen – in ihnen Schulen – als Gliederungselemente zwischen Nachbarschaften. Für Großstädte Anordnung mehrerer solcher Bänder, meist parallel zueinander. Verkehrssystem: Hauptverkehrsband mit Schnellstraße und örtlichem Verteiler, von diesem Wohngebiete und Arbeitsstätten nach dem Verästelungsprinzip erschlossen. Größenordnung und Dichte: Keine präzisen Angaben. Flachbau bevorzugt.

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Beispiele von Strukturplänen

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Abbildung 15: C. Cuelmann: „Funktion und Form in der Stadtgestaltung“, Bremen 1956 Grundgedanke: Bandstadt mit in sich leicht differenzierten Elementen gleicher Größenordnung und asymmetrisch angeordnetem Hauptzentrum. Nutzungsverteilung: Wohneinheiten mit zugehörigen zentralen Einrichtungen bandartig gereiht; Arbeitsstätten längs des Bandes unmittelbar zugeordnet. Eine der Wohneinheiten zur Aufnahme der übergeordneten zentralen Nutzungen abweichend proportioniert. Relativ bescheidener Freiflächenaufwand zur Gliederung und Trennung der Baugebiete. Verkehrssystem: Hauptverkehrsverband mit Schiene und Straße, von dieser die Schulbezirke nach dem Verästelungssystem erschlossen. Parallelstraße zum Hauptverkehrsverband verbindet Wohneinheiten direkt, an ihr zentrale Einrichtungen. Größenordnung und Dichte: Nachbarschaft um 400 Einwohner, Wohnviertel um 1 500 Einwohner, Schulbezirk um 5 000 Einwohner. Keine Dichteangabe außer Hinweis auf Bevorzugung des Flachbaues.

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Modellvorstellungen zur Siedlungsstruktur

Abbildung 16: Plan für London, entwickelt von M.A.R.S. (Modern Architects’ Research Society); M. Dry: „Fine Building“, London 1936 Grundgedanke: Doppelkammsystem, dessen Mittelachse Arbeitsstätten und die zentralen Einrichtungen der Metropole aufnimmt. Nutzungsverteilung: An den zentralen Regierungs-, Verwaltungs- und Geschäftsbereich (im wesentlichen City of Westminster und City of London) schließen nach Westen (Hafen) und Osten die Hauptarbeitsstättengebiete an. Die „Zinken“ des Kamms nehmen Wohngebiete beiderseits von Schnellbahnlinien auf; an ihren äußeren Enden befinden sich jeweils weitere Arbeitsstätten. Zwischen den Wohnbändern weite Grünbänder, die auch die öffentlichen Freiflächen in sich aufnehmen.

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Beispiele von Strukturplänen

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Verkehrssystem: Schnellbahnen und Hauptverkehrsstraßen beiderseits des zentralen Arbeitsstättenbereichs und inmitten der Wohnbänder; außen durch einen Verkehrsring aufgefangen. Größenordnung und Dichte: Konzipiert für Groß-London, also etwa 10 000 000 Einwohner. Innerhalb der Wohngebiete Gliederung in Stadteinheiten von etwa 50 000 Einwohnern, die wiederum in Nachbarschaftseinheiten von etwa 6 000 Einwohnern unterteilt sind. Dichtesteigerung gegenüber bestehender Situation durch intensivere Wohnnutzung (weitgehend Mittelhoch- und Hochbau anstatt Flachbau).

Abbildung 17: J. L. Sert: Stadtentwurf 1944, nach T. A. Reiner: „The Place of the Ideal Community in Urban Planning“; Philadelphia 1963 Grundgedanke: Bandförmige Gesamtstruktur nach dem Doppelkammsystem, aus gleichartigen Einheiten aufgebaut, die in sich Wohnungen, Arbeitsstätten und zentrale Einrichtungen enthalten. Nutzungsverteilung: Beiderseits einer bandförmigen Zentralzone sind die Wohngebiete angeordnet, deren Grundelemente (townships) wiederum jeweils ein eigenes „lineares Zentrum“ aufweisen. Gewerbliche Arbeitsstätten teils den Wohneinheiten zugeordnet, teils in größerer Entfernung großflächig zusammengefaßt. Freiflächen als Gliederungselemente zwischen den Nutzungszonen.

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Modellvorstellungen zur Siedlungsstruktur

Verkehrssystem: Anbaufreies Hauptstraßennetz mit zwei Straßen beiderseits der Zentralzone als „Rückgrat“ und Querachsen zwischen den Wohneinheiten. Übergang vom Band zum Raster. Größenordnung und Dichte: „Townships“ mit je 50–70 000 Einwohnern; weitere Unterteilung in Nachbarschaftseinheiten von 5–11 000 Einwohnern. Dichte mit etwa 200–300 Einwohnern je ha Wohnbauland ablesbar.

Abbildung 18: C. Buchmann: „South Hampshire Study“ Grundgedanke: Bandstadt ohne starre Bindung an eine Verkehrsachse; mehr Standortfreiheit durch Rasternetz funktionsdifferenzierter Straßen. Nutzungsverteilung: Innerhalb des Rasters weitgehend flexibel mit der Maßgabe, daß von den Hauptquerstraßen abwechselnd eine die Standorte für Arbeitsstätten und kommerzielle Einrichtungen, die andere die für Gemeinbedarfseinrichtungen aller Art erschließt. Verkehrssystem: Rastersystem mit Bündelung der Hauptverkehrsstraßen in Längsrichtung des Bandes. Größenordnung und Dichte: Aufnahmefähigkeit weitgehend flexibel. Bruttosiedlungsdichte etwa 37 Einwohner/ha.

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Abbildung 19: Le Corbusier: Chandigarh 1957 Grundgedanke: Stadtgefüge aus rechtwinkligen, addierbaren Zellen überwiegend gleichartiger Struktur. Einzelne Sondernutzungen außerhalb. Nutzungsverteilung: Eine Zelle nimmt übergeordnete zentrale Nutzungen auf, für die zusätzliche Standorte an den Hauptstraßen ausgewiesen sind. Die übrigen Zellen dienen der Wohnnutzung und den unmittelbar zugeordneten Einrichtungen. Ein zusammenhängendes System paralleler Freiflächen durchzieht die Zellen in der Längsrichtung. Das Regierungszentrum und ein großes Industriegebiet in Randlage außerhalb des Zellenrasters. Verkehrssystem: Rechtwinkliger Raster der Hauptverkehrsstraßen ohne ausgeprägte Differenzierung. Größenordnung und Dichte: Einwohnerzahl auf 150 000 konzipiert. Zelle mit jeweils 15 000 Einwohnern. Drei Dichtestufen: 75, 150, 200 Einwohner/ha.

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Modellvorstellungen zur Siedlungsstruktur

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Th. Fritsch: „Die Stadt der Zukunft“, Leipzig 1896 Abbildung 2: Le Corbusier: „Urbanisme“, Paris 1924 Abbildung 3: Ebenezer Howard: „To-Morrow“, London 1898 (später „Garden Cities of To-Morrow“) Abbildung 4: Erich Gloeden: „Die Inflation der Großstädte und ihre Heilungsmöglichkeit“, Berlin 1923 Abbildung 5: Harlow: Neue Stadt in England (Flächennutzungsplan von Frederick Gibberd 1947) Abbildung 6: J. Göderitz, R. Rainer, H. Hoffmann: „Die geliederte und aufgelockerte Stadt“, Tübingen 1957 Abbildung 7: Cumbernauld: Neue Stadt in Schottland (Chefplaner Hugh Wilson; Planung um 1960) Abbildung 8: Hook: Unausgeführte Neuplanung in England (London County Council; Planung um 1960) Abbildung 9: Roman Heiligenthal: „Deutscher Städtebau“, Heidelberg 1921 Abbildung 10: S. E. Sanders, A. I. Rabuck: „New City Patterns“; New York 1946 Abbildung 11: H. B. Reichow: „Organische Stadtbaukunst“, Braunschweig 1948 Abbildung 12: R. Hillebrecht. „Städtebau und Stadtentwicklung“, Archiv für Kommunalwissenschaften 1962 Abbildung 13: N. A. Miljutin: Diagramm für Stalingrad, 1930 Abbildung 14: L. Hilberseimer: „The Ney City“, Chicago 1944 Abbildung 15: C. Culemann: „Funktion und Form in der Stadtgestaltung“, Bremen 1956 Abbildung 16: Plan für London, entwickelt von M.A.R.S. (Modern Architects’ Research Society); M. Fry: „Fine Building“, London 1936 Abbildung 17: J. L. Sert: Stadtentwurf 1944, nach T. A. Reiner: „The Place of the Ideal Community in Urban Planning“; Philadelphia 1963 Abbildung 18: C. Buchanan: „South Hampshire Study“ Abbildung 19: Le Corbusier: Chandigarh 1957

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Erneuern, Bewahren, Verändern – Alternativen für die Umwelt? Festvortrag der Öffentlichen Jahressitzung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste am 3. Juli 1975. Erschienen in: Bayerische Akademie der Schönen Künste (Hrsg.) (1975): Reihe der Bayerischen Akademie der Schönen Künste Nr. 19 (Sammelband), S. 5–26, Verlag George D. W. Callwey, München. ISBN 3-766-703-595

Die Aktualität meines Themas – ob Bewahren, Erneuern und Verändern alternative Möglichkeiten für die Gestaltung unserer Umwelt darstellen – ist nicht erst durch das europäische Denkmalschutzjahr 1975 bedingt, in dem wir uns gegenwärtig befinden. Diese Aktualität ergibt sich vielmehr aus der Tatsache, daß wir offenbar zur Zeit in einer Phase der kritischen Auseinandersetzung mit dem Planen und Bauen der letzten Jahrzehnte stehen, die schon vor einiger Zeit begonnen hat und für die jene Resonanz, die das Denkmalschutzjahr allem Anschein nach in der Öffentlichkeit findet, ebenfalls ein Indiz darstellt. Diese Auseinandersetzung zu verfolgen, sich über ihre Hintergründe klarzuwerden, den eigenen Standpunkt in ihr zu suchen, ist gewiß eine legitime, ja notwendige Aufgabe einer Akademie der Schönen Künste. Denn auch ihr eigenes Wirken vollzieht sich ja in einem solchen Spannungsfeld von Bewahren, Erneuern und Verändern – und sie ist immer wieder aufs neue genötigt, sich die Forderung des Tages zu vergegenwärtigen und sich ihr zu stellen. Ich möchte also den Versuch einer Standortbestimmung in dem dargelegten Sinne unternehmen. Dabei will ich zunächst in großen Zügen jenes Spannungsverhältnis von Bewahren und Verändern nachzeichnen, wie es sich in der Entwicklung der letzten hundert Jahre mit Bezug auf unsere Umwelt darstellt, um dann der Frage nachzugehen, wie wir den gegenwärtigen Meinungsumschwung zugunsten der Bewahrung zu interpretieren und zu bewerten haben. Daraus möchte ich dann einige Schlußfolgerungen für das künftige Verhältnis der drei Themenbegriffe ableiten,

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die vielleicht auch für die Rolle der Akademie in dieser Zeit von Bedeutung sein können. Beginnen wir zunächst mit dem Begriff der Veränderung und der eigentümlichen Aufladung mit Wertgehalten, die er in den letzten Jahrzehnten erfahren hat. Veränderung als Inbegriff des Weltlaufs ist seit Heraklit immer wieder gesehen und beschrieben, beklagt und gepriesen worden; in der allgemeinen Diskussion aber wurde der Begriff meist in jenem neutralen Sinne verwandt, der ihm seinem Wesen nach anhaftet. Häufig sah man in dieser Veränderung eine ihr immanente Gesetzmäßigkeit walten – deus sive natura, Evolution, Fortschritt, oder wie immer man es bezeichnete. Es mag jetzt anderthalb Jahrzehnte her sein, daß dieser Begriff auch bei uns – etwas später als das Wort „change“ im angelsächsischen Sprachraum – eine ausgesprochen positive Nebenbedeutung erhielt: Veränderung löste überholte Strukturen auf – „Strukturwandel“ wurde um die gleiche Zeit zum oft gebrauchten Schlagwort –, Veränderung diente dem sozialen Ausgleich, Veränderung trug zu einer besser den neuen gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprechenden Umwelt bei. Es schien, als habe sich der Fortschrittsglaube des 19. Jahrhunderts unter Verzicht auf den Begriff des Fortschritts in das neue Gewand der „Veränderung“ gehüllt. Die Zeit um 1960 – das war die Zeit der kühnen Extrapolationen, in der das Jahr 2 000 modern wurde: immer weniger Arbeitszeit – bis hin zu jenen 40 000 Stunden im Leben, die einem Buch seinen Titel gaben 1, immer neue technische Errungenschaften, immer mehr Produktion, immer mehr Konsum. Die Publizistik zog kräftig mit: wo ein amerikanisches Buch sich noch mit dem vergleichsweise bescheidenen Untertitel „A Framework for Speculation“ zufrieden gab, hob die deutsche Übersetzung den Zeigefinger, wenn nicht gar den ganzen Arm: „Ihr werdet es erleben!“ 2 Und heute? Ist diese Veränderungseuphorie in sich zusammengebrochen? Oder erlebt sie nur eine Rezession? Jedenfalls scheint die Zeit der

1

Fourastié, J., Die vierzigtausend Stunden, Düsseldorf und Wien 1968. Kahn, H. und Wiener, A. J., The Year 2000. A framework for speculation on the next thirty-three years, New York, London 1967. Deutsche Übersetzung: Ihr werdet es erleben … Voraussagen der Wissenschaft bis zum Jahre 2000, Wien, München und Zürich 1968.

2

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naiven Extrapolationen vorbei, scheint eine nüchternere Bewertung der Veränderung Platz zu greifen. Wir kommen darauf noch zurück. Engen wir diese sehr allgemeinen Betrachtungen jetzt einmal ein auf die Auseinandersetzung mit der gebauten Umwelt, mit Architektur und Städtebau, so finden wir zumindest in den letzten hundert Jahren auch hier einen deutlichen Vorrang der Veränderungstendenz – selbst dort noch, wo das Bewahren einen hohen Stellenwert besitzt. So schrieb 1889 Camillo Sitte, der mit Nachdruck für die Orientierung des Städtebaues an den gestalterischen Qualitäten früherer Zeiten eintrat, es gehe nicht darum, „jede sogenannte malerische Schönheit alter Städteanlagen für moderne Zwecke neuerdings zu empfehlen, denn besonders auf diesem Gebiete gilt das Sprichwort: Not bricht Eisen. Was sich aus hygienischen oder anderen zwingenden Rücksichten als notwendig herausgestellt hat, das muß geschehen, und sollen darüber noch so viele malerische Motive über Bord geworfen werden müssen.“ 3 Tatsächlich läßt sich in der städtebaulichen Disziplin, die sich in dieser Zeit erst allmählich auszuformen begann, das Spannungsverhältnis zwischen Bewahren und Verändern schon sehr früh nachweisen. Wer sich um die Jahrhundertwende dieser Aufgabe verschrieb, den bewegte dazu in aller Regel die Unzufriedenheit mit der tatsächlichen Entwicklung der frühindustriellen Stadt, jener dynamischen Entwicklung, die die alten Maßstäbe und Größenordnungen entscheidend veränderte, neue Bauaufgaben und neue Bautechniken, aber auch eine Liberalisierung der behördlichen Regelungen mit sich brachte und damit die überkommenen Stadtbilder, ihre Harmonie und Geschlossenheit auflöste. Über die Mängel dieser frühtechnischen Stadt bestand weitgehend Einigkeit, nicht dagegen über den geeigneten Weg zu ihrer Behebung. Zwei deutlich unterschiedene Ansätze lassen sich erkennen: Der Versuch, zu den mit der Technisierung verlassenen Werten des kleinen Maßstabes, der überschaubaren Gemeinschaft, der örtlich geprägten Bauweise zurückzukehren, sie wenn nicht zu bewahren, so doch unter Einbeziehung der neuen Gegebenheiten zu erneuern – und andererseits die Auffassung, daß eben diese Technik weiter perfektioniert werden müsse, um den Menschen zu entlasten, die Stadt humaner zu machen: in diese Richtung 3

Sitte, C., Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Wien 1889, S. 16.

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weist etwa das Ideal der Hochhausstadt im Grünen, das in den zwanziger Jahren von Le Corbusier propagiert wurde und zumindest bis zur Internationalen Bauausstellung im Berliner Hansaviertel 1957 nachwirkte. Wie immer man diese beiden Gruppen genau abgrenzen mag – die französische Urbanistin Françoise Choay nennt sie die „Kulturalisten“ und die „Progressisten“ 4 beide standen der Stadt ihrer Zeit kritisch, wenn nicht ablehnend gegenüber, und so ist die Tatsache zu erklären – die manchen späteren Kritiker verwundert hat –, daß die Städtebauer von jener Stadt, an der sie bauten, offenbar nicht viel hielten, sondern auf ihre totale Veränderung hinarbeiteten. Martin Wagners These, 1934 formuliert, kennzeichnet diese Auffassung sehr deutlich: diese Art von Stadt werde in ihrer dritten Generation – 1930 bis 1960 – überwunden sein 5. Von einzelnen historisch geprägten Stadtbereichen und Baudenkmalen aus vorindustrieller Zeit abgesehen, schien diese Stadt nichts zu besitzen, was als bewahrenswert gelten konnte: Struktur und baulicher Ausdruck der Gründerzeitstadt schienen dem frühen 20. Jahrhundert – und keineswegs den Fachleuten allein – gleichermaßen verwerflich. Es ging allenfalls darum, ob die Veränderungsdynamik abgeschwächt und gleichsam umgekehrt werden sollte, um den Irrweg der industriellen Großstadt abzuschneiden und sie im Sinne der alten Werte zu erneuern – oder ob diese Dynamik eher noch gesteigert werden solle, um möglichst bald das andere Ufer des Stromes zu erreichen. Zu bewahren schienen in dieser Situation lediglich eben jene Zeugnisse der vorindustriellen Zeit, die entweder von ihrer Bedeutung her Denkmalrang besaßen oder auf bestimmte Weise städtebauliche Situationen prägten – Altstadtstraßen etwa –, die man als „Traditionsinseln“ in der neu zu entwickelnden Struktur erhalten wollte. Voraussetzung hierzu war die Möglichkeit technischer und hygienischer Sanierung wie in der Frankfurter oder der Kasseler Altstadt; wo dies nicht gegeben war, wie bei den Hamburger Gängevierteln, wichen sie spurlos der Neubebauung. Dieser grundlegende Optimismus des modernen Städtebaues war den retrospektiven Erneuerern wie den fortschrittlichen Veränderern, – also schlagwortartig vereinfacht, Schultze-Naumburg und dem Bauhaus – gemeinsam, die Zuversicht, eine bessere, schönere, lebenswertere Umwelt 4 5

Choay, F., L’urbanisme, utopies et réalités, Paris 1965. Wagner, M., Die neue Stadt im neuen Land, Berlin 1934, S. 24.

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schaffen zu können, als sie das neunzehnte Jahrhundert als ungeliebtes Erbe hinterlassen hatte – und wer heute durch die Krupp-Siedlung Margarethenhöhe in Essen oder durch die Frankfurter Römerstadt geht, wird sich noch immer von diesem Geist angeweht fühlen und Sympathie für ihn empfinden, sofern er nur ein wenig geschichtliches Gespür hat. Dieser gleiche Optimismus hat auch die Wiederaufbauphase der fünfziger Jahre geprägt; auch für unsere Städtebauer galt Churchills Wort über die Kriegsschäden in Englands Städten: A great disaster – but a great opportunity. Man suchte an die besten Leistungen der Weimarer Zeit anzuknüpfen, ohne noch recht zu erkennen, wieviel sich seitdem geändert hatte. Soweit der Neuaufbau alte Straßenzüge wiederaufnahm, ausgebrannte Umfassungsmauern wieder verwertete, tat er es eher aus Sparsamkeit denn aus Überzeugung, wenn es sich nicht gerade um wertvolle Substanz aus der Zeit vor etwa 1850 handelte. Neu war gleichbedeutend mit gut, und wenn erst die Wohnungsnot gebannt war, konnten die Reste der Gründerzeitbebauung den Sanierungsmaßnahmen preisgegeben werden und neuen, gesünderen, schöneren Wohnbauten Platz machen. Inzwischen haben sich die Bewertungen auf eigentümliche Weise verschoben. Während noch vor zehn Jahren die großen Mietskasernenviertel der Gründerzeit als potentielle Sanierungsgebiete mit dem Ziel des vollständigen Abbruchs und Neubaues angesehen wurden, scheint dieses Ziel heute nicht nur in weite Ferne gerückt, sondern im Wesen in Frage gestellt; ihre Erhaltung findet beredte Verfechter, und fast scheint es, als werde eine schematische Verallgemeinerung – „alles abbrechen“ – durch eine andere – „alles erhalten“ – abgelöst. Dabei überlagern sich offenbar mehrere Komponenten. Zunächst eine wirtschaftliche: jede Sanierung bedeutet Investitionsvernichtung, und manches an der vorhandenen Bausubstanz mag durchaus noch verwendungsfähig sein. Natürlich: Umbauarbeiten sind arbeitsintensiv, also teuer, und wenn die Kosten in die Nähe der Neubaukosten kommen, läge der Abbruch nahe, wenn nicht noch andere Gesichtspunkte hinzukämen. Das ist einmal der Gedanke, die Bewohner nicht zu verdrängen, sondern nach Möglichkeit im Gebiet wohnen zu lassen und damit die vorhandene Sozialstruktur zu erhalten. Ich muß mir versagen, hier den Parallelen zur baulichen Bewahrung nachzugehen – dem sinnvollen Grundgedanken und der Gefahr seiner sozialromantischen Überspitzung, denn es gibt natürlich auch Fälle, in denen die Erhaltung der spezifischen Sozialstruk-

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tur eines Gebiets weder im Interesse der Bewohner selbst noch in dem der Allgemeinheit läge. Ein drittes Motiv, das gegen die Flächensanierung spricht, ist die Neuentdeckung gestalterischer Qualitäten in den lange verachteten eklektizistischen Fassaden. Diese Erscheinung allein wäre wohl weniger wirksam, ginge sie nicht Hand in Hand mit einer wachsenden Skepsis gegenüber der Gestaltungskraft der modernen Architektur, einem Phänomen, auf das wir noch werden eingehen müssen. Jedenfalls mehren sich die Bestrebungen, die örtliche Individualität durch Erhaltung alter und vertrauter Bauten zu sichern, anstatt sie „gesichtslosen“ Neubauten preiszugeben. Allerdings sollte man sich wohl daran erinnern, daß jene Individualität, die sich in solchen Bauten verkörpert, im Grunde erst durch Zeitablauf, durch Gewöhnung gleichsam, wirksam geworden ist – denn zur Zeit ihrer Entstehung wurden die Gründerzeitbauten mit fast den gleichen Vokabeln gescholten, die wir heute häufig zur Charakterisierung der modernen Architektur benutzt finden: steril, monoton, seelenlos … Es ist also nicht die Form an sich (die ja auch damals kaum noch örtlich differenzierte Züge trug), sondern die Patina, die sie angenommen hat, und die Rolle, die sie in unserer Erlebniswelt – wenn auch nur als Hintergrund – spielt. Neues ist eben zwangsläufig fremd – auch wenn es formal gut ist. Aber was heißt heute „formal gut“? Ästhetik als Lehre vom Urteil über das Schöne – was ist davon noch gültig und wirksam geblieben? Allenfalls eine Kategorienlehre ohne inhaltliche Ausfüllung – die Inhalte sind fragwürdig, unverbindlich geworden. Das ästhetische Erlebnis der ersten Jahrhunderthälfte war die Befreiung von der eklektizistischen Formenlehre, von den hohl gewordenen Bedeutungsaussagen der historisierenden Ordnungen. An ihre Stelle traten – nach dem Zwischenspiel des Jugendstils – die großen klaren Flächen, die Demonstrationen der neuen konstruktiven Möglichkeiten, die Betonung dessen, was man unter Funktion verstand – der Versuch einer neuen Sinngebung, zumindest aber eine neue ästhetische Welterfahrung, aber alles im Grunde ohne Kanon, geprägt und zusammengefaßt durch die neue Aufbruchsstimmung – „vers une architecture“, wie Le Corbusier sagte, der Architektur als „Spiel der Formen im Licht“ interpretierte 6. Regeln zu geben suchten allenfalls noch 6

Le Corbusier, Vers une architecture, Paris 1923.

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die „Kulturalisten“, die um Erneuerung auf der Grundlage alter Werte Bemühten: Gestaltungsregeln bis hin zu bildlichen Gegenüberstellungen im Sinne von Falsch und Richtig. So etwas gab es noch vor wenigen Jahrzehnten – aber inzwischen ist es auch darum still geworden; es scheint, als gälten unserer Zeit so konkrete Aussagen als zu naiv und vordergründig. Wir haben uns auf eine Abstraktionsebene begeben, die kaum Ansatzpunkte für konkrete Gestaltung gibt; der schwindende Konsens über Wertungen wird durch das Bemühen um Quantifizierung ersetzt – durch die Birkhoffsche Formel für das ästhetische Maß 7, durch semiotische Untersuchungen bis hin zu dem mit Mitteln der Informationsästhetik geführten Nachweis, daß eine Gründerzeitfassade mit Säulchen und Kapitälchen, mit Putten und Karyatiden mehr „Information“ enthält als eine moderne Rasterfassade, damit also ästhetisch interessanter wird 8. Aber für das Urteil über „schön“ und „häßlich“ gibt das wenig her, und es ist sicher kein Zufall, daß die positive Wertung zumindest im Sprachgebrauch der Architekten selbst seit Jahrzehnten nicht mehr „schön“ heißt, sondern „gut“ oder „anständig“ – ohne daß allerdings diese Begriffe mit ihrem moralischen Unterton präziser zu definieren wären als der Begriff des „Schönen“. So stehen wir offenbar in einer Phase der Orientierungslosigkeit. Mit einer leichtzüngigen und nicht immer informierten Kritik am Neuaufbau der fünfziger Jahre – eben jener Zeit, die noch aus dem Erbe des Aufbruchsoptimismus lebte – wurde eine auf Urbanität, auf städtische Verdichtung und Verflechtung zielende Neuorientierung eingeleitet, deren Produkte heute, noch ehe sie alle an den Mann gebracht und bezogen sind, einer verwerfenden Kritik ausgesetzt sind, wie sie vorher nur der schlimmsten Gründerzeitphase zuteil geworden war. In der Tat ist die Parallele nicht so abwegig, denn die Mentalitäten hinter diesen Erscheinungen zweier verschiedener Zeitabschnitte sind ganz ähnlich. So ist der Elan zur Umgestaltung durch das Mittel der modernen Architektur, durch die Siedlungsform der neuen, der besser durchdachten Stadt weitgehend verlorengegangen; kürzlich konstatierte ein prominen7

Birkhoff, G. D., Quelques éléments mathématiques de l’art. Atti del congresso internazionale dei matematici, Bologna 1928, zit. bei Bense, a. a. O. 8 Vgl. Bense, M., Einführung in die informationstheoretische Ästhetik, Reinbek bei Hamburg 1969.

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ter Architekturkritiker das Ende der modernen Architektur. 9 Das mag dahingestellt bleiben, aber gewiß ist, daß die Beispiele neuer Städte, neuer Stadtteile, neuer Großsiedungen nicht mehr viel positives Echo finden – sie gelten als Retortenplanung, als steril, als brutal – einige von ihnen wie das Märkische Viertel in Berlin haben in der Planungskritik bereits den Rang klassischer Gegenbeispiele erreicht. Die sogenannten städtebaulichen Utopien sind nicht dazu angetan, Hoffnungen auf eine humanere Umwelt von morgen zu nähren – die meisten sind gedankenlose Extrapolationen technischer Möglichkeiten 10. Ich muß offen lassen, ob sich in anderen Künsten Parallelen zu dieser Situation ziehen lassen – in der Architektur und im Städtebau jedenfalls scheint es keine zündenden Zielvorstellungen einer „schönen neuen Welt“ zu geben. Unter diesen Umständen ist es sehr verständlich, daß das Anliegen der Bewahrung heute eine ungewöhnlich starke Resonanz findet. Aber handelt es sich bei diesem Phänomen tatsächlich um eine Rückbesinnung auf Werte – oder etwa nur um einen Rückschlag enttäuschter Erwartungen? Es mag noch zu früh sein für eine schlüssige Antwort; in jedem Falle ist die Wirkung zunächst positiv zu beurteilen, denn tatsächlich ist die Aufgabe der Bewahrung lange unterbewertet worden, ist trotz mancher Lippenbekenntnisse vielfach im Konflikt mit wirtschaftlicher oder politischer Dynamik auf der Strecke geblieben. Auf der anderen Seite drängt sich aber der Verdacht auf, es komme in der neuen Hochschätzung des Bewahrens auch so etwas wie eine Fluchtreaktion zum Ausdruck, eine Kapitulation vor der Aufgabe, unseren spezifischen Problemen mit einer auf sie zugeschnittenen Antwort zu begegnen. Betrachten wir das Verhältnis der Künste zum Bewahren, so gehört es zunächst nicht zu den unmittelbaren Anliegen des Künstlers: ihm geht es um das neu zu schaffende Werk, und auch wenn er ein sehr ausgeprägtes Verhältnis zum künstlerischen Erbe vergangener Zeiten besitzt, so bleibt doch dessen Bewahrung normalerweise anderen Berufsgruppen vorbehalten – dem Archivar, dem Historiker, dem Restaurator. Für den Künstler selbst dagegen gilt offenbar Schinkels bekanntes Wort, überall

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Schulz, E., Das kurze Leben der modernen Architektur, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. März 1975, S. 23. 10 Vgl. Dahinden, J., Stadtstrukturen für morgen, Stuttgart 1971.

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sei man nur da wahrhaft lebendig, wo man Neues schaffe 11; – der gleichen Zeit übrigens entstammend, in der Schopenhauer gemeint hatte, in Architektur und Plastik falle das Streben nach dem Ideal mit der Nachahmung der Antike zusammen 12. Gewiß läßt sich mit Schinkels Wort die stete Hinwendung der Kunst zum Neuen, die Öffnung neuer Dimensionen, die Einbeziehung neuer Erfahrungsbereiche begründen – aber das Bild wird erst vollständig, wenn man eine andere Aussage Schinkels hinzunimmt: „Das Vertrauen, das die Menschheit auf ihre Werke selbst legt, indem sie ihnen einen entschiedenen Wert beilegt und ihre Erhaltung auf lange Zeit erstrebt, hat aber etwas moralisch Hohes und Erhabenes. Dagegen ist die völlige Geringschätzung alles Bestehenden, dem man so bald als möglich ein anderes an seine Stelle wünscht, dieser Hang und die Beförderung des Wechsel, der endlich für kein Ding die Zeit, es zu erkennen und zu genießen, zuläßt, ein sicheres Zeichen von der Nichtigkeit des Zeitalters …“ 13 Nun sieht es ja in der Architektur ohnehin anders aus als in Malerei und Plastik: ihre Zweckgebundenheit bringt es leicht mit sich, daß alte Bausubstanz in Neubaumaßnahmen einbezogen wird, daß sie neu hergerichtet, ergänzt, verändert werden muß, um dem bisherigen Zweck besser gerecht zu werden oder um ganz anderen Zwecken als bisher zu dienen; denkmalpflegerische, kulturhistorische oder auch ganz einfach wirtschaftliche Erwägungen können dafür maßgebend sein. Mag auch eine solche Bauaufgabe gegenüber den Neubauten für den Architekten als Ausnahme, als Sonderfall erscheinen, so ist die analoge Aufgabenstellung für den Stadtplaner der Normalfall. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wie sie etwa Stadtneugründungen darstellen, hat er es immer mit einer bestehenden Stadt zu tun, an der Jahrhunderte gebaut und ihre spezifischen Spuren und Zeugnisse hinterlassen haben – und selbst bei Neugründungen gibt es in den meisten Fällen Bauwerke oder zumindest eine historisch geprägte Kulturlandschaft, auf die Rücksicht zu nehmen ist.

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Frh. v. Wolzogen, A. (Hrsg.), Aus Schinkels Nachlaß, Berlin 1863, Bd. 3, S. 349. Schopenhauer, A., Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, Kap. 35, zit. bei Schumacher, F.: Der Geist der Baukunst, Stuttgart 1938, S. 120. 13 Frh. v. Wolzogen, a. a. O., S. 371. 12

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Das hat eine wichtige Konsequenz: der Stadtplaner muß die Spannung zwischen Bewahren, Erneuern und Verändern gleichsam in sich selbst austragen und einen sinnvollen Ausgleich suchen. Das trifft zwar im Grundsatz auch für den Architekten zu, doch scheint sich hier die Tendenz abzuzeichnen, daß sich für die Aufgabe der architektonischen Denkmalpflege Expertengruppen herausbilden, die infolge der notwendigen Spezialisierung weitgehend den Kontakt mit dem Entwurf verlieren. Bei aller Einsicht in die Zeittendenzen, die auf eine zunehmende Arbeitsteiligkeit hinwirken, muß diese Entwicklung doch bedenklich stimmen; sie könnte eine Verabsolutierung der Teilaufgaben, eine Polarisierung zwischen Bewahren und Verändern mit sich bringen, die es schwer machen dürfte, sich über die Werte, um die es im konkreten Einzelfall geht, zu verständigen. So sehr es einerseits zu begrüßen ist, daß die Rechtshandhaben zur Bewahrung des Bestehenden, insbesondere zur Verhinderung mehr oder minder zufälliger Entstellungen, verbessert worden sind, so sehr können andererseits sinnvolle Anpassungen an neue Aufgaben erschwert werden, wenn die neuen Werkzeuge mit der Starre dogmatischer Positionen gehandhabt werden. Das Schlagwort des Denkmalschutzjahres, das in der deutschen Übersetzung leider so viel schwerfälliger klingt als im Englischen – „eine Zukunft für unsere Vergangenheit“ gegenüber „a future for our past“ – impliziert ja, daß für die alten Bauten angemessene gegenwartsbezogene Nutzungen gefunden werden müssen – eine rein museale Verwendung wird man sich schon aus finanziellen, aber nicht allein aus finanziellen Gründen nur in begrenztem Umfang leisten können. Das bedeutet, daß in vielen Fällen Konflikte zwischen authentischer Bewahrung (oder vorbildgetreuer Wiederherstellung) einerseits und zeitgemäßer Nutzung, also Anpassung an neue Funktionen andererseits auftreten können, zwischen denen nur auf der Grundlage von Werturteilen entschieden werden kann. Ein ähnlicher Konflikt kann aus der Frage erwachsen, ob es erlaubt ist, eine erhaltene historische Fassade um einige Meter zu versetzen oder gar ein ganzes Gebäude zu „translozieren“. Auch hier kann es offenbar keine feste Regel geben – der Verlust des ursprünglichen Ortes kann dazu dienen, eine nach Maßstab und Bausubstanz historisch geprägte Situation durch Zusammenführung authentischer Gebäude am nicht authentischen Ort lebendig werden zu lassen – nach Art eines Freilichtmuseums,

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wenn man will –, während im anderen Falle die Einzelelemente jeweils an ihrem Ort zwar authentisch wären, aber in einer ganz anders geformten Umgebung unterzugehen drohten. Solche Überlegungen führen zwangsläufig zu der Frage, welche Art von geschichtlicher Lektion wir denn von unserer Umwelt erwarten. Daß uns diese Umwelt in ihrem Gesamteindruck so gut wie Bildwerke und Gemälde, wie Literatur und Musik Geschichte bewußt machen kann und soll – neben anderen, eher als funktionell zu interpretierenden Aufgaben –, das ist sicher unter uns unbestritten, wenn es natürlich auch eine auf anderen Wertungen fußende, ahistorische Betrachtungsweise geben mag, die alle Dinge unter dem Blickwinkel der Verfügbarkeit und des unmittelbaren Nutzens sieht. Die Geschichte kennt viele Beispiele dafür, daß Zeugnisse der Vergangenheit nichts anderes bedeuteten als Steinbrüche für Tagesaufgaben; und weder Gegenwart noch Zukunft sind gegenüber einer solchen Gefahr sicher. Umwelt als Ressource im nüchtern ökonomischen Sinn – wie sie etwa in den Kategorien der „Werkstättenlandschaft“ und der „Planlandschaft“ auftaucht, die Ernst Jünger vor über vier Jahrzehnten im „Arbeiter“ entwickelte 14 –, das ist ein Denkansatz, dem man auch heute noch begegnen könnte. Aber selbst bei der geschichtsbezogenen Betrachtungsweise begegnen wir unterschiedlichen Auffassungen, zwischen denen offenbar auch nicht etwa ein für allemal im Sinne von „falsch“ und „richtig“ unterschieden werden könnte. Lassen Sie mich Beispiele nennen: der Aufbau von St. Michael in Hildesheim nach den Kriegszerstörungen hielt sich an die ursprüngliche ottonische Erscheinungsform und ließ die Zutaten späterer Jahrhunderte beiseite – eine Purifizierung, die gute Gründe hatte und zweifellos der Geschlossenheit des heutigen Eindrucks sehr zugute kommt. Beim Wiederaufbau der Trierer Konstantinsbasilika dagegen ersetzte man nicht nur den historischen – und beim ersten Wiederaufbau um die Mitte des vorigen Jahrhunderts neu erbauten – Holzdachstuhl durch ein Stahlbetondach, sondern verzichtete auch auf die Erneuerung des Verputzes im Inneren und arbeitete damit den vorher nicht sichtbaren Gegensatz zwischen der erhaltenen römischen Westwand aus Ziegeln und der im vorigen Jahrhundert aus Sandstein neu erbauten Ostwand deutlich heraus. 14

Jünger, E., Der Arbeiter, Hamburg 1932, S. 212, S. 232.

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Im einen Falle also haben wir es mit der Nachschaffung eines früheren historischen Zustandes im Sinne einer punktuellen Fixierung in der geschichtlichen Zeit zu tun: wir sehen ein Bauwerk (fast) so, wie es sich unseren Vorfahren vor nahezu einem Jahrtausend darbot. Im anderen Falle wird der Ablauf der Geschichte mit ihren Wechselfällen von Blüte und Niedergang, von Katastrophe und Neubeginn durch das Bauwerk selbst verdeutlicht: in das gleiche Dokument sind die Spuren verschiedener Jahrhunderte eingegraben. Für beide Verfahrensweisen lassen sich gute Gründe anführen, wenn sie auch zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen. Man könnte von einer historisch-didaktischen Betrachtungsweise einerseits, einer historisch-moralischen andererseits sprechen. Der ersten geht es um das Modellhaft-Museale, das dann naturgemäß nicht immer authentisch sein kann, aber das Bild der Vergangenheit sichtbar macht, der zweiten vielmehr um die Verdeutlichung der geschichtlichen Abläufe, um gelebte Zeit. Das bedeutendste Beispiel dieser Art in München ist wohl die Alte Pinakothek, und ich bekenne gern, daß ich die Art und Weise, wie hier durch das Genie Hans Döllgasts Geschichte sichtbar geworden ist, für großartig halte. Ich nannte das die historisch-moralische Betrachtungsweise und muß das wohl noch erläutern: Auch wenn man die Mittel zur Wiederherstellung der Pinakothek in Klenzes Formen gehabt hätte, wäre es – so jedenfalls war die Grundstimmung der fünfziger Jahre – angesichts der soeben durchlebten Katastrophe unangemessen gewesen, so zu tun, als sei nichts gewesen. Es mag sein, daß diese Grundstimmung sich inzwischen stark abgeschwächt hat, daß sie insbesondere von der jungen Generation, die keine unmittelbare Erinnerung mehr an den Krieg besitzt, nicht mehr empfunden wird; eine Reihe von Entscheidungen, zerstörte Gebäude getreu wiederaufzubauen, deutet darauf hin. Gleichwohl scheint mir diese historisch-moralische Betrachtungsweise den stärkeren Bezug zum geschichtlichen Denken für sich zu haben, von dem Hans Freyer einmal sagte, es heiße nicht, das Vergangene zum Bilde zu erwecken, sondern das Gegenwärtige als ein Gewordenes zu sehen 15. 15

Freyer, H., Die deutsche Stadt in Geschichte und Gegenwart, in: Deutsche Akademie für Städtebau u. Landesplanung (Hrsg.): Entwicklungsgesetze der Stadt, Köln-Opladen 1963, S. 9.

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Das Gegenwärtige als ein Gewordenes sehen – das besagt zugleich, daß dieser Prozeß des Werdens weitergeht und neue Spuren in das eingraben wird, was wir heute vor uns sehen. So beobachten wir gegenwärtig tiefgreifende Veränderungen auf zwei Gebieten, die sich erst allmählich in unserem Verhältnis gegenüber der Umwelt niederschlagen. Ich meine einerseits die Auseinandersetzung mit möglichen Grenzen des Wachstums – Anstoß zu notwendiger Besinnung, aber auch Anlaß zu ein wenig modischer, undifferenzierter Wachstumsfeindlichkeit –, andererseits die Tatsache, daß die Bevölkerung in der Bundesrepublik sich vermindert, so daß die Prognosen der Demographen für die nächsten Jahrzehnte mit einigen Millionen Einwohnern weniger rechnen. Es kann also nicht mehr wie bisher Bevölkerungszuwachs verteilt, sondern allenfalls die Schrumpfung gesteuert werden. Beide Erscheinungen werden die Dynamik der Veränderungstendenzen vermindern, und das hat unter dem Blickwinkel des gründlicheren Nachdenkens, der weniger unter Zeitdruck stehenden, ausgewogeneren Planung sicher seine Vorzüge. Andererseits kann man gewiß weder wünschen noch erwarten, daß die Entwicklungsdynamik vollständig zum Erliegen kommt. Technische Neuerungen, Verlagerung der wirtschaftlichen Präferenzen, Verschiebungen in den Wertmaßstäben werden weiter Motoren der Veränderung sein. Wirtschaftszweige werden weiter unterschiedlichen Einflüssen der Entwicklung von Produktivität und Nachfrage ausgesetzt sein, so daß auch hier Veränderungen unabweisbar sein werden. Und tatsächlich kann man nicht sagen, daß unsere Umwelt nicht auch in mancher Hinsicht veränderungsbedürftig wäre – in den Städten wie in den kleineren Ortschaften und in der Landschaft. Nur hat sich die Sorge verstärkt – ich wies eingangs darauf hin –, daß solche Veränderung Werte verlorengehen läßt, ohne Besseres oder zumindest Gleichwertiges an ihre Stelle zu setzen. Das ist natürlich immer die Sorge von konservativ Denkenden gewesen; heute hat sie aber offenbar auch weitere Kreise ergriffen. Das hat seinen Grund in dem schlechten Ruf, in den die moderne Architektur geraten ist: wir trauen uns anscheinend nicht mehr zu, daß das, was wir heute und morgen bauen, positive Beiträge zur Gestalt und zur „Lebensqualität“ der Umwelt zu leisten vermag. Ich meine, das ist eine zu pessimistische, aus einer sehr spezifischen Zeitstimmung erwachsene Sicht. Gewiß gibt es viele Modetorheiten, dank

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der Fachliteratur eilends verbreitet und zur Nachahmung lockend; gewiß ist vieles schlecht, maßstäblich überzogen, ohne Sinn für Einordnung in einen umfassenden Zusammenhang gemacht, und wenn man es dann bei Regenwetter aufnimmt – mit Teleobjektiv und ehe die ersten Bäume angepflanzt sind –, kann man wahre Albträume fotografieren. Aber die Möglichkeiten der Moderne sind doch wohl noch nicht ausgeschöpft – weder durch die streng kubischen Formen in der Nachfolge von Mies van der Rohe, noch durch die Reaktion des sogenannten Brutalismus mit seinen gleichsam muskelprotzenden Betonelementen, seiner bemüht zur Schau getragenen Plastizität, seinen höchst willkürlichen Dachlandschaften. Immerhin – Planer und Architekten sollten sich einmal vergegenwärtigen, wo denn die Ansatzpunkte berechtigter Kritik liegen. Ohne das Thema hier vertiefen zu wollen, meine ich, daß es nicht in erster Linie Fragen der Einzelform sind – wenn diese auch eine gewisse Rolle spielen mögen –, sondern vor allem Fragen des Maßstabes, der Gebäudedimensionen und des räumlichen Gefüges, dann aber auch Probleme der Repetition, die zur Ermüdung am oft Gesehenen führen. Dabei wird man die Maßstäblichkeit der Architektur auch im Zusammenhang mit der Bewegungsgeschwindigkeit des Betrachters sehen müssen. Es scheint mir kein Zufall zu sein, daß wir zu dem Zeitpunkt, da wir den Fußgänger wieder in seine Rechte als Straßenbenutzer in den Stadtkernen einsetzen, auch empfindlicher werden in Maßstabsfragen. Denn der Gehende braucht ein anderes Maß an räumlichem Wechsel als der Fahrende, um seine Umgebung als anregend zu empfinden – wie bei einem Vergleich zwischen den Straßenräumen der Kaufinger-Neuhauserstraße einerseits, der Ludwigstraße andererseits deutlich wird. Aber das ist nur ein Teilaspekt – und die Mahnung, den Gründen berechtigter Kritik nachzugehen und sie besser zu berücksichtigen, sollte sich wohl nicht nur an die Planer und Architekten, sondern auch an die Bauherren richten. Die Vermutung ist sicher nicht ganz abwegig, daß ein Teil der Probleme, mit denen wir es hier zu tun haben, auch beim Bauherrn liegt – in der Tatsache, daß der Bauherr als Person immer mehr zurücktritt zugunsten anonymer Gremien, daß er die Komplexität der Aufgaben immer weniger überblickt, so daß das fruchtbare Spannungsverhältnis zwischen Bauherrn und Architekten durch eine Fülle anderer Einflüsse überlagert und damit weitgehend aufgelöst wird. Aber das ist ein Thema für sich, das hier nur angedeutet werden kann.

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Nun gibt es allerdings auch manche Kritik an Architektur und Städtebau, der man so nicht beikommen kann, weil sie entweder Gesellschaftskritik ist oder ein mehr oder minder vages „Unbehagen an der Kultur“ ausdrückt – man schlägt den Sack und meint den Esel. Auch die sogenannte Nostalgie nährt sich zum Teil von diesem Unbehagen, und wir tun gut daran, diese Elemente von denen eines wirklichen Geschichtsbewußtseins zu unterscheiden. Denn zweifellos enthält die gegenwärtige Situation eine Gefährdung in doppelter Hinsicht: von einer unkritischen Veränderungseuphorie in eine unkritische Bewahrungseuphorie umzuschwenken und zugleich an eine solche neue Tendenz überhöhte Erwartungen zu knüpfen – als könnte sie uns die Lösung aller bisherigen Ungereimtheiten in unserer Umwelt bringen. Das wird sie so wenig wie es die moderne Architektur vermochte – die Widersprüche sind tiefer angelegt, als daß sie durch Architektur und Städtebau aus der Welt zu schaffen wären. So wird es weiter ein Spannungsverhältnis von Bewahren, Erneuern und Verändern geben – keine einander ausschließenden Alternativen also, sondern eher einander ergänzende Aspekte, die nach dem klassischen Grundsatz des „Nichts im Übermaß“ zu verknüpfen sind. Es geht also um eine Art Gleichgewicht, um ein ausgewogenes Verhältnis dieser Gestaltungsprinzipien. Gerade ein solches Gleichgewicht aber bedarf der Planung: Bewahrung oder Erneuerung alten Bestandes läßt sich nur dann mit Aussicht auf nachhaltigen Erfolg betreiben, wenn es gelingt, gefährdende Veränderungstendenzen von solchen Gebieten fernzuhalten – das aber heißt in aller Regel, diesen Tendenzen anderswo Raum zu geben und dafür die notwendigen rechtlichen und sachlichen Voraussetzungen zu schaffen. Hier liegt eine wichtige Aufgabe für jede Art integrierender Planung; ohne einen solchen umfassenden Ansatz bleibt jede auf Teilgebiete beschränkte Erhaltungs- oder Erneuerungsplanung Stückwerk. Keine Alternativen im Grundsätzlichen also, sondern allenfalls am konkreten Einzelproblem, das allerdings in seinen Wechselbeziehungen mit den räumlichen, sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhängen, in denen es steht, gesehen und behandelt werden muß. Bewahren, Erneuern, Verändern – sie stecken ein Kontinuum von Handlungsmöglichkeiten ab, aus dem in jedem Einzelfalle das Sinnvolle zu wählen ist. Das Sinnvolle – das setzt allerdings voraus, daß ein Konsens über einen solchen Sinn jedenfalls in gewissem Umfange gegeben ist oder doch

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erreichbar scheint, und mit ihm ein Konsens über Werte – Werte im Überkommenen, Werte im Erneuerten, Werte auch im Neuen. Damit aber haben wir den Themenkreis der Umwelt bereits überschritten, denn das ist eine sehr allgemeine Forderung, die sich an alle Künste richten läßt. Dieser Forderung nachzukommen, die Grundlagen also für solchen Konsens zu erkunden, klären zu helfen, wieweit das Verbindende in diesen Fragen reicht – das scheint mir eine zentrale Aufgabe für eine Akademie der Schönen Künste in dieser Zeit.

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Erschienen in: Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung e. V. (Hrsg.) (1978): Materialien zur Akademieversammlung 1978, Jahrgang 22, Bd. 2, S. 9–15, Schweiger & Pick Verlag, Celle.

Die Aufforderung des Präsidiums, anläßlich der Verleihung der Cornelius-Gurlitt-Denkmünze zu einem aktuellen städtebaulichen Thema Stellung zu nehmen, zwingt dem so Geehrten eine Entscheidung auf: was hält er angesichts der Fülle möglicher Themen für besonders aktuell und wichtig? Aktualität muß sich offenbar orientieren an der Bedeutung für anstehende Aufgaben, und diese wiederum ist nur aus der Vergegenwärtigung der heutigen Situation abzuleiten. So liegt es nahe, gleichsam als Voraussetzung für jede Aussage über das Aktuelle zunächst den Standort des Städtebaues in der Gegenwart zu klären, und hier bietet sich nun für mich ein besonderer Anknüpfungspunkt – der meines ersten Referats auf einer Jahrestagung der Akademie. Im Jahre 1961 nämlich – als sich Kritik an den gängigen städtebaulichen Grundsätzen regte und die Charta von Athen als deren Kodifizierung ins Gerede kam – wurde ich vom Präsidenten der Akademie gebeten, im Rahmen der bevorstehenden Jahrestagung in Aachen ein Referat zum Thema einer neuen „Charta des Städtebaues“ zu halten. Ich war damals seit vier Jahren Akademiemitglied, leitete als Oberbaudirektor die Darmstädter Bauverwaltung und hatte gerade einen Ruf auf den Städtebaulehrstuhl der Technischen Hochschule München erhalten. Zwar empfand ich die Anfrage des Präsidenten als sehr ehrenvoll, doch schien mir der Entwurf eines derartigen Dokuments ein allzu anspruchsvolles Unterfangen, und ich schlug demgegenüber vor, den Schwerpunkt des Referats auf eine kritische Betrachtung der Situation zu legen, aus der dann einige Gedanken zu einer solchen Charta abgeleitet werden könnten.

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I. Bestandsaufnahme 1961 So entstand das Referat „Wo stehen Städtebau und Landesplanung heute?“ – allerdings mit deutlichem Schwergewicht auf dem Städtebau –, und es bietet sich an, die Aussage von damals mit der Antwort zu vergleichen, die man heute auf die gleiche Frage geben würde. Indessen darf man dabei nicht außer acht lassen, daß sich die Entwicklung zwischen 1961 und heute keineswegs geradlinig vollzogen hat; es hat nicht nur leichte Schwankungen, sondern auf einigen Gebieten auch ausgeprägte Kursänderungen gegeben. Ich habe mehrfach die These vertreten, daß die Zeit um 1960 einen sehr markanten Einschnitt in der Städtebaugeschichte darstellt – ähnlich der Zeit um 1910, als die ersten Ansätze zu einem neuen Berufsstand, einer neuen Disziplin erkennbar wurden. Das Buch über die „gegliederte und aufgelockerte Stadt“ – 1957 von Göderitz, Rainer und Hofmann veröffentlicht –, der Neuaufbau des Hansaviertels im Zusammenhang mit der Berliner „Interbau“ von 1957 und das Bundesbaugesetz von 1960 markieren jeweils auf ihre Weise – auf theoretischem, auf baulichem und auf rechtlichem Gebiet – den Stand des Städtebaues vor Eintritt dieser Zäsur, der durch einen relativ breiten Konsens über strukturelle und gestalterische Ziele gekennzeichnet war. Dann aber begann die Einheitlichkeit der Auffassungen abzubröckeln, und in der Einleitung des Referats von 1961 wird mit dieser heraufkommenden Unsicherheit das Bedürfnis nach einer Standortbestimmung begründet. In der anschließenden Situationsanalyse wird zunächst darauf hingewiesen, daß die Einsicht in die realen Probleme allzusehr durch die Sondersituation des „Wiederaufbaues“ und durch die unterschwellige Hoffnung behindert werde, irgendwann kämen einmal wieder „normale“ Zeiten, in denen man auch ohne Planung werde auskommen können. Demgegenüber wird die Realität umrissen: die zweite industrielle Revolution und damit eine „zweite Gründerzeit“, die Verstärkung der Ballung, die wachsenden Verflechtungen, die Erhöhung des Wohlstandes mit der Folge zunehmender Ansprüche an Raum und Infrastruktur. Dem folgt eine Darstellung der wesentlichsten Hindernisse, die einer sinnvollen Planung im Wege stehen. Als „innere Hemmnisse“ werden die mangelnde Bereitschaft, kurzfristiges Opportunitätsdenken zugunsten langfristiger Gesichtspunkte zurückzustellen, und die mangelnde Klarheit

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über die Ziele der räumlichen Planung angeführt. Zu den „äußeren Hindernissen“ gehören die mangelnden organisatorischen und rechtlichen Voraussetzungen – das Bundesbaugesetz auf die Probleme von 1930 zugeschnitten, überholte kommunale Grenzen, Zersplitterung der Zuständigkeiten, kurzsichtige Ressortpolitik, schwache Position der Planung – und schließlich die mangelnden Kräfte: nicht genug Planer, keine Anreize zum Eintritt in diese Tätigkeit, keine angemessene Ausbildung, keine berufsständische Organisation. Daran schließt sich als Konsequenz eine Reihe von Forderungen an die künftige Schwerpunktbildung im Städtebau: –











Die wissenschaftliche Erforschung räumlicher Zusammenhänge von einem interdisziplinären Ansatz aus ist Voraussetzung sinnvollen Handelns und muß deshalb gefördert werden. Die städtebaulichen Zielvorstellungen sind in einen politischen Bezug zu setzen; dabei muß das notwendige Spannungsverhältnis zwischen Politiker und Experten ebenso akzeptiert werden wie die strukturell unvermeidliche „Kurzatmigkeit der Demokratie“ in ihren Entscheidungen. Die Überschneidung von Sachfragen und Werturteilen muß erkannt werden: So ist euphorische Verkehrsplanung auf der Grundlage von Prognosedaten, die als Sachgesetzlichkeit betrachtet werden, ein Versagen vor der Aufgabe einer kritischen Wertung. Die Diskussion über das grundlegende Planungshemmnis der Erwartungswerte und seinen Abbau durch den Planungswertausgleich muß vorangetrieben werden, eine stärkere Position der fachübergreifenden Planung – Landesplanung, Bauleitplanung – gegenüber den Fachplanungen wird gefordert, die nicht nur einfach „übernommen“ werden sollten. In diesem Sinne gelte es, die neue Wortprägung der Stadtentwicklungsplanung mit Inhalt zu erfüllen. In der Frage der Ausbildung wird auf die deutlichen Unterschiede des Planers gegenüber dem Architekten, aber auch auf die Gemeinsamkeiten hingewiesen. Diese Unterschiede rechtfertigen eine Ausbildung unterschiedlicher, wenn auch verwandter Art; beiden Gruppen muß die Ausbildung ein vertieftes Verständnis der außertechnischen Belange vermitteln.

