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German Pages 182 Year 2020
George-Jahrbuch 13 (2020/2021)
George-Jahrbuch Band 13 (2020/2021)
Im Auftrag der Stefan-George-Gesellschaft
herausgegeben von Kai Kauffmann und Cornelia Ortlieb
De Gruyter
Redaktionelle Mitarbeit: Florian Stühlmeyer
Das George-Jahrbuch erscheint im Abstand von jeweils zwei Jahren. Es veröffentlicht Originalbeiträge in deutscher, in Ausnahmefällen auch in englischer und französischer Sprache. Ein Merkblatt zur Manuskriptgestaltung kann bei den Herausgebern angefordert werden. Die Beiträger werden gebeten, ihre Manuskripte inklusive Datenträger satzfertig an die Herausgeber einzusenden und Änderungen in den Korrekturfahnen nach Möglichkeit zu vermeiden, da der Verlag die durch die Autorkorrekturen verursachten Mehrkosten nur im beschränkten Maß trägt. Honorare können nicht gezahlt werden. Beiträger erhalten einen elektronische Sonderdruck ihres Beitrags und ein Exemplar des Jahrbuchs. Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird keine Haftung übernommen. Für die hier veröffentlichten Aufsätze hat § 4 UrhRG Gültigkeit. Rezensionsexemplare werden an die Herausgeber erbeten.
ISBN 978-3-11-068761-3 ISBN (PDF) 978-3-11-069700-1 ISBN (EPUB) 978-3-11-069704-9 ISSN 1430-2519 Library of Congress Control Number: 2020935898 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Aufsätze Carola Groppe Freundschaften mit Auftrag und Gefährdung: Im George-Kreis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Kai Kauffmann ‚Soll nun der mund sich klagend öffnen‘? Dichtung als Kommunikationsmedium im Verhältnis zwischen George und Hofmannsthal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Jörg Schuster ‚Lebendige Schrift‘? Medium, Inspiration und Kollaboration bei Stefan George, Hugo von Hofmannsthal und Harry Graf Kessler. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Cornelia Ortlieb Verbundene im neuen Land. George, Hofmannsthal und der europäische Symbolismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Kay Ehling ‚Purpurnes weinlaub im haare‘ – Eine biographische Notiz zu Stefan George als Weintrinker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Dokumentation Wolfgang Braungart Stefan George: Leben, Werk, Forschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Jan Andres Das Castrum Peregrini und der George-Kreis – eine Differenzierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 https://doi.org/10.1515/9783110697001-201
VI
Inhalt
Kai Kauffmann Worüber reden wir im Falle von Stefan George eigentlich: über Homosexualität, über Päderastie, über Pädophilie, über sexuellen Missbrauch oder über sexualisierte Dichtkunst?. 129 R eze nsion e n Stefan George: „Von Kultur und Göttern reden“. Aus dem Nachlass. Ergänzungen zu Georges „Sämtlichen Werken“. Im Auftrag der Stefan George Stiftung hg. von Ute Oelmann (Jørgen Sneis) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Jürgen Egyptien (Hg.): Stefan George – Werkkommentar (Jan Andres). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Franziska Walter: Meisterhaftes Übersetzen. Stefan Georges Übersetzung der Sonette Shakespeares (Gabriele von Bassermann-Jordan). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Thomas Karlauf: Porträt eines Attentäters (Gunilla Eschenbach).. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Aus der Stefan-George-Gesellschaft Gabriele von Bassermann-Jordan Nachrichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Kai Kauffmann Nachruf auf Prof. Dr. Bernhard Böschenstein . . . . . . . . . . . . . . 167 Stefan-George-Gesellschaft e.V. Bingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger. . . . . . . . . . . . . . 172
Vorwort
Den 150. Geburtstag des Dichters am 12. Juli 2018 wollten die StefanGeorge-Gesellschaft und die Stadt Bingen mit einer kleinen Festveranstaltung feiern. Ein vorab von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung veröffentlichter Artikel, in dem Julia Encke über mehrfach bezeugte Fälle sexuellen Missbrauchs im Amsterdamer ‚Castrum Peregrini‘ berichtete und per Analogie über eine ähnliche Praxis im Kreis um Stefan George spekulierte, führte jedoch zur kurzfristigen Absage der Feier durch den Binger Oberbürgermeister Thomas Feser. Stattdessen veranstaltete die Stefan-George-Gesellschaft an diesem Tag eine öffentliche Podiumsdiskussion mit einleitenden Stellungnahmen der Literaturwissenschaftler Wolfgang Braungart – damals Vorsitzender der Gesellschaft – Jan Andres und Kai Kauffmann. In den Statements wurde einerseits der bisherige Stand des Wissens festgehalten, dass nämlich keine Belege für sexuellen Missbrauch im Kreis um Stefan George bekannt sind. Andererseits wurde angesichts der Brisanz des Themas die Notwendigkeit einer breiteren und tieferen Erforschung, etwa durch die Auswertung der Nachlässe von Mitgliedern des GeorgeKreises, betont. Dazu ruft auch die Redaktion des George-Jahrbuchs auf. Die vorliegende Nummer des Jahrbuchs enthält nicht nur die drei einleitenden Statements der Podiumsveranstaltung, sondern auch einen grundlegenden Aufsatz von Carola Groppe zu Konzepten und Praktiken der Freundschaft im George-Kreis. Damit soll eine weitergehende Forschungsdiskussion angeregt werden. Auch in den folgenden Nummern des George-Jahrbuchs werden Beiträge zu dem für die offene Frage des möglichen Missbrauchs einschlägigen Themen- und Problemkomplex der Sozialbeziehungen zwischen ‚Meister‘ und ‚Jüngern‘, des Eros, der Sexualität und der Pädagogik im George-Kreis willkommen sein. Der zweite Themenschwerpunkt der vorliegenden Nummer geht auf die Tagung der Stefan-George-Gesellschaft im November 2018 zurück. Die Aufsätze von Jörg Schuster, Cornelia Ortlieb und Kai Kauffmann beleuchten aus unterschiedlichen Perspektiven das seit ihrem ersten Treffen an der Jahreswende 1891/92 spannungsreiche Verhältnis der Dichter Stefan George und Hugo von Hofmannsthal. Dabei kommen https://doi.org/10.1515/9783110697001-202
VIII
Vorwort
nicht allein biographisch die menschlichen Schwierigkeiten zwischen den beiden Personen in den Blick. Vielmehr werden darüber hinaus indirekte Kommunikationsformen der Literatur und der Beziehungsraum kultureller Korrespondenzen, in dem sich die Dichtungen des Symbolismus sowohl materiell als auch semiotisch bewegen, als wichtige Charakterzüge einer künstlerisch avancierten Poetik um 1900 deutlich. Mit dem aktuellen Band wechselt das Herausgeberteam des George-Handbuchs. Seit der Gründung im Jahre 1996 haben Wolfgang Braungart und Ute Oelmann das Jahrbuch zu einem international renommierten Organ der George-Forschung gemacht, das, ohne umgekehrt die ästhetische Faktur der Dichtung zu vernachlässigen, für kulturwissenschaftliche Fragestellungen unterschiedlicher Art offen war und ist. Über die wechselnden Themenschwerpunkte der Bände ist es ihnen so gut gelungen, Georges Werke mit den verschiedenen Künsten, aber auch der Religion oder der Philosophie um 1900 in Beziehung zu setzen, dass das Jahrbuch zugleich als eines der wichtigen Organe der Forschung zur Jahrhundertwende gilt. Dafür sei Wolfgang Braungart und Ute Oelmann an dieser Stelle ganz herzlich gedankt. Das neue Herausgeberteam wird an der erfolgreichen Konzeption des George-Handbuchs festhalten. Allenfalls soll der Versuch einer etwas stärkeren komparatistischen Orientierung unternommen werden. So ist im Zusammenhang mit der nächsten Tagung der Stefan-George-Gesellschaft im November 2021 geplant, die literarischen Konzepte von Mehrsprachigkeit und die poetischen Praktiken des Umdichtens und Nachdichtens im europäischen Symbolismus zu einem Themenschwerpunkt des George-Jahrbuchs 14 zu machen. Wir haben uns zudem vorgenommen, besonders den Kreis der Rezensentinnen und Rezensenten zu erweitern, auch um Neuerscheinungen außerhalb des deutschen Sprachraums besser zu erfassen. Wir sind offen für das Angebot von Besprechungen, die künftig auch auf Englisch geschrieben sein dürfen. Interessierte wenden sich bitte direkt per Mail an die Herausgeber. Nach erfolgreichem Abschluss von Verhandlungen mit dem Verlag können wir an diesem Ort mitteilen, dass das George-Jahrbuch weiterhin als Print-Ausgabe bei De Gruyter erscheinen wird. Trotz einer Preiserhöhung des Verlages wollen wir auf ein hochwertig gedrucktes Buch im Interesse der Mitglieder der George-Gesellschaft und anderer Leserinnen und Leser nicht verzichten. Daneben bietet der internatio
VorwortIX
nal gut aufgestellte Wissenschaftsverlag De Gruyter den Vorteil, dass die E-Book-Version des George-Jahrbuchs weltweit in den Bibliotheken leicht zugänglich sein wird. Zum Schluss haben wir die angenehme Pflicht, der Geschäftsführerin der Stefan-George-Gesellschaft, Frau Dr. Gabriele Bassermann-Jordan, zu danken, und zwar nicht nur, aber auch für die Organisation der Veranstaltungen, aus denen die meisten Beiträge dieses Jahrbuchs hervorgegangen sind. Gedankt sei auch Florian Stühlmeyer, der als studentische Hilfskraft die Beiträge äußerst sorgfältig redigiert hat, sowie allen an der Herstellung des Jahrbuchs beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags De Gruyter. Kai Kauffmann, Bielefeld, Im Frühjahr 2020 und Cornelia Ortlieb, Berlin
Aufsätze Carola Groppe
Freundschaften mit Auftrag und Gefährdung: Im George-Kreis1 I. Einleitung Die Rede und die Praxis der Freundschaft waren im Kreis um Stefan George von Beginn an mit Sinndeutungen verbunden, die über die Beziehungen der Beteiligten hinausreichten. Freundschaften waren von Stefan George bereits in den Jahren vor der Jahrhundertwende, in denen er ausschließlich als Dichter in Erscheinung getreten war, intensiv gepflegt und von ihm mit weitreichenden Bedeutungen für die Literaturgeschichte versehen worden, zum Beispiel die Freundschaft mit Hugo von Hofmannsthal bis zum dramatischen Zerwürfnis mit diesem 1892. Aber Freundschaften waren insbesondere das konstituierende Moment des eigentlichen George-Kreises, welcher sich nach der Jahrhundertwende aus Studenten und jungen Akademikern (Doktoranden und Habilitanden der Geistes- und Sozialwissenschaften an den Universitäten sowie angehende Juristen und Ökonomen) zu bilden begann. In den folgenden Ausführungen werden deshalb nicht nur George und sein eigenes Freundesnetzwerk, sondern auch einige Kreismitglieder und die von ihnen gepflegte Freundschaftspraxis untersucht. Die Analyse setzt nach der Jahrhundertwende ein, d. h. in den Jahren, in denen sich der George-Kreis entwickelte, welcher in zeitlichem Abstand zu dem Dichterkreis um Georges Zeitschrift ‚Blätter für die Kunst‘ entstand und auch nur wenige persönliche Überschneidungen mit diesem aufwies.
1 Der
Beitrag ist erschienen in Andree Michaelis-König / Erik Schilling (Hg.): Poetik und Praxis der Freundschaft (1800–1933), Heidelberg 2019, S. 183–202. Er wird hier abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und des Universitätsverlags Winter GmbH Heidelberg. Er wurde in den Abschnitten 3–5 um wenige Sätze ergänzt; außerdem wurde der 2020 erschienene Briefwechsel zwischen Stefan George und Ernst Morwitz als Quelle eingearbeitet.
https://doi.org/10.1515/9783110697001-001
2
Carola Groppe
Der vorliegende Beitrag verfährt induktiv. Er geht den textlichen Äußerungen der Protagonisten über Freundschaft und ihre Bedeutung in wissenschaftlichen Abhandlungen und Briefen nach und entwickelt daraus die im Kreis kommunizierten und die für die Öffentlichkeit bestimmten Freundschaftskonzepte. Soweit möglich, werden nicht nur deren textliche Präsentationen, sondern auch konkrete Freundschaftspraktiken ermittelt, insbesondere durch die Heranziehung von Briefen. Diskutiert wird im Folgenden auch, da es sich so gut wie ausschließlich um mann-männliche Freundschaften handelte, welche Einschließungen und Abgrenzungen gegenüber dem Gefühl der Liebe und gegenüber Homoerotik und Homosexualität in Briefen, Essays und wissenschaftlichen Texten aus dem Kreis vorgenommen wurden. Als Quelle nicht einbezogen werden Erinnerungstexte allgemeiner oder autobiogra phischer Natur, die für den George-Kreis reichlich vorliegen. Über die vergangenen Ereignisse, Einstellungen und Empfindungen geben Erinnerungen nichts im engeren Sinne Historisches preis. Vielmehr muss man sie lesen als historische Erzählungen und Standortbestimmungen schreibender Personen in ihrer jeweiligen Gegenwart. Sie geben also beispielsweise Aufschluss über Interpretationen des George-Kreises und über Selbstpositionierungen eines erinnernden Autors oder einer Autorin zu diesem in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs,2 nicht aber über den Kreis, seine Interaktionen und Debatten selbst, beispielsweise im Zuge von Freundschaftskonzepten und -praktiken. In den folgenden Ausführungen werden daher ausschließlich zeitgenössische Dokumente herangezogen, die im Untersuchungszeitraum, der Existenz des Kreises um Stefan George in der Zeitspanne zwischen der Jahrhundertwende und dem Tod Stefan Georges 1933,3 entstanden sind.
2 Vgl.
exemplarisch Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George. 2 Bde., Düsseldorf – München 21967. Kurt Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1965. Edgar Salin: Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis, Düsseldorf – München 21954. 3 Zur weiteren Geschichte des Kreises nach 1933 vgl. Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009.
Freundschaften mit Auftrag und Gefährdung: Im George-Kreis 3
II. Hexenhammer und Kreisbildung 1912 verbanden Friedrich Gundolf (1880–1931) und Friedrich Wolters (1876–1930), hier für den im Entstehen begriffenen George-Kreis tätig als Herausgeber des dritten Bandes des ‚Jahrbuchs für die geistige Bewegung‘, Freundschaft mit einer Kulturmission. Ihre scharfen zivilisations kritischen Invektiven gegenüber der Lebenswelt und der Gesellschaft des späten Kaiserreichs ließen dabei die Gefühls- und Lebensformen der eigenen Gemeinschaft umso bedeutender erscheinen: Wir glauben wohl dass jezt noch reste von alten substanzen erhalten sind die man noch nicht abwirtschaften konnte. […] Nach weiteren fünfzig jahren fortgesezten fortschritts werden auch diese lezten reste alter substanzen verschwunden sein, wenn es keine andern mehr als mit dem fortschrittlichen makel zur welt gekommene gibt, wenn durch verkehr, zeitung, schule, fabrik und kaserne die städtisch fortschrittliche verseuchung bis in die fernste weltecke gedrungen und die satanisch verkehrte, die Amerika-welt, die ameisenwelt sich endgültig eingerichtet hat.4
In diesem Zusammenhang verkannten Gundolf und Wolters ihren eigenen Anteil an dem Modernisierungsprozess, indem sie ihn ausschließlich als ein Problem der Lebensführung, ausgelöst durch Technisierung, Urbanisierung und Massenphänomene aller Art, interpretierten. Denn ganz offensichtlich war der George-Kreis selbst ein Phänomen dieser Moderne, nicht nur einer ästhetischen, sondern insbesondere auch einer technischen Moderne. Das begann mit der dichten kommunikativen Vernetzung des Kreises durch einen intensiven und schnellen Briefverkehr (inklusive Telegramme), der durch den raschen Ausbau der Reichspost im deutschen Kaiserreich ermöglicht wurde, reichte über das engmaschige Schienennetz der Reichsbahn, das George und die Kreismitglieder intensiv nutzten, und ging bis zur demonstrativen Abgrenzung ihrer eigenen Publikationen, insbesondere aber Georges in geringer Stückzahl erscheinenden Gedichtbänden, vom literarischen Massenmarkt und von der ‚Zeitungswelt‘. Erst in einer solchermaßen medial durchstrukturierten Öffentlichkeit konnte es überhaupt eine erfolgversprechende Publikationsstrategie der kleinen Zahl geben, durch
4 Friedrich
Gundolf / Friedrich Wolters: Einleitung der Herausgeber. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 3, 1912, S. III–VIII, hier S. VIII.
4
Carola Groppe
die ein geheimnisumwitterter Kultstatus erzeugt wurde, dessen Referenz die jederzeit verfügbaren Erzeugnisse der Massenpresse waren.5 Aber auch in Ästhetik und Wissenschaft, schließlich in Pädagogik und Lebensreform war der George-Kreis mit seinem Willen zur bewussten Neugestaltung aller dieser Felder ein Teil der Innovationsprozesse des 20. Jahrhunderts. Die Buchgestaltung und die wiedererkennbare Drucktype sowohl der Gedichtbände Georges als auch der teils essayistischen, teils wissenschaftlichen Kreisbücher, beginnend mit Friedrich Gundolfs ‚Shakespeare und der deutsche Geist‘ (1911), verwiesen in ihrer Klarheit auf eine neue Funktionalität, welche sich vor dem Ersten Weltkrieg auch in der Architektur, beispielsweise bei Peter Behrens, im Kunsthandwerk, der Kleidungsreform usw. zeigte, und in ihrer ständigen Wiederholung auf Serialität. Das „Blätter“-Signet des Bondi-Verlags, d. h. die Swastika mit der Umschrift „Blätter für die Kunst“, welches auf Georges Literaturzeitschrift ‚Blätter für die Kunst‘ (1892–1919) hinwies, sowie die seit 1921 im Verlag Ferdinand Hirt erschienenen Bücher mit dem Swastika-Signet und der Umschrift „Werke der Schau und der Forschung aus dem Kreise der Blätter für die Kunst“ zeigten ein nach gleichen Prinzipien dichtendes und schreibendes und auf die gleiche Weltanschauung verpflichtetes Kollektiv an, auch wenn der George-Kreis diesen Begriff für sich abgelehnt hätte und statt dessen den der ‚Gemeinschaft‘ beanspruchte. Parallel stellten Gundolf und Wolters in ihrer ‚Jahrbuch‘-Einleitung die Grundlagen bürgerlicher Moral infrage. Damit hatte der George-Kreis auch Anteil an den sozialen Emanzipations- und kulturellen Aufbruchsbewegungen der Jahrhundertwende (Frauenbewegung, Jugendbewegung, Arbeiterbewegung, Lebensreformbewegungen aller Art), selbst wenn er dies ebenfalls zurückwies. Ein weiterer Abschnitt aus der bereits zitierten Jahrbuchseinleitung, der unter dem Titel ‚Freundschaftskult‘ Freundschaft und Liebe zum Thema hatte, argumentierte allerdings ganz dichotomisch, die eigenen Anteile an der modernen Welt ignorierend: Ein „hexenhammerischer Gesetzesabschnitt“ (gemeint ist der Paragraph 175 des 1872 in Kraft 5 Vgl.
als Überblicksdarstellungen Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, München 1995, S. 493 ff., S. 610 ff. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 125 ff., S. 226 ff.
Freundschaften mit Auftrag und Gefährdung: Im George-Kreis 5
getretenen Strafgesetzbuchs des Deutschen Reichs, der praktizierte Homosexualität unter Gefängnisstrafe stellte) sowie die Einordnung von Homosexualität durch die Medizinalwissenschaft als rein körperlich-triebhaftes Geschehen wurden mit Erziehung, Bildung und Kultur konfrontiert. Diese bedürften alle eines nicht näher definierten Eros. Als „heroisierte liebe“ bezeichnet wurden dann im Text sowohl die mann-männliche Freundschaft als auch die Liebe zwischen zwei Männern und die zwischen Männern und Frauen, sofern sie bestimmten Kriterien genügten: Wir fragen nicht danach ob des Schillerschen Don Carlos hingabe an Posa, des Goetheschen Ferdinand an Egmont […] irgend etwas zu tun hat mit einem hexenhammerischen gesetzesabschnitt oder einer läppischen medizinischen einreihung: vielmehr haben wir immer geglaubt in diesen beziehungen ein wesentlich bildendes der ganzen deutschen kultur zu finden. Ohne diesen Eros halten wir jede erziehung für blosses geschäft oder geschwätz und damit jeden weg zu höherer kultur für versperrt. […] Es ist auch nicht ein moralisches vorurteil was heute noch die menschen gegen diese freundschaft empört, ihnen ist gleich unverständlich, im tiefsten grund widerlich die liebe des Dante zu Beatrice wie des Shakespeare zu seinem freund: es ist die abneigung des amerikanischen, pathoslos gewordenen menschen gegen jede form der heroisierten liebe. Dass wir nichts zu tun haben mit jenen keineswegs erfreulichen leuten die um die aufhebung gewisser strafbestimmungen wimmern, geht schon daraus hervor dass gerade aus solchen kreisen die widerlichsten angriffe gegen uns erfolgt sind.6
Dem Zitat lässt sich entnehmen, dass sich die Autoren der Problematik, nämlich dass eine enge Bindung und starke Emotionalität zwischen Männern für einen Großteil der Öffentlichkeit einen Homosexualitätsverdacht nahelegten, bewusst waren. Gundolf und Wolters reagierten auf eine solche Verdachtsmöglichkeit mit einer scharfen Abgrenzung nach drei Seiten: Gegenüber der Emanzipationsbewegung der Homo sexuellen, gegenüber der beginnenden Verwissenschaftlichung der Debatte über Homosexualität und gegenüber der bürgerlichen Sexualmoral. Bei genauerem Hinsehen enthält das obige Zitat nämlich keine Stellungnahme gegen praktizierte Homosexualität, sondern vielmehr eine Abwehr von deren Reduktion auf körperliches Verlangen. Dagegen sollte eine aus Sicht der Autoren banale bürgerliche Welt durch eine „heroisierte liebe“ in ihren Werten und Normen überwun 6 Gundolf / Wolters,
Einleitung der Herausgeber (Anm. 4), S. VI f.
6
Carola Groppe
den werden können. Zwischen welchen Geschlechtern sich diese entwickelte, war den ausgewählten Beispielen zufolge letztlich irrelevant. Indem die heroisierte Liebe, die im vorausstehenden Zitat nicht von intensiver Freundschaft unterschieden wurde, zur Voraussetzung von Bildung und Erziehung und zum zentralen Element der Kultur erhoben wurde, unterschieden die Autoren nicht nur soziologisch zwischen ‚Gemeinschaft und Gesellschaft‘ (vgl. das gleichnamige Werk von Ferdinand Tönnies 1887), sondern erklärten Gefühlsbindungen zur Grundlage der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte. Damit waren 1912 drei wichtige Strukturelemente des George-Kreises öffentlich festgelegt worden: einerseits seine ‚Gestalt‘ als emotional und geistig gestifteter Bund, zweitens seine ‚Sendung‘ als neuer Kulturschöpfer und -träger und drittens die Verbindung einer neuen Dichtung mit Wissenschaft und Bildung. Daraus entwickelte sich historisch eine Gemeinschaft, die gezielt um die bürgerliche und adelige Jugend in den höheren Schulen und an den Universitäten des Deutschen Reiches zu werben und ausgewählte männliche Jugendliche für den Kreis zu erziehen begann. Erst diese Selbstbeschreibungen und Praktiken zusammen ergaben die Definition eines neuen ‚Geheimen Deutschlands‘, ein Begriff, den Karl Wolfskehl in seinem Beitrag ‚Die Blätter für die Kunst und die neuste Literatur‘ im ersten ‚Jahrbuch für die geistige Bewegung‘ erstmals benutzt hatte. 1928 trug eine Gruppe von Gedichten in Georges ‚Neuem Reich‘ den Titel ‚Geheimes Deutschland‘.7 Ernst Kantorowicz (1895–1963), ordentlicher Professor für mittelalterliche Geschichte in Frankfurt am Main und (noch) deutscher Staatsbürger mit jüdischer Herkunft, hatte am 14. November 1933 seine aus politischen Gründen niederlegte Lehrtätigkeit mit einem Vortrag ‚Das Geheime Deutschland‘ wieder aufgenommen, bevor er sie nach Schikanen durch na tionalsozialistische Studenten und den NS-Staat bereits im Dezember 1933 ganz aufgab und schließlich 1934 seinen Lehrstuhl verlor. 1938 emigrierte er über Großbritannien in die USA. Kantorowicz formulierte am 14. November 1933 als gemeinsame Basis von Redner und Zuhörern den „durch nichts zu erschütternde[n] Glauben an die Unsterblichen
7 SW
= Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982 ff., hier SW IX: Das Neue Reich, Stuttgart 2001, S. 46–49.
Freundschaften mit Auftrag und Gefährdung: Im George-Kreis 7
dieses Landes und seine Verheissungen“.8 Er definierte das Geheime Deutschland anschließend als „geheime Gemeinschaft der Dichter und Weisen, der Helden und Heiligen, der Opfrer und Opfer, welche Deutschland hervorgebracht hat und die Deutschland sich dargebracht haben . . die Gemeinschaft derer, die […] allein das echte Antlitz der Deutschen erschufen“, und zum zweiten als den Kreis um den Dichter Stefan George.9 Das Geheime Deutschland war für Kantorowicz die „in Stufen und Ränge geordnete Heroenwelt des heutigen, des künftigen und des ewigen Deutschland“.10 Die Selbstcharakterisierung als Geheimes Deutschland besaß im George-Kreis dementsprechend drei Bedeutungsebenen: Erstens bedeutete sie die ‚heimliche Herrschaft‘ der Dichter und Denker über die Bildung und die Identität der deutschen Nation in jeder historischen Epoche, zweitens enthielt sie die Positionierung des Kreises als gegenwärtige geistige Akademie der Dichter und Denker, drittens bedeutete sie die Herrschaft der Dichter und Denker über die Zeiten hinweg mit ihrer Fortsetzung im George-Kreis. Die Gedichtbände Stefan Georges, die einschließlich des ‚Siebenten Rings‘ (1907) zum Zeitpunkt der Abfassung des dritten ‚Jahrbuchs für die geistige Bewegung‘ (1912) bereits vorlagen, waren geeignet, der Selbstbeschreibung als Geheimes Deutschland nicht nur ihr lyrisches Zentrum zu geben, sondern auch die Leserschaft als dessen möglichen Teil einzubeziehen, waren viele Gedichte doch in hohem Maße Ansprachen an ein imaginäres Gegenüber. Ihre Dialogizität, die dann insbesondere im ‚Stern des Bundes‘ (1914) mit kollektiven Anreden und Bezeichnungen („Ihr“, „Wir“) einher ging, war jedoch nicht nur kommunikativer Akt mit der Leserschaft, sondern richtete sich gleichermaßen an den George-Kreis selbst. Ein Teil der Faszination lag für die Leserschaft in dieser Doppelbedeutung des lyrischen Sprechens. Dies veranlasste Martin Buber, in einem Briefentwurf an den Nationalökonomen und Georgeaner Kurt Singer 1914 über den gerade erschienenen ‚Stern des Bundes‘ zu schreiben:
8 Ernst
Kantorowicz: Das Geheime Deutschland. In: Robert L. Benson / Johannes Fried (Hg.): Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung, Institute for Advanced Study, Princeton und Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt, Stuttgart 1997, S. 77–93, hier S. 77 f. 9 Ebd., S. 80. 10 Ebd.
8
Carola Groppe Es wirkt auf mich, als ob ein geheimer Orden seine Regel, die in dunklen und bedeutenden Worten gehalten ist, drucken und verkaufen ließe. […] Das Geheimnis gehört nicht vor die Ohren des Marktes? Aber dann erst recht nicht das Reden vom Geheimnis! […] man darf nicht befehlen ‚Hier schließt das Tor‘ und – den Schlüssel aus dem Schlüsselloch nehmen, damit die von draußen doch hereinschauen können. […] Hier […] wird fortwährend abgegrenzt zwischen Geweihten und Ungeweihten und die Abgrenzung proklamiert, als ob sie selbst das Geheimnis wäre, und die Proklamation in den Gassen plakatiert.11
Martin Buber übersah dabei die Strategie, dass die Käuferinnen und Käufer, Leserinnen und Leser des ‚Sterns des Bundes‘ natürlich keineswegs die „Ungeweihten“ darstellten, sondern über die Wir- und Du-Anrede in den Gedichten sich selbst zu den „Geweihten“ zählen konnten. Die in den Gedichten angelegten Grenzziehungen und ihre Aufhebung durch die auf die Leserschaft übertragbare Anrede ermöglichten es dieser, sich selbst zu positionieren, als nun Wissende und Zugehörige, forderten aber auch dazu heraus, sich gegebenenfalls davon abzugrenzen. Gedichtbände wie ‚Der Siebente Ring‘ und ‚Der Stern des Bundes‘ formulierten dezidiert Ansprüche an Leser und stellten Leitbilder des ‚hohen Lebens‘ auf. Suggestive Gedichte wie „Neuen adel den ihr suchet“ oder „Wer je die flamme umschritt“ banden die Lesergemeinschaft zu einem eigenen, imaginären ‚Stern des Bundes‘ zusammen. Die Ausgaben der George-Gedichtbände im Bondi-Verlag mit ihrer ausgeprägt individuellen, nach einmaliger Kenntnisnahme sofort als ‚georgeanisch‘ wiedererkennbaren Drucktype und Gesamtgestaltung trugen dazu ebenfalls bei. Rezipientinnen und Rezipienten wurden durch die Buchgestaltung förmlich dazu angehalten, sich in die Bücher wie in eine (Bildungs-)Bibel zu versenken.12
11 Briefentwurf
an Kurt Singer vom 7. Februar 1914. In: Martin Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. Hg. u. eingeleitet von Grete Schaeder. Bd. 1: 1897– 1918, Heidelberg 1972, S. 356 f. 12 Zugleich wurde durch die Drucktype die „Aura des Handschriftlichen“ erzeugt, die dem einzelnen Buch den „Anschein des Individuellen […] und Authentischen“ verliehen. Dieter Mettler: Stefan Georges Publikationspolitik. Buchkonzeption und verlegerisches Engagement, München – New York – London – Paris 1979, S. 44. Vgl. auch Günther Baumann: Medien und Medialität. In: Achim Aurnhammer u. a. (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Bd. 2, Berlin – Boston 2012, S. 683–712, hier S. 692 ff.
Freundschaften mit Auftrag und Gefährdung: Im George-Kreis 9
III. Grenzziehungen Der George-Kreis löste die komplexe Problematik, nämlich das Ideal intensiver Freundschaft und Liebe zwischen Männern einerseits in der Öffentlichkeit zum gemeinschaftsstiftenden Prinzip zu erklären und den mann-männlichen Eros andererseits dem Homosexualitätsverdacht zu entziehen, indem die publizierenden Kreismitglieder auf „die große Epoche der Freundschaft“13 zwischen 1750 und 1800 Bezug nahmen, die im Bewusstsein des Bürgertums als Epoche deutscher Kulturhöhe mit Herder, Goethe, Schiller und Hölderlin galt. Damit erhoben die Georgeaner nicht nur den emotional gestifteten Männerbund zum Kulturträger in der Zeit der deutschen Klassik, sondern entwickelten daraus auch ein Niedergangsargument für ihre eigene Zeit: In dem Verdacht, eine solche heroisierte, d. h. kulturstiftende, erziehende und bildende Männerliebe sei verbunden mit homosexueller Praxis (sexualisierte Gewalt gegenüber männlichen Jugendlichen war damals noch kein eigenständiges öffentliches Thema, sondern wurde meist unter Homosexualität subsumiert), erwies sich nach dieser Argumentation lediglich der Kulturverfall der Gegenwart, der sich in einer auf simple Lusterfüllung ausgerichteten, niedrigen Gesinnung des Bürgertums spiegelte.14 Liest man das Zitat im ‚Jahrbuch für die geistige Bewegung‘ jedoch genau, so ist aus ihm keine Stellungnahme gegen die Homosexualität selbst zu entnehmen, sondern eine Abwehr der Gleichsetzung von heroisierter Liebe und Homosexualität. Wie eine neu begründete, männliche
13 Vgl.
Friedrich Tenbruck: Freundschaft. Ein Beitrag zu einer Soziologie der persönlichen Beziehungen. In: Zeitschrift für Soziologie 16, 1964, S. 431–456, hier S. 436. 14 Vgl. zur Verbindung von Männlichkeit und Weiblichkeit mit Kultur bzw. Masse und Unkultur im frühen 20. Jahrhundert Klaus Theweleit: Männerphantasien. Bd. 2: Männerkörper – Zur Psychoanalyse des weißen Terrors, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 47 ff. § 175 des Strafgesetzbuchs sah im Kaiserreich und in der Weimarer Republik für Homosexualität zwischen Männern (homosexueller Verkehr zwischen Frauen wurde nicht erwähnt) ohne Nennung eines Strafmaßes eine Gefängnisstrafe vor. Für den sexuellen Verkehr sowie unzüchtige Handlungen jeder Art mit männlichen oder weiblichen Minderjährigen unter 14 Jahren sah § 176 allerdings eine Zuchthausstrafe von bis zu zehn Jahren vor, und § 174 stellte unzüchtige Handlungen mit Schülern und anderen Schutzbefohlenen unterhalb des Mündigkeitsalters mit bis zu fünf Jahren Zuchthaus unter Strafe.
10
Carola Groppe
Dichter- und Erziehungsgemeinschaft in der bürgerlichen, kulturell interessierten Öffentlichkeit bewertet werden konnte, aber auch in der entstehenden Emanzipationsbewegung der Homosexuellen und durch die neue Sexualwissenschaft, war den Herausgebern des Jahrbuchs durchaus bewusst. 1914 erschien dann im ‚Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen‘, dem Jahrbuch der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft und auch ein Publikationsorgan der Homosexuellenbewegung, ein Artikel mit dem Titel ‚Der männliche Eros im Werke Stefan Georges‘. Der Autor Peter Hamecher legte den Schwerpunkt seiner Argumentation aber nicht allein auf die Darstellung der homoerotischen Aspekte in Stefan Georges Dichtung, sondern entwickelte aus der dargestellten Homoerotik, wie der George-Kreis selbst, ein Symptom der Hochkultur: Das Verhältnis zwischen den Gliedern des Bundes nimmt jene Form innigster Liebe zum Gleichen an, der Plato für alle Zeiten Worte geliehen, ein männliches Liebesideal schaffend, das nur der niedrigste Sinn mißdeuten kann. […] [D]urch jenes Verwachsensein mit dem höchsten Wollen und Streben werden diese Erlebnisse hinausgehoben aus ihrer individuellen Bedeutung; hinter ihnen steht das Ringen um die Idee; das platonische Ideal ragt lebendig und strahlend in unsere Tage hinein, Zeiten der Verweiberung mit einem Leuchten wie aus einer untergegangenen überirdischen Welt füllend, einer Welt, in der Heroismus und Schönheit Selbstverständlichkeit sind.15
Auffallend ist, dass auch im Jahrbuch der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, die sich eine Verwissenschaftlichung des Diskurses über die Homosexualität und damit eine mögliche Emanzipation der Homosexuellen zum Ziel gesetzt hatte, die Argumentation letztlich auf eine Idealisierung und Kulturalisierung der Sexualität hinauslief. Aber auch gegenüber Bekannten und Freunden argumentierten Mitglieder des George-Kreises mit einer strikten Differenz zwischen Sexualität und kulturschaffendem Eros, wie 1910 Friedrich Gundolf gegenüber der Berliner Malerin Sabine Lepsius:
15 Peter
Hamecher: Der männliche Eros im Werke Stefan Georges. In: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 14, 1914, S. 10–23, hier S. 11 f. Ganz ähnlich betonte Otto Kiefer 1926 das Maximin-Erlebnis und die Gedichte des ‚Siebenten Rings‘ und des ‚Sterns des Bundes‘ als Darstellungen eines übergeschlechtlichen pädagogischen Eros. Vgl. Otto Kiefer: Der Eros bei Stefan George. In: Geschlecht und Gesellschaft 14, 1926, S. 301–309.
Freundschaften mit Auftrag und Gefährdung: Im George-Kreis 11 Abermals und abermals: weder unsre ‚Frauenfrage‘ noch unsre ‚Jünglingsliebe‘ hat mit Sexuellem, Emancipation, Mutterschutz, Eulenburg, § 175 usw. irgendwas zu schaffen, sondern ist ein Bemühen um die Erhaltung und Weckung weltschaffender (kosmischer) Kräfte […] Alles was heute darüber verteidigend oder beschuldigend geschwatzt wird, ist absolut falsch und ignorant, ungefähr so nah an den Gegenstand herankommend, wie wenn eine Wäscherin, ein Seifenfabrikant oder ein Stiefelputzer sich über Kants Kritik der reinen Vernunft äusserten, weil sie darin Fragen der Reinlichkeit angeschnitten fühlten […]. Genau soviel hat die ‚Liebe‘ von der wir reden mit Sexualität zu tun.16
IV. Freundschaften mit historischem Auftrag Die Beziehungen im George-Kreis wiesen eine starke Idealisierung und über die individuelle Bindung hinausgehende Bedeutungszuschreibung auf. Sowohl die Freundschaften und Liebesbeziehungen einzelner Personen zu George als auch die Zweierbeziehungen untereinander waren dort stets mehr als bloße Freundschaften oder Liebesbeziehungen. Insbesondere in den 1920er Jahren wurden Freundschaften jüngerer Kreismitglieder untereinander ein wichtiges Element des Kreises insgesamt. Zuvor, an der Jahrhundertwende, waren noch individuelle Beziehungen Georges zu jüngeren Freunden (Friedrich Gundolf (1880–1931, seit 1899), Ernst Morwitz (1887–1971, seit 1905), Robert Boehringer (1884– 1974, seit 1905)) dominant gewesen. Fast parallel kamen in den Jahren nach 1905 weitere Personen hinzu, insbesondere der Studenten- und Dozentenkreis um den Berliner Historiker Kurt Breysig (1866–1940) und seinen Schüler Friedrich Wolters (1876–1930) in Niederschönhausen bei Berlin,17 unter anderen Kurt Hildebrandt (1881–1966), Berthold Vallentin (1877–1933) und die Brüder Friedrich (1879–1939) und Wilhelm (1888–1962) Andreae. Freundschaften nicht nur mit George, sondern auch der Kreismitglieder untereinander konstituierten nach und nach den Kreis und gaben ihm seine ‚Gestalt‘. Das Gestalt-Theorem, maßgeblich durch Friedrich Wolters‘ gleichnamigen Aufsatz im zweiten ‚Jahrbuch für die geistige Bewegung‘ 16 Friedrich
Gundolf an Sabine Lepsius, 3. August 1910. In: Friedrich Gundolf: Briefe. Neue Folge. Hg. von Lothar Helbing / Claus Victor Bock, Amsterdam 1965 (= Castrum Peregrini 66–68), S. 67 f. 17 Vgl. dazu Verf.: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der GeorgeKreis 1890–1933, Köln – Weimar – Wien 1997, S. 215 ff.
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(1911) für den entstehenden Kreis und eine interessierte Öffentlichkeit formuliert, folgte einem Ganzheitspostulat, das viele Lebensreformbewegungen an der Jahrhundertwende aufwiesen, so beispielsweise die deutsche Jugendbewegung und die Reformpädagogik.18 Wahrheit (die Jugendbewegung nannte es in ihrer sogenannten Meißner-Formel „Wahrhaftigkeit“19), so eine der Grundaussagen, entsteht in Lebensformen und in gestifteten Bünden und Beziehungen, nicht im rationalen oder wissenschaftlichen Diskurs. Einheitlichkeit gehörte dazu, wie es Gundolf öffentlichkeitswirksam in seiner Heidelberger Antrittsvorlesung über ‚Hölderlins Archipelagus‘ (1911) vortrug: „Uns geht kein Leben an, das sich nicht im Werk geäußert und gestaltet hat …“20 Deshalb waren Werksgeschichte und -interpretation zugleich Darstellung des Dichters als ‚Gestalt‘, als nicht zu trennende Einheit von Werk und Biographie: [I]n der Mitte schlägt Hölderlins Herz, und Schicht um Schicht von innen nach außen lagern sich die Elemente seines Daseins […]: die Natur, das Griechentum, das Deutschtum tragen und folgen einander so in Hölderlins Leben, wie sie im Gefüge des Archipelagus einander tragen und folgen. Wir gehen diesen Schichten von außen nach innen nach, bis wir an das Herz kommen, das mit seinem Schlag und Blut das Ganze durchdringt.21
Was für die Konstruktion historischer Werk-Leben-Einheiten, also Gestalten, galt, im Kreis durchexerziert in einer Reihe sogenannter ‚Gestalt-Biographien‘ (Platon, Kaiser Friedrich II., Goethe, Napoleon, Nietzsche u. a.), galt den Georgeanern auch für die größte Gestalt ihrer eigenen Zeit, George: „In bestimmten heroen stellt sich die kultureinheit wieder her: an die stelle von gesamtkulturen treten menschen welche in sich kulturen sind und um sich her kultur schaffen […]: in ihnen wird
18 Vgl.
exemplarisch Wolfgang Keim / Ulrich Schwerdt (Hg.): Handbuch der Reformpädagogik in Deutschland (1890–1933). 2 Bde., Frankfurt a. M. 2013. Zur Jugendbewegung vgl. Verf., Die Macht der Bildung (Anm. 17), S. 341 ff. 19 Vgl. dazu kritisch Detlef K. Müller: Schulkritik und Jugendbewegung im Kaiserreich (eine Fallstudie). In: Ders. (Hg.): Pädagogik, Erziehungswissenschaft, Bildung, Köln – Weimar – Wien 1994, S. 191–222, hier S. 208 ff. 20 Friedrich Gundolf: Hölderlins Archipelagus. In: Ders.: Dem lebendigen Geist. Aus Reden, Aufsätzen und Büchern. Hg. u. ausgewählt von Dorothea Berger / Marga Frank, Heidelberg – Darmstadt 1962, S. 25–40, hier S. 26. 21 Ebd., S. 27.
Freundschaften mit Auftrag und Gefährdung: Im George-Kreis 13
das wort fleisch, das wesen gestalt.“22 Sind die großen Menschen der Antike in der Geschichtskonzeption des Kreises noch Repräsentanten eines sinnhaft geschlossenen Kulturzusammenhangs, so kommt den großen Menschen in ihrer eigenen Gegenwart des frühen 20. Jahrhunderts die Funktion einer erneuten kulturellen Synthesebildung zu. Auf diese Weise werden in den programmatischen Texten und Gestalt-Biographien des Kreises aus früheren Hochkulturen, insbesondere der griechischen Antike, zunächst Verfallsdiagnosen für die eigene Gegenwart abgeleitet. Dieser Verfall kann aber aufgehalten werden, wenn ‚große Menschen‘ (also George) eine neue Kultureinheit in ihren Zeitaltern hervorbringen. Vor diesem Hintergrund werden aus den Gestalt-Biographien zugleich Bildungsgeschichten. Gundolf hatte sich im Vorwort seiner Habilitationsschrift (1911) die Aufgabe gestellt, die Rezeption Shakespeares in Deutschland als eine „Kräftegeschichte“ zu deuten, d. h. Zeugnisse, Ideen und Personen als „Träger und Ergebnisse von Lebensbewegungen“ und diese wiederum als Sinnträger eines ‚Allgemeinen‘, einer Gestalt, zu interpretieren und darzustellen.23 Bildung ist nach Gundolf immer Bildung durch Sprache: Die Sprache jedes Volkes enthält seine Vergangenheit und umschließt seine Zukunft. […] Sie ist der in Worte gewandelte, bewußt gewordene Leib jedes Menschen, darum vor allem das Symbol dafür, daß jeder Mensch das gesamte All und seine Geschichte zur Voraussetzung hat, um gerade das einzige Individuum zu sein, das er ist. Und all das ist die Sprache als Bewegung. Nur als und durch Bewegung kann sie jede Gestalt verkörpern, versinnbildlichen. Ihre Wirklichkeit ist Bewegung, ihre Bedeutung Gestalt.24
Die höchste Aufgabe der Dichter besteht darin, aus bewegter Sprache geformte Sprach-Gestalt zu schaffen. Daher ist der Dichter in der Geschichte „im größten Umfange“ „Bewegung und Gestalt“.25 Die solchermaßen durch die Dichter geschaffenen Bildungssynthesen formen nach Gundolf historisch einen an den Wirkungsraum der jeweiligen
22 Friedrich
Gundolf: Vorbilder. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 3 (Anm. 4), S. 1–20, hier S. 8. 23 Friedrich Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist, Düsseldorf – München (1911) 111959, S. 9. 24 Ebd., S. 304. 25 Ebd.
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Dichtung gebundenen Ausdruckskanon, schaffen gemeinsame Mentalitäten und Reaktionsweisen, die in der Sprache aufgehoben sind. Auf diese Weise wurden Gestalt-Konzept und -biographie zum Projekt der Darstellung und Fortführung einer deutschen Bildungsgeschichte. Friedrich Wolters ging in seinem programmatischen ‚Gestalt‘-Aufsatz noch weiter. Er beschrieb Bildung als „bildung von körper und geist, [als] das gebärde-formende“,26 im Sinne der Erzeugung einer besonderen ‚Haltung‘: anmutige Bewegung und eine harmonische soziale Interaktion in einem Kreis von Gleichgesinnten gehörten ebenso dazu wie eigene lyrische Produktion als miteinander verbundene Teilbereiche einer „dichterischen Bildung“.27 Eine ähnliche Verbindung zwischen Innen und Außen, Körper und Geist hatte Heinrich Friedemann 1914 in seinem Buch ‚Platon. Seine Gestalt‘ gezogen und die griechische Vorstellung der kalokagathia als körperlicher, geistiger und sozialer Vorrangstellung zum anzustrebenden Ideal und den ‚schönen Leib‘ zum Beleg der schöpferischen Kraft und geistigen Entwicklungsfähigkeit der Auserwählten erklärt. Der schöne Leib (als sichtbare Verbindung von Körper und Geist) wurde aber im Kreis nicht nur die Voraussetzung zur Erziehung der Jünglinge, sondern war zugleich eine Inspiration des Dichters, der durch die Schau des schönen Leibes, in dem sich Bildung anschaulich ‚verdichten‘ ließ, einen geistigen Kosmos, eine neue „kultliche gestalt“28 hervorbringen sollte. Getragen wird die schöpferische Energie des Dichters und die Erziehungsbereitschaft und Bildungsfähigkeit der Jüngeren somit durch einen schöpferisch wirksamen und pädagogischen Eros. Dieser beschreibt nicht nur ein erzieherisches Ethos des Dichters, der das ‚geschaute‘ (nicht kritisch-reflexiv ermittelte) Wissen an liebende und verehrende Jünglinge weitergibt, sondern er bezeichnet auch die Liebe des Einzelnen zu den Ideen und zu ihrem Verkünder, dem Dichter, und gleichermaßen die Liebe der Jünglinge zueinander als „liebesring“29 um 26 Friedrich
Wolters: Gestalt. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 2, 1911, S. 137–158, hier S. 142. 27 Friedrich Wolters: Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, Berlin 1930, S. 522. 28 Heinrich Friedemann: Platon. Seine Gestalt, Berlin (1914) 21931, S. 32. 29 „Aus diesem liebesring dem nichts entfalle / Holt kraft sich jeder neue Tempeleis / Und seine eigne – grössre – schiesst in alle / Und flutet wieder rückwärts in den kreis.“ Stefan George: Der Stern des Bundes = SW VIII, S. 101.
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den Dichter. Eine solchermaßen formulierte ‚Eros‘-Lehre musste in der Gesellschaft des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik fast zwangsläufig – je nach Position des Sprechers – den negativen Verdacht oder die positive Annahme nicht nur homoerotischer, sondern aktiv homosexueller Praxis (zeitgenössisch begrifflich vermengt mit sexualisierter Gewalt gegenüber männlichen Jugendlichen) nahelegen. Nicht zuletzt stand die Eulenburg-Affäre um Homosexualität im Freundesund Beraterkreis um Kaiser Wilhelm II. (1906–1909) im Raum. Die vehemente Abwehr gegenüber dem Verdacht homosexueller Praxis (statt kulturell überhöhter Homoerotik) im dritten ‚Jahrbuch für die geistige Bewegung‘ stand im Zusammenhang öffentlicher Moralvorstellungen und der Verteidigung eigener, mit diesen nicht konformer Einstellungen und Lebensformen, welche Homosexualität (ungewiss ist, ob auch sexualisierte Gewalt gegenüber Heranwachsenden) im eigenen Kreis einschließen konnten, diese aber publizistisch in einen anderen, philosophisch-weltanschaulichen Zusammenhang zu stellen bemüht war. V. Freundschaften als Kreisfundament und Gefährdung Es erwies sich in der Praxis als schwierig, die Schönheit und anmutige Bewegung männlicher Aspiranten mit ihrer besonderen geistigen Substanz auf prüfbare Weise zu verbinden. Daher wurden eine antikisierende Körperästhetik und ein humanistisch-gymnasiales Bildungswissen an deren Stelle gesetzt. Hinzukommen sollte bei den Kreisaspiranten eine Sensibilität für Lyrik und das gebunden gesprochene Wort und möglichst eine gute Kenntnis der Georgeschen Gedichte. Ernst Morwitz schrieb 1913 über einen potentiellen Kreiskandidaten, den er begutachtet hatte: Es ist leider nichts. Ein kleiner Mensch mit stark gebogenem Rücken, Blindschleichenkopf, Stupsnase – sehr neugierig – und grossen Brillengläsern. Ist etwa 20 Jahre alt, studiert Sanskrit und wollte Dich sehen um aus Deiner Geste Klarheit über Deine Lehre zu bekommen. […] Ich glaube, sein Vater ist eben geadelt worden. Der körperliche Zustand ist jedenfalls unterdurchschnittlich. […] ich halte Neugierde für ein wesentliches von ihm verbunden mit einer ⸢der⸣ religiösen Sehnsucht ⸢der Zeit⸣, die ihn auch zum indischen getrieben hat […] Ich halte ihn für anständig – aber unkünstlerisch ⸢sehr substanzlos⸣ […] ⸢und ohne angeborenes Wissen⸣.30
30 Ernst
Morwitz an Stefan George, 20. Juni 1913. In: Stefan George / Ernst Mor-
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Friedrich Gundolf hatte 1912 mit ähnlichen Kriterien über den Kandidaten Balduin von Waldhausen (1893–1920) geurteilt: Er ist ein netter feiner wacher und nobler Junge, 19 Jahre alt, im ersten Semester, klassische Philologie, Offizierssohn, aus Mainz gebürtig, wohnhaft in Steglitz, seit zwei Jahren mit den Blättern bekannt, besitzt deine meisten Erstausgaben […]. 31
Bürgerlicher oder adeliger Familienhintergrund, eine entsprechende Erziehung und höhere Schulbildung, erste universitäre Semester und genuines Interesse und Kenntnis der Georgeschen Lyrik reichten aus, um für die Georgeaner eine potentielle innere ‚Substanz‘ der Jugendlichen nahezulegen und sie einer Prüfung zu unterziehen. Die mehrstufigen Prüfungsvorgänge, welche bei positiven Ergebnissen mit einer Vorstellung bei George und dann möglicherweise mit einer Zugehörigkeit zum Kreis endeten, wurden zudem getragen durch ein neues institutionelles Milieu, das der George-Kreis zunehmend für sich entdeckte: die deutschen Universitäten. Wenn Kreisaspiranten nicht schon im Kindesalter durch eines der älteren Kreismitglieder, insbesondere durch Ernst Morwitz,32 erzogen und auf den Kreis vorbereitet worden witz: Briefwechsel (1905–1933). Hg. von Ute Oelmann / Verf., Berlin – Boston 2020, S. 195 f. 31 Friedrich Gundolf an Stefan George, 4. März 1912. In: Stefan George / Friedrich Gundolf: Briefwechsel. Hg. von Robert Boehringer / Georg Peter Landmann, Düsseldorf – München 1962, S. 242. 32 Zu Ernst Morwitz als Erzieher im George-Kreis vgl. Verf., Die Macht der Bildung (Anm. 17), S. 412 ff. Aus heutiger Sicht wirken viele Beschreibungen, die Morwitz George über schöne Knaben mitteilte, pädophil. Vgl. dazu die zitierten Briefstellen bei Verf., Die Macht der Bildung (Anm. 17), S. 446 ff., Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007, S. 365 ff. sowie neuerdings die Edition des Briefwechsels zwischen Stefan George und Ernst Morwitz durch Ute Oelmann und Verf., George / Morwitz, Briefwechsel (wie Anm. 30). Auch wenn die Auswahl der Jungen homoerotisch und pädophil motiviert war, gibt es in den Briefwechseln aus dem George-Kreis bislang keine Hinweise auf eine sexuelle Praxis; auch kann man Georges Lyrik nicht für eine Beweisführung in Anspruch nehmen. Es muss offenbleiben, ob die Zuneigung zu schönen männlichen Kindern und Jugendlichen im Kreis zu sexualisierter Gewalt diesen gegenüber führte oder nicht. Gleichwohl waren die Ideen der schönen Jugend und ihrer Erziehung zu geistiger Reife und anmutiger Körperlichkeit geeignet, bürgerliche Moralvorstellungen leichter zu überschreiten. Hier konnten innerhalb und außerhalb des Kreises unter Bezugnahme auf George Legitimierungen von sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern und Ju-
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waren, waren es die als Professoren an deutschen Universitäten wirkenden Hochschullehrer des Kreises, welche in ihrem Umfeld mögliche Kandidaten ansprachen bzw. durch ihre Existenz als Kreismitglieder eine Faszination für Studenten ausübten. So war es häufig der Übergang vom Gymnasium an die Universität, also eine Phase der Neuorientierung, in deren Rahmen die an den Universitäten lehrenden Mitglieder des George-Kreises die Suche männlicher Jugendlicher nach neuen Freundesgemeinschaften nutzen konnten.33 Dichtung, Wissenschaft, Erziehung und Bildung gingen in der Kreispraxis eine enge Verbindung ein.34 Deren gemeinsame Reform und Erneuerung im und durch den Kreis war ein die Mitglieder erhebender und inspirierender, manchmal aber auch belastender Anspruch. Zugleich war aus einer – wie noch um 1900 – nach gemeinsamen ästhetischen Prinzipien dichtenden und arbeitenden Künstlergemeinschaft nach dem Ersten Weltkrieg ein Kreis etablierter Universitätsprofessoren, höherer Beamter und akademischer Freiberufler geworden, deren Leben, und dies war entscheidend für die weitere Entwicklung des Kreises, nicht allein durch die Dichtung bestimmt wurde, sondern ebenso sehr durch innerwissenschaftliche Kommunikation, Universitätsangelegenheiten, Richterämter, das Führen einer Arztpraxis usw., d. h. durch bürgerliche Berufsarbeit. Bildung durch Kunst und Wissenschaft war in diesem Zusammenhang zugleich ein spezifisch deutsches, um die Jahrhundertwende 1800 entstandenes Konzept, in dessen Tradition sich gendlichen entstehen, ebenso wie dies unter anderen weltanschaulichen Vorzeichen in reformpädagogischen Schulen der Zeit geschah (z. B. in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf unter ihrem Schulleiter Gustav Wyneken, der 1921 wegen sexuellen Missbrauchs von Schülern verurteilt wurde). Vgl. zu diesem Gesamtkomplex jetzt ausführlich die Einleitung der Verf. und Ute Oelmann zum Briefwechsel zwischen Stefan George und Ernst Morwitz (wie Anm. 30), S. 1–58, hier S. 27–33, S. 40–46. Unter der Perspektive ‚Freundschaft‘ können die Beziehungen zwischen Erziehern und männlichen Kindern und Jugend lichen im Kreis jedoch nicht adäquat analysiert werden. Die Zöglinge firmierten dort hierarchisch als „Kinder“ und zu Erziehende (vgl. Verf., Die Macht der Bildung [Anm. 17], S. 450). 33 Vgl. Hans Norbert Fügen: Der George-Kreis in der „dritten Generation“. In: Wolfgang Rothe (Hg.): Die deutsche Literatur in der Weimarer Republik, Stuttgart 1974, S. 334–358, hier S. 336 ff. 34 Vgl. zu den Universitäten als Rekrutierungsmilieu des George-Kreises Verf., Die Macht der Bildung (Anm. 17), S. 268 ff.