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Das Ganze mündete in drei Forderungen an die Akademie: – –



Sie möge an Öffentlichkeit und Politiker appellieren, die „Forderung des Tages“ im Hinblick auf den Städtebau zu erkennen. Sie möge die städtebaulichen Kenntnisse und Methoden daraufhin überprüfen, wie weit diese der heutigen Situation noch angemessen sind: eine stärkere theoretische Untermauerung, mehr Literatur, systematischere Auswertung, eine eigene städtebauliche Zeitschrift werden gefordert. Sie möge die organisatorischen und personellen Voraussetzungen für eine wirksame Planung klären. Einbringung der fachlichen Meinung in die politische Diskussion sei notwendige Voraussetzung für ihre Beachtung.

II. Veränderungen der Ausgangssituation Fragen wir uns demgegenüber, was nun in der Zwischenzeit geschehen ist, so wird man zwar nicht allen dargelegten Gesichtspunkten im einzelnen nachgehen können, aber auf den ersten Blick werden bereits die erheblichen Wandlungen erkennbar, die sich in der Zwischenzeit vollzogen haben. –



Die wichtigste Veränderung ist vielleicht die neue Einschätzung der Situation: die Wandlungen auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet, die sich gleichsam hinter den Kulissen von Krieg und Wiederaufbau vollzogen hatten, wurden klarer erkannt; der Begriff des „Strukturwandels“ wurde geradezu zum Modewort. Damit zeichnete sich auch das Phänomen des wachsenden Raumanspruchs als eines der Kernprobleme der Wohlstandsgesellschaft deutlicher ab. Planung als Mittel, sich mit den zunehmenden Verflechtungen auseinanderzusetzen und Möglichkeiten für die Zukunft abzuschätzen, wurde als notwendig erkannt – und wurde damit salonfähig. Zugleich setzte sich die Einsicht in den wesentlich politischen Charakter der Raumplanung durch; daß „der Stadtplan uns alle angeht“, drang allmählich ins Bewußtsein auch der breiten Öffentlichkeit. So wurde die Stadtplanung um die Mitte der sechziger Jahre zum er-

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Veränderungen der Ausgangssituation







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giebigen Thema der Parteipolitik – mit positiven und negativen Folgen; manche mit der Planung verknüpften Sach- und Personalfragen gerieten dabei zu ihrem Nachteil ins Kreuzfeuer der Parteitaktik. Parallel mit diesem wachsenden politischen Interesse lief eine Hinwendung der Wissenschaft zum Raum und zur Stadt als Planungsgegenstand, vor allem in ihrer Eigenschaft als Sozialgefüge und als Wirtschaftsgefüge; auch das Verfahren der Planung und die ihm zugrunde liegenden Entscheidungsprozesse gerieten ins Blickfeld wissenschaftlicher Untersuchungen. Hans Paul Bahrdts Schrift aus dem Jahr 1961 „Die moderne Großstadt“, Jane Jacobs’ engagierte Attacke gegen den etablierten Städtebau und Alexander Mitscherlichs Pamphlet über die „Unwirtlichkeit unserer Städte“ leiteten diese Entwicklung ein. Inzwischen liegt eine Fülle von Untersuchungen über die verschiedensten Aspekte städtischer Sozialstruktur vor, die überwiegend rein analytischen Charakter haben, wie dies dem Selbstverständnis der Sozialwissenschaften entspricht. Daneben wuchs das Interesse an der Anwendung der Systemtheorie – deren Entwicklung durch die Raumfahrt stark gefördert worden war – auf die Probleme der Stadtplanung; man hoffte damit ein rationales Planungsverfahren zu gewinnen, das sich in einer Folge klar nachvollziehbarer Schritte darstellte, mit denen zugleich alle zu berücksichtigenden Gesichtspunkte, Abhängigkeiten und Rückkopplungen erfaßt werden konnten. Hand in Hand mit dieser Entwicklung ging ein außerordentliches Wachstum der Planungsliteratur. Konnte man bis 1960 noch recht gut an allen deutschsprachigen Veröffentlichungen über Stadtplanung Fühlung halten, so brachte die Folgezeit an der Stelle der früheren Dürre eine Überschwemmung, die es schwer machte, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Die 1961 noch vermißte Zeitschrift wurde drei Jahre später begründet; auch die Architekturzeitschriften widmeten städtebaulichen Fragen zunehmend mehr Raum. Für denjenigen, der auch noch einen Überblick über die ausländische, vor allem die englischsprachige Literatur, behalten wollte, vervielfachten sich die Schwierigkeiten. Interdisziplinäre Ansätze der Planung sind sehr viel häufiger geworden – die Mitwirkung nicht nur des Verkehrsingenieurs und des Landschaftsplaners, sondern auch des Soziologen und Ökonomen gehört sowohl in den öffentlichen Verwaltungen, als auch in privaten

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Planungsbüros bereits zu den alltäglichen Erscheinungen – wenn auch nicht alle Blütenträume reiften und die Zusammenarbeit in vieler Hinsicht hinter den Erwartungen zurückblieb. In personeller Hinsicht haben sich beträchtliche Veränderungen vollzogen. So ist schon zu Beginn der sechziger Jahre auf Betreiben der Akademie eine Referendarausbildung für den Städtebau geschaffen worden; später wurde auch das eigenständige Planerstudium Wirklichkeit. Raumplanung wurde zur selbständigen Disziplin, wobei gelegentlich die Distanz zur Architektur überbetont wurde. Daneben hat die Einrichtung von Aufbaustudien und von städtebaulichen Vertiefungsrichtungen innerhalb der Architekten- und Ingenieurausbildung zu einer sehr erheblichen personellen Ausweitung geführt, die der expandierende Markt zunächst gut aufnehmen konnte; erst in den siebziger Jahren zeigten sich hier Probleme, die inzwischen sogar zu rückläufigen Erscheinungen geführt haben. Die kommunalen Stellenpläne im Bereich der Planung sind seit 1961 stark ausgeweitet worden; eine Fülle von jungen Akademikern ist nicht nur in die Planungsämter, sondern auch in Stadtentwicklungsämter und in regionale Planungsgemeinschaften gegangen, während zugleich freiberuflich tätige Stadtplanungsbüros wie Pilze aus dem Boden sprossen. Zu erwähnen ist schließlich auch, daß neben der Akademie eine Institution ins Leben gerufen wurde, die sich eindeutig als berufsständische Organisation versteht: die Vereinigung der Stadt-, Regional- und Landesplaner. Auch in der Organisation der Planung hat sich inzwischen manches verändert: neben die Planungsämter sind vielerorts Entwicklungsämter oder -derzernate als eigenständige organisatorische Einheiten – oder auch Entwicklungsstäbe bei der Verwaltungsspitze – getreten: eine rapide Veränderung, die weit über den bescheidenen Hinweis im Referat von 1961 hinausging. Auch hier allerdings sind nicht alle Erwartungen hinsichtlich einer rationalen Durchorganisation der Planung, also einer lückenlos integrierten Entwicklungspolitik erfüllt worden; es gibt offensichtlich Grenzen der innerbehördlichen und zwischenbehördlichen Koordinations- und Integrationsmöglichkeit. In der Anpassung der kommunalen Grenzen an die Erfordernisse einer sinnvollen räumlichen Ordnung und in der übergemeindlichen Zusammenarbeit sind zweifellos Fortschritte erzielt worden. Das

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Tabu, das damals auf jeder Gebietsveränderung, ja sogar auf dem Begriff der Eingemeindung lag, ist inzwischen aufgehoben worden; allerdings hat die Gebietsreform auch eine Reihe unerwünschter Nebenwirkungen mit sich gebracht, die im ländlichen Raum stärker als in städtischen Bereichen spürbar sind. Regional- und Landesplanung, 1961 noch – von Sonderfällen abgesehen – fast ohne Durchschlagskraft, kommen inzwischen schon in den Verdacht, die gemeindliche Planungshoheit auszuhöhlen. Damit sind wohl die wesentlichsten Aspekte – zugegebenermaßen reichlich verkürzt und skizzenhaft – angedeutet, die 1961 als veränderungsbedürftig erwähnt wurden und in denen tatsächlich Wandlungen eingetreten sind, wenn auch die damit verknüpften Erwartungen nicht immer erfüllt wurden.

III. Neue Entwicklungen Aber natürlich haben sich auch zahlreiche und einschneidende Veränderungen ergeben, die 1961 noch nicht mit hinreichender Deutlichkeit erkennbar waren. In der zeitlichen Abfolge ist hier zunächst die Verdichtungs- und Verflechtungswelle zu nennen, das Vordringen jener meinungsbildenden Gruppe, die Werner Hebebrand die „Urbanitäter“ nannte. Das alte Konzept der gegliederten und aufgelockerten Stadt verlor an Anziehungskraft; aber anstatt es evolutionär weiterzuentwickeln, suchten die Wortführer der neuen Kampagne es insgesamt über Bord zu werfen und durch ein Konzept zu ersetzen, das zwar in mancher Hinsicht gut gemeint war, aber zugleich im Trend des Wirtschaftsbooms lag und den Investoren Wasser auf die Mühlen lieferte. Rudolf Hillebrecht hat dazu bei der Akademietagung 1965 eine erste Bilanz gezogen: „Städtebau heute – Von Ebenezer Howard bis Jane Jacobs–“. Wenn man die dürftige theoretische Fundierung dieses neuen Konzeptes ins Auge faßt – im wesentlichen ging es ja darum, das Unbehagen am Bestehenden dadurch zu bekämpfen, daß man es eben anders machte –, so ist es kein Wunder, daß es nicht die erhofften Ergebnisse einer humaneren, kommunikationsfreundlicheren Stadt mit sich brachte, sondern im Gegenteil sehr schnell Kritik und Gegenreaktionen auslöste.

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Im Gegensatz zur „gegliederten und aufgelockerten Stadt“, die als Konzept etwa 1910 entwickelt wurde – ohne allerdings noch diesen Namen zu tragen – und rund 50 Jahre den Städtebau bestimmte, hat das Verdichtungskonzept kaum ein Viertel dieser Zeit die Szene beherrscht – allerdings lange genug, um vielerorts mit unvernünftigen Massierungen und bösen Maßstabsverzerrungen erheblichen Schaden anzurichten. Eine zweite wichtige Entwicklung war durch das Heraufkommen der Stadterneuerung markiert, 1961 von mir nur gestreift, weil damals noch nicht von unmittelbarer Aktualität. Erst zehn Jahre später kam das Städtebauförderungsgesetz – allerdings nach mehrjähriger Vorarbeit und drei vergeblichen Anläufen – über die parlamentarischen Hürden. Mit den ersten Stadterneuerungsmaßnahmen, die vielerorts schon vorher begonnen worden waren, traten neue Probleme auf – vor allem hinsichtlich der Bürgerbeteiligung. Gewiß gab es hier auch Verknüpfungen mit allgemeineren politischen Tendenzen – „mehr Demokratie wagen“ –, aber der Hauptanstoß war doch wohl der stärkere Eingriff in die menschlichen Lebensverhältnisse, den jedes Stadterneuerungsprogramm gegenüber üblichen Neuplanungen mit sich bringt. So kann man vom Entstehen einer Partizipationswelle sprechen, die sich auch aus dem wachsenden Interesse am Entscheidungsprozeß in der Planung speiste. Dieses Interesse führte zu zwei unterschiedlichen, in gewisser Hinsicht gegenläufigen Entwicklungen: dem bereits erwähnten Versuch, den Planungsprozeß unter Einsatz der Systemtheorie abstrahierend zu durchdringen und damit die Entscheidung rationaler zu machen, und eben dem partizipatorischen Ansatz, der im Grunde eine Folge der Hinwendung zur Politik war. Planung mit den Betroffenen, Anwaltsplanung, Bürgerbeteiligung – Begriffe mit einer spezifischen Ausstrahlung, Ausgangspunkte für das Engagement der Planer, die sich nicht länger Technokraten schimpfen lassen wollten. Ein ehrenwertes Motiv und eine gute Sache – und doch beginnt sich auch hier Ernüchterung auszubreiten. Auch Bürgerbeteiligung vermag die Qualität der Planung nicht zu garantieren, führt dagegen häufig zu Verständigungsschwierigkeiten, Unsachlichkeiten und Verzögerungen. Ein letzter Punkt ist schließlich zu erwähnen: die „Bewahrungswelle“, erwachsen aus verschiedenen Quellen: aus einer Übersättigung mit den Formen der modernen Architektur, aber auch aus dem tatsächlichen quantitativen Schwund des Alten gegenüber dem Neuen, schließlich auch

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aus einer – nicht ganz von Romantik freien – Neubewertung des 19. Jahrhunderts, insbesondere der Gründerzeitarchitektur. Die Verknüpfung von Ethik und Ästhetik, die den Kampf der „Modernen“ gegen diese Architektur mit beflügelt hatte, geriet offenbar aus dem Blickfeld. Daß die sozialen Mißstände in den Städten des späten 19. Jahrhunderts nicht mehr mit der gleichzeitigen Architektur assoziiert werden, mag einer objektiveren Bewertung förderlich sein; wenn man den sozial engagierten Verfechtern des Neuen Bauens indessen plötzlich die „Unmenschlichkeit“ ihrer klaren und strengen Formen vorwirft, so ist das allerdings ein Zeichen mangelnden Geschichtsverständnisses. Gleichwohl könnte diese Welle gerade das Geschichtsbewußtsein in erfreulicher Weise fördern und damit auch zur Stärkung der örtlichen Individualität einen Beitrag leisten; indessen ist die Gefahr einer Übertreibung nicht zu übersehen. Sie könnte zusammen mit der veränderungsfeindlichen Grundhaltung vieler Bürgerinitiativen zu einer Immobilisierung der Entwicklung führen, für die es jetzt schon Anzeichen gibt. Nicht zufällig sind alle drei Entwicklungstendenzen als „Wellen“ bezeichnet worden: sie formen sich allmählich, offenbar latente Bedürfnisse oder Bereitschaften weckend, erhalten Zulauf, gewinnen den Nimbus gültiger Antworten auf die Probleme der Zeit – und wenn dann der Kamm der Woge erreicht ist und viele Fragen weiter ungelöst bleiben, stellen sich die ersten Enttäuschungen ein, und der Wasserstand beginnt wieder zu fallen. Das ist übrigens keine spezifisch deutsche Erscheinung; die gleichen Wellen finden sich – mit ähnlichen Ergebnissen – in anderen westlichen Industrienationen. Überlagert mit der „Bewahrungswelle“, aber aus anderen Quellen gespeist, ist die Veränderung des Planungsklimas, die sich aus der Einsicht in mögliche „Grenzen des Wachstums“, also in die Beschränktheit unserer materiellen Ressourcen und die Gefährdung der Umwelt durch die Nebenwirkungen unserer Produktionsverfahren ergeben hat. Damit hängt auch der Gedanke des Planens in kleinen Schritten, die Abkehr von den großen „integrierten“ Projekten zusammen, die Schwerpunktverlagerung auf „Stadtumbau“, die Auseinandersetzung mit der zu erwartenden Schrumpfung der Städte – alles neue Phänomene. In diesen Zusammenhang gehört übrigens auch die Wiederentdekkung der „Stadtgestaltung“, zu der auch die Vorwürfe in der Öffentlichkeit gegen die Vernachlässigung des Gestaltungsaspektes im Städtebau bei-

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getragen haben. Im Grunde ist das ein altes und nie ganz vergessenes Anliegen; nur haben die Planer aus Sorge, in einer Welt harter wirtschaftlicher Realitäten mit ästhetischen Argumenten nicht ernst genommen zu werden, kaum noch davon gesprochen, bis das Thema – nicht zuletzt dank seiner durch die Arbeiten von Cullen und Lynch eingeleiteten Verwissenschaftlichung – wieder salonfähig wurde.

IV. Die aktuellen Aufgaben Der Blick auf die Thesen von 1961 hat gezeigt, daß viele von ihnen heute in einem anderen Lichte erscheinen und daß unter ihnen manches Thema nicht erwähnt worden war, das in der Zwischenzeit erhebliche Bedeutung gewonnen hat. Bleibt also noch die Frage nach denjenigen Aussagen, die bis heute zumindest weitgehend gültig geblieben sind, die sich also auf Sachverhalte beziehen, an denen sich wenig oder nichts geändert hat. Zu ihnen gehören einige recht wichtige Punkte: –









Nach wie vor brauchen wir mehr langfristiges Verantwortungsbewußtsein, weniger kurzfristiges Interessentendenken, weniger tagespolitische Taktik in den Entscheidungen über die räumliche Planung. Nach wie vor sind Ressortpolitik und Fachplanungen häufig stärker als eine am räumlichen Gesamtgefüge orientierte, alle beteiligten Belange kritisch wägende Stadtplanung. Nach wie vor brauchen wir mehr Klarheit über die konkreten Zielvorstellungen für die Stadtentwicklung, zumal sich herausgestellt hat, daß auch ein perfektioniertes Verfahren noch nicht die Qualität der Planungsentscheidung sichert. Nach wie vor gibt es als Sachgesetzlichkeiten getarnte Trends, denen gegenüber Skepsis, kritische Wertung und gegebenenfalls Widerstand geboten sind. Die „humane Stadt“ – was immer wir darunter verstehen mögen – entsteht nicht von selbst etwa durch ökonomische Trends, sondern bedarf der Steuerung aus kritischer Gesamtschau. Nach wie vor ist im instrumentalen Bereich eines unserer Kernprobleme ungelöst – die Nutzbarmachung des durch Planungsentscheidungen begründeten „unverdienten“ Wertzuwachses für die All-

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gemeinheit, sei es über den Planungswertausgleich, sei es über steuerliche Lösungen. Hinzu treten einige neue Probleme, die sich zum Teil aus den dargestellten neuen Tendenzen ergeben: am offenkundigsten wohl die Notwendigkeit, für die vor uns liegende Phase der Bevölkerungsschrumpfung geeignete Ansätze und Werkzeuge zu entwickeln – ungewohnt für ein Metier, das sich bisher an der Steuerung von Wachstum geformt und entwickelt hat. Ein anderes wichtiges Anliegen besteht darin, einer Entfremdung der Planung von der Architektur, ihrem Rückzug auf Prozesse und Abstraktionen entgegenzuwirken; die Nachwuchssituation in Großbritannien liefert hierzu ein warnendes Beispiel. Die Reihe ließe sich mehr oder minder detailliert fortsetzen, aber statt dessen sei mit einer allgemeineren Bemerkung geschlossen: Stadtplanung ist zur Zeit in der öffentlichen Meinung nicht sehr hoch im Kurs – aus verschiedenen, in sehr unterschiedlichem Maße berechtigten Gründen. Die Stadtplanung kann ihre Position nur dann verbessern, wenn sie nicht jeder Tagesmode folgt. Das Problem der im vorigen Abschnitt erwähnten „Wellen“ liegt ja darin, daß sie als Pendelschwünge mit allzu weiten Ausschlägen wirken. Der neue Ansatz wird mit überhöhten Erwartungen befrachtet; wenn diese Erwartungen unerfüllt bleiben, wirft man das Ruder herum, anstatt pragmatisch die Ansprüche zu überprüfen und auch bescheidene Verbesserungen als Gewinn anzusehen. Will man also die aktuelle Aufgabe in einer Kurzformel charakterisieren, so dürfte sie im Kern darin bestehen, die Situation nüchtern ins Auge zu fassen und einen Mittelweg zu suchen zwischen Planungseuphorie und Planungsverdrossenheit, zwischen Heilserwartung und Resignation.

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Ziele, Aufgaben, Methoden, Probleme der Stadtplanung

Erschienen in: Buchwald K. und Engelhardt W. (Hrsg.) (1978): Handbuch für Planung, Gestaltung und Schutz der Umwelt, 1 Die Umwelt des Menschen, S. 158–168 BLV Verlagsgesellschaft, München, Bern und Wien. ISBN 3-405-120-314

I. Ziele der Stadtplanung Daß der Begriff der Ziele im Städtebau erst in neuerer Zeit häufig verwandt wird, erlaubt Rückschlüsse auf Wandlungen im Planungsverständnis, auf die kurz eingegangen werden muß. Das 19. Jahrhundert, geprägt durch die liberale Grundauffassung, nach der das freie Spiel der Kräfte zur bestmöglichen Entwicklung der Gesellschaft führen werde, hatte dem Staat lediglich die Aufgabe der Gefahrenabwehr zugewiesen. Folgerichtig beschränkten sich die Eingriffe der Planung in die Rechte der Grundeigentümer auf die Abgrenzung der öffentlichen Flächen, um Zugänglichkeit und Belichtung der Gebäude zu sichern, und auf Vorschriften über die Standfestigkeit und Feuersicherheit in den Bauordnungen. In den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts indessen wurde deutlich, daß diese Grundsätze nicht ausreichten, um gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse zu sichern; die Situation in den Großstädten wurde als chaotisch und bedrückend empfunden, und die Beseitigung von Mißständen, die Sicherung einer geordneten Entwicklung rückten als Ziele in den Vordergrund. Allerdings sah man immer noch die natürliche Entwicklung als im Grunde positiv und fortschrittsträchtig an; die Planung sollte ihr nur durch die Beseitigung von Hindernissen und Reibungsverlusten den Weg bereiten. Gewiß verknüpften sich gelegentlich umfassende gesellschaftsreformerische Zielvorstellungen mit städtebaulichen Ordnungskonzepten – um die Jahrhundertwende gibt es einige Beispiele dafür –, aber im all-

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gemeinen wurde die Aufgabe darin gesehen, „dem Zuge der natürlichen Entwicklung die lenkende Hand zu bieten“, wie der britische Planer Abercrombie in den dreißiger Jahren formulierte. Der anschließende Satz kennzeichnet die städtebaulichen Zielvorstellungen der Zeit: „Das Ergebnis soll mehr sein als eine gute Leistung auf technischem, hygienischem oder wirtschaftlichem Gebiet: es sollte ein sozialer Organismus sein und zugleich ein Kunstwerk“. Der Grundgedanke, daß die Stadtplanung nicht nur dem rationalen Ordnungsgefüge der städtischen Funktionen, sondern auch den immateriellen Qualitäten des menschlichen Zusammenlebens zu dienen habe – durch eine vom physischen Gefüge, von der Gestalt ausgehende Wirkung auf das Wohlbefinden und das Gemeinschaftsbewußtsein des Menschen –, stellt eine Art roten Fadens dar, der sich durch die Thesen und Argumente der Städtebauer im 20. Jahrhundert zieht. Wenn auch manche Aussagen nicht frei von einer Überschätzung des Umwelteinflusses, einer Art „Umweltdeterminismus“ sind, wenn manche auch ein ausgeprägtes und gelegentlich übersteigertes Sendungsbewußtsein widerspiegeln, so ist doch diese Verknüpfung von sozialer Verantwortung und künstlerischer Aufgabe als einer der bestimmenden Wesenszüge städtebaulicher Zielsetzungen im Grunde positiv zu werten. Sie hat auch auf die gegenwärtige Situation deutlich eingewirkt; der entscheidende Unterschied gegenüber der ersten Jahrhunderthälfte liegt darin, daß nicht nur der Raum, sondern auch Wirtschaft und Gesellschaft in höherem Maße als früher geplanten Eingriffen zugänglich – und solcher Eingriffe bedürftig – erscheinen. Damit verliert also die Stadtplanung ihre selbständige Position als Vorreiter ordnender Einflußnahme und wird einbezogen in eine umfassendere Gesellschaftspolitik, deren Ziele sich nicht so sehr auf den Raum selbst als vielmehr auf seine Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung richten. Das schlägt sich auch in den Gesetzen nieder; so findet die allgemeine Maxime des Raumordnungsgesetzes – „das Bundesgebiet … einer Entwicklung zuzuführen, die der freien Entfaltung der Persönlichkeit in der Gemeinschaft am besten dient“ – eine Entsprechung und maßstäbliche Verfeinerung in dem Text des novellierten Bundesbaugesetzes: „Die Bauleitpläne sollen eine geordnete städtebauliche Entwicklung und eine dem Wohl der Allgemeinheit entsprechende sozialgerechte Bodennutzung gewährleisten und dazu beitragen, eine menschenwüdige Umwelt zu sichern“.

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Sucht man nach einer Präzisierung jener „menschenwürdigen Umwelt“, so bietet der Gesetzestext gewisse Anhaltspunkte, indem er aufzählt, was dabei zu berücksichtigen ist: die Wohnbedürfnisse sowie die sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Bevölkerung, die Belange des Bildungswesens und die Erfordernisse von Gottesdienst und Seelsorge, die natürlichen Gegebenheiten und die Entwicklung der Landschaft ebenso wie die Erhaltung und Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen, die Gestaltung des Orts- und Landschaftsbildes und die Erhaltung von Ortsteilen und Bauten von geschichtlicher, künstlerischer oder städtebaulicher Bedeutung, weiter die Belange von Umweltschutz, Verteidigung, Wirtschaft, Verkehr – um nur einige wichtige Punkte zu nennen. Schon diese unvollständige Aufzählung macht deutlich, daß es sich bei solchen Zielen nicht um eine geschlossene Konzeption, um ein sogenanntes Zielsystem handelt, sondern um einen Katalog von Zielkategorien, die im Einzelfalle der konkreten Ausformung bedürfen. Die Frage nach den inhaltlichen Kriterien für eine menschenwürdige Umwelt hat im Laufe der Geschichte verschiedenartige Antworten gefunden. So kehrt von Thomas Morus über die utopischen Sozialisten des frühen 19. Jahrhunderts bis hin zur Gartenstadtbewegung und dem „Trabantenstadtkonzept“ der Gedanke wieder, es gelte die Vorteile von Stadt und Land zu vereinen, ohne ihre Nachteile in Kauf nehmen zu müssen. Daraus ergibt sich das Ziel, die Größe der Stadt zu begrenzen; dabei sind die Angaben über die angemessene Einwohnerzahl, die im Laufe der Zeit wechselten, weniger wichtig als der Grundgedanke, die Stadt groß genug für die Anziehungskraft des städtischen Lebens zu machen, aber dabei klein genug, um sie im engen Zusammenhang mit der umgebenden Landschaft zu erhalten und allzu hohe Infrastrukturkosten zu vermeiden. Die Wurzeln solcher Argumentation sind verschiedenartig; gewiß wirkt auch eine konservative Tendenz hinein, eine gleichsam aus der Agrargesellschaft übernommene Vorstellung, daß große Städte „unnatürlich“ seien – eine Wendung, die sich in der Stadtkritik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts häufig findet. Aber es sind auch ökonomische ebenso wie ökologische Erwägungen im Spiel, so die These – die zwar einleuchtend, aber bisher nicht erwiesen ist –, daß große Städte jenseits einer gewissen Schwelle unwirtschaftlich würden, daß also die wirtschaftlichen Vorteile der Maßstabsvergrößerung nicht unbegrenzt gälten, sondern bei Erreichung gewisser Größenordnungen in wirtschaftliche Nachteile umschlügen. Zwin-

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gender ist die Überlegung, daß die von größeren Siedlungskomplexen zwangsläufig ausgehenden Umweltbelastungen, wie Verunreinigung von Luft und Wasser, Überwärmung infolge zu ausgedehnter „Steinwüsten“ und schließlich auch zu intensive Nutzung benachbarter natürlicher Erholungsräume umso mehr ins Gewicht fallen, je größer ein Siedlungskomplex ist, so daß auch unter diesen Gesichtspunkten eine Begrenzung geboten erscheint. Tatsächlich haben sich diese gesamtwirtschaftlichen Betrachtungen jedoch in der Realität kaum ausgewirkt, wenn man von der britischen Politik der Gründung neuer Städte begrenzten Ausmaßes absieht. Der entscheidende Faktor dabei ist offenbar die Anziehungskraft des großen Arbeitsmarktes, die bisher für das weitere Wachstum der Verdichtungsräume zu Lasten kleinerer Siedlungseinheiten verantwortlich ist. Nun gibt es auch für die Großstadt selbst Zielvorstellungen; so hat sich das aus der Antithese gegen die versteinerte Gründerzeitstadt abgeleitete Leitbild der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“ bis in die sechziger Jahre hinein unbestritten erhalten und damit weitgehend die Phase des Wiederaufbaues nach dem letzten Kriege bestimmt. Trennung der Funktionen, ein zusammenhängendes Freiflächennetz als Gliederungssystem der Stadtteile, geringe Dichte und deutliche Zuordnung von Nachbarschafteseinheiten und Stadtteilen zu ihren jeweiligen Zentren und Arbeitsstätten waren die Grundgedanken dieses Konzeptes, das in der „Charta von Athen“ seinen allgemeinen Niederschlag gefunden hat. Dieser Vorstellung folgte die kurzlebige Faszination durch ein Zielbündel, das durch die Schlagworte Urbanität, Verdichtung und Verflechtung gekennzeichnet ist. Die Anziehungskraft dieser neuen Ziele ist wiederum antithetisch zu verstehen: der inzwischen eingetretene Strukturwandel der Stadt mit seiner weitgehenden Differenzierung und Trennung verschiedener Nutzungsbereiche wurde weithin als Verlust früher vorhandener städtischer Qualitäten empfunden und – sehr vereinfachend – den Konzepten der Planer angelastet. Die Ergebnisse dieser „Verdichtungswelle“, die Hochhauskomplexe und „integrierten Zentren“ der späten sechziger und frühen siebziger Jahre, sind jedoch inzwischen ihrerseits zur Zielscheibe der Kritik geworden. Die Wunschvorstellung der verdichteten, lebendigen, urbanen Stadt, von Planungskritikern propagiert, von verunsicherten Planern aufgenommen und von gewinnwitternden Investoren unterstützt, deckt sich – wie Meinungsbefragungen

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und das tatsächliche Marktverhalten zeigen – keineswegs mit den Wohnwünschen der meisten Stadtbewohner; diese richten sich eher auf ruhige und durchgrünte Gebiete, wie sie dem früheren Konzept der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“ entsprechen. Inzwischen hat sich auch das Interesse der intellektuellen Kritiker von der Verdichtung abgewandt und stattdessen auf die Bewahrung der vorhandenen Struktur und Substanz der Städte gerichtet; die Planungspraxis ist dem wenigstens in großen Zügen gefolgt. Auch hier wird eine Pendelbewegung sichtbar: mindestens seit der Jahrhundertwende schien es darum zu gehen, die Mängel der vorhandenen, frühindustriellen Stadt durch neue Entwicklungen zu überwinden; Neuplanung und Neubau bargen das Versprechen einer besseren städtischen Umwelt in sich. Diese Grundauffassung hat auch noch die Zeit des Neuaufbaues nach dem Kriege geprägt: bei aller Schwere des ungeheueren Substanzverlustes durch die Kriegszerstörungen wurde dieser doch als Gelegenheit empfunden, die Fehler des späten 19. Jahrhunderts zu beheben und gleichsam ungeschehen zu machen: „Ein großes Unglück, aber eine große Gelegenheit“, wie Churchill zu diesem Thema formuliert hatte. Inzwischen hat sich demgegenüber ein gewisser Überdruß an dem Neuen in Architektur und Städtebau verbreitet; das hängt zweifellos auch damit zusammen, daß in der Bundesrepublik die nach dem Kriege gebaute Substanz bereits weit umfangreicher ist als das, was aus den Jahrhunderten bis 1945 erhalten geblieben ist. Hinzu kommt die geringe formale Variation zwischen modernen Bauten, deren Gleichförmigkeit alle individuellen und nationalen Unterschiede zwischen den Städten zu verwischen droht. Dieser Sorge vor dem Identitätsverlust überlagern sich andere Einflüsse – eine kunsthistorische Rehabilitierung des 19. Jahrhunderts, nachdem die Assoziationen mit dem sozialen Elend, die in der ersten Jahrhunderthälfte diese Architektur diskreditiert hatten, weitgehend vergessen sind, aber auch die Erkenntnis, daß Ersatz alter Bausubstanz durch neue keineswegs immer einen Vorteil für die Bewohner darstellt, sondern ihnen wirtschaftliche Opfer zumutet und zugleich häufig das in langen Jahren gewachsene Netzwerk sozialer Beziehungen zerstört. Alles das hat dazu beigetragen, das Interesse an der historischen Stadt zu stärken; das europäische Denkmalschutzjahr von 1975 hätte mit Sicherheit nicht so viel Resonanz gefunden, wenn es nicht auf eine bereits

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vorhandene Bereitschaft gestoßen wäre, dem historischen Erbe wieder einen höheren Stellenwert einzuräumen. Diese Bereitschaft wiederum geht offenbar auf einen Wandel der Zielvorstellungen zurück, auf die wachsende Verbreitung der Auffassung, daß die historische Stadt jedenfalls in vieler Hinsicht den Bedürfnissen des Menschen besser gerecht wurde als die heutige. Gewiß ist diese Auffassung nicht ohne romantische Züge, die einer realistischen Betrachtung nicht standhalten, aber man darf sie wohl nicht nur als Niederschlag der „Nostalgiewelle“ ansehen, obgleich diese Modeerscheinung sicher einiges zur Verstärkung der erwähnten Impulse beigetragen hat. Im Kern geht es offenbar darum, daß für das gegenwärtige Zeitgefühl die geschichtlich gewachsene Stadt Qualitäten aufweist, die wir in den Neubaugebieten vergeblich suchen. Die Frage liegt nahe, was diese Qualitäten sind und wieweit man sie heute durch bewußt darauf gerichtete Planung wiedergewinnen kann. Zweifellos ist eine dieser Qualitäten gerade mit der einfachen Tatsache des Historischen, mit der Patina der Geschichte verknüpft, die den Gebäuden anhaftet, und das hat wohl weniger mit ihrem Aussehen zu tun als mit unserem Bewußtsein. Wir wissen, daß dieser Bau oder jener Platz sich schon den Truppen Wallensteins oder Napoleons genau so dargestellt hat wie heute; wir wissen, daß hier Leibniz gearbeitet oder dort E. T. A. Hoffmann gebechert hat, und das bereichert unsere Beziehungen zu dem Ort. Daneben zeichnet sich die alte Stadt aber auch durch bestimmte visuelle Qualitäten aus, die sie uns harmonisch und anziehend erscheinen läßt: den Maßstab von Bauwerk und Raum, der in aller Regel klarer auf den Fußgänger bezogen war, als dies heute üblich ist, aber auch die Einheitlichkeit der Materialien und der Bauweisen, bedingt durch die regional verfügbaren Baustoffe und die örtlichen Handwerkstraditionen. Noch eines kommt hinzu: die vorindustrielle Stadt war eine Bürgerstadt, in der noch unter dem gleichen Dache gewohnt und gearbeitet wurde; das ergab den Maßstab für das Bürgerhaus, der in sich relativ einheitlich war und nur in den Gemeinschaftsbauten – Kirche, Rathaus, Kornhaus u. dgl. – überschritten wurde. Erst im 19. Jahrhundert durchbrach die Fabrik diesen Größenmaßstab; vielfach war es mangelnde Standortgunst für die Industrie, die unsere Klein- und Mittelstädte vor solchen Einbrüchen bewahrte.

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Aber für den Bewohner ist es nicht nur die Qualität der Stadterscheinung; ganz unabhängig davon entwickeln sich in lange bewohnten Gebieten emotionale Bindungen, die aus der Patina des Lebens, aus der Verknüpfung mit eigenen Erfahrungen und Erinnerungen erwachsen. Das trifft selbst für solche Gebiete zu, die zur Zeit ihrer Entstehung heftig befeindet und – wie die heute mit so viel Anhänglichkeit bewahrten Gründerzeitgebiete – mit den gleichen kritischen Urteilen belegt wurden wie heute die Neubaubereiche: steril, monoton, seelenlos. Das kollektive Gedächtnis ist offenbar von kurzer Dauer. So sind die historischen Städte oder besser die historisch geprägten Bereiche der heutigen Stadt – in die wir nun auch schon die aus dem Ende des 19. Jahrhunderts stammenden Stadtteile einschließen – in den letzten Jahren zu einer größeren Bedeutung im Bewußtsein der Gegenwart gelangt. Gewiß ist es immer noch so, daß ein Teil der Faszination durch die alte Stadt einen romantischen Einschlag besitzt; man findet diese Umwelt als Betrachter, als Besucher schön – aber man würde nicht eigentlich in ihr leben wollen. Umfragen haben gezeigt, daß historisch besonders deutlich geprägte Stadtgebiete zwar der Zuneigung der Städter gewiß sein können, aber als Wohnumgebung wenig geschätzt werden. Hier haben wir es mit einem eigentümlichen Phänomen zu tun, das seine Parallele in der „Urbanitätswelle“ hat: man fände es sehr reizvoll, eine noch nach Geschäftsschluß belebte Innenstadt anzutreffen, und beklagt lautstark deren „Verödung“ – aber man ist selbst kaum bereit, zu solcher Belebung einen nennenswerten eigenen Beitrag zu leisten. Das zeigt, daß sich unsere Zielvorstellungen keineswegs immer im eigenen Verhalten niederschlagen. Wenn wir gleichwohl in der historischen Stadt Qualitäten sehen, die auch für heute von Bedeutung sind, so liegt die Frage nahe, wie weit man diese nicht nur durch Konservierung der Bauten erhalten, sondern auch für Neuplanungen fruchtbar machen kann. Dabei muß man sich darüber klar sein, daß vieles eben nicht reproduzierbar ist und gerade daraus seinen besondern Wert gewinnt. Das ist zunächst die handwerkliche Individualität der einzelnen Gebäude, wie sie die Straßenbilder aus vorindustrieller Zeit so anheimelnd macht; diese Qualität ist schon im 19. Jahrhundert mit der wachsenden Technisierung und Mechanisierung des Bauwesens dahingegangen und dürfte kaum wiederzugewinnen sein. Das ist ferner der intime, auf den Fußgänger und allenfalls auf den Karren

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und das gelegentliche Pferdefuhrwerk bezogene Straßenzuschnitt, den heute das Auto zu sprengen droht. Man wird es zwar aus manchen Straßenräumen, aber nicht aus ganzen Quartieren heraushalten können, und das Auto braucht nun einmal seinen Platz. Das ist endlich der Maßstab der Gebäude, das klare, die Wertordnung widerspiegelnde Größenverhältnis der öffentlichen Bauten zu den Bürgerhäusern; aber die Fabrik, das Bürohaus, der Großraumladen haben diesen Maßstab gesprengt, und es spricht nichts dafür, daß sich diese Entwicklung umkehren ließe. So erlaubt die verbreitete Sympathie für die historische Stadt Rückschlüsse auf das heutige Lebensgefühl und auf die unerfüllten Bedürfnisse des Großstädters, aber man wird sie schwerlich als ein Vorzeichen allgemeiner Abkehr von der bisherigen Stadt deuten können. Die allgemeinere Lehre aus diesem Überblick ist, daß es verbindliche Leitbilder, langfristig gültige und von jedermann als Grundlage des Handelns akzeptierte Zielvorstellungen der Stadt nicht gibt und daß jede Zeit immer wieder aufs neue vor der Aufgabe steht, ihre allgemeinen Wertvorstellungen im Sinne eines konkreteren Zielbildes zu interpretieren. Diese Aufgabe ist auch durch noch so vollständige Zielkataloge in Gesetzen oder Programmen nicht erfüllbar, denn dabei handelt es sich durchweg um Ziele, die zumindest zum Teil untereinander widersprüchlich sind, also miteinander konkurrieren. Über Prioritäten sagt das Gesetz nichts aus – mit Recht, denn es lassen sich keine abstrakten, für alle Probleme gültigen Rangfolgen festsetzen. Das schließt das Bestehen gewisser genereller Vorstellungen über die Prioritätenfolge, die allerdings einem Wandel in der Zeit unterworfen sind, nicht aus. So hat sich beispielsweise die Stadtplanung immer auch der Sorge für die natürliche Umwelt verpflichtet gefühlt, wie viele Zeugnisse städtebaulicher Autoren zumindest in unserem Jahrhundert bezeugen, aber erst die Probleme und Erkenntnisse der letzten Jahre haben dieses Anliegen im allgemeinen Bewußtsein so verankert, daß es sich heute auch gegenüber starken Interessentenwünschen durchsetzen läßt. Gleichwohl kann die jeweilige Prioritätenfolge nur am konkreten Planungsobjekt bestimmt werden, da sich nur hier klären läßt, welche Vorteile auf der einen mit welchen Einbußen auf der anderen Seite erkauft werden können. Die vom Gesetz geforderte „gerechte Abwägung öffentlicher und privater Belange gegeneinander und untereinander“ kann also

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nicht abstrakt, sondern jeweils nur im Rahmen der konkreten Situation vorgenommen werden.

II. Aufgaben der Stadtplanung Betrachtet man als Hauptaufgabe der Stadtplanung die Erfüllung der dargestellten Ziele, so müssen diese zunächst in ein räumliches Konzept umgesetzt werden, das sich mit den verfügbaren Mitteln verwirklichen läßt. Die Begrenzung durch die Mittel liegt auf der Hand, gleich, ob es sich um die gegebenen Rechtshandhaben, die finanziellen Hilfsquellen, die Effizienz der Verwaltung oder andere begrenzende Faktoren handelt. Die Mittel der Stadtplanung lassen sich in drei große Gruppen gliedern: –





die Festsetzung der Bodennutzung und der Gestaltung im öffentlichrechtlichen Plan und die Beeinflussung des Verwaltungshandelns zur Verwirklichung dieses Planes, die unmittelbare Einflußnahme auf die räumliche Entwicklung durch die Steuerung öffentlicher Infrastrukturinvestitionen wie Straßen, Leitungen, öffentliche Bauten, die mittelbare Einflußnahme auf das raumwirksame Verhalten von Bewohnern oder Nutzern der Stadt durch Steuern, Prämien, Tarife und ähnliche Maßnahmen, die die Daten für private Entscheidungen verändern.

Dabei ist darauf hinzuweisen, daß der öffentlich-rechtliche Plan bisher, von wenigen Sonderfällen abgesehen, nur dem Plan zuwiderlaufende Maßnahmen verhindern, nicht aber seine Verwirklichung sicherstellen konnte; erst seit 1977 können Bau-, Nutzungs- und sonstige Gebote erlassen werden. Über die Bereitschaft zur Anwendung dieser Mittel und ihre Wirksamkeit liegen jedoch noch kaum Erfahrungen vor. Will man nun das aus den allgemeinen Zielen abgeleitete Konzept der räumlichen Entwicklung inhaltlich präzisieren, so ist das Feld dieser Entwicklung zunächst die Stadt selbst mit ihren Bauflächen und Freiflächen, ihren Verkehrs- und Versorgungssystemen. Die Wandlungen der letzten Jahrzehnte mit ihren wachsenden Verflechtungen haben indessen zwangs-

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läufig dazu geführt, auch das Umland mit ins Blickfeld einzubeziehen; hier gibt es also enge Berührungspunkte mit der Landschaftsplanung. Die Verknüpfung von städtischen Freiflächen und Landschaftsraum ist im Städtebau schon seit dem Beginn unseres Jahrhunderts, vereinzelt auch schon früher angestrebt worden. Innerhalb der Stadt müssen die Bauflächen wiederum differenziert und mit der technischen Infrastruktur abgestimmt werden, wenn eine vielfältig nutzbare und zugleich wirtschaftliche Stadtstruktur entstehen soll. Für eine solche Nutzungsdifferenzierung bieten sich zunächst drei allgemeine Kategorien an: die vorwiegend dem Wohnen gewidmeten Gebiete, die vorwiegend mit Arbeitsstätten besetzten Bereiche und die Gebiete, die Anlagen von zentraler Bedeutung vorbehalten sind – mögen diese nun öffentlichen Zwecken dienen wie Schulen, Kirchen, Bauten der öffentlichen Verwaltung oder auch privatwirtschaftlichen Charakter haben wie etwa Einkaufszentren. Die Verteilung dieser Nutzungsbereiche innerhalb der Stadt wird durch zwei grundlegende Erwägungen maßgeblich bestimmt – einerseits durch den Flächenbedarf und andererseits durch die Standort- und Zuordnungsgesichtspunkte verschiedener Nutzungen untereinander und zum Verkehrssystem. Maßstab des Flächenbedarfs ist in vielen Fällen die am Markt wirksame Nachfrage – vor allem bei gewerblichen Betrieben, aber auch in weiten Bereichen des Wohnungsbaues. Dem überlagert sich jedoch – insbesondere für Nutzungen, für die es keinen Markt gibt, wie Schulgrundstücke und öffentliche Grünanlagen – ein normativer Ansatz, der sich auf soziale Werturteile stützt, also auf den politischen Konsens, wieviel Fläche für diese Zwecke erforderlich oder angemessen sei. Hier wird die Sozialverpflichtung des Städtebaues sehr deutlich; in der Tat war es der Mangel an Freiflächen, der zuerst zur Einsicht in die Schwächen einer marktbedingten Nutzungsverteilung und damit zur Bereitschaft führte, unter Gesichtspunkten des Allgemeinwohls in diesen Marktprozeß einzugreifen. Von hier aus haben sich – in Deutschland etwa beginnend mit dem letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts – schrittweise gewisse Grundsätze für die Planung ausgeformt, wobei die Sicht der städtebaulichen Aufgaben zunehmend komplexer wurde. Um die Jahrhundertwende wurden dann die ersten Modellvorstellungen zur strukturellen Ordnung der Stadt in der Literatur vorgetragen – meist Diagramme und Planschemata,

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die eben diesen räumlichen Zusammenhang von verschiedenen baulichen Nutzungen, Freiflächen und Verkehrslinien beispielhaft verdeutlichen sollten. In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts ist eine Fülle solcher Vorschläge entwickelt worden, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Seitdem allerdings sind neue Konzepte nur noch vereinzelt veröffentlicht worden – nicht, weil die Aufgabe weniger wichtig geworden wäre, sondern weil die strukturellen Wandlungen in Wirtschaft und Gesellschaft dazu führten, daß Planung als ständiger, auf Flexibilität gerichteter Prozeß verstanden wurde, der durch präzise Strukturvorstellungen zu seinem Nachteil eingeengt werden könnte. Gleichwohl kann man dieser Frage nicht ausweichen: jede Baumaßnahme schränkt die gewünschte Flexibilität ein, und Bauen ohne Gesamtkonzept dürfte sie am stärksten einschränken. Aus alledem folgt, daß Fragen der Zuordnung verschieden genutzter Flächen nach wie vor zu den Kernproblemen der Stadtplanung gehören, ebenso wie die Frage nach sinnvollen Ober- und Untergrenzen der Nutzungsintensität, also – in Wohngebieten – der Einwohnerdichte. Hohe Dichten werfen die aus den Gründerjahren bekannten Probleme unzureichender Freiräume, mangelnder Belichtung und unbefriedigenden Ausblicks aus den Wohnungen, zusammen mit weitgehender Versteinerung und Versiegelung des Bodens auf; zu geringe Dichten führen leicht zur übermäßigen Inanspruchnahme von Flächen, die unter Gesichtspunkten der Landschaftsplanung besser unbebaut blieben, aber auch zur Unwirtschaftlichkeit der Infrastruktur und zu mangelnder Erreichbarkeit von Arbeitsstätten und zentralen Einrichtungen. In der sinnvollen Disposition der Wohndichten liegt also ein Hauptproblem der Nutzungsverteilung, zumal damit häufig auch die Bauform bestimmt oder doch stark beeinflußt wird. Während nämlich niedrige und mittlere Dichten (bis etwa 200 Einwohner auf den Hektar Nettowohnbauland) noch eine Auswahl zwischen – und demnach auch eine Mischung von – Flachbau und Hochbau, Einfamilienhäusern und Geschoßwohnungen zulassen, erlauben höhere Dichten in der Regel nur noch reinen Geschoßbau – mit um so größerem Hochhausanteil, je höher die Dichte angesetzt wird. Damit deutet sich eine Verknüpfung zwischen Strukturplanung und Gestaltung an; der gestalterische Spielraum kann durch strukturelle Entscheidungen stark beeinflußt werden. Gleichwohl bleiben noch viele Aspekte dabei offen: ob man etwa bei der Ausformung der Geschoß-

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bauten von dem Gedanken einer freiplastischen Gruppierung von Hochhäusern oder von dem einer raumbildenden Anordnung langgestreckter, niedrigerer Baukörper ausgeht, schafft ganz unterschiedliche Voraussetzungen für das Raumerlebnis der Bewohner, ohne daß es hier allerdings bereits klare Erkenntnisse über alle Auswirkungen auf das Wohlbefinden der Bewohner gäbe. Erst schrittweise gewinnt die Umweltpsychologie hier Einsichten, die für die praktische Gestaltungsarbeit des Planers und des Architekten fruchtbar werden könnten. Gestaltungsfragen in der Planung sind noch schwerer mit strengen Regeln zu beantworten als Probleme der strukturellen Disposition; die Argumente sind stärker subjektiv geprägt, und der Wechsel der herrschenden Gesichtspunkte im Zeitablauf ist noch deutlicher ablesbar. Gleichwohl besteht auch hier das dringende Bedürfnis nach einem höheren Grad von Konsens über Qualitätsmaßstäbe und Zielvorstellungen. Natürlich dürfen diese beiden Hauptkomplexe der Sachaufgaben nicht isoliert gesehen werden; Ordnung und Gestaltung dienen sozialen Zielen, sind darauf gerichtet, Beiträge zu einem offeneren und reicheren Leben zu leisten; die Einengungen, die der Entscheidungsfreiheit des Einzelnen auferlegt werden, haben keinen anderen Sinn, keine andere Rechtfertigung, als daß sie einer breiteren Allgemeinheit zugute kommen. Unter diesen Gesichtspunkten hat der Prozeß der Planung, als Vorbereitung politischer Entscheidungen über die künftige räumliche Entwicklung verstanden, zunehmend Aufmerksamkeit erfahren.

III. Methoden der Stadtplanung Die Methoden zur Lösung der Planungsaufgaben sind erst etwa seit der Jahrhundertmitte ins Blickfeld der Planer getreten; bis dahin stand eine dem Architekturentwurf analoge Arbeitsweise im Vordergrund, die einer theoretischen Durchdringung weder zugänglich noch bedürftig schien. Der Planer sollte – so sah man es – aus den bei der Bestandsaufnahme gesammelten Kenntnissen ein umfassendes Bild der Problematik gewinnen und dafür in einem Akt schöpferischer Synthese die angemessene, die richtige Lösung in Gestalt eines Planes finden, der dann – in einem dritten Schritt – zu verwirklichen war. Die in den fünfziger Jahren einsetzende vertiefte theoretische Auseinandersetzung mit dem Planungs-

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prozeß führte zu einer zunehmenden Systematisierung teils durch die Planer selbst, teils mit Hilfe der Systemtheoretiker; Planung wurde nicht mehr als das Finden der einen „richtigen“ Antwort auf eine Fülle drängender Umweltprobleme verstanden, sondern als Auswahlprozeß zwischen möglichen Alternativen – Alternativen des Weges, mit dem ein bestimmtes Ziel zu erreichen sei, oder auch Alternativen, die sich aus unterschiedlicher Bewertung verschiedener konkurrierender Einzelziele ergeben. Inzwischen hat die Auseinandersetzung mit dem Planungsprozeß zu einer Fülle verbaler und diagrammatischer Darstellungen dieses Vorgangs geführt. In der Regel wird dabei eine Reihe von Schritten postuliert, die von der Analyse der Situation und der Zielklärung über die Auswahl aus möglichen Grundsatzalternativen zur zunehmenden Konkretisierung des Planes und zu seiner Verwirklichung führen, wobei die Möglichkeit zu Rückkopplungen stets offen bleiben muß. Naturgemäß stehen bei diesen verschiedenen Schritten auch ganz unterschiedliche Methoden und wissenschaftliche Arbeitsansätze im Vordergrund: Bei der Situationsanalyse geht es in erster Linie um Erkenntnis und Darstellung realer Zusammenhänge, so daß statistische und sonstige analytische Methoden die wichtigste Rolle spielen. Erstrebt wird dabei eine möglichst umfassende Einsicht in das komplexe Wirkungsgefüge unserer Umwelt und in seine Beeinflussungsmöglichkeiten. Für die Erklärung und Prognose räumlicher Entwicklungen hat das mathematische Modell erhebliche Bedeutung gewonnen, das es erlaubt, sich die Konsequenzen unterschiedlicher Handlungsalternativen zu vergegenwärtigen. Allerdings dürfen hier die Erwartungen nicht zu hoch geschraubt werden; das Modell ist seinem Wesen nach unempfindlich gegenüber nicht quantifizierbaren Sachverhalten. Bis zu einem gewissen Grade vermag die Simulation der Wirklichkeit im Planspiel diese Lücke zu schließen, da hier auch andere Aspekte menschlichen Verhaltens zur Geltung kommen können. Beim Entwurf von alternativen Handlungskonzepten stehen nach wie vor heuristische Methoden im Vordergrund, die zunächst dazu dienen sollen, die ganze Breite des Handlungsspielraums sichtbar zu machen. Dabei haben die bewährten Verfahren des räumlichen Entwerfens ebenso ihren Platz wie die abstrakteren Methoden, unterschiedliche Merkmalskombinationen zu gewinnen. Für sehr eng begrenzte – und insofern atypische – Planungsprobleme werden auch mathematische Verfahren der

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Optimierung benutzt; dieser Begriff wird gelegentlich auch – fälschlich – für heuristische Verfahren der Annäherung an eine „beste“ Lösung benutzt, die strengen methodischen Ansprüchen nicht genügen können. Kaum weniger begrenzt als die Möglichkeiten der Optimierung sind die der exakten quantitativen Bewertung von Alternativen etwa durch die Nutzen-Kosten-Analyse; etwas breiter ist der Anwendungsbereich der Nutzwertanalyse, die auf die monetäre Erfaßbarkeit aller Sachverhalte verzichtet, aber gleichwohl auf Quantifizierung angewiesen ist. In jedem Falle aber setzt der politische Charakter der Planungsentscheidung einem solchen wissenschaftlich-methodischen Vorgehen gewisse Grenzen; so wird gerade in der Bewertungs- und Entscheidungsphase der Bürgerbeteiligung, der öffentlichen Diskussion eine wachsende Bedeutung beigemessen. Dies ist angesichts der Unmittelbarkeit, mit der Planungsentscheidungen – beispielsweise im Rahmen der Stadterneuerung – in das Leben des einzelnen eingreifen können, sehr verständlich, kann aber auch die Durchsetzung übergeordneter Gesichtspunkte beträchtlich erschweren.

IV. Probleme der Stadtplanung Der vorstehende knappe Überblick über die methodische Seite der Planung bietet zugleich einen Ausgangspunkt für eine Andeutung der wichtigsten Probleme. Der komplexe Charakter der Stadtplanung steht einer isolierten Behandlung einzelner Probleme im Wege; gleichwohl lassen sich gewisse Schwerpunkte der gegenwärtigen Diskussion herausarbeiten. So gibt es trotz der Fortschritte, die in der Raum- und Stadtforschung während der letzten Jahrzehnte gemacht worden sind, noch zahlreiche Unklarheiten über den Systemzusammenhang der Wirklichkeit, die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt, die für das menschliche Verhalten in der Umwelt entscheidenden Faktoren. Dem Planer geht es dabei nicht in erster Linie um die Erkenntnis an sich, sondern um die Grundlage sinnvollen Handelns; aus der Einsicht in die Zusammenhänge der Wirklichkeit muß er Schlüsse ziehen auf die Möglichkeit, sie zu verändern, und auf die voraussichtlichen Wirkungen, die sich aus dem Einsatz bestimmter Mittel ergeben. Diese Überlegungen können aber erst fruchtbar werden, wenn Klarheit über die Ziele der Planung besteht; diese

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wiederum können nicht sinnvoll formuliert werden ohne den Überblick über die Beeinflußbarkeit der Umwelt und die dazu geeigneten Mittel. Es geht aber nicht nur um technische Möglichkeiten, sondern auch um die Rechtfertigung ihrer Anwendung gegenüber dem Wirken bestehender Steuerungsmechanismen; dies wirft die Kernfrage nach der Abstimmung von Markt und Plan auf und verlangt zugleich eine Auseinandersetzung damit, wie weit die Eingriffsmöglichkeit des Staates in die private Verfügungsfreiheit gehen soll und auf welche Weise hoheitliche Entscheidungen, von denen solche Wirkungen ausgehen, zustandekommen sollen. Diese unter rechtsstaatlichem Blickwinkel zentrale Frage ist wiederum nicht zu trennen von den Entscheidungen über die Planungsorganisation: wie soll Koordination aller beteiligten Gesichtspunkte und Interessen einerseits, Bürgernähe andererseits organisatorisch in Einklang gebracht werden mit der Sicherung eines angemessenen Handlungs- und Entscheidungsspielraums für die politische Körperschaft? Das alles sind zunächst abstrakt formulierte Probleme; sie begegnen uns aber in der Realität auf Schritt und Tritt, denn sie stehen letzten Endes hinter den alltäglichen Auseinandersetzungen um Straßentrassen, Sanierungsentscheidungen, Standorte für öffentliche Einrichtungen und ähnliche zunächst eher technisch erscheinende Fragen der Stadtplanung. Ein Schlüsselproblem der Planung ist dabei das Verhältnis von Markt und Plan, die ja gegensätzliche Möglichkeiten der Allokation knapper Ressourcen darstellen. Jede hat, für sich genommen, erhebliche Schwächen; aber auch ihre Überlagerung wirft große Probleme auf. Wenn die Nutzung des Bodens durch Planung geregelt wird, dann wird damit auch sehr wesentlich der daraus zu ziehende Ertrag und folgerichtig der am Markt zu erzielende Preis mitbestimmt, also in die wirtschaftliche Situation des Grundeigentümers eingegriffen. Die Rechtfertigung für diesen Eingriff ist eine doppelte: einerseits entspricht der privatwirtschaftliche Nutzen vielfach nicht dem gesamtwirtschaftlichen, weil ein Teil der Kosten auf die Allgemeinheit überwälzt wird; hier haben wir es mit dem Problem der „social costs“ zu tun, das sich vor allem langfristig auswirkt. Zum anderen muß die Planung Flächen bereitstellen für Nutzungen, für die es im eigentlichen Sinne keinen Markt gibt – etwa öffentliche Gebäude oder Parks. Der Eingriff ist also unvermeidlich; führt er zu Vermögensnachteilen für den Eigentümer, so wird dieser aus öffentlichen Mitteln entschädigt. In weitaus der Mehrzahl der Fälle handelt es sich – vor allem

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bei einer expansiven Entwicklung – um Vermögensvorteile, die der Eigentümer gewinnt. Daß diese ihm ohne Gegenleistung zufallen, hat schon im 19. und frühen 20. Jahrhundert zu heftiger Kritik geführt; unabhängig von dem leistungslosen und sozial ungerechtfertigten Gewinn von Eigentümern oder Spekulanten führt dies Verfahren auch vielfach zur Beeinträchtigung der Planung selbst, da sie durch Interessenteneinfluß verzerrt werden kann. In Großbritannien hat man 1947 erstmalig ein System des „Planungswertausgleiches“ eingeführt, das jedoch bei jedem Regierungswechsel wieder erheblich verändert – von den Konservativen abgeschwächt, von der Labour-Regierung verstärkt – wurde. In der Bundesrepublik ist ein solcher Ausgleich für Vermögensvorteile bisher nur in förmlich festgelegten Sanierungsgebieten gesetzlich verankert; das Bemühen, diesen Grundsatz mit der Novelle zum Bundesbaugesetz auch in das allgemeine Planungsrecht einzuführen, scheiterte am Widerstand des Bundesrates. Allerdings spielen neben grundsätzlichen Erwägungen dabei auch Probleme des Verwaltungsaufwandes und der einwandfreien Verfahrensregelung hinein. Über eine zweckmäßige und praktikable Regelung besteht noch keine Klarheit; die Möglichkeit, die Pflicht zur Ausgleichszahlung an den Akt der städtebaulichen Rechtsetzung zu knüpfen, konkurriert mit dem alternativen Konzept einer Erfassung solcher Wertsteigerungen durch ständig auf dem Laufenden gehaltenen Besteuerung. Die bisher erörterten Probleme sind genereller Art; sie erwachsen aus dem Wesen der Stadtplanung in der freiheitlichen Gesellschaft. Die konkreten Sachprobleme sind naturgemäß an die jeweilige Situation gebunden, doch sind auch hier gewisse Verallgemeinerungen für bestimmte Kategorien von Planungsräumen möglich. Die Großstadt, der große Agglomerationsraum, hat nicht nur mehr, sondern auch andere Probleme als die Klein- oder Mittelstadt. Die Großstadt in der entwickelten Industriegesellschaft ist gekennzeichnet nicht nur durch die hohe Einwohnerzahl, sondern vor allem durch einen umfassenden Arbeitsmarkt und durch zahlreiche Einrichtungen hoher Zentralität, deren Einzugsgebiete über die Stadtgrenzen hinausreichen. Damit verknüpft ist ein erhebliches Verkehrsaufkommen mit hohen Anforderungen an die Infrastruktur; konkret bedeutet das ein aufwendiges Straßennetz mit kostspieligen Knotenpunkten und entsprechenden Vorkehrungen für den öffentlichen Nahverkehr, der in Städten oberhalb der Halbmillionen-

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Grenze meist bereits eigene Trassen und niveaufreie Führung jedenfalls im Stadtkern erfordert. Im Allgemeinen wirken die Wirtschaftskräfte in der Großstadt im Sinne sehr großflächiger Verteilungen: zentrale Nutzungen wie Büros und Einzelhandel streben in den Stadtkern, die Industrie beansprucht ebene, gut erschlossene Flächen; selbst wo es nicht zu einer Verdrängung von Wohnbevölkerung kommt, streben viele Bewohner eine ruhigere Wohnlage am Rande des Siedlungsraumes an. Hier werden nur selten hohe Wohndichten erreicht, so daß eine wirtschaftliche und anziehende Bedienung durch den öffentlichen Nahverkehr kaum möglich ist; das wiederum führt zur vermehrten Autobenutzung und dementsprechend zur Vergrößerung der Verkehrsbelastung im Straßennetz. Daraus ergeben sich in der Regel erhebliche Umweltbeeinträchtigungen – einerseits drängt die Ausdehnung der Siedlungsbereiche die freie Landschaft immer weiter zurück und gefährdet oder schädigt ökologisch wertvolle, bisher als „Ausgleichsräume“ angesehene Bereiche; zum anderen mindern die Lärm- und Abgasemissionen der starken Autoströme die Qualität benachbarter Wohn- und Erholungsbereiche in hohem Maße. Gewiß bieten die Umweltschutzgesetze wie auch das novellierte Bundesbaugesetz gewisse Handhaben zur Bekämpfung dieser Probleme; doch sind die Möglichkeiten der Stadtplanung insgesamt gegenüber wirtschaftlicher Dynamik und politischen „Sachzwängen“ meist nur bescheiden. Ein Hauptmittel planerischer Einflußnahme ist zweifellos eine Politik der Nutzungsverteilung innerhalb des Gesamtgebietes, die eine wirtschaftliche Anlage und gute Ausnutzung der Infrastruktur erlaubt, wobei es einerseits auf die Wahl günstiger Standorte für die zentralen Nutzungen und eine sinnvolle Aufgabendifferenzierung für solche zentralen Einrichtungen, andererseits auf die zweckmäßige Führung der Verkehrstraßen vor allem für den öffentlichen Verkehr, aber auch für den Individualverkehr ankommt. Das Verkehrsangebot muß ergänzt werden durch eine Einwirkung auf die Benutzer durch geeignete Mittel wie Tarifgestaltung, Begrenzung der Abstellmöglichkeiten im Stadtkern und ähnliche Maßnahmen. In den großen Städten – etwa von der HalbmillionenGrenze an – stellt die Überlastung der Stadtkerne durch Konzentration von Arbeitsstätten und Verkehrseinrichtungen ein bedrohliches Problem dar; ihm sucht man durch die Entwicklung und Förderung von Stadtteilzentren oder anderen Entlastungseinrichtungen zu begegnen.

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Die typischen Planungsprobleme der letzten zwanzig Jahre erwuchsen also in den Großstädten aus der wirtschaftlichen Dynamik, aus der Konkurrenz verschiedener Nutzungsträger um die gleichen Standorte, aus den wachsenden Flächenansprüchen nicht nur parallel mit dem Bevölkerungsanstieg, sondern auch bezogen auf den einzelnen Einwohner. In welcher Weise die Erfordernisse sich verändern werden, wenn die Auswirkungen des Bevölkerungsrückganges voll spürbar sein werden, ist schwer abzuschätzen; zweifellos können wünschenswerte Veränderungen sehr viel leichter durch Steuerung starker und dynamischer Entwicklungskräfte erreicht werden als bei Stagnation oder Rückgang. Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem bereits erwähnten Phänomen der Randwanderung zu; in der Expansionsphase wurden die so freiwerdenden Teile stadtkernnaher Wohngebiete in der Regel sehr schnell durch nachrückende Arbeitsstätten – vor allem Büros –, aber auch durch ausländische Gastarbeiter aufgefüllt. Inzwischen ist in diesen Bereichen eine solche Nachfrage erheblich zurückgegangen, so daß wir hier Entleerungserscheinungen begegnen, die schon bald beträchtliche Probleme auslösen könnten; in vielen amerikanischen Städten haben derartige Entwicklungstendenzen sich schon in einem bedenklichem Verfall der stadtkernnahen Zonen niedergeschlagen. Tendenzen zur räumlichen Trennung, zur „Entmischung“ verschiedener Bevölkerungsschichten, vor allem aber der Ausländer können zusätzliche Probleme aufwerfen, die nicht allein mit den Mitteln der räumlichen Planung gelöst werden können, sondern auf die Unterstützung durch eine darauf gerichtete kommunale Sozial- und Wirtschaftspolitik angewiesen sind. Im Allgemeinen wird man also nicht damit rechnen können, daß der Bevölkerungsrückgang zu einer Stagnation der räumlichen Entwicklung führen wird; der Schwerpunkt wird sich allerdings von Stadterweiterung auf Stadterneuerung, auf „Stadtumbau“ verlagern. Probleme der Erneuerung historisch bedeutender oder auch nur einfach überalteter Baugebiete spielen schon jetzt eine wichtige Rolle in der städtebaulichen Strukturpolitik; ihr Gewicht wird aller Voraussicht nach weiter zunehmen. Andererseits werden manche Probleme, die aus einer zu starken Dynamik, einer allzu schnellen räumlichen Entwicklung erwachsen sind, sich abschwächen oder ganz zurücktreten. Gleichwohl dürfte die Großstadt Kernstück der Siedlungsstruktur bleiben, denn auch die Abwandernden suchen meist nur eine andere Wohnumgebung,

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selten auch einen Arbeitsplatz außerhalb des großstädtischen Arbeitsmarktes. Gerade die Anziehungskraft dieses Arbeitsmarktes ist es, die das Hauptproblem der kleinen Städte außerhalb des Einzugsbereiches der Großstadt ausmacht. Ihre Planungsprobleme sind technisch meist weitaus unkomplizierter als die der Großstädte; ihre Schwierigkeiten liegen eher in ihrem Bedeutungsverlust begründet, der sich aus der wachsenden Vereinheitlichung der Gesellschaft und der Angleichung der Lebensansprüche in Stadt und Land ergibt. Diese Ansprüche nämlich führen zu Anforderungen an Struktur und Bausubstanz der Klein- und Mittelstädte, denen diese vielfach nicht gewachsen sind. Es kommt zu Veränderungen des Maßstabes in Straßenräumen und an Gebäuden, die den Charakter dieser Städte, ihre spezifischen Qualitäten erheblich beeinträchtigen. Hier steht die Planung häufig vor unvereinbaren Zielen – der Sicherung und Förderung der städtischen Wirtschaftskraft einerseits, der Erhaltung von Maßstab und geschichtlich gewachsener Eigenart andererseits. Besonders deutlich wird diese Problematik auch bei Trägen der Stadterneuerung. Diese Aufgabe, zuerst in den Großstädten gesehen und verfolgt, richtet sich dort in aller Regel auf die eng bebauten, stark mit Gewerbe durchmischten Wohngebiete des 19. Jahrhunderts, die man weitgehend durch eine großflächige Neubebauung ganz anderer Struktur ersetzen wollte. Zwar legt man inzwischen mehr Gewicht auf eine behutsame Veränderung unter zumindest teilweiser Bewahrung der alten Substanz, doch bleibt die Großstadt durch relativ großflächige Problembereiche gekennzeichnet, auf die auch die Regelungen des Städtebauförderungsgesetzes in erster Linie zugeschnitten sind. Die Stadterneuerung in der Kleinstadt dagegen pflegt nicht nur von vornherein mehr Gewicht auf die Erhaltung zu legen, sondern sie ist vor allem durch eine stärkere Streuung relativ kleinräumiger – meist auf wenige Grundstücke beschränkter – sanierungsbedürftiger Bereiche gekennzeichnet. Das bedeutet, daß Stadterneuerung in Kleinstädten stärker auf punktuelle Maßnahmen angewiesen ist und sich meist mehr auf Modernisierung als auf Abbruch und Neubau stützen muß. So stellt sich das städtebauliche Problem der Rehabilitierung, der „Inwertsetzung“ (mise en valeur) historischer Bausubstanz in den Kleinstädten in der Regel mit größerer Schärfe – nicht nur, weil dort meist mehr erhalten ist als in den Großstädten – von Ausnahmen wie Regensburg

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oder Lübeck einmal abgesehen –, sondern auch, weil solche alten Gebäude meist wichtigere Funktionen im Stadtgefüge erfüllen, es stärker prägen als in der Großstadt. Der Schlüssel zu diesem Problem liegt im Finden einer geeigneten gegenwartsbezogenen Nutzung, welche die Instandhaltung der sanierten Gebäude auch wirtschaftlich zu sichern vermag, ohne andererseits eine solche ökonomische Dynamik zu entfalten, daß diese die Erhaltung der historischen Substanz wieder in Frage stellte. Naturgemäß wirft jede Stadterneuerung auch soziale Probleme auf, zumal häufig die Bewohner solcher Sanierungsgebiete wirtschaftlich wenig leistungsfähig sind oder auch zu sozialen Randgruppen gehören, die durch einen Wohnungswechsel vor kaum lösbare Probleme gestellt würden. So geht es in jedem Falle um ein Abwägen unterschiedlicher und zum Teil gegenläufiger Ziele: Rehabilitierung der Bausubstanz, bessere Funktionserfüllung des Gebietes im Stadtgefüge, bessere Lebensverhältnisse für die Bewohner. Für die heutige Sicht der Erneuerungsaufgabe hat man den Begriff der erhaltenden Erneuerung geprägt, und damit ist im Grunde mehr als nur ein Teilproblem der Stadtplanung umrissen; insbesondere in einer Zeit, die nicht mehr durch dynamische Expansion der Städte gekennzeichnet ist, stellt solche erhaltende Erneuerung das Kernstück jeder Stadtplanung dar. An die Stelle der Erwartung unbegrenzten wirtschaftlichen Wachstums und technischer Perfektion ist das Bemühen um einen sparsamen Umgang mit unseren räumlichen Ressourcen, damit auch ein höherer Stellenwert ökologischer Erwägungen, eine stärkere Berücksichtigung der Umweltqualität getreten. Es wird abzuwarten sein, ob diese Grundstimmung stark genug ist, auch in der Realität einen Beitrag zu jener „Humanisierung der Stadt“ zu leisten, mit der heute das seit vielen Jahrzehnten bestehende Anliegen der Stadtplanung bezeichnet wird.

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Wandel und Kontinuität im deutschen Städtebau

Erschienen in: Stadtbauwelt, 69. Jahrgang, Nr. 57, 1978, S. 426–433, Bertelsmann Fachzeitschriften, Berlin.

Dieser Artikel ist aus einem Referat erwachsen, das der Verfasser unter dem Titel: „Town planning in Germany – continuity and change under conditions of political turbulence“ bei der Ersten Internationalen Konferenz über die Geschichte der Planung 1977 in London gehalten hat. Gegenüber der Vortragsfassung wurde die Übersetzung leicht gekürzt, vor allem um die Teile, die bei deutschen Lesern – in Gegensatz zu einer internationalen Hörerschaft – als bekannt gelten können. Städtebau, so sagt man heute gern, spiegelt die gesellschaftliche Ordnung, ist Niederschlag politischer Machtverhältnisse, ist steingewordene Sozialgeschichte. Die antike Stadt mit der Agora oder dem Forum, die mittelalterlichen Städte mit ihren Domen und Rathäusern, die Stadt des Absolutismus mit dem Schloß im Blickpunkt der großen Straßenachsen – das gehört zum festen Bestand unserer Vorstellungen über den Zusammenhang von Städtebau und Gesellschaft. Vor einigen Jahren nun erschien ein Buch von David Eversley, der drei Jahre lang zuständig für die Planungsstrategie Groß-Londons gewesen war; es enthält die These, man könne dem britischen Städtebau kaum anmerken, daß er im Laufe der Nachkriegszeit in mehrfachem Wechsel von ganz unterschiedlich gerichteten politischen Strömungen gesteuert worden sei 1. Das trifft allerdings nicht zu für eines der zentralen Probleme – das des Planungswertausgleichs, bei dem mit jedem Machtwechsel das Steuer herumgerissen würde. Aber im allgemeinen ist die These einleuchtend, und sie korrespondiert auch mit einer Aussage aus dem 1976 erarbeiteten Bericht des Royal Town Plan1

Eversley, D., The Planner in Society, London 1973, S. 89 f.

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ning Institute zur „Zukunft der Planung“ 2: daß in den ersten fünfundzwanzig Jahren nach Kriegsende ein weitgehender Konsens über Stadtplanungsfragen bestanden habe. Nun ist Großbritanniens geschichtliche Entwicklung im Allgemeinen für ihr hohes Maß an Kontinuität bekannt – wie aber steht es mit Deutschlands bewegter politischer Geschichte vor allem in unserem Jahrhundert? Müßte sich diese Turbulenz nicht sehr deutlich im Städtebau niedergeschlagen haben? Und wieweit werden solche nationalen Komponenten in ihrer Einwirkung auf den Städtebau durch allgemeine Entwicklungstendenzen der Industriegesellschaft überlagert? Allerdings ist die städtebauliche Entwicklung zu vielschichtig, als daß sie sich auf eine einfache Formel bringen ließe. Politischer Rahmen, ideologischer Hintergrund, Rechtssystem, materielle Grundsätze und formale Verfahren – das alles bildet ein vielfältig verflochtenes Gewebe mit einer Vielzahl wechselseitiger Beziehungen und Abhängigkeiten. Gleichwohl soll im folgenden eine Trennung in drei Entwicklungsstränge vorgenommen werden, die jeweils für sich zu betrachten sind: zunächst Ziele und ideologischer Hintergrund der Planung, dann das Planungsrecht und schließlich die Planungspraxis. Veränderungen und Beharrungstendenzen lassen sich innerhalb solcher Teilbereiche nicht nur besser auffinden, sondern auch klarer darstellen, als dies bei einem synoptischen Ansatz möglich wäre.

I. Ziele und ideologischer Hintergrund der Planung Alle Planung wird maßgeblich bestimmt von der Art und Weise, wie ihre Rolle im politischen und gesellschaftlichen Gefüge verstanden wird. Rahmen und Ziele der Stadtplanung, die Vorstellung ihrer Wirkungsmöglichkeiten, das Selbstverständnis der Planenden – alles das macht das aus, was man das „Planungsklima“ nennen könnte und was im Laufe der Zeit erheblichen Veränderungen unterworfen ist. Wie in anderen europäischen Ländern, so waren auch im Deutschland des 19. Jahrhunderts das Wachstum der Industriestadt und die Ent2

Royal Town Planning Institute (Hrsg.), Planning and the Future, London 1976, S. 7.

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wicklung der städtischen Lebensform mit Skepsis betrachtet worden. Gewiß hatte die Stadt hier einen guten Ruf seit der Zeit der mittelalterlichen „Freien Reichsstadt“, die als Wiege blühender Stadtkultur und bedeutender kommunaler Leistungen gesehen wurde. Andererseits jedoch gab es gleichzeitig eine starke Strömung, welche die Stadt – besonders die Großstadt – als Quelle vieler Übel ansah. Der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl hatte schon um die Jahrhundertmitte vor dem Stadtwachstum gewarnt: „Europa wird krank an der Größe seiner Großstädte“ 3. Bismarck hatte nicht viel für die großen Städte übrig, in denen er „das wahre preußische Volk“ nicht fand 4, und in der Tat hatten sich noch vor der Reichsgründung 1871 die ersten Probleme bemerkbar gemacht, die aus der schnellen Verstädterung erwuchsen. Der städtebauliche Wettbewerb für den Bereich der früheren Befestigungen in Wien im Jahre 1857 hatte auch in Deutschland große Aufmerksamkeit gefunden, und für die schnell wachsende preußische Hauptstadt Berlin hatte der Polizeipräsident in den Jahren 1858 bis 1862 einen „Bebauungsplan“ aufstellen lassen, dessen Bauflächen in der Lage sein sollten, vier Millionen Einwohner aufzunehmen – das Achtfache der damaligen Bevölkerung 5. Aus den siebziger Jahren stammen die ersten bedeutenden Veröffentlichungen über städtebauliche Fragen – eine scharfsichtige Kritik des Berliner Bebauungsplanes durch den Statistiker Bruch, ein engagiertes Plädoyer der Gräfin Dohna-Poninski – unter dem Decknamen Arminius – für bessere Wohnungen und mehr Freiflächen für die Arbeiter und zugleich für mehr soziales Verantwortungsbewußtsein im Städtebau, und schließlich das erste deutsche Fachbuch über Stadterweiterungen von Baumeister, Professor des Ingenieurwesens in Karlsruhe 6. Im gleichen Zeitraum führte ein stürmisches wirtschaftliches und demographisches 3

Riehl, W. H., Die Naturgeschichte des deutschen Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik, Bd. 2, Land und Leute, Stuttgart 1891, S. 102 (Erstveröffentlichung 1861). 4 Büchmann, G., Geflügelte Worte und Zitatenschatz, Neue Ausg., Zürich o. J., S. 316. 5 Vgl. Hegemann, W., Das steinerne Berlin, Frankfurt/M. und Wien 1963, S. 207 (Erstveröffentlichung 1930). 6 Bruch, E., Berlins bauliche Zukunft und der Bebauungsplan, Deutsche Bauzeitung, Bd. 4, 1870, S. 71 – Arminius (Adelheid Gräfin Dohna-Poninski), Die Großstädte in ihrer Wohnungsnot und die Grundlagen einer durchgreifenden Abhilfe, Leipzig 1874.

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Wachstum zu weiterer Verstädterung und damit zu einer Verschärfung der Wohnungsprobleme, die bereits seit den fünfziger Jahren beklagt und kritisiert worden waren. So waren es einerseits die Wohnungsreformbestrebungen, andererseits die Ingenieuraufgaben des Straßenbaues, der Wasserversorgung, der Abwasserbeseitigung, aus denen sich die ersten Beiträge zum modernen Städtebau ergaben. Zu ihnen trat bald die Forderung nach besserer Gestaltung der wachsenden Städte, vor allem unter dem Einfluß der Thesen von Camillo Sitte 7. Er und Stübben machten den Begriff „Städtebau“ anstelle der bisherigen „Stadterweiterung“ allgemein üblich und förderten die Einsicht in die Bedeutung städtebaulicher Fragen 8. Zugleich begann sich die Wissenschaft – wenn auch erst in einzelnen Ansätzen – der Stadt zuzuwenden; Georg Simmel beschrieb und analysierte um die Jahrhundertwende die Großstadt und den durch sie geprägten Großstädter in sehr kritischer Weise 9, allerdings im Rahmen eines Sammelbandes, der im Zusammenhang mit der Dresdner Städtebauausstellung von 1903 veröffentlicht wurde und zahlreiche Beiträge zum Lobe der Städte enthielt, die als „Bahnbrecher auf dem Wege einer aufwärtsstrebenden, wahrhaft sozialen Kulturentwicklung“ gepriesen wurden 10. Tatsächlich war das Klima der Stadtplanung stark beeinflußt durch den Fortschrittsglauben, wobei die Planung nur die Aufgabe hatte, Reibungen zu vermeiden oder deren Auswirkungen aufzufangen. Aber allmählich ließ das Vertrauen in die positiven Ergebnisse des freien Spiels der Kräfte, in den Fortschritt durch „laisser faire“ nach; die Argumente von Kritikern und Reformern erfuhren mehr und mehr Beachtung. Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts brachte eine Anzahl wichtiger neuer Entwicklungen im Städtebau mit sich: die Gründung der „Deutschen Gartenstadtgesellschaft“ im Jahre 1902 unter dem Einfluß

– Baumeister, R., Stadterweiterungen in technischer, baupolizeilicher und wirtschaftlicher Beziehung, Berlin 1876. 7 Sitte, C., Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Wien 1889. 8 Stübben, J., Städtebau, Darmstadt 1890. 9 Simmel, G., Die Großstädte und das Geistesleben, in: Die Großstadt, Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung, Dresden 1903. 10 Bücher, K., Die Großstädte in Gegenwart und Vergangenheit, in: Die Großstadt, a. a. O., S. 31.

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der Gedanken Howards, die Gründung der ersten Fachzeitschrift „Der Städtebau“ durch Sitte und Goecke, die ersten unmittelbar auf den Städtebau gerichteten Hochschulveranstaltungen, die ersten städtebaulichen Ausstellungen (Dresden 1903, Berlin 1910 – im gleichen Jahre wie eine ähnliche Ausstellung in London –, Düsseldorf 1912). Der neue Begriff der Stadtplanung trat neben den des Städtebaues; in ihm schwangen außer den alten technisch-gestalterischen auch funktionale und soziale Komponenten mit. In die als chaotisch empfundene Stadtentwicklung „Ordnung“ zu bringen, erschien als zentrale Aufgabe, und offenbar ging man weithin von einer Korrespondenz aus zwischen der visuellen und funktionalen Ordnung der Stadt auf der einen Seite und ihrer gesellschaftlichen Ordnung auf der anderen Seite. Vom Planer wurde erwartet, daß er sich um beide Aspekte kümmerte; auch wenn seine Mittel allein auf räumliche Maßnahmen gerichtet waren, sollten sie doch im Sinne sozialer Verantwortung eingesetzt werden. Das wird sehr deutlich bei dem wohl bedeutendsten deutschen Stadtplaner in der ersten Jahrhunderthälfte, Fritz Schumacher, der im Städtebau das Ineinandergreifen sozialer und ästhetischer Aufgaben sah 11. Hier finden wir einige Parallelen zu Entwicklungen in Großbritannien und Nordamerika, zum Teil sogar unmittelbare Einflüsse. In seinem Bericht über die Berliner Städtebauausstellung des Jahres 1910 zitierte Werner Hegemann – der sich zuvor längere Zeit in den Vereinigten Staaten aufgehalten hatte – an hervorgehobener Stelle den Amerikaner Benjamin Marsh: „Eine Stadt ist nicht gesünder, als die höchste Sterblichkeitsziffer in irgendeinem Stadtviertel oder Häuserblock anzeigt; und eine Stadt ist nicht schöner als ihre häßlichste Mietkaserne. Die Hinterhöfe einer Stadt und nicht die Schmuckplätze sind der wahre Maßstab ihres Wertes und ihrer Kraft 12.“ Fünf Jahre später wählte Martin Wagner, der in den zwanziger Jahren Stadtbaurat von Berlin und später Professor am Massachusetts Institute of Technology werden sollte, als Motto für seine Doktordissertation ein Zitat von Muirhead: „The problem of the

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Schumacher, F., Kulturpolitik, neue Streifzüge eines Architekten, Jena 1920 S. 3. Hegemann, W., Der Städtebau nach den Ergebnissen der allgemeinen StädtebauAusstellung in Berlin, Bd. 1, Berlin 1911, S. 114; zit. nach Marsh, B. C., Introduction to City Planning, New York 1909, S. 27.

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generation was to provide gas and water; the problem of the next is to provide light and air 13.“ Die meisten neuen Ansätze aus dieser Zeit reiften erst nach dem ersten Weltkrieg – in einer Atmosphäre, die durch verschiedenartige Einflüsse geprägt war: die Probleme politischer und wirtschaftlicher Unsicherheit auf der einen, die Verheißung eines Neubeginns in der endlich geschaffenen Republik auf der anderen Seite. Diese Atmosphäre schlug sich auch in zahlreichen städtebaulichen Veröffentlichungen der frühen zwanziger Jahre nieder. Die Weimarer Republik machte erhebliche Anstrengungen, eine fortschrittliche Wohnungsbaupolitik zu fördern, und zahlreiche städtebauliche Planungen, insbesondere für neue Wohngebiete, gewannen internationale Anerkennung. Um diese Zeit traten auch die ersten Ergebnisse dessen, was man heute Stadtforschung nennen würde, in das Bewußtsein der Planer; demographische Untersuchungen, ökonomische Studien, soziologische Interpretationen der Stadt trugen zu einem neuen Verständnis bei, das für die Planung fruchtbar wurde. Man gewann ein klareres Bild jener sozioökonomischen Entwicklungen, die dem städtischen Wachstum und Wandel zugrunde lagen, und begann sie zu prognostizieren: die Aufgabe der städtebaulichen Planung sah man nun in der Schaffung eines räumlichen Rahmens, der die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungskräfte auffangen und sinnvoll lenken sollte. Im Gegensatz zu der letztlich passiven Haltung gegenüber dem Stadtwachstum, die im 19. Jahrhundert vorherrschte, zeigte sich jetzt das Bemühen, nicht nur die Grundform der Stadterweiterung, sondern auch die Siedlungsstruktur in ihrer Gesamtheit zu beeinflussen – bis hin zum Gedanken der vollständigen Auflösung der Großstadt. Solche Großstadtfeindlichkeit war keineswegs auf Deutschland beschränkt, wurde aber hier wohl mit mehr Eifer gepredigt als anderswo. Erst nach Hitlers Machtergreifung indessen erhielt dieser Gedanke eine Art offizieller Bestätigung, obwohl man nicht von einer konsequenten nationalsozialistischen Siedlungspolitik in diesem – oder in irgendeinem anderen – Sinne sprechen kann. Zu heterogen waren die Kräfte, die sich in den Vordergrund spielten, zu groß die Spannweite zwischen den Zielvorstellungen heimattümelnder Blut-und-Boden-Siedlung – „Biedermeier mit Eichenlaub und 13

Wagner, M., Städtische Freiflächenpolitik, Berlin 1915, S. XI.

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Schwertern“ nach einem Wort von Carlo Schmid – und denen eines megalomanen Repräsentationsstädtebaues mit Riesenbauten an überdimensionalen Achsen. Nach dem Zweiten Weltkrieg findet sich eine vielfältige Mischung ideologischer Elemente im Städtebau der Bundesrepublik. Zunächst blieben die Vorbehalte gegen die große Stadt bestehen; „Entballung“ – als sprachlich wenig überzeugender Gegensatz zur früheren Wortprägung „Ballung“ war eine wichtige Vokabel auch im Sprachschatz der Landesplanung. Das Einfamilienhaus, als ideale Wohnform von den Reformern des 19. Jahrhunderts, von fortschrittlichen Planern in den zwanziger Jahren wie auch von den Nationalsozialisten angesehen, erfuhr besondere Förderung durch rechtliche und finanzielle Maßnahmen. Diese Förderung ist auch das konkreteste Ziel unter allen, die das Bundesbaugesetz von 1960 nennt. In seiner Grundauffassung steht dieses Gesetz am Ende des oben umrissenen Zeitabschnitts, der im Wesentlichen durch die Vorstellung gekennzeichnet war, daß Städtebau vorausschauend auf die räumlichen Bedürfnisse von Gesellschaft und Wirtschaft zuzuschneiden sei, wobei deren Entwicklung im Wesentlichen als autonomer, unbeeinflußbarer Vorgang gesehen wurde. Inzwischen ist diese Auffassung der Überzeugung gewichen, daß Städtebau und Stadtplanung sich nicht auf den Einsatz räumlicher Ordnungsmittel beschränken, sondern vielmehr weitere Aspekte der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung einbeziehen sollten, die einer zielgerichteten Einflußnahme zugänglich sind. So hat sich also das allgemeine Ziel der Planung – in der ersten Jahrhunderthälfte als politisch neutrale „Daseinsvorsorge“ verstanden – nach 1960 allmählich auf ein komplexeres Zielsystem verlagert, das eng mit politischen Entscheidungen verknüpft ist. Wenn die Novelle zum Bundesbaugesetz von 1976 unter die Hauptziele der Bauleitplanung außer der schon in der alten Fassung enthaltenen „geordneten, städtebaulichen Entwicklung“ auch eine „sozialgerechte Bodennutzung“ und eine „menschenwürdige Umwelt“ aufgenommen hat, so deutet sich damit eine Schwerpunktverlagerung an: Der Auftrag der Planung beschränkt sich nicht mehr darauf, den Grundeigentümer – lange als alleiniger Betroffener der Planung angesehen – an einer dem Allgemeinwohl abträglichen Nutzung seines Eigentums zu hindern; es wird vielmehr zur Angelegenheit der öffentlichen Verantwortung, die Umwelt zum Wohle aller Bürger – Grundeigentümer

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oder nicht – zu gestalten und damit positive Planung an die Stelle nur restriktiver zu setzen. Nicht minder wichtig: Die Definition dieses Allgemeinwohls erscheint nicht länger als alleinige Aufgabe des Fachmanns, der Behörde, des Planers – vielmehr gilt heute öffentliche Partizipation, Bürgerbeteiligung sowohl bei der Abklärung der Ziele als auch im Verfahren der Verwirklichung als unerläßlich. Noch eine weitere Tendenz war mit dem Umschlag zu einem umfassenderen Planungsverständnis verbunden: ein ausgeprägtes Vertrauen in die Lösbarkeit der Probleme, eine „Machbarkeitseuphorie“, die mit einer etwas naiven Extrapolation des Wirtschaftswachstums und des technischen Fortschritts in Richtung auf das magische Jahr 2000 einherging. Inzwischen allerdings ist der Kamm dieser Woge vorbeigerauscht; wir sehen uns neuen Problemen schwindender Ressourcen, verringerten Wirtschaftswachstums, schrumpfender Bevölkerung gegenüber, denen sich eine verbreitete Veränderungsfeindlichkeit überlagert. Zumindest seit der Jahrhundertwende war für den Planer „neu“ immer gleichbedeutend mit „besser“ gewesen – bessere Architektur, bessere Planung –, und seit der Mitte unseres Jahrhunderts hatte der Begriff des „Wandels“ eine geradezu magische Strahlkraft gewonnen: Jeder Wandel galt fraglos als Veränderung zum Besseren. Seit einigen Jahren indessen wird jede Veränderung der Umwelt weithin mit Skepsis, wenn nicht mit offener Ablehnung betrachtet – ein Phänomen, das den Bewahrungstendenzen erheblichen Auftrieb gegeben hat. Der – gewiß erfreuliche – Erfolg des Denkmalschutzjahres 1975 wäre kaum verständlich, setzte man nicht eine schon latent vorhandene Bereitschaft zum Engagement in diesem Sinne voraus, bei dem wiederum die Gefahr eines Pendelschwunges über das Ziel hinaus nicht auszuschließen ist. Auch diese Erscheinung läßt sich, wie die vorerwähnten Tendenzen, in den Nachbarländern in ganz ähnlicher Form beobachten: Hier wie dort zeichnen sich Wandlungen in den Planungsprioritäten ab, die sich in ihren Konsequenzen noch nicht voll überblicken lassen.

II. Entwicklung der Rechtsgrundlagen Der Kern des Planungsrechtes liegt in der Frage, in welchem Umfange dem Grundeigentümer zugemutet werden kann, die Verfügungsberechti-

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gung über die Nutzung seines Grund und Bodens durch Entscheidungen der – wie immer gearteten – Obrigkeit einschränken zu lassen. Die Antwort darauf wandelte sich im Laufe der Zeiten; die herrschende Auffassung des 19. Jahrhunderts fand bereits einen treffenden Ausdruck im preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794: „In der Regel ist jeder Eigentümer seinen Grund und Boden mit Gebäuden zu besetzen oder seine Gebäude zu verändern wohl befugt, doch soll zum Schaden oder zur Unsicherheit des gemeinen Wesens oder zur Verunstaltung der Städte und öffentlichen Plätze kein Bau und keine Veränderung vorgenommen werden“ 14.

Die Öffentlichkeit vor Schaden und Unsicherheit zu bewahren, war Aufgabe der Polizei, und so ist es für das Denken des 19. Jahrhunderts ganz logisch, daß die Stadtplanung – die ja nach dem Verständnis des Liberalismus nur durch das Erfordernis der Gefahrenabwehr zu rechtfertigen war – zur Aufgabe der Baupolizeibehörde wurde. Erst um 1870 wurden die Gemeinden durch staatliche Gesetze – am bekanntesten wurde das preußische Fluchtliniengesetz von 1875 – zur Aufstellung von Straßenund Baulinienplänen ermächtigt, während das Baurecht weiterhin Staatsangelegenheit blieb. So wurde das Maß der Bodennutzung – Überbauungsgrad der Grundstücke, Geschoßflächendichte, Gebäudeabstände – durch staatliche Bauordnungen geregelt. Diese gestatteten im 19. Jahrhundert durchweg ein sehr hohes Nutzungsmaß bis zu einer Geschoßflächenzahl von fünf und zu Nettowohndichten von mehr als tausend Einwohnern je Hektar. Unter dem Eindruck der offenkundigen Mißstände wurden jedoch von den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts an diese Schwellenwerte durch Neufassung der Vorschriften in den verschiedenen Ländern schrittweise verringert. Dies ging natürlich – wegen der Landeszuständigkeit – keineswegs gleichzeitig vor sich, doch läßt sich die allgemeine Tendenz in diese Richtung nachweisen. Auch für die Nutzungsart, die zunächst mangels gesetzlicher Bindungen fast vollständig dem Markt überlassen blieb, wurden neue Regelungen gefunden; ab etwa 1890 setzte sich allmählich das Konzept einer Stufung des Stadtgefüges nach Art und Maß der Zonen- oder Staffelbauordnungen ihren Nieder-

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Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten, 5. Februar 1794, §§ 65 und 66 I 8.

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schlag fand. Im Zusammenhang damit zeigte sich das Bedürfnis nach einem Plan, der umfassender in räumlicher Hinsicht, aber zugleich flexibler in rechtlicher Hinsicht war als der übliche Fluchtlinien- oder Bebauungsplan. Er führte zum Konzept eines „Generalbebauungsplans“ für das ganze Gemeindegebiet – analog etwa dem „Master Plan“ in Großbritannien und den Vereinigten Staaten – das später in das Rechtsinstrument des Flächennutzungsplanes mündete. Es war zu Beginn unseres Jahrhunderts die Lenkung der Bodennutzung zum Teil durch örtliche Bebauungspläne, zum Teil durch staatliche Bauvorschriften geregelt – mit der Folge eines wenig glücklichen Dualismus gemeindlicher und staatlicher Zuständigkeiten. Ein weiterer Dualismus bestand hinsichtlich der Gesetzgebungszuständigkeit für die Stadtplanung zwischen den Ländern und dem Reich. Da die städtebauliche Gesetzgebung lange Zeit als ein Zweig des Baurechtes betrachtet worden war, lag sie ursprünglich in der Hand der Länder und wies infolgedessen beträchtliche Unterschiede auf; als systematischstes und fortschrittlichstes Gesetzgebungswerk seiner Zeit galt das des Königreichs Sachsen aus dem Jahre 1900. In Preußen wurden die Planungswerkzeuge erheblich verbessert durch das Wohnungsgesetz vom März 1918, das also noch unter der Monarchie verabschiedet wurde; das republikanische Preußen zwischen 1918 und 1933 machte keine weiteren Fortschritte auf diesem Gebiet. Allerdings war in den zwanziger Jahren das Bedürfnis nach umfassenden rechtlichen Neuregelungen offenkundig, so daß nicht nur in den Ländern, sondern auch bei der Reichsregierung an neuen Gesetzesentwürfen gearbeitet wurde. Indessen wurden die beachtlichen städtebaulichen Leistungen der zwanziger Jahre mit recht bescheidenen rechtlichen Mitteln erreicht; die Bemühungen, die neuen Erkenntnisse und Grundsätze im Städtebau in das Planungsrecht umzusetzen, führten nur zu wenigen greifbaren Ergebnissen – wahrscheinlich infolge der politischen Instabilität und der schnellen Abfolge verschiedener Reichskabinette und Reichstagswahlen; lediglich in Sachsen und Thüringen wurden um 1930 Städtebaugesetze erlassen, während es in Preußen und im Reich bei Vorarbeiten blieb. Auf ihrer Grundlage beruhte das im September 1933 – also nach der nationalsozialistischen Machtübernahme – erlassene Wohnsiedlungsgesetz. Allgemein liefen die Bemühungen um eine Verbesserung der Rechtsgrundlagen auch unter nationalsozialistischer Herrschaft – unter der die

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Gesetzgebungszuständigkeit beim Reich zentralisiert war – weiter bis hin zu einem Entwurf für ein „Deutsches Baugesetzbuch“, der im Kriege fertiggestellt, aber nicht in Kraft gesetzt wurde. Offenkundig lag Hitler nicht an einem solchen Gesetz; ihm ging es nur um die Regelung der Zuständigkeiten 15. Dieser Gesetzentwurf läßt erkennen, daß die rechtlichen Erwägungen aus der Zeit der Weimarer Republik relativ kontinuierlich fortgeführt worden waren. Abgesehen von einigen eher dekorativen Formulierungen tritt das weltanschauliche Element kaum hervor; allerdings ist in der Zurückdrängung der kommunalen Zuständigkeiten die stärkere Zentralisierung – kennzeichnende Tendenz des totalitären Staates – offenkundig. Auch der Begriff der „anständigen Baugesinnung“ aus der Baugestaltungsverordnung von 1936 – der in bedenklicher Weise den Zeitgeist zu spiegeln scheint – entstammt nicht dem Vokabular des Dritten Reiches, sondern wurde gegen Ende des Ersten Weltkrieges von Theodor Fischer geprägt, der gewiß nationalsozialistischer Ideologie unverdächtig ist 16. Ganz deutlich jedoch fällt das „Gesetz über die Neugestaltung der deutschen Städte“ von 1937 aus dieser Kontinuität heraus; mit seinen sehr weitgehenden Eingriffsmöglichkeiten entfernt es sich von der im übrigen Planungsrecht noch durchaus gewahrten rechtsstaatlichen Grundlage. Nach dem Kriege zwangen die dringenden Probleme des Neuaufbaues die meisten deutschen Länder noch vor der Gründung der Bundesrepublik zum Erlaß von „Aufbaugesetzen“, die sich weitgehend auf städtebauliche Grundsätze und rechtliche Überlegungen der Zeit zwischen den Kriegen stützten. Diese Gesetze lehnten sich an einen Musterentwurf – den sogenannten Lemgoer Entwurf – an, der 1948 von einigen Fachleuten für die britische Besatzungszone erarbeitet worden war 17. Im allgemeinen zeigen diese Gesetze einen deutlichen Zusammenhang mit früheren gesetzlichen Regelungen; der Hauptunterschied lag bei der – durch die

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Mündliche Aussage von Min.-Dir. Wambsganz über eine Bemerkung von Reichsarbeitsminister Seldte nach Vortrag bei Hitler. 16 Fischer, Th., Sechs Vorträge über Stadtbaukunst, München 1920, S. 35. 17 Veröffentlicht am 12. August 1947 vom Zentralamt für Arbeit der britischen Zone; mit Ergänzungen und Begründung abgedruckt in: Göderitz, J. (Hrsg.), Neues Städtebaurecht; der Entwurf eines Gesetzes über den Aufbau der deutschen Gemeinden (Aufbaugesetz), Braunschweig 1948.

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Nachkriegssituation bedingten – stärkeren Betonung der Instrumente zur Verfügbarmachung des Baubodens, wie des Vorkaufsrechtes und der Enteignung. Bereits im Jahre 1950 – ein Jahr nach der Gründung der Bundesrepublik – wurde der erste Entwurf für ein Bundesbaugesetz vorgelegt, das allerdings zutreffender „Bundesgesetz für städtebauliche Planung und Bodenordnung“ hieße. Die Beratungen zogen sich zehn Jahre hin, zumal eine rechtliche Klärung der Zuständigkeiten von Bund und Ländern notwendig wurde 18, so daß das Gesetz erst 1960 verabschiedet werden konnte. In seinen Grundzügen folgt es deutlich den Entwicklungslinien, die sich über eine Zeit von etwa hundert Jahren geformt hatten. Die Planungszuständigkeit wurde den Gemeinden zuerkannt, dem Staat obliegt die Rechtsaufsicht. Die beiden schon früher entwickelten Planarten wurden erneut bestätigt: der Flächennutzungsplan, der die Absichten der Gemeinde hinsichtlich der künftigen Bodennutzung darstellt, und der Bebauungsplan als verbindliche Ortssatzung. Ein Vergleich mit dem hochentwickelten britischen Planungssystem zeigt, daß die deutschen Pläne eine stärkere Bindungswirkung entfalten; während nach britischem Recht für die Genehmigung eines Vorhabens die Pläne nur „in Betracht zu ziehen“ sind, stellen sie hier eine verbindliche Grundlage dar, die der Behörde keinen nennenswerten Ermessungsspielraum läßt. Trotz seiner Ausführlichkeit enthält das Bundesbaugesetz keine Regelung für das Problem des planungsbedingten Bodenwertzuwachses. Zwar hatte der erste Entwurf – wie übrigens auch der Entwurf zum „Deutschen Baugesetzbuch“ von 1942 – eine Regelung vorgesehen, die annähernd dem 1947 in Großbritannien eingeführten – und später wieder abgeschafften – Planungswertausgleich entsprach; sie wurde aber während der Beratungen aufgegeben, wobei vermutlich auch der offenbare Fehlschlag dieses Verfahrens in Großbritannien eine Rolle spielte. Erst mit dem Städtebauförderungsgesetz von 1971 wurde das Problem für eine begrenzte Zahl von Fällen – für Sanierungs- und Entwicklungsgebiete – im Sinne eines Wertausgleichs geregelt. Zugleich wurden 18

Gutachten über die Erfordernisse der Bau- und Bodengesetzgebung (Weinheimer Gutachten), Schriftenreihe des Bundesministers für Wohnungsbau, Heft 1, Hamburg 1952.

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zusätzliche Durchsetzungsmöglichkeiten für die Planung geschaffen, die zum großen Teil auch in die Novelle zum Bundesbaugesetz von 1976 Eingang fanden. Allerdings wurde auf die allgemeine Einführung des Planungswertausgleichs, der schon in der Regierungsvorlage durch einen Koalitionskompromiß verwässert war, verzichtet, da hierüber eine Einigung mit dem Bundesrat nicht zu erzielen war. Gleichwohl weisen Verfahrensvorschriften und Durchsetzungsinstrumente deutliche Veränderungen auf: Während das Bundesbaugesetz von 1960 noch weitgehend dem Planungsverständnis der dreißiger Jahre entspricht, spiegeln sich im Städtebauförderungsgesetz und in der Novelle zum Bundesbaugesetz jene Wandlungen des Planungsklimas, die im vorigen Abschnitt dargestellt wurden.

III. Grundsätze städtebaulicher Praxis Planungsgrundsätze beziehen sich einerseits auf den Planungsprozeß, andererseits auf den Planungsinhalt, also auf Konzepte und Modelle der Gebäudeanordnung; sie betreffen dementsprechend Stadtstruktur und Stadtgestalt. Beide Aspekte wurden schon früh in der deutschen städtebaulichen Literatur erörtert; Baumeister sah die künftige Großstadt aus drei Hauptelementen unterschiedlicher Nutzung zusammengesetzt: der Geschäftsstadt, den Wohngebieten und den Industriegebieten, und er erörterte ausführlich die möglichen Straßensysteme, allerdings nur unter funktionellen, nicht unter ästhetischen Gesichtspunkten 19. Sitte dagegen setzte sich mit Gestaltungsfragen auseinander, vor allem mit den räumlichen Qualitäten von Straßen und Plätzen; und seine gestalterischen Zielvorstellungen richteten sich gegen die geometrisch-schematischen Straßensysteme, die immer noch deutlich unter dem Einfluß von Haussmanns Plänen für Paris standen. Gleichwohl gibt es Ähnlichkeiten zwischen beiden Ansätzen: beide beziehen sich zunächst auf den Raum und betrachten die Gebäude vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der Raumbegrenzung 20.

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Baumeister, a. a. O. Sitte, a. a. O.

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Das erste Konzept einer strukturellen Ordnung der Stadt wurde 1896 von Theodor Fritsch veröffentlicht – in der Form eines Planbeispiels für eine imaginäre Stadt –, zwei Jahre vor Howards Diagramm für eine neu zu gründende Kleinstadt, die „Garten-Stadt“, die das Wachstum der Großstädte auffangen und die Vorteile von Stadt und Land vereinen sollte 21. Es gibt einige Ähnlichkeiten, doch steht heute offenbar außer Zweifel, daß die Autoren unabhängig voneinander zu ihren Vorschlägen gekommen sind. Beide gehen aus von einer konzentrischen Anordnung der Stadt mit einem geräumigen und repräsentativen Zentrumsbereich, während die Arbeitsstätten am Rande liegen. Im Gegensatz zu Howards egalitärem Modell spiegelt die von Fritsch vorgeschlagene Nutzungsstruktur deutlich die Klassengesellschaft. Große Aufmerksamkeit erfährt bei ihm die Anordnung von Freiflächen für öffentliche Zwecke; tatsächlich war wohl auch in der Alltagspraxis die Sicherung von Freiflächen das erste allgemein akzeptierte strukturelle Planungsziel. Die Gartenstadtidee wie auch die amerikanische Grünflächenpolitik fanden in Deutschland beträchtliche Resonanz; Howards „Garden Cities of Tomorrow“ erschien 1907 in deutscher Übersetzung, Unwins „Town Planning in Practice“ im Jahre 1910, nur ein Jahr nach seinem Erscheinen in England – übrigens mit einem auf bezeichnende Weise falsch übersetzten Titel: „Grundlagen des Städtebaues“ 22. Das Interesse war durchaus wechselseitig; 1904 veröffentlichte Horsfall eine Schrift „The Improvement of the Dwellings and Surroundings of the People: the Example of Germany“, in der er die Aktivität der deutschen Städte in der Stadtplanung hervorhob, und Planungsfachleute wie Geddes und Nettlefold unternahmen Informationsreisen nach Deutschland 23. Noch richteten sich aber die Überlegungen zur Stadtstruktur weniger auf die Nutzungsverteilung innerhalb der Stadt als auf die Stadtform in 21

Fritsch, Th., Die Stadt der Zukunft, Leipzig 1896. – Howard, E,: To-Morrow. A Peacefull Path to Real Reform, London 1898 (in späteren Auflagen: Garden Cities of To-Morrow, deutsch: Gartenstädte in Sicht, Jena 1907). 22 Unwin, R., Grundlagen des Städtebaues, Berlin 1910. 23 Horsfall, T. C., The Improvement of the Dwellings and Surroundings of the People: The Example of Germany, Manchester 1904. – Geddes, P., German Organization, in: Cities in Evolution (1. Auflage 1915), London 1949, S. 68–74. – Zu Nettlefold vgl. Cherry, G., Factors in the Origin of Town Planning in Britain: The Example of Birmingham 1905–14, Working Paper Nr. 36, History of Planning Group, 1975.

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ihrem Verhältnis zur umgebenden freien Landschaft. Im Gegensatz zu dem in Großbritannien üblichen Konzept des Grüngürtels zielten die meisten deutschen Beiträge hierzu auf die Sicherung von Grünkeilen zwischen den Baugebieten, die damit zu bandförmigen Elementen entlang eines Hauptverkehrszuges werden. Dieses Prinzip erlaubt offenkundig eine flexiblere Lenkung des Stadtwachstums, und seine konsequente Weiterführung bildet das Konzept der Bandstadt, das seit etwa 1930 viel theoretisches Interesse fand. Aber ungeachtet der Diskussionen über die Vorund Nachteile abstrakter Stadtstrukturmodelle blieb doch das Hauptinteresse der konkreten Planung auf die Entwicklung und die Umgestaltung der bestehenden Stadt gerichtet. Das Bedürfnis nach solcher Umgestaltung war nach den bitteren Erfahrungen mit der frühtechnischen Stadt der Gründerzeit unbestritten, und ebenso unbestritten waren einige miteinander verknüpfte Ziele solcher Umgestaltung: –







eine gleichmäßigere Verteilung der Dichte unter Verzicht auf die Mietskaserne mit ihren Hinterhöfen und unter Betonung des zweistöckigen Reihenhauses; eine Ausweitung der öffentlichen Freiflächen und ihre Anordnung in der Weise, daß sie von der freien Landschaft bis zum Stadtkern reichen; eine funktionelle und visuelle Trennung von klar begrenzten Stadtquartieren – Nachbarschaftseinheiten –; sie sollten die Gemeinschaftsbildung in der Stadt erleichtern und so der beklagten Anonymität der Stadt entgegenwirken; eine deutliche Trennung unterschiedlicher Nutzungen, vor allem zwischen Gewerbe- und Wohngebieten.

Dieser grundlegende Konsens bestimmte in den zwanziger Jahren die städtebauliche Diskussion – seine enge Verknüpfung mit den Thesen der Charta von Athen liegt auf der Hand – und erfuhr in der Praxis auch während des Dritten Reiches keine nennenswerte Veränderung 24. Die Nachbarschaftseinheit spielte für die strukturellen Überlegungen eine wichtige Rolle, und es liegt eine gewisse Ironie darin, daß sich dieses 24

Le Corbusier, An die Studenten / Die Charte d’Athènes, Reinbek bei Hamburg 1962.