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der George-Kreis stellen konnte und es mit seiner Praxis auch tat. Wie bürgerlich die Anforderungen an die Kreisaspiranten und jungen Kreismitglieder waren, zeigte sich in den Grundanforderungen Georges: Das Erreichen des Abiturs, eines Universitätsabschlusses sowie später eines erfolgreichen Berufseintritts und einer entsprechenden Berufskarriere waren für ihn Teilziele der Kreiserziehung und Kreisexistenz.35 Dabei wurde zwar zwischen einem Leben im Kreis und dem bürgerlichen Leben unterschieden, aber sie hingen so eng zusammen, dass Divergenzen zwischen beiden nicht vorkommen durften. Das Versagen Percy Gotheins (1896–1944), eine bürgerliche Lebensform zu entwickeln und zu praktizieren (er scheiterte mehrmals an wissenschaftlichen Anforderungen), führte zu seinem Kreisausschluss; Grund dafür war nicht allein seine offen gelebte Homo-sexualität.36 Je mehr Jugendliche und junge Männer zum Kreis fanden, umso stärker bedurfte dieser einer Struktur, welche ihn als soziale Formation festigte. Neben George als charismatischer Mitte, auf die der gesamte Kreis hin geordnet war,37 und der Einteilung in Kreisfiliationen mit Mentoren und in Kreisorte38 waren es die Freundschaften untereinander, welche dem Kreis eine innere Stabilität verschaffen sollten. Darüber hinaus wäre der Kreis ohne diese Freundschaften, die insbesondere die sogenannte dritte, um die Jahrhundertwende geborene Kreisgeneration, die überwiegend erst nach dem Ersten Weltkrieg zu George kam, strukturell kennzeichneten, als Kreis, also als in sich geschlossene Formation und nicht als einzeln auf George bezogene Jüngerschaft, nach außen nur schwer darstellbar gewesen. Binäre Freundschaftsbindungen wurden in den zwanziger Jahren daher insbesondere zu einem „neuen Strukturelement für die dritte Generation“ des George-Kreises.39 Hatte es auch vorher schon Freundes35 Vgl.
dazu Verf.: Bürgerliche Lebensführung im Zeichen der Balance. Funk tionen und Ideale der Bildung in Theorie und Praxis des George-Kreises in der Weimarer Republik. In: Roman Köster u. a. (Hg.): Das Ideal des schönen Lebens und die Wirklichkeit der Weimarer Republik. Vorstellungen von Staat und Gemeinschaft im George-Kreis, Berlin 2009, S. 137–150. 36 Vgl. Stephan Schlak: Percy Gothein. In: Stefan George und sein Kreis 3 (Anm. 12), S. 1387–1390. 37 Vgl. Karlauf, Stefan George (Anm. 32). 38 Vgl. Verf., Die Macht der Bildung (Anm. 17), S. 561 ff. 39 Fügen, Der George-Kreis in der „dritten Generation“ (Anm. 33), S. 345.
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paare im Kreis gegeben, so wurde die kreisinterne ‚Institutionalisierung‘ von Zweierfreundschaften in den 1920er Jahren – Johann Anton und Max Kommerell, Woldemar Uxkull-Gyllenband und Ernst Kantorowicz, Alexander von Stauffenberg und Woldemar Uxkull-Gyllenband, das Brüderpaar von Bothmer u. a. – zu einem wichtigen Prinzip, mit dem – durch einen Mentor betreut – auch eine gegenseitige Erziehung der Jünglinge einhergehen sollte. Max Kommerell (1902–1944) beschrieb 1921 die emotionale Dimension des neuen Strukturelements anhand des Marburger Kreises um Friedrich Wolters, dem er selbst als Student angehörte: Ewald [Vollhard] ist mir ein sehr brüderlicher freund geworden, er kam sehr gekräftigt und gereinigt wieder und ich kann nun mit ganzer wahrheit mit ihm sein wie er mit mir. Auch sonst ist’s sehr schön und wir bilden zu fünfen durch das so völlig entgegengesetzte der naturen ein kleines Universum. Hans Anton, der wiener, ist mir sehr lieb […] und [Walter] Elze [ist] ein sehr besorgter und zarter mentor.40
1925 hielt Ernst Morwitz gegenüber George dezidiert fest: „Die neuere Form der Erziehung ist Coeducation, durch die zu Erziehenden unter einander – bei ganz jungen Wesen wohl die einzige Möglichkeit jetzt.“41 Coeducation hieß, dass der jeweilige Freund auch Aufgaben des älteren Kreismentors in dessen Abwesenheit übernahm. Über die Lebenspraxis in diesen Jugendgemeinschaften und über ihre Interaktion mit den Mentoren geben die Briefe von Ernst Morwitz an George recht ausführlich Auskunft: Gestern abend las ich Paul [Neffe von Ernst Morwitz] ein Privatissimum über Bedeutung der Gedichte, er zog – nachdem noch Ludwig [Thormaehlen] kurz hinzugekommen war – befriedigt nach Hause. Fritz hat weiter seinen Kummer, ich tröste soviel Verstand vermag. […] Du fehlst uns – jeder vergräbt sich in Arbeit, um die Stunden hinzubringen und sind zwei zusammen, so reden sie
40 Max
Kommerell an Jul Strebel, 10. November 1921. In: Inge Jens (Hg.): Max Kommerell. Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944. Aus dem Nachlass, Olten – Freiburg im Breisgau 1967, S. 106 f. 41 Ernst Morwitz an Stefan George, 18. Januar 1925. In: George / Morwitz, Briefwechsel (wie Anm. 30), S. 410 f. Ernst Morwitz berichtete George regelmäßig über die jugendlichen Freundespaare in seinem Erziehungsumfeld: „S. und B. sind bewundernswert, besonders B., der so viel an S. gibt und trotzdem in jedem Augenblick seine eigene Haltung ungezwungen wahrt.“ 26. Dezember 1926. In: ebd., S. 446.
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von Dir.42 Alle aber versuchen zu dichten und Dir wünsch ich Glück zur Arbeit am Ende dieses schweren, wechselvollen und noch nicht ausdeutbaren Jahres […].43
Innerhalb solcher Gemeinschaften war George ständig anwesend – durch gemeinschaftliches Lesen, durch Gespräche und durch das eigene Dichten. Typisch für die Jünglingsfreundschaften im Kreis waren auch die schwärmerischen Briefe, die diese aneinander richteten, wie beispielsweise Max Kommerell und Claus von Stauffenberg (1907–1944). Letzterer schrieb an Kommerell: Geliebter! Meine gedanken sind stets um Dich – […] Ich sinne viel wie es Dir gehen mag, ob Du Dich wieder ganz erholt hast? […] Daß Du mein Maxim zu meiner Liebe und Bewunderung noch eine besondere Verehrung zum Dichter der neuen Gespräche [Kommerells ‚Gespräche aus der Zeit der deutschen Wiedergeburt‘, 1929] geweckt hast, magst Du mir zu gestehen heute erlauben, und verzeihen die ungeschickte huldigung Deines Dich ersehnenden Claus.44
Solche Briefe beschrieben aber nicht nur intensive emotionale Bindungen, sondern sie waren auch Teil kreisinterner Rollenvorgaben und Interaktionsformen, die nicht unmittelbar auf Liebesverhältnisse und sexuelle Orientierungen verweisen.45 Nicht zuletzt waren sie Inszenierungen der Kreisidee einer ‚schönen Jugend‘ in Verbindung von antiker Kultur und ‚deutscher Bildung‘, wie sie Ernst Bertram und Friedrich Gundolf ausgeführt hatten. In Ernst Bertrams ‚Nietzsche‘ (1918) wird das ‚deutsche Wesen‘ als ewiges, sich selbst nicht begrenzen könnendes 42 Die
Anspielung auf die Begegnung Christi mit den Jüngern in Emmaus ist hier kaum zufällig und belegt erneut die Bedeutung bzw. Überhöhung der Kreiszugehörigkeit, die für manches Kreismitglied einen religionsadäquaten Status erreichen konnte. Vgl. zur Bedeutung christlicher Symbolik für die Lyrik Georges und für die Kreispraxis Wolfgang Braungart: „Durch Dich, für Dich, in Deinem Zeichen“. Stefan Georges poetische Eucharistie. In: George-Jahrbuch 1, 1996/1997, S. 53–79. 43 Ernst Morwitz an Stefan George, 20. Dezember 1918. In: George / Morwitz, Briefwechsel (wie Anm. 30), S. 330 f. 44 Claus von Stauffenberg an Max Kommerell im März 1930. In: Kommerell, Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944 (Anm. 40), S. 177 f. Kommerell schrieb im gleichen Jahr an Claus von Stauffenberg: „Geliebter Claus dein Wunsch, mich zu sehen, begegnet sich mit meinem dringendsten.“ Max Kommerell an Claus von Stauffenberg, 26. September 1930, Nachlass Max Kommerell, Konvolut George, Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA). 45 Vgl. Baumann, Medien und Medialität (Anm. 12), S. 687 f.
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‚Werden‘ beschrieben. Es kann sich daher auch nicht aus sich selbst vervollkommnen. Dies sei der Grund für die Sehnsucht der Deutschen nach der griechischen Antike und ihrer Kultur, als Sehnsucht nach einer „gestalteten, bildgewordenen Welt“.46 Die griechische Antike als „Hölderlinheimat der deutschen Seele“ ist zugleich „die platonische Idee eines ‚deutscheren‘ Deutschtums. […] Werde, was du schon bist: werde Ich! – das ist der immer erneute, mystisch zweideutige Ruf des Griechischen Menschen über die Jahrtausende hinweg“.47 Die Notwendigkeit der Begrenzung, durch welche erst die Gestalt entstehen kann, erreicht die deutsche Bildung für Bertram erst durch ihre Verbindung mit der griechischen Antike; ohne diese existiert keine deutsche Bildung. Bildung ist Ordnung durch Gestalt.48 Realisiert werden kann eine solche deutsche Bildung nur durch die deutsche Jugend, die im Bildungsprozess widersprüchlicherweise aber schon vollendet ist, wie Friedrich Gundolf festhält: Deutsche Jugend […] ist eine Weltkraft, von der Jugend aller anderen Völker unterschieden, eine geistig sinnliche Urform des Menschtums derengleichen seit dem griechischen Jüngling, seit dem Tod Alexanders auf Erden nimmer erschienen ist. Nur der Grieche und der Deutsche haben das Menschtum als Jünglinge erfüllt, auf der Stufe des vollendeten Blühens, des erwachenden Geistes und des schönen Leibes. Nur bei diesen beiden Völkern ist Jugend nicht bloß Naturzustand, sondern Geist=lage. […] [N]ur bei dem Volke des Blühens und bei dem Volke des Werdens, bei den Griechen und den Deutschen war Jugend selbst geistig voll=kommen. […] Nur die Griechen und die Deutschen kennen drum auch den eigentlichen ‚Idealismus‘, den platonischen, die Schau des Geistes in der Gestalt, und den hölderlinischen, die Suche der Gestalt für den Geist.49
Die in solchen Zitaten zum Ausdruck kommende weltanschauliche Überzeichnung der Jugend, verbunden mit apodiktischen kulturellen Setzungen und pathetischen Verheißungen, hatten Folgen für die kreis internen Beziehungen. So halfen sie einerseits, die komplexe Beziehung zu George und sein erzieherisch konzipiertes Operieren mit Nähe und Distanz, autoritärer Anordnung und erklärendem, beratendem Gespräch auszubalancieren. Sie konnten auch Schutzräume gegenüber 46 Ernst
Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin (1918) 41920, S. 78. Ebd., S. 85. 48 Vgl. ebd., S. 75 ff. 49 Friedrich Gundolf: George, Berlin (1920) 21921, S. 205 f. 47
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Anforderungen Georges und der Kreiserzieher sein, wie hier 1924 im Falle der Verteidigung Woldemar von Uxkull-Gyllenbands durch Ernst Kantorowicz, mit dem er zu dieser Zeit zusammen in Heidelberg lebte: Ich kann jetzt nach dem längeren zusammensein mit ihm doch vieles noch anders sehen als vorher auch als ich jüngst darüber schrieb. Unsere ‚ehe‘ ist seit der ersten stunde wirklich absolut glücklich · Woldi ist rührend aufmerksam · lieb und herzlich wie nur je · doch macht sich der englische einfluss schon geltend […]. […] Was er braucht ist ein bischen mehr zuversicht zu jenem so schamhaft verborgnen · ein bischen glauben an seine weltwichtigkeit […]. […] Seine nächste arbeit wird seine wirkliche und ihm selbst mehr gleichende genialität nicht unter dieser bonzenmaske50 zerpresst sein lassen. Sollte das aber nicht so sein dann mache d. M. mich dafür mitverantwortlich. […] Ich wäre d. M. schon sehr dankbar für ein wort über all das – indirekt durch EM [Ernst Morwitz] oder direkt – es genügt ja eine andeutung die ich schon verstehen werde.51
Die Freundschaftsbindungen unter Gleichaltrigen konnten andere komplizierte Beziehungen im Kreis, ob zu George selbst oder zu einem der kreisinternen Mentoren, auffangen und für die Jugendlichen Identitätsprobleme ausbalancieren zwischen kreisinterner Jugendapotheose und gleichzeitiger inner- und außerkreislicher Leistungsanforderung an den Universitäten und den bürgerlich-alltäglichen Rollenanforderungen. Das Kantorowicz’sche Briefzitat besitzt aber auch die Dimension gegenseitiger Beobachtung und Kontrolle und hat, wie viele vergleichbare Briefe anderer jüngerer Kreismitglieder auch, den Charakter von Rechenschafts- und Entwicklungsberichten über den jeweiligen Freund an George. Die durch Kreisideen und Eros-Gedanken überhöhte Jünglingsfreundschaft konnte aber auch eine derartig starke Überdeterminierung der Bedeutung der Freundschaft zur Folge haben, dass Störungen des harmonischen Verhältnisses von Kreis und Freundschaft tragisch 50 Ein
‚Bonze‘ zu sein hieß im Kreis ein Universitätsprofessor zu sein, ohne die im George-Kreis damit verbundene Zielsetzung der Erziehung und Bildung der Jugend im Sinne des Kreises zu praktizieren oder auch nur zu begreifen. ‚Bonzenarbeiten‘ waren dann wissenschaftliche Arbeiten ohne die Weltanschauung des Kreises, also im Grunde alle außerhalb des George-Kreises und seiner als traditionsbildend erachteten Vorläufer. Vgl. dazu auch Eckhart Grünewald: Ernst Kantorowicz und Stefan George. Beiträge zur Biographie des Historikers bis zum Jahre 1938 und zu seinem Jugendwerk „Kaiser Friedrich der Zweite“, Wiesbaden 1982, S. 68. 51 Ernst Kantorowicz an Stefan George, 31. Oktober 1924, StGA.
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endeten,52 wie im Falle von Johann Anton (1900–1931), der sich nach der Trennung seines Freundes Max Kommerell vom Kreis im Februar 1931 das Leben nahm. Bereits 1918, wenige Monate vor dem Ende des Ersten Weltkriegs, hatten zwei junge Kreismitglieder, Bernhard von Uxkull-Gyllenband (1899–1918) und sein Freund Adalbert Cohrs (1897–1918), sich das Leben genommen. Weil für beide ein Fronteinsatz bevorstand, begingen sie, traumatisiert von bisherigen Erfahrungen und verängstigt angesichts des kommenden Kriegseinsatzes, nach einem Desertionsversuch mit anschließender Verhaftung gemeinsam Selbstmord.53 Einen 1918 verfassten Gedichtzyklus Bernhard von Uxkull-Gyllenbands, ‚Sternwandel‘ betitelt, hatte George ohne Autorennennung 1919 in der 11./12. Folge der ‚Blätter für die Kunst‘ erscheinen lassen. George selbst ließ in derselben Folge ein Zwiegespräch ‚Victor · Adalbert‘ erscheinen, in dem er die Beweggründe der Freunde zum Freitod dichterisch gestaltete, und das 1928 in Georges letztem Gedichtband ‚Das Neue Reich‘ abgedruckt wurde.54 Die Tragödie zweier traumatisierter Jugendlicher wurde dort antikisiert (als Dioskuren), gleichzeitig enthistorisiert (vom Kontext der Desertion und des technisierten Massenkriegs gelöst) und als kreisinternes Vorbild der Freundschaft und Treue idealisiert. Die Überhöhung dieser Jünglingsfreundschaft setzte Maßstäbe für die Bedeutung jugendlicher Freundschaft im Kreis. Trennungen vom Kreis waren daher für die jugendlichen Freunde ein schwerwiegendes psychisches Problem. Denn was wog schwerer: Die Treue zum Freund oder diejenige zu Meister und Kreis? Während Johann Anton diesen Konflikt nicht anders als durch Selbstmord lösen zu können geglaubt hatte, trennten sich die Brüder Stauffenberg, vor die Wahl gestellt, umgehend von Max Kom52 „Die
Widersprüchlichkeit dieser Freundschaftsauffassung ergibt sich nicht a llein aus der Instrumentalisierung durch die Gruppe, sondern liegt schon dieser voraus in der Tatsache, daß die Gruppe, d. h. Isolation und gesamtgesellschaftliche Entfremdung die Bedingungen ihrer Möglichkeit darstellen. Dieser Widerspruch muß auf katastrophale Weise eklatant werden, sobald sich Freundschaft und Kreis nicht mehr emotional decken, sondern in Konflikt geraten.“ Fügen, Der George-Kreis in der „dritten Generation“ (Anm. 33), S. 345. 53 Vgl. Eckhart Grünewald: Art. Cohrs, Adalbert und Uxkull-Gyllenband, Bernhard von. In: Stefan George und sein Kreis 3 (Anm. 12), S. 1322–1324, S. 1719– 1723. 54 George, Das Neue Reich = SW IX (Anm. 7), S. 94–96.
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Carola Groppe
merell. Anders als bei Johann Anton war bei Claus und Berthold von Stauffenberg im Kontext eigenen elitären Selbstverständnisses im Kreis und des unbedingten Glaubens an die Sendung Georges als Erneuerer des ‚schönen Lebens‘ die Frage einer abzuwägenden Entscheidung nicht aufgekommen. Claus von Stauffenberg hatte schon etwa 1924 an George geschrieben: „Und je klarer das Lebendige vor mir steht · je höher das Menschliche sich offenbart und je eindringlicher die tat sich zeigt · umso dunkler wird das eigene blut · umso ferner wird der klang eigener worte und umso seltener der sinn des eigenen lebens · wol bis eine stunde in der härte ihres schlages und in der grösse ihrer erscheinung das zeichen gebe.“55
Die Stauffenbergs schlossen sich Georges abwertender Haltung gegenüber Kommerell nach dessen Lösung vom Kreis an. Berthold von Stauffenberg schrieb: „Mein Meister: […] Gestern bekam ich das neue Krötenbuch. Es wird nun wol auch schon in Deine hände gekommen sein.“56
VI. Ausblick Eine Besonderheit des George-Kreises bestand zwischen der Jahrhundertwende und dem Tod Georges 1933 in der Aufrechterhaltung der Balance zwischen bürgerlicher Lebensführung mit Beruf und großenteils mit eigener Familie und der Mitgliedschaft im Kreis. In der Theorie sollte die Kreisexistenz die bürgerliche Existenz nicht aufheben, sondern ihr einen tieferen Sinn verleihen, d. h. zu einem auf ein sinnstiftendes Zentrum ausgerichteten Lebensentwurf führen.57 Anders als viele lebensreformerische Gruppen und Kommunen der Zeit verlangte George von den Kreismitgliedern daher nicht die Aufgabe ihrer Lebensform und Karrieren. Andererseits sollte der Kreis mit seiner internen MeisterJünger-Struktur und intensiven Briefkommunikation und Reisepraxis 55 Claus
von Stauffenberg an Stefan George o. D., Oktober 1924, StGA (Archiv datierung). 56 Berthold von Stauffenberg an Stefan George, 10. Oktober 1933, StGA (Poststempeldatierung). Nach dem Ausscheiden Kommerells aus dem Kreis nannte George diesen „die Kröte“. 57 Vgl. Verf., Bürgerliche Lebensführung im Zeichen der Balance (Anm. 35), S. 148 f.
Freundschaften mit Auftrag und Gefährdung: Im George-Kreis 25
sowie mit der Vorstellung, die gegenwärtige Inkorporation des Geheimen Deutschland zu sein, Denken und Handeln der Kreismitglieder ständig begleiten und bestimmen. Damit sollte insbesondere bei einer Universitätstätigkeit auch eine Außenwirkung erzielt werden. Ein Universitätsprofessor ohne Kreisideen und -ziele war eben nur ein ‚Bonze‘, nicht aber ein wirklich Lehrender, Forschender und Bildner der Jugend, wie ihn sich der George-Kreis vorstellte. Ohne die Inspiration durch den Kreis mussten bürgerliche Lebensführung und Alltag den Kreismitgliedern banal erscheinen. Freundschaften im Kreis bedeuteten vor diesem Hintergrund deshalb stets mehr als sie selbst. Der Freund oder die Freunde im Kreis waren der lebendige Beweis für die Realisierbarkeit der Kreisideen und waren Ansporn zu Aufgaben wie dem Verfassen von Gestalt-Biographien und eigener Lyrik oder der Gewinnung neuer Kreisaspiranten. Der Verlust dieser Sinndimension war für Kreismitglieder, welche sich gegen die Fortführung ihrer Kreisexistenz entschieden oder aus Sicht Georges nicht länger für würdig befunden worden waren, nicht nur schmerzlich, sondern führten nicht selten zu existentiellen Krisen der betroffenen Personen, aber auch bei manchen Freunden, die innerhalb des Kreises zurückblieben. Die hohe emotionale und weltanschauliche Aufladung der Freundschaft war daher nicht nur ein strukturgebendes und persönlichkeitsstabilisierendes Element im Kreis, sondern konnte auch das Gegenteil bewirken. Da die Freundschaften der Kreismitglieder untereinander in ihrer Bedeutung und Praxis an den Kreis gebunden waren, mussten sie bei Trennungen auch dort zurückgelassen werden; sie stützten immer nur die eine Seite, diejenige des Kreises. Von außen konnten die Kreisfreundschaften nur indirekt wahrgenommen werden; dennoch konstituierten sie durch ihre Kreuz- und Querverläufe innerhalb des Deutschen Reichs den Kreis zu einer sozialen Formation. Freundschaften als eine besondere Form sozialer Bindung zeichneten den Kreis also aus, waren aber in der Praxis des Kreises in ihrer Wirkung weit ambivalenter als die idealistischen Verlautbarungen der Kreisschriften es preisgaben.
Kai Kauffmann
‚Soll nun der mund sich klagend öffnen‘? Dichtung als Kommunikationsmedium im Verhältnis zwischen George und Hofmannsthal I. Zur Fragestellung1 Zwischen dem 21. und 28. Februar 1902 besuchte ein Autor, dessen Name im George-Kreis, wenn überhaupt, nur verächtlich genannt wurde, den von ihm verehrten Dichter Hugo von Hofmannsthal in dessen Haus in Rodaun bei Wien. Es war das erste persönliche Zusammentreffen der beiden Dichter. Am 22. Februar trug Rudolf Borchardt ein Gedicht in das Gästebuch ein, nämlich das: Sonnet an sich selber. Aus Sturm und Traum auffahrend, wo ich saß In einen Spiegel starrt ich lang hinein, Und wußte nicht von mir, und sah mit Pein Ein fremdes Haupt feindlich aus tiefem Glas Emporgesandt. Von finsterer Schatten Schein Die Lippe überwildert, schien etwas Dumpf hinzureden zwischen Angst und Haß – – Ich betete: ich möchte dies nicht sein! Wir sind nicht, was wir sind. Der Himmel, kaum Vom Meer sich lösend, hängt mit Dunst beschwert Und bebt von Nässe. Gieße mir noch Traum In meinen Becher, und mit Nordwind gährt Die wundervolle See, und wildem Schaum, Durch den das heilige Schiff mit Helden fährt.2
1 Der
vorliegende Beitrag geht auf einen Abendvortrag zurück, den ich auf einer Tagung der Stefan-George-Gesellschaft gehalten habe. Bei der Überarbeitung für den Druck wurde der Rededuktus teilweise beibehalten. 2 Zit. nach: Ernst Osterkamp: Plädoyer für eine kritische Neuausgabe von Rudolf Borchardts Lyrik; zugleich ein Versuch, das ‚Sonett auf sich selbst‘ zu verstehen. In: Horst Albert Glaser (Hg.): Rudolf Borchardt 1877–1945. Referate des Pisaner Colloquiums, Frankfurt am Main u. a. 1987, S. 249–277, hier S. 264.
https://doi.org/10.1515/9783110697001-002
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Kai Kauffmann
Der Literaturwissenschaftler Ernst Osterkamp, der diesem Gedicht einen Aufsatz gewidmet hat, bestimmt die Eintragung der Verse ins Gästebuch nicht nur als eine damals gebräuchliche Geste des Danks, sondern analysiert sie genauer als einen Akt der Kommunikation zwischen den beiden Dichtern: Eine Eintragung in ein Gästebuch will – in welch stilisierter Form auch immer – die Persönlichkeit des Gastes charakterisieren und zugleich dem Gastgeber eine Reverenz erweisen. Genau diese Aufgabe erfüllt das ‚Sonnet an sich selber‘ auf vorzügliche Weise […]. Hier soll also tatsächlich Borchardts Persönlichkeit in ihrer unverwechselbaren Problematik zum Ausdruck gelangen und zugleich ein sehr enger Bezug zur Gestalt Hofmannsthals hergestellt werden, der als impliziter Ideal-Leser ja ständig mitgedacht werden muß. […] Hofmannsthal dürfte zunächst einmal sensibel und vielleicht auch eitel genug gewesen sein, in dem Sonett eine Hommage auf ihn selbst zu lesen. Denn er […] mußte ja bemerken, daß in jeder Zeile dieses Gedichts auf seine eigene Motivwelt angespielt wurde. Die Spiegelmetaphern, die Schiff- und Meeresbilder, die Traummotivik, all dies durchzieht Hofmannsthals Frühwerk mit nachgerade leitmotivischer Insistenz.3
Warum komme ich zu Beginn eines Beitrags über das Verhältnis zwischen Stefan George und Hugo von Hofmannsthal auf einen anderen Autor zu sprechen? Sicherlich nicht, um zu zeigen, dass Rudolf Borchardt mehr war als ein Epigone, der sich in die Zweierkonstellation der beiden wichtigsten Lyriker des deutschsprachigen Symbolismus hineindrängte mit dem Ziel, in ihrem ‚Bunde der dritte‘ zu sein. Vielmehr ist Borchardts Eintragung in das Gästebuch ein anschauliches Beispiel dafür, wie Dichtung – auch und gerade in der Periode des Symbolismus um 1900 – als eine indirekte Form der persönlichen Kommunikation genutzt werden kann, die in starkem Maße über den Aufbau intertextueller Bezüge funktioniert. An diesem Beispiel lässt sich auch ablesen, dass die Dichtung als indirekte Form der persönlichen Mitteilung sowohl an bestimmte soziale Formen – hier der Besuch im Hause Hofmannsthals – als auch an materielle Medien der Kommunikation gekoppelt ist – in diesem Fall das Gästebuch, in anderen Fällen die Visitenkarte, das kurze Billet oder der längere Brief. Der gedruckte Gedichtband, der als persönliches Geschenk, als ‚Gabe‘, überreicht oder zugeschickt wird, gehört ebenfalls in diesen Kommunikationszusammenhang. Akte der indirekten Kommunikation können in Formen der direkten – Gespräche, Briefe – übergehen.
3 Ebd.,
S. 264–267.
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Ein solcher Übergang muss aber nicht stattfinden. Dass Hofmannsthal immer wieder das von George gewünschte mündliche Gespräch über die eigenen Dichtungen vermieden hat, ist, wie man sehen wird, ein charakteristischer Zug ihres problematischen Verhältnisses. Dichtungen, die den Status von autonomen Kunstwerken für sich beanspruchen, unter kommunikativen Aspekten zu betrachten und zu untersuchen, welche dialogischen Funktionen sie in sozialen Situationen erfüllen, ist für Literaturwissenschaftler besonders im Fall der Lyrik ungewöhnlich. Das gilt noch einmal verschärft in Bezug auf die Lyrik des Symbolismus. Die Zurückhaltung scheint gut begründet. Zwar wurde in der an Hegels Ästhetik anschließenden Gattungstheorie, die bis heute in Begriffen wie dem berühmt-berüchtigten ‚lyrischen Ich‘ nachwirkt, das lyrische Gedicht hauptsächlich als individueller Ausdruck subjektiver Empfindungen aufgefasst. Das historische Paradigma dieser Gattungsdefinition war in Deutschland das Goethesche ‚Erlebnisgedicht‘. Aber abgesehen von der in der heutigen Literaturwissenschaft vorherrschenden Skepsis gegenüber den Implikationen des Erlebnisbegriffs, lässt sich schon bei Goethes Gedichten die Herauslösung aus dem direkten Kommunikationszusammenhang, wie er in der Geselligkeitsdichtung der Empfindsamkeit noch bestand, als eine wichtige Tendenz ästhetischer Autonomisierung beobachten.4 Gedichte werden hier tatsächlich zu Formen monologischer Rede5 ohne direkten Adressaten. Noch weniger scheint der Versuch, Gedichte unter dem Aspekt persönlicher Kommunikation zu betrachten, der Lyrik der Symbolisten gerecht zu werden. Haben doch die Vorkämpfer des Symbolismus gerade
4 Zu
dieser Autonomisierung der Dichtung, die Jakob Michael Reinhold Lenz bei Goethe kritisiert hat, vgl. Verf.: „Ich schreibe Dir dieses“. Die von Lenz an Goethe adressierten Texte als radikale Formen literarischer Kommunikation. In: Alexander Honold u. a. (Hg.): Goethe als Literatur-Figur, Göttingen 2016, S. 19–56, bes. S. 20–23. 5 Dieter Lamping hat, von dem schon in antiken Gattungspoetiken entwickelten Redekriterium ausgehend, vorgeschlagen, lyrische Gedichte als ‚monologische Rede’ in Versen zu definieren. Seine Definition blendet allerdings nicht nur dialogische Formen, wie z. B. das Rollengedicht, aus, sondern nimmt auch die pragmatischen Funktionen nicht in den Blick, die Gedichte in der gesellschaftlichen Kommunikation erfüllen können. Man denke etwa an das Genre des politischen Agitationsgedichts. Vgl. Dieter Lamping: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, Göttingen 32000, S. 59 ff.
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Kai Kauffmann
die im 19. Jahrhundert dominant gewordene Auffassung bekämpft, dass der Dichter seine eigenen Empfindungen in der poetischen Sprache des Gedichts artikuliere. Im Gegenzug zu diesem Psychologismus hat etwa der Kunstphilosoph Georg Simmel in einem Aufsatz über die Gedichte Stefan Georges das umgekehrte Programm formuliert: Durch die sprachlichen Symbolismen des Gedichts sollten nur seelische ‚Stimmungen‘ allgemeiner Art evoziert werden. Diese neue, symbolistische Konzeption der Dichtung, die auch den Rückbezug auf den realen Autor und seine individuelle Persönlichkeit vehement ablehnte, spricht auf den ersten Blick entschieden dagegen, die Dichtungen Georges und Hofmannsthals als kommunikative Akte zu interpretieren. Forschungsarbeiten der letzten Jahre haben aber zeigen können, dass bereits im Frühwerk Georges, beginnend mit dem 1895 erscheinenden Band der ‚Bücher der Hirten- und Preisgedichte der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten‘, Gedichte zu einem indirekten Medium sozialer Kommunikation werden.6 Und Dieter Burdorf hat in einem gattungstheoretischen Aufsatz nicht zuletzt am Beispiel von George und Hofmannsthal auf die Beziehungen zwischen Gedicht und Brief in der Literatur der Moderne hingewiesen.7 Diese Fragestellungen sollen hier weiter ausgearbeitet werden, wobei ich bei der ersten Begegnung zwischen George und Hofmannsthal im Winter 1891/92 ansetzen muss, obwohl über ihre biographischen Umstände und katastrophalen Folgen schon so viel gesagt worden ist.8 II. Gespräch der Gedichte Ende Oktober 1891 traf George in Wien ein, möglicherweise, um sich hier nach potentiellen Beiträgern für eine von ihm geplante Literaturzeitschrift umzuschauen. Freilich verfügte er noch über keinerlei Kontakte zur literarischen Szene in Wien. Seine Zimmerwirtin machte ihn 6 Vgl.
Maurizio Pirro: Comme corda troppo tesa. Stile e ideologia in Stefan George. Macerata 2011, bes. S. 82–115. Vgl. auch Verf.: Stefan George. Eine Biogra phie, Göttingen 2014, S. 64–74. 7 Vgl. Dieter Burdorf: Lyrische Korrespondenzen. Überlegungen zum Verhältnis von Brief und Gedicht in der Literatur der Moderne. In: George-Jahrbuch 12, 2018/19, S. 99–123. 8 Vgl. ausführlich Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007, S. 9–27.
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mit der Übersetzerin Marie Herzfeld bekannt, diese wies ihn dann auf Hugo von Hofmannsthal hin, der soeben unter dem Pseudonym Loris das Versdrama ‚Gestern‘ in einer Wiener Zeitschrift (der ‚Modernen Rundschau‘) veröffentlicht hatte. Mitte Dezember kam es zum ersten Zusammentreffen der beiden Dichter im Café Griensteidl, wo sich die Autoren des ‚Jungen Wien‘ gerne versammelten. Ob an jenem Abend George direkt auf Hofmannsthal zutrat, wie dieser fast vierzig Jahre später zu berichten wusste, oder ob George eine Visitenkarte zu ihm hinüberschickte, worauf sich Hofmannsthal an seinen Tisch setzte, so eine frühere Version aus demselben Mund, lässt sich nicht feststellen. Ich für meinen Teil halte die Anbahnung über die Visitenkarte im Rahmen der gesellschaftlichen Umgangsformen dieser Zeit für wahrscheinlicher. Auf jeden Fall war Hofmannsthal von George, seiner persönlichen Erscheinung und seinen künstlerischen Anschauungen, in höchstem Maße fasziniert. Nach einer zweiten Zusammenkunft am 19. Dezember, bei der über die neue Kunstrichtung des Symbolismus gesprochen wurde, notierte er in geradezu fiebriger Erregung verschiedene Entwürfe zu einem Gedicht, Verse und Strophen, die auf einem der überlieferten Blätter unter der Überschrift ‚Einem Vorübergehenden‘ stehen. Nachdem er von George am 20. Dezember den Gedichtband ‚Hymnen‘ als Geschenk erhalten hatte, überreichte er diesem am nächsten Tag eine direkt an George adressierte Endfassung des Gedichts unter der Überschrift ‚Herrn Stefan George / einem, der vorübergeht‘. Über das Medium des Gedichts gab Hofmannsthal zu verstehen, dass er sich durch die Begegnung mit George seelisch tief berührt und zugleich poetisch stark inspiriert fühlte. Dass er auf dem überreichten Manuskriptblatt die Rechtschreibung und Interpunktion des Gedichts an das Schriftbild von Georges ‚Hymnen‘ angepasst hatte, verstärkte noch die Geste der Huldigung: Herrn Stefan George einem, der vorübergeht. du hast mich an dinge gemahnet die heimlich in mir sind du warst für die saiten der seele der nächtige flüsternde wind und wie das rätselhafte das rufen der athmenden nacht wenn draussen die wolken gleiten und man aus dem traum erwacht
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Kai Kauffmann zu weicher blauer weite die enge nähe schwillt durch pappeln vor dem monde ein leises zittern quillt Wien, im dezember 1891.9
Selbstverständlich sind von der Forschung die intertextuellen Bezüge dieser Verse auf Charles Baudelaires Poem ‚À une passante‘ erkannt worden. Jens Rieckmann hat darüber hinaus in den Entwürfen eine direkte Anspielung auf Georges Gedicht ‚Der Infant‘ aus dem Band der ‚Hymnen‘ entdeckt.10 Das ist unter anderem deswegen interessant, weil man daraus schließen kann, dass Hofmannsthal die ‚Hymnen‘ schon vor dem 20. Dezember (als ihm George das Buch schenkte) zu Gesicht bekam. Und wenn das stimmt, dann konnte er auch Georges Variation von ‚À une passante‘ in dem Gedicht ‚Von einer Begegnung‘ kennen und verarbeiten, denn dieses Gedicht findet sich ebenfalls im Band der ‚Hymnen‘. Es ist jedenfalls reizvoll, Georges Gedicht ‚Von einer Begegnung‘ als weiteren Intertext in die Betrachtung von ‚einem, der vorübergeht‘ einzubeziehen. Ein gravierender Unterschied zwischen diesen drei Texten fällt auf: Knüpfen sich bei Baudelaire die erotischen Phantasien des Dichters eindeutig an die vorübergehende Gestalt einer Frau, so bleibt das Geschlecht bei George unklar, es könnte sich genauso gut um einen Jüngling handeln. Dagegen adressiert Hofmannsthal mit seinem Gedicht unmissverständlich einen Mann, nimmt aber gleichzeitig die Erotisierung des Motivs gerade im Vergleich zu George zurück. Ich weise auf diesen Aspekt hin, weil nicht nur von Rieckmann das Gedicht ‚einem, der vorübergeht‘ als erstes Indiz für eine homoerotische Attraktion zwischen George und Hofmannsthal gedeutet wird. Dazu später mehr. George hat auf die Überreichung des Gedichts in einem Brief reagiert, der mit den Worten beginnt: Ihr schönes bekenntnis hat mich tief entzückt – nur wer bewundern kann vermag wunderbares zu schaffen. aber bleibe ich für Sie nicht mehr als ‚einer der
9 Zit.
nach: Stefan George / Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal. Hg. von Robert Boehringer, München – Düsseldorf 21953, S. 7. 10 Vgl. Jens Rieckmann: Hugo von Hofmannsthal und Stefan George. Signifikanz einer ‚Episode‘ aus der Jahrhundertwende, Tübingen – Basel 1977, S. 30.
‚Soll nun der mund sich klagend öffnen‘?33 vorübergeht‘? . . Falls ich Sie heute abend im kafe nicht träfe könnten Sie dann andern ort und andre stunde ansetzen? ich gestehe dass ich Sie in meiner provisorischen wohnung hier (Garnisonsgasse 10III) nicht gern empfangen möchte · trotzdem! besser dort als nirgends zumal ich Ihnen verschiedene schriftsachen zu zeigen oder geben versprach11
George zögerte vermutlich auch aus gesellschaftlichen Gründen, Hofmannsthal in seine eigene Wohnung einzuladen (die eigentlich nur ein Zimmer zur Untermiete war). Umgekehrt scheint es Hofmannsthal hauptsächlich darum gegangen zu sein, ein Zusammentreffen Georges mit seinen Eltern im Hause der Familie zu vermeiden. Als eine von beiden bevorzugte Verabredung im Café auch am 23. Dezember nicht zustande kam, schlug Hofmannsthal vor, George am 24. Dezember in dessen Wohnung zu besuchen, und so kam es zu einer weiteren Begegnung. Wir wissen aus nachträglichen Notizen Hofmannsthals, dass die beiden ihr Gespräch über symbolistische Dichtung an Heiligabend fortgesetzt haben. Mehr ist den Notizen nicht zu entnehmen. Und doch hat sich an diesem Tag das persönliche Verhältnis zwischen George und Hofmannsthal entscheidend verändert: Hofmannsthal muss sich zunehmend von George bedrängt gefühlt haben, in welcher Art auch immer, und dies führte dazu, dass er schon beim Abschied ankündigte, er werde über die Feiertage wegen eines Jagdausflugs der Familie nicht in Wien sein. George dürfte an dieser Behauptung gezweifelt haben, schickte er doch am 26. Dezember einen Boten zu Hofmannsthal und erinnerte ihn per Brief an das Versprechen, ihm das Buch ‚Gestern‘ zu geben. Hofmannsthal ließ den Boten warten, schrieb in das verlangte Buch die sorgsam abgewogene Widmung „Herrn Stefan George in tiefer Bewunderung seiner Kunst“ und verfasste ein kurzes Begleitschreiben, in dem er bedauerte, dass seine Abfahrt, die sich verzögert habe, jetzt unmittelbar bevorstehe, er wolle aber George möglichst bald wiedersehen. Eine erneute Ausflucht. Georges Brief an Hofmannsthal vom 26. Dezember enthielt noch etwas anderes als die insistierende Nachfrage nach dem versprochenen Exemplar von ‚Gestern‘, er enthielt nämlich auch eine Handschrift des folgenden Gedichts:
11 George
an Hofmannstahl, 22. Dezember 1891, in: George / Hofmannsthal, Briefwechsel (Anm. 9), S. 8.
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Kai Kauffmann Soll nun der mund der von des eises bruch Zum neuen reife längst erstarkt im wehe Sich klagend öffnen und nach welchem spruch Dem kinde – unterbrich mich nicht · ich flehe! Du reichst die hand · die segel wehn im porte Es geht in tollen winden auf ein riff Bedenke dich und sage sanfte worte Zum fremdling den dein weiter blick ergriff.12
Dieses Gedicht, das mit einigen signifikanten Veränderungen und ohne die Kennzeichnung des ursprünglichen Adressaten in den späteren Band ‚Das Jahr der Seele‘ aufgenommen werden sollte, ist von der Forschung vergleichsweise wenig beachtet worden. Mag sein, dass es nicht zu den ästhetisch Gelungenen gehört. Aber das ist hier nicht die Frage. Ich halte das Gedicht in unserem Zusammenhang für einen bedeutsamen Text, sowohl in biographischer als auch in poetologischer Perspektive. Er ist eine Antwort auf Hofmannsthals Verse ‚einem, der vorübergeht‘. In der ersten Strophe imaginiert oder re-imaginiert George eine Gesprächssituation, die allerdings erst im vierten Vers eine klare Kontur bekommt. Das ‚ich‘ spricht mit einem offenbar jüngeren ‚du‘, das als „kind“ apostrophiert wird. In dieser Gesprächssituation stellt das ‚ich‘ dem ‚du‘ zwei Fragen: erstens, ob es über sein Leid, das zwischen Frühjahr und Herbst angewachsen sei, klagen solle oder dürfe; und zweitens, in welcher Art und Weise des Sprechens – das meint bei George der Ausdruck „spruch“ – dies gegenüber dem „kind“ geschehen könne. Die Frage „Soll nun der mund […] Sich klagend öffnen“ signalisiert die Sorge, dass das in den Monaten zuvor nicht mögliche Aussprechen des eigenen Leids für beide Seiten eine Überforderung sein könnte. Soll das ‚ich‘ dieses Risiko eingehen? Doch seine Frage ist insofern nur rhetorisch, als die Rede des ‚ich‘ über sein Leid bereits begonnen hat, denn ansonsten könnte das ‚du‘ nicht ermahnt werden: „unterbrich mich nicht“. Auch die zweite Frage, in welcher Art und Weise das ‚ich‘ mit dem ‚du‘ über sein Leid sprechen könne, ist rhetorisch, denn das ‚ich‘ belehrt das ‚du‘, das offenbar die bereits begonnene Rede nicht 12 Ebd.,
S. 4. Vgl. SW IV, S. 70 u. S. 140. SW = Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982 ff.
‚Soll nun der mund sich klagend öffnen‘?35
angemessen aufnimmt und sie sogar unterbricht, indem der Ältere sagt „ich flehe“. Der Modus der klagenden Rede des ‚ich‘ gegenüber dem jüngeren ‚du‘ ist das inständige Flehen. Die zweite Strophe beginnt mit einer Geste, mit der das ‚du‘ sein zugewandtes, wenn nicht freundschaftliches Verhältnis zum ‚ich‘ ausdrückt: „Du reichst die hand“ (In der späteren Druckfassung hat George diesen Ausdruck einer gewissen Nähe durch ein Bild unbeteiligter Distanz ersetzt: „Du stehst am Strand“). Aber die Hand scheint dem ‚ich‘ nicht zu genügen. Das anschließende Bild des Schiffbruchs soll vor Augen führen, was mit dem ‚ich‘ passieren wird, wenn das ‚du‘ nicht „sanfte worte“ zum „fremdling“ spricht. Mit den Worten „Bedenke dich“ ergeht wieder eine Mahnung an das „kind“: Statt die klagende Rede zu unterbrechen, soll es anschließend mit tröstenden Worten antworten. Flehen und Trösten – das sollen die beiden Weisen des freundschaft lichen Sprechens sein, die asymmetrisch auf die Rolle des älteren ‚ich‘ und des jüngeren ‚du‘ verteilt werden. Soweit das Modell. Die Praxis im Gedicht selbst weicht davon ab, dominiert doch hier neben dem Modus der rhetorischen Frage der Gestus der imperativen Mahnung, der eher an das Verhältnis eines autoritären Vaters zu einem kleinen Kind erinnert: „Unterbrich mich nicht“, „Bedenke dich“. Der sensible Hofmannsthal wird diesen performativen Selbstwiderspruch des Gedichts genau wahrgenommen haben, sein innerer Widerstand dürfte dadurch verstärkt worden sein. Nun lässt sich das Gedicht sehr leicht auf die biographische Lage zurückbeziehen, in der sich George am Ende des Jahres 1891 befand. Er war in den vorangegangenen Monaten, die ihn u. a. nach Venedig, Wien, London, Paris, Berlin und wieder nach Wien geführt hatten, niemals zur Ruhe gekommen, ihn beherrschte das depressive Gefühl absoluter Einsamkeit. Die Begegnung mit Hofmannsthal ließ jedoch die Hoffnung wachsen, jemanden gefunden zu haben, der ihn als Mensch und Dichter in seinem Innersten verstehen und trösten könnte. Es bietet sich an, in der Gesprächssituation des Gedichts eine Nachbildung jener Unterhaltung am Heiligabend zu sehen: Fühlte sich George nach den ersten Treffen sicher genug, um Hofmannsthal in der Unterhaltung über eigene und fremde Gedichte auch einen tieferen Einblick in sein Seelenleben, seine Ängste und Wünsche, zu gestatten? Oder ließ er sich sogar zu zärtlichen Worten und Gesten gegenüber dem Jüngling hinreißen? Davon ist allerdings im Gedicht nicht die Rede.
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Kai Kauffmann
Ein anderer Aspekt ist für das Verständnis des Gedichts zentral. Es fügt sich nämlich genau in die Poetologie ein, die für Georges zweiten Gedichtband, die ‚Pilgerfahrten‘, grundlegend ist. Dazu gehört die Figur des einsamen Dichters, der, von Leidenschaften getrieben, als Fremdling durch die Lande reist, immer auf der Suche nach einer verwandten Seele, der er sein Leid mitteilen könnte. Dazu gehört die Modellierung der dichterischen Rede als flehende „klage“. Und dazu zählt auch die Imagination eines anderen Wesens, das dem leidenden Dichter tröstend zur Seite steht und ihn besänftigend zur Ruhe bringt. Im vorletzten Gedicht der ‚Pilgerfahrten‘ stehen die Verse: „Wer naht sich dem namenlosen / Der fern von der menge sich härmt? / In mattblauen kleidern ein kind . .“ (Das Adjektiv „mattblau“ ist bezeichnend, denn die Leidenschaften sind bei George feuerrot oder glänzend gold.) Und etwas weiter heißt es in der Schlussstrophe: „An schillernder hecken rand / Bei dorrenden laubes geknister / Und lichter wipfel sang / Führen wir uns bei der hand / Wie märchenhafte geschwister / Verzückt und mit zagendem gang.“13 Die Wunschfigur des Kindes, die in der Poetik der ‚Pilgerfahrten‘ den Gegenpol der Beruhigung und Besänftigung, der Erlösung von den stürmischen, zum Untergang führenden Leidenschaften, darstellt, kehrt in dem an Hofmannsthal gerichteten Gedicht wieder. Hofmannsthal wird diese Rolle zugesprochen. Das gilt es genauer zu bedenken, gerade in Bezug auf die zumindest für mich offen bleibende Frage des homoerotischen Charakters von Georges Gedichten und seines Verhältnisses zu Hofmannsthal. Als George 1898 die erste öffentliche Ausgabe der ‚Pilgerfahrten‘ veranstaltete, stellte er dem Gedichtband eine Aufschrift und eine Widmung voran, die die ‚Pilgerfahrten‘ gewissermaßen als Vorwegnahme der Begegnung mit Hofmannsthal, der vorübergehenden Hoffnung und des letztlichen Scheiterns erscheinen lassen. Die Aufschrift lautete: „Also brach ich auf / Und ein Fremdling ward ich / Und ich suchte einen / Der mit mir trauerte / Und keiner war.“ Die Widmung: „Dem Dichter / Hugo von Hofmannsthal / Im Gedenken / an die tage schöner / Begeisterung / Wien / MDCCCXCI“.14 Hofmannsthal hat auf das ihm am 26. Dezember zugesandte Gedicht nicht geantwortet. Aber noch am selben Tag notierte er in einem Tage13 SW 14
II, S. 53. SW II, [30 f.].
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buch das Sonett ‚Der Prophet‘. Erstaunlicherweise wirken die Verse des Sonetts weniger wie eine Erwiderung auf „Soll nun der mund der von des eises bruch …“, sondern weit mehr wie eine Replik auf ein anderes Gedicht Georges, das zum Band des ‚Algabal‘ gehört: Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme ∙ Der garten den ich mir selber erbaut Und seiner vögel leblose schwärme Haben noch nie einen frühling geschaut. Von kohle die stämme ∙ von kohle die äste Und düstere felder am düsteren rain ∙ Der früchte nimmer gebrochene läste Glänzen wie lava im pinien-hain. Ein grauer schein aus verborgener höhle Verrät nicht wann morgen wann abend naht Und staubige dünste der mandel-öle Schweben auf beeten und anger und saat. Wie zeug ich dich aber im heiligtume – So fragt ich wenn ich es sinnend durchmass In kühnen gespinsten der sorge vergass – Dunkle grosse schwarze blume?15
Allerdings lag der ‚Algabal‘, dessen Entstehungsprozess bis zum Jahres ende 1891 weitgehend abgeschlossen war, zu diesem Zeitpunkt noch nicht gedruckt vor. Hat Hofmannsthal das Gedicht am Nachmittag des 24. Dezember, als George auch über den ‚Algabal‘ gesprochen haben dürfte,16 kennengelernt? Das würde das Ausmaß der intertextuellen Korrespondenzen in seinem Sonett erklären. Jedenfalls drückt Hofmannsthal in ganz ähnlichen Bildern seine wachsende Angst aus, in die dunklen Abgründe von Georges Persönlichkeit gerissen zu werden: Der Prophet In einer Halle hat er mich empfangen Die rätselhaft mich ängstet mit Gewalt Von süßen Düften widerlich durchwallt. Da hängen fremde Vögel, bunte Schlangen. 15 SW
II, S. 63. Formulierung in Georges Brief an Hofmannsthal vom 9. Januar 1892, „was ich nach Halgabal noch schreiben soll ist mir unfasslich“, setzt voraus, dass der Adressat weiß, von welchem Gedichtband die Rede ist. George / Hofmannsthal, Briefwechsel (Anm. 9), S. 12.
16 Die
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Kai Kauffmann Das Thor fällt zu, des Lebens Lauf verhallt Der Seele Athmen hemmt ein dumpfes Bangen Ein Zaubertrunk hält jeden Sinn befangen Und alles flüchtet, hilflos, ohne Halt. Er aber ist nicht wie er immer war, Sein Auge bannt und fremd ist Stirn u[nd] Haar. Von seinen Worten, den unscheinbar leisen Geht eine Herrschaft aus und ein Verführen Er macht die leere Luft beengend kreisen Und er kann tödten, ohne zu berühren.17
Das Gedicht, in dessen Entstehungsprozess die zunächst noch ambivalent gezeichnete Figur des Propheten immer negativere Züge bekam,18 ist ein Akt der Abwehr zum Schutze der eigenen Psyche. Mit ihm weigert sich Hofmannsthal, George die geforderte Hand zu reichen, weil er weder mit dem anderen Dichter „in tollen winden auf ein riff“ fahren noch dessen Totenreich der Dichtung als eine um das eigene Leben gebrachte Kreatur bewohnen wollte. Bezeichnenderweise verzichtete Hofmannsthal darauf, sein Gedicht an George zu senden. Das heißt, er unterbrach die Kommunikation auch im Medium der Dichtung. Auch später hat er das Sonett niemandem gezeigt, von einer Veröffentlichung ganz zu schweigen; es ist erst aus dem Nachlass ediert worden. Obwohl Hofmannsthal sich zwischen den Jahren in Wien aufhielt, wich er Georges Drängen nach weiteren Treffen zwei Wochen lang aus. Am 6. Januar passte George den Gymnasiasten vor seiner Schule ab, man ging spazieren, und nachdem Hofmannsthal von George die soeben als Privatdruck erschienenen ‚Pilgerfahrten‘ als Geschenk erhalten hatte, stimmte er einer Verabredung am 9. Januar im Café Griensteidl zu, kam aber dann in Begleitung eines Freundes und nutzte einen Vorwand, bald wieder zu verschwinden. Bei dieser Gelegenheit überreichte ihm George jenen mehrseitigen Bekenntnisbrief, der so berühmt geworden ist, dass ich ihn nicht länger behandeln möchte. In ihm stehen die pathetischen Sätze: „Schon lange im leben sehnte ich 17 Hugo
von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. II: Gedichte 2. Hg. von Andreas Thomasberger / Eugene Weber, Frankfurt a. M. 1988, S. 61. 18 Beispielsweise ersetzte Hofmannsthal „Den Tausch der Seelen hemmt ein dumpfes Bangen“ durch „Der Seele Athmen hemmt ein dumpfes Bangen“. Vgl. ebd., S. 289.