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Konzept einerseits für die Ziele des totalitären Systems anzubieten schien, weil es eine klare Hierarchie spiegelte und zudem soziale Kontrolle erleichterte, während in den Vereinigten Staaten die gleiche Nachbarschaftseinheit als Grundlage des unmittelbaren Kontaktes zwischen den Bürgern angesehen und ihr damit eine Schutzfunktion gegen totalitäre Versuchungen zugeschrieben wurde 25. Die genannten Grundsätze spielten auch bei dem Neuaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg eine maßgebliche Rolle, wobei die Nachbarschaftseinheit – gewiß auch wegen ihrer Bedeutung in der amerikanischen Planungsdiskussion – besondere Aufmerksamkeit erfuhr. Bis gegen Ende der fünfziger Jahre bestand eine weitgehende Einheitlichkeit der Auffassungen, und wenn in der Kritik von der „verpaßten Chance“ nach dem Kriege gesprochen wurde, so war damit in der Regel gemeint, man hätte diese Prinzipien noch strikter anwenden und die vielen aufgrund rechtlicher und finanzieller Schwierigkeiten eingegangenen Kompromisse vermeiden müssen. Die Entwicklung der städtebaulichen Gestaltung im gleichen Zeitraum war zunächst bestimmt durch die erwähnten sogenannten „Geometerpläne“; im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts begannen sich demgegenüber die von Sitte verfochtenen Prinzipien durchzusetzen, die in Henricis Wettbewerbsentwurf für die Münchner Stadterweiterung besonders eindringlich dargestellt wurden. Bis über die Jahrhundertwende hinaus beherrschten sie – zumindest in der Theorie – die Szene mit einer Gestaltungsauffassung, die Le Corbusier später verächtlich „die Religion des Eselsweges“ nannte – mit gekrümmten Straßen, mit räumlich gefaßten Plätzen, mit gegliederten Baukörpern bescheidenen Maßstabs, die in ihrer Gesamtheit an die Raumfolgen der mittelalterlichen Stadt anknüpfen sollten. Dies alles vertrug sich gut mit dem Eklektizismus und seiner Vorliebe für das deutsche Mittelalter, wenn es auch Gegenkräfte gab, die mehr der großzügigen Geometrie des Barock und des Klassizismus anhingen 26. Aber ganz unabhängig von solchen Unterschieden wirkten sich die eingangs erwähnten sozialen Gesichtspunkte im Städtebau auch auf die Gestaltung aus: Es ging nicht mehr nur um die Straße und den Platz, sondern es ging ebenso um den Hinterhof und um 25 26

Vgl. Ascher, Ch., Better Cities, Washington D.C. 1942. Vgl. Ostendorf, F., Sechs Bücher vom Bauen, Berlin 1922.

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den Gebäudezuschnitt mit seinem Wohnungsgrundriß und seiner Orientierung. Einflüsse aus Großbritannien wirkten im gleichen Sinne: Die Prinzipien der Gebäudeanordnung in Gartenstädten und Gartenvorstädten erweckten nicht weniger Interesse als die Vorzüge des englischen Landhauses, die Hermann Muthesius den Deutschen nahebrachte 27. Der Jugendstil, der Deutsche Werkbund und manche andere Einflüsse bereiteten den Boden für einen radikalen Wandel in den Entwurfsgrundsätzen, der zwar schon vor dem Ersten Weltkrieg sichtbar wurde, aber erst nach dem Kriege vollständig zum Durchbruch kam; das Bauhaus und das „Neue Bauen“ sind seine bekanntesten, aber nicht die einzigen Ausprägungen. Die „Korridorstraße“ kam in Verruf, die Anordnung paralleler Gebäudereihen im rechten Winkel zur Straße – der „Zeilenbau“ – wurde zum gängigen Prinzip; die so gewonnene Offenheit erschien als ästhetische Bereicherung, während sie heute als Verlust des Straßenraumes gilt. Auf der anderen Seite gab es natürlich eine Reihe von Gegnern des Neuen Bauens, die es als Kulturverfall ansahen und als bolschewistisch bezeichneten; auch der Zeilenbau mit seinem egalitären Element – alle Wohnungen in gleicher Orientierung – war linker Tendenzen verdächtig. So nimmt es nicht wunder, daß diese Gegnerschaft mit Hitlers Machtergreifung an Boden gewann. Der Einfluß war allerdings in der Architektur stärker als im Städtebau, und selbst in der Architektur gab es Lücken: Die industrielle Architektur war weitgehend von ideologischer Einflußnahme ausgenommen. Aber im übrigen galt das Flachdach als ungehörig, und wenn man auch bei Wohnbauten nicht wieder zur geschlossenen Blockbebauung kam, so vermied man doch die Beschränkung auf parallele Gebäudezeilen. Verschiedentlich wurden wieder Höfe gebildet, wenn auch noch aus voneinander getrennten Zeilen zusammengesetzt; das Interesse an räumlichen Gruppierungen trat wieder stärker hervor. Im Gegensatz zu den relativ bescheidenen Wohnanlagen bis hinunter zur Kleinsiedlung im Blut-und-Boden-Stil gab es anspruchsvolle, zum großen Teil megalomane Konzepte für die Umgestaltung einiger Großstädte – meist in einem maßstabslosen, monumental gemeinten Klassizismus –, die zum Glück Papier blieben.

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Muthesius, H., Das englische Haus, Bd. 3, Berlin 1904/05.

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Der Städtebau nach dem Zweiten Weltkrieg wandte sich verständlicherweise von solchen Versuchen zur Demonstration von Macht ab und entwickelte geradezu eine Allergie gegen eine axiale Symmetrie. Statt dessen sucht er die Beziehungen zur Zeit vor 1933 aufzunehmen, wenn man auch nicht mehr auf die geometrische Strenge zielte, wie sie um 1930 vorherrschte. Man verwandte zeilenförmige Baukörper weiter, gruppierte sie aber im Interesse der räumlichen Wirkung im stumpfen oder rechten Winkel zueinander. Man blieb damit den strukturellen Zielen der Auflokkerung und Durchgrünung treu, während man zugleich die räumlich ambivalente Erscheinungsform des Zeilenbaus vermied, die ihre Anziehungskraft weitgehend eingebüßt hatte. Diese relativ gefestigten Grundsätze der Strukturplanung und Gestaltung im Städtebau gerieten etwa seit dem Jahre 1960 zunehmend ins Zwielicht; die bisher verfolgten Konzepte der Gliederung und Auflockerung wurden angefochten, in der Literatur mehrten sich die Angriffe auf die ideologische Voreingenommenheit der Planer 28. Der „Charta von Athen“ lastete man die Schuld an der Verödung der Innenstädte an: Man habe über den Bemühungen um Hygiene und Funktion, um Besonnung und Durchgrünung das eigentlich Städtische aus dem Auge verloren, habe in der Antithese gegen die Mängel der frühindustriellen Stadt mit diesen auch die positive Seite des städtischen Lebens über Bord geworfen. Die Trennung der Funktionen galt als ein Irrtum, der die Stadt ihres Reichtums an Wechselbeziehungen beraubt habe; höhere Dichte schien ein vielfältigeres und aktiveres städtisches Leben, mehr Kommunikation, mehr „Urbanität“ – ein über Nacht aufgetauchter und begierig aufgenommener Begriff – zu verheißen. Zugleich eröffnete der technische Optimismus der sechziger Jahre neue Perspektiven für Verkehrsmittel und Baukonstruktionen mit utopischem Einschlag, bei deren Darstellung die Frage nach dem Sinn meist außer Betracht blieb. Diesen neuen strukturellen Thesen – die beispielsweise in der Planung der „zweiten Welle“ britischer neuer Städte ihren Niederschlag ge-

28

Bahrdt, H. P., Die moderne Großstadt, Reinbek bei Hamburg 1961. – Jacobs, J., Tod und Leben großer amerikanischer Städte, Frankfurt/M. und Berlin 1963. – Mitscherlich, A., Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Frankfurt/M. 1965. – Suter, G., Die großen Städte, Bergisch-Gladbach 1966 u. a.

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funden hatten 29 – entsprach im gestalterischen Bereich eine wachsende Vielfalt heterogener Formen. Zwischen den Kriegen war für Geschoßwohnungen nur die drei- bis fünfgeschossige Reihenbebauung mit einer Tiefe von etwa zehn Metern in Betracht gekommen; die fünfziger Jahre brachten eine Höhendifferenzierung, die häufig Gebäudegruppen unterschiedlicher, aber aufeinander abgestimmter Geschoßzahlen zusammenführte. In den sechziger Jahren vollzog sich nun eine Abwendung von den klaren Formen der bisherigen „Moderne“, die durch verschiedenartige Auflösungserscheinungen gekennzeichnet war: Auflösung des rechten Winkels durch die gebrochene Ecke, Auflösung der senkrechten Wand durch terrassenartige Gliederung, Auflösung der strengen Horizontale durch eine plastisch gegliederte Dachlandschaft, Auflösung der glatten Fassade in „muskelstrotzende“ Betonelemente. Inzwischen hat sich diese Faszination als recht kurzlebig erwiesen. Energieprobleme und Umweltschäden sind ins öffentliche Bewußtsein getreten, die euphorischen Perspektiven eines demographischen und ökonomischen Wachstums mußten revidiert werden, und die Planung mußte wohl oder übel zurückstecken. Komplexe Großstrukturen mit ihrer vielfältigen Mischung von Funktionen ließen deutliche Schwächen erkennen, Hochhäuser sind in Ungnade gefallen, und der schrumpfende Wohnungsmarkt wird vom Einfamilienhaus beherrscht. Der Optimismus der sechziger Jahre gehört der Vergangenheit an. Ein abschließender Blick auf das Planungsverfahren zeigt, daß es im 19. Jahrhundert wenig Aufmerksamkeit erfuhr, wenngleich schon Sitte einige Hinweise dazu gab. Im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts wurde die Bestandsaufnahme als wichtiger Teil des Planungsprozesses erkannt – im Sinne und vermutlich unter dem Einfluß von Geddes’ Schlagwort „Survey before plan“. Bis zur Jahrhundertmitte wurde der Planungsprozeß weithin als Abfolge von Bestandsaufnahme, Planentwurf und Verwirklichung gesehen – im Sinne einer einfachen und linearen Beziehung wie bei einer mathematischen Gleichung. Erst in den sechziger Jahren setzte sich die Interpretation der Planung als eines Auswahlprozesses zwischen Alternativen durch – zweifellos unter der Einwirkung der gründlichen Diskussionen, die in der amerikanischen Planungstheorie 29

So Cumbernauld und die nicht ausgeführte Planung für Hook; vgl. London County Council, The Planning of a New Town, London 1961.

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über dieses Thema geführt wurden 30. Dies ließ den Planungsprozeß in neuem Licht erscheinen: Eine Auswahl aus Alternativen muß sich auf Ziele und Wertvorstellungen stützen, die ihrem Wesen nach politischer Natur sein müssen. Zugleich führte die wachsende Einsicht in die Komplexität jener Wirklichkeit, in die man durch Planung eingreift, zu dem Bemühen um bessere Absicherung der Planungsentscheidung. So ist die methodische und institutionelle Verbesserung des Planungsprozesses – von der man sich eine Verbesserurung der Planungsergebnisse erhofft – zu einem zentralen Thema der Fachliteratur geworden, das die Diskussion um Sachfragen weitgehend zurückgedrängt hat. In diesem Zusammenhang zeigen sich zwei Tendenzen, die in gewissem Sinne gegenläufig sind: das Bestreben, Planungsentscheidungen durch mehr politische Transparenz und mehr Bürgerbeteiligung zu verbessern – und die Bemühungen, wissenschaftliche Methoden, Quantifizierung und Systemtheorie zur Erhöhung der Rationalität von Planungsentscheidungen nutzbar zu machen.

IV. Schlußfolgerungen Der Versuch, Elemente des Wandels und der Kontinuität in der Geschichte des deutschen Städtebaues zu verfolgen, war ausgelöst durch die Hypothese, daß sich die reichlich turbulente politische Geschichte unseres Landes in solchen Wandlungen spiegeln müsse. Aber das Ergebnis belegt diese Hypothese nur bedingt. Nur wenige der Veränderungen, die der Städtebau in Deutschland innerhalb unseres Untersuchungszeitraumes erfahren hat – und es sind eine ganze Reihe –, lassen sich auf die abrupten Änderungen des deutschen Regierungssystems und der politischen Perspektiven zurückführen, wie dies etwa für die nationalsozialistische Tendenz zur Zentralisierung, für ihr (wirkungsloses) ideologisches Ziel der Auflösung großer Städte, ihre Vorliebe für pathetischen Monumentalstädtebau gilt. Auf den meisten anderen Gebieten, besonders im Bereich der Gesetzgebung, zeigt sich ein hohes Maß an Kontinuität trotz der politischen 30

Vgl. Davidoff, P. und Reiner, Th., A Choice Theory of Planning, Journal of the American Institute of Planners, XXVIII, 1962, S. 103.

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Veränderungen. Wo es offenkundige Brüche in dieser Kontinuität gibt, haben sie mehr oder minder genaue Parallelen in anderen Ländern, vor allem in Großbritannien und den Vereinigten Staaten, in Ländern also mit einer vollständig anderen politischen Entwicklung. Müssen wir daraus schließen, daß Planung also doch nicht so eng mit der Politik verknüpft ist, wie wir anzunehmen pflegen? Diese Frage läßt sich nicht mit einem einfachen Ja/Nein beantworten; man muß differenzieren. Im 19. Jahrhundert und noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt der Städtebau als eine fachliche Tätigkeit – als Kunst und Wissenschaft zugleich –, in der der Fachmann unbestrittene Autorität besaß. Die Verknüpfungen mit der Politik, von scharfsichtigen Planern schon frühzeitig gesehen, waren damals weder von den Politikern noch von der Öffentlichkeit voll erkannt. So ließe sich erklären, daß während dieser Zeit die internationalen Begegnungen und Beziehungen zwischen den Fachleuten einen stärkeren Einfluß auf die herrschenden Auffassungen des Städtebaues ausüben konnten als nationale politische Besonderheiten. Hinzu kommt, daß die sozioökonomische Entwicklung der letzten hundert Jahre in den Ländern West- und Mitteleuropas wie Nordamerikas zahlreiche Parallelen aufwies. Es ist deshalb verständlich, daß das Unbehagen an der rapiden Verstädterung im 19. Jahrhundert in Ländern mit vergleichbarem kulturellem Hintergrund und ähnlichem technischem Entwicklungsstand annähernd gleichzeitig – um die Jahrhundertwende – zu ganz ähnlichen Reaktionen führte. Ebenso leuchtet ein, daß die beunruhigende Wirkung der großen Depression um 1930 in vielen davon betroffenen Ländern den Weg bereitete für vermehrte staatliche Eingriffe in das freie Spiel der Marktkräfte und damit für mehr Planung. Seitdem hat sich mit der Stärkung der politischen Bindungen auch der geistige Austausch innerhalb der westlichen Welt intensiviert. Es kann deshalb nicht überraschen, daß die Entwicklungen in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts durch einen hohen Grad von Wechselbeziehungen zwischen den westlichen Ländern gekennzeichnet sind: Die starke Politisierung – man spricht bereits von Überpolitisierung – der Stadtplanung, die einander folgenden Wellen von Planungseuphorie und Planungselend, das Drängen auf bürgerschaftliche Mitwirkung, die an wissenschaftliche Methoden geknüpften Hoffnungen, die Tendenz zur Bewahrung und – anscheinend – zur Unbeweglichkeit: dies alles hat seine Gegenstücke in anderen Ländern, wenn auch manchmal mit zeitlicher

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Phasenverschiebung. Aber hier sind die Grenzen des Themas erreicht: Hier haben wir es mit laufenden Veränderungen zu tun, noch zu nahe für eine Perspektive geschichtlicher Auswertung, aber gewiß ein ergiebiges Thema für künftige Forschung.

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Das Stadtplanungsrecht im 20. Jahrhundert als Niederschlag der Wandlungen im Planungsverständnis Erschienen in: Stadtbauwelt, 71. Jahrgang, Nr. 65, S. 485–490, Bertelsmann Fachzeitschriften, Berlin.

Das Stadtplanungsrecht hat seit den ersten Jahren unseres Jahrhunderts die Veränderungen im Planungsverständnis und in den Planungszielen getreulich, wenn auch meist mit erheblichen Verzögerungen widergespiegelt. Bis hin zur Gegenwart, in der plötzlich aus dem gesetzgeberischen Nachvollzug planungspraktischer Erwägungen und Notwendigkeiten fast so etwas wie eine Vorwegnahme aktueller Planungstendenzen geworden ist. Darin kann ein Zeichen für die engere Verbindung von Planung zur Politik – Stichwort: Entwicklungsplanung – gesehen werden. Die Stadtplanung hat – verglichen etwa mit der Architektur und dem Ingenieurwesen – ein besonderes Verhältnis zum Recht. Während das Baurecht für den Architekten eine Reihe äußerer Bindungen statuiert und so eine Art von Kontrollfunktion ausübt, stellt das Planungsrecht ein unerläßliches Mittel für die Verwirklichung der städtebaulichen Planung dar. Das bedeutet einerseits, daß das Planungsrecht den Wandlungen folgt – wenn auch gelegentlich mit erheblicher Verzögerung –, die sich im Verständnis von Wesen und Aufgabe der Planung vollziehen; andererseits aber wirkt das so geschaffene Planungsrecht auch auf die Praxis zurück – bestätigend, erschwerend oder korrigierend. Solche Wechselwirkungen im einzelnen zu verfolgen, würde den Rahmen eines kurzen Artikels sprengen; hier soll zunächst der Frage nachgegangen werden, in welcher Weise das Planungsrecht in unserem Jahrhundert die Veränderungen im Planungsverständnis und in den Planungszielen spiegelt. Dabei wird das Schwergewicht bei der Entwicklung im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik liegen, doch bietet es sich an, zumindest

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gelegentlich auf Parallelen oder auf Divergenzen in anderen Ländern hinzuweisen, in denen die Probleme ähnlich liegen, vor allem in Großbritannien und Frankreich – ohne daß damit der Anspruch einer vergleichenden Untersuchung erhoben werden könnte. Die zeitliche Beschränkung auf das 20. Jahrhundert schließlich liegt deshalb nahe, weil sich erst um die Jahrhundertwende die Konturen einer eigenständigen Städtebaudisziplin abzeichnen, die dann im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts klarer hervortreten: Mit der Gründung der ersten deutschen Städtebauzeitschrift, mit den ersten Städtebauveranstaltungen an den Hochschulen, mit den ersten großen städtebaulichen Ausstellungen in verschiedenen Länder. Im Jahrzehnt darauf bilden sich dann die ersten berufsständischen Vereinigungen in Frankreich (Société Française des Urbanistes, 1913) Großbritannien (Town Planning Institute, 1914) und den USA (American Institute of Planners, 1917) – Zeichen der Konsolidierung der Disziplin, denen in Deutschland wenig später die Gründung der Freien Deutschen Akademie des Städtebaues entspricht. Der späte Zeitpunkt einer solchen Gründung könnte einen falschen Eindruck erwecken – tatsächlich war die Fachdiskussion in Deutschland im 19. Jahrhundert schon im vollen Gange und weiter vorangeschritten als in vielen anderen Ländern. Die Städtebaubücher von Baumeister, Sitte und Stübben lagen vor, der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege und der Verband Deutscher Architekten- und Ingenieur-Vereine hatten mehrfach in den Jahresversammlungen Resolutionen zur Stadtentwicklung verabschiedet, in denen auch Anforderungen an die Gesetzgebung enthalten waren, und mit der Schrift von Theodor Fritsch war zum ersten Male ein Strukturmodell der industriellen Großstadt zur Diskussion gestellt worden. 1 Die rechtliche Situation um die Jahrhundertwende war dadurch gekennzeichnet, daß neben die bestehenden Fluchtliniengesetze in den neunziger Jahren die ersten Zonen- oder Staffelbauordnungen getreten 1

Baumeister, R., Stadterweiterungen in technischer, baupolizeilicher und wirtschaftlicher Beziehung, Berlin 1876. – Sitte, C., Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Wien 1889. – Stübben, J., Der Städtebau, Darmstadt 1890; 2. Auflage Stuttgart 1907, 3. Auflage, Leipzig 1924. – Fritsch, Th., Die Stadt der Zukunft, Leipzig 1896. Die erwähnten Resolutionen sind überwiegend in den drei Auflagen des Buches von Stübben abgedruckt.

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waren, die eine Differenzierung zunächst nach dem Maß der Nutzung, in gewissem Umfange auch nach der Art der Nutzung erlaubten. Die Rechtslage in den Teilstaaten des Deutschen Reiches war keineswegs einheitlich; die meisten geschichtlichen Darstellungen rücken die Entwicklung in Preußen in den Vordergrund, die jedoch in mancher Hinsicht hinter der anderer Länder zurückblieb.

I. Die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts Das Hauptproblem der preußischen Regelungen lag darin, daß unterschiedliche Rechtsgrundlagen und verschiedene Instanzen den Grundriß und den Aufriß der Stadt bestimmten: Die Gemeinden waren nach dem Fluchtliniengesetz für das Straßennetz und die Baulinien, der Staat für die Bauordnung und damit für Art und Maß der Bebauung zuständig. Dieser Dualismus war beim „Allgemeinen Baugesetz für das Königreich Sachsen“ vom 1. Juni 1900 vermieden: In ihm wurde der „ortsgesetzlich festgestellte Bebauungsplan“ statuiert, der außer den Fluchtlinien für den öffentlichen Verkehrsraum und die Vorgärten auch die Bauweise, die Gebäudeabstände, die Gebäudehöhe, die Zuverlässigkeit gewerblicher Anlagen sowie den Umfang der zulässigen Bebauung des Hinderlandes regelte; auch die Berichtigung von Wasserläufen, die Entwässerung des Plangebietes sowie die Unter- und Überführungen von Straßen wurden durch ihn festgesetzt. Der Bebauungsplan sollte auf Feuersicherheit, Verkehr, Gesundheit, Wasserversorgung und Entwässerung, „auf die Lage und Entwicklung des Ortes oder Ortsteiles und auf das den örtlichen Verhältnissen entsprechende Wohnungsbedürfnis, endlich auch darauf Bedacht … nehmen, daß Straßen und Plätze nicht verunstaltet werden“. 2 Diesem Grundsatz folgt ein Dutzend weiterer Einzelbestimmungen, die von der Forderung nach günstiger Orientierung der Wohnungen über die Differenzierung in Haupt-, Neben- und „bloße Wohnstraßen“ bis, zur Festsetzungsmöglichkeit rückwärtiger Baulinien reichen. Ein weiterer Abschnitt des Gesetzes regelt die Umlegung von Grundstücken, für die in Hamburg bereits 1892, in Baden 1896 die erforderlichen Rechtsgrundlagen geschaffen wurden. In Preußen hatte Adickes seinen 2

Auszugsweise abgedruckt bei Stübben, a. a. O., 3. Auflage 1924, S. 681 ff.

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Gesetzentwurf zwar schon eingebracht, doch wurde er erst 1902 verabschiedet und in seiner Gültigkeit auf Frankfurt beschränkt. Aus dem gleichen Jahre stammt das preußische „Gesetz gegen die Verunstaltung landschaftlich hervorragender Gegenden“, das 1907 novelliert und auf die Bekämpfung der Verunstaltung von Ortschaften ausgedehnt wurde. Ein weiterer Schritt zur Anpassung der Rechtslage an die Erkenntnisse des Städtebaues war das preußische Ansiedlungsgesetz von 1904, das einer Streubebauung entgegenwirken sollte; bemerkenswert ist schließlich ein Erlaß des preußischen Ministers der öffentlichen Arbeiten über Grundsätze für die Aufstellung von Bebauungsplänen und die Ausarbeitung neuer Bauordnungen von 1906, der darauf zielt, die Anwendung der zeitgenössischen städtebaulichen Erkenntnisse und Grundsätze in der Praxis zu fördern. 3 Auch im Ausland lassen sich in diesem ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts einige Ansätze zur Anpassung des Planungsrechtes an neue Erkenntnisse nachweisen; so sehen die Briten den Anfang ihrer Städtebaugesetzgebung im „Housing, Town Planning, etc., Act“ von 1909. Zwei Jahre zuvor war in Frankreich von einer Gruppe von Technikern, Verwaltungsbeamten und Politikern eine Initiative entwickelt worden, ein Städtebaugesetz zu schaffen, die jedoch nur langsam Boden gewann und durch den Ersten Weltkrieg weiter verzögert wurde, so daß das Gesetz erst 1919 verabschiedet wurde. 4 Eine gewisse Parallele dazu läßt sich übrigens bei einem preußischen Gesetzentwurf zur Verbesserung der Wohnungsverhältnisse feststellen, der 1903 eingebracht wurde, aber bei den Vertretern der Selbstverwaltung auf Widerstand stieß und letzten Endes erst im Rahmen des preußischen Wohnungsgesetzes von 1918 in die Wirklichkeit umgesetzt wurde. In ihm schlug sich eine Strömung nieder, die seit dem späten 19. Jahrhundert zu einer starken Triebkraft städtebau-

3

Abgedruckt bei Posener, J., Berlin auf dem Wege zu einer neuen Architektur, München 1979, S. 258. 4 Die Ausführungen über die Entwicklung in Großbritannien stützen sich in erster Linie auf Pepler, G. L., Forty Years of Planning, in: APRR (ed.); Town and Country Planning Textbook, London, 1950. – David, L. H., Rechtsgrundlagen des englischen Städtebaus, Düsseldorf 1972. – Cherry, G., The Evolution of British Town Planning, Leonard Hill Books, 1974. Die Daten zur Entwicklung in Frankreich entstammen einem Manuskript von L. Virgili, Paris.

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licher Veränderungen geworden war: das Bemühen um Wohnungsreform, die Sorge um die Sicherung menschenwürdigen Wohnens. Diese Strömung war mit den Städtebauausstellungen in Berlin und Düsseldorf – 1910 und 1912 – und vor allem mit den Akzenten, die Werner Hegemann in der Veröffentlichung über diese Ausstellungen setzte, sehr deutlich in den Vordergrund gerückt. 5 Gleichwohl mag es überraschen, daß ein solches Gesetz im März 1918 – als die Bautätigkeit ebenso wie die städtebauliche Planung weitgehend zum Erliegen gekommen waren – verabschiedet wurde. Doch ging es offenbar darum, in der prekären Situation der letzten Kriegsphase mit einer solchen sozialpolitischen Geste die Bereitschaft zu einer stärker an sozialen Zielen orientierten Politik zu demonstrieren. Dies im Auge, ist wohl auch die Bezeichnung gewählt worden, die dem Inhalt insofern nicht ganz gerecht wurde, als das Gesetz zugleich eine Novelle zum Fluchtliniengesetz von 1875 darstellte. Die neu eingeführten Regelungen sollten vor allem dem Wohnungsbedürfnis Geltung verschaffen, das nun unter den Zielen der Fluchtlinienfestsetzung an erster Stelle genannt wurde – vor der Förderung des Verkehrs, der Feuersicherheit und der öffentlichen Gesundheit. Zahlreiche Einzelbestimmungen wurden unter dem Gesichtspunkt ergänzt, die Schaffung von „Klein- und Mittelwohnungen“ zu erleichtern. Auch Gemeinbedarfseinrichtungen und Freiflächen wurden dabei berücksichtigt; so wurden allgemein die durch Fluchtlinien abzugrenzenden öffentlichen Flächen, bisher als „Straßen und Plätze“ bezeichnet, um „Gärtenanlagen, Spiel- und Erholungsplatze“ erweitert. Zugleich wurde die schon 1874 vom Verband Deutscher Architekten- und Ingenieur-Vereine geforderte Möglichkeit geschaffen, bei Fluchtlinienfestsetzung die Expropriation und Impropriation von Grundstücksresten anzuordnen. Außer den Ergänzungen des Fluchtliniengesetzes enthielt das preußische Wohnungsgesetz Vorschriften, welche die Enteignung von Grundstücken sowie die Eingemeindung und Umgemeindung im Interesse des Wohnungsbedürfnisses ermöglichten, und einen umfangreichen Katalog von zusätzlichen Einwirkungsmöglichkeiten, die in die Bauordnungen

5

Hegemann, W., Der Städtebau nach den Ergebnissen der allgemeinen Städtebauausstellung in Berlin, 2 Bde., Berlin 1911 und 1913.

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aufgenommen werden konnten – so die Differenzierung nach Art und Maß der Nutzung, die einheitliche Gestaltung des Straßenbildes unter Berücksichtigung des Denkmal- und Heimatschutzes wie auch die Möglichkeit, „im Wohnungsinteresse für Wohnstraßen, Wohnwege und andere Ortsstraßen, die dem Zugang zu Wohngebäuden dienen, den Fuhrwerksverkehr zu beschränken“. Erst die folgenden Abschnitte bezogen sich dann unmittelbar auf Wohnungsaufsicht, Wohnungsordnungen und auf die Bereitstellung von Wohnbauförderungsmitteln. Dieses Gesetz hat den Rahmen für die städtebauliche Entwicklung in Preußen – allerdings ergänzt durch die Gesetze und Verordnungen der dreißiger Jahre – bis zu den Aufbaugesetzen der späten vierziger Jahre und in einzelnen Regelungen bis zum Erlaß des Bundesbaugesetzes 1960 bestimmt. Das darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß es in der Praxis schon in den zwanziger Jahren in vieler Hinsicht unzureichend schien; zu den gravierendsten Mängeln gehörten der Fortbestand jener eingangs erwähnten Trennung der Kompetenzen, die es normalerweise nicht erlaubte, Grundriß und Aufriß der Stadt zusammenzuführen, sowie das Fehlen einer vorbereitenden Planstufe, deren Notwendigkeit die Praxis im Grunde schon im 19. Jahrhundert erkannt hatte. Allerdings verdichteten sich die Diskussionen darum erst in den zwanziger Jahren, in denen zugleich erhebliche Impulse für die weitere Gesetzgebung gegeben wurden.

II. Entwicklungen zwischen 1920 und 1960 Im wesentlichen hatten sich die neue Ansprüche an die Werkzeuge der Planung in den zwanziger Jahren so weit ausgeformt, daß um 1930 in den Länderparlamenten Deutschlands verschiedene Gesetzvorlagen erörtert wurden, die inhaltlich große Ähnlichkeiten aufwiesen. Zwei von ihnen – in Sachsen und Thüringen – wurden verabschiedet, während der 1926 eingebrachte preußische Gesetzentwurf die parlamentarischen Hürden nicht zu nehmen vermochte. 6 6

Gesetzsammlung für Thüringen, 1931, S. 145 ff. – Sächsisches Gesetzblatt, 1932, S. 33 ff. – Verhandlungen des preußischen Landtags, 2. Wahlperiode, 1. Tagung 1925/ 26, Drucksache Nr. 4360 (S. 5606 ff.).

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Ob er zurückgestellt wurde, weil man die Beratungen über ein entsprechendes Reichsgesetz abwarten wollte, könnte nur durch eingehenderes Aktenstudium geklärt werden. Ein 1930 eingebrachter Entwurf eines Reichsgesetzes über die Erschließung und Beschaffung von Baugelände wurde 1931 durch den Entwurf eines Reichsstädtebaugesetzes ersetzt, der im gleichen Jahre noch in erster Lesung vom zuständigen Reichstagsausschuß behandelt, aber vom Reichstag nicht verabschiedet wurde. 7 Einiges von ihm ist in das Wohnsiedlungsgesetz vom September 1933 eingeflossen; auch der Referentenentwurf zu einem deutschen Baugesetzbuch von 1942 stellt im wesentlichen eine kontinuierliche Weiterentwicklung dar, wenn er auch in mancher Hinsicht deutlich darüber hinausgeht. Es ist lohnend, wenigstens in einigen Punkten, Vergleiche zwischen diesen beiden Entwürfen und den damals gültigen Regelungen des preußischen Wohnungsgesetzes einerseits, den späteren Vorschriften der Aufbaugesetze und des Bundesbaugesetzes andererseits zu ziehen. Dabei mag es etwas kühn erscheinen, die Aufbaugesetze von zehn Bundesländern aus den Jahren 1948 und 1949 in einem Atemzuge mit dem Bundesbaugesetz von 1960 zu nennen, aber wer wie der Verfasser mit drei dieser Aufbaugesetze und mit dem Bundesbaugesetz in der Praxis gearbeitet hat, wird feststellen müssen, daß die Unterschiede unter eben diesem praktischen Gesichtswinkel nicht sehr ins Gewicht fielen. Gegen das preußische Wohnungsgesetz hoben sich alle späteren Gesetzentwürfe durch eine Mehrstufigkeit der Planung ab, wobei der Reichsgesetzentwurf von 1931 von einem „Wirtschaftsplan (Flächenaufteilungsplan, Nutzungsplan, Generalbebauungsplan, Generalbaulinienplan)“ und von einem „Bebauungsplan (Fluchtlinienplan, Baulinienplan)“ sprach; die Vielfalt der Begriffe ergab sich offenbar aus der Notwendigkeit, die Rechtsvorschriften der Länder aufzunehmen und einzubeziehen. Der Wirtschaftsplan hielt dann mit dem Wohnsiedlungsgesetz von 1933 seinen Einzug in das Planungsrecht und schuf damit für alle „Aufbaugebiete“ nach diesem Gesetz ein zweistufiges Planungssystem. Demgegenüber sah der Gesetzentwurf von 1942 drei Stufen vor; er betonte die zentrale Rolle des Bebauungsplans und forderte zu dessen Vorbereitung einen 7

Regierungsentwurf im Reichsarbeitsblatt 1931, Nr. 32, S. I 266 ff.; Stand nach Ausschußberatung im Jahrbuch der Bodenreform, Bd. 28 (1932), S. 35 ff.

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Flächennutzungsplan, der die wesentlichen Flächenkategorien enthielt, und einen „Ortsbauvorbereitungsplan“, der die „in Weiterführung des Flächennutzungsplans und zur näheren Vorbereitung der Bebauungspläne zu erarbeitenden städtebaulichen Absichten … darzustellen“ hatte. 8 Die Aufbaugesetze folgten zum großen Teil dem „Entwurf eines Gesetzes über den Aufbau der deutschen Gemeinden“ von 1948 – nach dem Beratungsort „Lemgoer Entwurf“ genannt –, in dem wiederum eine Zweitstufigkeit von Aufbauplan und Durchführungsplan vorgeschlagen wurde. Die meisten Länder folgten diesem Vorschlag, wobei z. B. Niedersachsen den übergeordneten Plan „Flächennutzungsplan“ und Württemberg-Baden (der Nordteil des heutigen Baden-Württemberg) ihn „Übersichtsplan“ nannte; Rheinland-Pfalz dagegen griff die Dreistufigkeit auf und schaltete den Aufbauplan – allerdings mit einer umstrittenen Rechtswirkung – zwischen Wirtschaftsplan und Bebauungsplan ein, während Hessen gar mit fünf Plankategorien aufwartete. Interessant ist dabei, daß der Lemgoer Entwurf den Inhalt des „Aufbauplanes“ auf ganz andere Weise umriß als die früheren Reichsgesetzentwürfe, die – wie später das Bundesbaugesetz – die Flächenkategorien aufzählten. Dort hieß es nämlich, im Aufbauplan sei darzustellen, „1. wie das Aufbaugebiet städtebaulich entwickelt werden soll, insbesondere mit Rücksicht auf die Verteilung der Bevölkerung sowie auf die Erfordernisse der Landwirtschaft, die Wohndichte und die sozialen, gesundheitlichen und kulturellen Bedürfnisse der Bevölkerung, der gewerblichen Wirtschaft und des Verkehrs, 2. welche grundlegenden Maßnahmen zur Durchführung der Planungsabsichten erforderlich werden.“ 9

Es handelte sich also danach nicht um die Darstellung eines künftigen Zustands, sondern um ein Planungskonzept und um einen Maßnahmeplan, durchaus modern gedacht; der Verzicht auf inhaltliche Präzisierungen wurde aber in den meisten Aufbaugesetzen korrigiert, die explizit eine Darstellung der beabsichtigten Flächennutzung forderten. 8

Vorentwurf der Referate für Aufbau und Allgemeines vom 21. März 1942 zu einem Deutschen Baugesetzbuch. Manuskript Prof. Dr. Dittus, § 12. 9 Vorentwurf der Referate für Aufbau und Allgemeines vom 21. März 1942 zu einem Deutschen Baugesetzbuch. Manuskript Prof. Dr. Dittus, § 12.

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Auch der Bebauungsplan unterschied sich inhaltlich in allen Gesetzentwürfen seit 1930 wesentlich von seinem Gegenstück im preußischen Wohnungsgesetz, dem Fluchtlinienplan, der keine Aussagen über die Gebäudehöhe zu treffen vermochte, sondern dies der Bauordnung überlassen mußte. Im übrigen läßt sich inhaltlich eine zunehmende Vervollkommnung erkennen; der Reichsgesetzentwurf von 1942 enthielt dabei erstmalig die Begriffe der Art und des Maßes der Nutzung. 10 Dieser Gesetzentwurf forderte zusätzlich eine „Bestandsdarstellung“, in der allerdings Aussagen über den kartographisch erfaßbaren Bestand mit Hinweisen auf nach anderen Vorschriften zustandegekommene Bindungen vermengt werden. Es fällt auf, daß Verfahrensfragen in den früheren Entwürfen einen vergleichsweise geringeren Raum einnahmen als in den heutigen Gesetzen; beim Reichsgesetzentwurf von 1931 erklärt sich dies daraus, daß die Verfahren dem Landesrecht überlassen blieben, während der Gesetzentwurf von 1942, dem zentralistischen Ansatz des „Dritten Reiches“ entsprechend, ein einheitliches Verfahren vorsah: Auslegung des Planes 14 Tage, in eiligen Fällen 3 Tage; nicht berücksichtigte Einwendungen sind der Aufsichtsbehörde vorzulegen, die den Plan sowohl auf die Rechtmäßigkeit des Zustandekommens als auch auf die Zweckmäßigkeit des Inhalts prüft. War 1931 die Gemeinde als Planungsbehörde vorgesehen – mit der Möglichkeit, nach Landesrecht andere Regelungen zu treffen –, so ist es 1942 die Baubehörde; Gemeinden, die nicht selbst Baubehörde sind, sollen von den Baubehörden (also den Landkreisen) beteiligt werden. Der Lemgoer Entwurf dagegen ging – wie später das Bundesbaugesetz – grundsätzlich von der Zuständigkeit der Gemeinden aus, ermächtigte aber die höheren Verwaltungsbehörden, für kreisangehörige Gemeinden andere Stellen zu bestimmen. Beide Reichsgesetzentwürfe sahen im Grunde eine Planungspflicht vor, die in dem späteren noch dahingehend präzisiert wurde, daß jede Bautätigkeit (außer geringfügiger) durch Bebauungspläne zu regeln sei. Vieles spricht dafür, daß die im „Dritten Reich“ erlassenen Gesetze und Verordnungen zum Städtebau weitgehend auf dem Gesetzentwurf von 1931 fußen und damit auf Bedürfnisse der Praxis zugeschnitten sind, 10

Göderitz, J., Neues Städtebaurecht. Der Entwurf eines Gesetzes über den Aufbau der deutschen Gemeinden, Braunschweig 1948.

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die sich bereits in den zwanziger Jahren geformt und artikuliert hatten. Das gilt auch für die Baugestaltungsverordnung von 1936; spätestens seit Schultze-Naumburgs „Kulturarbeiten“ war der Wunsch nach einer positiven Einflußnahme auf die Gestaltung – anstelle einer reinen „Verunstaltungsverhütung“ – in der städtebaulichen Diskussion immer wieder laut geworden; die Formulierung von der „anständigen Baugesinnung“, die bedenkliche Anklänge an das Vokabular der Nationalsozialisten aufzuweisen scheint, war fast zwei Jahrzehnte vorher von Theodor Fischer geprägt worden, und tatsächlich geht auch dieser Passus in der Verordnung mittelbar auf ihn zurück. 11 Indessen fällt ein Gesetz vollständig aus der dargestellten Kontinuität heraus: das „Gesetz über die Neugestaltung deutscher Städte“ von 1938, das auch kaum einen Bezug zur städtebaulichen Alltagspraxis erkennen läßt. Allenfalls mochte man in der Einrichtung einer Koordinierungsstelle für alle Bauvorgänge in einer Stadt – also auch für die kommunalem Einfluß weitgehend entzogenen Staats- und Parteibauten – ein Bedürfnis der Praxis sehen; tatsächlich scheint sich allerdings mit diesem „Generalbaurat“ der ohnehin beträchtliche Kompetenzwirrwarr im „Dritten Reich“ noch weiter verstärkt zu haben. Das alles dürfte die These rechtfertigen, daß sich im Grunde zwischen 1930 und 1960 in Gesetzen und Gesetzentwürfen keine grundlegenden neuen Erkenntnisse der städtebaulichen Praxis niederschlagen. Die Plankategorien des Bundesbaugesetzes und ihre Inhalte sind im Entwurf von 1931 schon weitgehend vorgeformt; nennenswerte sachliche Unterschiede gibt es vor allem in der Frage des Bodenrechtes, für das sich in beiden Entwürfen neue Ansätze finden. Der Gesetzentwurf von 1931 enthält die „Zonenenteignung“, die schon im späten 19. Jahrhundert in Fachkreisen propagiert worden war; Stübben zitiert in seinem Werk das entsprechende belgische Gesetz. 12 Es sollte also eine Enteignungsmöglichkeit für größere Gebiete geschaffen werden, die infolge Planungsmaßnahmen der öffentlichen Hand eine Wertsteigerung zu gewärtigen hätten – bei Verkehrsbändern bis zu einem Kilometer Tiefe, von deren Mitte an gerechnet. 11

Schultze-Naumburg, P., Kulturarbeiten, Bd. 4: Städtebau, München 1906. – Fischer, Th., Sechs Vorträge über Stadtbaukunst, München 1920, S. 35. 12 Entwurf zu einem Reichsstädtebaugesetz, a. a. O., § 44. – Stübben, a. a. O., 3. Auflage 1924, S. 688.

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Diese Überlegung war im Entwurf von 1942 nicht mehr enthalten; an ihre Stelle trat eine Wertsteigerungsabgabe – bei Neuerschließung als Baulandabgabe bezeichnet –, eine Regelung, die sich weitgehend mit den Vorschlägen deckte, welche in den gleichen Jahren in Großbritannien als Mittel gegen Bodenspekulation und unangemessene private Gewinne entwickelt und diskutiert wurden. Diese Parallele erstreckt sich sogar auf den Anteil der abzuschöpfenden Wertsteigerung: sowohl im deutschen Gesetzentwurf von 1942 als auch in einem britischen „White Paper“ von 1944 unter dem Titel „The Control of Land Use“ wurden hierfür 80 Prozent vorgesehen. 13

III. Großbritannien und Frankreich Auch aus anderen Gründen – vor allem wegen der Ähnlichkeit der Entwicklungsvoraussetzungen – liegt es nahe, für den bis jetzt betrachteten Zeitraum einen Vergleich mit Großbritannien anzustellen, wenn dort auch die rechtlichen und administrativen Bedingungen ganz andere waren. Auf das erwähnte erste Städtebaugesetz von 1909, das sich allein auf die Planung für Stadterweiterungsgebiete bezog, folgte 1919 ein weiteres Gesetz, das alle Städte mit über 20 000 Einwohnern verpflichtete, bei Stadterweiterungen Pläne nach dem Gesetz von 1909 aufzustellen, und zugleich das Verfahren hierfür vereinfachte; immerhin blieb es insofern noch recht schwerfällig, als nach dem Aufstellungsbeschluß ein vorläufiges Planungskonzept ans Ministerium einzureichen war, nach dessen Genehmigung erst an den Planentwurf herangegangen werden konnte. 1925 und 1932 folgten zwei weitere Gesetze – nunmehr allein auf Stadtplanung bezogen und nicht mehr mit dem Wohnungswesen gekoppelt –, deren späteres Vorschriften über die Nutzungsgliederung enthielt und zugleich die Möglichkeit bot, die Planung über Stadterweiterungsgebiete hinaus auch auf die bereits bebauten Stadtgebiete und die ländlichen Räume auszudehnen. War das alles im Grunde noch weniger systematisch und umfassend als die entsprechenden rechtlichen Regelungen in Deutschland, so setzte 13

Vorentwurf zu einem Deutschen Baugesetzbuch, a. a. O. §§ 96, 97. – Cherry, a. a. O., S. 125.

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in den späten dreißiger Jahren mit der Berufung der „Royal Commission“ unter Sir Montague Barlow – die ihren Bericht 1939 vorlegte – ein grundlegendes Umdenken ein. Der „Barlow Report“ zog weitere Untersuchungen nach sich und führte 1943 zur Schaffung einer Zentralbehörde, des Ministry of Town and Country Planning, wie auch zu einem weiteren Planungsgesetz, dem „Town and Country Planning (Interim Development) Act“, das nunmehr die Planungskontrolle auf allen Grund und Boden in Stadt und Land ausdehnte. Wichtiger wurden der „Town and Country Planning Act“ von 1944 mit der Ermächtigung an die Kommunalbehörden, Stadtgebiete mit Kriegsschäden und städtebaulichen Mißständen zu erwerben („Blitz and Blight Provisions“), und das bereits erwähnte Weißbuch der Regierung, das ein Bekenntnis zu den Zielen einer umfassenden räumlichen Planung darstellte, „wie es niemals vorher (und niemals nachher) so klar ausgesprochen wurde“. 14 Im Verfolg dieser Grundsätze wurde 1945 ein New Towns Committee unter Lord Reith eingesetzt; es erstattete in überraschend kurzer Zeit zwei Zwischenberichte und einen endgültigen Bericht, denen nicht minder schnell ein entsprechendes Gesetz folgte; im Dezember 1946 wurde der „New Towns Act“ verabschiedet. Mit dem „Town and Contry Planning Act“ von 1947 erging dann ein Gesetz, dem in Großbritannien eine ähnliche Bedeutung als Grundlage aller weiteren Entwicklungen beigemessen wird wie dem Bundesbaugesetz bei uns. Es statuierte die neuen Planungsprinzipien und -verfahren, verlagerte die Planungshoheit von der Ebene der Bezirke auf die der Kreise und kreisfreien Städte (counties und county boroughs) und verringerte damit die Zahl der Planungsbehörden von 1 441 auf 145. Bestand in den Grundfragen der räumlichen Planung noch aus der Zeit der Koalitionsregierung des Krieges ein breiter Konsens, so traf dies für die bodenrechtlichen Probleme, insbesondere für die Abschöpfung des unverdienten Wertzuwachses nicht zu. So überlebte einer der Grundpfeiler des Gesetzes, die Übertragung der Nutzungsänderungsrechte („development rights“) vom Grundeigentümer auf den Staat, den Regierungswechsel von 1951 nicht, bei dem die Labour-Regierung von den Konservativen abgelöst wurde. Seither hat noch jeder Machtwechsel dazu geführt, das Ruder auf dem Gebiet der Bodenwertregelungen herumzu14

Cherry, a. a. O., S. 125.

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werfen – gewiß der am schwersten wiegende Einbruch in die Kontinuität der britischen Planung. Weitere Veränderungen ergaben sich in den sechziger Jahren, aber ihnen liegt ein Wandel in der Grundauffassung von Planung zugrunde, der bereits früher einsetzte und keineswegs auf England beschränkt war. Bevor indessen die Veränderungen der sechziger Jahre erörtert werden, soll noch ein kurzer Blick auf die Entwicklung in Frankreich bis zu diesem Zeitpunkt geworfen werden. Hier war die Rechtslage um die Jahrhundertwende gekennzeichnet durch ein Fluchtliniengesetz aus dem Jahre 1884 und ein Denkmalschutzgesetz vom 1887. Das eingangs erwähnte Gesetz von 1919 schrieb vor, daß alle Städte über einer Einwohnerzahl von 10 000 einen Plan der städtebaulichen Ordnung, der Verschönerung und Erweiterung („projet d’aménagement, d’embellissement et d’extension“) aufstellen sollten – eine Parallele zu der gleichfalls auf eine Größenschwelle bezogenen britischen Gesetzgebung. Der Kreis der hierzu verpflichteten Städte wurde 1924 erweitert, aber noch 1939 hatte nur etwa ein Viertel der 2 300 in Betracht kommenden Städte Pläne in Arbeit oder gar abgeschlossen. Inzwischen gab es einige gesetzgeberische Bemühungen in Fragen der Sanierung und der Regionalplanung, aber erst 1943 wurde von der Vichy-Regierung eine neue Kodifizierung des Städtebaurechtes mit einigen Neuerungen vorgenommen. Die eigentlichen Planungswerkzeuge blieben jedoch unverändert: ein Plan auf Kartenunterlage und ein erläuterndes Rechtsdokument, das „programme d’aménagement“. Mit diesem Rechtswerkzeug wurde der Wiederaufbau der Nachkriegszeit vorgenommen. In den fünfziger Jahren machte sich aber auch in Frankreich das Bedürfnis nach einer Zweistufigkeit der Planung bemerkbar. 1958 wurde durch das Gesetz eine Unterscheidung zwischen dem Leitplan und Einzelplänen („Plans-directeurs“ und „Plans-de-détails“) vorgenommen. Gleichzeitig tauchte eine neue Konzeption auf: Ansätze zu einer Art Entwicklungsplanung („Urbanisme opérationel“), die sich in der Einführung der „Zone à urbaniser par priorité“ niederschlugen. Daß Frankreich hier die Rolle eines Vorreiters spielte, hing wohl einerseits mit der bereits vorher angelaufenen wirtschaftlichen und sozialen „Planifikation“, andererseits aber auch mit der zentralistischen Organisation der französischen Verwaltung zusammen. Auf der gleichen Linie lagen auch die ab 1960 entwickelten Pläne für die Modernisierung und

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Infrastrukturausstattung der Großstädte („Plans de modernisation et d’équipement urbain“).

IV. Wandlungen um 1960 Mit dem Beginn der sechziger Jahre vollziehen sich in den hier betrachteten Ländern, wie auch in den USA, nahezu gleichzeitig eine umfassende Neuorientierung der städtebaulichen Planung. Dabei kommen verschiedene Einflüsse zusammen, die ihrerseits eng mit dem Strukturwandel der Jahrhundertmitte, der „zweiten industriellen Revolution“ und den damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Entwicklungen verknüpft sind. Aus ihnen ergibt sich vor allem die Hinwendung zu einer wenn nicht integrierten, so doch koordinierten sozialen, wirtschaftlichen und räumlichen Planung – zu dem, was seit Beginn der sechziger Jahre bei uns „Entwicklungsplanung“ heißt. Der politische Charakter von Planungsentscheidungen, der nunmehr einer breiteren Öffentlichkeit bewußt wird, macht die mangelnde Einordnung der institutionellen Planung in das System demokratischer Gewaltenteilung deutlich und führt zu einem neuartigen Anspruch auf Bürgerbeteiligung. Dieser Anspruch erhält besonderen Nachdruck durch die Tatsache, daß in wachsendem Maße Stadterneuerungsplanungen entwickelt werden, die viel unmittelbarer in das Baugefüge, aber auch in die Sozialstruktur der Städte eingreifen als die bisher überwiegende Stadterweiterungsplanung oder auch der Wiederaufbau zerstörter und deshalb unbewohnter Stadtbereiche. Die Rechtsentwicklung ging zumindest in der Bundesrepublik Deutschland auf diese grundlegenden Veränderungen zunächst nicht ein; wohl aber rückte das Interesse an Sanierung in den Vordergrund, das in anderen, weniger vom Kriege zerstörten Ländern bereits längere Zeit bestand. So waren Stadterneuerungsmaßnahmen in den Vereinigten Staaten schon in den fünfziger Jahren aktuell, während in Großbritannien der Wiederaufbau eng mit der Erneuerung von sanierungswürdigen Gebieten verflochten war. Tatsächlich war Sanierung ja auch im Deutschland der ersten Jahrhunderthälfte nicht nur diskutiert, sondern in gewissen Bereichen praktisch in Angriff genommen worden; die Dringlichkeit war lediglich durch den akuten Wohnungsmangel nach dem Kriege überschattet worden. Unmittelbar nach dem Erlaß des Bundesbaugesetzes

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wandte sich deshalb das Ministerium für Wohnungswesen und Städtebau der Schaffung eines Sanierungsgesetzes unter der etwas verharmlosenden Bezeichnung „Städtebauförderungsgesetz“ zu. Um die gleiche Zeit wurde in Frankreich das Gesetz zur erhaltenden Erneuerung historischer Stadtkerne, die sogenannte „loi Malraux“, erlassen, das allerdings eher ein Denkmalschutzgesetz als ein Städtebaugesetz ist. Mit dem erwähnten Wandel in der Grundauffassung von städtebaulicher Planung ging eine inhaltliche Umorientierung Hand in Hand, die wesentlich durch Kritik von außen – Hans Paul Bahrdt, Jane Jacobs, Alexander Mitscherlich 15 – beeinflußt worden war und an die Stelle des bisherigen Leitbildes der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“ die Thesen von „Verdichtung, Verflechtung, Urbanität“ setzte. Ein gewisser Niederschlag davon ist der Baunutzungsverordnung von 1969 erkennbar; die Erhöhung der Obergrenzen für die Grundstücksnutzung spiegelt indessen die in der Praxis wirksamen Tendenzen nur abgeschwächt wider. Allerdings setzte schon mit den frühen siebziger Jahren scharfe Kritik an den sichtbaren Ergebnissen der Verdichtungs- und Verflechtungswelle ein, die in der Tat einen eigentümlichen Bruch mit der bisherigen Entwicklung darstellte. Den Gründen hierfür kann hier nicht im einzelnen nachgegangen werden; eine wichtige Rolle spielten mit Sicherheit eine Ermüdung an der bisherigen Praxis, der eine gewisse Monotonie der Gestaltungselemente nicht abzusprechen war, und eine Enttäuschung über den Verlust dessen, was man als städtische Atmosphäre empfand und was die Erinnerungen an die Zeit der Jahrhundertwende oder der zwanziger Jahre verklärte. Daß dieser neue Trend den Investoren gelegen kam, versteht sich – aber im Ergebnis war von Verdichtung wesentlich mehr zu spüren als von Verflechtung oder Urbanität. Der Begriff der „Verdichtung“ gewann übrigens auch eine spezifische Bedeutung bei den Diskussionen um das Raumordnungsgesetz, dessen erste Fassung eine Kampfansage an die „überbelasteten Verdichtungsräume“ darstellte; sie wurden in der Gesetzesbegründung schlicht mit den großstädtischen Räumen der Bundesrepublik gleichgesetzt. Dies rief verständlicherweise auch den Deutschen Städtetag auf den Plan, der dazu 15

Bahrdt, H. P., Die moderne Großstadt, Reinbek bei Hamburg 1961. – Jacobs, J., Tod und Leben großer amerikanischer Städte, Frankfurt/M. und Berlin 1963. – Mitscherlich, A., Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Frankfurt/M. 1965.

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beitrug, daß in der endgültigen Fassung dann immerhin die Möglichkeit „gesunder“ Verdichtungen eingeräumt wurde. Das Raumordnungsgesetz stellte auch insofern ein Novum dar, als es erstmals einen langen Katalog materieller Ziele enthielt; zuvor hatten sich die Landesplanungsgesetze meist unverbindlich ausgedrückt – etwa im Sinne jener klassischen Formulierung im Landesplanungsgesetz von Nordrhein-Westfalen, nach der die Landesplanung die Gestaltung des Raumes in der Weise beeinflussen solle, „daß unerwünschte Entwicklungen verhindert und erwünschte Entwicklungen ermöglicht und gefördert werden“. In Großbritannien entschloß man sich um die Mitte der sechziger Jahre – übrigens auch im Hinblick auf die Erleichterung der Bürgerbeteiligung –, die Planungswerkzeuge zu verändern; an die Stelle des einheitlichen und als nicht hinreichend flexibel geltenden „Development Plan“ traten 1968 auf Empfehlung der Planning Advisory Group die beiden Planstufen des „structure plan“ und der „local plan“, wobei der erstere allerdings eher einem deutschen Regionalplan als einem Flächennutzungsplan entspricht. In ganz ähnlichem Sinne waren in Frankreich ein Jahr zuvor die bisherigen Kategorien der Zweistufigkeit verändert worden; dort gab es nun das „schéma directeur d’aménagement et d’urbanisme“ (S. D. A. U.), den „plan d’occupation des sols“ (P. O. S.) und einen unmittelbar auf Durchführung gerichteten „plan d’aménagement de zone“ (P. A. Z.), dem im britischen System der „action area plan“, eine Unterkategorie der „local plans“, entsprach. Die britische Systematik wurde später dadurch verändert, daß mit der Verwaltungsreform der frühen siebziger Jahre die vorher einheitlich bei den Kreisen und kreisfreien Städten liegende Planungskompetenz aufgespalten wurde in die Zuständigkeit der – inzwischen stark verringerten und vergrößerten – Counties für den „structure plan“ und die der nachgeordneten Verwaltungseinheiten, der „districts“, für die „local plans“. Über die Bewährung dieser im Sinne einer Dezentralisierung sehr plausiblen Maßnahme scheinen die Ansichten der Beteiligten noch auseinanderzugehen.