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mich nach jenem wesen von einer verachtenden durchdringenden und überfeinen verstandeskraft die alles verzeiht begreift würdigt und die mit mir über die dinge und die erscheinungen hinflöge […]“.19 Auf dem rhetorischen Höhepunkt des Briefs spricht George von der Hoffnung, in dem anderen Dichter seinen „zwillingsbruder“ gefunden zu haben. Freilich folgt darauf die ernüchternde Einsicht: „In unsren jahren ist die bedeutsame grosse geistige allianz bereits unmöglich“. Der Brief endet mit dem Ausdruck der Scham, der Selbstbezichtigung „ich schmähe mich dass ich redete“, sowie der Aufforderung an Hofmannsthal, mit diesem Brief auch das Gedicht vom 26. Dezember an George zurückzugeben und über den ganzen Vorgang absolutes Schweigen zu bewahren: „Schweigen Sie. Sie sind der einzige der von mir solche bekenntnisse vernahm. Darin bau ich blind auf Sie.“ George unterschreibt mit den resignativen Worten „Einer der vorübergeht“.20 Tatsächlich hat George nie wieder einen Brief geschrieben, in dem er derart über die Grenze des für ihn eigentlich nur im Medium der Dichtung, d. h. im Schutze des Gleichnishaften, zu Sagenden hinausgegangen wäre. Hofmannsthal, der durch dieses Schreiben noch weiter unter Druck gesetzt wurde, versuchte George zunächst mit einer diplomatisch formulierten Antwort zu beruhigen, die mit den Worten endet: „ich kann auch das lieben, was mich ängstet.“21 Aber dann brach die angestaute Wut aus ihm heraus. In einem weiteren Brief, der später vernichtet worden ist, muss er George schwer beleidigt haben, wahrscheinlich mit dem Vorwurf homosexueller Annäherungsversuche. Das Ende ist schnell erzählt: George drohte damit, Hofmannsthal zum Duell zu fordern, worauf der seinen Vater einschaltete. Hugo von Hofmannsthal senior verhandelte mit George und erreichte, dass dieser aus Wien abreiste und sich verpflichtete, Hofmannsthal nicht mehr zu kontaktieren. Dabei blieb es für einige Monate, bis, nach einem kurzen Treffen Mitte Mai 1892 in Wien, die weitgehend geschäftlich gehaltene Korrespondenz über die Redaktion der ‚Blätter für die Kunst‘ begann. Ein Zwischenresümee: Bei der ersten Begegnung zwischen George und Hofmannsthal spielte nicht nur das Gespräch über symbolistische 19 George
an Hofmannsthal, ohne Datum, in: George / Hofmannsthal, Briefwechsel (Anm. 9), S. 12. 20 Alle Zitate ebd., S. 13. 21 Hofmannsthal an George, 10. Januar 1892. In: ebd., S. 14.
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Gedichte eine konstitutive Rolle. Beide nutzten vielmehr symbolistische Gedichte als ein spezielles Medium der Kommunikation, in dessen Form sie indirekt etwas über die eigene ‚Seele‘ mitteilten, das für sie in einer anderen, direkteren Art der Sprache nicht sagbar gewesen wäre. Die Sprache der Dichtung war auch ein Mittel, um die Möglichkeiten einer menschlichen Beziehung auszuloten, ihr gleichnishafter, niemals eindeutiger Charakter schien dafür den notwendigen Schutz zu bieten. Trotzdem fühlte sich Hofmannsthal im Fortgang der Kommunikation immer stärker bedrängt. Dadurch, dass er sie sogar im indirekten Medium der Dichtung abbrach, sah sich George umgekehrt zu einem vergleichsweise offenen Bekenntnis in Briefform gezwungen, was die Lage nur noch verschlimmerte. Statt der von George im Moment der größten Nähe erhofften „sanften worte“ wurde gegen Ende der Begegnung zu einer harten, aggressiven Sprache gegriffen, die auf der einen Seite bis zur Ehrverletzung – wahrscheinlich durch den Vorwurf homosexueller Avancen – und auf der anderen bis zur Duellforderung ging. Nach diesem Scheitern der persönlichen Kommunikation blieb als Ausweg nur noch die Geschäftssprache als neutrale Form des professio nellen Umgangs. Die Frage, ob der eigentliche Grund für den katastrophalen Verlauf der ersten Begegnung zwischen George und Hofmannsthal das Problem der Homosexualität war, möchte ich hier offen lassen. Diejenigen Biographen und Interpreten, die diese Frage bejahen, können sich auf Hofmannsthal selbst berufen, der schon an der Jahreswende 1891/92 in privaten Aufzeichnungen und auch in Briefen an Wiener Freunde angedeutet hat, dass George vom „anderen Ufer“22 komme und sich ihm homoerotisch genähert habe. Mehrere Literaturwissenschaftler haben inzwischen diese Deutung durch eine Analyse des verdeckten, kodierten Sprechens über die Männerliebe unterstützt, das nicht nur in Georges, sondern auch in Hofmannsthals Dichtungen stattfinde.23
22 So
in Hofmannsthals Brief an Walter Brecht vom 15. Januar 1892. In: Hugo und Gerty von Hofmannsthal / Herrmann Bahr: Briefwechsel 1891–1934. Hg. und kommentiert von Elsbeth Dangel-Pelloquin. Bd. 1, Göttingen 2013, S. 31. 23 Zu George vgl. bes. Marita Keilson-Lauritz: Von der Liebe die Freundschaft heisst. Zur Homoerotik im Werk Stefan Georges, Berlin 1987. Vgl. auch Robert E. Norton: Secret Germany. Stefan George and his Circle, Ithaca – London 2002. Sowie: Karlauf, Stefan George (Anm. 8). Zu Hofmannsthal vgl. Ilja Dürham-
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Dagegen lässt sich methodologisch erstens einwenden, dass eine allgemeine Technik des symbolistischen Schreibens auf ein besonderes Problem zurückgeführt wird, und zweitens, dass die Dekodierung der verschlüsselten Sprache nur das herausfindet, was sie als geheime Wahrheit immer schon voraussetzt, nämlich die Homosexualität. Die Gedichte, die George und Hofmannsthal bei ihrer ersten Begegnung ausgetauscht haben, sprechen zweifellos von persönlichen Gefühlen, etwa der Sehnsucht nach freundschaftlicher Zuneigung (George) und der Angst vor gewaltsamer Vereinnahmung (Hofmannsthal); auf den eindeutigen Nenner der Homosexualität lassen sie sich nicht bringen. In meiner George-Biographie habe ich mich mit einem eigenen Urteil zurückgehalten, ohne die vorhandenen Deutungen zu verschweigen. Und vielleicht reicht es nicht, wie ich es getan habe, von einem homo erotischen ‚Subtext‘ in der Beziehung zwischen George und Hofmannsthal zu sprechen.24 Ich meine aber noch immer, dass über das Thema der Homoerotik und Homosexualität nicht vergessen werden sollte, wie wichtig für die wechselseitige Anziehung zwischen George und Hofmannsthal das Gefühl einer gewissen Seelenverwandtschaft und, weit wichtiger noch, das gemeinsame Interesse an einer bestimmten Kunstauffassung waren. Letzteres war denn auch die Basis dafür, dass sich trotz der anhaltenden Nachwirkungen des persönlichen Zerwürfnisses eine für beide Seiten fruchtbare Zusammenarbeit in den Jahren zwischen 1892 und 1906 entwickeln konnte. III. Wechselseitige Spiegelungen in den Werken Hofmannsthals und Georges Die erste, hochambivalente Begegnung mit George hat Hofmannsthal in einer langen Reihe von Dichtungen gespiegelt. Diese beginnt mit dem an der Jahreswende 1891/92 entstandenen Versdrama ‚Der Tod des Tizian‘, zu dem es einen wundervollen Aufsatz von Bernhard Böschenstein gibt,25 setzt sich mit dem folgenden Stück ‚Der Thor und der Tod‘ mer: Geheime Botschaften. Homoerotische Subkulturen im Schubert-Kreis, bei Hugo von Hofmannsthal und Thomas Bernhard, Wien u. a. 2006, S. 109–163. 24 Vgl. Verf., Stefan George (Anm. 6), S. 54. 25 Vgl. Bernhard Böschenstein: Verbergung und Enthüllung. Georges Präsenz in der Fortsetzung zum Tod des Tizian. In: Wolfram Malte Fues / Wolfram Mauser
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fort und reicht über das Trauerspiel ‚Das gerettete Venedig‘ von 1904 bis hin zu dem späten Romanfragment ‚Andreas‘ mit den ihn umgebenden Notizen, Entwürfen und Bruchstücken aus den 1910er und 1920er Jahren.26 Immer wieder spielt Hofmannsthal eine bestimmte Konstellation zwischen zwei Jünglingen bzw. Männern durch. Man bekommt bei der Lektüre den Eindruck, dass es ihm nicht gelingt, die in seinem Verhältnis zu George liegenden Probleme befriedigend zu bewältigen. Vielleicht handelt es dabei nicht nur um das in seinem eigenen Leben ungelöste Problem der Homoerotik oder Homosexualität, sondern auch um das quälende Gefühl einer bleibenden Schuld gegenüber George. Interessanterweise wies er George in den Fällen des ‚Tod des Tizian‘ und des ‚Geretteten Venedig‘ unmissverständlich auf die dichterische Verarbeitung ihres persönlichen Verhältnisses hin, auch das ein kommunikatives Signal, dass für ihn etwas in der Beziehung der beiden noch nicht abgegolten war. Im Vergleich dazu fällt auf, dass George nach 1891/92 nur zwei Gedichte geschrieben hat, die sich direkt auf Hofmannsthal beziehen. Das erste war die Reaktion auf einen Brief Hofmannsthals vom 25. Mai 1897, in dem dieser sich in einem sehnsüchtigen Ton an den Älteren gewandt und sich vorbehaltlos zum Freundeskreis der ‚Blätter für die Kunst‘ bekannt hatte. Da heißt es: Mein lieber, glauben Sie: ich bin Ihnen und Ihren Bestrebungen näher als jemals. Ich war, glaub ich, zu jung früher, zu unreif und unsicher. Es muß Sie fast verdrießen, sich meiner zu erinnern. Aber da Sie der Ältere sind, so geben Sie auch einer berechtigten Ungeduld nicht nach und denken nur, wie vereinsamt wir in Deutschland sind und wie im tiefsten auf einander hingewiesen.27
Der Adressat muss der Wahrhaftigkeit dieser Demutsgeste misstraut haben, allzu deutlich beschrieb Hofmannsthal seine Beziehung zu dem Älteren nach dem Modell, das George bei ihrer ersten Begegnung entworfen hatte, nicht zuletzt in dem Gedicht „Soll nun der mund der von des eises bruch …“ Hinzu kam, dass sich Hofmannsthal gleich im
(Hg.): Verbergendes Enthüllen. Zu Theorie und Kunst dichterischen Verkleidens, Würzburg 1995, S. 277–287. 26 Vgl. dazu ausführlich Rieckmann, Hugo von Hofmannsthal und Stefan George (Anm. 10), S. 55–68 u. S. 137–157. 27 Hofmannsthal an George, 25. Mai 1897, in: George / Hofmannsthal, Briefwechsel (Anm. 9), S. 114.
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nächsten Absatz von den Gedichten Karl Wolfkehls distanzierte, der doch zum engsten Freundeskreis der ‚Blätter für die Kunst‘ gehörte. Den Antwortbrief vom 31. Mai 1897 leitete George mit den Worten ein: „verehrter und geliebter Freund: da Sie nun selber einen ton anschlagen den ich als wahr und ernst empfinde will auch ich nicht mehr zurückhalten. bevor wir ein verhältnis des vertrauens beginnen wie es eine gemeinsame laufbahn vielleicht bald bedingt, wischen wir alles weg was noch etwa trübend zwischen uns liegen könnte“. Es folgte das Gedicht: Heut lass uns frieden schliessen · ich vergebe Den tropfen gift in edlem blute – Finder Des flüssig rollenden gesangs und sprühend Gewandter zwiegespräche. frist und trennung Erlaubt dass ich auf meine dächtnistafel Den frühern hasser grabe – thu desgleichen! Denn auf des rausches und der regung leiter Sind beide wir im sinken · nie mehr werden Der knaben preis und jubel so mir schmeicheln Nie wieder strofen SO im ohr dir donnern28
Auf den von Hofmannsthal angeschlagenen weichen Ton, der doch, trotz einer gewissen Verstellung der Stimme, ein echtes Bedürfnis nach – um das Wort erneut zu gebrauchen – Trost verrät, ist das eine äußerst harte Entgegnung, zumal sich ein Tropfen Gift im vorletzten Vers befindet. Denn in ihm wird der Zweifel angedeutet, ob Hofmannsthal überhaupt noch zu einer neuen, über „knaben preis und jubel“ hinauswachsenden Art der Dichtung befähigt ist. Diese Historisierung des Dichters Hofmannsthal wird in einem zweiten Gedicht weiter vorangetrieben, das George dem Adressaten nicht mehr persönlich mitteilte; Hofmannsthal konnte es nur in dem Band ‚Der Teppich des Lebens‘ von 1899/1900 lesen. Das Gedicht entstand in einer Zeit, als zwischen den beiden Funkstille herrschte, die bis zum Frühjahr 1902 anhalten sollte.
28 Ebd.,
S. 116. Als George das Gedicht im Band ‚Das Jahr der Seele‘ veröffentlichte, kennzeichnete er zum einen den Adressaten durch die Initialen H. H., zum anderen ließ er die beiden sehr persönlichen Anfangsverse weg und nahm die ostentative Betonung des „SO“ durch die Verwendung von Minuskeln („so“) zurück. Vgl. SW IV, S. 75.
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Schon der Titel des zweiten Gedichts, ‚Der Verworfene‘, ist voller Verachtung und seine beiden Schlussstrophen klingen wie bitterer Hohn: Du fandest seltne farben schellen scherben Und warfest sie ins wirre blinde volk Das überschwoll von preis der dich berauschte . . Doch heimlich weinst du – in dir saugt ein gram: Beschämt und unstät blickst du vor den Reinen Als ob sie in dir läsen . . unwert dir So kamst du wol geschmückt doch nicht geheiligt Und ohne kranz zum grossen lebensfest.29
Hier wird mit brutaler Deutlichkeit gesagt, dass George und sein Kreis von Hofmannsthal als Dichter nichts mehr erwarteten. IV. Gaben für die ‚Blätter für die Kunst‘ In der Anfangszeit der 1892 gegründeten ‚Blätter für die Kunst‘ war das ganz anders. George legte größten Wert auf die Mitarbeit Hofmanns thals. Der Redakteur der ‚Blätter‘, Carl August Klein, übernahm es in den Jahren 1892/93, Hofmannsthal um Beiträge für die Zeitschrift zu bitten. Klein war es dann auch, der Hofmannsthals Ärger über Georges eigenmächtigen Umgang mit den eingeschickten Manuskripten abbekam. Dass Hofmannsthal Ende 1893 die regelmäßige Mitarbeit aufkündigte, hatte aber andere Gründe. Er verwahrte sich gegen die von George verkündete Auffassung der ‚Blätter‘ als Organ eines in sich geschlossenen Dichterkreises, bei dem alle Beiträger gleichsam „mitglieder einer familie“ zu sein hätten.30 Ende 1895 gab er seine Verweigerungshaltung auf, seitdem beteiligte er sich wieder kontinuierlich an den ‚Blättern‘, und zwar bis zu ihrer siebten, im Jahre 1904 erscheinenden Folge. Die nach dem Wiener Zerwürfnis erstaunliche Zusammenarbeit von George und Hofmannsthal im Rahmen der ‚Blätter‘ wird häufig als ein strategisch begründetes Unternehmen betrachtet, das beide Dichter für ihre Positionierung im literarischen Feld nutzten. Das ist zweifellos richtig. Aus der Perspektive meines Beitrags lässt sich diese Zusammenar29 SW
V, S. 49. an Hofmannsthal, 9. Juli 1893, in: George / Hofmannsthal, Briefwechsel (Anm. 9), S. 66.
30 George
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beit aber noch anders motivieren: Durch den wechselseitigen Austausch und den gemeinsamen Abdruck von Dichtungen wurde gewissermaßen ein Kanal für die Kommunikation zwischen George und Hofmannsthal freigehalten, eine Kommunikation, die es ansonsten nicht mehr gegeben hätte. Zu Beginn habe ich an einer Stelle den kulturanthropologischen Begriff der ‚Gabe‘31 im Zusammenhang mit der Zueignung von Gedichten und dem Verschenken von Büchern gebraucht. Vieles von dem, was die Beziehung – um nicht zu sagen: die Freundschaft – zwischen George und Hofmannsthal seit ihrer ersten Begegnung ausmachte, lässt sich als Austausch von solchen ‚Gaben‘ beschreiben. Das gilt für Hofmannsthals Beiträge zu den ‚Blättern‘ genauso wie für die Zusendung der eigenen Gedichtbände von Seiten Georges. Und ich verstehe auch die beiden von tiefem Verständnis zeugenden Essays, die Hofmannsthal über die Dichtungen Georges verfasst und veröffentlicht hat, als derartige Gaben, genauer: als Gaben, mit denen sich Hofmannsthal bei George für den Trost bedankte, den er in verdüsterten Seelenlagen aus den Dichtungen des anderen schöpfte. So schrieb Hofmannsthal in seinem Brief vom 27. Juli 1903, in dem er über seine Arbeit an dem ‚Gespräch über Gedichte‘ – dem zweiten der beiden Essays – berichtete, die Sätze: Denn gerade in den Zeiten der Verfinsterung ist es mir eine solche Wolthat, daß etwas da ist wie ihr Werk, daß es lebt und lebendig das purpurne Licht verklärter Wundmale ausstrahlt. Dafür wird die Dankbarkeit in mir nie versiegen.32
Ich bringe gezielt den Begriff der Gabe mit Ausdrücken in Verbindung, die schon bei der biographischen und poetologischen Lektüre von Georges Gedicht „Soll nun der mund der von des eises bruch …“ eine zentrale Rolle spielten. Wenn ich das weiter ausführen wollte, müsste ich auch auf andere Briefe von Hofmannsthal an George näher eingehen, was den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. Doch auf eines sei noch hingewiesen: Liest man den gesamten Briefwechsel, so stößt man an wichtigen Punkten immer wieder darauf, welche Bedeutung für beide die Dichtung als ‚Geschenk‘ im materiellen und im geistigen Sinn 31 Vgl.
Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1990. Zur Weiterentwicklung des Begriffs vgl. einführend Iris Därmann: Theorien der Gabe, Hamburg 2010. 32 Hofmannsthal an George, 27. Juli 1903, in: George / Hofmannsthal, Briefwechsel (Anm. 9), S. 193. Vgl. auch seinen Brief vom 14. Dezember 1902, ebd., S. 58 f.
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hatte. Und Buchgeschenke waren es häufig, die zwischen den beiden die stockende oder pausierende Briefkommunikation wieder in Gang brachten. V. Der Briefwechsel der Jahre 1902/03 So wurde, nach einem drei Jahre andauerndem Schweigen, ein von Hofmannsthal wortlos übersandtes Exemplar von Rudolf Kassners Buch ‚Tod und Maske‘ zum Ausgangspunkt für den ungeheuer intensiven Briefwechsel der Jahre 1902/03, den man als die große Aussprache der beiden bezeichnen kann. Am 3. Mai 1902 schrieb Hofmannsthal: Daß das Kaßner’sche Buch durch meine Hand an Sie gelangte, war in einem bescheidenen Sinn symbolisch gemeint. Ich lebe hier abseits von der Stadt, doch nicht ganz ohne Verkehr; und es ist mir eine Freude, das tiefe Verhältnis, das sich in mir – oft erst nach jahrelangem Besitz des Buches – zu jedem Ihrer Werke herstellt, auf einzelne Menschen, in eben dem Maß als sie mir selbst näher kommen, wirken zu lassen.33
Auf solche Weise habe er auch Kassner für die Dichtung Georges gewonnen. Im selben Brief drückt er seine Hoffnung aus, dass George ihn einmal in seinem Haus in Rodaun bei Wien besuchen möge. Diese – wenngleich nicht sehr konkrete – Einladung ist nun etwas sehr Überraschendes. Denn seit zehn Jahren hatte George immer wieder auf eine persönliche Begegnung gedrängt, damit man sich von Angesicht zu Angesicht, d. h. nicht nur in der Form des Briefs, über Kunst und Dichtung unterhalten könne. Hofmannsthal war genau dem immer wieder ausgewichen. Auf das – zumal nach der dreijährigen Pause des Briefwechsels – unerwartete Angebot reagierte George verständlicherweise mit einer Mischung von Freude und Skepsis, die wir so ähnlich schon aus seiner Antwort auf den sehnsüchtig und demütig stilisierten Brief Hofmannsthals aus dem Jahre 1897 kennen. Nachdem er in seiner Entgegnung deutlich gemacht hat, wie enttäuscht er über die wiederholten Ausflüchte und Ausreden des anderen war, dankt er für die Einladung, nimmt sie aber bis auf weiteres nicht an: ich lese daraus Ihr gefühl dass wir uns in kunst und dichtung schönes erspriessliches: einziges: zu sagen haben. […] doch Sie wissen auch dass Ihr besuch bei mir vorausgegangen sein muss! . . Aber markten wir nicht und halten es so: 33 Hofmannsthal
an George, 3. Mai 1902. In: ebd., S. 147 f.
‚Soll nun der mund sich klagend öffnen‘?47 wenn wir nach einiger zeit eines regeren brief-verkehrs eine gute grundlage geschaffen: so komme ich einmal zu Ihnen ·34
Auf den vernünftigen Vorschlag, erst wieder eine Grundlage zu schaffen, ging Hofmannsthal ein, und so entspann sich in den folgenden Monaten ein Briefwechsel, in dem beide mit großer Ernsthaftigkeit ihre jeweiligen Auffassungen im Gebiet der Kunst und Dichtung darlegten. Dabei wurde freilich deutlich, wie weit diese sich inzwischen auseinander entwickelt hatten. Das beschränkte sich nicht auf das Urteil über andere Autoren wie z. B. Karl Wolfskehl und Ludwig Klages, über die man unterschiedlich dachte, vielmehr ging es eigentlich immer um die Prinzipien und Tendenzen der eigenen Dichtung. Während Hofmanns thal den durchgängig hohen Ton in den ‚Blättern für die Kunst‘ harsch kritisierte35 und damit indirekt auch die von George mit dem ‚Teppich des Lebens‘ eingeleitete Hinwendung zu einer sakralen Kreisdichtung angriff, sprach sich George ebenso entschieden gegen das Interesse des anderen an einer Wiederbelebung des Volkstons aus.36 Ein für ihn besonders heikles Thema wollte Hofmannsthal in der schriftlichen Form des Briefes nicht ansprechen. Am 18. Juni 1902 schrieb er: „Über unser, wie mir scheint, tief verschiedenes Verhältnis zum Dramatischen und zum Theatralischen uns auseinanderzusetzen, überlasse ich dem mündlichen Gespräch.“37 Genau dazu kam es in diesen Monaten noch nicht, denn Hofmanns thal schlug die wiederholte Einladung Georges, ihn über den Sommer in Bingen zu besuchen, mit mehr oder weniger triftigen Gründen aus. Nachdem George seine erneute Enttäuschung darüber mitgeteilt hatte, trat im Briefwechsel eine Pause von drei Monaten ein. Gemessen an dem, was in ihm zuvor an Gegensätzen deutlich geworden war, ist es wiederum erstaunlich, dass er von George im Dezember wieder aufgenommen wurde. Und Hofmannsthal war jetzt bereit, auch in schriftlicher Form über das zu berichten, was ihn in den letzten Monaten am meisten umgetrieben hatte: die Hinwendung zu einer anderen Art der Dichtung, nämlich der Gattungsform des großen Trauerspiels. Am 14. Dezember 1902 schrieb er George: 34 George
an Hofmannsthal, Mai 1902. In: ebd., S. 152. Hofmannsthal an George, 18. Juli 1902. In: ebd., S. 153 f. 36 Vgl. George an Hofmannsthal, [Ende] Juli 1902. In: ebd., S. 167. 37 Hofmannsthal an George, 18. Juni 1902. In: ebd., S. 156. 35 Vgl.
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Lassen Sie mich das Vielfache, das mich in diesem Augenblick bewegt, in eine Bitte zusammenfassen: wollen Sie mir erlauben, Ihnen, sobald es beendet ist, das Trauerspiel zu widmen, das mich seit dem vierzehnten October bei Tag und zuweilen bei Nacht beschäftigt und das ich in einigen Wochen zu vollenden hoffe? Es wird ein sehr unvollkommenes Werk sein; auch ruht es auf Fundamenten die nicht mein Werk sind, auf denen eines alten englischen Trauer spiels. Trotzdem – ich fühle daß ich mit dieser Arbeit in eine neue Epoche trete […] Wollen Sie mir gestatten, auf diese Weise auszusprechen, daß die Jahre der Entwicklung mich nicht von Ihnen entfernt, sondern Ihnen in Bewunderung und Liebe genähert haben?38
Die Rede ist von Hofmannsthals Trauerspiel ‚Das gerettete Venedig‘. Anderthalb Monate später sollten sich die beiden Dichter zum ersten Mal nach ihrer Zusammenkunft in Wien 1891/92 wieder für einen längeren Zeitraum als ein paar Stunden persönlich begegnen. Anfang Februar 1903 trafen sie sich etwa eine Woche lang in München zu Gesprächen, Hofmannsthal las George den ersten und den fünften Aufzug des ‚Geretteten Venedig‘ vor. Bevor ich zum letzten Teil meiner Darstellung komme, möchte ich noch einmal hervorheben, wie bemerkenswert diese große Aussprache der Jahre 1902/03 ist, die zu dem langen Treffen in München führt. Es handelt sich um einen Höhepunkt, nicht nur der persönlichen Beziehung zwischen George und Hofmannsthal, sondern auch der ästhetischen Diskussion über unterschiedliche Konzepte der Dichtung. Von zahlreichen Lesern des Briefwechsels, darunter der Philosoph Theodor W. Adorno,39 ist gesagt worden, wie quälend die gesamte Korrespondenz sei, weil seit dem Zerwürfnis in Wien die Kommunikation immer wieder durch gegenseitige Irritationen gestört und unterbrochen werde. Ich will das nicht in Abrede stellen, obwohl ich im Briefwechsel immer wieder auch Momente eines bei allen Einschränkungen doch gelingenden Austausches erkenne. Verglichen mit diesen kurzen Momenten ist die große, lange Aussprache von 1902/03 allerdings eine Ausnahme. Wie kam es dazu? Ich sehe die Gründe darin, dass beide Dichter in den Jahren um 1900 eine Phase des Übergangs durchliefen: George befand sich auf dem Weg zur sakralen Kreisdichtung, Hofmannsthal 38 Hofmannsthal
an George, 14. Dezember 1902. In: ebd., S. 174. Theodor W. Adorno: George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel [1942]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann. Bd. 10.1, Frankfurt a. M. 1977, S. 195–237.
39 Vgl.
‚Soll nun der mund sich klagend öffnen‘?49
auf dem Weg zur tragischen Dramendichtung. Und in dieser Phase des Übergangs dürfte für beide die dialogische Auseinandersetzung mit dem anderen großen Dichter von besonderem Wert gewesen sein, und sei es auch nur, um die eigenen Positionen und Tendenzen durch Abgrenzung genauer zu bestimmen. Am Ende dieses dialogischen Prozesses kam es dann freilich zur endgültigen Trennung, die 1906 erfolgte. VI. Gesten des Abschieds Zum Schluss wende ich mich Hofmannsthals Trauerspiel ‚Das gerettete Venedig‘ und der von George veranstalteten Ausgabe der ‚Ausgewählten Gedichte‘ Hofmannsthals zu, die den äußeren Anlass für den endgültigen Bruch im Jahre 1906 abgab. ‚Das gerettete Venedig‘, das 1904 mit der Widmung „Dem Dichter Stefan George in Bewunderung und Freundschaft“40 im Druck erschien, zählt zu den so gut wie nie auf der Bühne gespielten und selten in der Forschung behandelten Stücken Hofmannsthals. Er selbst hoffte in der Entstehungszeit, dass er mit dem ‚Geretteten Venedig‘ seinen Durchbruch als großer Dramatiker erzielen könnte; doch dieser Erfolg blieb der fast parallel geschriebenen ‚Elektra‘ vorbehalten. Über die motivischen und dramenästhetischen Beziehungen zwischen den beiden Trauerspielen werde ich gleich noch etwas sagen. Zunächst zum Inhalt des ‚Geretteten Venedig‘: Das Stück handelt von einer erfolglosen Verschwörung gegen die Regierung der Seerepublik Venedig, die historisch zu Beginn des 17. Jahrhunderts stattgefunden hat. Zu der Gruppe der Verschwörer gehören die beiden männlichen Hauptfiguren Antonio Jaffier und Pierre, die in ihrer Jugendzeit ein Freundespaar gewesen 40 Hofmannsthal
hatte George am 14. Dezember 1902 brieflich um die Erlaubnis gebeten, ihm das Stück zu widmen: „Wollen Sie mir gestatten, auf diese Weise auszusprechen, daß die Jahre der Entwicklung mich nicht von Ihnen entfernt, sondern Ihnen in Bewunderung und Liebe genähert haben?“ (Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal [Anm. 9], S. 174.) Nach dem Treffen in München, auf das allerdings „Wochen der unglaublichsten inneren Erstarrung“ und ein „monatelanges Stillschweigen“ (ebd., S. 173) gefolgt waren, mag Hofmannsthal noch an diese Behauptung der wiedererlangten Nähe zu George geglaubt haben; das in der Zwischenzeit weiter ausgearbeitete Trauerspiel zeugt jedoch genau umgekehrt davon, dass sich die Entwicklungswege der beiden Dichter endgültig getrennt haben.
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waren, bevor sich ihre Wege trennten: aus Jaffier wurde ein gewöhnlicher Ehemann und Familienvater in ärmlichen Verhältnissen; aus Pierre ein berühmter Kriegsheld, den allerdings die Regierung später zu Unrecht aus dem Dienst der Republik entließ. Im ersten Aufzug treffen sich beiden wieder und Jaffier schließt sich der von Pierre angeführten Verschwörung gegen die Regierung an, nicht zuletzt um sich an seinem hochgestellten Schwiegervater, einem Senator, zu rächen, der ihn zusammen mit der eigenen Tochter wegen ihrer nicht standesgemäßen Heirat verstoßen hat. Im weiteren Verlauf verrät Jaffier jedoch die Verschwörung und verliert am Ende genauso wie Pierre sein Leben. Soweit zur Handlung des ersten und des fünften Aufzugs. Als Hofmannsthal George ein gedrucktes Exemplar des Stücks zuschickte, wies er gezielt darauf hin, dass die beiden männlichen Hauptfiguren, der schwache Jaffier und der starke Pierre, dichterische Spiegelungen ihres persönlichen Verhältnisses seien: Mögen Sie nun in diesem Werk, das ein Zeugnis ablegen soll von dem wie ich gegen Sie stehe und zu bleiben wünsche, etwas von der ‚sprengenden‘ Kraft wiederfinden, die Sie empfanden, als ich Ihnen den ersten und den letzten Aufzug in München vorlas. Mögen die Gestalten dieses starken und dieses schwachen Menschen auch etwas intimeres für Sie aussprechen, nicht als ob solche Figuren geradehin Gleichnisse zweier Menschen sein könnten – aber vieles was im Leben wie Wellen andrängt und abflutet, ist in einem solchen Bilde gehalten.41
Diesem Hinweis folgend, hat die Forschung in den lyrisch klingenden Erzählungen über das zärtliche Verhältnis der beiden Jünglinge, die in das Stück eingelagert sind, eine Reminiszenz an die homoerotisch kodierten Freundespaare in den kleinen Dramen der frühen 1890er Jahre erkannt.42 Nach der Wiederbegegnung der ehemaligen Jugendfreunde, die im ersten Aufzug stattfindet, erinnert sich Jaffier im Gespräch mit seiner Ehefrau Belvidera an die früheren Augenblicke des Glücks: Pierre hab’ ich heut’ gesehen. Heute. Jahre, ich weiß nicht wie viel, aber viele Jahre sah ihn mein Auge nicht. Und heute, heute, […] 41 Hofmannsthal
an George, 2. Dezember 1904, in: George / Hofmannsthal, Briefwechsel (Anm. 9), S. 222 f. 42 Vgl. Rieckmann, Hugo von Hofmannsthal und Stefan George (Anm. 10), S. 139– 146.
‚Soll nun der mund sich klagend öffnen‘?51 Dort fühlte ich Pierres Blick auf mir. Ich fühlte Den Blick, der oft und oft mich eingehüllt, nachts auf dem Deck, wenn wir im Monde lage und ich was sang, und wiederum im Lager über das Feuer hin traf mich der Blick – und oft war’s die Trompete nicht, es war der Blick, der früh mich weckte: dann stand Pierre an meinem Bett …43
Das ‚Gerettete Venedig‘ besteht aber nicht nur aus dem ersten und dem fünften Aufzug, den beiden Akten, die Hofmannsthal nicht zufällig in München vorgelesen hatte. Und in den mittleren Akten geht es nicht um die gleichgeschlechtliche Freundschaft zweier Jünglinge, vielmehr steht im Zentrum des Trauerspiels die Figur der Belvidera, Jaffiers Ehefrau, die zwischen dem zweiten und dritten Aufzug nur knapp einer Vergewaltigung durch einen der Verschwörer entkommt und daraufhin ihren Vater, den Senator, über die Verschwörung informiert. Die versuchte Vergewaltigung, von der Belvidera im dritten Aufzug mehrfach in ungeheuer harter, drastischer Sprache erzählt, ist die eigentliche Schlüsselszene des Trauerspiels. Meine These zum ‚Geretteten Venedig‘ lautet, dass Hofmannsthal sich hier einem neuen Themen- und Motivkomplex seiner Dramenästhetik nähert, den wir aus der kurz darauf entstehenden ‚Elektra‘ kennen. Es geht jetzt um die mythische, tief in der Natur wurzelnde Kraft der Frau, es geht um die Verhältnisse zwischen den beiden Geschlechtern, es geht um Ehe und Familie, Sexualität und Gewalt. Und es geht, verbunden mit diesem Themen- und Motivkomplex, um die Wiedergewinnung der großen Dramenform. Dass dies in der ‚Elektra‘ thematisch stringenter und formal homogener gelingt, dürfte mit ihrer antiken Vorlage zusammenhängen, die einen mythischen Stoff und den dramatischen Aufbau der Tragödie lieferte und so dem modernen Dichter weniger Erfindung und Gestaltung abverlangte. Wenn meine These stimmt, dann liegt im ‚Geretteten Venedig‘ eine problematische, aber hoch interessante Verbindung von zwei unterschiedlichen Themenkomplexen und Dramenkonzepten vor, von denen die eine Schicht auf die kleinen Dramen um 1890 zurückver-
43 Hugo
von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. IV: Dramen 2. Hg. von Michael Müller, Frankfurt a. M. 1984, S. 21.
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weist, während die andere Schicht die großen Stücke nach Art der ‚Elektra‘ vorbereitet. Und dann bekommt, das ist in Bezug auf das ‚Gerettete Venedig‘ mein letzter Punkt, die Widmung an George ebenfalls eine doppelte Bedeutung: Sie erinnert einerseits an ästhetische Konzepte im Zeichen des Lyrischen, die Hofmannsthal und George in der Vergangenheit miteinander verbanden, und markiert andererseits die eigene, von George getrennte Entwicklung in Richtung auf eine ganz andere Ästhetik im Zeichen des Tragischen, eine Ästhetik, die das ganze Leben in seiner natürlichen und gesellschaftlichen Fülle – und dafür stehen bei Hofmannsthal gerade die mythische Kraft der Frau und die elementare Form der Familie – wieder in die Kunst holt. Dass sich Hofmannsthal selber mit seiner Heirat im Juni 1901 zur Gründung einer eigenen Familie durchgerungen hat, korrespondiert mit der Dramenkonzeption des ‚Geretteten Venedig‘. Die Entscheidung für eine andere Lebensform, die nicht länger auf der Freundschaft zwischen Jünglingen und Männern, die von der Schönheit schwärmen, gründet, bildet mit der ebenso schwierigen Entscheidung für eine andere, nicht mehr vom Lyrischen herkommenden Dichtungsform einen engen Sinnzusammenhang. Bedenkt man, dass George genau in dieser Zeit anfängt, um sich herum einen Kreis von Jüngern aufzubauen, und damit korrespondierend beginnt, in seinen Gedichten den Kult des ‚schönen Lebens’ zu verkünden, so wird der Gegensatz der beiden Lebens- und Kunstkonzepte in seinem ganzen Umfang deutlich. Es bleibt mir, als eine Art Epilog, der Hinweis auf die Ausgabe der ‚Ausgewählten Gedichte‘ Hofmannsthals, die George im Verlag der ‚Blätter für die Kunst’ veranstaltete. Bei ihrem Treffen in München hatte Hofmannsthal dem schon lange von George gemachten Vorschlag zugestimmt. Sein anschließender Rückzieher im Mai 1903 – er schrieb voller Zorn: „Ich will diesen Band nicht.“44 – wurde von George nicht akzeptiert, er musste wollen, halb zog es ihn, halb sank er hin. Gemeinsam stellte man eine chronologisch geordnete Sammlung von zwölf Gedichten zusammen. Neue Aufregung gab es nach dem Probesatz, weil George die Entstehungsjahre der Gedichte, die er auf den zu44 Hofmannsthal
an George, 26. Mai 1903. In: George / Hofmannsthal, Briefwechsel (Anm. 9), S. 185.
‚Soll nun der mund sich klagend öffnen‘?53
geschickten Handschriften vorgefunden hatte, direkt unter dem Titel in relativ großer Schrift wiedergeben wollte. Hofmannsthal betrachtete das als eine „für den Leser peinliche quasi-philologische Aufdringlichkeit“45 und wurde, als George nicht sofort einlenkte, noch wütender: Es hat ja etwas Groteskes, jeden Leser Herausforderndes, wenn man diese wenigen Gedichte mit den großen Jahreszahlen sieht, die melden: im Jahr 1895 hat Herr Hugo v. H. 2 Gedichtchen ans Licht gebracht, im Jahr 1894 eines, im Jahr 1893 etwa gar keines!46
Mit den Jahreszahlen war ein wunder Punkt getroffen, nämlich die verglichen mit George viel geringere Produktivität des Lyrikers Hofmannsthal. Es ist gut möglich, dass George mit den Jahreszahlen genau darauf hindeuten wollte, zumal er aus einem Brief Hofmannsthals vom Ende des Jahres 1902 wusste, dass dieser daran litt, keine Gedichte mehr schreiben zu können, und eine wesentliche Ursache dafür in der so viel reicheren Produktion des anderen sah.47 Überhaupt stellt sich die Frage, welche Absichten George mit der Ausgabe der ‚Ausgewählten Gedichte‘ im Verlag der ‚Blätter für die Kunst‘ verfolgte. Zweifellos stimmt es, dass George, wie er sagte, die in der Zeitschrift über viele Jahre verstreut publizierten Gedichte Hofmannsthals endlich in versammelter Buchform zugänglich machen wollte. Und sicherlich war die von ihm besorgte Ausgabe auch ein Dank für die Mitarbeit an den ‚Blättern für die Kunst‘, also eine Art Gegen-Gabe. Doch George verfolgte noch andere, weniger unschuldige Absichten. Die Ausgabe der Gedichte stellte zugleich eine Geste dar, die darauf hinwies, dass der Lyriker Hofmannsthal untrennbar mit den ‚Blättern für die Kunst‘ verbunden war, mithin zum Kreis um George gehörte. Ja, ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass die Ausgabe als ein Gedenkbuch für einen Dichter gedacht war, der – als Dichter – nicht mehr lebte. Denn für George waren Dramen wie das ‚Gerettete Venedig‘ oder auch die ‚Elektra‘ keine Dichtungen im eigentlichen Sinn. Zugespitzt formuliert: die Gedichtsammlung als Mausoleum. So haben wir am Ende ein Trauerspiel, mit dem Hofmannsthal auf indirekte Weise sagte: Ich gehe von nun an ohne dich einen anderen, eigenen Weg. 45 Hofmannsthal
an George, 14. September 1903. In: ebd., S. 197. an George, 25. September 1903. In: ebd., S. 199. 47 Vgl. Hofmannsthal an George, 14. Dezember 1902. In: ebd., S. 173 f. 46 Hofmannsthal
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Und eine Gedichtausgabe, mit der George ebenso indirekt zu verstehen gab: Du bist für mich als Dichter gestorben.48 Beides ist eine Geste des Abschieds.
48 Überliefert
ist das Bonmot, das Karl Wolfskehl nach der Erstaufführung des ‚Rosenkavaliers‘ 1911 fallen ließ: „Ach, Sie sprechen über den Dichter Hofmannsthal! Der war enorm. Aber der ist 1906 gestorben. Das Libretto ist von seinem Vetter gleichen Namens.“ (Edgar Salin: Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis, München – Düsseldorf 1954, S. 222.)
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‚Lebendige Schrift‘? Medium, Inspiration und Kollaboration bei Stefan George, Hugo von Hofmannsthal und Harry Graf Kessler I. Inspiration, Kollaboration, Schrift Für den jungen Dichter Hugo von Hofmannsthal ist die Begegnung mit Stefan George das wohl wichtigste literarische Initiationserlebnis – und zugleich eine frühe persönliche Extremerfahrung.1 Aus dem zeitlichen Abstand von fast vierzig Jahren schildert er 1929 in einem Brief an den Literaturhistoriker Walther Brecht das Ereignis wie folgt: George sei im Wiener Café Griensteidl spät nachts an ihn herangetreten und habe erklärt, dass er „unter den wenigen in Europa sei (und hier in Oesterreich der Einzige) mit denen er Verbindung zu suchen habe: es handle sich um die Vereinigung derer, welche ahnten, was das Dichterische sei. […] – man fühlte sich“, so fährt Hofmannsthal fort, „als Verbundene“.2 Ist dieser Bericht zutreffend, so zeichnet bereits die erste Begegnung zwischen George und Hofmannsthal Grundstrukturen ihrer Beziehung vor: Die Begriffe „Verbindung“, „Verbundene“ und „Vereinigung“ verweisen auf die angestrebte Kollaboration, die Formulierungen „die wenigen“ und „der Einzige“ verdeutlichen den exklusiven Charakter des gemeinsamen dichterischen Unternehmens. Ein anderes aus dem Rückblick verfasstes Zeugnis benennt eine weitere Facette; Stefan George stellt seinem Gedichtband ‚Pilgerfahrten‘ 1898 die Widmung voran: „Dem Dichter / Hugo von Hofmanns 1 In
diesem Aufsatz werden nicht nur die Briefe, sondern auch Gedichte, die Teil der Korrespondenz zwischen George und Hofmannsthal waren, nach folgender Ausgabe zitiert: Hugo von Hofmannsthal / Stefan George: Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal. Hg. von Robert Boehringer, München – Düsseldorf 21953, S. 7. Im fortlaufenden Text werden lediglich die in Klammern gesetzten Seitenzahlen vermerkt; Hervorhebungen im Zitat stammen, soweit nicht anders angegeben, stets aus dem Original. Auf diese Ausgabe muss bis zum Erscheinen der von Maik Bozza besorgten neuen, kritischen Edition des Briefwechsels noch immer zurückgegriffen werden. 2 Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Hg. von Andreas Thomasberger / Eugene Weber. Bd. 2.: Gedichte, Frankfurt a. M. 1988, S. 281.
https://doi.org/10.1515/9783110697001-003
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thal / im Gedenken / an die Tage schöner Begeisterung / Wien / MDCCCXCI“.3 Damit ist ein seit der Antike zentrales ästhetisches Schlagwort genannt, das für das Zusammenwirken der beiden Dichter eine entscheidende Rolle spielt: die Begeisterung, also der dichterische Enthusiasmus, die Inspiration.4 Kollaboration und Inspiration sind zweifellos zwei Schlüsselbegriffe für die alles andere als unproblematische Beziehung zwischen George und Hofmannsthal. Von entscheidender Bedeutung ist dabei – wie ich zu demonstrieren versuchen möchte – die Rolle, die das Medium ‚Schrift‘ im Hinblick auf die Prozesse der Kollaboration und Inspiration einnimmt. Ist es auf den ersten Blick einleuchtend, dass dieses Medium im Bereich der Literatur eine zentrale Bedeutung besitzt, so erscheint das Problemfeld bei näherem Hinsehen doch weitaus komplexer: Beschränkt sich die Funktion der Schrift auf die Produkte, die literarischen Werke? Inwiefern ist auch das dem Werk vorausgehende kollaborativ-inspirative Zusammenwirken auf dieses Medium angewiesen? Wirkt die Schrift in diesem Kontext – sei es durch das Medium ‚Brief‘, sei es durch die gegenseitige literarische Lektüre – produktiv oder kann sie nicht vielmehr auch hemmend sein? Verfolgen die Akteure bestimmte Interessen, spezifische Strategien in der Art und Weise, wie sie das Medium ‚Schrift‘ innerhalb der Beziehung einsetzen, etwa indem sie versuchen, den gegenseitigen Austausch zeitweise auf die schriftliche Kommunikation zu beschränken? Brechen nicht gerade im und durch das Medium ‚Schrift‘, durch die ihr innerhalb der Beziehung zugemessene und ausgehandelte Rolle Konflikte zwischen den Partnern auf? Diese Fragen sind umso virulenter, als es sich hier um Menschen handelt, deren Profession, deren weitgehender Lebensinhalt das Schreiben, die Schrift ist – und die möglicherweise genau deshalb versuchen, sie zu transzendieren. Das Telos symbolistischen Dichtens, das George wie Hofmannsthal beide – cum grano salis – verfolgen, bewegt sich genau in diesem Spannungsfeld, soll hier doch mit reiner Sprache, mit einer 3 Stefan
George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann. Bd. 2: Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal, Stuttgart 1987 ff., S. 31. 4 Vgl. Boris Kositzke: Art. Enthusiasmus. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 1185–1197.
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völlig von der profanen Realität losgelösten poésie pure eine möglichst große suggestiv-emotionale Wirkung erzielt werden.5 Dem konfliktreichen Miteinander von Kollaboration, Inspiration und dem Medium ‚Schrift‘ möchte ich anhand der Beziehung zwischen George und Hofmannsthal nachgehen, die im Dezember 1891 begann und 1906 endgültig zerbrach. Ergänzen möchte ich diese Überlegungen durch einen flüchtigen Blick auf eine andere zeitgenössische Konstellation, die Freundschaft Hofmannsthals mit dem Mäzen und homme de lettres Harry Graf Kessler, der für ihn – auch im Kontext seiner werkbiographischen Entwicklung von einer eher esoterischen hin zu einer exoterischen ästhetischen Position – gewissermaßen die Rolle eines Antipoden Georges einnahm und ihn partiell als geistigen Orientierungspunkt ersetzte. In der Beziehung zwischen Hofmannsthal und Kessler spielen Kollaboration, Inspiration und Schrift denn auch auf eine ganz andere, aber gleichwohl folgenschwere Weise eine entscheidende Rolle. II. Vorübergehende Inspiration: Stefan George und Hugo von Hofmannsthal Mitte Dezember 1891 also lernt der erst 17-jährige Gymnasiast Hugo von Hofmannsthal den sechs Jahre älteren Stefan George in Wien kennen, wo dieser sich seit Ende Oktober aufhielt.6 Etwa einen Monat lang 5 Zum
Symbolismus immer noch einschlägig: Paul Hoffmann: Symbolismus, München 1987. 6 Zur Beziehung und zum Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal vgl. Jens Rieckmann: Hugo von Hofmannsthal und Stefan George. Signifikanz einer ‚Episode‘ aus der Jahrhundertwende, Tübingen – Basel 1997; Ilja Dürhammer: Geheime Botschaften. Homoerotische Subkulturen im Schubert-Kreis, bei Hugo von Hofmannsthal und Thomas Bernhard, Wien u. a. 2006, S. 116–163; Theodor W. Adorno: George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel [1942]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann. Bd. 10.1, Frankfurt a. M. 1977, S. 195–237; Jörg Müngersdorff: Stefan George und Hugo von Hofmannsthal. Vom Vorrang der Kunst vor der Freundschaft. In: Neue Beiträge zur George-Forschung 14, 1989, S. 4–24; Anne Overlack: Was geschieht im Brief? Strukturen der Briefkommunikation bei Else Lasker-Schüler und Hugo von Hofmannsthal, Tübingen 1993, S. 60–73; Peter-André Alt: Hofmannsthal und die „Blätter für die Kunst“. In: Klaus Deterding (Hg.): Wahrnehmungen im Poetischen All. FS für Alfred Behrmann zum 65. Geburtstag, Heidelberg 1993, S. 30–49; Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und
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kommt es daraufhin zu mehr oder weniger kontinuierlichen Treffen, die bezeichnenderweise sofort von einem regen Schriftverkehr begleitet werden; neben Briefen werden auch Gedichte ausgetauscht, die die Begegnung poetisch reflektieren. Das erste schriftliche Zeugnis des Zusammentreffens, das uns vorliegt, ist ein symbolistisches Gedicht. Am 21. Dezember übergab oder übersandte Hofmannsthal George das folgende Gedicht (Briefwechsel, S. 7):7 Herrn Stefan George einem, der vorübergeht. du hast mich an dinge gemahnet die heimlich in mir sind du warst für die saiten der seele der nächtige flüsternde wind und wie das rätselhafte das rufen der athmenden nacht wenn draussen die wolken gleiten und man aus dem traum erwacht zu weicher blauer weite die enge nähe schwillt durch pappeln vor dem monde ein leises zittern quillt Wien, im dezember 1891.
Die Adressierung des Gedichts an George ebenso wie der Sachverhalt, dass Hofmannsthal es ihm tatsächlich zukommen ließ, belegen eindeutig, dass es sich um ein Brief- oder Widmungsgedicht handelt, das eine
der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995, S. 128–148; Rüdiger Nutt-Kofoth: Dichtungskonzeption als Differenz. Vom notwendigen Scheitern einer Zusammenarbeit zwischen George und Hofmannsthal. In: Bodo Plachta (Hg.): Literarische Zusammenarbeit, Tübingen 2001, S. 217–243; Thomas Karlauf: George und Hofmannsthal. In: Sinn und Form 59, 2007, H. 1., S. 75–89; Jörg Schuster: „Kunstleben“. Zur Kulturpoetik des Briefs um 1900 – Korrespondenzen Hugo von Hofmannsthals und Rainer Maria Rilkes, Paderborn 2014, S. 41–58; Erik Schilling: Dialog der Dichter. Poetische Beziehungen in der Lyrik des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2015, S. 25–43; Manfred Koch: Hugo von Hofmannsthal. In: Achim Aurnhammer u. a. (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Berlin – Boston 22016, S. 1445–1455. 7 Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Einem, der vorübergeht. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 2 (Anm. 2), S. 281 f.
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pragmatische kommunikative Funktion besitzt.8 Doch die Probleme beginnen spätestens mit der auf die Widmung oder Adressierung folgenden Zeile: „einem, der vorübergeht“. Handelt es sich, wie der Kasus (Dativ) vermuten lässt, um eine Fortsetzung der Widmung, ist George für Hofmannsthal also ‚einer, der vorübergeht‘, oder ist diese Zeile als eine von der Widmung losgelöste Überschrift zu verstehen? Ist die in Widmung und Überschrift adressierte Person weiterhin mit jenem ‚du‘ identisch, das in der ersten Strophe des Gedichts in zwei Versen angesprochen wird („du hast mich an dinge gemahnet“, „du warst für die saiten der seele“)? Und warum findet sich in diesen Versen das Perfekt oder Präteritum, während die Überschrift im Präsens steht? So viele Fragen Widmung und Überschrift aufwerfen, so klar scheinen die Verhältnisse auf den ersten Blick innerhalb des Gedichts. Die erste Strophe schildert exakt den einen zentralen Aspekt der Beziehung zwischen George und Hofmannsthal, den ich eingangs benannt habe: die Inspiration. In gesteigerter Form wird sie hier als Erweckungs erlebnis geschildert:9 „du hast mich an dinge gemahnet / die heimlich in mir sind“. Das angesprochene Gegenüber vergegenwärtigt, entdeckt dem Ich also in ihm verborgen Liegendes. Der im vierten Vers genannte Wind wiederum ist ein traditionelles Symbol für dichterische Inspira tion;10 auch in Hofmannsthals Gedicht wird er als künstlerisch produktiv geschildert, indem er die „saiten der seele“ zum Klingen bringt. Von hier aus ergibt sich ein sinnvoller Bezug zur Überschrift: Die Saiten werden durch den Wind, der „vorübergeht“, zum Schwingen 8 Zum
generellen Zusammenhang zwischen Lyrik und Brief am Beispiel Georges und Hofmannsthals vgl. jetzt Dieter Burdorf: Lyrische Korrespondenzen. Zum Verhältnis von Brief und Gedicht in der Literatur der Moderne – am Beispiel des Briefwechsels zwischen Stefan George und Hugo von Hofmannsthal. In: George-Jahrbuch 12, 2018/19, S. 99–123. 9 In einem Entwurf ist dieser Zug als Auferweckung der Toten ins Messianisch-Apokalyptische gesteigert: „Lebendige Leichen quellen / Aus blühenden Särgen hervor“ (Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Bd. 2 [Anm. 2], S. 284). 10 Vgl. Percy B. Shelley: Ode to the West Wind. In: Ders.: Complete Works in Ten Volumes. Hg. von Roger Ingpen / Walter E. Peck. Vol. 2.: Poems, London 1965, S. 297: „Make me thy lyre, even as the forest is“. Zum (West-)Wind als literarischem Motiv in der europäischen (und arabischen) Literatur seit der Antike vgl. Elke Frensch: Westwind als lyrisches Motiv, Heidelberg 1978. Ganz ähnlich steht in Hofmannsthals ‚Vorfrühling‘ der Wind für eine magische Form der Erinnerung und Einbildungskraft.
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gebracht – das an ihn gerichtete Gedicht ist die ‚klingende‘ Antwort auf sein Vorübergehen. Durch die Epitheta „nächtig“11 und „flüsternd“ gehört der „wind“ dabei selbst dem Bereich der Poesie an, auch er ‚spricht‘ auf magische Weise. Es handelt sich somit nicht allein um ein Inspirationserlebnis, sondern auch um einen Dialog zwischen ‚flüsterndem‘ Wind und den ‚saiten der seele‘ – es ist die Poesie, die die Poesie inspiriert.12 Harmonisch wirkt die erste Strophe auch, indem sie durch die Assonanz der hellen Vokale i, e und a sowie die Häufung der Konsonanten d, m und s klanglich eine Einheit bildet. Einen Störfaktor bildet lediglich das Metrum des zweiten Verses, der inhaltlich als einziger ganz dem Ich gewidmet ist. Während die anderen Verse der ersten Strophe daktylisch sind, weist dieser Vers einen Jambus auf. Die Hypothese, dass es sich um die poetische Darstellung eines Inspirationserlebnisses, der stimulativen Wirkung eines Du auf ein Ich handelt, wird vom weiteren Verlauf des Gedichts jedoch nicht bestätigt. ‚Ich‘ und ‚du‘ tauchen in den verbleibenden beiden Strophen überhaupt nicht mehr auf, lediglich von einem unpersönlichen ‚man‘ ist in V. 8 die Rede. Die Klarheit der ersten Strophe ist nun verloren, die syntaktischen und semantischen Bezüge sind zunehmend undeutlich. Der Vers „und wie das rätselhafte“ steht scheinbar erratisch, unverbunden am Beginn der zweiten Strophe. Erst bei genauerem Hinsehen wird klar, dass die ersten beiden Verse der zweiten Strophe an das „du warst“ aus der ersten Strophe (V. 3) anknüpfen – allerdings eben durch eine Entfernung von zwei Versen davon getrennt und, anders als in der ersten Strophe, in Form eines wie-Vergleichs. Vage entspricht dabei dem ‚Flüstern‘ aus der ersten das „rufen“ in der zweiten Strophe und dem inspirativen Pneuma des Winds das ‚Atmen‘. Doch taucht das ‚du‘ in den Versen fünf und sechs schon nur noch in Form eines wie-Vergleichs auf, so entfernt sich der Text im weite11 Auch
die Nacht ist, insbesondere seit dem frühen 19. Jahrhundert, ein poetologisches Symbol – so in Hölderlins ‚Brod und Wein‘ oder in Novalis’ ‚Hymnen an die Nacht‘. 12 Aus diesem Grund greift Rüdiger Nutt-Kofoth in seinem – methodisch avancierten – Beitrag zu kurz, wenn er von einer „Poetisierung des Privaten“ (Dichtungskonzeption als Differenz [Anm. 6], S. 221) spricht, denn das ‚Private‘ ist in dieser Beziehung immer schon poetisch. Auch umgekehrt gibt es wenig Sinn, im Falle öffentlicher Widmungen von einer „Privatisierung des Poetischen“ (ebd., S. 222) zu sprechen.
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ren Verlauf durch einen Temporal- oder Konditionalsatz („wenn draussen …“, V. 7) noch weiter vom in der ersten Strophe apostrophierten Subjekt.13 An die Stelle der Konstellation zwischen ‚ich‘ und ‚du‘ tritt in der zweiten und dritten Strophe die Gegenüberstellung von ‚innen‘ und ‚außen‘, Enge und Weite; das ‚rufen‘ bewirkt dabei jetzt im Wortsinne ein Erweckungserlebnis, indem das ‚ich‘ „erwacht“: „wenn draussen die wolken gleiten / und man aus dem traum erwacht // zu weicher blauer weite / die enge nähe schwillt“ (V. 9 f., Hervorhebung J. S.). Parallel dazu treten an die Stelle von akustischen Phänomenen („saiten“, „flüstern“, „rufen“) zunehmend optische Eindrücke, die Bilder der Wolken und der Pappeln. Hinzu kommt schließlich ein metrischer Befund: War zuvor ein Alternieren von Daktylus und Jambus festzustellen, so ist die letzte Strophe rein jambisch. Es hat sich damit gewissermaßen das Metrum ‚durchgesetzt‘, das in der ersten Strophe allein in Vers 2 auftauchte – dem Vers, der als einziger dem ‚ich‘ galt, während die dem ‚du‘ gewidmeten Verse im Daktylus gehalten waren. Das ‚du‘ scheint also in der Tat ‚vorübergegangen‘, der „wind“ flüstert nicht mehr selbst, dargestellt sind nur noch seine optischen Wirkungen, das Treiben der Wolken und das Zittern der Pappeln. Dabei stellt sich die Frage, ob dieses Zittern überhaupt vom Wind hervorgerufen wurde. Die Formulierung „ein leises zittern quillt“ lässt dies geheimnisvoll in der Schwebe, indem sie eine nicht von außen motivierte Eigendynamik des ‚Quellens‘ suggeriert. Diese Tendenz ist in einer späteren Fassung des Gedichts noch verstärkt, in der es heißt, das Zittern quelle an den Pappeln „aufwärts“.14 Das Gegenüber, der Wind mit seiner inspirativen Wirkung, geht im Verlauf des Gedichts also zunehmend verloren, am Schluss scheint es gar fraglich, woher die geschilderte Bewegung denn nun ‚quillt‘. 13 Spätestens
mit dem Beginn der dritten Strophe werden die syntaktischen Beziehungen, insbesondere durch die durchgehende Kleinschreibung und die fehlende Interpunktion, dann völlig unklar. Die Verse 7 bis 12 können als auf das „wenn“ in V. 7 folgende Aneinanderreihung von vier elliptischen Temporaloder Konditionalsätzen aufgefasst werden; man kann aber auch nur die Verse 7 und 8 temporal oder konditional deuten, dann würde es sich bei der dritten Strophe um einen Hauptsatz mit Inversion handeln. Für die zweite Möglichkeit spricht, dass in der ‚Briefpapier-Fassung‘ am Schluss der zweiten Strophe ein Doppelpunkt steht. 14 Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Bd. 2 (Anm. 2), S. 60.
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Intertextuell verweist das Gedicht ‚einem, der vorübergeht‘ auf Baudelaires Sonett ‚A une Passante‘ aus dem Zyklus ‚Les Fleurs du Mal‘ (1857), das George in den Monaten vor der Begegnung mit Hofmanns thal übersetzt hatte und das auch dieser kannte. Dort wirkt der Anblick einer Frau in einer chaotischen Großstadtszenerie als Erweckungserlebnis, als Neugeburt. Der Eindruck zeichnet sich durch äußerste Flüchtigkeit aus, die bewunderte Frau ist sofort entschwunden. Doch bereits in der Wahrnehmung des lyrischen Ich, das sie zur Statue verklärt, und im Gedicht selbst wird diese Flüchtigkeit aufgehoben, das visuell-erotische Erlebnis erstarrt in und durch Kunst. In beiden Gedichten inspiriert somit ein vorübergehendes Erlebnis zur Kunst, zur Poesie. Doch kommt es bei Hofmannsthal nicht nur zur poetologischen Ambivalenz von Inspiration und Autonomie; vielmehr stellt sich zusätzlich die Frage nach dem Genre Brief- oder Widmungsgedicht. Denn während es durchaus plausibel ist, eine ‚Vorübergehende‘, die man nie wieder sehen wird, im Kunstwerk mortifizierend zu verewigen, ist ein Brief, der an einen Vorübergehenden geschrieben wird, zumindest ungewöhnlich. Zentral für das Verständnis des Gedichts ist somit die Frage nach dem Status des Gegenübers, das innerhalb des Texts zunächst der Inspiration dient, dann aber mehr und mehr verschwindet. Dem entspricht, auf der Ebene der Kommunikationssituation, die Frage nach dem konkreten Adressatenbezug des Gedichts. Er wird, neben der Spannung zwischen Widmung, Titel und im Gedicht apostrophierten Du, noch durch ein anderes Indiz virulent, das mit der Materialität der Handschrift zu tun hat. Damit nähern wir uns der Frage, welche Bedeutung hier dem Medium Schrift zukommt. Hofmannsthal ließ George das Gedicht nämlich gleich in doppelter Form zukommen. In der einen Fassung, in deutscher Schrift, mit großen Anfangsbuchstaben und Interpunktion, tritt der Absender deutlich hervor, da sie auf einem mit Hofmannsthals eigenem Wappen versehenen Briefbogen verfasst wurde. Die andere Version, auf einer Briefkarte, richtet sich dagegen mit lateinischer Schrift, Kleinschreibung und fehlender Interpunktion ganz nach den graphischen Vorlieben Georges, ist also am Adressaten ausgerichtet.15 Diese Ambivalenz setzt sich bezeichnenderweise in der Veröffentlichungsgeschichte fort: Im vom George-Schüler Robert
15 Vgl.
ebd., S. 282.
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Boehringer herausgegebenen Briefwechsel zwischen Hofmannsthal und George ist die an den Vorlieben des ‚Meisters‘ orientierte Fassung in Kleinschrift abgedruckt, die Ausgabe von Hofmannsthals ‚Sämtlichen Werken‘ bringt das Gedicht dagegen zwar in zwei geringfügig voneinander abweichenden Fassungen,16 auf die Version in Kleinschrift wird aber lediglich im Kommentierungsapparat hingewiesen.17 Die Frage, inwiefern der Text – oder sollte man sagen: die beiden Texte? – Stefan George gilt oder die Eigenständigkeit Hofmannsthals betont, bleibt aufgrund dieses Handschriften-Befunds sowie aufgrund der Spannung zwischen Widmungszeile, Überschrift und Text somit auf geradezu provokative Weise unbeantwortet. Genau an diesem Punkt setzt Stefan Georges Antwort vom 22. Dezember 1891 an. Er fasst das Gedicht als poetisch überhöhte persönliche confessio, als „schönes bekenntnis“ (S. 8) auf. Doch dessen Ambivalenz entgeht ihm nicht. Zum einen deutet er Hofmannsthals Gedicht als Darstellung eines enthusiastischen Inspirationserlebnisses, wie er es als Ideal der von ihm angestrebten Kollaboration erhofft; ästhetische Rezeption und Produktion sind dabei aufs Engste miteinander verbunden: „nur wer bewundern kann vermag wunderbares zu schaffen.“ (S. 8) Indem er das Gedicht als persönliches Bekenntnis interpretiert, bezieht er die Überschrift und den Text jedoch ganz auf sich, was ihn zum anderen konsequenterweise zur Frage führt: „aber bleibe ich für Sie nichts mehr als ‚einer der vorübergeht‘?“ (S. 8) Damit ist der entscheidende Punkt angesprochen. George, so wird aus dieser Frage bereits deutlich, erhofft sich von der Begegnung eine enge, dauerhafte Kollaboration. So greift er im Gedicht ‚Soll nun der mund der von des eises bruch …‘ (S. 10), das er Hofmannsthal wenige Tage später zukommen lässt, das Symbol des Winds auf, verwendet es aber in einem völlig anderen Sinn: „Du reichst die hand · die segel wehn im porte / Es geht in tollen winden auf ein riff“ (S. 10). Hier handelt es sich nicht mehr nur um dichterische Inspi ration, sondern um eine emphatische, enge Form von Gemeinschaft, die sich in der zu zweit unternommenen Abenteuerfahrt manifestiert. Hofmannsthal schätzt am Wind dagegen gerade die Tatsache, dass er „vorübergeht“, er ist geneigt, der Begegnung mit George lediglich die 16 Ebd., 17
S. 60. Ebd., S. 282.
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Funktion eines Bildungserlebnisses zuzusprechen, sie zur „Episode“ zu relativieren: In retrospektiven Tagebucheinträgen vom Januar 1892 schildert er das Zusammentreffen mit George unter der programmatischen Überschrift ‚Der Prophet (eine Episode)‘.18 In diesem Tagebuch sind auch Hofmannsthals zunehmende Versuche der Distanznahme und Abwehr gegenüber George festgehalten. Von einer „Fingierte[n] Abreise“ ist dort zu lesen sowie von der „wachsende[n] Angst“ und dem „Bedürfnis, den Abwesenden zu schmähen“.19 Von diesem Bedürfnis zeugt auch das im Tagebuch unmittelbar auf diese Notiz folgende Gedicht ‚Der Prophet‘, das bereits am 26. 12. 1891 entstand, aber eine ganz andere Sprache spricht als die im Briefwechsel enthaltenen Gedichte. Hier herrscht nicht eine vom Nachtwind evozierte magisch-weite Stimmung wie in ‚einem, der vorübergeht‘, sondern eine zwar ebenso enigmatische, aber schwül-bedrückende Atmosphäre: In einer Halle hat er mich empfangen Die rätselhaft mich ängstet mit Gewalt Von süßen Düften widerlich durchwallt.
Bedrückend wird das Bildungserlebnis, wenn es nicht „vorübergeht“. An die Stelle der lebendigen Inspiration tritt leblose, beklemmende Enge und Stille: Das Thor fällt zu, des Lebens Laut verhallt Der Seele Athmen hemmt ein dumpfes Bangen […]. Von seinen Worten, den unscheinbar leisen, Geht eine Herrschaft aus und ein Verführen Er macht die leere Luft beengend kreisen Und er kann tötden, ohne zu berühren.20
Mit diesen Versen wird Hofmannsthal, was die Beziehung zu George betrifft, selbst zum ‚Propheten‘; dass „Herrschaft“ und „Verführen“ von Georges „Worten“ ausgehen und zur beinahe tödlichen Gefahr werden können, beweist der Briefwechsel, wie er sich in den ersten beiden 18 Hugo
von Hofmannsthal: ‚Der Prophet‘ (eine Episode). In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Bernd Schoeller / Ingeborg Beyer-Ahlert. Reden und Aufsätze III. 1925–1929. Buch der Freunde. Aufzeichnungen. 1889–1929, Frankfurt a. M. 1980, S. 340–342. 19 Ebd., S. 341; vgl. Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Bd. 2 (Anm. 2), S. 288. 20 Hugo von Hofmannsthal: Der Prophet. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 2 (Anm. 2), S. 61.
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Wochen des Jahres 1892 entwickelt. Beim Vermögen, zu „tödten, ohne zu berühren“, handelt es sich um eine extreme Form der Wirkungsmacht durch sprachlich-auratische Mittel, über die der militant-charismatische George souverän verfügte – auch „leise[]“ Worte besitzen ihre Demagogie. Die epistolaren Strategien21 der Machtausübung äußern sich bereits in den ständigen „mahnung[en]“ (26. 12. 1891, S. 9) und Vorwürfen, die George in seinen Briefen erhebt („Ihr dauerndes schweigen (Ihr vergessen schon?) ist mir nicht verständlich“, 4. 1. 1892, S. 10); besonders deutlich werden sie in Georges ausführlichem ‚Bekenntnisbrief‘, den er Hofmannsthal am 10. Januar übergab. Auch er verbindet wiederum die beiden zentralen Aspekte Inspiration und Kollaboration. Jene wird dem jüngeren Kollegen nunmehr ex negativo als Gefahr depressiver Produktionshemmung, als melancholische Kehrseite der euphorischen Inspiration, vor Augen geführt: Ganz verstehen können Sie zum glück noch nicht da Sie die grosse Trübnis nicht kennen. Sie werden dieselbe noch kennen lernen da Sie ein wahrer künstler sind später – viel später das wünsche ich Ihnen von herzen. (S. 12)
Vor dem Hintergrund dieser Gefahr schildert George sodann seine „[s]chon lange im leben“ (S. 12) empfundene Sehnsucht nach einem idealen Partner als Inspirationsquelle: „Jenes wesen hätte mir neue triebe und hoffnungen gegeben (denn was ich nach Halgabal noch schreiben soll ist mir unfasslich) und mich im weg aufgehalten der schnurgrad zum nichts führt“ (S. 12). Ersehnt wird also, auch wenn George an eine mögliche „bedeutsame grosse geistige allianz“ vorgeblich nicht zu hoffen wagt, die gleiche Wirkung, die auch in Hofmannsthals initialem Gedicht vom Gegenüber erwartet wurde: poetische Inspiration. Diese Hoffnung ist für den Briefschreiber so existenziell, dass ihr Ausdruck vorgeblich die materialen Grenzen des Mediums Schrift übersteigt und er deshalb ins Martialisch-Sakrale ausweicht: „O den satz den ich gestern schrieb – nein ich nenne ihn nicht denn für den andern ist daran zu viel papier
21 Allgemein
zu Georges epistolarer Kommunikation mit besonderer Berücksichtigung materialer Aspekte vgl. jetzt Renate Stauf: „Ich gehe immer und immer an den äussersten rändern“. Stefan Georges Briefkommunikation. In: GeorgeJahrbuch 12, 2018/19, S. 1–28.
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tinte federn während er für mich siedendes quellendes-stoffloses blut bedeutet …“ (S. 12 f.)22 Entsprechend wird Hofmannsthal auch im Hinblick auf den tatsächlich geschriebenen Brief aufgefordert, ihn in seiner Materialität zu eliminieren. George verlangt, „dass Sie mir das blatt zurückgeben oder es sofort vernichten […] Schweigen Sie. Sie sind der einzige der von mir solche bekenntnisse vernahm.“ (Ebd.)23 In seinem noch am gleichen Abend verfassten Antwortbrief gibt sich Hofmannsthal ratlos: „Was soll ich Ihnen sagen?“ (S. 14) Wie im initialen Briefgedicht ‚einem, der vorübergeht‘ wird er in bester symbolistischer Manier vieldeutig: „Ich glaube daß ein Mensch dem anderen sehr viel sein kann: Leuchte, Schlüssel, Saat, Gift . .“ (Ebd.)24 Obwohl auch Hofmannsthals Antwortschreiben schließlich mit einem offenherzigen Bekenntnis endet („ich kann auch das lieben, was mich ängstet“; Hervorhebung J. S.), kann es George nicht befriedigen: Der ersehnten „geistigen allianz“ hat Hofmannsthal nicht zugestimmt. Ungeduldig fragt George daher in seinem Antwortbrief: „Wie lange noch das versteckspiel?“ (12. 1. 1892, S. 14), den Brief Hofmannsthals kritisiert er als „diplomatisch“ und fordert, als handle es sich um eine Staats affäre, eine persönliche Begegnung „auf neutralem gebiet“ (S. 15). Als der Angesprochene darauf nicht eingeht und in einem nicht erhaltenen
22 Es
handelt sich hier um einen intertextuellen Verweis auf Nietzsches ‚Zara thustra‘. Im Abschnitt „Vom Lesen und Schreiben“ heißt es dort: „Schreibe mit Blut: und du wirst erfahren, dass Blut Geist ist.“ (Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari. Bd. 4: Also sprach Zarathustra, München 1988, S. 48.) 23 Diese Aufforderung ist George so wichtig, dass er sie, nach dem vorläufigen Abbruch der Beziehung Mitte Januar 1892, in Briefen an Hofmannsthals Vater noch zwei Mal wiederholt (vgl. S. 243 f.). 24 Interessanterweise verwendet Hofmannsthal diese Briefpassage in einem Entwurf zum lyrischen Drama ‚Der Tod des Tizian‘ gewissermaßen als verstecktes Selbstzitat und bringt es mit dem Baudelaire’-/Hofmannsthal’schen Motiv des Vorübergehens (und der Anfangsstrophe von Hölderlins ‚Brod und Wein‘) in Zusammenhang: „Vielleicht täglich gehen wir an der grossen Liebe vorbei, die alle Kelche unsrer Seele öffnen könnte, vielleicht auch täglich an dem grossen Hass oder Keim der Verzweiflung, an Saat, Gift, Reif, Leuchte Schlüssel . . wer will wägen wo Gewinn und wo Verlust ist“ (Hugo von Hofmannsthal: Der Tod des Tizian. Varianten. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Hg. von Götz Eberhard Hübner u. a. Bd. 3: Dramen 1, Frankfurt a. M. 1982, S. 345).
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Brief offensichtlich noch eine homoerotische Neigung Georges zu ihm alludiert,25 eskaliert die Situation. Die von George in seinem ‚Bekenntnisbrief‘ verwendete Metapher vom ‚siedenden blut‘ wird nun Realität: George droht Hofmannsthal mit einem Duell und ermahnt ihn: „spielen Sie nicht übermütig mit dem leben“ (14. 1. 1892, S. 16). Schließlich reist George aus Wien ab, auch die schriftliche Kommunikation erfolgt in den nächsten Monaten nur über Dritte – zunächst über Hofmannsthals Vater, ab Juni 1892 dann, nach einem kurzen Treffen in Wien, über Georges Freund und Mitarbeiter Carl August Klein. Diese Kommunikation über Dritte ermöglicht George schließlich auch wieder die Aufnahme des direkten schriftlichen Kontakts, indem er einem Schreiben Kleins vom 17. Juli 1892 einen eigenen Brief beilegen lässt. Er ist dezidiert an den Dichter Hofmannsthal adressiert, wie die Verwendung des Pseudonyms „Loris“ (S. 28) in der salutatio signalisiert. Der Charakter seiner Briefe hat sich aber durch die Zäsur eines halben Jahres, durch die Duelldrohung und seine erzwungene Abreise aus Wien kaum verändert; nach wie vor erhebt er Forderungen und stellt Regeln auf. Die erste Regel ist wiederum die völlige Exklusivität, die sich insbesondere auf die Zusammenarbeit an den von ihm geplanten ‚Blättern für die Kunst‘ bezieht, um die sich der Briefwechsel fortan dreht.26 Bereits in seinem ersten Brief vom 24. Juni 1892 betont Carl August Klein „den streng exclusiven charakter der sache“, Mitteilungen werden „unter dem siegel des redaktionsgeheimnisses“ gemacht (S. 21). Der zweite zentrale Punkt ist die in Georges Briefen über Jahre hinweg als eine Art ‚ceterum censeo‘ aufgestellte Forderung nach einer
25 Darauf
lässt die Reaktion Georges schließen; im Brief an Hofmannsthal vom 14. Januar 1892 schreibt er, dieser habe „einem gentleman der dazu im begriff war Ihr Freund zu werden eine blutige kränkung zu[geschleudert]“ (S. 15 f.); im zwei Tage später verfassten Brief an Hofmannsthals Vater bemerkt er unter Hinweis auf seine Hochschätzung gegenüber dem jüngeren Kollegen: „Das konnte denn kein wunder sein dass ich mich dieser person ans herz warf (Carlos? Posa?) und habe dabei durchaus nichts anrüchiges gefunden“ (S. 242). 26 Bereits Richard Alewyn spricht in diesem Zusammenhang von einem „Redaktionsbriefwechsel der Blätter für die Kunst“ (Unendliches Gespräch. Die Briefe Hugo von Hofmannsthals. In: Ders.: Über Hugo von Hofmannsthal, Göttingen 41967, S. 17–45, hier S. 29); zur „Exklusivität als Markenzeichen“ des George-Kreises vgl. Bodo Würffel: Wirkungswille und Prophetie. Studien zu Werk und Wirkung Stefan Georges, Bonn 1978, S. 25–41.
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Begegnung: „Sie wissen dass eine vorbedingung [!] die klare unterredung mit Ihnen bildet und diese noch nicht stattgefunden hat“, schreibt er etwa am 25. November 1898 (S. 143; vgl. S. 46, S. 49, S. 118, S. 152, S. 162, S. 257). Beiden Forderungen entzieht sich Hofmannsthal. Gegen die angestrebte Exklusivität verstößt er, indem er seine Gedichte, für die George das Publikationsmonopol anstrebt, auch in anderen Organen abdrucken lässt (vgl. S. 26, S. 29). Dem Ausschließlichkeitsanspruch des ‚Blätter‘-Kreises („Unser dichterkreis hat sich nach gegenseitiger rückhaltloser aussprache gebildet […]. wer sich derselben entzieht wird unklar und unheimlich“, 9. 7. 1893, S. 67) versucht er immer wieder zu entfliehen. Schließlich bittet er sogar darum, nur noch als „gelegentliche[r] Mitarbeiter“ (17. 7. 1893, S. 69) angesehen zu werden, was den sofortigen Ausschluss zur Folge hat: „es ist durch den charakter der gründung keinem mitarbeiter verstattet nur insofern es ihm angenehm dünke mitzuwirken“, lässt Klein ihn am 21. August 1893 wissen: „wir andern werden uns noch mehr fanatisch abschliessen“ (S. 69). Auch hinsichtlich Georges zweiter Forderung ist Hofmannsthal kaum zu Entgegenkommen bereit, der von ihm gewünschten Begegnung weicht er, mit wechselnden Begründungen, immer wieder aus: „Ein Zusammentreffen macht meine große Ermüdung, Unruhe, Abspannung für jetzt unmöglich, ja nicht einmal wünschenswert“, heißt es etwa am 8. Oktober 1892 (S. 44). Der wahre Grund besteht, wie er knapp fünf Jahre später eingesteht, darin, dass für ihn der „Austausch sehr verwandter und nicht gewöhnlicher Gesinnungen“ „nicht ohne Gefährde“ ist (28. 6. 1897, S. 123) – das metaphorische „siedende blut“, das in eine reale Duelldrohung umschlagen kann, ist noch in guter Erinnerung. Hofmannsthals Verhalten ist also pragmatisch und vorsichtig. Er nutzt die ‚Blätter‘ für die Publikation seiner frühen Werke,27 doch möchte er sich nicht vereinnahmen lassen; George versucht er auf Distanz zu halten, der Briefwechsel, das schriftliche „Austauschen von Lebenszeichen“ (11. 11. 1892, S. 48; vgl. S. 60), ist dazu das ideale Medium: „Ließe sich auch lebendigerer Zusammenhang denken, ich bin mit diesem Austausch wohlthuender Zeichen gegenseitiger Achtung und schön erworbenen Verständnisses sehr zufrieden“ (11. 1. 1893, S. 56, Hervorhebung 27 Vgl.
Rieckmann, Hugo von Hofmannsthal und Stefan George (Anm. 6), S. 78 und Nutt-Kofoth, Dichtungskonzeption als Differenz (Anm. 5), S. 230.
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J. S.). Die Kollaboration ist also völlig auf den schriftlichen Austausch reduziert, allen anderen Formen verweigert sich Hofmannsthal.28 Sogar der Briefkontakt wird aufgrund der Differenzen immer wieder für Monate oder gar Jahre unterbrochen. Im Mai 1902 schreibt George, seit dem Beginn von Hofmannsthals Mitarbeit an den ‚Blättern für die Kunst‘ habe er den Kollegen als ihm „eher entgegenwirkend“ empfunden, er habe von ihm nur „rückhaltung und ängstlichkeit“ (S. 150) erfahren. Hofmannsthal allein trage die Schuld daran, dass es nicht gelungen sei, „durch jahre in unsrem schrifttum eine sehr heilsame diktatur“ (e) auszuüben. Die Herrschaftsallüren gehen also weit über die persönliche Beziehung hinaus. In seinem nächsten Brief resümiert George gar, es gebe „kaum ein[en] punkt wo ich nicht genau das gegenteil fühle …“ (im Juli 1902, S. 158). Erst jetzt kommt es zu einer erstaunlichen Volte in Hofmannsthals Verhalten. Mit seinem Brief vom 24. Juli 1902 verfasst er ein Gegenstück zu Georges ‚Bekenntnisbrief‘ vom 10. Januar 1892, geradezu eine spiegelsymmetrische Entsprechung. Hofmannsthal schildert ausführlich seinen Zustand, eine „der schlimmen tiefen Verstimmungen in der mir nicht nur jeder Glanz der inneren Anschauung sondern sogar die Klarheit des Denkens qualvoll verloren geht“ (S. 162 f.), einen „Druck“ (S. 163), eine „Verdüsterung und Beklommenheit“: „alles dringt hart und fremd zu mir her, wie in einer Luft, die nicht schwänge“ (ebd.) – es handelt sich exakt um jene „grosse trübnis“, die George zehn Jahre zuvor thematisiert und dem Kollegen für „viel später“ prophezeit hatte. In dieser Situation einer depressiven Produktionshemmung wünscht sich Hofmannsthal, wie einst George, Beistand. Zwar werden der eigene pathologische Zustand sowie „das Beklemmende einer gewis28 Adorno
bemerkt in diesem Zusammenhang bereits 1942 treffend, „Hofmanns thals Abwehr biete[] umsichtig alle Kräfte der Phantasie auf.“ (George und Hofmannsthal [Anm. 6], S. 217.) Richard Alewyn übersieht hingegen die dieser Abwehrhaltung immanenten produktiven Potentiale: „Hofmannsthal spricht hier wie einer, der in das Auge der Meduse blickt, mit einer Starre im Gesicht, von der man nicht zu sagen vermöchte, ist sie Ansteckung oder Abwehr.“ (Unendliches Gespräch [Anm. 26], S. 31.) Dem Befund Alewyns, die Briefe an George nähmen – aus dem genannten Grund – eine Ausnahmestellung ein, liegt zudem die problematische Einschätzung zugrunde, es handle sich bei Hofmannsthals sonstigen Briefwechseln um „Gespräche“ mit dem Zweck, „das Menschliche menschlicher zu sagen.“ (Ebd., S. 19.)
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sen materiellen Beengtheit“ (S. 165) sofort als Hinderungsgründe für eine sofortige Begegnung angeführt, doch immerhin im modus irrealis wünscht Hofmannsthal, „an der Stärke und Klarheit Ihres Geistes mich jäh aufzurichten oder – wie kann man es je wissen? – noch tiefer und düsterer in mich zu versinken.“ (S. 165)29 In der Tat führt dieser Brief zu einer Entspannung des Verhältnisses. Immerhin werden nun wieder regelmäßig Briefe gewechselt, kommt es im Februar 1903 zu einer etwa einwöchigen Begegnung in München und kommt es zur erneuten Zusammenarbeit: George initiiert eine bibliophile Ausgabe von Hofmannsthals Gedichten, die 1903 in geringer Auflage im Verlag der ‚Blätter für die Kunst‘ erscheint. 1904 wird eine zweite, vermehrte Auflage publiziert – gesetzt in einer Drucktype, die Georges „handschrift angeglichen“ (3. 10. 1904, S. 220) ist. Wenn Hofmannsthals Gedichte schon an unterschiedlichen, teilweise profanen Orten verstreut veröffentlicht wurden, so soll wenigstens die Buch publikation im exklusiven Rahmen von Georges ‚Kreis‘ erfolgen; und wie jene ‚Briefkarten-Fassung‘ von ‚einem, der vorübergeht‘ wirken die Gedichte in der Ausgabe von 1904 äußerlich wie Texte von George – sie sind nicht nur nach dessen typographischen Vorstellungen, sondern nach seiner Handschrift gestaltet. Hofmannsthal verhält sich dem Plan gegenüber schwankend, stimmt aber schließlich zu. Gerade die Gestaltung spricht ihn an: „Die Schrift scheint mir überaus schön, durch den Zusammenhang mit Ihrer lebendigen ist sie mir aufregend und bedeutend.“ (7.10.1904, S. 221, Hervorhebung J. S.) Noch einmal kommt es hier also zur literarisch-litera29 Ein
Jahr später stilisiert Hofmannsthal George gar zu seinem messianischen Retter, indem er das an ihn gesandte Exemplar seines ‚Kleinen Welttheaters‘ mit der Widmung versieht: „Soll ich noch leben darf ich nicht vermissen / Den trank aus deinen klingenden pokalen / Und führer sind in meinen finsternissen / Die lichter die aus deinen wunden strahlen.“ (S. 267) Die Unterordnung unter den poetischen Märtyrer-Führer wird dadurch noch potenziert, dass es sich bei der Widmung nicht um eigene Verse, sondern um ein Zitat aus Georges ‚Jahr der Seele‘ handelt. Im Brief vom 27. 7. 1903 unterstreicht Hofmannsthal zudem dezidiert die Ernsthaftigkeit der Anverwandlung des Zitats, indem er sich auf den Buchstaben als fundamentale Elementareinheit beruft: „Was ich hineinschrieb, in Ihren schönen Worten, ist wahr bis auf den Buchstaben. Denn gerade in den Zeiten der Verfinsterung ist es mir eine solche Wohlthat, daß etwas da ist wie Ihr Werk, daß es lebt und lebendig das purpurne Licht verklärter Wundmale ausstrahlt.“ (S. 194)
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turpolitischen Kollaboration, indem Hofmannsthals Gedichte im Verlag der ‚Blätter für die Kunst‘ erscheinen; die damit demonstrierte Nähe der beiden symbolistischen Dichter könnte materialiter kaum deutlicher werden, als indem Hofmannsthals Texte wie handschriftliche Texte Georges aussehen. Gerade diese Gestalt einer ‚lebendigen Schrift‘ ist es wiederum, die auf Hofmannsthal inspirierend, „aufregend und bedeutend“ wirkt. Umgekehrt weist die Formulierung ‚lebendige Schrift‘ darauf hin, dass außer der Schrift in der Beziehung zwischen George und Hofmannsthal nicht mehr allzu viel ‚lebendig‘ ist; man könnte fast sagen: Hofmannsthal reicht es, dass die Schrift ‚lebendig‘ ist. Tatsächlich kommt es gerade im Rahmen dieser Angelegenheit zum endgültigen Bruch. 1906 fordert Hofmannsthal den Drucker der vom Verlag der ‚Blätter für die Kunst‘ publizierten Ausgabe, dessen „absolute Unfähigkeit […] einen Vertrieb durchzuführen“ (19. 3. 1906, S. 227) er beklagt, auf, die Restbestände der zweiten Auflage auszuliefern, um eine höhere Verkaufszahlen versprechende Neuausgabe durch einen anderen Verleger zu ermöglichen.30 Als der Drucker Otto von Holten dies verweigert, wendet sich Hofmannsthal an George mit der Bitte, jenem „zu bedeuten, daß meine von mir verfaßten und im Druck von mir bezahlten Gedichte im doppelten Sinn mein unbeschränktes Eigenthum sind“ (S. 227). Damit verstößt Hofmannsthal ein letztes Mal gegen die von George vorgeschriebene Exklusivität – er überlässt seine Gedichte den „sudlern und händlern“ (Anfang Juni 1903, S. 188), gegen die Georges Ausgabe ein Bollwerk darstellen sollte. Interessant an dieser letzten ‚Episode‘, die zum unwiderruflichen Bruch führt, ist, dass Hofmanns thal eine freudsche Fehlleistung unterläuft, denn die Druckkosten hatte gar nicht er, sondern der Verlag der ‚Blätter für die Kunst‘ getragen. Die finale Auseinandersetzung um die Ausgabe von Hofmannsthals Gedichten verdeutlicht nicht nur die divergierenden Ansichten über die Exklusivität des dichterischen Werks. George und Hofmannsthal haben grundsätzlich völlig unterschiedliche Vorstellungen davon, wie die Kollaboration auszusehen habe. Für beide dient der Schriftverkehr der Briefe und Werke dazu, den Kontakt aufrechtzuerhalten, von dem sie einen stimulativ-poetischen Austausch erwarten. Hofmannsthal geht es dabei aber primär darum, in George einen Orientierungspunkt und
30 Vgl.
Rieckmann, Hugo von Hofmannsthal und Stefan George (Anm. 6), S. 125 f.
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in den ‚Blättern für die Kunst‘ einen Publikationsort (unter anderen) zu besitzen, während die Person George durch das Medium ‚Schrift‘ gerade auf Distanz gehalten werden kann. Dieser hingegen möchte Hofmannsthal und dessen literarische Produktion völlig für sich und seinen Kreis vereinnahmen und versucht deshalb ständig, durch Briefe Begegnungen zu erzwingen. Dieses Schwanken zwischen völliger Abhängigkeit und Vereinnahmung, dem Hofmannsthal partiell immer wieder nachgibt, einerseits sowie Loslösung und Selbständigkeit andererseits war in nuce bereits am ersten schriftlichen Dokument der Beziehung, dem Gedicht ‚einem, der vorübergeht‘, ablesbar. Wirkte die ‚Briefkarten-Fassung‘ aufgrund ihrer Gestaltung äußerlich wie ein Gedicht Georges, so erschien die ‚Briefpapier-Fassung‘ durch Hofmannsthals Wappen ganz als dessen Text, eine Ambivalenz, die sich im Gedicht selbst wiederholt, das eine Bewegung weg von der äußeren Ursache der Inspiration, dem Wind, vollzieht. Das gleiche Widerspiel ist noch in der Gedicht-Ausgabe von 1904 zu erkennen. Die Gedichte sind zwar Hofmannsthals geistiges Eigentum, werden aber im Verlag der ‚Blätter für die Kunst‘ auf deren Kosten und in einer an Georges Handschrift orientierten Type gedruckt. Hofmannsthal empfindet gerade diese Annäherung im Medium der Schrift als inspirierend, „aufregend und bedeutend“ – doch sofort schlägt das Pendel wieder in die andere Richtung: Dass Hofmannsthal die Gedichtausgabe fälschlich auch in finanziell-materieller Hinsicht als sein „unbeschränktes Eigenthum“ bezeichnet, wirkt wie ein erneuter Abwehrreflex gegen Georges Vereinnahmungsversuche. Der Wind als Inspirationserlebnis soll vorübergehen, was zurückbleibt, ist Hofmannsthals „unbeschränktes Eigenthum“. III. „Bitte nicht schreiben“: Hugo von Hofmannsthal und Harry Graf Kessler – Verstrickungen der Schrift und das Ideal sinnlicher Ganzheit um 1900 Für Hugo von Hofmannsthal löst Harry Graf Kessler seit dem Ende der 1890er-Jahre in gewisser Weise Stefan George als geistige Autorität und Orientierungspunkt ab. Hofmannsthal lernt ihn in seiner Funktion als Mitglied des Redaktionskomitees der Zeitschrift ‚PAN‘ kennen, die man als urban-liberales Konkurrenzorgan zu den ‚Blättern für die Kunst‘ ansehen kann. Der Mäzen, Dandy und homme de lettres, wie
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George im Jahr 1868 geboren, fungiert als dessen Antipode, der nicht für repressive Esoterik, sondern für Liberalität und Offenheit gegenüber unterschiedlichen Kunstrichtungen – insbesondere im Bereich Theater, Oper und Ballett – steht. „Es ist mir wahrscheinlich zum ersten Mal im Leben da eine gewisse persönliche Superiorität vereint mit wirklicher Cultur entgegengetreten“,31 charakterisiert Hofmannsthal den Freund. Auch für diese Beziehung sind Kollaboration und Inspiration die entscheidenden Schlagworte, und auch in diesem Fall fungiert die Schrift als ebenso zentrales wie komplikationsreiches Medium. Die Verhältnisse sind allerdings dadurch vereinfacht, dass die Rollenverteilung zwischen den Freunden klar ist: Kessler ist selbst kein produktiver Künstler, sondern fungiert als Hofmannsthals kongenialer Rezipient, Kommunikationspartner, Berater und Inspirationsquelle. Kessler schickt ihm Bücher, weist ihn auf geeignete Dramenstoffe hin und hilft zuweilen beim Erarbeiten des Szenarios. Auf diese Weise wirkt er auf den Dichter stimulativ, „beflügelnd“ (5. 9. 1907, S. 157 f.). Es liege „auf der Hand“, schreibt er an Hofmannsthal, „daß ich immer der sein muß, der dir hilft, soweit es in meinen Kräften steht“ (26. 9. 1906, S. 126). Wie in der Kollaboration mit George ist es für Hofmannsthal dabei von entscheidender Bedeutung, über ein Gegenüber zu verfügen, das ihm über depressive
31 Hofmannsthal
an Kessler, 18. 11. 1899. In: Hugo von Hofmannsthal / Harry Graf Kessler: Briefwechsel 1898–1929. Hg. von Hilde Burger, Frankfurt a. M. 1968, S. 19; Nachweise im Folgenden nach dieser Ausgabe im fortlaufenden Text; Hervorhebungen, soweit nicht anders angegeben, immer im Original. Zur Beziehung zwischen Hofmannsthal und Kessler vgl. Jürgen Haupt: Harry Graf Kessler und Hugo von Hofmannsthal. Eine Freundschaft. In: Ders.: Konstellationen Hugo von Hofmannsthals, Salzburg 1970, S. 46–81; Wolfgang Leppmann: „Der verborgene Helfer“. Hugo von Hofmannsthal und Harry Graf Kessler. In: Thomas Karlauf (Hg.): Deutsche Freunde. Zwölf Doppelporträts, Berlin 1995, S. 188–221; Hilde Burger: Hugo von Hofmannsthal / Harry Comte Kessler: une amitié difficile. In: Jean-Yves Masson (Hg.): Hugo von Hofmannsthal. 1874– 1929, Marseille 1991, S. 145–154; Alexandre Kostka: Kessler und Hofmanns thal – zu einigen Stationen ihrer Beziehung. In: Gerhard Neumann / Günter Schnitzler (Hg.): Harry Graf Kessler. Ein Wegbereiter der Moderne, Freiburg im Breisgau 1997, S. 135 – 150; Jörg Schuster: „Lauter äusserste Spannungen, die ein Fluidum, eine nicht unangenehme Überwachheit der Nerven entwickelten“: Harry Graf Kesslers Tagebuch Europas vor dem Ersten Weltkrieg. Einleitung. In: Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880–1937. Hg. von Jörg Schuster unter Mitarbeit von Janna Brechmacher. Bd. 4. 1906–1914, Stuttgart 2005, S. 13–26.
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Produktionskrisen hinweghilft. Im Hinblick auf die Arbeit am Libretto zur Oper ‚Der Rosenkavalier‘ schreibt er am 25. August 1910, Kessler habe ihm dabei geholfen, den „inneren Schwung“ zu finden, den gewissen Ekel und Unglauben an die Möglichkeit, die Skizzen [… ] zu beseelen, zu überwinden – wenn nicht hier ein so kostbares imponderabile dazugekommen wäre, wie Deine wunderbar freundliche immer spannkräftige Teilnahme an der Ausführung, deiner dem Gelungenen so warmen, dem Verfehlten gegenüber so scharfen Kritik. Wo das Scenarium gelegentlich mich kalt ließ – hat der Gedanke an deiner Teilnahme mich gespornt – die Sicherheit Deiner schöpferischen Kritik mir vor mir selber den Rücken gedeckt. (S. 299)
In dieser scheinbar idealen inspirativ-kollaborativen Konstellation zwischen Schöpfer und ‚schöpferischem Kritiker‘ spielt das Medium Schrift auf doppelte Weise eine unheilvolle Rolle. 1909 arbeiten die Freunde neben dem Libretto des ‚Rosenkavaliers‘ gemeinsam auch an der Komödie ‚Cristinas Heimreise‘. Beide Stücke werden über Monate hinweg brieflich Akt für Akt bis in einzelne Formulierungen hinein und bis hin zu Vorschlägen für die Kostüme und für den Titel der Oper diskutiert. Darüber entgeht Kessler, dass er mit seinen zahllosen seitenlangen Briefen die Arbeit zunehmend behindert, statt sie zu fördern (vgl. 10. 9. 1909, S. 261). An seine Frau Gerty schreibt Hofmannsthal, er finde „meist vor dem Schlafengehen z. B. einen Brief von Kessler mit Vorschlägen, wie der letzte Act von der Comödie eigentlich sein müsste, oder so etwas angenehmes.“32 Zum Eklat kommt es jedoch aus einem anderen Grund, als Hofmannsthal Kessler nämlich vorschlägt, ihm den ‚Rosenkavalier‘ zu widmen und dafür die Formulierung „dem verborgenen Helfer“ vorschlägt. Als „Helfer“ hatte sich Kessler selbst Hofmannsthal gegenüber immer wieder bezeichnet. Das Problem ist jedoch, dass er als Helfer im privaten Briefwechsel eben ‚verborgen‘ blieb, während die Widmung diese verborgene Hilfe nun öffentlich macht. Genau das findet Kessler peinlich und fordert erbost, auf die Widmung zu verzichten oder ihn im Hinblick auf die erfolgte Kollaboration vor der Öffentlichkeit nicht als „Helfer“, sondern als „Mitarbeiter“ zu würdigen (21. 8. 1910, S. 297). Was Hofmannsthal nicht bedacht hatte, ist, dass Verborgenheit zwar dem privaten Schriftverkehr der Briefe angemessen ist, die Thematisie32 Brief
Hofmannsthals an seine Frau Gerty vom 27. 1. 1910. Hofmannsthal-Depositum des Landes Baden-Württemberg, Deutsches Literaturarchiv Marbach.
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rung einer verborgenen Hilfe aber in dem Moment eine Marginalisierung bedeutet, in dem sie nicht mehr rein privat, sondern, wie im Fall der Widmung, öffentlich ist. Auf andere Weise als im Fall der Beziehung mit George gilt für das Medium Schrift hier somit, dass sie Kollaboration und Inspiration zum einen ermöglicht, zum anderen aber zugleich zu deren Scheitern beiträgt. George gegenüber signalisiert Hofmannsthal Hinwendung und Annäherung, die aber, indem sie sich im Medium der Schrift vollziehen, zugleich das exakte Gegenteil implizieren: Durch Schrift kann man dem anderen entgegenkommen und doch zugleich ganz bei sich bleiben, ihn auf Distanz halten. Analog soll neben dem Schriftmedium Brief auch die schriftliche Veröffentlichung, das Werk, die Ausgabe von Hofmannsthals Gedichten, indem sie im Verlag der ‚Blätter für die Kunst‘ in einer Georges Handschrift angepassten Type erscheint, Nähe zu George signalisieren, aber zugleich im materiellen wie im übertragenen Sinn ‚Eigentum‘ des Urhebers bleiben. Im Fall der Kollaboration mit Harry Graf Kessler erweist sich das Medium Schrift in Form des gemeinsamen Briefwechsels ebenfalls zunächst als inspirativ. Doch zum einen macht Kessler vom Schriftmedium Brief in einem zunehmend kontraproduktiven Ausmaß Gebrauch. Zum anderen lässt es Hofmanns thal an Sensibilität mangeln, was die Art und Weise betrifft, wie er die Kollaboration nach Vollendung des Werks charakterisiert: Erfolgte die ‚verborgene Hilfe‘ in der privaten Verborgenheit (des Briefwechsels) im gegenseitigen Einvernehmen, so wirkt sie, an die Öffentlichkeit gelangt, als Marginalisierung. Die mangelnde Sensibilität bezieht sich somit – ausgerechnet beim Dichter – auf den Umgang mit der Schrift, indem die gleiche Formulierung beim Übergang vom privaten zum öffentlichen Gebrauch, vom Briefwechsel zum Paratext, der Widmung des Werks, einen kränkend-herabsetzenden Charakter erhält. Verhängnisvoll ist dabei, dass die Kommunikationspartner keinen Ausweg aus den medialen Verstrickungen finden, die Flut der Briefe, der Schrift sich auf unheilbringende Art und Weise immer weiter fortsetzt. Beschränkte Hofmannsthal die Beziehung zu George zumindest zeitweise bewusst auf den Schriftverkehr, so sehnt er sich Kessler gegenüber nach einem alternativen Medium. Gerade im Streit um die ‚Rosenkavalier‘-Widmung rufen Briefe immer wieder Briefe, ruft Schrift immer wieder Schrift hervor – verzweifelt suchen die beiden Freunde einen Ausweg aus dem Schreiben und finden ihn nicht: „Wenn wir
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eine Stunde ruhig mit einander sprächen, Harry! […] Aber bitte nicht schreiben, ich meine nicht correspondieren über.“ (25. 11. 1911, S. 342) Diesen Ausweg hat Hugo von Hofmannsthal weder in der gescheiterten Kollaboration mit George noch in der mit Harry Graf Kessler gefunden. Welche Bedeutung diesem Teufelskreis der Schrift zuzumessen ist, aus dem es kaum ein Entkommen zu geben scheint, lässt sich dabei nur im kulturgeschichtlichen Kontext der Zeit um und nach 1900 angemessen beurteilen. Tatsächlich besteht ein eklatantes Spannungsverhältnis zwischen dieser medialen Verstrickung und dem zentralen ästhetischen Projekt der Epoche, in der Kunst und über die Kunst hinaus eine sinnliche Ganzheit des Lebens zu erreichen und dabei gerade die Bereiche der Sprache und der Schrift zu transzendieren. Im Kontext der Lebensreformbewegung33 sind hierfür, von Hofmannsthal wie von Kessler begeistert affirmiert, ‚lebendig‘-nonverbale Formen wie Pantomime und Ausdruckstanz ebenso von Belang wie Konzepte des Gesamtkunstwerks. Erst angesichts dieses Programms sinnlicher Ganzheit lässt sich ermessen, was es bedeutet, dass sich produktive Inspiration und Kollaboration in den beschriebenen Fällen zu großen Teilen dem ab strakten Distanz-Medium Schrift verdanken. Statt über dieses Medium hinaus zu sinnlicher Ganzheit zu gelangen, brechen gerade in und durch die Schrift immer wieder Konflikte auf, die das Ende von ‚lebendiger‘ Inspiration und Kollaboration bedeuten.
33 Vgl.
Kai Buchholz u. a. (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. 2 Bde., Darmstadt 2001.
Cornelia Ortlieb
Verbundene im neuen Land. George, Hofmannsthal und der europäische Symbolismus Hugo von Hofmannsthal und Stefan George sind sich nominell im berühmten Wiener Kaffeehaus Griensteidl erstmals begegnet. Aber in Hofmannsthals auch wehmütiger Rückschau in einem Brief an Walter Brecht von 1929, 37 Jahre nach dem für beide epochalen Ereignis, ist von einem anderen gemeinsamen Ort die Rede: Er sei „bereichert wie einer, der eine sehr große Reise getan hat, und ein neues Land als geheime zweite Heimat erkannt hat“, schreibt Hofmannsthal, man habe sich quasi unmittelbar als „Verbundene“ gefühlt.1 Die ausführliche Erklärung, die dieses Fazit umschließt, macht deutlich, dass mit einem solchen Beisammensein einerseits ein (vergangener) utopischer Ort skizziert ist, den man im alten romantischen Sinn mit dem Reich der Poesie assoziieren könnte, andererseits wird im selben Brief in einer Aufzählung von englischen und französischen Autornamen die europäische Literatur als diese neue Heimat umschrieben. Mehr noch, die herkömmlichen sprachlichen und geographischen Grenzen sind in diesem neuen Land offenbar aufgehoben, und entsprechend müsste die geläufige nationalphilologische Identifikation von Autoren und Werken mit bestimmten Sprach- und Kulturräumen nicht nur für diese beiden programmatisch mehrsprachigen Autoren überdacht werden. Ob und wie Hofmannsthal und George, die beiden historischen Personen wie die beiden Autornamen, sich wiederum zu einer anderen, entsprechend naheliegenden Zuordnung zur gesamteuropäischen Bewegung des ‚Symbolismus‘ verhalten, ist eine andere Frage.2 Eine erste
1 Hugo
von Hofmannsthal: Brief an Walther Brecht, 20. 2. 1929. In: Stefan George / Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal. Hg. von Robert Boehringer. Erster Abschnitt 1891 – 1892, München – Düsseldorf 21953, S. 234–236, hier S. 236. 2 Vgl. zu deren Implikationen die umfassende, grundlegende neue Studie Mario Zanucchi: Transfer und Modifikation. Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne (1890–1923), Berlin – Boston 2016; und ihren nach wie vor unverzichtbaren klassischen Vorgänger Paul Hoffmann: Symbolismus, München 1987.
https://doi.org/10.1515/9783110697001-004
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philologische Antwort fällt zumindest für Hofmannsthal eindeutig aus und scheint dieser Verortung zu widersprechen. Denn im Jahr 1892 verwendet Hofmannsthal jeweils in einem Brief diese Bezeichnung für eine neuere Bewegung der europäischen Literatur zweimal offensichtlich metonymisch, wenn er Anfang Januar an Gustav Schwarzkopf schreibt: „Ich möchte gern einmal ins Caffeehaus kommen, aber dort geht der Symbolist.“3 Am 15. 1. 1892 heißt es in einem Brief an Herrmann Bahr: „Ich […] hoffe Sonntag schon den letzten Bericht ‚vom anderen Ufer‘ über dieses symbolistische Experiment erstatten zu können.“4 In beiden Fällen steht „Symbolist“ und „symbolistisch“ für Stefan George und dient offensichtlich der polemischen Distanzierung. Dagegen ist es vielversprechend, solche und ähnliche manifeste Äußerungen zunächst zurückzustellen und die Art der gemeinsamen Zugehörigkeit Georges und Hofmannsthals zu dieser Jahrhundertbewegung von ihren poetischen Texten und Artefakten her zu erhellen, wie es im Folgenden in drei Schritten geschehen soll. Dabei sollen zunächst die unverzichtbaren Bestandteile einer solchen kurzen Geschichte des Symbolismus als Adaption und Aneignung mit Blick auf einige wenige Beispiele aus Literatur, Poetik und bildkünstlerischer Gestaltung benannt werden. Eher klassisch philologisch demonstriert dann die Re-Lektüre zweier Texte der beiden Autoren in bestimmten Themen, Motiven und Schreibformen ein solches Gefüge sprechender zitierter Elemente. Zumindest in Konturen wird so eine europäische Literaturgeschichte sichtbar, die nicht primär vermeintlich stabile Autor-Werk-Einheiten fokussiert oder im Ausgang von Leitbegriffen und poetologischen Konzepten sozusagen von oben auf die Fülle der Texte und Phänomene schaut. Umgekehrt soll der Blick ‚von unten‘, von der Vielfalt der Objekte her, auf diesen historischen Zusammenhang gelenkt werden, wobei auch das sogenannte Europäische seinerseits offensichtlich in einem größeren, um nicht zu sagen: globalen Zusammenhang steht.