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V. Die siebziger Jahre Das Anliegen der Bürgerbeteiligung – wohl am stärksten angeregt durch die Mängel einer einseitig funktional und wirtschaftlich orientierten Sanierungspraxis, wie sie sich zunächst in den Vereinigten Staaten gezeigt hatte – schlug sich gesetzgeberisch zunächst in Großbritannien – 1968 – nieder; ein im gleichen Jahre eingesetzter Ausschuß erstattete 1969 einen ausführlichen Bericht zu dieser Frage, der die spätere britische Praxis maßgeblich bestimmte. 16 In Deutschland folgte der Sonderregelung für die Sanierung – im Städtebauförderungsgesetz 1971 – erst 1976 eine allgemeine Verfahrensvorschrift in der Novelle zum Bundesbaugesetz. Diese Novelle ist auch aus anderen Gründen bemerkenswert, die teils im Erreichten, teils im Nichterreichten liegen. Nicht erreicht wurde die, generelle Einführung des Planungswertausgleich, dessen Ausformung im Gesetzentwurf zur Lenkung und Erleichterung von Veränderungen erstmals Handhaben zur Verhinderung von Veränderungen bot. Ein weiteres Novum lag darin, daß unter den Voraussetzungen zur Anwendung dieser Werkzeuge sozialpolitische Erwägungen im Gesetz auftreten – um so auffälliger, als noch im Städtebauförderungsgesetz von 1971 alle Sanierungsvoraussetzungen für ein Gebiet sich allein aus „seiner vorhandenen Bebauung oder … seiner sonstigen Beschaffenheit“ ableiteten. Wenden wir uns noch einmal der Rolle der Stadtentwicklungsplanung in der Novelle von 1976 zu, so zeigt sich hier ein ungewöhnliches Phänomen: während bis dahin das Recht erst in Bewegung zu geraten pflegte, wenn die Bedürfnisse und die Forderungen der Praxis unüberhörbar geworden waren, haben wir es hier mit einem Konzept zu tun, das erst ein Jahrzehnt zuvor überhaupt ans Licht getreten war und sich im Grunde noch im Experimentierstadium befand. Seine Einführung hätte neue Bindungen und Verpflichtungen statuiert, und es war kein Wunder, daß die Praxis sich dagegen wehrte. Diese Reaktion der Praktiker war auch deshalb verständlich, weil sie inzwischen die Erfahrung gemacht hatten, daß rechtliche Regelungen, die aus praktischen Erwägungen und Erfordernissen abgeleitet waren, sehr bald ein juristisches Eigenleben zu entwickeln begannen – in Kommen16

People and Planning. Report of the Committee on Public Participation in Planning, HMSO 1969 (Skeffington Report).

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Die siebziger Jahre

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taren, in Interpretationen der Aufsichtsbehörde und in Gerichtsurteilen –, das meist ebenso unvorhergesehen wie unerwünscht war. So haben auf die Darstellung sachlicher Zusammenhänge gerichtete Formulierungen im Gesetz – etwa, daß der Bebauungsplan aus dem Flächennutzungsplan zu entwickeln sei – zu ungeahnten juristischen Weiterungen geführt, und mit Sicherheit hätte die im Entwurf zum Städtebauförderungsgesetz enthaltene Bestimmung, es müsse sich bei den Entwicklungsmaßnahmen um die Schaffung „selbständiger“ Ortsteile handeln – eine aus dem städtebaulichen Fachjargon offenbar arglos übernommene Vokabel – eine Flut von gerichtlichen Auseinandersetzungen über deren Interpretation nach sich gezogen. Ihre Streichung wurde von den hellhörig gewordenen Planern, nicht von den Juristen, angeregt. Es ist also leicht erklärlich, daß die „Beschleunigungsnovelle“ von 1979 gerade hier einen Schwerpunkt hatte: in einer Art Rettungsaktion für die Rechtsgültigkeit bestehender Bebauungspläne, die vor dem Nachprüfungsperfektionismus der Gerichte dahinschwand wie Schnee an der Sonne. Ein zweiter Schwerpunkt lag bei der Vereinfachung und Beschleunigung von Genehmigungsvorgängen, deren Langwierigkeit den Politikern Sorgen bereitete. Dem daraus erwachsenden Verzicht auf eine Reihe von Kontrollen – so dem Verzicht auf die Auflassungsgenehmigung im Grundstücksverkehr zur Sanierung – entsprachen auf Länderebene Verwaltungsregelungen, wie die Zuständigkeitsübertragung für Ausnahmegenehmigungen nach § 35 auf die Landkreise, die in Bayern mit der zugkräftigen Parole der Verfahrensvereinfachung und unter schamhafter Verschweigung der beteiligten Interessen durchgesetzt wurde. Es bleibt abzuwarten, ob für solche augenscheinlich populären Maßnahmen nicht langfristig ein zu hoher Preis bezahlt wird. Letzten Endes sind die kritisierten Regelungen ja entstanden als Antwort auf die wachsende Komplexität, die zunehmenden Verflechtungen in einer immer enger werdenden, von einem immer dichteren Netz menschlicher Einflusse überzogenen Umwelt; viele von ihnen lassen sich gewiß vereinfachen, aber politische Unzufriedenheit und wahltaktische Überlegungen sind sicher nicht die geeignetsten Ratgeber bei dieser schwierigen Aufgabe.

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VI. Schlußbetrachtung Wenn das letzte Jahrzehnt besonders viel Material für unsere Betrachtung geliefert hat, so keineswegs nur deshalb, weil die früheren Jahrzehnte sich in perspektivischer Verkürzung darstellten; tatsächlich waren die siebziger Jahre besonders reich an planungsbezogenen Gesetzen und Verordnungen. Es ist deshalb kein Wunder, wenn die Praxis heute offenbar keinen sehnlicheren Wunsch hat als den, daß das Bombardement mit neuen gesetzlichen Regelungen für einige Zeit eingestellt werde – mit keiner Forderung kann man bei Tagungen von Planungspraktikern eines stärkeren Beifalls gewiß sein. Wenn ein Gesetz – wie Werner Ernst einmal formulierte – ein Waffenstillstand zwischen Interessengruppen ist, so wünscht man sich heute etwas dauerhaftere Waffenstillstandsregelungen. Dabei sind Gesetzvorschriften, die jeweils vorherige endgültig ablösen, in gewisser Hinsicht noch harmloser als etwa die Änderungen der Baunutzungsverordnung, deren jeweilige Inhalte ja als Bestandteile von Bebauungsplänen auf Dauer erhalten bleiben. So nötig es ist, solche Vorschriften der Entwicklung anzupassen, so bedenklich wird es, wenn die übertriebenen Pendelschwünge, die man bei den inhaltlichen Zielvorstellungen im Städtebau beobachten kann, sich nun auch in den gesetzlichen Regelungen niederschlagen. Allerdings darf aus dieser Erwägung keine Entschuldigung dafür abgeleitet werden, brennende und ungelöste Fragen, wie etwa die eines sozialstaatlichen Grundsätzen Rechnung tragenden Bodenrechts, nicht in Angriff zu nehmen. Indessen ist einzuräumen, daß gerade auf diesem Gebiet ein breiter politischer Konsens nötig ist, wenn man eine wirksame Regelung treffen will, denn das heißt eine dauerhafte; die nicht, wie in Großbritannien, beim nächsten Machtwechsel wieder aufgehoben wird. Der Überblick hat gezeigt, daß das Planungsrecht im ersten Teil unseres Berichtszeitraums allmählich und mit erheblichen Verzögerungen den Entwicklungen der Planungspraxis folgt, während nach der Jahrhundertmitte – in Deutschland allerdings erst seit dem Ende der sechziger Jahre – die Gesetzgebung wesentlich schneller auf die Praxis reagiert, ja, ihr zum Teil vorauszueilen und eine Art Wegweiserrolle zu beanspruchen scheint. Der Hauptgrund dafür liegt wohl in dem engeren Verhältnis zur Politik, das mit dem Heraufkommen „entwicklungsplanerischer“ Ten-

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denzen sichtbar wurde. Der Stadtplaner wird sich die Vorzüge wie auch die Gefahren dieser Situation stets vergegenwärtigen müssen, wenn er konstruktive Beiträge zur weiteren Entwicklung des Planungsrechts leisten will.

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Über den Rang des Historischen im Städtebau 1

Erschienen in: Borst, Otto (Hrsg.) (1984): Die Alte Stadt: Vierteljahreszeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie, Denkmalpflege und Stadtentwicklung, 11. Jahrgang, 3/84, S. 214–226, Kohlhammer Verlag, Stuttgart, Berlin, Köln und Mainz.

Vom Rang des Historischen im Städtebau zu sprechen, könnte als ein so anspruchsvolles Unterfangen erscheinen, daß es einem philosophisch distanzierten, kritischen Beobachter der städtebaulichen Entwicklung besser anstünde als einem Praktiker der Stadtplanung, der zu sehr in die Probleme verstrickt ist, als daß von ihm eine gültige Aussage erwartet werden könnte. Das wäre gewiß ein sehr einleuchtender Standpunkt. Wenn ich mich gleichwohl diesem Thema zuwende, so deshalb, weil für das, was in der mehr oder minder rauhen Wirklichkeit der Stadtentwicklung geschieht, nicht die kritische Distanz des Philosophen, sondern die Praxis von Städtebau und Architektur maßgebend ist – und weil deshalb wohl auch eine Betrachtung der Probleme aus dieser Sicht erhellend sein kann. Eine Auseinandersetzung mit dem Rang des Historischen im Städtebau setzt offenbar das Konzept einer Wertordnung voraus, in der das Element des Historischen einen bestimmten, als ihm angemessen angesehenen Platz einnimmt. Aber Wertvorstellungen sind subjektiv begründet und können nur zu solchen Zeiten Allgemeingültigkeit beanspruchen, in denen es einen breiten intersubjektiven Konsens über ihre Bedeutung gibt. Daß unser Jahrhundert geradezu durch das Fehlen eines solchen Konsenses gekennzeichnet ist, daß wir heute weiter von ihm entfernt 1

Überarbeitete und mit Quellenangaben versehene Fassung eines Vortrages, den der Vf. zur Eröffnung der Internationalen Städtetagung „Stadterbe und Stadtzukunft“ am Freitag, dem 11. Mai 1984 in Trier gehalten hat.

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scheinen als je zuvor, ist gängige Überzeugung und bedarf hier keiner ausführlichen Dokumentation. Gleichwohl läßt sich ein gewisser Wandel der jeweils vorherrschenden Auffassungen im Laufe dieses Jahrhunderts feststellen, dem nachzugehen schon deshalb sinnvoll ist, weil er den Ansatz zu einer Erklärung der heutigen Situation, zu einer Bestimmung unseres Standortes in der Gegenwart zu bieten vermag. An den meisten unserer europäischen Städte haben Jahrhunderte formend gewirkt; baufällige oder niedergebrannte Gebäude hat man durch Neubauten mit anderen Stilmerkmalen ersetzt und damit gleichsam neue Schichten aufgetragen – dies aber nicht durchgängig, nicht in allen Stadtbereichen, so daß in der Regel eine Stadt bauliche Zeugnisse verschiedenster Zeitabschnitte nebeneinander aufweist. Es sind nicht nur Stilmerkmale, die solche Schichten unterschieden; hinter ihnen stehen durchweg auch unterschiedliche Lebens- und Wirtschaftsformen, unterschiedliche Gesellschaftsordnungen mit verschiedenartigen Wertsystemen, und so haben wir es in einer alten Stadt heute mit vielschichtigen Überlagerungen solcher Zeugnisse der jeweiligen Gesellschaftsordnung zu tun. Die Wertordnungen wandeln sich, aber Stadtstruktur und Bauten überdauern diesen Wandel. Manchmal gelten solche Elemente dann einer späteren Generation als Symbole einer überholten, überwundenen, vielleicht auch verabscheuenswerten Zeit und werden beseitigt: nach der Französischen Revolution die Bastille in Paris, nach dem letzten Kriege das Berliner Schloß durch die DDR-Regierung oder die „Ehrentempel“ des Dritten Reiches für die Gefallenen des Putsches von 1923 in München. Häufig aber bleiben solche Dokumente auch erhalten, gewinnen Patina, werden anerkannt als Bestandteil des baulichen Erbes und teils museal bewahrt, teils auch mit neuen Inhalten gefüllt – salopp gesagt: umfunktioniert – oder sie werden am Ende ihrer ökonomischen und konstruktiven Lebensdauer durch Neubauten ersetzt. So „entwickelt sich“ die Stadt durch die Zeiten hindurch – aber eigentlich sind es ihre Bewohner, die solche Entwicklung verwirklichen. Ihre Wertmaßstäbe, ihre Bedürfnisse prägen die Stadt – und prägen sie um, wenn der Zeitgeist sich wandelt. Man hat die Stadt mit einer „Collage“ verglichen – aber sie ähnelt eher einem Palimpsest, einem früher beschrifteten, dann abgekratzten und erneut beschriebenen Pergament. Bis zur Renaissance, ja bis zum frühen 19. Jahrhundert wurden die Zeugnisse der Vergangenheit in den Städten kaum je um ihrer selbst wil-

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len erhalten. Man beließ sie, solange sie nutzbar waren – auch für ganz andere Nutzungen als die ursprüngliche – oder sofern der Abbau mehr zu kosten schien als die Wiederverwendung des Materials oder des Standortes. So sind die Porta Nigra und die Konstantinsbasilika in Trier auf uns gekommen, und so haben sich auch viele andere Bauwerke erhalten. Ähnliches gilt für den Stadtgrundriß; meist hat man sich bietende Gelegenheiten genutzt, ihn veränderten Erfordernissen, neuen Ansprüchen anzupassen. So haben sich – jeweils nach Brandkatastrophen – die Stadtgrundrisse von London 1666, von Göppingen 1782, von Hamburg 1842 weitgehend, ja radikal verändert. Was nun das einzelne Gebäude von geschichtlicher Bedeutung angeht, so zeigt sich ein neuer Zug im frühen 19. Jahrhundert. Schinkel, Moller, Weinbrenner haben alle ein ausgeprägtes Verhältnis zu den baulichen Zeugnissen der Vergangenheit; die staatliche Institution der Denkmalpflege wird in dieser Zeit geschaffen und entwickelt. Zugleich aber bricht das Industriezeitalter über die Stadt herein, das neue Einflüsse auf Stadt- und Gebäudestruktur, auf die Elemente des Städtebaues mit sich bringt. In den schnell wachsenden Industriestädten schwindet die vorindustrielle Bausubstanz dahin, zwar von manchem romantisch verklärt – wie Spitzweg oder Ludwig Richter –, aber letztlich doch vom Zeitgeist bereitwillig geopfert. Vielleicht war es gerade die Hinwendung des Baustils zum historisierenden Eklektizismus, die gleichsam ein Alibi für die Beseitigung der echten historischen Substanz zu schaffen schien: man baute Ähnliches wie die Vorväter, nur noch perfekter, noch stilreiner in der Ausführung: Viollet le Duc ist der große Protagonist dieser Tendenz. Das 19. Jahrhundert hat in seiner Formensprache aus dem ganzen Arsenal der Baugeschichte geschöpft: die Formenwelt von Jahrhunderten stand zur Verfügung, um den Aufgaben der Zeit baulichen Ausdruck zu verleihen. Die Auswahl aus den Stilen war aber zunächst kein Akt der Willkür, sondern bestimmt durch das Bemühen, mittels des gewählten Baustils eine Aussage über Aufgabe und Bedeutung des Gebäudes zu machen – eindrucksvoll verdeutlicht durch den heftigen Streit unter den Münchnern darüber, ob für den Neubau ihres Rathauses in den neunziger Jahren der gotische oder nicht vielmehr der Renaissancestil der angemessene sei – den die Hamburger eben um der historischen Assoziationen oder Konnotationen willen etwa um die gleiche Zeit wählten. Das alles bezieht sich allerdings in erster Linie auf das Einzelbauwerk

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und nicht auf den Städtebau – bis mit Camillo Sittes Buch „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ 2 auch die Straßenführung, die Platzform, der städtebauliche Raum ins Blickfeld kommen. Sitte geht es zwar nicht um die Nachahmung der Alten, wohl aber darum, aus ihren Gestaltungsprinzipien zu lernen – vor allem aus denen des Mittelalters, dessen gestalterischem Reichtum er „Die Motivenarmut moderner Stadtanlagen“ gegenüberstellt. Es liegt nahe, aus diesen Bemühungen um die Anwendung historischer Gestaltungselemente auf eine hohe Wertschätzung der Zeit auch für die historischen Gebäude selbst, die Zeugnisse früherer Jahrhunderte zu schließen – aber das träfe nicht zu. Das Holstentor in Lübeck, heute Wahrzeichen der Stadt und Signet des deutschen Städtetages, wurde nur mit einer Stimme Mehrheit vor dem Abbruch bewahrt, und in Nürnberg bedurfte es des Eingriffs des bayerischen Königs, die Städter von dem Abbruch ihrer heute so imagefördernden Stadtmauer abzuhalten. Stübben stellt 1890 bedauernd fest: „Forderungen des Verkehrs, und zwar sehr oft mißverstandene oder anders zu befriedigende, haben leider viele Torbauten noch in unserer Zeit ohne Not in künstlerischer Unkenntnis dem Untergange geweiht.“ 3 Noch massiver ist Theodor Fischers Anklage aus dem Jahre 1917: „In den Zeiten des glorreichen Aufschwungs nach dem vorigen französischen Kriege, der uns ein beträchtliches Maß unserer anständigen Kultur gekostet hat, brachte die Verkehrswut es fertig, daß viele unserer alten Städte unwiederbringlich zerstört worden sind, indem die alten Verkehrswege durch die Stadt gewaltsam erbreitert wurden. Spießbürgerlich klein war im Grunde die Gesinnung dieses Aufschwungs.“ 4 Ich fürchte, man braucht nur statt des „vorigen französischen Krieges“ den Zweiten Weltkrieg einzusetzen und den „glorreichen Aufschwung“ durch das „Wirtschaftswunder“ zu ersetzen, dann könnte man den Rest stehen lassen – einschließlich der Gesinnung. So ist das Verhältnis von Architektur und Städtebau im 19. Jahrhundert zum Historischen eigentümlich gebrochen, geprägt durch ein Verständnis, das der folgenden Epoche, der ersten Hälfte, des 20. Jahrhunderts, vollständig fernlag und infolgedessen ganz abwegig erschien. Um 2 3 4

Sitte, C., Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Wien 1889. Stübben, J., Der Städtebau, Darmstadt 1890, S. 405. Fischer, Th., Sechs Vorträge über Stadtbaukunst, München und Berlin 1922, S. 26.

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die Jahrhundertwende nun verändert sich das Verhältnis des Zeitgeistes zur Geschichte: in den Reformbewegungen dieser Zeit – Jugendstil, Gartenstadt, Wandervogel, Lebensreform – vollzieht sich eine romantisierende Abwendung von den Maßstäben der Industriegesellschaft, und jetzt wird in Gartenvorstädten und Arbeitersiedlungen das Vorbild der vorindustriellen Kleinstadt oder gar des Dorfes beschworen. Posener hat auf die dahinterstehende Absicht der sozialen Befriedung, des „Wilhelminischen Kompromisses“ hingewiesen; zugleich ist es sicher auch ein Versuch, die Stadtentwicklung der Gründerzeit – jetzt als Irrweg und Sündenfall beurteilt – gleichsam zu ignorieren und unmittelbar an die Formenwelt und den Gebäudemaßstab (heute würde man sagen „die heile Welt“) der vorindustriellen Stadt, des Biedermeier anzuknüpfen. Kennzeichnend dafür ist Heinrich Tessenows Schrift „Handwerk und Kleinstadt“. 5 Für diese Tendenz gibt es auch in den zwanziger Jahren noch eine Reihe von Belegen, und es fällt nicht schwer, auch in den Siedlungen des Dritten Reiches einen Sproß vom gleichen Stamme zu erkennen – womit ich diesen Stamm übrigens keineswegs diskreditieren will. Daneben aber entwickelt sich die moderne Architektur ebenso wie die ihr entsprechenden Prinzipien städtebaulicher Anordnung: der Zeilenbau, das Aufbrechen des Baublocks, die Hinwendung zum freiplastischen Baukörper in meist strenger geometrischer Anordnung. Diese Moderne ist heute in Mißkredit geraten, und sie wird von vielen als überwunden angesehen, für tot erklärt. Zu den vielen Vorwürfen, die ihr gemacht werden, gehört auch der ihrer Geschichtsverachtung, ihrer Geschichtslosigkeit. Indessen richtete die Mißachtung, die Erbitterung der Modernen sich nicht so sehr gegen die Zeugnisse früherer Epochen als vielmehr gegen die Gründerzeit – und in dieser Feindschaft trafen sie sich mit den Konservativen. Gewiß bot für die Modernen – im Gegensatz zu den Konservativen – das vorindustrielle Bauen auch keinen rechten Anknüpfungspunkt: die neue Zeit schien ihnen eine so gründliche Neudurchdenkung der Stadt, der Wohnung, des Bauens zu fordern, daß sie hier überall Neuland sahen. So könnte man sagen, daß der Konsens in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts dahin ging, das historische Erbe gelten zu lassen, aber in diese Kategorie nur das einzubeziehen, was vor dem 19. Jahrhundert, 5

Tessenow, H., Handwerk und Kleinstadt, Berlin 1919.

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allenfalls noch in seinem ersten Viertel gebaut worden war, während den später entstandenen Dokumenten baulicher und städtebaulicher Verirrung ein solcher Rang nicht zuerkannt wurde. Dem kritischen Beobachter drängt sich dabei die Parallele zur heutigen Einschätzung der fünfziger und vor allem der sechziger Jahre unseres Jahrhunderts (in der Tat der „zweiten Gründerzeit“) auf, die heute ähnlich verteufelt werden wie damals das späte 19. Jahrhundert. Wer hier weiterdenkt, muß mit der Möglichkeit rechnen, daß diese Bauten in fünfzig Jahren wiederum als geschichtliche Zeugnisse gewertet, vielleicht sogar geschätzt werden könnten. Die Abwertung der jeweils unmittelbar vorangegangenen Zeit ist ja ein stets beobachtbares Phänomen – und es fällt mir nicht einmal allzu schwer, mir vorzustellen, daß ein großer Teil des heute gängigen Formenrepertoires schon bald in Mißkredit geraten könnte. Schwerer fällt mir schon der Gedanke, die Denkmalpfleger könnten einmal das Märkische Viertel in Berlin gegen die Abrißgelüste fortschrittlicher Stadtplaner als ein wichtiges Dokument der sechziger Jahre verteidigen wollen – aber da mit solcher Begründung gegenwärtig die Erhaltung gründerzeitlicher Hinterhofbebauung gefordert wird, muß man wohl auf einiges gefaßt sein. Aber das sind Spekulationen über künftige Wertungen; die heutigen jedenfalls messen den historischen Zeugnissen in der Stadt eine große Bedeutung bei, und – was besonders charakteristisch ist – diese Zeugnisse werden erheblich weiter gefaßt als vor zwanzig Jahren. Das hat eine Reihe von Gründen: nicht nur, daß die Bauten des 19. Jahrhunderts gleichsam durch Zeitablauf denkmalwert geworden sind; auch die Kunstgeschichte hat unter dem Einfluß von Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ihren Denkmalbegriff hinsichtlich der schutzwürdigen Objekte ausgeweitet. Hinzu kommt mit dem Überdruß an den Formen einer schematisierten und banalisierten Moderne die Skepsis gegenüber dem Wandel, der Veränderung überhaupt, weil das Vertrauen geschwunden ist, daß solche Veränderungen zugleich Verbesserung bedeute. Erhaltende Erneuerung, Stadtumbau, Stadtentwicklung in kleinen Schritten – schon die Begriffe sind Belege für diesen Klimaumschlag in der Planung. Das mag in vieler Hinsicht eine begrüßenswerte Rückbesinnung auf Qualitäten des überkommenen Baubestandes sein, und man könnte sich an Schinkel erinnert fühlen, der ja nicht nur gesagt hat, man sei nur da wahrhaft lebendig, wo man Neues schaffe, sondern bei dem auch die

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Worte stehen: „Das Vertrauen, das die Menschheit auf ihre Werke selbst legt, indem sie ihnen einen entschiedenen Wert beilegt und ihre Erhaltung auf lange Zeit erstrebt, hat aber etwas moralisch Hohes und Erhabenes. Dagegen ist die völlige Geringschätzung alles Bestehenden, dem man so bald wie möglich ein anderes an seine Stelle wünscht, dieser Hang und die Beförderung des Wechsels, der endlich für kein Ding die Zeit, es zu erkennen und zu genießen, zuläßt, ein sicheres Zeichen von der Nichtigkeit des Zeitalters und derer, die an der Spitze stehen …“ 6 Allerdings gibt es auch negative Begleiterscheinungen dieses Pendelschwunges; sie liegen nicht nur in einer Unbeweglichkeit auch da, wo Veränderung geboten ist, sondern mehr noch in einer bedenklichen Anbiederung der Formensprache an historische Architektur und Stadtgestalt, auf deren Probleme und Gefahren noch einzugehen sein wird. Aber wo beginnt nun eigentlich das „Historische“ in der Stadt? Wir sahen schon, die Grenze verschiebt sich mit dem Zeitablauf: was nicht mehr zeitgenössisch ist, gilt allerdings zunächst als überholt oder gar als Irrweg – und erst nach geraumer Zeit als historisch. In Musils „Mann ohne Eigenschaften“ gibt es dazu eine sehr treffende Bemerkung: „Im übrigen kennt man aus allerlei Gründen von keiner gewesenen Zeit so wenig wie von solchen drei bis fünf Jahrzehnten, die zwischen dem eigenen zwanzigsten Jahr und dem zwanzigsten Lebensjahr der Väter liegen. Es kann deshalb nützen, sich auch daran erinnern zu lassen, daß in schlechten Zeiten die schrecklichsten Häuser und Gedichte nach genau ebenso schönen Grundsätzen gemacht werden wie in den besten; daß alle Leute, die daran beteiligt sind, die Erfolge eines vorangegangenen guten Abschnitts zu zerstören, das Gefühl haben, sie zu verbessern; und daß sich die blutlosen jungen Leute einer solchen Zeit auf ihr junges Blut genau so viel einbilden wie die neuen Leute in allen anderen Zeiten.“ 7 Gegen die unmittelbar vorangegangene Zeit also wird gekämpft; sie kann noch gefährlicher werden. „Historisch“ wäre dann das, was die Gegenwart nicht mehr zu beunruhigen oder zu gefährden vermag – aber auch diese Grenze fließt natürlich. Dabei kann es so etwas geben wie eine Rangfolge des Historischen, eine Art „Anciennität“; ein römisches Baudenkmal bedeutet uns mehr als eine Jugendstilvilla, auch wenn sie neben6 7

Frh. v. Wolzogen, A. (Hrsg.), Aus Schinkels Nachlaß, Berlin 1863, Bd. 3, S. 371. Musil, R., Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek bei Hamburg 1978, Bd. 1, S. 54 f.

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einander in der Denkmalliste stehen sollten. Aber in der alten Stadt liegen die historischen Qualitäten nicht nur in den erhaltenen Einzelbauwerken von historischer Bedeutung, sondern auch in der historischen Prägung von Gebäudegruppen, Straßenzügen oder ganzen Stadtquartieren – einer Prägung, die sich nicht nur in den Gebäuden selbst, sondern auch im Maßstab und in der Abfolge von Platz- und Straßenräumen niederschlägt. Sie liegen in vielen Fällen auch im Stadtgrundriß, im strukturellen Gefüge der Stadt, in ihrer Einordnung in die Landschaft oder auch in der Stadtsilhouette. Alle diese Faktoren tragen nun nicht nur dazu bei, Geschichte spürbar zu machen, sondern zugleich die Individualität der Stadt hervorzuheben, und hier haben wir zweifellos einen der wichtigsten Beweggründe für die Stärkung des Interesses an der Geschichte: es ist das Bedürfnis nach Identifikation mit einem Ort, der unverwechselbar ist – ein Bedürfnis übrigens, das der Zugereiste mit dem Alteingesessenen zu teilen pflegt. Im eigentümlichen Widerspruch dazu steht die berühmte Utopie des Thomas Morus aus dem frühen 16. Jahrhundert, in der alle 54 Städte der Insel Utopia gleich aussehen: „Wer eine kennt, kennt sie alle“, heißt es dort wörtlich. 8 Unverwechselbarkeit aber besitzt die alte Stadt vor allem durch ihre Geschichte und deren Zeugnisse: sie bieten in reicher Fülle, was geschichtsarme Städte sich an Wahrzeichen – wie etwa Sydney mit seinem markanten Opernhaus – erst mühsam schaffen müssen. Und es ist sicher kein Zufall, daß amerikanische und australische Städte gerade in jüngster Zeit große Anstrengungen zur Sichtbarmachung ihrer Geschichte unternommen haben. All das darf nicht zu vordergründig gesehen werden, wie es manchmal in farbenprächtigen Prospekten, in werbenden Selbstdarstellungen der Städte erscheint: mit „Stadtbildpflege“ allein ist es nicht getan, und sie kann sogar manchmal dem Rang des Historischen unangemessen sein. Es geht nicht um historische Kulissen, um „Inszenierungen“, sondern um tiefere Zusammenhänge. 1947 hat Friedrich Krauss, damals Professor für Baugeschichte an der Technischen Hochschule München, in einem Vortrag über den „Anteil des historischen Bestandes am Charakter einer Stadt“ darauf hingewiesen, „daß das Wesen einer alten Stadt nicht nur 8

Morus, Th., De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia, in: Der utopische Staat, Rowohlt Klassiker 1960, S. 50.

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durch den Bestand ihrer historischen Monumente erhalten bleibt, sondern daß diese auch ihre alte Beziehung zum Sinn und Rhythmus des Lebens der Stadt behalten müssen.“ 9 Das ist nun allerdings ein hoher Anspruch, der nicht immer wörtlich zu erfüllen sein wird: wenn ein altes Kloster zum Rathaus, das kurfürstliche Palais zum Sitz der Bezirksregierung, die römische Basilika zur evangelischen Kirche wird, so ist das sicher nicht „ihre alte Beziehung“, – aber ich glaube, mein verehrter Kollege Krauss wäre, lebte er noch, auch mit der Ergänzung einverstanden: „oder eine neue lebendige Beziehung zum Sinn und Rhythmus des Lebens der Stadt erhalten“. Damit kommen wir nun fast zwangsläufig von der Betrachtung des historischen Bestandes in der Stadt zu der Frage, wie denn solchen historischen Werten in der städtebaulichen Entwicklung Rechnung getragen werden könne. Hier wird der Denkmalpfleger sich pflichtgemäß meist für vollständige Bewahrung einsetzen; der Stadtplaner indessen muß die Vielfalt der auf den Städtebau einwirkenden Belange überblicken und muß abwägen, für welchen Weg er sich entscheidet – genauer gesagt: welchen Weg er der politischen Instanz zur Entscheidung empfehlen will. Dabei sollte man wohl im Auge behalten, daß die Stadtplanung von ihrer Entwicklungsgeschichte her auf Steuerung oder gar Herbeiführung von Veränderungen, nicht aber auf Bewahrung des Bestandes ausgerichtet ist; Bewahrungsaufgaben tauchten früher nur am Rande auf und haben erst im letzten Jahrzehnt erhöhtes Gewicht erhalten. Dementsprechend ist auch das Rechtsinstrumentarium der Planung in erster Linie auf die Durchsetzung von Veränderungen, nicht auf Erhaltung und Bewahrung angelegt; so ist in die Rechtsgrundlage für Sanierungsmaßnahmen, das Städtebauförderungsgesetz, eine auf die Erhaltung wertvoller Bauten gerichtete Bestimmung erst während der Ausschußberatungen eingefügt worden, und erst in der Novelle zum Bundesbaugesetz von 1976 gibt es deutlichere Hinweise auf Erhaltung des Überkommenen, parallel mit der Schaffung gewisser Rechtshandhaben dafür. Meistens handelt es sich in historisch geprägten Bereichen um drei Hauptziele der Stadtentwicklungspolitik, die miteinander in Einklang gebracht werden müssen: 9

Krauss, F., Der Anteil des historischen Bestandes am Charakter einer Stadt, München 1948, S. 18.

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die Erhaltung der Substanz: ein denkmalpflegerisch-kulturelles Ziel, die Verbesserung der Funktion im Stadtgefüge: ein stadtwirtschaftliches Ziel, die Verbesserung der Lebensverhältnisse für die Bewohner: ein sozialpolitisches Ziel.

Kommunalpolitisch sind alle drei Anliegen wichtig: für das Image, für die städtischen Finanzen und für die nächste Kommunalwahl, aber nur selten werden sie harmonisch ineinandergreifen: meist sind Konflikte zu erwarten. Erhaltung der Substanz kann dringend erwünschten funktionellen Anpassungen im Wege stehen, Verbesserung der Funktion kann schwerwiegende Veränderungen von Bausubstanz und Bewohnerschaft auslösen. Die Verbesserung der Lebensverhältnisse führt bereits in sich – auch ohne Kollision mit anderen Zielen – häufig zu Problemen: normalerweise schlagen sich die Kosten der Verbesserungsmaßnahmen in Mieterhöhungen nieder, die zur Verdrängung der Bewohner führen und damit dem ursprünglichen Ziel zuwiderlaufen können. Es wäre einfach, wenn sich eine generelle Rangfolge ergäbe – und für unser Thema ideal, wenn die Substanzerhaltung grundsätzlich den ersten Rang einnähme. Das aber trifft nicht zu; die Konstellation der jeweils zu berücksichtigenden Bedürfnisse ebenso wie das erwartete Verhältnis von Aufwand zu Erfolg ist immer wieder anders, und deshalb ist es stets eine Frage der ortsspezifischen Bewertung, welche Prioritäten gesetzt, welche Kompromisse geschlossen werden sollen. Betrachten wir nun die Maßstabsebenen, auf denen das Element des Historischen in der Stadt wirksam ist und Berücksichtigung verlangt, so pflegen zunächst die bedeutenden Baudenkmale ins Blickfeld zu kommen, die mit dem Begriff und der Atmosphäre ihrer Stadt verknüpft sind, manchmal geradezu als pars pro toto stehen. In der Tat gehört das prägende Einzelbauwerk zu den augenfälligsten Zeugnissen der Geschichte, und wenn es wirklich bedeutend ist, wenn ihm also hohe künstlerische und dokumentarische Werte zugesprochen werden, ist es im allgemeinen auch nicht bedroht – man wird gleichsam um es herumplanen. Aber hier, bei der Beziehung eines solchen Gebäudes zu seiner Umgebung, beginnen schon die Probleme. In vielen Städten begegnet uns das einzelne Baudenkmal mehr oder minder isoliert, rings vom Straßenverkehr umspült oder von umgebenden Großbauten maßstäblich erdrückt –

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Versatzstück auf einer Bühne, auf der längst ein ganz anderes Stück gespielt wird als jenes, zu dem es einst gehörte. Die Metapher läßt sich fortspinnen: man kann das Stück von heute nicht einfach umschreiben und durch ein für die Dekoration passenderes ersetzen, und man kann ebensowenig nur um der Harmonie des Bildes willen neue, pseudohistorische Requisiten anschaffen, wenn für sie sonst kein Bedarf besteht. Aber glücklicherweise gibt es zwischen diesen beiden Extremen doch noch einen gewissen Handlungsspielraum, innerhalb dessen man dem historischen Erbe gerecht werden kann, ohne die Ansprüche der Gegenwart unangemessen zu beschränken. Voraussetzung dafür ist allerdings in der Regel, daß für das Baudenkmal selbst eine Nutzung besteht oder gefunden werden kann, die es in die Lebenszusammenhänge der Gegenwart einzubinden erlaubt; sonst schleicht sich allzuleicht ein Element des Kulissenhaften ein. Häufig wird die Auffassung vertreten, am besten sei es, alte Gebäude wieder ihrer ursprünglichen Nutzung zuzuführen, aber das ist keineswegs immer zutreffend. Manches mittelalterliche Wohnhaus ist heutigen Ansprüchen an Wohnhygiene und Wohnqualität nicht anzupassen – jedenfalls nicht ohne radikale Eingriffe in die Substanz –, und andererseits gibt es viele alte Wohnbauten, die heute – in einer Zeit, in der Dienstpersonal, das mit im Haus wohnt, ganz unüblich geworden ist – in ihrem Zuschnitt zu opulent sind, als daß sie normalen Wohnzwecken dienen könnten. Es wird also in solchen Fällen darauf ankommen, andere Nutzungen zu finden, die sich dem Gebäude einordnen lassen, und tatsächlich gibt es auch eine Fülle von Beispielen für solche „kreative Umnutzungen“, die der Erhaltung historischer Gebäude dienen. Für solche Fälle läßt sich die gängige These, nach der die Form der Funktion folge, abwandeln – womit sie übrigens keineswegs entkräftet wird –: die Funktion ordnet sich der Form unter, wenn deren Bedeutung dies rechtfertigt. Dies Problem der Nutzung verschärft sich meist auf der nächsten Maßstabsebene, bei der es nicht mehr um das Einzelgebäude, sondern um den historisch geprägten städtebaulichen Rahmen oder um eine entsprechende Gebäudegruppe geht. Auch hier stehen wir vor den Fragen der Nutzung – Nutzung der Gebäude wie der Außenräume – und des Verhältnisses dieser Nutzung zur früheren Bedeutung und Funktion einer solchen Gebäudegruppe. Noch eines ist zu bedenken: die relative Enge historischer Stadträume, die heute wieder als anheimelnd und ästhetisch

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reizvoll hoch im Kurse steht, wird mit Nachteilen in der Besonnung und Belichtung der Wohnungen, die Geschlossenheit der Räume häufig auch mit Mängeln in der Grundrißbildung und Orientierung erkauft. Anknüpfung an die Geschichte aber um den Preis schlechter Wohnungen zu suchen, scheint mir unverantwortlich. Deshalb ist gegen Neuplanungen dieser Art einiges Mißtrauen am Platze. Im Grunde liegen aber die Kernprobleme der Bewahrung von Bauten oder Stadtquartieren bei der strukturellen Planung für die Stadt in ihrer Gesamtheit. Das ist keine ganz neue Einsicht, wie wir einem Text aus der Zeit um 1930 entnehmen: „Es handelt sich nicht allein um den Maßstab der Bauwerke untereinander, sondern darüber hinaus handelt es sich um den Maßstab der Struktur eines Stadtgebildes. Hier erst liegt der eigentliche Kern ihres historischen Wesens. Auch wenn wir die alten Gebäude selber gar nicht antasteten, wir würden ihr Wesen zerstören, wenn wir sie zu Gliedern einer neuen, künstlich aufgeweiteten Struktur machten. Was dem Alten am meisten gefährlich wird, ist der Maßstab einer neuen Zeit. Der Sinn dieser Erkenntnis ist der: wirklich schützen kann man das Alte nicht, wenn man ihm zumutet, in einer Zeit mit anderem Maßstab die gleichen Funktionen auszuüben, wie in einer Zeit mit weit bescheidenerem Maßstab, in der es entstand. Wirklich schützen kann man es nur, wenn man versteht, die Lebensfunktionen, die das Alte nicht mehr zu leisten vermag, auf neue Glieder des Organismus zu übertragen, die dafür geeignet sind. Man muß die praktische Bedeutung der alten Teile, die man schützen will, in vieler Hinsicht auszuschalten verstehen, und muß sie so umschalten, daß man die zerstörende Kraft des neuen Lebens schonend um das Alte herumführt. Alles das bedeutet eine neue Auffassung der Denkmalpflege. Die Erkenntnis vom wahren Wesen des Städtebaus beginnt ihre langgepflegten Vorstellungen gründlich zu ändern. Ihr wichtigster Teil geschieht heute nicht mehr am Bauwerk selbst, sondern er ist eine Angelegenheit städtebaulicher Disposition geworden und wird indirekt ausgeübt. Umleitung der Lebensströme ist das einzige wirkliche Heilmittel.“ 10 Das hat Hamburgs Oberbaudirektor Fritz Schumacher in seinen Ausführungen zum Generalsiedlungsplan für Bremen gesagt, und hier liegt 10

Schumacher, F. u. a., Stadt- und Landesplanung Bremen 1926–1930, Bremen 1931, S. 229 f.

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im Grunde die Problematik aller deutschen Großstädte und der meisten Mittelstädte. Nur in einigen Kleinstädten, vielleicht in einzelnen Mittelstädten wird ein in vorindustrieller Zeit entstandener Stadtkern in seinen Baulichkeiten noch heutigen Ansprüchen gerecht; noch seltener sind die Fälle, in denen die alte Struktur nicht oder wenig verändert bestehenbleiben kann. Das ist bei Großstädten anders: hier hat die Dynamik der Entwicklung die historische Bausubstanz, von einigen Denkmalen abgesehen, meist schon im vorigen Jahrhundert abgeräumt, und was hier im Krieg zerstört wurde, entstammte dem neunzehnten, manchmal auch schon dem zwanzigsten Jahrhundert. Vorindustrielle Bausubstanz hat sich in Großstädten nur dort im Zusammenhang und in nennenswertem Umfang erhalten können, wo sich der Brennpunkt des städtischen Lebens an eine andere Stelle verlagert hatte. Hier können Konfliktsituationen entstehen: gelegentlich mag man historische Bauten nur dann halten können, wenn man ihnen – wie Schumacher empfiehlt – neue, weniger wichtige Funktionen zuweist, und die Wahl zwischen Bedeutungsverlust oder Substanzverlust kann dann schwerfallen. Aber die Grundüberlegung ist klar: Erhaltung historischer Substanz und Struktur in einer Stadt setzt voraus, daß die städtebauliche Entwicklungskonzeption diesem Ziel Rechnung trägt. Eine so ausgerichtete Erneuerungsplanung wird also stets zwei Fragen beantworten müssen: – –

für welche Nutzung und Funktion eignet sich der historische Bereich auf der Grundlage seiner erhaltenswerten Struktur und Substanz? welche Nutzung und Funktion ist für diesen Bereich nach seiner Einordnung in das gesamte Stadtgefüge zweckmäßig und realistisch?

Ein nachhaltiger Erfolg der Stadterneuerung ist nur dann zu erwarten, wenn die Antworten auf beide Fragen miteinander in Einklang gebracht werden können. In jedem Falle wird es das Ziel der Erneuerung sein müssen, dem Bereich wieder eine wirtschaftliche Lebensfähigkeit zu verleihen, die ihn in die Lage versetzt, sich künftig gesund weiterzuentwickeln. Es wird also darauf ankommen, für solche historischen Bereiche eine Funktion zu finden, in der die wirtschaftlichen Erträge weder so dürftig sind, daß sie die weitere Erhaltung nach der Sanierung nicht ge-

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währleisten und damit erneut zum Verfall führen, noch so reichlich, daß wirtschaftliche Dynamik das gerade erreichte Gleichgewicht wieder gefährdet, den zu bewahrenden Maßstab zu sprengen droht. Auf diese Weise kann es gelingen, die historischen Qualitäten eines Quartiers und seine Vertrautheit für den Bewohner weitgehend zu bewahren und ihm zugleich eine sinnvolle Rolle im Stadtganzen zuzuweisen. Aber auch bei einer solchen erhaltenden Erneuerung wird es Veränderungen an Gebäuden und Straßen geben müssen, und dabei treten häufig schwierige Fragen des Umgangs mit der historischen Bausubstanz auf – von dem Problem ihres vollständigen Ersatzes, bei dem die Echtheit auf der Strecke bleibt, bis hin zu der umstrittenen Möglichkeit der „Translozierung“, der Versetzung von authentischen Baudenkmalen an nichtauthentische Standorte. Ein puristisches Urteil wird zur Ablehnung jedes derartigen Ansatzes führen; ein liberaleres mag die Translozierung an einen Platz akzeptieren, an dem ein ähnliches – verlorengegangenes – Gebäude gestanden hat: so ist beispielsweise ein für die Stadtatmosphäre wichtiger Straßenabschnitt in Hannover zustandegekommen. Wer hierüber streitet, muß sich darüber klar sein, daß es ein „falsch“ oder „richtig“ jeweils nur unter bestimmten, nicht objektivierbaren Wertprämissen geben kann – und das gilt in wohl noch höherem Maße für die Gestaltung von Neubauten in historisch geprägter Umgebung. Damit sind wir bei einer weiteren wichtigen Frage: welche Regeln für die Gestaltung – sowohl des Einzelgebäudes wie des städtebaulichen Rahmens – lassen sich aus dieser neuen Wertschätzung des Historischen ableiten? Zunächst gewiß die Forderung nach Rücksichtnahme auf den Bestand und die ihm zugrundeliegenden Formgesetze; ihre Anerkennung spiegelt sich in der 1976 verabschiedeten Neufassung des § 34 BBauG: anstelle von „Unbedenklichkeit“ wird „Einfügung“ gefordert. Aber auch „Einfügung“ ist in weiten Grenzen interpretierbar: von weitestgehender Anpassung an die alten Gebäude, die auch vor der Kopie nicht unbedingt haltmacht, über eine möglichst unaufdringliche, „zeitlose“ Begleitarchitektur bis zu einer Beschränkung auf die Einordnung in Maßstab und Grunddisposition des Bestandes bei deutlicher Betonung heutiger Bauformen in der Einzeldurchbildung. Daß auch hier die Urteile schon unter Zeitgenossen auseinandergehen und sich zudem mit dem Zeitgeist wandeln, wissen wir nur zu gut. Was dem einen Jahrzehnt als spannungsreicher, gelungener Kontrast erscheint, gilt dem nächsten als brutale Miß-

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achtung des historischen Gefüges; was der eine als behutsame Anpassung lobt, schilt der andere eine kraftlose und blutleere Kopie; und was sich einmal als „zeitlos“ verstanden hat, verrät sehr bald seine Entstehungszeit nur allzu deutlich. Das kann kaum anders sein; Verständnis und Interpretation der Geschichte wandeln sich: „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.“ 11 Aber auch wenn die Zeiten sich auf unterschiedliche Weise bespiegeln, so haben sie doch Anspruch auf Authentizität, auf die Unangefochtenheit, die Unmißverständlichkeit ihrer historischen Aussage. Anders gesagt: wie immer man unter dem Gesichtswinkel der heutigen Architekturdiskussion zu einigen pseudohistorischen Eskapaden der Gegenwartsarchitektur stehen mag – im Hinblick auf die Qualität des geschichtlichen Erbes ist alles das abzulehnen, was darauf angelegt oder dazu angetan ist, den Betrachter über historische Echtheit zu täuschen. Es gibt Sonderfälle wie die Warschauer Altstadt: aber hier ist die Kopie ein Akt nationaler Selbstbestätigung – und kann ja den geschichtsbewußten Betrachter auch gar nicht täuschen, weil er weiß, daß das Original untergegangen ist. Aber für alle gängigen Architekturaufgaben unserer Zeit möchte ich dieser moralischen Forderung den Vorrang einräumen vor der ästhetischen einer störungsfreien Einfügung. Ein ähnliches Problem gibt es übrigens bei der Wiederherstellung oder Umgestaltung historischer Bauten, und auch hier haben wir es natürlich nicht mit den einfachen Kategorien von falsch und richtig zu tun, sondern mit Werturteilen. Wenn ein Baudenkmal von historischen Zutaten, die sich über Jahrhunderte angesammelt haben, gereinigt, „purifiziert“ wird, so kann damit gewiß die bauliche Intention der Gründungszeit, die gebaute Umwelt unserer Vorväter recht genau verdeutlicht werden, und das mag in manchen Fällen seine Berechtigung haben. Aber zugleich wird damit doch auch Geschichte gleichsam negiert, werden die Narben von Jahrhunderten, die sichtbaren Spuren von Zusammenbrüchen und Neuanfängen getilgt. Wenn wir mit Hans Freyer „geschichtliches Denken nicht – oder doch nicht in erster Linie – (darin sehen), das Vergangene zum Bilde zu erwecken, sondern das Gegenwärtige als

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Goethe, J. W., Faust, 1. Auftritt.

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geschichtlich Gewordenes zu verstehen“, 12 so wird klar, daß man beispielsweise nicht die Alte Pinakothek in München unter Beseitigung des großartig-kargen Neuaufbaues von Döllgast als Klenze-Kopie wieder herrichten kann – moralisch, nicht technisch gemeint. Auch zu diesem Fragenkomplex sei noch einmal Friedrich Krauss aus dem Jahre 1947 zitiert: „Es ist mehr wert und steigert das historische Bewußtsein in stärkerem Maße, wenn man etwa an einer Hausecke das Modell eines hier verschwundenen Torturmes oder eine Gedenktafel entdeckt, als wenn der ganze Bau in alter Größe und völlig getreu als historische Attrappe wiederaufgebaut an der alten Stelle stünde. Es ist mit dem größten Nachdruck darauf hinzuweisen, daß die Geschichte eine Wirklichkeit ist und ihre Realität respektiert werden muß. Nachdem das Ergebnis jahrzehntelanger Bemühungen bewiesen hat, daß auch das genaueste Studium ein früheres Leben nur erkennen, aber nicht nachvollziehen kann, darf die Erkenntnis von der Unersetzlichkeit des Originals nicht wieder verschleiert werden.“ 13 Blicken wir abschließend zurück auf die Entwicklung des Städtebaues in der Industriegesellschaft, so stellen wir fest, daß sich immer wieder Veränderungen in den Zielen und Konzepten vollzogen haben, die nur teilweise durch gesellschaftliche, wirtschaftliche oder technische Entwicklungen zu erklären sind. Ihnen liegt in der Regel auch ein Wandel der Wertmaßstäbe zugrunde, der seinerseits eine geschichtliche Dimension besitzt. Wenn wir uns das klarmachen, werden wir erkennen müssen, daß die gegenwärtige Hochschätzung des Bestehenden, des Historischen nicht unbedingt von Dauer sein muß und daß sie vor allem gefährdet ist durch Übertreibungen, die zu neuen Pendelschwüngen Anlaß geben könnten. Solche Übertreibungen finden sich vor allem in der gedankenlosen Vermarktung von Nostalgie und „Altstadtlook“, in der Kommerzialisierung einer Talmi-Historie, die den unausweichlichen Überdruß an ihr schon voraussehen läßt. Die Qualität des Historischen in unseren Städten sollte uns zu wertvoll sein für solche Anbiederungen. Eine andere Gefahr scheint mir darin zu liegen, daß die amtliche Denkmalpflege unter dem Einfluß der Nostalgiewelle die angemessenen 12

Freyer, H., Die deutsche Stadt. Geschichte und Gegenwart. in: Entwicklungsgesetze der Stadt, Köln und Opladen 1963. 13 Krauss (s. A 9), S. 42 f.

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Maßstäbe verkennt; man muß wohl gelegentlich daran erinnern, daß ihre Aufgabe – nach einem Wort des früheren niedersächsischen Landeskonservators Professor Deckert – nicht darin besteht, Altes zu bewahren, sondern Werte zu bewahren. Die Pendelschwünge im Städtebau, von denen ich sprach, sind meist Reaktionen auf enttäuschte Erwartungen, ihrerseits zurückgehend auf überhöhte Hoffnungen, die man an neue Wege und Konzepte geknüpft hatte. Das „Heimweh nach Geschichte“, das sich in der gegenwärtigen Situation so deutlich bemerkbar macht, ist eine solche Reaktion auf die stürmischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte, auf den Verlust an gewohnter Umwelt, auf den Überdruß am Neuen, das nicht hielt, was man sich von ihm erhofft hatte. Daß damit eine dauerhafte oder gar endgültige Maxime städtebaulicher Planung gefunden sei, muß man bezweifeln: Geschichte läßt sich nicht festschreiben. Um so wichtiger ist es, die Grundwerte, die in der Bewahrung historischen Erbes, in „erhaltender Erneuerung“ liegen, nicht durch Tageseinflüsse überwuchern oder gar kompromittieren zu lassen. Kontinuität und Wandel sind einander ergänzende Wesenszüge der Stadt: nur wenn man auch der Veränderung Raum gibt, wird man Werte bewahren können. Man kennt bis heute keine einzige Restauration, auch nicht unter den zu ihrer Zeit bewundertsten, die nicht nach zwanzig Jahren den Nimbus sogenannter Echtheit schon wieder verloren gehabt hätte. Unbegreiflich, wie, nachdem eine an Enttäuschungen und Reue übervolle Erfahrung hinter uns liegt, gewisse Zauberer es noch immer zustande bringen, den vertrauensvollen Laien zu suggerieren, sie, sie endlich und ganz gewiß, hätten das große Arcanum gefunden. Es wird nie gefunden werden. Der Geist lebt fort nur in Verwandlungen; in seine abgelegten Schlangenhäute läßt er niemals sich zurückzwingen.

(Aus Georg Gottfried Dehio, Denkmalschutz und Denkmalpflege im neunzehnten Jahrhundert. Rede zur Feier des Geburtstags Sr. Majestät des Kaisers, Straßburg 1903, S. 18 f.)

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Stadtgestaltung ohne Leitbild Erschienen in: Bayerische Akademie der Schönen Künste (Hrsg.) (1984): Willkür oder neuer Konsens? Zur Situation des Bauens, Sechs Vorträge, S. 22–43, Kastner & Callway, München.

Wenn man es unternimmt, die Situation des Bauens aus dem Blickwinkel des Städtebaues darzustellen und zu interpretieren, dann muß man sich wohl zunächst mit der Frage auseinandersetzen, welcher Art die Beziehungen von Städtebau und Architektur heute sind. Dabei zeigt sich, daß Städtebau im umfassenden Wortsinne nicht in allen seinen Aspekten von den Entwicklungen in der Architektur betroffen ist, denn die Gesamtheit dieses Aufgabengebietes gliedert sich deutlich in zwei Hauptbereiche: –



die Ordnung der Stadtstruktur, also des Gefüges von Gebieten unterschiedlicher Nutzung und der sie verknüpfenden Verkehrswege und Leitungen, die Beeinflussung der Stadtgestalt durch Vorgaben und Anweisungen für die Anordnung und Gestaltung von Baukörpern und Freiflächen.