3 Hugo
von Hofmannsthal: Brief an Gustav Schwarzkopf, Anfang Januar 1892, zit. nach Jens Rieckmann: Hugo von Hofmannsthal und Stefan George. Signifikanz einer ‚Episode‘ aus der Jahrhundertwende, Tübingen – Basel 1997, S. 17. 4 Hugo von Hofmannsthal: Brief an Herrmann Bahr, 15. 1. 1892. In: Hugo und Gerty von Hofmannsthal / Herrmann Bahr: Briefwechsel 1891–1934. Hg. und kommentiert von Elsbeth Dangel-Pelloquin. Bd. 1, Göttingen 2013, S. 31.
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I. Symbolismus und Moderne – Poetik als Zitat Über kaum ein Datum besteht in der neueren Literaturgeschichte zumindest in vergleichender Perspektive mehr Einigkeit als über das Jahr 1857, in dem ‚die Moderne‘ beginnt, wie etwa Wolfgang Matz in der Konstellation dreier Erscheinungsdaten und entsprechender Skandale erhellt hat. Denn neben Gustave Flauberts epochalem Roman ‚Madame Bovary‘ und Adalbert Stifters ‚Nachsommer‘ wird auch Charles Baudelaires erste Sammlung von Gedichten mit dem provokanten Titel ‚Les Fleurs du mal‘ in diesem Ausnahmejahr der Literatur erstmals veröffentlicht, deutsch ‚Die Blumen des Bösen‘ – oder, wie man auch übersetzen könnte, des Kranken, des Schlechten, des Übels.5 Zwei von vielen aufregenden und bis heute anstößigen Gedichten dieses Bandes sind es, die für Generationen von Dichtern bedeutsam werden. Da ist zum einen der symbolistische Gründungstext schlechthin, unzählige Male übersetzt, adaptiert, variiert, kommentiert, schon im Titel vielsagend und vielversprechend: ‚Correspondances‘, auf Deutsch, wiederum mehrdeutig, ‚Korrespondenzen‘ oder ‚Beziehungen‘ oder auch ‚Einklänge‘, beschwört eine Übereinstimmung aller Sinne und gibt vor allem den Düften erstmals in der Geschichte der Lyrik einen besonderen Raum. Die ‚Umdichtung‘ Georges, deren Bedeutung für seine dichterischen Anfänge nicht hoch genug eingeschätzt werden kann,6 ist seit jeher umstritten, weil offensichtlich sein eigener dichterischer Anteil an diesem Text so hoch ist, dass manche Kritiker meinen, Baudelaires womöglich ironisches Programm eines neuen poetischen Sprechens sei hier bestenfalls noch in Ansätzen zu finden:
5 6
Wolfgang Matz: 1857. Flaubert, Baudelaire, Stifter, Frankfurt a. M. 2007. Vgl. dazu grundlegend Maik Bozza: Genealogie des Anfangs. Stefan Georges poetologischer Selbstentwurf um 1890, Göttingen 2015.
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Correspondances
Einklänge
La Nature est un temple où de vivants piliers Laissent parfois sortir de confuses paroles; L’homme y passe à travers des forêts de symboles Qui l’observent avec des regards familiers.
Aus der natur belebten tempelbaun
Comme de longs échos qui de loin se confondent Dans une ténébreuse et profonde unité, Vaste comme la nuit et comme la clarté, Les parfums, les couleurs et les sons se répondent.
Wie lange echo fern zusammenrauschen
Il est des parfums frais comme des chairs d’enfants, Doux comme les hautbois, verts comme les prairies, – Et d’autres, corrompus, riches et triomphants,
Parfüme gibt es frisch wie kinderwangen
Ayant l’expansion des choses infinies, Comme l’ambre, le musc, le benjoin et l’encens, Qui chantent les transports de l’esprit et des sens.7
7 Charles
Oft unverständlich wirre worte weichen ∙ Dort geht der mensch durch einen wald von zeichen Die mit vertrauten blicken ihn beschaun.
In tiefer finsterer geselligkeit ∙ Weit wie die nacht und wie die helligkeit Pafüme farben töne reden tauschen.
Süss wie hoboen grün wie eine alm – Und andre die verderbt und siegreich prangen Mit einem hauch von unbegrenzten dingen ∙ Wie ambra moschus und geweihter qualm Die die verzückung unsrer seelen singen.8
Baudelaire: Œuvres Complètes. 2 Bde. Hg. von Claude Pichois. Bd. 2, Paris 1976, S. 11. 8 Mit der Sigle SW sowie der Nennung des jeweiligen Bandes und der jeweiligen Seite wird die folgende Ausgabe zitiert: Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982 ff. Hier: SW XIII/XIV, S. 14.
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Ungeachtet der zahllosen Deutungen, die dieses Sonett, das die „Quintessenz symbolistischer Poetik zu enthalten schien“,9 erfahren hat, mag hier der Hinweis genügen, dass bei Baudelaire explizit von „symboles“ die Rede ist und das griechische Wort, abgeleitet vom Verb sym-ballein, zusammen-werfen, eigentlich ein Ritual des Wiedererkennens bezeichnet, indem sich die beiden Besitzer eines in zwei Teile gebrochenen Gegenstands beim Zusammenfügen wechselseitig identifizieren können. Entsprechend ist Georges Übersetzung mit „Zeichen“ treffender als das deutsche „Symbol“, das durch Goethes epochale Unterscheidung von Symbol und Allegorie bis heute eher für die Eröffnung eines ganzen Bedeutungshorizonts einsteht und von Goethe interessanterweise in einem berühmten Brief an Schiller im Kontext von Reise-Erfahrungen präzisiert worden ist.10 Bei Baudelaire geht es aber doch eher stofflich-konkret um ein vermeintliches oder unmittelbar erfahrbares wechselseitiges Erkennen und Wiedererkennen in einem Kosmos, in dem alles mit allem verbunden zu sein scheint, die belebten und unbelebten Dinge einander antworten, die Töne sich mischen und fremdartige Düfte in andere Zustände versetzen; die Nähe zu seinen Vers- und Prosagedichten über Haschisch, über den Traum und die andere, wahre Halluzination des Dichtens ist unverkennbar.11 Zweifellos verkürzend lässt sich so resümieren, dass das Gedicht in der skizzierten Fülle von sinnlich-aisthetischen Beziehungen eben diese nicht nur benennt oder beschwört, sondern performativ ins Werk setzt. Georges Übersetzung mit ihren kongenialen Reimen und der unübertrefflichen Einhaltung der strengen Sonettform demonstriert und 9 Hoffmann,
Symbolismus (Anm. 2), S. 75. diesem viel zitierten Brief nennt Goethe „nur zwei solcher Gegenstände“ für das „bedeutende“: „den Platz auf dem ich wohne, der in Absicht seiner Lage und alles dessen was darauf vorgeht in einem jeden Momente symbolisch ist und den Raum meines großväterlichen Hauses, Hofes und Gartens, der aus dem beschränktesten patriarchalischen Zustande, in welchem ein alter Schultheiß von Frankfurt lebte, durch klug unternehmende Menschen zum nützlichsten Waren und Marktplatz verändert wurde.“ Johann Wolfgang Goethe an Friedrich Schiller, 16./17. 8. 1797. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. II. Abt.: Johann Wolfgang Goethe mit Schiller. 1794–1799. Hg. von Karl Eibl u. a. Bd. 4, Frankfurt a. M. 1998, S. 388–391, hier S. 390. 11 Vgl. Verf.: Poetische Prosa. Beiträge zur modernen Poetik von Baudelaire bis Trakl, Stuttgart 2001, S. 23–75. 10 In
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radikalisiert die Modernität dieser poesis bis in die Typographie, wenn er etwa im achten Vers „Parfüme farben töne reden tauschen“ auf jedes trennende Satzzeichen verzichtet und mit dem ersten Wort auch die Künstlichkeit dieser Vision und ihrer Bestandteile ausstellt. Denn als Vermischung ferner Echos gibt sich ja auch der Text selbst zu erkennen, der offensichtlich Versatzstücke anderer Texte etwa E.T.A. Hoffmanns oder Edgar Allan Poes zitiert. Das Gedicht ist auch ein Seitenstück zu einer berühmten Passage aus Baudelaires ‚Salon von 1846‘, der ein Zitat aus Hoffmanns Text über den phantasiebegabten und womöglich wahnsinnigen Kapellmeister Kreisler enthält, das, wie Baudelaire schreibt, „meinen Gedanken vollkommen ausdrückt: ‚Nicht sowohl im Traume, als im Zustande des Delirierens, der dem Einschlafen vorhergeht, vorzüglich wenn ich viel Musik gehört habe, finde ich eine Übereinkunft der Farben, Töne und Düfte. Es kommt mir vor, als wenn alle auf die gleiche geheimnisvolle Weise durch den Lichtstrahl erzeugt würden und dann sich zu einem wundervollen Konzerte vereinigen müßten. – Der Duft der dunkelroten Nelken wirkt mit sonderbarer magischer Gewalt auf mich; unwillkürlich versinke ich in einen träumerischen Zustand und höre dann wie aus weiter Ferne die anschwellenden und wieder verfließenden tiefen Töne des Bassetthorns.‘“12
Sowohl die literarische Figur Kreisler als auch ihr Autor Hoffmann haben dieses Delirium aber auch mit eher profanen künstlichen Mitteln befördert, etwa durch den Konsum von Alkohol, und entsprechend beschreibt Baudelaire in seiner großen Abhandlung über Edgar Allan Poe dessen bekanntlich verheerendes Trinken als poetische Mnemotechnik: Nun ist es aber unbestreitbar, daß es […] gleich jenen seltsamen regelmäßig wiederkehrenden Träumen, die uns im Schlaf heimsuchen, in der Trunkenheit nicht nur Träume gibt, die sich verketten, sondern ganze Reihen von Überlegungen, die, um sich wieder einzustellen, des Milieus bedürfen, in dem sie einmal entstanden sind. […] [I]ch vermute, daß Poes Trunksucht in vielen Fällen […] ein Hilfsmittel der Mnemonik, eine Arbeitsmethode war […].13 12 Charles
Baudelaire: Salon von 1846. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. In acht Bänden. Hg. von Friedhelm Kemp / Claude Pichois. Bd. 1: Juvenilia – Kunstkritik, München – Wien 1989, S. 193–283, hier S. 204 f. 13 Charles Baudelaire: Edgar Poe, sein Leben und seine Werke. In: Ders.: Sämtliche Werke. In acht Bänden. Hg. von Friedhelm Kemp / Claude Pichois. Bd. 2: Vom Sozialismus zum Supranaturalismus. Edgar Allan Poe 1847–1857, München – Wien 1983, S. 314–340, hier S. 336. „Or, il est incontestable que […] – semblables à ces singuliers rêves périodiques qui fréquentent nos sommeils, – il
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Wenn die Herstellung von Einklängen, Beziehungen und Korrespondenzen das Grundprinzip und der Effekt symbolistischer Dichtung sein mag, so ist ihre Beziehung zu Traum und Rausch ebenso evident wie das nüchterne Kalkül der technischen Herstellung solcher Bezüge, wie es bei Baudelaire und George noch bis zum kleinsten Satzzeichen verfolgt werden kann.14 Das zweite, ähnlich wirkungsmächtige Gedicht Baudelaires, das für diesen Zusammenhang entscheidend ist, ‚A une passante‘, wiederum ein klassisches Sonett, das an eine flüchtig geschaute Passantin im Menschengewirr des Straßenverkehrs adressiert ist, hat George entsprechend gleichermaßen korrekt und akzentverlagernd umgedichtet als ‚Einer Vorübergehenden‘.15 Mit dem Lehnwort Passantin wäre im Deutschen eine neue Erscheinungsweise der Frau bezeichnet, die man tatsächlich nur im Gedränge eines Großstadtboulevards so plötzlich auftauchen und verschwinden sehen kann, wie es Baudelaires Gedicht beschreibt, doch mit der Akzentuierung des zugrundeliegenden Verbs passer/vorübergehen im allgemeineren und nicht auf Personen reduzierten Sinn betont Georges Titel gerade das Moment des Transitorischen und Flüchtigen, das in Baudelaires Ästhetik und Poetik von entscheidender Bedeutung ist. Anders als die Mehrzahl der zeitgenössischen Übersetzungen fügt George die Ergänzung der anderen, klassischen oder klassizistischen Seite dieser doppelten Ästhetik zu einem einzigen Bild: „mit einer statue knie“ blitzt unter dem Rocksaum der Dame zugleich das nackte Körperteil und seine künstlerische Veredelung auf, und eben diesen Saum hat George wiederum als einziger Übersetzer seiner Zeit als ein
existe dans l’ivresse non seulement des enchaînements de rêves, mais des séries de raisonnements, qui ont besoin, pour se reproduire, du milieu qui leur a donné naissance. […] [J]e crois que dans beaucoup de cas […] l’ivrognerie de Poe était un moyen mnémonique, une méthode de travail […].“ Charles Baudelaire: Edgar Poe, sa vie et ses œuvres. In: Ders., Œuvres Complètes (Anm. 7), Bd. 2, S. 296 – 318, hier S. 315. Vgl. zu Baudelaires Auseinandersetzung mit Poes Alkoholkonsum bereits Ernst Behler: „Eine Kunst für Künstler, nur für Künstler“: Poe, Baudelaire, Nietzsche. In: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft 4, 1994, S. 9–35. 14 Mit Vision und Kalkül sind bereits bei Paul Hoffmann die beiden zentralen Techniken der symbolistischen Dichtung nach Baudelaire benannt, vgl. Hoffmann, Symbolismus (Anm. 2), etwa S. 140 ff. 15 Die folgenden Stellen aus Georges Übersetzung zit. nach SW XIII/XIV, S. 119.
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zeittypisches modisches Accessoire identifiziert: Nur bei ihm ist, wie im Original, modehistorisch korrekt zwischen „kleidbesatz und saum“ („le feston et l’ourlet“) unterschieden und somit die „Selbstverständlichkeit des schneider-handwerklichen Vokabulars“ erhalten geblieben.16 Augenblick und Ewigkeit, wie sie im Blitzschlag der plötzlichen Liebe in Baudelaires Gedicht zusammenfallen, arbeitet George als die zentralen Elemente dieser doppelten Ästhetik heraus, indem er gleichermaßen der Formstrenge des Sonetts wie der eigentümlichen Folge einander rasch ablösender Bilder und akustischer Eindrücke bei Baudelaire gerecht wird. Deren widerständige Fügung, die auch in Georges bild treuer Umdichtung an manchen Stellen nah an der Katachrese liegt – das ‚Tosen‘ der Straße, das Auge als ‚Heimat der Orkane‘ –, hat George wiederum kongenial nachgebildet, indem er die einzelnen Satzteile wie in assoziativer Reihung fast ohne Satzzeichen aneinanderhängt. Erst mit dem plötzlichen Einfall des Liebesblicks im ersten Terzett wird diese parataktische Folge auch typographisch nachdrücklich unterbrochen: „Ein strahl … dann nacht! o schöne wesenheit / Die mich mit EINEM blicke neu geboren“, um dann mit der abschließenden Frage: „Kommst du erst wieder in der ewigkeit?“, zur Ruhe zu kommen. Dieselbe Zweiteilung weist auch das zweite Terzett auf; hier trennt und verbindet der Hochpunkt die einzelnen Sequenzen der plötzlichen Erkenntnis des immer schon und für immer Verlorenen – „Verändert ∙ fern ∙ zu spät ∙ auf stets verloren! / Du bist mir fremd ∙ ich ward dir nie genannt ∙ / Dich hätte ich geliebt ∙ dich die’s erkannt“. Die durchgehend antithetische Struktur des Gedichts, ein Erbe der Sonett-Tradition seit Petrarca, ist hier bei Baudelaire wie bei George bis in die Antithese selbst verlängert und trägt entscheidend zum Eindruck radikaler Modernität bei. Der „Chock“ lustvoller Überwältigung, den Walter Benjamin in diesem Gedicht exemplarisch inszeniert fand, mitsamt dem „tiefe[n] Bruch zwischen den Vierzeilern, die den Vorgang dartun, und den Terzinen, die ihn verklären“,17 ist auch in Georges Übersetzung ungemildert.
16 Jürgen
Stackelberg: Weltliteratur in deutscher Übersetzung. Vergleichende Analysen, München 1978, S. 207. 17 Walter Benjamin: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire. In: Ders.: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 51990, S. 7–100, hier S. 44.
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Neben diese Beispiele für die Aneignung und Überschreibung der epochemachenden, programmatischen Gedichte des ersten symbolistischen Dichters Frankreichs lässt sich aber noch ein drittes, gleichfalls von George übersetztes Gedicht stellen, eines der frühesten Versgedichte des erst 23-jährigen Stéphane Mallarmé, ‚Brise marine‘ / ‚Seebrise‘.18 Dort steht ein Alter Ego des Autors – Mallarmé ist bereits verheiratet und Vater einer kleinen Tochter – offenbar am Meer und evoziert den Aufbruch, die Sehnsucht, als ein anderer Seevogel zwischen Schaum und Himmeln selig zu verschwinden. Nichts wird diesen Aufbruch verhindern können, weder die Reflexion der Gärten, noch die stillende Mutter. und erst recht nicht das leere Papier, das im verlorenen Schein des Lampenlichts liegt, verteidigt von der „Weiße“, oder dem „Weißsein“, französisch „le vide papier que la blancheur défend“.19 Gerade in Deutschland liest man Mallarmés Dichtung häufig als eine Metaphysik solcher Leere, der reinen Weiße oder des Nichts, aber hier exemplifiziert das Gedicht doch auch die Verbindung zu einer bestimmten Stofflichkeit des sprachlichen Bildes und führt vor, wie dadurch eben dieses andere Weiß bearbeitet wird, die weiße Papierseite. Denn die Vision des träumerischen Betrachters am Meeresufer ist zunächst die Miniatur eines Seestücks, mit taumelnden Seevögeln, Dampfern und Takelagen, Ankern und winkenden Taschentüchern, kleinen Inseln und singenden Matrosen, zitierte Versatzstücke eines Genrebilds. Aber bei näherem Hinsehen erweist sich dasselbe auch als Schrift-Bild in Blau-Weiß oder Schwarz-Weiß, wie es schon die Nennung „ausgelesener Bücher“ im ersten Vers mit den typischen Druckfarben nahelegte, dann das Blau des Himmels und der weiße Schaum, die weißen Seevögel vor dem blauen Himmel, das weiße Papier in blau-schwarzer Nacht, die weißen Taschentücher vor dem blauen Meer und schließlich die weißen Segel über dem blauen und im Sturm schwarzen Meer. In einem einzigen Klang sind diese beiden Bilder übereinandergelegt: l’ancre, der Anker,
18 Stéphane
Mallarmé: Seebrise. In: Stefan George: Zeitgenössische Dichter. Übertragen von Stefan George, 2 Bde., Berlin 1905, Bd. 2, S. 33; SW XVI, S. 31. 19 Stéphane Mallarmé: Brise marine. In: Ders.: Album de vers et de prose, Brüssel – Paris o. J. [1887–1888], S. 19 f. Zanucchi weist darauf hin, dass nur diese Fassung die Grundlage für Georges Übersetzung gewesen sein kann, vgl. Zanucchi, Transfer und Modifikation (Anm. 2), S. 163, Anm. 393.
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ist im Hören ununterscheidbar von l’encre, die Tinte, und entsprechend gilt die homonyme Aufforderung, den Anker oder die Tinte zu heben, gleichermaßen dem Ausfahren auf das Meer und dem Schreiben. Als Allegorie des Schreibens verweist das Gedicht somit auch auf dessen eigene Materialität und auf die zunächst ‚leere‘ Notwendigkeit, mit blauer oder schwarzer Tinte die weiße Fläche des Papiers zu bezwingen. Und es kann den Blick darauf lenken, dass Baudelaires Sonett über die Passantin mit dem dunklen Trauergewand, dem „Bein einer Statue“ und der Evokation von Nacht und Blitz die selbe Schwarz-Weiß-Folie zugrunde liegt. II. Im Horizont des Fächers. Japonistische Korrespondenzen Wenn Baudelaire im Gedicht über die Beziehungen oder Einklänge der Sinneswahrnehmungen und ihrer Deutung die poetische Kraft exotischer Düfte beschwört und in einigen Versgedichten der ‚Fleurs du mal‘ Schiffsreisen in unbekannte ferne Länder des so genannten Orients evoziert, wie sie dann Mallarmé in seinem frühen Meeresgedicht aufnimmt, so ist bereits ein anderer Raum solcher Bezugnahmen geöffnet, der nach 1850 in Frankreich zunehmend mit japanischen Bildern und Assoziationen besetzt ist. Die Japan-Begeisterung, der Japonisme / Japonismus, prägt auch die so genannte symbolistische Dichtkunst, wie sich am Beispiel Mallarmés und seiner Künstlerfreunde kurz demonstrieren lässt.20 Mallarmé selbst hat japanische Holzstiche gesammelt und sich ein eigenes japanisches Kabinett angrenzend an sein Schlafzimmer eingerichtet, aber auch seine reiche Fächersammlung zeugt von seiner Begeisterung für diese Kunst, die in Westeuropa erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekannt und verbreitet werden konnte. Entsprechend steht auch Mallarmés (Brief-)Korrespondenz mit der ihrerseits ‚japanisch‘ gerahmten Tänzerin, Salondame und Sammle
20 Vgl.
zu den historischen Grundlagen und dem Umfang dieser überwältigenden neuen Eindrücke und ihrer Aneignung in europäischen Künsten Siegfried Wichmann: Japonismus. Ostasien – Europa. Begegnungen in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, Herrsching 1980, zu einer besonders engen Verbindung von japanischer Kunst und Impressionismus/Jugendstil Gregory Irvine: Der Japonismus und die Geburt der Moderne. Die Kunst der Meiji-Zeit. Die Khalili-Sammlung, Leipzig 2014.
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rin Méry Laurent in den 1880er und 90er Jahren im Zeichen dieser neu entdeckten Kultur und Mode. Édouard Manet hat sie bereits 1882 als west-östliche Schönheit vor einem mit japanischen Motiven bemalten Paravent verewigt.21 Und in einem Versgedicht, das ihre Schönheit feiert, vergleicht Mallarmé diese unerreichbare Geliebte mit einem Fächer: Sie sei „Comme un éventail seul dont la chambre s’étonne“/ „wie ein einzigartiger Fächer, über den ein ganzer Raum staunt“.22 Womöglich handelt es sich bei diesem Einfall um eine Art umgekehrte Synekdoche, die als Sonderfall der Metonymie das Verhältnis reiner Teilhabe meint. Buchstäblich zusammen-denken – syn-ek-doche – muss man Méry und den Fächer, weil Fächer selbst quasi Teile ihres Körpers sind: Eine undatierte Photographie zeigt sie im japanischen Gewand mit einem Fächer in ihrem leuchtenden Haar, das Mallarmé mehrfach poetisch gepriesen hat, während sie den zweiten locker in der Hand hält.23 Beide Exemplare sind offenbar solche typischen Faltfächer aus Papier, die, in den 1870er und 80er-Jahren in Frankreich millionenfach produziert, zum wichtigsten Accessoire der Dame wurden. Damit einher geht auch die Erinnerung an die galanten Praktiken früherer Zeitalter, wie die Fächerkunst des Barock und des Rokoko, und in den Pariser Salons der 1880er Jahre lebt wieder auf, was als ehemals höfische Zeichensprache der Liebe über Jahrhunderte mehr oder weniger ernsthaft entwickelt worden war.24 Diese ‚Fächersprache‘ mit zugleich sichtbaren und verborgenen Zeichen ist eine der Hand, die den fragilen Papier-Schirm hebt, dreht, auf- und zufaltet, komplett zusammenklappt und neigt, unterstützt von Blicken und anderen mimischen Zeichen,
21 Édouard
Manet: L’automne, 1882, Öl auf Leinwand, Nancy, Musée des Beaux-Arts. Vgl. Blandine Chavanne / Sophie Harent (Hg.): Méry Laurent, Manet, Mallarmé et les autres, Nancy 2005, S. 45. 22 Stéphane Mallarmé: Méry. In: Ders.: Lettres à Méry Laurent. Hg. von Bertrand Marchal, Paris 1996, S. 40. Bei dem Gedicht handelt es sich um die erste Fassung des im ‚Figaro‘ vom 10. 2. 1896 veröffentlichten Gedicht ‚Dame sans trop d’ardeur‘. 23 Chavanne / Harent, Méry Laurent (Anm. 21), S. 51. Vgl. zum Folgenden, in teils wörtlicher Übernahme, Verf.: Papierflügel und Federpfau. Materialien des Liebeswerbens bei Stéphane Mallarmé. In: Jörg Paulus / Renate Stauf (Hg.): SchreibLust. Der Liebesbrief im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin – Boston 2013, S. 307–329. 24 Vgl. Georg Buß: Der Fächer, Bielefeld – Leipzig 1904.
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die gleichermaßen der heimlichen Zuwendung wie der öffentlichen Tarnung dienen können.25 Unter Mallarmés Händen wird der vieldeutige Gegenstand wieder zum bloßen Material, zum Schreibpapier, wie bereits die japanische Fächerkultur handbeschriebene Fächer hervorgebracht hat, bei denen auf farbig bedrucktem Papier Bilder und Schriftzeichen nebeneinanderstehen, „mit irgendeiner weisen Sentenz, einem kurzen buddhistischen Text oder […] den Versen eines gefeierten Dichters beschrieben“.26 Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts mehren sich auch in Frankreich die Fächer-Autographen, beispielsweise bei Soirées und Bällen, wo die Reihe der Tanzherren mit einem Kompliment und einer eigenhändigen Unterschrift den Fächer zum Souvenir festlicher Augenblicke macht. Zudem können beschreibbare Papierfächer, wie auch im Freundeskreis Mallarmés üblich, dezidiert zum Kunstwerk und kostbaren Sammlungsgegenstand umgewidmet werden, wenn bildende Künstler und Schriftsteller dort exklusive Proben ihrer Kunst gewissermaßen aus dem Handgelenk ablegen. Mallarmés Umgang mit solchen Fächern schließt an diese geselligen und künstlerischen Praktiken an und überbietet sie zugleich.27 Insgesamt fünfundzwanzig eigenhändig beschriftete Fächer hat er an ihm mehr oder weniger nahestehenden Damen verschenkt, von denen dreizehn mit ‚Fächergedichten‘ im doppelten Sinn beschrieben sind, solchen also, in denen der Fächer quasi selbst spricht oder als eigentümliches Gebilde besprochen oder vielmehr beschrieben wird.28 Aus dem Besitz Méry Laurents ist beispielsweise ein solcher Fächer ohne seine Stäbe erhalten geblieben, dessen japanisches Papier mit ebensolchem Dekor in der üblichen Salon-Manier von verschiedenen
25 Vgl.
Anne Ferrette: L’éventail dans la presse de la seconde moitié du XIXe siècle à 1905. In: Philippe Rollet (Hg.): Rien qu’un battement aux cieux. L’éventail dans le monde de Stéphane Mallarmé, Kat. zur Ausstellung Vulaines-sur-Seine 19. 9.–21. 12. 2009, Montreuil-sous-Bois 2009, S. 8–25, hier S. 8, S. 11. 26 Buß, Der Fächer (Anm. 24), S. 42. 27 Vgl. zu den poetologischen Implikationen von „Fächer und Wind“ auch Angelika Jacobs: Stimmungskunst von Novalis bis Hofmannsthal, Hamburg 2013, S. 289 ff. 28 Vgl. Verf.: Miniaturen und Monogramme. Stéphane Mallarmés Papier-Bilder. In: Lena Bader / Georges Didi-Hubermann / Johannes Grave (Hg.): Sprechen über Bilder – Sprechen in Bildern. Studien zum Wechselverhältnis von Bild und Sprache, Berlin – München 2014, S. 113–128.
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Händen längs der Faltung beschriftet wurde. Hier findet sich neben handschriftlichen Souvenirs mehrerer Autoren aus dem Kreis um die gefeierte Salondame auch ein Distichon Mallarmés mit einer paradox ergänzten Signatur: „Heureux pour qui, souriante et farouche, Méry Laurent met le doigt sur sa bouche (ce n’est pas) Stéphane Mallarmé“, etwa: „Glücklich, für den, lächelnd und wild, Méry Laurent den Finger auf den Mund legt (dies ist nicht) Stéphane Mallarmé“.29 Die scherzhafte Galanterie der unterzeichneten Verse bringt die gesellige Schreibsituation, von der sie handeln, mit der Rückbindung der Schrift an ihren Träger zusammen: Das Distichon fügt sich in die Reihe der Autographen, wie der Schreiber sich zugleich als nicht durch die Geste ausgezeichneten Außenseiter in den Kreis der Bewunderer reiht und mit dem Akt des Unterzeichnens aus ihm heraustritt – eben als der, der nicht ausgezeichnet wurde. Auf dem Fächer hat jedoch die Adressatin nicht nur die Schriftzüge des womöglich Übersehenen, sondern auch seinen Namen im Verbund mit ihrem eigenen buchstäblich ständig vor Augen; das kleine Gedicht hat also selbst teil an der dem Fächer eigenen Kunst des Verbergens und Zeigens. Mallarmés besondere Aufmerksamkeit bei solchen kalligraphischen Distichen oder Vierzeilern gilt dabei auch der Erarbeitung einer Art Künstlersignatur, die aus der Tintenzeichnung seiner beiden verschlungenen Initialen besteht. In dieser Verbindung werden die Initialen SM zu einem Schriftbild, in dem man florale Elemente oder eine ganze stilisierte Blüte sehen kann, ein Effekt, der noch dort verstärkt ist, wo Mallarmé die kleine Zeichnung in das Dekor bedruckten Papiers einfügt, wie auf einem Fächer für Misia Natanson, deren Klavierspiel in den Versen des Gedichts gefeiert wird. Die Doppelinitiale nimmt hier die Formen der Blüten, Stängel und Blätter des Dekors auf, dem die vier Verse des Gedichts in teils respektvoller Annäherung, teils kühnem Überschreiben eingepasst sind, und lässt sich auch als graphische Verneigung vor der japanischen Kunst der Graphie und der Papiergestaltung lesen.30 Der Blick wird jedoch so beim Lesen zugleich immer wieder auf das 29 Stéphane
Mallarmé: Heureux pour qui …, Fächer von Méry Lauent. Zit. nach: Rollet, Rien qu’un battement aux cieux (Anm. 25), S. 50. 30 Vgl. Verf.: Verse unter Umständen. Goethes und Mallarmés Schreib–Materialien. In: Christiane Heibach / Carsten Rohde (Hg.): Ästhetik der Materialität, München 2015, S. 173–196.
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außergewöhnliche und doch alltägliche Schreibmaterial zurückgelenkt; Gedichttext, Grapheme und fernöstliches Dekor ergeben neue, eigentümlich west-östliche Artefakte. Diese Formensprache überträgt Mallarmé wiederum auch in andere Korrespondenzen. So ist eine Widmung für den amerikanischen Maler und Vermittler japanischer Kunst James McNeill Whistler auf dem Vorsatzblatt seines Buchs ‚Vers et prose‘/‚Verse und Prosa‘ ähnlich kalli graphisch gestaltet: Die gemalte Verbindung seiner beiden Initialen wird zu einem Schriftbild, das sich auch als ikonisch einstufen lässt, weil man in den geschwungenen Zügen florale Elemente oder in der ganzen Figur eine stilisierte Blüte sehen kann.31 Dass Mallarmé dieses Schriftbild seriell entwickelt und wie eine Art Markenzeichen verwendet, zeigt sich spätestens dort, wo es der Unterschrift eigentlich nicht bedarf, wie auf einer Visitenkarte mit einem Gedicht für Méry Laurent.32 Und auch der neuerdings komplett veröffentlichte Briefwechsel Georges mit Mallarmé wird durch eine solche Visitenkarte eröffnet, die auf der Vorderseite nur den aufgedruckten Namen in Versalien stefan george enthält und auf der Rückseite die Widmungsadresse: „À Monsieur Stéphane Mallarmé / un auteur étranger mais daignez familier“, etwa: „Herrn Stéphane Mallarmé / ein fremder, doch gestatten Sie, verwandter Autor“.33 Entsprechend ist dieser erste weder datierte noch unterzeichnete ‚Brief‘ in Form einer Karte oder eines Billetts bereits ein Grenzfall seiner Gattung; eine nicht nur editorische Differenzierung wäre angesichts der reichen Tradition dieses Formats, seiner eigenen Medialität und Materialität und der Ausbildung eigener „Schreibszenen des Billetts“ sicher sinnvoll.34 Auch Mallarmé wird im April 1895 und nochmals am
31 Stéphane
Mallarmé: Widmung für James McNeill Whistler. In: Yves Peyré (Hg.): Stéphane Mallarmé. Un destin d’écriture. 1898–1998, Ausst.-Kat., Paris 1998, S. 181. 32 Stéphane Mallarmé: Visitenkarte mit Gedicht und Signatur. In: ebd., S. 48. 33 Stefan George / Stéphane Mallarmé: Briefwechsel und Übertragungen. Hg. von Enrico De Angelis, Göttingen 2013 (= Castrum Peregrini 5), S. 57, S. 89. George hatte am 11. 12. 1890 drei von insgesamt nur hundert, überwiegend für Freunde bestimmte Exemplare seines ersten Gedichtbands ‚Hymnen‘ an Albert SaintPaul geschickt, mit der Bitte, eines davon an Mallarmé weiterzuleiten. 34 Günter Oesterle: Schreibszenen des Billets. In: Christine Lubkoll / Claudia Öhl
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23. 2. 1896 eine solche eigene Visitenkarte zur Danksagung nutzen.35 Dabei sind die sorgfältig in den begrenzten weißen Raum gefügten Zeilen genau in der Mitte durch den in Versalien gedruckten Namen stéphane mallarmé geteilt, der zudem wieder als eine Art Künstlersignatur aus den beiden verschlungenen Initialen S und M unter dem Schriftgebilde wieder aufgenommen ist. Diese zeichnerische Ergänzung des geschriebenen Textes ist umso sprechender, als Mallarmé hier mit einem „muette poignée de main“, einem „stummen Handschlag“, für Georges Gedichte in deutscher Sprache (vermutlich aus dem späteren ‚Jahr der Seele‘) dankt.36 Mit eingestandener „ignorance“, „Unwissenheit/Unkenntnis“ der deutschen Sprache bezeichnet Mallarmé die Schriftgebilde als „impérieuse mélodie visible“, „gebieterisch sichtbare Melodie“, und „vol épars et certain“, „breiten und sicheren Flug“, „avec un trait sûr limitant la rêverie fluide“, „die mit einem sicheren Zug die fließende Träumerei begrenzen“.37 Zwei weitere faksimilierte Widmungen aus wechselseitig übersandten eigenen Buchausgaben machen die Gemeinsamkeiten der kalligraphischen Arbeit an Schrift und Text nochmals deutlich: Hier scheint George mit sorgfältig gemalten Druckbuchstaben und durchgehender Kleinschreibung in vier abgesetzten versartigen Zeilen auch formal auf Mallarmés kunstvoll geschriebene und mit den charakteristischen Aufstrichen verzierte Schreibschrift in ähnlicher räumlicher Anordnung zu antworten.38 Die Widmungssätze oder -verse, die in der neuen Briefausgabe unübersetzt bleiben, stellen dabei einen eigenen kleinen Dialog dar, der in der wechselseitigen Versicherung von Bewunderung und Zuneigung durchaus mehrdeutig ausfällt. So nennt Mallarmé sich in der ersten erhaltenen Widmung von 1893 in seinem eben erschienenen Buch ‚Vers et prose‘, die historischen Verhältnisse geradezu umkehrend und großzügig überschreitend, den „admirateur et ami“, „Bewunderer und Freund“, des adressierten George, um zwei Jahre später ein Exemschläger (Hg.): Schreibszenen. Kulturpraxis – Theatralität – Poetologie, Freiburg im Breisgau 2015, S. 115–136. 35 Stéphane Mallarmé: Briefkarten an Stefan George. In: George / Mallarmé, Briefwechsel (Anm. 33), S. 67, S. 72. 36 Stéphane Mallarmé: Briefkarte an Stefan George, [23. 2. 1896]. In: ebd., S. 72, S. 92, Randbemerkung 204. 37 Ebd., leicht modifizierte Übersetzung der Verf. 38 Vgl. Stefan George: Widmung für Mallarmé. In: ebd., S. 88.
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plar seines Essaybands ‚La Musique et les Lettres‘ mit einer besonderen handschriftlichen Ehrung zu eröffnen: „A Stefan George / Hommage / affectueux et admiratif / de / Stéphane Mallarmé“, „Für Stefan George / Ehrung / gefühlvoll und bewundernd / von / Stéphane Mallarmé“.39 Im selben Ton antwortet George 1895 und 1897, bezeichnenderweise in beiden Sprachen: „au Cher Maître / Stéphane Mallarmé / Stefan George“ („dem Lieben/Teuren Meister“) und „dem Meister / Stéphane Mallarmé / in verehrung und treue / Stefan George“.40 Auch wenn diese wechselseitige Verneigung den konventionellen Mustern solcher Übereignungstexte folgt, bleibt doch die Insistenz auf dem doppelten Dichternamen, der sich hier im gemeinsamen Vornamen zudem echoartig wiederholt, auffällig: Man begegnet sich, bei aller Devotion, zumindest in diesen Schriftzeichen und in der Symmetrie der Buchgeschenke, unter Gleichen – und zudem in eben jenem Kunst-Raum, den die Arbeit an japanischen – oder ‚japanischen‘ – Formen geöffnet hat. Dazu lässt sich auch Georges Übersetzung von Mallarmés Dramenfragment oder Gedicht ‚Hérodiade‘ rechnen: Herodias ist hier noch oder wieder der Name für die Tochter der gleichnamigen Frau des Herodes, die im 19. Jahrhundert unter ihrem anderen Namen Salome in allen Künsten omnipräsent ist. Mallarmé hat seit 1864 versucht, diese biblische und mythische Gestalt in einem Drama zu umkreisen, das nur aus wenigen Fragmenten besteht, darunter der erste Dialog der Herodias mit ihrer Amme, der im Zitat klassischer Tragödien-Exposition die Reihe lyrischer Dramen am Ende des Jahrhunderts eröffnet.41 Hier ist Herodias aber nicht die berühmt-berüchtigte orientalische Schönheit, die ihren Stiefvater mit einem betörenden Tanz dazu bringt, ihr den Kopf Johannes des Täufers zu schenken.42 Vielmehr zeigt Mallarmé sie als in sich zurückgezogene, einsame Schönheit, die sogar unter der Berührung ihres eigenen blonden Haars erschauert, das mit einem (kalten) Wasserfall verglichen wird. In Georges Übersetzung ist ihr erstes „Zurück!“
39 Stéphane
Mallarmé: Widmung für George. In: ebd., S. 87. George, Widmung Anm. 38), S. 87. 41 Vgl. die minutiöse Untersuchung des Texts in Peter Szondi: Das lyrische Drama des Fin de siècle, Frankfurt a. M. 1975. 42 Diese Umdeutung der namenlosen Tochter der Herodias zur Femme fatale schlechthin, Salome, dokumentiert in vielen Beispielen Thomas Rohde (Hg.): Mythos Salome. Vom Markusevangelium bis Djuna Barnes, Leipzig 2000. 40
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gefolgt von einer bildreichen Evokation dieser Unberührbarkeit, die typographisch verstärkt ist: „Die blonde Flut • mein unbeflecktes haar • / Den leib der einsamen umbadend • macht / Ihn starr. Mein haar vom licht durchflochten ist / Unsterblich … Weib! Mich tötete ein kuss / Wäre nicht schönheit tod . .“43 Wie ein fernes Echo nimmt der letzte Vers noch Edgar Allan Poes epochemachendes Diktum aus der ‚Philosophy of composition‘ von 1846 auf, der poetischste Gegenstand sei der Tod einer schönen Frau – und dessen Bearbeitung und Überschreibung in den Journalen Baude laires.44 George hat die Annäherung an die Bildsprache Mallarmés zugleich aber auch buchstäblich vollzogen, wie eine kalligraphische Seite der Handschrift, die auch im zitierten Briefband veröffentlicht ist, demonstriert, deren Farbigkeit die im Fortgang des Dialogs beschworene kalte Buntheit von Metall, Edelsteinen und künstlichen Blumen zitiert. Ist Herodias bei Mallarmé als eine weiße Schönheit mit goldenem Haar figuriert, deren Glanz sich wiederum im kalten Weiß eines Spiegels bricht, den sie selbst als gefrorenes Wasser und Eis bezeichnet, so wählt Melchior Lechter für die Buchgestaltung die königlichen Farben Gold und Blau und ersetzt die orientalische Herrscherin auf dem Titelblatt metonymisch durch einen goldenen Pfau.45 Schon Mallarmé hatte aber in insgesamt fast 250 Briefen und Karten Méry Laurent durchgehend als Pfau angeredet, als seinen „lieben“ oder auch „weißen Pfau“, und sie in einer Fülle von Rand- oder Beigabe-Zeichnungen auch entsprechend mit schwarzer Tusche liebevoll karikiert.46 Als ‚japonistisches‘ Bild ist der goldene Pfau bereits Teil einer berühmten Zimmerausmalung des bereits zitierten James McNeill Whistler, der für einen Londoner Sammler ostasiatischer Kunst einen ganzen Raum unter dem Titel ‚A Harmony in Blue and Gold‘, oder kurz ‚The Peacock Room‘ ausmalt,
43 Stéphane
Mallarmé: Hérodias. Umdichtung von Stefan George. In: George / Mallarmé, Briefwechsel (Anm. 33), S. 99–112, hier S. 101. 44 Edgar Allan Poe: The Philosophy of Composition. In: Graham’s Magazine, April 1846, S. 163–167; Charles Baudelaire: Journaux intimes. In:Ders., Œuvres Complètes (Anm. 7), Bd. 1, S. 647–708. 45 Stéphane Mallarmé: Herodias. 1905 ML an Stefan George. In: George / Mallarmé, Briefwechsel (Anm. 33), S. 99. 46 Vgl. Verf., Miniaturen und Monogramme (Anm. 28).
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darunter zwei goldene Pfauen auf fast wandhohen Fensterläden.47 Dieses Motiv erkennt man unschwer als zentralen Bestandteil zahlloser japanischer Kunstgegenstände wieder, darunter etwa lackierte Kästchen, die den goldenen Pfau als Relief tragen, und so umspannt ein Netz von Korrespondenzen in mindestens doppelter Hinsicht diese europäische Kunst. III. Ein „symbolistisches Experiment“ mit einer vorübergehenden Beziehung: Elektra und Herodias Abschließend seien nun noch, etwas klassisch-philologischer, also textbezogener, einige buchstäblich naheliegende Beispiele aus dem Korpus George-Hofmannsthal in diesen Kontext gestellt. Das eingangs bereits zitierte „symbolistische Experiment“ bezeichnet ja in den aufgeregten Briefen Hofmannsthals aus dem Dezember 1891 seine Bedrängnis durch „den Symbolisten“ Stefan George, und es ist zuallererst bemerkenswert, dass der fatale Briefwechsel nach der ersten Begegnung der beiden jungen Autoren nach dem Baudelaire’schen Muster der plötzlichen und unmöglichen Liebe zu einer Vorübergehenden modelliert und chiffriert ist. Schon Hofmannsthal gibt seinem Gedicht, das er George nach der ersten Begegnung widmet, die doppelte Adressierung „Herrn Stefan George / einem, der vorübergeht“,48 George fragt mit Zitat in Anführungszeichen zurück: „bleibe ich für Sie nichts mehr als ‚einer der vorübergeht‘? . .“, mit zwei vielsagenden Auslassungspunkten.49 Seine Gedichtantwort wiederholt zudem in der Umschreibung der Begegnung genau die elliptische Evokation des Passantinnen-Gedichts und den konvulsivischen Liebeskrampf mitsamt dem Moment des plötzlichen Erkennens und der Hoffnung auf Dauer: „Und endlich! wie? Ja? ein hoffen – ein ahnen – ein zucken – ein schwanken – o mein zwillings47 Vgl.
die Dokumentation in Claudia Däubler-Hauschke / Michael Brunner (Hg.): Impressionismus und Japanmode. Edgar Degas / James McNeill Whistler. Ausst.Kat., Überlingen 2009, S. 111–148. 48 Hofmannsthal an George, 21. 12. 1892. In: George / Hofmanns thal, Briefwechsel (Anm. 1), S. 7. Vgl. zu diesem Teil des Briefwechsels mit vielen weiteren Hinweisen zur Forschung Jörg Schuster: „Kunstleben“. Zur Kulturpoetik des Briefs um 1900 – Korrespondenzen Hugo von Hofmannsthals und Rainer Maria Rilkes, Paderborn 2014, S. 41 ff. 49 George an Hofmannsthal, 22. 12. 1891. In: ebd., S. 8.
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bruder“ – und er unterschreibt diesen Brief mit der Formel, nun ohne Komma, „Einer der vorübergeht“.50 Zudem greifen beide in ihrer wechselseitigen Adressierung als Dichter oder Künstler auf zentrale Stichworte der Dichtung Baudelaires zurück, wenn Hofmannsthal George (mit eigenwilliger Kommasetzung) versichert: „ich möchte Sie gerne halten können, Ihnen zu danken, daß Sie mir Tiefen gezeigt haben aber Sie stehen gerne, wo Ihnen schwindelt, und lieben stolz den Abgrund den wenige sehen können“.51 Omnipräsent ist dieser Abgrund („gouffre“) in den ‚Fleurs du mal‘, die attestierte Unerschrockenheit somit die eines zweiten Baudelaire, und Georges Antwort auf die Gabe des Gedichts gibt entsprechend die doppelte Reminiszenz zu erkennen. Die Formel „nur wer bewundern kann vermag wunderbares zu schaffen“ lässt sich ebenso auf den Schüler und angehenden Dichter Hofmannsthal wie auf George als Übersetzer und Dichter beziehen, und mit einem weiteren impliziten Zitat seiner Baudelaire-Übersetzung stellt George den jüngeren Adepten und sich selbst gleichermaßen in dessen Nachfolge: „Ganz verstehen können Sie zum glück noch nicht da Sie die grosse Trübnis nicht kennen. Sie werden dieselbe noch kennen lernen da Sie ein wahrer künstler sind später – viel später das wünsche ich Ihnen von herzen“.52 Als ‚Trübsinn und Vergeistigung‘ hatte George kongenial Baudelaires epochalen Titel für die erste Abteilung der ‚Fleurs-du-mal‘-Gedichte, das in seiner Mehrsprachigkeit eigentlich unübersetzbare ‚Spleen et Idéal‘, „umgedichtet“, aber hier ist in der Baudelaire-typischen Großschreibung der „Trübnis“ als dem einzigen herausgehobenen Substantiv zugleich der „Ennui“ übersetzt, die eigentümlich gemischte Stimmung aus Überdruss, Langeweile und Aufruhr, die Baudelaire als Grundhaltung des modernen Dichters schlechthin in unzähligen Gedichten und Essays entfaltet hat.53 Werden solchermaßen beide Dichter mehr oder weniger explizit in die Nähe und Nachfolge Baudelaires gerückt, so stehen sie damit strukturell
50 George
an Hofmannsthal, 10. 1. 1892. In: ebd., S. 13. an George, 10. 1. 1892. In: ebd., S. 14. 52 George an Hofmannsthal, 10. 1. 1893. In: ebd., S. 12. Vgl. zur Rhetorik der Andeutung und Vorwegnahme in diesem Brief Schuster: „Kunstleben“ (Anm. 48), S. 49 f. 53 Vgl. die klassischen Studien von Jean Starobinski: Die Melancholie im Spiegel. Baudelaire-Lektüren, dt. von Horst Günther, München – Wien 1992. 51 Hofmannsthal
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auch an der Seite Mallarmés, der ja seinerseits das Dichten als Baudelaire-Schüler und -Adept begonnen hatte. Ähnlich evident ist entsprechend, dass auch Hofmannsthals poetische Arbeiten dieselbe Formensprache aufweisen, wie das buchstäblich naheliegende Beispiel seines kleinen Dramas ‚Der weiße Fächer‘ zeigen kann, das Hofmannsthal in wenigen Tagen im September 1897 geschrieben hat. Der Prolog des Stücks nennt das folgende einen „Federball“, der das Leben nachahme, wie dieses Kinderspielzeug den Vogel, doch schon im ersten Dialog zweier junger Männer auf einem Friedhof spricht der eben Witwer gewordene Fortunio vom Leben als von einem „Schattenspiel“,54 das weniger greifbar sei als „der Schatten / Von Wolken“55 – und eben dieser Kontrast von Weiß und Schwarz wird sich, wie in den kalligraphischen Gedichten Mallarmés, durch das ganze Stück ziehen. Die junge Verstorbene soll „ein Kind“ gewesen sein, dessen Eigenart Fortunio in einem längeren Monolog beschreibt, in dem es unter anderem heißt: „Von ihren Lippen kamen alle Worte Wie neugeformt aus unberührtem Hauch, Zum erstenmal beladen mit Bedeutung. Mit unbefangnen Augen stand sie da Und ehrte jedes Ding nach seinem Wert Gerechter als ein Spiegel; niemals dort Mit Lächeln zahlend, wo das Lächeln nicht von selbst Aus ihres Innern klarem Brunnen aufstieg; Sich gebend wie die Blume unterm Wind, Weil sie nichts andres weiß, und unberührt, Ja unberührbar, keiner Scham bedürftig“.56
Die Wiederholung akzentuiert die Unberührtheit und Unberührbarkeit der jungen Frau, und auf den ersten Blick könnte man das konjugierte Verb „weiß“ mit dem Adjektiv „weiß“ verwechseln, eben jener Farbe, die kulturhistorisch ohnehin in verschiedenen Kontexten mit Reinheit und Unberührbarkeit assoziiert ist.57 Wie diese Elemente, so sind auch 54 Hugo
von Hofmannsthal: Der weisse Fächer. Ein Zwischenspiel. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Hg. von Rudolf Hirsch u. a. Bd. III: Dramen 1, Frankfurt a. M. 1982, S. 151–176, hier S. 162. 55 Ebd., S. 154. 56 Ebd., S. 156. 57 Vgl. die Beiträge in Wolfgang Ullrich / Juliane Vogel (Hg.): Weiß, Frankfurt a. M. 2003. Entsprechend plädiert Juliane Vogel dafür, den „Widerstand gegen
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die einander metonymisch verdoppelnden Dinge „Spiegel“ und „klarer Brunnen“ schon aus Georges ‚Hérodiade‘-Übersetzung bekannt, die mit der Frage der Amme einsetzt: „Lebst du? ist dies nicht einer fürstin schatte?“58 Herodias antwortet, wie bereits zitiert, mit der Figuration ihrer Unberührbarkeit und findet dann die selben Bilder für ihre Einsamkeit und Besonderheit: „Ich stehe / Von fremder heimat träumend und entblättre / Wie überm brunnen dessen strahl mich grüsst / Die bleichen lilien die in mir sind . .“59 Und auch in Hofmannsthals Drama wird das weibliche Gegenüber des jungen Witwers, seine Cousine Miranda, die gleichfalls jung verwitwet und noch in Trauer ist, nach diesem Schwarz-Weiß-Muster eingeführt, wenn ihre schwarze Dienerin den heimischen Palast als einen Ort beschreibt, an dem draußen „das leere Flußbett […] im Mond blinkt wie die Wohnung des Todes“, und drinnen „die grabdunkeln Zimmer“ gleichermaßen öde sind – und der mit einem weißen Mullkleid bekleideten Kind-Frau den titelgebenden Gegenstand reicht, einen weißen Fächer.60 Entscheidend ist dafür, dass die Handlung in der genau bezeichneten ‚orientalischen‘ Ferne spielen soll, auf einem „westindischen Friedhof“, somit in einem Raum, in dem die Farbe der Trauer Weiß ist.61 Und bei ihrer Begegnung mit Fortunio auf diesem Friedhof erinnert sich Miranda, ihn bei der Trauerfeier für ihren Mann als ein solches hell-dunkles Schattengebilde gesehen zu haben: „erst als du weggingst, wurde ich dich gewahr und auch nicht dich selber, sondern nur in dem marmornen Pfeiler neben mir den hellen Schatten deines Gesichts und den dunkeln deiner Kleidung, die sich lösten und fortglitten“, worauf er in einer weiteren Spiegelung repliziert: „Das ist sonderbar: auch ich erinnere mich an den blassen Schatten deines Gesichts und an den das universale und immaterielle Weiß […] auch von weißer Seite her zu betreiben. […] Wo die Farbe versagt, bleibt nur die Freude an der Verschmutzung und an den Flecken.“ Juliane Vogel: Epilog. Aus der Farbenlehre. In: ebd., S. 252–256, hier S. 256. 58 Stefan George: Herodias. In: Ders., Zeitgenössische Dichter (Anm. 18), S. 35– 40, hier S. 35 (S. 33–40, hier S. 33). 59 Ebd., S. 36 (S. 33 f.). 60 Hofmannsthal, Der weisse Fächer (Anm. 54), S. 162. 61 In der Regieanweisung heißt es zugleich präziser und unbestimmter: „Vor dem Eingang eines Friedhofes, nahe der Hauptstadt einer westindischen Insel.“ Ebd., S. 153.