Diese Bereiche sind zwar nicht vollständig voneinander unabhängig; so können strukturelle Entscheidungen den Gestaltungsspielraum erheblich einengen, aber Architekturtendenzen werden sich kaum unmittelbar im Bereich der strukturellen Ordnung niederschlagen. Deshalb können wir diesen Problembereich heute beiseite lassen und uns auf Gestaltungsfragen konzentrieren. Hier ist ein enger Bezug zur Architektur zwangsläufig gegeben, denn Stadtgestaltung geht ohne scharfe Trennung in Baugestaltung über. Man könnte noch einen anderen Grund für die Konzentration auf die Stadtgestaltung anführen: Sie findet gegenwärtig in der Planungsdiskussion weit mehr Aufmerksamkeit als stadtstrukturelle Fragen. Es scheint so etwas wie einen Pendelschwung des Interesses in Fachkreisen und in der Öffentlichkeit zu geben, der diesem Phänomen zugrunde liegt. Nachdem

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um die Jahrhundertwende – unter dem Einfluß Camillo Sittes – Gestaltungsfragen die Diskussion beherrscht hatten, wurden sie seit etwa 1910 zunehmend zurückgedrängt durch die Einsicht in die sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen des Städtebaues und in die dadurch bedingte gesellschaftliche Verantwortung der Stadtplanung. So sind die fünfzig Jahre zwischen 1910 und 1960 entscheidend geprägt durch die Vorherrschaft struktureller Überlegungen, wie sie geradezu beispielhaft in der Gründungserklärung der „Internationalen Kongresse für Neues Bauen“ – inzwischen bei uns bekannter unter der Abkürzung der französischen Bezeichnung: CIAM – zum Ausdruck kommen: „Stadtbau ist die Organisation aller Funktionen des Gemeinschaftslebens in der Stadt und auf dem Lande. Stadtbau kann niemals durch ästhetische Überlegungen bestimmt werden, sondern ausschließlich durch funktionelle Folgerungen.“ In den späten sechziger Jahren richtete sich dann ein neues Interesse auf die Gestalt – ausgelöst wohl durch die Arbeiten von Kevin Lynch über „Das Bild der Stadt“ und von Gordon Cullen über „Townscape“, verstärkt durch die Kritik am Erscheinungsbild der Städte, das mehr und mehr als unbefriedigend, steril, monoton empfunden wurde. Im Gegensatz aber zur Diskussion um Gestaltungsregeln, wie sie den Zeitabschnitt um die Jahrhundertwende beherrscht hatte, haben wir es nun mit einem höheren Abstraktionsgrad zu tun: an die Stelle inhaltlicher Grundsätze bis hin zu einem „Falsch-Richtig“-Katalog, wie sie von Camillo Sitte (1889) bis zu Gerhard Jobst (1949) noch durchaus gängig waren, tritt nun eine Art Kategorienlehre, die auf konkrete Gestaltungsanweisungen weitgehend verzichtet. Auf dieser Grundlage hat Stadtgestaltung als Arbeitsfeld der Stadtplanung gerade in den siebziger Jahren vermehrte Aufmerksamkeit erfahren, wobei allerdings in diesem Begriff ein höherer Anspruch mitschwingt, als ihn die Stadtplanung zu erfüllen vermag. Denn diese hat sachlich wie rechtlich nur begrenzte Möglichkeiten, auf die architektonische Gestaltung des Einzelgebäudes einzuwirken: Sie kann allgemeine Baumassendispositionen treffen, und sie kann in bestimmten Fällen auch Gestaltungsvorschriften für Neubauten erlassen, aber sie kann dem Architekten die Gestaltung des Einzelgebäudes – und die Verantwortung dafür – nicht abnehmen. Was zunächst die Baumassendisposition angeht, so gilt es zu unterscheiden zwischen solchen Planungen, die den Rahmen für im einzelnen

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noch unbekannte bauliche Bedürfnisse setzen sollen, und anderen, die nur eine planungsrechtliche Sanktionierung eines bereits vorliegenden Entwurfes sind – wie etwa bei manchen Wohnanlagen aus der Hand eines Bauträgers. Im zweiten Falle ist die gestalterische Grunddisposition in der Regel schon vom Bauträger getroffen, im ersten besteht ein deutliche Dilemma zwischen dem Wunsch, einen geordneten baulichen Gesamteindruck zu sichern, und dem Bestreben, den Gestaltungsspielraum für die noch unbekannten Baubedürfnisse nicht unnötig einzuengen. Stets aber gilt es dabei eine Anzahl funktionaler, technischer und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen zu beachten, die den Gestaltungsspielraum begrenzen. Für weitergehende Einwirkungsmöglichkeiten auf die architektonische Gestaltung steht das Werkzeug der Gestaltungssatzung zur Verfügung, das zwar nicht eigentlich mehr zum städtebaulichen Gesetzesinstrumentarium gehört, weil es aus den Vorschriften der Landesbauordnung abgeleitet ist, aber in seiner Wirkung doch städtebaulichen Charakter besitzt. Allerdings wird der Planer es mit Vorsicht anwenden – nicht nur, weil die Architekten es geradezu verabscheuen und als unbegründete Einschränkung ihrer Gestaltungsfreiheit ansehen, sondern vor allem, weil es außerordentlich schwer ist, ästhetisch befriedigende Entwurfsbedingungen in juristische Formulierungen umzusetzen. Man könnte also vielleicht von einer „objektiven“ und einer „subjektiven“ Einengung des Gestaltungsspielraums für den Architekten sprechen – objektiv durch allgemeine und in der Regel wohlbegründete Anforderungen, die sich auf Belichtung, Besonnung, Durchlüftung von Wohn- und sonstigen Aufenthaltsräumen beziehen und sich vor allem in Vorschriften für Mindestabstände zwischen Gebäuden niederschlagen, subjektiv durch die dem städtebaulichen Plan zugrundeliegende Gestaltungskonzeption, die dem ausführenden Architekten äußere, nicht unmittelbar aus seiner Bauaufgabe erwachsende Bindungen auferlegen kann. Eine solche subjektive Einengung wird dann kaum zu Konflikten führen, wenn die gestalterischen Grundvorstellungen weithin geteilt werden, also auf einem tragfähigen Konsens über Gestaltungsgrundsätze beruhen, wie er die fünfziger und auch noch weitgehend die sechziger Jahre kennzeichnete. Daß und warum ein solcher Konsens heute gestört ist, wird noch zu erörtern sein.

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Auch die „objektive“ Einengung des Gestaltungsspielraums durch Rechtsvorschriften wurde so lange nicht als Problem empfunden, wie die Grundprinzipien der Baukörperanordnung auf räumlicher Offenheit und freiplastischer Gebäudedisposition beruhten. Seit aber räumliche Enge und geschlossene Raumformen wieder zu ästhetischer Wertschätzung gelangt sind, gibt es hier Spannungen und kritische Auseinandersetzungen. Soweit zur Einwirkung von Städtebau auf Architektur – und wieweit beeinflußt nun die Architektur den Städtebau? Alle Erfahrung zeigt, daß Architektur sich nicht aus städtebaulichen Formvorstellungen deduzieren läßt, sondern ihre eigenen Maßstäbe setzt – und von Zeit zu Zeit verändert. Anders gesagt: Stadtplanung – auch Stadtgestaltung – muß mit der Architektur Fühlung halten, ihrer Entwicklung Rechnung tragen, wenn sie nicht gleichsam im luftleeren Raum operieren will. Sie tut sich dabei um so leichter, je fester und begrenzter die Konventionen innerhalb der Architektur darüber sind, wie bestimmte Aufgaben anzugehen und zu lösen seien. Ein extremes Beispiel für solche durch den Konsens in der Architektur verliehene Sicherheit des Städtebaues ist der Mietwohnungsbau der zwanziger Jahre, für den sich der Prototyp des etwa zehn Meter tiefen, drei- bis fünfgeschossigen Zweispänners so deutlich durchgesetzt hatte, daß er allen stadtgestalterischen Überlegungen zugrundegelegt werden konnte: Fritz Schumachers sogenanntes „modellmäßiges Bauen“ ist gerade dadurch möglich geworden und wirklichkeitsnah geblieben. Verfolgen wir in dieser Hinsicht die Entwicklung nach dem Kriege, so stellt sich auch noch für den Städtebau der fünfziger Jahre die Situation relativ unkompliziert dar: In den durchweg einfachen Baukörperformen und in der Fassadengestaltung fanden sich Elemente der widerstreitenden Architekturströmungen der Vorkriegszeit wieder – einer dem traditionellen Formenkanon verpflichteten evolutionären Gestaltungsrichtung, für die Namen wie Schmitthenner oder Bestelmeyer stehen mögen, und einer revolutionär modernen Formgebung, wie sie etwa Ernst Mays Siedlungen in Frankfurt, die Weißenhof-Siedlung in Stuttgart oder Berlin-Siemensstadt charakterisiert hatte. Von der Mitte der fünfziger Jahre an gewann die Moderne eindeutig die Oberhand, deren Rezeption – und Vergröberung in Maßstab und Detail – dann die sechziger Jahre klar beherrschte. Diese Vergröberung ist es wohl, die am ehesten die latenten Gegenkräfte zu mobilisieren vermochte, und schon ein Blick auf die architektonisch sorgfältig gestalteten Neubau-

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ten dieser Richtung – Höje Gladsaxe oder Albertslund in Kopenhagen, Bijlmermeer bei Amsterdam – läßt erkennen, daß hier das ästhetische Mittel der maschinenartigen Repetition bis zum äußersten ausgereizt wird und fast zwangsläufig zur Ermüdung und zum Vorwurf der Monotonie führen muß. Im allgemeinen waren die fünfziger wie die frühen sechziger Jahre durch eine Tendenz zu großflächigen, kubisch klaren Baukörpern gekennzeichnet; gelegentliche Abweichungen wie die leichte Schwingung des Gropius-Blocks oder die stärkere plastische Differenzierung des Aalto-Blocks auf der Interbau in Berlin 1957 taten dem kaum Abbruch. In jedem Fall nämlich ging es um die Interpretation der Gebäude als freiplastisch wirkende Volumina, die nicht darauf angelegt – und auch gar nicht dazu geeignet – waren, Raum zwischen sich einzuschließen, sondern allenfalls ein Raumkontinuum durch ihre wohlüberlegte Verteilung zu gliedern, zu differenzieren, zu strukturieren. Hier drängt sich die Parallele zu der Raumkonzeption des berühmten deutschen Pavillons auf der Weltausstellung in Barcelona 1927 von Mies van der Rohe auf. Hier wie dort werden die geschlossenen Räume zugunsten eines fließenden Raumes aufgegeben, werden die ehemals festen umschließenden Wände in mehr oder minder freiplastische Elemente aufgelöst. Diese Tendenz wird verstärkt durch neue Entwicklungen in den Baukörpertypen, die zu einer bisher ungekannten Vielfalt von Gebäudeformen führen: Neben die vor dem Kriege gängigen Zeilen treten bald danach Hochhausscheiben und Punkthochhäuser, später kommen Terrassenhäuser, Hügelhäuser und andere Elemente hinzu – bis zu den architektonischen Großformen nach dem Vorbild von Le Corbusiers „Unité“ oder zu pyramidenförmigen Konglomeraten wie etwa in Evry oder im „Habitat 67“ in Montreal. Ähnlich differenziert hatten sich die Anordnungsprinzipien der Baukörper von lockeren, aber regelhaften Gruppierungen über das, was die Engländer „studied irregularity“ nennen, bis zu Gebäudedispositionen, bei denen nicht mehr zu erkennen war, ob ihnen überhaupt ein Ordnungsgedanke zugrunde lag. Als eine frühe Reaktion darauf mag man das Konzept für Hamburg-Steilshoop empfinden, das bewußt wieder auf den weitgehend umschlossenen Raum zurückgreift, allerdings in der Einzelform noch weitgehend in der Tradition der Moderne steht. Seither haben sich die Tendenzen zum umschlossenen Raum verstärkt. Die Rehabilitierung des lange als „Korridorstraße“ abqualifizierten

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Straßenraumes, die Rückkehr zum ringsum geschlossenen Baublock des 19. Jahrhunderts kennzeichnen auch im städtebaulichen Bereich eine Abwendung von den Ordnungs- und Gestaltungsgrundsätzen der „klassischen“ Moderne. Besonders deutlich zeigt sich das in der Stadterneuerung, die in den sechziger Jahren mit dem Ziel angetreten war, Substanz und Struktur der ungeliebten Wohngebiete aus der Gründerzeit radikal zu verändern, und die heute vollständig auf „erhaltende Erneuerung“ im Sinne einer Wiederherstellung, einer „Reparatur“ eben diese Substanz und Struktur umgeschwenkt zu sein scheint – wobei es übrigens eher sozialpolitische als funktionale oder ästhetische Erwägungen waren, die diesen Umschwung begründeten. Das alles läßt sich noch durchaus in einem evolutionären Sinne interpretieren – als dialektischer Prozeß unter dem Einfluß neuer Erkenntnisse und veränderter Wertmaßstäbe –, aber es wird zugleich überlagert von einer Entwicklung der Architekturformen, die sich sehr viel weiter von den Konventionen der Moderne entfernt. Gewiß könnte man argumentieren, daß solche Entwicklungen den Stadtplaner nicht allzusehr zu bewegen brauchten. Seine Anliegen werden ja im Grunde nicht davon berührt, ob man historisierende Erkerchen baut, ob die Fenster Sprossen haben oder nicht, echte oder auf die ganze Glasscheibe aufgeklebte Kunststoffsprossen, ob man jene T-förmige Fensterteilung wieder schön findet, die lange Zeit völlig verpönt war, oder ob der Rundbogen wieder akzeptiert wird. Tatsächlich könnte es ihm (fast) gleichgültig sein, wenn es dabei nur um die Form und nicht auch um die hinter ihr stehende Haltung ginge. Die von mir aufgeführten Beispiele könnte man als Niederschlag von Modeströmungen bezeichnen, und es läßt sich gewiß auch darstellen, daß die Aversion der Moderne etwa gegen den Rundbogen allzu puristisch war. Man verbannte eine archetypische Form, weil man ihre handwerkliche Schaffung durch die Wölbung für unzeitgemäß und ihre Herstellung auf anderem Wege für unehrlich hielt. Man kann das Ideologie nennen – aber es prägte zugleich eine Haltung, auf der eben jener Konsens in der Architektur beruhte: „Moralisten am Reißbrett“ überschrieb in den fünfziger Jahren eine Tageszeitung einen Artikel über die zeitgenössische Architektur. Ich meine also, daß der Konsens der fünfziger und frühen sechziger Jahre nicht so sehr aus einer Konvention der Formensprache als aus einer

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gemeinsamen Haltung erwachsen war – gegründet auf eine aus den Wurzeln der Moderne stammende verbindliche Auffassung vom angemessenen Verhältnis zwischen Form, Funktion und Konstruktion: eine Auffassung, die mit dem Schlagwort „Funktionalismus“ höchst ungenau charakterisiert wird. Heute scheint diese Auffassung vom inneren Zusammenhang der Bauaufgabe zurückgedrängt: Das neue Schlagwort von der „Autonomie der Form“ bezeichnet das Ende des Konsenses. Mit ihm nämlich wird der Zusammenhang von Konstruktion, Funktion und Form bestritten – oder sollte man sagen: geleugnet? – oder hieße es besser: aufgekündigt? Dieser Zusammenhang begleitet uns seit Vitruv – utilitas, firmitas, venustas; im England des 18. Jahrhunderts hieß es commodity, firmness, delight. Die Architekturtheorie geht davon aus, daß es so etwas wie eine Ausgewogenheit zwischen diesen drei Ansprüchen geben müsse – und so wäre der Funktionalist, der Konstruktivist und der Formalist jeweils ein Architekt, der einen dieser Ansprüche zu Lasten der anderen überbetonte, unangemessen in den Vordergrund rückte. Dabei kann es natürlich Meinungsverschiedenheiten darüber geben, wann solche Ausgewogenheit erreicht sei und wo sie verlorengehe, aber der Grundgedanke bleibt gleichwohl tragfähig. Lassen wir ihn gelten, so zeigt sich, daß die Abstempelung der sogenannten „Moderne“, des „Neuen Bauens“, des „internationalen Stils“ als „funktionalistisch“ nur sehr bedingt zutrifft. Die „Modernen“ haben das Schlagwort der Funktion – das sie mit Recht für öffentlichkeitswirksam hielten – als Waffe gegen den Eklektizismus und seine Ausläufer im frühen 20. Jahrhundert benutzt, aber kein kritischer Beobachter könnte den ausgeprägten Formwillen übersehen, dem mit dieser Waffe Raum geschaffen werden sollte und der sich etwa in der Weißenhofsiedlung oder in Mays Frankfurter Siedlungen niedergeschlagen hat; in funktionaler Hinsicht sind sie Theodor Fischers „Alter Haide“ oder selbst der Borstei nicht nennenswert überlegen. Und natürlich ist Mies van der Rohe kein Funktionalist – ein Blick auf die Nationalgalerie in Berlin belegt das. Eher könnte man ihn einen Konstruktivisten oder besser noch einen Formalisten der Konstruktion nennen. Das erste Mißverständnis in der Beurteilung der „Moderne“ liegt also in der Unterstellung, man habe geglaubt, die Form ergebe sich automatisch aus der Funktion – und habe auch so entworfen. Aber Sullivans „Form follows Function“ ist zunächst ja eine Beobachtung, und es ist

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wohl auch kein Zufall, daß Sullivan nicht formuliert hat: „Function determines Form“. Und das zweite Mißverständnis liegt in der Auffassung, die Architekten jener Zeit hätten „Funktion“ in einem platten, materiellen, gleichsam eindimensionalen Sinne verstanden und nicht, wie das etwa Gropius oder Häring klar gesagt haben, in einem sehr umfassenden Sinne, als Erfüllung einer vielschichtigen Aufgabe. Solche Mißverständnisse zeugen von wenig geschichtlichem Überblick, aber vielleicht werden sie sogar bewußt gepflegt, damit man sich selbst gegen die so verfälschte Auffassung der vorigen Generation möglichst positiv abheben kann – was übrigens die Vorkämpfer der Moderne gegenüber ihrer Vätergeneration kaum anders gemacht haben. Aber die Einsicht in Zusammenhänge wird mit solchen Polarisierungen nicht gefördert, und deshalb sollte man ihnen entgegentreten. Was man also der „Moderne“ anlasten kann, ist weniger ihr Bemühen um Funktionsgerechtigkeit als die allmähliche Vergröberung und Verarmung ihres Formenkanons – nicht so sehr durch ihre Protagonisten als vielmehr durch die „Mitläufer“. Das macht das Bemühen verständlich, diesen Formenkanon abzulösen, durch Neues und Besseres zu ersetzen. Darüber aber, was dieses Neue sein könne, besteht keine Übereinstimmung; aus den verschiedenartigen Protesthaltungen gegenüber der Moderne erwächst eine nahezu unbegrenzt scheinende Vielfalt des als erlaubt Geltenden. Indessen täuscht dies Bild wohl insofern, als es durchaus unterschiedliche Strömungen gibt, die jeweils für sich nur einen begrenzten Konventionsbereich gelten lassen, aber voneinander so stark abweichen, daß der Eindruck großer Vielfalt und Offenheit entsteht. Gelegentlich kann man auch elitäre, exklusive Züge entdecken, während in anderen Gruppierungen weit unbedenklicher mit den Formen umgegangen wird. Die zusammenfassende Bezeichnung aller dieser Strömungen als „Postmoderne“ ist eher ein Zeichen von Hilflosigkeit als eine aussagekräftige Charakterisierung. Da sind die Rationalisten mit einem hochgezüchteten, eigentümlich verfremdeten Neoklassizismus von formalistischer Strenge, und da gibt es die in sich wiederum heterogene Anhängerschaft von Venturi, der einerseits durchaus interessante Thesen über Komplexität und Widersprüchlichkeit in der Architektur entwickelt und vor allem an Bauten des Manierismus belegt hat, und der andererseits mit den Schlagworten „Main Street is almost allright“ und „Learning from Las Vegas“ einer Vulgärarchitektur, gleichsam einer Pop Art des Bauens das

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Wort zu reden scheint, für die es auch anderswo Beispiele gibt. Unübersehbar sind auch jene, die dem Purismus der Moderne durch Rückgriff auf historisch geprägte Bauformen und regional bedingte Entwurfselemente begegnen wollen – gewiß motiviert zum Teil durch das Bemühen, dem alle Städte nivellierenden einheitlichen Formenrepertoire der Moderne entgegenzuwirken, aber zum anderen Teil auch durch clevere Vermarktung von Nostalgie. Vielfach wird der Umgang mit den Formen – historisierenden oder neu erfundenen – mit Hinweisen auf „Spiel“ und „Ironie“ begründet – Vokabeln, in denen ein Element des Unernsten, des Ephemeren mitschwingt, das einer so dauerhaften Institution wie der Stadt unangemessen scheint. In der Tat wirkt vieles an den neueren Gebäuden wie Ausstellungsarchitektur, entworfen, um ein neuigkeitshungriges Publikum für ein paar Monate zu interessieren, vielleicht gar zu faszinieren, zumindest ihm Gesprächsstoff zu liefern – um dann wieder abgebrochen zu werden und anderen Neuheiten Platz zu machen. Die Abknickung oder die Abschrägung der Gebäudeecken um 45°, das hektische Verschieben von gleichartig geneigten Dachflächen um ein paar Dezimeter, damit nur ja ein kleinteiliger Maßstab gesichert bleibe, das Dach als Tonne aus Metall oder aus Glas, das spitzwinkelig aus der Gebäudewand herausragende Glasprisma – solche und ähnliche Erscheinungen tragen eindeutig modische Züge; sie gleichen Leitfossilien, an denen die Bauten auf ein Jahrfünft genau datierbar sind. In manchen Fällen hat diesen Entwicklungen sogar ein plausibler Gedanke zugrundegelegen – aber allzuschnell wird die formale Aussage von ihrer sachlichen Begründung gelöst und beginnt ihr Eigenleben zu führen. Daß solche Tendenzen sich auch im Stadtbild niederschlagen, liegt auf der Hand, aber wichtiger ist in unserem Zusammenhang die Frage, wieweit diese Architekturströmungen von sich aus den Anspruch erheben, nicht nur das Einzelgebäude, sondern auch die Stadtgestaltung, ja das Stadtgefüge zu bestimmen. Hier muß nun wohl ein entwicklungsgeschichtlicher Aspekt ins Blickfeld kommen, der eine gewisse Erklärung für die Problematik der städtebaulichen Situation zu bieten vermag. Seit der Jahrhundertwende, und ausgeprägter noch seit den zwanziger Jahren, ist die städtebauliche Entwicklung wesentlich mitbestimmt durch das sich stärkende Bewußtsein der Fachleute, daß es hier um eine sozialpolitische und ökonomische Aufgabe von größter Bedeutung gehe – von einer Bedeutung, die im

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Grunde alle gestalterischen Fragen überschattet. Diese Auffassung zeigt sich in zahlreichen Veröffentlichungen und wird selbst von den Architekten der CIAM in der bereits zitierten Gründungserklärung betont, wenn hier natürlich auch nur gemeint ist, daß vorgefaßte akademisch-theoretische Gestaltungsvorstellungen den Städtebau nicht bestimmen dürften, während man die eigenen Gestaltungsgrundsätze in voller Übereinstimmung mit den funktionellen Erfordernissen sah. Dieses Bewußtsein der Städtebauer aber mußte zu einer gewissen Distanzierung gegenüber der Architektur führen, die ihrem Wesen nach auf das abgeschlossene Werk und nicht auf den Entwicklungsprozeß zielt; auch die „strukturalistische“ Strömung in der Architektur kann an diesem Wesensunterschied nichts ändern. In den fünfziger und sechziger Jahren schlägt sich solche Distanzierung im Entstehen einer eigenständigen Planerausbildung – zunächst in Großbritannien und den USA – mit veränderten Prioritäten gegenüber der Architekturausbildung nieder; gegen Ende der sechziger Jahre gibt es einen Höhepunkt dieser Entwicklung mit einer ausgesprochenen Entwurfs- und Gestaltungsfeindlichkeit auch an vielen deutschen Hochschulen. So könnte man von einer Art Niemandsland sprechen zwischen der Planung und der Architektur; wenn es zumindest so schien, als sei es vor der Planung geräumt worden, so nicht zuletzt auch deshalb, weil es bei ihr an gestalterischen Leitvorstellungen für diesen Arbeitsmaßstab fehlte – spätestens seit die freiplastische Anordnung von Baukörpern und die damit verbundene Auffassung vom städtebaulichen Raum ins Schußfeld der Kritik gerieten. Das hat zu zwei Entwicklungen geführt, die beide darauf zielen, das Niemandsland wieder zu besetzen: Die Planer haben die Stadtgestaltung neu entdeckt – ein Begriff, dem im angloamerikanischen Sprachgebrauch die Neuschöpfung des „urban design“ entspricht –, und die Architekten erweiterten gleichsam ihre architektonischen Gestaltungsansprüche in diesen Bereich hinein – ähnlich übrigens, wie es die Architekten der Internationalen Kongresse für Neues Bauen um 1930 taten, nur mit einem wesentlichen Unterschied: nicht mehr unter der Fahne und dem Feldgeschrei der Funktion, sondern unter denen der Form. Das eigentlich Bedenkliche in dieser Entwicklung liegt nicht etwa in den sich überschneidenden Kompetenzansprüchen von Planern und Architekten – im Gegenteil, so etwas kann in der Praxis sehr fruchtbar wer-

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den –, sondern in der Tatsache, daß in den gegenwärtigen Architekturströmungen ein Anspruch auf Fremdbestimmung der städtebaulichen Form erhoben wird, auf ihre Unterwerfung unter einen Formenkanon, der eben nicht aus der Aufgabe abgeleitet ist und um dessentwillen Einsichten und Maßstäbe aus langen Jahrzehnten eines sozial orientierten Städtebaus offenbar bedenkenlos ignoriert werden sollen. Dies wird deutlich einerseits an den geometrisch-formalistischen Konzeptionen, die heute vielfach propagiert werden und bei denen der öffentliche Raum so ausschließlich im Vordergrund des Interesses steht, daß die umgebenden Gebäude zu Kulissen werden und ihre innere Organisation vollständig außer Betracht bleibt. Andererseits gibt es eine Welle romantisch-nostalgischer Ansätze, von denen hier nur ein besonders spektakulärer erwähnt werden soll: „Les arcades du lac“ in einem Vorort von Paris, gebaut von dem katalanischen Architekten Bofill. Besonders skurril ist die Art und Weise, in der Wohnungen in die Pfeiler einer Großform eingefügt sind, die wie ein zweckfreier Aquädukt in den künstlichen See hineinführt. Es gibt hier eine ideologische Position, die wir verschiedentlich in der italienischen Städtebautheorie vertreten finden und die in Frankreich als „architecture urbaine“ bezeichnet wird. Nach ihr gelten „Straßen, Plätze, Monumente, Quartiere als konstitutiv für die Stadt; fehlen sie, so ist die Stadt nicht mehr Stadt“. Deshalb seien die Gestaltungsprinzipien des sogenannten Funktionalismus nicht nur unstädtisch, sondern antistädtisch: die Trennung in Nutzungszonen, das Schwergewicht auf freiplastischer Baukörpergestaltung, die Abkehr vom Straßenraum – Verrat an der Stadt! Diese Betrachtungsweise geht also von einer Art zeitloser Konzeption und Form der Stadt aus, die von der modernen Architektur aufgegeben, geopfert worden sei. Das sieht zunächst nach einem historischen Gedankenansatz aus, aber der Schein trügt insofern, als hier ein wesentlicher Teil der geschichtlichen Entwicklung im Städtebau – die Emanzipation der Wohnung von den Fesseln einer vorgeprägten Stadtvorstellung – negiert oder vergessen wird. Eine der bedeutendsten Leistungen der zwanziger Jahre bestand ja darin, daß die Stadt von der Wohnung her, unter dem Blickwinkel des Wohnungsbaues als einer sozialen Aufgabe, neu durchdacht wurde. Gewiß gibt es dabei ein Problem, das Adolf Behne schon gesehen hatte: Die Faszination durch den Funktionsablauf führt zu einer Art von paternalistischer Funktionsdiktatur, ausgeübt von der Architek-

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tur. Funktionale Durchdringung gibt einer Vorstellung vom optimalen Funktionsablauf Nahrung, die sich in funktionaler Festlegung und damit in einer Einengung der Nutzungsmöglichkeiten niederschlägt, die sogar als „unfunktional“ empfunden werden kann. Insgesamt ist diese Emanzipation der Wohnung aber ein so wichtiger Entwicklungsschritt, daß ihre Nichtbeachtung entweder auf einen Mangel an historischem Verständnis oder auf formalistische Arroganz schließen läßt. Die neue Bedeutung, die man der historischen Kontinuität beimißt, geht bis hin zu der Vorstellung, in historischen Altstädten dürfe man zwar das Einzelgebäude ersetzen, aber nur durch den gleichen Gebäudetypus – so etwa, wie man einen schadhaften Stein in einer mittelalterlichen Kathedrale durch ein neues Werkstück ersetzt. Das wäre nun offenkundig eine Kapitulation der Gegenwart vor der Vergangenheit und nach meiner Ansicht allenfalls in Bereichen besonderer historischer Qualität vertretbar, aber sicher nicht als Regel für allen früheren Baubestand gültig. Gewiß könnte man auf einige Beispiele verweisen, in denen solche typologische Einordnung neuen Bestandes in eine überkommene Struktur durchaus gut gelungen ist – besonders dort, wo kein ausgeprägtes Bedürfnis nach einer andersartigen Nutzung bestand. Wo solche Änderung der Nutzung aber unausweichlich wird, treten erhebliche Probleme auf – und ganz bedenklich wird es, wenn sich solche neuen Nutzungen ein historisches Gewand überziehen, wenn es zu einer stadtgestalterischen Maskerade kommt und der harmlose Betrachter bewußt über das Alter und die Entstehungsmerkmale einer Bebauung getäuscht werden soll. An dieser Stelle spätestens hört aber auch die Freude des Denkmalpflegers über die neue Wertschätzung der Historie auf. Allgemein allerdings ist die heutige Betonung der geschichtlichen Kontinuität als Gegengewicht gegen das, was man die Geschichtslosigkeit, ja die Geschichtsverachtung der Moderne nennen könnte, im Grunde positiv zu bewerten, wenn sie gepaart bleibt mit der Bereitschaft, auf die Probleme der Gegenwart eine ihnen angemessene – und nicht nur eine ausschließlich an der Vergangenheit orientierte – Antwort zu geben. Wer aber Baukörper und Straßenräume, Wohnungsgrundrisse und Fensterformen, Belichtung und Besonnung einem vorgefaßten Formkonzept unterwerfen will – mag er sich rationalistisch-elitär oder historistisch-nostalgisch geben –, der wird dem Städtebau nicht weiterhelfen können. Stadtgestaltung – und das sollte vielleicht auch als vorsichtige

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Warnung für manche wohlgemeinte Bemühung seitens der Planer dienen – ist nichts, was sich von der Sachaufgabe ablösen ließe: Gestaltfindung ist nur dann authentisch, wenn sie aus der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Problem erwächst. Daran ändern auch alle wohlklingenden Bekenntnisse zur Zeichenhaftigkeit von Architektur nichts – im Gegenteil: gerade Zeichenhaftigkeit verlangt eine Beziehung zum Bezeichneten, also zu dem Dienst, den das Gebäude leisten soll. Wenn sich also die Stadtgestaltung solcher Fremdbestimmung nicht unterwerfen soll, was bleibt dann? Gibt es ein anderes Leitbild für die Gestalt der Stadt als das von der „architecture urbaine“ angebotene, wenn man sich von dem der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“ abgewandt hat? Es scheint nicht so, denn alle Beschwörungen der „humanen“ und der „lebenswerten“ Stadt in den letzten Jahren haben sich nirgendwo zu einem anschaulichen Modell der Idealstadt des späten 20. Jahrhunderts verdichtet. Das wirft die Frage auf, ob eigentlich das Fehlen einer allgemeinen und verbindlichen Leitvorstellung wirklich einen Mangel darstelle, gemessen an unserem heutigen Verständnis von menschlicher Freiheit und Selbstverwirklichung. „Die Stadt aus einem Guß“ ist doch wohl eine Diktatoren- oder Architektenutopie, die wesentliche Qualitäten städtischen Lebens verneint; die Stadt lebt aus dem Zusammenhang vieler baulicher Einzelemente – aus ihrer Differenziertheit, nicht aus ihrer Einheitlichkeit. Wenn Julius Posener Recht hat mit seiner Bemerkung, daß bewußte Stadtgestaltung entweder der Darstellung oder der Verschleierung von Macht diene, so kann es wohl das einheitliche gestalterische Konzept für eine Stadt in der freiheitlichen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts nicht geben. Dann ist offenbar dieser Rückzug auf den methodisch-prozessualen Umgang mit Gestaltungsfragen, auf eine Kategorienlehre, angereichert mit einigen sehr allgemeinen Grundsätzen, gar nicht so negativ zu bewerten: Er ist vielmehr eine fast zwangsläufige Begleiterscheinung eben jener Einsicht, daß die Stadt eine Stätte der Auswahlmöglichkeiten, also der Freiheit des Verhaltens und nicht der streng geregelten und unmittelbaren Zuordnung sei – und bleiben müsse. „Stadtgestaltung ohne Leitbild“ hieße dann Stadtgestaltung aus der jeweils gegebenen Aufgabe heraus, ohne vorgefaßte Meinungen, ohne ein Modell oder einen Formenkanon, an den man sich halten müßte,

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jeweils geleitet durch die Erkenntnisse, die wir inzwischen über die Wirkung der Umwelt auf den Menschen gewonnen haben. Das wäre im übrigen nicht einmal eine ganz neue Position: Auf den Engländer Lethaby geht die knappe Formulierung zurück, die Kunst im Städtebau bestehe darin, das, was gemacht werden müsse, gut zu machen: eine Absage an Dekoration und Fremdbestimmung städtebaulicher Gestaltung. So scheint die Aufgabe für eine zeitgemäße Stadtplanung immerhin absteckbar: den Pendelschwüngen der gängigen Architekturdiskussion mit Skepsis begegnen, die Einsicht in die geschichtliche Entwicklung des Städtebaus als Grundlage einer ausgewogenen Lagebeurteilung nutzen, die Erkenntnisse und Leistungen der „Funktionalistengeneration“ – wenn man sie so nennen darf – nicht pauschal abwerten, wie dies heute Mode ist, sondern differenzierend in einen größeren Zusammenhang einordnen. Auf der anderen Seite gilt es, auch den neuen Ansätzen mit aller Offenheit für die Anliegen zu begegnen, die ihnen zugrunde liegen. Auch hier muß man sich vor Vereinfachungen hüten, denn solche Tendenzen reagieren in aller Regel auf Mängel in der jeweiligen Situation – manchmal zu scharf, manchmal in die falsche Richtung, manchmal naiv und ohne Einblick in tiefere Zusammenhänge. Ihre Verdienste liegen häufig mehr in der Infragestellung verfestigter Positionen als im Angebot tragfähiger Lösungen, aber sie können Stationen in einem Klärungsprozeß markieren, der auch für den Städtebau fruchtbar werden kann. Dies allerdings wohl nur dann, wenn die Planer nicht wie das Kaninchen auf die Schlange fasziniert auf die Experimente und Verkündigungen der Postmodernen starren, sondern diese kritisch an jenen Maßstäben messen, die sich in langen Jahrzehnten eines sozial verpflichteten Städtebaues herausgebildet haben. 1910 definierte Hegemann als erstes und letztes Ziel des Städtebaues „die Erfüllung des Wohnbedürfnisses im weitesten Sinne“, zwanzig Jahre später formulierte Schumacher, es gelte „die Linien der Zukunft so zu gestalten, daß möglichst menschenwürdige Lebensverhältnisse entstehen“. Hier scheinen mir, wenn nicht die Leitbilder, so doch die Leitziele zu liegen, denen die Stadtplanung verpflichtet ist, und nur was einer Prüfung unter diesen Gesichtspunkten standhält, wird als Beitrag zum künftigen Städtebau Bestand haben.

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Hinweis: Der Text „Stadtgestaltung ohne Leitbild“ wurde 1984 durch die Bayerische Akademie der Schönen Künste veröffentlicht. Die damalige Veröffentlichung enthält Fotos und Skizzen, die im Text genannte städtebauliche Projekte zeigen. Aufgrund ungeklärter Urheber- und Nutzungsrechte wird in dieser Veröffentlichung auf die Bilddateien verzichtet.

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Zur Lage: 25 Jahre Bundesbaugesetz Erschienen in: Stadtbauwelt, 76. Jahrgang, Nr. 12, 1985, S. 411, Bertelsmann Fachzeitschriften, Berlin.

Zum Jubiläum des Bundesbaugesetzes am 23. Juni 1985 wird aller Voraussicht nach ein Referentenentwurf für ein neues Baugesetzbuch auf dem Tisch liegen: gleich zwei Gründe für einen Blick auf die Situation des Städtebaurechts. Bundesminister Paul Lücke sagte 1960, so wird berichtet, er hätte den Planern gern eine goldene Uhr präsentiert, aber es sei nur ein solider Küchenwecker daraus geworden. Kein spektakuläres also, aber ein praktisch brauchbares Gesetz. Hat es sich bewährt? Auf welche Kriterien könnte sich die Antwort stützen? Schwerlich auf die Zufriedenheit aller Beteiligten und Betroffenen, eher auf eine einigermaßen gleichmäßige Verteilung der Unzufriedenheit. Kann man mehr erwarten von einem Gesetz, das zwei so unterschiedliche Denkansätze verknüpfen mußte wie den des langfristig verantwortungsvollen Umgangs mit den räumlichen Ressourcen und den der Zuweisung von rechtlich gesicherten Nutzungsmöglichkeiten an die Grundeigentümer? Fragen wir anders: ist das Gesetz den sachlichen Aufgaben gerecht geworden? Das Planungsrecht ist ja stets – wenn auch meist langsam – der Einsicht in neue Aufgaben gefolgt. Das Fluchtlinienrecht, die Staffelbauordnungen, die Einführung rückwärtiger Baulinien, die Grundstücksumlegung – alles das erwuchs gegen mancherlei Widerstände aus den Anforderungen der Praxis, deren Berechtigung der Gesetzgeber anerkannt hat. Das Bundesbaugesetz war keine voraussetzungslose Neuschöpfung; im Referentenentwurf von 1950 klingen noch Formulierungen aus dem (nicht verabschiedeten) Reichsstädtebaugesetz von 1931 an. Seine Problemsicht entsprach im Grunde den städtebaulichen Erkenntnissen jener Zeit, ein wenig erweitert um den Blick auf den Neuaufbau; der reformerische Schwung der frühen fünfziger Jahre, der auch dem Bodenrecht galt,

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erlahmte bald unter dem Einfluß der Wirtschaftswundermentalität, die Deutschlands zweite Gründerzeit prägte. Sieht man vom Versäumnis umfassender bodenrechtlicher Regelungen ab, so kann man sagen, daß das Bundesbaugesetz der expansiven Aufbauphase der sechziger und frühen siebziger Jahre im wesentlichen gerecht zu werden vermochte; zweimal wurde es novelliert, und für die Aufgaben der Sanierung und Entwicklung bedurfte es eines Spezialgesetzes. Auf die Schrumpfungsproblematik der achtziger Jahre ist das Instrumentarium beider Gesetze nicht eingerichtet; ihr Regelungsanspruch wird zudem durch neue Vorschriften – so für Immissionsschutz und Landschaftsplanung – überschnitten. Nun soll ein zusammenfassendes Baugesetzbuch Vereinfachung und Übersichtlichkeit, Beschleunigung und Erleichterung des Planens und Bauens, Erweiterung des gemeindlichen Entscheidungsspielraums und Erhöhung der Rechtssicherheit bringen: gewiß einleuchtende Ziele, denen niemand widersprechen wird – solange er nicht den Preis kennt, der für die Änderung oder Aufhebung bisher gültiger Regelungen zu zahlen wäre. Was hält „die Praxis“ von solcher Neuregelung? Nichts konnte in letzter Zeit des Beifalls der Planungspraktiker sicherer sein als die Forderung, Novellierungen vorerst einzustellen und Ruhe für die Anwendung der bestehenden Instrumente zu lassen. Indessen haben die vom Minister berufenen Arbeitsgruppen auf über 200 eng bedruckten Seiten „Materialien zum Baugesetzbuch“ (Schriftenreihe des BMBau 03.108) mit zahlreichen Änderungsvorschlägen zusammengetragen – Praktiker auch sie, wie das Ministerium betont, allerdings weit mehr solche der ministeriellen und der Verbandsebene als der „kommunalen Front“. Auf den Gedanken, daß auch freiberuflich tätige Planer etwas von Praxis verstehen könnten, ist offenbar niemand gekommen. In seiner Stellungnahme zu den Berichten der Arbeitsgruppen betont der Minister, daß das Städtebaurecht auf die „gegenwärtig und künftig gestellten städtebaulichen Aufgaben ausgerichtet“ werden solle. Von der Auseinandersetzung mit künftigen Aufgaben lassen allerdings die Berichte der Arbeitsgruppen wenig spüren. Wohl werden die Gemengelagen erörtert, aber alle weitergehenden Pobleme wie die Neunutzung brachfallender Bauflächen, die Begrenzung des Flächenverbrauchs, die stärkere Berücksichtigung ökologischer Gesichtspunkte – höchst aktuelle Auf-

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Zur Lage: 25 Jahre Bundesbaugesetz

gaben der Gegenwart und der unmittelbaren Zukunft – haben keinen Niederschlag gefunden. Sie hätten zur Auseinandersetzung mit dem künftigen Verhältnis von Bauleitplanung, Landschaftsplanung und Immissionsschutz führen, hätten die Entschädigungs- und Wertsteigerungsprobleme für Bauland neu aufwerfen, hätten auch die Frage nach der sinnvollen Abgrenzung von Planungs- und Bauaufsichtsrecht einbeziehen müssen. Von alledem kaum eine Spur; die Arbeitsgruppen haben sich offenbar vor allem in der Rolle eines Sparkommissars gefühlt und ihre Hauptaufgabe in der Kürzung um jeden Preis gesehen. So liest man ihre Berichte mit einigem Unmut – ein mageres Ergebnis, zum Teil noch dazu schief und ungenau begründet. Seine Übernahme in ein Gesetzeswerk würde dem Verzicht auf planerisches Nachdenken, der Zersiedelung der städtischen Randzonen und des Außenbereichs weitere Rechtfertigungen liefern und im übrigen kaum mehr als eine Umnummerierung von Paragraphen erbringen. Da wäre es sinnvoller, zunächst einmal die in der bürokratischen Vollzugsmaschinerie liegenden Hemmnisse anzugehen und zugleich zu sehen, ob die „Selbstkorrektur der Rechtsprechung“ (Schlichter) mehr Rechtssicherheit schafft. Gleichwohl ist zu befürchten, die Politik werde um des sichtbaren Erfolgs willen an einer Novellierung festhalten und die Streichung sinnvoller, wenn auch vielleicht selten angewandter Vorschriften als Gewinn deklarieren, obwohl sie damit in Wahrheit der städtebaulichen Praxis einen Bärendienst erwiese. Es steht zu hoffen, daß der Bundesbauminister der Kurzatmigkeit eines solchen Denkens entgegentreten und anstelle schneller Scheinerfolge eine sorgfältig durchdachte, an den Aufgaben von morgen orientierte Reform des Planungsrechts ansteuern wird. Hierfür kann er der Unterstützung aller derjenigen gewiß sein, denen die Qualität unserer Städte und unserer Umwelt am Herzen liegt.

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Tendenzen der Stadtentwicklung in Europa

Erschienen in: Präsident und Direktorium der Bayrischen Akademie der Schönen Künste München (Hrsg.) (1992): Jahrbuch 6, S. 150–169, Oreos Verlag, Schaftlach.

Mit drei Vorbemerkungen möchte ich die reichlich anspruchsvoll klingende Themenformulierung für meinen Vortrag relativieren und erläutern. Zunächst: Die knappe Fassung, die eine Art Rundumschlag zu verheißen scheint, ist eine Konzession an den Zeitgeist, der nichts von langen Überschriften hält. Der Stil des achtzehnten Jahrhunderts wäre für mein Anliegen besser geeignet gewesen – etwa: „Einige Beobachtungen über verschiedene Erscheinungen in der Entwicklung der Städte insonderheit in Deutschland nebst dem Versuch, solche zu interpretieren und in einen europäischen Zusammenhang zu stellen, einem geneigten Publico ergebenst unterbreitet …“ Die zweite Anmerkung: die erwähnten Beobachtungen sind nicht die eines auf die Analyse gerichteten Forschers, sondern die eines Stadtplaners, der von Berufs wegen handlungsorientiert ist und solche Betrachtungen nicht um der reinen Erkenntnis willen anstellt, sonders als eine der Voraussetzungen sinnvollen Planens – eine weitere ist die Klärung von Zielen und Wertmaßstäben zur Beurteilung dieser Sachverhalte, eine dritte die Kenntnis und Beherrschung der Instrumente, mit denen auf die räumliche Entwicklung eingewirkt werden kann. Das mag von gewissem Einfluß auf die Perspektive meiner Beobachtungen sein. Die dritte Vorbemerkung gilt dem Begriff der Stadtentwicklung, der in seiner Bedeutung ambivalent ist. Bis 1960 etwa wurde er allgemein intransitiv verwendet: die Stadt entwickelt sich – im Sinne eines evolutionären Prozesses, für den Planung zwar einen gewissen Rahmen setzen, den sie aber nicht determinieren kann. In den sechziger Jahren tauchte dann der Begriff der „Entwicklungsplanung“ auf, der bald auch den entsprechenden Ämtern, Referaten, selbst Ministerien den Namen gab. Ent-

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wicklung wurde transitiv: wir entwickeln die Stadt. Die Engländer hatten es da leichter: für „Entwicklung“ gibt es die beiden Übersetzungen „evolution“ und „development“, die genau den dargelegten unterschiedlichen Bedeutungen entsprechen. Und da solche Wandlungen auf überraschende Weise Ländergrenzen überspringen, trat auch dort „evolution“ hinter „development“ zurück. Diese neue Interpretation der Stadtentwicklung als eines planmäßigen Willensaktes enthielt einige utopische Elemente, die mit dem zusammenhingen, was man die „Machbarkeitseuphorie“ jener Zeit nennen könnte: man meinte, die „Zukunft im Griff“ zu haben. Inzwischen sind diese hochgespannten Erwartungen enttäuscht worden; die ernüchternden Erfahrungen haben uns, wie ich meine, bescheidener gemacht. So scheinen mir im heute gängigen Begriff der Stadtentwicklung beide Elemente mitzuschwingen, das transitive und das intransitive, die Steuerbarkeit und die Eigengesetzlichkeit – und so möchte ich ihn im folgenden verstanden wissen. Dieser Umschwung von der Planungsfreudigkeit und Zukunftssicherheit der sechziger Jahre zur Skepsis und Rückgewandtheit der späten siebziger ist ein eigentümliches Phänomen. Binnen weniger Jahre kehrte man sich nicht nur von den Architekturformen, sondern auch von den Planungsambitionen jener Zeit ab; an die Stelle der Faszination durch das Jahr Zweitausend traten Zukunftsunsicherheit und Veränderungsfeindlichkeit, die durch das Bewußtwerden der Grenzen des Wachstums und der bedrohten Umweltqualität genährt wurden. Sie beförderten die Hinwendung zur Vergangenheit; das Denkmalschutzjahr von 1975 war Niederschlag und zugleich Signal dieses Umschwungs. So bildete sich eine neue Sicht der Probleme heraus, die in den achtziger Jahren das Planungsklima bestimmte; auf sie und ihre erneute Veränderung um 1990 möchte ich zunächst eingehen, um dann die konkreten Veränderungen in den Großstadtregionen zu erörtern – die räumlichen, aber auch die wirtschaftlichen und sozialen. In diesen Zusammenhang gehört dann auch eine Auseinandersetzung mit der Rolle, die der Blick auf den europäischen Binnenmarkt bei diesen Entwicklungen gespielt hat und noch spielt; dabei stehen die deutschen Städte naturgemäß im Vordergrund. Zum Abschluß will ich versuchen, einige Konsequenzen, zumindest aber Fragen anzudeuten, die sich mir aus der beschriebenen Situation zu ergeben scheinen.

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I. Zum Wandel der Problemsicht Ich beginne also mit einer Skizze der Stadtentwicklungsfragen aus planerischer Sicht, wie sie die Situation der achtziger Jahre in Deutschland kennzeichnete. Die Leitvorstellungen jener Zeit für die räumliche Planung lassen sich mit ein paar Stichworten umreißen: Vorrang ökologischer Gesichtspunkte unter dem Eindruck der wachsenden Umweltgefährdung; „Innenentwicklung“ und „Stadtumbau“ als Kurzbezeichnung für das Anliegen der Planung, die baulichen Veränderungskräfte im bereits besiedelten Stadtgebiet aufzufangen und die Stadtstruktur nicht durch Inanspruchnahme neuen Baulandes, sondern durch Umnutzungen innerhalb des Bestandes weiterzuentwickeln. Dazu gehörte auch der „Rückbau“ überdimensioniert erscheinender Infrastruktureinrichtungen, die den vorangegangenen beiden Jahrzehnten entstammten. Man richtete sich auf Bevölkerungsrückgang, auf Stagnation ein, ja man konnte sogar die Parole vom „geordneten Rückzug“ hören. Die neunziger Jahre indessen ließen sich unter ganz anderen Prämissen an. Die deutsche Vereinigung erforderte vermehrte wirtschaftliche Anstrengungen, verhieß einen Konjunkturschub für die Wirtschaft in den alten Bundesländern und rief nach wachstumsorientierten Neuinvestitionen in den neuen Ländern. Die Öffnung nach Osten versprach neue Märkte und ließ zugleich ein erhebliches Bevölkerungswachstum durch Zuwanderung erwarten. Der europäische Binnenmarkt schließlich eröffnete die Perspektive weiterer Wachstumsschübe, insbesondere für die um europäische Spitzenpositionen konkurrierenden Metropolen. Das alles mußte sich in der Forderung nach neuem Bauland – für Wohnungen wie für Gewerbegrundstücke – niederschlagen. Mit dieser neuen Situation allerdings lassen sich die Forderungen nach Pflege und Sicherung der gefährdeten Umwelt schwerer vereinen als mit der „Rückzugsstimmung“ der achtziger Jahre. So kommen neue Anforderungen auf die Planung zu: von ihr wird einerseits eine Kooperation mit den Wachstumskräften der Wirtschaft, ja eine auf deren Anlockung gerichtete „Angebotsplanung“ verlangt, während gleichzeitig das Gebot der Ressourcenschonung unverändert, eher verschärft, weiterbesteht. Das neue Schlagwort, dem Brundtland-Bericht „Our Common Future“ entnommen, heißt „sustainable development“: eine langfristig tragfähige, auf Erhaltung der natürlichen Ressourcen gerichtete Entwick-

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lungspolitik im Gegensatz zu den Raubbautendenzen, die der bisherigen Entwicklung innewohnten, wenn nicht gar zugrundelagen. Strukturveränderungen der Wirtschaft geben alte Industrieflächen frei, die allerdings zum Teil durch Bodenvergiftung schwer belastet sind – „Altlasten“ ist ein vielsagender Neologismus –, aber doch auch Chancen großzügiger Umgestaltung eröffnen. Zudem erlaubt die weltpolitische Lage, militärisch genutzte Flächen in erheblichem Umfange für andere Zwecke zu nutzen – „Konversion“ heißt hier das Stichwort. So berechtigt es also einerseits sein mag, utopischen Neugestaltungsvisionen das Gewicht des heutigen Baubestandes entgegenzuhalten, so wenig sollte man andererseits das erhebliche Veränderungspotential unterschätzen, das auch heute in den großen Verdichtungsräumen besteht. Zugleich wird deutlich, daß es gerade in diesen Großstadtregionen weniger denn je möglich sein wird, die konkurrierenden Ansprüche an den Raum innerhalb der kommunalen Grenzen zum Ausgleich zu bringen, die ja von den Wirtschafts- und Lebensräumen der Bewohner längst übersprungen worden sind. Damit kommen auf die Regionalplanung erweiterte Ansprüche und Verantwortlichkeiten zu, denen sie in der Regel weder in ihrem organisatorischen Gefüge noch in ihrer praktischen Wirkungsmöglichkeit gewachsen ist. Ihre Stärkung scheint mir eine wichtige Voraussetzung für jede künftige Raumplanung zu sein. Zweifellos sind die realen Herausforderungen für die Stadt- und Regionalplanung in ganz Deutschland sehr ähnlich, aber die Ausgangslage in den neuen Bundesländern unterscheidet sich doch wesentlich von der im „alten“ Bundesgebiet – materiell, institutionell und psychologisch. Gravierende Mängel in Infrastruktur und Altbaubestand und eine sich erst an die neuen Kompetenzen gewöhnende Kommunalverwaltung werfen Probleme auf; schwieriger noch scheint es, den Überdruß an der zentralistischen Planung der alten DDR zu überwinden und sich mit dem demokratischen legitimierten Steuerungsvorgang zu befreunden, der nun einmal die gleiche Bezeichnung trägt. Auch die räumliche Entwicklung der Städte ist in beiden Teilen Deutschlands sehr verschiedene Wege gegangen, bedingt durch grundlegende Unterschiede der jeweiligen staatlichen Wohnungspolitik. In der DDR lag das Schwergewicht bei kompakten Stadterweiterungen im Geschoßwohnungsbau, also im Bau neuer Stadtteile, während in der „alten“ Bundesrepublik gerade in den letzten Jahrzehnten das Baugeschehen sich

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vor allem auf Ein- und Zweifamilienhäuser konzentrierte. Das bedeutete in den großstädtischen Verdichtungsräumen überwiegend Neubauten außerhalb der Stadtgrenzen, in Anlagerung an die ursprünglich dörflichen Umlandgemeinden, die inzwischen teils durch den öffentlichen Nahverkehr, teils durch den wachsenden Autobesitz in den Pendlerverkehrsbereich der Großstadt einbezogen worden waren. Hier erlaubten die Bodenpreise, den Traum vom Häuschen im Grünen zu erfüllen. Das gab schon vor Jahrzehnten nicht nur Anlaß zu dem Bonmot, der deutsche Städtebau finde vorwiegend auf dem Lande statt, sondern auch zur Begriffsprägung der Zersiedlung, mit der die ungeordnete, auf zufälligem Bodenangebot beruhende Inanspruchnahme von landwirtschaftlichen Flächen im Stadtumland charakterisiert wurde. Diese Entwicklung hat natürlich auch damit zu tun, daß sich die Bodenreserven für Siedlungszwecke in den meisten Großstädten mehr und mehr erschöpften, so daß sich zusätzliche Raumansprüche innerhalb der kommunalen Grenzen immer weniger erfüllen lassen. Das bezieht sich keineswegs nur auf Wohnnutzungen; so mußten im Münchner Raum wichtige Forschungsinstitute schon in den sechziger Jahren außerhalb der Stadtgrenzen untergebracht werden. Mittlerweile tendieren auch Industriebetriebe mehr und mehr zu Standorten im Umland – wobei allerdings offenbar der Teilhabe an der Telefonvorwahl der Kernstadt einige Bedeutung beigemessen wird.

II. Ansprüche an den Raum Hinter solchen quantitativen Veränderungen aber stehen gewichtige qualitative Entwicklungstendenzen, mit denen man sich auseinandersetzen muß, um zu sinnvollen Planungsentscheidungen zu gelangen. Ich deute sie – notgedrungen vereinfachend und vergröbernd – im folgenden an: –

Gesellschaft und Wirtschaft sind beweglicher geworden – nicht nur im Sinne der wachsenden Motorisierung, der Hochgeschwindigkeitszüge und des Luftverkehrs, sondern auch im Sinne einer zunehmenden Bereitschaft, Betriebs- und Wohnstätte an andere Orte zu verlagern, wenn damit wirtschaftliche Vorteile oder Gewinne an Lebensqualität verbunden sind.