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dunkeln deines Kleides, der über den marmornen Pfeiler schwebte.“62 Wie man ahnt, werden die beiden über diesen Austausch von Erinnerungen hinaus zusammenfinden, doch der Epilog des kurzen Stücks, das auf diese eine Szene der Friedhofsbegegnung beschränkt bleibt, adressiert mit einer neuen doppelten Farbigkeit auch alle künftigen Leserinnen und Leser: „Nun gehn sie hin … was weiter noch geschieht, / Erratet Ihr wohl leicht, doch dieses Spiel / Will sich mit mehr an Inhalt nicht beladen, / Als was ein bunter Augenblick umschließt. / Nehmt’s für ein solches Ding, wie mans auf Fächern / Gemalt sieht, nicht für mehr … […].“63 Was man auf Fächern gemalt sehen kann, liegt allerdings buchstäblich in den Händen derer, die sie mit typischen, womöglich sprechenden Bewegungen auf- und zuklappen und dabei Bild und Schrift nur jeweils flüchtig aufblitzen und verschwinden lassen können. Entsprechend liegt es nahe, nun das ganze Spiel auf dem Friedhof als ein solches Fächer-Bild aufzufassen, das gewissermaßen mit dem Prolog aufgeklappt und mit dem Epilog geschlossen wird. Dennoch und vor allem in seiner Gestalt als Schriftbild, Schwarz auf Weiß auf dem Papier, hat diese metaphorische Assoziation einmal mehr eine materiale Grundlage in der japanischen Kunst, denn deren Schwarz-Weiß-Graphismus ist im späten 19. Jahrhundert in den europäischen Künsten aufgenommen worden, wie zunächst ein zeitgenössisches japanisches Beispiel erhellt, das „Pinienschirme zwischen Wolken“ zeigen soll, in Wien zu sehen – die schwarzen Schatten von Wolken sozusagen.64 Auch Schattenrisse von Personen, etwa von einem Schauspieler, sind eindrucksvolle Beispiele dieser Kunst.65 Ein weiteres Beispiel aus dem Theater stammt bereits aus den 1840er Jahren: ‚Abendgesellschaft (Theaterszene)‘, ein Triptychon, ist eigentlich ein mehrfarbiger Holzschnitt, der aber im verbreiteten Schwarz-Weiß-Druck daran erinnern kann, dass in japanischen Häusern die Fenster durch transparentes Papier ersetzt waren, das auf
62 Ebd.,
S. 164. Ebd., S. 176. 64 [Anonym:] Schirmpinien zwischen Wolken, Färberschablone auf Ölpapier [1868–1912]. In: Wichmann, Japonismus (Anm. 20), S. 196, Nr. 526. 65 [Anonym:] Schwarze Silhouette eines Schauspielers, Holzschnitt [1820–30]. In: ebd., S. 258, Nr. 687. 63
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Holzgitter geklebt wurde, so dass am Abend die Personen im Haus wie gerahmte Schattenrisse zu sehen waren.66 Wenn derart Hofmannsthals kleines Drama japonistische und symbolistische Elemente aufweist, ließe sich seine ‚Elektra‘ gewissermaßen als Gegenentwurf lesen – und als neuerliche Antwort auf Mallarmés und Georges ‚Hérodiade‘. Elektra kommt in der ersten Szene aus dem Dunkel eines Hausflurs auf die Bühne gelaufen, doch als die Dienerinnen sich umwenden und sie ansehen, springt sie sofort wieder zurück ins Finstere, laut Regieanweisung „wie ein Tier in seinen Schlupfwinkel“, oder, wie die Dienerin sagt, „wie eine wilde Katze“.67 Doch auch diese animalisch wilde, schreiende, stöhnende, ihre Mutter mit dem Tod bedrohende Elektra, die den Regieanweisungen zufolge in einem Zustand zwischen Trunkenheit und Wahnsinn agieren soll und in der maßlosen Trauer um ihren ermordeten Vater vom eigenen Bruder nicht mehr erkannt wird, wählt dieselben Worte wie Georges Herodias, um sich ihm zu erkennen zu geben: „Ich bin nur mehr der Leichnam deiner Schwester, […] Ich glaube, ich war schön: wenn ich die Lampe ausblies vor meinem Spiegel, fühlt ich es mit keuschem Schauer. Ich fühlt es, wie der dünne Strahl des Mondes in meines Körpers weißer Nacktheit badete, so wie in einem Weiher, und mein Haar war solches Haar, vor dem die Männer zittern, dies Haar, versträhnt, beschmutzt, erniedrigt.“68
Trotz dieser neuerlichen Beschwörung einer reinen, weißen, geradezu transparenten Schönheit wird Elektra am Ende, nach der Ermordung der Mutter, zuerst auf der Schwelle kauern, dann aber, der Regieanwei-
66 „Wenn
Abends bei Lampenlicht die im Innern des Hauses sich bewegenden Menschen ihre Schatten auf die papiernen Schiebewände werfen, bieten sich den draußen Vorübergehenden allerlei lustige Schattenspiele. Die Maler bedienen sich solcher Schattenbilder gern zu allerlei komischen Wirkungen, aber auch das Kunsthandwerk weiß von der Silhouette vielfach ansprechenden Gebrauch zu machen.“ Justus Brinckmann: Kunst und Handwerk in Japan, Berlin 1889, S. 37 f. 67 Hugo von Hofmannsthal: Elektra. In: Ders., Sämtliche Werke (Anm. 54), Bd. VII: Dramen 5, hier S. 61–110, hier S. 63. 68 Hugo von Hofmannsthal: Elektra (Libretto). In: ebd., S. 112–151, hier S. 143.
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sung gemäß, aufstehen, „den Kopf zurückgeworfen wie eine Mänade. Sie wirft die Knie, sie reckt die Arme aus, es ist ein namenloser Tanz, in welchem sie nach vorwärts schreitet.“69 Elektra vereint somit nicht nur verschiedene Elemente der Herodias-Gestalten, zu denen man auch noch Oscar Wildes im Mondlicht starr stehende Salome und ihre berühmte bleiche Vorgängerin auf den Gemälden Gustave Moreaus rechnen müsste, sondern sie ist, in einem anderen Sinn, eine, die vor übergeht. Das betonen auch die szenischen Vorschriften, die Hofmannsthal auf vier Seiten Prosa zusätzlich gibt, nämlich für ein Schattenspiel, das etwa den Zug der Hofleute, der Klytämnestra vorausgeht, in zwei Fenstern zeigt, „mit Wechsel von Fackellicht und schwarzen vorüberhuschenden Gestalten.“70 In einer sehr knappen Zusammenfassung möchte ich entsprechend, den beiden Baudelaire-Gedichten folgend, dafür plädieren, diese Artefakte und Texte als Netz von Korrespondenzen zu begreifen, im dreifachen Sinn: von Beziehungen, von Einklängen, aber auch vom Austausch, der natürlich auch buchstäblich ein Briefwechsel sein kann. Die Begegnungen der Objekte in diesem Netz wären nach dem Muster des zweiten Programmgedichts als ein momenthaftes Aufblitzen und drohendes Verschwinden aufzufassen, flüchtig und ewig zugleich. Entsprechend müsste man in philologischen Untersuchungen weniger Augenmerk auf Autornamen oder Autor-Werk-Einheiten richten, sondern sich darauf einlassen, diese Korrespondenzen und plötzlichen Erleuchtungen als solche in den Blick zu nehmen – dabei aber dennoch idealerweise ihre je eigene Signatur nicht aus den Augen verlieren. In diesem Sinn ist die Utopie und das Versprechen der Formel vom „Verbundenen“ – und Verbund – in einem fernen/neuen Land ernst zu nehmen, zumal sie daran erinnert, dass die global verflochtene europäische Dichtung und Kunst tatsächlich allen ohne Grenzen offensteht – und dass man dort eben nicht allein ist. So ist es bemerkenswert, dass George in einem Briefgedicht an Hofmannsthal vom 26. 12. 1891 programmatisch zwei an Mallarmés ‚Brise marine‘ erinnernde Verse mit zwei weiteren Anredeversen rahmt, die das Paradox der Ausfahrt 69 Ebd.,
S. 151. von Hofmannsthal: Szenische Vorschriften zu „Elektra“. In: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Hg. von Herbert Steiner. Bd. II: Prosa, Frankfurt a. M. 1951, S. 68–71, hier S. 69.
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zum Riff mit der Utopie des Beisammenseins verbinden: „Du reichst die hand · die segel wehn im porte • / Es geht in tollen winden auf ein riff – / Bedenke dich und sage sanfte worte / Zum fremdling den dein weiter blick begriff.“71
71 George
an Hofmannsthal, 26. 12. 1891. In: George / Hofmannsthal, Briefwechsel (Anm. 1), S. 10.
Kay Ehling
‚Purpurnes weinlaub im haare‘ – Eine biographische Notiz zu Stefan George als Weintrinker Am 31. März 1931 wartete Berthold Vallentin um halb sechs Uhr abends in Ludwig Thormaehlens Wohnung, dem ‚Achilleion‘, im dritten Stock der Charlottenburger Albrecht-Achilles-Str. 3 auf den Meister. George machte an diesem Tag einen besonders frischen und beweglichen Eindruck, und Berthold Vallentin drückte ihm seine Freude darüber aus. George meinte, dass er sich aber doch nicht mehr so elastisch fühle wie früher, und erklärte: „Er könne nicht mehr, wie er das immer gewohnt gewesen, vormittags eine ganze Flasche Wein trinken. Er müsse sich jetzt auf die Hälfte beschränken.“1 Dass George gerne bereits am „vorgerückten Vormittag“, wenn nicht eine Flasche, so doch ein Glas Wein trank, überliefert Michael Landmann.2 Mittags wurde zum Essen wohl mit einer gewissen Regelmäßigkeit Wein getrunken. Da George abends beim Gespräch oder zum Essen wahrscheinlich eine weitere Flasche öffnen ließ, dürfte er an guten Tagen auf zwei Flaschen Wein gekommen sein. Von Goethe weiß man, dass er nicht selten etwa zwei Liter Wein pro Tag trank, gerne schon zum zweiten Frühstück ein Glas Süßwein und mittags eine Flasche alleine leerte. Allerdings waren die Weine der Goethezeit leichter und wiesen einen geringeren Alkoholgehalt auf.3 Es kann also gut sein, dass George nicht hinter Goethe zurückgestanden hat. Trunken dürfe man sein, nur Volltrunkenheit sei unerlaubt.4 Das Trinken von Wein zur Mittagsstunde wird durch Edgar Salin bestätigt. Er vermerkt, dass George nicht nur Wert auf ein gutes Stück
1 Berthold
Vallentin: Gespräche mit Stefan George 1902–1931, Amsterdam 1967, S. 134. 2 Michael Landmann: Erinnerungen an Stefan George. Seine Freundschaft mit Julius und Edith Landmann, Amsterdam 1980, S. 7. 3 Heiner Boehncke / Joachim Seng (Hg.): „Will keiner Trinken? Keiner Lachen?“. Goethe und der Wein, Berlin 2014, S. 79 f. 4 Vgl. das Gespräch zwischen George, Robert Boehringer und Friedrich Wolters bei Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf – München 1963, S. 108.
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Kay Ehling
Fleisch, sondern auch auf „süffigen Wein“ legte.5 Mittäglicher Weingenuss aber fordert seinen Tribut in Form von Schlaf. Dass George Mittagschlaf zu halten pflegte, bezeugt Robert Boehringer. Nach Tisch schlief der Meister ein bis zwei Stunden,6 und sein Tagesablauf war in den mittleren Jahren höchst regelmäßig.7 In vielem blieb George genügsam, sein Lebensstil war einfach,8 doch verlangte er, was die Qualität von Tee und Tabak, Essen und Wein anbelangte, „vorzügliche[] Beschaffenheit“,9 er war „Feinschmecker“.10 Zu seinen Gewohnheiten gehörte es wohl auch, sich nach längeren Spaziergängen11 bei einem Glas Wein auszuruhen.12 An George als Koch und ausgezeichneten Weinkenner erinnert sich auch Georg Bondi. Er schreibt: Auch für Kochen interessierte er sich. Er hatte die feinste Zunge und merkte sofort, wenn die Köchin auch nur den geringsten Fehler gemacht hatte. Als wir einmal einige Wochen ohne Köchin waren und meine Frau selbst kochte, erbot sich George im vollen Ernst, mit ihr abwechselnd zu kochen. Er konnte tatsächlich kochen und hatte es früher manchmal für sich selbst getan.
Dann heißt es weiter: Als Weinkenner war George ohnegleichen; er stammte ja auch von Weingutsbauern ab. Ich kaufte nie größere Mengen Wein ohne seinen Rat. Einmal hatte ich eine Probe, die er ungemein lobte. Auf der Etikette stand unter dem Namen des Weins: „Crescenz S. Fischer“. Ich fragte George, ob das wohl der bekannte Verleger sei. Er antwortete: „Wenn er es ist, dann ist das sein bestes Erzeugnis.“13
Georg Bondi bringt Georges Weinkenntnisse mit seiner Herkunft in Zusammenhang. Schon der Großvater, Anton George (1808–1881), war Weinhändler in Büdesheim gewesen und hatte das Gasthaus „Zur
5 Edgar
Salin: Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis, München – Düsseldorf 21954, S. 36. 6 Robert Boehringer: Mein Bild von Stefan George, München – Düsseldorf 1951, S. 151. 7 Ebd. 8 Landmann, Erinnerungen (Anm. 2), S. 8. 9 Boehringer, Mein Bild (Anm. 6), S. 152. 10 Landmann, Erinnerungen (Anm. 2), S. 8. 11 Spaziergänge gehörten zum Tagesrhythmus: ebd., S. 6. 12 Das berichtet Boehringer für die Zeit um die Mitte der 20er-Jahre bei Georges Aufenthalten in Basel. Ders., Mein Bild (Anm. 6), S. 177. 13 Georg Bondi: Erinnerungen an Stefan George, Berlin 1934, S. 12.
Eine biographische Notiz zu Stefan George als Weintrinker105
Traube“ betrieben;14 sein Bruder Stephan, Georges Großonkel und Bürgermeister von Büdesheim, war Besitzer eines Weingutes. Georges Vater, Stephan George (1841–1907), arbeitete zunächst am Tresen der „Traube“. In dem Haus ist Stefan George zur Welt gekommen. Im Jahr 1873 zog die Familie nach Bingen um, wo der Vater ein Weingeschäft betrieb. Schließlich ergriff Georges jüngerer Bruder Friedrich ebenfalls den Beruf des Weinhändlers.15 Das Gesicht der Landschaft ist vom Weinanbau geprägt;16 „[d]ort hat die Rebe den Wald verdrängt“, wie Robert Boehringer schreibt, „und den Hügeln jene klare Form gegeben, die an den Süden erinnert“.17 Auch sonst gibt es noch einige verstreute Hinweise in der Erinnerungsliteratur, die George als Weintrinker und -kenner ausweisen. So wurde in geselligen Runden dem Wein tüchtig zugesprochen, der „zu geistigen Gesprächen“ beschwingte, als im November 1908 George, Kurt Hildebrandt und Berthold Vallentin bei Friedrich Andreae in Berlin zusammenkamen.18 Auch im Münchner Kugelzimmer stand bei Festen eine „Karaffe mit Wein“ bereit.19 Eine Schlüsselstelle zum Thema ‚George als Weingenießer‘ findet sich wieder bei Edgar Salin: Der Meister schien ein wenig müde, überliess daher dem immer geistsprühenden Jünger (Friedrich Gundolf, Anm. d. Verf.) während des Essen ganz die Führung des Gesprächs und griff nur gelegentlich scherzend oder tadelnd, zustimmend oder zurückhaltend ein. Nur als Gundolf ein Glas edlen Rheinweins – „1911er Rüdesheimer Berg Burgweg Auslese“, hatte George fast andächtig gelesen – hastig in einem Zug heruntertrank, hiess es: „Kind, Du bleibst doch ein Barbar“, und den Weinduft geniessend, den ersten Schluck langsam kauend, erzählte George von den Weinproben seines Vaters und den schönen Weinen, die in der Binger Gegend wachsen. Er wisse die Ehre dieses Weines, fügte er hinzu, ganz zu schätzen; aber er sei ihm fast zu gut, – als regelmässiges Getränk erschien ihm ein leichter Mosel oder Nahe oder Pfälzer Wein bekömmlicher.20
14 Boehringer,
Mein Bild (Anm. 6), Taf. 15; Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 22007, S. 34. 15 Vgl. Boehringer, Mein Bild (Anm. 6), S. 17 f.; Karlauf, Stefan George (Anm. 14), S. 34. 16 Boehringer, Mein Bild (Anm. 6), Taf. 11 und 13. 17 Ebd., S. 18. 18 Kurt Hildebrandt: Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1965, S. 36. 19 Ebd., S. 68. 20 Salin, Um Stefan George (Anm. 5), S. 38.
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Der wahre Weintrinker trinkt kein Bier. So auch George. „Bier zu trinken war für ihn, so wie das Tragen einer goldenen Uhrkette“, ein Kennzeichen der amusischen ‚Bürger‘, die er manchmal abschätzig „Fettbürger“ nannte.21 Der Kraft des Weines schrieb er eine gute, ja heilende Wirkung zu: Die Regbarkeit der Rheinländer sei, so George, durch den jahrhundertelangen Weingenuss hervorgerufen.22 Gerne erzählte der Dichter von einem Verwandten, den die Ärzte schon aufgegeben hätten. Dieser habe „auf dem vermeintlichen Sterbebett noch ein Glas Wein und noch eins und noch eins verlangt und sei davon wieder gesund geworden.“23 Wenn es George körperlich nicht gut ging, verzichtete er selbst aber auf dieses Getränk.24 Am besten wissen wir über den ganz späten George und die von ihm geschätzten Weine Bescheid, freilich trank er in dieser Zeit aus gesundheitlichen Gründen schon weit weniger als früher. Es ist eine Besonderheit des von Clotilde Schlayer überlieferten George-Bildes, dass es sich in großen Zügen jenseits der sonst üblichen Selbst- und Fremdstilisierung des Meisters bewegt.25 Zwar werden ernste Gespräche über ‚Staatsthemen‘ wie die Kunst der Griechen, Sophokles, Platon, Alexander, Caesar, Shakespeare, Rembrandt, Winckelmann, Napoleon, Hölderlin, Jean Paul, Nietzsche, Paul Valéry und Kaiserin Sissi geführt, Kreisgeschichte aufgearbeitet und die Neuerscheinungen aktueller und ehemaliger ‚Staatsstützen‘ gelesen und kommentiert. Wir lernen George aber vor allem, und das ist das Besondere, in seiner Alltäglichkeit, seinem Dasein und Sosein kennen. Er spielt mit der Hauskatze und plappert in Babysprache mit der einjährigen Konstanze.26 Täglich ist vom Wetter die Rede; die Öfen des Hauses unterstehen der meisterlichen Aufsicht, und er repariert diese sogar eigenhändig. Nicht weniger geht es um Essen und Trinken. Da sich die kleine, aus George, Clotilde Schlayer, Frank Mehnert und gelegentlichen Gästen beste21 Landmann,
Erinnerungen (Anm. 2), S. 7.
22 Ebd. 23 Ebd. 24
Landmann, Gespräche (Anm. 4), S. 43. die Vorbemerkung von Ute Oelmann in: Clotilde Schlayer: Minusio. Chronik aus den letzten Lebensjahren Stefan Georges. Hg. von Maik Bozza / Ute Oelmann, Göttingen 2010 (= Castrum Peregrini NF 4), S. 13. 26 Ebd., S. 223 mit Anm. 458. Sie war die Tochter von Gerda von Puttkamer und Karl Schlayer. 25 Vgl.
Eine biographische Notiz zu Stefan George als Weintrinker107
hende Gesellschaft so gut wie täglich zum gemeinsamen Mittag- und Abendessen trifft, gehören Unterhaltungen über Wein und Essen zum Alltag. In der Küche des Molino wurde herzhaft gekocht und gern gegessen. Meistens bereitete Frieda, die Köchin von Clotilde Schlayer, das Mahl zu, gelegentlich auch Frank Mehnert. Mehrfach werden Lachsforellen verspeist, des Öfteren kommen Geflügel, gegrilltes Fleisch, Rehbraten oder Stallhase auf den Tisch. Beliebt sind süße Nachspeisen. Zum Wohlbefinden brauchte der alternde George außer Wärme, Sonnenlicht und gutem Essen auch seinen täglichen Wein. Kein anderes Erinnerungsbuch berichtet so ausführlich und genau über seine Weinvorlieben. In Minusio trank er mittags Wein, das hellte seine Stimmung auf.27 „[G]egen Traurigsein“, so seine Überzeugung, helfe „nur ein kräftiger Schluck Edelwein“,28 das sei das Einzige, was ihn an manchen Tagen noch aufrecht hielte, und wenn der aus sei, führe er (aus Minusio, Anm. d. Verf.) weg, droht er einmal, als seine Wintermelancholien ihren Höhepunkt erreichen.29 Große Vorräte an Wein waren deshalb unerlässlich.30 Der Meister schätzte süße Weine,31 und während er deutsche Weine, etwa die „köstliche[]“ Liebfrauenmilch von 1921 lobte,32 ist er, was französische Tropfen anbelangt, manchmal kritisch bis zur Bosheit. Zwar mochte er Chablis- und Bordeauxweine,33 meint aber, „man solle doch nicht den Hunzfranzosen ihr Zeug kaufen“, wenn man italienische Weine bekommen könne (z. B. Flaschen aus Orvieto oder Grignolino).34 Einmal schmeckt aber auch dieser nach „muffa“ (Schimmel).35 Importierte Weine aus Kalifornien lehnte er ab.36 Wie George beständig
27 Ebd.,
S. 109 (21. 11. 1931). Ebd., S. 132 (5. 1. 1932). 29 Ebd., S. 133 (8. 1. 1932). 30 Ebd., S. 29 (9. 10. 1931), S. 139 (13. 1. 1932), S. 198 (11. 4. 1932: copia vinorum), S. 253 (5. 2. 1933). 31 Ebd., S. 75 (4. 11. 1931: Château Yquem), S. 80 (6. 11. 1931). 32 Ebd., S. 51 (17. 10. 1931), S. 178 (18. 2. 1932: 21er Rheinwein), S. 216 (11. 11. 1932: Rüdesheimer Berg 1925). 33 Ebd., S. 143 (17. 1. 1932), S. 150 (4. 2. 1932), S. 158 mit Anm. 354 (12. 2. 1932), S. 177 (16. 2. 1932). 34 Ebd., S. 150 (4. 2. 1932). 35 Ebd., S. 87 (9. 11. 1931). 36 Landmann, Gespräche (Anm. 4), S. 202. 28
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zwischen schwarzem und blondem Tabak hin und her wechselte, so auch zwischen rotem und weißem Wein.37 In Minusio gemachte Photo aufnahmen zeigen ihn mit Weinglas in der Hand (Abb. 1).38 Robert Boehringer erwähnt Georges Angewohnheit, eine halbe Stunde vor dem Abendessen, oft stehend im Gespräch, einen Schluck Wein zu trinken und dazu ein Stück trockenes Brot als sogenanntes Schwämmchen zu essen.39 Diesen Moment zeigt die Aufnahme mit Frank Mehnert (Abb. 2). Beim Anstoßen lauschte George gerne dem Klang der Gläser nach: „Nun, es klingt doch ganz gut“.40 Vielleicht darf zum Schluss die Vermutung ausgesprochen werden, dass Georges Fragment gebliebenes Rhein-Gedicht,41 zu einem späteren Zeitpunkt fortgeführt und vollendet, auch zu einer Hymne auf die Landschaft („Heil dir sonnenfroh gefild“)42 mit ihren sanften Weinbergen („am hügel trauben schwellen“),43 die fröhliche Traubenernte, die Weingewinnung („Die reifen trauben gären in den bütten“),44 den Wein als human-himmlisches Getränk („balsamische[r] wein“),45 das gemeinsame Trinken von Wein („Sieh hier den becher golds / Voll von funkelndem wein – / Jedes hat einen schlurf!“)46 und den Gott des Weines, Dionysos („Der trunkne Herr des Herbstes“),47 und sein ekstatisches Gefolge („O welch ein taumel klang beim fest des weines!“)48
37 Schlayer,
Minusio (Anm. 25), S. 27 (8. 10. 1931). S. 168, Abb. 13 sowie Boehringer, Mein Bild (Anm. 6), Taf. 159. 39 Boehringer, Mein Bild (Anm. 6), S. 199. 40 Schlayer, Minusio (Anm. 25), S. 76 (4. 11. 1931). 41 Zum Rhein-Epos vgl. Salin, Um Stefan George (Anm. 4), S. 230. Zur Bedeutung des Flusses im Denken des Kreises: Friedrich Wolters / Walter Elze: Stimmen des Rheines, Breslau 1923. 42 SW = Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982 ff.; SW VI/VII, S. 116. 43 Ebd., S. 175. 44 SW IV, S. 13. 45 SW VI/VII, S. 48. 46 SW IX, S. 108. 47 SW VIII, S. 76. Vgl. dazu den Kommentar von Ute Oelmann: „Eine Vegetations gottheit, dem Dionysos verwandt oder dem grossen Pan“, S. 143. 48 SW VI/VII, S. 16. 38 Ebd.,
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Abb. 1 Stefan George mit Weinglas, eingenickt, vermutlich Minusio 1932 (StGA-Foto-1802)
Abb. 2 Vor dem Abendessen im Molino, Winter 1931/32, Stefan George mit Frank Mehnert, Aufnahme Walter Anton (StGA-Foto-0513)
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geworden wäre.49 Und vielleicht hätte dieses Gedicht sogar in die hölderlinsche Theologie des Kreises geführt: zur Gestalt des Dionysos-Christus, in der antike Welt und Neues Reich verschmelzen.50
49 Zu
weiteren, den Wein betreffenden Textstellen vgl. Claus Victor Bock: WortKonkordanz zur Dichtung Stefan Georges, Amsterdam 1964, S. 703. 50 Bekanntlich bezeichnet Hölderlin in der ersten Fassung seines Gedichtes ‚Der Einzige‘ Christus als „Bruder“ von Herakles und Dionysos. Friedrich Hölderlin: Werke und Briefe in 3 Bänden. Hg. von Friedrich Beißner / Jochen Schmidt. Bd. 1: Gedichte ∙ Hyperion, Frankfurt a. M. 1969, S. 169. Zu Dionysos-Christus vgl. insbesondere Woldemar von Uxkull-Gyllenband: Das revolutionäre Ethos bei Stefan George, Tübingen 1933, S. 22. Außerdem Victor A. Schmitz: Bilder und Motive in der Dichtung Stefan Georges, Düsseldorf – München 1971, S. 156–174 und Manfred Frank: Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie II. Teil, Frankfurt a. M. 1988, S. 257–314, bes. S. 286–304: Dionysos-Christus-Maximin-Antinoos. Frank hebt vor allem die Kindlichkeit dieser neuen Gottheit hervor. In diesem jungen Gott werde der Gegensatz von Apollon und Dionysos aufgehoben. Der Gott des Rausches werde als neugeborener, kindlich-jugendlicher Gott ein heller Gott sein. Zu Christus und Dionysos aus theologisch-exegetischer Sicht vgl. besonders Heinz Noetzel: Christus und Dionysos. Bemerkungen zum religionsgeschichtlichen Hintergrund von Johannes 2, 1–11, Berlin 1960 (= Aufsätze und Vorträge zur Theologie und Reli gionswissenschaften 11). Für Brot und Wein als „eucharistische[] Zeichen“ sei auf Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1977, bes. S. 231 f. hingewiesen. Schließlich sei noch erwähnt, dass George Maximin als „Zwillingsbruder des heimatlichen Weingottes“ verstanden wissen wollte: Ernst Morwitz: Die Dichtung Stefan Georges, Berlin 1934, S. 145.
Dokumentation
Vorbemerkung der Redaktion Die von der Stefan-George-Gesellschaft und der Stadt Bingen geplante Feier zum 150. Geburtstag des Dichters am 12. Juli 2018 wurde durch den Binger Oberbürgermeister kurzfristig abgesagt, nachdem in der ‚Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung‘ vom 13. Mai 2018 Julia Enckes Artikel ‚Das Ende des geheimen Deutschlands‘ erschienen war, der im Anschluss an Zeugenaussagen über sexuellen Missbrauch im Amsterdamer ‚Castrum Peregrini‘ eine analoge Praxis im Kreis um Stefan George behauptet. Anstelle der abgesagten Feier veranstaltete die Stefan-George-Gesellschaft eine öffentliche Podiumsdiskussion zu dem von Julia Encke aufgerissenen Feld von Fragen und Problemen. Die einleitenden Stellungnahmen von Wolfgang Braungart, dem damaligen Vorsitzenden der Stefan-George-Gesellschaft, Jan Andres und Kai Kauffmann wurden nach der Podiumsdiskussion auf der Homepage der Gesellschaft veröffentlicht. Zum Zwecke der Dokumentation drucken wir sie in bloß redaktionell überarbeiteter Form ab. Eine inhaltliche Aktualisierung, etwa durch die Einbeziehung des inzwischen erschienenen Briefwechsels zwischen Stefan George und Ernst Morwitz, unterbleibt. Die Stellungnahmen verstehen sich nicht als Beiträge zu der Debatte um das ‚Castrum Peregrini‘; was den dortigen Erkenntnisstand betrifft, so sei lediglich auf den seit 2019 vorliegenden Abschlussbericht der offiziellen Untersuchungskommission verwiesen.1
1 Het
rapport van de onderzoekscommissie misbruik Castrum Peregrini 1942– 1986. Im Internet abrufbar unter: http://h401.org/wp-content/uploads/CASTRUMONDERZOEK.pdf.
https://doi.org/10.1515/9783110697001-006
Wolfgang Braungart
Stefan George: Leben, Werk, Forschung Liebe Mitglieder der Stefan-George-Gesellschaft, meine sehr geehrten Damen und Herren, wir begehen heute den 150. Geburtstag Stefan Georges,1 der am 12. Juli 1868 in Büdesheim bei Bingen geboren wurde. In der Münchner Akademie der Schönen Künste wird zu eben dieser Stunde, in der wir zusammenkommen, in einem Festvortrag und einer anschließenden Lesung, an der Albert Ostermaier, Hans Pleschinski und Albert von Schirnding mitwirken, nicht gerade Namenlose des kulturellen Lebens, an diesen besonderen Tag erinnert. In Heidelberg findet seit Beginn des Sommersemesters eine Ringvorlesung über George statt. Eine Ausstellung zum Heidelberger George-Kreis gibt es überdies zu sehen. Am vergangenen Samstag war bei ‚Deutschlandfunk Kultur‘ eine sehr schönes, fast einstündiges George-Feature des Lyrikers Norbert Hummelt zu hören, in dem ausführlich auch Uwe Kolbe und Jan Wagner zu Wort kamen, eine wirkliche Würdigung der literarischen Bedeutung Georges. Alle drei zählen sie zu den bekanntesten Lyrikern der deutschen Gegenwartsliteratur. Jan Wagner, gewiss alles andere als ein Georgeaner, aber einer, der poetische Qualität einzuschätzen weiß, hat im letzten Jahr den Büchner-Preis bekommen. Er und Monika Rinck sind Ende Juni aus Anlass des 150. Geburtstages im Literaturhaus in Stuttgart aufgetreten. Ende Juli wird eine weitere Festveranstaltung im Frankfurter Hochstift stattfinden. Vor einigen Jahren haben wir hier in Bingen eine, wie ich meine, wirklich gelungene Tagung mit prominenten Lyrikern unserer Gegenwart durchgeführt, die sich alle intensiv auf Stefan George beziehen. Im zehnten George-Jahrbuch wurden die Beiträge dokumentiert, zusammen mit kleinen Interpretationen von Gedichten der eingeladenen Autoren selbst.2
1 Etwas
überarbeiteter Text meiner Begrüßung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Diskussionsveranstaltung in Bingen, 12. Juli 2018. 2 Vgl. George-Jahrbuch 10, 2014/2015.
https://doi.org/10.1515/9783110697001-007
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Das sind einige Beispiele dafür, wie sehr man andernorts in der Lage ist, die Bedeutung Stefan Georges zu würdigen, eines Lyrikers, der ohne Zweifel zu den größten Dichtern deutscher Sprache zählt und dessen Bedeutung für die Lyrik in der Moderne kaum zu überschätzen ist. Das anerkennen sogar diejenigen, die seine kunstvolle, oft auch artistisch-schwierige Sprache und seinen elitären Habitus ablehnen. Vom bloßen Ressentiment gegenüber kulturellen Eliten sollte man sich grundsätzlich nicht leiten lassen. Weltweit gibt es eine lebhafte GeorgeForschung, besonders etwa in Japan. Und was machen wir heute und hier, in der Geburtsstadt dieses Dichters, der in der Geschichte der Lyrik eine Zäsur gesetzt, der die poetische Sprache erneuert, der das müde Goethe-Epigonentum, den langweiligen ‚Geibelianismus‘ durchbrochen und sich und damit die deutschsprachige Lyrik seiner Zeit der europäischen Moderne geöffnet hat? Ohne Baudelaire und Mallarmé – wer kannte sie im Deutschland der 1890er Jahre schon? –, was wäre ohne die Rezeption dieser Franzosen die poetische Sprache seit dem Expressionismus? Nicht um schöne poetische Gefühle geht es in Georges Dichtkunst, sondern um die Leistung der Form. Gottfried Benn hat genau dies an George gerühmt. Für Walter Benjamin, auch nicht irgendeiner, gehörte George neben Luther und Hölderlin in die Reihe der Übersetzer, die die „morschen Schranken der eignen Sprache“ durchbrochen und „die Grenzen des Deutschen erweitert“ haben. Am 13. Mai dieses Jahres erschien in der ‚Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung‘ (FAS) ein langer Artikel mit dem Titel, der eigentlich alles sagt: ‚Das Ende des geheimen Deutschlands. Angeblich ging es im Kreis um Stefan George und bei seinen Nachahmern um ‚pädagogischen Eros‘. Seit die Opfer sprechen, ist klar: Es ging auch um Missbrauch.‘ Woher weiß die Autorin denn, dass es „im Kreis um Stefan George“ darum ging? Der Artikel setzte bei Vorwürfen aus dem Amsterdamer Castrum Peregrini an! Wenn es bei George so war, dann ist daran nichts zu entschuldigen. Denn klar ist, ja, und ohne jeden Zweifel, dass sexueller Missbrauch von Abhängigen und Minderjährigen abscheulich ist, ein Verbrechen, das Seelen zutiefst beschädigen kann; ein Verbrechen, das die für jedes gelingende Leben notwendige psychische Kraft, dem anderen zu vertrauen und sich auf ihn einzulassen, womöglich ganz zerstört. Niemand hier wird deshalb bestreiten, dass es absolut notwendig ist, darüber zu sprechen, solche Verbrechen aufzuklären und
Stefan George: Leben, Werk, Forschung115
keine pädagogischen Verkleisterungen mit verschwiemelten ideologischen Konstruktionen und Überblendungen wie ‚pädagogischer Eros‘ zu akzeptieren. Wenngleich ich hinzufügen muss, dass es in pädagogischen Prozessen ohne Begeisterung kaum geht. Aber diese Begeisterung legitimiert niemals Missbrauch. Klar ist aber auch, dass der Artikel mit einer Unterstellung arbeitet, die er nicht belegen kann. Auch Ulrich Raulff, der noch amtierende Direktor des Marbacher Literaturarchivs/Schiller Nationalmuseums, der in diesem Artikel zitiert wird, kann es nicht; die mediale Aufmerksamkeit hat er dennoch. Wir wissen seit der weit ausgreifenden George-Biographie Thomas Karlaufs,3 der freilich keineswegs der erste war, der das Thema ‚Sexualität im George-Kreis‘ angeschnitten hat (dazu gleich noch einige Sätze), auf diesem Feld nichts Neues. Nach Erscheinen dieses FAS-Artikels hat der Oberbürgermeister der Stadt Bingen eine kleine, bescheidene Festveranstaltung, die am heutigen Abend stattfinden sollte und die die Stadt und die George-Gesellschaft gemeinsam geplant hatten (Festvortrag, Musik der Jahrhundertwende mit einführenden Erläuterungen, Empfang), absagen lassen, ohne direkt mit mir zu sprechen. Ich will nicht weiter kommentieren, was das menschlich heißt. Sie können einen solchen Stil selbst beurteilen – nach jahrelanger, offener und vertrauensvoller Zusammenarbeit von Stadt und George-Gesellschaft. So dachte ich jedenfalls für meinen Teil. Von der George-Gesellschaft aus haben wir daraufhin beschlossen, den heutigen Abend in dieser Weise durchzuführen: also Diskussionsveranstaltung mit kurzen Vorträgen – wohlwissend, dass wir damit weit hinter den anderen George-Orten zurückbleiben. Wohlwissend auch, dass Georges literarischer Rang anderes verdient hätte. Allein wären wir aber nicht in der Lage gewesen, die geplante Veranstaltung in Bingen zu realisieren. Und wir wollten das auch nicht versuchen: George ist ein Dichter aus Bingen; er geht die Stadt an, nicht nur die George-Gesellschaft. Der Oberbürgermeister hat gefordert, wie man es als Politiker wohl tun muss, damit an einem selbst nichts hängenbleibt, die Vorwürfe gegen George und den Kreis rückhaltlos wissenschaftlich aufzuklären.
3 Thomas
Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007.
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Das lässt sich leicht sagen, wenn man nicht mit der Materie vertraut ist. Hinzufügen muss ich: 1) dass von den Kreismitgliedern niemand mehr lebt und von den Nachkommen, den Kindern und Enkeln, auch nicht unbedingt zu erwarten ist, dass sie mit ihren Vätern (oder auch Müttern) über mögliche Missbrauchsfälle und überhaupt über Sexualität im GeorgeKreis ausführlicher gesprochen haben; 2) dass wir, wie gesagt, seit Karlaufs Biographie keine neuen Erkenntnisse zu all dem haben; 3) dass wir aber nicht ausschließen wollen, dass durch die Recherchen im und zum Castrum Peregrini auch Hinweise bekannt werden, die für die George-Forschung wichtig sein könnten. Doch das Castrum ist nicht der George-Kreis; dazu werden Sie gleich mehr von Dr. Jan Andres hören; 4) dass Nachlässe in den letzten Jahrzehnten ins George Archiv in Stuttgart, das von der Binger George-Gesellschaft unabhängig ist, gekommen sind, die jahrelange gründliche Aufarbeitung erfordern. Das kann unsere kleine Gesellschaft nicht leisten. Mit welchen Mitteln denn? Aber wir freuen uns natürlich, wenn sich die Stadt Bingen engagieren möchte und uns z. B. die Mittel zur Verfügung stellte. Dann müssten Sozialwissenschaftler hinzugezogen werden, Pädagogikhistoriker, vielleicht auch Juristen. Literaturwissenschaftler sind von ihrer Profession her keinesfalls dafür primär zuständig. Sie sind auch keine Ermittler.4 Und zudem: Wo anfangen, wie anfangen? Die bloße Unterstellung, der bloße Verdacht ist keine wissenschaftliche Fragestellung. Auf einen bloßen Verdacht hin zu suchen, ist uferlos. Eine Journalistin, deren Fragen ganz offensichtlich von keinerlei Kenntnis getrübt waren, insistierte in einem Telefoninterview mit mir, ich solle dann doch sagen, was ich „ganz persönlich glaube“. Nun ist der ganz persönliche Glaube keine Sache für die Öffentlichkeit, und Glaube grundsätzlich auch kein Kriterium für Wissenschaft. Zu verbergen ist hier jedoch gar nichts, weder von Seiten der Gesellschaft und des übrigen Vorstandes, noch von meiner Seite, der ich auch in gar keiner Weise familiär in George-Bezügen stehe und auch keine engeren Be-
4 Darauf
hat das Mitglied unserer Gesellschaft Manfred Zieger hingewiesen.
Stefan George: Leben, Werk, Forschung117
ziehungen zum Castrum Peregrini unterhalte und nie unterhalten habe. Ich bin vor 30 Jahren nach Bingen gekommen, weil mich die Gedichte fasziniert haben, und ich habe aus diesem Grund begonnen, für die George-Gesellschaft und die Stadt Bingen sehr viel Lebenszeit aufzubringen, für eine Stadt, eine Region und eine Bevölkerung, zu der ich ebenfalls keinerlei persönliche Beziehungen habe. Vielleicht mag sich die FAS-Journalistin ja ins George Archiv in Stuttgart setzen und die Nachlässe durcharbeiten; und vielleicht kommt dann auch noch Neues ans Licht. Niemand von uns hier wird das grundsätzlich ausschließen wollen; und der ganze Vorstand unserer kleinen Gesellschaft würde nicht zögern, darüber dann auch öffentlich zu sprechen. Die Absage der heutigen Festveranstaltung durch die Stadt aber war unnötig. Sie war unnötig auch deshalb, weil es in unserer Gesellschaft und in der Forschung eine Vorgeschichte gibt, die hier wenigstens kurz in Erinnerung gerufen sei: a) Schon 1987 hat Marita Keilson-Lauritz eine grundlegende Studie vorgelegt mit dem Titel: ‚Von der Liebe, die Freundschaft heißt. Zur Homoerotik im Werk Stefan Georges‘. In unserem Tagungsband von 2001, der die größte Tagung, die es in Bingen bisher zu George und seinem Kreis gegeben hat, dokumentiert,5 hat Frau Keilson-Lauritz ihre Überlegungen, die hier seinerzeit auch in Bingen öffentlich vorgetragen wurden, fortgeführt. Niemand, der sich damals wirklich um die Erforschung Georges und seines Kreises bemühte, zweifelte ernsthaft daran, dass der Kreis, obwohl ihm auch Frauen angehörten (das war Gegenstand einer eigenen, von Ute Oelmann und Ulrich Raulff geleiteten Tagung in Marbach),6 deutlich männerbündische und homoerotische Züge trug. Dies allein war zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber ein gravierender Grund, versteckt und allenfalls in Andeutungen darüber zu reden. Homosexualität war ein Straftatbestand. Heinrich Detering hat in seiner grundlegenden Habilitationsschrift schon 1994 (2. Aufl. 2002) deutlich gemacht, wie sich literarische Camouflage von Homosexualität, die poetische Knabenliebe eingeschlossen, von Winckelmann bis Thomas Mann durch 5 Wolfgang
Braungart / Ute Oelmann / Bernhard Böschenstein (Hg.): Stefan George. Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘, Tübingen 2001. 6 Ute Oelmann / Ulrich Raulff (Hg.): Frauen um Stefan George, Göttingen 2010.
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Wolfgang Braungart
die Literaturgeschichte zieht.7 Der Vorwurf der Homosexualität war, historisch gesehen, ein Kampfmittel und geeignet, den gesamten Kreis überhaupt unter schwersten moralischen Verdacht zu stellen und zu diffamieren. Darum ist dieser Vorwurf auch zu bedenken, wenn es um Päderastie geht. Prof. Kauffmann wird gleich darüber Näheres und weiter Differenzierendes sagen. b) Im ersten Band des seither von Ute Oelmann und mir herausgegebenen George-Jahrbuchs (1996/97) laden wir zur Mitwirkung ein. Im Vorwort heißt es, dieses Jahrbuch solle, „ein offenes, der sachlichen Diskussion verpflichtetes Organ der George-Forschung“ sein.8 In meinem eigenen Beitrag zu diesem ersten Jahrbuch stelle ich den Zusammenhang von – durchaus auch gewalthaft verstandener – Sexualität, Religion und Poetik im Werk Georges heraus und betone dennoch, dass man Leben und Werk nicht so einfach voneinander trennen könne (wie in der Regel zurecht gefordert), weil George den sozialen Kreis unbedingt als Teil seines gesamten Werkes begriffen hat, sodass man geradezu von einer Sozio-Poetik sprechen kann.9 Das ist auch der literaturgeschichtlich-poetologische Grund dafür, warum wir die Missbrauchsvorwürfe nicht übergehen dürfen. Das literarische Werk zielt, insbesondere nach der Jahrhundertwende, auch auf das Soziale; es wird rhetorisch. Dennoch ist es nicht einfach mit ihm identisch zu setzen. c) 2007 ist Thomas Karlauf in seiner bedeutenden George-Biographie ausführlicher auf den erotischen und sexuellen Komplex bei George und im Kreis eingegangen, auf die Rekrutierungs- und Initiationsprozesse der Jungen und der Jünger. An der Forschung hat er kritisiert, dass es hier insgesamt noch großen Nachholbedarf gebe. Das ist richtig und trotzdem, wie gesagt, nicht so ohne weiteres zu erledigen; und es wäre auch methodisch gründlich zu diskutieren. Wende ich mich Goethe zu, um ihm nachzuweisen, dass er ein Lüstling war? Ist das ein wissenschaftliches Interesse?
7 Heinrich
Detering: Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann, Göttingen 22002 (1994). 8 Ute Oelmann/Wolfgang Braungart: Vorwort. In: George-Jahrbuch 1, 1996/1997, S. VII. 9 Wolfgang Braungart: „Durch Dich, für Dich, in Deinem Zeichen“. Stefan Georges poetische Eucharistie. In: George-Jahrbuch 1, 1996/97, S. 53–79.
Stefan George: Leben, Werk, Forschung119
d) 2014 erschien Kai Kauffmanns George-Biographie, die deutlich auf das emotionale Vibrieren abstellte, das in Georges Werk durchgängig zu spüren sei und durch Arbeit an der Form gebändigt werden sollte. Kai Kauffmann macht die Biographie zu einem Teil des Werkes, aber auf eine methodisch kontrollierte Weise.10 Wir hätten es gerne so: Ein großartiger Autor soll auch ein großartiger Mensch sein und der Kern der Kunst das Gute, Wahre, Schöne.11 Aber das Elitäre Georges, sein charismatisches Führungsprinzip in seinem Kreis bzw. in seinen Kreisen, seine rabiate Kulturkritik und seine Verachtung der modernen Masse machen uns einen Strich durch diese Rechnung. Er will nicht beliebt sein; es macht ihm nichts aus, wenn ihn „die Menge gleich verhöhnet“ (Goethe, ‚Selige Sehnsucht‘). Sein Werk kennt nach der Jahrhundertwende nicht wenige Verse, die einen heute schütteln müssen. Das erlaubt dennoch nicht, vom literarischen Werk und einzelnen Versen einfach auf die Sexualpraxis bei George und im Kreis zu schließen. Das sollte eigentlich klar sein. Was sollten wir sonst mit Thomas Mann oder mit Vladimir Nabokov anstellen? Der Mensch sei sich selbst ein Abgrund, sagt Augustinus in den ‚Confessiones‘. Das darf man sich merken. Und, nebenbei, das man darf das getrost auch auf sich selbst anwenden. Die Literatur, die Fiktion ist seit jeher der kulturell-ästhetische Ort, wo gerade diese Abgründe ausgeleuchtet werden können, auch die sexuellen. Vielleicht sollte man noch ergänzen: Das Erotische und das Sexuelle waren seit jeher – wie das Religiöse – eine große Motivation für die Kunst. Bei einem der größten bildenden Künstler des 20. Jahrhunderts, bei Picasso, sind das Erotische und das Sexuelle vielleicht die Klammer des künstlerischen Werkes – wenn es denn überhaupt eine gibt. Wir leben in ‚#MeToo‘-Zeiten. Das schärft auch bei George die Aufmerksamkeit neu auf eigentlich längst Bekanntes; es schärft sie so sehr, dass dabei nicht immer deutlich ist, um was es tatsächlich geht. Auch die Medien dürfen nie vergessen, dass sie immer in der Gefahr sind, der Logik des Skandals zu folgen und dies dann als Aufklärung zu verkaufen.
10 Kai
Kauffmann: Stefan George. Eine Biographie, Göttingen 2014. Gerhard Kurz: Das Wahre, Schöne, Gute. Aufstieg, Fall und Fortbestehen einer Trias, Paderborn 2015.
11 Vgl.
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Wolfgang Braungart
Seit einigen Jahren zieht die medienwissenschaftliche Skandalforschung mit Gründen neue Aufmerksamkeit auf sich. Hans Brasch, 1892 geboren, hält in seinen Erinnerungen über seine Begegnungen mit George fest: „Mit ungeheurer kraft richtete er in solchen stunden die augen in meine, und bei seiner berührung überwog auch später die ängstliche scheu des unwürdigen, des abgrundtief minderen, wie sie ein opfertier empfinden würde, wenn es mit vernunft begabt wäre. Ungreifbar und unbegreifbar war nach solchen minuten die herrische Distanz und strenge die er sich wieder zu geben wusste.“12 Herrscherwille, Machtanspruch, Unterwerfungserwartung einerseits und Unterwerfungsbereitschaft bis ins Unfreie und Knechtische beim Jünger andrerseits, wie ich selbst dies bei Ernst Glöckner gegenüber seinem Meister gezeigt habe: Nein, ich kann das nicht gut finden. Meinen Vorstellungen gelingender sozialer Beziehungen entspricht es nicht. Und fraglos ist die Gefahr des psychischen und physischen und auch sexuellen Machtmissbrauchs in solchen Konstellationen besonders groß. Wie weit das bei George tatsächlich gegangen ist: Wir wissen es nicht. Wir müssen diesen Autor nicht mögen; er selbst hat es nicht darauf angelegt. Aber darüber hinaus, noch einmal: Es lohnt sich, Norbert Hummelts Gespräch mit Jan Wagner und Uwe Kolbe anzuhören; Deutschland radiokultur, Samstag, 6. Juli, 0:05 Uhr. Es besteht nämlich die Gefahr, dass wir aus dem Blick verlieren, was der Lyriker Stefan George war. Dort können Sie es hören.
12 Hans
Brasch: Bewahrte Heimat. Aus dem Nachlass herausgegeben von Georg Peter Landmann, Düsseldorf – München 1970 (= Stefan George Stiftung), S. 27. Für die Erinnerung an diese Stelle danke ich Dr. Markus Pahmeier.
Jan Andres
Das Castrum Peregrini und der George-Kreis – eine Differenzierung1
Meine sehr geehrten Damen und Herren, was ich Ihnen im Folgenden in aller Knappheit vortragen werde, ist der Versuch, ausgehend von Julia Enckes Artikel ‚Das Ende des geheimen Deutschlands‘ vom 13. Mai 2018 in der FAS2 zu sexuellem Missbrauch im Castrum Peregrini und im George-Kreis, die dort geäußerten Ansichten stärker zu differenzieren. Was kann man auf der Basis der Quellen und der Forschung gesichert sagen zu den Vorwürfen des Artikels, was ist plausible Vermutung und was reine Spekulation und Andeutung? Dazu muss man das Verhältnis von Kreis und Castrum Peregrini bzw. Wolfgang Frommel genauer bestimmen und es muss sprachlich genau gesagt werden, um welche Art von sexuellem Übergriff es sich gehandelt hat oder haben soll. Im Artikel wird „Missbrauch“ zur Beschreibung unterschiedlicher sexueller Handlungen und Verhältnisse benutzt, u. a. wird nicht immer deutlich, wie alt die Betroffenen waren, was aber von großer Bedeutung ist. In Enckes Artikel werden mehrere Annahmen und Vermutungen zu sexuellen Praktiken und missbräuchlichem Sex geäußert, etwa bei Initiationen und in beiden Kreisen, bei George und Frommel, die unterschiedlich gut belegbar und daher auch unterschiedlich plausibel beziehungsweise unterschiedlich belastbar sind. Aus dem Verhalten im Castrum, insbesondere dem Wolfgang Frommels selbst, werden direkte Rückschlüsse auf den Kreis und George selbst gezogen. Die implizite These lautet, dass strukturelle Analogien zu analogen Handlungen führen.
1 Bei
diesem Text handelt es sich um die lediglich leicht für den Druck überarbeitete Version des Binger Vortrages, der mündliche Duktus wurde beibehalten. 2 Vgl. Julia Encke: Das Ende des geheimen Deutschlands. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 13. 05. 2018, S. 45 f.
https://doi.org/10.1515/9783110697001-008
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Jan Andres
Encke beginnt mit dem Missbrauch von Schülern, also von Kindern, in der Odenwaldschule und schreibt, die Täter aus dem Umfeld Gerold Beckers hätten sich alle auf George berufen, der „der geistige Übervater der Reformpädagogik“ gewesen sei. Der Artikel sieht die Verbindung neben dieser ideengeschichtlichen Beziehung zudem vor allem in einer Legitimation des Missbrauchs bei einer Initiation in eine geheime Gemeinschaft. Im „George-Kontext“ habe es in „vielen Fällen“ sexuelle Handlungen gegeben – Konkretisierungen indes fehlen gänzlich. Um George werde nur geraunt, was das Sexuelle angeht, das sei nicht zuletzt daher prekär, weil sich möglicherweise „Missbrauch aus dem Geist Stefan Georges“ herleite. Damit wird dann zum Castrum Peregrini übergeleitet: „Zum ersten Mal wird im George-Kontext offen gesprochen und die Praktiken des Kults werden explizit benannt.“ Encke referiert dann das, was Frank Ligtvoet mit seinem Partner als 20-jähriger Mann in Amsterdam beim Castrum erlebt und nun veröffentlicht hat.3 Explizit wird gesagt, das Muster in Amsterdam sei identisch mit dem Vorgehen der Georgeaner in Heidelberg bei der Suche nach „Jungs“ für den Kreis. Die sexuellen Initiationen im Castrum haben Ligtvoet und sein Partner Dekking als „Vergewaltigungen“ erlebt. Encke sieht eine weitere Parallele zum Missbrauch im Odenwald, weil dort, wie im George-Kreis, Eltern aus Stolz schweigende Mitwisser gewesen seien, die ihre Kinder bei einer Elite zu wissen glaubten. Das Beispiel sollen bei Encke die Brüder Stauffenberg sein, bei denen die Mutter eben ihren Segen gegeben habe, allerdings muss Encke einräumen, dass man von einer sexuellen Initiation hier schlicht nichts wisse. Elterliches Wissen habe es aber im Fall des Castrum gegeben. Hier sieht man, wie strukturelle Parallelen auch da nahegelegt werden, wo sie mit Blick auf den Kreis bisher nicht belegbar sind. Diese Belege kann auch der Artikel nicht liefern, der sich mit George-Quellen ohnehin nicht befasst. Stattdessen folgen weitere Darstellungen zu Vorgängen zwischen älteren Erziehern oder Mentoren, weiblich wie männlich, zu jüngeren, aber offenbar volljährigen Menschen im Castrum. 3 Vgl.
Frank Ligtvoet: In de schaduw van de meester. Seksueel misbruik in de kring van Wolfgang Frommel. In: Vrij Nederland, 10. Juli 2017. Vgl. auch Ders.: Seksueel misbruik in de kring van Wolfgang Frommel – reacties vanuit de sekte. In: Vrij Nederland, 5. Oktober 2017.