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Die neuen Medien haben die Bedeutung räumlicher Nähe für das Funktionieren von Wirtschaft und Gesellschaft zurückgedrängt und die Kommunikation von ihr weitgehend unabhängig gemacht. Sicher nicht jede Art von Kommunikation – wo es um wichtige Entscheidungen geht, müssen die Partner einander nach wie vor ins Auge sehen können –, aber doch einen großen Teil persönlicher, beruflicher und geschäftlicher Kontaktbedürfnisse. Die Geschwindigkeit, mit der „Faxen“, bisher nur ein gelegentlich benutztes Substantiv, zum gängigen Tätigkeitswort wurde, ist geradezu atemberaubend. Die Entwicklung der Medien dürfte zwar nicht zur Auflösung der Stadt führen, wie manchmal vermutet wird – diese Erwartung hat schon bei der Schaffung elektrischer Stromversorgungsnetze und bei der Erfindung des Telefons getrogen –, aber sie wird sicher zur weiteren Verbreitung der städtischen Lebensform beitragen. Die Raumansprüche je Einwohner steigen offenbar weiter – was übrigens auch mit der ständigen Verringerung der Haushaltsgröße zu tun hat –, und das bedeutet selbst bei stagnierender Bevölkerung zusätzlichen Flächenverbrauch für Wohnungen, Arbeitsstätten, Verkehrsflächen, Freizeiteinrichtungen. Zugleich führt die Arbeitszeitverkürzung zu Freizeitgewinn und damit bei wirtschaftlichem Wohlstand zu weiteren Raumansprüchen: Wochenendhäuser und Freizeitparks, Tourismus zu heimatlichen Naturparks oder zu ausländischen Geheimtips – mit der unausweichlichen Tendenz, jene Qualitäten zu zerstören, die man gern genießen möchte: Ruhe, Besinnlichkeit, Natur. Die Anziehungskraft der großstädtischen Verdichtungsräume für die Wirtschaft ist ungebrochen – und das ist vor allem die eines großen und facettenreichen Arbeitsmarktes. Hier hat der neu gegründete Betrieb die beste Chance, geeignete Mitarbeiter zu finden, und hier kann auch ein stark spezialisierter Fachmann am ehesten mit einem Interesse der Wirtschaft an seinen besonderen Qualitäten rechnen. Andererseits lassen die wachsenden Verkehrsprobleme in solchen Stadtregionen erkennen, daß die Funktionsfähigkeit so eines Marktes in hohem Maße gefährdet ist, wenn wir unser Verkehrsverhalten nicht grundlegend ändern.

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Das alles trägt dazu bei, daß die Großstadt die vielfältigen Flächenansprüche für Wohnen, Arbeiten, Gemeinbedarf, Erholung auf ihrem eigenen Gebiet nicht mehr erfüllen kann, sondern auf die Kooperation mit der Region, auf das Umland also, angewiesen ist. Dieses Umland ist in den deutschen Großstädten unterschiedlich strukturiert; in manchen Fällen sind es überwiegend kleine Gemeinden, in anderen historisch geprägte Städte mit Eigengewicht und Selbstbewußtsein. Aber in jedem Falle wird es nötig sein, ein Klima konstruktiver Zusammenarbeit zu schaffen, denn im wachsenden Maße ist die Großstadt genötigt, durch sie selbst ausgelöste raumbeanspruchende Einrichtungen nach außen zu verlagern – Flughäfen, Rangierbahnhöfe, Klärwerke, Müllverbrennungsanlagen; „sperrige Infrastruktur“ heißt das in der Fachsprache. Gewiß kann man sagen, daß das Umland demgegenüber auch von der Kernstadt profitiert – ihren hochwertigen Arbeitsplätzen, ihrem kulturellen Angebot, ihren Bildungsmöglichkeiten, aber in wachsendem Maße zieht das Umland seinerseits anspruchsvolle Betriebe und kulturelle Einrichtungen an. In früheren Zeiten hat man dem Anwachsen solcher Verflechtungen durch Eingemeindungen Rechnung getragen – zuletzt in der großen Welle der Gebietsreform um 1970. Aber dafür steht es heute nicht: nicht nur, weil dies politisch unpopulär ist, sondern weil es auch sachlich eine fragwürdige Lösung wäre. Denn es fällt zunehmend schwerer, einen Regionsraum abzugrenzen, weil die Lebenszusammenhänge der Regionsbewohner heute weiter gestreut sind als je zuvor. Die Einzugsbereiche einer Stadt für Berufs- und Ausbildungspendler, für Geschäftskunden und Besucher kultureller Veranstaltungen können sehr unterschiedlich sein und sich zudem auf ganz verschiedene Weise mit den Einzugsbereichen anderer Zentren überschneiden. Auch verändern sich die Grenzen solcher Wirkungsfelder verschiedener Städte im Zeitablauf, weil die Voraussetzungen ihrer Anziehungskraft sich wandeln. So weist das den Raum überdeckende Beziehungsgeflecht zwar klare Hauptknotenpunkte im Bereich der großen Städte auf, keine scharfen Grenzen zwischen ihnen, lediglich Zonen geringerer Beziehungsdichte. Hier sollten dann wohl die Grenzen zwischen den Regionen liegen, aber es muß auch über sie hinweg gemeinsames Planen und Handeln möglich sein. Dafür ist indessen ein aus zahlreichen kommunalen Einheiten bestehender Regionalverband besser geeignet als eine geschlossene, von einer Kernstadt gesteuerte Verwaltungseinheit. Allerdings muß die Regi-

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on entsprechend ihrer tatsächlichen Bedeutung auch institutionell gestärkt werden – nicht so sehr im Sinne weitergehender staatlicher Einflußnahme als vielmehr durch eine Straffung ihres kommunalen Aufbaues und eine Erweiterung ihrer Kompetenzen auch gegenüber den sie konstituierenden Kommunen. Zu der damit verbundenen Einengung des städtischen Handlungsspielraums „von oben“ kommt übrigens auch eine „von unten“: durch den Anspruch der Stadtteilvertretungen auf mehr Mitspracherecht an der Gesamtstadt. Diese Entwicklung hat ihre innere Logik: in der Großstadt deckt sich das Stadtgebiet nicht mehr mit den Lebensbereichen der Bewohner, die sich in zwei verschiedenen Dimensionen darstellen. Die eine ist auf Beruf und Arbeitsplatz bezogen und reicht häufig über die Stadtgrenzen hinaus; selbst die landesplanerische Abgrenzung der Region wird beispielsweise in München von vielen Pendlerbeziehungen überschritten. Die andere ist die eher häusliche Dimension, die Wohnumwelt mit Schule und Schulweg, Einkaufsmöglichkeiten, Spiel- und Sportplätzen – also die Dimension des Stadtteils, in der übrigens auch die Bürgerbeteiligung an der Planung auf mehr Interesse zu stoßen pflegt als im Rahmen der Gesamtstadt.

III. Zur Arbeitsweise der Stadtplanung So stellen sich in den meisten Großstadtregionen Deutschlands heute zwei unterschiedliche, aber strukturell miteinander verknüpfte Aufgaben: das unvermeidliche Wachstum der Siedlungsflächen sinnvoll zu steuern – hier wird der Schwerpunkt meist im Umland liegen – und für bereits bebaute Flächen Erneuerungs- und Umnutzungskonzepte – in der Regel überwiegend in der Kernstadt – zu erarbeiten und zu verwirklichen. Diese doppelte Blickrichtung – doppelt auch insofern, als sie Region und Gemeinde im Blickfeld haben muß – unterscheidet die gegenwärtige Expansionsphase von den früheren drei Hauptschüben der Stadtausdehnung: der ersten großen Verstädterungswelle der Industriegesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dann der Neuerschließung vor allem von Wohngebieten in der Zwischenkriegszeit zur Auflockerung der eng bebauten Städte, und schließlich der Wiederaufbau- und Wachstumsphase der fünfziger und sechziger Jahre. In allen diesen Zeitabschnitten

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bestanden keine ersthaften Hemmungen, die Stadt in die Landschaft hinein auszudehnen, auch wenn der Deutsche Werkbund schon während der dritten Phase das Wort von der „großen Landzerstörung“ als Kritik und Warnung prägte. Heute dagegen ist uns der „Flächenverbrauch“ zu Lasten der Landschaft mit Recht unheimlich geworden, und so ist den achtziger Jahren der bereits erwähnte Begriff der „Innenentwicklung“ in den Vordergrund gerückt worden – zu verstehen als Ziel, ohne Inanspruchnahme neuen Baulandes auszukommen und alle Entwicklungsdynamik durch Umnutzungen im bebauten Stadtgebiet aufzufangen. Befördert wurde diese Vorstellung nicht nur durch das Bewußtwerden ökologischer Probleme, sondern auch durch das Freiwerden großer bisher industriell genutzter Flächen vor allem in altindustrialisierten Gebieten, die tatsächlich in manchen Fällen ganz neue Voraussetzungen für die Stadtentwicklung schufen. Natürlich hatte es auch früher solche Umnutzungen gegeben – häufig infolge der Wanderung von Industriebetrieben an den Stadtrand unter Freigabe des bisherigen Standorts –, aber sie waren eher Begleiterscheinungen der Expansion als Ergebnis planerischer Steuerung. Es liegt auf der Hand, daß eine solche, auf „Innenentwicklung“ gerichtete Planungspolitik andere – und in mancher Hinsicht höhere – Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der Planung und an deren Vollzugsinstrumente stellt als eine Stadterweiterung, für die es gleichsam nur den technischen und rechtlichen Rahmen zu setzen gilt, den dann die privaten Bauträger auszufüllen pflegen. Diese höheren Anforderungen beziehen sich einerseits auf die planerische Vorausschau, auf das Durchdenken der verschiedenen Möglichkeiten struktureller Veränderungen, die sich aus wirtschaftlichen Entwicklungen und kommunaler Einflußnahme ergeben könnten, und auf deren Wünschbarkeit, und andererseits auf die Vorsorge für die Instrumente, mit denen solche Entwicklungen wirksam beeinflußt werden können. Dies sind nämlich nicht mehr in erster Linie öffentlich-rechtliche Pläne, sondern vielfältige Einzelmaßnahmen wie Zusammenführung möglicher Partner, Bereitstellung von Grund und Boden, wirtschaftliche Anreize bis hin zu Überzeugungsarbeit, zur „persuasorischen Planung“, wie man das einmal genannt hat. Allgemeiner aber spricht man von „informeller Planung“, die also nicht, wie die rechtsförmliche, auf langwierige juristische Absicherungsverfahren angewiesen ist und deshalb fast zwangsläufig den aktuellen Proble-

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men nachhinkt, sondern reaktionsfähiger und flexibler ist, allerdings kaum über rechtliche Durchsetzungsmöglichkeiten verfügt. In gewisser Hinsicht kann man darin auch eine Reaktion auf die Erfahrungen mit dem anspruchsvollen Modell einer umfassenden Entwicklungsplanung sehen. Die Enttäuschung der hohen Erwartungen, die man in die Koordinierbarkeit des Verwaltungshandelns im Sinne einer lückenlosen und zielgenauen Steuerung gesetzt hatte, führte zwar nicht zum Verzicht darauf, die einzelne Planungsmaßnahme in einen umfassenderen Zusammenhang einzuordnen, aber doch zu einem pragmatischeren Vorgehen. Karl Ganser hat hierfür kürzlich den Begriff des „perspektivischen Inkrementalismus“ eingeführt – im Sinne von Teilverbesserungen, aber eben nicht zusammenhanglos, sondern unter der Perspektive der sinnvollen Einordnung in eine erstrebte Gesamtentwicklung. Kennzeichnend für diese Art von Planung ist der Verzicht auf die Idealvorstellung eines in allen Einzelheiten durchgearbeiteten Gesamtplans; die Ziele werden vielmehr auf dem Niveau gesellschaftlicher Grundwerte umrissen – die hinreichend offen formuliert sind, daß auch parteipolitisch breiter Konsens erwartet werden kann –, und das jeweils aktuelle Planungsproblem wird daran gemessen, ob seine Lösung solchen Grundwerten Rechnung tragen kann. Zugleich bedeutet dies, daß nicht mehr „flächendeckend“ geplant wird, sondern schwerpunktmäßig in den Bereichen, in denen Wirtschaftskräfte auf Veränderung hinwirken oder die Stadt selbst Veränderungen – etwa im Sinne der Stadterneuerung – für geboten hält. Und schließlich wirkt sich ein solches Planungsdenken auch auf den Zeitrahmen aus; an die Stelle langfristig konzipierter Programme – die erfahrungsgemäß dem Wandel wirtschaftlicher oder politischer Gegebenheiten nicht immer standhalten – treten Projekte, die in überschaubaren Zeiträumen realisierbar sind. Mit anderen Worten: an die Stelle eines in sich geschlossenen räumlichen Zukunftsmodells – das zwar auch im Zeitablauf überprüft und fortgeschrieben werden mußte – tritt ein flexibles Verfahren, das sich bietende Gelegenheiten zur Verfolgung übergeordneter Ziele nutzt und dabei in Kauf nimmt, daß sich zeitlich und räumlich gewisse Unausgewogenheiten ergeben. Damit im Zusammenhang steht eine Erscheinung, die man in letzter Zeit mehrfach beobachten konnte: Stadtpolitische Entscheidungen orientieren sich zunehmend an dem Bestreben, spektakuläre Großveranstal-

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tungen – von Kongressen und Gartenschauen bis zu Weltausstellungen und Olympischen Spielen – in die Stadt zu ziehen, um damit einerseits kommunalpolitische Schubkraft – und staatliche Finanzhilfe – für örtliche Planungs- und Umgestaltungsvorhaben zu gewinnen und andererseits das Prestige der Stadt im nationalen und internationalen Wettbewerb zu fördern; dieses Thema ist noch zu vertiefen. Gegenüber derartigen Maßnahmen, so habe ich Planerkollegen aus mehreren Großstädten klagen hören, finde man mit langfristigen Überlegungen bei den Stadtpolitikern wenig Resonanz. Gewiß läßt sich das auch damit begründen, daß Voraussagen über langfristige Wirkungen von Planungen hohe Unsicherheitsgrade aufweisen, aber meist gibt es dafür eine näherliegende Erklärung: Der Politiker möchte gern möglichst noch in der laufenden Wahlperiode etwas vorweisen können, was ihm und seiner Partei Zustimmung einbringt; erst in längerer Frist zu erwartende Erfolge, vielleicht gar mit kurzfristigen Opfern verbunden, eignen sich dafür wenig. Den dargelegten Veränderungen des Planungsstils entspricht es, wenn auch das Verwaltungshandeln der Stadt sich nicht auf rechtsförmliche „Hoheitsakte“ beschränkt, sondern immer mehr Züge eines „urban management“ annimmt. So entstehen in wachsendem Maße bei vielen Städten gleichsam verlängerte Arme der Verwaltung – in Gestalt von Entwicklungsgesellschaften, Wirtschaftsförderungsgesellschaften, Stadterneuerungsgesellschaften, die ganz oder überwiegend im Besitz der Stadt sind und in ihrem Sinne privatrechtlich agieren können. Auch im Ausland kennt die Planungslandschaft derartige Institutionen; die rund vierzig seit dem Kriege neu gegründeten englischen Städte sind alle durch „development corporations“ – Entwicklungsgesellschaften – verwirklicht worden, die solange die Funktion einer hoheitlichen Stadtverwaltung ausübten, bis die Einwohnerzahl die nötige Tragfähigkeit für die Einrichtungen der kommunalen Selbstverwaltung erreicht hatte; auf gleichem Wege ist in den sechziger Jahren am Nordrand des Ruhrgebiets die Stadt Wulfen gegründet worden. In Frankreich werden als Träger von Sanierungsmaßnahmen in der Regel gemischtwirtschaftliche Gesellschaften mit öffentlichem und privatem Kapital – societés d’économie mixte – geschaffen, die nach Erfüllung ihrer Aufgaben wieder aufgelöst werden. Die sprachschöpferische Fähigkeit der Angelsachsen hat für solche Einrichtungen eine Kurzbezeichnung geschaffen, die an die allgemeine Abkürzung für in der Öffentlichkeit wirkende, aber nicht Hoheitsrechte

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ausübende Institutionen anknüpfen – „NGO“ für „Non-Governmental Organisations“. Ihnen gegenüber sind solche nur scheinbar selbständigen Werkzeuge obrigkeitlicher Politik „Quangos“ – „Quasi non-governmental organisations“. Der Hauptvorzug derartiger Gesellschaften liegt darin, daß sie schneller und flexibler auf sich bietende Gelegenheiten reagieren können als die gesetzlich an Ratsbeschlüsse und Bürgerbeteiligung gebundene Bauleitplanung. Allerdings wird hier der „Pferdefuß“ einer solchen Flexibilität sichtbar – denn sie rührt ja weitgehend daher, daß die Entwicklungsgesellschaft jener akribischen demokratischen Kontrolle ausweichen kann, der die hoheitlichen Akte der Stadt unterworfen sind. So ist es ein offenes Geheimnis, daß die London Docklands Development Corporation im wesentlichen geschaffen und mit hoheitlichen Planungsrechten ausgestattet wurde, um dem mühsamen Verfahren der Bürgerbeteiligung in den betroffenen Londoner Bezirken aus dem Wege zu gehen – ein interessanterweise von den Konservativen praktiziertes Verfahren, die damit noch mehr zentralistischen Dirigismus an den Tag legten als die sonst von ihnen dieserhalb kritisierte Labour Party. Das Problem läßt sich entschärfen, wenn derartigen Gesellschaften keine hoheitlichen Rechte – wie das der Planaufstellung oder Baugenehmigung – übertragen werden, sondern wenn sie nur im Rahmen und zur Verwirklichung von Planungen tätig werden, deren Ziele und Grundzüge demokratisch abgesichert sind. Hier liegt nun tatsächlich ein wichtiges Problem der heute so gern und häufig beschworenen „public-private partnership“. Eine Hauptsorge der Städte besteht darin, sie könnten von ihren privaten Partnern „über den Tisch gezogen“ werden, und ein bissiges Bonmot sieht die Aufgabenverteilung einer solchen „Partnerschaft“ so, daß der öffentlichen Hand die Abdeckung des Risikos und dem privaten Partner der Genuß der Gewinne zukomme. Tatsächlich liegen bei uns noch nicht genügend Erfahrungen vor, um die Möglichkeiten und Grenzen solcher Zusammenarbeit genauer beurteilen zu können; ausländische Beispiele – etwa die der London Docklands – stimmen nicht unbedingt zuversichtlich.

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IV. Städte in Europa: Konkurrenz und Kooperation Die dargestellten Entwicklungstendenzen sind jeweils innerhalb einer Großstadtregion wirksam, und sie treffen nicht nur auf Deutschland, sondern auch auf andere Länder der Europäischen Gemeinschaft zu. Von da ist es nur ein kleiner Schritt zur Frage nach dem Verhältnis solcher Großstädte untereinander, nach Konkurrenz und Kooperation zwischen ihnen. Insgesamt gesehen, wird die räumliche Entwicklung der industriellen Gesellschaft von einer durchgängigen Tendenz zur Konzentration wichtiger wirtschaftlicher und administrativer Einrichtungen auf die Großstädte hin beherrscht, die durch die ständige Verbesserung der Kommunikationsmöglichkeiten gefördert wird. Im nationalen Kontext bedeutet das in der Regel eine Zentralisierung aller wichtigen Funktionen in der Hauptstadt, wie sich dies an einigen europäischen Ländern gut beobachten läßt; ich nenne nur unsere Nachbarn Frankreich, England und Dänemark. Dabei wirken verschiedene Faktoren zusammen: historische Vorgaben, Verwaltungssysteme, wirtschaftliche und verkehrliche Standortgunst, um nur die wichtigsten zu nennen. In Deutschland wirkten solche Faktoren bisher überwiegend im Sinne einer relativ ausgewogenen Struktur, die aus einer größeren Zahl mehr oder minder gleichgewichtiger Zentren besteht: sie geht vor allem auf die lange geschichtliche Eigenständigkeit der deutschen Teilstaaten, das gegenwärtige föderative System und seit 1945 das Fehlen einer eigentlichen Hauptstadt zurück. Das alles hat zu einem teils konkurrierenden, teils arbeitsteiligen Verhältnis der Großstadtregionen geführt, zu einem eigentümlichen „Fließgleichgewicht“, an das wir uns so sehr gewöhnt haben, daß die neue Rolle Berlins im vereinten Deutschland Anlaß zu einer Reihe besorgter Kommentare gegeben hat. Die Hauptstadtdiskussion im vorigen Jahr hat ja auch einige unterschwellige Emotionen in Bewegung gebracht; eines der dazu benutzten Argumente bezog sich auf die Gefahr, die übermächtige „Metropole“ Berlin werde die bisher führenden Großstädte in den anderen Bundesländern zur „Provinz“ verkümmern lassen – was immer man sich darunter im Einzelfalle vorstellen mag. Vergleichbare Sorgen knüpfen sich an den europäischen Binnenmarkt; die Öffnung der Grenzen und die Freizügigkeit des Warenverkehrs, mehr noch die des Wohn- und Geschäftssitzes lassen eine Tendenz zur weiteren Zentralisierung auf europäischer Ebene erwarten. Tatsäch-

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lich gibt es eine französische Studie zur räumlichen Entwicklung innerhalb der europäischen Gemeinschaft, die ein solches „Szenario“ beschreibt. Sie prognostiziert eine Konzentration der wirtschaftlichen Entwicklungskräfte Europas in der besonders dicht besiedelten und infrastrukturell gut ausgestatteten „Rheinschiene“ zwischen der „Randstad Holland“ und dem Raum Basel–Zürich mit Ausweitungen nach London und Manchester im Norden und Mailand/Turin im Süden – nach dem gewählten Kartenbild als „blaue Banane“ oder auch als „Megalopolis“ oder auch im Rückgriff auf das 9. Jahrhundert als „lotharingische Achse“ bezeichnet – alles Begriffe, die nicht unbedingt wissenschaftliche Seriosität ausstrahlen. Die dahinter stehende Vorstellung ist natürlich ernst zu nehmen. Sie stützt sich auf die Erkenntnis, daß es für viele hochzentrale Einrichtungen von internationaler Bedeutung – etwa Großbanken oder weltweit tätige Konzerne – nicht mehr zwölf verschiedener Hauptquartiere in den einzelnen Ländern der Europäischen Gemeinschaft bedarf, so daß es eine intensive Konkurrenz zwischen den nationalen Zentren um die Erhaltung solcher europaweiten Funktionen gibt. Man weiß, daß Frankfurt – wenngleich innerhalb dieser bevorzugten Zone gelegen – um seine Rolle als Finanzzentrum bangt. Allerdings kann man daran zweifeln, daß nun alle solche Institutionen ihren Standort in jener Zentralzone suchen werden, aber immerhin gilt es sich mit dieser Möglichkeit auseinanderzusetzen und ihre Wünschbarkeit zu prüfen. Dabei wird auf den ersten Blick deutlich, daß eine so scharfe Polarisierung in eine Wachstumszone mit zwangsläufigen Überlastungserscheinungen und einen entleerten Raum mit ein paar versprengten Metropolen wie Paris und Berlin – von Hamburg, München und Lyon zu schweigen – kein Leitbild, sondern nur ein Schreckbild sein kann. Eine deutsch-französische Arbeitgruppe, aus Mitgliedern zweier nationaler Raumforschungsorganisationen gebildet, hat sich kürzlich mit dieser Frage auseinandergesetzt und plädiert im Ergebnis für eine europäische Raumordnungspolitik. Ihr Ziel soll es sein, Fehlentwicklungen solcher Art zu vermeiden und – in Entsprechung zum politischen Ziel der deutschen Raumordnung – auf die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in allen Räumen der europäischen Gemeinschaft hinzuwirken. Zu diesem Zweck wird ein räumliches Entwicklungskonzept gefordert, das die bestehenden Zentren von europäischer Bedeutung in ihrer

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wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit aufrechterhalten und fördern soll. Zugleich soll es die Schaffung neuer Zentren dort ins Auge fassen, wo diese bisher fehlen, also vor allem in peripheren, dünn besiedelten Zonen. Schließlich muß es Vorstellungen für den weiteren Ausbau der Kommunikationsnetze enthalten. Auch die institutionelle Struktur des vereinigten Europa wird von der Arbeitsgruppe erörtert, wobei gerade die regionale Ebene besondere Beachtung erfährt. Von dieser Struktur wird gefordert, sie müsse ein dauerhaftes Gleichgewicht zwischen den Befugnissen zentraler, nationaler, regionaler und örtlicher Instanzen schaffen und zugleich unter ihnen einen fruchtbaren und kontinuierlichen Dialog sichern. Hinter diesen wohlklingenden Wendungen wird die Sorge vor den zentralisierenden und nivellierenden Tendenzen der Europäischen Gemeinschaft – weniger des Parlaments als der Kommission – erkennbar, die auch in der deutschen kommunalen Selbstverwaltung als Bedrohung empfunden werden. Das ist sehr verständlich, denn die deutschen Städte und Gemeinden besitzen eine in den meisten anderen EG-Ländern unbekannte Selbständigkeit, könnten also bei einer europaweiten Angleichung nur verlieren. Die Generaldirektion für Umwelt und Reaktorsicherheit hat kürzlich ein sogenanntes „Grünbuch“ über die Umweltsituation in den Städten herausgegeben, das von deutscher Seite mit großem Mißtrauen betrachtet wurde – als Versuch, einen Fuß in die Tür gemeindlicher Planungskompetenz zu setzen. In Aussicht steht eine städtische Charta – „Urban Charter“ – des Rates der Gemeinden und Regionen Europas, von der abzuwarten ist, ob sie auch in einem solchen Sinne zu verstehen sein oder eher unverbindliche Sprüche enthalten wird – wie so manche andere internationale Deklaration. Das abschreckende Modell ist natürlich der traditionelle französische Zentralismus – „Paris et le désert français“ –, der allerdings durch Mitterrands Reformen in den frühen achtziger Jahren gemildert worden ist. In gewissem Umfange sind damals staatliche Kompetenzen zugunsten der Kommunen dezentralisiert worden, so daß die Städte jetzt beispielsweise ihre Stadtplanung selbst betreiben können und nicht auf einen „urbaniste parachuté“ angewiesen sind – also auf einen in Paris gestarteten und über der Provinz mit dem Fallschirm abgesprungenen Planer. Gleichwohl ist der Grad der Abhängigkeit von der Zentralgewalt um vieles höher als in Deutschland; das ist mir vor wenigen Tagen noch einmal deutlich ge-

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worden, als ich einem Vortrag des für Lyon und sein engeres Umland zuständigen Stadtplaners über die Zukunftsperspektiven der Stadt zuhörte. Erstellte schlicht fest, daß in zweifacher Hinsicht „Europa“ – also der Binnenmarkt ab 1993 – eine Katastrophe für Lyon sei: einerseits wegen der zu erwartenden Steigerung des Durchgangsverkehrs nach Italien und der Schweiz in dem engen Lyoner Talraum, andererseits, weil die Stadt nun nicht nur innerhalb Frankreichs, sondern mit den Städten der Europäischen Gemeinschaft konkurrieren müsse, die wirkliche Macht besäßen – im Gegensatz zu Lyon, das sich, seit drei Jahrhunderten am Gängelband des französischen Zentralismus geführt, darin nie habe üben können. Und damit sind wir bei der Städtekonkurrenz in Europa und bei der Frage, wie sich die Städte auf sie einrichten. Ich sprach bereits am Beispiel der Weltausstellungen und ähnlicher Veranstaltungen von dem Bemühen um Profilierung, dem wir auf Schritt und Tritt begegnen. So hat auch das werbewirksame Schlagwort von der „Corporate Identity“ vor den Städten nicht haltgemacht; es wirkt sich auf den verschiedensten Gebieten aus, beginnend bei der einheitlichen Gestaltung des Briefkopfes und sonstiger städtischer Veröffentlichungen und endend bei selbsterfundenen klingenden Attributen – von der „Weltstadt mit Herz“ bis zum „Hoch im Norden“. Auch das ist eine europaweite Erscheinung; so hat Glasgow seinem Image einer düsteren Werft- und Industriestadt auch mit dem doppelsinnigen „Glasgow smiles better“ entgegengewirkt: „Glasgow lächelt besser“ und „Glasgow ist um Meilen besser“. Besser als was? Als früher? Als man denkt? Als Edinburgh? Das mag jeder nach seinem Geschmack interpretieren. Das zeigt zugleich, daß sich die Städte in aller Regel durch die Betonung ihrer Individualität, ihrer Besonderheit zu profilieren suchen. Seit dem 19. Jahrhundert ist immer wieder der Vorwurf erhoben worden, die Gegenwartsarchitektur verwische alle Eigenheiten der Städte, mache sie immer „verwechselbarer“. So sind es neben den Besonderheiten der topographischen Situation in erster Linie spezifische Gebäude oder Stadträume, mit denen eine Stadt ihr „Image“ zu prägen sucht: meistens historische, aber häufig auch neuere, insbesondere wenn sie als Beleg einer aufgeschlossenen und aktiven Kulturpolitik dienen können – wie etwa das Opernhaus in Sydney. Das spektakulärste Beispiel für die Verknüpfung von Geschichte und Gegenwart ist wohl immer noch Paris, dessen moderne Renommierbau-

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ten – vom Eiffelturm über das Centre Pompidou bis zur Louvre-Pyramide und zur Tête Défense – übrigens zum großen Teil von ausländischen Architekten stammen. Auch andere französische Städte bemühen sich um architektonische Profilierung, um aus dem Schatten von Paris herauszutreten. In Deutschland gehört das Frankfurter Museumsufer in diese Kategorie, aber auch die bewußt gesetzten Akzente in Ulm mit dem Bau von Richard Meier und in Weil am Rhein mit dem Museum von Frank Gehry: so gewinnt das örtliche Profil eine internationale Dimension. Ein hoher Rang in der Imagepflege wird neuerdings den Umweltqualitäten eingeräumt, und in diesem Rahmen spielt der Umgang mit den örtlichen Wasserflächen eine besondere Rolle. Auch hier bieten häufig Funktionsverluste einen Ansatzpunkt – die Aufgabe oder räumliche Einschränkung bisheriger Hafen- und Werftflächen, die geringere Bedeutung des Wassertransportes für viele Betriebe. Baltimore, San Francisco und Boston zeigten die ersten aufsehenerregenden Beispiele in den USA; Amsterdam hat manche alte Hafenanlage in ein Wohngebiet umgewandelt, und in England werden große Anstrengungen zur Neugestaltung großer Hafenbereiche in London und Liverpool/Merseyside unternommen. Auch in Hamburg gibt es seit längerer Zeit Bestrebungen, den Flußraum der Elbe stärker in die neuen Entwicklungen einzubeziehen, und in Frankfurt am Main läuft gerade ein Planungsgutachten, daß den „Stadtraum Main“ in den Mittelpunkt stellt. Neben der Umnutzung von Flächen geht es in vielen Städten auch darum, Verkehrsstraßen vom Ufer abzudrängen oder – wie in Köln und Düsseldorf – zu überdecken, damit die Flußufer ungehindert zugänglich werden. Alles das sind Bestandteile einer Stadtpolitik, die zwar in gewisser Hinsicht eine Art Inszenierung im Sinne einer Selbstdarstellung sein mag, die aber nicht nur den Werbeprospekten und dem Fremdenverkehr, sondern auch den Bürgern zugutekommt – und nach heutigen Erkenntnissen auch der örtlichen Wirtschaft, denn Stadtbild und Stadtatmosphäre – „Ambiente“ heißt der Modebegriff –, kulturelles Leben, Bildungsmöglichkeiten, Freizeitangebote und Umweltqulitäten gehören alle zu den sogenannten „weichen Standortfaktoren“, die immer mehr Einfluß auf Entscheidungen der Wirtschaft ausüben – sofern allerdings auch die „harten“ Standortfaktoren der klassischen Nationalökonomie in Ordnung sind. Es gibt inzwischen sogar die ökonomische These, daß wirtschaftliche Spitzenstellungen nur von solchen Städten werden gehalten werden können,

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die den dafür erforderlichen Führungskräften beste Lebens- und Umweltbedingungen zu bieten vermögen: hier ist also offenbar der sonst so oft beschworene Gegensatz von Ökonomie und Ökologie aufgehoben. Diese Beispiele der Städtekonkurrenz dürfen aber nicht den Blick dafür verstellen, daß es auch ein hohes Maß von Städtekooperation über die Grenzen hinweg gibt. Einen wichtigen Ansatz dazu bildeten schon seit den fünfziger Jahren die Städtepartnerschaften; gemeinsame Interessenlagen kamen hinzu. Eine knappe Zusammenfassung findet sich in einer Schrift, die gemeinsam von der Akademie für Raumforschung und der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung erarbeitet wurde: „Regionen und Städte schließen sich überregional in der EG zu Interessenverbänden, Problemlösungsgemeinschaften und Netzen sowie zu neuen Partnerschaften zusammen, vor allem um die Entwicklungen der Großstadträume besser zu steuern und um Innovationen und technische Neuerungen besser bewältigen und eventuell gemeinsam nutzen zu können. Generell lassen sich derzeit in Europa drei Bereiche verstärkter Zusammenarbeit erkennen: –

– –

Zusammenarbeit von Regionen mit gleichen Problemlagen, wie etwa „altindustrialisierte Gebiete“, „Grenzregionen“ und „Küstenregionen“ … Kooperationen von Stadtregionen und Städten zur Lösung einzelner Fachprobleme, Zusammenarbeit von Städten und Gemeinden zur Lösung spezieller Planungs-, Organisations- und Entwicklungsprobleme in staatsgrenzenübergreifenden Ballungsgebieten.

Die Zusammenarbeit in Interessenverbänden hilft den großen Städten in Europa, gemeinsame Lösungen für überall anstehende Probleme zu finden. So setzt z. B. die sich verstärkende staatsgrenzenübergreifende Zusammenarbeit von Regionen oder größeren städtischen Siedlungsräumen qualifizierte Problemanalysen zur Erarbeitung regionaler Entwicklungskonzeptionen voraus. Diese erlauben dann für grenzübergreifende städtische Siedlungsräume – z. B. im Raum Lille oder im Raum Maastricht, Heerlen, Aachen, Lüttich (MHAL-Projekt) – die Aufstellung geeigneter

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Offene Fragen

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Maßnahmenkonzepte für die räumliche Entwicklung und für erwünschte Verflechtungen und arbeitsteilige Ansätze.“

V. Offene Fragen Wohin führen die dargestellten Entwicklungstendenzen? Was bedeuten sie für das künftige Leben in der Stadt? Inwieweit kann man ihnen vertrauen, inwieweit sollte man ihnen entgegenwirken? Hierzu nur ein paar Anmerkungen zum Abschluß – mehr im Sinne von Fragen als von Antworten. –







Der Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ hat manche zu der Schlußfolgerung geführt, der Markt habe alle Antworten parat. Aber der Markt hat kein Gespür für soziale Fragen und langfristige Anliegen. Interventionen sind unerläßlich – und wir werden gewiß immer wieder darum ringen müssen, wie weit sie gehen dürfen und von welcher Verwaltungsebene sie jeweils ausgehen sollen. Eine europäische Raumordnungspolitik wird zumindest teilweise gegen den Markt agieren und sich durchsetzen müssen, wenn sie Erfolg haben soll. Der europäische Zusammenschluß macht die Frage nach den jeweils sinnvollen Entscheidungsebenen und dem Zusammenspiel unterschiedlicher Instanzen, also den Wechselwirkungen solcher Entscheidungen, noch dringender: man denke etwa an die Rückwirkung der Normen für Lastwagenabmessungen auf die Umwelt. Ganz allgemein besteht ein Dilemma zwischen wachsenden großräumigen Vernetzungen und dem Wunsch nach bürgernahen Entscheidungen, der kleinere Räume voraussetzt. Gewiß ist das Subsidiaritätsprinzip richtig – nur solche Entscheidungen auf eine höhere Ebene zu ziehen, die auf der unteren nicht sachgerecht getroffen werden können, aber gerade in Umweltfragen sind derartige Unterscheidungen nicht immer einfach. Hier stehen uns sicher noch erhebliche Probleme ins europäische Haus. Dem Image der Wohlstandsgesellschaft für alle steht das neue Schlagwort von der Zwei-Drittel-Gesellschaft gegenüber. Die „neue Armut“ ist auch für das Zusammenleben im städtischen Raum ein reales Pro-

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blem. Es ist zu befürchten, daß sich mit wachsender Freizügigkeit die Spannungen verschärfen werden. Konzentrationen in der Wirtschaft mit tendenziell steigenden Betriebsgrößen machen die Großfirmen zu unbequemen Verhandlungspartnern für die Städte. Dem Hinweis auf die mögliche Verlegung von Arbeitsplätzen an andere Orte, falls man hier nicht wie gewünscht bauen könne, sind schon manche begründeten Ansprüche an Landschaftsschutz und Stadtstruktur zum Opfer gefallen. Solche Abwägungen könnten künftig noch schwieriger werden. Die berechtigten Sorgen vor einer nicht mehr zu bewältigenden Zunahme des Überland-Güterverkehrs – ebenso wie die vor dem Zusammenbruch des motorisierten Stadtverkehrs – müssen dazu führen, dem Verkehr die tatsächlich von ihm verursachten Kosten anzulasten, die immer noch weitgehend auf andere abgewälzt – externalisiert – werden. Es geht zugleich um eine sinnvolle Differenzierung der Märkte: muß wirklich alles europaweit herumgefahren werden, was auch in der Nähe zu haben wäre?

Diese Fragen müßten vertieft werden – aber das überschritte den Rahmen dieses Vortrags. Es sollte nur angedeutet werden, daß weiterhin hohe Anforderungen an Sachkenntnis und politische Weisheit gestellt werden, wenn die in Europa gesetzten Hoffnungen sich erfüllen sollen. Dabei bin ich überzeugt, daß der Reichtum an historischem Erbe und an gegenwärtiger Vielfalt, aber auch an urbanem und regionalem Selbstbewußtsein, den die europäischen Städte in sich bergen, für die Qualität des Lebens in diesem Europa von zentraler Bedeutung sein wird. Diesen Reichtum gilt es zu erhalten und zu mehren.

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Lehre für die Stadtplanung im Wandel Erschienen in: Jessen J. und Philipp K. P. (Hrsg.) (1998): Der Städtebau der Stuttgarter Schule, S. 187–203, LIT Verlag Berlin und Münster. ISBN 3-643-13031-0

Der Titel 1 ist mehrdeutig: der Wandel kann sich auf die Stadtplanung und auf die Lehre beziehen – und tatsächlich ist beides gemeint. Veränderungen in Planungsklima und Planungsstil kennzeichnen die letzten Jahrzehnte, und die Lehre hat ihnen Rechnung getragen und wird dies auch in Zukunft tun müssen. Nach traditioneller Vorstellung beginnt ein deutscher Professor seinen Vortrag entweder mit einer Definition oder mit einem geschichtlichen Überblick. Ich entscheide mich für den zweiten Weg, denn tatsächlich ist ein Blick zurück in die Entwicklung der Lehre für die Stadtplanung unerlässlich, wenn man die heutige Situation richtig beurteilen will. Darauf möchte ich dann eine Betrachtung über die Unterschiede in Aufgaben und Arbeitsweise zwischen Architektur und Stadtplanung gründen, die vor rund drei Jahrzehnten zur Schaffung einer eigenständigen Planerausbildung geführt haben. In einem dritten Abschnitt will ich auf die Veränderungen eingehen, die sich in diesen drei Jahrzehnten in der Planung und in ihren Rahmenbedingungen vollzogen haben, und zum Abschluss skizzieren, welche Konsequenzen sich daraus für die städtebauliche Ausbildung an den Hochschulen ergeben.

1

Der Beitrag geht zurück auf einen Vortrag, gehalten im Rahmen des StädtebauKolloquiums an der Fakultät Architektur und Stadtplanung der Universität Stuttgart am 16. November 1998.

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I. Der Weg zum Planerstudium Die ersten Gedanken über eine städtebauliche Ausbildung eigener Prägung lassen sich im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts nachweisen. In ihm zeichneten sich die Umrisse eines neuen Berufsstandes ab, dessen Aufgabenfeld in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden war. Damals nämlich hatten Industrialisierung und Bevölkerungsanstieg zu einem Stadtwachstum geführt, das von der Kulturkritik weithin beklagt wurde, aber gleichwohl technisch bewältigt werden musste. Ingenieure waren die ersten, die sich dieser Aufgabe annahmen, Architekten kamen später hinzu, Wohnungsreform und Baupolizei wirkten in das neue Aufgabenfeld hinein, das bald eine gewisse Eigenständigkeit beanspruchte. Baulinienpläne, ursprünglich in der Zuständigkeit der staatlichen Baupolizei, wurden in den meisten deutschen Ländern ab 1868 Gemeindeangelegenheit; 1893 wurden die ersten beiden ein ganzes Großstadtgebiet umfassenden Stadterweiterungswettbewerbe im deutschen Sprachraum entschieden: für Wien und München. Die erste Städtebauzeitschrift erschien 1904, erste Kongresse und Ausstellungen – so die Dresdener „Städteausstellung“ von 1903, die den Rahmen für die Gründung des Deutschen Städtetages bot – behandelten städtebauliche Themen. So hieß es 1910 im Vorwort des deutschen Übersetzers von Raymond Unwins Buch Town Planning in Practice, das übrigens erst ein Jahr zuvor im Original erschienen war: „Städtebau ist seit einigen Jahren bei uns zur Disziplin geworden. Sozialwissenschaftler, Architekten, Kunstästhetiker und Ingenieure tragen die Resultate ihrer Wissenschaft praktischen Erfahrungen zur gemeinsamen Lehre vom Städtebau zusammen.“ 2

Die „gemeinsame Lehre von Städtebau“ – aber an wen sollte sie sich richten? Offenbar bedurfte die Bewältigung der neuen Aufgaben einer Ausbildung, die zumindest eine Ergänzung der in den bisherigen Ausgangsdisziplinen – Ingenieurwesen und Architektur – vermittelten Kenntnisse und Denkweisen bieten musste, vielleicht sogar neben diesen beiden Disziplinen ein eigenes Profil gewinnen sollte. 2

Unwin, R., Town Planning in Practice, London 1909. Deutsch: Grundlagen des Städtebaues, Berlin 1910, III.

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Eine derartige Forderung war in der Tat bereits 1904 von Ludwig Hercher erhoben worden, einem der ersten, die mit einem städtebaulichen Thema promoviert hatten: „… keine Berufsart [kann] bis jetzt eine genügende Vorbildung zu den hohen, so bedeutungsvollen, in das ganze Kulturleben so einschneidenden Aufgaben aufweisen.“3

Einen bemerkenswerten Vorstoß unternahm 1914 Ewald Genzmer, Professor an der Technischen Hochschule Dresden, mit seinem Vorschlag einer staatlich organisierten Zusatzausbildung nach dem Diplom für Städtebauer, wie sie für Architekten und Ingenieure bereits seit langem bestand; tatsächlich kam es erst ein halbes Jahrhundert später zu dieser städtebaulichen Referendarausbildung. 4 Einen breiten Überblick über das weite Feld der Stadtplanung vermittelten die von der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg in den Jahren 1908 bis 1912 veranstalteten „städtebaulichen Vorträge[n]“, die eine Ergänzung der Architekten und Ingenieurausbildung darstellten und in Jahresabschnitten veröffentlicht wurden. An fast allen Technischen Hochschulen in Deutschland gab es inzwischen Lehrstühle mit städtebaulicher Ausrichtung, wenn sie auch noch nicht überall die Bezeichnung „für Städtebau“ führten. 5 In England wurde bereits im Jahre 1909 das erste Department of Town Planning and Civic Design an der Universität Liverpool gegründet, in dessen Informationsschrift es einleitend heißt: „Town Planning, although intimately connected with Architecture and Engineering is a distinct and separate study in itself, and the primary object of the school is to equip Architects, Engineers and others with a knowledge of the supplementary subjects that Town Planning connotes.“ 6

3

Hercher, L., Großstadterweiterungen, Göttingen 1904, S. 29. Guther, M., Heinz Wetzel und die Geschichte der Städtebaulehre an deutschen Hochschulen, in: Pampe, U. (Red.), Heinz Wetzel und die Geschichte der Städtebaulehre an deutschen Hochschulen, Stuttgart 1982, S. 58. 5 Eine ausführliche Darstellung dieser Entwicklungen gibt: Guther, Heinz Wetzel (Anm. 5). 6 Zit. n. Cherry, G. E., The Evolution of British Town Planning, Leighton Buzzard 1974, 54. 4

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Im Jahre 1914 entstand ein weiteres Department im University College in London; im gleichen Jahr wurde das Town Planning Institute als Zusammenschluss von städtebaulich tätigen Architekten, Bauingenieuren und Geometern gegründet, das nach deutschen Begriffen die Rolle einer Kammer spielte. Es nahm in der Folgezeit zunehmend Einfluss auf die Ausbildung – vor allem dadurch, dass es ein eigenes Prüfungssystem entwickelte, mit dem auch der Zugang zur Mitgliedschaft eröffnet wurde. Hochschulen, deren Abschlussprüfungen den Anforderungen des Instituts entsprachen, wurden von ihm „anerkannt“; ihre Absolventen brauchten sich der Institutsprüfung nicht mehr zu unterziehen, um Mitglied zu werden. 7 In keinem anderen Land hat eine berufsständische Vereinigung einen so weitgehenden Einfluss auf die Hochschulausbildung auszuüben vermocht. In Deutschland gab es in der Zwischenkriegszeit im Architektur- wie im Ingenieurstudium neben einer allgemeinen Lehre auch – mittels der Wahl städtebaulicher Entwürfe – Vertiefungsmöglichkeiten auf dem Gebiet der Stadtplanung. Eine engere Zusammenarbeit zwischen beiden Disziplinen bestand indessen offenbar nur an den Technischen Hochschulen Berlin und Dresden; hier wurden 1924 und 1925 die „Dresdener städtebaulichen Wochen“ veranstaltet, die aus einer Zusammenarbeit zwischen der „Sächsischen Arbeitsgemeinschaft“ der Freien Deutschen Akademie des Städtebaues und dem städtebaulichen Seminar der Technischen Hochschule Dresden erwuchsen; ihre Vorträge wurden in Buchform veröffentlicht. Demgegenüber nahm die Technische Hochschule Berlin die „Städtebaulichen Vorträge“ der Vorkriegszeit nicht wieder auf. Auch für die weitere Verfolgung des 1914 von Genzmer gemachten Vorschlags einer Nachdiplomausbildung mit entsprechender Staatsprüfung finden sich in der Zwischenkriegszeit keine Belege. Indessen erhob der in Karlsruhe lehrende Bauingenieur Hoepfner nachdrücklich die Forderung nach einer eigenständigen Ausbildung für den „Siedlungsingenieur“ als einen neuen Typus des Ingenieurs – der Architekt neige zu sehr zu künstlerischer Subjektivität und der Bauingenieur wisse zu wenig von Menschen und der Gesellschaft. 8

7 8

Ebd., 218. Hoepfner, K. A., Grundbegriffe des Städtebaues. 2 Bde., Berlin 1921/1928, S. 45.

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In Frankreich setzte eine städtebauliche Ausbildung, die über den städtischen Ingenieurbau und stadtgestalterische Architekturentwürfe hinausging, mit der Gründung der École Supérieure de l’Art public 1917 in Paris ein, deren Lehrprogramm neben Städtebauentwurf, Hygiene und Ingenieurwesen auch wirtschaftliche und rechtliche Fragen einschloss. 9 Nach Zwischenstufen als École pratique d’Études Urbaines et d’Administration Municipale und als École des Hautes Études Urbaines wurde daraus ein Institut d’Urbanisme, der Sorbonne angegliedert. Im Sinne eines Zusatzstudiums wurden Stadtgeschichte, Sozialstruktur, Verwaltung, Wirtschaft und Stadtbaukunst behandelt. Offenbar war jedoch die praktische Entwurfsarbeit zumindest bis 1940 wenig ausgeprägt. 10 In den Vereinigten Staaten tauchte der Begriff der Stadtplanung erstmals 1923 in einem akademischen Grad auf: Die School of Landscape Architecture an der Harvard-Universität verlieh den Master of Landscape Architecture in City Planning. Ebenfalls in Harvard wurde 1929 – mit Hilfe der Rockefeller-Stiftung – die erste School of Planning in den USA gegründet; innerhalb weniger Jahre folgten drei weitere Hochschulen diesem Beispiel. 11 Eine neue Situation ergab sich nach dem Zweiten Weltkrieg, als es in vielen europäischen Ländern darum ging, im Zusammenhang mit der Behebung der Kriegszerstörungen die Leitlinien der künftigen räumlichen Entwicklung zu bestimmen. In keinem Lande wurde diese Aufgabe so energisch und konsequent in Angriff genommen wie in Großbritannien, und eine wichtige Voraussetzung für ihre Lösung sah man in der Ausbildung der Stadtplaner. Schon kurz vor dem Kriege hatte sich Kritik an der allzu technisch ausgerichteten Planerausbildung geregt; es wurden Ergänzungen auf sozial- und wirtschaftswissenschaftlichem Gebiet und allgemein ein weiterer Blickwinkel gefordert. Zur Erörterung dieser Fragen berief der damalige Planungsminister Lewis Silkin einen Ausschuss unter Vorsitz von Sir George Schuster, das in die britische Planungsgeschichte eingegangene Schuster Committee.

9

Bardet, G., L’urbanisme, Paris 1945, S. 7. Bardet, Urbanisme (Anm. 9), S. 18. 11 Adams, F. J. und Hodge, G., City Planning Instruction in the United States. The Pioneering Days 1900–1930, in: AIP Journal, XXXI (1965), S. 43–51. 10

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Der Ausschussbericht, 1950 vorgelegt, gab wesentliche Anstöße zum Umdenken. Er definierte Planung als eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Tätigkeit, die durch die technischen Möglichkeiten des Entwerfens begrenzt, aber nicht bestimmt werde. Folgerichtig müsse der leitende Planer die verschiedenen Stufen des Planens als einen zusammenhängenden Prozess mit weitreichenden sozialen und ökonomischen Zielen sehen. Hierzu seien Kreativität, Vorstellungskraft, die Fähigkeit zur Synthese und ein umfassendes Verständnis für den Menschen notwendig; eine Hochschulausbildung sei der Entwicklung dieser Qualitäten förderlich. Indessen brauche der leitende Planer keine technische Qualifikation zum Entwerfen, sondern vor allem die Fähigkeit, die Tätigkeit der verschiedenen an der Planung beteiligten Arbeitsbereiche zu verstehen und zu koordinieren. Bereits 1946 hatte die Universität Durham in Newcastle die erste britische eigenständige Planerausbildung als fünfjähriges Studium geschaffen; die Fakultät, nunmehr Teil der Universität Newcastle. 1949 folgte Manchester, während an mehreren Universitäten ein Master’s Programme in Town Planning als „Aufbaustudium“ für Absolventen benachbarter Disziplinen angeboten wurde. In Deutschland bewegte sich um diese Zeit noch nichts; erst 1956 legte Johannes Göderitz ein vom Bundesministerium für Wohnungswesen und Städtebau in Auftrag gegebenes Gutachten vor, in dem ein städtebauliches Nachdiplomstudium für Architekten und Ingenieure vorgeschlagen wurde. Als Voraussetzung für einen geeigneten Ort wurde das Vorhandensein einer Universität oder Technischen Hochschule angesehen; dies traf seinerzeit für Berlin und München zu. Das Gutachten blieb ohne unmittelbare Folgen; allerdings bereitete es Boden für die Schaffung zweier Fortbildungsinstitute in eben diesen Städten, deren Rechtsträger die Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung DASL wurde. Erst gegen Ende der sechziger Jahre wurden zwei Aufbaustudiengänge dieser Art geschaffen – in Karlsruhe im Sinne der Regional Science, einer Raumwirtschaftslehre, in München mit dem Schwerpunkt Stadt- und Regionalplanung. Zwar hatte die DASL noch 1957 gegen ein eigenständiges Planerstudium Stellung genommen; gleichwohl war es der langjährige Vizepräsident der Akademie Herbert Jensen, der als Mitglied des Dortmunder Gründungssenats den Anstoß zur Schaffung der ersten „Abteilung Raumplanung“ in Deutschland gab. Wenig später folgten Berlin, Kaiserslautern,

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und Kassel mit ähnlichen Programmen. Die Universität Oldenburg und die Technische Universität Hamburg-Harburg boten für das „Hauptstudium“ (ab dem dritten Studienjahr) eine Raum- beziehungsweise Stadtplanerausbildung an, die allerdings in Oldenburg inzwischen eingestellt wurde. An der TU Wien wurde ab 1973 ein volles Raumplanungsstudium betrieben; an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich wurde 1967 eine zunächst viersemestrige inzwischen auf zwei Semester reduzierte Nachdiplomausbildung in Orts-, Regional- und Landesplanung eingerichtet. Soweit der knappe Überblick über Daten und Fakten – aber hinter diesen sind bereits einige Vorstellungen und Forderungen sichtbar geworden, die sich auf die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten des Planers oder der Planerin (sie ist immer mitgemeint) und damit auf das Ziel der Ausbildung beziehen. Ihnen soll nun etwas genauer nachgegangen werden. Dazu mag es hilfreich sein, sich die Ähnlichkeiten und die Unterschiede zwischen der Stadtplanung einerseits und der Architektur andererseits klarzumachen.

II. Zum Verhältnis von Architektur und Stadtplanung Auf den ersten Blick gibt es eine Reihe von Analogien zwischen diesen beiden Arbeitsgebieten. Wie die Architektenarbeit von der Vergegenwärtigung der Bauaufgabe der ersten Entwurfsskizze bis zum Werkplan und zur Überwachung der Bauausführung reicht, so spannt auch die Stadtplanung einen weiten Bogen von der Einschätzung der räumlichen Ausgangssituation und der auf ihre Veränderung hinwirkenden politischen, sozialen, wirtschaftlichen Kräfte bis zur Konzeption einer Nutzungs- und Verkehrsstruktur, die diesen Kräften Rechnung trägt, und weiter bis hin zur Vorstellung des künftigen Gefüges von Baumassen und Freiräumen und häufig auch bis zu ihrer rechtlichen Festsetzung im Bebauungsplan. Hier spätestens überschneidet sich die Arbeit des Planers mit der des Architekten, denn Überlegungen zu den Baumassen setzen ein Nachdenken über deren Nutzung und Gestalt voraus, die in letzter Instanz erst aus dem Wechselspiel von Bauherrenwillen und Architektenentwurf erwachsen können. Dagegen liegen die ersten Überlegungen in dieser Kette auf einer Ebene, die mit dem seit gut hundert Jahren bei uns gängigen Begriff

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„Städtebau“ im Grunde unzutreffend beschrieben ist; die Bezeichnung „Stadtplanung“, zwanzig Jahre jünger, kommt dieser Tätigkeit schon näher; noch präziser wäre „örtliche und regionale Raumordnung.“ Ich widerstehe der Versuchung, die Vielfalt der Definitionen von Stadtplanung vor Ihnen auszubreiten, in denen es immer wieder um eine Verknüpfung von Wissenschaft, Kunst und Politik geht, und beschränke mich auf die knappe Aussage des Amerikaners Dyckman: „Planung ist eine Kunst, bemüht, durch Anwendung wissenschaftlicher Methoden das Handwerk zu verbessern.“ 12

Aber wie immer man Stadtplanung definieren mag – sie folgt anderen Regeln, zielt auf andere Ergebnisse als die Architektur und verlangt auch andere Kenntnisse und Fähigkeiten von den sie Ausübenden. Zu den grundlegenden Unterschieden, die das Arbeitsfeld des Stadtplaners von der des Architekten trennen, gehören die Angewiesenheit auf Verwirklichung durch andere und damit die „unvollständige Kontrolle“ über die Ausführung, das prinzipielle Unfertigsein der Stadt, die Überholbarkeit der Planung noch während ihrer Laufzeit. Gewiss kann man den Entwurf eines neuen Wohngebietes mit einem klaren Bauprogramm als eine Art vergrößerter Architekturaufgabe ansehen, aber schon bei einem längerfristig angelegten Stadterneuerungsprogramm trifft das nicht mehr zu, weil es für neue Entwicklungen offen bleiben muss; aus diesem Grunde ist ja die frühere Rechtsvorschrift, dass für die Einleitung des Sanierungsverfahrens ein rechtskräftiger Bebauungsplan vorliegen müsse, entfallen. Dass städtebauliche Planung ein niemals abzuschließender Denkund Steuerungsprozess und nicht die Verwirklichung eines einmal als optimal geltenden Endzustandes ist, liegt auf der Hand, und auch das Strukturkonzept für eine künftige räumliche Entwicklung – wie sein rechtsförmlicher Niederschlag im Flächennutzungsplan – stellt nur scheinbar einen künftigen Zustand dar; in Wahrheit kann es nur wiedergeben, was zu einem bestimmten Zeitpunkt als sinnvolle künftige Nutzung der räumlichen Ressourcen und als dementsprechende Disposition der darauf gerichteten Investitionen erscheint. Beide sind abhängig von Faktoren, die sich noch vor der Verwirklichung ändern können – tech12

Dyckman, J. W., The Practical Uses of Planning Theory, in: AIP Journal XXXV (1969), 300. Deutsch von Gerd Albers.