Das Castrum Peregrini und der George-Kreis – eine Differenzierung 123
Dessen jüngste Generation wolle genau diese Vorgänge nun wissenschaftlich aufarbeiten lassen. Der Schluss des Artikels wendet sich der Frage des heutigen Tages zu: Was lasse sich zu Georges 150. Geburtstag feiern, was benennen? Eine Kultur des Verschweigens und des Geheimniskultes stehe zur Diskussion, die noch immer von einer apologetischen Forschungslinie mit Oberwasser befördert werde, wie Ulrich Raulff zitiert wird. Zu Robert E. Lerners Kantorowicz-Biographie fragt der, woher der Biograph denn wisse, dass George bei Kantorowicz nie Hand angelegt habe.4 Ergänzen müsste man: Man weiß eben wirklich nicht, was zwischen dem etwa 25 Jahre alten Kantorowicz und George passiert ist, ein Missbrauch wie an der Odenwald-Schule jedenfalls nicht, dort waren Kinder betroffen. Schlussendlich werden von Encke Namen zur apologetischen Forschung benannt, bei denen sich Verbindungen zum Castrum ergeben. Dass es seit langem eine durchaus kritische George-Forschung, auch im Biographischen, gibt, wird nicht erwähnt. Soweit der Artikel. Enckes These, der öffentlich von mehreren Zeugen beziehungsweise Opfern beklagte sexualisierte Machtmissbrauch im Castrum weise bruchlos auf ähnliche Praktiken bis hin zum Kindesmissbrauch im George-Kreis zurück, gehört zu den problematischen, weil lediglich behaupteten Aussagen. Es fehlen dazu aber erstens Belege, zweitens fehlt die begriffliche Differenzierung bei der Bewertung juristisch und moralisch relevanter Termini (§ 176 StGB spricht von sexuellem Missbrauch bei Kindern unter 14 Jahren, das deutsche Strafrecht kennt den Tatbestand der Pädophilie nicht), drittens ist das Castrum Peregrini nie die Nachfolge des Georges-Kreises gewesen, allein weil es schon diesen einen homogenen George-Kreis nie gab, es waren mehrere, zum Teil konkurrierende Kreise in drei Genera tionen. Das Projekt Wolfgang Frommels, im Castrum Georges Sozialleben fortzusetzen, ist eine Selbstermächtigung. Es handelt sich dabei um eine invented tradition5 von Wolfgang Frommel, vermittelt über seinen Freund Percy Gothein, der in der Tat für einige Zeit Georges Kreisen angehörte, bevor er in Ungnade fiel und dann in Amsterdam bei Frommel auftauchte. Gothein ist in Person und durch seine Erinne 4 Robert
E. Lerner: Ernst Kantorowicz. A Life, Princeton 2017. der Formel von Eric Hobsbawm: Ders. / Terence Ranger (Hg.): The Invention of Tradition, Cambridge 1984, darin bes. S. 1–14.
5 Mit
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Jan Andres
rungen im ‚Opus Petri‘ die stärkste Verbindung zwischen George und dem Castrum. Frommel erfindet im Sinne eines Traditionsverhaltens eine Legitimation für einen eigenen Freundes- und Dichtungskreis samt einer Zeitschrift, für die er symbolisches Kapital benötigt und es sich daher in Form einer Art Charisma-Übertragung von George auf sich selbst beschafft. Das ist ebenso ingeniös wie in der Sache, nämlich einer Fortsetzung des George-Kreises nach dessen Tod, unmöglich. Das Georgeanische am Castrum stammt wesentlich von Frommel, nicht von George, er hat es schlicht adaptiert. Es war eine George-Nachfolge im Sinne „geistiger Sohnschaft“,6 eine Nachfolge ohne persönliche Legitimation, ja vermutlich sogar ohne Begegnung.7 Was also war das so oft erwähnte Castrum Peregrini? Der Begriff hat vier Dimensionen, beginnend beim namensspendenden Motiv des Castrum Peregrini als Pilgerburg: Konkreter Bezug ist die Templerburg Chateau Pelerin bei Atlit in der Nähe Haifas, die letzte, nie eroberte Bastion der Kreuzritter des 13. Jahrhunderts, die 1291 von den Templern aufgegeben wurde. Pilger und Templer sind auch wichtige Motive im Werk Georges. Aus dieser symbolischen Dimension der ‚letzten Feste‘ heraus etablierte Wolfgang Frommel mit jüngeren Freunden wie Friedrich Buri, dem er 1937 bei der Flucht aus Deutschland half, und anderen den Begriff als Decknamen für ihre Bestrebungen, jüdische Kinder aus der Quäkerschule Eerde in Holland vor der Verfolgung durch die Nazis zu retten, was Frommel in den 1970er Jahren den Ehrentitel eines ‚Gerechten unter den Völkern‘ aus Yad Vashem eintrug. Die Kinder, unter ihnen Claus Victor Bock, und die Lehrer, unter ihnen Buri, fanden Aufnahme in der Herengracht 401 in Amsterdam bei der Künstlerin Gisele van Waterschot, einer Freundin Frommels. Der sich dort dann entwickelnde Freundeskreis einer Exilgruppe um Frommel trug ebenfalls den symbolischen Namen der Pilgerburg. Schließlich ging ab 1951 aus diesem Kreis zunächst eine Zeitschrift, dann ein Verlag und später, 1958, auch eine diesen tragende Stiftung mit dem Namen Castrum Peregrini hervor. Wenn man also vom Castrum spricht, sollte man dazu sagen, welche dieser Begriffsverwendungen gemeint ist. Im Artikel 6 Claus
Victor Bock: Untergetaucht unter Freunden. Ein Bericht. Amsterdam 1942–1945, Amsterdam 1985. 7 Siehe dazu etwa Thomas Karlauf: Meine Jahre im Elfenbeinturm. In: Sinn und Form 61, 2009, H. 2, S. 262–271.
Das Castrum Peregrini und der George-Kreis – eine Differenzierung 125
Enckes ist zumeist jenes soziale Gebilde der Nachkriegszeit von Lehrer-Schüler-Beziehungen und Freundschaften in Amsterdam gemeint, das Frommel begründet hat und dessen unbestrittener Mittelpunkt er war. Diesen Freundeskreis stellte er offensiv ins Zeichen Georges, aber letztlich war es natürlich ein eigener, ein Frommel-Kreis, der aus der erwähnten Quäkerschule zunächst im Untergrund in der Besatzungszeit erwuchs und dann nach dem Krieg Verlag und Zeitschrift hervorbrachte. Bock hat schon in den 1980er Jahren in seinen Lebenserinnerungen über das Castrum berichtet, von Karlauf gibt es Erinnerungen an seine Jahre dort, in Schirrmachers neuer Biographie8 wird über dessen Beziehung zu Frommel berichtet und spätestens 2013 konnte man bei Joke Haverkorn in einer Schrift, die ein Nachwort von Michael Phillip hat, sehr deutlich nachlesen, dass Frommels Herrschaft in seinem Kreis von „Freunden“, bei Haverkorn immer in Anführungsstrichen, starke se xuelle Implikationen hatte, mit Männern und Frauen.9 Es gibt jetzt sich mehrende Berichte, dass vor allem Frommel sexualisierte Machtausübung, Verletzungen sexueller Selbstbestimmungen gegenüber Jüngeren im Castrum praktiziert habe. Ich spreche hier bewusst zunächst nicht von Missbrauch, weil diejenigen, von denen die bisherigen Berichte stammen, volljährig gewesen sind. Diesen Berichten muss von den geeigneten Institutionen nachgegangen werden und es wird ihnen auch schon nachgegangen. Laut Homepage des aktuellen Castrum, dass sich von Frommels George-Welt gelöst hat, gibt es eine der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte des Castrum gewidmete Arbeitsgruppe um Professorin Rosemarie Buikema aus Utrecht als Vorsitzender und Professorin Nicole Colin als durchführender Wissenschaftlerin sowie eine Ombudsperson für traumatisierte Ehemalige. Für die eventuelle strafrechtliche Aufarbeitung kann nur die niederländische Justiz verantwortlich sein. Was hat das Castrum Peregrini, verstanden als Frommels Freundeskreis, der eine spezifische Auslegung eines pädagogischen Eros hatte, die zu seiner offenbar sehr problematischen Vergangenheit geführt hat, mit dem George-Kreis und der George-Forschung zu tun? Die These hier wäre: Zunächst wenig, und wenn, dann unter Rezeptionsaspekten. Das Castrum gehört in die Wirkungsgeschichte Georges. Hier hat das 8 Michael 9 Joke
Angele: Schirrmacher. Ein Porträt, Berlin 2018. Haverkorn van Rijsewijk: Entfernte Erinnerungen an W., Würzburg 2018.
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Jan Andres
Castrum, im George-Handbuch und zum Beispiel in einer monographischen Arbeit Günter Baumanns, auch bereits Forschungsinteresse gefunden.10 Die literaturwissenschaftlich-philologische George-Forschung ist für die Klärung und Aufarbeitung der Vorwürfe nicht der erste Ansprechpartner, vielleicht ist sie gar keiner, weil sie sich eben gegen Wolfgang Frommel, seinen Freundeskreis um Buri und besonders den Lehrer Billy Hilsley richten und es eben gerade nicht um die alten Kreise um George geht, sondern um das, was Frommel aus seiner George-Verehrung gemacht hat. Aus den Praktiken der Nachgeborenen und der von ihnen nur in Anspruch genommenen Nachfolge gesichert auf die Verhältnisse in Georges Kreisen zu schließen, ist auf der Basis der bisher bekannten Quellen und Forschung nicht möglich, weil es spekulativ ist und auf vermuteten Wahrscheinlichkeiten beruht. Es kann sein, vielleicht ist es sogar plausibel, dass es auch um und durch George sexualisierte Machtpraktiken gegeben hat. Möglicherweise hat es auch Missbrauch gegeben. Es ist aber bisher völlig unbelegbar, ein Beispiel wäre Enckes Insinuierung, bei den Stauffenbergs habe es eine sexuelle Initiation gegeben oder Raulffs These, George sei mit dem erwachsenen Kantorowicz intim gewesen. Die Frage, ob es sich bei den vermuteten Opfern dann um junge, aber erwachsene Männer oder gar um minderjährige Kinder gehandelt haben könnte, ist dabei von großer Relevanz, lässt sich aber ebenfalls im Jahr 2018 nicht beantworten. Es hat homo- und bisexuelle Paare und Kontakte innerhalb der 3 Kreisgenerationen gegeben, das ist lange bekannt und beforscht, u. a. von Marita Keilson-Lauritz, es wird bei Karlauf und Kauffmann benannt.11 Es stimmt nicht, dass die Forschung hier immer geschwiegen oder nur geraunt habe. Die zum Teil explizit antibürgerlichen Liebesund Sexualvorstellungen, auch heterosexuelle, lassen sich in Briefen nachlesen, bei Gundolf und Erich von Kahler oder bei Kantorowicz 10 Günter
Baumann: Dichtung als Lebensform. Wolfgang Frommel zwischen George-Kreis und Castrum Peregrini, Würzburg 1995; siehe auch die entsprechenden Artikel im George Handbuch: Günter Baumann: Frommel, Wolfgang. In: Achim Aurnhammer u. a. (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Bd. 3, S. 1366–1370; ders.: Castrum Peregrini. In: ebd., Bd. 2, S. 1226–1233. 11 Marita Keilson-Lauritz: Von der Liebe, die Freundschaft heißt. Zur Homoerotik im Werk Stefan Georges, Berlin 1987. Siehe auch zahlreiche weitere Aufsätze von ihr; Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007; Kai Kauffmann: Stefan George. Eine Biographie, Göttingen 2014.
Das Castrum Peregrini und der George-Kreis – eine Differenzierung 127
etwa. Die offenen Fragen aber sind: Welche Rolle hatte George selbst? Wie haben sich ältere Kreismitglieder der ersten Generation gegenüber den jüngeren verhalten? Wie alt wären dann die Jüngeren bei etwaigen Sexualkontakten gewesen, kann man im strafrechtlichen Sinn von Missbrauch durch den Dichter oder ältere Mentoren der Jüngeren sprechen? Man muss es nochmal betonen: Hierzu schweigen alle bekannten Quellen! Natürlich ist in hierarchischen Sozialstrukturen immer Macht im Spiel. Aber wozu wurde sie im George-Kreis und durch George selbst genutzt und wem gegenüber? Am Briefwechsel mit Gundolf kann man erschüttert ablesen, wie stark die Bindung an George sein konnte und wie sehr manche litten, wenn sie distanziert wurden, wie Gundolf, oder selbst auf Distanz gingen, wie Kommerell, und dabei Freunde im Kreis zurücklassen mussten. Und diese Leiden konnten die individuelle Kraft übersteigen, wie im Fall des Suizides von Johann Anton 1931. George hat Schicksale bestimmt, manchmal sehr negativ. Es hat ganz sicher Traumatisierungen gegeben, gerade wenn der Meister sich distanziert hat. Aber diese Schicksale haben nach allem, was man bisher belegen kann, uneindeutige Auslöser, sind zu komplex, als dass man sie ausschließlich als Fälle sexualisierter Machtausübung beschreiben könnte. Hier liegen Ähnlichkeiten, aber eben – was die Belege und Erfahrungen angeht – auch Unterschiede zum Verhalten Frommels, der aus der George-Beobachtung gelernt hat, aber eine eigene soziale Herrschaft ausgeübt hat. Vom George-Kreis her gedacht, war eine Nachfolge ohnehin nicht möglich. Ohne Meister kein Kreis, eine „leere Mitte“12 ergibt in charismatischen Verbünden keinen Sinn. Georges Kreise waren 1933 am Ende. Und für die Weitergabe einer ‚Lehre‘ gab es keine Regeln, nur Auslegungskämpfe, was man sowohl im Pädagogischen wie im Politischen sehen konnte. Insofern war den Georgeanern vermutlich bewusst, dass das soziale Gebilde ‚Kreis‘ mit Georges Tod enden musste und es allenfalls eine Art offenes geistiges Erbe gab, aber keine Fortsetzungsmöglichkeiten. Frommel hat sich diese Option dann durch Zuschreibung, eine erfundene Tradition und Legitimation, und eine Gefolg schaft, die ihm geglaubt hat, geschaffen.
12 Ernst
Osterkamp: Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich, München 2010.
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Jan Andres
Ein ganz knappes Fazit: Es gibt relativ neue Informationen durch Zeugen- und Opferberichte wie die von Joke Haverkorn und Frank Ligtvoet im Fall der Strukturen und des Handelns im Castrum Peregrini von Frommel. Zum George-Kreis ist dadurch an sich kein neuer Wissensstand gegeben. Hier gilt, dass man eine Verlängerung der Praktiken sexualisierter Machtausübung nach hinten im Sinne einer Analogie, etwa bei Initiationen, vermuten kann, wie es Encke und Raulff tun. Belegen und konkretisieren kann man sie, nach aktuellem Quellen- und Forschungsstand, nicht. Es wäre aber, wie auch im Fall des Castrums, wichtig zu wissen, wer wen und in welcher Weise, vor allem auch: in welchem Alter, sexuell bedrängt oder missbraucht hat. Hier liegen, für die aktuelle Debatte, die wichtigen Unterschiede zwischen Castrum und George-Kreis.
Kai Kauffmann
Worüber reden wir im Falle von Stefan George eigentlich: über Homosexualität, über Päderastie, über Pädophilie, über sexuellen Missbrauch oder über sexualisierte Dichtkunst? Sehr geehrte Damen und Herren, mein Statement beginne ich mit einem Autor, der wohl als erster öffentlich all jene Vorwürfe gegen Stefan George und seinen Kreis erhoben hat, die jetzt in der aktuellen Debatte zum wiederholten Mal aufbranden. Rudolf Borchardt, zehn Jahre jünger als Stefan George, war anfänglich ein glühender Bewunderer des Dichters, spürte aber schon in der 1907 publizierten ‚Rede über Hofmannsthal‘ aus den Gedichten Georges einen Willen zur tyrannischen Herrschaft über andere Menschen heraus. Im Zeitschriftenaufsatz ‚Intermezzo‘ von 1910 stellte er George an den Pranger, weil dieser seine Dichtung dazu missbraucht habe, eine Art Sekte zu gründen, in der die Jünger als individuelle Persönlichkeiten gebrochen und um ihre eigene Potenz gebracht würden. Dass Borchardt in diesem Aufsatz metaphorisch auf die vermutete Homosexualität als eigentliche Triebkraft Georges anspielt, führte übrigens zu massiven Protesten von Max Weber und anderen Lesern, die darin eine skandalöse Vermischung von persönlicher Bloßstellung eines Homosexuellen – heute würde man von einem gewaltsamen Outing sprechen – und öffentlicher Kritik am Dichter sahen. Nach dem Tod Georges ist Borchardt noch deutlicher geworden. In der um 1935 niedergeschriebenen ‚Aufzeichnung Stefan George betreffend‘ leitet er das gesamte Leben und Wirken Georges aus der gegen die Natur des Menschen und das Wesen der Dichtung verstoßenden Inversion der Homosexualität ab und benennt darüber hinaus die praktizierte Knabenliebe des Meisters, der seine Jünger auch zu seinen sexuellen Zwecken missbraucht habe, als den eigentlichen Lebensgrund des George-Kreises, der mit den Mitteln der Dichtung sogar als allgemeine Weltanschauung öffentlich propagiert worden sei. Dass Borchardt in der ‚Aufzeichnung‘ den von George geschaffenen Kreis zudem als Vorläufer der von Adolf Hitler geführten Bewegung des Nationalsozialismus bezeichnet, die ihm als https://doi.org/10.1515/9783110697001-009
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Kai Kauffmann
endgültiger Triumph einer homosexuellen Weltverschwörung erscheint, sei der Vollständigkeit halber erwähnt. Warum habe ich zu Beginn über Borchardt gesprochen? Nun, zum einen, um zu zeigen, dass die aktuell gegenüber Stefan George und seinem Kreis geäußerten Vorwürfe nicht erst durch Thomas Karlaufs Biographie aus dem Jahr 2007 oder gar den Artikel von Julia Encke in der ‚Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung‘ (FAS) vom 13. Mai 2018 in die Diskussion gekommen sind. Zum anderen aber, um vor einer Wiederholung einer undifferenzierten Skandalisierung zu warnen, welche die Stich- und Reizworte Homosexualität, Päderastie und Pädophilie mit dem Vorwurf des Machtmissbrauchs kurzschließt, ohne dass dafür wissenschaftlich belastbare Belege in Bezug auf George und seinen Kreis vorgelegt würden. Um mein Statement vor Missverständnissen zu bewahren, möchte ich schon an dieser Stelle klar und deutlich betonen, dass ich mich als Mitglied des erweiterten Vorstands der Stefan-George-Gesellschaft für eine weiter- und tiefergehende Beschäftigung mit dem gesamten Themenkomplex einsetze. Aber dazu brauchen wir erstens einen differenzierten Umgang mit den Begriffen Homosexualität, Päderastie/Pädophilie und Machtmissbrauch und zweitens eine seriöse, über den heutigen Kenntnisstand der Forschung hinausgehende Erschließung und Auswertung des zur Verfügung stehenden Quellenmaterials über George und seinen Kreis. Genau diese beiden Essentials vermisse ich bislang in der von Julia Enckes Artikel wieder angestoßenen Debatte. Ulrich Raulff, derzeitiger Direktor der Deutschen Literaturarchivs Marbach, renommierter Journalist und Autor eines wichtigen Buchs über das ideengeschichtliche Nachleben des George-Kreises, wird von Julia Encke mit den Worten zitiert: „Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass Stefan George ein praktizierender Homosexueller und Päderast war […] Anfang der dreißiger Jahre war er ein alter Schwuler mit schweren gesundheitlichen Problemen und Angst vor der Einsamkeit.“1 In Alexander Wasners Fernsehreportage ‚Der merkwürdige Fall des Stefan George‘, die am 8. Juli vom ‚Südwestrundfunk‘ (SWR) ausgestrahlt wurde, legt Raulff noch einmal nach. Gleich zu Beginn der Sendung sagt er über George und seinen Kreis: „Wenn Sie sich ansehen, was passiert ist, worum man heute weiß, 1 Julia
Encke: Das Ende des geheimen Deutschlands. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 13. 05. 2018, S. 45 f.
Worüber reden wir im Falle von Stefan George eigentlich?131
welche Schweinereien passiert sind, dann kann man nur sagen, Hysterie ist das eine, aber die Berechtigung ist da.“2 Er selbst erzählt einen nur indirekt bezeugten Bericht von Robert von Steiner über angebliche homosexuelle und päderastische Initiationsriten des George-Kreises nach und verallgemeinert ihn dabei, obwohl er genau diesen Bericht in seinem Buch ‚Kreis ohne Meister‘ (2009) völlig zurecht als äußerst unzuverlässige Quelle gekennzeichnet hatte.3 Andere Belege für praktizierte Homosexualität und Päderastie hat er nicht zu bieten. Was ich aber genauso bedenklich finde, sind die in manchen Beiträgen zur Debatte mitschwingenden Ressentiments gegen Homosexuelle, die von liberalen Geistern in unserer aufgeklärten Öffentlichkeit natürlich nicht offen artikuliert werden. Aber die George attestierte Homosexualität wird direkt mit der behaupteten Päderastie in seinem Kreis in Verbindung und damit in Verruf gebracht. Von hier aus ist es nicht mehr weit zu dem von Alexander Wasner in der genannten Fernsehreportage formulierten Vorwurf, ein Gedicht aus dem ‚Maximin‘-Zyklus, in dem George den zarten Körper des Jünglings besingt, sei „literarisch verbrämte Kinderpornographie“.4 Abgesehen davon, dass man dann konsequenterweise zahlreiche künstlerische Darstellungen von erotisch wirkenden Jünglingen, angefangen mit den Skulpturen der griechischen Antike über die Sonette eines Shakespeare bis hin zu den zeitgenössischen Figuren des Jugendstils, ebenfalls als Kinderpornographie auf den kulturpolitischen Index stellen müsste, und abgesehen davon, dass dies dann konsequenterweise auch für zahllose künstlerische Darstellungen von jungen Mädchen zu gelten hätte, gebe ich zu bedenken: Wer auch nur den Schimmer einer Ahnung davon hat, welche grausamen Arten von Kinderpornographie, teilweise verbunden mit der Schändung von Kleinstkindern, heute im Darknet kursieren, sollte mit solchen Worten vorsichtiger umgehen.
2 Der
merkwürdige Fall des Stefan George. Ein Film von Alexander Wasner, ausgestrahlt am 08. 07. 2018 im SWR, einzusehen auf swr-fernsehen.de. Online unter: https://www.swrfernsehen.de/bekannt-im-land-der-merkwuerdigefall-des-stefan-george/-/id=15890754/did=22004752/nid=15890754/1dztopy/ index.html (04. 07. 2019), 00:01:2–00:01:33. 3 Vgl. Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009, S. 514 f. 4 Der merkwürdige Fall des Stefan George (Anm. 2), 00:25:15–00:25:20.
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Kai Kauffmann
Meine Damen und Herren, ich betone noch einmal, dass ich eine Fortführung der aktuellen Debatte für notwendig halte. Aber die weitere Aufarbeitung der nicht erst in Enckes Artikel gestellten Fragen muss in einer begrifflich differenzierten und sachlich fundierten Weise geschehen. Zunächst ist eine Unterscheidung der zu einem Amalgam verklumpten Begriffe nötig. Worüber reden wir im Falle von Stefan George und seinem Kreis eigentlich? 1) Reden wir über Homosexualität? Und wenn ja: von der homosexuellen Orientierung einzelner Personen oder von einem homosexuellen Ritus des gesamten Kreises? Ferner: Sprechen wir über praktizierte oder sublimierte Formen von Homosexualität? Wie dem auch sei: In keinem Fall darf es passieren, dass Homosexuelle, die zu Zeiten Georges unter der Strafandrohung des § 175 standen, von uns heute indirekt wieder in das Zwielicht des Schmutzigen, ja der Schweinerei gestellt werden, denn das hieße die damaligen Opfer moralischer Stigmatisierung und juristischer Verfolgung und Bestrafung erneut zu Tätern zu machen. 2) Reden wir über Päderastie oder Pädophilie? Und in welchem Sinn? Jan Andres hat in seinem Statement darauf hingewiesen, dass der juristische Begriff die Unzucht von Erwachsenen mit Kindern und Jugendlichen bezeichnet. Darüber, ob man genau die Altersgrenze „unter vierzehn Jahren“, die § 176 StGB einzieht, zum Kriterium machen sollte, lässt sich diskutieren. Doch zumindest scheint es mir nicht legitim zu sein, wenn der sexuelle Missbrauch von Kindern etwa in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf – dafür wurde ihr Leiter Gustav Wyneken mehrfach rechtskräftig verurteilt – oder Jahrzehnte später in der von Gerold Becker geleiteten Odenwaldschule umstandslos mit den vermuteten Praktiken im George-Kreis in eins gesetzt wird. Denn von wenigen Ausnahmen abgesehen, waren es junge Männer im Alter von etwas unter oder über 20 Jahren, die George an sich zog. Friedrich Gundolf war knapp 19, als er George kennenlernte, Ernst Kantorowicz über 25, bevor er, wie insinuiert wird, möglicherweise nicht nur das Zimmer, sondern auch das Bett mit dem ‚Meister‘ teilte. Maximilian Kronberger, den George als Vierzehnjährigen auf der Straße ansprach und dazu brachte, von sich Aktphotographien machen zu lassen, ist freilich eine der Ausnahmen, die besondere Aufmerksamkeit verdient, genauso wie das Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Ernst Morwitz und seinen
Worüber reden wir im Falle von Stefan George eigentlich?133
zu Beginn acht- bzw. neunjährigen Zöglingen Woldemar und Bernhard von Uxkull, die George dann als vierzehn- bzw. fünfzehnjährige Jünglinge erstmals vorgestellt wurden. 3) Oder reden wir über soziale Formen des Machtmissbrauchs, zu denen möglicherweise auch sexuelle Handlungen gehörten? Soweit ich die George-Forschung der letzten 20 Jahre überblicke, sind sich die meisten Wissenschaftler*innen mit dem Biographen Thomas Karlauf darin einig, dass Stefan George sein Charisma als Mensch und Dichter nach 1900 dazu genutzt hat, mit dem Kreis ein System von seelischen Abhängigkeitsbeziehungen zu schaffen. Ich denke auch, dass der von Jan Andres in unsere Diskussion gebrachte Begriff „sexualisierte Machtpraktiken“ auf bestimmte Elemente der Kreis-Rituale zutrifft. Für Akte des „sexuellen Missbrauchs“ im Sinne dessen, was jetzt über die sexuellen Übergriffe, ja Nötigungen im Castrum Peregrini bekannt gemacht worden ist, gibt es jedoch wenigstens bis zum heutigen Zeitpunkt keinen einzigen Beleg. Was nicht dagegen spricht, ab jetzt verstärkt nach eventuell vorhandenen Belegen zu suchen. 4) Oder reden wir über eine – übrigens schon von Rudolf Borchardt in der ‚Aufzeichnung Stefan George betreffend‘ konstatierte – Sexua lisierung von Kunst und Kultur in der Moderne? Eine Sexualisierung, die seit Baudelaire und Rimbaud als Gegenprogramm zu den moralischen Normen der bürgerliches Gesellschaft in Szene gesetzt wurde und bis in die 1950er, 1960er und 1970er Jahre reichte, in der heutigen Zeit der ‚Gender Awareness‘ aber vermehrt unter den Verdacht gerät, keine Form der kulturellen Befreiung zu sein, sondern gerade umgekehrt eine Form gesellschaftlicher Machtausübung und menschenverletzender Gewalt. Im Zuge der ‚#MeToo‘-Bewegung werden, das hat man u. a. an der Kontroverse über Eugen Gomringers ‚Avenidas‘-Gedicht gesehen, bereits viel harmlosere Produkte als Georges ‚Maximin‘-Zyklus als sexistisch angeklagt, was auch rückblickend die grundsätzliche Frage nach dem Status der Kunst in der Gesellschaft neu aufwirft. Es scheint mir für die zukünftigen Diskussionen sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Forschung unbedingt notwendig zu sein, zwischen diesen Begriffen und den daraus resultierenden Fragen zu differenzieren, bevor man dann, wenn dies sachlich begründet ist, wieder Zusammenhänge herstellt.
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Kai Kauffmann
Was folgt aus der aktuellen Debatte für die Zukunft der Stefan-George-Gesellschaft und der – von dieser Gesellschaft doch weitgehend unabhängigen – George-Forschung? Zur Versachlichung gehört der Hinweis, dass ganz ähnliche Debatten nach dem Erscheinen von Karlaufs George-Biographie im Jahre 2007 und dann noch einmal nach der Aufdeckung der Missbrauchsfälle in der Odenwaldschule im Jahre 2010 geführt worden sind. Ich empfehle jedem Interessierten, Julia Enckes FAZ-Interview mit Thomas Karlauf aus dem April 2010 nachzulesen, in dem der George-Biograph ebenso differenziert wie zurückhaltend auf die sensationsheischende Frage „Päderastie aus dem Geist Stefan Georges?“ geantwortet hat.5 In einem Punkt bleiben seine damaligen Aussagen allerdings ambivalent: Einerseits bestätigt er, ohne dies zu konkretisieren, dass es sexuelle Handlungen zwischen George und einigen seiner Jünger gegeben habe. Andererseits grenzt er Georges Verhalten gegenüber dem sexuellen Missbrauch von Schülern durch Gustav Wynecken ab, der anders als George seinen Jungs „an die Wäsche“ gegangen sei. Sieben Jahre später sagt Karlauf in dem am 7. Juli 2018 auf ‚3sat‘ ausgestrahlten Fernsehfilm ‚Stefan George: Das geheime Deutschland‘,6 durch den er als Biograph führt, ihm seien keine Belege für den sexuellen Missbrauch von Jugendlichen durch George bekannt, wobei allerdings jedes Wort dieser Äußerung einen Spielraum für unterschiedliche Interpretationen und Spekulationen lässt. Auch sein Artikel ‚Großes Abrakadabra im zweiten Stock‘,7 der zum 150. Geburtstag Stefan Georges in der heutigen Ausgabe der ‚ZEIT‘ (12. Juli 2018) erschienen ist, bleibt mehrdeutig: Einerseits legt Karlauf, der als Beobachter die Vorwürfe des auch sexuellen Missbrauchs im Castrum Peregrini bestätigt, den Analogieschluss auf entsprechende Praktiken im George-Kreis nahe. Andererseits stellt er genau diesen Analogieschluss im Rückblick auf die Konzeption seiner George-Biographie, für die das System Frommel die Blaupause gewesen sei, um das
5 Päderastie
aus dem Geist Stefan Georges? Interview von Julia Encke. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 04. 04. 2010, S. 23. 6 Vgl. Stefan George: Das geheime Deutschland. Ein Film von Ralf Rättig, ausgestrahlt am 07. 07. 2018 auf 3sat, einzusehen auf 3sat.de. Online unter: https:// www.3sat.de/kultur/kulturdoku/stefan-george-100.html (04. 07. 2019). 7 Vgl. Thomas Karlauf: Großes Abrakadabra im zweiten Stock. In: Die Zeit, 12. 07. 2018, S. 37.
Worüber reden wir im Falle von Stefan George eigentlich?135
System George transparent zu machen, zumindest rhetorisch in Frage, wenn er Ernst Osterkamp zustimmt, man könne George nicht „ohne weiteres“ dafür verantwortlich machen, was zwei Generationen später in seinem Namen „möglicherweise“ angerichtet worden sei, und immerhin erwägt, ob er als Biograph nicht doch den falschen Schlüssel benutzt habe. Angesichts der Brisanz der aktuellen Vorwürfe plädiere ich als Mitglied des erweiterten Vorstands der George-Gesellschaft dafür, dass wir uns nicht einfach defensiv auf den bisherigen Kenntnisstand der GeorgeForschung berufen und das Argument fehlender Belege wiederholen. Obwohl der Vergleich mit der Odenwaldschule in vielerlei Hinsicht hinkt und die strukturelle Analogie zum Castrum Peregrini keinen hinreichenden Beweis liefern kann, belastet besonders der immer wieder ausgesprochene Verdacht des sexuellen Missbrauchs die zukünftige Beschäftigung mit George so sehr, dass man diesem Verdacht wissenschaftlich nachgehen sollte, um über gründliche Untersuchungen eines erweiterten Materials zu besser fundierten Aussagen in der einen oder der anderen Richtung zu kommen. Natürlich ist das noch schwieriger als beim Castrum Peregrini, da im Fall des George-Kreises keine lebenden Zeitzeugen mündlich befragt werden können. Als Untersuchungsmaterial bleiben allein die schriftlichen Nachlässe, insbesondere die der Kreismitglieder. Ich würde vorschlagen, dass man gezielt bestimmte, noch wenig ausgewertete Nachlässe durchsucht, so z. B. den Nachlass von Ernst Morwitz, der auch im Hinblick auf sein Verhältnis zu den beiden Brüdern von Uxkull-Gyllenbad aufschlussreich sein könnte. Ob eine solche Tiefenbohrung zu Resultaten führt, lässt sich nicht sagen, bevor sie durchgeführt wird. Klar ist allerdings auch, dass die George-Gesellschaft damit überfordert wäre, derartige Forschungsprojekte in Auftrag zu geben oder gar zu bezahlen. Sie könnte aber, etwa durch einen Aufruf im ‚George-Jahrbuch‘, derartige Forschungsprojekte anregen und entsprechende Antragstellungen beratend unterstützen. Eine literarische Gesellschaft wie die unsere, die sich in ihrer Satzung hauptsächlich zur Pflege des dichterischen Erbes von Stefan George verpflichtet hat, darf sich m. E. allerdings nicht auf die historische Aufarbeitung seiner problematischen Verhaltensweisen sowie der ebenso problematischen Sozialform des Kreises beschränken. Damit plädiere ich keineswegs für einen Rückzug auf das sogenannte ‚dichterische Wort‘,
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Kai Kauffmann
denn, auch das ist eine bekannte Einsicht der jüngeren George-Forschung, eine klare Trennung zwischen Leben und Werk lässt sich gerade bei diesem Dichter nicht vornehmen. Vielmehr laufen die Korrespondenzen zwischen Leben und Werk hin und her. Im Sinne der letzten Fragestellung, die ich oben angedeutet habe, schlage ich als ein künftiges Tagungsprojekt der George-Gesellschaft vor, dass wir uns eingehend mit dem Themenkomplex der Sexualisierung von Kunst und Kultur um 1900 beschäftigen. Dabei würde es nicht allein darum gehen, die von George und seinem Kreis entwickelten Konzepte einer homoerotischen Dichtung und einer vom ‚pädagogischen Eros‘ bestimmten ‚Gemeinschaft‘ im literatur- und kulturgeschichtlichen Zusammenhang ihrer Epoche historisch zu verorten und kritisch zu diskutieren. Vielmehr sollte, davon ausgehend, die Tagung dazu dienen, jene von der ästhetischen Moderne programmatisch vorgenommene Aufladung der autonomen Kunst mit einer amoralischen Sexualität grundsätzlich zu reflektieren, eine Amoralität der Kunst, die spätestens mit der ‚#Me Too‘-Bewegung ihre kulturpolitische Legitimität völlig eingebüßt zu haben scheint. Und damit könnte weit mehr als der vermutete sexuelle Missbrauch im George-Kreis zum Thema der kritischen Reflexion werden, nämlich der Status der Kunst in unserer Gegenwart.
Rezensionen Jørgen Sneis
Stefan George: „Von Kultur und Göttern reden“. Aus dem Nachlass. Ergänzungen zu Georges „Sämtlichen Werken“. Im Auftrag der Stefan George Stiftung hg. von Ute Oelmann. Stuttgart: Klett-Cotta 2018, 459 S.
Diese überaus verdienstvolle Nachlassedition, besorgt von der erfahrenen George-Editorin Ute Oelmann, ist – wie der Untertitel deutlich markiert – im Zusammenhang mit der Werkausgabe1 und somit zugleich mit der Frage nach den Grenzen des Werks und dem Status des Nachlasses Stefan Georges zu sehen. Bekanntlich hatte George selbst bei der Konzeption seiner achtzehnbändigen ‚Gesamtausgabe‘ den Anspruch, sein Werk in einer „Endgültige[n] Fassung“ zu hinterlassen.2 Dieser Anspruch kann bis heute zumindest zum Teil als erfüllt gelten, sofern die vom Dichter selbst verantwortete ‚Gesamtausgabe‘ die Grundlage der neuen, heute maßgeblichen Edition bildet. Dagegen verfolgt Oelmann mit den hier vorgelegten „Ergänzungen“ zur Werkausgabe das Ziel, „auch jene Texte zugänglich zu machen, deren Veröffentlichung nicht der Intention des Dichters und seiner Erbengeneration entsprach“ (S. 12). Damit liegen erstmalig alle bis dato bekannten Texte aus dem Nachlass in einer textkritischen Edition vor (vgl. S. 12). Gruppiert sind die Texte im Wesentlichen nach Gattungen. Sie umfassen (so die Zwischenüberschriften) Gedichte, Gedichte in fremden Sprachen, Prosa, Aphorismen/Notizen zur Literatur, Aphoristisches, Dramatisches und Übertragungen. Zum größten Teil handelt es sich um Texte des jungen George, in vielen Fällen noch aus der Schulzeit – 1 Stefan
George: Sämtliche Werke in 18 Bänden [SW]. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982 ff. 2 Stefan George: Gesamtausgabe der Werke [GA]. Endgültige Fassung, Berlin 1928 ff.
https://doi.org/10.1515/9783110697001-010
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Jørgen Sneis
ergänzt um einen Anhang, in dem die Einleitungen und Nachrichten aus den ‚Blättern für die Kunst‘ sowie die Vor- und Nachworte aus den Anthologien ‚Deutsche Dichtung‘ wiederabgedruckt sind, „um sie heutigen Interessierten leichter zugänglich zu machen und mit den Nachlasstexten ins Gespräch zu bringen“ (S. 13). Ein Beispiel für die Korrespondenzen, die dadurch in den Blick geraten, bietet etwa die 1887 entstandene Schülerzeitschrift ‚Rosen und Disteln‘, deren Einleitungstext „An den Leser“ (S. 51) aus der Feder Etienne Georges (vgl. S. 17) mit der fünf Jahre später erschienenen Einleitung zum ersten Band der ‚Blätter für die Kunst‘ auffällige Ähnlichkeiten aufweist (vgl. S. 391; ferner S. 396). Als Frage bleibt hier lediglich zurück, inwieweit diese wiederabgedruckten Texte tatsächlich auch über die gängigen Kataloge und Datenbanken bibliografisch auffindbar sind. Wer beispielsweise nach den Einleitungen der ‚Blätter für die Kunst‘ sucht, wird vermutlich eher auf die 1964 erschienenen ‚Einleitungen und Merksprüche der Blätter für die Kunst‘3 oder auf die digitale Sammlung der Württembergischen Landesbibliothek denn auf diesen Nachlassband stoßen. Gerahmt wird der Band, als sinnvolle Orientierungshilfe für die Leser*innen, von einer kurzen Einleitung mitsamt editorischen Erläuterungen und einem kontextualisierenden Nachwort der Herausgeberin. Hervorzuheben ist im Übrigen die Kommentierung, die präzise Beschreibungen der Archivalien mit weiteren Erläuterungen verbindet. Wo beispielsweise die nachgelassenen Texte nicht datiert sind, werden Vermutungen angestellt und inhaltlich begründet. Verwiesen wird auch stets auf die Signaturen im Stefan George Archiv, womit man die inzwischen digital einsehbaren Archivalien4 gezielt in Augenschein nehmen kann. Was die literarische Verfasstheit der Texte selbst anbelangt, so darf man wohl die Meinung vertreten, dass sie nicht immer ästhetisch hochwertig sind (dieser Meinung scheint übrigens auch die Herausgeberin zu sein; vgl. S. 12). Ihr Wert ist vielmehr ein anderer: Sie machen auf 3 Stefan
George Stiftung (Hg.): Einleitungen und Merksprüche der Blätter für die Kunst, Düsseldorf u. a. 1964. Auch im Internet verfügbar unter: http://www. zeno.org/Literatur/M/George,+Stefan/Sonstige+Werke/Einleitungen+und+Merkspr%C3 %BCche+der+Bl%C3 %A4tter+f%C3 %BCr+die+Kunst (zuletzt überprüft am 24. 7. 2019). 4 Vgl. die digitale Sammlung des Stefan George Archivs: http://digital.wlb-stuttgart.de/sammlungen/sammlungsliste/?no_cache=1&tx_dlf[order]=shelfmark&tx_dlf[asc]=1 (zuletzt überprüft am 24. 7. 2019).
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Entwicklungslinien im Werk Stefan Georges, auf thematische Präferenzen und ästhetische Wertmaßstäbe aufmerksam und können somit – heuristisch – für die Erschließung neuer Untersuchungsperspektiven, für die Generierung neuer Fragestellungen fruchtbar gemacht werden. Anregend dürften in diesem Sinne die mehr als 30 Seiten umfassenden Aphorismen/Notizen zur Literatur wirken. Die Dramenfragmente ‚Phraortes‘ und ‚Graf Bothwell‘ gewähren Einblicke in Georges Beschäftigung mit dem historischen Drama im Allgemeinen und mit Schiller im Besonderen. Als das Kernstück dieser Edition kann jedoch die Übersetzung zweier Ibsen-Dramen gelten: ‚Catilina‘ (norw. 1850) und ‚Hærmændene paa Helgeland‘ (norw. 1858), beide angefertigt 1887/88. Diese Übersetzungen geben nicht nur Aufschluss über die literarischen Anfänge Stefan Georges: seine Wahrnehmung der europäischen Literatur, sein außergewöhnliches Sprachtalent, sein derzeitiges Selbstverständnis als Dramatiker, die Funktion und den Stellenwert des Übersetzens für die eigene literarische Produktion, sondern auch und darüber hinaus über die deutsche Ibsen-Rezeption im ausgehenden 19. Jahrhundert. Den Erinnerungen eines Schulkameraden zufolge soll bei George eine Darmstädter Aufführung von ‚Die Stützen der Gesellschaft‘ die Begeisterung für Ibsen ausgelöst haben: Die Anregungen der Bühne wirkten stärker als der Schulunterricht, und als das sehr konservative Hoftheater sich einmal zu einer Aufführung von Ibsens „Stützen der Gesellschaft“ verstieg, war George so begeistert, daß er alle Dramen des Nordländers mit den Stubengenossen las, ja selbst für sich Norwegisch lernte und mit Hilfe von schon vorhandenen Übersetzungen den „Catilina“ und die „Nordische Heerfahrt“ ins Deutsche übertrug.5
Dass gerade dieses Drama zur Aufführung gelang, ist – selbst für das konservative Darmstädter Hoftheater – nicht sonderlich überraschend. In Skandinavien hatte sich Ibsen schon in den 1850er und 1860er Jahren, vor allem mit den Dramen ‚Brand‘ (1866) und ‚Peer Gynt‘ (1867), einen Namen gemacht. Seine Bemühungen, auch die deutschen Bühnen und den deutschen Buchmarkt zu erobern, blieben aber zunächst erfolglos. Ibsens Durchbruch in Deutschland erfolgte vielmehr gerade mit ‚Die Stützen der Gesellschaft‘ (1877), d. h. mit demjenigen Drama, 5 Hans
Werner: Stefan George als Gymnasiast. In: Deutsches Philologenblatt 42, 1934, S. 368–370, hier S. 368.
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Jørgen Sneis
das gemeinhin als sein erstes ‚Gesellschaftsdrama‘ gilt und auch die ‚naturalistische‘ Ibsen-Rezeption in Deutschland einleiten sollte. Die beiden Texte, die George nahezu vollständig ins Deutsche überträgt (hier S. 198–379),6 sind allerdings untypisch für die Auseinandersetzung mit Ibsen in Deutschland. Sie stehen vor allem in der Tradition der skandinavischen Romantik und passen schlecht zu dem ‚naturalistisch‘ geprägten Ibsen-Bild, das Ende der 1880er Jahre vorherrschte. Dass George Ibsen „mit Hilfe von schon vorhandenen Übersetzungen […] ins Deutsche übertrug“, lässt sich dabei im Übrigen noch präzisieren: ‚Catilina‘ wurde nämlich erst 1896 ins Deutsche übertragen; eine ephemere englische Teilübersetzung aus dem Jahr 1880, die ohnehin nur den ersten Akt umfasste, wird George kaum gekannt haben.7 Hier ist also eher der Erinnerung von Carl Rouge zu trauen, dass George sich mit Ibsen-Texten befasste, die „dem damaligen Theaterpublikum meist fremd blieben“, und „wohl als erster Ibsens Jugendstück ‚Catilina‘ ins Deutsche“ übersetzte.8 Anders verhielt es sich freilich mit ‚Hærmændene paa Helgeland‘. In einem Brief vom 12. Juli 1876 an den norwegischen Anwalt Emil Stang konnte Ibsen mitteilen, dass er auf bestem Wege sei, ein deutscher Schriftsteller zu werden, indem er deutsche Originalausgaben seiner Bücher drucken lasse.9 Dies bezieht sich nicht lediglich auf die Tatsache, dass er zu diesem Zeitpunkt schon länger in Deutschland lebt. Mit dem Ausdruck ‚deutsche Originalausgaben‘ sind autorisierte Übersetzungen seiner Werke gemeint – ein Teil von Ibsens Strategie, der damals noch sehr unübersichtlichen urheberrechtlichen Situation beizukommen. In seinem Brief an Emil Stang dürfte
6 In
Auszügen enthalten in: SW XVIII, S. 91–100. Vgl. auch die Übertragungen aus ‚Kjærlighedens Komedie‘ und ‚Brand‘ in der ‚Fibel‘: SW I, S. 51 f. 7 Zu den Übersetzungen des Dramas zu Lebzeiten des Autors vgl. den Kommentar der norwegischen Ibsen-Ausgabe, im Internet verfügbar unter: https:// www.ibsen.uio.no/DRINNL_C2 %7Cintro_translation.xhtml (zuletzt überprüft am 24. 7. 2019). 8 Carl Rouge: Schulerinnerungen an den Dichter Stefan George. In: Volk und Scholle 8, 1930, S. 20–25, hier S. 22. 9 Henrik Ibsen an Emil Stang, 12. 7. 1876: „Jeg er nu stærkt påvej til at blive tysk literat; det vil sige, jeg foranstalter t yske originaludgaver af mine bøger“ (zit. nach der norwegischen historisch-kritischen Ausgabe, im Internet verfügbar unter: https://www.ibsen.uio.no/BREV_1871-1879ht%7CB18760712ESta.xhtml – zuletzt überprüft am 24. 7. 2019).
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er nicht zuletzt das Drama ‚Hærmændene paa Helgeland‘ vor Augen gehabt haben, das nur ein paar Monate zuvor unter dem Titel ‚Nordische Heerfahrt‘ als „deutsche Originalausgabe“ in München erschienen war.10 In gewisser Weise trat also George mit seiner Übersetzung von ‚Hærmændene paa Helgeland‘ in Konkurrenz zu Ibsen selbst. Vergleiche dieser Art könnten dazu beitragen, die Übersetzungskonzeption und Übersetzungspraxis wie auch das Ibsen-Bild Stefan Georges schärfer zu konturieren. Gewinnbringend wäre beispielsweise auch – in Anbetracht des eher wörtlichen, um Nähe zur Ausgangssprache bemühten Übersetzungsstils Georges – ein Vergleich mit der ‚Catilina‘-Übertragung Christian Morgensterns,11 der für die Werkausgabe bei S. Fischer die Gedichte und Versdramen übersetzte und für seine ‚Nachdichtungen‘ von Ibsen mehrfach gelobt wurde.12 Den Erinnerungen seines Schulkameraden zufolge hat George sämtliche Ibsen-Dramen gelesen. Die Bestände im Stefan George Archiv in Stuttgart belegen zumindest, dass er eine Gedichtsammlung und zehn Dramen von Ibsen in der Originalsprache besessen hat. Warum er ausgerechnet ‚Catilina‘ und ‚Hærmændene paa Helgeland‘ für übersetzenswert hielt, was ihn an diesen beiden Dramen derart faszinierte: das wäre eine Frage für sich,13 die sich mit dieser Edition auf neuer Grundlage stellen lässt. 10
Henrik Ibsen: Nordische Heerfahrt. Trauerspiel in vier Akten. Unter Mitwirkung von Emma Klingenfeld veranstaltete deutsche Originalausgabe der ‚Haermaendene paa Helgeland‘ von Henrik Ibsen, München 1876. 11 Vgl. Henrik Ibsen: Sämtliche Werke in deutscher Sprache. Hg. von Georg Brandes / Julius Elias / Paul Schlenther. Bd. 1 [enthält u. a. ‚Catilina‘, übers. von Christian Morgenstern], Berlin 1903. 12 Vgl. etwa Henrik Ibsen an Christian Morgenstern, 2. 1. 1900, anlässlich Morgensterns Übersetzung von ‚Når vi døde vågner‘: „Lieber Herr Morgenstern! Seit langem hätte ich Ihnen schreiben sollen und Ihnen danken für Ihre meisterliche, feine Übertragung meines neuen Stückes ins Deutsche. Vergeben Sie, daß dies erst heute geschieht. Ich habe die Übersetzung sorgfältig durchgelesen und begreife nicht, wie Sie sie in so kurzer Zeit fertigbringen konnten. Und so vollkommen haben Sie jede einzelne Wendung nachgedichtet! Ich danke Ihnen recht aus meinem innersten Herzen!“ (zit. nach der norwegischen historisch-kritischen Ausgabe, im Internet verfügbar unter: https://www.ibsen. uio.no/BREV_1890-1905ht%7CB19000102CMo.xhtml?soketreff=Ja&searchString=morgenstern&fileName=B1890-1905ht.xml&brevID=B19000102CMo – zuletzt überprüft am 24. 7. 2019). 13 Vgl. dazu das Nachwort der vorliegenden Edition, bes. s. 453; ferner etwa Angela Beuerle: Übertragungen aus den skandinavischen Sprachen. In: Jürgen
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Jørgen Sneis
Der Verdienst dieses Bandes liegt vor allem darin, das (in Teilen bereits publizierte) Nachlasskorpus zu sammeln, auf den neuesten editionsphilologischen Stand zu bringen und fachkundig zu kommentieren. Inwieweit und in welcher Weise dieses Angebot von der George-Forschung angenommen wird, wird sich naturgemäß noch zeigen müssen.
Egyptien (Hg.): Stefan George – Werkkommentar, Berlin–Boston 2017, S. 753– 769, hier S. 754 f.: „Fragt man nach dem Zustandekommen dieser Auswahl der Ibsen-Übersetzungen, stößt man auf zwei sehr unterschiedliche Aspekte, die gemeinsam als Kriterien angenommen werden können: Alle diese Texte berühren inhaltlich Themen, die für George in dieser Zeit für sein eigenes Selbstverständnis im Verhältnis zu Gesellschaft und Kunst bzw. künstlerischer Berufung von großem Interesse und möglicherweise auch identifikatorischer Natur gewesen sind […]. Sprachlich, und das ist der andere Aspekt, ist (fast) allen diesen sehr unterschiedlichen Ibsen-Texten, mit denen George sich übersetzerisch beschäftigt hat, gemein, dass sie in gebundener Form gehalten sind“. Zu George als Übersetzer (von Ibsen) vgl. auch Ute Oelmann: „Moi, je n’ai plus envie de traduire“. Etienne George als Übersetzer. In: George-Jahrbuch 11, 2016/17, S. 1–11; kürzlich auch Franziska Walter: Meisterhaftes Übersetzen. Stefan Georges Übersetzung der Sonette Shakespeares, Würzburg 2019, S. 34 f.
Jan Andres
Jürgen Egyptien (Hg.): Stefan George – Werkkommentar. Berlin – Boston: De Gruyter 2017, 888 S.
Die erste Auflage des bekannten Werkkommentars von Ernst Morwitz hat ein ausgesprochen knappes, aber bezeichnendes Vorwort, in dem der Verfasser schreibt, dass er persönliche Erinnerungen heranziehe, die zudem durch Freunde und Bekannte erweitert worden seien.1 Der eigentliche Text ist dann seit 1959/60 unverändert geblieben, er wurde zu einem durchaus etablierten Referenztext der Forschung, auch wenn durch die Selbstbeschreibung von Morwitz klar war, dass es sich nicht um einen wirklich systematischen Werkkommentar handelte, sondern der Autor sich in spezifischer Weise in die Bücher der Erinnerungskultur des ehemaligen Kreises einreihte. Die Gedichte wurden in der Reihenfolge der Bände schlicht durchgegangen und mehr oder minder knapp erläutert, in den meisten Fällen aber mit biografischen, manchmal hagiografischen Argumenten. Ein im engeren Sinne philologisch-systematischer und vor allem kritischer Werkkommentar lag damit nicht vor und der blieb dann auch über Jahrzehnte ein Desiderat, wobei eben dann doch viel zitierend auf Morwitz zurückgegriffen wurde. So wundert es nicht, dass der Herausgeber des neuen, hier zu besprechenden Buches, Jürgen Egyptien, nun einen Werkkommentar zu Stefan George von fast 900 Seiten vorlegt, an dem über 20 Autorinnen und Autoren beteiligt sind. Er schließt damit vordergründig jene Lücke, die seit Morwitz besteht – ein möglichst präziser, textorientierter und Strukturen markierender Durchgang durch das Werk. Zudem, das ist kaum zu übersehen, hat George, bei aller Skepsis, die ihn immer begleitet hat bis jüngst in die Debatten des 150. Geburtstages, in den letzten 20 Jahren deutlich an Aufmerksamkeit gewonnen. Egyptien selber hat zum Jubiläumsjahr die vierte Biografie des Dichters (nach Norton, Karlauf und Kauffmann) vorgelegt.