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nische Möglichkeiten, wirtschaftliche Perspektiven, soziale Wertmaßstäbe. Das Zeitelement bleibt in jedem Strukturplan präsent, und pointiert könnte man sagen, dass die Architektur auf die Festlegung der künftigen Umwelt im Gebäude oder in der Gebäudegruppe zielt, während die Planung zugleich auch ihr Offenhalten für künftige Erfordernisse im Auge hat. Rudolf Schwarz, renommierter Architekt und Stadtplaner, hat die Konsequenz daraus vor fast fünfzig Jahren sehr schön formuliert: „Der gute Plan muss die Dynamik der Geschichte mit einbauen, die ihn einmal überwindet.“ 13

Aggressiver hat es der Franzose Gaston Bardet ausgedrückt; er gab in seinem Anforderungskatalog an den Planer einer Eigenschaft besonderes Gewicht, die „sehr selten (sei) in Frankreich, dem Land der Architekten und Juristen, dem Verständnis für das Werden“ (sens du devenir). 14 Persönlichkeiten wie Theodor Fischer, Rudolf Schwarz oder – vielleicht noch ausgeprägter – Fritz Schumacher mögen als Beispiele dafür gelten, dass sich die Arbeitsweisen des Planers und des Architekten sehr wohl in der gleichen Person vereinen können, aber sie alle haben sich den planerischen Denkansatz an den Aufgaben der Praxis erarbeiten müssen. Zu den genannten Unterschieden der Denk- und Arbeitsweise kommt noch ein weiterer, der sich auf den Bauherrn bezieht: Dem Architekten steht – zumindest idealtypisch – als Auftraggeber ein persönlicher Bauherr mit klar erfassbaren Wünschen und Bedürfnissen gegenüber. Für den Stadtplaner stellen sich die Dinge komplizierter dar – der konkrete Bauherr, der die Entscheidungen trifft und das Geld gibt, ist die politische Körperschaft, aber hinter ihr steht als gleichsam abstrakter Bauherr die Bürgerschaft der Stadt, die Gesellschaft; und in der Geschichte der Stadtplanung hat es immer wieder offene oder verdeckte Loyalitätskonflikte gegeben, meist ausgelöst durch die Kurzatmigkeit der in Wahlperioden denkenden Politik und der auf längere Zeiträume gerichteten Sicht der Planung. 1920 schon hat Cornelius Gurlitt, Städtebauprofessor in Dresden, dieses Problem umrissen: Der Städtebauer „muß den Mut haben, sich der ‚praktischen Leute‘ zu erwehren, die nach dem Augenblicksbedürfnis urteilen. Er soll ihnen auf dem Grunde sorgsamen Er13 14

Schwarz, R., Von der Bebauung der Erde, Heidelberg 1949, S. 228. Bardet, Urbanisme (Anm. 9), S. 66. Deutsch von Gerd Albers.

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wägens aufgebaute Darlegungen entgegenhalten, was die Bedürfnisse einer nahen und fernen Zukunft sein werden: Er ist den Söhnen für die Kurzsichtigkeit der Väter verantwortlich.“ 15

Darin klingt eine Art Sendungsbewusstsein an, das in vielen Äußerungen von Stadtplanern zumindest in der ersten Jahrhunderthälfte mitschwingt. Aber natürlich stellt sich damit sofort die Frage, woher dem Planer denn jene Einsicht in die „Bedürfnisse einer nahen und fernen Zukunft“ zuwachse – also eine Einsicht in Entwicklungstendenzen und künftige Raumansprüche von Gesellschaft und Wirtschaft. Offenbar setzt sie eine Bekanntschaft mit den Wissenschaften voraus, die sich mit diesen Fragen beschäftigen, also mit den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Insbesondere nachdem die Soziologie ihrerseits die städtische Gesellschaft als Forschungsfeld erkannt hatte, wuchs die Erwartung der Planer, sie könne eine Art Bauherrnersatz für den Städtebau liefern – aber diese Erwartung musste am Selbstverständnis einer auf Empirie und Analyse gerichteten Soziologie scheitern, die zwar die Ergebnisse der Planung und die dahinterstehende Ideologie gern kritisch untersucht, aber keine gesellschaftlichen Normen aufzustellen bereit ist. Der Stadtsoziologe Hans Paul Bahrdt, Planungsfragen gegenüber sehr aufgeschlossen, hat einmal gesagt, der Soziologe könne wohl an einem städtebaulichen Leitbild mitarbeiten und dabei auch ein anständiger Mensch bleiben, aber er höre auf, als Wissenschaftler tätig zu sein. Indessen gehört zweifellos die Kenntnis wissenschaftlicher Forschungsergebnisse zum unerlässlichen Kenntnishintergrund des Planers, und damit sind wir beim Thema eines verschiedene Disziplinen übergreifenden, eines „interdisziplinären“ Studiums, einem Dauerbrenner in der Diskussion über Ausbildungsfragen. Allerdings wird der Begriff häufig unscharf gebraucht. Gewiss ist „echte“ Interdisziplinarität nur dort gegeben, wo Fachleute verschiedener Disziplinen sich gemeinsam einer Aufgabe widmen, und solche interdisziplinäre Fachkompetenz wird der Planer nicht in sich vereinen können. Aber er muss den Kreis der für die Lösung eines Problems in Betracht kommenden Disziplinen und deren möglichen Beitrag dazu – das heißt auch dessen Grenzen – richtig einschätzen können. Das setzt Einsicht in deren unterschiedliche Denk- und

15

Gurlitt, C., Handbuch des Städtebaues, Berlin 1920, S. 3.

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Arbeitsweisen voraus, und sie in erster Linie sollte die Hochschule vermitteln, nicht etwa ein Kompendium der Inhalte. Auch der „in der Wolle gefärbte“ Planer braucht eine Beziehung zur Architektur, denn er muss bei jedem Schritt zur baulichen Verwirklichung mit dem Architekten reden und argumentieren können und deshalb dessen Denkweise kennen. Von dem aus dem Architekturstudium kommenden Planer wird natürlich eine besondere Kompetenz für die baulich-funktionalen und die gestalterischen Aspekte der Stadtplanung erwartet – Aspekte, die insbesondere beim Bebauungsplan von großer Bedeutung sind, die aber auch schon beim Flächennutzungsplan eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen; daher die Forderung nach interdisziplinärer Kooperation „auf allen Ebenen“.

III. Entwicklungen in den letzten drei Jahrzehnten So ist es letztlich die Einsicht in die Unterschiede der Arbeitsweisen und Zeitperspektiven von Architektur und Stadtplanung, die zu den erwähnten Gründungen neuer Studiengänge geführt hat. Es ist sicher kein Zufall, daß die Entscheidungen dafür in den späten sechziger Jahren getroffen wurden – in einer Zeit, in der gerade das Konzept der Stadtentwicklungsplanung in den Mittelpunkt des planerischen Interesses rückte. Ihm lag der Gedanke einer integrierten Sozial-, Wirtschafts- und Raumpolitik der Gemeinden zugrunde, dessen rechtliche Verankerung 1974 im Entwurf zur Bundesbaugesetz-Novelle erstrebt wurde, allerdings am Bundesrat scheiterte. Gleichwohl beflügelte er die Vorstellungen der Planer in hohem Maße, und noch mehr Anklang fand er bei der jüngeren Generation an den Hochschulen, den Assistenten und Studenten, die nun mit der Stadt zugleich die Gesellschaft planen wollten. Die von Berliner Studenten – nicht zufällig 1968 – verfasste Planerflugschrift belegt das: „Die begriffliche Sonderung von ‚physischer‘, ‚ökonomischer‘ und ‚sozialer‘ Planung (…) wird praktisch hinfällig. Mit der Verlagerung (…) auf politischökonomische Zielsetzungen löst sich die Planung endgültig ab vom Werkcharakter einer der traditionellen Architektur verhafteten ‚Stadtbaukunst‘.“ 16 16

Frick, Dieter, „Zur Entwicklung von Forschung und Lehre auf dem Gebiet des Städtebaus und der Stadt- und Regionalplanung an der Technischen Universität

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Seither sind dreißig Jahre vergangen, in denen sich erhebliche Veränderungen in der Wirklichkeit wie in der Sicht der Probleme vollzogen und zwangsläufig auch die Ansprüche an die Planer – und ihr Selbstverständnis – beeinflusst haben. Unter den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen seien stichwortartig erwähnt: –





– –



die Einsicht in die Grenzen des Wachstums und die Bedrohung des ökologischen Gleichgewichts durch die Formen von Produktion und Raumnutzung in der industriellen Wohlstandsgesellschaft, die Erkenntnis, dass der Steuerbarkeit von Gesellschaft und Wirtschaft durch eine umfassende Planung engere Grenzen gezogen sind, als man in den sechziger Jahren glaubte; das gleiche gilt von der Abbildbarkeit der Wirklichkeit und ihrer vielfältigen Wechselbeziehungen im mathematischen Modell, die Globalisierung der Wirtschaft, verbunden mit Konzern-Konzentrationen, die eine Schwächung nicht nur der gemeindlichen, sondern sogar der staatlichen Verhandlungsposition mit sich bringt – vor allem in einer Zeit der Rezession und der Sorge um Arbeitsplätze, die zunehmende Heterogenität städtischer Gesellschaften infolge wachsender sozialer und ethnischer Disparitäten, die Tendenz zu Deregulierung und „schlankem“ Staat, verstärkt durch die verbreitete Meinung, der Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ habe die allein seligmachende Wirkung des Marktes erwiesen, das Vordringen eines „postmodernen“ Lebensstils mit veränderten Bindungen an Familie, Beruf, Arbeitsplatz, Wohnort.

Engt man den Blick auf das „Planungsklima“ ein, so war es bis zur Mitte der siebziger Jahre weitgehend durch das Vertrauen auf jene integrierte Entwicklungsplanung geprägt, bei der es um die Schaffung eines räumlichen Rahmens für die gewünschte sozioökonomische Entwicklung ging; mit ihm sollte zugleich diese Entwicklung gefördert werden, die man als eine weitgehend politisch steuerbare und gesteuerte ansah; wo die Dynamik der Wirtschaft nicht ausreichte, meinte man ein reiches InstrumenBerlin“, in: Rürup, Bernd, (Hrsg.), Wissenschaft und Gesellschaft. Beiträge zur Geschichte der Technischen Universität Berlin, Berlin 1979, 227.

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tarium staatlicher und kommunaler Maßnahmen zur Verfügung zu haben, um die Lücken auszufüllen. „Die Zukunft im Griff“ war ein Schlagwort, das den Geist der Zeit gut widerspiegelte. In den späten siebziger und den achtziger Jahren kehrte man sich resignierend von diesem anspruchsvollen Modell ab. Man hatte die Steuerbarkeit der Entwicklung wie auch die Koordinierbarkeit des Verwaltungshandelns überschätzt; damit sank auch das Vertrauen in den Nutzen von Planungstheorie. Die ökologische Bedrohung verstärkte die Betonung von „kleinen Schritten“ und „Reversibilität“ bis hin zum „Rückbau“, ja zum „geordneten Rückzug“ – um die Schlagworte der achtziger Jahre aufzunehmen. Damit überlagerte sich – als Reaktion auf enttäuschte Zukunftshoffnungen – ein Rückgriff auf die Vergangenheit und ihren Niederschlag im Stadtgefüge, der zwar einerseits der Denkmalpflege zugute kam, ihr aber andererseits durch eine Tendenz zur historischen Illusion Abbruch tat. „Von der Gegenwart enttäuscht und ohne Vertrauen auf das Kommende, befriedigt die Gesellschaft ihr Utopiebedürfnis durch Geschichte.“ 17

Damit musste sich die Rolle der Planung verändern; als umfassendes Steuerungsinstrument verlor sie an Geltung, doch konnten in Einzelfällen von ihr innovative Impulse ausgehen, wie sie in beispielhafter Weise die IBA Emscher Park gegeben hat und noch gibt. Deren Aktivitäten können auch sehr gut jenen neuen Planungsstil verdeutlichen, den Karl Ganser 1992 als „Perspektivischen Inkrementalismus“ bezeichnet hatte: im Gegensatz zur umfassenden und im Denkansatz deduktiven Entwicklungsplanung setzt er auf Einzelprojekte, die zwar an allgemeinen Zielen orientiert sind, diese aber nur „inkrementalistisch“ – mit örtlich und zeitlich begrenzten Teilerfolgen – fördern können. 18 Zugleich taucht heute – angesichts wirtschaftlicher Probleme und einer inzwischen europaweiten Konkurrenz der Städte um hochbezahlte Arbeitsplätze und entsprechende Steuerkraft – eine neue Konzeption der kommunalen Aufgaben aus dem Nebel der Unsicherheit auf: die Stadt als 17

Huse, N., Denkmalschutz, in: Sieverts, Th. (Hrsg.), Zukunftsaufgaben der Stadtplanung, Düsseldorf 1990, S. 87 f. 18 Ganser, K., Instrumente von gestern für die Städte von morgen?, in: Ganser, K.; Hesse, J. J. und Zöpel, C. (Hrsg.), Die Zukunft der Städte, Baden-Baden 1991, S. 59 f.

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Dienstleistungsunternehmen für die Wirtschaft, mit Imagewerbung, Corporate Identity und City Marketing auf Kundenfang; die Public-Private Partnership als neues Zaubermittel, bei dem der Investor zum Freund und Verbündeten des Planers wird, nachdem er jahrzehntelang der eher misstrauisch betrachtete Gegenspieler gewesen war. Die Sorge drängt sich auf, bei dieser Sicht der Dinge könne der „Bürger“ der Stadt zugunsten des „Kunden“ aus dem Blickfeld geraten. Doch wie dem auch sei – es ist klar, dass in solcher Situation die Mittel einer obrigkeitlichen Planung nicht ausreichen: Es gilt, die verschiedenen in Betracht kommenden Akteure jeweils zu motivieren, sie zur wirksamen Kooperation zusammenzuführen und damit die heute so gern zitierten Synergieeffekte auszulösen. 19

IV. Perspektiven der Planungspraxis Damit sind wir bei der Frage, welche Art planerischer Praxis – ja auch welches „Planungsklima“ diejenigen erwartet, die heute die Hochschule verlassen, um Stadtplanung zu betreiben. Es ist offenbar ein raueres Klima als noch vor Jahrzehnten, gekennzeichnet durch einen Schwund des Vertrauens in die theoretische Absicherung und die praktische Durchsetzbarkeit der Stadtplanung. Stärker noch scheint mir ein konzeptionelles Defizit ins Gewicht zu fallen – die Tatsache nämlich, dass wir keine überzeugende Zielvorstellung von einer Stadt und Regionalstruktur haben, die zugleich unseren Ansprüchen an städtische Lebensqualität, unseren Bekenntnissen zur nachhaltigen Entwicklung und unseren Ambitionen zur wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit der Stadtregionen entspräche. Gewiss gibt es einige programmatische Formulierungen, die in diese Richtung zielen: die „dezentrale Konzentration“, die „Stadt der kurzen Wege“, die „kompakten und durchmischten Städte in der polyzentrischen Stadtregion“ – aber im Grunde sind sie alle nur Beschwörungsformeln gegen den Trend: so wie 19

Wie sich auch das Planungsrecht in diesem Sinne verändert hat, zeigt ein interessanter Artikel von Rudolf Stich: Stich, R., Die Rechtsentwicklung von der imperativen zur kooperativen Städtebaupolitik, in: Streich, B. und Kötter, Th. (Hrsg.), Planung als Prozess, Bonn 1998, S. 285–293.

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das Pfeifen im Wald, mit dem man sich in einer Situation Mut macht, die man in Wahrheit nicht beherrscht. Das stellt natürlich ein Problem für die Ausbildung dar: Es ist sicher sehr viel einfacher, dem Studierenden Maßstäbe für Qualität in der räumlichen Entwicklung zu vermitteln, wenn man sie an einem in sich schlüssigen Leitbild – wie es in den fünfziger Jahren die „Gegliederte und aufgelockerte Stadt“ war – demonstrieren kann. Die Faszination durch Urbanität, Verdichtung und Verflechtung hat zeitweise verschleiert, dass diesen Schlagworten kein vergleichbar praktikables Stadtmodell entsprach, und nachdem deren Wirkung verblasst war, ist dieses Feld gedanklich kaum noch ernsthaft beackert worden. Allerdings mag man auch einen Vorteil darin sehen, dass auf diese Weise das eigene Nachdenken der Planer gefördert wird, weil sie sich nicht mehr auf „Rezepte“ verlassen können. Gewiss ist das Fehlen eines in sich schlüssigen Leitbildes kein Zufall, sondern die Folge heterogener Ansprüche an den Raum, die zunehmend miteinander in Widerspruch geraten. Die vorhin erwähnten Veränderungstendenzen halten an und verstärken sich; in der Stadt haben wir es mit wachsenden Disparitäten in sozialer und kultureller Hinsicht, mit veränderten Haushalts- und Altersstrukturen, Destabilisierung von Arbeitsplatz und Arbeitszeit, der Tendenz zur medienbeherrschten Informationsgesellschaft und anderen Erscheinungen zu tun, die sich auch im Stadtraum niederschlagen. Die veränderte Nachfrage nach Wohnungen und Dienstleistungen geht mit einer Vergröberung der Eigentumskörnung in den Stadtzentren einher; der Bauherr alter Art weicht dem Investor. Handy, Fax und E-Mail, Telearbeit und Teleshopping machen offenbar immer mehr persönliche Kontakte überflüssig, und wer dann doch noch in persona einkauft, den zieht der Großmarkt auf der grünen Wiese – oder allenfalls die privatisierte Shopping Mall im Stadtkern aus jenem öffentlichen Raum heraus, den wir doch so gern belebt sähen. Zur Steigerung der quantitativen Ansprüche an den begrenzten Raum kommt die wachsende Schwierigkeit politischer Entscheidungen angesichts einer heterogener werdenden Gesellschaft, die deshalb auch qualitativ unterschiedliche Ansprüche an die Ordnung des Stadtraumes stellt. Dabei zeigt sich, dass viele wichtige Fragen der strukturellen Entwicklung auf der Ebene der Gemeinde nicht mehr sinnvoll zu lösen sind, so dass überörtliche Zusammenarbeit – formell oder informell – an Gewicht gewinnt.

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Lange Zeit galten Stadt- und Regionalplanung noch weithin als zwei getrennte Maßstabsebenen; heute mehren sich die Anzeichen dafür, dass sie ineinander übergehen. Unter verschiedenen Gesichtspunkten – von der Nachhaltigkeit bis zur wirtschaftlichen Entwicklung – erscheint die Region als die für sinnvolle strukturelle Entscheidungen geeignetste Raumkategorie. Damit stellt sich die Frage nach der sinnvollen Verwaltungsstruktur, auf die die Regionen Stuttgart und Hannover erste Antworten zu geben versuchen. Hoffen wir, dass sie sich bewähren. Die Region ist noch aus einem anderen Grunde wichtig: nur auf ihrer Maßstabsebene ist eine Annäherung an die Nachhaltigkeit, die Sustainability der räumlichen Entwicklung überhaupt möglich; die Stadt allein wird – entgegen vielen freundlichen Absichtserklärungen und Sonntagsreden – nie „nachhaltig“ sein können. So dürfte die zentrale Aufgabe der näheren Zukunft wohl darin liegen, das neue Vertrauen auf die Ordnungskräfte des Marktes in Einklang zu bringen mit einer tragfähigen Antwort auf die große Herausforderung der ökologischen Probleme; denn deren Ansprüche stoßen sich oft genug „hart im Raume“, schaffen also konfliktträchtige Situationen für die planerische Abwägung. Allerdings liegt der Kern dieser Konflikte nicht bei der räumlichen Planung, sondern bei den Produktionsweisen von Energie und Gütern, bei unserem Umgang mit deren Nebenprodukten und Abfällen und damit letztlich bei unseren eigenen Ansprüchen an Konsum, Mobilität und „Lebensqualität“. Wohl kann räumliche Planung einzelne Beiträge zu solcher „Nachhaltigkeit“ leisten, aber ihre Wirkung wird begrenzt bleiben, solange nicht auch andere Kräfte auf die Veränderung unseres Umgangs mit den knappen Ressourcen hinwirken. Ob es sich bei der Hoffnung darauf um eine „Utopie der Selbstbegrenzung“ 20 handelt, mag dahingestellt bleiben. Es scheint, dass alle dargestellten neueren Entwicklungen die Stadtplanung zunehmend weiter von der Architektur entfernen, indem sie die Unterschiede verschärfen, auf die ich bereits hingewiesen habe – von Bebauungsplanentwurf als „vergrößerter Architektur“ zum prozesshaften Vorgehen, von bautechnischen zu sozio-ökonomischen Kenntnissen, von der fachlichen Optimallösung zum politisch bedingten Kompromiss. 20

Beck, U., Die Utopie der Selbstbegrenzung, in: Süddeutsche Zeitung. Ausgabe 71/ 1995, S. 13.

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Gleichwohl wird auch die Lehre im Architekturstudium dieser Entwicklung Rechnung tragen müssen: zum einen, um dem künftigen Architekten jenes politisch-gesellschaftliche Umfeld zu verdeutlichen, innerhalb dessen sich seine Bautätigkeit abspielen wird, zum anderen aber, um diejenigen, die stadtplanerisch arbeiten wollen – sei es in der Behörde, sei es im freien Büro –, mit den Rahmenbedingungen vertraut zu machen, die heute für die Stadtentwicklung gelten.

V. Zum Ausbildungsauftrag der Hochschule Damit kehren wir zum Abschluss noch einmal zu der Frage zurück, auf welche Weise die Hochschullehre den künftigen Planer auf ein so differenziertes und dabei noch in Bewegung befindliches Aufgabenspektrum vorbereiten könne. Dabei sollte man sich allerdings dessen bewusst bleiben, dass die Hochschule nur einen Teil der Qualitäten beeinflussen kann, die letzten Endes den guten Planer ausmachen. Ein britischer Planungsminister 21 hat die Ansprüche an ihn einmal auf drei grundlegende Anforderungen beschränkt: – – –

er müsse alt genug sein, um seine größten Fehler bereits in früheren Positionen gemacht zu haben, er müsse wissen, dass das Wasser bergab läuft, und er müsse zuhören können.

Zum ersten Anspruch kann die Hochschule nichts beitragen, dem zweiten kann sie mit ihrem Lehrplan schon eher gerecht werden, aber um das „Zuhören Können“ dem Studenten nahezubringen, muss man die Hochschule mit ihrer unausweichlichen Neigung, ein selbstgewisses Fachverständnis heranzuzüchten, deutlich „gegen den Strich bürsten“. Denn für den Planer als Vermittler ist gerade dies eine unerlässliche Qualität – für 21

Sir Patrick Abercrombie (1879–1957), Professor für Städtebau am University College in London (1935–1946) und Autor des Great London Plan (1944), beteiligte sich maßgeblich an den Stadtplanungsdebatten in Großbritannien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (vgl. u. a. Cherry, British Town Planning [Anm. 8], hier u. a. S. 128–129, 154).

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die Denkweisen jener „Akteure“, die in der räumlichen Entwicklung mitwirken, muss er ein ähnliches Verständnis aufbringen wie für seine Nachbardisziplinen. So müssen nach wie vor drei wichtige Bereiche von Kenntnissen und Fähigkeiten als unerlässliche Voraussetzungen gelten: –





ein breites Wissen über Gesellschaft, Wirtschaft und Politik, verbunden mit der Einsicht in ihre Zusammenhänge untereinander und mit der räumlichen Entwicklung, die Fähigkeit, für bestimmte Entwicklungsziele einen räumlichen Rahmen zu entwerfen, dessen Maßstäbe von großflächiger regionaler Nutzungsdisposition bis zur dreidimensionalen Gestaltung reichen (diese mag dem von der Architektur herkommenden Planer zunächst näher liegen), die Kenntnis und Beherrschung der Mittel – technischer, rechtlicher und politischer Art –, mit denen räumliche Entwicklungs- und Gestaltungskonzeptionen verwirklicht werden können.

Gewiss mögen die Stärken des Einzelnen auf diesen drei Gebieten – dem analytischen, dem konzeptionellen, dem instrumentellen – ungleich verteilt sein, aber einen Überblick über diese drei Bereiche und ihre Wechselwirkungen muss jeder Planer besitzen. Aus britischer Quelle stammt eine etwas andere Dreiheit als Grundlage der Planerqualifikation: „Knowledge, Skills, and Values.“ Diese Kategorien liegen gewissermaßen quer zu den drei vorher genannten, die gleichsam am Arbeitsablauf orientiert sind, Kenntnisse nämlich und Fertigkeiten, also Wissen und Methodenbeherrschung, werden in allen drei Arbeitsphasen verlangt, wenn auch in unterschiedlichen Bereichen. Aber was hat es mit den „Values“ auf sich? Es sind offenkundig die Wertmaßstäbe, die dem fachlichen Handeln zugrunde liegen – also Fragen des Berufsethos, aber auch der politischen Aspekte fachlicher Planungen. Kann und soll die Hochschule sie vermitteln? 1965 hat der Schweizer Soziologe Walter Rüegg als Rektor der Frankfurter Universität darauf eine bemerkenswerte Antwort gegeben: „Die Hochschule […] [ist] ihrem Ursprung und ihrer Funktion nach eine Anstalt geregelter Muße zur Heranbildung von gesellschaftlichen Funktions-

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trägern, welche Entscheidungen von öffentlichem Interesse unter Unsicherheit rational fällen sollen.“ 22

Das ist, wie ich meine, die exakte Definition des Planers – es könnte kaum eine bessere geben. Aber versteht die Universität ihre Aufgabe wirklich im Sinne dieser Forderung? Für die Mehrzahl der klassischen Disziplinen geht es nicht um Entscheidungsfähigkeit, sondern um die forschende Erkundung der Wahrheit, meist ohne erkennbaren Handlungsbezug. Andere – die Ingenieure etwa – werden auf technische Entscheidungen hin ausgebildet, aber ein umfangreiches, empirisch abgestütztes Theoriegebäude vermittelt ihnen Sicherheit, jedenfalls in ihrem fachlichen Handlungsbereich. Tatsächlich steht der Architekt von seinem Fach her diesem Anspruch an Entscheidungsbereitschaft, an konzeptionelles Denken noch am nächsten. Planung also muss zwar unter Unsicherheit entscheiden, aber der Planer soll die in solcher Entscheidung liegenden Risiken durch ein möglichst hohes Maß an Rationalität verringern. Rationalität aber erschöpft sich nicht im Messbaren; vielmehr setzen Entscheidungen unter Unsicherheit Beurteilungsmaßstäbe voraus, die nicht durch Kosten-NutzenAnalysen oder ähnliche Hilfsmittel einer quantifizierenden Planungstheorie geliefert werden können. Das bedeutet, dass den Values, den Wertungen, eine zentrale Rolle für Planungsentscheidungen zukommt. Dieser Sachverhalt ist früh erkannt worden. Schon 1920 schrieb der bereits erwähnte Cornelius Gurlitt, die Vorbildung des Städtebauers – Architekt, Ingenieur, Geometer – sei weniger wichtig als seine Fähigkeit, „den Wert der Dinge zu schätzen und gegeneinander abzuwägen“. 23 Und seit dem späten 19. Jahrhundert sind immer wieder städtebauliche Konzepte durch kulturelle und soziale Wertvorstellungen geprägt worden – so das Gartenstadtmodell von Ebenezer Howard, auf eine Vermählung von Stadt und Land gerichtet, von der „a new hope, a new life, a new civilization“ 24 erwartet wurde; so auch das Konzept der Nachbarschaftseinheit, von der man sich die Überwindung der oft beklagten Anonymität der Stadt, die Wiedergewinnung eines Gemeinschaftsgefühls unter den Bewohnern versprach. Verallgemeinernd kann man sagen, dass viele Fach22 23 24

Rüegg, W., Hochschule und Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 1965, S. 13. Gurlitt, Handbuch (Anm. 15), S. 3. Howard, E., Garden Cities of To-morrow, London 1965, S. 48.

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aussagen zum Städtebau durch ein ausgeprägtes soziales Engagement gekennzeichnet sind – beginnend 1876 mit Reinhard Baumeisters Hinweis, dass eine richtige Stadterweiterung einen wichtigen Beitrag zur sozialen Reform darstelle. Dieses Engagement schlägt sich zunächst im Sinne eines eher paternalistischen Fürsorgedenkens nieder und verlagert sich später in Richtung Partizipation – bis hin zur Anwaltsplanung für die „Unterprivilegierten“. Aber gesellschaftliches Engagement muss sich natürlich – ebenso wie die gerade zitierte „rationale Entscheidung unter Unsicherheit“ auf jenes Wissen über die Zusammenhänge von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik stützen können, das vorhin an erster Stelle genannt wurde. Indessen gibt es ein Spannungsverhältnis zwischen Wissen und Handeln, das ein Amerikaner vor Jahrzehnten mit dem Satz angedeutet hat: „Der Planer ist seit einiger Zeit Gefangener der Erkenntnis, dass in der Stadt alles mit allem zusammenhängt.“ Wir kennen das Problem schon von Hamlet her: „Der angebornen Farbe der Entschließung wird des Gedankens Blässe angekränkelt“ 25; Nietzsche hat es auf die simple Formel gebracht: „Zu allem Handeln gehört Vergessen.“ 26 Das heißt: Zum Handeln sind wir immer darauf angewiesen, die Komplexität der Welt zu reduzieren und von einem vereinfachten Modell der Wirklichkeit auszugehen, an dem wir die Sachgerechtigkeit unseres Handelns zu testen suchen – wenn auch in dem Bewusstsein, dass es nicht die Wirklichkeit abbilden kann. Dem Spannungsverhältnis von Wissen wollen und Handeln müssen gesellen sich andere zu, auf die die Hochschule vorbereiten sollte: die Spannung zwischen Offenhalten und Festlegen, die in jeder Planungsaufgabe wirkt, die – mögliche, nicht zwangsläufige – Spannung zwischen der Loyalität gegenüber dem Auftraggeber und dem eigenem planerischen Gewissen, und schließlich die Spannung zwischen der Funktion des unparteiischen Vermittlers zwischen unterschiedlichen Ansprüchen und der Rolle des wegweisenden, innovativen Experten. Denn auch sie gehört zum gesellschaftlichen Auftrag des Planers. 25

Shakespeare, W., Hamlet, 3. Akt, 1. Szene. Zit. n. der Reclam-Ausgabe, Bd. 1, Stuttgart 1984, S. 161. 26 Nietzsche, F., Unzeitgemäße Betrachtungen, Zweites Stück. Vom Nutzen und Nachteil der Historie, 1. Zit. n. Nietzsche, F., Werke in drei Bänden. Bd. 1, München 1958, S. 213.

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Der letzte Punkt ist mir gerade deshalb wichtig, weil heute die Rolle des Planers als „Moderator“, als „Mediator“ besonders betont zu werden pflegt – natürlich ist sie wichtig, aber sie kann sich nicht auf das Finden des kleinsten gemeinsamen Nenners beschränken, sondern muss zu Konzepten führen – genau so, wie auch der perfekte Planungsprozess ins Leere laufen kann, wenn in ihm keine konstruktiven Ideen einfließen. Ohne Zweifel ist das Spannungsverhältnis von Erkenntnis und Handeln – ebenso wie die Bedeutung von Wertungen und Prioritäten – am ehesten am umfassenden stadtplanerischen Entwurf, am Projekt zu verdeutlichen – und das ist natürlich auch ein Grund für die Faszination, die dieser Begriff ab 1968 ausübte. Das Projekt kann zeigen, wie wichtig bestimmte wissenschaftliche Grundlagen für räumliche Handlungsmuster sind, und damit den Studenten motivieren helfen, sich mit dieser Materie auseinanderzusetzen. Aber da ein solcher Informationsbedarf das jeweilige Wissenschaftsgebiet an einer mehr oder minder zufälligen Ecke anzuschneiden pflegt, wird man um dessen systematische Darstellung – wie trocken sie dem Hörer immer erscheinen mag – nicht herumkommen. Und natürlich wird es immer Diskussionen darüber geben, welche Zeitanteile den beiden Vermittlungsweisen eingeräumt werden und wie diese sich auf die verschiedenen Wissensgebiete verteilen sollten. Dabei ist es nicht so – wie gelegentlich in der Praxis und häufig von Studenten erwartet wird –, dass eine gesteigerte Informations- und Datenanhäufung eines Tages zum zündenden Funken für den Planentwurf führte. Ohne konzeptionelles Denken geht es nicht; allerdings muss es ein Denken in Alternativen sein. Denn wer plant, muss der Versuchung widerstehen, allzu bald sein – oder ihr – Herz an eine besonders bevorzugte Konzeption zu hängen – eine Versuchung, der ein gestaltungsfreudiger Architekt in besonderem Maße ausgesetzt ist. Dann nämlich pflegt er höchst ungern Sachverhalte zu berücksichtigen, die dieser Konzeption entgegenstehen könnten; im Extremfalle werden nur noch solche Informationen in den Gehirnspeicher eingelassen, mit denen das ausgewählte Konzept gestützt werden kann. Die „wissenschaftliche“ Qualifikation des Planers erweist sich vor allem in seiner Bereitschaft, seine Handlungskonzepte ohne Vorbehalte der kritischen Durchleuchtung und der rationalen Abwägung auszusetzen. Dazu bedarf es einer Denkweise, die man gern mit so schönen Vokabeln wie „ganzheitlich“ oder „integrierend“ oder – neuerdings besonders beliebt – „vernetzt“ zu bezeichnen pflegt. Wie wichtig

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sie ist, kann man sich leicht an der Tatsache klarmachen, dass viele auf ein bestimmtes Ziel gerichtete Planungsmaßnahmen deshalb gescheitert oder zumindest in Misskredit geraten sind, weil man die unbeabsichtigten Nebenwirkungen unterschätzt oder gar nicht erkannt hatte. Schon Theodor Fischer hat diese Gefahr gesehen: er forderte nämlich von Architekten, „dass er kein Ideologe sei, das will sagen, dass er nicht einer Laune, einer Mode, einer Kunstidee zuliebe dem Ganzen Gewalt antue 27.“

Und noch ein Wort von ihm ist wichtig: er könne als Hochschullehrer nicht die Kunst des Städtebaues lehren, sondern nur das Handwerk. Das ist im Kern noch immer richtig – aber selbst das Handwerk kann die Hochschule kaum noch vollständig, sondern nur exemplarisch vermitteln; zu ihm gehört übrigens auch der Umgang mit dem – von Architekturstudenten häufig verabscheuten – Planungsrecht. Was die Hochschule aber vor allem vermitteln sollte, ist ein umfassendes Problembewusstsein, das die ganze Spannweite zwischen langfristig tragfähigen Konzeptionen und großen Entwicklungslinien einerseits und Abwägung, Koordinierung, Kompromiss – nicht sehr attraktive Vokabeln für junge Leute – andererseits umfasst. So muss die Hochschule bei der Heranführung an die Planungspraxis eine Art Gratwanderung unternehmen: sie muss genug davon sichtbar machen, um dem Studenten kein freies Feld vorzugaukeln, in dem sich städtebauliche Schöpferkraft voll verwirklichen könne, aber sie darf ihn auch nicht mit allzu detailliertem Eingehen auf alle möglichen Bindungen „den Schneid abkaufen“. Sie sollte „die Verwaltung“ – auch sie für Studenten meist kein Gegenstand besonderer Sympathie – nicht nur als lästigen Hemmschuh weitschauenden Planens sehen, sondern klarmachen, dass auch sie „gestaltbar“ und im Sinne schöpferischer Konzepte einsetzbar ist – wie dies so mancher Stadtbaurat nachgewiesen hat. Bei aller Kontinuität des Nachdenkens über Stadtplanung in diesem Jahrhundert darf man eine tiefgreifende Veränderung der Grundstimmung nicht übersehen. In den ersten drei Vierteln unseres Jahrhunderts erschien Planung als Weg zu räumlicher Ordnung und gesellschaftlicher Wohlfahrt, als Mittel, die Verheißungen einer besseren Zukunft zu er27

Fischer, Th., Sechs Vorträge über Stadtbaukunst, München und Berlin 1920, S. 8.

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füllen. Heute dagegen sind wir skeptischer geworden – wir erwarten von der Planung kaum mehr als einen Beitrag dazu, den Bedrohungen einer ungewissen Zukunft entgegenzuwirken. Aber auch wenn damit die Aufgaben räumlicher Planung nicht mehr so großartige Perspektiven eröffnen wie etwa in den sechziger Jahren – in denen allerdings auch viel Makulatur produziert wurde –, ist sie im Hinblick auf die räumlichen Probleme der Zukunft nicht minder wichtig. Sie wird – als unerlässliche Hilfe zum Überleben – sogar zunehmend wichtiger. Wie wir mit dem enger werdenden, den verschiedensten Ansprüchen ausgesetzten Raum unserer Städte und Regionen umgehen, ist eine Frage, deren politisches Gewicht weiter zunehmen dürfte. Stadt- und Regionalplanung ist räumliche Entwicklungspolitik – und als solche fällt sie unter Max Webers berühmte Definition der Politik: „Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.“ 28

Diese Metapher kann auch einen Schlüssel für die Schwerpunkte einer städtebaulichen Ausbildung bieten: Das Studium muss über die Materialeigenschaften jener dicken Bretter ebenso informieren wie über die Vielfalt der Bohrwerkzeuge, und es muss zu deren beharrlicher Handhabung anleiten. Es muss die Leidenschaft, sich dieser Aufgabe zu widmen, nähren und vertiefen (natürlich hofft man, dass sie die Studierenden schon bei der Einschreibung beflügelt), und es muss die Sensibilität für jenes Augenmaß schärfen, das es dem künftigen Praktiker ermöglicht, Chancen und Grenzen der Stadtplanung in der Gesellschaft richtig einzuschätzen.

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Weber, M., Politik als Beruf. 5. Auflage, Berlin 1968 [1919], S. 67.

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Über den Wandel der Wertmaßstäbe im Städtebau – Blick auf die letzten fünf Jahrzehnte Vortrag im Rahmen des Festkolloquium zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der HCU Hamburg an Prof. em. Dr.-Ing Gerd Albers am 9. Februar 2010 in Hamburg. Erschienen in: HafenCity Universität Hamburg, Studiengang Stadtplanung, Prof. Dr.-rer. pol. Dirk Schubert (Hrsg.) (2010): Dokumentation zum Festkolloquium zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der HCU Hamburg an Prof. em. Dr.-Ing. Gerd Albers am 9. Februar in Hamburg, S. 18–21, Hamburg.

Es mag nicht immer sinnvoll sein, bei einer Ehrenpromotion auf das Thema der Dissertation zurückzugreifen – aber hier bietet es sich grade zu an: Wertewandel im Städtebau, damals aus der Sicht der späten fünfziger Jahre erörtert: Was hat sich in dem seither vergangenem halben Jahrhundert in dieser Hinsicht bewegt? Zwei Belege für den Zeitgeist zu Beginn dieses Abschnitts seien genannt: Die Internationale Bauausstellung 1957 im Berliner Hansaviertel, die „Interbau“ mit der Sonderschau „Die Stadt von Morgen“ – und das gleichzeitig erschienene Buch von Göderitz, Rainer und Hoffmann: „Die gegliederte und aufgelockerte Stadt“, mit dem das Leitbild für die weitere städtebauliche Entwicklung gekennzeichnet werden sollte 1. Beide Begriffe des Buchtitels beziehen sich auf die Mängel der überkommenen Stadt: Gliederung sollte der Anonymität des Städters entgegenwirken und ihn wieder in der Gemeinschaft beheimaten; Auflockerung sollte den engen

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Göderitz, J., R. R. und Hoffmann, H., Die gegliederte und aufgelockerte Stadt, Tübingen 1957.

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Baugebieten der Gründerzeit – arm an Freiflächen und ohne angemessene Belichtung und Besonnung – ein Ende machen. In den frühen sechziger Jahren werden diese Ansätze jedoch in Frage gestellt. Zwar gilt die Kritik auch „verpassten Chancen“ des Wiederaufbaues – man habe eine gründliche strukturelle Neuordnung der Städte verpasst, vor allem wegen mangelnder Reformbereitschaft hinsichtlich des Bodenrechts; die Mehrzahl kritischer Äußerungen weist aber in eine andere Richtung. Als Folge der neuen städtebaulichen Entwicklungen wird ein Verlust an städtebaulicher Vielfalt und Lebendigkeit gesehen und als Unwirtlichkeit beklagt 2 – nicht mehr die Ruhe und Beschaulichkeit werden gesucht, sondern die Kontaktfülle städtischen Lebens, Funktionsmischung und „Urbanität“ – ein Begriff, der mit allen Hoffnungen auf das künftige städtische Lebensgefühl befrachtet wird. Er verknüpft sich mit dem neuen Schlagwort der „Verdichtung und Verflechtung“ – der gewollten Antithese zu „Gliederung und Auflockerung“. Diese Strömung erreichte ihren Höhepunkt gegen Ende der sechziger Jahre; für die Verdichtung gehörten Berlins „Märkisches Viertel“ mit seiner Massierung von Hochhäusern und Münchens Neu-Perlach mit seinem „Wohnring“ zu den spektakulärsten Beispielen; auch die Verflechtung fand in einzelnen Fällen – etwa im Leverkusener Stadtkern oder in Hannovers Ihme-Zentrum – ihren Niederschlag. Auch in anderen europäischen Staaten wie in England gab es deutliche Parallelen zu diesen Gestaltungstendenzen. Zugleich aber veränderten sich auch die Ansprüche an den Wirkungsbereich und die Ziele der Planung: die bisherige Grundauffassung hatte der britische Planer Abercrombie zutreffend umrissen: „Die Planung von Stadt und Land sucht der natürlichen Entwicklung eine lenkende Hand zu bieten, gestützt auf eine sorgfältige Untersuchung des Ortes selbst und seiner Außenbeziehungen. Das Ergebnis sollte über technische, hygienische und wirtschaftliche Qualitäten hinaus ein sozialer Organismus und ein Kunstwerk sein.“ 3 Indessen zeichnete sich um 1960 ein neues Verständnis der Stadtplanung ab, das den politischen Komponenten der Stadtentwicklung mehr 2

Mitscherlich, A., Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Frankfurt/M. 1965. – Siedler, W. J., Die gemordete Stadt, Berlin 1964. 3 Abercrombie, P., Town and Country Planning, Oxford 1943, S. 2.

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Gewicht beimaß; man erkannte, dass von einer „natürlichen Entwicklung“ nicht mehr die Rede sein konnte – angesichts der Fülle menschlicher Eingriffe in soziale und wirtschaftliche Prozesse, die häufig planerischen Zielen entgegenwirkten. So bildete sich in den sechziger Jahren das Konzept einer Planung heraus, die nicht nur räumliche, sondern auch soziale und wirtschaftliche Entwicklungen gemeinsam ins Blickfeld nahm; damit wurde die räumliche Planung zum Teilaspekt einer politischen Steuerung – „comprehensive planning“ im englischen Sprachraum, in Deutschland „Entwicklungsplanung“ genannt. Der neue Begriffsinhalt und die mit ihm verbundene Sicht des Planens wurden 1974 im Entwurf zur Novellierung des Bundesbaugesetzes anspruchsvoll umrissen: „Die städtebauliche Entwicklungsplanung als Teil einer umfassenden Entwicklungsplanung der Gemeinde, die als übergeordnete Planung für den gesamten Bereich Zielvorstellungen entwickelt und die gemeindlichen Tätigkeiten aufeinander abstimmt, setzt den Rahmen für eine, insbesondere den sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Erfordernissen dienende städtebauliche Entwicklung und Ordnung des Gemeindegebietes einschließlich der raumwirksamen Investitionen der Gemeinde und deren Zeit- und Rangfolgen.“

Allerdings fand diese Formulierung nicht die Zustimmung des Bundesrates, so dass der Gesetzestest von 1976 die Entwicklungsplanung zwar beiläufig erwähnt, aber nicht inhaltlich präzisiert. Gleichwohl wurde sie vielerorts nicht nur als „informelle“ Planung praktiziert, sondern fand auch in „Stadtentwicklungsämtern“ ihren Platz in der Verwaltung. Zugleich statuierte die Novelle von 1976 erstmals über die „geordnete Entwicklung“ hinaus wertbezogene Planungsziele: eine „sozialgerechte Bodennutzung“ und einen „Beitrag zur menschenwürdigen Umwelt“. Die neue Sicht auf die vielfältigen Probleme der Entwicklungsplanung machte deutlich, dass die Planungsentscheidung angesichts der Fülle abzuwägender Gesichtspunkte einen Auswahlvorgang erfordert, bei dem es kaum je „die richtige Lösung“ gibt, sondern in aller Regel mehrere Alternativen, die auf Grundlage geeigneter Kriterien zu prüfen und zu bewerten sind. Hier ergaben sich Beziehungen zur US-amerikanischen Planungsdiskussion, in der die theoretischen Auseinandersetzungen mit dem planerischen Vorgehen schon früher eingesetzt hatten. Damit rückte der Planungsprozess in den Mittelpunkt theoretischer

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Erörterungen über das Planen; von seiner Perfektion erwartete man die Erarbeitung eines optimalen Planes. Als Voraussetzung dafür galten die Erkenntnis der Wirkungszusammenhänge in der natürlichen und der sozialen Umwelt – und damit die Erfassung der „Stadt als System“, abgebildet im mathematischen Modell. Auf dieser Grundlage sollte die Planung dann ein „widerspruchsfreies Zielsystem“ erarbeiten, die zur Zielerreichung geeigneten Wege erkunden, die Alternativen rational gegeneinander abwägen und deren günstigste „implementieren“ – so zumindest die theoretische Idealvorstellung. Allerdings gab es auch in der Planungstheorie Gegenmodelle, so das des „disjointed incrementalism“, nach dem lediglich unzusammenhängende Teilverbesserungen erreichbar sind; eine vermittelnde Position zeigte um 1990 Ganser mit dem Prinzip des „perspektivischen Inkrementalismus“ auf, das zwar die Begrenztheit des einzelnen Planungsansatzes einräumt, ihn aber gleichwohl in einen perspektivischen Entwicklungszug einordnet. Wurde mit der Theoriediskussion also „mehr Wissenschaft“ in der Planung propagiert, so wurde gleichzeitig auch „mehr Demokratie“ gefordert – gewiss mit bedingt durch die sich mehrenden Stadterneuerungsmaßnahmen, die weit mehr „Betroffene“ erfassten als die bis dahin vorherrschenden Neuaufbauten von Trümmergebieten oder Stadterweiterungen – und damit auch zu deutlichen Interessenkollisionen führten. 1971 wurde nach mehreren Anläufen das Städtebauförderungsgesetz erlassen, das in seinem ersten Entwurf noch auf vollständigem Abbruch und Neubau im Sanierungsgebiet zielte; erst im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens wurde die Erhaltung von Gebäuden innerhalb des Gebietes als mögliches Planziel einbezogen. Die gegensätzlichen Interessen der Beteiligten führten zu kontroversen Diskussionen. Das Allgemeinwohl als gesetzlich verankertes Motiv des Planens wurde in Frage gestellt – war es nicht eher das Wohl der „Herrschenden“? Anwaltsplanung beeinflusste das Berufsverständnis der Planer – Dienstleistung nicht so sehr für das Allgemeinwohl als für „unterprivilegierte“ Gruppen. Damit wurde der politische Charakter der Planung unterstrichen. So waren die Jahre um 1970 die hohe Zeit der Theorieansprüche wie der technischen Zukunftsvisionen mehr oder minder utopischen Charakters, aber bald wurde Enttäuschung spürbar. Es zeigte sich, dass man die

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Steuerbarkeit der Entwicklung ebenso überschätzt hatte wie die rationale Erarbeitung „optimaler“ Entscheidungen; auch die Koordinierbarkeit von Verwaltungen stieß an ihr Grenzen. Im Gegenzug rückten nun „kleine Schritte“, „Reversibilität“, „flexible Planung“ in den Vordergrund; zugleich wurden die 1972 vom „Club of Rome“ erörterten „limits to growth“, die Grenzen des Wachstums, zum aktuellen Thema. Das alles trug dazu bei, dass das Interesse sich von der ungewissen Zukunft auf die Wiederentdeckung und Neubewertung der Vergangenheit verlagerte, befördert durch Veranstaltungen und Veröffentlichungen der UNESCO und des ICOMOS (International Council for Monuments and Sites). So fand das „Europäische Denkmalschutzjahr“ 1975 mit der griffigen Parole „A Future for our Past“ viel Resonanz und löste eine Fülle von Aktivitäten aus – wie den weitgespannten Bundeswettbewerb „Stadtgestalt und Denkmalschutz im Städtebau“, an dem sich zahlreiche Städte beteiligten. Neben das verstärkte Bemühen um die Bewahrung historischen Bestandes trat bald auch der Wiederaufbau kriegszerstörter Baudenkmale, selbst wenn dafür Nachkriegsbauten abgerissen werden mussten, wie beim Knochenhaueramtshaus in Hildesheim oder – besonders spektakulär – am Römerberg in Frankfurt. „von der Gegenwart enttäuscht und ohne Vertrauen auf das Kommende, befriedigte die Gesellschaft ihr Utopiebedürfnis durch Geschichte“ – so die knappe und treffende Bemerkung des Kunsthistorikers Huse. 4 Zugleich wurde Deregulierung propagiert – mit Thatchers Großbritannien als Vorreiter. Vielfach gingen bisher den Behörden vorbehaltene Planungsaufgaben an privatrechtliche, aber staatlich gesteuerte Institutionen über; neben die alte Abkürzung NGO – für „nongovernmental organisation“ – trat die „Quango“ – die „quasi non-governmental organisation“. Ein gutes Beispiel für die Veränderung der Wertmaßstäbe bot 1978 die Internationale Bauausstellung in Berlin, die „IBA“ mit den zwei Schwerpunkten der Neuplanung und der Wiederbelebung von meist gründerzeitlichen Altbaugebieten. Schon die „IBA Neu“ zielte mehr auf die Einfügung neuen Bestandes in das Stadtgefüge als auf radikale Neustrukturierung, wie sie zwei Jahrzehnte zuvor auf der „Interbau“ vor4

Huse, N. Denkmalschutz, in: Sieverts, Th. (Hrsg.): Zukunftsaufgaben der Stadtplanung, Düsseldorf 1990, S. 87.

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geführt worden war. Noch deutlicher war der Schwerpunktwechsel bei der „IBA Alt“: war bisher Stadterneuerung fast immer mit einer Auflösung der alten Blockstruktur einhergegangen, so richteten sich jetzt die Sanierungsmaßnahmen auf deren weitgehende Erhaltung, wenn auch meist unter Abbruch der einengenden Hinterhäuser; bei einigen weiträumigeren Blöcken mit großen Höfen konnten jedoch auch Rückgebäude erhalten werden. Die Wortprägung „behutsame Stadterneuerung“ kennzeichnet die neue Zielvorstellung. Angesichts dieser Entwicklung musste das Zusammenwirken der Stadtplanung mit den „Betroffenen“ an Bedeutung gewinnen; die stärkere Betonung der Bürgerbeteiligung wie auch die neue Institution der „öffentlich-privaten Partnerschaft“ sind Belege für diese Entwicklungstendenz. Auch das neue Rechtsgebilde des „städtebaulichen Vertrages“ zwischen der Gemeinde und einem privaten Entwicklungsträger erwuchs aus dem Streben nach solcher arbeitsteiligen Zusammenarbeit. Kennzeichnend für die achtziger Jahre war auch die wachsende Einsicht in die Gefährdung der natürlichen Ressourcen und der Umweltqualität bis hin zum bedrohlichen Klimawandel – Folgen des Umgangs der Industriegesellschaft mit ihren Rohstoffen und mit den Rückständen der Produktions- und Konsumprozesse. Zudem verstärkte sich die Kritik am fortgesetzten „Landschaftsverbrauch“ für Siedlung und Verkehr. Das neue Zielbild einer nachhaltigen Entwicklung begann die Diskussionen zu beherrschen und auch auf die Praxis einzuwirken; demgegenüber verblassten die bisherigen konkreten Zielvorstellungen für die Stadtstruktur – auch die „Stadt der kurzen Wege“ blieb Schlagwort ohne schlüssiges Modell. Neue Akzente setzte die Wiedervereinigung im Jahre 1990; die in der DDR lange vernachlässigten Altbaubestände erfuhren eine Neubewertung und wurden in großem Umfang instandgesetzt; Dresden bietet ein Musterbeispiel dafür. Aber sehr bald mussten die Hoffnungen auf eine umfassende Wiederbelebung solcher Stadtbereiche revidiert werden, weil infolge der Schrumpfung der Bevölkerung in vielen Städten die Nachfrage ausblieb. Stattdessen waren – und sind weiterhin – Konzepte für den Umgang mit Leerstand und für eine städtebaulich sinnvolle Reduzierung des Gebäudebestandes gefragt. Einen weiteren Grund zur Sorge bot in einigen Großstädten die zunehmende Differenzierung der Bewohnerschaft in ethnischer und sozia-

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ler Hinsicht, die häufig zu sozialen Spannungen führte. Ihnen wird seit 1990 mit dem Programm „Die soziale Stadt“ begegnet; es zielt auf eine integrierte Förderung der „Stadt- und Ortsteile mit besonderem Entwicklungsbedarf“ durch ressortübergreifende Zusammenarbeit auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Geht man der Frage nach, ob es heute ein Leitbild der Stadtentwicklung gebe, so fällt die Antwort schwer. Wie für die „Stadt der kurzen Wege“, so lassen sich für „Funktionsmischung“ oder „Vernetzung“ oder auch für das in den letzten Jahren besonders hervorgehobene Ziel der „Baukultur“ kaum diagrammatische Modellbilder entwickeln, wie sie in der ersten Jahrhunderthälfte gängig waren und als Grundmuster für konkrete Planungen dienten. Diese Situation ist wohl auch mit bedingt durch einen tiefgreifenden Wandel in den Zukunftserwartungen für die Stadtentwicklung. Im zwanzigsten Jahrhundert war die Stadtplanung drauf konzentriert, einen geeigneten Rahmen für die Unterbringung einer wachsenden Bevölkerung und Wirtschaft – und für deren steigende Verkehrsansprüche – zu entwickeln. Nun steht sie vor der neuen Aufgabe, ordnend auf die Folgen der Schrumpfung einzuwirken. Offensichtlich kann es hier kein generelles Schema, kein allgemein anwendbares Modell geben. Wohl wird man Erfahrungen über Vorgehensweisen und deren Auswirkungen auszutauschen und daraus lernen können, aber jede spezifische örtliche Situation wird eine individuelle, auf ihre Besonderheiten zugeschnittene Lösung erfordern. Sie zu finden und umzusetzen, ist die zentrale Herausforderung der Stadtplanung im frühen 21. Jahrhundert