1 Diese
Rezension ist die leicht erweiterte und überarbeitete Fassung eines Textes, der in der GRM 68, 2018, Heft 1 erschienen ist.
https://doi.org/10.1515/9783110697001-011
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Jan Andres
Es erstaunt dann andererseits doch, denn als ein Ausdruck dieser wachsenden Forschung ist erst vor wenigen Jahren – gebunden 2012, als relativ günstiges Paperback 2016 – das dreibändige George-Handbuch erschienen. Das haben mit Achim Aurnhammer, Wolfgang Braungart und Stefan Breuer bedeutende George-Forscher mit Ute Oelmann, die als jahrzehntelange Leiterin des George-Archivs die sicher beste Kennerin der Quellen und darüber hinaus selbst auch interpretativ und editorisch tätig ist, herausgegeben und zu ihm haben zahlreiche Fachwissenschaftler beigetragen, darunter praktisch alle bekannten Namen der George-Forschung. Man findet dort eine breite Prosopografie des Kreises mit zum Teil wirklich neuen Forschungserträgen aus Archivmaterialien und orientierende, systematische Artikel zum Kreis und eben auch zum gesamten Werk. Ein Teil des Handbuches ist Werkkommentar und wird auch als solcher, in Abgrenzung vom Biografismus à la Morwitz, in der Forschung zitiert. Das Handbuch ist praktisch sofort zu einem unverzichtbaren Standard-Werk geworden. Gedruckt hat es der Verlag De Gruyter, wo nun der Werkkommentar erschienen ist, einer der Beiträger war wiederum Jürgen Egyptien. Das berechtigte Erstaunen, dass also ein konkurrierender, positiv formuliert: ergänzender Werkkommentar im gleichen Verlag auslösen muss, nimmt der Herausgeber als Einstieg in seine Einleitung des Kommentars: Der Anstoß zum Vorhaben sei vom Verlag gekommen, er sei als „Anschlussprojekt“ (S. 1) an das Handbuch gedacht mit der Konzentration eben auf das dichterische und übersetzerische Werk Georges. Reaktionen auf das Handbuch hätten diesen Fokus nachträglich gerechtfertigt. Jenseits dieser Einschätzung bleibt es bemerkenswert, dass nun aus einem Verlag zwei sich doch sehr deutlich überschneidende, kommentierende und erläuternde Überblickspublikationen vorliegen, auch wenn der Werkkommentar einen sehr viel engeren, text- und zyklusorientierten Zugang wählt und den Autorinnen und Autoren, eine unübersehbare Stärke, sehr viel Raum für die einzelnen Zyklen zur Verfügung steht. Die Artikel sind, addiert auf die Gedicht-Bände Georges, zwischen ca. 80 und maximal 140 Seiten lang. Im Aufbau ist der Kommentar an der Gesamtausgabe von 1927 ff. und den ‚Sämtlichen Werken‘ von 1982 ff. orientiert und geht das gesamte dichterische Schaffen Georges durch, ergänzt um die Übersetzungen bzw. Umdichtungen aus europäischen Sprachen und die programmatischen Äußerungen aus den ‚Blättern für die Kunst‘, denen Christophe
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Fricker einen knappen, aber informativen Artikel widmet. Die einzelnen Beiträge gehen von der hohen Bedeutung der zyklischen Strukturen in Georges Werk aus, was völlig überzeugt und die Einsicht nochmals verschärft, wie groß der Wille zu „Werkpolitik“ (so Steffen Martus in seiner Monografie zum Thema) und Gesamt-Kompositorik bei George war. Das Werk ist ein Gesamt-Konstrukt mit wichtigen Binnenstrukturen. Es werden die Zyklen der Bände in den Mittelpunkt gestellt, zunächst im Aufbau beschrieben und dann jeweils durch exemplarische Einzel analysen von zwei bis vier Gedichten ergänzt. Durch dieses Vorgehen kommen wenn schon nicht alle (wie bei Morwitz), so doch aber sehr viele einzelne Gedichte in den Darstellungen zur Geltung, darunter auch solche, die bisher weniger Aufmerksamkeit bei Interpretationen gefunden haben. Sucht man neben diesem Aufbau nach einem roten Faden, so kann man wohl Egyptiens Einleitung, die mit drei Seiten ausgesprochen knapp, an sich zu knapp für solch ein gewichtiges Unterfangen, ausfällt, zustimmen, wenn er einen Fokus auf dichterische Selbstreflexion, also poetologische Gedichte, herausstellt. Durch diesen Aufbau scheint der Kommentar zunächst homogener, als er es in den einzelnen Artikeln dann ist, in denen die Autorinnen und Autoren durchaus unterschiedliche Herangehensweisen und Darstellungstechniken bzw. Kommentarstrategien zeigen. Es gibt eine Gruppe von Zykluskommentaren, die sich forschungsaffin und auf der Höhe des aktuellen Forschungsdiskurses zeigen (bspw. Aurnhammer zu den ‚Zeitgedichten‘, Schloon zu den ‚Sagen und Sängen‘ oder Eschenbach zu ‚Maximin‘). Andere zeigen sich einer Tradition der beschreibenden Kommentierung unter Bezug auf ältere Texte aus dem George-Kreis, etwa von Morwitz oder Klages, Wolters und Hildebrandt, verpflichtet. Hier wird bei genauer Durchsicht die Forschung fast schon gemieden oder zumindest sehr selektiv bewertet, in der Regel durch deutliche Ablehnung von Positionen wie denen des George-Biografen Karlauf oder des Soziologen Breuer (so etwa bei Schneider zu den ‚Hirten- und Preisgedichten‘, Lehnen zum ‚Vorspiel‘ des ‚Teppichs‘ oder Pieger zum ‚Eingang‘ des ‚Sterns‘). Insbesondere diese Texte lassen eine gewisse Skepsis zurück, was man von ihnen als wissenschaftlichem Kommentar zu halten hat, entwickeln sie doch in der Regel keine wirklich deutende Perspektive, ja weisen diese zum Teil zugunsten gründlicher Deskription regelrecht von sich. Zu einem modernen Werkkommentar gehört im Übrigen auch eine Darstellung aktueller Forschungspositionen, wie
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Jan Andres
auch immer man sich dann zu ihnen verhält. Andere Texte wieder, so Torsten Voss zu den ‚Überschriften und Widmungen‘, vertreten eine fast schon einseitige, den poetologischen Charakter der Gedichte massiv forcierende These. Aus dieser Spannung entstehen Fragen: Wollen die einzelnen Kommentare wirklich keine deutende Perspektive und warum wollen sie genau das meiden, was man zum Teil vermuten muss? Will man sich dadurch einer bestimmten Tradition der George-Exegese anschließen, die Interpretation für fragwürdig hielt, und wenn ja: Ist das für einen wissenschaftsorientierten Kommentar vertretbar, den auch Studierende und interessierte Laien nutzen? Können die Modellinterpretationen dann wirklich als ‚Modelle‘ (wofür?) dienen? Diese innere Spreizung der Artikel führt zu durchaus unterschiedlich starker Akzentuierung von wichtigen Forschungsthemen wie Georges Denken und Dichten im Politischen, im Pädagogischen und im Religiösen. Im einzelnen Artikel fällt das, wenn man ihn selektiv wahrnimmt, manchmal wenig auf, auch die eher forschungsfernen Texte sind in der Sache meist gut informiert und in den Quellen bewandert, insofern hilfreich. Aber legt man die extremen Ausprägungen nebeneinander, so etwa bei den in bezeichnender Weise ganz unterschiedlichen Texten von Pieger zum ‚Eingang‘ des ‚Stern des Bundes‘ und Aurnhammer zum ‚Dritten Buch‘ desselben Bandes, dann bemerkt man die sehr unterschiedlichen Verständnisse des Kommentierens und der impliziten Auffassung, was ein Kommentar leisten soll – und was er offenbar nicht darf. Daran zeigen sich grundlegende hermeneutische Fragen, die der Kommentar in der vorliegenden Form nicht thematisiert und offenlässt, die den Band aber prägen. Dies zumindest zu benennen, wäre wohl eine Aufgabe des Herausgebers gewesen, wenn er sich denn der verbindlichen Standards für die einzelnen Artikel enthält. Vermutlich wird sich der Kommentar dennoch als ein weiteres Instru ment der George-Werkforschung etablieren, die Artikel bieten viele gute, durch den genauen Blick auf Zyklen und Einzelgedichte gewonnene Einsichten und nutzen den Raum, den sie haben, voll aus. Ob er, nicht zuletzt bedingt durch die problematischen Eigenarten einzelner Artikel, die Werkartikel des Handbuches insgesamt zu überschreiten vermag, ist nicht klar, wie überhaupt die implizite Konkurrenz, die durch die Publikationsgeschichte entstanden ist, wohl nicht nötig ist in der Anwendung. Beide, Handbuch und Kommentar, werden nicht
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am Stück gelesen, sondern in Einzelartikeln wahrgenommen. Und ob das je Gelesene dann hilfreich ist, hängt wohl meist von der konkreten Frage ab. Viele jedenfalls beantworten die Artikel des Werkkommentars sicher schon allein durch die betonte Hinwendung zum Werk Georges in seiner zyklischen Struktur. Andere verdecken sie durch ihre impliziten Verständnisse von Kommentar und Kommentator*in.
Gabriele von Bassermann-Jordan
Franziska Walter: Meisterhaftes Übersetzen. Stefan Georges Übersetzung der Sonette Shakespeares. Würzburg: Königshausen & Neumann 2019 (= Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft 874), 312 S.
Stefan Georges Übersetzung der Sonette Shakespeares, erstmals veröffentlicht im Jahr 1909, also 300 Jahre nach dem Erscheinen der Quarto-Ausgabe der ‚Sonnets‘, steht nicht im Zentrum der Forschung. Franziska Walter hat sich nun mit ihrer Dissertation ‚Meisterhaftes Übersetzen‘ dieses Desiderats angenommen. Die Arbeit hat den nicht geringen Anspruch, „Georges gesamte Shakespeare-Übersetzung erstmals […] aus dem Kontext seines Werkes“ zu analysieren (S. 23). Das „Eigene“ Georges, wie es sich in seiner Übersetzung gerade in den Abweichungen vom „Fremden“ Shakespeares zeigt, soll herausgearbeitet und die sich daraus ergebende Frage, warum George so und nicht anders übersetzt, durch die Kontextualisierung der Sonett-Übersetzung in seinem Werk beantwortet werden (S. 15).1 Die Studie erweist sich damit einer Forschungsrichtung zugehörig, die die spezifische Art und Weise, wie George und der Kreis große Persönlichkeiten der Literatur und der Geschichte interpretieren, als Teil der „Werkpolitik“ versteht: Geistesgrößen der Vergangenheit werden zu den eigenen Vorläufern stilisiert.2
1 Walter
bezieht sich hier auf Ernst Osterkamp: Das Eigene im Fremden. Georges Maximin-Erlebnis in seiner Bedeutung für die Konzeption der ‚Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der ‚Blätter für die Kunst‘‘. In: Eijirô Iwasaki (Hg.): Begegnung mit dem ‚Fremden‘. Grenzen – Traditionen – Vergleiche, München 1991, S. 394–400. 2 Vgl. dazu etwa Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890–1945, Tübingen 1998; Armin Schäfer: Die Intensität der Form. Stefan Georges Lyrik, Köln u. a. 2005; Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin – New York 2007.
https://doi.org/10.1515/9783110697001-012
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Drei Leitthesen strukturieren die Arbeit. Erstens arbeite George an seiner Shakespeare-Übersetzung Themen des eigenen Werkes heraus. Zweitens stelle George mit Hilfe seiner Sonett-Übersetzung insbesondere seine Maximin-Dichtung in einen Traditionszusammenhang mit Shakespeare. Drittens entwickele George mit seiner Shakespeare-Übersetzung, die entstehungsgeschichtlich zwischen ‚Der Siebente Ring‘ (1907) und ‚Der Stern des Bundes‘ (1914) liegt, das eigene Werk weiter (S. 13). Die erste der Leitthesen wird in Kapitel 4.1 eingelöst (S. 128–189). In einer ausführlichen Analyse von Sonett 144, das die Dreiecksbeziehung Fair Youth – Dark Lady – Dichter zum Gegenstand hat (S. 131–142), zeigt Walter erstens, dass George die charakterlichen Mängel der Dark Lady in der Übersetzung betone, diejenigen des Fair Youth dagegen abschwäche. Auf diese Weise werde die „Heroisierung der männlichen Jugend“, wie sie für den George-Kreis von Bedeutung sei, vorangetrieben (S. 142). Zweitens zeigt sie, dass George den Fair Youth passiver erscheinen lasse als im Shakespeare’schen Original. Damit schaffe er einen idealen Vertreter seines jugendlichen Schönheitsideals – „aufnahmebereit für die Lehren des Kreises“ (S. 142). Drittens forciere George in seiner Übersetzung die Frau als das weibliche Böse, was der Ausgrenzung der Frauen aus dem engeren Kreis um George sowie aus seiner Dichtung entspreche. Bemerkenswert an dieser Analyse ist nicht nur die Stringenz der Argumentation, sondern auch die Sorgfalt der Textarbeit, die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Wortwahl, sondern auch auf Klang, Reim und rhythmische Gestaltung (das gilt nicht nur für diese, sondern für alle Analysen der Studie). Dazu einige Beispiele aus dem zweiten Quartett, das bei Shakespeare bzw. bei George3 folgendermaßen lautet: To win me soon to hell, my female evil Tempteth my better angel from my side, And would corrupt my saint to be a devil, Wooing his purity with her foul pride.4 3 Mit
der Sigle SW sowie der Nennung des jeweiligen Bandes und der jeweiligen Seite wird die folgende Ausgabe zitiert: Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982 ff. 4 In Georges Besitz befanden sich folgende Ausgaben der ‚Sonnets‘: William Shakespeare: The Temple Shakespeare: Shakespeare’s Sonnets, with Preface, Glossary etc. Hg. von Israel Gollancz, London 1898; Ders.: The Sonnets of
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Gabriele von Bassermann-Jordan Zur höllle will mich ziehn das weiblich böse · Kirrt mir den bessern engel von der seit · Wünscht zum verderb · mein Heiliger sei der Böse · Lockt schnöder gierde seine lauterkeit. (SW XII, S. 150)
Den Reim „evil / devil“ übersetzt George mit „böse / Böse“. Mit diesem identischen Reim füge George auf formaler Ebene dem Sonett einen „Makel“ zu (S. 134), für den „das weiblich böse“, also die Frau, verantwortlich sei. Zudem lasse dieser Reim erkennen, dass es zwei verschiedene Versionen des Bösen gebe: Einerseits „das weiblich böse“, andererseits „der Böse“, was den Fair Youth meine, der in Gefahr sei, durch die Verführungskünste der Dark Lady von einem Heiligen zu einem Bösen zu werden (S. 134). George übernimmt nicht Shakespeares religiös konnotierte Gegenüberstellung von „saint“ und „devil“, sondern übersetzt „Heiliger“ und „Böse“, was Walter als ein weiteres Indiz für Georges Betonung des weiblich Bösen versteht. Indem George das Böse der Frau betone, betone er auch die Gefahr für den schönen Jüngling, der auf diese Weise passiver erscheine als in der S hakespeare’schen Vorlage. Zudem weist Walter darauf hin, dass George das Possessivpronomen „my“ abweichend übersetzt. Aus „my female evil“ wird „das weiblich böse“, aus „my saint“ dagegen „mein Heiliger“ (Großschreibung und Betonung durch doppelte Senkung). Bei George gelte die persönliche Beziehung nur hinsichtlich des jungen Freundes, die Dark Lady dagegen werde durch die Übersetzung zu nur einer von vielen gefährlichen Frauen. Durch seine Übersetzung eröffne George eine neue, generalisierende Lesart des Sonetts, die bei Shakespeare nicht angelegt sei (S. 137 f.). Die zweite der Leitthesen wird in Kapitel 4.2 eingelöst (S. 190–230). Hier analysiert Walter die Auswahl der Sonett-Übersetzungen in der achten Folge der ‚Blätter für die Kunst‘ (1908/09), erschienen im Februar 1910. Bei den insgesamt 16 Sonetten (17 und 18, 29 bis 34, 52 und 53, 73 bis 76 sowie 97 und 98) handelt es sich ausschließlich um Fair-YouthSonette, die zwischen den ‚Nachträgen zu Maximin‘ und der ‚Vorrede zu Maximin‘ positioniert und über die Themen des schönen Jünglings (Fair Youth), seinen Tod und die bewahrende Funktion der Dichtkunst miteinander verbunden sind (S. 212 f.). Shakespeares Sonette, so Walter, William Shakespeare. Hg. von Edward Dowden, London 1899. Keine der beiden Ausgaben war mir zugänglich. Ich folge daher Walter, die die von Dowden herausgegebene Ausgabe zitiert.
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unterstützen und legitimierten das Maximin-Erlebnis. Dies erreiche George durch ein „zielgerichtetes Übersetzen“ (S. 230), das an den einzelnen Sonetten sorgfältig herausgearbeitet wird. So richtet Walter bei ihrer Analyse von Sonett 98, das den Abschluss der Auswahl bildet und zur „Vorrede zu Maximin“ überleitet, ihre Aufmerksamkeit auf das abschließende Couplet, dessen erster Vers bei Shakespeare lautet: „Yet seemed it winter still, and, you away“. George übersetzt dagegen: „Doch winter schien es · denn du kamest nie“ (SW XII, S. 104) und erklärt damit die Trennung vom Fair Youth zu einer endgültigen. Walter resümiert: „Da die Schönheit in den Sonetten ‚nie‘ wirklich ankommt, kann sich das ‚Maximin‘-Erlebnis im Folgenden davon abgrenzen und noch an Bedeutung gewinnen. George leitet sein ‚Maximin‘-Erlebnis mit einem anderen Werk der Weltliteratur ein, um dieses dann sogar zu übertreffen.“ (S. 210 f.) Die dritte der Leitthesen, die die Verzahnung der Sonett-Übersetzung mit Georges eigenem Werk betrifft, wird in Kapitel 4.3 eingelöst (S. 231– 288). Zunächst weist Walter nach, dass Georges Übersetzung den Fair Youth eine Verkörperung des „schönen Lebens“ erkennen lasse, was sowohl äußere Schönheit bezeichne als auch den Willen, qua Dichtung zu einem „schönen Leben“ geformt zu werden (S. 233). In diesem Sinn übersetze George beispielsweise in den Sonetten 76 und 105 „argument“ mit „plan“ und stelle damit die Dichtkunst als eine zielgerichtete dar (S. 252 f.). Diesem „soziopoetische[n] Anspruch“ der Dichtung gemäß (S. 232 u. ö.), werte George den Dichter-Sprecher gegenüber dem Rival Poet auf und betone dementsprechend in der Übersetzung von Sonett 78 im dritten Quartett und im Couplet „Mein gereimtes spiel“ und „Meine kunst“ jeweils mit einem großgeschriebenen Possessivpronomen, wofür es bei Shakespeare keine Entsprechung gibt (S. 259). Die Verbindung von Georges Shakespeare-Sonetten zum ‚Stern des Bundes‘ (1914) erfolgt unter den Gesichtspunkten „Gestalt“, „Gehalt“ und „Impuls“. Leider werden hier nur die neun Gedichte des ‚Eingangs‘, die das Maximin-Erlebnis zum Gegenstand haben, berücksichtigt, während die dreimal 30 Gedichte des Hauptteils unerwähnt bleiben. Hinsichtlich der „Gestalt“ bestehe die Gemeinsamkeit in der vergleichbaren Struktur (14-Zeiler) und dem vergleichbaren rhetorischen Aufbau der Sonette und der ‚Eingangs‘-Gedichte, die oftmals auf die in besonderer Weise verdichteten beiden letzten Verse zulaufen. Den „Gehalt“ der Sonett-Übersetzungen beschreibt George selbst in
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Gabriele von Bassermann-Jordan
der Einleitung als „die anbetung vor der schönheit und den glühenden verewigungsdrang“ (SW XII, S. 5). Walter zeigt, dass sich diese Merkmale auch in den ‚Eingangs‘-Gedichten des ‚Stern des Bundes‘ finden lassen. Die körperliche Schönheit des dort gepriesenen jungen Gottes verbinde ihn mit dem Fair Youth der Shakespeare’schen Sonette, die geistig-moralische Schönheit zeige sich v. a. in Georges interpretierender Übersetzung. Der „glühende[] verewigungsdrang“ sei in den ‚Eingangs‘-Gedichten v. a. in der Rolle des Künders des jungen Gottes eingelöst. Als den „Impuls“ der Sonett-Übersetzungen nennt George die „weltschaffende[] kraft der übergeschlechtlichen liebe“ (SW XII, S. 5), die Walter als eine „geistige Liebe“ versteht, die vom „pädagogischen Eros“ bestimmt ist. Die Analogie mit den ‚Eingangs‘-Gedichten bestehe darin, dass die körperliche Erregung, die der Gott der ‚Eingangs‘-Gedichte erzeugt, als eine Vorstufe der geistigen Hingabe zu gelten habe. Walter löst ihren eingangs nachdrücklich formulierten Anspruch, Georges Shakespeare-Übersetzung aus dem Kontext des „Werks“ zu analysieren (S. 23, S. 28 f. u. ö.), nur teilweise ein. Es ist insbesondere die Maximin-Dichtung, für die sie einen engen Bezug zur ShakespeareÜbersetzung nachweist. Leider geht sie nicht auf den Maximin-Zyklus des ‚Siebenten Rings‘ ein. So hätte anschaulich gezeigt werden können, ob und wie sich die Maximin-Konzeption im Zuge der ShakespeareÜbersetzung verändert. Insbesondere hinsichtlich der Verbindung der Sonett-Übersetzung mit dem Werk Georges wird weitere Forschungsarbeit notwendig sein. Und ein weiterer Einwand sei erlaubt. Begriffe wie „Schönheit“, das „schöne leben“, „pädagogischer Eros“ oder „übergeschlechtliche liebe“ sind für Georges Werk zentral. Walter erläutert diese Begriffe in ihrer spezifischen Bedeutung bei George nicht, sondern geht allzu selbstverständlich damit um. Begriffliche Basisarbeit wäre schön gewesen – gerade wegen des eingangs formulierten Anspruchs, den Kontext des George’schen Werks einzubeziehen. Auch wirkt die Arbeit streckenweise breit und wiederholend, zum einen aufgrund der Argumenta tionsführung, zum anderen, weil identische Sonette unter verschiedenen Überschriften mehrmals besprochen werden (zu Sonett 18 vgl. S. 167, S. 193–195, S. 251; zu Sonett 34 vgl. S. 147 f., S. 168, S. 198). Ungeachtet aller kritischen Bemerkungen – diese Studie ist wertvoll für alle, die zu Georges Übersetzung von Shakespeares Sonetten arbeiten und genaue Textanalysen zu schätzen wissen.
Gunilla Eschenbach
Thomas Karlauf: Porträt eines Attentäters. München: Blessing 2019, 368 S., 1 Abb.
Es ist kein sympathischer Stauffenberg, den Thomas Karlauf zeichnet. Nichts bleibt von der „Lichtgestalt“ (S. 27) eines Helden: Sein Charisma? Retrospektiv verklärt. Seine Redegabe? Schwadronieren. Seine Heirat der Jugendliebe? Pragmatismus. Keine ins Militärische geratene Künstlernatur tritt uns entgegen (das abendliche Cellospielen in der Kaserne wird von Karlauf wenigstens kurz gestreift), sondern, ganz prosaisch, ein begabter Berufssoldat mit Organisationstalent. Liebgewordene Geschichten wie jene aus dem Afrikafeldzug, wo Stauffenberg einmal die britischen Truppen durch gebrüllte englische Befehle verwirrt und sich auf diese Weise gerettet habe, bringt Karlaufs Biografie nicht. Die Abwesenheit jeglicher Soldatenromantik bei gleichzeitiger Dominanz des Militärischen auf 241 von insgesamt 320 Seiten Haupttext passt zu der These, die dem Buch zugrunde liegt. Der militärische Widerstand des 20. Juli war für Karlauf haargenau das: Widerstand aus militärisch-politischer Einsicht und nicht aus humanitärer Gesinnung heraus. Der militärische Widerstand war, so Karlauf, nicht gesinnungsethisch, sondern verantwortungsethisch motiviert. Das Argument ist nicht neu.1 Aber bei Karlauf ergibt sich eine zusätzliche Schärfe daraus, dass er Stauffenberg nicht nur Schweigen angesichts der Judenvernichtung, sondern offenen Antisemitismus vorwirft (S. 315 und S. 348, Anm. 13 und 14). Dieser Punkt ist neu und in der maßgeblichen Biografie von Peter Hoffmann unausgeführt. Claus von Stauffenberg und seine Brüder erscheinen im Schlusskapitel von Karlaufs Biografie geradezu als ‚Edelnazis‘, deren Haltung in der sog. Judenfrage und der Großmachtpolitik mit nationalsozialistischen Zielen weitgehend übereinstimmten. Frühere Stauffenberg-Biografen wie Müller, Zeller, Kramarz und Hoffmann zeichnen den Weg ihres Helden als schrittweise Distanzierung vom NS-Staat, der
1 Vgl.
zuletzt Winfried Heinemann: Unternehmen „Walküre“. Eine Militärgeschichte des 20. Juli 1944, Berlin – Boston 2019 (= Zeitalter der Weltkriege 21), S. 170 f.
https://doi.org/10.1515/9783110697001-013
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Gunilla Eschenbach
sich erst nach und nach als Unrechtsregime enttarnt habe. Zwar datieren sie, ebenso wie Karlauf, die Wende ins Jahr 1942. Dennoch setzen sie eine Distanzierung vom NS bereits deutlich früher an. Karlauf hingegen schreibt eingangs, er wolle mit der heroischen Mär einer schrittweisen Läuterung aufräumen. Zumal eine Biografie „umso spannender wird – und umso mehr Vorbildcharakter gewinnen kann –, je […] windungsreicher die Irrungen, je schärfer die Brüche“ sind (S. 27). Doch sein Bild von Stauffenberg bleibt merkwürdig blass. Obwohl er konstatiert, dass Stauffenberg von den drei Welten Adel/Familie, Offizierskorps und George (S. 32) geprägt worden sei, belässt er es weitgehend bei einer Darstellung von Stauffenbergs militärischem Umfeld. Quellen mit eher familieninternem Wissen wie ‚Nina Schenk Gräfin von Stauffenberg‘ (2008), eine von der jüngsten Stauffenberg-Tochter nach privaten Aufzeichnungen ihrer Mutter verfasste Biografie, bleiben unberücksichtigt. Dass Stauffenberg neben seinem Berufsleben auch ein Privatleben hatte und sehnsüchtig an Frau und Kindern hing, wird in Karlaufs Darstellung nicht plastisch.2 Immer dann, wenn es um George und das George’sche Erbe geht, nimmt die Biografie an Fahrt auf. Ein Prolog erzählt in packender und dramatisch zugespitzter Weise die Geschehnisse um Georges Tod im Dezember 1933 inklusive der von Claus von Stauffenberg organisierten Totenwache. In seiner dichten Beschreibung wirkt dieser Prolog wie ausgelagert aus Karlaufs George-Biografie von 2007. Auf den furiosen Beginn folgt das erste Kapitel mit der Überschrift „Die Welt von gestern“, das neben einigen methodischen Reflexionen in knappster Form Herkunft, Jugend, Ausbildung und Heirat abhandelt. Daran schließen sich elf weitere Kapitel an, beginnend mit dem Röhm-Putsch im Juni 1934 bis zum 20. Juli 1944. Das letzte Kapitel (Achtung Spoiler) endet mit dem Satz „Es lebe das geheiligte Deutschland!“. Damit setzt sich Karlauf von seiner eigenen Darstellung in seiner George-Biografie ab (Karlauf 2007, S. 768). Dort hielt er es noch für plausibel, dass Stauffenberg das „geheime Deutschland“ Georges gerufen habe. Diese Neu-Akzentuierung ist symptomatisch. In seiner George-Biografie deutete Karlauf das Hitler-Attentat noch als ethisches Vermächt 2 Vgl.
dazu neuerdings, ebenfalls die familiäre Perspektive einnehmend, die Enkelin Sophie von Bechtholsheim: Stauffenberg. Mein Großvater war kein Attentäter, Freiburg im Breisgau 2019.
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nis Georges.3 Warum hat Karlauf dann die Gelegenheit verstreichen lassen, die Geschichte des 20. Juli nochmals neu und ent-monumentalisierend aus der Binnenperspektive des George-Kreises heraus zu erzählen? Warum wählt er nun stattdessen die Welt des Militärs? Abgesehen vom Prolog und dem Kapitel mit der Überschrift „Das Erbe“, in welchem Stauffenberg als Mit-Akteur bei der Verwaltung von Georges Nachlass in Erscheinung tritt, kommen so gut wie keine Kreis-Geschichten vor. Generell erweckt die Lektüre den Eindruck, als habe Karlauf sich im Laufe des Schreibens selbst revidiert und sei immer vollständiger von seinem ursprünglichen Plan abgerückt, Stauffenbergs Handeln auf der Folie Georges deuten zu wollen. Für den Leser ist das bedauerlich, da er sich nun über lange Strecken durch militärhistorische Darstellungen durcharbeiten muss. Interessant wird es dann, wenn Karlauf neue Impulse der George-Forschung aufnimmt wie etwa Ute Oelmanns Edition unbekannter Stauffenberg-Briefe.4 Diese zahlreichen Briefzitate, in denen Stauffenberg den gespreizten Ton des George-Umfelds (inklusive Orthografie) verwendet, destruieren weitaus effektiver als jegliche Historiografie das liebgewordene Bild des bodenständig-schwäbischen Helden. Sie passen zur hochgestochenen Sprache des „Schwurs“, den andere Stauffenberg-Biografen eher verschämt zitieren. Generell bevorzugt Karlauf die zeitgenössischen schriftlichen Quellen. Wo die authentischen Quellen fehlen, da misstraut er allem, was nach großer Erzählung und retrospektivem Schönreden aussieht. Da aber nur verhältnismäßig wenige Selbstaussagen überliefert sind, verwendet Karlauf Verfahren der Gruppenbiografie, da „es sich beim Offizierskorps um eine homogene, soziologisch klar zu definierende, selbstbewusste Gruppe handelte“ (S. 35). Das war der George-Kreis freilich auch. Und hier hätte Karlauf, als ‚Nicht-Gedienter‘, wie er in der Danksagung ironisch vermerkt (S. 324), viel souveräner gruppenbiografisch arbeiten können.
3 Vgl.
Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007, S. 638 f. u. S. 768, Anm. 4. 4 Vgl. Ute Oelmann: Edition: Briefe der Brüder Stauffenberg. In: George-Jahrbuch 8, 2010/2011, S. 143–156.
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Gunilla Eschenbach
Die Gretchenfrage, ob es neben der militärischen Logik auch eine „poetische Logik“5 hinter dem Attentat gab, wird in Karlaufs Stauffenberg-Buch nicht gestellt. Wirkungsgeschichtlich interessant ist es allemal, wie bald nach Kriegsende bei den Resten des versprengten Freundeskreises eine solche Deutung des 20. Juli einsetzt. Karlauf zitiert an einer Stelle Ernst Kantorowicz, wie er nach dem Krieg Alexander von Stauffenberg bat, er möge eine Dichtung schreiben analog zu seinem ‚Tod des Meisters‘; eine Dichtung, welche als primäre Quelle zum 20. Juli von späteren Historikern gelesen und ausgelegt werden müsse (S. 295 f.). Karlauf vermutet, diese Anregung habe der Bruder nicht umsetzen können. Tatsächlich aber verfasste Alexander von Stauffenberg zeitnah eine Reihe von Gedichten, die formal eng an ‚Tod des Meisters‘ anschließen.6 An dieser Stelle ist die Dissertation ‚Totengedächtnis in den Kreisen um Stefan George‘7 über die poetische Memorialkultur des George-Kreises zu erwähnen. Wie Simon Reiser darin aufweist, haben Alexander von Stauffenberg, Rudolf Fahrner, Karl Wolfskehl, Rudolf Pannwitz und Robert Boehringer in ihren Erinnerungsgedichten auf Claus von Stauffenberg den 20. Juli einer solchen poetischen Logik unterworfen. Claus von Stauffenberg erscheint darin als anderer Maximin und visionärer Künder eines fernen, zeitlich unbestimmten Neubeginns. Was Karlauf in historiografischer Redlichkeit unterlässt, haben Michael Baigent und Richard Leigh 1994 in ihrem Buch ‚Geheimes Deutschland. Stauffenberg und die Hintergründe des Attentats vom 20. Juli 1944‘ gewagt. Wer einen echten George-Stauffenberg-Schmöker zur Hand nehmen möchte, ist hier bestens bedient. Es ist kurios, dass ein englischsprachiges Bestseller-Autorenduo, bekannt durch ‚Verschlusssache Jesus‘, Gedichte wie ‚Der Mensch und der Drud‘, diverse Zeilen aus dem ‚Stern des Bundes‘ und einen Vollabdruck von ‚Geheimes Deutschland‘ bringt. Bei aller hemmungslosen Idealisierung ihres Helden ist es bemerkenswert, wie sie Georges Lyrik in ihrer Bedeutsamkeit für die Gedankenwelt Claus von Stauffenbergs zu erschließen
5 Vgl.
Michael Baigent / Richard Leigh: Geheimes Deutschland. Stauffenberg und die Hintergründe des Attentats vom 20. Juli 1944, München 1994, S. 381. 6 Vgl. Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009, S. 414 f. 7 Vgl. Simon Reiser: Totengedächtnis in den Kreisen um Stefan George. Formen und Funktionen eines ästhetischen Rituals, Baden-Baden 2015.
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suchen. Und es ernüchtert, dass Karlauf und mit ihm andere Kenner der Materie dieser Emphase den Wind aus dem Segel nehmen. Bei Karlauf gerinnt Stauffenbergs Angehörigkeit zum George-Kreis zur bloßen Attitüde. Er möchte eine homoerotische, misogyne und rassistische Grundstruktur und einen arroganten Elitismus kenntlich machen sowie Inhumanität, eine krude Reichsmythologie und eine Verklärung alles Militärischen. Von George bleibt nichts, was in irgendeiner Weise heute noch vermittelbar wäre, geschweige denn zum Vorbild taugte.
Aus der Stefan-George-Gesellschaft Gabriele von Bassermann-Jordan
Nachrichten Zur Jahrestagung 2017 Am 4. und 5. November 2017 fand die Jahrestagung der Gesellschaft zu „Stefan George und Hugo von Hofmannsthal“ im Stefan-George-Haus in Bingen statt. In insgesamt vier Vorträgen wurde die schwierige Freundschaft zwischen George und Hofmannsthal sowie ihre teilweise divergierenden Positionen in der Lyrik und in der Poetologie analysiert. Prof. Dr. Wolfgang Braungart (Bielefeld), Vorsitzender der Stefan-George-Gesellschaft e. V. Bingen, begrüßte die Anwesenden und eröffnete die Tagung. Anstelle von Prof. Dr. Cornelia Ortlieb (Berlin), die aus persönlichen Gründen ihre Teilnahme an der Tagung absagen musste, sprach Dr. Ute Oelmann (Stuttgart) einleitend über die Bibliothek Stefan Georges. Sodann hielt PD Dr. Jörg Schuster (Marburg) einen Vortrag mit dem Titel „,Lebendige Schrift‘? Medium, Inspiration und Kollaboration bei Stefan George, Hugo von Hofmannsthal und Harry Graf Kessler“. Am Abend sprach Prof. Dr. Kai Kauffmann (Bielefeld) über „Freundschaft und Feindschaft. Biographische und poetologische Überlegungen zu Stefan George und Hugo von Hofmannsthal“. Am Sonntag, 5. November 2017, lieferte Dr. Maik Bozza, der Leiter des George-Archivs (Stuttgart), einen Werkstattbericht zu seiner Neuedition des Briefwechsels zwischen George und Hofmannsthal. Zur Veranstaltung am 12. Juli 2018, Stefan Georges 150. Geburtstag Am 13. Mai 2018 ist in der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ ein Artikel von Julia Encke erschienen, der Missbrauchsvorwürfe im ‚Castrum Peregrini‘ um Wolfgang Frommel in Amsterdam mit Stefan George und seinem Kreis in Verbindung bringt – obwohl es zu George in dieser Hinsicht keine neuen Erkenntnisse gibt. Stefan George erscheint im Licht dieses Artikels als ein Dichter, dessen Werk Päderastie zu legitimieren scheint und der womöglich selbst Päderastie praktiziert haben könnte. https://doi.org/10.1515/9783110697001-014
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Der Vorstand der Stefan-George-Gesellschaft hat sich entschlossen, im Rahmen der Veranstaltung zu Georges 150. Geburtstag in drei kurzen Vorträgen darauf zu reagieren. Prof. Dr. Wolfgang Braungart begrüßte die Anwesenden und nahm sodann einleitend Stellung zur Debatte um Sexualität, Homosexualität und Missbrauch im George-Kreis. Kai Kauffmann stellte sodann Überlegungen dazu an, was aus dieser Debatte für die Zukunft der Stefan-George-Gesellschaft und der Forschung folgen könne. Dr. Jan Andres (Bielefeld) berichtete in seinem Vortrag über das ‚Castrum Peregrini‘ und über die Beziehungen zum George-Kreis. Die zuerst auf der Homepage der Stefan-George-Gesellschaft veröffentlichten Vorträge oder Statements (http://www.stefan-george-gesellschaft.de/?p=563) sind auch in diesem George-Jahrbuch 13 nachzulesen. Zur Jahrestagung 2018 Im Rahmen der Jahrestagung der George-Gesellschaft mit dem Titel „Stefan George. Heute? Heute!“ fand am 10. November 2018 eine Podiumsdiskussion statt, die die ‚Fragwürdigkeit‘ Georges (im positiven wie im kritischen Sinne) aus verschiedenen Blickwinkeln erörterte: Aus der Sicht eines Autors und der öffentlichen Kulturvermittlung (Volker Gallé, Worms), aus der Sicht der Literaturwissenschaft, der Literaturkritik und des Verlagswesens (Dr. Ute Oelmann, Stuttgart; Dr. Thomas Sparr, Berlin), der regionalen Kulturpolitik (Dorothea Schäfer, Landrätin im Landkreis Mainz-Bingen und MdL) sowie der Musik, der Schule und der Musik-Pädagogik (Axel Grote und Morgine Höflinger, Komponist, Musiker und Lehrer bzw. Schülerin am StG-Gymnasium Bingen). Die Veranstaltung wurde durch die ‚Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten‘ aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördert. Sie war sehr gut besucht und wurde von den Zuhörerinnen und Zuhörern und von der Presse positiv aufgenommen. Der SWR hat die Veranstaltung in einem Radiobeitrag gewürdigt. Die Binger ‚Allgemeine Zeitung‘ hat unter dem Titel ‚Missbrauch nicht belegt‘ über die Podiumsdiskussion berichtet (https://www.allgemeine-zeitung.de/lokales/bingen/bingen/ missbrauch-nicht-belegt_19182838). Am Vormittag des 11. November 2018 fand in der Villa Katharina (Bingen) eine musikalische Matinee mit Dr. Philipp Heitmann (Musik-
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hochschule Detmold) statt. Er erläuterte die grundlegende Problematik der Musik um 1900, die sich einerseits gegen den Verdacht wehren musste, „spätromantisch“ zu sein, andererseits das Erbe des 18. und 19. Jahrhunderts nicht aufgeben wollte, und zeigte anhand von drei Musikbeispielen, wie sich die Komponisten an der traditionellen Sonatenform abarbeiten. Zu den Jahrestagungen 2019 und 2020 Im November 2019 hat anlässlich der Jahrestagung der Stefan-George-Gesellschaft eine kleine Vortragsveranstaltung zur „Poetik der Lesung“ in Berlin stattgefunden. Im Jahr 2020 soll eine größere Tagung in Bingen das Thema „Um- und Nachdichten in den europäischen Avantgarden um 1900“ behandeln. Die Bindung an Bingen, den Geburtsort Stefan Georges, bleibt damit gewahrt. Zur Mitgliederversammlung 2017 Zu Beginn der Mitgliederversammlung 2017 gedachten die Anwesenden der verstorbenen Mitglieder Dr. Eberhard Roos, Dr. Siegfried Grimm, Sonja Schön-Beetz, Gudrun Hilsdorf und Dr. Ulrich Bornemann. Danach trug Prof. Dr. Wolfgang Braungart seinen Tätigkeitsbericht (der den Mitgliedern schriftlich vorliegt) für das Jahr 2016 vor, den Dr. Gabriele von Bassermann-Jordan um einen kurzen Abriss ihrer Tätigkeit ergänzte. Dr. Gabriele von Bassermann-Jordan stellte den Kassenbericht für das Jahr 2016 vor und berichtete kurz über die finanzielle Lage der Gesellschaft. Nach der großen und teuren Jahrestagung 2016 haben sich die Finanzen der Gesellschaft im Jahr 2017 wieder gut erholt. Dr. Markus Pahmeier und Kim-Kristin Walla haben die Bücher der Geschäftsführung für das Jahr 2016 geprüft und alles in bester Ordnung gefunden. Beide stehen dankenswerterweise weiterhin als Rechnungsprüfer zur Verfügung. Auf Antrag von Prof. Dr. Kai Kauffmann (Bielefeld) wird der Vorstand bei Enthaltung der Stimmen der Vorstandsmitglieder einstimmig entlastet. Ende 2017 hat die Gesellschaft 215 Mitglieder, davon 7 korporative.
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Gabriele von Bassermann-Jordan
Zur Mitgliederversammlung 2018 Prof. Dr. Wolfgang Braungart trug seinen Tätigkeitsbericht (der den Mitgliedern schriftlich vorliegt) für das Jahr 2017 vor, den Dr. Gabriele von Bassermann-Jordan um einen kurzen Abriss ihrer Tätigkeit ergänzte. Zudem dankte Prof. Dr. Braungart für eine Spende von 1.000 € von der ‚Stiftung zur Förderung begabter und bedürftiger Jugendlicher sowie junger Schriftsteller und Publizisten im Stefan-George-Haus in Bingen‘ sowie für einen Zuschuss von 950 € von der ‚Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten‘ (ALG). Diese finanziellen Zuwendungen waren sehr willkommen, da die Gesellschaft im Jahr 2018 nicht nur die übliche Jahrestagung, sondern auch die Veranstaltung anlässlich Georges 150. Geburtstag am 12. Juli 2018 sowie die Drucklegung des ‚George-Jahrbuchs‘ 12 (2018/19) zu finanzieren hatte. Dr. Gabriele von Bassermann-Jordan stellte kurz den Kassenbericht 2017 vor und berichtete über die finanzielle Lage der Gesellschaft. Im Jahr 2017 hat die Gesellschaft einen Überschuss von ca. 5.000 € erwirtschaftet, u. a. weil eine großzügige Spende von 2.000 € von der ‚Alfred-Schmid-Stiftung‘ eingegangen ist, für die ebenfalls herzlich gedankt wird. Dr. Markus Pahmeier und Kim-Kristin Walla haben die Bücher der Geschäftsführung für das Jahr 2017 geprüft und alles in bester Ordnung gefunden. Dankenswerterweise stehen beide für die Kassenprüfung weiterhin zur Verfügung. Auf Antrag von Clemens Hahn (Bingen) wurde der Vorstand bei Enthaltung der Stimmen der Vorstandsmitglieder einstimmig entlastet. Sodann erfolgte die Neuwahl des Vorstands für den Zeitraum von drei Jahren (bis zur Mitgliederversammlung im Herbst 2021). Zur Wahl waren den Mitgliedern bereits vorgeschlagen worden: Prof. Dr. Kai Kauffmann, Universität Bielefeld (Vorsitzender), Prof. Dr. Cornelia Ortlieb, Universität Erlangen (Vorstandsmitglied), Prof. Dr. Christine Haug, LMU München (Vorstandsmitglied), Dr. Gabriele von Bassermann-Jordan, LMU München (Geschäftsführung). Alle zur Wahl stehenden Vorstandsmitglieder wurden einstimmig von den Mitgliedern gewählt und nahmen die Wahl an. Prof. Dr. Kauffmann und Prof. Dr. Ortlieb dankten Prof. Dr. Braungart und Dr. Oelmann für ihre langjährige und erfolgreiche Tätigkeit im Vorstand der George-Gesellschaft sehr herzlich.
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Ende 2018 hatte die George-Gesellschaft 220 Mitglieder, davon 7 korporative. Schülerpreis Der Preis für die beste Leistung im Fach Deutsch in den Abiturjahrgängen 2016/17 und 2017/18 des Stefan-George-Gymnasiums in Bingen ging an Tim Petry (2016/17) und Alina Elisabeth Heimen (2017/18). Beide erhielten für 5 Jahre eine kostenlose Mitgliedschaft in der George-Gesellschaft sowie einen von Prof. Dr. Braungart persönlich gestifteten Buchpreis. George-Gedichte Seit Juli 2014 haben Prof. Dr. Wolfgang Braungart und Dr. Ute Oelmann einmal monatlich auf der Homepage der Stadt Bingen ein Gedicht Stefan Georges in einer kurzen Interpretation vorgestellt. Die Reihe endete im Oktober 2017. Die gesammelten Interpretationen sind zum 150. Geburtstag Stefan Georges publiziert worden. Stefan George: Dies ist ein lied für dich allein. 40 Gedichte. Ausgewählt und gedeutet von Wolfgang Braungart / Ute Oelmann, Mainz: Dieterisch’sche Verlagsbuchhandlung, 2018. Zum Museum und den Sammlungen Im Stefan-George-Museum hat es keine Neuanschaffungen oder Veränderungen gegeben. Seit Sommer 2014 wird von OStR. i. R. Gisela Eidemüller eine sehr umfangreiche, detaillierte Bestandsaufnahme aller Bücher, Bilder und sonstiger Objekte neu erstellt, u. a. unter den Gesichtspunkten des Besitzes privater und öffentlicher Leihgeber (auf Dauer oder auf Zeit), des Eigentums des Museums, der Übernahmen von der Vorgängergesellschaft, der Schenkungen von Mitgliedern und Bürgern der Stadt Bingen, des Eigentums der Stadt Bingen sowie der Anschaffung von Mobiliar mit fotografischen Belegen. Auch der Zeitpunkt der Restaurierung von Gemälden, Grafiken und Büchern wird mit erfasst.
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Dank Bei den Jahresversammlungen 2017 und 2018 wurde seitens der Stefan-George-Gesellschaft vielfältig gedankt für Förderung und Unterstützung – den Mitgliedern und den genannten Institutionen für Spenden, der Stadt Bingen für die Unterstützung bei der Organisation der Tagung und für die jährlich wiederkehrende Spende und nicht zuletzt Hasso Mansfeld für seine Gastfreundschaft in der Villa Katharina. Besonderer Dank galt Herrn und Frau Giesbert, die schon seit vielen Jahren das Museum betreuen und die Museumsaufsicht koordinieren. Weitere Informationen zur Gesellschaft und ihren Veranstaltungen erhalten die Mitglieder durch die ausführlichen Rundschreiben im Frühsommer eines jeden Jahres. Neuerscheinungen (Auswahl von Buchtiteln) 2017, 2018 und 2019 Stefan George – Ernst Morwitz: Briefwechsel (1905–1933). Hg. von Ute Oelmann / Carola Groppe. Berlin: De Gruyter, 2019; Franziska Walter: Meisterhaftes Übersetzen. Stefan Georges Übersetzung der Sonette Shakespeares. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2019; Jutta Schloon: Modernes Mittelalter. Mediävalismus im Werk Stefan Georges. Berlin – Boston: De Gruyter, 2019; George-Jahrbuch 12 (2018/2019); „Wer je die Flamme umschritt …“. Stefan George im Kreis seiner Heidelberger Trabanten. Eine Ausstellung zur Erinnerung an den 150. Geburtstag des Dichters im Museum Haus Cajeth. Hg. von Thomas Hatry / Hans Martin Mumm. Heidelberg: Kurpfälzischer Verlag, 2018; Stefan George: Geheimes Deutschland. Gedichte. Ausgewählt von Helmuth Kiesel. München: C. H. Beck, 2018; Rudolf Fahrner: Ein Leben und Werk im Zeichen von Stefan George. Hg. von Stefano Bianca / Bruno Pieger. Hildesheim – Zürich – New York: Olms, 2018 (= Germanistische Texte und Studien, Bd. 99); Stefan George und die Jugendbewegung. Hg. von Wolfgang Braungart. Stuttgart: Metzler, 2018; Stefan George: Von Kultur und Göttern reden. Aus dem Nachlass. Hg. von Ute Oelmann. Stuttgart: Klett-Cotta, 2018;
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Jürgen Egyptien: Stefan George. Dichter und Prophet. Darmstadt: Theiss, 2018; Stefan George. Werkkommentar. Hg. von Jürgen Egyptien. Berlin – Boston: De Gruyter, 2017; Krise und Gemeinschaft. Stefan Georges „Der Stern des Bundes“. Hg. von Christophe Fricker. Frankfurt a. M.: Klostermann, 2017; Wolfgang Frommel – Friedrich W. Buri: Briefwechsel 1933–1984. Hg. und eingeleitet von Stephan C. Bischoff. Göttingen: Wallstein, 2017 (= Castrum Peregrini, NF, Bd. 10).
Kai Kauffmann
Nachruf auf Prof. Dr. Bernhard Böschenstein Am 18. Januar 2019 ist unser Ehrenmitglied Prof. Dr. Bernhard Böschenstein im Alter von 87 Jahren in Genf gestorben. Viele Mitglieder der Stefan-George-Gesellschaft, deren Jahrestagungen er regelmäßig besucht hat, werden ihn schmerzlich vermissen. Ein eminenter Kenner der europäischen Literaturgeschichte seit der Antike und enthusiastischer Liebhaber der Dichtungen Stefan Georges ist von uns gegangen. Bernhard Böschenstein, am 2. August 1931 in Bern geboren, wuchs in Berlin, Paris und London auf. Ab 1950 studierte er Germanistik, französische und griechische Literatur in Paris, Köln und Zürich. 1958 promovierte er bei Emil Staiger mit einer Dissertation über Hölderlins Rheinhymne und war in den Jahren danach wissenschaftlicher Assistent von Walter Killy an der Freien Universität Berlin und an der Universität Göttingen. Von 1964 bis 1998 lehrte er als Professor für Neuere deutsche Literatur in Genf, daneben nahm er zahlreiche Gastprofessuren an europäischen und amerikanischen Universitäten wahr. Zu den Schwerpunkten seiner germanistischen und komparatistischen Forschung und Lehre gehörten besonders die Dichtungen Hölderlins, Georges und Celans. Die Beschäftigung mit hoher Dichtung und anspruchsvoller Literatur prägte Böschensteins Leben. Er zählte Dichter wie Paul Celan, Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt sowie Gelehrte wie Theodor W. Adorno, Peter Szondi und auch Gerhard Kaiser zu seinen persönlichen Freunden. Seine umfangreiche Korrespondenz mit diesen und anderen Exponenten des literarischen und wissenschaftlichen Lebens wird im Deutschen Literaturarchiv Marbach und im Schweizerischen Literaturarchiv Bern zugänglich sein. Bernhard Böschenstein unterstützte mit Rat und Tat die 1994 vollzogene Gründung der Stefan-George-Gesellschaft (s. Vorwort des ersten Jahrbuchs), auch in den folgenden Jahren blieb er ihr unter anderem als Mitglied des wissenschaftlichen Beirats eng verbunden. Unvergessen ist, wie er 1998 die größte Tagung, die je zu Stefan George stattgefunden hat, in Bingen mitorganisierte und mitleitete. Zum Dank für seine großen Verdienste um die George-Forschung und die George-Gesellschaft wurde ihm die Ehrenmitgliedschaft verliehen. Seine lebhafte Art, https://doi.org/10.1515/9783110697001-015
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bei unseren Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen, aber auch im persönlichen Gespräch am Frühstückstisch, über Stefan George und die Welt der Dichtung zu sprechen, werden wir in eindrucksvollster Erinnerung behalten.
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Vorstand (seit November 2019) Prof. Dr. Kai Kauffmann (Vorsitzender) Universität Bielefeld Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft Universitätsstraße 25 D-33615 Bielefeld Tel.: 0521-106-3712 E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Cornelia Ortlieb (stellv. Vorsitzende) Freie Universität Berlin Institut für Deutsche und Niederländische Philologie Habelschwerdter Allee 45 D-14195 Berlin Tel.: 030-83866789 E-Mail: [email protected] Janus Gudian M. A. (stellv. Vorsitzender) Goethe-Universität Frankfurt am Main Theodor-W.-Adorno-Platz 1 D-60323 Frankfurt am Main Tel.: 069-798-12343 E-Mail: [email protected] Dr. Gabriele von Bassermann-Jordan (Geschäftsführerin) Ludwig-Maximilians-Universität München Institut für Deutsche Philologie Schellingstr. 3 D-80799 München Tel. 089-2180-2334 E-Mail: [email protected] Der Oberbürgermeister der Stadt Bingen gehört dem Vorstand kraft Amtes an. https://doi.org/10.1515/9783110697001-016
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Kuratorium Dr. Hans-Peter Geh (Bad Homburg), Prof. Dr. Hannes Kopf, Präsident der Struktur- und Genehmigungsdirektion Süd (Neustadt an der Weinstraße). Beirat Prof. Dr. Katharina Mommsen (Stanford / USA), Prof. Dr. Christoph Perels (Frankfurt am Main), Prof. Dr. Klaus Reichert (Frankfurt am Main), Prof. Dr. Reimar Schefold (Leiden / Niederlande), Prof. Dr. Michael Thimann (Göttingen), Jutta Schloon (Bergen / Norwegen), Diana Richtsteiger (St. Goarshausen). Stefan-George-Museum Stefan-George-Haus Freidhof 9 D-55411 Bingen am Rhein Ausstellung zu Leben und Werk Stefan Georges. Öffnungszeiten: Dienstag, Donnerstag und Samstag von 14–17 Uhr. Telefon nur während der Öffnungszeiten: + 49 (0)6721-99 10 94 Telefon Tourist-Information: + 49 (0)6721-184-205 Korrespondenzadresse für das Museum ist die Adresse der Geschäftsführerin. Periodika Stefan-George-Jahrbuch im Auftrag des Vorstandes herausgegeben von Prof. Dr. Kai Kauffmann und Prof. Dr. Cornelia Ortlieb (ab George-Jahrbuch 13, 2020/2021); es erscheint seit 1996 alle zwei Jahre im De Gruyter Verlag (Berlin).
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Mitgliedschaft Die Mitgliedschaft wird durch schriftliche Beitrittserklärung gegenüber dem Vorstand (Brief an die Geschäftsführerin) erworben. Der Mitgliedsbeitrag beträgt z. Zt. 45 € jährlich, für Studierende (mit Studienausweis) 20 €. Mitgliedern, die ihren Beitrag bezahlt haben, wird das Jahrbuch zugesandt. Bankverbindung Deutschland: Sparkasse Rhein-Nahe Int. Bank Account Number: DE88 5605 0180 0030 0447 70 SWIFT-BIC: MALADE51KRE
Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger
Dr. Jan Andres, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Bielefeld, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld Prof. Dr. Wolfgang Braungart, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Bielefeld, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld Prof. Dr. Kay Ehling, Oberkonservator Staatliche Münzsammlung München, Residenzstraße 1, 80333 München Dr. Gunilla Eschenbach, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Deutsche Schillergesellschaft, Schillerhöhe 8–10, 71672 Marbach a. N. Prof. Dr. Carola Groppe, Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften, Helmut-Schmidt-Universität, Holstenhofweg 85, 22043 Hamburg Prof. Dr. Kai Kauffmann, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Bielefeld, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld Prof. Dr. Cornelia Ortlieb, Institut für Deutsche und Niederländische Philologie, Freie Universität Berlin, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin PD Dr. Jörg Schuster, Germanistik und Kunstwissenschaften, Philipps Universität Marburg, Deutschhausstraße 3, 35032 Marburg Dr. Jørgen Sneis, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Bielefeld, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld Dr. Gabriele von Bassermann-Jordan, Deutsche Philologie, Arbeitsstelle ‚Literatur in Bayern‘, Ludwig-Maximilians-Universität München, Schellingstraße 3, 80799 München